HARRY COLLINS
TREVOR PINCH
DER GOLEM DER FORSCHUNG WIE UNSERE WISSENSCHAFT DIE NATUR ERFINDET
BERLIN VERLAG
IM G...
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HARRY COLLINS
TREVOR PINCH
DER GOLEM DER FORSCHUNG WIE UNSERE WISSENSCHAFT DIE NATUR ERFINDET
BERLIN VERLAG
IM GEDENKEN AN SIDNEY COLLINS UND FÜR JOAN PINCH Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel The Golem. What everyone should know about science bei Cambridge University Press. Die deutsche Übersetzung folgt der zweiten, erweiterten Auflage von 1998 mit dem Titel The Golem. What you should know about science © 1993, 1998 Cambridge University Press Für die deutsche Ausgabe © 1999 Berlin Verlag, Berlin Für die fachliche Betreuung der Übersetzung dankt der Berlin Verlag Dr. Andrea Loettgers Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung : Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg Gesetzt aus der Haarlemmer durch psb, Berlin Druck und Bindung : Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 1999 ISBN 3–827-0334–2
INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einführung
Der Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1 Eßbares Wissen :
Der chemische Gedächtnistransfer . . . . . . . . . . 15
2 Die Relativitätstheorie :
Zwei Experimente, die sie »bewiesen« haben . . . . 52
3 Retortensonne :
Die Geschichte der kalten Kernfusion . . . . . . . . 97
4 Der Keim des Anstoßes:
Louis Pasteur und die Ursprünge des Lebens . . 134
5 Ein neues Fenster zum Universum :
Die Nichtentdeckung der Gravitationsstrahlung 153
6 Das Liebesleben der Rennechse . . . . . . . . . . . 183
7 Messung im Herzen der Sonne :
Die sonderbare Geschichte von den
fehlenden Sonnenneutrinos . . . . . . . . . . . . . 200
Resümee
Der Golem im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Nachwort
Der Golem und die Wissenschaft ler . . . . . . . . 250
Dank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie und Literaturhinweise Register . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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vorwort Dieses Buch wendet sich an alle, die wissen möchten, wie Wissenschaft wirklich funktioniert und wieviel Autori tät sie den Experten zugestehen dürfen; das Buch wendet sich zum Beispiel an Schüler oder Studenten, die in der Schule oder an der Universität Naturwissenschaft trei ben ; es will aber auch diejenigen ansprechen, die viel leicht gerade anfangen, sich mit Wissenschaftsgeschich te, -theorie oder -Soziologie zu befassen. Im Grunde ist es für alle geschrieben, die in einer technologischen Ge sellschaft leben. Die Kapitel sind unterschiedlichen Ursprungs. Einige basieren auf unseren eigenen Arbeiten, andere auf der Lektüre jener wenigen Bücher und Aufsätze zur Wissen schaftsgeschichte und -Soziologie, die nicht aus einem retrospektiven Blickwinkel geschrieben sind. Im letzte ren Fall stützen wir uns auch auf zusätzliche Informa tionen von den Originalautoren und greifen gelegentlich auf Archivmaterial zurück. Bei der Auswahl der Kapitel, mit denen wir die Wissenschaft darstellen wollen, waren uns gewisse Schranken durch das zugängliche Material gesetzt. Im übrigen aber haben wir das Feld auf zweier lei Weise bearbeitet : Einerseits haben wir Episoden aus den Lebenswissenschaften und den physikalischen Wis senschaften gewählt, andererseits zeigt unsere Auswahl weithin berühmte neben relativ alltäglicher Wissenschaft und dem, was manche schlechte Wissenschaft nennen würden. Was wir nämlich zeigen wollten ist, daß für un
ser spezifisches Interesse die Wissenschaft dieselbe bleibt, ob sie nun berühmt oder obskur, groß oder klein, grund legend oder nebensächlich ist. Die ausgewählten Fälle sollen die Naturwissenschaften in keinem statistischen Sinne repräsentieren; ein Groß teil der Wissenschaft ist zu keinem Zeitpunkt strittig, wir aber befassen uns ausschließlich mit wissenschaft li chen Kontroversen. Diese, die kontroverse Wissenschaft ist unserer Ansicht nach die, über die jeder Bürger und Nicht-Wissenschaftler etwas wissen sollte, denn diejeni gen wissenschaftlichen Fragen, die sich ihm überhaupt stellen, sind allesamt kontrovers. Ein oft begangener Feh ler ist es, wenn man den Bürger und Nicht-Experten dazu bringen will, über das wissenschaft liche Expertenwissen in solchen Kontroversen zu urteilen – indem man ihm nämlich die Wissenschaft nur so beschreibt, wie sie in wohlgeordneten, übersichtlichen, nicht-kontroversen Ge bieten aussieht. Wir denken, daß diese Strategie nur zu Enttäuschungen, Mißverständnissen und letztlich zu ei ner heftigen antiwissenschaft lichen Gegenreaktion füh ren kann, die sogar noch gefährlicher ausfallen könnte als die naive Duldung der Macht der Wissenschaft. ImNachwort dieser deutschen Ausgabe des Golem der For schung, die der zweiten Auflage des englischen Originals entspricht, behandeln wir in diesem Zusammenhang ei nige der (wichtigeren und interessanteren) Debatten, in die wir seit dem ersten Erscheinen des Buches 1993 ver wickelt wurden.
einführu ng der golem Die Naturwissenschaft wird meist für entweder ganz und gar gut oder ganz und gar böse gehalten. Für manche ist sie wie ein Kreuzritter, von einfältigen Mystikern be drängt, während wirklich finstere Gestalten zur gleichen Zeit nur darauf warten, aus dem Sieg der Unwissenheit einen neuen Faschismus erstehen zu lassen. Für andere ist die Wissenschaft selbst der Feind : Eine technische Bü rokratie – das Gegenteil von Kultur –, von Kapitalisten gelenkt, die nichts kennen als den Profit, vergeht sich an unserem blauen Planeten, unserem Gefühl für das Ge rechte, das Poetische und das Schöne. Für die einen ver danken wir der Wissenschaft eine moderne Landwirt schaft, die all unsere Bedürfnisse decken kann, neue Hei lungsmöglichkeiten für unsere Kranken und ein globales Kommunikationsnetz ; für die anderen verdanken wir der Wissenschaft immer neue Waffen, um Krieg zu füh ren, auch den Feuertod einer jungen Lehrerin in einem von Gott verlassenen Raumtransporter namens »Chal lenger« und das lautlose Gift von Tschernobyl. Beide Vorstellungen von der Wissenschaft sind falsch und gefährlich. Die Wissenschaft gleicht weder dem tap feren Ritter noch dem wütenden Unhold. Sie ist ein Go lem. Der Golem ist ein Geschöpf aus der jüdischen Mytho logie. Er ist ein Homunkulus, von einem Menschen un
ter Zauber und Beschwörungen aus Lehm und Wasser erschaffen. Er ist stark. Und jeden Tag wird er ein wenig stärker. Er tut, was man ihm sagt, nimmt seinem Herrn lästige Arbeit ab und beschützt ihn gegen den immer dro henden Feind. Allerdings, er ist auch schwerfällig und gefährlich. Wenn er nicht aufmerksam überwacht wird, kann der Golem seinen Herrn mit seiner wilden Kraft vernichten. Diese Idee von einem Golem hat in verschiedenen Le genden verschiedene Konnotationen. Gelegentlich wird seine furchtbare Bosheit betont, doch gibt es auch eine eher freundliche Tradition : Im Jiddischen, der Sprache des osteuropäischen Ghettos, ist der Golem ein Sinnbild für jeden ungehobelten dummen Kerl, der weder seine eigene Stärke noch das ganze Ausmaß seiner Unwissen heit und Schwerfälligkeit kennt. Für Collins’ Großmutter war es einfach nützlich, wenn man einen Golem kann te, der einem den Garten umgrub ; die Kinder durften ihm allerdings nicht zu nahe kommen. Ein solcher Go lem ist kein großer böser Teufel, sondern ein etwas be schränkter Koloß. Da wir hier mit dem Golem die Wissenschaft versinn bildlichen, wollen wir auch hervorheben, daß dem Ge schöpf aus Lehm in der mittelalterlichen Überlieferung dadurch Leben eingehaucht wurde, daß sein Schöpfer ihm das hebräische »EMET« auf die Stirn malte, was »Wahrheit« bedeutet – und Wahrheit ist, was den Go lem in allem antreibt. Was nun aber nicht heißt, daß er die Wahrheit begreift. Keineswegs ! Die Absicht dieses Buches ist es, den Golem »Natur
wissenschaft« zu erklären. Wir möchten zeigen, daß er nicht bösartig ist, aber recht schwer von Begriff. Dem Golem Naturwissenschaft darf man seine Fehler nicht vorwerfen; denn es sind unsere eigenen. Einem Golem kann man es nicht zum Vorwurf machen, daß er sein Bestes gibt. Ein Golem, so stark er ist, ist ein Geschöpf, das wir mit unseren Fertigkeiten, unserem Geschick ge schaffen haben. Unser Buch geht ganz einfach und direkt vor. Um zu zeigen, was der Golem Naturwissenschaft ist, tun wir et was geradezu Unerhörtes : Wir führen die Wissenschaft vor, wie sie ist, und reflektieren dabei die wissenschaft li che Methode so wenig wie möglich. Vielmehr beschrei ben wir einfach einzelne Episoden aus der Wissenschaft, bekannte und weniger bekannte, und erzählen, was da geschah. Wo doch reflektiert wird, wie zum Beispiel in der Geschichte von der kalten Kernfusion, sind es Re flexionen über menschliche Dinge, nicht über metho dologische Fragen. Was bei diesem Verfahren heraus kommt, ist überraschend, und die Überraschung oder der Schock rührt daher, daß die Vorstellung von der Wis senschaft dermaßen von philosophischen Analysen, von Mythen und Theorien, von Hagiographie, Eitelkeit, Hero ismus, Aberglaube, Furcht und vor allem von nachträgli cher Rechthaberei überlagert ist, daß man sich bisher nur in einem kleinen Kreis von Eingeweihten erzählt hat, »wie es wirklich gewesen«.
Leser dieses Buches sollten darum darauf gefaßt sein, zweierlei Neues zu erfahren: zum einen werden Sie ein paar Dinge aus der Wissenschaft mitnehmen – etwas von
der wissenschaftlichen Forschung zur Relativität, zum Mittelpunkt der Sonne, zu den kosmischen Kräften, zum Gehirn der Würmer und Ratten, zur Erfindung von Kei men, zur kalten Kernfusion und zum Liebesleben der Rennechsen. Zum anderen sollten Sie bereit sein, vieles über die Wissenschaft zu lernen – und zu lernen, diesen beschränkten Koloß so zu mögen, wie er wirklich ist. Am Ende des Buches erfahren Sie, was Sie unserer An sicht nach gelernt haben sollten und welche Implikatio nen es hat, wenn man den Golem Naturwissenschaft für sich arbeiten läßt. Unser Material ist im wesentlichen in den Kapiteln 1 bis 7 enthalten, wo Episoden beziehungs weise Fallstudien aus der Wissenschaft beschrieben wer den. Die Kapitel sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Auch unser Re sümee können Sie jederzeit lesen ; es wird Sie allerdings ohne den Kontext der Fallstudien nicht leicht überzeu gen. Ob Sie also am besten zuerst die Fallstudien oder zuerst oder zwischendurch das Resümee lesen, wissen wir nicht ; das entscheiden Sie selbst. Den wissenschaftlichen Prozeß zu explizieren stand für uns nicht im Vordergrund. Doch gibt es gemeinsa me Themen, die in allen Kapiteln wiederkehren. Viel leicht das wichtigste von ihnen ist der Gedanke vom »ex perimentellen Regreß«, der im Kapitel über die Gravita tionsstrahlung ausgeführt wird. Denn das Problem beim wissenschaftlichen Experiment besteht darin, daß es ei nerseits schlicht gar nichts besagt, wenn es nicht kom petent durchgeführt wird; andererseits kann sich aber in kontroversen Wissenschaften niemand auf die Kriterien
einer solchen Kompetenz einigen. Daher ist es in grund sätzlichen wissenschaft lichen Kontroversen regelmäßig der Fall, daß die Forscher nicht nur über die einzelnen Er gebnisse, sondern über die ganze Arbeit ihrer Kollegen und deren Qualität höchst uneins sind. Dann sind nicht die Ex perimente für die wissenschaft liche Aussage entscheidend – das übernimmt vielmehr der experimentelle Regreß, die Interpretation und Einordnung der Versuchsergebnisse. Der Punkt ist nun folgender : Für uns als Bürger technologischer Gesellschaften ist letztlich alle Wissenschaft, über die wir Bescheid wissen müßten, um uns an den demokratischen Prozessen zu beteiligen, »kontrovers«, das heißt ganz und gar abhängig vom Standpunkt und den logischen Ableitun gen der Experimentierenden.
Womöglich sind unsere Schlußfolgerungen für man che Leser nicht leicht zu akzeptieren ; in diesem Fall hof fen wir, daß am Ende zumindest die Beschreibungen in teressant und informativ waren. Jede Fallstudie zeigt ein sehr schönes Stück wissenschaftlicher Arbeit. Aber die se Schönheit ist nicht der Glanz, den die philosophische Polierscheibe erzeugt, sondern das Blitzen des Rohdia manten.
kapitel i essbares wissen: der chemische gedächt n istr a nsfer Das Gedächtnis ist für jeden Menschen ein faszinieren des Thema – fast jeder hätte gern ein besseres. Das Aus wendiglernen einer Rolle, das Auswendiglernen von Multiplikationstabellen ist Schwerarbeit, die der Mensch zu vermeiden trachtet, jene langsam wachsende Erfah rung, die gemeinhin als Wissen oder Weisheit gilt, ist wahrscheinlich nichts anderes als allmählich angehäuf te Erinnerungen. Wenn wir nun fähig wären, unser Ge dächtnis auf direktem Wege weiterzugeben, könnten wir unsere schöpferischen Fähigkeiten von klein auf nutzen, ohne erst viele Jahre darauf verwenden zu müssen, die Fundamente zu legen. Zwischen den späten fünfziger und Mitte der siebzi ger Jahre unseres Jahrhunderts sah es so aus, als könn ten wir eines Tages wirklich in der Lage sein, unser Ge dächtnis ohne die üblichen Mühen auszubilden. Diese Aussicht schien sich aus Versuchen zum chemischen Ge dächtnistransfer bei Würmern und Ratten zu ergeben, die James V. McConnell und später Georges Ungar durch führten. Falls Erinnerungen in Molekülen gespeichert sind, so dachte man, sollte es möglich sein, sich Shakes peares sämtliche Werke in Form einer Pille einzuverlei
ben, Multiplikationstabellen durch eine einzige Injektion in den Blutkreislauf zu meistern oder eine Fremdsprache fließend zu beherrschen, die man sich unter die Haut ge spritzt hat ; Ausdrücke wie »ein Buch verschlingen« bekä men eine ganz neue Bedeutung. Die beiden Forscher McConnell und Ungar glaubten gezeigt zu haben, daß Erin nerungen in chemischen Substanzen gespeichert werden, die von Tier zu Tier übertragbar seien. Sie glaubten ferner gezeigt zu haben, daß den jeweiligen Erinnerungen ent sprechende Substanzen aus dem Gehirn des einen Tie res gewonnen und mit durchaus vorteilhafter Wirkung an ein zweites Tier weitergegeben werden können. War das erste Tier für eine bestimmte Aufgabe dressiert wor den, zum Beispiel darauf, sich bei der Suche nach Futter auf einem Weg nach links oder nach rechts zu wenden, würde das zweite Tier dieses Futter bereits ohne Dressur zu finden wissen – oder doch nach weniger als dem übli chen Drill. Das zweite Tier hätte damit einen Vorsprung gegenüber anderen Tieren, die nicht in den Genuß der gedächtnishaltigen Substanz gekommen wären.
WÜRMER Die ersten Versuche führte McConnell mit Planarien durch, einer Abart der Strudelwürmer. McConnell dres sierte sie darauf, sich bei Lichteinwirkung zusammen zuziehen. Er bestrahlte dazu die am Boden eines Trogs schwimmenden Würmer mit starkem Licht und ver abreichte ihnen gleichzeitig einen leichten elektrischen
Schlag, so daß ihr Körper sich aufbäumte oder zusam menzog. Die Würmer assoziierten schließlich das Licht mit dem elektrischen Schlag und zogen sich nun bei je der Lichteinwirkung zusammen, gleichgültig, ob dazu ein elektrischer Schlag erfolgte oder nicht. Diejenigen Würmer, die sich bei Lichteinfall zusammenzogen, gal ten als »dressiert«. McConnell gab folgende Beschrei bung seiner Experimente : »Man denke sich einen circa 30 Zentimeter langen Plastiktrog mit halbkreisförmigem Querschnitt, der mit Teichwasser gefüllt ist. An beiden Enden des Trogs befinden sich Messingelektroden, die an eine Stromquelle angeschlossen sind. Über dem Trog sind zwei Glühbirnen angebracht. In dem Trog kriecht ein einzelner Plattwurm hin und her, vor der Ap paratur sitzt der Experimentator, den Blick auf den Wurm gerichtet, die Hände an zwei Schaltern. So bald der Wurm in gerader Linie über den Boden des Trogs gleitet, schaltet der Experimentator für drei Sekunden das Licht an. Nach zwei der drei Sekun den verabreicht der Experimentator eine Sekunde lang einen elektrischen Schlag, der vom Wasser ge leitet wird und den Wurm veranlaßt, sich zusam menzuziehen. Der Experimentator registriert das Verhalten des Wurmes während der zwei Sekunden nach dem Einschalten des Lichts, aber vor dem Er teilen des elektrischen Schlags. Wenn das Tier vor dem Einsetzen des elektrischen Schlags eine erkenn bare Wendebewegung oder Kontraktion zeigt, wird
dies als »korrekte« oder »bedingte« Reaktion gewer tet.«1 Das klingt sehr einfach. Wir wollen den Versuch den noch von Anfang an und im Detail rekonstruieren, denn es kommt vor, daß Planarien sich zum Beispiel von Zeit zu Zeit zusammenziehen und den Kopf wenden, ohne daß sie mit einem besonderen Reiz traktiert worden sind. Die Kontraktion kann eine Reaktion auf viele Rei ze sein, nicht nur auf elektrisches Licht. Bei der Dres sur der Würmer mußte McConnell zunächst einmal die Lichtmenge herausfinden, die einerseits stark genug war, um von den Würmern registriert zu werden, aber ande rerseits nicht so stark, daß sie die Würmer auch ohne be gleitenden elektrischen Schlag zur Kontraktion veran laßt hätte. Da das Verhalten von Würmern je nach Zeit punkt der Beobachtung und übrigens auch von Wurm zu Wurm variiert, haben wir es unmittelbar mit Stati stik und nie mit eindeutigen Ja- oder Nein-Resultaten zu tun. Noch gravierender ist, daß die Wirksamkeit der Wurmdressur mittels Stromschlag davon abhängt, daß der Wurm sich nicht schon in gekrümmtem Zustand be findet, wenn der elektrische Schlag verabreicht wird. Ein bereits gekrümmter Wurm verfügt über keine zusätzli che Verhaltensweise, um auf Licht plus Stromschlag zu reagieren, und zeigt darum keine erkennbare Dressur leistung, wenn der Reiz verabreicht wird. Um die Wür mer richtig zu dressieren, ist es also notwendig, sie genau zu beobachten und die elektrischen Reize nur zu verab reichen, wenn sie ruhig ausgestreckt schwimmen. Alle
diese Aspekte der Wurmdressur erfordern ein Geschick, das McConnell und seine Assistenten sich erst im Lau fe der Zeit aneigneten. Als McConnell in den fünfziger Jahren mit den Versuchen begann, erzielte er mit Wür mern, die mit 150 kombinierten Reizen aus Licht plus Stromschlag dressiert worden waren, eine Reaktionsrate von 45 % auf Licht allein. In den sechziger [ahren, als er und seine Assistenten bereits viel geübter waren, erziel te er mit derselben Anzahl von Reizkombinationen eine Reaktionsrate von 90 %. Mitte der fünfziger Jahre begann McConnell außer dem, dressierte Würmer in zwei Hälften zu zerschnei den. Beide Hälften einer durchgeschnittenen Planarie können sich zu einem ganzen Wurm regenerieren. McConnell interessierte nun, ob Würmer, die sich aus der vorderen Wurmhälfte regenerierten, in der das mutmaß liche Gehirn saß, die andressierte oder erlernte Reaktion bewahrten. Das war der Fall; doch das eigentlich Verblüf fende war, daß Würmer, die sich aus der hirnlosen hin teren Hälfte regeneriert hatten, genausogut, wenn nicht besser abschnitten. Das ließ darauf schließen, daß die Dressur sich irgendwie über den ganzen Wurm verteilt hatte und nicht im Gehirn lokalisiert war. So kam man schließlich auf den Gedanken, daß die Dressur chemisch gespeichert sein könnte. McConnell versuchte nun, nicht-dressierten Würmern Teile von dressierten Würmern einzupflanzen, um auf diese Weise den Dressureffekt zu übertragen; diese Expe rimente zeitigten jedoch wenig Erfolg. Ein weiterer Fak tor war das kannibalische Verhalten, das einige Planarien
zeigen : Es veranlaßte McConnell, im nächsten Schritt zu versuchen, kleingehackte Teile dressierter Würmer an de ren nicht-dressierte Brüder und Schwestern zu verfüttern; er stellte fest, daß Würmer, die dressiertes Wurmfleisch gefressen hatten, anderthalbmal häufiger auf Licht allein reagierten als vor der Mahlzeit. Von diesen Versuchen berichtete er um 1962. Zu diesem Zeitpunkt war die Vor stellung, Gedächtnis auf chemischem Wege zu übertragen, zur treibenden Kraft der Experimente geworden.
transplantation oder chemischer transfer ? Die Vorstellung, daß Dressur oder Gedächtnis auf che mischem Wege übertragen werden könnten, löste hefti ge Kontroversen aus. Manche Gegner McConnells ga ben zwar zu, daß Dressur von Wurm zu Wurm über tragen werde, fanden aber, daß das nicht viel zu besagen habe. Das Verdauungssystem der Planarie ist von dem der Säugetiere sehr verschieden. Der Wurm zerlegt die Nahrung nicht in kleine chemische Bestandteile, son dern verleibt seinem Körper ganze Brocken der aufge nommenen Nahrung ein. Das hieß salopp gesagt, daß die undressierten Würmer nicht etwa Gedächtnissub stanz absorbierten, sondern daß ihnen Teile des dres sierten Wurms – Stücke seines Gehirns oder sonst ein Teil seiner mehrortigen Gedächtnisstruktur – »einge pflanzt« wurden. Das wäre zwar interessant, würde aber nicht bedeuten, daß das Gedächtnis ein chemisches Phä nomen ist, und wäre wahrscheinlich für unser Verständ
nis vom Gedächtnis der Säugetiere ohnehin belanglos. McConnell konzentrierte sich aufgrund dieser Einwän de fortan auf die Gedächtnissubstanz (oder was er dafür hielt). Schließlich injizierte er undressierten Würmern RNA-Extrakte von dressierten Tieren und vermeldete mit dieser Methode beachtliche Erfolge.
sensibilisierung oder dressur ? Ein anderer und elementarer Einwand lautete, daß Pla narien zu primitiv seien, um überhaupt dressiert zu wer den. Dieser Argumentation zufolge unterlag McConnell einfach einer Selbsttäuschung, wenn er glaubte, den Würmern eine Reaktion auf Licht beigebracht zu haben ; er hatte vielmehr lediglich ihre allgemeine Sensibilität für alle Reize erhöht. Wenn also überhaupt etwas von Wurm zu Wurm übertragen wurde, dann eine Sensibi lisierungssubstanz, aber nicht der Trägerstoff eines spe zifischen Gedächtnisses. Diesem Argument ist schwer zu begegnen, dürfte doch jede Art von Dressur die Sensibilität steigern. Die Dres sur erfolgt durch Verknüpfung der Lichteinwirkung mit einem elektrischen Schlag. Eine Möglichkeit, die Sensi bilisierungshypothese zu erschüttern, besteht darin, die Würmer derselben Anzahl von Stromschlägen und Licht einfällen auszusetzen, jedoch in zufälliger Reihenfolge. Wenn der Haupteffekt des Versuchs eine Sensibilisierung der Würmer ist, sollten sie nach einer zufälligen Reihe von Stromschlägen und Lichtreizen genauso mit Zusam menziehen auf den Lichtreiz allein reagieren wie Würmer,
die ordnungsgemäß kombinierten Reizen ausgesetzt wa ren. Wenn das Entscheidende aber die Dressur und nicht die Sensibilisierung ist, werden die dressierten Würmer bei zufälligen Reizen besser abschneiden. Auch das klingt zunächst einfach. McConnell und an dere Wurmdompteure entdeckten in der Tat einen signi fikanten Unterschied zwischen dressierten und sensibili sierten Würmern; aber der Effekt war schwer zu wiederho len, weil die Dressur eine Sache der praktischen Übung ist. Um gute Dressureffekte zu erzielen, ist es also, wie schon erläutert, notwendig, die Würmer genau zu beobachten und erkennen zu lernen, wann sie genau so ruhig sind, daß ein Stromschlag einen erkennbaren Dressureffekt bewirkt. Unterschiedliche Dompteure können aber mit ihrer Dres sur stark abweichende Ergebnisse erzielen, auch wenn sie sich noch so sehr bemühen, die Experimente exakt nach den spezifischen Vorgaben zu wiederholen. Daß ein schlechtes Dressurresultat nur die Folge einer schlechten Dressurtechnik sei – in diesem Fall insbe sondere eines mangelnden Verständnisses für die Wür mer –, stellt sich dem Kritiker als schwache Entschuldi gung für ein nicht wiederholbares Ad-hoc-Ergebnis dar. Denn daß nur bestimmte Techniker die Würmer gut ge nug verstehen sollen, um auch ein Resultat erzielen zu können, ist ein höchst unwissenschaft liches Argument. Im Gegenteil, die Behauptung, nur bestimmte Menschen seien imstande, bestimmte Resultate zu erzielen (sie hät ten sozusagen ein »Händchen« für eine bestimmte Auf gabenstellung), ist für mögliche Gegner nachgerade der Beweis dafür, daß bei einem Experiment von vornherein
etwas faul ist. Die Wissenschaftsgeschichte schreibt genug Fälle, wo ein Experimentator mit vermeintlichem Händ chen als Schwindler entlarvt worden ist. Andererseits ist es eine allgemein anerkannte Tatsache, daß es besonders begnadete Experimentatoren gibt – eben den einen For scher in seinem Labor, dem eine Extraktion oder heikle Messung endlich gelingt. Deshalb wird in der Pharma kologie auch gern mit dem Drogenversuch am lebenden Tier gearbeitet. Dabei wird das Vorhandensein einer Dro ge und ihre spezifische Menge durch die Wirkung auf le bende Materie oder ganze Organismen bestimmt. In ge wisser Weise ist die Messung der Wirkung diverser Hir nextrakte auf Würmer oder Ratten eher als ein solcher Lebendversuch denn als Übertragungsexperiment anzu sehen. Aber gerade diese pharmakologische Technik des Lebendversuchs steht in dem Ruf, nur schwer von einer Gruppe von Wissenschaftlern auf eine andere »übertrag bar« zu sein, weil sie so viel Geschick und Übung erfor dert. Es ist also gar nicht einfach, Händchen-Resultate von Gelegenheitserfolgen zu unterscheiden, ein Problem, das auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften besonders virulent ist. Man sollte jedenfalls nie vorschnell von ge zielter Unlauterkeit ausgehen. Aus derlei Gründen schleppte sich die Auseinander setzung zwischen McConnell und seinen Gegnern lan ge hin ; ihren Höhepunkt erreichte sie 1964 mit dem Er scheinen eines Sonderhefts der Zeitschrift Animal Beha viour über eben diese Kontroverse. Zu diesem Zeitpunkt hätte man schwer sagen können, welche Seite gewinnen würde ; klar war jedoch, daß McConnells Behauptung,
zur Dressur von Würmern bedürfe es besonderer Fer tigkeiten, etwas mehr Akzeptanz genoß.
verwirrende versuchsvariabi.en und wiederholung Man konnte in der »Sensibilisierung« eine unklare, un eindeutige Variable sehen – Kritiker der Wurmversuche brachten darum eine Reihe anderer Variablen ins Spiel. Zum Beispiel sondern Planarien Schleim ab, während sie dahingleiten. Nervöse Würmer frequentieren mit Vorliebe schleimige Bereiche, in denen vor ihnen andere Würmer geschwommen sind. Ein undressierter Wurm, der in einem in zwei Bahnen geteilten Bassin schwimmt, bevorzugt also diejenige Seite, die mehr Schleim ande rer Würmer aufweist. Ist das Bassin bereits zu Dressurzwecken genutzt worden, ist die bevorzugte Seite jene, die von den dressierten Würmern häufiger passiert wor den ist. Es könnte also sein, daß undressierte Würmer ihren dressierten Kollegen nicht aufgrund der Übertra gung irgendeiner Substanz folgen, sondern aufgrund der hinterlassenen Schleimspuren. Auch beim einzel nen Wurm könnte es sein, daß eine spezifische Vorlie be zum Beispiel für Rechtswendungen das Resultat einer sich selbst verstärkenden Schleimspur ist und nicht etwa eine andressierte Reaktion. Hat man sich diesen Zusammenhang einmal klarge macht, gibt es eine Reihe möglicher Abhilfen. Zum Bei spiel könnte man die Plastiktröge zwischen den einzelnen Dressursitzungen schrubben (wobei man allerdings nie
genau weiß, wann es damit genug ist); oder man könn te regelmäßig neue Tröge verwenden. Ein Kritiker der Wurmversuche fand heraus, daß in ordentlich gereinig ten Trögen gar kein Lerneffekt festzustellen war, worauf hin McConnell nach weiteren Forschungen verlautbarte, in einer sauberen Umgebung könne man Würmer nicht richtig dressieren. Die Würmer, gab er zu verstehen, sei en in einer fremden, weil schleimfreien Umgebung un glücklich ; zuviel Hygiene verhindere ein Gelingen der Versuche. Man kann sich leicht ausmalen, wie die weite re Auseinandersetzung zwischen McConnell und seinen Kritikern über die Folgen der Verschleimung verlief. Schließlich wurde dieser Teil des Problems gelöst – und zumindest McConnell war zufrieden. Die Dressurtröge wurden jetzt im Vorfeld des Experiments durch undres sierte Würmer eingeschleimt, die selbst nicht Teil des Versuchs waren. So wurden die Tröge und Bahnen für die Versuchstiere behaglich gemacht, ohne daß ein be stimmtes Verhalten verstärkt worden wäre. Doch solche Auseinandersetzungen brauchen Zeit. Auch in diesem Fall war der genaue Stand der Dinge nicht jedem Beteiligten jederzeit genau klar. Das ist ei ner der Gründe dafür, warum wissenschaft liche Kon troversen sich so lange hinziehen, wo doch der Versuch selbst, um den es geht, klar und einfach scheint. Auch bedarf bekanntlich jeder Versuch einer großen Anzahl von Durchläufen sowie einer statistischen Aufbereitung. Die endgültig festgestellten Effekte weisen für gewöhn lich niedrige Werte auf, so daß nicht immer klar ist, was man nun eigentlich genau bewiesen hat.
Ob McConnells Versuchsergebnisse von anderen wie derholt werden konnten oder als wiederholbar zu bezeich nen waren oder nicht, hing vom allgemeinen Konsens darüber ab, welches eigentlich die wichtigen Variablen in diesem Versuch waren. Wir sprachen bereits von der – jedenfalls für McConnell gegebenen – Notwendigkeit, die Würmer zu verstehen und mit einem gewissen Ge schick zu behandeln. In seinem eigenen Labor folgte auf die Ausbildung von »Wurmdompteuren« durch einen er fahrenen Wissenschaftler ein wochenlanges Praktikum. Die Praktikanten sollten vor allem lernen, »die Würmer nicht zu hetzen«. McConnell sagt dazu: »Man muß sie zärtlich, fast liebevoll behandeln […]. Sicher scheint, daß die von Labor zu Labor variieren de Erfolgsrate wenigstens teilweise auf Unterschiede der Persönlichkeit und des Erfahrungshintergrun des der einzelnen Forscher zurückgeht.«2 Wie erwähnt, war dies vom Standpunkt seiner Gegner eine der Ausreden McConnells für die eklatante NichtWiederholbarkeit seiner Arbeit. Der Verschleimungs effekt war eine weitere Variable, die sowohl Anhänger wie Kritiker auf ganz unterschiedliche Weise heranzo gen. Allgemein könnte man sagen, daß in dem Maße, wie eine wissenschaftliche Kontroverse sich ausweitet, immer mehr Variablen auftauchen, die für die Experi mente entscheidend sein könnten. Für die Befürworter der in Frage stehenden These stellen sie nur neue Grün de dar, warum die Ungeübten Schwierigkeiten haben
könnten, die entsprechenden Experimente nachzuvoll ziehen; für die Gegner sind es nur weitere Ausreden, de ren man sich bedienen kann, wenn es anderen nicht ge lingt, die ursprünglichen Befunde zu wiederholen. Im Fall der Wurmexperimente wurden zu verschiede nen Zeiten bis zu siebzig Variablen ins Feld geführt, um Diskrepanzen bei den Versuchsergebnissen zu erklären. Genannt wurden zum Beispiel: Art und Größe der Wür mer; die Art ihrer Unterbringung außerhalb der Dressur (im Hellen oder im Dunklen); die Mischung des Futters; die Häufigkeit der Dressur; die Temperatur und chemi sche Zusammensetzung des Wassers; die Intensität, Farbe und Dauer des Lichts; die Beschaffenheit des elektrischen Schlags – seine Stärke, Polarität usw.; die Fütterungszei ten; die Jahreszeit und die Tageszeit der Dressur. Sogar der Luftdruck, die Mondphase und die Ausrichtung des Dres surtrogs im Magnetfeld der Erde wurden zum einen oder anderen Zeitpunkt genannt. Das schuf viel Raum für Vor wurf und Gegenvorwurf – lag die Ursache für ein positi ves Ergebnis im Händchen des Experimentators? Oder war es nur ein Ad-hoc-Erfolg? Festhalten läßt sich: je größer die Anzahl der potentiellen Variablen wird, desto schwe rer wird es zu entscheiden, ob das eine Experiment wirk lich die Bedingungen des anderen wiederholt.
»the worm runner’s digest« McConnell war ein ungewöhnlicher Wissenschaft ler. Was Menschen zu glauben bereit sind, hängt nicht nur davon ab, was ein Wissenschaftler entdeckt, sondern
auch unmittelbar von dem Bild, das er selbst von sei ner Arbeit hat. McConnell hatte keinen Respekt vor wis senschaftlichen Konventionen, und damit tat er sich kei nen Gefallen. Zu seinen unkonventionellen Handlungen gehörte 1959 die Gründung der Zeitschrift The Worm Runner’s Digest. McConnell behauptete, nur so die Un mengen von Post bewältigen zu können, die er als Re aktion auf seine ersten Arbeiten über Würmer erhalten hatte ; die Zeitschrift brachte aber auch Cartoons und al lerlei wissenschaft lichen Ulk. Zu den Nachteilen der Wurmexperimente gehörte es paradoxerweise, daß sie so einfach schienen. Das bedeu tete, daß jeder – vom Wissenschaftler bis zum Schüler – sich selbst an den Übertragungsexperimenten versuchen konnte. Schüler waren es auch, die McConnell mit Bit ten um Informationen und Berichten über ihre Resultate überschütteten. McConnells Antwort war ein Rundbrief, aus dem später The Worm Runner’s Digest wurde. Nun ist es für einen Forscher nicht unbedingt von Vor teil, wenn Schüler seine Experimente wiederholen; das läßt sie schnell unseriös wirken. Und es macht es noch schwie riger als sonst, seriöse und kompetente wissenschaft liche Arbeit von bloßem Geschluder zu trennen. Ein »humori ger« Rundbrief ist allerdings auch keine gute Idee, wenn es darum geht, die eigene Seriosität zu sichern. Ab 1967 zerfiel die Zeitschrift in zwei Hälften, die zu sammengebunden wurden; die zweite Hälfte taufte McConnell in The Journal of Biological Psychology um. Diese Zeitschrift war von konventionellerer Machart und ent hielt von Experten begutachtete Beiträge.
Der Gedanke war, die seriöseren Arbeiten in dieser zweiten Hälfte der Zeitschrift zu bringen und die Hälf te mit dem »Digest« für das humorige Rundbriefmateri al zu reservieren. (Die Analogie zwischen der Zeitschrift und der vorderen und hinteren Hälfte sich regenerieren der Würmer blieb McConnell und den Beiträgern natür lich nicht verborgen. Welche Hälfte enthielt wohl das Ge hirn ?) Das Journal of Biological Psychology erlangte trotz des Gutachtergremiums niemals die ganze Respektabi lität eines konventionellen wissenschaft lichen Forums. Wie sollte es auch, da gleichzeitig The Worm Runner’s Digest in jeder Nummer der wissenschaft lichen Konven tion den Rücken kehrte ! Da eine Reihe von McConnells Versuchsergebnissen in The Worm Runner’s Digest / The Journal of Biological Psychology publiziert wurden, wußten andere Wissen schaftler nicht, wie sie aufzufassen waren. Anders ausge drückt, jeder Kritiker, der entschlossen war, McConnells Arbeit nicht ernst zu nehmen, hatte eine gute Ausrede, seine Behauptungen zu ignorieren, wenn ihr einziges wis senschaftliches Forum McConnells eigene, nicht wirk lich anerkannte Zeitschrift war. In der Konkurrenz zwi schen wissenschaftlichen Behauptungen ist die Art der Präsentation ebenso wichtig wie der Inhalt. Die wissen schaftliche Gemeinde hat ihre Zeremonien und ihre ei genen heraldischen Traditionen. Die Symbole mögen ei gentümlich sein – anstelle von vergoldeten Löwen oder Einhörnern etwa das wirre Haar von Albert Einstein oder Richard Feynmans Brooklyner Akzent –, aber die Scheidelinie zwischen wissenschaft licher Schicklichkeit
und unwissenschaftlicher Exzentrizität ist klar gezogen, mag sie auch nur für Eingeweihte sichtbar sein. Vieles von dem, was McConnell tat, lag auf der falschen Seite dieser Linie.
ende der wurmkontroverse Als McConnell Mitte der sechziger Jahre seine These zu erhärten begann, daß es möglich sei, Würmer zu dres sieren (wenn auch noch nicht direkt, daß das Übertra gungsphänomen bewiesen werden konnte), änderte sich der Einsatz in dieser Frage auf eine Weise, die man che der früheren Einwände geringfügig erscheinen ließ. Dieser Wandel war die Folge von Experimenten, die darauf schließen ließen, daß das Übertragungsphänomen mögli cherweise auch an Säugetieren zu beobachten war.
Einige der schärfsten Kritiker McConnells hatten be hauptet, daß Planarien nicht lernfähig seien ; andere, daß ihre Lernfähigkeit nicht vollständig bewiesen worden sei. Zweifellos war die hohe Bedeutung des Übertragungs phänomens der Grund für die heftigen Angriffe gegen die behauptete Lernfähigkeit der Planarien. Mit dem mut maßlichen Nachweis der Gedächtnisübertragung bei Rat ten und Mäusen verstummten auch die Einwände gegen die Lernfähigkeit von Planarien. Ratten und Mäuse sind bekannte und beliebte Labortiere. Es ist unbestritten, daß sie lernen können, und es ist unbestritten, daß sie, um lernen zu können, einer sorgfältigen Behandlung bedür fen. Es herrscht ein allgemeiner Konsens darüber, daß die Praktiker, die in einem psychologischen oder biolo
gischen Labor mit den Tieren umgehen, bei ihrem Tun versiert sein müssen. Sobald man die Wurmexperimente im Licht der späteren Experimente mit Ratten betrach tete, erschien die Vorstellung, daß Würmer eines spe ziellen Umgangs bedurften und daß sie lernfähig seien, durchaus vernünftig. Das wurde von Wissenschaft lern, die an McConnells Resultate glaubten, auch betont, zum Beispiel von diesen zwei Experimentatoren: »Es hat doch etwas Paradoxes : wenn wir mit Ratten arbeiten, haben wir es mit unseren Versuchstieren zu tun – wir stellen fest, aus welcher Zucht der Bestand kommt, dressieren sie in schalldichten Kammern und ermitteln eine große Anzahl von Faktoren, die uns zusammengenommen ein Ergebnis liefern, das wir ›Lernen‹ nennen […]. Planarien hingegen wer den in einen Trog gesteckt, einem bedingten oder konditionierten und einem unkonditionierten Reiz ausgesetzt und sollen sich aufführen wie eine lernen de Ratte.«3 Aber es dauerte seine Zeit, bis dieser Stoßseufzer der Mehrheit der Wissenschaftler schließlich vernünftig vorkam. Er wurde erst dann akzeptabel, als es schon niemanden mehr kümmerte, weil sich die allgemeine Aufmerksamkeit der viel spannenderen Frage nach der Übertragung des Verhaltens bei Säugetieren zugewandt hatte. Sie stellte eine viel größere Herausforderung an das scheinbar gesicherte Wissen über die Natur des Ge dächtnisses dar.
SÄUGETIERE erste experimente Den Anspruch, die Gedächtnisübertragung bei Säuge tieren nachgewiesen zu haben, erhoben als erste vier un abhängige Gruppen, die von der Arbeit der jeweils ande ren nichts wußten. Die ersten vier Untersuchungen wa ren mit den Namen Fjerdingstad, Jacobson, Reinis und Ungar verbunden. Diese Untersuchungen wurden alle um 1964 durchgeführt und 1965 publiziert. Fjerdingstad setzte Ratten in einen Versuchskäfig mit zwei Gängen ; nach einer Zufallsreihe wurde der eine beleuchtet, der andere verdunkelt. Die Ratten bekamen 24 Stunden lang kein Wasser, erhielten dann aber ein paar Tropfen, wenn sie den hellen Gang wählten. Injek tionen mit dem Extrakt dressierter Hirne bewirkten bei nicht-dressierten Ratten, daß sie den Gang vorzogen, in dem ihre dressierten Kollegen ihren Durst hatten lin dern können. Jacobson ließ hungrige Ratten lernen, das Geräusch ei ner Klinke mit Fütterung zu assoziieren. Er behauptete, die Assoziation von Klicken mit Futter könne durch In jektion auf undressierte Ratten übertragen werden. Reinis brachte Ratten bei, während sie einem beding ten Reiz – Licht oder Summton – ausgesetzt waren, Futter aus einem Spender zu nehmen. Und auch die Erwartung des Futters konnte anscheinend durch Injektion über tragen werden. Auch McGonnells Labor begann Mitte der sechziger Jahre mit Ratten zu arbeiten; der wichtigste Experimen
tator mit Säugetieren war jedoch langfristig Georges Un gar. Ungar begann mit dem Nachweis einer übertragba ren Morphiumtoleranz. (In dem Maße, wie ein Tier sich an eine Droge gewöhnt, müssen höhere Dosen verab reicht werden, um sein Verhalten zu beeinflussen ; man spricht dann von einer Toleranz gegenüber der Droge.) Ungar zerrieb das Gehirn von fünfzig morphiumtole ranten Ratten und injizierte Ratten ohne Morphiumto leranz davon einen Extrakt. Das Resultat, über das 1965 berichtet wurde, schien zu belegen, daß die Morphium toleranz übertragbar war. Ob dies jedoch als die Über tragung eines Lerneffekts gewertet werden kann, ist un klar. Auch hier könnte man sagen, daß Ungar nicht so sehr ein Experiment zur Übertragung des Gelernten als vielmehr einen komplizierten Lebendversuch vorgenom men hatte. Die besondere Bedeutung dieses Punktes wird an anderer Stelle noch klarer werden. Als nächstes unternahm Ungar den Versuch, »Gewöh nung« zu übertragen. Er setzte Ratten so lange dem Ge räusch einer lauten Glocke aus, bis sie sich daran gewöhnt hatten und aufhörten, die typische Schreckreaktion zu zeigen. Anscheinend konnte auch Gewöhnung durch In jektion von Hirnextrakt übertragen werden. Interessan terweise übertrug Ungar die Gewöhnung nicht auf Rat ten, sondern von Ratten auf Mäuse.
erste reaktionen Es ist wichtig, etwas von der Atmosphäre der ersten wis senschaft lichen Reaktionen auf diese sonderbaren und
unorthodoxen Resultate zu erfassen. Die folgenden Be richte über Reaktionen sind aus dem Jahr 1962, als ge rade die ersten Säugetierresultate erschienen waren. Die Heftigkeit dieser Reaktionen rührt wahrscheinlich auch daher, daß man die früheren Wurmexperimente asso ziierte. Die Gäste in einer Bar seien von ihm abgerückt, nach dem er seine Ergebnisse präsentiert hatte, berichtete ein Wissenschaftler. Andere Forscher erzählten von ähnli chen Reaktionen, wenn sie bei Tagungen die Resultate ihrer Übertragungsexperimente darlegten : »In privater Runde kamen am Abend die ganzen hochemotionalen Einwände ans Licht, die die Men schen aus für mich schwer verständlichen und kaum nachvollziehbaren Gründen gegen das ganze Pro jekt haben. Nach einigen Drinks wurde das beson ders deutlich.« Und :
»Es war frappierend ! Die Leute waren wirklich – ich will nicht sagen bösartig – aber doch gehässig. […] Ich brauchte eine ganze Weile, bevor ich merkte, daß ich heiligen Boden betreten hatte. […] Man fragte mich ›Warum haben Sie nicht dies gemacht?‹, ›Wa rum haben Sie nicht das gemacht ?‹ Es kamen immer nur Vorwürfe.« Und weiter:
»Es war eine jener Gelegenheiten, wo man die gan ze Crème de la crème einer Disziplin beisammensit zen sieht, wie sie in einem verräucherten Raum über Richtig und Falsch berät. […] Ich erinnere mich be sonders an diese Tagung, weil am Ende des Abends die Leute mit positiven Resultaten zu den Leuten mit negativen Resultaten sagten, sie seien unfähig und hätten keine Ahnung, wie man ein Experiment durchführt, während die Leute mit negativen Resul taten zu den Leuten mit positiven Resultaten sagten, sie seien Betrüger und fälschten ihre Daten.«
georges ungars wichtigstes projekt Ungars bekannteste Arbeit begann 1967. Bei diesen Ex perimenten hatten Ratten die Wahl, einen hellen oder einen dunklen Käfig zu betreten. Von Natur aus wür den Ratten den dunklen bevorzugen, aber beim Betreten des Dunkelkäfigs wurden sie eingeschlossen und fünf Sekunden lang durch den Metallrost des Käfigbodens einem Stromschlag ausgesetzt. Sie lernten sehr schnell, den dunklen Käfig zu meiden; trotzdem führte Ungar über sechs bis acht Tage fünf Versuche täglich mit den Ratten durch, um sicherzugehen, daß das Rattenhirn einen ordentlichen Vorrat der »Angst-vor-der-Dunkel heit«-Chemikalie produzieren konnte. Nach der Dressur tötete Ungar die Ratten. Er bereitete aus ihren Hirnen einen Extrakt, den er Mäusen injizier te, die dann in derselben Vorrichtung getestet wurden. Durch Messung der Zeitspanne, die die Tiere während
eines dreiminütigen Versuchs in dem hellen beziehungs weise dem dunklen Käfig verbrachten, konnte Ungar an geben, ob Mäuse, denen Hirnextrakt von dressierten Rat ten injiziert worden war, die Dunkelheit eher mieden als Mäuse, denen man einen ähnlichen Extrakt aus dem Hirn normaler Ratten injiziert hatte. wiederholung bei säugetierversuchen Wie erwähnt, waren alle Arbeiten mit Säugetieren hef tig umstritten ; es gab sowohl Versuche, die Befunde zu stützen als auch sie zu widerlegen. Nach Ungars unsy stematischer (und umstrittener) Untersuchung der zwi schen 1965 und 1975 publizierten Versuchsergebnisse gab es 105 positive und 23 negative Wiederholungen, die sich folgendermaßen verteilten: Ubertragungsexperimente an Säugetieren von 1965 bis 1975, nach Ungar
An dieser Stelle sei auf eine Besonderheit der Wissen schaft hingewiesen, die häufig mißverstanden wird. Die Anzahl und auch die Bedeutung von experimentellen Wiederholungen reichen allein für gewöhnlich nicht aus, um die wissenschaftliche Gemeinde von einem un orthodoxen Befund zu überzeugen. So wog in diesem
Fall ein einziges negatives Experiment, durchgeführt von einem Team einflußreicher Forscher, schwerer als die weit größere Anzahl von positiven Resultaten. Wis senschaftler müssen Gründe dafür haben, an das Re sultat eines Experiments zu glauben ; das ist, wie die ses ganze Buch zeigen soll, angesichts des aufgebotenen Sachverstands auch ganz vernünftig. Wissenschaft ler verlangen um so bessere Gründe, je unorthodoxer die Resultate, die ein Experiment zeitigt ; man könnte sa gen, daß sie zunächst einmal an allen greifbaren Grün den festhalten, um nicht zu glauben. Zu den Gründen wiederum, die Menschen bei der Entscheidung beein flussen, ein Resultat zu glauben oder nicht zu glauben, gehören der Ruf des Wissenschaftlers und das Anse hen seines Instituts. Diese Haltung wirkt natürlich al lem Unorthodoxen noch mehr entgegen. Ungars Zah len zeigen deutlich, daß die Wiederholung von Expe rimenten alles andere als einfach ist ; dasselbe gilt für die Schlußfolgerungen, die Wissenschaftler aus solchen Wiederholungen ziehen. Natürlich brachte auch in diesem Fall die Konkurrenz der Resultate eine Konkurrenz der auf beiden Seiten er hobenen Einwände hervor – betreffend die Kompetenz und Geschicklichkeit der Experimentatoren. Etwas von der Atmosphäre dieser Problematik vermitteln wieder folgende Auszüge aus der Debatte zwischen Ungar und der Forschergruppe an der Stanford University.
die debatte mit stanford In Stanford versuchte man, Ungars Versuche so genau wie möglich zu wiederholen. Man ging dort davon aus, Ungar habe bei seinen Experimenten »ein gewisses Pep tid-Material isoliert« : »Wenn dieses Material – ungeachtet seiner genauen Struktur oder seines Reinheitsgrades – wirklich zur spezifischen Übertragung eines angelernten Verhal tens an nicht-dressierte Empfängertiere imstande ist, haben wir es mit einer der fundamentalsten Entdek kungen in der modernen Biologie zu tun.«4 Indessen erzielte man in Stanford negative Resultate. Es konnte nicht ausbleiben, daß Ungar daraufhin auf mi nimale Unterschiede zwischen den Stanford-Experi menten und seinen eigenen verwies, die den Mißerfolg erklären konnten. Im folgenden sehen wir nun zuerst, wie die zwei Reihen von Experimenten einander in dem Maße immer ähnlicher werden, wie die Stanford-Grup pe jedes einzelne Detail von Ungars Versuch nachzu machen trachtet ; und wir sehen danach, wie die Experi mente wieder »entzerrt« werden, als das unerwartete Er gebnis aus Stanford bekannt wird. Zuerst verbrachte der Leiter der Stanford-Gruppe, Av ram Goldstein, drei Tage in Ungars Labor, um sicherzu gehen, daß er den in Ungars Veröffentlichungen beschrie benen Verfahren genau folgen konnte. In einer Publikati on von 1971 wurde das weitere Vorgehen Goldsteins und seiner Mitarbeiter folgendermaßen beschrieben :
»In den nächsten drei Monaten führten wir 18 er folglose Experimente mit 125 Spenderratten und 383 Empfänger- und Kontrollmäusen durch. Da nach nahmen wir an unseren Mäusen einen Blind test mit von Dr. Ungar zur Verfügung gestellten Ex trakten von dressierten Spendern und Kontrollex trakten vor. Sodann brachten wir 100 unserer Mäuse nach Houston, um sie als Empfänger gleichzeitig mit der örtlichen Rasse testen zu lassen. Schließ lich selegierten wir aus allen unseren Experimen ten diejenigen Mäuse (beiderlei Geschlechts), die nach Empfang von Extrakten den schwarzen Käfig häufiger zu meiden schienen. Diese Tiere wurden gezüchtet und der Nachwuchs als Empfängertiere getestet. Wir hofften, auf eine möglicherweise ge netisch beeinflußte Empfangsfähigkeit zu selegie ren. Die Resultate aller dieser Experimente waren negativ.«5 Das verschiedentliche Zusammenarbeiten mit Ungars Labor diente zur Beseitigung etwaiger minimaler Un terschiede zwischen den Methoden in Stanford und de nen von Ungar. Wie aus derselben Publikation hervor geht, versuchte die Stanford-Gruppe unvoreingenom men ihr Bestes: »Wir dürfen die Möglichkeit, daß erworbenes Ver halten […] durch Hirnextrakte übertragen werden kann, nicht allein darum verwerfen, weil die vorge schlagenen Mechanismen […] unplausibel erschei
nen, um so weniger, als mehrere Labors positive Re sultate gemeldet haben.«6 Nach dem Mißerfolg in Stanford wurde der Ton der Auseinandersetzung schärfer. Die Gruppe beanspruchte, durch ihre »recht erschöpfenden« Bemühungen gezeigt zu haben, daß die Bedingungen für eine erfolgreiche Übertragung noch genauer spezifiziert werden müßten. »Können die Forscher [um Ungar] die Bedingun gen für die Durchführung eines Versuchs präzise und so detailliert formulieren, daß kompetente Wis senschaftler andernorts ihre Resultate reproduzie ren können? Unsere eigenen wiederholten Mißerfol ge […] könnten natürlich als Pfusch inkompetenter Stümper abgetan werden, doch es stehen ihnen ver gleichbare publizierte Erfahrungen anderer Forscher zur Seite.«7 Der Unterschied zwischen den beiden Experimenten be gann sich abzuzeichnen. Hinsichtlich der Interpretation eines bestimmten Aspekts der Resultate hatten Gold stein und sein Team festgestellt: »Da wir uns über die Bedeutung der Resultate mit Dr. Ungar nicht einigen können, sind sie hier nicht aufgeführt, werden aber vermutlich von ihm separat veröffentlicht.«8 Darauf entgegnete nun Ungar :
»Einige der wichtigsten Parameter wurden willkür lich verändert. […] Das geschah jedenfalls nicht des halb, weil [Goldstein] unsere Methoden nicht ge kannt hätte.«9 Ungar behauptete auch, die Stanford-Gruppe habe »eine der drei Boxen unserer Versuchsanordnung be seitigt, einige der Spendertiere nur einmal anstatt fünf mal der Dressur unterzogen […] und eine andere Mäu seart benutzt«.10 Einwände erhob Ungar ferner gegen die Art, wie die Stanford-Leute die von den Tieren ge zeigte Dunkelvermeidung maßen. Anstatt ihre Resul tate nach Maßgabe der Zeitspanne vorzulegen, die die Mäuse im dunklen Käfig verbracht hatten, hätten sie die »Latenz« gemessen. Das ist die Zeitspanne, die die Maus in der Apparatur verweilt, bevor sie zum ersten Mal den dunklen Käfig betritt. Goldstein hielt dem ent gegen, daß Ungar ebenfalls Latenzen registrierte, seine Daten aber stets als Verweildauer im Dunkelkäfig prä sentierte. »Ich fand dies merkwürdig; denn wäre das Dun kelvermeidungsverhalten wirklich durch die Injek tionen induziert, würde die Latenz gesteigert. Das entspricht einer elementaren Logik. Latenz ist denn auch der übliche und akzeptierte Maßstab der Expe rimentalpsychologen für derartige Verhaltensphä nomene. Trotzdem hat Ungar niemals mit Latenz gearbeitet.«11
Ungar erwiderte : »In seinen neuesten Bemerkungen versucht er, eine dieser Veränderungen – die Einführung der Latenz anstelle der im Dunkelkäfig verbrachten Gesamtzeit als Kriterium für Dunkelvermeidung – zu rechtfer tigen. Wir haben empirisch gezeigt, und auch ihm gezeigt, daß viele Mäuse schnell ins Dunkle laufen, aber unverzüglich wieder herauskommen und den Rest der Zeit im Hellen verbringen. […] Die Latenz würde daher irreführende Resultate liefern.«12 Goldstein sah es anders : »Die im Dunkelkäfig verbrachte Zeit […] hängt wohl eher von anderen Verhaltensformen ab. Eine Emp fängermaus, die mehr umherwandert, weil sie hy peraktiv ist, wird natürlich den Dunkelkäfig eher verlassen als ein passives Tier.«13 Wie man sieht, konnten sich Ungar und Goldstein we der darüber verständigen, ob genügend Details veröf fentlicht worden waren, noch ob gewisse Unterschie de zwischen dem Original des Experiments und seiner Wiederholung Bedeutung hatten oder wie geeignet ver schiedene Meßmethoden für die Angst vor der Dun kelheit waren. In Ungars Augen war Goldstein eindeu tig und signifikant von seinen eigenen Methoden abge wichen.
konkurrierende strategien Für Psychologen war die Gedächtnisübertragungstech nik in erster Linie deshalb von Interesse, weil sie ein Werkzeug zu bieten schien, mit dem das Gedächtnis ge radezu seziert werden konnte. Viele hofften, mit dieser Technik vor allem bestimmte Aspekte des Lernens aus einandersetzen zu können. Die genaue chemische Be schaffenheit der Gedächtnisübertragungssubstanzen war für diese Gruppe von untergeordneter Bedeutung. So meinte McConnell einmal scherzhaft, seinetwegen könne das aktive Material auch Stiefelwichse sein. McConnell und andere Verhaltenspsychologen wollten herausfinden, ob weitere mit dem Gedächtnis zusammen hängende Verhaltenstendenzen auf chemischem Wege von Säugetier zu Säugetier übertragbar waren. Angst vor der Dunkelheit war vielleicht eher als eine allgemeine Disposition anzusehen denn als ein spezifischer Lern inhalt. Dieser auf »Spezifik« abzielende Einwand entsprach der Sensibilisierungsdebatte, die sich um die Wurmver suche rankte, war jedoch im Fall der Säugetiere noch gravierender. Die spannende Frage war, ob es spezifische Moleküle gab, die spezifischen Gedächtnisinhalten oder gelernten Verhaltensweisen entsprachen. Vielen schien diese Behauptung schwer hinnehmbar. Viel eingängiger war die Vorstellung, daß die Moleküle einen nicht-spe zifischen Effekt auf das Verhalten hatten, der unter un terschiedlichen Umständen differierte. Man nahm zum Beispiel an, daß der Effekt des Gedächtnismoleküls dar in bestand, den emotionalen Gesamtzustand des Tieres
zu verändern, nicht aber darin, es mit einem bestimm ten Gedächtnisinhalt auszustatten. Setzte man in diesem Fall ein mit Hirnextrakt behandeltes, aber undressier tes Tier denselben Umständen aus, die sein toter Kolle ge während der Dressur erlebt hatte – zum Beispiel der Wahl zwischen Hell und Dunkel –, sollte dieselbe Reak tion hervorgerufen werden, die durch die Dressur indu ziert worden war : die Wahl des Hellen. Unter anderen Umständen jedoch mochte der Effekt ein ganz anderer sein: Hatte das behandelte Tier zum Beispiel die Wahl zwischen einem rosa und einem blauen Käfig, konnte die Reaktion darin bestehen, daß es sich in den Schwanz biß. Wenn das alles war, was es zum Thema Gedächtnis übertragung zu sagen gab, würde es wohl niemals eine Pille geben, mit der man Shakespeares Gesamtwerk ein fach schluckte. McConnell wollte herausfinden, ob das übertragbar war, was Psychologen als »höheres Lernen« verstehen. Man könnte auch sagen : Er wollte beweisen, daß etwas wie die Werke Shakespeares auch in chemischer Form existieren konnte. Um höheres Lernen nachzuweisen, brachten McConnell und andere Experimentatoren ihren Labortie ren komplexere Aufgaben bei, zum Beispiel die Wahl ei ner Links- oder Rechtswendung in einer Bahn, um an Futter zu kommen. Diese Experimente wurden in den späten sechziger Jahren durchgeführt. Unterscheidungs aufgaben wie diese schienen nicht nur bei Ratten, son dern auch bei anderen Tieren wie Katzen, Goldfischen, Küchenschaben und Gottesanbeterinnen übertragbar zu
sein. Sogar eine artenübergreifende Übertragung wurde in gewissen Grenzen entdeckt. Im Gegensatz zu McConnell war Ungar gelernter Phar makologe und daher auch viel mehr an der »biochemi schen Strategie« interessiert, die hier zur Geltung kom men mochte. Das heißt, er wollte aktive Moleküle iso lieren, analysieren und synthetisieren. Für Ungar kam es darauf an, einen reproduzierbaren Übertragungsef fekt zu finden und die chemische Substanz zu untersu chen, die ihn auslöste, gleichgültig, ob das übertragene Verhalten höheres Lernen war oder nicht. Er konzen trierte sich auf die Angst vor der Dunkelheit und mach te sich daran, das sogenannte »Skotophobin« zu extra hieren. Um eine meßbare Menge davon zu erhalten, be nötigte er das Gehirn von 4 000 dressierten Ratten. Für Psychologen war das kostenintensive Großwissenschaft, und selbst andere Biochemiker konnten mit Ungar nicht konkurrieren. Endlich war er überzeugt, daß es ihm ge lungen sei, Skotophobin zu isolieren, zu analysieren und zu synthetisieren. Ungar hatte gehofft, daß die Probleme bei der Wie derholung von Experimenten zur chemischen Gedächt nisübertragung mit der Bereitstellung des synthetischen Materials gelöst sein würden; aber wie so oft in kontro versen Wissenschaften blieben so viele anfechtbare De tails, daß die Experimente niemanden zu der Bestäti gung zwingen konnten, daß tatsächlich etwas Signifi kantes gefunden worden war. Es kam zu Debatten um die Reinheit des synthetischen Materials, seine Stabilität und die Art seiner Lagerung in
anderen Labors und um die Art der (etwaigen) Verhal tensänderungen, die es induzierte. Außerdem gab Un gar mehrere Veränderungen an der genauen chemischen Struktur des Skotophobins bekannt. Das Fazit war eine Fortdauer der Kontroverse. Einige Forscher, die an den chemischen Übertragungseffekt glaubten, vermuteten bei verschiedenen Tierarten eine ganze Familie von skoto phobinartigen chemischen Substanzen mit verwandten, aber geringfügig differierenden Formeln. Ein Experiment wies nach, daß das synthetische Skotophobin zwar bei Mäusen keinen Effekt hatte, jedoch eine Dunkelvermei dung bei Goldfischen bewirkte ! Es ist schwer, die genaue Anzahl der abgeschlossenen Experimente mit synthetischem Skotophobin anzugeben, weil verschiedene synthetische Versionen in Umlauf wa ren, viele Ergebnisse nie veröffentlicht wurden und man che davon nur der Frage galten, wo genau das Material im Hirn des Empfängertieres sich festsetzte. Einige Dut zend Experimente sind bekannt geworden; ihre Resulta te sind jedoch hinreichend uneindeutig, um Anhänger wie Skeptiker zufriedenzustellen.
der ausgang der geschichte Im Jahre 1971 schloß McConnell sein Labor. Es gelang ihm nicht, neue Geldmittel für seine Arbeit aufzutrei ben, und ohnedies konnte er sehen, daß er zum Nach weis des Übertragungseffekts die Strategie Ungars wür de übernehmen müssen, die aktiven Agenzien zu iso lieren und zu synthetisieren. Man könnte sagen, daß
Ungar den Wettbewerb um die richtige experimentelle Strategie gewonnen hatte. Im Kampf mit der Großwis senschaft Biochemie hatten die Psychologen den kürze ren gezogen. Ungar forcierte nun sein Forschungsprogramm. Das Dressieren Tausender von Ratten war allerdings ein Groß projekt, das man nicht oft durchführen konnte, und so verlegte er sich auf Goldfische. Goldfische schneiden bei Farbunterscheidungsaufgaben besonders gut ab und sind außerdem relativ billig. An die 17 000 dressierte Goldfi sche ließen ihr Leben für die Gewinnung von etwa 750 Gramm Farbunterscheidungshirnmasse, aber selbst diese Menge reichte nicht hin, um die chemische Struktur der von Ungar vermuteten Gedächtnissubstanzen »Chromo diopsine« auszumachen. Ungar, der schon im normalen Pensionsalter war, als er mit seinen Arbeiten zur Gedächtnisübertragung begann, starb 1977 im Alter von 71 Jahren. Mit ihm starb das ganze Forschungsgebiet : Denn mit seiner Dominanz, die Ungar auf diesem Gebiet aufgrund seines ambitionierten Ansatzes übte, hatte er andere Labors und andere Am bitionen geradezu abgewürgt. Einerseits war der Über tragungseffekt niemals wirklich so zuverlässig gewesen, daß er diese besonderen Experimente für einen Anfän ger oder einen Forscher mit knappen Geldmitteln attrak tiv gemacht hätte ; andererseits hatte Ungar die Meßlat te so hoch gelegt, daß der Aufwand für einen ernsthaf ten Versuch, seine Arbeiten zu wiederholen, einfach zu groß war. Als Ungar starb, gab es daher niemanden, der sein Werk fortgesetzt hätte.
Ungar hinterließ eine Reihe von Formeln für verhal tenspsychologisch aktive Moleküle, das Ergebnis seiner Arbeiten mit Ratten und Goldfischen. Manche Wissen schaftler versuchten, Skotophobin zu synthetisieren und an Tieren zu erproben, aber wie bereits erwähnt brach ten Versuche mit Skotophobin keine klare Antwort auf die Frage, ob diese Substanz wirklich die chemische Ver körperung einer spezifischen Angst-vor-der-Dunkelheit oder etwa nur der Angst überhaupt war. Sofern Ungars heroische Anstrengungen wertvolle Implikationen hat ten, gerieten diese aus dem Blick, als Ende der siebziger Jahre das verwandte Gebiet der Hirnpeptidchemie einen explosionsartigen Aufschwung erlebte. Jetzt besaßen die Wissenschaftler chemische Stoffe, die klare Effekte auf das Gehirn hatten. Effekte freilich, die mit Gedächtnis übertragung nichts mehr zu tun hatten. Das Skotophobin verlor seine besondere Bedeutung, und sein Zusammenhang mit dem anrüchigen Über tragungsphänomen gereichte ihm jetzt sogar zum Nach teil. Die meisten Wissenschaftler allerdings vergaßen das Ganze einfach. Wie so viele Kontroversen, ging auch die se aus wie das Hornberger Schießen. Man kann eigentlich nicht sagen, daß ein bestimmtes Experiment oder eine Experimentenreihe die Nichtexi stenz des Übertragungsphänomens nachgewiesen hätte. Doch es gab drei Publikationen, die damals den Aus schlag gaben und die ihr eigenes historisches Interesse dem negativen Effekt verdanken, den ihr Erscheinen be wirkte ; soziologisch interessant sind dagegen die Grün de für diesen Negativeffekt, zumal die drei Arbeiten
rückblickend betrachtet wenig schlüssig erscheinen. Die erste dieser drei Arbeiten erschien 1964 und kam aus dem Labor des Chemie-Nobelpreisträgers Melvin Calvin ; sie befaßte sich mit Planarien.14 Der Aufsatz be schrieb eine Reihe von Experimenten – bei einigen hat ten ehemalige Studenten von McConnell die Tiere dres siert –, die alle zu beweisen schienen, daß kein Lernen stattgefunden hatte. Dieser Aufsatz wurde jahrelang ge gen die ersten Forschungen zur chemischen Gedächtnis übertragung ins Feld geführt. Heute ist Calvins vorsich tiges Urteil, das Lernen bei Planarien sei »noch nicht be wiesen«, überholt; es ist vielmehr allgemein anerkannt, daß auch Würmer lernen können. Die zweite Arbeit, verfaßt von Byrne und 22 Mitauto ren, erschien 1966. Es war ein kurzer Aufsatz in der Zeit schrift Science, der darüber berichtete, daß es in sieben verschiedenen Laboratorien nicht gelungen war, ein be stimmtes Experiment zur chemischen Gedächtnisüber tragung zu wiederholen. Auch diese Arbeit wird oft als endgültiges Aus für das ganze Forschungsfeld angeführt. Seinerzeit war sie das auch. Aber für Ungar und ande re Anwärter waren sämtliche in dem Aufsatz erwähnten Experimente – einschließlich der ursprünglichen Expe rimente, die sie wiederholen wollten – fehlerhaft, weil sie davon ausgingen, daß das Übertragungsmaterial RNA war und kein Peptid. Nach Ungar war anzunehmen, daß Byrne und Konsorten beim Umgang mit dem Hirnex trakt das aktive Peptidmaterial zerstört hatten. Seiner Darstellung zufolge war es das Glück des originalen Ex periments, daß mangelhafte biochemische Techniken an
gewandt wurden, die das Peptid nicht zerstörten und da her das korrekte positive Resultat erbrachten! Die letzte der drei Arbeiten ist die bekannteste. Un gars fünfseitiger Bericht über seine Analyse und Synthe se des Skotophobins erschien 1972 in Nature, vielleicht der renommiertesten Zeitschrift für die Lebenswissen schaften. Dem Bericht folgte jedoch eine fünfzehnseiti ge kritische Stellungnahme des namentlich genannten Gutachters. Dessen eingehende kritische Bemerkungen, vielleicht auch schon die Tatsache dieser ungewöhnlichen Form der Publikation reduzierten die Glaubwürdigkeit des Phänomens der Gedächtnisübertragung beträchtlich. Es sei ausdrücklich erwähnt, daß Nature diese unübliche Publikationsform später noch öfter zum Nachteil gewis ser Randwissenschaften, ja vielleicht zum Nachteil der Wissenschaft überhaupt gewählt hat. Obgleich die chemische Übertragung von Gedächtnis inhalten inzwischen nur wenig Glaubwürdigkeit genießt, würde ein entschlossener Verfechter dieser Idee keine im Druck erschienene Widerlegung auf der Grundla ge schlüssiger technischer Beweise finden. Es wäre we der unvernünftig noch unwissenschaftlich, wenn er aufs neue zu experimentieren begänne. Jedes negative Ver suchsergebnis kann wegerklärt werden, und viele po sitive sind gar nie wegerklärt worden. Insofern ist die Gedächtnisübertragung ein Musterbeispiel kontrover ser Wissenschaft. Wir glauben heute nicht mehr an die Gedächtnisübertragung, weil das Thema uns langweilt, weil interessantere Probleme aufgetaucht sind und weil die wichtigsten Experimentatoren ihre Glaubwürdigkeit
verloren haben. Wirklich widerlegt wurde die Gedächt nisübertragung nie ; sie hat nur einfach aufgehört, die wissenschaftliche Phantasie zu beschäftigen. Der Golem wandte seinen Blick von ihr ab.
kapitel 2 die relativitätstheorie : zwei experimente, die sie »bewiesen« haben Einsteins Relativitätstheorie wurde Anfang des 20. Jahr hunderts weithin bekannt. Ihren Erfolg unter Naturwis senschaftlern verdankte sie unter anderem dem Umstand, daß sie eine Reihe von bis dahin rätselhaften Beobach tungen verständlich machte. So erklärte die Theorie die leichte Abweichung der Umlaufbahn des Planeten Mer kur von ihrer eigentlich erwarteten Bahn und machte eine leichte Rotverschiebung des Spektrums begreifbar, die einige Forscher in dem von der Sonne kommenden Licht entdeckt haben wollten. Aber die Relativitätstheorie wurde auch beim großen Publikum ein Erfolg und kam sogar in die Schlagzeilen. Das hatte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem harmonisierenden Effekt der Naturwissenschaften auf einem in sich zerrissenen Kon tinent zu tun; es hatte mit den dramatischen Umständen und der Schlichtheit des 1919 erbrachten »Beweises« für die Relativität zu tun; und es hatte zweifellos mit den er staunlichen Konsequenzen der Relativitätstheorie für un ser Alltagsverständnis der physischen Welt zu tun. Als man die Konsequenzen aus Einsteins Einsicht – daß die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Geschwindig keit der Lichtquelle konstant sein muß – herausarbeitete, wurden die seltsamsten Dinge prognostiziert.
Sofern Einsteins Überlegungen zutrafen, waren Zeit, Masse und Länge keine festen Größen, sondern relativ zu der Geschwindigkeit, mit der sich die Gegenstände bewegten. Gegenstände, die sich sehr schnell bewegten – beinahe mit Lichtgeschwindigkeit –, wurden dadurch sehr schwer und sehr kurz. Menschen, die mit dieser Schnelligkeit reisten, schienen langsamer zu altern; ein eiige Zwillinge alterten in unterschiedlichem Tempo, wenn der eine unbeweglich verharrte und der andere sich sehr schnell bewegte. Falls die Theorie zutraf, be wegte sich Licht nicht geradlinig, sondern wurde stär ker als bis dahin für möglich gehalten von Gravitations feldern abgelenkt. Eine bedenklichere Konsequenz der Theorie war, daß mit ihr Masse und Energie austausch bar waren. Das erklärte auf der einen Seite, warum die Sonne weiter leuchtete, obwohl ihre Energiequelle seit langem erschöpft sein mußte. Andererseits wurden nun neue, furchtbare Energiequellen erschlossen – eine Kon sequenz aus der Relativitätstheorie, die später durch einen Beweis demonstriert wurde, für den das Adjektiv »irre versibel« geradezu erfunden scheint : die Explosion der Atombombe. Insoweit es überhaupt naturwissenschaft liche »Tatsachen« gibt, gehören die von Einstein darge legten Beziehungen zwischen Materie und Energie mit Sicherheit dazu. Aber die Relativitätstheorie ist nicht erst durch die Ex plosion der Atombombe 1945 bewiesen worden. Sie wur de schon Jahre zuvor anerkannt. Wie die Geschichte mei stens erzählt wird, gab es zwei entscheidende, durch Be obachtung gewonnene Beweise für sie, die wir in den
beiden folgenden Teilen dieses Kapitels vorstellen: den »Ätherwind«-Versuch von Michelson und Morley aus den 1880er Jahren und Eddingtons »Sonnenfinsternisbeob achtung« von 1919, die eine feststellbare Verschiebung der Sterne zutage brachte. Nach der konventionellen Lesart zeigten die Beob achtungen von Michelson und Morley, daß Licht sich in alle Richtungen mit derselben Geschwindigkeit aus breitet, wodurch die Spezielle Relativitätstheorie bewie sen wurde ; Eddingtons Expeditionen in ferne Länder, die er zur Beobachtung der Sonnenfinsternis von 1919 unternahm, hätten dagegen ergeben, daß das Sternen licht von der Sonne hinreichend abgelenkt wurde, um die Allgemeine Relativitätstheorie zu beweisen. Das ei gentlich Dramatische ist die Klarheit und völlige Ein deutigkeit der Fragen und Antworten, um die es hier geht: Entweder breitete sich das Licht in alle Richtungen gleich schnell aus oder nicht. Entweder wurden Sterne in Sonnennähe zweimal so weit verschoben, wie es nach der alten Newtonschen Theorie der Fall war, oder nicht. Vordergründig betrachtet, war die Sache also völlig klar. Bei vielen Zeitgenossen wurde das Interesse an den Na turwissenschaften auch gerade durch das Außerordent liche an der Relativität und durch die Geschichte der ersten Beobachtungen geweckt. Doch es zeigt sich, daß auch diese Versuchsergebnisse bei weitem nicht so ein deutig und beweiskräftig waren, wie allgemein geglaubt wird. Was vordergründig betrachtet völlig klar scheint, ist in der Praxis weit komplizierter.
badet die erde in einem äthermeer ?
1887 führten Albert Michelson (der später als erster Amerikaner den Nobelpreis für Physik erhielt) und Edward Morley an der Case School for Applied Sci ence in Cleveland mit großer Sorgfalt ein Experi ment durch, bei dem sie die Lichtgeschwindigkeit in Richtung der Erdbewegung mit derjenigen im rech ten Winkel zur Erdbewegung verglichen. Zu ihrer großen Überraschung stellten sie fest, daß die bei den Geschwindigkeiten völlig identisch waren !
licht und äther In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm man an, daß Lichtwellen durch ein den gesamten Weltraum erfüllendes, feinstoffliches Medium wandern, das man »Äther« nannte. Wenn dies zutraf, dann mußte die Ge schwindigkeit der Lichtwellen bei der Bewegung der Erde in ihrer Umlaufbahn um die Sonne durch den Äther variieren. So wie man bei schnellem Laufen in un bewegter Luft seinen eigenen Gegenwind erzeugt, soll te die Bewegung der Erde ihren eigenen »Ätherwind« im dünnen »Äthermeer« erzeugen. Stellte man sich auf die Oberfläche der Erde und blickte in Richtung des Windes, sollte sich das auf einen zukommende Licht schneller bewegen als im unbewegten Äther. Die Ge schwindigkeit des Lichts sollte durch den Ätherwind zunehmen. Blickte man dagegen senkrecht zur Rich
tung des Ätherwinds, sollte das. Licht sich mit norma ler Geschwindigkeit bewegen. Eben dies erwartete Al bert A. Michelson, als er seine ersten Ätherwindver suche durchführte ; was er tatsächlich fand, war, daß das Licht sich anscheinend in alle Richtungen gleich schnell ausbreitete. michelson und die relativität Nach der Relativitätstheorie muß das Licht in alle Rich tungen eine konstante Geschwindigkeit haben – doch die se Theorie tauchte erst rund 25 Jahre nach Michelsons ersten Versuchen auf. Michelson wußte also nichts von der Relativität ; er begann damit, die Bewegung durch das Äthermeer als eine Art Geschwindigkeitsmesser für die Erde zu benutzen. Und wenn es von diesem Expe riment häufig heißt, es habe ein Problem aufgeworfen und mit der Lösung hätte sich dann Einstein abgegeben, so ist auch das wahrscheinlich falsch. Als Einstein sei ne Theorie formulierte, scheint er für Michelsons Expe rimente nur wenig Interesse gehabt zu haben. Sein Aus gangspunkt war ein Paradoxon in der Theorie der elektro magnetischen Wellen. Das Bindeglied zwischen Einstein und Michelson wurde von Einstein erst gut zwanzig Jah re nach Abschluß der ersten »entscheidenden« Experi mente geschmiedet. Michelson selbst konnte nicht ah nen, welche Bedeutung seine Resultate später einmal be kommen sollten. Zu seiner Zeit war er enttäuscht, weil es ihm nicht gelungen war, die Geschwindigkeit der Erde zu bestimmen. Wie wir sehen werden, brachte Michelson seine Experimente nicht einmal zu einem ordentli
chen Abschluß; er veröffentlichte seine ersten Befunde und wandte sich dann anderen Dingen zu. wie man die geschwindigkeit des ätherwindes misst Um die Geschwindigkeit der Erde zu messen, mußte Michelson die Geschwindigkeit des Lichts in verschiede nen Richtungen messen. Die Anfangsannahme war, daß die maximale Geschwindigkeit der Erde im Verhältnis zum Äther etwa der Geschwindigkeit der Erdbewegung auf der Sonnenumlaufbahn entsprach, also rund 30 Kilo meter pro Sekunde betrug. Von der Lichtgeschwindigkeit wußte man, daß sie bei etwa 300 000 Kilometern pro Se kunde lag, so daß der zu messende Effekt klein sein muß te – eine Abweichung von einem Zehntausendstel. Er schwerend kam hinzu, daß direkte Messungen der Licht geschwindigkeit zu ungenau waren, um eine so geringe Abweichung aufzuzeigen; die einzige Möglichkeit bestand darin, die Geschwindigkeit des Lichts in zwei verschie denen Richtungen miteinander zu vergleichen. Die Methode bestand in der Verwendung einer Appa ratur, die man heute »Interferometer« nennt. Ein Licht strahl wird in zwei Teilstrahlen zerlegt, die danach wie der überlagert werden. Wenn die zerlegten Teilstrahlen sich überlagern, entstehen »Interferenzstreifen« : eine Reihe von hellen und dunklen Streifen. Der Effekt be ruht auf den Lichtwellen in jedem Teilstrahl, die einan der entweder verstärken (helle Streifen) oder aufheben (dunkle Streifen). Das ist eine einfache geometrische Fol ge der Überlagerung von zwei Wellenbewegungen: In
Abbildung 2.1 Interferenzstreifen
dem Maße, wie die Lichtstrahlen sich über die Fläche bewegen, auf der sie zusammentreffen, verändert sich ihre Weglänge jeweils ein wenig. So muß beispielsweise der linke Strahl (Strahl 1 in Abb. 2.1.) eine gewisse Ent fernung zurücklegen, um die linke Seite des beleuchte ten Bereichs zu treffen. Um einen Punkt weiter rechts davon zu treffen, muß er eine geringfügig längere Weg strecke und für einen Punkt rechts außen auf der Fläche eine noch längere Wegstrecke zurücklegen. Der Strahl wird daher in unterschiedlichen Stadien seiner Wellen bewegung auf der Fläche auftreffen: Der Wellenberg von Strahl 1 trifft einen Punkt der Fläche, während das Wel lental einen anderen, etwas entfernteren Punkt trifft. Da dasselbe auch für Strahl 2 gilt, werden manchmal beide
Abbildung 2.2 Geschwindigkeit des Lichts auf zwei Wegen
Wellenberge (oder Wellentäler) denselben Punkt treffen und ihre Energie vereinigen, während an anderen Punk ten ein Wellenberg mit einem Wellental zusammenfällt, so daß sie einander aufheben – daher die hellen und dunklen »Interferenzstreifen«. Michelson hatte nun vor, die interferierenden Strah len im rechten Winkel zueinander auszusenden und auf einen Spiegel treffen zu lassen, so daß sie sich nahe der Lichtquelle wieder überlagerten. Stellen wir uns nun vor, daß die ganze Apparatur in einem solchen Winkel zum Ätherwind ausgerichtet wird, daß die Lichtgeschwindig keit entlang beider Wege gleich ist (siehe Abb. 2.2.). Wir betrachten die Interferenzstreifen; danach denken wir uns die ganze Apparatur im Verhältnis zum Ätherwind um die eigene Achse gedreht, so daß die Lichtgeschwindigkeit entlang des einen Weges schneller, entlang des anderen langsamer werden sollte (siehe Abb. 2.3.). Betrachtet man
Abbildung 2.3. Eine Weglänge senkrecht zum Ätherwind, eine mit dem Ätherwind
nun für den Augenblick nur einen Weg des Lichtstrahls, so wird ein Punkt, auf dem vorher ein Wellenberg auf getroffen war, jetzt möglicherweise nicht mehr getroffen werden. Das gleiche gilt für die andere Hälfte des Strahls. Der Effekt wäre, daß die Punkte der Verstärkung und der Auslöschung sich verschieben, das heißt, daß die dunklen und hellen Streifen seitwärts versetzt würden. Bei dieser Versuchsanordnung zur Ermittlung der Erd bewegung durch den Äther muß man am Beginn des Versuchs nicht wissen, aus welcher Richtung der Ätherwind kommt ; es genügt, die Apparatur zu drehen und nach Verschiebungen der Streifen Ausschau zu halten. Sobald man die ganze Bandbreite der Bewegung dieser Streifen kennt, kann man die Geschwindigkeit und die Richtung berechnen.
Die obige Erklärung unterschlägt jedoch einen wichti gen Punkt. In Michelsons Apparatur wurden die Licht strahlen nur in einer Richtung ausgesandt und dann reflektiert. Wenn sie also in der einen Richtung vom Ätherwind beschleunigt wurden, mußten sie in der Ge genrichtung verlangsamt werden; der Effekt hob sich an scheinend auf. Rein arithmetisch ist dies jedoch nicht ganz zutreffend. Das Plus wird hier nicht ganz durch das Minus aufgehoben; es bedeutet aber, daß der zu beobach tende Effekt sehr viel geringer ist, als er wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Strahlen zu überlagern, ohne sie zum Ausgangspunkt zurückkehren zu lassen – aber die gibt es nicht. Praktisch bedeutet dies, daß man nicht weiter nach einer Veränderung der Lichtgeschwindig keit in der Größenordnung von einem Zehntausendstel sucht, sondern darauf angewiesen ist, einen Effekt in der Gegend von einem Hundertmillionstel zu suchen. Es ist also in der Tat ein äußerst empfindliches und heikles Ex periment. Gleichwohl erwartete Michelson bei der Ent wicklung seiner Apparatur, daß die Streifen sich um vier Zehntel der Breite eines einzelnen Streifens bewegen wür den, wenn der Ätherwind eine Geschwindigkeit hatte, die der Geschwindigkeit der Erde auf ihrer Umlaufbahn ent sprach. Das sollte leicht zu beobachten sein.
die versuchselemente Wichtig ist festzuhalten, daß die bestimmbare Ge schwindigkeit des Ätherwinds von der Ausrichtung der Apparatur abhing, die sich wiederum mit der Rotation
der Erde um ihre Achse änderte; bald kam der Wind in Richtung des Lichts, bald von unten oder von oben durch das Gerät hindurch, wo er einen kaum auszumachenden Effekt auf die beiden Wege des Lichts hatte. Daher mußte der Versuch zu verschiedenen Tageszeiten während der Rotation der Erde wiederholt werden, so daß die ver schiedenen Ausrichtungen der Apparatur erprobt werden konnten. Um die Bewegung ganz zu verstehen, war es aber notwendig, das Experiment auch zu verschiedenen Jahreszeiten zu wiederholen, wenn die Erde also in un terschiedlichen Richtungen zur Sonne stand. Sollte sich herausstellen, daß der Äther im Verhältnis zur Sonne un bewegt war, so daß die ganze Bewegung der Erde durch den Äther sich ihrer Umlaufgeschwindigkeit verdankte, würde die Geschwindigkeit das ganze Jahr über zu einer bestimmten Tageszeit mehr oder minder konstant sein. Bewegte sich hingegen das ganze Sonnensystem durch den Äther, verliefe die Umlaufbewegung der Erde zu be stimmten Zeiten des Jahres in derselben Richtung wie die Bewegung des Sonnensystems, zu anderen Zeiten in entgegengesetzter Richtung. Man konnte also erwarten, zu einer bestimmten Jahreszeit eine maximale, zu einer anderen eine minimale »Windgeschwindigkeit« festzu stellen. Die Differenz konnte dazu dienen, die Bewegung des Sonnensystems insgesamt zu bestimmen. Wenn jedoch die Geschwindigkeit der Bewegung des Sonnensystems durch den Äther ähnlich der Geschwin digkeit der Erde auf ihrer Umlaufbahn war, gab es Zei ten im Jahr, in denen die Bewegung der Erde auf ihrer Umlaufbahn die Bewegung der Sonne nahezu aufhob. Zu
diesen Zeiten wäre die festgestellte Geschwindigkeit des Ätherwinds sehr niedrig oder sogar null. Das war zwar ein unwahrscheinliches Zusammentreffen, aber um es ausschließen zu können, mußte man zu zwei verschie denen Jahreszeiten Beobachtungen vornehmen. Damit der Versuch funktionieren konnte, mußten die Weglängen der Lichtstrahlen konstant gehalten werden, so daß sie nur durch Richtungsänderungen des Ätherwinds beeinflußt wurden. Die scheinbaren Veränderungen der Länge, die beobachtet werden sollten, bewegten sich in der Größenordnung einer Wellenlänge des Lichts. Da die Weglängen eine Größenordnung von mehreren zehn Me tern hatten und die Wellenlängen des sichtbaren Lichts in tausendmillionstel Meter gemessen werden, war es schwer, die Apparatur hinreichend stabil zu halten. Eine winzige Ablenkung eines der Spiegelarme reichte leicht aus, um die Meßergebnisse unbrauchbar zu machen. Michelson soll te feststellen, daß eine Masse von 30 Gramm, am Spiegelarm einer tonnenschweren Apparatur aufgehängt, genüg te, um die Resultate dramatisch zu beeinträchtigen. Be züglich der Temperatur schätzte er, daß Veränderungen von einem hundertstel Grad eine Wirkung hervorriefen, die dreimal größer war als diejenige, die vom Ätherwind selbst zu erwarten war. Auf der einen Seite konnte Metall in der Umgebung oder konnte auch das Magnetfeld der Erde magnetische Einwirkungen ausüben, die womöglich die Resultate aller Apparaturen ruinieren würden, denen man mit Eisen oder Stahl Festigkeit verliehen hatte. Ge ringste Veränderungen der Luftfeuchtigkeit konnten auf der anderen Seite diejenigen Versuche sabotieren, bei de
nen man die Weglängen mit Holzelementen stabil halten wollte. Daß Temperatur und Bodenerschütterungen über wacht werden mußten, brachte es mit sich, daß die einge setzte Apparatur sehr massiv sein mußte und auf starken Fundamenten im Keller eines stabilen und besonders gut isolierten Gebäudes aufzubauen war. Leider schufen die notwendige Massivität des Geräts und seine sorgfältige Isolierung nun ein entgegengesetz tes Problem. Man glaubte nämlich, der Äther könne von massiven, undurchdringlichen Materialien »mitgeführt« werden. Daher konnte man einwenden, daß ein gut iso lierter Raum oder das Untergeschoß eines großen Ge bäudes praktisch eine Ätherfalle bildete – gleichsam ein stehendes Gewässer, um das die Brise des Äthers weh te. Schlimmer noch : Hügel und Berge, ja die Oberfläche der Erde selbst führten vielleicht den Äther mit, wie sie die Luft mitführten. Diese Betrachtungsweise wies dar auf hin, daß der Versuch im Freien, auf dem Gipfel eines hohen Berges, oder doch wenigstens in einem nicht mas siven, leichten Gebäude, vorzugsweise aus Glas, durch geführt werden sollte. Der Versuch enthält also sechs Elemente : 1. Die Lichtstrahlen müssen zerlegt und auf Wegen im rechten Winkel gespiegelt werden. 2. Beobachtungen von Interferenzstreifen müssen an vielen Punkten gemacht werden, während die ganze Ap paratur um ihre eigene Achse rotiert. 3. Die Beobachtungen müssen mit Rücksicht auf die Rotation der Erde um ihre Achse zu verschiedenen Ta geszeiten wiederholt werden.
4. Die Beobachtungen müssen mit Rücksicht auf die sich ändernde Bewegungsrichtung der Erde im Verhält nis zum Sonnensystem zu verschiedenen Jahreszeiten wiederholt werden. 5. Es spricht einiges dafür, den Versuch in einem luftigen, offenen oder durchsichtigen Gebäude durchzufüh ren. 6. Desgleichen sollte der Versuch auf einem hohen Berg durchgeführt werden.
die versuchsapparatur Michelson führte 1881 einen ersten Versuch durch und 1887 unter Mitwirkung Arthur Morleys einen zweiten, wesentlich verbesserten. Im Prinzip ist der Versuch ein fach : Ein Lichtstrahl wird in zwei Teilstrahlen entlang zweier Wege zerlegt und im rechten Winkel gespiegelt, nahe der Lichtquelle wieder überlagert und die Interfe renzstreifen beobachtet. Die Apparatur wird gedreht und die Beobachtungen werden wiederholt, wobei Verschie bungen in der Position der Streifen registriert werden. Gewöhnlich wurden die Interferenzstreifen in sechzehn verschiedenen Gerätepositionen beobachtet, während die Apparatur einmal im Kreis gedreht wurde. In der Praxis war der Versuch überaus heikel. Von der ersten Appara tur, die in Deutschland gebaut wurde, meldete Michelson große Schwierigkeiten mit Erschütterungen. Das Experi ment mußte von Berlin in das ruhigere Potsdam verlegt werden, und sogar da konnte man die Interferenzstrei fen noch zum Verschwinden bringen, wenn man hundert
Meter vom Labor entfernt fest mit dem Fuß auftrat. Die Messungen mußten nachts durchgeführt werden, wenn es weniger äußere Störungen gab. Die erste Apparatur arbeitete mit vergleichsweise kurzen Weglängen. In spä teren Versuchen wurden die Weglängen durch mehrfa che Hin- und Herspiegelung der Lichtstrahlen verlängert, wodurch die Sensibilität für den Ätherwind erhöht wur de, aber zwangsläufig auch die Sensibilität für Erschüt terungen und andere Störungen. Die lange Geschichte des Versuchs besteht also aus der Verlängerung der Wegstrecken der zwei Lichtstrah len, Veränderungen bei den Materialien, aus denen die Einzelteile der Apparatur hergestellt wurden, und Ver änderungen bei der örtlichen Situierung und Unterbrin gung des Versuchs.
das experiment von 1881 Michelsons erstes Experiment arbeitete mit Weglän gen von etwa 120 Zentimetern. Nach seinen Berechnun gen bewirkte ein Ätherwind von der Größenordnung der Erdumlaufgeschwindigkeit bei einer Drehung der Appa ratur eine Verschiebung von etwa einem Zehntel der Brei te eines Interferenzstreifens. Michelson glaubte, diesen Effekt, sollte er vorhanden sein, ganz leicht beobachten zu können. Bei der Konstruktion und Benutzung dieser Apparatur entdeckte er das Problem der Erschütterun gen und auch die Verzerrungen, die das Drehen der Ap paratur um ihre Achse in den Spiegelarmen verursach te. Dennoch veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Be
obachtungen, wonach keine Bewegung der Erde durch den Äther festzustellen war. Nach der Veröffentlichung wurde der Versuch von H. A. Lorentz nachanalysiert. Er wies darauf hin, daß Mi chelson es bei seiner Untersuchung versäumt hatte, den Effekt des Windes auf die Querarme der Apparatur zu berücksichtigen ; wenn man senkrecht durch eine Strö mung hindurchrudert, wird es länger dauern, hin- und wieder zurückzukommen, als wenn gar keine Strömung vorhanden wäre! Wenn dieser Effekt berücksichtigt wird, halbiert sich die erwartete Verschiebung der Interferenzstreifen. Michelson kam zu dem Schluß, daß – angesichts der Schwierigkeiten bei der ursprünglichen Beobachtung und dieser neuen Abschätzung der Verschiebung – der Effekt des erwarteten Ätherwinds möglicherweise vom »Rauschen« überdeckt wurde. Das veranlaßte ihn, eine verbesserte Apparatur zu entwerfen und zu bauen.
der michelson-morley-versuch von 1887 Diese nächste Apparatur war viel anspruchsvoller. Sie wurde an Michelsons Heimatuniversität in Cleveland er richtet. Ein mit Quecksilber gefüllter gußeiserner Trog ruhte auf einem Ziegelfundament in einem Kellerraum. Auf dem Quecksilber trieb ein massiver, quadratischer Sandsteinblock von rund 150 Zentimeter Seitenlänge und 35 Zentimeter Dicke. Er konnte von Hand in Be wegung gesetzt werden und drehte sich, einmal ange stoßen, langsam in etwa sechs Minuten einmal um sich selbst und danach noch gut eine Stunde weiter. Licht
quelle, Lichtstrahlzerleger, Reflektoren und so weiter wa ren auf dem Sandsteinblock angebracht. Eine Reihe von Spiegeln dienten dazu, die Lichtstrahlen mehrere Male hin- und herzureflektieren, bevor sie sich auf dem Schirm wieder überlagerten. Das ergab eine Weglänge von über 10 Metern und eine erwartete Verschiebung von unge fähr vier Zehnteln eines Interferenzstreifens bei Rotati on der Apparatur. Nach den üblichen Anlaufschwierigkeiten waren Mi chelson und Morley bereit zur Beobachtung. Am 8., 9. und 11. Juli 1887 gegen Mittag und am 8., 9. und 12. Juli gegen 18 Uhr ging Michelson um die rotierende Appa ratur herum und sagte die Resultate an, während Mor ley die Beobachtungen aufzeichnete. Die zwei Forscher waren tief enttäuscht : Es war kein Effekt festzustellen, der auch nur entfernt der erwarteten Geschwindigkeit des Ätherwinds nahegekommen wäre. Wieder einmal zeitigte der Versuch ein Null-Resultat. Nun haben wir oben bemerkt, daß es bei diesem Ver such sechs Faktoren zu beachten gilt : die Lichtübertra gung in rechten Winkeln, die Rotation der Apparatur, die Beobachtungen zu verschiedenen Tageszeiten, die Beob achtungen zu verschiedenen Jahreszeiten, ein luftiges Ge bäude und einen erhöhten Standort. Was wir beschrie ben haben, deckt jedoch nur drei der sechs Elemente ab. Michelson scheint von dem Resultat so enttäuscht gewe sen zu sein, daß er, anstatt mit dem Versuch fortzufah ren, unverzüglich ein ganz anderes Problem in Angriff nahm: die Verwendung der Wellenlänge des Lichts als absolutes Längenmaß.
Zu verstehen ist dies nur, wenn man den Versuch mit Michelsons Augen sieht, als Messung der Erdgeschwin digkeit. In diesem Fall war eine ziemlich hohe Geschwin digkeit zu erwarten, während ein niedriger Wert nur aus einer bemerkenswerten Koinzidenz resultieren konnte : der Aufhebung der Geschwindigkeit des Sonnensystems durch die gleich große, aber entgegengesetzte Geschwin digkeit der Erde zum Zeitpunkt des Experiments. Man muß auch annehmen, daß es Michelson nicht um das Problem des »mitgeführten« Äthers zu tun war. Das In terferometer, wie Michelson es gebaut hatte, war als Ge schwindigkeitsmesser nicht viel wert, soviel war klar. Wenn man jedoch den Versuch so sieht, wie wir ihn heu te sehen, nämlich als Test der Relativitätstheorie, ist sei ne theoretische Bedeutung größer, seine experimentelle Bedeutung aber weit geringer. Um als Test der Relativi tät zu dienen, muß der Versuch nicht beweisen, daß die Erde sich auch nicht annähernd mit der erwarteten Ge schwindigkeit bewegt, sondern daß es absolut keinen Un terschied in der Geschwindigkeit des Lichts gibt, gleich gültig in welcher Richtung sie gemessen wird. Aus der ersteren Perspektive waren die Resultate enttäuschend genug, um die Weiterentwicklung des Geschwindigkeits messers nicht eben lohnend erscheinen zu lassen. Als Test der Relativität jedoch mußte die geringste Verschiebung der Interferenz eine große Tragweite besitzen. Außer dem war es überaus wichtig, den Test zu verschiedenen Jahreszeiten zu wiederholen, weil eine geringfügige Dif ferenz der Befunde zu verschiedenen Jahreszeiten von Bedeutung für die Theorie war. Obgleich also das Ex
periment von 1887 für das, was Michelson und Morley wissen wollten, ein angemessener Test war, war es das nicht für die Relativität. Erst nachdem Einstein zu Be ginn des 20. Jahrhunderts seine berühmten Arbeiten ver öffentlicht hatte, wurde der Versuch aus der Retrospek tive als berühmter und entscheidender Beweis der Rela tivität rekonstruiert. morley und miller nach 1900 Obgleich Michelson selbst an seinen Befunden nicht mehr interessiert war, ging die Diskussion darüber wei ter. Die Resultate galten als Wolke am sonst ungetrüb ten Himmel der Physik. In dem Bemühen nachzuweisen, daß das Vorhandensein eines Äthers mit den Null-Re sultaten verträglich sei, wurden viele Erklärungen vor gebracht. Sie reichten von neuen Quellen der Ungenau igkeit in der Versuchsanordnung, etwa Irrtümern auf grund der Augenbewegungen des Beobachters, bis zur »Lorentz-Kontraktion« – der Vermutung, daß Materie, auch die Arme des Interferometers, sich in der Bewe gungsrichtung gerade um so viel verkürzen, daß der Ef fekt aufgehoben werde. Das Interesse war so groß, daß Morley und Dayton C. Miller, mittlerweile Michelsons Nachfolger als Dozent in Cleveland, bald nach 1900 neue und verbesserte Interferometer bauten. Sie konstruierten eine größere Apparatur, die auf Holz gelagert war, um Unterschiede im Kontraktionseffekt festzustellen, fan den aber keine anderen Resultate als bei den Metall- und Sandsteinapparaturen. Immer noch nicht entschieden war die Frage, ob der
Äther durch die dichte Umgebung des Versuchs einge fangen oder mitgeführt wurde oder nicht ; der nächste Schritt war, die Apparatur in großer Höhe zu erproben. 1905 wiederholten Morley und Miller das Experiment auf einem 90 Meter hohen Hügel. Auch was sie jetzt maßen, konnte nur als Null-Resultat gewertet werden, verglichen mit dem, was aufgrund der Erdumlaufgeschwindigkeit hätte erwartet werden können. Als Morley und Miller diesen Versuch abschlossen, wurden die Arbeiten Einsteins mehr und mehr als das anerkannt, was sie waren, und bereiteten den Boden für die Reinterpretation des Null-Resultats als einen der be deutendsten Funde in der Experimentalphysik. Nun darf man aber nicht glauben, daß Einsteins Ideen nach ihrer Veröffentlichung einmütig anerkannt worden wären. Die Schlacht um sie dauerte mehrere Jahrzehnte. Die Relati vität traf aus vielen Gründen und an vielen Fronten auf Widerstand. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg bestand noch Interesse an weiteren Überprüfungen des Resul tats von Michelson und Morley.
millers Ätherdrift : seine versuche aus den zwanziger jahren In dem Maße, wie die Versuche mit dem Interferome ter immer deutlicher als Probe auf die Relativität und nicht als Messungen der Erdgeschwindigkeit angesehen wurden, erschien das bisher Getane immer unvollständi ger. Zum Teil aufgrund der Ermutigung durch Einstein und Lorentz beschloß Dayton Miller, die Resultate mit
einer Apparatur auf dem 1800 Meter hohen Mount Wil son zu prüfen. Als die Ergebnisse der früheren Versuche nun im Kontext der Relativität sorgfältig überprüft wur den, zeigte sich ihre ganze Vieldeutigkeit. Es gab zwar bei den früheren Versuchen einen kleinen Effekt, doch betrug die Verschiebung nur ein Hundertstel eines Strei fens und nicht die erwarteten vier Zehntel. Für die Rela tivität war natürlich jeder reale Effekt entscheidend, und sei er noch so klein. In den frühen zwanziger Jahren führte Miller eine Reihe nicht schlüssiger Versuche auf dem Mount Wil son durch, die mit den üblichen Problemen wie Tempe raturkontrolle, mangelnde Stabilität der Apparatur und so fort zu kämpfen hatten. Er baute sein Gerät um und führte am 4., 5. und 6. September 1924 erneut Experi mente durch. Diesmal entdeckte er eine dauerhafte po sitive Verschiebung und kam zu dem Schluß: »Es konn te zweifelsfrei gezeigt werden, daß die Effekte real und systematisch waren.« Millers Versuch unterschied sich von den anderen in sofern, als er besonderes Gewicht auf den vierten Punkt des Protokolls legte und weitere Ablesungen im Frühjahr, Sommer und im folgenden Herbst vornahm. Er kam 1925 zu dem Schluß, eine beobachtete Erdbewegung von etwa 10 Kilometern pro Sekunde entdeckt zu haben – etwa ein Drittel dessen, was Michelson bei seinen ursprüng lichen Versuchen erwartet hatte. 1925 wurde Miller für diese Arbeit der Preis der American Association for the Advancement of Science verliehen. Obgleich also der berühmte Michelson-Morley-Ver
such von 1887 regelmäßig als erster, wenngleich unbeab sichtigter Beweis für die Relativität angesehen wird, wur de noch 1925 eine verbesserte und umfassendere Version des Versuchs allgemein als Beweis gegen die Relativität begrüßt. Dieser Versuch war nicht etwa das Werk eines Verrückten oder Scharlatans. Er wurde, mit Unterstüt zung Einsteins, von einem der engsten Mitarbeiter Mi chelsons durchgeführt und in der wissenschaft lichen Ge meinde mit einer hohen Ehrung ausgezeichnet.
erste experimentelle reaktionen Es gab viele experimentelle Reaktionen auf Miller, die alle Null-Resultate verzeichneten. Die größte Anstren gung unternahm Michelson selbst. Er baute ein riesiges Interferometer und betrieb es in einem isolierten Labor, wiederum mit Null-Resultaten. Er und Miller standen einander 1928 bei einem wissenschaft lichen Treffen ge genüber und einigten sich darauf, sich nicht einigen zu können. Um dieselbe Zeit kam auch ein sehr anspruchs volles deutsches Experiment zum Abschluß, das eben falls keinen signifikanten Effekt feststellte. Allerdings ist hervorzuheben, daß diese beiden Versuche in stark abge schirmter Umgebung und in keiner nennenswerten Höhe durchgeführt wurden. Die Resultate dieser zwei Versuche brachten anscheinend die durch Millers positive Resultate erneut in Gang gekommene Spekulation zum Verstum men, obgleich sie nicht unter Bedingungen durchgeführt worden waren, die für die Beobachtung eines Ätherwinds günstig wären. Ein weiterer Versuch wurde von einem
Ballon aus unternommen, was das Höhenproblem löste, aber wieder massive Abschirmung verlangte. Es lag hier sozusagen eine kritische Masse von deutlich vernehm baren experimentellen Stimmen vor, die – wie so oft in der Wissenschaft – die noch so sorgfältig begründeten Einwände eines einzelnen Kritikers übertönten. 1930 wurde Michelsons riesige Apparatur in einem Te leskopgehäuse auf dem Mount Wilson installiert. Das Ge häuse bestand aus Metall und bot daher mehr potentiel le Abschirmung als die Gehäuse von Millers Versuchen ebendort. Wie auch immer, diese Beobachtungen auf dem Mount Wilson scheinen nichts erbracht zu haben. Hinzu kam, daß Michelsons Interferometer aus »Invar« bestehen sollte, einer Legierung, die sich bei Erwärmung nicht aus dehnt ; eine spätere Analyse ergab jedoch, daß das Mate rial eine ungeeignete Zusammensetzung hatte.
millers arbeit von und die jüngsten experimente 1933 veröffentlichte Miller eine Übersicht über das ge samte Forschungsfeld und kam zu dem Schluß, daß es noch immer deutliche Anhaltspunkte für einen Ätherwind gab. Wir haben also die klassische Situation einer Replik in der Physik. Miller behauptete ein positives Re sultat, die Kritiker behaupteten negative Resultate, aber Miller konnte zeigen, daß die Bedingungen, unter denen die negativ verlaufenen Versuche durchgeführt worden waren, nicht die gleichen waren wie die Bedingungen bei seinem eigenen Versuch. Insbesondere war sein Versuch
als einziger in großer Höhe und mit einem Minimum jener Abschirmung vorgenommen worden, die das Ein dringen des Atherwinds in die Testapparatur verhindern sollte. Miller argumentierte : »In drei der vier [negativen] Versuche steckten die Interferometer in starken, versiegelten Metallgehäu sen und standen überdies in Kellerräumen im In nern massiver Gebäude und unterhalb der Erdober fläche ; bei dem Versuch von Piccard und Stahel [da bei wurde ein Interferometer mit dem Ballon in die Höhe getragen] wurde allein eine Metallvakuum kammer verwendet. […] Wenn es um die Frage ei nes Äthereinschlusses geht, scheint eine so massi ve, undurchdringliche Abschirmung nicht gerecht fertigt. Der Versuch ist dazu angelegt, einen durch die Einwirkung des Äthers auf das Licht hervorge rufenen winzigen Effekt auf die Geschwindigkeit des Lichts zu registrieren, und es scheint essentiell, daß möglichst wenige Hindernisse zwischen dem freien Äther und den Weglängen der Lichtstrahlen im In terferometer liegen. […] In keinem dieser anderen Versuche waren die Be obachtungen ausgedehnt und kontinuierlich genug, um exakt die Natur der diurnalen [durch die Erdro tation bedingten] und jahreszeitlichen Abweichung zu bestimmen.«2 Trotzdem war die Auseinandersetzung in der Physik beendet. Andere Tests zur Relativität, darunter die Be
obachtungen Eddingtons von 1919 (siehe weiter unten), stützten die Idee, daß die Relativitätstheorie korrekt sei und die Lichtgeschwindigkeit in allen Richtungen kon stant sein müsse. Die schiere Schwungkraft der neuen Art, Physik zu treiben – eine neue Lebensart oder Kultur der Physikergemeinde –, bedeutete, daß die experimen tellen Resultate Millers irrelevant waren. Wir haben einen langen Weg von unserem Ausgangs punkt zurückgelegt, nämlich der Vorstellung, der Ver such von Michelson und Morley habe die Relativitäts theorie bewiesen. Wir haben den Punkt erreicht, wo die Relativitätstheorie dem Michelson-Morley-Versuch als dem tragenden Mythos, aber nicht als einer bestimm ten Summe von Resultaten Bedeutung verliehen hatte. Resultate, die dem zuwiderliefen, was der Versuch von Michelson und Morley angeblich bewiesen hatte, wurden im großen und ganzen ignoriert. Man muß sich das fol gendermaßen denken: Der Begriff des »Anomalen« oder der »Anomalie« wird in der Wissenschaft auf zweierlei Weise verwendet. Er wird einerseits gebraucht, um et was Ärgerliches zu beschreiben, also : »Das ignorieren wir einfach ; das ist doch anomal« ; aber auch, um ein echtes Problem zu bezeichnen, also: »Wir erkennen hier proble matische Anomalien in der vorhandenen Theorie.« Die Resultate aus der Interferometrie traten als echtes Pro blem für die Theorie des Äthers an. Die Null-Resultate avancierten in dem Maße von der Anomalie zum »Be fund«, wie die Relativitätstheorie an Zulauf gewann. Mit Millers positiven Ergebnissen wurden die Interferome trie-Resultate erneut zur Anomalie, diesmal aber des är
gerlichen Typs, nicht des problematischen. Seine Resul tate bedeuteten »eine Abweichung, die man wegerklären muß«. Miller konnte seine ärgerlichen positiven Meßer gebnisse nicht in den Stand der problematischen Anoma lie überführen, obgleich sie das Ergebnis des gelungensten bis dahin abgeschlossenen Experiments darstellten, viel leicht des einzigen, von dem man wirklich sagen konnte, daß es das prüfte, was es prüfen sollte. Die Bedeutung eines Versuchsergebnisses hängt also nicht nur von der Sorgfalt ab, womit der Versuch geplant und durchgeführt wird ; er hängt auch davon ab, was die Menschen gerade zu glauben bereit sind. Es gibt in der wissenschaftlichen Gemeinde einige auf Ordnung bedachte Gemüter, die sich auch von jenen Anomalien beunruhigen lassen, die die meisten ihrer Kollegen nur ärgerlich finden. Noch 1955 untersuchte ein Wissenschaftlerteam aufs neue die ganze Geschichte der erwähnten Versuche, in dem Bemühen, Millers Be funde mit dem in Einklang zu bringen, was mittlerwei le alle glaubten. Man kam zu dem Schluß, daß Millers Arbeit durch Temperaturschwankungen beeinträchtigt worden sei. Wiederholungen des Versuchs gab es auch noch danach. 1963 wurden Versuche mit einem »Ma ser«, dem Vorläufer des Lasers, durchgeführt, um nach Möglichkeit die experimentelle Streitfrage zu klären. Zwar war dies alles, wie schon gesagt, für die Relativi tätstheorie in einem gewissen Sinne unerheblich ; aber es ist nicht unerheblich für unseren Zusammenhang. Mi chelson und Morley hätten die Relativität nicht bewei
sen können, weil die Versuchsergebnisse, wenn man sie für sich, außerhalb des Kontexts der übrigen Physik be trachtete, auch 1963 noch nicht klar waren.
gibt es eine verschiebung der sterne am himmel ? »Eine noch endgültigere Bestätigung wie beim Mer kurperihel hat die Relativitätstheorie neuerdings bei der Strahlenablenkung erfahren. […] Auch quantita tiv ist die Übereinstimmung eine gute.«3 »Die Ablenkung von Lichtstrahlen durch ein Gravi tationsfeld war eine zentrale Prognose in Einsteins Theorie und wurde glänzend durch Beobachtungen bestätigt, die der Brite Sir Arthur Eddington [1882– 1944] bei einer Sonnenfinsternis 1919 anstellte. Die Ablenkung des Sternenlichts durch die Sonne wurde gemessen und entsprach dem von Einstein errech neten theoretischen Wert.«4
die eigentümliche wechselbeziehung zwischen theorie, prognose und beobachtung Die Allgemeine Relativitätstheorie ist ein komplizierter Gegenstand. Noch 1919 soll es nur zwei Menschen gege ben haben, die sie wirklich verstanden : Einstein und Ed dington. (Das Bonmot stammt übrigens von Eddington
selbst.) Bis auf den heutigen Tag sind sich die Theoreti ker nicht völlig einig darüber, was aus Einsteins Theo rie folgt, während 1919 noch ernsthaft darüber gestritten wurde, was überhaupt zu erwarten sei. Übereinstimmung herrschte jedoch darüber, daß sowohl nach der Newton schen als auch nach der Einsteinschen Theorie ein star kes Gravitationsfeld auf Lichtstrahlen einwirkt, daß aber der Einsteinsche Effekt größer sei als der Newtonsche Ef fekt. Das Problem bestand darin, herauszufinden, wel che Theorie die richtige war. Das Gravitationsfeld der Erde ist viel zu klein, um eine meßbare Wirkung auf das Licht zu haben, das Gravita tionsfeld der Sonne dagegen ist viel größer. Das von den Sternen kommende Licht müßte abgelenkt werden, so bald es das Gravitationsfeld der Sonne durchläuft. Für uns auf der Erde müßte es so aussehen, als wären die Sterne in Sonnennähe ein wenig aus ihrer üblichen Po sition verschoben. In der Einsteinschen Welt wäre diese Verschiebung größer als in der Newtonschen Welt. Ein stein behauptete, nach seiner Theorie müßten die Ster ne zweimal so stark verschoben erscheinen wie nach der Newtonschen, wenngleich in beiden Fällen die Verschie bung minimal wäre. Die Distanz, um die ein Stern, des sen Licht den Rand der Sonne streift, aus anderthalb Ki lometern Entfernung verschoben erschiene, entspräche der Dicke eines Pfennigs. In Zahlen ausgedrückt, betru gen die erwarteten Verschiebungen je nach Theorie 0,8 beziehungsweise 1,7 Bogensekunden, wobei eine Bogen sekunde 1/3600 Grad entspricht. Die tatsächlich zu be obachtenden Bewegungen würden jedoch kleiner sein
– ungefähr halb so groß –, da „ man nur Sterne beob achten konnte, die mindestens zwei Sonnendurchmes ser vom Sonnenrand entfernt waren. Einsteins theoretische Ableitung der maximalen Ab lenkung der Lichtstrahlen ist aus moderner Sicht eini germaßen problematisch. Seinerzeit »stiftete sie Verwir rung unter denen, die weniger berufen waren als er, die richtige Antwort zu finden«5. Wie bei so vielen heiklen Versuchen galten die Ableitungen, die zunächst unklar gewesen waren, später, nachdem die Beobachtungen Ein steins Prognose »verifiziert« hatten, als richtig. Die Wis senschaft verfährt in Wirklichkeit nicht so, daß sie kla re theoretische Prognosen formuliert, die anschließend verifiziert oder falsifiziert werden. Vielmehr hängt die Gültigkeit, die theoretischen Ableitungen zugeschrieben wird, deutlich mit unserer Fähigkeit zusammen, Messun gen durchzuführen. Theoriebildung und Messung gehen auf viel subtilere Weise Hand in Hand, als für gewöhn lich sichtbar wird. Es lohnt sich, einen Augenblick bei diesem subtilen Zusammenwirken von Theorie und Experiment zu ver weilen. Einstein hatte behauptet, daß Newtons Theorie, sagen wir, eine Ablenkung »N« und seine eigene Theorie eine Ablenkung »E« impliziere. Andere Forscher waren sich – aus guten Gründen, wie man heute weiß – nicht sicher, daß »N« beziehungsweise »E« wirklich die kor rekten Implikationen der beiden Theorien waren. Man sollte meinen, daß man erst dann prüfen kann, welche der beiden Theorien richtig ist, wenn man ihre jewei ligen Implikationen genau im Blick hat. Wenn es sich,
um einen Extremfall anzunehmen, in Wirklichkeit ge nau umgekehrt verhielte – also wenn Newtons Theorie eine Ablenkung »E« implizierte und Einsteins Theorie eine Ablenkung »N« –, liefe jede noch so genaue Mes sung der Sternenverschiebung Gefahr, die falsche Theo rie zu bestätigen. Man muß also die Theorie und die aus ihr abgeleitete Prognose auseinanderhalten. Eddington gewann schließlich Meßergebnisse, die mit der von Ein stein abgeleiteten Prognose übereinstimmten ; aber seine Resultate wurden nicht nur als Bestätigung der Progno se, sondern auch der Einsteinschen Theorie aufgefaßt. In dem Eddington seine Beobachtungen auf diese Weise in terpretierte, schien er nicht nur Einsteins Prognose über die Verschiebung der Sterne zu bestätigen, sondern auch Einsteins Methode der Ableitung der Prognose aus seiner Theorie – etwas, das kein Versuch leisten kann. Die Logik dieses historischen Prozesses würde unter bestimmten Umständen außerordentlich vernünftig er scheinen. Wäre zum Beispiel Einsteins Prognose über die Ablenkung des Sternenlichts sehr genau gewesen und wären Eddingtons Beobachtungen gleichermaßen genau gewesen und hätten genau zur Prognose gepaßt, dann wäre man aufgrund der Übereinstimmung gezwungen zuzugeben, daß Einstein »eine richtige Spur« gehabt ha ben mußte, auch wenn weder Einstein selbst noch sonst irgend jemand sich über die Ableitung der Verschiebung völlig sicher war. Aber wie so viele Meßergebnisse in den Naturwissenschaften waren Eddingtons Beobach tungen nicht von dieser Art. Wie wir sehen werden, wa ren sie sogar sehr ungenau und widersprachen einander
zum Teil. Als er darüber entschied, welche Beobachtun gen als Daten und welche als Rauschen zu werten seien, hatte Eddington natürlich Einsteins Prognose im Hin terkopf. Daher konnte Eddington nur darum behaupten, Einstein bestätigt zu haben, weil er Einsteins Ableitung dazu benutzte, zu entscheiden, was seine Beobachtun gen eigentlich darstellten, während Einsteins Ableitungen nur darum anerkannt wurden, weil Eddingtons Beob achtung sie bestätigt zu haben schien. Beobachtung und Prognose liefen durch einen Zirkel der gegenseitigen Be stätigung, anstatt voneinander unabhängig zu sein, wie man es nach der konventionellen Vorstellung von expe rimenteller Überprüfung hätte erwarten sollen. Was sich hier zutrug, war wohl eher der Fall einer »Einigung auf eine Einigung« als der einer Theorie, die gebildet, dann überprüft, dann bestätigt wird. Bei der Beschreibung von Eddingtons Beobachtungen werden wir sehen, wie sehr er Einsteins Theorie benötigte, um zu wissen, was seine eigenen Beobachtungen bedeuteten.6
die natur des versuchs Die Aufgabe besteht darin, die Position von Sternen am offenen Himmel mit der Position zu vergleichen, die sie einzunehmen scheinen, wenn das Sternenlicht den Rand der Sonne streift. Wegen der Helligkeit der Sonne sind die Sterne normalerweise nicht zu sehen, wenn sie sich in Sonnennähe befinden oder wenn überhaupt die Sonne am Himmel steht. In Sonnennähe sind Sterne nur wäh rend einer Sonnenfinsternis sichtbar. Die Größenordnung
der – Newtonschen oder Einsteinschen – Verschiebung ist so minimal, daß die einzige Möglichkeit, sie zu mes sen, darin besteht, Fotografien einer Himmelsgegend mit Sonne und ohne Sonne miteinander zu vergleichen. Für die entscheidenden Beobachtungen muß man eine tota le Sonnenfinsternis abwarten ; die Vergleichsaufnahmen müssen mehrere Monate vorher oder nachher gemacht werden, wenn die Sonne von der betreffenden Himmels gegend weit entfernt ist. Die Aufnahmen während der Sonnenfinsternis müssen logischerweise bei Tag, die Ver gleichsaufnahmen dagegen bei Nacht gemacht werden, der einzigen Zeit (außerhalb der Sonnenfinsternis), in der die Sterne zu sehen sind. Bei einem derart heiklen Versuch ist es sehr wichtig, in der Zeit zwischen den Beobachtungen und den Hin tergrundvergleichen so viele Variablen wie möglich kon stant zu halten. Die Schwierigkeit ist jedoch, daß die Fo tografien von der Beobachtung der Sonnenfinsternis und die Vergleichsaufnahmen zu unterschiedlichen Jahres zeiten gemacht werden müssen. Das bedeutet, daß vie les Zeit hat, sich zu verändern. Ferner wird für die am Tag gemachten Beobachtungsaufnahmen ein erwärm tes Teleskop benutzt, während die Kamera nachts durch ein abgekühltes Teleskop blickt. Der Unterschied in der Brennweite bei einem warmen und einem kalten Teleskop beeinträchtigt die feststellbare Position der Sterne in ei nem Grad, der mit dem zu messenden Effekt vergleich bar ist. Es gibt noch viele andere teils berechenbare, teils zu vermutende, teils unbekannte Veränderungen in der Zeit zwischen Beobachtung und Vergleich, weil das Te
leskop mechanischen Beanspruchungen unterschiedlich ster Art ausgesetzt ist, welche minimalste Veränderungen der Brennweite und der Lage der fotografischen Platte im Verhältnis zur Teleskopachse zur Folge haben. Schlimmer noch ist, daß totale Sonnenfinsternisse für gewöhnlich nur in entfernten Winkeln der Erde zu be obachten sind. Es ist unmöglich, große Teleskope samt allen Kontrollmechanismen an solche Orte zu schaffen. Die Teleskope müssen infolgedessen relativ klein sein und sind entsprechend wenig lichtstark. Das bedeutet, daß die Belichtungszeiten lang sein müssen – in diesem Fall etwa von 5 bis 30 Sekunden –, so daß genügend Sternenlicht eingefangen werden kann, um wohldefinierte Bilder zu bekommen. Lange Belichtungszeiten bringen jedoch ei nen ganzen Rattenschwanz neuer Probleme mit sich. Das Teleskop muß nicht nur absolut ruhig gehalten, sondern zugleich bewegt werden, um die Erdrotation auszuglei chen. Große astronomische Teleskope sind auf kompli zierte und gut durchkonstruierte Gestelle montiert, die das Teleskop im Verhältnis zur Erde so bewegen, daß es immer auf denselben Punkt am Himmel gerichtet ist. Un terbauten dieser Art konnte man nicht verschicken und an den fernen Beobachtungsorten wieder aufstellen. Statt dessen wurden die Bilder mit Hilfe von »Coleostaten« standfest gehalten, beweglich aufgehängten Spiegeln, die durch Gewichte gesteuert wurden und Licht in das Te leskop reflektierten. Die Coleostat-Spiegel bildeten dann eine weitere Quelle für mögliche Verzerrungen, und das selbe galt für ihre Steuerungsmechanismen. An der Spitze all dieser Probleme stehen natürlich die
Zufälligkeiten des Wetters. Wenn Wolken den Himmel bedecken, ist jede Vorbereitung umsonst. Schon frühere Expeditionen waren am Wetter gescheitert (andere am Ausbruch des Ersten Weltkriegs), und im vorliegenden Fall wurde der Gebrauch mindestens eines der Telesko pe Eddingtons durch Wolken beeinträchtigt, wenn auch nicht völlig verhindert. Zum Glück standen die Wissenschaft ler diesen Schwie rigkeiten nicht ganz hilflos gegenüber. Die Fotografien des Sternenfeldes zeigten manche Sterne in Sonnennä he und andere in Sonnenferne. Nach der Theorie soll ten Sonnenferne Sterne keine Verschiebung aufweisen. Die Auswirkung der veränderten Brennweite und an derer Faktoren auf das Teleskop sollte sich auf den Fo tografien als scheinbare Verschiebung der »unverscho benen« Sterne zeigen. Es sollte also möglich sein, diese unerwünschten Effekte zu messen und bei den Berech nungen für die »wirklich verschobenen« Sterne zu be rücksichtigen. Es zeigt sich, daß man zur Ausschaltung aller unechten Effekte mindestens sechs »unverschobe ne« Sterne im Bildausschnitt benötigt. Aber auch dieser Teil des Versuchs ist für Fehler anfällig. Die Einschät zung der zufälligen Effekte hängt von Annahmen über die statistische Verteilung der Fehler auf den fotografi schen Platten ab. Man kann jetzt also verstehen, daß es bei Eddingtons Beobachtungen nicht einfach darum ging, durch ein Teleskop zu sehen und eine Verschiebung zu erkennen; vielmehr beruhten sie auf einem komplexen Fundament aus Annahmen, Berechnungen und Interpo lationen aus zwei Serien von Fotografien. Und so verhält
es sich auch dann, wenn die Fotografien deutlich und ge stochen scharf sind – was sie nicht waren.
expeditionen und beobachtungen Die Beobachtungen Eddingtons wurden in Wirklich keit von zwei getrennten Gruppen durchgeführt. Die eine führte zwei Teleskope mit sich, die andere eines. Die zwei Gruppen reisten zu verschiedenen Zielen. Das Ziel von A. Crommelin und C. Davidson, die im März 1918 in See stachen, war Sobral in Brasilien, während Eddington und sein Assistent E. Cottingham die Insel Principe vor der Westküste Afrikas ansteuerten. Die Sobral-Gruppe hat te einen »Astrographen« und ein 4-Zoll-Teleskop dabei. Dieses Team erhielt im Verlauf der Sonnenfinsternis 19 fotografische Platten von dem Astrographen und 8 von dem 4-Zoll-Teleskop ; allerdings hatten Wolken eine der 4-Zoll-Platten verdunkelt. Die Principe-Gruppe hatte nur einen Astrographen da bei. Am Tag der Sonnenfinsternis war es bewölkt, aber man fotografierte trotzdem und erhielt 16 Platten. Von diesen waren nur zwei brauchbar, auf denen jeweils fünf Sterne zu sehen waren. Beide Gruppen fertigten eini ge Monate später Vergleichsaufnahmen an; die SobralGruppe an Ort und Stelle, Eddingtons Team zu Hau se in Oxford. Die besten Fotografien, allerdings nicht ganz scharf fokussiert, waren diejenigen, die mit dem 4-Zoll-Tele skop in Sobral gemacht worden waren. Aus diesen Plat ten und den Vergleichsaufnahmen berechneten Crom
melin und Davidson eine Ablenkung des Sternenlichts am Rande der Sonne zwischen 1,86 und 2,1 Bogensekun den (diese Bandbreite ergab sich aus einer Berechnung des »wahrscheinlichen Fehlers«), gegenüber der Einstein schen Prognose von 1,7 Bogensekunden. Die astrogra phischen Platten waren zwar weniger zufriedenstellend, aber die Sobral-Gruppe konnte anhand von 18 dieser Platten Berechnungen anstellen und erhielt einen mittle ren Schätzwert von 0,86 Bogensekunden, gegenüber dem Newtonschen Wert von 0,84 (eine wahrscheinliche Feh lerbandbreite wurde für dieses Gerät nicht angegeben). Sehr vereinfacht gesagt, unterstützte also eines der In strumente der Sobral-Gruppe die Newtonsche Theorie, das andere eher die Prognose Einsteins. Die Unterstüt zung dieser Prognose wurde allerdings durch die Tat sache beeinträchtigt, daß das 4-Zoll-Gerät ein eindeu tig zu hohes Resultat ergeben hatte, während es proble matisch war, sich auf Newtons Seite zu stellen, weil die Qualität der mit dem Astrographen gemachten Fotogra fien schlecht war. Die zwei Platten von der Principe-Expedition waren die schlechtesten überhaupt. Gleichwohl gewann Edding ton ein Resultat aus diesen Platten, indem er sich einer komplizierten Technik bediente, die mit einem angenom menen Wert für den Gravitationseffekt arbeitete. Zuerst benutzte er einen mittleren Wert zwischen dem Einstein schen und dem Newtonschen ; danach wiederholte er die Prozedur mit den Zahlen von Einstein. Welchen Unter schied diese Annahmen machten, blieb unklar; es ver dient aber hervorgehoben zu werden, daß Einsteins Ablei
tung seiner Prognose bei dieser Methode von Eddington schon in die erste Berechnung der Verschiebung einging. Aus seinen zwei schlechten Platten errechnete Eddington, daß die Verschiebung am Rande der Sonne irgendwo zwi schen 1,31 und 1,91 Bogensekunden liegen müsse. Wir können die von den zwei Gruppen vorgenomme nen Berechnungen des »wahrscheinlichen Fehlers« in die moderne Sprache der »Standardabweichung« über setzen und für den Sobral-Astrographen eine Standard abweichung interpolieren. Bei den Sobral-Beobachtun gen beträgt die Standardabweichung für die guten Plat ten 0,178 und für den Astrographen 0,48, während bei Eddingtons Platten die Standardabweichung 0,444 be trägt.7 Eine moderne Auslegung würde – bei einer zu fälligen Verteilung der Meßfehler – eine zehnprozenti ge Wahrscheinlichkeit dafür annehmen, daß die richti ge Antwort von dem mittleren Meßergebnis weiter als 1,5 Standardabweichungen zu beiden Seiten entfernt ist. Vor diesem Hintergrund wollen wir das Bisherige unter Berücksichtigung der Intervalle der 1,5 Standardabwei chung zusammenfassen: 10 % Zuverlässigkeitsintervalle für die Beobachtungen in Sobral und Principe
Sobral 8 gute Platten 18 schlechte Platten
unterer
mittlerer Wert
hoher
1,713 0,140
1,98 0,86
2,247 1,580
Principe
2 schlechte Platten
0,944
1,62
2,276
Wenn wir für den Augenblick die Theorie und die Ab leitungen vergessen und so tun, als würden wir unsere Messungen in Unkenntnis der Hypothese vornehmen – was wir schließlich auch tun, wenn wir in einem Doppelblindversuch zum Beispiel die Wirksamkeit von Arznei mitteln testen –, zu welchem Schluß kämen wir dann? Wir könnten anführen, daß die zwei Reihen schlechter Platten sich gegenseitig aufheben und daß das restliche Material beweist, daß die Verschiebung mehr als 1,7 Bo gensekunden beträgt. Wir könnten auch sagen, daß die acht guten Platten aus Sobral mit einer Verschiebung von knapp über 1,7 bis knapp unter 2,3 Bogensekunden verträglich sind, die zwei schlechten Platten Eddingtons mit Verschiebungen von knapp über 0,9 bis knapp unter 2,3 Bogensekunden, die schlechten Platten aus Sobral mit Verschiebungen zwischen fast 0 und etwas unter 1,6 Bogensekunden. In jedem Fall könnte man nur schwer eine klare Antwort formulieren. Gleichwohl erklärte der Astronomer Royal am 6. November 1919, daß die Beob achtungen Einsteins Theorie bestätigt hätten.
interpretation der resultate Um auch nur sicherzustellen, daß die Resultate für die Ausgangsfrage von Belang waren, mußte geklärt sein, daß nicht mehr als drei Pferde im Rennen waren : keine Ab lenkung, die Newtonsche Ablenkung, die Einsteinsche
Ablenkung. Wären andere mögliche Verschiebungen im »hypothetischen Raum« vorhanden gewesen, hätte das Material wahrscheinlich die eine oder andere von ihnen klarer bestätigt. Wenn zum Beispiel die Verschiebung hy pothetische 2 Bogensekunden betragen hätte, könnten die besten Ergebnisse – die des 4-Zoll-Teleskops in Sobral – als Bestätigung dieses Resultats aufgefaßt werden. Es gab seinerzeit noch andere Kandidaten, aber die Rhetorik der Debatte schloß sie aus und präsentierte Eddingtons Ver such als Entscheidung allein zwischen den drei Möglich keiten: 0,0 oder 0,8 oder 1,7 Bogensekunden. Ziehen wir nun alle anderen Pferde vom Rennen zu rück. Sprechen die Resultate eindeutig zu Einsteins Gun sten ? Die Antwort ist nein. Um es so aussehen zu lassen, als würden ihre Beobachtungen Einstein unterstützen, nahmen Eddington und seine Kollegen die Resultate des 4-Zoll-Teleskops in Sobral als Hauptbefund und die zwei Platten aus Principe als stützenden Beweis, während sie die 18 Astrograph-Platten aus Sobral ignorierten. In der Debatte, die sich an die Erklärung des Astronomer Royal anschloß, wurde deutlich, daß Autoritätsfragen sehr im Vordergrund standen. Während einer Sitzung der Royal Society am 6. November 1919 bemerkte deren Präsident, Sir Joseph Thomson : »Für das Publikum ist es schwierig, die Bedeutung der vorgelegten Zahlen abzuwägen, aber der Astronomer Royal und Professor Eddington haben das Material sorgfältig studiert, und sie betrachten die Belege als entscheidende Stütze des größeren Wertes für die Verschiebung«.8 1923 schrieb jedoch der amerikani sche Kritiker W. Campbell:
»Professor Eddington war geneigt, dem afrikani schen Ergebnis erhebliches Gewicht beizumessen ; da jedoch die wenigen Bilder auf seiner kleinen Anzahl von astrographischen Platten nicht so gut waren wie die in Brasilien gewonnenen astrographischen Plat ten und den Resultaten aus letzteren ein fast zu ver nachlässigendes Gewicht beigelegt wurde, ist die Lo gik der Situation irgendwie nicht ganz klar.«9 Eddington rechtfertigte die Vernachlässigung der astro graphischen Resultate aus Sobral mit der Behauptung, sie hätten an einem »systematischen Fehler« gekrankt – das heißt an einem Problem, das zur Folge hatte, daß die Fehler sich nicht zufällig um den Mittelwert verteilten, sondern daß jedes Meßergebnis systematisch zu einem niedrigeren Wert hin verschoben wurde. Wenn das für den Astrographen in Sobral zutraf und für die zwei an deren Gruppen von Meßergebnissen nicht zutraf, wäre es durchaus gerechtfertigt gewesen, die Resultate so zu behandeln, wie Eddington es tat. Es scheint jedoch, daß er dafür seinerzeit keinen überzeugenden Beweis beizu bringen vermochte. Letzten Endes entschied Eddington für sich, indem er die Standardwerke über die Expeditionen und ihre Bedeu tung schrieb. Hier ignorierte er einfach die 18 Platten des Astrographen in Sobral und beschrieb einfach das 1,98 Resultat aus dem 4-Zoll-Teleskop und das 1,671-Resultat aus seinen eigenen zwei Platten. Verfügt man allein über diese zwei Zahlen zum Vergleich mit einer Newtonschen Prognose von etwa 0,8 und einer Einsteinschen Progno
se von etwa 1,7, ist die Schlußfolgerung zwingend. Aber an den Beobachtungen selbst war so lange nichts Zwin gendes, wie Eddington, der Astronomer Royal und der Rest der wissenschaftlichen Gemeinde nicht ihre nach träglichen Entscheidungen darüber getroffen hatten, als was die Beobachtungen denn zu nehmen wären. Sie hat ten ganz einfach zu entscheiden, welche Beobachtungen festzuhalten und welche zu verwerfen waren, um sagen zu können, daß die Beobachtungen überhaupt irgend welche Zahlenwerte ergeben hätten. Zwischen 1922 und 1952 wurden zehn weitere Son nenfinsternisse beobachtet. Aber nur im Jahre 1929 ge lang es, einen Stern zu beobachten, der weniger als zwei Sonnenradien vom Rand der Sonne entfernt war, und diese Beobachtung ließ auf eine Verschiebung am Son nenrand von 2,24 Bogensekunden schließen. Die mei sten der anderen neun Resultate lagen ebenfalls im hö heren Bereich. Es gibt zwar andere Gründe, den Ein steinschen Wert für richtig zu halten, aber die Beweise für eine Ablenkung des Sternenlichts durch die Sonne waren zumindest bis 1952 entweder nicht schlüssig oder zeigten einen mit der Theorie nicht übereinstimmenden und zu hohen Wert. Und doch bleibt das Jahr 1919 ein Schlüsseldatum in der Geschichte der Relativitätstheo rie. Könnte der Grund dafür sein, daß die Wissenschaft den Augenblick des »entscheidenden Beweises« benötigt, um ihr eigenes heroisches Bild zu erhalten?
resümee Dies alles soll nicht heißen, daß Einstein sich im Irr tum befunden hätte oder die Eklipsisversuche nicht ein faszinierendes und dramatisches Element in dem gro ßen Umbruch gewesen wären, den unser Verständnis der Natur im 20. Jahrhundert erlebt hat. Aber wir soll ten wissen, wie die Versuche genau ausgesehen haben. Die Vorstellung von der quasi-logischen Ableitung einer Prognose, gefolgt von deren Überprüfung durch einfache Beobachtung, ist schlicht falsch. Was wir gesehen haben, sind die theoretischen und experimentellen Beiträge zu einem kulturellen Umbruch, der ebensosehr die Lizenz darstellte, die Welt auf eine bestimmte Art zu beobach ten, wie er eine Folge dieser Beobachtungen war. So kann man von den Beobachtungen von 1919 sagen, daß sie gewissermaßen eine soziologische Entsprechung des Michelson-Morley-Versuchs bilden, auch wenn ih nen eine andere Physik zugrunde lag. Weil die Relativi tätstheorie stark war, schien sie die natürliche Schablo ne für eine Interpretation der Beobachtungen von 1919 zu sein. Weil diese Beobachtungen dann die Relativitäts theorie zusätzlich stützten, wurde die Schablone noch zwingender, als es darum ging, Millers Beobachtungen von 1925 auszuwerten. Unterdessen gab es noch andere Tests zur Relativitäts theorie, die zu diesen Versuchen in demselben Verhält nis gegenseitiger Affirmation standen wie untereinander. So gab es zum Beispiel Beobachtungen der »Rotverschie bung«. Aus Einsteins Theorie folgte unter anderem, daß das von der Sonne kommende Licht durch das eigene
Gravitationsfeld der Sonne dergestalt beeinflußt würde, daß alle Wellenlängen geringfügig gegen das rote Ende des Spektrums verschoben erscheinen würden. Die Ab leitungen der quantitativen Prognosen waren mit noch mehr Schwierigkeiten behaftet als die Berechnungen der Ablenkung von Lichtstrahlen. Die experimentellen Be obachtungen, die dazu vor und nach 1919 durchgeführt wurden, waren noch weniger schlüssig. Nachdem aber die Interpretation der Eklipsenbeobachtungen eindeu tig zu Einsteins Gunsten ausgefallen war, begann man in der Wissenschaft plötzlich dort eine Bestätigung für die prognostizierte Rotverschiebung auszumachen, wo man bisher nur Durcheinander und Konfusion hatte se hen wollen. Genau wie im Fall der Gravitationsstrahlung, von der wir im fünften Kapitel sprechen, trieb die Formu lierung einer hieb- und stichfesten Schlußfolgerung auch hieb- und stichfeste Gründe hervor, zu dieser Schlußfol gerung zu gelangen. Ist der Kristallkeim einmal gegeben, erfolgt die Kristallisation einer neuen wissenschaft lichen Kultur in atemberaubendem Tempo. Die Zweifel an der Rotverschiebung verflogen und wandelten sich zur gesi cherten Überzeugung. John Earman und Clark Glymour, auf die sich unsere Darstellung von Eddingtons Beob achtungen weitgehend stützt, formulieren es so : »Es hatte schon immer einige Spektrallinien gegeben, bei denen eine Verschiebung in der von Einstein po stulierten Größenordnung zu beobachten war ; alles, was man zur Bestätigung der Rotverschiebungs-Pro gnose brauchte, war die Bereitschaft, die meisten Be
funde zu verwerfen, und die Findigkeit, hierfür Le gitimationen zu ersinnen. Die Eklipsenresultate lie ßen Sonnenspektroskopen ihren Willen. Vor 1919 hatte niemand behauptet, Spektralverschiebungen der erforderlichen Größenordnung erhalten zu ha ben ; aber innerhalb von einem Jahr nach Bekannt gabe der Eklipsenresultate berichteten gleich mehre re Forscher, den Einstein-Effekt gefunden zu haben. Die Rotverschiebung wurde bestätigt, weil angese hene Personen übereinkamen, einen guten Teil der Beobachtungen zu verwerfen. Sie taten das zum Teil, weil sie an die Theorie glaubten; und sie glaubten – wiederum wenigstens teilweise – an die Theorie, weil sie glaubten, die britischen Eklipsenexpeditionen hätten sie bestätigt. Jetzt bestätigten die Eklipsenex peditionen die Theorie nur, wenn man einen Teil der Beobachtungen verwarf und die Abweichungen in den übrigen ignorierte … «10 Eddington und der Astronomer Royal verwarfen und ignorierten Abweichungen also auf eigene Faust, was wiederum eine neue Runde des Verwerfens und Igno rierens von Abweichungen einleitete, was wiederum zu Schlüssen über die Rotverschiebung führte, die die er ste Runde des Verwerfens weiter rechtfertigten. Was für das Verhältnis von je zwei dieser Beobachtungsmengen gilt, tut dies um so mehr für alle Tests, denen die Re lativitätstheorie seinerzeit unterzogen wurde. Kein Test war für sich genommen entscheidend oder klar definiert, aber zusammengenommen ergaben sie eine überwälti
gende Strömung. So vollzog sich die Veränderung in der Wissenschaftskultur hin zu dem, was uns heute als die Wahrheit über Raum, Zeit und Schwerkraft gilt. Verglei chen wir diesen Vorgang mit einer zentralisierten politi schen Lenkung dessen, was wissenschaft licher Konsens sein soll – etwa wie in der früheren Sowjetunion –, so nimmt er sich bewundernswert »wissenschaft lich« aus, weil die Wissenschaftler ihren Konsensstandpunkt frei willig einnehmen und nur eine kleine Minderheit üb rig bleibt, die nicht zustimmt. Vergleichen wir ihn da gegen mit der Idealvorstellung von der wissenschaft li chen »Methode«, bei der Blindversuche verhindern, daß die Voreingenommenheiten des Beobachters in die Be obachtung eingehen, so hat er mehr Ähnlichkeit mit der Politik. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß die Relativitätstheorie nicht wahr ist – und eine sehr schö ne, wunderbare und erstaunliche Wahrheit dazu. Aber es ist eine Wahrheit, die infolge von Entscheidungen dar über ins Dasein getreten ist, wie unser wissenschaftliches Leben auszusehen hat und wie wir unsere wissenschaft lichen Beobachtungen legitimieren sollen. Es war eine Wahrheit, die auf einer Einigung darüber gründete, daß man sich über etwas Neues einigen sollte. Es war keine Wahrheit, uns aufgenötigt durch die unerbittliche Logik einer Kette entscheidender Experimente.11
kapitel 3
retortensonne : die geschichte der kalten kernfusion
Als zwei Chemiker der University of Utah am 23. März 1989 vor der Weltpresse bekanntgaben, sie hätten die Kernfusion – die kontrollierte Energie der Wasserstoff bombe – in der Retorte entdeckt, lösten sie eine Art wis senschaftlichen Goldrausch aus. Es war die Jagd nach ei nem Gold, das überall zu finden war – jedenfalls in je dem gut eingerichteten Labor. Die zwei Wissenschaft ler hießen Martin Fleischmann und Stanley Pons. Ihr Apparat war einfach genug (siehe Abb. 3.1.) : ein Becherglas mit schwerem Wasser (das ist gewöhnliches Wasser, dessen Wasserstoffatome gegen »schweren Was serstoff«, also Deuterium, ausgetauscht worden sind); eine Palladium-»Elektrode« als Kathode und eine Platinelek trode als Anode. Zur Erhöhung der Leitfähigkeit wur de dem schweren Wasser etwas »Salz«, nämlich Lithi umdeuteroxid, zugesetzt. Diese Substanzen verwendet man zwar nicht alle Tage – sie sind auch ziemlich teu er. Aber sie sind jedem modernen Naturwissenschaft ler wohlbekannt ; der Apparat hat überhaupt nichts Exoti sches. Durch diese »Zelle« leite man für einen Zeitraum von mehreren hundert Stunden Strom mit niedriger Spannung – was dabei herauskommen sollte, war pures
Abbildung 3.1. Elektrolytische Zelle für die kalte Kernfusion (Zeichnung von Steven W. Allison nach Close 1991, S. 76)
Gold : Kernfusionsenergie. Die schweren Wasserstoffa tome sollten zu Helium verschmelzen und Energie frei setzen – auf dieselbe Weise, wie es die Sonne tut. Die Indizien für die erfolgte Kernfusion waren Wärme und nukleare Abfallprodukte, wie zum Beispiel Neutronen – subatomare Teilchen – sowie Spuren des überschweren Wasserstoffatoms Tritium. Pons und Fleischmann würzten die Beschreibung ih res Erfolgs mit der spannenden Warnung, das Experi ment nur ja nicht in großem Maßstab durchzuführen. Eine frühere Zelle war auf rätselhafte Weise explodiert, wodurch das Palladium verdampft und ein großes Loch in den Betonfußboden des Labors gerissen worden war.
Zum Glück war dies bei Nacht geschehen, es hatte kei ne Verletzten gegeben. Das Experiment schien sehr einfach zu sein, und es gab Wissenschaftler in Hülle und Fülle, die Lust hatten, sich daran zu versuchen. Und viele taten es. Es war wun derbar, über ein einfaches Laborexperiment zur Kernfu sion zu verfügen, nachdem man jahrzehntelang mühse lig versucht hatte, die heiße Kernfusion in den Griff zu bekommen. Da waren Maschinen erforderlich gewesen, die Milliarden von Dollar verschlangen und nach jedem Erfolg mit einem neuen, unerwarteten Mißerfolg aufzu warten schienen. Die »kalte Kernfusion« hingegen eröff nete, wie Martin Fleischmann während jener berühm ten Pressekonferenz in Utah sagte, einen »anderen Weg« – den Weg einer »kleinen Wissenschaft«. Unverzüglich begannen Wissenschaft ler auf der gan zen Welt, Informationen über das Experiment zusam menzutragen. An Details war schwer heranzukommen, Telefaxe, E-Mails, Zeitungen und das Fernsehen wurden eingeschaltet. Einige Wissenschaft ler wollten nicht län ger warten; noch am Abend der Pressekonferenz unter nahmen Studenten am Massachusetts Institute of Tech nology (M.I.T.) erste Versuche, das Experiment zu wie derholen, gestützt nur auf die Videoaufzeichnung einer Nachrichtensendung, in deren Verlauf der Apparat kurz gezeigt worden war. Solche Experimente hatten wenig Erfolgschancen, weil die exakten Versuchsbedingungen von Fleischmann und Pons noch nicht bekannt waren. Wie die in Kapitel 1 beschriebenen Wurmversuche soll ten auch die Experimente zur kalten Kernfusion an ihrer
scheinbaren Einfachheit leiden – jedenfalls in den ersten Tagen, als den Forschern noch nicht klar war, wie kom pliziert eine elektrolytische Palladium-Deuterium-Zel le in Wirklichkeit sein kann. Binnen einer Woche nach der Pressekonferenz waren Fotokopien des Manuskripts mit den technischen Einzelheiten des Experiments er hältlich. Jetzt begannen seriöse Wiederholungen des Ver suchs. Knappe Palladiumvorräte wurden aufgekauft, al lenthalben machte man Jagd auf Ausrüstungsteile für das Gerät. Viele Forscher blieben die ganze Nacht wach, um Strom in ihre elektrolytische Zelle einzuspeisen. Die Wis senschaft hatte so etwas noch nie erlebt, ebensowenig die Weltpresse, die ständig aktuellste Neuigkeiten und Berichtigungen zum Thema brachte. Es war »science by press conference« ; die Wissenschaftler gaben sich sozu sagen die Klinken der Redaktionsbüros in die Hand, um über die Medien ihre neuesten Befunde und Prognosen zu verbreiten. Eine Weile sah es tatsächlich so aus, als sei die kalte Kernfusion Realität. In der Woche nach der ersten Pres sekonferenz wurde überraschend bekannt, daß es in Utah eine zweite Gruppe gab, die sich mit der kalten Kernfu sion befaßte. Diese andere, selbständige Gruppe um den Physiker Steven Jones war an der Brigham Young Uni versity beheimatet und hatte in den vorangegangenen drei Jahren ebenfalls positive Resultate erzielt. Sie hatte keinen Wärmeüberschuß entdeckt, aber Neutronen aus einer kalten Kernfusion nachgewiesen (allerdings in weit geringerem Maße, als Pons und Fleischmann das be haupteten). Beide Gruppen hatten ihre Resultate der an
gesehenen naturwissenschaft lichen Fachzeitschrift Na ture vorgelegt. Nicht lange danach teilte die Agricultural and Mecha nical (A&M) University in Texas den wartenden Medi en mit, daß man auch hier in einer elektrolytischen Zel le einen Wärmeüberschuß aus einer kalten Kernfusion gefunden habe ; danach kam die Mitteilung des Institu te of Technology in Georgia, man habe Neutronen ge funden. Positive Resultate wurden aus Ungarn und an deren Ländern Osteuropas gemeldet. Von den Japanern hieß es, daß sie ihr eigenes großformatiges Forschungs programm auflegten. Die University of Utah hatte Patente auf die Namen Pons und Fleischmann angemeldet. Der Grund für die Presseerklärung, bei der die Resultate vor deren Veröf fentlichung in einer Fachzeitschrift mitgeteilt wurden (ein Bruch der wissenschaftlichen Etikette, der den For schern später zum Vorwurf gemacht wurde), war nicht zuletzt das Interesse der University of Utah gewesen, sich die Rechte an der neuen Erfindung noch vor der Grup pe von der Brigham Young University zu sichern. Utah schien entschlossen, sozusagen das Kalifornien dieses neuen Goldrauschs zu werden ; das Parlament in Utah bewilligte 5 000 000 Dollar für das Projekt der kalten Kernfusion. An den US-Kongreß trat man mit der Bit te um weitere 25 000 000 Dollar heran. Und sogar Prä sident Bush ließ sich über die Entwicklung auf dem lau fenden halten. Dann wurden auf einmal Zweifel laut. Es sickerte durch, daß man am Institute of Technology in Georgia einen
Fehler gemacht hatte ; der dortige Neutronendetektor er wies sich als wärmeempfindlich. Und die Messung eines Wärmeüberschusses an der A&M University in Texas wurde mit dem Hinweis auf eine falsch geerdete tempera turempfindliche Vorrichtung wegerklärt. Forschergrup pen am M.I.T. und anderen US-amerikanischen Labors wie dem Lawrence Livermore National Laboratory und Oak Ridge fanden noch immer nichts. Schließlich wurde der Aufsatz von Pons und Fleischmann für Nature aus rätselhaften Gründen zurückgezogen. Der Kongreß be schloß, die 25 000 000 Dollar zunächst auf Eis zu legen. Bei der Tagung der American Physical Society in Bal timore im Mai 1989 erreichte dann die Kritik, untermalt vom allgegenwärtigen Medienrummel, ihren vorläufigen Höhepunkt. Eine Gruppe vom M.I.T. behauptete, Pons und Fleischmann hätten ihre »Beweise« für Neutrinos falsch interpretiert ; eine angesehene Gruppe vom Insti tute of Technology in Kalifornien (Cal Tech) berichtete von detaillierten, aber ausnahmslos negativ verlaufenen Versuchen, das Experiment zu wiederholen, und äußer te Zweifel an der Korrektheit des von Utah gemessenen Wärmeüberschusses ; schließlich verlautbarte ein Theo retiker des Cal Tech, daß eine kalte Kernfusion theore tisch extrem unwahrscheinlich sei, und bezichtigte Pons und Fleischmann der Irreführung und Inkompetenz. Die zwei Forscher von der University of Utah waren zu der Tagung nicht erschienen und verzichteten darauf, sich zu verteidigen ; dafür war Steven Jones von der anderen Kal te-Kernfusions-Gruppe zugegen. Es war höchst nachtei lig für Pons und Fleischmann, daß auch er sich von ih
rer Arbeit distanzierte ; Jones erklärte, ebenfalls Zweifel an der Richtigkeit ihrer Messungen zu haben. Für den größten Teil der versammelten Physikerge meinde war das Maß voll ; sie hatten sich ohnehin schon mit einer gewissen Skepsis gefragt, ob es denn ausgerech net zwei Chemikern gegeben sein sollte, liebgewordene Annahmen über die Kernfusionsphysik einfach über den Haufen zu werfen. Aus dem Gold wurde Katzengold – so wird die Geschichte jedenfalls erzählt. Wie wir jedoch se hen werden, ist auch zu dieser Episode, wie zu den mei sten dieses Buches, noch mehr zu sagen. Viel mehr.
die kleine wissenschaft auf dem weg zur kernfusion Aufstieg und Niedergang der kalten Kernfusion las sen sich an der Fieberkurve des Palladiumpreises able sen. Am 23. März 1989, kurz vor der Bekanntgabe der Entdeckung, lag er bei 145,60 Dollar pro Unze. Auf dem Höhepunkt des Rauschs, im Mai 1989, war er auf 170 Dollar pro Unze geklettert. Nach der Tagung der Ame rican Physical Society in Baltimore stürzte er ab. Zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift dieser Zeilen (Okto ber 1992) ist der Palladiumpreis auf 95 Dollar pro Unze zurückgegangen. Palladium, beziehungsweise eine Eigenschaft von Palla dium, hatte den Anstoß zur Suche nach der kalten Kern fusion gegeben. Es ist bekannt, daß Palladium die er staunliche Fähigkeit hat, enorme Mengen Wasserstoff zu
binden. Wird ein Stück Palladium bis zur Sättigungs grenze mit Wasserstoff »geladen«, steigt der Druck im Innern des Kristallgitters enorm an. Vielleicht war es bei so hohen Druckverhältnissen möglich, die normale Barriere der positiven Ladung (den sogenannten »Coulomb-Wall«), die die Kerne an der Verschmelzung hin dert, zu überwinden? Die Spekulation war gewagt, aber schon vor Pons und Fleischmann hatte es Wissenschaft ler gegeben, die auf diese Weise eine Fusion von Wasser stoffkernen herbeizuführen versuchten. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, bald nach der Entdeckung der atomaren Struktur der Materie, hatten zwei deutsche Chemiker in Berlin den Versuch un ternommen, eine Wasserstoffkernfusion unter Verwen dung von Palladium herbeizuführen. Fritz Paneth und Kurt Peters interessierte an der Fusion nicht die poten tielle Energiequelle, sondern das entstehende Produkt, nämlich Helium, das man in Luftschiffen verwendete. Die deutsche Industrie suchte damals händeringend nach neuen Methoden der Heliumgewinnung, weil der Haupt lieferant USA sich nach dem Ersten Weltkrieg weigerte, Helium an Deutschland zu verkaufen. Paneth und Peters, denen die Wasserstoffaffinität von Palladium bekannt war, entwarfen ein Experiment, bei dem sie Wasserstoff über glühendheißes Palladium streichen ließen. Sie be haupteten, dabei kleine Mengen Helium nachgewiesen zu haben. Leider entdeckten sie später, daß die Quelle dieses Heliums wahrscheinlich Gaseinschlüsse in den Glaswänden ihrer Apparatur gewesen waren. Ein ande rer Wissenschaft ler und Erfinder griff dennoch ihre An
regung auf : der Schwede John Tandberg, der im Labor der Firma Electrolux in Stockholm arbeitete. Tandbergs Ideen hatten – rückblickend betrachtet – eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit jenen von Pons und Fleischmann sechzig Jahre später. 1927 hatte Tand berg ein Patent für ein Gerät angemeldet, das der Gewin nung von Helium durch Elektrolyse von Wasser mit einer Palladiumkathode diente. In seiner Vorrichtung drang der an der Kathode produzierte Wasserstoff in das Palla diumgitter ein, wo es unter den riesigen durch Absorpti on induzierten Druckverhältnissen zur Kernfusion und zur Produktion von Helium kam. Das war jedenfalls der Gedanke. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen Tandbergs Vorrichtung und dem späteren Apparat von Pons und Fleischmann war Tandbergs Verwendung von leichtem Wasser als Elektrolyt. Tandbergs Patentbegeh ren wurde abgelehnt, weil man seine Beschreibung als zu skizzenhaft einschätzte. Nach der Entdeckung des Deu teriums in den dreißiger Jahren verfolgte Tandberg je doch seine Idee weiter ; er versuchte jetzt, eine Kernfusion in einem Palladiumdraht zu erzeugen, der durch Elek trolyse mit Deuterium gesättigt worden war. Er scheint dabei nicht viel Erfolg gehabt zu haben, jedenfalls nicht, was die Gewinnung von Helium betrifft. Pons und Fleischmann waren diese früheren Arbei ten nicht bekannt, als sie 1984 mit ihren Experimenten begannen. Martin Fleischmann ist einer der angesehen sten britischen Elektrochemiker. Der Amerikaner Stan ley Pons studierte an der Universität Southampton, wo er 1975 promovierte ; hier waren sich die zwei Forscher dann
auch begegnet. Fleischmann, der seinerzeit den FaradayLehrstuhl für Elektrochemie in Southampton innehatte, stand in dem Ruf, gerne risikoreiche Wissenschaft zu trei ben und dabei kühne und innovative Ideen und Ansät ze zu verfolgen. In der Tat hatte er mit solchen Arbeiten Karriere gemacht, und einige dieser Risiken hatten sich auch ausgezahlt : Fleischmann waren eine Reihe wichti ger Entdeckungen gelungen, was 1986 mit seiner Wahl zum Fellow der Royal Society honoriert wurde. Daß Fleischmann sich 1989 in Utah wiederfand, hatte mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher zu tun. Infolge der 1983 von der Regierung Thatcher ver fügten Kürzungen der Mittel für britische Universitäten und somit auch für Southampton war Fleischmann ge zwungen gewesen, in den vorzeitigen Ruhestand zu tre ten. (Eine unbezahlte Stelle behielt er allerdings bei.) Er wurde freier Forscher und tat sich mit Pons zusammen, der mittlerweile selbst ein produktiver Wissenschaft ler und Leiter des Chemistry Department der University of Utah war. Pons war 46, Fleischmann 62 Jahre alt, als sie ihre Entdeckung bekanntgaben. Auch Pons war für seine Erfolge in risikoreichen Zweigen der Wissenschaft bekannt. Pons wie Fleischmann wußten, daß die kalte Kernfusion eine gewagte Spekulation war. Anfangs fi nanzierten sie ihre Experimente mit 100 000 Dollar aus eigener Tasche, wobei sie damit rechneten, bestenfalls winzige Spuren Tritium und vielleicht ein paar Neutro nen zu finden. Der hohe Grad des entdeckten Wärme überschusses kam auch für sie völlig unerwartet.
steven jones Die Ankündigung vom 23. März 1989 ist nur im Zu sammenhang mit der anderen Gruppe in Utah zu verste hen, die unter Leitung von Steven Jones an der Brigham Young University arbeitete. Während die wissenschaft li che Gemeinde von den Arbeiten Pons’ und Fleischmanns zur kalten Kernfusion nichts wußte, hatte sie die von Jones erzielten Fortschritte schon einige Jahre verfolgen können. 1982 hatten Jones und seine Kollegen am Teil chenbeschleuniger in Los Alamos einen großen Versuch durchgeführt, bei dem es darum ging, eine durch sub atomare Teilchen ausgelöste Kernfusion zu beobachten. Sie hatten weit mehr Beweise für derartige Fusionen ge funden, als theoretisch zu erwarten gewesen wären, aber nicht genug zum Beleg, daß es sich hier um eine neue, brauchbare Energiequelle handelte. Wie die Erforschung der heißen Kernfusion war auch die teilcheninduzierte Fusion ein frustrierender Irrweg, der immer weiter von dem Ziel wegführte, einen zur kommerziellen Nutzung geeigneten Wärmeüberschuß zu erzeugen. Jones hatte deshalb darüber nachgedacht, auf welche Weise vielleicht sehr hohe Druckverhältnisse die Was serstoffisotopen zur Fusion anregen könnten. Der ent scheidende Durchbruch kam 1985, als ein Kollege an der Brigham Young University, der Geophysiker Paul Pal mer, Jones auf eine Anomalie aufmerksam machte, die in der Umgebung von Vulkanen anzutreffen ist, nämlich überschweres Helium (Helium III). Palmer und Jones sahen eine mögliche Erklärung in einer geologisch in duzierten kalten Kernfusion, der das in gewöhnlichem
Wasser enthaltene Deuterium im Innern der Erde aus gesetzt sein mochte. Die Brigham-Young-Gruppe verfolgte den Gedanken weiter und versuchte, die geologischen Prozesse im Labor nachzustellen. Die Forscher suchten nach Spuren irgend eines Metalls im Gestein, das als Katalysator einer Kern fusion dienen konnte. Zu diesem Zweck bauten sie eine elektrolytische Zelle – im Prinzip ähnelte sie derjenigen, mit der schon Tandberg gearbeitet hatte – und experimen tierten mit verschiedenen Materialien als Elektroden. Auch sie kamen bald zu dem Schluß, daß Palladium mit seiner Fähigkeit, Wasserstoff zu absorbieren, der wahrscheinlich ste Kandidat war. Jetzt baute man einen Neutronendetek tor mit niedriger Nachweisgrenze, um jede vorkommende Kernfusion messen zu können. 1986 lag die beobachtete Neutronenrate erstmals über der Hintergrundrate. Zwei Jahre später und mit einem verbesserten Detektor ausge rüstet, war sich die Gruppe sicher, den definitiven Beweis einer Neutronenproduktion gefunden zu haben. Jones hatte während dieser Forschungen nicht geahnt, daß ganz in seiner Nähe, an der University of Utah, ähn liche Anstrengungen unternommen wurden. Zum ersten Mal erfuhr er von den Experimenten Pons’ und Fleisch manns, als ihm das Energieministerium das Forschungs vorhaben der beiden zur Begutachtung vorlegte. (Pons und Fleischmann waren zu dem Schluß gelangt, daß ihre Arbeit die Förderung durch öffentliche Mittel verdiene.) Es war für beide Gruppen bedauerlich, daß derma ßen ähnliche Forschungen in so großer Nähe zueinander durchgeführt wurden. Bei dem offenkundigen kommer
ziellen Nutzen, den die kalte Kernfusion haben mußte, und der Notwendigkeit der Patentierung bedeutete das, daß zwischen den zwei Gruppen Mißtrauen und Riva lität entstand. Was sie in bezug auf die gemeinsame und gleichzeitige Publikation ihrer Ergebnisse nun genau ver einbarten, ist noch immer umstritten. Anfang 1989 scheinen sich Pons und Fleischmann in der Hoffnung gewiegt zu haben, daß Jones noch eine ge wisse Zeit (bis zu anderthalb Jahren) mit der Publikati on seiner Ergebnisse warten werde, um ihnen Gelegen heit zur Verfeinerung ihrer Messungen zu geben. Pons und Fleischmann waren sich anscheinend sicher, einen Wärmeüberschuß gefunden zu haben, hatten aber kei ne hieb- und stichfesten Beweise für deren nukleare Ent stehung. Einige grobe Messungen deuteten darauf hin, daß Neutronen produziert wurden, doch waren genaue re Messungen wünschenswert. Fleischmann versuchte sogar, eine elektrolytische Zelle für eine kalte Kernfusi on in das Harwell Laboratory in England ausfliegen zu lassen, wo er als Berater tätig war und wo sehr sensible Neutronendetektoren zur Verfügung standen. Doch die Zelle wurde zum gefährlichen Strahlengut erklärt und durfte internationale Grenzen nicht passieren. Schließ lich behaupteten Pons und Fleischmann, die Neutronen indirekt nachweisen zu können, nämlich durch Beob achtung gewisser Wechselwirkungen in einem die Zelle umgebenden Wasserschild. Diese hastig durchgeführ ten Messungen waren es, die später die Kritik der M.I.T. Gruppe auf sich zogen ; sie erwiesen sich als die Achil lesferse am Körper der Utah-Befunde.
Pons und Fleischmann gerieten durch die zu erwar tende Erklärung von Steven Jones in Zugzwang. Ein Se minar im März sagte Jones zwar noch ab, aber auf der Tagung der American Physical Society am 1. Mai woll te er seine Resultate publik machen. Um ihren Entdek keranspruch zu wahren, vereinbarten Pons und Fleisch mann mit Jones, am 24. März gleichzeitig und mit der selben Postsendung ihre separaten Aufsätze bei Nature einzureichen. Aber noch im März brach die Kommunikation zwi schen den beiden Gruppen zusammen. Jones wollte zwar erst im Mai öffentlich auftreten, aber eine Kurzfassung seines Textes gelangte schon vorher an die Öffentlichkeit. Pons und Fleischmann scheinen das als Freibrief betrach tet zu haben, nun ihrerseits an die Öffentlichkeit zu ge hen. Die Gruppe von der University of Utah befürchtete auch, Jones könnte im Begriff sein, ihre Ideen zum Wär meüberschuß zu stehlen, nachdem er als Gutachter des Energieministeriums Einsicht in ihr Forschungsvorhaben gehabt hatte. Zu einer weiteren Komplikation kam es im März durch eine Anfrage des Journal of Electroanalytical Chemistry, das von Pons einen Aufsatz über seine jüng sten Arbeiten erbat. Daraufhin verfaßte Pons in aller Eile eine Darstellung der Experimente zur kalten Kernfusion und legte sie der Zeitschrift vor. Dieser Aufsatz erschien im April 1989 ; er war es, der schließlich weite Verbrei tung fand und die ersten technischen Einzelheiten zu den Experimenten an die Öffentlichkeit brachte. Von der University of Utah zunehmend unter Druck gesetzt, entschlossen sich Pons und Fleischmann, mit
einer Pressekonferenz am 23. März vorzupreschen, ei nen Tag vor der ursprünglich geplanten gemeinsamen Ablieferung der Beiträge für Nature. Eine Indiskretion Fleischmanns gegenüber einem britischen Journalisten führte dazu, daß die erste Meldung von der Entdeckung am Morgen des 23. März in der Financial Times erschien. Die Weltpresse war also bestens gerüstet, um in Utah einzufallen. Bei der Pressekonferenz verlautete allerdings kein Wort über die andere Gruppe in Utah. Jones, der ohnehin schon wegen der Pressekonferenz wütend war und dem nun auch noch zu Ohren kam, daß doch schon ein Aufsatz (nämlich der von Pons im Journal of Electroanalytical Chemistry) erschienen war, sah die Abmachung als gebrochen an und schickte unverzüglich seinen eigenen Aufsatz an Nature ab. Nichts hätte die ge störte Kommunikation zwischen den zwei Gruppen in Utah besser symbolisieren können als die einsame Ge stalt des Mitarbeiters von Pons und Fleischmann Mar vin Hawkins, der am 24. März zur vereinbarten Stunde am Schalter eines Kurierdienstes im Flughafengebäude von Salt Lake City auf den Abgesandten der Jones-Grup pe wartete. Niemand kam, und so ging der Aufsatz von Pons und Fleischmann allein auf die Reise.
die kontroverse Es waren die Resultate von Pons und Fleischmann, die die Kontroverse um die kalte Kernfusion heraufbeschworen. Die von Jones registrierten Neutronenraten waren von geringerer Größenordnung als bei der ande
ren Gruppe ; auch hat er niemals behauptet, einen Wär meüberschuß beobachtet zu haben. Seine Resultate be deuteten auch nicht dieselbe theoretische Herausforde rung. Und im Unterschied zu Pons und Fleischmann spielte Jones die kommerzielle Seite der Sache ausdrück lich herunter. Die Aufnahme von Jones’ Resultaten offenbart, wie leicht wissenschaftliche Befunde ihre Glaubwürdigkeit einbüßen, wenn die Urheber ungewollt in eine wissen schaftliche Kontroverse verstrickt werden. Bei dem gefe stigten Ruf, den er auf seinem Gebiet genoß, den mini malen theoretischen Konsequenzen, die seine Resultate implizierten, und der Bescheidenheit, mit der er sie vor trug, hätte Steven Jones, wären nicht Pons und Fleisch mann gewesen, wahrscheinlich nur in aller Ruhe ein in teressantes Faktum aus dem Reich der Natur präsentiert : die Kernfusion von kleinen Mengen Deuterium in Pal ladium. Aber obgleich Jones sich von der anderen Gruppe zu distanzieren suchte, war er zwangsläufig denselben Ver dächtigungen ausgesetzt wie sie. Es kamen Zweifel auf, ob seine Neutronenmessungen wirklich stattgefunden hatten, und über die Frage, ob er eine Fusion beobachtet hat oder nicht, besteht bis heute kein Konsens. Im Gegensatz zu Jones hatten Pons und Fleischmann auf dem Gebiet der Kernfusionsforschung keinen gefe stigten Ruf ; sie waren Chemiker, keine Physiker. Außer dem behaupteten sie etwas, was für die meisten Physiker theoretisch unmöglich war. Zum einen war es außeror dentlich unwahrscheinlich, daß eine Fusion überhaupt
zustande kommen konnte ; zum anderen hätte, wenn der Wärmeüberschuß durch eine Fusion verursacht worden wäre, die Menge der produzierten Neutronen ausreichen müssen, um Pons und Fleischmann und jeden anderen Menschen zu töten, der sich zufällig in der Nähe der elektrolytischen Zelle aufhielt (das wäre gewesen, was man ein echtes »Totschlagargument« nennt). Kein Zwei fel also, daß den Fusionsforschern der rechte Glaube fehl te, als sie am 23. März die Botschaft hörten. Die Reak tion lautete : »Stellen Sie sich vor, Sie wären Konstrukteur von Düsenjägern, und dann hörten Sie auf einmal im Ra dio, daß jemand eine Antigravitationsmaschine er funden hat.«1 Ein anderer Wissenschaftler meinte damals: »Ich will ja gerne unvoreingenommen sein, aber es ist einfach unvorstellbar, daß da etwas dran ist.«2 Die Skepsis rührte nicht zuletzt daher, daß Kernfusions forscher häufig mit großartigen »Durchbrüchen« kon frontiert werden, die sich wenig später als inkorrekt er weisen. Die Zahl solcher Episoden war in der Geschichte der Disziplin Legion, und so hatten die Kernfusionsfor scher wenig Geduld mit allerlei exorbitanten Behaup tungen. Für sie war es ebenso unwahrscheinlich, daß die Probleme der globalen Energieversorgung mit ei nem Durchbruch in der Kernfusion gelöst werden könn
ten, wie daß soeben Einsteins Relativitätstheorie über wunden worden sei – eine Behauptung, die regelmäßig erhoben wurde. Die Fusionsforscher, an spektakuläre Behauptungen gewöhnt und außerdem an der Verteidigung ihrer mil liardenschweren Forschungsprogramme interessiert, wa ren also ungläubig ; dafür waren andere Wissenschaft ler viel eher bereit, die Arbeiten von Pons und Fleischmann ernst zu nehmen. Bei ihren Kollegen von der Chemie, wo sie schließlich ausgewiesene Fachleute waren, erging es den beiden besser. Schon früh legte Pons seine Befun de bei einer Tagung der American Chemical Society vor, wo man ihm einen begeisterten Empfang bereitete. Für die meisten hier wogen wahrscheinlich die Vorurteile der wissenschaftlichen Gemeinde weniger schwer als die Tatsache, daß das Experiment leicht durchzuführen war. Wenn irgend etwas daran war – dürften sich viele Wis senschaftler gesagt haben –, würde sich das bald heraus stellen. Pons und Fleischmann hatten zweierlei Beweise für ihre Behauptungen zu bieten: Wärmeüberschuß und Nuklearprodukte. Die galt es zu überprüfen.
wärmeüberschuss Zur Überprüfung des Wärmeüberschusses genügten im Grunde die physikalischen Kenntnisse aus der höheren Schule. Man mußte nur sorgfältig über den Energie-Input und -Output der elektrolytischen Zelle Buch führen, ein schließlich aller bekannten chemischen Reaktionen, die chemische Energie in Wärme umwandeln können. Die
se Buchführung muß über einen gewissen Zeitraum fort gesetzt werden, weil die Energiebilanz nicht in jedem ein zelnen Augenblick ausgeglichen ist, da die Energie in der elektrolytischen Zelle auch gespeichert werden kann (die somit zu einer Art »Wärmebank« wird). Den Energie-Out put festzustellen, ist ein ziemlich einfacher Vorgang; man mißt einfach den Temperaturanstieg, nachdem die Zelle zunächst mit Hilfe einer Wärmequelle von bekannter En ergieleistung eingemessen oder »kalibriert« worden ist. In der Praxis nahm das Experiment einige Zeit in Anspruch, weil die Palladiumelektroden vollständig mit Deuterium geladen sein mußten (was bei Elektroden mit 8 Millime ter Durchmesser mehrere Monate dauern konnte). Der Wärmeüberschuß war von Zelle zu Zelle verschie den. Manche Zellen wiesen überhaupt keinen Wärme überschuß auf, und manchmal kam die Energie auch in Wellen ; in einem Fall war der registrierte Energie-Output viermal größer als der Input. In der Regel lag der Wär meüberschuß jedoch bei 10 bis 25 %. Trotz der heiklen Natur des Experiments waren Pons und Fleischmann sich sicher, daß der Wärmeüberschuß mit bekannten chemischen Prozessen oder Reaktionen nicht erklärt werden könne.
nuklearprodukte Der direkteste Beweis für eine Kernfusion wäre eine mit dem Wärmeüberschuß korrelierende Produktion von Neutronen gewesen. Die ersten Neutronenmessun gen, die Pons und Fleischmann unternahmen, waren re
lativ ungenau. Sie verglichen den Neutronen-Output einer elektrolytischen Zelle mit deren Hintergrund, gemessen in 50 Metern Entfernung von der Zelle. Für diese eine Zelle wollten sie nun ein Signal gemessen haben, das drei mal stärker war als der Hintergrund. Das war ein signi fikantes Resultat; da man jedoch weder die Energie der Neutronen kannte noch wußte, ob der Hintergrund in der Nähe der Zelle derselbe war wie in 50 Metern Entfernung, war es alles andere als schlüssig. Ein zufriedenstellenderes Verfahren war die Messung der Gamma-Strahlen-Stöße, die die von Protonen eingefangenen Neutronen in dem die Zelle umgebenden Wasserbad verursachten. Diese Messungen nahm über einen Zeitraum von zwei Tagen der Radiologe Bob Hoffman von der University of Utah vor. Soweit überhaupt Neutronen nachgewiesen wurden, lag ihre Anzahl um mehrere Milliarden niedriger, als man hätte erwarten können, wenn die gesamte Wärme durch die Deuteriumfusion erzeugt worden wäre. Ein anderer Beweis für das Vorliegen einer Kernfusion wäre das Vorhandensein von Kernfusionsprodukten wie etwa Tritium gewesen. In der Palladiumkathode einer Zel le entdeckten Pons und Fleischmann in der Tat Spuren die ses Stoffes. Die Schwierigkeit bei diesem Befund – und bei allen behaupteten Befunden – war, daß Tritium als konta minierender Zusatz von schwerem Wasser bekannt ist.
replik Wie bereits erwähnt, setzten nach der Ankündigung vom 23. März sofort intensive Anstrengungen ein, die
Experimente zu wiederholen. Die ersten Resultate – po sitive wie negative – wogen wenig, obwohl sie von den Medien stark beachtet wurden. Die Betretenheit, die dann die ersten Rückmeldungen vom Institute of Technology in Georgia und vom A&M Laboratory in Texas auslö sten, warnte alle auf eine seriöse Wiederholung der Ex perimente bedachten Wissenschaftler : Mühelose Ergeb nisse waren hier nicht zu erhoffen. Dennoch ließen sich viele von der scheinbaren Einfachheit des Experiments täuschen und mußten später feststellen, daß eine Pal ladium-Elektrolytzelle um einiges komplizierter ist, als man denkt. Die Schwierigkeiten, vor der diese Wissenschaft ler standen, gingen zum Teil darauf zurück, daß Pons und Fleischmann ihr Vorgehen nicht eingehend genug be schrieben hatten. Es gab Diskussionen über die exakte Größe der zu verwendenden Elektroden und über die Stärke des Stroms, womit die Zellen zu betreiben waren, ferner darüber, ob Lithiumsalz unentbehrlich war oder durch ein anderes Salz ersetzt werden konnte, ob die Ka thode »vergiftet« war und womit, und wie lange das Expe riment laufen sollte. Das alles war nicht klar. Schon nach ihrer ersten Ankündigung wurden Pons und Fleisch mann mit Anfragen überhäuft. Kein Wunder, denn an gesichts der hysterischen Atmosphäre in Utah war es nicht immer leicht, an entscheidende Informationen her anzukommen. Manche Kritiker haben Pons und Fleischmann aller dings vorgeworfen, eine bewußte Geheimniskrämerei zu treiben, um sich ihre Patentrechte zu sichern bezie
hungsweise um – später, nachdem es viele Enttäuschun gen gegeben hatte – ihre eigene Inkompetenz zu vertu schen. Doch angesichts der kommerziellen Bedeutung der Entdeckung war die Absicherung der Patentrechte keineswegs unwesentlich ; ohnehin ist sie auf manchen Gebieten der Biotechnologie gang und gäbe. Pons und Fleischmann scheinen sich anfangs auch aufgrund ei gener Unsicherheit und aus Sorge über die mit dem Ex periment verbundenen Gefahren so zögerlich verhalten zu haben, wie sie es taten. Sie hatten konkrete Beden ken, eine billige Quelle für Tritium öffentlich zu machen – immerhin gehört Tritium zu den unentbehrlichen Be standteilen der Wasserstoffbombe. Die schwer zugänglichen Details der Experimente ver breiteten sich um so rascher über ein Netz informeller Te lefon- und E-Mail-Kontakte. Die elektronische Post spiel te in dieser Kontroverse vielleicht insofern eine wichtige Rolle, als sie die ablehnende Beurteilung der kalten Kern fusion noch beförderte, die sich bald nach der Tagung der American Physical Society in Baltimore durchsetzte. Der Physiker Douglas Morrison von der CERN (Euro päische Organisation für Kernforschung) zum Beispiel, ursprünglich ein begeisterter Adept der kalten Kernfu sion, stellte einen Informationsbrief ins Internet, der an scheinend viel gelesen wurde: Morrison war nämlich bald skeptisch geworden, was die behaupteten Resultate be traf, und bezog sich nun gegenüber der Forschergemeinde auf Irving Langmuir, der in einem berühmt-berüchtig ten Vortrag über »pathologische Wissenschaft« eine Rei he von wissenschaftlich umstrittenen Phänomenen wie
»N-Strahlen« oder »Außersinnliche Wahrnehmung« als Schöpfungen eines Massenwahns abgetan hatte. (Lang muirs Vortrag wurde im Oktober 1989 in Physics Today abgedruckt.) Laut Morrison war die kalte Kernfusion das jüngste Beispiel solcher »pathologischen« Wissenschaft. Es wurde jedoch bald klar, daß zwar die meisten For schergruppen überhaupt nichts zu finden vermochten, ei nige wenige aber positive Resultate verzeichneten. Es ergab sich das klassische Problem der Wiederholung eines Ex periments während einer wissenschaftlichen Kontroverse. Negative Resultate konnten von den Anhängern als Folge einer abweichenden Versuchsanordnung wegerklärt wer den. Für diejenigen hingegen, die gar nichts finden konn ten, war dies auch schon der Beweis, daß es nichts zu finden gab. Pons und Fleischmann selber gaben bei ihrer An hörung vor dem amerikanischen Kongreß im April 1989 zu Protokoll, daß die negativen Resultate sie nicht über raschten, da viele Zellen auf der Grundlage inkorrekter Parameter und Dimensionen gebaut worden seien. Unter den überlieferten frühen und positiven Wieder holungen des Experiments war besonders wichtig die des Werkstoffkundlers Robert Huggins von der Stanford Uni versity. Huggins hatte zwei elektrolytische Zellen betrie ben, eine mit gewöhnlichem und eine mit schwerem Was ser, und hatte festgestellt, daß nur die Zelle mit schwerem Wasser einen Wärmeüberschuß erzeugte. Damit reagier te er auf den gegen Pons und Fleischmann immer wie der vorgebrachten Einwand, keine »Kontrollzelle mit ge wöhnlichem Wasser betrieben zu haben. Huggins hat im Laufe der Jahre konsequent positive Resultate erzielt.
Ein anderer kritischer Einwand gegen Pons und Fleisch mann lautete, daß sie mit offenen Zellen arbeiteten, aus denen die in der Elektrolyse erzeugten Gase (Deuteri um und Sauerstoff) ungehindert entweichen konnten. Das Problem hierbei war die Frage, ob es eine Beein flussung der Energiebilanz durch die mögliche chemi sche Rekombination von Deuterium und Sauerstoff zu schwerem Wasser gab, wodurch dem System Wärme zu geführt würde. Dieser Einwand wurde definitiv wider legt, als eine Forschergruppe um John Appleton von der A&M University (aber nicht dieselbe Gruppe von A&M, die voreilig positive Resultate gemeldet hatte) sorgfältig kontrollierte Wärmemessungen mit geschlossenen Zel len vornahm. Wieder wurde ein Wärmeüberschuß fest gestellt. Eines der folgenreichsten negativen Resultate kam von einer Cal-Tech-Gruppe um den Chemiker Nathan Lewis und den Physiker Charlie Barnes. Das Cal-Tech-Team hatte mit den verschiedensten Kombinationen von Ver suchsbedingungen experimentiert und nichts gefunden. Wie bereits erwähnt, trug Lewis die negativen Resultate mit höchst dramatischem Effekt bei der Tagung der Ame rican Physical Society in Baltimore vor. Seine Resultate hatten zusätzliches Gewicht, weil er Pons und Fleisch mann ein elementares Versehen vorwarf. Sie hatten ver säumt, den Elektrolyten umzurühren, so daß sich heiße Flecken bilden und zur Messung scheinbarer Tempera turen führen konnten. Es scheint jedoch, daß Lewis’ Vorwürfe verfehlt waren. Pons und Fleischmann entgegneten, daß es nicht nötig
sei, den Elektrolyten umzurühren, da die bei der Elek trolyse entstehenden Deuteriumbläschen dieselbe hin reichend gründliche Wirkung hatten. Um den Fehler zu demonstrieren, hatte Lewis versucht, Pons’ und Fleisch manns Zelle exakt nachzubauen. Als Muster hatte ihm eine Fotografie der Zelle in der Los Angeles Times ge dient. Wie sich aber herausstellte, war diese Zelle von Pons und Fleischmann nur zu Demonstrationszwecken gebraucht worden und wesentlich größer dimensioniert als die Zellen, die bei den tatsächlichen Experimenten zum Einsatz kamen. Pons und Fleischmann wiesen spä ter in einem einfachen Experiment mit einigen Tropfen einer Kontrastfarbe im Elektrolyten nach, daß die Bläs chen in der Tat als tauglicher Umrührmechanismus fun gierten. Wie in anderen Kontroversen auch, war das, was die meisten Menschen für ein völlig unwiderlegliches Ergeb nis hielten, bei näherer Prüfung denselben Zweideutigkei ten unterworfen wie die angeblich widerlegten Resultate. Wären Lewis’ Messungen mit der nämlichen Akribie aus einandergenommen worden, die man sich für Pons und Fleischmann aufsparte, wären sie weniger zwingend er schienen, als es seinerzeit der Fall war. Doch in der auf geheizten Atmosphäre der Tagung in Baltimore, wo die versammelten Physiker nach dem Blut der zwei Chemiker lechzten und wo eine ganze Serie von negativen Resul taten vorgelegt wurde (siehe auch weiter unten), konnte Lewis sein Resultat gegen alle anderen durchsetzen. Das klassische Problem der Wiederholung von Expe rimenten ist auch bei den sehr folgenreichen negativen
Resultaten aufgetaucht, wie sie aus dem Harwell Labora tory berichtet wurden. Letztlich aufgrund der Kontakte, die Fleischmann nach Harwell unterhielt, hatte sein frü herer Student David Williams bereits vor der Pressekon ferenz im März mit seinen Experimenten begonnen. Die von ihm gewonnenen Resultate bedeuteten in jeder Hin sicht das Aus für die kalte Kernfusion in England. Doch wieder wirken die Experimente auf den ersten Blick be eindruckend, da viele Zellen über lange Zeiträume auf Wärmeüberschuß und Neutronen geprüft wurden. Für Verfechter der kalten Kernfusion wie Eugene Mal love jedoch sind diese Resultate nicht überzeugend : sie behaupten, daß bei fast der Hälfte der elektrolytischen Zellen die eingesetzte Stromstärke unterhalb der Schwel le der Zellaktivierung lag. Andere kritische Einwände galten den Methoden der Wärmeschätzung in Harwell. Trotz der abweichenden Interpretationen war das Har weller Experiment für viele Wissenschaft ler dann das letzte Wort in Sachen kalter Kernfusion. Neben den Versuchen, das Phänomen mit Hilfe elektro lytischer Zellen zu wiederholen, hat es neue Experimente gegeben, die die kalte Kernfusion mit anderen Methoden herbeizuführen suchten. Eine dieser Methoden ist die Ab kühlung und Wiedererwärmung von Palladium, bei der es mit Deuterium übersättigt wird. Bei derartigen Expe rimenten sind Neutronenstöße beobachtet worden. Welche Schwierigkeiten die Verfechter der kalten Kern fusion damit haben, Anerkennung für ihre positiven Re sultate zu finden, veranschaulicht das Schicksal der Triti ummessungen. Wie man sich erinnert, hatten Pons und
Fleischmann selber Spuren von Tritium gefunden. Wei tere Nachweise kamen von anderen Experimentatoren: einer Gruppe in Indien, die sich schon lange mit Triti ummessungen befaßte, einer Gruppe in Los Alamos und einer dritten Gruppe an der A&M University in Texas. Da jedoch Tritium ein bekannter Kontaminationsstoff des schweren Wassers ist, gibt es hier immer eine be queme »normale« Erklärung. Es hat sich als unmöglich erwiesen, die Kritiker davon zu überzeugen, daß kei ne Kontamination stattgefunden hat – sie finden immer Wege, wie das Tritium in die elektrolytische Zelle ge langt sein könnte. Vereinzelt ist sogar Betrug unterstellt worden: 1990 er schien ein Artikel in der Zeitschrift Science, der eine will kürliche Täuschung als Faktor bei den Tritiummessungen an der A&M University ins Spiel brachte. Die Sackgasse, in die sich Verfechter und Kritiker zumal mit dem ge genseitig erhobenen Vorwurf der Unwissenschaft lichkeit manövrierten, ist ein typischer Zug wissenschaft licher Kontroversen. Die Kritiker berufen sich auf das Über wiegen negativer Resultate, um zu begründen, daß sie das kontroverse Phänomen verwerfen, während alle üb rigen, positiven Resultate mit Inkompetenz, Wahn oder Betrug wegerklärt werden. Die Befürworter wiederum erklären die negativen Resultate mit der Unmöglichkeit oder dem Unvermögen, exakt dieselben Bedingungen zu reproduzieren, unter denen die positiven Resultate ge wonnen wurden. Experimente allein scheinen also nicht in der Lage, eine Kontroverse beizulegen.
eine theoretische unmöglichkeit ? Die Debatte ist zum größten Teil vor dem Hintergrund der Annahme ausgetragen worden, daß eine kalte Kern fusion aus theoretischen Gründen unmöglich ist. Pons und Fleischmann hegten zwar – wie vor ihnen schon Tandberg – die Hoffnung, die extremen Druckverhält nisse im Innern des Palladiumgitters würden die Fusi on des Deuteriums begünstigen ; aber eine theoretische Rechtfertigung für diese Erwartung gab es kaum. Einige Kernphysiker haben die behauptete kalte Kern fusion zum Anlaß genommen, deren theoretische Mög lichkeit noch einmal eingehend zu überprüfen. Steve Koonin und Mike Nauenberg haben an dieses Problem viel Zeit und Energie gewendet. Zwar stießen sie bei der Durchsicht der Berechnungen auf Fehler, die, verglichen mit älteren Berechnungen, die Rate der Deuterium-Deu terium-Fusionen um einen Faktor von über zehn Mil liarden erhöhten; aber die zentrale Stoßrichtung dieser Arbeit war doch der Nachweis, warum eine Deuterium fusion in Palladium in der zur Erzeugung eines Wärme überschusses nötigen Größenordnung extrem unwahr scheinlich ist. Koonin und Nauenberg haben dargelegt, daß die Druckerhöhung im Innern des Palladiums nicht ausreicht, um eine Kernfusion herbeizuführen. In einem Palladiumgitter wären die Deuteriumkerne sogar wei ter voneinander entfernt als in gewöhnlichem schwe rem Wasser. Koonins und Nauenbergs Berechnungen zur Wahrscheinlichkeit einer Deuterium-Deuterium-Fusion ergaben eine extrem niedrige Rate. Koonin brachte einen anschaulichen Vergleich : »Bei einer Masse kalten Deute
riums von der Größenordnung der Sonne käme es ein mal im Jahr zur Fusion.« So konnte Koonin bei der Maitagung der American Physical Society durch einen Überblick über alle theo retischen Möglichkeiten jede theoretische Begründung der kalten Kernfusion abwegig erscheinen lassen. Einem Reporter der New York Times sagte er : »Man kann wun derbar darüber theoretisieren, wie eine kalte Kernfusi on in einer Palladiumkathode womöglich vor sich gehen könnte […] genauso könnte man aber auch darüber theo retisieren, wie sich Schweine verhalten würden, wenn sie Flügel hätten. Aber sie haben eben keine Flügel !«3 In dieser Situation, in der sich die experimentellen Be weise rasch in Luft auflösten, waren die meisten Physiker dann natürlich froh, sich auf der Seite des anerkannten Wissens zu finden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Koonin die Standar dauffassung vertrat. Es ist aber typisch für das Wesen ei ner wissenschaftlichen Kontroverse, in der offenkundig Experiment gegen herrschende Theorie steht, daß das noch nicht das Ende vom Lied war. Während der Episode mit der kalten Kernfusion sind denn auch zahlreiche Vorschläge gemacht worden, wie sie im ausreichenden Maße herbeigeführt werden könnte, und zwar ohne daß Neutronen erzeugt würden. Einige der seriöseren Vorschläge stammen von dem Nobelpreis träger Julian Schwinger und dem Laserphysiker Peter Ha gelstein vom M.I.T., der an der Erfindung des Röntgenla sers beteiligt war. Eine Idee war, darüber nachzudenken, auf welchem Wege vielleicht eine seltene neutronenlose
Kernfusionsreaktion durch Abgabe von Energie an das Palladiumgitter die Quelle des Wärmeüberschusses sein könnte. Hagelstein zog auch Ideen aus der Laserphysik heran und schlug eine »kohärente Fusion« vor, bei der dominoartige Fusionskettenreaktionen auftreten. Da auf den experimentellen Resultaten ein Schatten liegt, sehen die meisten Theoretiker keine Veranlassung, sich mit derart exotischen Ideen abzugeben. Man fühlt sich an die Sonnenneutrinos (siehe Kapitel 7) erinnert, für die ebenfalls viele spekulative Theorien vorgelegt wurden, um die Abweichung zwischen der Standardtheorie und den experimentellen Resultaten zu erklären. Obgleich es sich dort nur um einen Faktor 3 handelte, konnte kei ne der Alternativtheorien sich allgemeine Anerkennung verschaffen. Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß in einem Fall, wo dieser Faktor 57 Größenordnungen aus macht und die experimentellen Resultate viel weniger Glaubwürdigkeit besitzen, die geltende Theorie über den Haufen geworfen werden wird. Zweifellos nimmt Hagel stein selbst diese Alternativtheorien sehr ernst – er hat sogar Patente für Geräte angemeldet, die auf seinen Theo rien basieren. Die Risiken, die es in sich birgt, wenn man solche Theorien über das reine »Was-wäre-wenn«-Stadi um hinaus verfolgt (wenn man sie also nicht als bloße Spekulation betrachtet, sondern als ernsthafte Lösungs kandidaten), werden am Fall Hagelstein drastisch veran schaulicht: Es halten sich hartnäckige Gerüchte, daß sei ne Stelle am M.I.T. ab dem Moment gefährdet war, als er begonnen hatte, theoretische Erklärungen für die kalte Kernfusion zu entwickeln.
glaubwürdigkeit Der Kampf zwischen Verfechtern und Gegnern in einer wissenschaftlichen Kontroverse ist stets ein Kampf um Glaubwürdigkeit. Wenn Wissenschaft ler Behauptungen aufstellen, die – wie im Fall der kalten Kernfusion – buch stäblich unglaublich sind, steht ihnen ein hartes Stück Ar beit bevor. Das Problem, mit dem Pons und Fleischmann zu kämpfen hatten, war, daß sie zwar als Elektrochemi ker Glaubwürdigkeit besaßen, nicht aber als Kernphysi ker. Die Auswirkungen ihrer Arbeiten aber würden aller Wahrscheinlichkeit nach die Kernphysik betreffen. Die Behauptung, Kernfusionen beobachten zu kön nen (besonders, wenn sie so vollmundig und spektaku lär vorgebracht wurde), mußte zwangsläufig Kernphysiker und Kernfusionsphysiker vor den Kopf stoßen, die das Gebiet bereits mit Beschlag belegt hatten. Es war schon enorm viel Geld, Fachwissen und Material in Program me zur heißen Kernfusion gesteckt worden, und es wäre naiv zu glauben, daß das die Aufnahme nicht in irgen deiner Weise beeinflußt hat, die Pons und Fleischmann bereitet wurde. Das heißt nicht, daß die Kernfusionsphysiker die Be hauptungen rundweg verworfen hätten (das taten nur einige wenige) oder daß es ihnen allein darum gegan gen wäre, sich milliardenschwere Investitionen zu erhal ten (obgleich die Gefahr, daß das Energieministerium die Mittel für die heiße Kernfusion künftig in die Erfor schung der kalten Kernfusion stecken könnte, ihre In teressen unmittelbar tangierte); es heißt auch nicht, daß hier einfach das blinde Vorurteil von Physikern gegen
Chemiker am Werk war (obgleich diese Vorurteile bei einzelnen durchaus vorhanden gewesen sein mögen): Es war vielmehr einfach so, daß kein Wissenschaft ler hof fen durfte, eine so mächtige und fest im Sattel sitzende Gruppe wie die Physiker herausfordern zu können, ohne seine eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Und wie zu erwarten war, hat man die Glaubwürdigkeit von Pons und Fleischmann am heftigsten auf dem Gebiet in Frage gestellt, auf dem die Physiker am sichersten sind: dem der Neutronenmessung.
neutronenmessung Für viele Physiker waren es die Neutronenmessungen, die den besten Beweis für eine Fusion lieferten. In Pons’ und Fleischmanns Argumentationskette bildeten jedoch gerade diese Messungen das schwächste Glied. Wie wir gesehen haben, wurden die Messungen verspätet und erst auf Druck von außen hin vorgenommen. Erschwerend kam hinzu, daß weder Pons noch Fleischmann besonde re Fachkenntnisse mit solchen Messungen besaßen. Die ersten Schwierigkeiten kündeten sich bei einem Seminar an, das Fleischmann kurz nach der Pressekon ferenz vom März in Harwell abhielt. Fleischmann prä sentierte den Beweis für Neutronen und zeigte ein Dia gramm des Gamma-Strahlen-Scheitelwerts, den Hoffman aus dem Wasserschild gewonnen hatte. Physiker im Pu blikum, denen solche Spektren bekannt waren, hatten den Eindruck, daß die durch den Scheitelwert repräsentierte Energie falsch war. Der Höchstwert betrug 2,5 Megaelek
tronvolt (MeV), während der zu erwartende Höchstwert einer durch Neutronen aus Deuterium hervorgerufenen Gammastrahlung 2,2 MeV betragen sollte. Es sah so aus, als sei bei der Eichung des Gammastrahlen-Detektors irgend etwas schiefgegangen ; sicher konnte man das je doch nicht sagen, weil Fleischmann die Rohdaten nicht bei sich hatte und die Messungen auch nicht selbst vor genommen hatte. Auf jeden Fall war, als das Diagramm im Journal of Electroanalytical Chemistry erschien, der Scheitelwert richtig mit 2,2 MeV angegeben. Ob die zwei Versionen auf Manipulation oder auf ech ten Irrtümern und Zweifeln an den Messungen beruhten, ist ungeklärt. Frank Close gibt in seinem stark beachteten kritischen Buch Too Hot to Handle über die Kalte-Kern fusions-Kontroverse zu verstehen, daß das Diagramm bewußt manipuliert worden war – ein Vorwurf, den der Wissenschaftsjournalist William Broad wieder in einem Beitrag für die New York Times vom 17. März 1991 auf griff. Aber mit derartigen Beschuldigungen sollte man natürlich vorsichtig sein. Besonders Close tappte in die Falle, die Experimente der Verfechter in allen unschönen Einzelheiten vorzuführen, während er die Experimente der Gegner als klar strukturiert und vor allem als aus schlaggebend erscheinen läßt. Eine solche einseitige Dar stellung verstärkt nur wieder den Triumph der Kritiker. Die Neutronenmessungen wurden bald noch genau er unter die Lupe genommen. Auch Richard Petrasso vom Plasma Fusion Center des M.I.T. war aufgefallen, daß die Kurve des Gamma-Strahlen-Höchstwertes ir gendwie falsch aussah. Diese Beobachtung konnte je
doch nur schwer weiterverfolgt werden, weil Pons und Fleischmann noch nicht ihr Hintergrund-Gammastrah lenspektrum veröffentlicht hatten. Statt dessen gelang den Wissenschaftlern vom M.I.T. ein kleiner wissenschaft licher Knüller. Sie verschafften sich die Videoaufzeich nung einer Fernsehsendung, in der Pons’ und Fleisch manns Labor samt der Vorführung ihres Gammastrah lenspektrums auf einem Datensichtgerät zu sehen waren. Petrasso kam zu dem Schluß, daß es den behaupteten Scheitelwert von 2,2 MeV nicht geben konnte und daß es außerdem unmöglich war, einen so schmalen Schei telwert mit diesem speziellen Gerät zu erkennen. Auch weil ein Compton-Effekt fehlte, schied der Gammastrah len-Höchstwert als brauchbarer Neutronennachweis aus. Die M.I.T.-Gruppe schloß aus diesen Beobachtungen, der Scheitelwert sei »wahrscheinlich instrumentell erzeugt und ohne Bezug zu Gamma-Strahlen-Interaktionen«. Vorabinformationen über diese Befunde gab Petrasso mit größtem rhetorischem Effekt bei der Tagung in Balti more. In Verbindung mit den negativen Cal-Tech-Resul taten hatten sie entscheidenden Einfluß auf den Verlauf der Kontroverse, wie wir ihn bereits skizziert haben. Die kritischen Einwände gegen die Neutronenmessun gen wurden schließlich in Nature abgedruckt, zusammen mit einer Stellungnahme von Pons und Fleischmann. Die zwei Forscher aus Utah machten zwar viel Aufhebens darum, daß das M.I.T. eine Videoaufzeichnung als wis senschaftliches Beweismittel gelten lasse (was Petrasso als »eigentümliches Gebilde« bezeichnet habe, sei nichts an deres als der elektronische Cursor gewesen, und außer
dem habe die Aufnahme keine echte Messung gezeigt); aber sie waren jetzt in der Defensive. Sie veröffentlich ten ihr vollständiges Gammastrahlen-Spektrum, das kei nen Scheitelwert von 2,2 MeV zeigte, behaupteten aber, Beweise für einen Scheitelwert von 2,496 MeV zu ha ben. Obgleich sie diesen Scheitelwert nicht mit bekannten Vorgängen bei einer Deuteriumfusion erklären konnten, betonten sie, daß er durch Strahlung aus der elektroly tischen Zelle zustande gekommen sei. Mit einer geistrei chen Volte suchten sie Petrassos Argument umzukehren und erklärten, wenn ihr Instrument wirklich nicht dazu tauge, solche Scheitelwerte festzustellen, dürfe das Fehlen eines Scheitelwerts von 2,2 MeV nicht an sich schon als Beweis gegen die Fusion angesehen werden. Das M.I.T. konterte mit der Behauptung, der Scheitelwert von 2,496 MeV betrage in Wirklichkeit 2,8 MeV. Viele Wissenschaftler haben diese Episode als Beweis dafür gewertet, daß das Hauptargument für eine kalte Kernfusion in sich zusammengefallen war. Es ist jedoch auch eine andere Interpretation denkbar. Sie lautet, daß der beste Beweis für das Vorliegen einer kalten Kernfu sion immer aus den Messungen des Wärmeüberschusses kam – und die waren die eigentliche Stärke der beiden Experimentatoren. Die hastig durchgeführten Kernmes sungen waren immer verwirrend gewesen, weil zu weni ge Neutronen beobachtet wurden. Bei dem Versuch, ihre Schwierigkeiten bei der Interpretation ihrer Kernmessun gen darzulegen, waren Pons und Fleischmann dann be strebt, die Aufmerksamkeit auf die Hauptstoßrichtung ihres Arguments zurückzulenken – die Messungen der
Überschußwärme. Als Pons und Fleischmann schließ lich im Juli 1990 ihre vollständigen Resultate veröffent lichten, ging es in dem Text fast ausschließlich um Wär memessung – über Neutronenmessungen wurde nicht mehr berichtet. Das Problem war, daß viele Physiker ursprünglich überhaupt nur wegen der nuklearen Daten Interesse ge faßt hatten ; die Schwächen des Neutronennachweises stempelten für sie die Messungen der Überschußwärme zu reinen Anomalien – möglicherweise chemischen Ur sprungs – ab. Außerdem konnte man die Schwierigkei ten, die Pons und Fleischmann mit den Nuklearmessun gen hatten, leicht als Beweis ihrer persönlichen Inkompe tenz als Experimentatoren auslegen. Obgleich die beiden Forscher aus Utah als Fachleute für Elektrochemie all gemein anerkannt waren, scheinen die Kritiker sich an die Parole »wo Rauch ist, ist auch Feuer« gehalten und diese relative Schwäche dem Experiment als Ganzem an gekreidet zu haben. In der Kontroverse um die kalte Kernfusion stand für alle Seiten sehr viel auf dem Spiel, und die normaler weise verborgene Art des Funktionierens einer Natur wissenschaft wurde sichtbar. Die Episode von der kalten Kernfusion muß oft als Beispiel dafür herhalten, daß mit der modernen Wissenschaft etwas nicht stimmt. Es heißt, die beiden Wissenschaftler hätten zuviel behauptet, zu wenig bewiesen und zu sehr auf das große Publikum ge schielt. Presseberichte seien an die Stelle von Fachgut achten getreten. Falsche Hoffnungen auf ein neues Zeit
alter grenzenloser Energiegewinnung seien geweckt und dann bitter enttäuscht worden. Diese Lesart ist nicht sehr glücklich. Pons und Fleisch mann scheinen nicht geltungs- und publicitysüchtiger ge wesen zu sein, als es jeder effiziente Wissenschaftler wäre, der glaubt, eine große Entdeckung mit erheblichem kom merziellem Potential gemacht zu haben. Daß Wissen schaftler sich Patente sichern und auch das laute Getöse der Pressekonferenzen sind längst ein unvermeidlicher Bestandteil der modernen Forschung, in der die Bedeu tung des eigenen Instituts und dessen Finanzierung im mer wichtiger werden. Wir können die Uhr nicht mehr zurückdrehen auf ein sagenhaftes Goldenes Zeitalter, in dem alle Wissenschaftler von untadeliger Vornehmheit der Gesinnung waren – und daß sie so zu keiner Zeit wa ren, lehrt die Wissenschaftsgeschichte : Im Gegenteil, die Episode um die kalte Kernfusion zeigt uns die Wissen schaft von ihrer ganz normalen Seite. Was der Verände rung bedarf, ist unser Bild von der Wissenschaft, nicht die Art, wie Wissenschaft betrieben wird.
kapitel 4 der keim des anstosses : louis pasteur und die ursprünge des lebens
urzeugung »Urzeugung« ist die Bezeichnung für die Lehre, daß unter geeigneten Umständen aus unbelebter Materie Le ben entstehen kann. In gewisser Weise glauben wir fast alle an die Urzeugung ; denn wir glauben, daß das Le ben aus der chemischen Ursuppe hervorgegangen ist, die die Erde bald nach ihrer Entstehung bedeckte. Das soll allerdings ein Vorgang sein, der sich allmählich, durch Zufall und nur ein einziges Mal in der Geschichte der Erde ereignet hat : Wir selbst werden ihn also zeit unse res Lebens nicht zu Gesicht bekommen. Die Frage nach dem Ursprung des Lebens ist natür lich so alt wie das menschliche Denken. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch tobte der Streit um diese Frage in der wissenschaftlichen Gemeinde beson ders erbittert. Konnte neues Leben aus keimfreier Mate rie entstehen, immer wieder und binnen Minuten oder Stunden ? Verschimmelt ein Glaskolben mit Nährflüs sigkeit, weil er mit vorhandenen Lebensformen verun reinigt worden ist, die sich in ihm ausbreiten und ver mehren, oder ist es das Leben selbst, was in der reich haltigen Nährquelle immer aufs neue entspringt? Im
19. Jahrhundert und besonders in Frankreich war dies eine heiß umstrittene Frage, da sie an tiefsitzende reli giöse und politische Empfindlichkeiten rührte. Unser modernes Verständnis der Biochemie, der Bio logie und der Evolutionstheorie gründet auf der Vorstel lung, daß – abgesehen von den einmaligen Bedingungen in prähistorischer Zeit – Leben nur aus Leben entstehen kann. Wir neigen der Ansicht zu, daß diese moderne Auffassung sich, wie so viele unserer verbreiteten wissen schaftlichen Überzeugungen, in kurzer Zeit und dann endgültig gebildet hat : Mit wenigen brillanten Experi menten erledigte Louis Pasteur um 1860 spontan und im Handumdrehen alle, die an die Urzeugung glaubten. Aber auch wenn er sich letzten Endes durchgesetzt hat – der Weg bis dahin war alles andere als schnell und ge radlinig. Die wissenschaftliche Opposition wurde zer schlagen, indem man sie politisch ausmanövrierte und lächerlich machte und weil Pasteur Bauern, Bierbrauer und Ärzte für seine Sache gewann. Noch 1917 hegte der Engländer Henry Bastian den Ketzerglauben an die Ur zeugung. Er starb in der sicheren Überzeugung, daß die Fakten deutlich für seine Sicht der Sache sprächen. Was die Urzeugung, die inzwischen zur Auffassung ei ner Minderheit geworden war, schließlich endgültig er ledigte, waren, wie in so vielen anderen wissenschaft lichen Kontroversen, nicht Fakten oder Vernunft, son dern das Ableben ihrer Verfechter und das Gewicht der Zahlen. (Fakten und Vernunft waren, wie immer, unein deutig.) Man kann also nicht sagen, daß Pasteur denje nigen die Augen öffnete, die partout nicht sehen wollten.
Denn sein entscheidendster Sieg – der über seinen fran zösischen Landsmann Felix Pouchet, einen angesehenen Naturforscher aus Rouen, vor einer von der Académie des Sciences eingesetzten Kommission – verdankte sich den Vorurteilen der Beteiligten und einer großen Por tion Glück. Erst im Rückblick zeigt sich, wieviel Glück Pasteur tatsächlich gehabt hat.
die beschaffenheit der versuche Die bekanntesten Versuche zur Überprüfung der Ur zeugung waren einfach angelegt : Glaskolben mit organi schen Substraten – Milch, Hefewasser, Heuaufgüsse, was auch immer – werden zuerst abgekocht, um alles in ih nen vorhandene Leben abzutöten. Der Dampf verdrängt die Luft aus den Kolben. Dann werden die Kolben ver siegelt. Bleiben die Kolben versiegelt, entsteht kein neues Leben in ihnen ; so viel war unumstritten. Läßt man wie der Luft in sie eindringen, bildet sich Schimmel. Liegt das nun daran, daß die Luft irgendeine lebenswichtige Sub stanz enthält, die die Zeugung neuen Lebens ermöglicht, oder liegt es daran, daß die Luft bereits im ganz buch stäblichen Sinne lebende Schimmelkeime in sich birgt ? Pasteur behauptete, daß es zu keiner neuen Schimmelbil dung kommen werde, wenn die hinzutretende Luft frei von lebenden Organismen sei. Er versuchte also nach zuweisen, daß die Einleitung keimfreier Luft in die Kol ben folgenlos blieb und daß nur verunreinigte Luft den Fäulnisprozeß in Gang setzte. Dagegen behaupteten sei ne Kontrahenten, daß schon die Einleitung reiner Luft
ausreiche, um die organischen Flüssigkeiten in Fäulnis übergehen zu lassen. Die Versuchselemente sind also folgende : 1. Es muß bekannt sein, daß das Wachstumssubstrat zwar selbst keimfrei ist, aber einen Nährwert besitzt. 2. Es muß bekannt sein, was beim Entsiegeln der Kol ben geschieht : Wird ausschließlich keimfreie Luft einge leitet ? Oder enthält sie unreine Beimengungen ?
praktische antworten auf die im versuch gestellten fragen Wir sind heute überzeugt, diese Fragen relativ leicht beantworten zu können; im 19. Jahrhundert begann man jedoch erst, Techniken einzuführen, mit denen bestimmt werden konnte, was als keimfrei und was als lebendig gel ten sollte. Es war nicht klar, was als »Leben« zu definieren war, galt aber weithin als ausgemacht, daß Leben nicht lange in einer siedenden Flüssigkeit existieren konnte, weshalb das Abkochen eine angemessene Methode der Sterilisation war. Nun konnte man das Substrat offenbar nicht keimfrei sieden, ohne zugleich seinen Nährwert zu zerstören. Auch bei schonenderem Sieden war nicht aus zuschließen, daß die »Lebenskraft« des Nährmediums zusammen mit den lebenden Organismen zerstört wor den war. Unklar war auch, was als keimfreie Luft anzu sehen war. Die Verteilung von Mikroorganismen in der uns umgebenden Umwelt sowie ihre Auswirkung auf die in die Kolben eingeleitete Luft waren unbekannt. Pasteur stellte Versuche an, die Keime direkt zu beob
Abb. 4.1. Pasteurs Schwanenhalskolben
achten. Durch das Mikroskop betrachtete er aus der Luft herausgefilterten Staub und sah eiförmige Gebilde, die er für Keime hielt. Waren aber diese Gebilde lebendig oder bloßer Staub ? Die exakte Beschaffenheit des Stau bes konnte nur mit derselben Prozedur festgestellt wer den, mit der man auch die Beschaffenheit des Fäulnis prozesses bestimmte. Wenn die Keime in der Luft nicht direkt zu beobach ten waren, welche Methode konnte man dann benut zen, um zu bestimmen, ob die in den Kolben eingeleitete Luft verunreinigt war oder nicht ? Man konnte die Luft durch kaustische Pottasche oder durch Schwefelsäure lei ten, man konnte sie auf sehr hohe Temperaturen erwär men oder durch Watte filtern, um möglichst alle Spuren von Leben aus ihr zu beseitigen. Versuche, die man zu Beginn und um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Einleitung der Luft in Säuren oder Basen, mit erhitzter oder gefilterter Luft gemacht hatte, waren aufschlußreich,
aber nicht wirklich entscheidend. Die Einleitung von der art behandelter Luft in die Kolben hatte zwar in den mei sten Fällen nicht das Verfaulen der keimfrei gemachten Flüssigkeiten zur Folge, aber oft genug kam es dennoch zu einer Fäulnisbildung, so daß die Hypothese von der Urzeugung nicht aus der Welt geschafft war. Wo die Luft mit extremen Methoden behandelt wurde, konnte es auf jeden Fall sein, daß die lebenerzeugende Vitalkomponen te am Ende mit zerstört worden war, so daß der Versuch ebenso steril war wie die eingeleitete Luft. Man hätte Luft von unterschiedlichen Orten – Ge birgsluft oder die Luft der Ebenen mit ihren bebauten Feldern – nehmen können, in der Erwartung, daß die Stärke der Mikrobenkontamination je nach Ort vari ieren würde. Um den Zusammenhang zwischen Staub und Keimen festzustellen, waren auch andere Filterme thoden denkbar. So benutzte Pasteur »Schwanenhalskol ben« (siehe Abbildung 4.1.). Der Hals dieser Kolben war schmal und geschwungen, so daß eindringender Staub von den feuchten Glaswänden festgehalten wurde. Die Versuche wurden in den Kellern des Pariser Observato riums durchgeführt, weil dort die Luft hinreichend un bewegt war, so daß lebentragender Staub sich nicht nie derlassen konnte. Später speicherte der britische Wissen schaftler William Tyndall Luft in eingefetteten Gefäßen, um allen Staub einzufangen, bevor die Luft mit verwesen den (»putreszierenden«) Substanzen in Berührung kam. Auf jedes scheinbar definitive Resultat kam jedoch ein anderer Versuch, bei dem in einem für keimfrei gehalte nen Kolben Schimmelbildung entdeckt wurde. Die Ar
gumentation der jeweiligen Protagonisten kann man auf einem einfachen Diagramm veranschaulichen. Feld 1 ist der Standpunkt derer, die glauben, durch Ver suche gezeigt zu haben, daß Leben tatsächlich in keim freier Luft gedeiht, und die an die Urzeugung glauben. Sie meinen, daß die Versuche diese These beweisen. Mögliche Interpretationen der Urzeugungsversuche Urzeugung möglich
Leben bildet
Luft
Ja
Nein
Ja
(1) These bewiesen
(2) Luft zufällig verunreinigt
Nein
(3) Luft falsch behandelt
(4) These bewiesen
Feld 2 ist der Standpunkt derer, die dieselben Versu che im Auge haben, aber nicht an die Urzeugung glau ben ; sie vermuten, daß beim Experimentieren irgendein Fehler gemacht wurde (daß zum Beispiel die Luft nicht völlig keimfrei war). Feld 4 stellt den Standpunkt derer dar, die glauben, durch Versuche gezeigt zu haben, daß Leben nicht in keimfreier Luft gedeiht, und die nicht an die Urzeugung glauben. Sie meinen, daß die Versuche ihre Hypothese beweisen. Feld 3 ist schließlich der Standpunkt derer, die die
selben Versuche vor Augen haben, jedoch an die Urzeu gung glauben. Sie vermuten, daß mit der Luft irgend et was nicht gestimmt haben kann (zum Beispiel, daß ihre vitalen Eigenschaften durch den Reinigungsprozeß zer stört worden sind). Es gab nach 1860 eine Periode, in der Argumente vom Typ 3 im Vordergrund standen, doch sie dauerte relativ kurz: Sie endete, als die Experimentatoren keine Metho den zur künstlichen Sterilisation der Luft mehr einsetz ten, sondern statt dessen nach reinen Luftquellen such ten oder Methoden der »Filtration« bei Zimmertempe ratur anwandten. Länger blieben Argumente vom Typ 2 von Bedeutung. Sie erlaubten Pasteur, buchstäblich jede in die Kolben eingeleitete Luft, die Leben gedeihen ließ, für kontaminiert zu erklären, mochte er das nun direkt nachweisen können oder nicht. Das wird, wie wir sehen werden, besonders in jenem Teil seiner Auseinanderset zung mit Felix Pouchet deutlich, in dem es um die Ver suche mit Quecksilber ging.
die pasteur-pouchet-debatte Es gibt eine Episode in der langen Debatte zwischen Pouchet und den Verfechtern der Urzeugung, die viele Themen unserer Geschichte gut veranschaulicht. In die sem Drama fungiert der ältere Felix Pouchet (60 Jahre alt) gleichsam als Folie für den jungen Pasteur (37) und seine brillante Rolle als Experimentalwissenschaft ler. Pasteur behielt unzweifelhaft in einer Reihe berühmter Versuche gegen Pouchet die Oberhand; aber in der grundsätzlich
triumphalen historischen Retrospektive bleibt unbeach tet, wie wenig eindeutig die Versuche zum Zeitpunkt ih rer Durchführung in Wirklichkeit waren. Es ist wie bei allen solchen experimentellen Kontrover sen : Ausschlaggebend und entscheidend sind die Details. Der Streit zwischen Pasteur und Pouchet drehte sich um die Frage, was geschieht, wenn ein Heuaufguß – sozusa gen ein Heutee –, der durch Abkochen keimfrei gemacht worden ist, mit Luft in Berührung kommt. Unbestritten ist, daß der Aufguß zu schimmeln beginnt ; auf seiner Oberfläche bilden sich mikroskopische Lebensformen. Aber die übliche Frage blieb bestehen: Entstand Leben, weil die Luft lebenerzeugende Eigenschaften hatte oder weil sie lebendige Schimmel-»Samen« enthielt ?
versuche unter quecksilber Pouchet glaubte an die Urzeugung. In seinen ersten Versuchen arbeitete er mit keimfrei gemachten Heuauf güssen »unter Quecksilber«, um den Fachausdruck zu ge brauchen. Bei dieser Methode wurden sämtliche Gefäße in ein Quecksilberbad getaucht, so daß gewöhnliche Luft nicht eindringen konnte. In die Kolben konnte speziell zubereitete Luft durch das Quecksilber hineingesprudelt werden. Das war die Standardmethode, um diverse Ver suchsgase ohne Beimengung gewöhnlicher Luft in Ver suchsräume einzuleiten. In Pouchets Fall war es gerei nigte Luft, die durch das Quecksilber gesprudelt wurde. Man glaubte, gereinigte Luft durch Erwärmung normaler Luft oder durch Erzeugung von Sauerstoff aus der Zerset
zung eines Oxids gewinnen zu können; zufälligerweise war es häufig Quecksilberoxid, das bei Erwärmung Sau erstoff freisetzte. Regelmäßig stellte Pouchet nun die Bil dung organischen Lebens fest, wenn sterilisierte Heuauf güsse unter Quecksilber zubereitet und mit reiner Luft in Berührung gebracht wurden. Da aber alle Quellen exi stierenden Lebens ausgeschaltet worden waren, hatte es den Anschein, daß neues Leben durch Urzeugung ent standen sein mußte. Pouchet eröffnete die Debatte mit einem Brief an Pasteur, worin er ihm die Ergebnisse sei ner Versuche mitteilte. Pasteur antwortete, er, Pouchet, hätte bei seinen Versuchen gar nicht vorsichtig genug verfahren können: »In Ihren jüngsten Experimenten ha ben Sie unwissentlich gemeine [verunreinigte] Luft zuge führt, so daß die Schlüsse, zu denen Sie gelangen, nicht auf Tatsachen von unangreifbarer Exaktheit beruhen«.1 Hier sehen wir Pasteur also mit einem Argument han tieren, das unserem Typ 2 entspricht. Wenn Pouchet bei der Einleitung keimfrei gemachter Luft in keimfrei ge machte Heuaufgüsse Leben entdeckte, dann mußte die Luft verunreinigt gewesen sein. Später behauptete Pasteur, bei diesen Versuchen seien zwar die Heuaufgüsse keimfrei gewesen, und die künst liche Luft habe ebenfalls kein Leben enthalten ; doch das Quecksilber sei mit Mikroorganismen verunreinigt ge wesen – sie hätten sich in dem Staub auf der Oberfläche des Quecksilbers befunden –, und hier liege der Keim des Lebens. Das ist darum interessant, weil die Hypothese mit dem verunreinigten Quecksilber anscheinend notwendig war,
um einige von Pasteurs eigenen ersten Resultaten zu er klären. Er berichtete, daß er selber bei seinen Bemühun gen, das Auftreten von Leben durch Präparieren von Auf güssen unter Quecksilber zu verhindern, nur in 10 % der Fälle erfolgreich gewesen sei. Obwohl er damals die Ursa che der Verunreinigung nicht kannte, akzeptierte er die Resultate nicht als Beweis für die Urzeugungs-Hypothe se. Wie er schreibt, habe er »diese Versuche nicht veröf fentlicht ; denn die Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden mußten, waren zu gravierend, als daß ich nicht, trotz der von mir beobachteten Mühe, sie unangreifbar zu machen, eine mir unbekannte Fehlerquelle vermutet hätte«2. Mit anderen Worten: Pasteur war auf den Wi derstand gegen die Urzeugung so festgelegt, daß er lieber an einen unbekannten Fehler in seinen eigenen Arbeiten glaubte, als seine Resultate zu veröffentlichen. Versuche, welche die Urzeugung zu bestätigen schienen, nannte er mißlungen und umgekehrt. Später ersetzte dann die Vorstellung vom verunreinigten Quecksilber den »un bekannten Fehler«. Nachträglich müssen wir Pasteur für seine Weitsicht Beifall zollen. Er hatte natürlich recht, und er besaß hin reichend Mut, um zu seinen Überzeugungen zu stehen und sich von auf den ersten Blick entgegengesetzten Ver suchsergebnissen nicht beirren zu lassen. Doch es war wirklich Weitsicht. Es war nicht die neutrale Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Wäre es Pasteur gewe sen und nicht Pouchet, der die falsche Hypothese stützte, so würden wir heute von »hartnäckiger Verbohrtheit ge genüber klaren wissenschaft lichen Tatsachen« sprechen.
Die nachträgliche Bestätigung, im Recht gewesen zu sein, ist in der Wissenschaftsgeschichte ein gefährlicher Ver bündeter. Wir werden die Pasteur-Pouchet-Debatte nicht so verstehen, wie sie seinerzeit erlebt wurde, wenn wir unseren historischen Vorsprung und die Möglichkeit zu rückzublicken nicht vorübergehend ausblenden.
kolben in grosser höhe exponiert Die Sache mit den Versuchen unter Quecksilber war nur das einleitende Scharmützel. Die eigentliche Debat te begann, als Pasteur mit Kolben experimentierte, die er in großer Höhe der Luft aussetzte, und als Pouchet die se Versuche widerlegte. Pasteur präparierte Kolben, deren Hals über einer Flam me gestreckt worden war. Dann erhitzte er einen Hefeauf guß bis zum Siedepunkt und versiegelte den Kolbenhals, nachdem die Luft aus dem Kolben entwichen war. Unge öffnet blieb der Inhalt unverändert. Er konnte nun die Kol ben nehmen und an unterschiedlichen Orten durch Zer brechen des Kolbenhalses wieder Luft eintreten lassen. Da der Ort für den Eintritt der Luft keimfrei sein sollte, zer brach Pasteur den Kolbenhals mit einer über einer Flam me erhitzten Beißzange und hob dabei den Kolben über seinen Kopf, um Verunreinigungen durch seine Kleidung zu vermeiden. Nachdem die Luft an dem gewählten Ort in den Kolben eingedrungen war, konnte Pasteur den Kol ben über einer Flamme wieder verschließen. So präparier te er mehrere Kolben mit einem Hefeaufguß und diversen Stichproben von Luft unterschiedlicher Herkunft. Er stell
te fest, daß sich in den meisten der Kolben, die in norma ler Umgebung präpariert worden waren, Schimmel bilde te, während sich diejenigen, die im Hochgebirge der Luft ausgesetzt worden waren, nur selten veränderten. So war von 20 Kolben, die in 2 000 Meter Höhe auf einem Glet scher der französischen Alpen exponiert worden waren, nur einer von Schimmelbildung betroffen. 1863 zog Pouchet diese Resultate in Zweifel. Er rei ste mit zwei Mitarbeitern in die Pyrenäen, um Pasteurs Versuche zu wiederholen. Nun waren alle acht in großer Höhe exponierten Kolben von Schimmelbildung betrof fen, was darauf schließen ließ, daß sogar unkontaminier te Luft ausreichte, um den Prozeß der Lebensbildung in Gang zu setzen. Pouchet behauptete, sämtliche von Pa steur beobachteten Vorsichtsmaßregeln eingehalten zu haben, außer daß er zum Öffnen der Kolben erhitzten Draht anstelle der Beißzange benutzt hatte.
unterlassungssünden In den stark zentralisierten französischen Naturwis senschaften wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Dispute durch Kommissionen entschie den, die die in Paris ansässige Académie des Sciences berief. Die Bewertungen dieser Kommissionen wurden zur offiziösen Lehrmeinung der französischen Wissen schaftlergemeinde. Mit der Kontroverse um die Urzeu gung befaßten sich unmittelbar nacheinander zwei Kom missionen. Die erste, die bereits vor Pouchets Versuchen in den Pyrenäen eingesetzt worden war, lobte einen Preis
für denjenigen aus, »der vermittels wohldurchgeführter Experimente neues Licht auf die Frage der sogenann ten Urzeugung wirft«. War es Zufall oder war Absicht im Spiel ? Jedenfalls standen alle Mitglieder der Kom mission den Gedanken Pouchets ablehnend gegenüber, und einige verkündeten bereits ihre Schlußfolgerungen, noch bevor sie die eingereichten Arbeiten geprüft hatten. Zwei Kommissionsmitglieder hatten schon früher nega tiv auf die ersten Versuche Pouchets reagiert, andere wa ren bekannte Gegner der Urzeugungsthese. Pouchet zog sich von dem Wettbewerb zurück und überließ Pasteur kampflos den Preis für ein 1861 geschriebenes Manu skript, in dem er seine berühmten Versuche beschrieb, die nachgewiesen hatten, daß die Zersetzung einer Viel zahl von Substanzen durch von der Luft übertragene Kei me verursacht wurde. Die zweite Kommission wurde 1864 als Reaktion auf Pouchets Versuche in den Pyrenäen eingesetzt. Diese Ver suche hatten die Akademie verstimmt, deren Mitglieder mehrheitlich der Ansicht waren, die Frage sei bereits ge klärt. Die neue Kommission traf zunächst einmal die provozierende Aussage : »Es ist immer möglich, an be stimmten Orten eine beträchtliche Menge physikalisch oder chemisch nicht veränderter Luft zu entnehmen, und diese Luft wird doch nicht hinreichen, um selbst in der putreszierendsten Flüssigkeit irgendeine Alteration zu be wirken.«3 Pouchet und seine Kollegen nahmen den Feh dehandschuh auf und fügten hinzu : »Wenn auch nur ein einziger unserer Kolben unalteriert bleibt, werden wir uns ehrlich geschlagen geben.«4
Auch die zweite Kommission setzte sich aus Mitglie dern zusammen, die ausnahmslos als nachdrückliche Gegner der Ansichten Pouchets hervorgetreten waren. Als ihnen diese Zusammensetzung bekannt wurde, wa ren Pouchet und seine Kollegen bestrebt, die Versuchsbe dingungen zu ändern. Sie wollten den Umfang des Ver suchsprogramms erweitern, während Pasteur darauf be stand, daß es in dem Versuch einzig und allein um die Frage gehen sollte, ob auch geringste Mengen Luft aus reichten, jederzeit einen Fäulnisprozeß in Gang zu set zen. Alles, was Pasteur nach den ursprünglichen Bedin gungen des Wettbewerbs zu zeigen hatte, war, daß in einige Kolben Luft eingeleitet werden konnte, ohne daß ihr Inhalt sich veränderte. Daraufhin zog Pouchet sei ne Teilnahme zurück, weil er überzeugt war, wegen der Voreingenommenheit der Kommissionsmitglieder keine faire Anhörung erwarten zu können. Durch seinen zweimaligen Rückzug vom Wettbewerb wurde Pouchets Standpunkt unhaltbar. Daß die Kom missionsmitglieder vollkommen einseitig in ihren An sichten waren, kümmerte eine wissenschaftliche Gemein de, die schon fast geschlossen hinter Pasteur stand, herz lich wenig.
rückblick und ausblick auf die pasteur-pouchet-debatte Pouchet scheint sich in der Position eines Angeklagten befunden zu haben, dessen Schicksal von forensischen Beweismitteln abhängt. Zugegeben, der Beschuldigte hat
te die Möglichkeit, auch selbst Beweise vorzulegen, aber deren Interpretation war das alleinige Monopol der An kläger, die gleichzeitig auch als Richter und als Geschwo rene auftraten. Man kann gut verstehen, warum Pouchet seine Teilnahme zurückzog. Und leicht zu verstehen ist es auch, wie Pasteur so eilfertig behaupten konnte, daß Pouchets Versuche in den Pyrenäen durch die Verwen dung eines Drahts anstelle einer Beißzange zum Öffnen der Kolbenhälse beeinträchtigt worden seien. Wir können uns durchaus ausmalen, daß Glassplitter, die durch den Draht trotz seiner Erhitzung irgendwie verunreinigt wor den waren, in den Heuaufguß gerieten und dort die Nähr stoffe einpflanzten. Und wir können uns ausmalen, daß, wenn Pouchet von der Kommission gezwungen worden wäre, nach dem Vorbild Pasteurs eine sterilisierte Beiß zange zu verwenden, sich in vielen seiner Kolben keine Veränderung gezeigt hätte. Durchaus denkbar also, daß Pouchets Nerven, die im Angesicht dieser technischen Zwangsjacke begreiflicherweise versagten, ihn doch nur vor einer noch größeren Blamage retteten. Denn wenn die zwei Kommissionen auch schrecklich voreingenom men waren, so war dies doch sicher nur ein historischer Zufall, der auf die Korrektheit ihrer wissenschaft lichen Schlußfolgerungen keinen Einfluß hatte ? Interessanterweise scheint es aus heutiger Sicht so zu sein, daß Pouchet, hätte er nur nicht die Nerven verlo ren, vielleicht auch den Wettbewerb nicht verloren hät te. Ein Unterschied zwischen Pasteur und Pouchet war das bei ihren Versuchen verwendete Nährsubstrat: Pa steur arbeitete mit Hefe, Pouchet mit Heuaufgüssen. Erst
1876 entdeckte man, daß Heuaufgüsse Sporen enthalten, die nicht ohne weiteres durch Aufkochen abzutöten sind. Während das Aufkochen eines Hefeaufgusses alles darin enthaltene Leben zerstört, wird ein Heuaufguß dadurch eben nicht keimfrei gemacht. Moderne Autoren haben daher die Vermutung geäußert, daß Pouchet, wäre er bei seinem Kurs geblieben, vielleicht Erfolg gehabt hät te – wenn auch aus den falschen Gründen ! Es sei hervor gehoben, daß nirgends davon die Rede ist, daß Pasteur die Versuche Pouchets mit Heu wiederholt hätte. Bis auf den Einwand gegen die Verwendung von Draht anstel le der Beißzange ging er denn auch auf Pouchets Versu che in den Pyrenäen kaum je ein ; seine kritische Energie sparte er sich für die älteren Versuche mit dem Queck silberbad auf, für die er eine Antwort schon parat hat te. Die Experimente in den Pyrenäen wurden natürlich ohne Quecksilber durchgeführt, das angeblich die frühe ren Versuche verunreinigt hatte. In einer Quelle heißt es: »Falls Pasteur wirklich jemals Pouchets Versuche ohne Quecksilber wiederholt hat, so behielt er die Resultate für sich.«5 So kam es zum Abschluß der Debatte, als hätte es die Versuche in den Pyrenäen nie gegeben. Der Unterschied zwischen Heu und Hefe, wie wir ihn heute verstehen, verleiht den Resultaten der Kommis sion eine ironische Würze. Freilich glauben wir nicht, daß Pouchet besser daran getan hätte, die Herausforde rung konsequent anzunehmen, und daß wissenschaft li che Fakten für sich selbst sprechen. Nach der modernen Interpretation hätte das Faktum der Heuaufgüsse auch für die voreingenommenste Kommission die unmißver
ständliche Sprache der Urzeugung gesprochen. Daran glauben wir nicht : Die Kommission hätte sicher einen Weg gefunden, Pouchets Resultate wegzuerklären. Interessanterweise lagen die Motive der Verteidiger Pa steurs zum Teil in einer – wie es heute scheint – anderen wissenschaftlichen Häresie begründet. Damals ging der Darwinismus Hand in Hand mit dem Konzept der Ur zeugung. In einem Aufsatz gegen den Darwinismus, der in demselben Jahr erschien, in dem die zweite Kommis sion gebildet wurde, führte der Sekretär der Académie des Sciences vor allem das wissenschaft liche Scheitern des Urzeugungsmodells ins Feld. Er schrieb : »Die Ur zeugung ist tot. M. Pasteur hat die Frage nicht nur er hellt, er hat sie gelöst.«6 Pasteur hätte demnach mit dem selben Streich der Darwinschen Evolutionstheorie den Todesstoß versetzt, mit dem er die Urzeugung erledigt hatte. Eine Häresie vernichtete da die andere. Wer nun meint, die Wissenschaft sei längst rehabilitiert, weil sich am Ende »doch alles wieder eingerenkt« habe, sollte das wohl noch einmal überdenken. Schließlich möchten wir noch darauf hinweisen, daß wir heute vieles wissen, was Pasteurs Versuche, hätte er sie nur ein wenig weitergetrieben, zum Scheitern gebracht hätte. Es gibt außer den in Heu entdeckten Sporen ver schiedene andere, die gegen die Abtötung durch Kochen bei 100 °C resistent sind. Anfang des 20. Jahrhunderts kam Henry Bastian auf die Idee der Urzeugung zurück, als er – unwissentlich – noch weitere dieser hitzeresi stenten Sporen entdeckte. Ferner hängt der Ruhezustand
der Bakterien nicht nur von der Wärme, sondern auch vom Säuregrad der Lösung ab. Sporen, die in einer sau ren Lösung tot erscheinen, können in alkalischer Um gebung zum Leben erwachen. Versuche der Art, wie sie dieser Debatte zugrunde lagen, können also auf vielfälti ge Weise beeinträchtigt werden. Um sicherzugehen, daß eine Flüssigkeit völlig keimfrei ist, muß man sie unter Druck auf eine Temperatur von etwa 160 °C erhitzen und/oder einer zyklischen Erwärmung und Abkühlung aussetzen. Wie wir heute wissen, hätten Pasteurs Versu che auf mancherlei Weise scheitern können und müssen. Wir können nur vermuten, daß sie in der Tat gescheitert sind, daß aber Pasteur genau wußte, was er als Resultat zu werten hatte und was als »Irrtum«. Pasteur war ein großer Naturwissenschaftler, aber was er tat, hatte mit dem modernen Lehrbuchideal von der »wissenschaftlichen Methode« wenig zu tun. Es ist kaum denkbar, wie er den Wandel unserer Vorstellung von der Beschaffenheit der Keime hätte herbeiführen kön nen, wäre er durch jenes sterile Verhaltensmodell einge engt gewesen, das vielen als Ideal einer wissenschaft li chen Denk- und Arbeitsweise gilt.
kapitel 5 ein neues fenster zum universum : die nichtentdeckung der gravitationsstrahlung
der nachweis von gravitationswei.len Im Jahre 1969 behauptete Professor Joseph Weber von der University of Maryland, Beweise für die Existenz gro ßer Mengen von Gravitationsstrahlung aus dem Welt raum zu haben. Er verwendete einen neuartigen Detektor eigener Bauart. Die Strahlungsmenge, die er beobachtete, war weit höher, als nach den theoretischen Voraussagen von Astronomen und Kosmologen zu erwarten gewesen wäre. In den folgenden Jahren versuchten Wissenschaft ler, Webers Behauptungen zu überprüfen. Keinem gelang es, sie zu bestätigen. Und spätestens 1975 glaubte kaum noch einer, daß Webers Strahlung in der von ihm ange gebenen Quantität existierte. Doch anders als es heute scheinen mag, waren es nicht Theorie und Experiment allein, die die Frage nach der Existenz einer Gravitati onsstrahlung entschieden. Man kann sich die Gravitationsstrahlung als das Gra vitationsäquivalent zur elektromagnetischen Strahlung, etwa der Radiowellen, vorstellen. Die meisten Wissen schaftler stimmen darin überein, daß Einsteins Allgemei ne Relativitätstheorie die Erzeugung von Gravitations wellen durch beschleunigte Massen vorwegnimmt. Das
Problem ist : diese Wellen sind so schwach, daß es sehr schwierig ist, sie nachzuweisen. So hat bisher niemand eine Methode angegeben, mit der nachweisbare Men gen von Gravitationsstrahlung auf der Erde erzeugt wer den könnten. Dagegen gilt es heute als ausgemacht, daß ein merklicher Prozentsatz der ungeheuren Energiemen gen, die bei den turbulenten Ereignissen im Weltall er zeugt werden, in Form von Gravitationsstrahlung frei gesetzt wird, und diese Strahlung könnte auf der Erde nachweisbar sein. Explodierende Supernovae, Schwarze Löcher und Doppelsternsysteme sollten größere Ströme von Gravitationswellen produzieren, die sich auf der Erde als minimales Oszillieren im Wert »G« zeigen müßten – die Konstante der Anziehungskraft zwischen zwei Mas sen. (Es ist natürlich schon schwer genug, »G« selbst zu messen.) Es war ein Triumph der experimentellen Wissenschaft, als Cavendish 1798 die Gravitationskraft zwischen zwei massiven Bleikugeln maß. Die Anziehungskraft zwischen ihnen betrug nur ein Fünfhundertmillionstel ihres Ge wichts. Das Aufspüren der Gravitationsstrahlung ist je doch unvorstellbar viel schwieriger als das Aufspüren dieser winzigen Anziehungskraft – ein Gravitationswel lenimpuls löst schließlich nicht mehr aus als eine mini male Schwankung innerhalb dieser winzigen Kraft. Um uns das klarzumachen, betrachten wir folgendes Beispiel : Eine der kleineren 1975 eingesetzten Gravitationsanten nen (wie die Detektoren häufig auch genannt werden) steckte in einem luftleeren Glasgefäß. Ihr Kern bestand aus rund 100 Kilogramm Metall, und das auf die Me
tallmasse auftreffende Licht eines kleinen Blitzlichtgeräts war bereits genug für einen übermäßigen Ausschlag in der Aufzeichnungskurve. Die Standardtechnik zum Nachweis von Gravitations strahlung wurde Ende der sechziger Jahre von Weber (sprich »Whebber«) vorbereitet. Er suchte nach Verän derungen in der Länge (Dehnung) eines massiven Alu miniumzylinders, die praktisch durch Veränderungen in der Anziehungskraft seiner Bestandteile hervorgeru fen wurden. Von einem derartigen, oft mehrere Tonnen schweren Zylinder war nicht zu erwarten, daß er beim Durchgang eines Gravitationsstrahlungsimpulses seine Dimensionen um mehr als den Bruchteil des Radius ei nes Atoms veränderte. Glücklicherweise ist diese Strah lung oszillierend, und wenn der Zylinder richtig dimen sioniert ist, beginnt er zu vibrieren oder zu »klingen« wie eine Glocke, und zwar in derselben Frequenz wie die Gravitationsstrahlung. Das bedeutet, daß die Ener gie des Impulses zu einer gerade noch meßbaren Größe aufgebaut oder gespeichert werden kann. Eine Weber-Antenne verbindet den schweren Alumi niumzylinder mit einer Vorrichtung zum Messen seiner Schwingungen. Die meisten Apparaturen bedienten sich dazu dehnungssensibler »piezoelektrischer« Kristalle, die auf den Zylinder aufgeklebt oder an ihm befestigt wurden. Diese Kristalle erzeugen bei Deformation ein elektrisches Potential. In einem Gravitationswellendetektor ist das er zeugte Potential so gering, daß es fast nicht nachzuwei sen ist. Das bedeutet, daß der von den Kristallen ausge hende Impuls verstärkt werden muß, um meßbar zu sein.
Ein kritischer Bestandteil der Apparatur ist also der Si gnalverstärker. Einmal verstärkt, können die Signale von einem Aufzeichnungsgerät registriert oder zur Analyse direkt in einen Rechner eingegeben werden. Was derartige Geräte nachweisen, sind nicht eigent lich Gravitationswellen; es sind Schwingungen in einem Metallzylinder. Sie können nicht unterscheiden zwischen Schwingungen aufgrund von Gravitationsstrahlen und Schwingungen, die durch andere Kräfte bewirkt werden. Um für einen plausiblen Versuch zum Nachweis von Gra vitationswellen zu taugen, muß der Zylinder also gegen alle bekannten und potentiellen Störungen wie elektri sche, magnetische, thermische, akustische und seismi sche Kräfte abgeschirmt werden. Weber suchte dies da durch zu erreichen, daß er den Aluminiumzylinder mit einer Vakuumkammer aus Metall umgab und an einem dünnen Draht aufhängte. Die Aufhängevorrichtung war durch Blei- und Gummiplatten auf originelle und wirk same Weise gegen den Boden isoliert. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln wird sich der Zylin der normalerweise nicht in vollkommener Ruhestellung befinden. Solange er eine Temperatur über dem absolu ten Nullpunkt hat, wird er Schwingungen aufweisen, die durch die zufälligen Bewegungen seiner eigenen Atome verursacht sind; die Meßgeräte werden dann ein konti nuierliches »thermisches Rauschen« registrieren. Wird dieses Rauschen von einem Aufzeichnungsgerät auf Mil limeterpapier übertragen (wie das bei vielen Versuchen der Fall war), ist das sichtbare Resultat eine gezackte Li nie mit zufälligen Ausschlägen nach oben und unten.
Abbildung 5.1. Gravitationswellenantenne nach Weber. Interes sant ist der Vergleich seiner Methode der seismischen Isolierung mit den schweren Betonfundamenten in den Michelson-MorleyVersuchen (s. Kapitel 2). Tatsächlich verbinden massive Funda mente die Apparatur fest mit dem Boden und bewirken damit, daß Schwingungen durch die Apparatur hindurchgeleitet wer den. Wie man sich aus Kapitel 2 erinnern wird, hatte Michelson entdeckt, daß eine Störung seiner Apparatur schon dann eintrat, wenn er nur fest mit dem Fuß auftrat, und das in 100 Meter Ent fernung. Weber-Detektoren sind in diesem Punkt durch die ein fallsreiche Isolierung und das schmale Wellenband der Strahlung viel weniger empfindlich.
Eine Gravitationswelle würde vielleicht als besonders wei ter Ausschlag nach oben dargestellt werden, doch muß man sich entscheiden, ab welchem Schwellenwert ein sol cher Ausschlag als Gravitationswelle und eben nicht als unerwünschtes Rauschen gelten soll. Wie hoch dieser
Schwellenwert auch sein mag – es muß damit gerech net werden, daß ein allein durch Rauschen verursachter Ausschlag ihn gelegentlich übertreffen kann. Um sicher sein zu können, daß wenigstens einige Gravitationswel len nachgewiesen werden, ist es darum erforderlich, die Anzahl der »zufälligen« Ausschläge festzulegen, die man voraussichtlich allein infolge des Rauschens erhält, und sich dann zu vergewissern, daß die Gesamtzahl der Aus schläge über dem Schwellenwert höher ist. 1969 behaup tete Weber, das Äquivalent von sieben Ausschlägen pro Tag nachweisen zu können, die nicht durch Rauschen zu erklären seien.
webers messungen und die gravitations strahlung aus heutiger sicht Heute begegnet man Webers Messungen fast einhellig mit Unglauben ; und doch geht die Suche nach der Gra vitationsstrahlung weiter. Webers Befunde wurden skep tisch aufgenommen, weil die von ihm gefundene Men ge an Gravitationsstrahlung weit höher war, als sich mit modernen kosmologischen Theorien vereinbaren ließ. Wenn man Webers Resultate extrapolierte – unter der Voraussetzung eines einheitlichen Weltalls und der wei teren Voraussetzung, daß die Gravitationsstrahlung nicht in der von Weber am besten nachzuweisenden Frequenz konzentriert war ~, hätte die offenbar erzeugte Energiemenge bedeutet, daß der Kosmos in einer (kosmologisch gesehen) sehr kurzen Zeit »verbrennen« würde. Diese Be rechnungen ließen also vermuten, daß Weber ganz erheb
lich im Irrtum war. Die nunmehr entwickelten Appara turen sind darauf ausgelegt, jene weit geringeren Strah lungsflüsse nachzuweisen, die es nach Überzeugung der Kosmologen vielleicht (wenn überhaupt) gibt. Die neu en Antennen sind hundertmillionenmal empfindlicher und so konstruiert, daß sie Strahlungsflüsse nachweisen können, die hundertmillionenmal kleiner sind als jene, die Weber gefunden haben wollte. Webers erste Resultate fanden wegen der Strahlungs menge, die er gefunden zu haben behauptete, keinen Glau ben ; dennoch gelang es ihm schließlich, von einigen Leu ten ernster genommen zu werden. Anfang der siebziger Jahre entwickelte er seine Ansätze auf findige Weise wei ter, was andere Labors bewog, die Wiederholung seiner Befunde zu versuchen. Einer der wichtigsten neuen Be weise war, daß die Ausschläge über dem Schwellenwert gleichzeitig auf zwei oder drei mehrere tausend Kilometer voneinander entfernten Detektoren nachzuweisen waren. Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als könnten nur irgendwelche extraterrestrischen Störungen, zum Bei spiel Gravitationswellen, für diese gleichzeitigen Beobach tungen verantwortlich sein. Ein weiterer Beweis war, daß Weber in der Aktivität seines Detektors Ausschläge ent deckte, die ungefähr alle 24 Stunden auftraten. Das ließ daraufschließen, daß die Quelle dieser Aktivität irgend etwas mit der Erdrotation zu tun hatte. Falls die Strah lung im wesentlichen aus einer Richtung des Weltraums kam, war zu erwarten, daß die Sensibilität des Detektors für diese Strahlung in dem Maße variierte, wie die Erde sich mitsamt dem Detektor drehte. Die 24-Stunden-Peri
odizität ließ also daraufschließen, daß Webers Detektoren nicht durch irgendeine belanglose von der Erde kommen de Störung, sondern durch eine extraterrestrische Quelle in Schwingung versetzt wurden. Überdies sah es zunächst so aus, als habe die Periodi zität mit der Stellung der Erde zur Galaxie, nicht der zur Sonne zu tun – die Periodizität hing also mit dem astrono mischen Tag zusammen. Das war wichtig, weil man auf grund der Bewegung der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne eigentlich erwarten sollte, daß die Tageszeit mit der höchsten Empfindlichkeit des Detektors mit den Jah reszeiten variiert. (Die Geometrie ist dieselbe wie in den Michelson-Morley-Versuchen aus Kapitel 2.) Es ließ dar auf schließen, daß die Quelle sich außerhalb des Sonnen systems befinden müsse – wiederum ein starkes Indiz da für, daß es kosmische Ereignisse waren, die den Gravita tionswellendetektor in Schwingung versetzten, und nicht irgendwelche lokalen und uninteressanten Ereignisse. Die ser Effekt wurde »siderische Korrelation« genannt, was hei ßen sollte, daß die Perioden der höchsten Ausschlagsak tivität auf dem Detektor mit dem Verhältnis der Erde zu den Sternen, nicht zur Sonne zusammenhingen.
überredungskünste An dieser Stelle muß hervorgehoben werden, daß es bei einer unerwarteten These wie der Weberschen bei weitem nicht genügt, über Versuchsergebnisse nur zu be richten, wenn man andere dazu bewegen will, sie wenig stens so weit ernst zu nehmen, daß sie sich die Mühe ei
ner Überprüfung machen. Wenn das Resultat überhaupt eine Chance haben soll, sich zu »etablieren«, muß es zu nächst einmal aus dem Labor seines Urhebers »ausbre chen«. Ein nützlicher erster Schritt auf diesem Weg ist es, andere Wissenschaftler zur Widerlegung der betreffenden These herauszufordern. In Webers Fall wurden unter schiedliche Wissenschaftler durch ganz unterschiedliche experimentelle Weiterentwicklungen überzeugt. Manche hielten einen bestimmten Aspekt für überzeugend, wäh rend für andere gerade dieser Aspekt insignifikant war. Webers erste Verbesserung war zum Beispiel der Nach weis zeitgleicher Signale an zwei oder mehr Detektoren, die in sehr großer Entfernung voneinander aufgestellt waren. Gerade dies wurde manchmal überzeugend ge funden. So äußerte damals – 1972 – ein Wissenschaft ler gegenüber Harry Collins : »[…] fragte ihn brieflich nach der Möglichkeit von dreifachen und vierfachen Koinzidenzen, da dies für mich das Hauptkriterium ist. Die Chance, daß drei von vier Detektoren gleichzeitig versagen, ist sehr gering.« Andererseits gab es Wissenschaftler, die elektronisch, zufällig oder auf irgendeine andere Weise entstandene Koinzidenzen ohne weiteres für möglich hielten : »In Gesprächen hat sich herausgestellt, daß der Zy linder in […] und der Zylinder in […] gar keine von einander unabhängige Elektronik besaßen. […] Es
gab in beiden Signalen einige sehr wichtige gemein same Inhalte. Ich sagte, kein Wunder, daß Sie Koin zidenzen sehen. Alles in allem gebe ich nichts mehr auf die ganze Sache.« Eine andere von Weber eingeführte Verbesserung be stand darin, das Signal des einen Detektors zeitversetzt weiterzugeben, bevor es mit dem Signal des weit ent fernten Detektors verglichen wurde. Unter diesen Um ständen sollten keine Koinzidenzen auftreten – wenn doch, wären sie also ein reines Produkt des Zufalls. We ber konnte zeigen, daß die Anzahl koinzidenter Signa le in der Tat zurückging, wenn ein Signal im Vergleich zum anderen zeitversetzt weitergegeben wurde ; das ließ daraufschließen, daß die Koinzidenzen kein Produkt der Elektronik und auch kein Zufall waren. Einige Wis senschaftler machten denn auch Bemerkungen wie »das Zeitverzögerungsexperiment ist sehr überzeugend«, während andere das gerade nicht fanden. Webers Entdeckung, daß starke Ausschläge der Gra vitationswellenmessungen mit der Sternenzeit korrelier ten, war für einige Kollegen das einzige herausragende Resultat, das einer Erklärung bedurfte : »Auf das Zeitverzögerungsexperiment gebe ich gar nichts. Man könnte auch andere Mechanismen er finden, um die Koinzidenzen zum Verschwinden zu bringen. […] Für mich ist das einzige, was mir an der ganzen Sache Kopfzerbrechen bereitet, die side rische Korrelation. […] Wenn diese siderische Kor
relation verschwindet, kann man das ganze Experi ment begraben.« Demgegenüber meinten zwei andere: »Was viele von uns letzten Endes überzeugt hat […] war, als er berichtete, daß ein Computer seine Daten analysiert habe und zu demselben Ergebnis gekom men sei. Das Überzeugendste ist, daß er sie in den Computer gegeben hat.« Ein anderer wiederum sagte : »Wie Sie wissen, hat er Leute gebeten, für ihn Com puterprogramme zu schreiben, aber gleichzeitig im mer signalisiert: Hände weg ! Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. […] Ich bin – wie viele andere – nicht glücklich darüber, wie er seine Daten analy siert hat ; und daß er sie in den Computer eingegeben hat, macht auch keinen so großen Unterschied.« Wie man sieht, erfordert es nicht nur wissenschaft liches, sondern auch rhetorisches Geschick, auf eine Verbesse rung eines Experiments zu verfallen, die wirklich über zeugen kann.
der experimentelle regress In den Jahren bis 1972 waren in mehreren anderen La bors Antennen zum Aufspüren von Gravitationsstrahlung
gebaut worden oder im Bau begriffen. Drei weitere hatten zu diesem Zeitpunkt lange genug mit solchen Antennen gearbeitet, um vorläufige negative Berichte veröffentlichen zu können. Nun muß man sich vorstellen, vor welchen Problemen ein Wissenschaftler steht, der den Versuch un ternimmt, Webers Experiment zu wiederholen. Ein sol cher Wissenschaftler hat eine heikle Apparatur gebaut und über Monate hinweg beobachtet, in deren Verlauf sie am laufenden Band Millimeterpapier mit Wellenlini en ausgespuckt hat. Die Frage ist : (übt es in diesen Wel lenlinien Ausschläge, die echte Gravitationswellenimpulse und nicht bloßes Rauschen darstellen ? Scheint die Ant wort »nein« zu sein, dann lautet die nächste Frage, ob der Wissenschaftler seine Resultate veröffentlichen soll, weil damit automatisch unterstellt wäre, daß Weber im Irr tum ist und daß keine starken Gravitationswellenflüsse zu finden sind. Hier muß der Experimentator eine quälende Entscheidung treffen; denn es könnte ja sein, daß es doch Gravitationswellen gibt und daß nur sein negativ verlau fenes Experiment fehlerhaft war. Zum Beispiel könnte die Entscheidung über den Schwellenwert eines »echten« Gra vitationswelleilausschlags falsch gewesen sein, oder der Verstärker ist nicht so sensibel wie der von Weber, oder die Zylinderaufhängung ist ungeeignet, oder die Kristalle sind nicht fest genug verklebt, um Signale durchkommen zu lassen. Wenn solches der Fall ist und wenn sich her ausstellen sollte, daß es doch starke Gravitationswellen flüsse gibt, wird der Wissenschaftler mit einem Bericht über deren Nichtexistenz nur seine eigene experimentel le Inkompetenz unter Beweis gestellt haben.
Hier ist die Situation ganz anders als in einer Physikstun de in der Schule oder bei einer physikalischen Übung an der Universität. Der Schüler oder Student kann sich eine klare Vorstellung darüber bilden, ob sein Versuch kom petent durchgeführt worden ist oder nicht, indem er ein fach sein Resultat betrachtet. Wenn das Ergebnis im rich tigen Bereich liegt, ist das Experiment einigermaßen rich tig durchgeführt worden; landet das Ergebnis jedoch im falschen Bereich, ist eindeutig irgend etwas schiefgelaufen. In der Echtzeit hingegen ist – bei wissenschaftlichen Pro blemen wie zum Beispiel den Gravitationswellen und an deren hier beschriebenen Fällen – die Frage gerade: »Wel ches ist das richtige Ergebnis?« Von der Kenntnis dieses richtigen Ergebnisses kann hier die Antwort offenbar nicht kommen. Denn ist das richtige Ergebnis der Nachweis von Gravitationswellen oder der Nicht-Nachweis von Gravita tionswellen? Deren Existenz steht ja gerade zur Debatte, man kann das darum unmöglich vorher wissen. Welches das richtige Ergebnis ist, hängt also davon ab, ob es Gravitationswellen gibt, die als nachweisbare Flüsse die Erde treffen, oder ob es sie nicht gibt. Um das herauszufinden, müssen wir einen guten Gravitations wellendetektor bauen und nachsehen. Aber ob wir einen guten Gravitationswellendetektor gebaut haben, wissen wir erst, wenn wir ihn ausprobiert und das richtige Er gebnis erhalten haben. Aber welches das richtige Ergeb nis ist, wissen wir erst, wenn … und so geht es immer weiter, ad infinitum. Diesen Zirkel nennen wir den »experimentellen Re greß«. Experimentelle Arbeiten können nur dann als Pro
be oder Test auf etwas dienen, wenn man eine Möglichkeit gefunden hat, diesen Prozeß, in dem Versuchsergebnisse interpretiert und eingeordnet werden, zu durchbrechen. In der Wissenschaft tritt dieser Fall oft von vornherein ein, weil man den entsprechenden Bereich tatsächlich kennt, in dem die Ergebnisse liegen müssen. Das ver leiht dem Experiment eine Art anerkanntes Gütesiegel. Wo ein derart klares Kriterium aber nicht vorhanden ist, kann ein experimenteller Regreß nur dadurch vermie den werden, daß man die Qualität des Experiments auf einem anderen Weg und durch ein Kriterium bestimmt, das vom Versuchsergebnis selber unabhängig ist.
wissenschaftler bei der arbeit Welche Konsequenzen kann der experimentelle Regreß haben ? Da niemand weiß, was als richtiges Resultat zu gelten hat, ist es nicht leicht zu entscheiden, wer ein gu tes Experiment durchgeführt hat. Wir können also er warten, daß Gravitationswellenforscher untereinander un einig sind, wer sein Experiment gut durchgeführt hat und wer nicht. Denkbar ist, daß sie darüber uneinig sind, ob ein bestimmtes Resultat das Ergebnis von Inkompetenz auf Seiten des Experimentators und/oder von Mängeln seiner Apparatur ist. Manche Wissenschaft ler glaubten, Weber habe Gravitationswellen gesehen, weil seine Me thoden oder seine Apparatur fehlerhaft waren. Für ande re war es ein Zeichen von mangelndem Geschick, man gelnder Ausdauer oder auch einfach Pech, wenn man die Gravitationsstrahlung nicht sah. Harry Collins führte
Gespräche mit den meisten der Wissenschaft ler, die in Großbritannien und den USA an der Gravitationswel lenforschung beteiligt waren, und begegnete eben dieser Uneinigkeit. Die folgenden Zitate aus Gesprächen, die im Sommer 1972 geführt worden sind, verdeutlichen, wie die Meinung von Wissenschaftlern über die Arbeit an derer Wissenschaftler variierte. Es äußern sich jeweils Wissenschaftler aus drei verschiedenen Labors über das Experimernt eines vierten. Kommentare zu dem in W. durchgeführten Experiment Wissenschaftler (A1) : »Das liegt daran, daß das Ding in W. zwar sehr kompliziert ist, aber gewis se Eigenschaften hat, die machen, daß wenn die et was sehen, man es eher glauben kann. […] Die haben sich wirklich Gedanken gemacht.« Wissenschaftler (B1) : »Die hoffen dort, eine sehr hohe Sensibilität zu erzielen, aber ehrlich gesagt, ich glaube ihnen kein Wort. Es gibt subtilere Methoden als rohe Gewalt.« Wissenschaftler (C1) : »Die Gruppe in W. – also für mich sind das einfach Spinner.« Kommentare zu dem in X. durchgeführten Experiment Wissenschaftler (A2): »Er hat da nur einen ganz kleinen Posten, [aber] ich habe mir seine Daten an gesehen, und ein paar davon sind bestimmt interes sant.« Wissenschaft ler (B2) : »Ich bin von seinen experi mentellen Fähigkeiten nicht besonders beeindruckt
und würde das, was er macht, immer eher in Zweifel ziehen als das, was andere machen.« Wissenschaftler (C2): »Einen Dreck ist dieses Ex periment wert!« Kommentare zu dem in Y. durchgeführten Experiment Wissenschaftler (A3) : »Ich finde, die Resultate aus Y. sehen sehr beeindruckend aus. Die Leute sind ir gendwie sehr gewandt und wirken sehr souverän und bestimmend.« Wissenschaftler (B3) : »Wir sind gute Freunde, aber nach meiner Einschätzung ist sein Gerät nicht empfindlich […], und er hat einfach keine Chance, [Gravitationswellen] nachzuweisen.« Wissenschaftler (C3): »Wenn man es macht wie die in Y. und seine Zahlen einfach irgendeinem [Operator] gibt, damit er das ausarbeitet, weiß man überhaupt nichts. Sie wissen doch gar nicht, ob der sich in der Zeit nicht mit seinen Freunden unterhal ten hat.« Kommentare zu dem in Z. durchgeführten Experiment Wissenschaftler (A4): »Das Experiment aus Z. ist sehr interessant und sollte nicht bloß deshalb unbe achtet bleiben, weil sie es nicht wiederholen können.« Wissenschaftler (B4) : »Die Sache aus Z. beein druckt mich wenig.« Wissenschaftler (C4): »Dann gibt es da noch Z. Was die in Z. machen, ist ein aufgelegter Schwindel!«
Aber es differieren nicht nur die Meinungen der Wissen schaftler zu ein und demselben Experiment; auch jedes Experiment unterscheidet sich in unzähligen Hinsich ten von jedem anderen. Tatsächlich ist es nicht einfach zu erkennen, was es heißt, ein Experiment identisch mit einem anderen durchzuführen. Ein Wissenschaft ler for mulierte es so: »Zwangsläufig wird es bei so einem Experiment zu nächst viele negative Resultate geben, wo die Leute in die Luft gehen, weil der gesuchte Effekt so klein ist und schon der kleinste Unterschied in der Ap paratur einen großen Unterschied bei den Beobach tungen ausmachen kann. […] Wenn man ein Expe riment aufbaut, gibt es vieles, was darüber nicht in den Fachzeitschriften und so weiter mitgeteilt wird. Es gibt sogenannte Standardtechniken, aber es kann sein, daß man diese Techniken auf eine ganz be stimmte Weise anwenden muß.« Es ist also nicht schwer, einen Unterschied zu finden, der die Ansichten eines Wissenschaftlers über die Ar beit eines anderen Wissenschaftlers erklärt und recht fertigt. Abweichungen in den Signalverarbeitungstech niken, in der Konstruktion des Verstärkers, im Material des Zylinders (lag vielleicht ein sogenanntes »Kriechen« vor ?), in der Methode der Befestigung der piezoelektri schen Kristalle am Zylinder und in vielen anderen Fak toren – alles wurde schon zur Verteidigung wie zur Ab lehnung der diversen Experimente allein in diesem Fall
herangezogen. Technische Einwände waren nicht das einzige, worauf sich Urteile über die Experimente der anderen gründeten ; auch Argumente, die den Rahmen dessen verließen, was gemeinhin Wissenschaft lichkeit genannt wird, säten Zweifel. 1972 waren die Experimen tatoren mit zahlreichen nichttechnischen Gründen bei der Hand, die Resultate der diversen Experimente sei es zu glauben, sei es nicht zu glauben. Die Liste der seiner zeit genannten Gründe sieht so aus : 1. Vertrauen in die experimentellen Fähigkeiten und die Ehrlichkeit eines Wissenschaftlers aufgrund ei ner früheren erfolgreichen Zusammenarbeit 2. Persönlichkeit und Intelligenz des Experimentators 3. Reputation eines Wissenschaftlers als Leiter eines großen Labors 4. Tätigkeit des Wissenschaftlers in der Industrie oder an der Universität 5. Bisherige Mißerfolge des Wissenschaft lers 6. Besondere »Insider-Informationen« 7. Stil und Präsentation der Ergebnisse des Wissen schaft lers 8. Die »psychologische Herangehensweise« des Wis senschaftlers an das Experiment 9. Größe und Prestige der Herkunftsuniversität des Wissenschaft lers 10. Grad der Eingebundenheit des Wissenschaft lers in diverse wissenschaft liche Netzwerke 11. N ationalität des Wissenschaft lers
Ein Wissenschaftler erklärte folgendermaßen, warum er nicht an Webers Resultate glaubte : »Sehen Sie, das hat alles sehr wenig mit Wissenschaft zu tun. Am Ende werden wir uns sein Experiment vornehmen, und dann werden Sie sehen, daß ich es gar nicht so sorgfältig auseinandernehmen kann, wie ich gern möchte.«
die kompetenz von experimentatoren und die existenz von gravitationswellen Diese Auseinandersetzungen darüber, wer nun gute Ar beit geleistet hat und wer nicht, sind ein unveräußerlicher Bestandteil der Debatte um die Existenz oder Nichtexi stenz von Gravitationswellen. Sobald einmal entschieden ist, welches die guten Experimente wären, stellt sich auch heraus, ob diejenigen Forscher gut und kompetent sind, die Gravitationswellen nachgewiesen haben, oder diejenigen, die das gerade nicht konnten. Auf diese Weise wird man erfahren, ob es nachweisbare Gravitationswellen gibt. An dererseits, sobald wir wissen, ob es nachweisbare Gravita tionswellen gibt, wissen wir auch, welche Detektoren die guten sind. Falls es Gravitationswellen gibt, sind die guten Geräte diejenigen, die sie nachweisen; falls es keine Gra vitationswellen gibt, sind die guten Geräte diejenigen, die sie nicht feststellen. Es ist also ein und derselbe Vorgang, mit dem man definiert, was als guter Gravitationswellen detektor gilt, oder aber definiert, ob es Gravitationswellen gibt. Die wissenschaftlichen und die gesellschaftlichen As
pekte dieses Vorgangs sind unauflöslich miteinander ver bunden. Die folgende Geschichte zeigt, wie man aus dem experimentellen Regreß herausfindet:
gravitationsstrahlung Die Ereignisse nach 1972 waren den Behauptungen We bers immer weniger günstig. Im Juli 1973 veröffentlichten zwei Forschergruppen unabhängig voneinander (im Ab stand von zwei Wochen) negative Resultate in der wissen schaftlichen Zeitschrift Physical Review Letters. Im Dezem ber 1973 veröffentlichte eine dritte Gçuppe ihre negativen Ergebnisse in Nature. Diese sowie drei weitere Gruppen veröffentlichten außerdem Artikel, wonach es auch bei er höhter Sensibilität der Apparatur nichts zu sehen gab. Seit her ist niemand zu dem Schluß gekommen, etwas gefun den zu haben, was Webers Befunde bekräftigen würde. 1972 waren einige wenige Wissenschaftler von der Exi stenz starker Gravitationswellenflüsse überzeugt, aber nur die allerwenigsten von den übrigen mochten sich öffent lich auf deren Nichtexistenz festlegen. Bis 1975 hatten eine ganze Reihe von Wissenschaft lern viel Zeit und Mühe aufgewendet, um den Fall Weber gleichsam vor Gericht zu bringen. Die meisten hatten jetzt akzeptiert, daß er im Irrtum war, und nur ein einziger Wissenschaft ler außer Weber selbst hielt es noch immer für lohnend, nach star ken Gravitationswellenflüssen zu suchen. Man könnte sa gen, daß das Problem des experimentellen Regresses spä testens 1975 wirksam gelöst war – jedermann (oder fast jedermann) »wußte« jetzt, daß eine Antenne zum Nach
weis starker Gravitationswellenflüsse ein wissenschaft licher Blindgänger war, der niemals die Chance haben würde, zum wohlgeratenen Experiment zu werden. Wie war es dazu gekommen? Weber selbst scheint die Flut negativer Resultate nicht besonders erstaunt zu haben. Ein Gesprächspartner be richtet, daß für Weber negative Resultate geradezu zu er warten waren, weil ein negatives Resultat eben am leich testen erreicht wird: »Damals [1972] hatte Weber uns besucht und eine, wie ich finde, sehr treffende Bemerkung gemacht : ›Auf das Gravitationswellengeschäft kommen schwe re Zeiten zu.‹ Er wußte, er hatte zehn oder zwölf Jah re daran gearbeitet, Signale zu empfangen, während es eben viel einfacher war, ein einziges Experiment anzuleiern und sich dann, wenn man die Strahlen nicht sieht, nicht zu fragen, woran das liegen könn te, sondern einen Aufsatz zu veröffentlichen. Das macht etwas her, und es besagt einfach : ›Ich sehe die se Strahlen nicht.‹ Und so hatte er das Gefühl, daß die Sache im Sand verlaufen werde.« Aber es ist schwer, ein uneingeschränktes Zutrauen zu einem Experiment zu haben, bei dem nichts gefunden wurde. Und es ist schwer verständlich, was die Wissen schaftler so sicher machte, daß ihre negativen Resulta te die richtigen waren, solange Weber noch behauptete, Gravitationswellen zu sehen. Warum waren sie nicht zu rückhaltender ? Dazu ein Wissenschaft ler :
»[Ein wesentlicher Unterschied zwischen Weber und den anderen ist folgender: Weber] verbringt jeden Tag, jede Woche, jeden Monat Stunde um Stunde mit sei nem Apparat. Wenn man mit Dingen arbeitet und viel aus ihnen herausholen will, stellt man [zum Beispiel] fest, daß eine Röhre, die man ausgesucht hat, eine aus hundert, als guter Rauschfilter bestenfalls einen Mo nat hält, wenn man Glück hat, eher aber nur eine Wo che. Irgend etwas passiert mit ihr, etwas Material löst sich von der Kathode ab, und auf einmal hat man eine Stelle, wo es rauscht, und es ist langwierig und müh sam, diese Stelle zu finden. Aber nach außen hin sieht das System genauso aus wie vorher. Man kann also das System Dutzende Male lau fen haben und dabei glauben, es ist alles in Ordnung, und es ist eben nicht in Ordnung. Was Weber in sein System einbringt, und was keiner von seinen Kolle gen tut, ist sein Engagement – sein persönliches En gagement – als Elektroingenieur, was die meisten an deren ja nicht sind. […] Weber ist Elektroingenieur und Physiker, und wenn sich herausstellt, daß er Gravitationswellen sieht und die anderen es einfach nicht hinkriegen, dann kommt das daher, daß sie eben keine engagier ten Experimentatoren sind. […] Ich habe festgestellt, daß es wirklich wichtig ist, daß man mit seinem Ap parat lebt. Es ist so, wie wenn man einen Menschen kennenlernt – nach einiger Zeit wissen Sie, wenn Ihre Frau sich nicht wohl fühlt, auch wenn sie es selbst noch gar nicht weiß.«
Dieser Aspekt der experimentellen Arbeit muß Wissen schaftler zur Vorsicht mahnen, bevor sie – wie Webers Gegner – klare Schlußfolgerungen aus einer Serie von Negativresultaten ziehen.
ausgang der debatte Spätestens 1975 waren sich praktisch alle Wissen schaftler einig, daß Webers Experiment unzulänglich sei ; allerdings wichen ihre Gründe beträchtlich vonein ander ab. Einige kamen zu ihrer negativen Überzeugung, nachdem Weber an einer Stelle ein ziemlich eklatanter Fehler in seinem Computerprogramm unterlaufen war ; andere glaubten hingegen, daß dieser Fehler zufrieden stellend und rechtzeitig korrigiert worden war, bevor er größeren Schaden anrichten konnte. Manche fanden die statistischen Auswertungen über die Intensität des Hin tergrundrauschens und die Anzahl der restlichen Aus schläge unzulänglich ; andere hielten das für keinen ent scheidenden Punkt. Weber hatte auch einen bedauerlichen Fehler gemacht, als er behauptete, koinzidente Signale von seinem eigenen Detektor und dem eines weit entfernten Labors festgestellt zu haben. Diese Koinzidenzen waren durch Vergleich der Papierstreifen aus den zwei Detektoren herausgerechnet worden. Zu Webers Pech stellte sich heraus, daß infolge einer Verwechslung der Zeitzonen die zwei Papierstrei fen, die er miteinander verglich, mit einem zeitlichen Ab stand von über vier Stunden aufgezeichnet worden wa ren, so daß er in Wirklichkeit ein Signal aus Daten her
vorzauberte, die eigentlich reines Rauschen waren. Aber auch in diesem Fall war es nicht schwer, Wissenschaft ler zu finden, die den angerichteten Schaden nicht all zu groß fanden, da die Intensität des berichteten Signals statistisch kaum signifikant war. Ein anderer, von manchen für wichtig gehaltener Fak tor war, daß es Weber nicht gelang, im Laufe der Jahre das Verhältnis zwischen Signal und Rauschen in seinen Resultaten zu verbessern. Man erwartete, daß mit ver besserter Apparatur das Signal stärker werden müßte. Statt dessen schien das Nettosignal sogar eher zurück zugehen. Nach Meinung vieler Wissenschaftler war das nicht der Weg, den eine neue wissenschaftliche Aufga benstellung nehmen sollte. Dazu kam, daß die von We ber anfangs berichtete Korrelation mit der Sternenzeit allmählich verschwand. Für entscheidend hielten diese kritischen Einwände aber wiederum nur ein oder zwei Wissenschaftler ; schließlich steht nirgendwo geschrie ben, daß eine kosmische Quelle von Gravitationswellen stabil sein muß. Daß die nahezu einhellig negativen Versuchsergebnis se der anderen Labors eine wichtige Rolle spielten, ver steht sich von selbst. Gleichwohl waren alle sechs negati ven Experimente von Weber selbst scharf kritisiert wor den und, was noch wichtiger war, fünf von ihnen sogar von mindestens einem Gegner Webers ! Wenn wir an die Überlegungen in früheren Abschnitten dieses Kapi tels denken, sollte uns das nicht mehr überraschen. Das einzige Experiment, das von der Kritik der Weber-Geg ner verschont blieb, sollte die ursprüngliche Versuchsan
ordnung Webers so getreu wie möglich nachstellen. Nie mand hielt dieses Experiment für entscheidend. Ausschlaggebend für den Ausgang der Debatte schei nen die beißende Kritik, die sorgfältige Analyse und der kämpferische Stil Richard Garwins gewesen zu sein, ei nes einflußreichen Mitglieds der physikalischen Gemein de. Mit den Worten eines Wissenschaft lers: »Was die wissenschaftliche Gemeinde generell be trifft, so hat wahrscheinlich Garwins Veröffentli chung die Stimmung besiegelt. Das Experiment, das er durchgeführt hatte, war trivial – ein Klacks. […] Aber wie er darüber schrieb, das war es ! Die ande ren waren alle schrecklich zurückhaltend [gegen über Webers Experiment]. Ein einziges großes Zö gern … Und dann kommt Garwin mit dieser Lappa lie daher. Aber wie er darüber schreibt!« Und ein anderer Wissenschaft ler : »Garwin überschrie alle anderen, und bei der Analyse seiner Daten hat er wirklich gute Arbeit geleistet.« Und noch ein dritter : »[Garwins Aufsatz] war sehr klar aufgebaut und hat irgendwie alle überzeugt.« Als 1972 die ersten negativen Resultate berichtet wurden, waren sie stets mit einer sorgfältigen Auslotung sämtli cher logischer Fehlermöglichkeiten verbunden. Die er
sten Kritiker Webers gingen verständlicherweise auf Nummer Sicher. Ihnen auf den Fersen folgte der unver blümte Bericht Garwins über sein Experiment, mit ei ner sorgfältigen Datenanalyse und der kompromißlosen Behauptung, seine Resultate stünden »in einem substan tiellen Widerspruch zu den Ergebnissen Webers«. »Das brachte die Lawine ins Rollen«, erinnerte sich einer der Gesprächspartner von Collins, »und danach sah nie mand mehr etwas.« Was die experimentellen Resultate betrifft, ergibt sich das Bild, daß die Reihe von negativen Experimenten zwar eine entschiedene und selbstsicher vertretene Nichtüber einstimmung mit Weber publikationsfähig machte, daß diese Selbstsicherheit sich aber erst einstellte, nachdem sich gleichsam eine kritische Masse experimenteller Be richte gebildet hatte. Und diese Masse wurde schließlich von Garwin, der von Anfang an überzeugt war, daß We ber sich auf dem Holzweg befand, »gezündet«. Aus die ser Überzeugung heraus agierte Garwin, wie er es für richtig hielt, sorgte zum Beispiel dafür, daß gewisse Irr tümer Webers auf einer Tagung an die große Glocke ge hängt wurden, und sandte einer populärwissenschaft lichen Physikzeitschrift einen Brief, der folgenden Ab satz enthielt: »[Es wurde nachgewiesen], daß auf einem [bestimm ten Papierstreifen] fast alle sogenannten ›realen‹ Ko inzidenzen […] jeweils durch diesen einen Program mierfehler erzeugt worden sind. Es war also nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich so, daß ein an
deres Phänomen als die Gravitationswellen die er höhte Koinzidenzrate [dieser Daten] bei Null-Verzö gerung verursacht hat.« Und dann folgte die Feststellung: »Die Gruppe um Weber hat keinerlei glaubwürdigen Beweis für die Behauptung vorgelegt, Gravitations strahlen nachgewiesen zu haben.« Im Hinblick auf ihre späteren Arbeiten sagte uns ein Mitglied von Garwins Forscherteam : »An diesem Punkt ging es nicht mehr um Physik. Es fragt sich, ob es das je getan hat, aber zu diesem Zeit punkt jedenfalls nicht mehr.« Und : »Wir wollten einfach sehen, ob wir das Ganze nicht gleich stoppen konnten, bevor es sich am Ende noch weitere zwanzig Jahre hinzog.« Es ist in der Tat schwer zu sagen, wie die Kontroverse um die Gravitationswellen ohne das Vorgehen Garwins und seiner Gruppe jemals zu einem Abschluß hätte kommen können. Daß es eines solchen Beitrags bedurfte, ist ein mal mehr die Folge des experimentellen Regresses.
resümee Wir haben gezeigt, auf welche Weise der experimentel le Regreß im Falle der Gravitationswellen durchbrochen wurde. Das wachsende Gewicht der negativen Berichte, von denen jeder für sich genommen nicht schlüssig war, kristallisierte sich gleichsam um Garwins Beitrag. Nach dem er sich zu Wort gemeldet hatte, zählten nur noch Ex perimente, die negative Resultate erbrachten, und so gab es einfach keine starken Gravitationswellenflüsse mehr. Alle nachfolgenden Experimente, die positive Resulta te erbrachten, mußten ipso facto als fehlerhaft betrach tet werden. Das Resultat eines Experiments zu berichten, reicht für gewöhnlich nicht hin, um einer ungewöhnlichen Behaup tung Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Wenn eine solche Behauptung wenigstens soweit ernst genommen werden soll, daß andere Wissenschaftler eine Widerlegung versu chen, muß sie sehr klar und mit großem Einfallsreichtum präsentiert werden. Weber mußte eine lange Reihe von Modifikationen an seinem Experiment vornehmen, be vor man seinen Behauptungen hinreichende Beachtung schenkte. Als dann die Kontroverse einmal in Gang war, reichte eine Kombination aus Theorie und Praxis allein nicht aus, um den Streit beizulegen; denn dem stand der experimentelle Regreß im Wege. Wir haben manche der Weisen kennengelernt, wie solche Streitfragen tatsächlich gelöst werden. Diese Lösungs- oder auch einfach Ab schlußmechanismen gelten normalerweise nicht als zur Wissenschaft gehörig, aber ohne sie kann kontroverse Wissenschaft nicht funktionieren.
Wichtig ist es festzuhalten, daß die Wissenschaft von den Gravitationswellen nach der Beilegung der Kontro verse keinerlei Ähnlichkeit mit der Wissenschaft von den Gravitationswellen vor der Beilegung hat. Vor der Bei legung herrschte eine echte und substantielle Ungewiß heit, und diese Ungewißheit war sehr vernünft ig. Trotz des großen Aufwands an wissenschaft licher Arbeit, die geleistet worden war, und der sehr großen Anzahl von experimentellen und theoretischen Resultaten, die zur Verfügung standen, herrschte keine Klarheit. Zu diesem Zeitpunkt war niemandem ein Vorwurf daraus zu ma chen, wenn er beide Möglichkeiten für denkbar hielt und es vermied, sich auf eine davon festzulegen. Nach der Beilegung der Kontroverse ist alles geklärt : Starke Gra vitationswellenflüsse existieren nicht, und es heißt jetzt, daß nur inkompetente Wissenschaftler glauben, sie nach weisen zu können. Natürlich zeigt dieses Beispiel auch, daß eine einmal beigelegte Kontroverse trotzdem wieder eröffnet werden kann. Professor Joseph Weber hat nie aufgehört, an die Korrektheit seiner Resultate zu glauben, und veröffent licht besonders seit 1982, wo unsere Geschichte aufhört, Arbeiten mit neuen Argumenten und Beweisen, die seine Auffassung stützen. Die Frage ist nur : Werden sie noch einmal die Aufmerksamkeit der wissenschaft lichen Ge meinde erregen können? Die Wissenschaft von den Gravitationswellen, wie sie sich 1972, also vor der Beilegung des Streits, darstellte, ist jene Art von Wissenschaft, die der Schüler oder Stu dent selten zu Gesicht bekommt und die er kaum ver
steht. Doch wollten wir an dieser Stelle einen Punkt be tonen, der zum Resümee dieses ganzen Buches gehört: Es ist jene Art von Wissenschaft, mit der es der angehen de Wissenschaftler bei seinen Forschungen eines Tages zu tun haben wird ; und es ist jene Art von Wissenschaft, über die nachzudenken jeder Bürger aufgerufen ist, der an bestimmten demokratischen Entscheidungsprozessen in seinem Land teilnimmt – ob er nun als Geschwore ner einem gerichtsmedizinischen Gutachten lauscht, ei ner öffentlichen Anhörung zu spezifischen technischen Fragen beiwohnt oder bei einer Wahl für oder gegen ei nen bestimmten Kurs in der Verteidigungs- oder der En ergiepolitik stimmt. Es kann aus vielen Gründen wich tig sein, dieses unbekannte Gesicht der Wissenschaft zu verstehen – genauso wichtig, wie es ist, ihre mehr alltäg liche Seite zu verstehen.
kapitel das liebesleben der rennechse
Man könnte David Crews, Professor der Zoologie und Psychologie an der University of Texas, für einen Vo yeur halten. Die meiste Zeit verbringt er damit, das bi zarre Liebesleben der Reptilien, etwa der Eidechsen oder Schlangen, zu beobachten. Für Biologen ist seine Arbeit von großem Interesse. Mitunter ist sie auch umstritten. Unser Hauptaugenmerk in diesem Kapitel gilt einer be sonderen Reihe von Beobachtungen, die Crews am Paa rungsverhalten der Rennechsen anstellte. Doch zur Ein führung in die von Crews studierte sexuelle Welt der Reptilien wollen wir zunächst einen Blick auf seine we niger umstrittenen Arbeiten über die Nordamerikani sche Vipernatter werfen. Sie lebt im Westen Kanadas, einer arktischen Regi on, die vielleicht die härtesten Lebensbedingungen bietet, mit denen Wirbeltiere auf unserem Planeten zu kämpfen haben. Um den langen arktischen Winter zu überleben, haben Schlangen einen Trick gelernt : die Wärmespei cherung. Ihr Blut wird extrem dickflüssig, die wichtig sten Körperorgane stellen ihre Funktion fast vollstän dig ein und zeigen eine kaum mehr nachweisbare Ak tivität. Doch kaum bricht das Frühjahr an, machen sie bei der Vorbereitung auf die Paarungszeit eine rasante Veränderung durch.
Die Paarungszeit ist kurz und wird intensiv genutzt. Die Männchen erwachen als erste aus ihrer langen Win terstarre und baden drei Tage bis drei Wochen vor ih rer Höhle in der Sonne. Wenn die Weibchen erwachen – entweder einzeln oder in Gruppen –, werden die Männ chen von einem Botenstoff oder Pheromon auf ihrem Rücken angelockt. Bis zu hundert Männchen kommen zusammen und bilden einen »Paarungsball«. Sobald ei nem Männchen die Paarung gelungen ist, zerstreuen sich die anderen. Das befruchtete Weibchen, das infolge eines weiteren, bei der Paarung von ihrem Partner aufgenom menen Pheromons für die anderen Männchen unattrak tiv geworden ist, verläßt den Schauplatz. Die Männchen gruppieren sich neu und warten am Höhleneingang auf das Erscheinen anderer Weibchen, mit denen sie sich paaren können. Warum sind die Biologen an einem so merkwürdigen Ritual interessiert ? Crews ist Verhaltens-Neuroendokri nologe. Er studiert die Evolution der Körpersysteme, die die Fortpflanzung und das Sexualverhalten steuern. Zu den vielen von ihm angewandten Techniken zählen Ver haltensbeobachtung, Organerforschung und Blutanaly se. Auch Vergleiche mit anderen Arten werden angestellt. Die Vipernatter ist für Crews von besonderem Interesse wegen der Art, wie ihr Sexualverhalten und ihre Physio logie auf die Anforderungen ihrer Umwelt abgestimmt sind. Die sexuellen Aktivitäten der Schlangen mögen uns seltsam erscheinen, aber die Tiere haben sich ihren ex tremen Lebensbedingungen perfekt angepaßt. Für Crews veranschaulichte das Verhalten der Vipernattern beson
ders eindrucksvoll, wie Umweltfaktoren die Evolution und Entwicklung verschiedener Aspekte der Fortpflan zung beeinflussen können. Indem er die Rolle der Umwelt betont, ergreift Crews Partei in einer der ältesten Debat ten der Biologie: Natur oder Kultur? Ist ein bestimmter Verhaltensaspekt angeboren oder anerzogen ? Crews’ Interesse für die Physiologie der Fortpflanzung befindet sich gegenüber den traditionellen Gebieten der Reptilienforschung in einer gewissen Schräglage. Seine Arbeiten stehen etwa in der Mitte zwischen den Inter essen der Herpetologen, die Schlangen und Eidechsen von einem naturgeschichtlichen Standpunkt untersuchen, und denen der Neuroendokrinologen, die die verschie denen hormonellen Steuerungssysteme miteinander ver gleichen, ohne unbedingt an das Sexualverhalten der Ar ten anzuknüpfen. Mit seinem Interesse an der Evolution und am Vergleich von mehr als einer Spezies findet Crews auch in den Bereichen Evolutionstheorie, Vergleichende Biologie, Zoologie und Psychologie ein aufgeschlossenes Publikum für seine Arbeiten. Wie viele wissenschaft li che Neuerer, bringt Crews Ansätze aus den verschieden sten Gebieten zusammen, die herkömmlicherweise ge trennte Wege gehen. Teilweise aus diesem Grund sind seine Arbeiten von Kontroversen nicht verschont geblie ben. Durch seine neuen Fragen zu Teilaspekten des Ver haltens und zur Physiologie bereits weitgehend erforsch ter Arten wurde Crews zu einer Herausforderung für das wissenschaft liche Establishment. Daß die Arbeit eines Wissenschaftlers die seiner Kolle gen in Frage stellt, bedeutet für sich genommen natürlich
noch nicht, daß sie zwangsläufig zu Kontroversen füh ren wird. Viele provozierende Befunde oder Ansätze in der Wissenschaft werden einfach ignoriert. So sind zum Beispiel zahlreiche ablehnende Arbeiten zu den Grund lagen der Quantenmechanik oder der Relativitätstheo rie veröffentlicht worden, die kaum ein Kräuseln an der Oberfläche der Physik bewirkt haben. »Gar nicht igno rieren« lautet hier die trockene Devise, um mit potentiell beunruhigenden Ideen umzugehen. So ist es schon eine beachtliche Leistung, wenn man seinen Ideen den Sta tus des Strittigen und Kontroversen zu verschaffen weiß, so daß andere Wissenschaftler sich genötigt fühlen, sie explizit zu verwerfen. Zu der Zeit, als Crews seine umstrittenen Arbeiten über die Rennechse veröffentlichte, war er in der Wis senschaft bereits eine zu wichtige Figur, als daß man ihn hätte ignorieren können. In der Frühphase seiner Karrie re in Harvard deutete nichts darauf hin, daß eine Kon troverse bevorstand. Sein Ansatz und seine Befunde ver stießen gegen keine wichtigen Prinzipien seines Fachs. Als er (nach sieben Jahren Harvard) an die University of Texas ging, war er ein sehr angesehener, prominen ter und in seiner Zunft etablierter Wissenschaft ler. Erst jetzt, da er selbst zum Establishment gehörte, begann er selbst die Radikalität seiner Ideen hervorzuheben. Die prägnanteste Kontroverse, in die Crews verwickelt war, drehte sich nicht um kapitale Fragen der Evolutionstheo rie, sondern um einige ziemlich spezifische Behauptun gen, die er über das Sexualverhalten der Rennechse aufge stellt hatte. Crews’ Beobachtungen an diesem Wirbeltier
und deren Aufnahme in der Fachwelt bilden das Rück grat unserer Geschichte. Im folgenden wird es uns besonders darum gehen, das Hin und Her dieser einen wissenschaft lichen Kontrover se nachzuzeichnen. Es mag abwegig erscheinen, derma ßen ins Detail zu gehen. Wir möchten den Leser jedoch daran erinnern, daß gerade in den kleinen Einzelschrit ten solcher Debatten der Rohdiamant der Wissenschaft versteckt ist.
»der sprung der lesben-echsen« Unter dieser Überschrift berichtete die Zeitschrift Time ihren Lesern von Crews Beobachtungen zu den sexuel len Gewohnheiten der Rennechse Cnemidophorus. Cne midophorus ist in der Welt der Reptilien eine Ausnahme, weil diese Tiere sich durch sogenannte Jungfernzeugung fortpflanzen : Das Tier kann sich allein mit den Eiern des Weibchens fortpflanzen, die Befruchtung durch ein Männchen wird nicht benötigt. Das macht diese Spezi es ideal geeignet, um Aspekte der Evolution der Sexuali tät zu untersuchen, die bei normalgeschlechtigen Arten – bei denen immer der komplizierende Faktor der Here dität des Männchens hinzukommt – nicht isoliert und analysiert werden können. Kaum hatte Crews mit den Arbeiten an Cnemidopho rus begonnen, als ihm ein auf den ersten Blick bizarres Verhaltensmuster auffiel. Diese ungeschlechtigen Eidech sen, die keiner Paarung bedurften, bestiegen einander ge legentlich und verhielten sich genau wie andere geschlech
tige Eidechsen. Diese Beobachtung, die frühere Forscher – geflissentlich ? – ignoriert hatten, steht im Mittelpunkt dieser Kontroverse. Das für unsere Geschichte signifikante Verhalten de monstrieren vier Illustrationen (siehe Abb. 6.I.). Die Se quenz scheint ganz einfach zu sein. Ein aktives Weibchen steigt auf den Rücken eines anderen, passiven Weibchens, umgreift den Körper der Partnerin mit dem Schwanz, so daß die Kloaken in Kontakt kommen, streicht über Hals und Rücken und verharrt eine bis fünf Minuten in die ser Stellung. Über diesen Hergang sind sich alle Biolo gen einig. Uneinig sind sie über die Bedeutung, die den Beobachtungen beizulegen ist. Für Crews und seinen Mitarbeiter Fitzgerald hatte das seltsame Verhalten der Eidechse (das auch an anderen Eidechsen wiederholt beobachtet worden war) einen ein deutig sexuellen Bezug. Sie hielten das, was sie gesehen hatten, sogar für prägnant genug, um es als neue und wichtige Entdeckung über parthenogenetische Tierarten zu präsentieren. Das Balzritual in Verbindung mit dem Kopulationsverhalten schien bemerkenswerte Ähnlich keit mit dem Paarungsverhalten zu haben, das Crews an anderen, eng verwandten Eidechsenarten beobach tet hatte. Auch in der Vivisektion und Palpation (Unter suchung durch Betasten) der Eidechsen erwies sich die sexuelle Bedeutung dieses Verhaltens. Das umworbene Tier schien fortpflanzungsaktiv zu sein; denn »es besaß Ovarien mit großen, präovulatorischen Follikeln, wäh rend das werbende Tier entweder fortpflanzungsinaktiv oder postovulatorisch war und Ovarien zeigte, die nur
Abbildung 6.1. Sexualverhalten bei Cnemidophorus uniparens (Zeichnung von Steven W. Allison nach Myers, S. 283)
kleine, unentwickelte Follikeln enthielten«. Dieser Un terschied warf allgemeine Fragen über die Funktion des pseudokopulatorischen Verhaltens für die Sexualität auf ; möglicherweise spielte es eine Rolle beim Einüben von Fortpflanzungsmechanismen. Während Crews glaubte, eine große Entdeckung ge macht zu haben, waren andere Biologen sich nicht so si cher. Einige waren sogar ausgesprochen skeptisch. Zwei der bekanntesten Erforscher dieser Eidechsengattung, Orlando Cuellar von der University of Utah, der An fang der siebziger Jahre den Chromosomenmechanis mus der Jungfernzeugung demonstriert hatte, und C. J. Cole vom American Museum of Natural History, ein Pionier der physiologischen Untersuchung dieser Gat tung, äußerten bald Einwände gegen Crews’ Behauptun
gen. Für diese Wissenschaftler, die viele Jahre mit dem Studium von Cnemidophorus und insbesondere mit der Haltung dieser Tiere in Gefangenschaft verbracht hat ten, war Crews ein ahnungsloser Emporkömmling. An statt die Eidechsen zunächst einmal über längere Zeit räume sorgfältig zu beobachten, hatte er sich in ihren Augen unverzüglich auf eine ausgefallene, nur an weni gen Tieren beobachtete Verhaltensweise gestürzt und sie zu einer sensationellen Behauptung aufgebläht. Beson ders mag es Cuellar und Cole geärgert haben, daß das Time Magazine die Geschichte aufgegriffen hatte (die sexuellen Eskapaden von Eidechsen waren eben immer für eine Story gut). Die erste Reaktion von Cuellar und Cole bestand dar in, die Verhaltensaberration der Rennechsen nach Kräf ten herunterzuspielen. Sie behaupteten, daß überhaupt nichts besonders Neuartiges oder Überraschendes vor sich gehe, da andere Forscher (auch sie selbst) derarti ge Aktivitäten unter Eidechsen schon früher beobach tet hätten. Schlicht falsch sei auch Crews’ Behauptung, seine Beobachtung habe irgendeine generelle Bedeutung für das Studium der parthenogenetischen Arten. Das von ihm beobachtete Verhalten sei trivial : Es sei unna türlich und eine Folge der Gefangenschaft. Ein erfahre nerer Experimentator hätte sich nicht in die Irre führen lassen, sondern das Verhalten als das »Artefakt«, das es zweifellos war, einfach ignoriert. Die Schlüsselfrage war also, ob das Verhalten der Eidechsen ein Produkt der be engten Bedingungen in der Gefangenschaft war, wie die Kritiker geltend machten, oder ob es einen wesentlichen,
bisher vernachlässigten Teil des natürlichen Fortpflan zungsverhaltens darstellte. Es gehört zu den Besonderheiten wissenschaftlicher Kontroversen, daß sie die Kompetenz der Protagonisten in ein grelles Licht rücken. Es ist jedoch schwierig, in ei ner Kontroverse die konkreten wissenschaft lichen Streit fragen, um die es geht, von den Fähigkeiten der betei ligten Wissenschaftler säuberlich zu trennen. In der nun folgenden Debatte zwischen Crews und seinen Kritikern war es für alle Forscher vordringlich, ihre eigenen Fähig keiten unter Beweis zu stellen. Die Kontroverse wurde zu einem großen Teil in wis senschaftlichen Fachpublikationen ausgetragen. Ein Indiz für die zunehmende Bedeutung des Kompetenznachwei ses war die Ausweitung der normalerweise knappen Me thodendiskussion in diesen Arbeiten. In der ursprüngli chen Arbeit von Crews und Fitzgerald bestand der me thodologische Abschnitt aus wenigen Zeilen Begleittext zu den fotografischen Abbildungen der Eidechsen. Als es jedoch fünf Jahre später um die Widerlegung der Kriti ker geht, gibt es eine bemerkenswerte Fülle von Details zu vermelden, über die den Eidechsen zuteil geworde ne Pflege, die angewandten Beobachtungsverfahren und so fort. In dem Maße, wie die Kontroverse ihren Fort gang nimmt, werden auch die Befähigung und fachliche Kompetenz thematisiert, die für derartige Beobachtun gen erforderlich seien. So verweist zum Beispiel Orlando Cuellar in seiner Attacke gegen Crews auf seine eigene, durch lange (über zehnjährige) Erfahrung bestätigte Be obachtung, daß Cnemidophorus in der Gefangenschaft
Eier produziert, sowie auf seine »genaue Kenntnis« des Fortpflanzungszyklus dieser Spezies. Er stellt fest, daß auch er ein Verhalten wie das von Crews beobachtete in fünfzehn Jahren im Labor hin und wieder gesehen hat, daß es aber bedeutungslos ist. Auch Cole und Townsend betonen in ihrer Widerle gung von Crews und Fitzgerald ihre eigenen Beobach terfähigkeiten; sie unterstreichen die Detailliertheit und Dauer ihrer Beobachtungen (im Gegensatz zu dem kur zen Zeitraum, den Crews und Fitzgerald für ihre Arbei ten veranschlagen können) und heben die besondere Sub tilität ihres Systems der Verhaltenskategorisierung her vor. Sie erwähnen sogar, wo die Tiere gehalten wurden (in ihrem Büro) und daß sie sich persönlich um sie ge kümmert haben. Wie schon angedeutet : Im Alltag der wissenschaftlichen Publizistik tauchen solche Einzelhei ten nicht auf. Daß ein Wissenschaftler sich in dieser Weise auf seine persönliche Befähigung beruft und die alltägliche Labor arbeit detailliert rekonstruiert, bringt jedoch einen un beabsichtigten Effekt hervor. Wissenschaft wird als eine Tätigkeit wie andere Tätigkeiten auch sichtbar, die in der Welt draußen getrieben werden und bestimmte Fähig keiten voraussetzen. Nicht von ungefähr spielt der wissenschaft liche Auf satz in der Regel solche Faktoren herunter. Gerade das Fehlen derartiger Diskussionen läßt die wissenschaft li che Tätigkeit als etwas Besonderes erscheinen ; und die Wissenschaft ler als reine Vermittler oder passive Beob achter der Natur. Weil es aber im Laufe wissenschaft li
cher Kontroversen wichtig wird, persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen zu unterstreichen, beginnen wir hier besser zu verstehen, wie Wissenschaft produziert wird. Es werden Abläufe sichtbar, die normalerweise verbor gen sind. In ihrer Antwort auf Cuellar drehten Crews und sei ne Kollegen ironischerweise den Spieß um und behaup teten, daß gerade Cuellars Berufung auf seine Umsicht und Erfahrung im Grunde gegen ihn spreche. Sein Ein geständnis, daß er in der Tat das pseudokopulatorische Verhalten gesehen habe, werteten sie als Bestätigung ih rer eigenen Beobachtungen. Daß er die Bedeutung sei ner Beobachtung aber nicht erkannt hatte, führten sie auf seine vorgefaßten Meinungen zurück. Das ist Teil der Strategie, die Crews generell gegen seine Kritiker ver folgt : Er stellt sie als rückständig, paradigmenhörig und traditionsverhaftet hin – unfähig, zu sehen, was doch zu sehen ist. Diese Strategie ist in wissenschaft lichen Kon troversen nichts Ungewöhnliches. Beim Kompetenzargument geht es zum Teil um die Sorgfalt des Beobachters. Im vorliegenden Fall behaupten die Kritiker, daß Crews und Fitzgerald bei ihren Beob achtungen einfach nicht sorgfältig genug verfahren seien. Aber auch das Sorgfaltsargument ist, wie die meisten in einer Kontroverse vorgebrachten Einwände, zweischnei dig. Das machen sich Crews und seine Gruppe in ihrer Antwort auf Cole und Townsend zunutze und monie ren mangelnde methodische Strenge. So stellen sie fest, daß Cole und Townsend die Fortpflanzungsbereitschaft der Eidechsen nur durch Sichtprüfung der Aufblähung
des Bauchs schätzen. Das ist ihrer Ansicht nach unzu reichend; es bedarf bekanntlich auch des Abtastens. Mit einem schlauen Schachzug berufen sie sich zur Stützung dieser Forderung sogar auf den Crews-Kritiker Cuellar. Der Vorwurf der mangelnden Sorgfalt ist bei der Lö sung von Disputen wenig hilfreich, weil er zur Zirkula rität tendiert, jedermann weiß, daß der sorgfältige Wis senschaftler die »Wahrheit« findet, während der unsorg fältige Beobachter sich vertut. Der strittige Punkt ist eben, was es zu finden gibt. 1st man überzeugt, daß Pseudoko pulation ein echtes Phänomen ist, dann scheint Crews sorgfältig gewesen zu sein und seine Kritiker nicht ; wird hingegen die Pseudokopulation als Artefakt eingestuft, dann waren die Kritiker sorgfältig, aber nicht Crews. Die Frage der Sorgfalt an und für sich kann, wie die meisten derartigen Faktoren in einer Kontroverse, keinen unab hängigen Weg zur Klärung einer Streitfrage bieten. Wir befinden uns wieder im experimentellen Regreß, und nun richtig. Wenn aber die allgemeine Zuschreibung von Befähi gung und Kompetenz die Kontroverse nicht schlichten kann, wie steht es mit den Fakten? Wie oben ausgeführt, sind Fakten untrennbar mit den Fähigkeiten des jewei ligen Wissenschaftlers verbunden und werden durch sie erst hervorgebracht. Es ist also nicht zu verwundern, daß die Frage der Kompetenz immer dicht unter der Ober fläche schlummerte, sobald die Kritiker in ihrem Bemü hen ? Crews zu widerlegen, eine bestimmte Behauptung aufstellten. Kernstück der Kontroverse ist die von Cuellar sowie von Cole und Townsend aufgestellte Behauptung,
daß das kopulationsähnliche Verhalten der Eidechsen von den beengten Bedingungen der Tierhaltung herrührt. Crews hält folgendermaßen dagegen : Wie oben erwähnt, beschreibt er in seinen späteren Artikeln in allen Einzel heiten seine Methode ; er benennt exakt die Bedingungen, unter denen seine Eidechsen gehalten werden ; anschlie ßend kann er den Spieß umdrehen und seinen Kritikern vorwerfen, selbst keine konkreten Daten vorzulegen, aus denen hervorgeht, daß beengte Bedingungen die künst liche Kopulation bewirken: »Sie teilen weder die Abmes sungen der verwendeten Käfige noch die Anzahl der pro Käfig untergebrachten Tiere mit«1 ; mit diesem Schach zug erweckt Crews gerade auf dem Gebiet, auf dem sei ne Kritiker ihn attackieren wollen, den Eindruck höchst penibler Sorgfalt; die Kritiker mit ihrem Vorwurf hin gegen werden als leichtfertig hingestellt. Von den in diesem Buch untersuchten Kontroversen der Physik unterscheidet sich diese biologische Kontro verse dadurch, daß im Verlauf der Debatte so gut wie keine neuen Daten hervorgebracht wurden. Der Kontext der Debatte verändert sich in dem Maße, wie auf beiden Seiten versucht wird, die korrekte Interpretation früherer Beobachtungen zu finden. In der Physik dienen Versuche dazu, die Debatte zu fokussieren. Auf diesem Gebiet der Biologie dagegen sind Versuche selten möglich. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit ständig auf die mangelnden Beweise der Gegenseite für ihre Position gelenkt – zum Beispiel auf den von Crews vermißten Nachweis Coles und Townsends, daß beengte Bedingungen zur Pseudo kopulation führen.
Das gravierendste negative Beweisstück in der gan zen Debatte ist schlicht die Tatsache, daß niemand, auch Crews und Fitzgerald nicht, jemals eine Pseudokopula tion bei freilebenden Eidechsen gesehen hat. Cole und Townsend messen diesem Punkt großes Gewicht bei ; sie weisen darauf hin, daß die gründlichste Studie zu freile benden Rennechsen von einer Pseudokopulation nichts weiß. Wie zu erwarten, reagieren Crews und seine Grup pe standesgemäß und drehen den Spieß um: Sie erinnern ihre Kritiker daran, daß das besagte Verhalten sehr wohl auftreten könnte – doch wären Beobachtungen an freile benden Tieren überhaupt imstande, es zu dokumentie ren ? Es ist bekannt, daß Cnemidophorus eine besonders scheue Spezies ist und daß schon Paarungen der normal geschlechtigen Eidechse selten beobachtet werden. Wo sollte man also solche delikaten Phänomene besser be obachten können als an Tieren in Gefangenschaft?
liebesbisse und winken Es kommt im Verlauf einer wissenschaft lichen Kontro verse häufig vor, daß bisher ignorierte Einzelheiten hochbedeutsam werden und plötzlich heiß umstritten sind. In dem Maße, wie jede Seite die Argumente der anderen in Zweifel zu ziehen sucht, werden immer mehr zusätzliche Beweismittel ins Spiel gebracht. Im vorliegenden Fall ge wann zum einen die Anzahl der zwischen den Eidechsen vorfallenden »Liebesbisse« Bedeutung, zum anderen in teressierte die Frage, ob sie als Signal der sexuellen Un terwerfung eine Art Winkzeichen geben.
Cuellar erklärte, daß er bei Eidechsenarten, die er in Freiheit gesammelt hatte, nur selten irgendwelche »Ko pulationsbisse« gesehen habe und daß diese eigentlich häufiger vorkommen müßten, wäre Pseudokopulation die Regel. Die Antwort von Crews und seiner Gruppe auf diesen Einwand bestand wieder darin, das Argument umzukehren: Falls Cuellar recht hätte, hieße das, daß auch bei normalgeschlechtigen Eidechsen keine Paarun gen stattfänden ! Die von ihnen vorgeschlagene Erklärung lautet, daß solche Bisse keine natürliche Paarungsein schreibung sind. Um diesen Punkt zu erhärten, unter suchten sie die Körper von tausend toten Eidechsenweib chen einer normalgeschlechtigen Spezies und entdeck ten nur an 3 % von ihnen Narben auf dem Rücken und an den Flanken ; ferner stellten sie fest, daß ebenso vie le Männchen solche Narben aufwiesen. Auf diese Weise gelang es Crews, das von Cuellar ins Spiel gebrachte Be weismittel gegen ihn zu verwenden. Ganz gewiß sind an toten Eidechsen Narben zu finden ; da sie jedoch auch an Männchen festzustellen sind, werden sie wahrscheinlich durch aggressives Verhalten hervorgebracht. Das Winkzeichen erlangte in einer Nachschrift Be deutung, die Cole und Townsend ihrer Widerlegung von Crews’ Beobachtungen hinzufügten. Sie kritisieren, daß Crews das Winkzeichen der Eidechsen »irrigerweise« als Indiz für sexuelle Unterwerfung herangezogen habe. In Wirklichkeit signalisiere – so Cole und Townsend – das Winken einfach, daß die Eidechse sich aalt. Wiederum richtet sich der Angriff gegen die Kompetenz des For schers. Ein Forscher, der nicht unterscheiden kann, ob
eine Eidechse winkt oder sich aalt, hat ein Glaubwürdig keitsproblem. Crews scheint auf diesen speziellen Kritik punkt nicht öffentlich reagiert zu haben, aber nach dem oben Gesagten kann der Leser selbst darüber spekulie ren, mit welcher Art von Gegenargumentation Crews sich vermutlich verteidigt hat.
ein ehrenvolles unentschieden Und wo steht diese Kontroverse heute ? Nach gegen wärtigem Konsens haben Crews und seine Kritiker ein ehrenvolles Unentschieden erkämpft. Beide Seiten haben in separaten Beiträgen für den Scientific American ihre Version der Endokrinologie von Cnetnidophorus publi ziert, und beide Seiten arbeiten weiter mit ihren ganz un terschiedlichen Ansätzen. Die unbeteiligte Haltung, die wir bei der Rekonstruk tion dieser hin und her wogenden Debatte eingenommen haben, dürfte bei den Protagonisten auf wenig Gegenlie be stoßen. Für sie selbst sind ihre Argumente und ihre jeweilige Position ganz und gar zwingend. Mit unserer neutralen Darstellung laufen wir also Gefahr, beide Sei ten zu enttäuschen. Viele Naturwissenschaftler hüten sich davor, in Kon troversen verwickelt zu werden, und sehen in ihnen le diglich das Sammelbecken aller unpräzisen, schlampi gen Wissenschaft. Das kann bedeuten, daß man in ei nem solchen Disput aus taktischen Gründen bestreitet, überhaupt Partei zu sein. So geschah es in der EidechsenKontroverse. In ihren Beiträgen für den Scientific Ame
rican vermieden beide Seiten jeden expliziten Hinweis darauf, daß überhaupt eine Kontroverse vorlag. Man kann eine Kontroverse dadurch zum Abschluß bringen, daß man die Geschichte so umschreibt, daß die Debatte verfrüht erscheint : als die Überreaktion eines noch unterentwickelten Fachgebiets. Vor allem Crews hat in seinen späteren Schriften auf seinen ersten Aufsatz und die Reaktionen darauf in diesem Sinne verwiesen. Für Crews war es eine bedauerliche Debatte, die sich durch einen Mangel an zuverlässigen experimentellen Über prüfungen und entscheidenden Beweisen auszeichnete. Durch den Rekurs auf die Rhetorik von Experiment und Überprüfung – etwas, wofür die Methodologie seiner Ar beit mit gefangenen Eidechsen ideal geeignet ist – kann Crews den Anschein erwecken, einen Weg gefunden zu haben, die frühere Kontroverse hinter sich zu lassen. Ob diese Rhetorik erfolgreich ist, bleibt abzuwarten. Eine Frage ist unbeantwortet geblieben. Zeigen Cne midophorus-Eidechsen nun wirklich ein pseudokopula torisches Verhalten, das für ihre Fortpflanzung von Be deutung ist ? Trotz fünfjähriger Forschung und Debatte scheint die Antwort zu lauten: Wir wissen es nicht. Laut der einen Gruppe angesehener Wissenschaftler zeigen sie es; laut der anderen zeigen sie es nicht. Wie immer wird über die natürlichen Gegebenheiten in der Auseinander setzung zwischen Menschen entschieden.
kapitel 7 messung im herzen der sonne : die sonderbare geschichte von den fehlenden sonnenneutrinos
Die vielen Sterne, die wir nachts am Himmel leuchten sehen, haben eines gemeinsam : Sie verwandeln auf dem Wege der Kernfusion Materie in Energie. Das ist dersel be Vorgang wie in einer Wasserstoffbombe. Da die Ster ne im Laufe der Zeit kontinuierlich ihre eigene Wasser stoffmasse abbauen, verändern sie sich allmählich. Diese Veränderung oder Entwicklung verläuft normalerweise gleichmäßig, doch kann es auch dramatische Augen blicke geben, zum Beispiel das kataklysmische Ende ei nes Sterns in einer riesigen Explosion, einer Supernova. Die Geschichte der Sterne, auch unserer eigenen Sonne, wird durch die Theorie der Sternentwicklung beschrie ben, eine der grundlegendsten Theorien der modernen Astrophysik. Sie vermag die verschiedenen Entwick lungsphasen zu erklären, die die meisten Sterne durch laufen. Für Astronomen und Astrophysiker ist die Theo rie der Sternentwicklung eine ebenso ausgemachte Sa che wie für Biologen die Darwinsche Evolutionstheorie. Trotz der unbezweifelbaren Erfolge dieser Theorie ist ihre zentrale Annahme – daß die Energiequelle der Ster ne eine Kernfusion ist – erst vor kurzem direkt über prüft worden.
1967 versuchte Ray Davis vom Brookhaven National Laboratory, Sonnenneutrinos nachzuweisen: Elementar teilchen, die durch Kernfusion in der Sonne entstehen. Es war das erste Mal, daß die Theorie der Sternentwick lung experimentell überprüft wurde. Alle übrige von der Sonne kommende Strahlung ist das Ergebnis von Vor gängen, die vor Millionen Jahren stattgefunden haben. So brauchen zum Beispiel Lichtstrahlen Millionen Jah re, um sich aus dem Kern der Sonne an die Oberfläche zu arbeiten. Neutrinos treten praktisch ungehindert aus der Sonne aus, weil ihre Wechselwirkung mit Materie äu ßerst gering ist. Könnten wir sie auf der Erde nachwei sen, so wüßten wir, was vor nur acht Minuten im Kern der Sonne geschehen ist (diese Zeit braucht das Neutri no für den Weg von der Sonne zur Erde). Sonnenneu trinos sollten also eine direkte Überprüfung der Theorie ermöglichen, daß die Energiequelle des Sterns, der uns am nächsten ist, der Sonne, die Kernfusion ist. Aber eben weil die Wechselwirkung von Neutrinos mit Materie so gering ist, sind sie sehr schwer nachzuweisen. Im Durchschnitt kann ein Neutrino anderthalb Milliar den Kilometer Blei durchqueren, bevor es auf ein Hin dernis trifft. Neutrinos nachzuweisen würde also immer ein schwieriges Geschäft sein. Das Experiment von Davis ist ziemlich ungewöhnlich. Er arbeitete mit einem rie sigen Tank vom Fassungsvermögen eines olympischen Schwimmbeckens, der mit Perchloräthylen gefüllt und 1500 Meter tief unter der Erde in einem ehemaligen Berg werksstollen aufgestellt war. Jeden Monat suchte Davis den Tank nach radioaktiven Argon-Atomen ab, die durch
die Reaktion der eingefangenen Neutrinos mit dem Per chloräthylen entstehen müßten. Leider können jedoch auch Teilchen aus dem Weltraum, die sogenannte kos mische Strahlung, die Reaktion auslösen – eben deshalb muß das Experiment so tief unter der Erde durchgeführt werden, damit es gegen diese unerwünschte Strahlung abgeschirmt ist. Das radioaktive Argon wird dem Tank entnommen und in sehr empfindliche Zählrohre (eine Art Geigerzähler) gefüllt, in denen die entstandene Men ge exakt gemessen werden kann. Dieses Experiment – gewiß eines der wunderlichsten in der modernen Naturwissenschaft – hatte ein verblüffen des Ergebnis. Die theoretisch erwarteten Neutrinoflüsse gab es nicht. Ein Versuch, der die Theorie der Sternent wicklung glorreich hätte bestätigen sollen, löste statt des sen größte Ratlosigkeit aus. Da kaum vorstellbar ist, daß die Energiequelle im Inneren der Sterne keine Kernfusi on ist, mußte etwas schiefgelaufen sein – aber was ? Man hat das Experiment wieder und wieder auf Fehler unter sucht, mit Theorien jongliert, Modelle und Annahmen sorgfältig auf Irrtümer abgeklopft. Doch bisher kann nie mand sagen, wo der Fehler liegen könnte. Selbst heute, wo die zweite Generation von Experimen ten das Licht der Welt erblickt (oder vielmehr in den Un tergrund geht, da ja alle derartigen Experimente gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt werden müssen), ist das Ergebnis keineswegs klar. Es liegt also der klassische Fall eines Widerspruchs zwischen Experiment und Theorie vor. Doch läßt sich das Reich der Theorie nicht so leicht vom Reich des Ex
periments trennen. Im Falle der Sonnenneutrinos arbei ten Theoretiker und Praktiker seit Jahren zusammen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Im ersten Teil unserer Geschichte werden wir erzäh len, wie die Wissenschaftler jene Partnerschaft eingin gen, die dem Experiment zu seiner Verwirklichung ver half. Die Aufnahme, die die Resultate aus Davis’ Expe riment fanden und die im zweiten Teil beschrieben wird, ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. So wie das Sonnenneutrino-Experiment uns einen Blick ins Herz der Sonne tun lassen will, läßt uns die Sonnenneutrino-Episode als Ganzes einen Blick darauf tun, was im Herzen der Wissenschaft vor sich geht, wenn sich die Dinge nicht so entwickeln wie erwartet. Kuri oserweise werden wir miterleben, wie eine Wissenschaft demontiert wird. Obgleich die theoretischen Modelle zur Berechnung des Sonnenneutrinoflusses komplex sind (sie werden auf Großrechnern erstellt) und das Experiment von gerade zu schwindelerregender Empfindlichkeit ist (ein Tank, der Abermilliarden von Atomen enthält, wird nach ei ner Handvoll Argon-Atomen abgesucht), hielt man beim ersten Aufbau des Experiments die Prozedur für reine Routine. Ray Davis, von Haus aus Chemiker, bezeich nete – vielleicht allzu bescheiden – das Experiment als bessere Klempnerarbeit, ja, die Physikergemeinde war sich Anfang der sechziger Jahre so sicher, daß Davis die Theorie der Sternentwicklung bestätigen werde, daß man eine ganze Serie unterirdischer »Teleskope« plante, um Neutrinos aus einem Spektrum verschiedener kosmischer
Quellen nachzuweisen. Diese Pläne legte man wieder ad acta, als die ersten Resultate von Davis bekannt wurden. Scheinbar gut aufgearbeitete und verstandene Bereiche der Wissenschaft wurden auf einmal pro blematisch und strittig, Gewißheiten ungewiß. Das verwickelte Bezie hungsgeflecht zwischen Theorie und Praxis drohte zu zerreißen. Wieso aber dieser Riß bisher doch aufgehalten werden konnte, wieso die Versuchsergebnisse dem Test der Zeit standgehalten haben und wieso die Theorie der Sternentwicklung strukturell unangetastet bleibt, ist ein Rätsel. Wir erleben nicht den für eine wissenschaft liche Revolution kennzeichnenden Zusammenbruch, doch ist andererseits auch nichts mehr, wie es war.
aufbau des experiments, bildung von partnerschaften Experimente beginnen wie jede menschliche Tätigkeit nicht aus dem Nichts. Als Ray Davis im Sommer 1967 seine Apparatur »einschaltete«, um den erwarteten Neu trinostrom zu sehen, stand für ihn und seine Mitarbeiter die harte Arbeit von zwanzig Jahren auf dem Spiel. Von besonderer Bedeutung war eine einmalige Partnerschaft zwischen Davis und einer Gruppe von Kern-Astrophy sikern (Kern-Astrophysik ist die auf die Astronomie an gewendete Kernphysik) vom Kellogg Radiation Labo ratory des kalifornischen Institute of Technology (Cal Tech) unter William Fowler. Neutrinos sind für Experimentatoren immer beson ders faszinierend gewesen, weil sie wegen ihrer schwachen
Wechselwirkung mit anderen Teilchen kaum nachzuwei sen sind und deswegen eine um so größere Herausforde rung darstellen. Sie wurden erstmals 1930 von Pauli po stuliert, um die Gültigkeit gewisser Theorien über den radioaktiven Zerfall nicht in Frage zu stellen, und sollten weder Masse noch elektrische Ladung haben. Eine der wenigen Möglichkeiten, dieses schwer faßbare Teilchen nachzuweisen, war eine Art von umgekehrter radioak tiver Reaktion. Bei solchen Reaktionen wird ein Neutri no von einem Atomkern absorbiert und bildet ein neues, instabiles Element, das seinerseits zerfällt. Die Abtren nung dieser wenigen Atome des neuen Elements von den Abermilliarden von Targetatomen ist technisch eine fast hoffnungslose Aufgabe. Und genau diese Aufgabe zu lösen nahm Davis sich vor, den der Nachweis von Neutrinos seit langem inter essierte. Die experimentelle Technik, mit der Davis arbeitete, stammte aus der Radiochemie, einem Zwitter aus dem Gebiet der Radioaktivität und dem der Chemie. Die Idee war, das durch Neutrinoeinfall entstandene radioaktive Element (Argon) auf chemische Weise vom Targetma terial zu trennen. Davis erreichte das dadurch, daß er ein flüssiges Target wählte und mit Helium spülte, wo durch er die angesammelten Argon-Atome ausschwemm te. Die exakte Menge des entstandenen Argons konnte dann durch Nachweis seines radioaktiven Zerfalls ge messen werden. Um den Argonzerfall leichter von der Hintergrundstrahlung unterscheiden zu können, steck te Davis sein Zählgerät in ein Geschützrohr aus dem Er
sten Weltkrieg, das aus Stahl mit geringer natürlicher Ra dioaktivität bestand. Den Vorschlag, die Chlor-Argon-Reaktion zum Nach weis der Neutrinostrahlung zu nutzen, hatten zuerst die Physiker Bruno Pontecorvo und Louis Alvarez gemacht. Besonders wichtig war der Beitrag von Alvarez. Wie so vieles in der Nachkriegsphysik, beruhte die Idee auf Arbei ten aus der Kriegszeit. Alvarez hatte damals eine neue Me thode angegeben, um herauszufinden, ob die Deutschen eine Atombombe bauten: einen mobilen radiochemischen Detektor, der in einen Bomber eingebaut wurde und beim Überfliegen Deutschlands nach radioaktiven Emissionen aus Schornsteinen suchte (gefunden wurden keine). Davis übernahm diese Ideen und hatte 1955 einen klei nen funktionsfähigen Detektor entwickelt, der mit 2500 Litern Reinigungsflüssigkeit gefüllt war. Natürlich gab es nichts nachzuweisen, solange er keine Quelle für die Neu trinos hatte. Zu den wahrscheinlichsten Quellen zählte man damals Kernkraftwerke, und so baute Davis seinen Detektor beim Kernreaktor am Savannah River auf. Zur selben Zeit und am selben Ort unternahmen Frederick Reines und Clyde Cowan ihre mittlerweile historischen Messungen, die den ersten Nachweis des freien Neutrinos erbrachten. Davis hatte Pech : Es stellte sich heraus, daß seine Apparatur nicht für jene Art von Neutrinos sensi bel war, die von Kernreaktoren erzeugt werden. Jetzt befand er sich in einem Dilemma. Er hatte ein ver heißungsvolles Nachweissystem entwickelt, aber er hat te keine Neutrinos, die er nachweisen konnte. William Fowler zeigte ihm den Ausweg aus dem Dilemma.
zusammenarbeit mit cal tech William Fowler von Cal Tech hatte Davis’ Arbeiten ge nau verfolgt. Die Nuklear-Astrophysik als Disziplin war in den dreißiger Jahren aus der bahnbrechenden Lei stung Eddingtons (den wir aus Kapitel 2 kennen) und Jeans hervorgegangen, die in Kernreaktionen die wahr scheinlichste Quelle der Sonnenenergie erkannt hatten. Ende der fünfziger Jahre waren, nach vielen Messun gen von Kernreaktionen im Labor, die Kernreaktions zyklen in unserer Sonne im einzelnen bestimmt worden. 1957 legten Fowler und seine Mitarbeiter am Cal Tech eine umfassende Theorie darüber vor, wie in den Sternen aus leichteren Elementen schwerere synthetisiert werden. Dies war ein Höhepunkt des ganzen Fachs – die Theo rie schien zu erklären, wie aus Wasserstoff, dem leichte sten Element, alle anderen uns bekannten Substanzen gebildet werden. 1958 wurde eine Reaktionsrate, die für den Kernreak tionszyklus in der Sonne wesentlich war, nachgemessen und für fehlerhaft befunden. Es sah so aus, als produ zierte die Sonne ziemlich hochenergetische Neutrinos, die nachzuweisen Davis eigentlich gelingen sollte. Fowler machte Davis sogleich auf diese Möglichkeit aufmerksam, und fortan arbeiteten die beiden Forscher zusammen, um die Detektorpläne zur Reife zu bringen. Seinerzeit sah Fowler im Nachweis von Sonnenneutrinos eine Art Sah nehäubchen auf der Theorie der Sternentwicklung.
bahcall :
ein haustheoretiker fern der heimat
Auf seiten von Cal Tech bildete vor allem ein junger Schüler Fowlers, Dr. John Bahcall, den Dreh- und Angel punkt der Partnerschaft mit Davis. Waren die Sonnen neutrinos für Fowler das Sahnehäubchen auf der Theo rie, so waren sie für Bahcall das tägliche Brot. Sonnen neutrinos wurden zum beherrschenden Thema in seiner weiteren wissenschaft lichen Laufbahn. Als Davis sich zu seinen Messungen anschickte, stand nicht nur seine, son dern auch Bahcalls Karriere auf dem Spiel. Wie Bah calls Engagement sehr deutlich zeigt, kann ein Wissen schaftler auf der Jagd nach seiner Karriere gelegentlich vor der Notwendigkeit einer zeitlich befristeten konzer tierten Aktion mit anderen Wissenschaft lern stehen. Bahcall war theoretischer Physiker, aber er steuerte nicht nur sein theoretisches Fachwissen bei, sondern hat te auch die Aufgabe, die Bemühungen am Cal Tech zu koordinieren. Eine Voraussage über die Anzahl von Neu trinos zu treffen, mit denen Davis bei seinen Messungen rechnen konnte, war ein kompliziertes Geschäft, zu dem es der unterschiedlichsten Kenntnisse aus diversen Ge bieten bedurfte. Wo Bahcall selbst die erforderliche Fach kenntnis nicht besaß, wußte er sich (mit Fowlers Hilfe) sehr geschickt der Hilfe anderer zu versichern. Die Voraussage berührte nicht nur das Gebiet der Ra diochemie, sondern auch die Kernphysik, die Astrophy sik und die Neutrinophysik. Die verschiedenen Gebie te der Sonnenneutrino-Physik veranschaulicht Abbil dung 7.1.
Abbildung 7.1. Die verschiedenen Gebiete der SonnenneutrinoForschung
Die Kernphysik wurde benötigt, um die Kernreakti onsraten in der Sonne zu messen und die Wechselwir kung zwischen Neutrinos und Chlor im Detektor zu be rechnen. Da alle relevanten Kernreaktionsraten im Labor bei viel höheren Energien gemessen werden, als sie in der Sonne auftreten, müssen Extrapolationen auf niedrigere Energien vorgenommen werden. Diese Messungen sowie die anschließenden Schätzungen sind oft unsicher, und so hat es in der Geschichte des Sonnenneutrino-Problems immer wieder Korrekturen an den Reaktionsraten gege ben, sobald abweichende Messungen und Berechnungen vorlagen. Das Kellogg Radiation Laboratory beherbergte einige der führenden Kernphysiker. Bahcall spannte sie bald für seine Zwecke ein, um viele der entscheidenden Nuklearparameter neu zu messen. Eine Schlüsselrolle bei der Berechnung der Neu trinoflüsse spielt auch die Astrophysik. Sie benötigt man
für ein detailliertes Modell vom Aufbau und von der Ent wicklung der Sonne. Das Modell der Sonnenentwick lung wird auf dem Computer entsprechend den 4,5 Mil liarden Jahren ihrer Existenz erstellt. In dieses Modell müssen viele Daten über die Sonne eingegeben werden, zum Beispiel die Zusammensetzung der Elemente, aus denen sie besteht. Dieser Daten-Input wurde laufend re vidiert. Das Sonnenmodell wurde von Spezialisten am Cal Tech konstruiert. Der größte Teil des Neutrinoflus ses, den Davis sollte nachweisen können, kam von ei nem Seitenzweig der wichtigsten Wasserstoffusionsket te in den Kernreaktionen innerhalb der Sonne. Diese hochenergetischen Neutrinos zeigten eine außerordentli che Temperaturempfindlichkeit sowie eine kritische Ab hängigkeit von den Details des Sonnenmodells. Auch Fachkenntnisse in der Neutrinophysik waren erforder lich, um bestimmen zu können, was mit den Neutrinos bei der Durchquerung der Sonne und auf ihrem langen Weg zur Erde geschah. Bahcall arbeitete nicht nur an der Voraussage der Neu trinoflüsse, sondern war Davis auch bei theoretischen Problemen behilflich, die sich im Zusammenhang mit der Versuchsanordnung ergaben, zum Beispiel bei der Frage, welche kosmische Hintergrundstrahlung wahrscheinlich sein könnte, welcher Zeitpunkt für die Entnahme der Stichproben aus dem Tank am günstigsten war und so fort. Bahcall wurde, wie er selbst sagte, der »Haustheo retiker«. Und schließlich wurde er Berater des National Laboratory in Brookhaven, an dem Davis arbeitete, und wurde somit auch von demselben Haus bezahlt.
finanzierung des experiments Davis schätzte die Kosten des Experiments auf annä hernd 600 000 Dollar. In den sechziger Jahren war das eine enorme Summe für ein einziges Experiment, das im Unterschied zu Teilchenbeschleunigern nur für eine einzige Art von Messungen verwendet werden konnte. Fowler nahm größten Einfluß auf die Bemühungen, die Finanzierung zu sichern. Er gab Davis und Bahcall stän dig Ratschläge und mobilisierte die Unterstützung seiner eigenen Kollegen. Sondiert wurde bei allen erdenklichen Geldgebern: der Atomenergiebehörde, der National Sci ence Foundation und der NASA. Natürlich wäre es naiv zu glauben, daß Wissenschaft ler Geld für ihre Projekte erhalten, indem sie einfach ei nen überzeugenden Finanzierungsvorschlag unterbreiten. Um Gelder für ein großes Vorhaben locker zu machen, müssen sie vielmehr bei ihrer politischen Lobby vorspre chen und sonstige Überzeugungsarbeit leisten. Beim Auf treiben der Geldmittel für Davis’ Experiment fielen fol gende Punkte positiv ins Gewicht : Davis’ und Bahcalls Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse und -pläne in der führenden Physikzeitschrift Physical Review Let ters; das Forum der sehr einflußreichen Preprint-Reihe Orange and Lemon Aid des Kellog Radiation Laborato ry, wo Davis und Bahcall die wissenschaft liche Gemein de über die Vorgänge auf dem laufenden halten konnten ; und die Berichterstattung in der Presse – Artikel über Sonnenneutrinos erschienen sowohl in Time als auch in Newsweek. Von größter Wichtigkeit war ein Brief, den Fowler auf Veranlassung Richard Dodsons, des Leiters
von Davis’ Fachbereich, an die Atomenergiebehörde rich tete. In diesem Brief bat Fowler äußerst eindringlich um die Finanzierung des Experiments. Dodson und Fowler waren früher Kollegen am Cal Tech gewesen und seit lan gem befreundet. Bei der Atomenergiebehörde scheint es damals nicht üblich gewesen zu sein, ein offizielles Zweit gutachten einzuholen, so daß es Fowlers »schöner Brief« war (so Dodson), der das notwendige technische Plazet zur Gewährung der Finanzierung erreichte. Alle diese Bemühungen um die Finanzierung des Ex periments hingen natürlich von den wissenschaft lichen Meriten des Vorhabens ab. Das Experiment wurde weit hin als eine »ausschlaggebende« direkte Probe auf die Theorie der Sternentwicklung etikettiert. An der damals gebrauchten Wendung ist zweierlei bemerkenswert. Er stens : Der geplante Versuch war zwar ohne Zweifel di rekter als andere Methoden, die Strahlung aus dem Sonneninneren zu messen, aber die Neutrinos, die Da vis nachzuweisen hoffte, entstammten einem einzigen, hochtemperaturempfindlichen Seitenzweig der Wasser stoffreaktionskette. Ein direkterer Test wären Neutri nos aus der eigentlichen Wasserstoffusion selbst gewe sen. Die Experimente der zweiten Generation, die heu te erste Resultate zeitigen, sind in der Lage, Neutrinos aus dieser Reaktion festzustellen. Doch in dem Bemü hen, Geldmittel für sie aufzutreiben, bekamen auch diese Experimente das Etikett »ausschlaggebend« angehängt. Was »ausschlaggebend« bedeutet, ist also offensichtlich kontextabhängig. Aber ganz ohne Zweifel tat man auf der Suche nach den vielfach bedrängten Spendern gro
ßer Geldsummen gut daran, etwas »Ausschlaggebendes« in Aussicht zu stellen. Zweitens ist bemerkenswert, daß viele der Wissen schaftler, deren Unterstützung für das Experiment be nötigt wurde, Kern- und Teilchenphysiker waren. Aus der Laborwissenschaft hervorgegangen und entsprechend ab gebrüht, standen sie der Astrophysik skeptisch gegenüber, die in ihren Augen viel weniger präzise war. Viele Phy siker warnten vor der Finanzierung eines Experiments auf astrophysikalischer Grundlage. Einer dieser Skepti ker war ausgerechnet der Kernphysiker Maurice Gold haber, der Direktor des Brookhaven National Laborato ry. Seine Unterstützung war unerläßlich. Bahcall statte te Brookhaven eigens einen Besuch ab, um die Fraktion derer zu verstärken, die Goldhaber davon überzeugen wollten, daß das Experiment machbar und die Voraus sagen zuverlässig seien. Um Skeptiker wie Goldhaber zu überzeugen, war es in Bahcalls Interesse, sichere Voraussagen für ein starkes Signal in der Hand zu haben, das Davis eindeutig wür de nachweisen können. Es gibt Hinweise darauf, daß die Voraussagen über den Sonnenneutrinofluß mit dem Fi nanzierungsbedarf der Physiker variierten. Abbildung 7.2. zeigt den vorausgesagten Sonnenneutrinofluß, gemessen in Solar Neutrino Units (SNU) auf einer Zeitachse. Sie zeigt, daß zum Zeitpunkt der Finanzierung des Expe riments im Jahre 1964 der vorausgesagte Neutrinofluß hoch lag (40 SNU). Zu erkennen ist auch, daß der vor ausgesagte Neutrinofluß unmittelbar danach zurückzu gehen begann und zu dem Zeitpunkt, als Davis 1967 sei
Abbildung 7.2. Sonnenneutrinofluß (Zeichnung von Steven W. Allison, nach Pinch 1986, S. 39)
ne ersten Resultate registrierte, auf einen viel niedrige ren Wert (19 SNU) gefallen war. Zum Glück gelang es Davis, durch Verbesserungen im Detektor eine größere Sensibilität zu erreichen ; dennoch merkten einige Wis senschaftler an, daß das Experiment niemals finanziert worden wäre, hätte man die kleineren, 1967 vorausgesag ten Werte für den Neutrinofluß schon früher vorausge sagt, nämlich 1964, als man sich um die Finanzierung des Experiments bemühte. Viele Veränderungen im vorausgesagten Neutrinofluß rührten von Parametern her, auf die Bahcall keinen un mittelbaren Einfluß hatte (etwa von neuen Messungen der Kernreaktionsraten und Veränderungen bestimmter anderer Parameter. Doch der Zeitpunkt der Finanzie rungsbemühungen und die (erst nach gesicherter Finan zierung gewonnene) Erkenntnis, daß eine sehr wichtige Kernreaktionsrate nicht korrekt auf niedrigere Energien
extrapoliert worden war, begünstigten 1964 eine über trieben optimistische Voraussage. Deutlicher könnte man die Wechselwirkung zwischen Theorie und Experiment kaum demonstrieren.
aufbau des experiments Wenn Bahcall Tätigkeiten nachging, die für einen theo retischen Physiker ungewöhnlich waren, stand auch Da vis vor ein paar nicht alltäglichen Aufgaben. Nachdem er die notwendigen Geldmittel besorgt hatte, mußte er für sein Experiment einen tief unter der Erde gelege nen Bergwerksstollen finden. Das war keineswegs ein fach, und zwar nicht nur wegen der physikalischen An forderungen (wie Tiefe des Stollens und Stabilität des Gesteins), sondern auch, weil die meisten Bergwerksbe sitzer sich keinen Gewinn davon versprachen, in ihrem Bergwerk ein sicherlich störendes und möglicherweise auch gefährliches Experiment zu beherbergen. So sah das Jahr 1964 Davis im wesentlichen in Verhandlungen mit Bergwerksbesitzern. Schließlich erklärte sich die Ho mestake Mining Company bereit, das Projekt durchzu führen, nachdem ihr bedeutet worden war, daß es von der Atomenergiebehörde gefördert wurde : Kein Zufall, denn die Atomenergiebehörde bezog von Homestake ein Produkt, das in einem anderen Bergwerk der Firma ge wonnen wurde : Uran. Für den Aufbau des Experiments trat Davis in vielfäl tige Kontakte mit der Bergwerksgesellschaft und anderen kommerziellen Firmen, die den Tank und die dazu ge
hörende Ausrüstung herstellten und die Reinigungsflüs sigkeit in das Bergwerk lieferten. (Faktisch ist die Flüs sigkeit nur geliehen und kann eines Tages wieder ihrer normalen Bestimmung zugeführt werden!) Zuletzt be geisterten sich sogar die örtlichen Bergleute für das Ex periment, und die Lokalzeitung berichtete in mehreren Nummern darüber. Nur für ein sehr verkümmertes Verständnis von Wis senschaft sind Theoretiker Leute, die neue Ideen produzie ren, und Experimentatoren Leute, die diese Ideen prüfen oder verifizieren. Wie wir gesehen haben, ist die Bildung von Theorien und die Durchführung von Experimenten in Wirklichkeit wesentlich interessanter. Theorie und Expe riment sind nicht unabhängig voneinander. Sie sind durch tausenderlei Fäden miteinander verbunden und zugleich Teil des gesamten wissenschaftlichen Netzwerks. Ohne die Zusammenarbeit von Theoretikern und Experimentato ren, insbesondere ohne den Einfluß der mächtigen Cal Tech-Gruppe um William Fowler, wäre das Sonnenneu trino-Experiment niemals Wirklichkeit geworden.
demontage einer wissenschaft Wir wollen nun untersuchen, was geschah, nachdem Davis entgegen allen Erwartungen ein negatives Resultat melden mußte. Im Gegensatz zu anderen in diesem Buch behandelten Fällen, in denen ein Widerspruch zwischen Theorie und Experiment vorliegt, hat Davis’ Experiment dadurch nichts an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Eine Zeit lang wurden schwere Bedenken gegen seine Versuchsan
ordnung erhoben – vielleicht gingen in dem riesigen Tank mit Reinigungsflüssigkeit ja ein paar Argon-Atome verlo ren ? Davis überstand jedoch diese Phase der Kritik un beschadet, die im Gegenteil seinen Ruf als gewissenhaf ter Experimentator noch festigte. Auch die Theoretiker und insbesondere Bahcall konnten im großen und gan zen schließlich mit dem Resultat leben, wobei allerdings Bahcall, wie wir noch sehen werden, eine Zeitlang den Widerspruch zwischen Theorie und Experiment gar nicht für ausgemacht hielt. Nachdem einmal allgemein anerkannt war, daß das Sonnenneutrino-Problem wirklich existierte, begann ein intensives Hinterfragen und Überprüfen ; praktisch jede einzelne theoretische Annahme, auf der das Experiment gründete, ist kritisch unter die Lupe genommen worden. Genau solche kritischen Situationen erlauben den Blick auf eine »demontierte« Wissenschaft.
die ersten resultate Seine ersten Resultate erhielt Davis im August 1967. Sie wiesen auf ein sehr schwaches Signal, das heißt auf ei nen sehr geringen Neutrinofluß hin. Das Signal war so gar so schwach, daß es nicht als Zahl (Anzahl der nach gewiesenen Neutrinos) mit einer gewissen Fehlertoleranz, sondern nur als Obergrenze angegeben werden konnte : 6 SNU. Das Signal war mit anderen Worten nicht stär ker als 6 SNU und konnte ebensogut allein von der Hin tergrundstrahlung herrühren. Verbesserungen der De tektortechnik führten dazu, daß Davis Anfang 1968 die
Obergrenze der Neutrinoflüsse noch weiter senken konn te, nämlich auf 3 SNU. Davis, der praktisch sein ganzes Forscherleben lang mit dieser Detektortechnik gearbei tet hatte, war überzeugt, daß sein Resultat korrekt war. Angesichts der Bedeutung der Sache bat er jedoch zwei Chemikerkollegen von Brookhaven, seine Arbeit zu über prüfen. Sie konnten keinen Fehler entdecken. Als wei tere Vorsichtsmaßnahme kalibrierte Davis das Experi ment, indem er seinen Tank mit einer Neutronenquelle bestrahlte, die dasselbe Argon-Isotop freisetzte, das er nachgewiesen hatte. Er registrierte daraufhin die Anzahl von Argon-Atomen, die er erwartet hatte, was wieder um darauf hindeutete, daß alles ordnungsgemäß funk tionierte. Allerdings werden wir noch sehen, daß dieser Test nicht von allen als beweiskräftig empfunden wurde. Zu diesem Zeitpunkt (im Mai 1968) fühlte Davis sich sei ner Sache sicher genug, um sein Resultat zu veröffentli chen. In Vorabberichten über seine Befunde betonte er, daß der von ihm festgestellte Wert nur ein Fünftel des vorausgesagten Signals von 19 SNU betrug.
bahcalls reaktion Im Gegensatz zu Davis war Bahcall nicht davon über zeugt, daß der erzielte Wert mit der Theorie unvereinbar war. Kaum war er von Davis’ niedrigem Resultat unter richtet (er stand natürlich mit Davis in ständigem Kon takt), begann er, an einer noch besseren »Feinabstim mung« der theoretischen »Voraussage« zu arbeiten. Dazu gehörten auch neue Messungen verschiedener Parameter,
die die Voraussage auf 7,5 SNU (mit einer Fehlergrenze von 3 SNU) reduzierten. Daher konnte Bahcall im Mai 1968 berichten : »Davis’ derzeitige Resultate […] stehen in keinem offenkundigen Widerspruch zur Theorie des Sternenaufbaus.« Bahcall wünschte sich damals sehr, daß Davis’ Resul tate mit seiner theoretischen Voraussage übereinstim men möchten. Je niedriger die Werte wurden, die Da vis meldete, desto deprimierter war Bahcall. Die meisten Theoretiker teilten Bahcalls Sorge und hofften gegen alle Erfahrung, daß der Widerspruch zwischen Voraussage und Resultat irgendwie verschwinden würde. Sehr viel war schon in dieses Experiment investiert worden. Ein Nobelpreis sei gar nicht ausgeschlossen, hieß es, wenn nur Davis’ Experiment erst »richtig lief«.
ibens reaktion Daß wirklich ein Widerspruch zwischen Theorie und Experiment vorlag, erkannte als erster und mit der größ ten Schärfe nicht Bahcall, sondern sein alter Kollege aus Cal-Tech-Zeiten, Icko Iben. Iben war Spezialist für Son nenmodelle und hatte zu dem Cal-Tech-Team gehört, das die Voraussage von 1964 gemacht hatte. Was Bahcall jetzt tat, beurteilte Iben ziemlich zynisch. Für ihn war es un ehrlich von Bahcall, die früheren gewagten Voraussa gen eines starken Neutrinoflusses fallenzulassen und statt dessen ziemlich willkürlich neue Parameterwerte einzu setzen, um den Neutrinofluß möglichst herunterzurech nen. In Ibens Augen bestand kaum ein Zweifel, daß es
hier einen Widerspruch zwischen Theorie und Experi ment gab, und er benutzte seine eigenen Sonnenmodelle, um dessen ganzes Ausmaß zu demonstrieren. Ein Streit der beiden Theoretiker, der möglicherweise noch sehr er bittert verlaufen wäre, konnte jedoch vermieden werden, da Bahcall wenig später (1969) ebenfalls zu Protokoll gab, daß da eine Diskrepanz existierte. Damit war das Son nenneutrino-Problem offiziell in der Welt. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Bahcall und Iben erinnert uns noch einmal daran, wie flexibel die »Voraussage« mit ihren vielen Inputs sein kann. Die Epi sode zeigt ferner, daß es nicht immer ganz einfach ist, das Ergebnis eines Versuchs zur Überprüfung einer Theorie richtig zu beurteilen. Es geht nicht bloß darum, theoreti sche Voraussage und Versuchsergebnis nebeneinander zuhalten, wie manche Wissenschaftstheoretiker glauben. Es ist immer auch Interpretation im Spiel. Bahcall wie Iben waren hochkompetente Theoretiker, die mit den einschlägigen wissenschaftlichen Streitfragen bestens be kannt waren ; trotzdem kamen sie 1967 zu ganz unter schiedlichen Schlüssen. Bahcall stellte sich jetzt an die Spitze derer, die die Auffassung vertraten, daß in der Tat eine Diskrepanz vorlag – und er trug sogar heftige Kämpfe mit anderen Wissenschaftlern aus, die über Ausmaß und Bedeutung des Sonnenneutrino-Problems nüchterner dachten als er. Zwar ist es immer riskant, einzelnen Forschern strate gisches Vorgehen zu unterstellen – und ganz sicher soll te man sich auch vor der primitiven Vorstellung hüten, daß Wissenschaftler kalt und berechnend immer nur das
tun, was ihrer persönlichen Karriere am förderlichsten ist ; trotzdem können wir darüber spekulieren, welchen Grund Bahcall für seine dramatische Meinungsänderung gehabt haben mag. Wenn er sich zunächst gegen das Eingeständnis wehrte, daß ein Konflikt zwischen Theorie und Experiment vor lag, so ist das als Reaktion auf seinen vorangegangenen Einsatz für das Experiment zu verstehen. 1967 glaubte Bahcall – zu recht oder zu unrecht –, daß seine weite re Karriere davon abhing, daß Davis die »richtige« Ant wort bekam. Je länger er jedoch an der Ansicht festhielt, es existiere kein solcher Konflikt, während andere Theo retiker wie Iben, für die weniger auf dem Spiel stand, längst zu dem entgegengesetzten Schluß gelangt waren, desto unhaltbarer wurde seine Position. Unter welchem Druck er damals stand, geht aus einem Gespräch hervor, das er mit dem berühmten Cal-Tech-Physiker Richard Feynman führte. Wie Bahcall sich erinnert, hielt Feyn man für seinen jungen Kollegen den Trost bereit, daß er sich nichts vorzuwerfen habe und daß das Resultat eher wichtiger als unwichtiger würde, falls wirklich ein Wi derspruch zwischen Voraussage und Resultat existierte. Diesen Ratschlag scheint Bahcall sich zu Herzen genom men zu haben. Mehr noch, es scheint sogar ein guter Rat gewesen zu sein. Bahcall verstand es, seine Karriere wei terhin auf Sonnenneutrinos zu bauen, indem er immer wieder die wissenschaftliche Bedeutung des Problems betont hat. Auch scheint seine Karriere zu keinem Zeit punkt Schaden genommen zu haben ; er ist für seine Ar beiten über Sonnenneutrinos mit Preisen ausgezeichnet
worden und bekleidet gegenwärtig den sehr renommier ten Posten eines Professors für Astronomie und Astro physik am Institute for Advanced Study in Princeton.
ray davis : der ideale experimentator Nachdem nun der Konflikt zwischen Theorie und Ex periment von den Theoretikern öffentlich anerkannt wur de, war jetzt wieder Davis am Zug, der dafür sorgen muß te, daß der Schwarze Peter nicht bei ihm liegenblieb. In den meisten derartigen Kontroversen treten, wie wir in diesem Buch schon mehrfach gesehen haben, an einem solchen Punkt andere Wissenschaftler auf, die das ur sprüngliche Experiment zu wiederholen versuchen ; doch dafür war es im vorliegenden Fall zu entmutigend und zu kostspielig zugleich. Davis war damit eine besondere Last auferlegt : Er hatte zwar den Eindruck, daß weite re Überprüfungen seiner Methoden im Sinne der Meh rung der wissenschaftlichen Erkenntnis im großen und ganzen Zeitverschwendung waren, doch erkannte er die Notwendigkeit zusätzlicher Überzeugungsarbeit in der besonders skeptischen Gemeinde der Astrophysiker. Davis hat es sich zum Prinzip gemacht, deren Anregun gen konsequent aufzugreifen und umzusetzen, so abwe gig sie auch erscheinen mochten. Diese Strategie scheint sich ausgezahlt zu haben ; denn im Laufe der Jahre hat Davis sich den besten Ruf erworben. Bei einer Tagung 1978 wurde er als unbesungener »Held der Wissenschaft« gefeiert, und weithin gilt er als einer der besten Experi mentatoren in der modernen Naturwissenschaft. Dieses
Profil des idealen Experimentators, das Davis kultivierte, besticht durch Offenheit, Vorsicht und Bescheidenheit. Daß es dem Experimentator Kredit verschafft, ist kaum zu bezweifeln. Davis hatte immer die Partnerschaft mit den Theoretikern gesucht – das kann heute mit als Er klärung dafür angesehen werden, warum man sein Re sultat so ernst genommen hat. Nachdem die Theoreti ker so viel in ihn und sein Experiment investiert und so viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet hatten, konn ten sie ihn jetzt nicht einfach fallenlassen. Unter den neuen Versuchen, die durchzuführen Da vis sich bereit erklärte, war auch die Einleitung von 500 Argon-Atomen direkt in den Tank. In der Folge wies er dann das Argon in der erwarteten Größenordnung nach. Er überredete auch einige Brookhaven-Chemiker, nach einer anomalen Form des Argons zu suchen, die vielleicht irgendwo im Tank in der Falle saß. Sie konn ten nichts finden. Doch um ein bereits aus anderen Tei len dieses Buches bekanntes Motiv zu wiederholen : Kein Experiment ist endgültig, und ein entschlossener Kriti ker findet immer irgendwelche Schwachstellen. Ein sol cher Kritiker trat 1976 in Gestalt des skeptischen Astro physikers Kenneth Jacobs auf den Plan.
die argonfalle Es störte Jacobs, daß Davis’ Experiment nie wiederholt worden war, und er sah Analogien zu anderen Experi menten wie dem Gravitationswellendetektor von Joseph Weber (siehe Kapitel 5), wo ein kaum über ein Störge
räusch hinausgehendes Signal dazu gedient hatte, einge führte Theorien in Frage zu stellen, und das Experiment langfristig in Mißkredit geraten war. Jacobs vertrat die These, daß das Argon höchstwahrscheinlich irgendwo im Tank festsaß, was das niedrige Resultat erklärt hätte. Er skizzierte auch einen möglichen Mechanismus für eine solche Argonfalle, nämlich eine schwache »Polymerisa tion« von der Art, wie flüssige Kohlenwasserstoffe (ähn lich der von Davis verwendeten Reinigungsflüssigkeit) sie durchmachen. Er war nicht überzeugt, daß alle bisheri gen Tests diese Möglichkeit ausgeschlossen hatten. Jacobs’ Zweifel konnten durch die besondere Logik des Kalibrierungsexperiments, zu dem Davis gezwungen war, immer neu geweckt werden. Kalibrierungstests beinhal ten naturgemäß immer Abweichungen im Vergleich zu dem, was bei einem Durchlauf des eigentlichen Experi ments geschieht. Zum Beispiel arbeitete Davis bei sei ner Kalibrierung mit fertigen Argon-Atomen anstatt mit Atomen aus der Neutrinowechselwirkung. Auch wenn die Argon-Atome gezielt durch schnellen Neutronenbe schuß erzeugt wurden, waren die Reaktionsketten ganz andere als jene, die im Falle der Neutrinos aus der Son ne abliefen. Unterschiede zwischen der Kalibrierung und dem Experiment selbst gibt es immer. Bei guter Kalibrie rung ist die Bedeutung solcher Unterschiede anschei nend klein, so daß das Kalibrieren »der Sache selbst« so nahe wie möglich kommt ; aber »anscheinend klein« ist ein dehnbarer Begriff. Wie wir auch in anderen Kapiteln dieses Buches ge sehen haben, geben Unterschiede zwischen Experimen
ten immer Anlaß zu Zweifeln. Ob solche Zweifel geweckt werden oder nicht, hängt von der Bereitschaft des Wis senschaftlers ab, an einer konventionellen Überzeugung zu rütteln, für die derartige Unterschiede bedeutungslos sind. Jacobs war bereit, gegen diese Überzeugung vor zugehen ; er entdeckte in den Unterschieden einen Spalt, durch den er mit seiner Hypothese von der Argonfalle schlüpfen konnte. Es gab einen komplexen Test, von dem allgemein ange nommen wurde, daß man mit ihm die Möglichkeit einer Argonfalle ausschließen konnte. Es gelang Davis schließ lich, diesen Test erfolgreich durchzuführen. Wir wissen nicht, ob Jacobs auch dieses Ergebnis hätte anzweifeln können; denn seine Stelle an der Universität wurde nicht verlängert, und er hängte die Naturwissenschaft ganz an den Nagel. Dabei ist es bisher geblieben ; sollte freilich ei nes Tages ein anderer Kritiker von Jacobs’ Entschlossen heit auf der Bildfläche erscheinen …
lösungen des problems Abgesehen von den Radiochemikern reagierte man auf Davis’ Resultate fast einhellig mit einer mehr oder weniger pauschalen Infragestellung der komplizierten Voraussetzungen seiner Voraussagen über Neutrinoflüs se für den Bereich der Kernphysik, der Astrophysik und der Neutrinophysik. Bis 1978 waren über 400 Arbeiten erschienen, die »Lösungen« des Sonnenneutrino-Pro blems vorschlugen. Die meisten dieser Lösungen wur den – wenig überraschend – von Seiten der Astrophy
sik präsentiert. Wir haben bereits die außerordentliche Temperaturempfindlichkeit der Neutrinos erwähnt, die Davis nachzuweisen suchte, und so geht es bei vielen Lösungen um Modifikationen des Sonnenmodells, die von einer niedrigeren Temperatur im Zentrum der Son ne ausgehen. Würde sich zum Beispiel (wie in einem gewaltigen Kes sel) kühleres Material vom Äußeren der Sonne mit dem heißen Kern vermischen, so würde das die Neutrinoflüsse reduzieren. Eine solche Reduktion würde auch eintreten, wenn die Sonne schon zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte mit schweren Elementen kontaminiert wor den wäre, zum Beispiel durch den Zusammenprall mit einem anderen Himmelskörper. Von Seiten der Kernphy sik wurde angenommen, daß die Extrapolationen von Re aktionsraten auf niedrige Energien nicht stichhaltig sei en. Einer der stärksten Kandidaten unter den Lösungen ist die Annahme einer »Neutrino-Oszillation«. Jahrelang hat Davis’ Resultat konsequent nur etwa ein Drittel des Werts der günstigsten theoretischen Voraussage betra gen. Da es drei Arten von Neutrinos gibt, Davis’ Expe riment aber nur eine von ihnen nachweisen kann, geht diese Theorie dahin, daß die Neutrinos in der Sonne nur in einem Zustand erzeugt werden, auf ihrer langen Reise zur Erde aber zwischen ihren drei möglichen Zuständen oszillieren und Davis aus diesem Grund nur ein Drittel seiner erwarteten Signale empfängt. Manche der vorgeschlagenen Lösungen muten gera dezu grotesk an: Die Sonne verbrennt überhaupt keinen Wasserstoff, oder eine fundamentale Theorie ist falsch,
zum Beispiel die von der schwachen Wechselwirkung (sie beschreibt die Wechselwirkung zwischen Neutrinos und Chlor). Viele Lösungen sind nicht widerlegt worden und sind in der Literatur bis heute unkommentiert ge blieben. Andere hat man sorgfältig erwogen und aus ver schiedenen Gründen doch verworfen. Oft war es schwie rig, eine vorgeschlagene Lösung völlig auszuschließen, und ihre Gegner mußten zu eher unscharfen Einwän den greifen: Es handle sich um eine bloße Ad-hoc-Lö sung zum Beispiel, oder eine Lösung sei »ästhetisch nicht ansprechend«. Insgesamt hat keine dieser Lösungen bis her einhellige Zustimmung gefunden. Andererseits ist die Theorie der Sternentwicklung nie wirklich widerlegt worden. Das Sonnenneutrino-Resultat wird als Anoma lie behandelt, als etwas, das man am besten erst einmal auf sich beruhen läßt.
ein experiment zum wesen der wissenschaft Keine der erwähnten Infragestellungen bietet also eine einhellig anerkannte Lösung des Sonnenneutrino-Pro blems ; dennoch sind solche Infragestellungen interes sant, weil sie auch hinter den bestetablierten Bereichen unserer Erkenntnis eine Welt des Zweifels und der Un gewißheit enthüllen. Vor 1967 schien das Projekt, Son nenneutrinos nachzuweisen, auf einem Fundament von theoretischen und experimentellen Voraussetzungen zu ruhen, das solide genug war, um die Investition von sehr viel Geld und Forschungszeit zu rechtfertigen. Zweifellos
werden, sobald eine allgemein anerkannte Lösung gefun den ist, alle gegenwärtigen Ungewißheiten verschwinden, und die Wissenschaftler werden wieder größtes Vertrau en zu diesen Bereichen der Wissenschaft haben. Was heu te zerlegt wird, wird dann wiederaufgebaut. Was sollen wir von dem ganzen Vorgang halten ? Eine Möglichkeit besteht darin, Davis’ Resultat selbst als ein Experiment zum Wesen der Wissenschaft zu behandeln. Sein Resultat schneidet wie mit einem Messer der Un gewißheit in die normalen, für selbstverständlich gehal tenen Vorstellungen und Praktiken. Einen Augenblick lang konnten Wissenschaftler das Undenkbare denken, das Unerforschliche erforschen und sich von den Fesseln der normalen Wissenschaft befreien; sie konnten ein fach nachsehen, was wäre, wenn ? Auf der anderen Seite : Wenn wir jeden ungewöhnlichen Vorschlag ernst neh men, wird praktisch alles, was wir für selbstverständ lich halten, in Frage gestellt. In einer solchen Welt ist die Kernfusion nicht die Energiequelle in der Sonne ; Neutri nos oszillieren, zerfallen oder verharren im Innern der Sonne ; in der Sonne kommt es zu Vermischungen, die den Eiszeiten korreliert sind; es gibt Argonfallen ; die Theorie der schwachen Wechselwirkung ist nicht rich tig ; und so weiter. Wir müssen Ray Davis dankbar sein, daß er uns dieses Gedankenexperiment zur Plastizität der wissenschaft li chen Kultur geschenkt hat. Natürlich entspricht eine Was wäre-wenn-Wissenschaft nicht dem konventionellen Be griff von Wissenschaft; normale Wissenschaft wehrt sich ganz entschieden gegen alle bunte Vielfalt. Das Rätsel,
das uns das Problem mit den Sonnenneutrinos aufgibt, ist im Grunde folgendes : Wenn Wissenschaftler unter be stimmten Umständen das Undenkbare denken können, was hält sie davon ab, es immer oder fast immer zu tun ? Wenn die Antwort nicht in der widerspenstigen Natur zu suchen ist – und in diesem Buch zeigen wir ja immer wieder, daß die Natur uns viel weniger Zwang auferlegt und viel weniger Vorschriften macht, als wir uns das gewöhnlich vorstellen –, dann liegt sie in unserer Wis senschaftskultur. Wissenschaft funktioniert so, wie sie es tut, nicht weil die Natur sie irgendwie dazu zwingt, sondern weil wir unsere Wissenschaft selbst so konstru ieren, wie wir es tun.
resümee der golem im einsatz
rückblick und ausblick In diesem Buch haben wir einige Episoden der Wissen schaftsgeschichte nachgezeichnet. Wir haben nicht nur das Werk der angesehensten Wissenschaft ler beschrie ben, der Einsteins, Newtons und Pasteurs, sondern auch Arbeiten, die allem Anschein nach zu keinen Ehren mehr kommen werden: Joseph Webers dichte Ströme von Gra vitationswellen oder Ungars und McConnells Gedächt nistransfer. In einigen Fällen – zum Beispiel bei der Fra ge der Sonnenneutrinos oder beim Sexualverhalten der Rennechsen – ist das letzte Wort noch nicht gesprochen : Werden sie doch noch in den wissenschaft lichen Kanon eingehen, oder werden sie ihre Laufbahn als eine Art wis senschaftliches Kanonenfutter beschließen ? Das bleibt abzuwarten ; nur sollte man sich die Antwort nicht von Versuchen und Theorien allein versprechen. Wir haben »hohe« und »niedere« Wissenschaft nicht zufällig zugleich in den Blick genommen. Es ging uns darum, das wissenschaftliche Hochgebirge einzuebnen, das eine lange Erfolgsgeschichtsschreibung aufgetürmt hat. Wenn wir zurückblicken, dorthin, woher wir in der Wissenschaft gekommen sind, sehen wir scheinbar unbe zwingbare Gipfel – den Mount Newton, den Mont Pasteur, den Einstein-Berg –, ein ganzes Hochgebirge der Wahr
heit. Richten wir den Blick aber nach vorn, dehnt sich das Gelände eben vor uns aus. Doch sooft wir uns umse hen, ragen hinter uns ein paar neue Hügelchen auf. Was sind das für neue Spitzen ? Waren sie gestern schon da ? Um zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, müs sen wir untersuchen, mit Hilfe welcher Mechanismen wir selber diese kleinen und großen Berge entstehen lassen. Zu diesem Zweck müssen wir uns die allem Anschein nach »gescheiterte« Wissenschaft ebenso vergegenwär tigen wie die erfolgreiche. Das wird uns Mut machen, nicht nur die abweisenden Gebirgszüge der älteren Ver gangenheit, sondern auch die neu aufgebrochenen Hü gelchen von gestern zu besteigen. Wie unsere Fallstudi en beweisen, gibt es keine Logik der wissenschaft lichen Forschung. Oder besser gesagt : Wenn es sie gibt, dann ist es die Logik des Alltags.
menschliches versagen Wissenschaft und Gesellschaft sind nicht zu trennen. Hält man trotzdem an der Vorstellung fest, es handle sich um zwei kategorisch getrennte Sphären, so entsteht das allseits bekannte autoritäre Wissenschaftsbild. Doch wie kommt es überhaupt zu dieser Vorstellung von ge trennten Sphären ? Wenn in der Wissenschaft etwas schiefgeht, reagiert die wissenschaftliche Gemeinde wie ein Ameisenhaufen auf den Eindringling in seiner Mitte. Die Ameisen fallen zu Hunderten über ihn her, für den Bau lassen sie ihr Leben. In der Wissenschaft sind es Menschen, die im Ernstfall
als Opfer herhalten müssen : die Verantwortlichen für das sogenannte »menschliche Versagen«, das zu dem Pro blem geführt hat. Ein Raumtransporter explodiert infol ge menschlichen Versagens ; Tschernobyl explodiert in folge menschlichen Versagens. Zweck aller Untersuchun gen nach dem Unfall ist es, dieses menschliche Versagen dingfest zu machen. Das Resümee unseres Buches lau tet dagegen, daß der Vorwurf eines menschlichen Ver sagens direkt ins Herz der Wissenschaft zielt – mensch liches Handeln ist dieses Herz der Wissenschaft. Wenn etwas schiefgeht, dann nicht, weil zufällig ein Mensch versagt hat und dieses Versagen hätte vermieden werden können ; sondern weil bei allem, was Menschen tun, im mer etwas schiefgehen wird. Man kann von Naturwis senschaftlern und übrigens auch von Technikern nicht verlangen, daß sie aufhören, Mensch zu sein ; nur sagen hafte Automatenwesen könnten – im Gegensatz zu al lem, was den Golem ausmacht – die Art von Gewißheit bieten, die von den Wissenschaftlern zu erwarten diese uns allerdings selbst gelehrt haben. Aber wie die Dinge liegen, kennen wir heute, wie schon in der Einführung bemerkt, nur zwei mögliche Einstel lungen zur Wissenschaft: Sie ist entweder ganz und gar gut oder ganz und gar schlecht. Solches Schwarzweiß denken, das sich in einem sehr labilen Gleichgewicht hält, ist die notwendige Folge dieses Wissenschaftsmodells, das absolute Gewißheiten bieten soll. Leider sind hier Schwarz und Weiß gleichermaßen zu fürchten. Die Au toritätsansprüche vieler Naturwissenschaft ler und Tech niker sind überzogen, unbegründet und unverschämt ;
aber die naheliegende Reaktion auf all die uneingelösten Versprechungen könnte eine Wissenschaftsfeindlichkeit sein, die am Ende noch fataler wäre. Die Naturwissen schaftler sollten weniger versprechen ; dann wären sie auch eher imstande, ihre Versprechen zu halten. Schät zen und bewundern wir sie als Handwerker : als Exper ten für das Funktionieren der natürlichen Welt.
das verständnis der allgemeinheit Was folgt nun aus dieser Perspektive auf die Wissen schaft? Zunächst wollen wir betonen – es dürfte ja schon klar geworden sein –, daß sie nicht wissenschaftsfeind lich ist. Und – bildlich gesprochen – für die Arbeits weise des Wissenschaftlers an seinem Labortisch muß sie fast keine Konsequenzen haben. In einem bestimm ten Sinn nützt das soziologische Bild der Wissenschaft den Wissenschaftlern selbst gar nichts : Es kann nur ih ren Entdeckerdrang bremsen. Die Konsequenz aus un seren Fallgeschichten sollten jene Fächer ziehen, die mit ihrer wissenschaftlichen Methode das nachahmen, was sie für eine Fortsetzung der renommierten naturwissen schaftlichen Arbeitsweise halten; angesprochen sind aber auch jene Personen und Organisationen, die junge, auf strebende Wissenschaften nur deshalb im Keim erstik ken würden, weil sie einem letztlich verfehlten Wissen schaftsideal nicht gerecht werden können. An dem erstgenannten Übel, einem notorischen »Phy sikneid«, leiden die Sozialwissenschaften; Teilbereiche der Experimentalpsychologie und der quantitativen So
ziologie mit ihren pedantisch formulierten Hypothesen und endlosen statistischen Verschiebungen nebensäch lichster Daten sind die eklatantesten Beispiele für diese Art von Szientismus. Besorgniserregender ist das zweite Übel. Die günstige Aufnahme, die beim allgemeinen Publikum ausgefalle ne Wissenschaften wie zum Beispiel die Parapsycholo gie finden (die Erforschung des Übersinnlichen, der Te lepathie und dergleichen), hat zu Befürchtungen geführt, derartige Randwissenschaften könnten einmal ans Ruder kommen. Daraus ist eine Bewegung gegen alle Randwis senschaften entstanden, deren Vertreter es sich im Na men »der« wissenschaftlichen Methode zur Aufgabe ma chen, alles zu »entlarven«, was nicht im wissenschaft li chen Kanon steht. Wo diese Bemühungen darauf abzielen, die Öffentlichkeit vor allerlei ungeprüften Behauptungen zu schützen, sind sie natürlich sehr begrüßenswert ; aber der missionarische Eifer dieser selbsternannten Wächter der Wissenschaft erstreckt sich auch auf Bereiche, wo sie nichts verloren haben. Vor einiger Zeit konnte man im britischen Fernsehen einen Bühnenzauberer bewundern, der einen angesehe nen Wissenschaftler – Leiter eines berühmten Pariser Instituts – darüber aufklärte, daß seine Ideen lächerlich seien. Der Angriff galt nicht den Methoden des Profes sors, sondern dem Gegenstand seiner Forschung, der Ho möopathie ; dabei war die Angriffswaffe eine Idealversion eben »der« wissenschaftlichen Methode. Es ist kein Zu fall, daß gerade Leute, die glauben, diese wissenschaft liche Methode perfekt zu beherrschen, nur selten selbst
in der unmittelbaren Forschung tätig waren. In der Lie be kennt man die verklärende Wirkung einer gewissen Distanz ; etwas Ähnliches gibt es auch in der Wissen schaft. Es ist wichtig, die organisierten Wissenschafts wächter nicht so mächtig werden zu lassen, daß sie alles Neue und Fremde aus der wissenschaft lichen Welt ver drängen können. Ihre legitime Aufgabe ist es, die Öf fentlichkeit vor der puren Scharlatanerie zu schützen; doch die Wissenschaftler selbst sollten nicht versuchen, sie als Mitstreiter in ihren eigenen Schlachten zu instru mentalisieren. Wenn die Wirksamkeit der Homöopathie experimentell nicht zu beweisen ist, ist es allein Sache der Wissenschaftler – die die Risiken der Forschung in Grenzbereichen des Wissens kennen –, zu zeigen warum. Wer das anderen überläßt, hofiert einen neuartigen Go lem – einen, der eines Tages die Wissenschaft selbst zer stören könnte.
wissenschaft und bürger Die Debatte darüber, wie und wie gut Wissenschaft von der Öffentlichkeit verstanden wird, krankt überdies an der Verwechslung von Methode und Inhalt der Wis senschaft. Was erklärt werden sollte, sind die Methoden der Naturwissenschaft; aber was von fast allen Seiten ge wünscht wird, ist die öffentliche Verlautbarung der Wahr heit über die natürliche Welt – also eine Verlautbarung dessen, was die, die das Sagen haben, für die Wahrheit über die natürliche Welt halten. Der Grund für die löb liche Sorge um das Verständnis der Öffentlichkeit ist der,
daß naturwissenschaftliche und technische Fragen im mer mehr Raum in der Politik einnehmen. Immer, wenn sie ihre Stimme abgeben, müssen Bürger demokratischer Staaten über genug Wissen verfügen, um sich darüber schlüssig zu werden, ob sie lieber mehr Kohlebergwerke oder mehr Kernkraftwerke, mehr Getreide oder mehr saubere Flüsse, mehr gefolterte Tiere oder mehr gesunde Kinder haben wollen und ob das wirklich die Alternati ven sind. Vielleicht gibt es ganz neue Lösungen: Gezei tenkraftwerke, organischen Landbau, Arzneimittelerpro bung ohne Folter. Die »Verständnishelfer«, wie man sie nennen könnte, scheinen zu glauben, daß der Mann auf der Straße um so mehr in der Lage sein wird, in diesen Dingen vernünftige Entscheidungen zu fällen, je mehr wissenschaftliche Informationen er hat – anstelle von mehr Informationen über die Wissenschaft. Ein merkwürdiger Glaube, möchte man sagen, doch tatsächlich ist es einer der großen Trugschlüsse der Ge genwart. Und warum ? Weil es in solchen Debatten auf allen Seiten Doktoren und Professoren gibt. Die Argu mente sind großenteils an den Universitäten erfunden worden. So verfügen alle Parteien über ein Fachwissen, das der Mann auf der Straße sich nie und nimmer an eignen kann, und alle Parteien wissen, wie sie ihre Sa che klar und ohne augenfällige Trugschlüsse zu vertre ten haben. Warum solche Debatten trotz des versammel ten Fachwissens letztlich unabschließbar sind, haben wir in den beschreibenden Kapiteln dieses Buches zu zeigen versucht. Die Wissenschaftler, die in Grenzbereichen des Wissens arbeiten, sind nicht imstande, ihre tiefreichen
den Meinungsverschiedenheiten durch bessere Experi mente, weitere Erkenntnisse, avanciertere Theorien oder klareres Denken beizulegen. Und es ist einfach lächerlich, von der Öffentlichkeit mehr zu erwarten. Mit den »Verständnishelfern« stimmen wir darin über ein, daß der Bürger ausreichend informiert sein muß, um in konkreten Streitfragen einen Standpunkt beziehen zu können. Die benötigte Information betrifft jedoch nicht wissenschaftliche Inhalte ; sie betrifft das Verhältnis der wissenschaftlichen Experten zu Politikern, Medien und zu uns, den anderen. Der Bürger hat Erfahrung im Um gang mit streitenden Experten – nichts anderes ist ja Par teipolitik. Womit er aber wirklich überfordert ist, sind streitende Experten, die so tun, als wären sie etwas an deres als streitende Experten. Statt einer Frage – »Wem soll man glauben ?« – gibt es dann noch eine, und die lautet : »Sind Wissenschaftler nun Götter oder Scharla tane?« Diese zweite Frage macht die ganze Debatte um die Wissenschaft so anfällig und labil – eben weil sie nur diese zwei Standpunkte zur Auswahl stellt. Die zweite Frage aufzulösen ist, was wir in den vor ausgegangenen Fallgeschichten versucht haben – Wis senschaftler sind weder Götter noch Scharlatane, son dern einfach Fachleute wie alle anderen Fachleute auf der politischen Bühne auch. Natürlich haben sie ihr Spezial gebiet, für das sie mit ihrem Fachwissen zuständig sind, nämlich die physische Welt ; aber ihr Wissen ist nicht ge nauer und fehlerloser als das von Volkswirten, Kassen ärzten, Polizisten, Rechtsanwälten, Meteorologen, Rei sebüroleitern, Automechanikern oder Klempnern. Das
Fachwissen, das wir mit ihnen teilen müssen, ist ein hoch entwickeltes Alltagswissen – es ist genau dieses Fachwis sen, auf das wir zurückgreifen, wenn wir es zum Beispiel mit Klempnern oder anderen Spezialisten zu tun haben. Auch Klempner sind alles andere als fehlerlos ; und doch grassiert in der Gesellschaft keine Klempnerfeindlichkeit, aus dem einfachen Grund, weil Klempnerfeindlichkeit keine gangbare Alternative darstellt : Denn die Gegenal ternative, eine grundsätzlich fehlerlose Klempnerei, ist einfach nicht zu haben. Es ist unser wichtigstes Anliegen in diesem Buch, die Öffentlichkeit für die politische Rolle der Naturwissen schaft zu sensibilisieren.1 Darum haben die meisten un serer Fallgeschichten gezeigt, wie die Wissenschaften von innen funktionieren.
forensische wissenschaften Nicht nur, wo Wissenschaft und Politik sich berühren, entstehen Implikationen für das hier entwickelte Wissen schaftsverständnis. Auch überall sonst, wo die Wissen schaft mit einer anderen Institution in Berührung kommt, ändert sich die Sachlage, sobald wir Wissenschaft nicht mehr als gesichertes, sondern als Fachwissen betrachten. Angenommen, Wissenschaft und Gesetz treffen aufein ander : Vor Gericht präsentieren wissenschaft liche Ex perten Beweismittel, die die Schuld oder Unschuld ei nes Verdächtigen berühren. Sind die Haare, die am Tat ort gefunden wurden, identisch mit den Haaren auf dem Kopf des Verdächtigen? Gibt es übereinstimmende Fa
serreste ? Könnten Körperflüssigkeiten, die am Opfer ent deckt wurden, vom Beschuldigten stammen, und wie wahrscheinlich ist es, daß sie von einem anderen Men schen stammen ? Hat der Beschuldigte erst vor kurzem mit Sprengstoff hantiert? Zu der Zeit, da wir dies schrei ben, erschüttern gerade mehrere wieder aufgehobene Ur teile das britische Rechtssystem ; in den Prozessen war es um Sprengstoffattentate der IRA gegangen. Die an geklagten und verurteilten Männer und Frauen saßen jahrelang im Gefängnis, und nun stellt sich heraus, daß die »Beweislage«, aufgrund derer sie verurteilt worden sind, im juristischen Sinne »unklar« war. Typisch daran ist, daß das entscheidende Beweismittel ein Test von Sei ten der Gerichtschemie war, der angeblich den Nachweis erbracht hatte, daß die Beschuldigten erst vor kurzem mit Nitroglyzerin hantiert hätten; davon seien nämlich untilgbare Spuren auf ihren Händen zurückgeblieben. Doch wie sich jetzt herausstellt, ist der Test nicht unfehl bar : Es gibt neben Sprengstoff auch andere Gegenstände – zum Beispiel Spielkarten –, in denen dem Nitroglyze rin verwandte Chemikalien vorkommen ; Hantieren mit solchen Gegenständen kann daher zu einem positiven Testresultat führen. Die in die Verfahren eingeschalte ten Gerichtschemiker hatten in ihren Gutachten weder die Möglichkeit solcher falschen positiven Resultate er wähnt noch Angaben zur Höhe ihrer Wahrscheinlichkeit gemacht. Nicht nur die britischen forensischen Wissen schaften, sondern das ganze britische Rechtssystem hat durch diesen juristischen Kunstfehler an Glaubwürdig keit verloren. Aber noch schlimmer ist, daß wahrschein
lich noch viele andere Bürger jahrelang unschuldig in Haft gesessen haben. Hält man unsere hier präsentierte Methodenanalyse neben das landläufige Bild der Wissenschaft, dann er kennt man leicht, wie es zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Wenn man davon ausgeht, daß Wis senschaft Gewißheit schafft, scheint es natürlich unan gebracht, wissenschaftliche Beweise zu behandeln wie alle anderen juristischen Beweismittel, so daß an allen Unstimmigkeiten – einmal mehr – menschliches Versa gen die Schuld tragen muß. Faktisch liegt die Schuld al lerdings bei den Institutionen, in deren Rahmen foren sische Beweismittel vorgelegt werden. Das Problem in diesem konkreten Fall war, daß man es nicht für nötig gehalten hatte, über die Beweismittel zwei Meinungen einzuholen: die der Verteidigung und die der Anklage. An einem britischen Gericht bestellt in der Regel allein das britische Innenministerium die Wissenschaft ler und die wissenschaftlichen Schlußfolgerungen. Die Wissen schaftler legen dem Gericht ihre scheinbar neutralen Re sultate vor, ohne daß diese zuvor von der Verteidigung im Detail überprüft werden können. Das wissenschaft liche Beweismittel soll grundsätzlich neutral sein, daher scheint ein Zweitgutachten überflüssig – müßte es doch zwangsläufig zu genau den gleichen Schlüssen kommen! (Offenbar glaubt man also, Wissenschaft ler repräsentie ren nicht, sondern präsentieren etwas.) Aber wie wir an dem Gerichtsskandal gesehen haben, ist es mit umstritte nen forensischen Beweismitteln nicht anders als mit um strittenen wissenschaftlichen Beweismitteln überhaupt.
Sie sind wie die Wissenschaft, die in diesem Buch be schrieben wurde : kontrovers, anfechtbar. Der Preis für die grundsätzliche Aufnahme kontro verser forensischer Beweismittel wäre, daß die Wissen schaft dann einem Gerichtsverfahren kein abruptes Ende mehr bereiten könnte. Die Justiz würde ihre Verantwor tung nicht mehr an wissenschaftliche Experten delegie ren, sondern die wissenschaftlichen Experten wären nur noch eine Seite im Prozeß. Und genauso sollte es sein, al les andere ist schlichtes Unrecht. Wenn wissenschaftliche Beweismittel ebenso rechtmäßig anzweifelbar wären wie alle anderen Beweismittel auch, würden außerdem pein liche, weil falsche Gewißheiten vermieden. Interessanterweise scheinen sich die Dinge im ameri kanischen Rechtssystem zu weit in gerade die entgegen gesetzte Richtung entwickelt zu haben. Ein geschickter Anwalt kann jedes Beweismittel restlos zerpflücken. Und viele Anwälte haben einen enormen Spürsinn entwickelt, mit dem sie sich sogenannte »sachverständige Zeugen« besorgen, die ihnen jedes wissenschaft liche Beweismittel dekonstruieren können. Unsere Perspektive auf die Wis senschaft wirft auch auf diese Vorgänge neues Licht. Zunächst einmal sollte es uns nicht wundern, daß je des Beweismittel geprüft und angezweifelt werden kann – gerade im Sinne unseres neuen Wissenschaftsverständ nisses ist nichts anderes zu erwarten. Da kennt nicht die eine Seite die wissenschaft liche Sachlage und die ande re befindet sich im Irrtum. Beweise können immer an gezweifelt werden. Daraus folgt aber nicht, daß forensi schen Beweismitteln gar kein Gewicht mehr zukommen
soll. Wir haben hier die gleichen Regeln anzuwenden wie bei jeder Expertendiskussion. Der eine Experte wird zum Beispiel glaubwürdiger sein als andere, manche ganz und gar unglaubwürdig. Die Entwicklung im amerika nischen Rechtssystem scheint aus dem neueren Wissen schaftsverständnis nur eine einseitige Lehre gezogen zu haben : Doch die Tatsache, daß Wissenschaft ler unterein ander uneinig sind und daß Experiment und Beobach tung allein keine Kontroverse klären können, bedeutet nicht, daß Wissenschaftler grundsätzlich keine Einigung erzielen könnten. Man erinnere sich : Gravitationswellen sind keine natürliche Gegebenheit ; die Ablenkung des Sternenlichts durch die Sonne jedoch ist ein Faktum. Im amerikanischen Rechtssystem muß heute darüber nachgedacht werden, wie jetzt, da die Wissenschaft ler deutlich an Glaubwürdigkeit verloren haben, ein Ende dieser Debatte herbeigeführt werden kann. Man wird bestimmte Mechanismen finden müssen, die sicherstel len, daß die Macht der Nicht-Fachleute in verschiedenen Fragen in Zukunft nicht ebenso groß sein wird wie die der Fachleute. Das wird natürlich nicht leicht sein – zu mal Fachwissen von Interessengruppen gekauft werden kann. Aber die Lösung solcher Probleme ist ja das tägli che Brot der Politik und der Institutionen. Amerikani sche Regierungsbehörden wie die Food and Drug Ad ministration oder die Environmental Protection Agency und das amerikanische Rechtssystem als Ganzes wer den ihre Glaubwürdigkeit nur dann bewahren können, wenn sie sich klarmachen, daß Wissenschaft funktio niert, indem sie Einigkeit unter Experten hervorbringt.
Jeden mitreden zu lassen ist daher genauso unfruchtbar, wie nur einen einzigen Sprecher zuzulassen – es ist, als wäre überhaupt niemand da, der mitredet. Die Schwierigkeiten der forensischen Wissenschaften spiegeln die ganze Debatte im kleinen. Will man für die Wissenschaft zuviel Macht, so beschwört man eine un tragbare Reaktion heraus. Fordert man dagegen für sie nicht mehr, als was ihrer wirklichen Leistung entspricht, wird wissenschaftliches Fachwissen gewürdigt oder miß trauisch beäugt, angewandt oder auch ignoriert werden – auf keine unberechenbare Weise, sondern so, wie es bei jeder anderen gesellschaftlichen Institution der Fall ist.
öffentliche anhörung Wenn wir dieses neue Analyseinstrument überall dort anwenden, wo Wissenschaft mit einer anderen gesell schaftlichen Institution in Berührung kommt, wird ein adäquateres und fruchtbareres Wissenschaftsverständnis die Folge sein. Was geschieht zum Beispiel, wenn es an läßlich des geplanten Baus eines neuen Kernkraftwerks eine öffentliche Anhörung gibt? Auf der einen Seite wer den da Experten sein, die komplexe Berechnungen vor legen, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls zu vernachlässigen ist. Auf der anderen Seite gibt es Exper ten, die das Risiko für so ungeheuer halten, daß man ei gentlich gar nicht daran denken darf. Man muß sich also entscheiden. Öffentliche Institutionen oder Bundesbe hörden können das Ihre dazu beitragen, die Beweismittel der Experten zu sieben und zu filtern, aber letzten Endes
kann der Bürger hier nichts Besseres tun, als sich beide Seiten anzuhören und seine Entscheidung zu treffen, auf dieselbe Weise, wie er sich auch entscheidet, wo er zum Beispiel ein Haus kaufen will; man wird nie ganz sicher sein, daß man nicht einen Fehler macht.
öffentliche experimente und demonstrationen Wenn die Federal Aviation Authority ein mit gelie rendem (»antimisting«) Kerosin betanktes Flugzeug ab stürzen läßt, um herauszufinden, ob dies ein sichererer Treibstoff für Flugzeuge ist, war das kein wissenschaft liches Experiment; und wenn British Rail einen Zug in einen Kernbrennstoffbehälter rasen läßt, um herauszu finden, ob der Behälter einen Unfall überstehen würde, war auch das kein wissenschaftliches Experiment. In der wirklichen, kontroversen Wissenschaft, das konnten wir bereits sehen, führen Experimente kaum je zu einem kla ren, eindeutigen Ergebnis. Was die genannten Behörden hier durchgeführt haben, waren Demonstrationen, die den Zweck hatten, eine politische Diskussion zu beenden. Die Wissenschaft spielt hier eine ebenso dubiose Rolle wie im britischen Rechtssystem. Zumindest ist Mißtrauen angebracht, wenn eine Inter pretation eines solchen Tests als ganz unabweislich ge handelt wird. In diesem Fall sollte man sich immer auch die Interpretationen anderer Interessengruppen anhören und sich vergewissern, daß sie in einer für sie befriedi genden Weise Einfluß daraufnehmen konnten, wie der
Versuch aussehen und was sein Ergebnis bedeuten und besagen sollte. Wenn einzelne Interessengruppen das so nicht bestätigen können, sollte man sich die Art ihrer Einwände erläutern lassen.
wissenschaft im fernsehen Wird Wissenschaft im Fernsehen präsentiert, sollte man sich klarmachen, welches Wissenschaftsmodell hier zugrunde liegt. Eine Sendung, die einige Affinitäten zu der in unserem Buch dargelegten Perspektive hatte, ent hüllte die Probleme und Schwierigkeiten jener Forscher von der Europäischen Organisation für Kernforschung, die das elementare »Z«-Teilchen entdeckten. Die Sendung beschrieb die schlampige Apparatur, die Fehlstarts und Umbauten, die Ungewißheit, welche die ersten Resulta te begleitete, die statistischen Berechnungen, welche die Forscher in ihrer Gewißheit bestärken sollten, daß sie auch wirklich etwas sahen, die Entscheidung des Leiters, ungeachtet der starken Zweifel seines Forscherteams an die Öffentlichkeit zu gehen, und dann die Pressekonfe renz, auf der die Entdeckung der ganzen Welt bekannt gegeben wurde. Dies alles wurde wunderbar vorgeführt, doch mit seinen letzten Sätzen verdarb der Sprecher al les. Die Sendung hieß – mit einem Schuß Ironie, wie wir hoffen wollen – »The Geneva Event« [Ereignis in Genf], und der Sprecher warf noch einen Blick zurück auf das, was sein Text soeben skizziert hatte, und nannte es zum Abschluß »eine der größten Entdeckungen seit den Ver suchen Faradays«. Man sieht, nicht einmal hier durften
dem Publikum das Chaos und die Unordnung der Wis senschaft vermittelt werden! Am Ende triumphierte wie der die Erfolgsgeschichte der Wissenschaft.
die untersuchung von unfällen Wenn die öffentliche Untersuchung von Unfällen wie der Challenger-Katastrophe nichts anderes ans Licht bringt als »menschliches Versagen«, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Denn menschliches Versagen zu ent decken heißt einfach, die Schuld außerhalb der Wissen schaft zu lokalisieren. Besser wäre es aber in jedem Fall, sie innerhalb der Wissenschaft zu suchen, und natür lich werden es auch hier Menschen sein, die anzukla gen sind, aber eben auch nicht : Schließlich ist niemand vollkommen. Hätten die Verantwortlichen, die den ver eisten Raumtransporter an jenem verhängnisvollen Mor gen starten ließen, auf jede Warnung gehört, die sie bei je dem Start erhalten hatten, so hätte die Challenger niemals abgehoben. Alle Naturwissenschaft ist, wie alle Techno logie, grundsätzlich riskant. Aber wenn die Verantwor tung für bestimmte Probleme bestimmten Individuen zugeschoben wird, sollte dies in dem gleichen Sinne ge schehen, in dem jemand die politische Verantwortung für etwas übernehmen muß : In der Politik ist Verant wortung übernehmen nicht unmittelbar gleichbedeutend mit versagt haben. Es wird auch weiterhin viele Unfälle geben, und es werden noch viele Köpfe rollen – davon können wir mit größter Sicherheit ausgehen, und kön nen tatsächlich nichts dagegen tun.
naturwissenschaft im unterricht Schließlich kommen wir zum naturwissenschaftlichen Unterricht in der Schule. Es ist eine feine Sache, wenn man ein paar naturwissenschaftliche Dinge weiß – es ist zu vielen Dingen nütze ; man weiß dann, wie man ein Auto repariert, einen Stecker anschließt, ein Modell flugzeug baut, einen Computer einigermaßen sinnvoll nutzt, ein Soufflé bei richtiger Temperatur zubereitet, sei ne Stromrechnung senkt, eine Wunde desinfiziert, den Kessel flickt, es vermeidet, sich mitsamt dem Gasherd in die Luft zu jagen, und vieles andere mehr. Für jenen winzigen Prozentsatz der Schüler an unseren Schulen, die einmal in die Forschung gehen wollen, muß die Ver mittlung der naturwissenschaftlichen Inhalte auch wei terhin so streng und umfassend, vielleicht auch so sehr mit ein paar Scheuklappen behaftet bleiben wie heute. Aber für die meisten Kinder, die zu Bürgern einer tech nologischen Gesellschaft heranwachsen, gibt es eine an dere und leichtere Lektion, die sie zu lernen haben. Jedes Klassenzimmer, in dem alle Kinder zusammen das gleiche Experiment durchführen, ist ein Miniaturab bild der Naturwissenschaft, wie sie sich darstellt, wo sie neu und ungesichert ist. Und jede solche vielfache Be gegnung mit dem Reich der Natur ist ein eigenes sozio logisches Experiment. Stellen wir uns folgende Szene vor : Die Lehrerin gibt allen Schülern die Aufgabe, den Siede punkt von Wasser festzustellen, indem sie ein Thermo meter in ein Becherglas tauchen und ablesen, sobald das Wasser stetig kocht. Eins steht fest : Fast niemand wird exakt 100 °C ablesen, sofern er die Antwort nicht schon
kennt und der Lehrerin gefallen möchte. Simon wird 102 °C ablesen, Tanja 105 °C, Jan 99,5 °C, Maria 100,2 °C und Lea 54 °C, während Christian irgendwie überhaupt kein Resultat zustande bringt ; Peter wird das Wasser so lange kochen, bis das Becherglas trocken ist und das Thermo meter platzt. Zehn Minuten vor Ende der Stunde wird die Lehrerin diese wissenschaftlichen Ergebnisse einsam meln und mit der Sozialtechnologie beginnen. Simons Thermometer hatte beim Ablesen in einer Blase von über heißem Dampf gesteckt, bei Tanja waren Verunreinigun gen im Wasser, Jan hat das Wasser im Becherglas nicht wirklich zum Sieden kommen lassen, Marias Ergebnis zeigte die Auswirkung eines leicht erhöhten atmosphäri schen Drucks über Meereshöhe; Lea, Christian und Pe ter haben den Status kompetenter Forscher noch nicht ganz erreicht. Am Ende der Stunde wird jedes Kind den Eindruck haben, daß sein Versuch den Siedepunkt von Wasser bei exakt 100 °C bewiesen hat oder doch bewie sen hätte, wären nicht ein paar lokale Schwierigkeiten ge wesen, die aber die Erwachsenenwelt der Naturwissen schaft mit ihrem voll ausgebildeten Personal und ihren perfektionierten Apparaturen nicht tangieren. Diese zehn Minuten der Nachbereitung sind das ei gentlich Wichtige. Nähmen sich Lehrer und ihre Klas sen ein wenig Zeit, hier und jetzt über diese zehn Mi nuten nachzudenken, könnten sie fast alles lernen, was es über Wissenschaftssoziologie überhaupt zu wissen gibt. Denn diese zehn Minuten illustrieren die Tricks der professionellen naturwissenschaft lichen Forschung besser als alle Universitäts- oder Industrielabors mit ih
ren übersichtlichen, vorhersagbaren Resultaten. Edding ton, Michelson, Morley, Weber, Davis, Fleischmann, Pons, Jones, McConnell, Ungar, Crews, Pasteur und Pouchet – es sind lauter Simons, Tanjas, Jans, Marias, Leas, Chri stians und Peters, natürlich im blütenweißen Hemd und mit akademischen Titeln vor ihrem Namen. Sie alle war ten mit abenteuerlich variierenden Resultaten auf. Theo retiker stehen bereit, um – wie die Lehrerin – zu erklä ren und nach Möglichkeit zu versöhnen. Letzten Endes ist es aber die wissenschaftliche Gemeinde, die (als eine Art Schulleiterin) Ordnung in dieses Chaos bringt, in dem sie die wunderlichen Verrenkungen des kollektiven Golems »Naturwissenschaft« in einen ordentlichen, sau beren methodologischen Mythos verwandelt. Daran ist gar nichts Verkehrtes. Die einzige Sünde besteht darin, nicht zu wissen, daß es immer so ist.
nachwort der golem und die wissenschaftler
die zwei kulturen und der naturwissen schaftliche fundamentalismus C. P. Snow macht in seinem berühmten Essay über die zwei Kulturen das Verständnis des zweiten Haupt satzes der Thermodynamik zum Maßstab naturwissen schaftlicher Alphabetisierung. Die Untersuchungen des Golem der Forschung stehen stellvertretend für eine Rei he von Schriften, die ursprünglich aus dem Bereich der Geistes- und der Sozialwissenschaften hervorgehen und deren Verfasser den zweiten Hauptsatz der Thermodyna mik oder etwas Gleichwertiges verstanden haben. Statt diese Entwicklung zu begrüßen, haben viele Naturwis senschaftler darauf in einer Weise reagiert, die deutlich signalisiert, daß es ihnen eigentlich lieber gewesen wäre, wenn die Autoren auch weiterhin auf ihrer angestamm ten Seite der kulturellen Wasserscheide geblieben wären : Für diese »Wissenschaftskrieger« gibt es nur eine akzep table Art, über Naturwissenschaft zu reden, und das ist die der Naturwissenschaft ler selbst. Unser Golem der Forschung wurde nach seinem er sten Erscheinen 1993 in den sogenannten »Wissenschaftskrieg« hineingezogen, weil seine Verfasser und alle, für die sie stehen, nicht an das Modell der zwei getrennten Kulturen glauben. Wir finden, daß es nur darauf an
kommt, eine Insel zwischen den zwei Territorien anzu legen, auf der Vertreter beider Spezies existieren und ko existieren können. Und Besucher dieses neuen Landes müssen gar nicht in allem übereinstimmen – sie müssen nur wissen, wie sie miteinander reden und die Sitten und Gebräuche ihrer Nachbarn erlernen können. Vielleicht können sie die seltsamen Früchte dieses neuen Territori ums sogar irgendwann genießen, auch wenn sie niemals in ihren regulären Speiseplan eingehen werden. Dieser und auch der zweite Golem-Band 1 über Tech nologie sind Versuche, eine solche Insel zu bauen. Es geht darum, Nicht-Wissenschaftlern einiges aus der Na turwissenschaft zu erklären und auf der anderen Seite Naturwissenschaftlern (und Technikern) den soziolo gischen Blick auf ihr Tun näherzubringen. Wir wollten die Naturwissenschaft nicht im Jargon der Naturwissen schaftler darstellen ; unser Beruf ist es, Naturwissenschaft als Produkt des sozialen Lebens zu erkunden. Eine sol che neue Sichtweise stört zwangsläufig gewisse Aspekte der Alltagserfahrung, und sie stört manche Menschen mehr als andere. Die Wissenschaftskrieger, die die Go lem-Idee regelrecht hassen2 oder verachten, werden nie eine andere Auffassung von Naturwissenschaft gelten lassen, da sie für sie eine fundamentalistische Religi on zu sein scheint : geheimnisvoll, geoffenbart, hierar chisch, allumfassend, exklusiv, allmächtig und unfehl bar. Dies ist die Sprache des Kreuzzugs oder der He xenjagd ; das Ziel ist Sieg, Geständnis und Widerruf, wo immer Ketzerei entdeckt wird. Fundamentalisten pola risieren jede Diskussion; ihnen sind auch unsere schärf
sten Kritiker nicht kritisch genug und werden dafür ih rerseits verurteilt. Zum Glück ist die naturwissenschaft liche Gemeinde kein monolithischer Block ; das bisherige Echo auf un ser Buch war keineswegs einhellig. Jenseits des Wissen schaftskriegs herrschte Frieden, und so gab es sogar eini gen Beifall. Dem Buch sind zwei Preise verliehen worden, darunter ein naturwissenschaftlicher. Eine der positiv sten Rezensionen schrieb ein Naturwissenschaft ler für eine naturwissenschaft liche Zeitschrift. Soweit wir bis jetzt feststellen können, wird das Buch gern benutzt, um Studenten der Naturwissenschaften eine geisteswissen schaftliche Interpretation ihrer Arbeit an die Hand zu ge ben. Viele Naturwissenschaft ler finden die Golem-Meta pher passend – eine Art Gegengift gegen das arrogante und entmutigende Wissenschaftsmodell, das mancher orts in Umlauf ist. »Verdreht, aber amüsant« schrieb ein Rezensent der Zeitschrift Nature, und insofern wir unse ren Golem nicht restlos gezähmt wissen wollen, sind wir mit dieser Charakterisierung ganz zufrieden. Das Buch unternimmt aber zugleich den sehr ernsthaften Versuch zu zeigen, daß die Analyse der Naturwissenschaften nicht nur das legitime Anliegen von Naturwissenschaftlern al lein ist. Die Naturwissenschaften sind Teil einer Kultur, die uns allen gehört. Was unsere eigene wissenschaftliche Gemeinde betrifft, so ist auch sie nicht monolithisch. Eine besonders schrof fe Rezension stammte von einem Soziologen, während interessanterweise ein namhafter Wissenschaftstheoreti ker das Buch allzu moderat fand; er schrieb, daß der von
uns skizzierte erkenntnistheoretische Standpunkt »sich kaum von traditionellen philosophischen Ansichten un terscheidet«3. Wissenschaftstheoretiker und viele ande re Angehörige unserer Forschergemeinde sehen in dem Buch einen nützlichen Lehrtext und eine gute Möglich keit, um Nicht-Naturwissenschaftler in die Analyse der Naturwissenschaften einzuführen. Weder aus philosophischer noch aus der Sicht irgen deiner anderen wissenschaftlichen Disziplin strebt der Golem an, ein radikales Buch zu sein. Er ist kein Angriff auf die Naturwissenschaften ; ganz im Gegenteil. Aber daß man ihn im Wissenschaftskrieg so aufgefaßt hat, verrät vielleicht am meisten über den fundamentalisti schen Charakter dieser Debatte. Je mehr die Naturwis senschaftler sich auf solchen szientifischen Fundamenta lismus einlassen, desto weniger Respekt genießt notwen digerweise die Naturwissenschaft. Sie ist eine kulturelle Höchstleistung, und sie demonstriert überragende Be fähigung und Fachkenntnis – aber wir sind ganz sicher, daß sie sich nicht als komplette Weltanschauung legiti mieren muß, als eine neue Religion oder als Zertrüm merin falscher Götter.
lektüren Verschiedenheit der Meinung ohne ausgesprochene Po larisierung ist ein geschätzter Aspekt des akademischen Lebens. Was wir in diesem Buch und auch im Folgeband Der Golem der Technologie beschreiben, sind überwie gend Meinungsverschiedenheiten in Naturwissenschaft
und Technologie, und wie wir immer wieder betonen, sind sie kein Zeichen von schlechter Wissenschaft; es ist im Gegenteil die Unterdrückung von Meinungsverschie denheiten, die schlechte Wissenschaft hervorbringt. 1996 druckte Physics Today, die Hauspostille der ame rikanischen Physiker, zwei Kolumnen des Physikers an der Cornell University David Mermin, worin er allge mein am Golem, vor allem aber an unserem Kapitel über die Relativitätstheorie Kritik übte. Auf diese erste folgten weitere Kritiken sowie ein längerer Briefwechsel. Mer mins Intervention bezeichnete einen bedeutsamen Au genblick in der Geschichte unseres Buches, weil sie eher von einer gewissen Ratlosigkeit als von unverminderter Feindschaft zeugte. Nach einer sorgfältigen Lektüre warf Mermin scharfsinnige Fragen auf. Der Dialog dauert bis heute fort, und beide Seiten können daraus lernen. Vor kurzem machte Mermin folgende interessante Be merkung : »Sie müssen sich klar machen, daß die meisten Phy siker nicht lesen. Lesen ist kein Bestandteil unse rer Physikerkultur. Wenn wir ein Buch oder einen Aufsatz sehen, blättern wir darin herum und kom men zu einem Schluß. Wenn es uninteressant aus sieht, klappen wir es zu und vergessen es. Wenn es interessant aussieht, klappen wir es ebenfalls zu und versuchen uns selber auszudenken, worauf es hin aus will. Diese Herangehensweise versagt natürlich, wenn wir zum Beispiel Derrida lesen wollen. Und sie kann auch dann zu ernsthaften Schwierigkeiten füh
ren, wenn man sich weniger byzantinischen Texten nähern will, deren Autoren sich jedoch der Illusion hingeben, für Leser zu schreiben, die bereit sind, al lem zu folgen, was der Autor sagt. Daran sollten So ziologen denken, wenn sie zu Naturwissenschaft lern sprechen. Ich plädiere nicht für mundgerechte Hap pen ; ich bitte Sie aber dringend, daran zu denken, daß Sie für Textsurfer schreiben, die sich einbilden, im Interpolieren und Extrapolieren versierter zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind. Sie müssen alles sehr sorgfältig und nachdrücklich verdeutlichen.«4 Dieser Unterschied im Leseverhalten wurzelt in der Struktur der akademischen Disziplinen. Die sozialwis senschaftliche Literatur kann mehrdeutig sein, und um ihren Sinn zu erfassen, ist es notwendig – allerdings nicht immer hinreichend –, nicht nur zu lesen, sondern das Gelesene auch zu diskutieren. Gleichwohl gibt es bestimmte Autoren von einer notorischen Schwerver ständlichkeit ; so kann zum Beispiel kein Zweifel dar an bestehen, daß der Philosoph Ludwig Wittgenstein weiter und tiefer in die Struktur des menschlichen Ver stehens vorgedrungen ist als die meisten anderen Den ker, und doch gehen die Vorstellungen darüber ausein ander, was dieser Sachverhalt eigentlich für die Univer sitätsphilosophie und verwandte Unternehmungen wie übrigens auch die Soziologie des wissenschaft lichen Er kennens (Sociology of Scientific Knowledge) bedeutet, die sich stark auf Wittgenstein stützt. In den Geistes- und den Sozialwissenschaften sind Interpretationen offen
sichtlich vom intellektuellen und sozialen Hintergrund des jeweiligen Interpreten abhängig. In den mathematischen Wissenschaften ist dieser intel lektuelle und soziale Hintergrund viel einheitlicher, wo durch es viel schwieriger ist, die in jede Lektüre eingehen de Interpretation überhaupt zu bemerken. Das macht es auch viel leichter, einen mathematischen Aufsatz als et was durchgängig Konsequentes und Kohärentes zu lesen, so daß ein Fehler bei einem einzelnen Schritt als Fehler des Ganzen angesehen werden kann. Wie wir aus Mer mins Erörterung wissen, ist es dieser Sachverhalt, der Naturwissenschaftler dazu ermutigt, Zitate aus dem Zu sammenhang zu reißen und als Beweis für die Inkohä renz eines ganzen Themenkomplexes zu präsentieren. Für den Naturwissenschaftler verhält es sich mit einem Aufsatz wie mit einem Ei – ist eine Stelle faul, muß alles faul sein. Für den Sozialwissenschaft ler dagegen zeugt es gerade von mangelnder Wissenschaft lichkeit, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen. Diese unterschied lichen Weisen des Lesens könnte man auf unserer neu en Insel erforschen, wenn sie denn einmal entsteht. Die Botschaft des Golem lautet natürlich, daß es immer mehr interpretatorischen Spielraum gibt, als man glaubt, auch in Naturwissenschaft und Technologie. Auf unserer Insel könnten wir vielleicht auch die be sondere Bedeutung subtiler Akzentverschiebungen ent decken. Zum Beispiel nimmt sich, was für uns eine kleine Randbemerkung bei einer physikalischen Beschreibung war, für Physiker offenbar als bedeutender Fehler aus. Im Falle der Relativitätstheorie war das, was wir für die eher
unwesentlichen Aspekte des Textes hielten, von größter Wichtigkeit für Naturwissenschaftler – sie meinten wohl, wir wollten an der Sicherheit der Theorie etwas ausset zen. Umgekehrt ist es nicht unsere Aufgabe, der Relati vitätstheorie zu Anerkennung zu verhelfen (eine enorme Arbeit, die Historikern und Physikern noch bevorsteht) ; was wir zeigen wollen ist, daß das meiste von dem, was Naturwissenschaftler dem Rest der Gesellschaft über die Begründung der Relativitätstheorie gesagt haben, falsch ist. Daß man gemeint hat, wir täten etwas darüber hinaus, mag mit dem besonderen Kontext der Relativitätstheorie zusammenhängen. Sie wurde und wird bis heute von ei ner kleinen Gruppe naturwissenschaftlicher Außenseiter bestritten. Also nimmt man an, wir hätten diese skepti sche Gruppe gewissermaßen trösten wollen ; aber das war sowenig das Ziel unseres Unternehmens, daß wir noch nicht einmal das Vorhandensein dieser Debatte bemerkt hatten. Dergleichen würde wiederum auf unserer kleinen Insel ganz von selbst ans Licht kommen, wo man bereits Gespräche über einen Vorfrieden geführt hätte. Die diversen Aspekte eines Textes sind also für un terschiedliche wissenschaftliche Gemeinden von unter schiedlicher Wichtigkeit. Wir haben den Text des Golem an einzelnen Stellen korrigiert, um ihn nach Möglichkeit dem anzunähern, was dem Weltbild beider Seiten ent spricht, aber solange unsere Insel nicht wesentlich bes ser befestigt ist, ist wohl nicht anzunehmen, daß wir es überhaupt jemandem recht machen können. Schließlich wollen wir noch hervorheben : Unser Buch leistet seinen Beitrag vor dem Hintergrund Hunderter
Bücher, die alle die Naturwissenschaft uneingeschränkt preisen, und vor dem Hintergrund Dutzender Neuer scheinungen, die jedes Jahr zu diesem Berg hinzukom men. Da besteht kaum die Gefahr, daß der Golem der Forschung das Gebäude der Naturwissenschaft zum Ein sturz bringen wird !
schwachstellen Wir stellen unseren Bericht über Michelsons und Mor leys Versuch und über Eddingtons Beobachtung der Son nenfinsternis von 1919 dem entgegen, was man nach der allgemeinen Überzeugung über diese Ereignisse zu wis sen glaubt. Wir schreiben, daß diese Versuche in den Standarddarstellungen von der Entwicklung der Relativi tätstheorie eine zentrale Rolle gespielt haben und generell als ausschlaggebend und entscheidend präsentiert wor den sind. Mermin hat uns 1996 in Physics Today gefragt, für wen unserer Meinung nach denn diese Standardge schichte bestimmt war, da sie »von nicht näher bezeich neten Sprechern und Hörern« nur so »wimmle«.5 Die Vorstellung, daß es so etwas wie eine »allgemeine Überzeugung« gebe, geht zugegebenermaßen auf unse re frühere Ausbildung als Physiker zurück. Die Leser schaft, die wir uns vorstellen, ist erstens das allgemeine Publikum, zweitens der allgemein gebildete Naturwis senschaftler, drittens der Naturwissenschaft ler in seiner Rolle als Bürger und Mitglied einer Gesellschaft. Wie wir ausdrücklich schreiben, enthält der Golem für den prak tizierenden Naturwissenschaftler als solchen keine wich
tige Botschaft außer der, daß angehende Forscher wissen sollten, daß das Werk ihrer Heroen keineswegs von jener entmutigenden Vollkommenheit war, die sonst ständig an die Wand gemalt wird. Golem-Wissenschaft könnte sich also für potentielle Anwärter der Naturwissenschaft reizvoll darstellen, die womöglich gerade daran verzwei feln, jemals zu jener Unangreifbarkeit und Makellosigkeit vorzudringen, die dem Werk der Großen und Guten in der Naturwissenschaft so gerne zugeschrieben wird. Angeregt durch Mermins kritische Einwände, haben wir die Anfänge der Rezeption der Relativitätstheorie in der Öffentlichkeit eingehender ergründet : Beim An fang beginnend, studierten wir den Beitrag der Zeitung The Times zur Interpretation von Eddingtons Beobach tungen. The Times vom 7. November 1919 meldete in der Schlagzeile (S. 12) : Revolution in der Naturwissenschaft – Neue Theorie des Universums – Newtons Vorstellungen umgestoßen und fuhr darunter fort: »Es wurde von allen Seiten anerkannt, daß diese Be obachtungen für die Verifikation der Voraussage des berühmten Physikers Einstein entscheidend seien.« An dieser Interpretation im Sinne Einsteins hielt das Blatt mehrere Wochen lang fest, wobei es diejenigen mit Hohn bedachte, die Eddingtons Resultate nicht für bare Münze nahmen. Die Ausgabe vom 28. Novem
ber brachte dann einen namentlich gezeichneten Arti kel von Einstein selbst, der einen deutlich besonneneren Ton anschlug. Danach veröffentlichte The Times weiter namentlich gezeichnete Artikel von jenen Leuchten der Wissenschaft, die das Urteil der Zeitung über die Beob achtung Eddingtons und ihre Bedeutung für die Relati vitätstheorie teilten.6 Ein schlagendes Beispiel aus etwas jüngerer Zeit ist die vielgelesene Einführung in die Relativitätstheorie Rela tivitätstheorie für jedermann von James A. Coleman. Sie erschien zuerst in London 1954, dann als Taschenbuch und in deutscher Übersetzung 1959 und in überarbeite ter Form 1969. Sie wird bis heute viel gekauft; das Im pressum verzeichnet viele Auflagen. Allein in England wurden 50 000 Exemplare des Buches verkauft. Über Michelson und Morley sagt Coleman folgen des : »Sie wiederholten den Versuch zu verschiedenen Ta geszeiten und in verschiedenen Jahreszeiten, aber die Ergebnisse waren immer die gleichen – sie wie sen keinen Ätherwind nach. Der Michelson-MorleyVersuch ist mehrere Male mit zunehmender Genau igkeit wiederholt worden.«7 Wie wir aus Kapitel 2 wissen, hätten Michelson und Morley den Versuch zu verschiedenen Jahreszeiten wie derholen müssen, um zu zeigen, daß nicht nur das In terferometer als Meßgerät für die Geschwindigkeit der Erde untauglich war, sondern daß auch die Ätherdrift
gleich Null war ; aber sie wiederholten den Versuch nicht. Coleman behauptet aber genau dies. Außerdem erwähnt er nicht, daß zumindest einer der genaueren Versuche einen Ätherwind feststellte ; auch das ist irreführend. Zu Eddingtons Expeditionen sagt Coleman : »Die Sobral-Gruppe stellte fest, daß ihre Sterne sich im Durchschnitt um 1,98 Bogensekunden bewegt hatten, und die der Principe-Gruppen hatten sich um 1,6 Bogensekunden bewegt. Diese Nähe zu den von Einstein vorausgesagten 1,74 Bogensekunden war ausreichend, um den Effekt zu verifizieren. Seit her sind mehr als zehn verschiedene Resultate be richtet worden, die die Voraussage ebenfalls bestä tigen.«8 Coleman erzählt hier also genau die falsche Standard-Ge schichte dieser Beobachtungen, der wir entgegentreten. Übrigens vermutete Mermin zu Beginn unseres Mei nungsaustauschs, wir hätten uns nur deshalb die Atom bombe als Beispiel einer Bestätigung der Relativitätstheo rie ausgesucht, um ein möglichst schlechtes Licht auf die Naturwissenschaft zu werfen. Das überraschte uns ; denn nichts lag uns ferner. Zu unserer Freude stellen wir fest, daß auch die Relativitätstheorie für jedermann, verfaßt von einem Naturwissenschaftler, dem es allerdings um ein tieferes Verständnis der Öffentlichkeit für die Na turwissenschaft zu tun ist, sich zur Bestätigung der Re lativitätstheorie auf die Atom- und die Wasserstoffbom be beruft:
»Wie heute jedermann weiß, war das erste überzeu gende Beispiel [für die Masse-Energie-Umwand lung] die Explosion der ersten Atombombe am 16. Juli 1945 in Alamagordo in Neu-Mexiko.«9 Und »atom- und Wasserstoffbomben. Seit Cockcroft und Walton sind viele weitere Versuche durchge führt worden, die die Äquivalenz von Masse und En ergie weiter verifiziert haben. Sie gipfelten in wahr haft erschütternden Beweisen, als am 16. Juli 1945 in Alamagordo in Neu-Mexiko die erste Atombom be und am 1. November 1952 auf der Marshallinsel im Pazifik die erste ausgewachsene Wasserstoffbom be detonierte. Beide wandten die [Relativitäts-]Theo rie an.«10
wissenschaftsgeschichte aus dem lehrbuch Soviel zu einer einflußreichen Zeitung und einem po pulärwissenschaftlichen Buch. Wie steht es aber um die in den physikalischen Wissenschaften Gebildeten? Aka demisch geschulte Naturwissenschaftler sind gleichzeitig gewöhnliche Bürger und sind damit Vermittler, die ei nem breiteren Publikum die Bedeutung der Naturwissen schaft nahebringen könnten. Wenn sie sich auf dem Ge biet der Relativitätstheorie spezialisieren, bekommen sie möglicherweise ein differenzierteres Verständnis für die
Geschichte ihres Fachs. Interessant ist aber, was sie selbst zunächst in ihren Lehrbüchern vorfinden werden. Ein kurzer Überblick über die Lehrbücher der allge meinen Physik und der Relativitätstheorie hat uns inter essante Aspekte der Lehrbuchgeschichte der Physik of fenbart : Von sechzehn Lehrbuchdarstellungen der Be obachtungen Eddingtons und ihrer Bedeutung geben zwölf irreführende Informationen über die Genauig keit des Versuchs ; drei davon stellen unzutreffende po sitive Behauptungen über spätere Versuche auf. Am er staunlichsten ist vielleicht, daß die Wahrscheinlichkeit einer historisch korrekten Darstellung weder vom Er scheinungsjahr des Buches noch vom wissenschaft lichen Rang seines Autors abhängig scheint. Pauli ist ein gutes Beispiel für einen Wissenschaftler von hohem Rang, der die Dinge falsch erzählt. Der folgende Absatz stammt aus seiner Darstellung der Relativitätstheorie, die zuerst 1921 erschien und 1963 neu aufgelegt wurde : »Eine noch endgültigere Bestätigung wie beim Mer kurperihel hat die Relativitätstheorie neuerdings bei der Strahlenablenkung erfahren. Nach [einer Quel le] erfährt nämlich ein am Sonnenrand vorbeige hender Lichtstrahl eine Ablenkung von e = 1,75˝. Dies läßt sich prüfen durch Beobachtung von Fix sternen in der Nähe der Sonne bei totalen Sonnen finsternissen. Die anläßlich der totalen Sonnenfin sternis vom 29. Mai 1919 ausgerüsteten Expeditio nen in Brasilien und auf der Insel Principe fanden
nun in der Tat, daß der von Einstein vorausgesagte Effekt vorhanden ist. Auch quantitativ ist die Über einstimmung eine gute. Die erstgenannte Expediti on fand nämlich im Mittel für die auf den Sonnen rand reduzierte Sternablenkung 1,98˝ ± 0,12˝, die zweite Expedition 1,61 ± 0,30˝.«11 Bei Sciama hingegen finden wir das Beispiel eines hoch rangigen Wissenschaftlers, der die Dinge richtig er zählt : »Leider ist das Arbeiten bei Sonnenfinsternissen schwierig, und die tatsächlichen Ergebnisse sind enttäuschend. Den ersten Versuch unternahmen 1919 Eddington und Dyson. Die Meldungen vom Er folg der Expedition sorgten weltweit für eine Sensa tion, zum Teil aus dramatischen wissenschaft lichen Gründen. Eddington sprach später von dem aufre gendsten Ereignis, an das ich mich aus meiner eige nen astronomischen Erfahrung erinneren Doch iro nischerweise war Einsteins Voraussage gar nicht so eindeutig verifiziert worden, wie man einst geglaubt hat. […] Es ist schwer, die Bedeutung [aller Eklip sisbeobachtungen] einzuschätzen, da andere Astro nomen nach einer neuerlichen Diskussion desselben Materials zu anderen Resultaten gelangt sind. Man kann sogar den Verdacht hegen, daß, hätten die Be obachter nicht den Zahlenwert gekannt, der von ih nen ›erwartet‹ wurde, die veröffentlichten Resul tate stärker voneinander abgewichen wären, als sie
es tatsächlich tun. Es gibt in der Astronomie eine ganze Reihe von Fällen, wo die Kenntnis der ›richti gen‹ Antwort die Beobachter zu Resultaten geführt hat, von denen später gezeigt wurde, daß sie außer halb der Nachweismöglichkeiten ihrer Apparatur la gen.«12 Was nun den Michelson-Morley-Versuch betrifft, so wird in neun der 26 Lehrbücher unserer Stichprobe be richtet oder impliziert, daß der ursprüngliche Versuch sechs Monate später oder »zu anderen Jahreszeiten« von Michelson und Morley wiederholt worden sei. Die Wie derholung zu anderen Jahreszeiten war notwendig, um zu beweisen, daß es keine Ätherdrift gab, und Michelson und Morley hatten diesen Punkt auch in ihrem ur sprünglichen Protokoll aufgeführt ; zur tatsächlichen Durchführung kam es aber eben nicht. In weiteren sechs Darstellungen wird kategorisch – aber doch fälschlich – behauptet, daß niemals eine po sitive Ätherdrift gefunden worden sei: Die bemerkens werte Ausnahme bilden die Beobachtungen Millers. Eine weitere Darstellung stellt Millers Ergebnis fälschlicher weise als statistisch irrelevant hin, weil sie Millers Re sultat mit dessen späterer Interpretation durcheinander bringt. Zwei weitere Darstellungen geben dem Versuch als einer Bestätigung der Speziellen Relativitätstheorie ein weit größeres historisches Gewicht, als ihm für sich betrachtet zukommt.13 Von den 26 Darstellungen liefern also 16 falsche Fakten, zwei verleihen den Fakten eine falsche Bedeutung. Natür
lich gibt es noch viele andere Behandlungen dieses Stof fes, die nur den Michelson-Morley-Versuch, aber keine seiner Wiederholungen erwähnen und ihm durch diese Unterlassung eine falsche historische Bedeutung zuschrei ben. Und auch hier gibt es besonnenere Darstellungen, die den weiteren Verlauf der Geschichte gar nicht berühren. So schrieb Herman Bondi 1967, der Michelson-MorleyVersuch und ähnliche zeitgenössische Experimente seien »sogar heute noch schwierige Versuche, bei denen keine große Genauigkeit zu erreichen ist«; auf andere Darstel lungen jüngeren Datums hatte das aber keine Auswir kungen. Es scheint, daß es eine selbsterhaltende Traditi on des Lehrbuchschreibens gibt, die an der Legende vom entscheidenden Charakter dieser Experimente unbedingt festhält, von der sich nur Berufshistoriker und einige we nige Naturwissenschaft ler freimachen können. Soviel hierzu; immerhin müssen wir einen Fehler ein räumen. Ein Motto aus dem Buch von Einstein und In feld, das wir ursprünglich dem Abschnitt über Edding ton vorangestellt hatten, war schlecht gewählt, denn die genauere Lektüre ihres Buches (und hier danken wir Da vid Mermin für seine Hilfe) ergibt, daß in dem besonde ren Kontext dieser Diskussion Einstein und Infeld nicht behauptet haben, daß Eddingtons Messung die Newton sche These erledigt habe, sondern nur, daß sie defini tiv das Vorhandensein einer gewissen Ablenkung zeig te. Darum haben wir in der vorliegenden Ausgabe das bewußte Motto durch zwei andere ersetzt. Es sei jedoch bemerkt, daß auch diese selben Autoren (Einstein und Infeld) nicht gegen historische Irrtümer und Entstellun
gen gefeit sind; ihre Darstellung des Michelson-MorleyVersuchs zum Beispiel in demselben Buch führt in die Irre und das sowohl, was die Bedeutung des Versuchs, als auch, was die Behauptung betrifft, alle derartigen Versu che seien negativ verlaufen : »Mit Rücksicht auf die kleinen Zeitdifferenzen, um die es dabei geht, muß der Versuchsapparat ganz be sonders raffiniert gebaut sein. In diesem Sinne wur de der berühmte Michelson-Morley-Versuch durch geführt, dessen Ergebnis einem Todesurteil für die Hypothese von dem ruhenden Äthermeer gleich kommt, in dem die ganze Materie umhertreiben sollte. Es konnte keinerlei Zusammenhang zwischen Lichtgeschwindigkeit und Strahlenrichtung festge stellt werden. […] Alle diesbezüglichen Experimen te führten einheitlich zu dem gleichen negativen Er gebnis wie der Michelson-Morley-Versuch. Niemals zeigte sich der geringste Zusammenhang der betref fenden Erscheinungen mit der Bewegungsrichtung der Erde.«14 Was also die Erörterung des Michelson-Morley-Ver suchs betrifft, fügt sich das Buch von Einstein und In feld in den von den anderen Lehrbüchern vermittelten Gesamteindruck. (David Mermins eigenes Buch betont übrigens die zentrale Rolle des Michelson-Morley-Ver suchs als Experiment zur Speziellen Relativitätstheorie und behauptet, daß Versuche »uns zwingen«, die Spezi elle Relativitätstheorie anzuerkennen.)15
Wenn man freilich vom modernen Verständnis der Physik ausgeht, ist keine dieser Lehrbuchdarstellungen falsch : Aus dem Blickwinkel der heutigen Physik hätte der Versuch sehr wohl sechs Monate später wiederholt werden können – wir wissen heute, mit welchem Resul tat –, und die Tatsache, daß es andere, ähnliche Versuche zu anderen Jahreszeiten gegeben hat, macht die zitier ten irreführenden Stellen aus physikalischer Sicht sogar noch harmloser. Und aus der Sicht der Physik hätte es weder Millers Versuch noch sein Resultat, noch den ihm verliehenen Preis der American Association for the Ad vancement of Physics und seine Publikation in Reviews of Modern Physics von 1933 jemals zu geben brauchen, weil sie allesamt im Irrtum waren. Für die Physik könnte also ihre eigene Geschichte auch so gewesen sein, wie sie in den falschen Standardhistorien dargestellt wird. Sie bieten in Wirklichkeit nicht Geschichte der Physik – sie bieten Physik im geschichtlichen Gewand. Aber weshalb sind wir dann so pingelig ? Einfach des halb, weil die Geschichte der Physik Folgen hat, die nicht nur die Physik allein betreffen. Sie hat zum Beispiel Fol gen für die Rolle der Physiker und die ihres Fachwissens in der Gesellschaft. Wegen dieser Rolle ist es wichtig, daß die Geschichte der Physik richtig erzählt wird. Eine ver einfachte Version mag für den angehenden Physikstu denten völlig in Ordnung sein, solange er eben dies ist : ein angehender Physikstudent, dem es bestimmte Ver einfachungen für den Moment leichter machen, Physik zu lernen; aber den Mitgliedern einer Gesellschaft leistet dieselbe Geschichte einen schlechten Dienst, gleichgültig,
ob er oder sie ein Naturwissenschaftler, ein Ex-Natur wissenschaftler oder ein Nicht-Naturwissenschaftler ist. Die Geschichte der Physik ist außerhalb der Physik wich tig und muß akkurat wiedergeben, wie die Physiker zu ihren Schlußfolgerungen gelangen. Für Physiker als sol che ist es völlig unschädlich, wenn die Geschichte ihrer Disziplin auf eine Reihe von Miniaturlegenden reduziert wird; aber diese Legenden dürfen außerhalb der Physik nie den Eindruck erwecken, als wären Schlußfolgerun gen in umstrittenen physikalischen Fragen eine leichte Sache, bei der es nicht noch viel Zeit und Spielraum für zu treffende Entscheidungen, Einwände und Interpre tationen gäbe.16 Was für Physiker an der Physik wichtig ist, ist das Ergebnis einer Reihe von Versuchen ; was für Nicht-Physiker an der Physik wichtig ist, ist die Art und Weise, wie dieses Ergebnis zustande kommt. Es ist auch nicht so, daß es uns vor allem um die Men schen geht, die vielleicht die eine oder andere der oben besprochenen Stellen tatsächlich gelesen haben ; es geht uns um alle, die die Botschaft erreicht. Der Leser dieser Textstellen nimmt vielleicht ein bestimmtes Bild von der Wissenschaft mit und gibt es durch Worte, Taten, Über zeugungen und das, was all dies als klar und selbstver ständlich vermittelt, an andere weiter. Der Soziologe wür de sagen, daß diese Stellen dazu beitragen, den kulturellen Hintergrund zu schaffen, vor dem sich das Verständnis vom Wesen der Naturwissenschaft bildet. Wie es der Zufall wollte, sind wir bei der Vorberei tung des zweiten Golem-Bandes auf ein Zitat gestoßen, das veranschaulicht, wie hartnäckig die Michelson-Mor
ley-Legende außerhalb der Physik fortlebt. Das Wort hat nun ein bekannter Nationalökonom und Berater der bri tischen Regierung, der über das Experiment in der Volks wirtschaft folgendes sagt: »[Volkswirtschaftliche Prognosen] sind ausnahms los Wahrscheinlichkeitsaussagen. Alle Ökonome trie orientiert sich an Wahrscheinlichkeitsaussagen. Man sagt also : Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses oder jenes Resultat nicht mit der Theorie überein stimmt, beträgt weniger als fünf Prozent oder der gleichen; irgendwo muß man eine Grenze ziehen. Man hat nicht das eine definitive Experiment, das einem sagt, daß die Lichtgeschwindigkeit in allen Richtungen gleich ist.«17 Treffender hätte man die Auswirkung der Michelson Morley-Legende und aller anderen »ausschlaggeben den« Experimente in den Naturwissenschaften, für die sie steht, nicht ausdrücken können.
taue und stränge Die Lehrbücher machen es falsch, aber es fragt sich doch in einem Punkt immer noch, ob wir es richtig ma chen. David Mermin wirft uns vor, wir würden die Ge schichte der Relativitätstheorie falsch darstellen. Sein Kollege Kurt Gottfried und der Nobelpreisträger Ken neth G. Wilson, die gemeinsam einen Aufsatz für Na ture geschrieben haben, kreiden uns ebenfalls an, daß
wir es unterlassen, die vielen anderen seinerzeit auftau chenden Beweise für die Relativitätstheorie zu beschrei ben, und daß wir unseren zwei »Beweisen« eine zu zen trale Rolle einräumen. Wir müssen diesen Vorwurf sorgfältig untersuchen. Trifft es zu, daß wir all das außer acht lassen, was doch jedermann über die Geschichte der Relativitätstheorie weiß ? Und daß es andere »Beweise« gab, die wir vernach lässigt haben ? Und daß diese Vernachlässigung unsere Darstellung verzerrt hat ? Trifft es zu, daß den Natur wissenschaftlern seinerzeit andere Beweise klar vor Au gen standen, die nur aus den Lehrbüchern der Physik geschichte verschwunden sind, oder können wir deren Wichtigkeit überhaupt nur im Rückblick ermessen? Unser kurzer Überblick über die Lehrbücher scheint die erste Frage zu verneinen – jedenfalls was die Spezi elle Relativitätstheorie angeht ; die meisten Lehrbücher präsentieren den Michelson-Morley-Versuch und lassen es dabei bewenden. Um die anderen in modernen Dar stellungen erörterten Versuche zu finden, muß man sich tief in die Wissenschaftsgeschichte vergraben. Außerdem haben wir tatsächlich »die Bombe« als zusätzlichen Be weis erwähnt, aber das haben unsere Kritiker als irrele vant abgetan. Hätten wir versucht, unsere Leser auf den neuesten Stand zu bringen, hätten wir noch den alltäg lichen Einsatz der Speziellen Relativitätstheorie in Teil chenbeschleunigern sowie die jüngeren Bestätigungen der Allgemeinen Relativitätstheorie erwähnen können; aber darum ging es uns nicht. (Was die Allgemeine Re lativitätstheorie betrifft, so haben wir natürlich andere
relevante Beobachtungen wie die Rotverschiebung und die Anomalie im Merkurperihel erwähnt.) Immerhin gab es in der frühen Phase andere Nachwei se der Speziellen Relativitätstheorie, die wir der Vollstän digkeit halber hätten erwähnen können. Doch je weiter und detaillierter wir diese frühe Periode erforschen, um so verwirrender wird das Bild. Jeder dieser ersten Ver suche könnte auf dieselbe Weise nachanalysiert werden, wie es mit dem Versuch von Michelson und Morley ge schehen ist. Doch unsere Absicht war es, einer Legende entgegenzuwirken, und nicht, eine definitive Geschich te der Physik vorzulegen. Liest man den Golem allerdings als Versuch, die Gül tigkeit der Relativitätstheorie in Frage zu stellen – das scheint ja gelegentlich geschehen zu sein –, dann ist seine Darstellung allerdings verzerrend und der Sache in der Tat abträglich. (Eben um diesem Mißverständnis vorzu beugen, haben wir in unseren Fallgeschichten ein paar kleinere Änderungen vorgenommen.) Die subtilste Kritik des Relativitäts-Kapitels lautete, daß es die vielen feinen wissenschaftsgeschichtlichen Fä den ignoriert, die in ihrer Gesamtheit die wissenschaft liche Stärke des Ganzen ausmachen. Indem wir uns mit isolierten Versuchen befaßten – so unsere Kritiker –, lie ferten wir selbst nur ein unvollständiges, verzerrtes Bild von der Art und Weise, wie Naturwissenschaft ler zu ih ren Schlußfolgerungen gelangen. Daß man zu Schluß folgerungen erst durch eine allmähliche Annäherung der Geister auf dem ausgedehnten Feld der Diskussi on gelangt und nicht durch plötzliche Demonstrationen
technischer Virtuosität, war allerdings gerade das, was wir sichtbar machen wollten; denn gerade dies verdeut licht, warum die Naturwissenschaft auf ihren umstritte nen Gebieten nicht schnell und entscheidend eingreifen kann. Wir beschreiben die typische Art, wie man auf solchen Gebieten zu Schlußfolgerungen gelangt, näm lich durch zunehmende Einigung darüber, sich einig zu werden; Physiker sprechen naheliegenderweise von ei nem wachsenden Beweiskorpus. Doch Mermin räumt ein, daß die einzelnen Beweisstränge für sich genom men schwach sein mögen. Er empfiehlt die folgende Ge schichtstheorie : »Eine Vorstellung von Wissenschaft, die der Golem der Forschung nicht berücksichtigt, beinhaltet, daß das Vorhandensein vieler verschiedener Beweisstränge aus einer Hypothese ein Faktum machen kann, auch wenn es kein einzelnes unangreifbares, entscheidendes Experiment gibt.« Daß Naturwissenschaftler zu ihren Schlußfolgerungen gelangen, indem sie viele Beweisstränge verzwirnen, von denen jeder einzelne auf schwachen Füßen steht, wollen wir mit Sicherheit nicht bestreiten. Gerade in dem die serart kritisierten Kapitel schrieben wir : »Was für das Verhältnis von je zwei dieser Beobach tungsmengen gilt, tut dies um so mehr für alle Tests, denen die Relativitätstheorie seinerzeit unterzogen wurde. Kein Test war für sich genommen entschei
dend oder klar definiert, aber zusammengenommen ergaben sie eine überwältigende Strömung.«18 Der Golem »berücksichtigt« diese Vorstellung von der Wissenschaft also durchaus. Sein Fokus liegt allerdings gerade auf der Schwäche der einzelnen Beweisstränge. Um adäquat untersuchen zu können, wie solche ein zelnen, schwachen Beweisstränge sich zu einem großen, überwältigenden Beweis ergänzen, bedarf es der histo rischen Analyse : Zunächst muß gezeigt werden, daß die einzelnen Beweisstränge wirklich schwach waren. Es ist natürlich immer ein riskantes Unterfangen, etwas histo risch Bedeutendes aus späteren Darstellungen lernen zu wollen, die primär für Naturwissenschaft ler geschrieben worden sind. So rügte uns ein Kritiker, weil wir nicht auf Wolfgang Paulis Übersichtsartikel von 1921 zurück gegriffen haben, um unser Mißverständnis zu korrigie ren ; Paulis (oben mitgeteilte) Darstellung der Eklipsis beobachtungen gibt jedoch wenig Anlaß zu besonderem Zutrauen. Was naturwissenschaftlich von Bedeutung ist, ist es noch nicht historisch.
beweisstränge Um zu verstehen, wie einzelne Beweisstränge sich er gänzen können, muß man nicht wissen, wie die Versuche sich rückblickend darstellen, sondern was sie seinerzeit für die Naturwissenschaftler bedeutet haben. Das her auszuarbeiten ist allerdings schwierig. So meinte Kurt Gottfried in den ersten Diskussionen, wir hätten auf die
Versuche von Trouton und Noble eingehen sollen, pflich tete uns aber später bei, daß diese Arbeiten zu kompli ziert waren, um als entscheidend behandelt zu werden. In Gottfried und Wilsons 1997 erschienener Replik auf den Golem wird eine Zahl genannt, die sich auf Resul tate von im Jahre 1909 und zwischen 1914 und 1916 vor genommenen Messungen des Verhältnisses der Ladung eines Elektrons zu seiner Restmasse bezieht. Diese Zahl wird dort als ein definitiver Beweis für die Spezielle Re lativitätstheorie hingestellt. Zufällig konnte uns ein Hi storiker, Richard Staley, noch weitere Informationen zu diesem Versuch verschaffen, einschließlich der Tatsachen, daß die ersten Resultate unverzüglich in Frage gestellt wurden (von dem Naturwissenschaftler Bestelmeyer) und daß oft behauptet wird, unzweideutige elektronentheo retische Resultate zugunsten der Relativitätstheorie hät ten sich erst nach 1914 eingestellt. Mehr noch : Wie eine Studie aus dem Jahre 1938 (von Zahn und Spees) erge ben zu haben scheint, war keiner der früheren Versuche (auch der 1909 mitgeteilte von Bucherer und der 1914 mitgeteilte von Neumann) genau genug für eine Unter scheidung zwischen der Relativitätstheorie und anderen Theorien über das Verhalten des Elektrons bei jenen ho hen Geschwindigkeiten, die relativitätstheoretische Ef fekte hervorbringen würden. (In einem früheren Über sichtsartikel hatte Gerlach einen ganz anderen Stand punkt vertreten. Wir wollen jedoch lediglich festhalten, daß solche Artikel von Naturwissenschaft lern radikal verschieden ausfallen können; wir behaupten nicht, daß Zahn und Spees recht hatten und Gerlach unrecht, son
dern nur, daß der Historiker nicht aus einem einzelnen Artikel auf das Vorhandensein eines Konsenses schließen darf.) Trotz der Bedeutung, die diese Versuche für die Aufnahme der Speziellen Relativitätstheorie in der Pha se ihrer ersten Anerkennung in Deutschland gehabt ha ben mögen, scheinen sie also ebenso umstritten gewesen zu sein wie der Michelson-Morley-Versuch, wenn nicht noch umstrittener. Das ist einer der Gründe, weshalb wir heute der Meinung sind, daß der Michelson-MorleyVersuch, so kontrovers er war, für die Anerkennung der Relativitätstheorie in dieser Phase wichtiger war, als wir und unsere Kritiker anfangs geglaubt haben.19
typen der wissenschafts geschichtsschreibung Über die kritischen Einwände gegen die anderen Ver suche, mit denen die Spezielle Relativitätstheorie gestützt wurde, herrscht allgemeine Unkenntnis, und diese Un kenntnis veranschaulicht sehr gut, wie für den Physiker sich die Vergangenheit unter dem Eindruck des wissen schaftlichen Erfolgs einer Theorie verändern kann. Es ist sehr schwierig, die Bedeutung zu rekonstruieren, die ein Versuch zu seiner Zeit gehabt hat ; das liegt nicht zuletzt daran, daß so viele Faktoren zusammenwirken, um die Wissenschaftsgeschichte in eine den Naturwissenschaf ten dienliche Form zu pressen. Innerhalb »der« Wissenschaftsgeschichte kann man mindestens sechs verschiedene Richtungen unterschei den : die Lehrbuchgeschichte, die offizielle Geschichte, die
Geschichte aus der Sicht der naturwissenschaftlichen Re zensenten, eine reflektierende Geschichte, eine analyti sche Geschichte und eine interpretierende Geschichte. Die Wissenschaftsgeschichte der Lehrbücher leistet jene Art von Simplifizierung, die wir gerade erörtert haben. Sie ist keine eigentliche Geschichtsschreibung, sondern in historisierendem Stil vorgetragene Naturwissenschaft. Die offizielle Geschichte der Wissenschaft verteilt Lorbeeren und verschafft einer Disziplin ihr Selbstver ständnis. Doch Lorbeeren können erst dann gültig ver teilt werden, wenn eine Kontroverse beigelegt oder eine Ungewißheit beseitigt ist ; daher erfolgt diese Art der Wissenschaftsgeschichtsschreibung für gewöhnlich erst lange nach den von ihr beschriebenen Ereignissen. (Aus demselben Grund werden Nobelpreise oft erst lange im nachhinein verliehen – wenn da auch gelegentlich Pan nen vorkommen.) Die offizielle Geschichtsschreibung ist ein eigenes Betätigungsfeld innerhalb einer naturwis senschaftlichen Disziplin. Sie dient vielleicht einem ver gleichbaren Zweck wie die politische Geschichtsschrei bung, die die Abfolge der wichtigen Könige, Königinnen, Krieger und Staatsmänner zu ihrem Gegenstand macht. Doch die offizielle Geschichte der Naturwissenschaften kann nichts zu deren Verständnis beitragen. Denn es ge hört zum Beispiel zu ihren Besonderheiten, daß es eine Geschichte von Helden ist ; Verlierer kommen in der of fiziellen Wissenschaftsgeschichte nur in unbedeutenden Mengen vor. Um jedoch das Wesen der Naturwissen schaft zu verstehen, müssen wir genauso verstehen, wa rum ihre Verlierer scheitern, wie, warum ihre Helden
Erfolg haben. Die offizielle Geschichte macht traditio nellerweise das Gros der Wissenschaftshistoriographie aus; auch aus diesem Grund werden einige der weiter un ten diskutierten weniger respektvollen Geschichten der Naturwissenschaft oft als Attacke mißverstanden. Noch schlimmer ist es, wenn die Autoren wissenschaft liche Außenseiter sind. Die Wissenschaftsgeschichte der Rezensenten wird na türlich von Rezensenten einer bestimmten wissenschaft li chen Disziplin geschrieben. Ihre Kommentare und Über sichtsartikel sind Versuche, in ein verwirrendes Gebiet wissenschaftliche Ordnung zu bringen, ihr Ziel ist es nicht, exakt den historischen Stand der Dinge zu reflek tieren. Aus diesem Grund bittet man auch erstklassige Naturwissenschaftler, diese Artikel zu schreiben – es ist eine angesehene Tätigkeit. In der Geschichtsschreibung der Wissenschaftsrezensenten geht es also eher darum, Wissenschaftsgeschichte zu machen – das heißt selbst zur Naturwissenschaft beizutragen – als zu anderen Zwek ken über sie nachzudenken. Reflektierende Wissenschaftsgeschichte soll helfen, die Art und Weise zu verbessern, wie Naturwissenschaft ge trieben wird. Zwar haben manche Sozialwissenschaft ler in der Tat den Ehrgeiz, auf diese Weise die Natur wissenschaft zu verbessern; aber im allgemeinen ist re flektierende Wissenschaftsgeschichte eher eine Methode, mit der Naturwissenschaftler ihren kollektiven Erfah rungsschatz aufhäufen. Es gibt eine mündliche Traditi on, die man in der Anthropologie »Kriegsgeschichten« nennt, und die reflektierende Wissenschaftsgeschichte
kann man als deren gedrucktes Pendant bezeichnen. Das Problem der reflektierenden Wissenschaftsgeschichte be steht darin, daß sie bestimmte Besonderheiten im Wan del der von ihr behandelten Naturwissenschaft hervor hebt, um daraus diese oder jene methodologische Moral abzuleiten. Zum Beispiel könnte postuliert werden, daß experimentelle Arbeiten dann pathologisiert werden sol len, wenn die Relation zwischen Signal und Rauschen nicht in sehr kurzer Zeit soweit verbessert werden kann, daß die Signale das Rauschen deutlich überwiegen. Das ist in vielen Fällen kein schlechter Rat, würde aber auch viele berühmte Versuche dem wissenschaftshistorischen Müllhaufen überantworten, so auch den Michelson-Mor ley-Versuch, verstanden als Überprüfung der Ätherdrift, oder Millikans Öltropfenversuch und natürlich Eklipsis beobachtungen. Analytische Wissenschaftsgeschichte soll nützlich sein, um die Naturwissenschaft vom Standpunkt der Sozial wissenschaften zu verstehen. Hauptkonsumenten dieser Art von Geschichte waren früher die Philosophen ; aber einige von ihnen zogen die »rationale Rekonstruktion« der historischen Ereignisse vor, um diese ihren philoso phischen Ideen anzupassen anstatt umgekehrt ihre Phi losophie dem historischen Befund. Von größerer Rele vanz sind Arbeiten von Soziologen und Historikern, die sich auf sehr detaillierte Beschreibungen der naturwis senschaftlichen Tätigkeit einlassen und sich nicht auf sol che »rationalen Rekonstruktionen« stützen. Interpretierende Wissenschaftsgeschichte endlich ist das, was wir im Golem vorzulegen versuchen. Wir versu
chen, unsere Leser in die Schuhe der Naturwissenschaft ler zu stellen und ihnen dabei nur das Wissen mitzuge ben, das diese Naturwissenschaftler zu ihrer Zeit haben konnten. Denn wir möchten anhand der Aufschlüsse aus den wissenschaftshistorischen Kontroversen zeigen, was von der aktuellen kontroversen Naturwissenschaft und Technologie zu erwarten ist. Der Eindruck der Unzwei deutigkeit und des Gelingens, den die Lehrbuchgeschich te der Wissenschaft, die offizielle Wissenschaftsgeschich te und die Wissenschaftsgeschichte der Rezensenten ver mitteln, führt völlig in die Irre, sobald wir uns mit den naturwissenschaftlichen und technologischen Dilemma ta des zeitgenössischen Lebens konfrontieren. Noch einmal : Die Wissenschaftsgeschichte aus dem Lehrbuch, die offizielle Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsgeschichte der Rezensenten haben ih ren Sinn für Naturwissenschaftler, sind aber abträglich für jeden, der zwar nicht die Inhalte der Naturwissen schaft, wohl aber die Art und Weise verstehen muß, wie wissenschaftliche Fakten geschaffen werden. Zuletzt wollen wir doch noch unterstreichen, daß die Verfasser des Golem in der Debatte um die experimen tellen Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie kei ne Experten sind, und sie haben auch selbst keine Wis senschaftsgeschichte geschrieben, gleich welchen Typs ; wir beschreiben einfach die Arbeit anderer. Gottfried und Wilson behaupten, die Elektronresultate hätten je den Zweifel an der Speziellen Relativitätstheorie beseitigt, mochte das Michelson und Morley auch nicht gelungen sein. Wir machen darauf aufmerksam – nachdem man
uns darauf aufmerksam gemacht hat –, daß es seinerzeit Naturwissenschaftler gegeben hat, die offenbar die Im plikationen der Elektronresultate für die Spezielle Relati vitätstheorie angezweifelt haben, und daß Gottfried und Wilson infolgedessen noch weitere historische Arbeit lei sten müssen, wenn sie belegen wollen, daß die frühe An erkennung der Theorie unproblematisch war. Kommenta re von auf diese Periode spezialisierten Historikern lassen uns vermuten, daß eine detaillierte Analyse der anderen Versuche zur Speziellen Relativitätstheorie den zentralen Gedanken des Golem eher noch bekräftigen als relativie ren würde. Und die Kommentare praktisch aller Kenner der damaligen Zeit legen außerdem dringend nahe, daß der entscheidende Aspekt der Speziellen Relativitätstheo rie, der die Naturwissenschaftler veranlaßte, sich über eine Einigung über die Versuche in der Weise einig zu werden, wie sie es dann auch wurden, die Einfachheit der Struktur war, die sie der elektromagnetischen Theorie verlieh.
voraussagen über die ablenkung des lichts Ein noch schwierigerer Fall ist die Theorie der Lichtab lenkung, die Eddingtons Beobachtungen vorausging. Ein stein gab bei seiner Ableitung der Lichtablenkung 1911 einen Wert an, der halb so groß war wie der spätere Wert von 1,75 Bogensekunden. Mehr noch, er schrieb 1913, als er selbst noch an diesen »Newtonschen« Wert glaubte, über eine rivalisierende Theorie, die »zwar ›sehr vernünftig« sei, aber »überhaupt keine Lichtablenkung prognostizierte«.20
1916 hatte Einstein den Wert neu berechnet und auf 1,75 Bogensekunden bestimmt. Zu Beginn unserer Fallge schichte beschreiben wir in enger Anlehnung an Earman und Glymour, wie Einsteins Ableitung des erwarteten Grades der Ablenkung aus seiner Allgemeinen Relativi tätstheorie, die doch auf einer neu und unsicher schei nenden Methode basierte, seltsamerweise durch Edding tons Beobachtungen angeblich eine Bestätigung erfuhr (S. 60f.). Kurt Gottfried ist in diesem Punkt ganz ande rer Ansicht als Earman und Glymour und beurteilte die betreffende Stelle im Kapitel über die Relativitätstheorie sehr kritisch21. Die daraus sich entwickelnde ausgedehnte Debatte zeigte auf eine sehr aufschlußreiche Weise, wie unterschiedlich Naturwissenschaftler und Historiker an diese Streitfragen herangehen und wie auf beiden Seiten Fortschritte möglich sind. Gottfried wies zunächst darauf hin, daß vor 1919 mindestens zwei Arbeiten – nämlich von Weyl und von Flamm – erschienen waren, die exakte Berechnungen ohne die Unsicherheiten der Einsteinschen Ableitung ent hielten. Er fand diese Arbeiten in dem von Pauli 1921 verfaßten Übersichtsartikel erwähnt und gab zu verste hen, daß wir uns durch einen Blick in diese Rezension davor bewahrt hätten, den gleichen Fehler zu begehen wie Earman und Glymour. Nun ist es gewiß richtig, daß wenn diese Arbeiten sei nerzeit weithin bekannt gewesen und allgemein akzep tiert worden wären, Earmans und Glymours Analyse des Verhältnisses zwischen Einsteins Theorie und den von Eddington akzeptierten Voraussagen falsch gewe
sen wäre. Eddington erwähnt jedoch in seinem Buch von 1920, in dem er die Berechnungen und den Versuch be schreibt, keine dieser beiden Ableitungen, was uns ver anlaßt, zu fragen, ob die Arbeiten Weyls und Flamms 1919 jene Bedeutung besaßen, die ihnen die Assoziati on mit dem Namen Pauli später verlieh. (Eddington er wähnt eine Arbeit von Sitter, die aber eine ungenaue Ab leitung mitteilt.) Unsere Debatte mit Gottfried drehte sich anfangs um die Bedeutung der Arbeiten von Weyl und Flamm zur Zeit, als Eddington seine Ergebnisse diskutierte. Pauli erwähnt die beiden, Eddington erwähnt sie nicht. Gott fried erblickte in Paulis hohem Rang als Physiker den Beweis für die Wichtigkeit der Arbeiten von Flamm und Weyl. Für den Soziologen und den interpretierenden Hi storiker lautet dagegen die zentrale Frage, ob Weyls und Flamms Ableitungen seinerzeit weithin als brillant gal ten. Es kommt darauf an, welche Wirkung ihre Aufsät ze damals hatten, nicht darauf, wie sie heute verstanden werden. Für den Physiker hingegen war anscheinend in erster Linie die Qualität der Arbeiten von Interesse. Pau li, der eine Rezension schrieb, hielt Weyls und Flamms Arbeiten für hochbedeutsam, und Pauli genießt den Ruf eines glänzenden Physikers. Darüber hinaus waren nach allem, was wir heute über die Relativitätstheorie wis sen, Flamms und Weyls Arbeiten – und hier nehmen wir Gottfried gerne beim Wort – brillant und bahnbrechend. Ein Physiker würde also ganz zu Recht die Bedeutung des Werks von Weyl und Flamm in den Rang dessen er heben, was wir »offizielle« Wissenschaftsgeschichte nen
nen ; Weyl und Flamm gebührt Ehre für das, was sie ge leistet haben, auch wenn Eddington von ihren Arbeiten keinen Gebrauch machte. Auf der anderen Seite ist es in der interpretierenden Wissenschaftsgeschichte wichtig, sich nicht von der na turwissenschaftlichen Reputation von Rezensenten wie Pauli beeindrucken zu lassen. Wie wir gezeigt haben, wird die nötige Vorsicht gerade von Paulis Erörterung des Eddingtonschen Versuchsergebnisses in derselben Rezension veranschaulicht. Zu einem späteren Zeitpunkt in unserer Debatte wies Gottfried darauf hin, daß Eddington 1923 erklärt habe, sein Denken sei tatsächlich stark von Weyl beeinflußt gewesen. Gottfried fügte hinzu : »Man geht zu weit, wenn man darüber spekulieren will, daß er |Eddington] damals [1919] nichts von Weyl und/oder Levi-Civita [ein anderer Theoretiker, der ein exakteres Ergebnis abgeleitet hatte] gewußt haben könnte, seinerzeit zwei der größten Kenner der Riemannschen Geometrie.«22 Gottfried mag in diesem Punkt recht haben, aber es gibt bisher wenig historische Beweise zur Erhärtung seiner Argumentation. Gottfried unterstrich auch, daß Earman und Glymour ihrerseits Eddingtons Mathematik nicht verstanden hät ten ; uns fehlt die Kompetenz, um das zu beurteilen, aber wir sehen der Fortsetzung dieser Debatte in der Fachli teratur mit Interesse entgegen.
Glymour reagierte übrigens folgendermaßen auf Gott frieds Bemerkung über Flamms exakte Ableitung : »Ich kenne Flamms Aufsatz nicht ; es klingt nach ei ner guten Arbeit. Ob sie wesentlich dazu beigetra gen hat, die Leute von der mathematischen Korrekt heit von Einsteins Voraussage zu überzeugen, kann ich nicht sagen, aber nach meiner Einschätzung wog da am meisten Einsteins Renommee. Natürlich hat ten damals die meisten Astronomen – ob sie nun die Rotverschiebung oder die Lichtablenkung erforsch ten – keine Ahnung, wie die Voraussagen abgeleitet worden waren. Aber was die Kontroverse um die In terpretation der Expeditionsergebnisse angeht, spiel te das für die Geschichte der Versuche zur Lichtab lenkung kaum eine Rolle. Was die Schwierigkei ten betrifft, die andere mit koordinierten Analysen hatten, lesen Sie Earmans und meinen Aufsatz über die Gravitations-Rotverschiebung. Weyl selbst leitet bei einer Gelegenheit eine Blauverschiebung ab und nennt sie dann eine Rotverschiebung. Wenn schon Weyl durcheinanderkommen konnte, konnte das je der.«23 In der Folge war in der Art der Debatte ein Fortschritt zu verzeichnen. Gottfried traf – im Sinne der interpre tierenden Geschichte – den zentralen Punkt : »Ich verstehe nicht, warum es wichtig sein soll, ob Eddington bei der Analyse seiner Daten die etwas
fragwürdige Berechnung Einsteins rezipiert hat te oder nicht, […] Wichtig ist doch nur, daß er Ein steins Ergebnis für die zwangsläufige Folge der All gemeinen Relativitätstheorie hielt, und nach allem, was wir wissen, hat er das getan.« Was bedeutet, daß es wenig bringt, Eddington nachträg lich dafür zu kritisieren, daß er nicht Beweisstandards heranzog, die sich erst später allgemein durchgesetzt hatten. Solche Beweise mögen als Publikationen zur Zeit der Eklipsisbeobachtungen zwar zugänglich gewe sen sein, aber gerade weil sie seinerzeit kaum Anerken nung genossen, scheint es nicht fair, Eddington dafür zu kritisieren, daß er sie nicht herangezogen hat. Ähnlich kommt der Historiker Simon Schaffer zu fol gendem Schluß: »Zur Zeit der Eklipsisexpedition im Frühjahr 1919 muß Eddington also damit gerechnet haben, daß Einsteins Ableitung von 1916 zutreffend war, auch wenn er selber nicht die Methoden erkannt oder ent wickelt hatte, um das zu erhärten.«24 Es scheint also so zu sein, daß nach den damaligen Maß stäben der Physik Eddingtons Verständnis von Ein steins Voraussage sehr wohl adäquat gewesen sein könn te. Wenn das der Fall war, stützte sich Eddington zur Bestätigung der Ableitung der Lichtablenkung nicht auf seine Interpretation seiner Beobachtungen, wie Earman und Glymour zu implizieren scheinen. Earman und
Glymour wenden womöglich einen modernen Beweis maßstab auf eine Debatte an, die stattfand, bevor derar tige Erwartungen aufkamen. In diesem Fall muß Gott fried recht haben. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß der Go lem zwar in erster Linie ein Buch über das Experiment in der Naturwissenschaft ist ; doch die durch ihn ausge löste neue Diskussion zeigt, daß sich im Verlauf einer na turwissenschaftlichen Debatte die Maßstäbe, die an den theoretischen Beweis angelegt werden, ebenfalls verän dern. Das bedeutet, daß die Theorie allein einen weiter reichenden Disput ebensowenig lösen kann wie das Ex periment. Was die Details der Geschichte der Relativitätstheo rie betrifft, so sind die Verfasser des Golem lediglich Be richterstatter. Aus diesem Grund haben wir auch unse re Ausführungen zu Earman und Glymour in Kapitel 2 unverändert gelassen, aber den Leser auf die hier berich tete Debatte verwiesen. Sie durchlief zwar verschiedene schwierige Phasen, in denen es schien, als redeten nur alle Beteiligten durcheinander ; aber nachträglich kön nen wir erkennen, daß sich in ihrem Verlauf doch ei niges verändert hat. Sie hat sich geradezu als Modell fall eines akademischen Diskurses erwiesen: Wir haben verschiedenes Neue über die Geschichte der damaligen Zeit gelernt, während sich die Logik der Auseinander setzung zunehmend in Richtung einer interpretierenden Geschichte verlagert hat. Wir selbst sähen diese Debatte nun gern durch eine Kollegen-Rezension in einer Fach zeitschrift zur Diskussion gestellt, so daß ihr Resümee als
neuer Konsens festgeschrieben werden könnte. (Daß es nicht leichter ist, einen Konsens in der Wissenschaftsge schichte zu erreichen als in der Naturwissenschaft selbst, darf niemanden überraschen.) Behalten wir im Auge, daß der Abschnitt des Kapitels über die Relativitätstheorie, der sich mit der theoretischen Ableitung befaßt, für die Sicherheit von Eddingtons Be obachtungen kaum etwas bedeutet. Alle Kommentato ren sind sich darüber einig, daß in diese ‚ Beobachtun gen weit mehr hineingelesen wurde als gerechtfertigt war. Wir möchten auch daran erinnern, daß eine amerikani sche Expedition zur Beobachtung einer Sonnenfinster nis im Bundesstaat Washington den Nachweis erbracht haben wollte, daß die Lichtablenkung von 1,75˝ »nicht existent« sei. Eine weitere mögliche Schlußfolgerung betrifft das Ver hältnis zwischen den Forschern, die an den Grenzen der Wissenschaft in der unmittelbaren Forschung arbeiten, und den anderen, die in einem kleinen Abstand folgen. Die Theoretiker mögen sehr schnell mit ihren Folgerun gen darüber zur Hand gewesen sein, was von den Er gebnissen der Eklipsisbeobachtungen zu halten sei – die Experimentatoren selbst gingen da viel bedächtiger vor. Eine wichtige Botschaft des Golem ist darum, daß eine gewisse Entfernung vom Chaos der experimentellen De tails geeignet ist, die Bedeutung der experimentellen Be funde zu verklären. Heute, da beide Episoden, die der Speziellen wie die der Allgemeinen Relativitätstheorie, noch viel mehr im Detail untersucht worden sind, scheinen sie die zentrale
Botschaft des Golem noch immer zu stützen : Die Eini gung über das, was naturwissenschaftlich wahr sein soll, ist im Unterschied zu dem, was Lehrbuchschreiber und populärwissenschaftliche Bücher gewöhnlich behaupten, kein sauberes, planmäßiges Geschäft. Möglich, daß Na turwissenschaftler das schon wissen ; dann ist es aber, was den Nicht-Fachmann betrifft, ein seit langem wohl gehütetes Geheimnis.
taue Wir wollen nun noch klären, wie in der besagten Wei se aus einzelnen schwachen Strängen ein starkes Tau wird. Damit haben wir uns im Kapitel über den Nach weis der Gravitationsstrahlung befaßt. Wir zeigen dort, daß das Ergebnis jedes einzelnen Versuchs uneindeutig war. Vordergründig betrachtet, widerlegten negativ ver laufende Versuche Joseph Webers Behauptung, er hät te starke Ströme von Gravitationsstrahlen entdeckt ; sie konnten aber genausogut auch als Beweis dafür angese hen werden, daß der Experimentator selbst unzulängli che Arbeit geleistet hatte. Das starke Tau entstand, nach dem ein einzelner Naturwissenschaftler entschlossen die Führungsrolle übernommen hatte. Auf die gleiche Wei se wird dieses Tau in der Geschichte von den Sonnen neutrinos geknüpft: Hier baute Ray Davis eine Partner schaft mit Theoretikern vom Cal Tech auf, und so wurde aus vorläufigen Resultaten ein definitiver Befund. Dieses Vernetzen oder Verflechten schwacher Einzelpositionen, so unsere These, ist nicht nur in der Naturwissenschaft,
sondern auch im gewöhnlichen Leben und in jeder ver nünftigen Überlegung zu finden.
evaluierung der naturwissenschaften und evaluierung naturwissenschaftlicher tatsachen Auf S. 73 schreiben wir : »Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß die Relativitätstheorie nicht wahr ist – und eine sehr schöne, wunderbare und erstaunliche Wahrheit dazu.« Da wir daran die Bemerkung knüpfen, diese Wahrheit sei das Ergebnis einer Einigung darüber, sich über etwas Neues zu einigen, wünschen sich unsere Kritiker von uns eine Erklärung darüber, was wir denn mit »Wahrheit« meinen. Es sei nämlich ein Widerspruch festzustellen zwischen unserer generellen Behandlung der naturwissenschaftlichen Methode und unserer Anerken nung naturwissenschaftlicher Befunde als Wahrheit. Mal würden wir Wahrheit ganz abschaffen, mal sie selbstver ständlich zulassen. Die damit angesprochene Frage geht nun weit über das hinaus, was wir selbst im Golem dis kutieren wollten ; wir möchten aber versuchen zu erklä ren, was der zitierte Satz über die Relativitätstheorie be deuten kann. Erstens wiederholen wir damit, was wir mit dem gan zen Golem einschließlich des Kapitels über die Relativi tätstheorie sagen : Es ist nicht unsere Aufgabe und liegt nicht in unserem Interesse, die naturwissenschaft liche Wahrheit anzuzweifeln. So schreiben wir auf S. 42, wo wir sagen, daß die Explosion der Atombombe einen un
strittigen Beweis der Relativitätstheorie lieferte: »Inso weit es überhaupt naturwissenschaftliche ›Tatsachen‹ gibt, gehören die von Einstein dargelegten Beziehungen zwi schen Materie und Energie mit Sicherheit dazu.« Damit sagen wir einmal mehr, daß man uns nicht für Zweif ler an der Relativitätstheorie halten soll. Was aber offen sichtlich dennoch geschehen ist. Daß man uns in dieser Weise mißverstehen konnte, mag auch am Wahrheitsbegriff der Physiker liegen: Der impliziert nämlich, daß Wahrheit das ist, was notwen dig auf einem ganz bestimmten Weg erreicht worden ist, während Soziologen sich damit bescheiden, die Wahr heit zu diskutieren, wie sie ihnen in der sie umgebenden Gesellschaft begegnet. Für den Soziologen als solchen ist eine naturwissenschaftliche Wahrheit genau das, was von Naturwissenschaftlern als Wahrheit bestätigt wird. Das Mißverständnis entsteht vielleicht deshalb, weil solche Diskussionen über Wahrheit von einer idealen naturwis senschaftlichen Wahrheitsgenerierung ausgehen – einem imaginären Labortisch. Setzen wir uns doch statt des sen ruhig einem kleinen Schock aus und versuchen wir, Wahrheit von außen zu denken und uns dann »nach in nen«, an den Labortisch, vorzuarbeiten. Was weiß ein gewöhnlicher Laie über die Relativitäts theorie ? Vielleicht aus der Lektüre der Zeitung (von 1919), daß das Licht der Sterne in Sonnennähe abgelenkt wird; er kann vielleicht die Formel »E = mc2« bilden und mag auch eine Ahnung haben, daß diese Formel irgendwie die Zerstörungskraft der Atombombe erklärt ; er weiß vielleicht auch, daß es unmöglich ist, schneller als das
Licht zu reisen. Andererseits mag es Fernsehzuschau er geben, für die das Reisen mit Überlichtgeschwindig keit so selbstverständlich ist wie in Raumschiff Enterpri se. Eine dieser zwei Gruppen hat wenigstens einen Zipfel der Wahrheit in der Hand und die andere nicht ; trotz dem sehen wir sofort, daß beide Gruppen auf ganz ähn liche Weise zu ihren Ansichten gelangt sind – sie haben gehört, was man ihnen gesagt hat, gelesen, was sie gele sen, gesehen, was sie gesehen haben. Beide Gruppen ha ben keine unmittelbare Erfahrung der Welt, die sie an die Relativitätstheorie herangeführt hätte. Genau dasselbe gilt für uns, die Autoren des Golem. Wenn wir sagen, daß die Relativitätstheorie »wahr« ist, wiederholen wir lediglich, was wir uns, eingebettet in un sere Kultur, als Überzeugung angeeignet haben. Wir ha ben selbst nie Versuche zur Wahrheit der Relativitätstheo rie durchgeführt ; wir haben lediglich etwas über derarti ge Experimente gelesen und auf das gehört, was andere uns über deren Bedeutung gesagt haben. Wenn unsere Kritiker uns also Vorwerfen, daß wir der Wahrheit der Relativitätstheorie nicht mit genügend Nachdruck bei pflichten oder sie durch unsere wissenschaftshistorische Perspektive in Zweifel zu ziehen scheinen, verlangen sie im Grunde, daß wir uns einfach auf das verlassen, was man uns gesagt hat. Das tun wir auch gerne ; wir möch ten nur darüber reden dürfen, wie es funktioniert. Dasselbe gilt für 99,99 Prozent unserer Leser ; die restli chen 0,01 Prozent sind Naturwissenschaftler, die an Expe rimenten zur Relativitätstheorie gearbeitet haben. Diese 99,99 Prozent haben die Wahrheit der Relativitätstheorie
weder mit eigenen Augen gesehen noch mit anderen Sin nen empfunden ; zu ihren Vorstellungen über die Relati vitätstheorie sind sie ausschließlich durch gesellschaft li che Vermittlung gekommen. Wenn wir also behaupten, daß wir »urteilen«, wenn wir der Relativitätstheorie beipflichten, ist es in Wirklichkeit die Gesellschaft, über die hier geurteilt wird. Wir wissen, wie die Gesellschaft organisiert ist, und so wissen wir auch, wo in einem solchen Gebilde die Experten ange siedelt sind: Wir wissen, daß sie an den Universitäten im Fachbereich Physik und in ähnlichen Einrichtungen zu finden sind. Die Leute, für die Enterprise und Star Trek ebenso gültig sind wie die Spezielle Relativitätstheorie, haben nicht die falsche Physik – denn sie wissen nichts oder praktisch nichts von Physik –, sondern sie mißver stehen die Art, wie die Gesellschaft organisiert ist. Falls sie sich überhaupt vergegenwärtigen, daß man, um über das Funktionieren der physischen Welt Bescheid zu wis sen, zuerst eine Erfahrung von ihr braucht, so wissen sie nicht, welcher gesellschaftliche Ort die richtige Art der Erfahrung vermittelt. Sie wissen nicht, daß an diesem Ort Physiker sitzen und keine Drehbuchschreiber. Wir können diese Argumentation noch weiter nach in nen verfolgen. Am Ende werden wir feststellen, daß die Zahl derer, die über jene Art unmittelbarer Erfahrung verfügen, die nach dem Ideal der Naturwissenschaft al lein zur Wahrheit führen soll, sehr klein und ihre soziale Vernetzung schwach ist. Der Golem zeigt, daß sogar für diese wenigen die Dinge komplizierter waren, als sie ge wöhnlich dargestellt werden. Denn zumindest brauchten
sogar sie Zeit, um sich zur Wahrheit der Speziellen Relati vitätstheorie, und noch mehr Zeit, um sich zur Wahrheit der Allgemeinen Relativitätstheorie vorzuarbeiten. Dafür mußten sie den Versuchen der jeweils anderen vertrauen und sich darauf einigen, bestimmte Interpretationen der vorliegenden Daten zu akzeptieren und andere zu ver werfen sowie riesige Mengen überlieferten Wissens an zunehmen, in die diese Interpretationen eingebettet wa ren und die sie ihrerseits gar nicht überprüfen konnten. Nur wenn das alles nicht mit der Feststellung zu verei nen ist, daß diese Forscher schließlich etwas erreichten, was wir alle als Wahrheit betrachten, dann ist unser Go lem der Forschung ein Angriff auf die Naturwissenschaft. Sonst gilt der Angriff nur allen irreführenden Modellen der Wahrheitsgenerierung.
methodenrelativismus Wenn wir ein gesellschaftliches und kulturelles Milieu untersuchen, das uns in all unseren bestehenden Vor stellungen darüber, was wahr ist, bestärkt, besteht unse re Methode darin, die Wahrheit des Wahren zumindest für den Zeitraum der Analyse außer acht zu lassen. Mit diesem Ansatz, der als »Methodenrelativismus« bekannt ist, werden »wahres« und »falsches« Wissen sozusagen symmetrisch behandelt. Deshalb kann Mermin, wie wir ihm seinerzeit in unserer Antwort in Physics Today er klärt haben, durchaus zutreffend feststellen : »Die Rich tig-Falsch-Achse ist keine relevante Dimension in [Col lins’ und Pinchs] Art der soziologischen Wissenschafts
analyse.«25 Ein triftiger Einwand gegen unsere Methode ist das aber nicht. Im Gegenteil : Es ist eine ihrer Voraus setzungen. Methodenrelativismus ist nicht zu verwech seln mit einem Angriff auf die geltende Wahrheit. Wie gesagt, wir akzeptieren, sobald wir unsere Untersuchun gen beendet haben, gerne die Wahrheit, die man uns als solche präsentiert ; aber wir möchten unsere Untersu chungen nicht auf diese Wahrheit stützen.
übertreibt der golem ? Mermin ist überzeugt, daß zwar einige Etappen der Naturwissenschaft unserem soziologischen Modell ent sprechen mögen, daß es aber auch andere gibt, für die das nicht zutrifft. Er beklagt Übertreibungen und hebt besonders die folgenden Sätze hervor : »Die Wissenschaftler, die in Grenzbereichen des Wissens arbeiten, sind nicht imstande, ihre tiefrei chenden Meinungsverschiedenheiten durch besse re Experimente, weitere Erkenntnisse, avanciertere Theorien oder klareres Denken beizulegen.«26 »In der wirklichen, kontroversen Wissenschaft […] führen Experimente kaum je zu einem klaren, eindeutigen Ergebnis.«27 »Die einzige Sünde besteht darin, nicht zu wissen, daß es immer so ist.«28 Diese Sätze muß man in ihrem Zusammenhang verste hen. Den ersten und den dritten könnte man als phi
losophische Binsenweisheiten auffassen. Es sind Aussa gen über die kulturelle Einbettung, die Vertrauenswür digkeit und die Anerkennung dessen, was einem erzählt worden ist, die den Kontext jedes Resultats liefern, das aus jeder denkbaren Versuchsanordnung gewonnen wird. Kein Versuch kann aus sich heraus irgendeine Fra ge klären; dazu müssen erst alle Beteiligten der Interpre tation des Versuchs zustimmen. Interessanter ist die Interpretation des zweiten Satzes. Für sich genommen ist er eine Übertreibung. Im Kontext lautet die Aussage, daß in heftig umstrittenen naturwis senschaftlichen Fragen – wie sie im Golem der Forschung vorgestellt werden – Versuche nicht durch andere Versu che eindeutig geklärt werden können. Auf extrem kon troversen Gebieten der Naturwissenschaft wird die stets vorhandene Möglichkeit genutzt, die Bedeutung eines Versuchs in Frage zu stellen und umzudefinieren. Wenn der Einsatz hoch ist, verschwindet schnell das Vertrauen, die kulturelle Einbettung verliert ihre konsenserhaltende Macht, und die Naturwissenschaftler nehmen nicht mehr hin, was man ihnen erzählt hat. Das nimmt natürlich dem Experiment seine Beweiskraft. Das soll aber keines wegs heißen, daß Experimente nicht länger ein Teil der naturwissenschaftlichen Methode sein sollen, denn wenn wir keine Experimente mehr machen, hören wir auf, Na turwissenschaft zu treiben. Aber es sollte uns doch klar sein, daß ein entschlossener Gegner die Beweiskraft ei nes Versuchsergebnisses jederzeit unterlaufen kann. Oder positiv ausgedrückt : Versuchsdaten behalten ihre Stär ke unter kontroversen Umständen nur, wenn es keine
solchen Kritiker gibt. Ob die immer gegebene Möglich keit der Umdeutung genutzt wird, hängt ganz von der Situierung des Versuchs ab : Wird sie nicht genutzt, ha ben wir eine Naturwissenschaft vor uns, die reibungs los funktioniert; wird sie genutzt, dann haben wir eine Naturwissenschaft vor uns wie in den hier vorgelegten Fallstudien. Mit einem Wort, die Möglichkeit zum Dis put ist in der Struktur des naturwissenschaft lichen Wis sens immer gegeben, doch sind es die gesellschaft lichen Kraftfelder (einschließlich der in der Naturwissenschaft selbst vorhandenen), denen naturwissenschaftliche De batten ihre Form und Intensität verdanken. Damit haben wir einen weiteren Grund dafür ange sprochen, daß der Golem sich auf wissenschaft liche Kon troversen konzentriert. Sie mögen für die Naturwissen schaft statistisch nicht repräsentativ sein – eher sind sie es im philosophischen Sinne ; denn sie zeigen, was Na turwissenschaft zu leisten vermag und zeigen auch, was sie nicht zu leisten vermag, wenn sie mit Schwierigkei ten konfrontiert ist. Keinesfalls vermag die Naturwissen schaft komplexe Meinungsverschiedenheiten durch ra sche experimentelle Überprüfungen oder theoretische Offenbarungen beizulegen, und in diesem Sinne war so gar die hier beschriebene Kontroverse um die kalte Kern fusion normale Naturwissenschaft.
mythen Ein Naturwissenschaftler erboste sich besonders über den letzten Absatz des Golem. Er fand den Vergleich zwi
schen berühmten Naturwissenschaftlern und Schülern, die den Siedepunkt von Wasser zu messen versuchen, abgeschmackt und unbegründet. Er glaubte, der Bemer kung, daß die wissenschaftliche Gemeinde »die wunder lichen Verrenkungen des kollektiven Golems ›Naturwis senschaft‹ in einen ordentlichen, sauberen methodolo gischen Mythos verwandelt«, entnehmen zu sollen, daß Naturwissenschaftler wunderlich und die von ihnen her vorgebrachten Resultate Mythen seien. Was wir sagen wollen, war jedoch nicht, daß die Temperatur, bei der Wasser siedet, oder deren Entsprechungen in einer eher esoterischen Wissenschaft Mythen seien, sondern daß die Naturwissenschaft eine falsche Darstellung vom Zustan dekommen dieser Tatsachen gibt. Die Mythen sind wel che über die naturwissenschaftliche Methode. Die Ana logie trägt, weil sowohl Schulkinder als auch berühmte Naturwissenschaftler mit Phänomen arbeiten, die ihnen neu sind. In beiden Fällen und aus ähnlichen Gründen ist die Relation zwischen Signal und Rauschen ungün stig. Deshalb sind Schulkinder – und nicht etwa Erst semester – der richtige Vergleich. Einstein mit Schul kindern zu vergleichen ist vielleicht respektlos, aber es ist eher grotesk als abgeschmackt; und der Einstein, der dem Betrachter die Zunge herausstreckt, hätte ihn wo möglich akzeptiert. Wir hoffen, daß unser Golem der Forschung einen Dia log angestoßen hat, der zu gegenseitigem Verständnis über die Grenzen der zwei Kulturen hinwegführen wird. Manche Gespräche stimmen uns in dieser Hinsicht opti mistisch, manche pessimistisch. Ein hoffnungsvolles Zei
chen ist, daß junge Naturwissenschaftler deutlich weniger Vorbehalte gegen das neue Modell hegen als ältere. Aber auch auf weiteste Sicht soll die Perspektive des Soziologen die des Physikers weder ersetzen noch reflektieren. Es ist eine andere Perspektive mit einem anderen Zweck. Der Soziologe versucht nicht, naturwissenschaft liche Lorbee ren zu verteilen – das ist Aufgabe der naturwissenschaft lichen Gemeinde selbst ; in erster Linie versucht der So ziologe, ein Bild der Naturwissenschaft zu zeichnen, das diese dem Nicht-Naturwissenschaftler zugänglich macht. Dieses Bild will weder Reflexion noch Übersetzung noch Simplifizierung noch Lobpreis noch Verurteilung sein; es will der Naturwissenschaft einen sicheren Ort in der Welt geben – einen Ort, der nicht durch die Art von Des illusionierung erschüttert werden kann, welche die wahr scheinlichste Folge des Fundamentalismus ist.
dank
Kapitel 1 über Gedächtnistransfer basiert auf einer Dis sertation von David Travis mit dem Titel Memories and Molecules, die er bei Harry Collins an der University of Bath abgeschlossen hat. Travis hatte Gelegenheit, frü here Entwürfe des Kapitels zu lesen und zu kommen tieren. Das fünfte Kapitel über die Gravitationsstrahlen und Kapitel 7 über Sonnenneutrinos basieren auf unseren ei genen Feldforschungen zur Soziologie des wissenschaft lichen Wissens. Die in diesen Kapiteln wiedergegebenen Zitate stammen, soweit nicht anders nachgewiesen, aus unseren Gesprächen mit den führenden Wissenschaft lern auf dem jeweiligen Gebiet. Die Gespräche über die Suche nach der Gravitationsstrahlung führte Collins zwi schen 1972 und 1975. Pinch sprach in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit Sonnenneutrino-Wissenschaftlern. Eine weiterreichende Darstellung hierüber findet sich in Collins’ Buch Changing Order : Replication and induction in Scientific Practice und in Pinchs Buch Confronting Na ture : The Sociology of Solar-Neutrino Detection. Die übrigen Kapitel beruhen auf indirekteren Quellen. Kapitel 3 über die kalte Kernfusion basiert auf Pinchs Lektüre zweier Bücher : Frank Close, Too Hot to Handle : The Race for Cold Fusion, und Eugene Mallove, Fire From Ice : Searching for the Truth Behind the Cold Fusion Furo re. Ausgewertet wurden von ihm ferner Thomas Gieryns
Aufsatz »The Ballad of Pons and Fleischmann : Experi ment and Narrative in the (Un)Making of Cold Fusion« und Bruce Lewensteins Aufsatz »Cold Fusion and Hot History« sowie die an der Cornell University vorhande nen Cold Fusion Archives. Für Kapitel 2 benutzte Collins das Buch The Ethereal Aether : A History of the Michel son-Morley-Miller Aether-Drift Experiments, 1880–1930 von Lloyd Swenson und eine Reihe von Aufsätzen : Day ton Millers Publikation »The Ether Drift Experiment and the Determination of the Absolute Motion of the Earth« von 1933, John Earmans und Clark Glymours Arbeit »Re lativity and Eclipses : The British Eclipse Expeditions of 1919 and their Predecessors« und H. von Klubers »The Determination of Einstein’s Light-Deflection in the Gra vitational Field of the Sun«. Hilfreich war für Collins auch der persönliche Briefwechsel mit Klaus Hentschel. Für Kapitel 4 benutzte Collins Louis Pasteur : Free Lance of Science von Rene Dubos sowie den Aufsatz von John Farley und Gerald Geison mit dem Titel »Science Poli tics and Spontaneous Generation in Nineteenth-Century France : the Pasteur-Pouchet Debate.« Collins zog auch das Dictionary of Scientific Biography zu Rate und kon sultierte Originalaufsätze von Pasteur und Pouchet. Für Kapitel 6 über das Liebesleben der Rennechsen stützte sich Pinch auf Greg Myers, Writing Biology : Texts in the Social Construction of Scientific Knowledge. In unserem Resümee »Der Golem im Einsatz« finden sich Gedan ken aus dem letzten Kapitel von Collins’ Buch Changing Order, aus Paul Atkinsons und Sarah Delamonts Auf satz »Mock-ups and Cock-ups : The Stage Management
of Guided Discovery Instruction« und aus Collins’ und Steven Shapins Aufsatz »Experiment, Science Teaching and the New History and Sociology of Science«. Genaue Angaben zu allen genannten Werken finden sich in der Bibliographie. Für Hilfe und Rat danken wir David Travis, Lloyd Swenson, Clark Glymour, Klaus Hentschel, Bruce Le wenstein, Gerry Geison, Peter Dear, Pearce Williams, David Crews, Peter Taylor, Sheila Jasanoff, Greg Myers, Paul Atkinson, Frank Close, Eugene Mallove, Sarah Dela mont und Steven Shapin. Keiner der Genannten ist für Fehler verantwortlich, die uns bei der Übersetzung ihrer Fachtexte in unsere eigenen Worte oder bei unserer In terpretation ihrer Befunde unterlaufen sein mögen.
anmerkungen ESSBARES WISSEN 1 McConnell 1962, S. 42. 2 McConnell 1965,S. 26. 3 Corning und Riccio 1970, S. 129. 4 Goldstein 1973, S. 60. 5 Goldstein, Sheehan und Goldstein 1971, S. 126. 6 Goldstein et al. 1971, S. 129. 7 Goldstein 1973, S. 61. 8 Goldstein et al. 1971, S. 129. 9 Ungar 1973, S. 312. 10 Ebd. S. 309. 11 Goldstein 1973, S. 61. 12 Ungar 1973, S. 312. 13 Goldstein 1973, S. 61. 14 Bennett und Calvin 1964.
DIE RELATIVITÄTSTHEORIE 1 Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Hamburg 1988, S. 33. 2 Miller 1933, S. 240. 3 W. Pauli, Relativitätstheorie, Turin 1963 [1921], S. 208 f. 4 P. C. W. Davis, Space and Time in Modern Universe, Cambridge 1977. 5 John Earman und Clark Glymour 1980, S. 55. 6 Im Nachwort kommen wir auf diesen Abschnitt noch einmal zurück. 7 Die Berechnungen stammen von Earman und Gly mour.
8 Zit. in Earman und Glymour 1980, S. 77. 9 Earman und Glymour 1980, S. 78. 10 Ebd. S. 85. 11 Zum zweiten Teil dieses Kapitels über die »Verschie bung der Sterne am Himmel« möchten wir folgendes ergänzen : In der Geschichte wie in den Naturwissen schaften sprechen die Tatsachen nicht für sich selbst – jedenfalls nicht ganz exakt. Die Interpretation, die die Professoren Karman und Glymour ihren Daten ange deihen lassen würden, entspricht vielleicht nicht ganz der Schlußfolgerung dieses Buches. Gerade weil Ear man und Glymour auf einer ganz anderen Auffassung vom Wesen der Naturwissenschaften beharren als wir, haben wir besonders sorgfältig darauf geachtet, uns eng an ihre Darstellung der Geschehnisse zu halten. Wir haben popularisiert und verdeutlicht, wo immer wir konnten, aber wir haben stets unser Bestes getan, um ihr Material nicht zu entstellen. Der Abschnitt dieses Kapitels, der Earmans und Glymours Original am nächsten kommt, beginnt mit dem Abschnitt zur »Natur des Versuchs« und endet auf S. 70 mit dem Satz : »Es scheint jedoch, daß er dafür seinerzeit keinen überzeugenden Beweis beizubringen vermochte.« In andere Passagen sind andere Quellen und mehr eigene Interpretationen von uns eingeflos sen. Es ist nur fair gegenüber Earman und Glymour, ihr eigenes Resümee zu zitieren : »Diese merkwürdige Reihe von Gründen könnte diejenigen verzweifeln lassen, die in der Wissenschaft ein Muster an Objektivität und Rationalität erblicken. Diese trübe Stimmung sollte jedoch durch die Über legung aufgehellt werden, daß die Theorie, in die Ed dington seinen Glauben setzte, weil er sie schön und tiefsinnig fand – und weil er vielleicht glaubte, es sei für die Welt das beste, wenn sie wahr wäre –, daß also
diese Theorie nach allem, was wir wissen, noch im mer die Wahrheit über Raum, Zeit und Schwerkraft ausspricht.« (Earman und Glymour 1980, S. 85) Recht verstanden, haben wir keinen Grund, dem nicht zuzu stimmen !
RETORTENSONNE
1 Zit. in Mallove 1991, S.41.
2 Ebd. S.41.
3 Zit. in Mallove 1991, S. 143.
DER KEIM DES ANSTOSSES
1 Zit. in Farley und Geison 1974, S. 19.
2 Ebd. S. 31.
3 Zit. in Dubos 1960, S. 174.
4 Zit. ebd.
5 Zit. in Farley und Geison 1974, S. 33.
6 Zit. ebd. S. 23.
DAS LIEBESLEBEN DER RENNECHSE
1 Zit. in Myers 1990, S. 125.
RESÜMEE
1 Der Folgeband des Golem der Forschung : The Golem at Large. What you should know about technology, Cam bridge 1998, verfolgt ein ähnliches Ziel im Bereich der
Technologie. Die deutsche Ausgabe erscheint Berlin 2000.
NACHWORT 1 Vgl. »Resümee«, Anm. 1. 2D as Wort »Haß« gebrauchte in diesem Zusammen hang ein Sprecher des britischen Committee for the Public Understanding of Science (COPUS) in einer Boulevardzeitung. 3 Hull 1995, S. 487. 4 Vortrag an der University of California, Santa Cruz, und private Mitteilung, 10. Mai 1997. 5 N. D. Mermin, »The Golemization of Relativity«, Phy sics Today, April 1996, 11–13, S. 11. 6 Wir danken Steve Miller, der uns auf das Times-Mate rial nach dem 7. November aufmerksam gemacht hat. 7 Coleman 1959, S. 37. 8 Ebd. S. 113. 9 Ebd. S. 63. 10 Ebd. S. 91. 11 Pauli 1963, S. 208 f. 12 Sciama 1972. 13 Freilich wird hier die Geschichte verwickelt; die neue sten historischen Forschungen lassen vermuten, daß – im Gegensatz zur heutigen Überzeugung der meisten Historiker und mancher Naturwissenschaft ler – der Michelson-Morley-Versuch doch für die Akzeptanz der Theorie wichtig war. 14 Einstein und Infekt 1998, S. 174. 15 Ähnlich hätte sich die Geschichte ausgenommen, hät ten wir Gerald Holton als Quelle gewählt (Holton 1988,
Kapitel »Einstein, Michelson, and the ›Crucial‹ Expe riment«), Holton richtet sein Augenmerk besonders auf die unzutreffende Rolle, die in den Lehrbüchern dem Einfluß des Michelson-Morley-Versuchs auf Ein steins Formulierung der Speziellen Relativitätstheo rie zugeschrieben wird. Er wurde durch seine Analyse von Millikans Öltropfenexperiment berühmt, das be wies, daß die Ladung des Elektrons nicht endlos teil bar ist. Holton zeigt, daß Millikans Ergebnisse auch eine andere Deutung zulassen. Seine Fallstudie hätte ein gutes Kapitel für den Golem abgegeben ! Eine interessante Erörterung über die Bedeutung von Lehrbüchern für die Durchsetzung der Relativi tätstheorie findet sich auch in Goldberg 1984. Er zeigt, daß fast alle amerikanischen Lehrbücher bis 1955 die Rolle des Michelson-Morley-Versuchs als ausschlag gebender Beweis für die Relativitätstheorie unterstri chen. 16 Doch wie gesagt, eine solche vereinfachte Geschichte leistet auch dem Studenten schlechte Dienste, sobald er aufhört, Student zu sein, und versucht, die falschen Historien seiner Heroen nachzuahmen ; und vielleicht schadet sie sogar, in einem noch früheren Stadium, ei nigen potentiellen Physikern, wenn sie zum Beispiel als angehende Studenten doch lieber etwas studieren, was weniger »festgelegt« ist. 17 Evans, in Collins und Pinch 1998. 18 Vgl. S. 73. 19 Dieser Absatz stützt sich stark auf die Arbeiten und Ratschläge Richard Staleys. 20 1914 wurde eine Expedition zur Krim ausgerüstet, die die Lichtablenkung vor dem Hintergrund von Ein steins »Newtonschem« Wert messen sollte. Sie schlug wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs fehl. An
gesichts der Flexibilität, die die Physiker bei der In terpretation der Resultate von 1919 an den Tag legten, wüßte man allzu gerne, wie die Befunde der Krim-Ex pedition interpretiert worden wären! 21 Kurt Gottfried, private Mitteilung.
22 Gottfried, private Mitteilung.
23 Clark Glymour, private Mitteilung.
24 Simon Schaffer, private Mitteilung.
25 Physics Today, Januar 1997, S. 92.
26 Vgl. S. 179 f.
27 Vgl. S. 185.
28 Vgl. S. 188.
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register (Die Seitenzahlen verweisen auf die Druckausgabe)
Académie des Sciences 102, 110,
113
Ad-hoc-Erklärungen, -Lösun gen etc. 18, 22, 170
A&M University 76, 90, 92
Äther 41 f., 44, 46 ff, 50–53, 56 f
Ätherfalle 48
Äthermeer 41 f., 199
Ätherwind 40–47, 49 ff., 55 f., 194 f. Allgemeine Relativitätstheo rie 40, 58, 115, 202, 210, 213,
215, 218
Alvarez., L. 155
American Chemical Society 85
American Museum of Natural
History 142
American Physical Society 77,
82, 88, 90, 93
Anhörung, öffentliche 136, 182
Anomalien 57, 80, 98, 168, 170,
203
Appleton, J. 90
Argonfalle 168 f., 171
Artefakt 142, 145
Astronomer Royal 66 ff, 71
Astrophysik 151, 154, 157 f., 160,
167 ff.
Atkinson, P. 224
Atombombe 40, 155, 195 f., 216 f.
Atomenergiebehörde 159, 162
Bahcall, J. 156–166
Baltimore, Konferenz der Ame rican Physical Society in 77,
88, 90 f., 97
Barnes, C. 90
Bastian, H. 102, 114
Bestelmeyer 205
Betrug, in der Wissenschaft 92
Biochemische Strategie 34
Biochemische Techniken 38
Blindversuch, Blindtest 30, 66, 71
Bondi, H. 198
Brigham Young University 75 f.,
80 f.
British Rail 183
Broad, W. 96
Brookhaven National Laborato ry 151, 158, 160, 164, 168
Bucherer 205
Bush, US-Präsident 76
Byrne, W. L. 37 f.
California Institute of Techno logy (Cal Tech) 77, 90, 97, 154,
156–159, 163, 165 f., 215
Calvin, M. 37
Campbell, W. 67
Cavendish, H. 116
CERN, siehe Europäische Or ganisation für Kernforschung
88, 184
Chlor-Argon-Reaktion 155
Chromodiopsine 36, 142
Close, F. 74, 96, 223 f.
Cnemidophorus 140 f., 143, 146,
148 f.
Cockcraft 196
Cole, C. J. 142 f., 145 ff.
Coleman, J. A. 194
Coleostaten 63
Collins, H. M. 10, 121, 125, 219, 223, Cottingham, E. 64 Cowan, C. 155 Crews, D. 137–149, 186, 224 Crommelin, A. 64 Cuellar, O. 142–145, 147 Darwinismus 113 Davidson, C. 64 Davis, R. 151–156, 158–171, 186, 215 Dear, P. 224 Delamont, S. 224 Demonstrationen 90, 165, 183, 203 Deuterium 73, 79, 81, 84, 86 f., 89–93, 96, 98 Deuteriumblasen 90 Dictionary of Scientific Biogra phy 224 Dodson, R. 159 Dressur 14–21, 23, 25, 28, 31, 33 f., 36 Dubos, R. 224 Dunkelvermeidung 27 f., 30 ff, 35 Dyson 197 Earman, J. 70, 210, 212 ff., 224 Eddington, A. 40, 56, 58, 60 f., 63–68, 70 f., 156, 186, 193– 197, 199, 210–214 Eidechsen 137 f., 140–143, 145– 149 Einstein, A. 23, 39 f., 42, 52 ff, 58–61, 64–69, 85, 115, 173, 194 f., 197, 199, 210, 212 f., 216, 222 Eklipsis 69 f., 197, 204, 208, 213, 215
Electrolux 78 E-Mail 75, 88 Endokrinologie 138, 148 Erdgeschwindigkeit 51 Europäische Organisation für Kernforschung 88, 184 Evolutionstheorie 102, 113, 138 f., 151 Experimenteller Regreß 11 f., 123 ff., 129, 135, 145 Experten, Expertenwissen 7 f., 175, 179, 181 ff. Extrapolationen, extrapolieren 119, 157, 161, 170, 190 Faraday, M. 79, 184 Farley, ). 224 Federal Aviation Authority 183 Fernsehen 75, 97, 183, 217 Feynman, R. 23, 166 Filtrierung, Filtration 106 Financial Times 83 Finanzierung 80, 99, 159 ff. Fitzgerald, K. 141, 143 f., 146 Fjerdingstad 25 Flamm 210 ff. Fleischmann, M. 73–92, 95–99, 186, 223 Forensische Wissenschaften 112, 179 f., 182 Fortpflanzung 138, 141 ff., 149 Fowler, W. 154, 156 f., 159, 163 Französische Naturwissen schaft 110 Gammastrahlen 87, 96 f. Garwin, R. 132–135 Gedächtnis 13 f., 16 f., 25, 33 Geison, G. 224 Georgia Institute of Technology (Georgia Tech) 76, 87
Gerlach 205 Geschwindigkeit, der Erde 42, 45, 47, 51 ff., 195 Geschwindigkeit, des Sonnen systems 47, 51 Gesellschaft, Gesellschaftlich 129, 174, 182, 192 f., 200, 216, 218 f., 221 Gieryn, T. 223 Glaubwürdigkeit 38, 84, 94 f., 134 f., 148, 163, 180 ff. Glymour, C. 70, 210, 212 ff., 224 Goldfische 34 ff. Goldhaber, M. 160 Goldstein, A. 30–33 Golem 9ff., 38, 173 f, 176, 187 f., 193, 221, 224 Gottesanbeterin 34 Gottfried, K. 202, 205, 209–213 Gravitationsfeld 40, 58 f., 69 Gravitationsstrahlung, Gravi tationswellen 11, 70, 115–120, 122–126, 128–132, 134 ff., 173, 181, 215, 223 Gravitationswellenantennen, -detektor 116–121, 123 f., 128 f., 131, 168 Hagelstein, P. 94 Handwerker 175 Harvard 139 Harwell Laboratory 82, 91, 96 Hawking, S. 41 Hawkins, M. 83 Hefeaufgüsse 109, 112 Heiße Kernfusion 74, 80, 95 Helium 73, 78 f., 81, 155 Hentschel, K. 224 Heuaufgüsse 102, 107 f., 112 f. Hintergrundstrahlung 155, 158, 164
Hirnpeptide 36 Hoffman, B. 87, 96 Homestake Mining Compa ny 162 Homöopathie 176 Huggins, R. 89 Iberni. 165 f. Infeld, L. 199 Interferenz, Interferenzstreifen 43 f., 48–52 Interferometrie, Interferometer 43, 51–57, 195 Interpretation 12, 31, 53, 60, 66, 69 f., 77, 91, 98, 105, 112 f., 124, 146, 165, 183, 188, 191, 193 f., 198, 201, 206, 208, 211– 214, 2I8, 220, 224 Invar 55 Isolierung 48, 54, 117 f. Jacobs, K. 168 f. Jacobson, A. 25 Jasanoff, S. 224 Jeans, J. 156 Jones, S. 75, 77, 80, 82 ff., 186 Journal of Electroanalytical Chemistry 83, 97 Jungfernzeugung 140, 142 Kalibrierung, kalibrieren 86, 164, 268 f. Kalte Kernfusion 10 f., 76–78, 80–83, 88 f., 91–96, 98 f., 221, Katzen 34 Keime, keimfrei 11, 102, 103– 110, 112, 114.175 Kellogg Radiation Laboratory 154, 158 f. Kernphysik, Kernphysiker 95, 154, 157 f.,
160, 169 f. Kerosin 183 Koinzidente Signale, Koinzidenz 51, 121 f., 131, 134 Kommerzielle Anwendung 80 f., 84, 88, 99 Kommissionen 102, 110–113 Kompetenz, kompetent 11 f., 22, 29, 31, 124, 128, 143 ff., 147, 165, 186, 212 Kongreß, US-amerikanischer 76, 89 Kontroversen, kontrovers 8, 12, 16, 19 ff, 23, 35, 37 f., 83 f., 88 ff., 92 ff, 96 f., 99, 102, 107, 110, 135 f., 139 f., 143–149, 167, 180 f., 183, 206, 208, 212, 220 f. Koonin, S. 93 Kosmische Strahlung 152 f., 158 Kosmologie, Kosmologen 115, 119 f., 132 Kritische Masse 55, 133 Küchenschaben 34 Langmuir, I. 89 Latenz 32 Lawrence Livermore Labora tory 76 Lebendversuch 19, 26 Lebenswissenschaft 7, 19, 38 Lernen, bei Würmern 24 Lewenstein, B. 223 f. Lewis, N. 90 f. Lichtgeschwindigkeit 39, 41–46, 52, 56, 199, 201, 217 Liebesbisse 147 Lorentz, H. 50, 53 Lorentz-Kontraktion 52 Los Alamos 80, 92 Los Angeles Times 90
Magnetfeld 21, 47 Mallove, E. 91, 223 f. Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) 75 ff., 82, 94, 97 f. Mäuse 24, 26, 28, 30 ff., 35 McConnell, J. V. 13–25, 33 ff, 37, 173, 186 Medien 75 ff, 87, 178 Menschliches Versagen 173, 180, 184 Mermin, D. 190 f., 193, 195, 199, 202 f., 219 Michelson, A. A. 40–45, 47, 49– 58, 118, 186, 193 f., 198, 209 Michelson-Morley-Versuch 50, 54, 56 f., 69, 118, 120, 194, 198 ff, 202 f., 206, 208 Mikroorganismen 103, 108 Miller, D. C. 52–57, 69, 198, 200, 224 Morley, A. 40 f., 49, 51 ff., 56 ff., 186, 1931., 198, 209 Morphiumtoleranz, morphium tolerant 25 f. Morrison, D. 88 f. Mount Wilson 53 ff. Myers, G. 224 NASA 159 National Science Foundati on 159 Nature 38, 82 f., 97, 129, 188, 190, 202 Nauenberg, M. 93 Neumann 205 Neutrinoflüsse 152, 158, 161, 163 ff., 169 f. Neutrinooszillation 170 f. Neutrinophysik 157 f., 169 Neutrinos 77, 152 ff., 155–158, 160, 163 f., 168 ff.
Neutron 83, 75 f., 80–84, 86 f., 91, 94, 9 6 ff. Neutronenlose Kernfusionsre aktion 93.96 New York Times 93, 96 Newsweek 159 Newton, Newtonsch 40, 59 ff, 64 ff., 68, 173, 194, 199, 210 Nichtwiederholbarkeit von Ver suchen 21 Nobelpreis 41, 41, 94, 165, 202, 206 Noble 205 Nordamerikanische Vipernat ter 137 f. Nuklear-Astrophysik 156 Nukleare Produkte 73, 81, 85 ff. Nukleare Reaktionsraten 156 ff., 161 f., 170 Oak Ridge 76 Öffentlichkeit 81 ff., 88, 129, 148, 167, 176 ff., 182 ff., 193, 195 Paarungsball 137 Palladium 73 f., 77 ff., 81, 84, 86 f., 91, 93 Palladium-Deuterium-Gitter 78 f., 92 ff. Palmer, P. 80 Paneth, F. 78 Paris, Observatorium 105 Parthenogenese, parthenogene tisch 141 f. Partnerschaft 156, 167 Pasteur, L. 102–114, 173, 186, 224 Patente, Patentierung 76, 79, 81, 88, 94, 99, 108 Pathologische Wissenschaft 89, 208
Pauli, W. 154, 196, 204, 210 f. Peptid 29, 38 Periodizität 120 Peters, K. 78 Petrasso, R. 97 f. Philosophisches Verständnis der Naturwissenschaften 189, 208, 221 Physical Review Letters 129, 159 Physics Today 89, 190, 193, 219 Physikneid 175 Piccard 56 Piezoelektrische Kristalle 117, 127 Pinch, T. f. 219, 223 f. Planarien 14–17, 19, 24, 37 Politik, politisch 102 f., 159, 177 ff., 182–185, 207 Polymerisation 168 Pons, S. 73, 75–92, 95–99, 186, 223 Pontecorvo, B. 155 Pouchet, F. 102, 106–113, 186, 224 Pressekonferenz, Pressemittei lung 74 ff., 83, 91, 96, 99, 184 Princeton Institute for Advan ced Study 167 Principe 64–67, 195, 197 Prognose 39, 58–61, 64 f., 68 ff, 75, 201, 210 Pseudobegattung, Pseudokopulation 141, 144–147, 149 Psychologen 32 ff., 36 Psychologie 137 f., 175 f. Qualitätskriterium 124 Quecksilber 50, 106–107, 113 Ratten 11, 13, 19, 24–28, 30, 34, 36
Raumtransporter 9, 174, 184 Rauschen 50, 61, 117 f., 123, 130 ff, 208 Recht, Rechtssystem 179–183 Reines, F. 155 Reinigungsflüssigkeit 155, 162 f., 168 Remis, S. 25 Reizkombination, Reiz 16 ff, 24 f. Relativitätstheorie 39 f., 42, 51, 56 ff, 69.71.85, 139.190, 192– 197, 202–206, 210 f., 214, 216 ff. Rennechse 11, 137, 139, 140, 142, 146, 173.224 Rezensionen, Rezensent 188– 191, 206–211, 214 Rhetorik, rhetorisch 71, 97, 123, 149 Riccio, D. 24 Riemann, G. F. B. 212 Riskante Wissenschaft 79 f., 184 RNA 17, 38 Rotverschiebung 39, 69 ff., 205, 212 Royal Society 66, 79 Rührmechanismus 89 Säugetiere 17, 24 ff, 28, 33 Savannah River 155 Schaffer, S. 213 Schleimspuren 19 Schwache Wechselwirkung, Theorie der 170 f. Schwarze Löcher 115 Schwarzweißdenken 175 Schwerer Wasserstoff 73 Schweres Wasser 73, 87, 89 f., 92 f. Schwinger, J. 94 Schwingungen 116 ff., 120 Sciama 197
Science 37, 92 Scientific American 148 Sensibilisierung 17 ff., 33, 178 f. Sensibilität 17, 49, 120, 123, 125, 129, 161 Shapin, S. 224 Siderische Korrelation 120, 122 Siedepunkt des Wassers 107, 109, 185 f., 221 Skotophobin 34–38 Sobral 64–68, 195 Sonnenfinsternis 40, 58, 61 f., 64, 68, 193, 197, 214 Sonnenmodell 158, 165, 169 Sonnenneutrinos 94, 151 ff, 156– 161, 163, 165 f., 169–173, 215, 223 Sonnensystem 46 ff., 120 Southampton 79 Sowjetunion 71 Sozialtechnologie 186 Sozialwissenschaften 175, 191, 207 f. Spezielle Relativitätstheorie 40, 198, 200, 202 f., 205 f., 209, 215, 218 Spezifität, Spezifik 31, 33, 36, 136, 139 Stahel 56 Staley, R. 205 Stanford University 29 f., 37, 89 Statistik, statistisch 7, 15, 20, 63, 131 f., 175, 184, 198, 221 Sterilisierung, Sterilisation, ste ril 103 f., 206 f., 112, 114 Sternentwicklung, Theorie der 151–154, 156, 160, 170 (Sternstruktur, Theorie der), Theorie des Sternenaufbaus 164 Swenson, L. 224
Szientismus 175, 189 Tandberg, T. 78 f., 81, 92 Taylor, R 224 Technologische Gesellschaft 7, 12, 185 Temperaturempfindlichkeit 76, 158, 160, 169 Thatcher, M. 79 The Journal of Biological Psy chology 22 f. The Times 193 f. The Worm Runner’s Digest 22 f. Theoretiker, theoretisch 51, 58 f., 69, 77, 80, 84, 92 ff, 115, 134, 136, 152 f., 157 f., 162–167, 170 f., 186, 189, 191, 212, 214 f., 221 Theorie und Messung 60, 66 Thermisches Rauschen 117 Thomson, J. 67 Time 140, 159 Time Magazine 142 Townsend, S. 143, 145 ff. Transplantation 16 Travis, D. 223 f. Tritium 73, 80, 87 f., 92 Tronton 205 Tschernobyl 9, 174 Tyndall, W. 105 Übersichtsartikel 204 f., 207, 210 Übertragungsexperiment 19, 22, 26, 28 Unfallforschung 183 ff. Ungar, G. 13, 25–36, 38, 173, 186 Urzeugung 101 f., 104–108, 110, 113 f. Utah, University of 73, 76 f., 80– 83, 87, 142
Vergleichsfotografien, von Sternfeldern bei Sonnenfin sternissen 61–64 Verhältnis Signal/Rauschen, Relation – 132, 208, 222 Verschiebung 40, 44, 49–55, 58– 61, 63, 65–68, 70, 175 Versuchsergebnis 12, 20 f., 23, 28, 38, 41.53.57 f., 107, 109, 120, 124, 132, 154, 165, 201, 211, 215, 220 Von Kluber, H. 224 Voraussage 115, 157 f., 160 ff., 164 ff., 169 f., 194 f., 197, 210, 212 f. Wärmeüberschuß 75 ff., 80, 82, 84ff., 89 ff., 93 f., 98 Walton 196 Wasserstoff 78 f., 81, 156, 160, 170 Wasserstoffbombe 73, 88, 151, 195 f. Weber, J. 115–123, 125, 128–136, 168, 173, 186, 215 Weyl 210 ff. Wiederholung 18–22, 28 f., 31 f., 35 ff, 46, 48 f., 52 f., 57, 65, 75, 77, 87, 89, 91, no, 113, 119, 123, 126, 141, 167f., 194 f., 198, 200, 216 f. Williams, D. 91, 224 Wilson, K. G. 202, 205, 209 Wissenschaft liche Gemeinde 23, 28, 54, 57, 68, 80, 85, 101, 110 f., 133, 136, 159, 174, 186, 188 f., 192, 221 f. Wissenschaft liche Kontrover sen 8, 12, 20 f., 35, 38, 84, 89, 92 f., 95, 102, 135, 140, 143 f., 147, 183, 210, 220 f.
Wissenschaft liche Kultur 70 f.,
171 f.
Wissenschaftliche Methode 10,
71, 109, 114, 175 ff., 216, 221
Wissenschaft liche Revolution
154, 194
Wissenschaftsfeindlichkeit 175
Wissenschaftsgeschichte 7, 18,
99, 109, 173, 197, 202 f., 207–
209, 211, 214, 217
Wissenschaftssoziologie 7, 86
Worm Runner’s Digest 22, 23
Wurm 11, 13–24, 37
Zahn 205
Z-Teilchen 184
»Eine ausgezeichnete Einführung in die Tiefen und Untiefen des wissenschaftlichen Denkens.« The Times Higher Education Supplement »Aus diesem mutigen Buch erfahren Sie mit Sicher heit mehr über das Innenleben der Naturwissen schaften als aus einem halben Dutzend populä rer Darstellungen der Wissenschaft.« New Scientist
Um mit dem Ansturm neuer wissenschaft licher »Entdeckungen« umgehen zu können, müssen wir alle mehr über die Naturwissen schaft, und diese mehr über sich selbst wissen. Der Golem zeigt an 7 Fallgeschichten aus der Forschung des 20. Jahrhunderts, daß die Wis senschaft ein innergesellschaft licher Prozeß ist : Nicht die wissenschaft lichen Experimente liefern also den »Beweis« für angebliche »Tat sachen« ; es ist vielmehr der Prozeß einer all mählichen Einigung über das, was wahr sein soll, in dem Tatsachen definiert werden. An ihm sind wir alle beteiligt.