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IMAbINAII� ���tAll�
Annelore Engel-Braunschmidt Gerhard Fouquet
8il�Br �BS Nor�Bns
Wiebke von Hinden Inken Schmidt
In Verbindung mit Adrian von Buttlar, Heinrich Detering,
(Hrsg.)
Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet, Silke Göttsch-Elten, Volker Kapp, Ulrich Kuder, Lars Olof Larsson, Albert Meier, Olaf Mörke, Lutz Rühling und Bernhard Teuber herausgegeben von Thomas Haye
Ultima Thule
Bd.l
Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart
4 PETER LANG
4 PETER LANG
Frankfurt am Main· Berlin· Bern . Bruxelles· New York· Oxford . Wien
.
Europäischer Verlag der Wissenschaften
-
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
VORWORT ZUR REIHE Mit dem vorliegenden Band begründet das Graduiertenkolleg Imaginatio borealis. Perzeption, Rezeption und Konstruktion des Nordens (GK 5 1 5) eine neue Schriftenreihe, in der seine an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel durchgeführten Forschungen und Studien (Ringvorlesungen, Kolloquien, Vorträge und Dissertationen) einer akademischen wie außerakademischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.
Ultima Thule : Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart 1 Annelore Engel-Braunschmidt; Gerhard Fouquet; Wiebke von Hinden ; Inken Schmidt (Hrsg.). - Frankfurt am Main; Berlin; Bem; Bruxelles ; New York; Oxford ; Wien: Lang, 2001 (lmaginatio borealis. Bilder des Nordens; Bd. 1 ) ISBN 3-63 1-37091-1
Das seit dem 1 . Oktober 1 999 bestehende Kolleg verfolgt einen kulturwissen schaftlichen Ansatz, dessen interdisziplinäre Ausrichtung sich in einem breiten Spektrum von Fächern und Fachrichtungen spiegelt (Geschichte der Frühen Neuzeit, Mittel- und Neulateinische Philologie, Mittlere und Neuere Kunst geschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Neuere Skandinavische Literaturwissenschaft, Romanische Philologie, Slavische Philologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Volkskunde). Hierbei soll das theoretische und metho dische Rüstzeug, welches die Wissenschaft von der Imagologie bereitstellt, zur Untersuchung jener mentalen B ilder und diskursiven Konzepte eingesetzt werden, die sich auf den europäischen 'Norden' oder auf einzelne Aspekte von 'Nördlichkeit' beziehen.
Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.
Die imaginären Bilder des Nordens haben eine lange Tradition: Von der Antike bis in die heutige Zeit haben sie zur Selbstvergewisserung unterschied licher sozialer Gruppen, Völker, Nationen und Dynastien beigetragen, weshalb sie uns in allen Bereichen der Historie, Alltagskultur, Sprache, Literatur und Kunst des europäischen Kontinents begegnen. Trotz dieses ubiquitären Auf tretens sind sie nicht a priori vorgegeben, sondern sie werden konstruiert und dekonstruiert; ihre Ausgestaltung unterliegt historischen Veränderungen, die sich politisch-territorial, konfessionell, sprachlich und kulturell manifestieren können. Wer sich mit ihnen beschäftigt, lernt nicht nur etwas über die Varia bilität scheinbar naturgegebener Raumkonzepte, sondern erkennt mit ge schärftem Blick auch die generellen Mechanismen schöpferischer Einbildungs kraft (imaginatio), wie sie in allen Bereichen des menschlichen Lebens wirksam sind.
ISSN 1 61 5-908X ISBN 3-63 1-37091-1 © Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte vorbehalten.
Der erste Band der neuen Reihe präsentiert die Vorträge der im Wintersemester 1 999/2000 durchgeführten Ringvorlesung, mit der das Kolleg sein Studienprogramm eröffnet hat. Hierbei benennt der programmatische Titel, der eine berühmte Formulierung des römischen Tragikers Seneca aufgreift (Medea, v. 379), einen mythischen Extrempunkt des europäischen Nordens: ultima Thule, jene rätselhafte Insel am Rande des Erdkreises, die - so meinte der antike Seefahrer und Geograph Pytheas von Massalia - sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien liegt.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere rur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany 1 2 3 4 6 7
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Doch bis weit in die frühe Neuzeit hinein war Thule weniger ein geographischer denn ein geistiger Fixpunkt, auf den die unterschiedlichsten Ideen und Vorstellungen von menschlicher Gemeinschaft projiziert wurden. So schildert im 1 1 . Jahrhundert der Kirchenhistoriker Adam von Bremen diesen Ort als Insel der Seligen und preist seine Bewohner: "Daher verbringen sie in heiliger Einfalt das Leben, da sie nichts weiter begehren, als was die Natur gewährt, und froh können sie mit dem Apostel sagen: 'Wenn wir Nahrung und Kleider haben, so wollen wir damit zufrieden sein' [ 1 . Tim. 6, 8]. Denn anstatt der Städte haben sie ihre Berge, und Quellen sind ihr Vergnügen. Selig, sage ich, ist das Volk, das von niemandem um seine Armut beneidet wird [... ]" (IV 36). - Welcher mythische Ort könnte besser geeignet sein, das Konzept der 'Imaginatio borealis' zu illustrieren, als diese ultima Thule? Für die zügige und reibungslose Publikation des vorliegenden Bandes ist nicht nur allen Beiträgern, sondern auch den vier Herausgebern herzlich zu danken. Hierbei ist es kein Zufall, dass sich die editorische Quadriga je zur Häfte aus Hochschullehrern (Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet) und Doktorandinnen (Wiebke von Hinden, Inken Schmidt) zusammensetzt; vielmehr wird mit einer solchen Besetzung zum Ausdruck gebracht, dass es den Initiatoren des Kollegs ein wichtiges Anliegen ist, den wissenschaftlichen Nachwuchs möglichst frühzeitig an die Freuden und Mühen des akademischen Alltags heranzuführen. Aufgrund der positiven Erfahrungen wird dasselbe Herausgebergremium demnächst auch den zweiten Band der Reihe publizieren, welcher die Vorträge aus der Ringvorlesung des Sommersemesters 2000 enthalten soll. Für die produktive und angenehme Zusammenarbeit bei der Buchherstellung sei Herrn Michael Rücker vom Peter Lang Verlag gedankt. Lobende Erwähnung verdienen auch Carsten B inder und Jens Kreutzfeldt für ihren Einsatz beim Lesen der Korrekturfahnen. Im Namen der Kolleginnen und Kollegen Adrian von Buttlar, Heinrich Detering, Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet, Silke Göttsch-Elten, Volker Kapp, Ulrich Kuder, Lars Olof Larsson, Albert Meier, Olaf Mörke, Lutz Rühling und Bernhard Teuber:
Kiel, im Oktober 2000
Thomas Haye (Sprecher des Graduiertenkollegs)
VORWORT DER HERAUSGEBER
"Ultima Thule" - dieser Begriff stand am Beginn der Vorlesungsreihe des Kieler Graduiertenkollegs Imaginatio Borealis. Perzeption, Rezeption und Konstruk tion des Nordens im Wintersemester 1 999/2000. Mit ihm verbinden sich seit alters die Vorstellungen vom Norden, wie sie sich vom antiken Griechenland über den römischen Kulturkreis bis in die Neuzeit weitertrugen und entwickelten. Mit jenen Bildern des Nordens beschäftigen sich die Autoren dieses Bandes. Sie fragen nach den konkreten Ausprägungen und Vorstellungen, die sich für bestimmte Zeiten und bestimmte Menschen mit dem zumeist fremden Norden verbanden. Konstitutiv fllr Imaginationen in der Antike waren im wesentlichen mythologische Vorstellungen. Diese tradierten Imagines wurden im Laufe der Jahrhunderte durch neue Erfahrungen in Form von Reiseberichten erweitert, so dass ein vielfältiges und komplexes, durchaus ambivalentes Bild dessen entstand, was sich uns heute als Norden im geographischen und metaphorischen Sinn präsentiert - mit all jenen Konnotationen des Nordischen und der Nördlichkeit. Um diese Traditionen aufzudecken, wurde in der Vorlesungsreihe die Chronologie als maßgebliche Richtschnur verwendet, die auch in diesem Band beibehalten wird. Lutz Käppel zeigt in seinem Beitrag anhand der Entwicklungspsychologie des Schweizers Jean Piaget die Konstruktion des Nordens im antiken Griechenland mit besonderer Berücksichtigung der Interdependenzen zwischen figurativen und operativen Aspekten auf. Dabei steht die Imagination des Nordens, wie sie sich in Mythologie und Literatur niederschlägt, im Mittelpunkt. Die Voraussetzungen und Folgen der Rezeption vornehmlich römischer Schriften im Mittelalter behandelt Al/an A. Lund. Dabei richtet er sein Augen merk auf die Konstruktion "nördlicher" Völker wie die Germanen und verknüpft die soziokulturellen Gegebenheiten mit der geographischen Verortung im "Norden". Hierbei spielt die zunehmende Auseinandersetzung mit der topo graphischen Größe Skandinavien in der Spätantike und im Mittelalter eine zentrale Rolle. Einen ähnlichen Aspekt beleuchtet Francisco Molina Moreno, indem er die Aspekte eines "heiligen Nordens" in den Vorstellungen herausarbeitet, die von der Antike bis zum Mittelalter reichen. Diese stellen sich als Komplementär i maginationen zu einem Norden der Kälte und der Finsternis dar. Der Beitrag von OlqfMörke zielt auf die Wechselbeziehungen zwischen den Fremd- und Selbstbildern des Nordens, die insbesondere in der Umbruchzeit des Dreißigjährigen Krieges virulent werden und die politische Neuordnung und Wahrnehmung der nordeuropäischen Mächte prägen.
Diesen Gesichtspunkt beleuchtet Lars Olo! Larsson auf dem Gebiet der Bildenden Kunst. Die Vorstellungen vom Norden, wie sie sich insbesondere in der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts mani festieren, werden in seinem Beitrag kontrastiert mit skandinavischen Vorstel lungen von einer eigenen, anderen Antike und deren Konsequenzen für das Selbstbild im europäischen Kontext. Der Beitrag von Volker Kapp wendet sich ab von der konkreten geo graphischen Orientierung am Norden und widmet sich dem Einfluss der meta phorischen Vorstellungswelt des Ossianismus auf die Literatur der Romantik in Frankreich. Unter volkskundlicher Perspektive analysiert Silke Gättsch-Elten die popu lären B ilder des Nordens in unterschiedlichen Medien und Kontexten. Diese reichen von den Weltausstellungen über Tier- und Völkerschauen bis hin zur Werbung eines großen schwedischen Möbelkonzems. Das besondere Interesse gilt der Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung dieser Imagines. Das Fortleben tradierter Bilder von arktischen Regionen in den Köpfen derjenigen, die um 1 900 an Polarexpeditionen teilnahmen, sowie das Nachleben dieser Vorstellungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts untersucht Bettine Menke. Sie zeichnet hier eine Imagination des Nordens, die als Extremerfahrung sowohl Schrecken als auch faszinierten Forscherdrang und besitzergreifende Neugier hervorruft. Den Band beschließt der Beitrag von Bernhard Teuber mit einer Synopse. Sie ist dem theoretisch-methodischen Rahmen dieser ersten Vorlesungsreihe gewidmet. Dabei entwickelt der Autor eine Topographie der Kultur anhand der aktuellen Theoriedebatten und stellt Anknüpfungspunkte an bekannte Kulturtheoretiker wie Michail Bachtin, Stephen Greenblatt, Michel Foucault, Michel de Certeau und lose Lezama Lima vor. Mit Hilfe dieses Ansatzes wird ein dynamisches Modell konstruiert, innerhalb dessen sich Kulturen als imaginäre Räume mit spezifischen Ausprägungen lesen lasserl.
Kiel, im Oktober 2000
Annelore Engel-Braunschmidt Gerhard Fouquet Wiebke von Hinden Inken Schmidt
INHALT
Vorwort zur Reihe
5
Vorwort der Herausgeber
7
Lutz Käppel: Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
11
Allan A. Lund: Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
29
Francisco Molina Moreno: Bilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
47
Ola!Märke: Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit. Zur Wirkmächtigkeit von Vorstellungswelten in der politischen �andschaft Europas
67
Lars Olo!Larsson: Eine andere Antike und die wilde Natur. Das Bild des Nordens in der bildenden Kunst der frühen Neuzeit
93
Volker Kapp: Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
107
Silke Gättsch-Elten: Populäre Bilder vom Norden im 19. und 20. Jahrhundert
1 23
Betline Menke: Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek: Nachfahren Petrarcas und Dantes im Eis und in den Texten
145
Bernhard Teuber: Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
1 73
Autoren des Bandes
203
Personen- und Ortsregister
207
BILDER DES NORDENS IM FRÜHEN ANTIKEN GRIECHENLAND Lutz Käppel
"Ultima Thule", die Insel am Rande der Welt als der Inbegriff von Nördlichkeit, ist gewiss ein passender Obertitel für eine Ringvorlesung, die sich dem Bild widmet, das sich die europäischen Kulturen von den nördlichen Regionen ihres geographischen Territoriums gemacht haben und heute noch machen. Denn diese sagenhafte Insel irgendwo im Nordmeer, die man nur vom Hörensagen kannte, ist die ideale Metapher für jenes Gemisch aus Wissen, Fiktion und Kon struktion der Konzepte von Nördlichkeit, die insbesondere die Griechen ent wickelt haben. Den Gräzisten fordert dieser Titel freilich zusätzlich heraus. Die Heraus forderung besteht darin - und darüber täuscht der lateinisch formulierte Titel "ultima Thule" prima facie leichtfertig hinweg -, dass Thule eigentlich uns Gräzisten gehört. Denn es war Pytheas von Massilia, dem heutigen Marseille, der griechische Philosoph und Geograph des 4. Jhs. v. Chr., der als erster Re präsentant der griechisch-römischen Welt eine Reise in die nördlichen Regionen Europas unternahm und darüber in seinem Werk "Über den Okeanos" nach Maßgabe der modernsten Methoden der mathematischen Geographie seiner Zeit berichtete. Er - und für lange Zeit nur er allein - brachte die Kunde von der Insel Thule und vom Polarkreis mit seinen unerhörten Naturwundern authen tisch in die Zivilisation der mediterranen Welt. Seine Berichte verschlagen noch heute dem Leser durch die Authentizität ihrer Beobachtungen den Atem. Nur welche Insel Pytheas mit "Thule" gemeint haben könnte, war schon für die Römer, die die wissenschaftliche Erforschung des Nordens wiederaufgenommen hatten, ein rätselhaftes Geheimnis. Und so kam es, dass aus der wissen schaftlichen Entdeckung des Geographen Pytheas bald jene gleichsam mythische Chiffre für das nördliche Ende der Welt wurde, die auch wir noch verstehen und mit Bildern, Konzepten und Visionen füllen können. Für diesen "Mythos" Thule wäre der lateinische Titel dann doch berechtigt, denn es ist die lateinische Tradition, die diese mythische Projektionsfläche transportiert, die immer wieder neu mit Inhalten gefullt wurde. Während der Begriff "Thule" also für die abendländische Tradition den Norden als geistiges Konstrukt, als meta phorischen Raum, als quasi-mythische Proj ektionsfläche repräsentiert, markiert er fur die griechische Geistesgeschichte gerade den Beginn der quasi-ent mythologisierenden naturwissenschaftlichen Erforschung des Nordens. Denn die Reise des Pytheas und ihre Beschreibung in "Peri tou Okeanou" bildet den Angelpunkt des antiken griechischen Diskurses über den Norden. Im Folgenden soll jedoch die Zeit davor in den Blick genommen werden. Denn schon seit Homer hatten die Griechen durchaus ein sehr konkretes Bild vom Norden ausgeformt. Damit soll nicht die Auseinandersetzung mit den
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Lutz Käppel
direkten nördlichen Nachbarn - den Thrakern oder den Skythen, von denen der Historiker Herodot im 5. Jh. v. ehr. berichtet - gemeint sein, sondern ein Bild vom Norden als einem Konzept von Nördlichkeit schlechthin: und zwar einem Norden, der nicht bereist, erobert, erforscht und schriftlich dokumentiert ist, sondern der bestenfalls in disparaten Details vom Hörensagen bekannt und dem entsprechend phantasievoll entworfen, konstruiert und imaginiert ist. Es liegt zwar auf der Hand, dass das aktive subjektive Konstruieren und Imaginieren umso größer ist, j e weniger Objektwissen über den erkannten Gegenstand vor handen ist. Doch ist dies durchaus auch eine Form von Erkennen. Denn erstens ist das Mehr oder Weniger an vermeintlichem Objektwissen ohnehin fließend, und zweitens ist auch bei einer scheinbar hohen Rate an solchem Wissen der entscheidende Akt der des Zueinander-in-Beziehung-Setzens, also im Kern konstruktiv. "Erkennen" fasse ich damit im Sinne des Schweizer Entwicklungspsycho logen und Erkenntnistheoretikers Jean Piaget ( 1 896-1980). Mit ihm möchte ich im Folgenden in der geistigen Konstruktion von Realität - in unserem Fall der Realität des Nordens - zwei Aspekte des Denkens unterscheiden: 1 Erstens einen figurativen Aspekt: Er besteht in der Imitation von äußeren, als statisch aufgefaßten Zuständen. Er realisiert sich in der Wahrnehmung; sein Er gebnis, die geistige Vorstellung, ist das der internalisierten Nachahmung. Der zweite Aspekt ist der operative Aspekt: Er besteht in einer geistigen Transformation von einem Zustand in einen anderen. Er wird ausgeführt durch symbolische Repräsentation. Sein Ergebnis ist die Konstruktion von Trans formationssystemen, die sich an oder mit Objekten ausführen lassen. Das Erkennen eines Objektes erfolgt erst durch das Zusammenspiel beider Aspekte. Denn ein Objekt erkennen heißt nicht, es geistig abzubilden, sondern operativ auf es einzuwirken. Entwicklungspsychologisch ausgedrückt: Ein Kind lernt seine Umwelt nicht dadurch zu erkennen, dass es sie immer und immer wieder anschaut und wahrnimmt, sondern dadurch, dass es die in ihr befindlichen Objekte zu sich und zueinander in Beziehung setzt und an ihnen in verschiedenen Formen symbolischer Repräsentation Systeme von Trans formationen erprobt, einfach ausgedrückt: indem es mit ihnen "spielt". Ein Bild von der Welt, d.h. Erkenntnis, entsteht dabei in einem System von Transformationen, die allmählich immer konsistenter werden. Piaget hat diesen Ansatz der genetischen Erkenntnistheorie zwar an Kindern entwickelt und empirisch erforscht, konnte ihn jedoch auch auf die Beschreibung von Entwicklungen von Erkenntnisprozessen überhaupt, insbesondere kollektiven Erkenntnisprozessen wie kulturellen Mustern in der Wahrnehmung von I
1. Piaget, Einflihrung in die genetische Erkenntnistheorie, übers. von F. Herborth, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1 996, S. 2 1 -23 (eng!.: Genetic Epistemology, New YorkILondon 1 970).
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Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
Wirklichkeit oder der Evolution wissenschaftlicher Weltbilder ausdehnen. 2 Ich werde diesen Ansatz der Bestimmung von Erkenntnis (d.h. der Konstruktion von Wirklichkeit) als Zusammenspiel figurativer und operativer Denkprozesse auf der symbolischen Ebene der Sprachlichkeit in der folgenden Analyse zugrunde legen. Dabei setze ich ausdrücklich seine Anwendbarkeit auch und gerade auf mythologische und literarische Weltentwürfe voraus, ohne dass damit behauptet wäre, dass diese einer gleichsam "kindlichen" Entwicklungsstufe angehörten, gegen die die Rationalität "erwachsener" Denkmodelle abzugrenzen wäre. Schon Piaget hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um Grundstrukturen von Wirklichkeitskonstruktion schlechthin handelt, die in den verschiedensten Varianten und in den verschiedensten Formen der Wirklichkeitserfassung offen oder latent wirksam ist. 3 Im Folgenden beschränke ich mich auf die Repräsentationsform der Sprachlichkeit. Andere symbolische Repräsentations medien wie die darstellende Kunst oder die symbolische rituelle Handlung wären ebensolche Repräsentationsformen. Ich muss sie hier in dieser kurzen Darstellung leider übergehen. Welches sprachliche Material steht uns nun rür diese Analyse der Bilder des Nordens im antiken Griechenland zur Verfügung? Ich erwähnte bereits, dass ich die Darstellung der Thraker und Skythen hier beiseite lassen und mich dem Konzept von Nördlichkeit als der Himmelsrichtung an sich zuwenden möchte. Piaget, Einführung (wie Anm . 1), bes. S. 87 f. Piaget, Einfuhrung (wie Anm. I), S. 7-28. Einen ersten zögernden Schritt zur Übertragung des entwicklungsgeschichtlichen Modells auf die Beschreibung mythischer Denkformen hat U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1 988, S. 1 37-1 40 getan: "Es fehlt viel, dass diese Einsichten (sc. die Piagets) direkt auf das mythologische Denken übertragbar wären [. . . ] Auch ist die Berechtigung der Analogie der kindlichen Entwicklungsphasen zu den anthropologischen umstritten. Immerhin trifft man dort auf Kategorien, die das hier Gemeinte erläutern. Der Handlungscharakter der Raumvorstellung entspricht dem, was hier als das erzählende Wesen der mythischen Räumlichkeit benannt wurde" (S. 140). VgL auch schon ähnliche Ansätze zur Beschreibung mythischer Raumvorstellungen bei K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1 985, S. 1 70: "Der mythische Raum ist kein allgemeines Medium, in dem sich Gegenstände befinden, sondern Raum und Rauminhalt bilden eine unauflösliche Einheit [ . .. ] Er stellt keine kontinuierliche Punktmannigfaltigkeit dar, sondern ist aus lauter diskreten Elementen [ . .. ] zusammengesetzt . . . ] (Er) ist nicht homogen, da sich in ihm Orte dadurch unterscheiden, dass sie [...] eine absolute Lage haben (Oben, Unten usf.) [ . ] Er ist nicht isotrop, da es keinesfalls gleichgültig ist, in welcher Richtung sich eine Ereignisfolge ausbreitet . . ] Mythisch gibt es keinen Gesamtraum, in dem alles seine Stelle hat, in den alles eingeordnet werden kann, sondern es gibt nur Aneinanderreihungen einzelner Raumelemente [ . . . ]". Vg!. auch E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II: Das mythische Denken, 9. Aufl., Ndr. Darmstadt 1994, S. 1 09-116, bes. S. 1 1 1 : "[ . ] alle Anschauung der Form ist (sc. im mythischen Raum) eingeschmolzen in die Anschauung des Inhalts ... ]". -
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Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
Lutz Käppel
14
wie Uvo Hölscher es treffend genannt hat - "die Welt". 4 In der Tat sind eine Fülle von realen geographisc��n Orten erkennbar: Ithaka selbst, die Ägäis ins gesa�t, a�ch Kreta, Zypern, Agypten und Sizilien, um nur einige zu nennen. 5 Jenseits dieser bekannten Welt des Mittelmeerraumes liegt die Welt der Aben teuer und Irrfahrten des O�ysseus. Sie führen ihn in unbekannte Regionen des . Erdkreises: zu merkwürdigen Völkern, furchterregenden Riesen, exotischen Zau?eri�nen, �is hin zu Fabelwesen, ja sogar bis in die Unterwelt. Odysseus' BerIcht uber diese Abenteuer und Irrfahren erfolgt im zweiten Teil der Schilde rung�n von seinem Au�enthalt bei den Phäaken: den sog. Apologoi (Buch 9-1 2). . Bereits selt dem Hellemsmus war man bemüht, die Geographie dieser Irrfahrten im Rahmen der Geweils) bekannten Mittelmeergeographie zu lokalisieren 6 eine Bemühung, die bis heute nicht abreißt.7 Allen diesen Lokalisierungsver;uchen gemeinsam ist die Prämisse, dass der jeweils gesuchte Ort einen Platz in der ,realen' Welt haben müsse, und zwar in dem Sinne, dass dieser Platz im Rahmen einer - insbesondere an den Rändern - damals noch unvollständig erforschten und ansonsten auch in der Vorstellung ein wenig deformierten "Welt" liege, die aber doch im wesentlichen grundsätzlich nach den Kategorien unserer Raumvorstellung strukturiert ist: auf einer "Landkarte [. ..] mit weißen Flecken und von der Phantasie ergänzten Rändern".8
Ich habe zu diesem Thema, das in der gräzistischen Altertumskunde merkwürdigerweise nicht einmal in einer umfassenden Materialsammlung geschweige denn in einer systematischen Untersuchung - einen Niederschlag gefunden hat, folgende drei Materialkomplexe ausgewählt: 1)
Erstens eine Passage aus der Odyssee Homers von der Wende vom 8. zum 7. Jh. v. Chr., und zwar das Abenteuer, das Odysseus bei seiner Irr fahrt bei den sog. Lästrygonen im 1 0. Buch erlebt. Eine interessante Folie dazu ist die Beschreibung der Kimmerier zu Beginn des 1 1 . Buches.
2)
Den zweiten Materialkomplex, den ich behandeln werde, möchte ich das Syndrom der Nördlichkeit in der mythologischen Konstruktion des Gottes Apollon nennen, und zwar in den 'Symptomen': 'Apollon und der Schwan', 'Apollon und die Hyperboreer' sowie die 'Bernsteintränen der Heliaden nach dem Tod des Phaethon'.
3)
Als Drittes schließlich werde ich in einem kurzen Ausblick die Dar stellung des Nordens bei dem schon erwähnten Pytheas von Massilia skizzieren und kurz vor dem Hintergrund der Ergebnisse von 1 ) und 2) zu interpretieren versuchen.
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In einem solchen Modell wäre jedoch ein wesentliches Charakteristikum des mythologischen Raumes und damit der homerischen Geographie verkannt. Denn d� mythologische Denken kennt nicht - wie etwa später die atomistische PhIlosophenschule um Demokrit- den leeren physikalischen Raum. Raum wird nur erfahren an den Dingen und Vorgängen; sie sind nicht im Raum, sie sind der Raum - ähnlich übrigens wie die Zeit, die bei den frühen Griechen nicht als Medium, in dem etwas stattfindet, aufgefasst wird, sondern - wie Hermann Fränkel eindrücklich gezeigt hat - nur als "erfüllte Zeit", als Eigenschaft der
Der unterschiedliche Charakter dieser drei Materialkomplexe wird jeweils ver schiedene methodische Zugriffe erforderlich machen. Der erste erfordert, da es sich um die literarische Darstellung des Themas Norden handelt, einen literatur wissenschaftlichen Zugriff im engeren Sinne, d.h. zur Klärung der Leitfrage nach der Konzeption des Nordens ist vorrangig nach der poetischen Funktion des Textausschnittes im Gesamtwerk zu fragen. Der zweite erfordert als mytho logische Gesamtkonstruktion die Methode der strukturalen Mythenanalyse, und das dritte Beispiel schließlich lädt als wissenschaftlicher Text zur geistes geschichtlichen Einordnung ein.
4
1.
Zunächst also zu Homer: Ein wesentliches Charakteristikum des (Groß-)Epos ist es, dass in ihm die Welt als umfassendes Ganzes dargestellt wird. In der Ilias ist es das Universum von Göttern und Menschen im großen Kreis paradigmatischer Einzelschicksale (Achill, Hektor etc.), in der Odyssee dagegen tut sich die Welt in ihrer bunten Konkretheit als umfassendes "Universum" auf: Das "Soziale" wird ebenso zum Thema wie das "Zeitgeschichtliche", die "griechischen Fürstennachbarschaften" ebenso wie die "mittelmeerische Handelswelt", die "Exotik Ägyptens" wie die "Wunder der Meere". Die Welt des Odysseus ist-
Dazu und zum Folgenden s. Hölscher, Die Odyssee (wie Anm . 3), S. 135-158; die oben zitierten Begriffe auf S. 135. Zu Ithaka: Horn. Od. 1,102ff.; 13,93ff., 187ff.; Kreta: Horn. Od. 19,I72f., 188f., 338; Zypern: Ho� ?d. 4,83; 8,362; 17,442ff. ; Ägypten: Horn. Od. 3,300; 4,351ff.; 14,245ff.; : 17,425ff. ; SlZlhen: Horn. Od. 20,383; 14,211. Die frühesten Autoren, die sich der Lokalisierung der Abenteuer widmeten, waren . Kallisthenes (s. Strabo 12,3,5 C. 542), Zenon (s. Dio Chysostomos 53,4; Stoicorum v�terum fragmenta fr. 275 [vol. 1,63]), Demetrius von Skepsis (Strabo 13,1,45 C. 603); H �pp�chos (Strabo 1,1,2 C. 2 und 1,2,20 C. 27) und Apollodor (Fragmenta Graecorum Histoncorum �44 F 157, 170, 171 Müller), Aristarch und Krates von Mallos (Strabo 1,2,24 C. 30); PolyblOS 34,2,1-4, 8; vgl. F. W. Walbank, A Historical Commentary on Polybios 1II, Oxford 1979, S. 577-587. bwohl schon � ratosthenes davor gewarnt hatte, die Irrfahrten geographisch zu lokali sieren: " Man Wird herausfinden, wo Odysseus herumgeirrt ist, wenn man den Schuh macher findet, der den Windschlauch des Aeolus genäht hat" (überliefert bei Strabo 1 '2,15 C. 24). Hölscher, Die Odyssee (wie Anm. 3), S. 137.
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Lutz Käppel
Geschehnisse selbst.9 Nur kurz verweisen möchte ich an dieser Stelle auf die Untersuchungen Piagets zur Entwicklung von Raumvorstellungen von Kindern unter sieben Jahren: Auch sie erfassen Raum zunächst nur als relative Lage von Objekten ohne Beachtung von Nähe und Feme - also leerem physikalischem Raum - im Prozess spielerischer verinnerlichter Handlung.lo Ganz ähnlich verfahrt - bei allen Differenzen - das mythologische Denken: Dem Handlungs charakter der Raumvorstellung bei Kindern entspricht hier das erzählende Wesen der mythischen Räumlichkeit.
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Eine Route der Irrfahrten des Odysseus an einer modemen Landkarte nach zuzeichnen, verbietet sich also schon allein aus diesen grundsätzlichen Gründen. Und doch sind die Abenteuer der Odyssee nicht vollkommen außerhalb jeglicher Geographie. II Die Irrfahrt fUhrt nicht sogleich ins märchenhafte Nirgendwo. Nordsturm (Boreas) war es, der Odysseus' Flotte vor der thrakischen Küste erfasste und nach Süden bis zur Südspitze der Peloponnes brachte. Am Kap Malea, der rechten Fingerspitze der Peloponnes, möchte Odysseus dann nach Westen einbiegen - wie es in 9,80 heißt - offensichtlich doch, um in Richtung Ithaka, das sich bekanntlich südlich von Korfu befindet, nach Hause zu fahren. Aber genau hier wächst der Nordsturm zu solcher Gewalt, dass er die Schiffe neun Tage über das offene Meer treibt - neun Tage, d.h. eine unendlich lange Zeit - hinein in ein Irgendwo, ins Land des Vergessens zu den Lotophagen, immerhin in ein Irgendwo, in das man von Norden aus gelangt war,· das also irgendwie südlich liegt. Nach dem anschließenden Polyphemabenteuer kommt man zur Windinsel des Aiolos, von wo aus Odysseus nach neun Tagen unter Westwind bis kurz vor Ithaka gelangt ( 1 0,28); Aiolos ist also irgendwo im Westen (westlich von Ithaka) zu denken. Die übernächste Station ist dann die Zauberin Kirke in Aiaia, dort wo die Wohnung und Tanzplätze der Morgenröte sind ( 1 2,4), also im Osten. Im Süden also wohnen die Lotophagen, im Westen Aiolos, im Osten Kirke. Zwischen Aiolos und Kirke liegt nun das Lästrygonen Abenteuer. Die Märchen-Geschichte, die im Prinzip überall spielen könnte, ist mit der berühmten und merkwürdigen Beschreibung eingeleitet, die mich veranlasst hat, diesen Text fUr Sie zur Interpretation auszUwählen. Ich gebe die schöne metrische Übersetzung von Roland Hampe,12 Buch 1 0, V. 80-86:
9 10
II 12
H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: ders., Wege und Formen des frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hrsg. von F. Tietze, 3. Aufl . , München 1968, S. 1-22. J. Piaget, B. Inhelder u.a., Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, Ge sammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 1975, S. 486-517, S. 520f.; J. Piaget, Nachahmung, Spiel und Traum, Gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 1975, bes. S. 117-367. Vgl. auch Hübner (wie Anrn. 3) und Cassirer (wie Anm . 3). Das Folgende in Anlehnung an Hölscher, Die Odyssee (wie Anrn. 3), S. 142-147. Homer, Odyssee, übers. von R. Hampe, Stuttgart 1979.
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland 80
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Und sechs T�ge fuhren die Nächt� wir durch und die Tage, Kamen am sIebenten dann zur steden Feste des Lamos, Nach Telepylos, dem lästrygonischen, dort wo der Hirte, Wenn er eintreibt, ruft, und es hört ihn der Hirte, der austreibt. Da verdiente ein schlafloser Mann wohl doppelte Löhne, . Emen als Rinderhirt und einen als Hüter der weißen Schafe; denn nahe sind dort die Pfade der Nacht und des Tages.
Im Lästrygonenland ruft also der heimkehrende Hirte dem anderen zu der bereits mit seiner Herde auszieht, und wer den Schlaf nicht brauchte, könnt� dort doppelten Tageslohn verdienen, denn "nahe sind dort die Pfade der Nacht und des Tage�", d.h. �aum ist die Nacht gekommen, kommt auch schon der Tag. Die Aussage Ist unmittelbar verständlich: Es ist ein Land, in dem die Nächte so ver schwindend kurz sind, dass ein Tag praktisch an den anderen anschließt. Die Vorstellung von einem solchen Land kann schwerlich aus der Phantasie oder aus astronomischen Spekulationen entsprungen sein. Ich halte es mit den Homer interpreten, die annehmen, dass eine feme Kunde von den Sonnennächten des ho�e!l Nor��ns !lach Griechenland gedrungen ist.l3 Die geschichtliche Möglich keit Ist tatsachhch vorhanden. Bernstein ist von der Ostsee schon im 2. Jahr tausend nach Mykene gelangt,14 weshalb nicht also auch diese Information? Doch dieses bloße Faktum der Sonnennacht im Norden ist nun bestenfalls das was ich den figurativen Aspekt der poetischen Konstruktion nennen mÖChte denn die nördliche Wirklichkeit entsteht erst operativ in der erzählerischen Handlung:
;
Ich fahre fort im Text: V. 87-1 1 5 :
90
95
13
14
Und dann kamen wir hin zu dem herrlichen Hafen, den ringsum Schroffer Felsen umgibt, der beiderseits ununterbrochen; Steile ragende Küsten, einander grad gegenüber, Reichen tief in die Mündung hinein, und eng ist die Einfahrt. Dorthinein lenkten sie alle die Schiffe, die doppeltgeschweiften. Innen im hohlen Hafen wurden sie nah beieinander Festgebunden; denn niemals schwoll da innen die Woge, Weder groß noch gering; es war rings spiegelnde Glätte. Ich allein mit dem schwarzen Schiff hielt draußen vorm Hafen ' Dort am äußersten Rand, und band die Taue an Felsen. Und ich kletterte auf eine felsige Warte und stand dort; Weder Werke von Rindern noch Menschen waren da sichtbar. . Wemg überzeugend scheint mir die Deutung von A. Heubeck, in: A. Heubeck, A. Hoekstra, A Commentary on Homer's Odyssey, Vol. II, Oxford 1989, S. 48, der die Lästrygonen im Osten lokalisieren möchte, weil sich dort Tag und Nacht bei Sonnenaufgang träfen; richtig dagegen u.a. A. Lesky, s.v. Homeros, in: RE Suppl. 11 (1968), Sp. 797. Vgl. C. HÜllemörder, R. Wartke, V. Pingel, s.v. Bernstein, in: Der Neue Pauly, hrsg. von H. Cancik und H. Schneider, Bd. 2, StuttgartlWeimar 1997, S. 575-577.
Lutz Käppel
18
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
Das Epos formt also ein Gesamtbild im Wechselspiel figurativer Erzählakte einerseits (also der Schilderung der Sonnennacht im Norden, vielleicht auch des fehlenden Ackerbaus [V. 98 heißt es: "keine Werke von pflügenden Rindern"]) mit operativen Erzählakten andererseits. Das Ergebnis ist eine Konstruktion des Nordens als einer Landschaft des Liebreizes und der zivilisatorischen Ordnung. Im Rahmen des narrativen Gesamtkonzeptes der Irrfahrten setzt es außerdem die Kreisbewegung von den Lotophagen (Süden) über Aiolos (Westen), die Lästrygonen (Norden) bis zu Kirke (Osten) fort und gibt somit den Irrfahrten insgesamt als Durchquerung der gesamten Welt ihre plausible Kreis-Form (s. Abb. 1 ). Ich möchte nochmals betonen, dass es auch in der Gesamt darstellung der Irrfahrten nicht um das Ansteuern von Koordinaten des physikalischen Raumes geht, sondern um die narrative Konstruktion von Welt im operativen Durchspielen ihrer elementaren Relationsbegriffe: südlich, westlich, nördlich, östlich.
Und wir sahen als einziges Rauch dem Boden entsteigen. 100
Da entsandt ich Gefahrten, die sollten gehn und erkunden, Was für Männer es seien, die Brot hier äßen im Lande.
Zwei Mann wählte ich aus, dazu einen dritten als Herold. Ausgestiegen, gingen den Fahrweg sie, wo die Wagen Sonst von den hohen Bergen das Holz zur Stadt hinab führen, 105
Trafen dort vor der Stadt ein Wasser holendes Mädchen, Des Antiphates, des Lästrygonen, kräftige Tochter. Zum schön fließenden Quell Artäkia stieg sie herunter, Denn dort holten sie für die Stadt sich immer das Wasser. Und sie traten zu ihr und sprachen sie an mit der Frage,
I
110
Wer denn hier ihr König sei und ihnen gebiete. Die wies gleich auf des Vaters Haus, das hochüberdachte. Als sie die stattlichen Häuser betraten, da fanden sie seine Frau, so groß wie ein Bergesgipfel, und schauderten vor ihr. Die rief Antiphates gleich, den berühmten, aus der Versammlung, Ihren GemahL
Zusätzlich rückt die Nördlichkeit nun noch in ein Jenseitskonzept ein, dem ich mich nun zum Abschluss der Homerinterpretation noch zuwenden möchte. Denn Telepylos ist nicht der einzige Eingang ins Jenseits. Odysseus betritt die eigent liche Unterwelt auf einem anderen Weg.
Die Beschreibung der hellen, phantastischen Lichtverhältnisse korrespondiert mit der Beschreibung des Landes selbst: der ruhige Hafen, die schützenden Klippen, die angelegten Wege, die frische Quelle, die herrliche Stadt, die hohen Häuser, die Berge, das liebliche wasserholende Mädchen, die Versammlung auf der Agora: all dies zeigt deutlich das Gepräge der lieblichen odysseischen Landschaften, wie wir es Z.B. vom paradiesischen Land der Phäaken kennen. Doch die Idylle trügt - ich paraphrasiere die folgenden Verse 1 1 2- 1 29: Die Lästrygonen entpuppen sich als gefährliche Menschenfresser (V. 1 1 6); sie bom bardieren die Flotte mit Felsen (V. 1 2 1 ), und Odysseus entkommt nur knapp unter hohen Verlusten dem Tode, dank seiner Vorsichtsmaßnahmen.
Zu Beginn des 1 1 . Buches heißt es (V . 1 1 -22): Einen Tag lang fuhr das Schiff mit geschwollenen Segeln; Und die Sonne versank, und es dunkelten alle die Wege, Da erreicht' es den Rand des tiefen Okeanos-Stromes. Da befinden sich Volk und Stadt der kimmerischen Männer,
15
Noch wenn er wieder zur Erde herab vom Himmel sich wendet, Sondern schreckliche Nacht liegt über den elenden Menschen. 20
Wiss.
Wien,
PhiJosoph.-hist.
Klasse,
Bd. 178, 1.
Abh.),
Aus dem Schiff und gingen entlang dem Okeanos-Strome,
Von dort aus geht es dann hinab in die Unterwelt, und die sog. Nekyia beginnt. Es scheint also einen zweiten Eingang zu geben, erreichbar auf dem Wasser weg, dem Ringstrom des Okeanos, der - so die gängige Vorstellung - die Welt umfließt. Charakterisiert ist er durch folgende Merkmale: Die Einwohner heißen Kimmerier, es ist neblig, und es ist permanent Nacht. Es scheint offensichtlich, dass dieser Eingang als finsteres Gegenstück zu der hellen Jenseitskonzeption der Lästrygonen-Stadt Telepylos konstruiert ist. Doch wo - oder besser gesagt in welcher Relation liegt dieser Eingang der Kimmerier? Seit der Antike siedelte man die Kimmerier im äußersten Norden an und identifizierte sie mit einem gleichnamigen historischen Stamm, der etwa Ende des 8. Jhds. vor Christus von Norden her den Kaukasus überschritten und in der Folge Kleinasien terrorisiert
S. 17 und ders., Zur
Hadesmythologie, Rheinisches Museum 60 (1905), S.592; danach auch Hölscher, Die Odysse (wie Anm.
Dorthin kommend, liefen wir auf und nahmen die Schafe Bis zu dem Platz wir kamen, den uns gewiesen die Kirke.
L. Radermacher, Die Erzählungen der Odyssee, Wien 1915 (Sitzungsber. der Österr. Akad. d.
Eingehüllt in Wolke und Dunst, und es blicket da niemals Helios nieder auf sie, der leuchtende, mit seinen Strahlen, Weder wenn aufwärts er zum gestirnten Himmel emporsteigt,
Em ambivalentes Land also ist dieser Norden. Auf der einen Seite hell, ein ladend, liebreizend, zweckmäßig angelegt mit Einrichtungen städtischer Zivi lisation und politischer Ordnung, auf der anderen Seite bevölkert von tod bringenden, menschenfressenden Riesen. Der Name dieses Landes ist Telepylos, d.h. "Ferntor" (V. 82). Ludwig Radermacher hat in diesem Namen einen Hin weis darauf erkannt, dass wir uns hier in dem Bereich der Hadesmythologie befinden. 15 Das "ferne Tor" ist das Tor am Ende der Welt, das Tor ins Jenseits, das Tor in den Tod. So lieblich die Landschaft und Zivilisation dort im nörd lichen Nirgendwo der Welt auch sein mag - so die poetische Pointe der Geschichte-, am Eingang zum Jenseits lauert in jedem Falle für Menschen wie Odysseus und seine Kameraden immer nur der Tod. Ein Verweilen bei den Lästrygonen - so verlockend es scheint - ist einem Menschen nicht möglich. 1 5
19
3), S. 145.
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I.
Lutz Käppel
20
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
21
hatte. Die Beschreibung der ewigen Dunkelheit ginge dann auf eine Kenntnis der langen Winternächte des Nordens zurück und der beschriebene Nebel auf den bis heute sprichwörtlichen "Londoner Nebel". Doch Homer sah es offenbar anders. Denn kurz zuvor arn Ende des 10. Buches hatte Odysseus von Kirke erfahren, dass der Weg dorthin durch das Blasen des Boreas (V. 507), also des Nordwinds, ermöglicht wird. Wir befinden uns also bei den Kimmeriern südlich, d.h. südlich von Kirke, also jedenfalls nicht nördlich. Dass die Kimmerier bei Homer ein südliches Volk sind, ist vor dem Hintergrund der Wirkungs geschichte ein besonders bemerkenswertes Ergebnis der Homerlektüre.16 Für die Jenseitsvorstellung in der Odyssee als Gesarntkonzept bedeutet dies, dass hier offenbar komplementäre Teilkonzepte aufeinander bezogen werden: • n 11 11 I. 11
Kimmerier
Lästrygonen hell
dunkel
liebliche geordnete Landschaft
Jammertal
nördlich
,,-
südlich
t
Od.IO.507
-',
" , Kimmerier! '
'. Unterwelt 2. Ich komme damit zum zweiten Materialkomplex, der Konstruktion der Nörd lichkeit in der Apollon-Mythologie.
"
...._--,.,..
'"
/
Abb. 1: Schematische Darstellung der mythischen Irrfahrten-Geographie in der Odyssee
Gegen Ende des Schlussmythos der platonischen Politeia (620a) streifen bekanntlich die Seelen herum, um sich für die bevorstehende Wiedergeburt eine neue Existenz zu wählen.
Orpheus, der Sänger, wählt also für ein neues Leben die Existenz eines Schwanes, Schwäne werden zu Menschen - man darf supplieren: Menschen wie Orpheus. Die Seele des Sängers und der Schwan sind offenbar alternierende Existenzen.
Dort habe man auch die Seele, die einst Orpheus gewesen ist, gesehen, wie sie sich das Leben eines Schwanes wählte. [ . . . ] Man habe auch einen Schwan ge sehen, der in einer Metamorphose ein menschliches Leben gewählt habe, und andere musische Lebewesen ebenso.
Dies verwundert nicht, denn Schwäne gelten seit jeher als Sänger, die ins besondere vor ihrem Tod, d.h. im platonischen Bild: vor dem Wechsel ihrer Existenzform, wunderschöne Gesänge erklingen lassen.17 Platon schreibt sogar Sokrates, dem Philosophen, Schwanen-Qualität zu. Im Phaidon (84d-85b) ver gleicht er ihn mit den Vögeln, die - so heißt es wörtlich -,
16
Seit der Antike identifizierte man das homerische mythische Volk mit dem historischen Reitervolk gleichen Namens, das im 8.17. Jh. v. Chr. von Norden her in den Mittelmeer raum einfiel (vgl. z.B. Herodot, Historien 1,6; 1,15 f.; 1,103; bes. 4,11 ff.; 4,45; 7,20). Die Kimmerier galten daher bis in die Modeme häufig als nördliches Volk. Die mythologische Geographie Homers setzt sie jedoch eindeutig in den Süden; vgl. dazu den neuesten maß geblichen Kommentar von A. Heubeck, in: A. Heubeck, A. Hoekstra, Commentary (wie Anm. l 3), S. 77-79, bes. S. 78: "(Odysseus) sets out at dawn (10,541) from the east ( 1 2,34), and travels with a north wind (10,507; 11,7-8) [ .. . ] O. travels along Oceanus following the rim of the earth from east to west via the southem perimeter [ . . . ] The mythological location of the Homeric Cimmerians' country at the entry to the Underworld in fact excludes any possibility of connecting them with the historical Cimmerians." (weitere Literatur ebd.).
obwohl sie auch vorher singen, ganz besonders schön am Zeitpunkt ihres Todes singen, weil sie sich anschicken, zu dem Gott zu gehen, dessen Diener sie sind [ .. .]. Da sie ApolIons Vögel sind, sind sie prophetisch. Sie wissen vorher, dass das, was sie im Hades erwartet, gut ist - und sie erfreuen sich daran noch viel mehr an diesem Tag ihres Todes als je zuvor.
Die Schwäne - und damit verlasse ich jetzt die platonische Sokrates-Schwan Metaphorik, die in noch viel umfassenderem Sinne ihre Darstellungsmittel aus 17
Vgl. Eur. HerakIes 691-4; Verg. Aen. 1O,191f.; Hor. Od. 2,20 etc.
1I I I
Lutz Käppel
22
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland Wagen und trieb die Schwäne an zum Flug zu den Hyperboreern. Als die Delpher dies merkten, komponierten sie einen Paian, also ein Lied, und stellten einen Chor von Jünglingen um den Dreifuß, die den Gott von den Hyperboreern herbeirufen sollten. Als der, der ein ganzes Jahr dort Recht gesprochen hatte, hörte, dass die Delpher ihn riefen, befahl er sofort den Schwänen, von den Hyperboreern ab zufliegen. (Alkaios fr. 307 Voigt Himerios, Oratio 48,1 0 f. Colonna).
der Apollon-Religion bezieht, als ich hier darstellen kann - diese Schwäne also
haben ihren Platz in der Apollon-Mythologie. In Kallimachos' viertem Hymnus
spielen die Schwäne speziell eine Rolle in Verbindung mit Delos, dem Haupt
kultort und Geburtsort des Gottes: Es heißt in V.
249-252:
Die Schwäne, des Gottes prophetische Sänger, umkreisten Delos siebenmaL Diese Musen-Vögel sangen bei der Geburt des Gottes. Deshalb band der Knabe später sieben Saiten auf seine Lyra, um die Anzahl der Gesänge der Vögel bei seiner Geburt abzubilden. Vier Elemente sind es somit bis jetzt, die die Schwan-Mythologie bestimmen:
Musikalität
Tod, Geburt und Kreisbewegung.
Das griechische
Wort für Schwan "kyknos" wird in dieser und vielen anderen Quellen häufig wortspielerisch mit "kyklos" zusammengebracht. Dies ist gewiss kein Zufall.
Denn es gehört nicht viel Phantasie dazu, in dieser Konstellation von Mytho
logemen auch den Jahreszyklus zu sehen.18 Die singenden Schwäne markieren den Kreislauf des Jahres bzw. der Jahreszeiten durch ihre Migration: Wenn der
griechische Frühling kommt, ziehen sie fort nach Norden und kehren erst wieder
im Herbst, wenn die Natur stirbt. Ihr eigener Lebenszyklus scheint dabei dem
übrigen Jahreszyklus auf sonderbare Weise entgegenzulaufen: Der Tod ist auch
in diesem Kontext ihr eigentliches Leben.
Und in der Tat: Schon in der Antike stellte man fest, dass die Schwäne in
Norditalien und Nordgriechenland - weiter im Süden findet man sie nämlich nicht mehr - im Winter nur zu
Gast sind.
Sie brüten nämlich nicht hier, sondern
offenbar im Norden, woher sie im Herbst kommen. Im Frühling, wenn der be
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fruchtende Zephyros- Wind bläst, zieht der Schwan wieder nach Norden davon.
Und unsere Quellen nennen auch das exakte Ziel des Fluges nach Norden: das Land der Hyperboreer, des Volkes, das über ("hyper"), also jenseits des Nord winds "Boreas" wohnt.
Die erste ausführliche Erwähnung dieses Landes der Hyperboreer finden wir
in einem Apollon-Hymnos des Lyrikers Alkaios um
600 v. ehr. Der Inhalt des
Gedichtes ist nur in einer Paraphrase des spätantiken Redners Hirnerios erhalten:
Als ApolIon geboren wurde, stattete ihn Zeus mit einer goldenen Mitra und einer Lyra aus und gab ihm obendrein einen Wagen zum Fahren, Schwäne waren der Wagen, und er schickte ihn nach Delphi und zur Kastalischen Quelle, damit er von dort den Griechen Recht und Gesetz verkünden solle. Er aber stieg auf den 18
=
Da es zu Beginn des Sommers war, als die Delpher den Gott riefen - so geht es
sinngemäß weiter - kommt Apollon in jedem Jahr zu Beginn des Sommers von
den Hyperboreern nach Delphi. Den Winter aber verbringt er mit seinen
Schwänen bei "seinem" Volk, den Hyperboreern.
- sogar ihr Flug symbolisiert mit ihren sieben Kreisen die sieben
Tonschritte bis zur Oktave -,
Die Vorstellung vom Jahres-"Zyklus" im Griechischen ist abgeleitet vom kreisförmigen Umschwung der Gestirne (vgl. Platon, Timaios 38d; Aristoteles, De mundo 39IbI8). Das Bild des Kreises sollte insbesondere die wiederkehrende Sequenz der Jahreszeiten be schreiben (so Euripides Orestes 1 6 1 5 ; ders, Philoktetes 477), konnte aber auch ganz un spezifisch das Jahr allgemein bezeichnen (Euripides, Orestes 544; Herodot, Historien 1 1 2 etc.).
23
Bevor ich näher auf das Bild eingehe, das sich die griechische Mythologie
von den Hyperboreern machte, möchte ich noch einige Hinweise darauf geben, wie eng die Hyperboreer-Mythologie mit Apollon verknüpft war:
Dort im Norden, so heißt es in einem Scholion zu Pindar19 und bei anderen,
habe Apollon einen Tempel gehabt. Antoninus Liberalis, Iamblich und Philostrat beschreiben ihn sogar.20 Diodor betont eigens, dass der Tempel weit 2 im Norden zu finden sei; dort sei der Geburtsort Letos, der Mutter Apollons. 1 Doch die delische Nord-Süd-Mythologie ist noch komplexer. Die schon
erwähnte Mutter Apollons, Leto, gebiert den Gott und seine Schwester Artemis
auf der Insel Delos, an eine Palme gelehnt, griechisch "phoinix": die Phoinix 22 Schon in der Antike wusste man, dass die Palme, obwohl sie in Europa wächst, hier unfruchtbar ist. Früchte trägt sie nur im heißen Süden.23 Sie teilt
Palme.
diese Eigenschaft als südliche Pflanze also mit dem nördlichen Schwan der im
�intert.
Norden brütet und sich in Griechenland nicht vermehrt, sondern nur übe
Im Ägyptischen wie in der griechischen pythagoreischen Interpretation sym
bolisiert die Phoinix-Palme den Monatszyklus: jeden Monat treibt die Pflanze ein neues Blatt hervor.24 Neben der Phoinix-Palme, die wir von Delos her 2 kennen, gibt es nun aber auch den Phoinix-Vogel. 5 Er ist - wie die Palme offenbar ebenfalls ägyptischer Provenienz und repräsentiert den Sonnenzyklus
19
20 21
22
�: 25
Scholion zu Pindar, Olympie 3 , 1 8 (3,33b Drachmann). Antoninus Liberalis, Metamorphosen 20; Iamblich, Leben des Pythagoras 9 1 ; Philostrat, Leben des Apollonios von Thyana 6, 1 0- 1 1 . Diodor 2,47. Homer, Odyssee 6,1 62f.; Homerischer Hymnus auf ApolIon, h. 3,1 1 7; vgl. F.M. Ahl, Amber, Avallon, and Apollo's Singing Swan, in: AJPh ( 1982), S. 3 8 1 mit Anm. 29 (dort weitere Stellen). Plinius, Naturalis historia 1 3 ,26-28 mit Ahl (wie Anm. 22), S. 3 8 1 . Horapollon, Hieroglyphica 1 ,3f. mit Ahl (wie Anm. 22) S . 38 1 . Zur Bezeichnung und zum Zusammenhang der Homonyme Palme-Vogel s. R. van den Br� ek, The Myth of the Phoenix according to Classical and Early Christian Traditions, LeIden 1 972 (Etudes preliminaires aux religions orientales dans l'empire romain, tome 24), S. 5 1 -66.
Lutz Käppel
24
..!!ilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
des Jahres: Jedes Jahr stirbt er und ersteht wieder neu.26 Diese Sonne-Mond
Phoinix-Mythologie ist nun ganz subtil in die delische Apollon-Mythologie hineinkonstruiert:2 7 Sonne und Mond sind in der Gestalt Apollons und der
Artemis präsent, doch auch in der Gestalt Apollons und Letos. Zu Leto, der
40
Frau, gehört die Phoinix-Palme, der Mond-Zyklus. Zu Apollon, dem männlichen
Pendant, könnte nun der Phoinix-Vogel treten, der Sonnenzyklus. Er ist j edoch
offenbar verzichtbar. Für ihn tritt ein anderer Vogel ein: Kyknos, der Schwan aus dem Norden. Damit stehen der männliche Schwan und die weibliche Palme,
i
I
Sonne und Mond, Norden und Süden nebeneinander. Kallimachos sagt im
Hymnus, V.
4-5 ganz harmlos über Delos:
2.
[ ... ] die delische Palme (Phoinix) nickte süß und abrupt, der Schwan (Kyknos) sang schön in der Luft. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, zu beschreiben, wie weit die Kon struktion bis in kleinste Details die Totalität des Daseins mythologisch reprä
sentiert?8 Hierzu nur ein letztes Beispiel: der Mythos des Sonnensohnes
Phaethon. Er durfte den Wagen seines Vaters fahren und entzündete in seiner
Unerfahrenheit ein kosmisches Feuer, das die Welt vernichtet hätte, wenn nicht
Zeus ihn mit dem Blitz erschlagen hätte. Sein Körper fallt in den Fluß Eridanos.
Sein Freund und seine Schwestern sterben vor Trauer und Schmerz. Doch die
Götter haben Erbarmen mit ihnen und verwandeln sie. Der Freund heißt
Kyknos, und er wird zum Schwan, die Sonnentöchter, die Heliaden, werden zu 9 Bäumen und ihre Tränen werden zu Bernstein2 • Der Schwan ist also ein Freund
des Sonnensohnes, dessen Schwestern den Bernstein, den Sonnenstein des
Nordens, produzieren. Sonne, Schwan und Bernstein gehören offenbar eng zusamme n. Der Norden erscheint dabei auch hier als das Land der Sonne.
Wie sieht es nun aus in diesem Land, in das die Schwäne fliegen, wenn es
wärmer wird, das Land der Hyperboreer? Es ist das Land, in das Heroen nach einem verdienstvollen Leben entrückt werden, unerreichbar rur Menschen:
Pindar gibt in seiner
30
35 26 27
28
29
10.
pythischen Ode eine Beschreibung:
Zu Schiff nicht und nicht zu Fuß wandernd, könntest du finden zur Hyperboreerversammlung den wundersamen Weg. Bei denen ließ sich einst Perseus bewirten, der Heerführer, als er ihre Wohnstätten betrat und sie traf, wie sie herrliche Hekatomben von Eseln dem Gott darbrachten; an ihren Festen und Lobpreisungen freut sich ständig ApolIon am meisten und lacht, wenn er sieht die geile Tollheit der Tiere. van den Broek, Phoenix (wie Anm . 26), S. 1 46-232. Das Folgende nach Ahl (wie Anm. 22 ), S. 383-398. Mehr dazu bei Ahl (wie Anm. 23), S. 380-389. Ovid, Metamorphosen 1 ,747-2,380.
45
25
Die Muse aber bleibt nicht außerhalb bei ihren Bräuchen; überall sind Mädchenchöre und Lyraklang und Flötenschal1 im Schwung; mit goldenem Lorbeer binden sie sich das Haar auf und sitzen heiter beim Festmahl. Krankheiten nicht noch das verfluchte Alter mischt sich unter das heilige Volk; der Mühen und Kämpfe ledig, wohnen sie entronnen vergeltender Nemesis. Aber aus kühner Brust atmend, kam einst Danaes Sohn - voran ging Athene zur Schar der seligen Männer; er tötete Gorgo [ . .. ] 3 0
Ein herrliches Leben also führen die Hyperboreer - ohne Krankheit und Tod' in üppigem Überfluss, ein Festschmaus ohne Ende: eine paradiesische Utopie. Doch auch sie ist nicht ohne den Hauch des Todes. Denn ganz am Ende
erfahren wir (V.
44-47): Dort hat Perseus eine der Gorgonen getötet. Hier
wohnen also jene gräßlichen Ungeheuer, bei deren Anblick j eder sterbliche
Mensch zu Tode erstarrt. Perseus überlebt nur durch den Trick, dass er sie durch
einen Spiegel anschaut. Das Haupt der getöteten Gorgo, der Medusa mit Namen, hat er zwar mitgenommen und schließlich Athene übergeben, die es auf ihren
Schild montiert, doch die anderen Gorgonen sind durchaus noch da: Ein le bendiger Mensch, der das Paradies betritt, würde es nicht überleben. Damit ist klar, dass auch dieses Paradies ein Jenseits ohne Wiederkehr ist.
Wie Homers Lästrygonenland in der Odyssee ist also auch das Hyperboreer
land eine kunstvolle Konstruktion im Rahmen einer komplexen Jenseits ] mythologie.3 Die figurativen Elemente dieser Konstruktion, die Migration des Schwanes nach Norden mit dem Jahreszeitenzyklus, sein Gesang beim Sterben, das Wissen um die nördliche Provenienz des Bernsteins, und ich füge hinzu:
vielleicht auch ein Wissen darum, dass in der nordischen Mythologie der über
das Wasser gleitende, weiße Schwan den über den Horizont fahrenden Sonnen wagen symbolisierte3 2 - all dies ist in einem Akt operativer Verarbeitung zu
einem Bild des Nordens als einer musischen, sorgenfreien, lichtvollen Welt komponiert, die die positive, tröstliche Seite der Vergänglichkeit des Lebens symbolisiert. Die dunkle Tiefe der Erde ist die griechische Hölle, der Tartaros,
sein Eingang liegt im Süden, der Norden ist dagegen das griechische Paradies.
3
0
31
32
Pindar, Olympie 1 0,29-47; in Übersetzung zitiert nach: Pindar, Siegeslieder, hrsg. , übers. und mit einer Einleitung versehen von D. Bremer, München 1 992, S. 207. Zu den Hyperboreern insgesamt s. A. Ambühl, s.v. ,Hyperboreioi', in: Der Neue Pauly, hrsg. von H. Cancik und H. Schneider, Bd. 5, Stuttgart-Weimar 1 998, S. 802f.; Pindaro, Le Pitiche, introd., testo critico e trad. di B. Gentili, commento a cura di P. A. Bernadini, E. Cingano, B. Genti1i e P. Giannini, Rom 1 995, S. 630f. Ahl (wie Anm. 22), S. 390-4 1 1 .
Lutz Käppel
26
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
Und etwas später heißt es:
3. Als Letztes einige wenige Bemerkungen z u Pytheas von Massilia, 33 der i n der Mitte des
Eine Tagesreise von Thule liegt das gefrorene Meer, das manche 'das Meer des
4. Jhs. v. ehr. nach Norden gereist war und etwa in den 20er Jahren,
also um 322 v. ehr., einen Bericht darüber in "Peri tOll Okeanoll" vorgelegt hat.
Uns sind von dieser Schrift einige wenige, aber hochinteressante Fragmente
erhalten, die einen Eindruck von Pytheas' Beobachtungen geben.
Kronos' nennen. (Plinius, Naturalis historia 4,94
Pytheas fr. 1 1 b Mette).
Für die nördlich des Marmarameeres wohnenden Menschen hat der längste Tag 1 6 Äquinoktialstunden, und rur die noch weiter nördlich wohnenden 1 7 und 1 8. In diesen Gegenden scheint auch Pytheas gewesen zu sein. Er sagt jedenfalls in
Pytheas habe laut Polybios behauptet, das gesamte zugängliche Britannien bereist
seinem Werk: ,Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt.' (Ge
zu haben, und er gab an, dass der Umfang der Insel mehr als 40 000 Stadien (also ca. 8000 km) sei. Außerdem habe Pytheas einen Bericht über Thule gegeben und
minus, Elementa Astronomiae 6,9
=
Pytheas fr. 9a Mette).
jene Gegend, in der es weder eigentliches Land an sich noch Meer noch Luft gab,
Mit diesem schönen, poetischen, dem wohl einzig wörtlichen Zitat, das wir von
sondern ein Gemisch aus diesen, das einer Meerlunge glich, in der - wie er sagt -
Pytheas besitzen, breche ich die Auswahl der Zeugnisse ab.
Erde und Wasser und alles überhaupt in der Schwebe sei, und dieses sei gleichsam das Band, das das All zus ammenhalte, worauf man weder gehen noch fahren
könne. Das, was der Lunge gleiche, habe er selbst gesehen, das andere wisse er vom Hörensagen. (Strabo 2,4, l f. C. 1 04f.
=
Pytheas f. 7a Mette).
Thule; denn dieses setzt man von allen angeführten Ländern am nördlichsten an Was die Himmelserscheinungen und die mathematische Untersuchung
betrifft, so scheint Pytheas die Verhältnisse einigermaßen zutreffend behandelt zu haben, die in der Nähe der gefrorenen Zone herrschen: Dass Kulturpflanzen und Haustiere teils völlig fehlen, teils selten sind, und dass man sich von Hirse und anderen Krautarten, von Früchten und Wurzeln nähre; wo aber Getreide und Honig vorhanden sei, braue man daraus ein Getränk. Das Getreide dreschen die Einwohner, weil sie keine klaren Tage haben, in großen Gebäuden, nachdem man dorthin die Ähren gebracht hat; denn offene Tennen sind wegen des fehlenden Sonnenscheins und der Regengüsse unbrauchbar. (Strabo 4,5,5 C. 20 1
geben: sechs Tagesreisen nördlich von Britannien, eine Tagesreise südlich des
Wetter meistens schlecht; die langen Tage des Sommers werden durch ebenso
Noch unsicherer aber ist wegen der weiten Entfernung unsere Kenntnis von
[. .. ]
Wie anders ist hier die Auffassung von dem beschriebenen nördlichen Gebiet
als bei Homer oder in der Apollon-Mythologie: Genaue Koordinaten werden ge ewigen Eises liege die Insel Thule; die Landwirtschaft sei bescheiden, das
Später heißt es:
I
=
Der Astronom Geminus schließlich, ein Zeuge des l . Jhs. v. ehr., berichtet:
So berichtet Strabo über das Werk des Pytheas folgendes:
'i
27
=
Pytheas
fr. 6g Mette).
Und Plinius, der römische Naturkundler, berichtet: Wenn in den Tagen der Sommersonnenwende die Sonne dem Pol näher kommt, hat das Land, das unter dem kurzen Umlauf des Lichtes liegt, sechs Monate lang beständig Tag, und wenn sie sich umgekehrt zur Wintersonnenwende entfernt hat,
lange Nächte des Winters aufgehoben und eine Zone, in der Erde, Wasser und
Luft so als Gemisch auftreten, dass es ihn an eine Meerlunge erinnert, werden möglicherweise im Sinne der platonischen Naturlehre des Timaios? - konkre
tisierend als das Band, das das All und seine Elemente in den verschiedenen 4
Aggregatzuständen verbindet, verstanden.3
Pytheas' Wissen blieb auf lange Zeit ein unüberprüfbarer Reisebericht. Thule ist bis heute verschollen. Doch hat Pytheas das Bild eines Nordens, geprägt von
Nebel, Dunkelheit und Kärglichkeit, etabliert, das in der Folgezeit durch Reisende,
Forscher
und
Eroberer
immer
mehr
Tradition
im
Norden
seinen
Platz
finden
konnte,
gesiegt. Das Paradies war - zumindest vorerst - verloren.
Folgende Ausgaben dieses wichtigen Autors sind einschlägig: H.J. Mette, Pytheas von S. Bianchetti, Pitea di Massalia: L'Oceano, Pisa-Rom 1 998 (Biblioteca di studi antichi, 82); übersetzt von D. Stichenoth, Pytheas von Marseille. Über das Weltmeer, KölniGraz 1 959.
verwundert
nicht.
Wissenschaftliche Protokolle, Messinstrumente und Koordinatensysteme hatten
Pytheas fr. 1 3a Mette).
Massalia, Berlin 1 952; Ch.H. Roseman, Pytheas of Massalia: On the Ocean, Chicago 1 994;
und
geboren. Dass in einem solchen Konstrukt schließlich das düstere Volk der
sein, sechs Tagereisen nördlich von Britannien. (Plinius, Naturalis historia II 1 86
33
erhalten
Kimmerier, das wir bei Homer noch im Süden angetroffen hatten, jetzt in der
ebenso lange Nacht. Das soll, wie Pytheas berichtet, auf der Insel Thule der Fall =
Nahrung
weiterentwickelt werden konnte. Ein neues Paradigma von Nördlichkeit war
3 4
Platon, Timaios 31 b-34a, bes. 3 1 c l mit Pytheas fr. 7a Mette.
DIE ERFINDUNG GERMANIENS UND DIE ENTDECKUNG SKANDINAVIENS IN ANTIKE UND MITTELALTER Allan A. Lund
II :
Einleitende Bemerkungen Das Interesse der Neuzeit an den antiken Germanen hängt auch mit dem eth
nischen Selbstverständnis insbesondere der Deutschen zusammen, die sich als
Nachkommen germanischer Stämme zu bestimmten Zeiten gern haben sehen
wollen. Bei der ethnischen Identifikation der Deutschen mit den Germanen
spielten vor allem Kontinuitätsvorstellungen eine wichtige Rolle: Man dachte dabei
zunächst
in
Kategorien
der
Territorien
und
der
Abstammungs
gemeinschaften, später der Nationen und Nationalitäten. Es geht um Denk
weisen und Vorstellungen, die auch in der jüngeren und jüngsten Germanen
forschung nicht völlig überwunden und verschwunden sind. Ignoriert wurde bei
diesem
Vorgehen vor allem der Umstand,
dass
die ethnische Selbstzu
schreibung, d.h. die subjektive Ethnizität, vielschichtig und von der jeweiligen
Situation abhängig ist, verändert werden kann und gelegentlich auch wird; denn
bei der Frage der ethnischen Selbstidentifikation handelt es sich um einen an
dauernden Prozess. Die subjektive Ethnizität ist, mit anderen Worten, nicht
statisch und, wie schon gesagt, auch nicht unveränderlich, wie etwa die
ethnische Identifikation der heutigen Schwaben mit den antiken Sweben im
Prinzip voraussetzt. Weiter wurde die Sicht der antiken Römer oft unkritisch rezipiert, so dass die Menschen, die diese für Germanen hielten und auch so
benannten, ohne weiteres als Germanen betrachtet wurden, obwohl es dabei um zwei verschiedene Sichtweisen geht, nämlich die von innen und die von außen, oder, wenn man so will, die Sicht der Ingroup und die der
ethnische Selbstidentifikation
das
Outgroup,
wobei die
entscheidende Kriterium ist, wenn man ver
allgemeinernde Kategorisierungen von außen vermeiden will. Die römischen
Autoren aber, die über die Germanen schrieben, betrachteten eben diese von
außen und setzten, wie wir sehen werden, ethnische Sammelkategorien weithin mit geographischen Räumen gleich. Das Verständnis der antiken Texte, die sich
mit den Germanen befassen, wird noch dadurch kompliziert, dass der heutige Germanenbegriff ursprünglich linguistisch konzipiert worden ist. Demnach sind Germanen in erster Linie Menschen, die germanisch sprechen. Der antike
römische und der heutige Germanenbegriff decken sich demnach nicht, denn
unser Germanenbegriff ist mit dem der antiken Römer nicht kompatibel und auch nicht vergleichbar. Einfacher ausgedrückt, kann man sagen, dass die Germanen der römischen Antike nicht wussten, dass sie germanisch - in
unserem Sinn - sprechen. Die Römer wussten es auch nicht. Dem sei hinzu
gefügt, dass es für die Fragestellung, seit wann es die Germanen gibt bzw. ob sie
erfunden oder entdeckt wurden, belanglos ist, wann man angefangen hat, ger-
Allan A. Lund
30
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
manisch zu sprechen. Die sogenannte erste germanische Lautverschiebung hilft
Germanen hat er nur deswegen konstruiert, weil er das gallische Gebiet links des
da nicht weiter. Auch nicht theoretisch: l Zum einen ist es schwierig, Kriterien
aufzustellen, nach denen man klar entscheiden kann, wann eine
neue
31
Rheins deutlich davon absetzen und abgrenzen wollte. Die Konstruktion Ger
Sprache
maniens und der Germanen war, mit anderen Worten, ein Nebenprodukt, neben
begonnen hat; zum anderen ist es wissenschaftlich problematisch zu definiere� , was eine Sprache ist. Aber selbst wenn das nicht so wäre, ist die Sprache für die
sächlich, wenn man so will.
Werfen wir, um dies zu verdeutlichen, zunächst den Blick auf die Vorstellung
Selbstzuschreibung zu einer bestimmten ethnischen Gruppe nicht (bzw. nicht
von Europa, wie man sich in der Zeit vor Caesar diesen Weltteil vorstellte. Vor
unbedingt) das entscheidende Kriterium der Ethnizität.
Caesar sah die ethno-geographische 'Landkarte' des nordwestlichen Europas
ganz anders aus als nach ihm. Oder anders ausgedrückt: Vor Caesar gab es ganz andere
Erster Teil: Zur Erfindung der Germanen Es gilt heute als Stand der Germanenforschung, die gerade in den letzten Jahren Begriff 2
waren.
Germani
vor Gaius Iulius Caesar
diesem
weiträumigen
geo
Bezeichnung einer reellen, existierenden ethnischen Grossgruppe mit einem
Dies lässt sich am besten damit
"Wir-Gefühl", sondern schlicht und einfach als eine Kategorisierung von Seiten
erklären, dass Caesar beides konstruiert bzw. erfunden hat, sowohl das geo
der antiken Hellenen zu begreifen, die unter Kelten etwa 'nordwestliche Bar
völkerung 'Germanen'. Dabei gab Caesar, was erstaunlich ist, nicht nur den
festgestellt hat. Diese nüchterne Feststellung stellt indirekt die ethnische Realität 3 der Kelten in Frage. Ich brauche deshalb kaum zu erwähnen, dass Chapmans Erklärung von einigen Keltologen übel aufgenommen worden ist4 bzw. ignoriert
baren' verstanden, wie der Anthropologe Malcolm Chapman vor wenigen Jahren
Menschen im germanischen Raum ihren Namen, sondern er benannte auch als
erster das von ihnen bewohnte Gebiet rechts des Rheins als Germanien. Er war
demnach für die alten Römer wie für uns
primus inventor Germaniae
wird. In der Mitte zwischen den Kelten und den Skythen, d.h. dort, wo sich
gruppe 'Germanen'. Die Erfindung, nicht die Entdeckung Germaniens und der
die Kelto-Skythen genannt wurde. Es ist dies eine hybride Konstruktion, die auf
den Jahren
der Kultur oder des Ethnos gibt. Einige Gelehrte neigten früher dazu, diese
Germanorumque,
d.h. der Erfinder Germaniens sowie der ethnischen Groß
diese trafen, gab es nach den antiken griechischen Autoren eine Mischkategorie,
Germanen vollzog sich bei Caesar im Laufe seiner gallischen Feldzüge, d.h. in
der unwissenschaftlichen Vorstellung basiert, dass es so etwas wie reine Formen
58 bis 5 1 v. Chr., die demnach den zeitlichen Rahmen angeben. Es lässt sich auch nachweisen, wie bei ihm der geographische Begriff Germania in den Jahren 55 bis 53 v. Chr. entstanden ist. Erst nach dieser Zeit gibt es die dis tinkten geographischen Großräume, die Gallien (Gallia Ulterior bzw. Gallia Comata bzw. Gallia Bracata) und Germanien (Germania) heißen, die durch die
Hellenen, die seit etwa Hekataios bzw. Herodot anfangen von Kelten zu
anderen Worten, den geographischen Raum, den man in der griechisch
eine
ethnische Gliederung für bare Münze zu nehmen: Sie platzierten demgemäß die
Mischkategorie "Kelto-Skythen" dort, wo die Germanen namentlich später
auftauchen. Durch die erwähnte Zweiteilung des nördlichen Europa durch die
sichtbare Grenzlinie des Rheins voneinander getrennt werden. Caesar teilt, mit
I
Konzeptionen von
und im Nordosten saßen die Skythen. Dabei ist das Ethnonym 'Kelten' keine
graphische Gebiet 'Germanien' als auch die mit diesem deckungsgleiche Be
.1
und
den antiken griechischen Autoren im nordwestlichen Teil Europas die Kelten,
einen gewaltigen Aufschwung erlebt hat, daß sowohl der geographische Begriff
Germania wie auch der ethnische ( 1 00-44 v. Chr.) noch unbekannt
Vorstellungen
graphischen Gebiet sowie von dessen ethnischen Verhältnissen. Es lebten nach
sprechen,5 lässt sich dieses Gebiet umschreiben. Es geht dabei ganz deutlich um vereinfachte,
schematische
Aufgliederung
des
nordwesteuropäischen
römischen Antike als den nordwestlichen Teil der bekannten und existierenden
Kontinents, die den damaligen ethnischen Gegebenheiten nicht entspricht und
neue geo- und ethnographische Gliederung des Nordwestens Europas unter
eine Dreigliederung abgewandelt, und zwar so, dass es von jetzt ab zwischen
Welt betrachtete, in zwei weitausgedehnte Gebiete auf, wobei er eine völlig
auch nie entsprochen hat. Die schematische Zweiteilung wurde durch Caesar in
nimmt. Am wichtigsten ist dabei für Caesar selbst aller Wahrscheinlichkeit nach
den Skythen und den Galliern
die Konstruktion Galliens und die damit einhergehende Aufteilung der GaUier
Galliens gewesen. Die geo- und ethnographischen Kategorien Germanien und
1 2
4
Siehe Elmar Seebold, Wann hat eine Sprache begonnen?, in: Theoretical Linguistics and Grammatical Description, hrsg. von Robin Sackmann, Amsterdam 1 996, S. 287-296. Siehe: Die Germanen, Studienausgabe von: Reallexikon der Germanischen Altertums kunde, hrsg. von Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe, BerlinlNew York 1 998, S. 7 ff.; Allan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1 998, S. 36 ff.; Walter Pohl, Die Germanen, München 2000, S. 1 ff., 50 ff.
5
b
die
Germanen gibt, wobei nicht nur das Gebiet
Siehe M. Chapman, The Celts. The Construction of a Myth, Houndsmills etc. 1 992. Siehe etwa D. Ellis Evans, Celticity, Celtic Awareness and Celtic Studies, in: Zeitschrift rur keltische Philologie 49-50 ( 1 997), S. I -27; Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Dar stellung ihrer Kultur, Wien 1 997, bes. S. 32-5 1 ; siehe ferner Ruth und Vincent Megaw, 00 the Ancient Celts Still Live? An Essay on Identity and Contextuality, in: Studia Celtica 3 1 ( 1 997), S . 1 07- 1 23; Simon James, The Atlantic Celts. Ancient People or Modem Inven tion?, London 1 999. Siehe Philip M. Freeman, The Earliest Greek Sources on the Celts, in: Etudes celtiques 32 ( 1 996), S. 1 1 -48.
Allan A. Lund
32
der Kelten von den Galliern und von den Germanen abgetrennt wird, sondern auch die Begriffe teilweise neu besetzt werden. Diese neue Erkenntnis, die gar keine echte war, sondern eine Caesarische Konstruktion, setzte sich eigentlich nur bei den antiken Römern durch. Die antiken griechischen Autoren blieben mit relativ wenigen Ausnahmen wie etwa Dionysios von Halikarnassos (geboren etwa 60 v. Chr.), Diodor von Sizilien ( l . Jh. v . Chr.), Strabo (63 v . Chr. - ca. 2 4 n . Chrl und Plutarch (ca. 4 5 ca. 1 20 n. Chr.) bei den alten geo- und ethnographischen Vorstellungen und ethnischen Konzeptionen stecken. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Caesar nur anscheinend die Germanen entdeckt hatte. In Wirklichkeit hatte er, um eine evidente Analogie zu bringen, wie Columbus die Indianer Nordamerikas die Germanen rechts des Rheins und demgemäß ihren Lebensraum 'Germanien' schlicht und einfach konstruiert. Oder genauer ausgedrückt: Caesar hat die Bezeichnungen und Begriffe Germani und Germania im Sinn von Land der Germanen rechts des Rheines konstruiert; denn diese Sammelbegriffe werden den damaligen ethnischen Gegebenheiten keineswegs gerecht. Man kann annehmen, dass Caesar das Ethnonym Germani im nördlichen Gallien, wo es nach ihm Germani cisrhenani gab, vorgefunden und auf das Gebiet rechts des Rheins übertragen oder besser (zurück)proj iziert hat. Dadurch hat er Germanien als Heimat und Urheimat der Germanen erfunden. Das Wichtigste daran ist aber, dass er nicht nur das linksrheinische geographische Gebiet 'Gallien' als Gegensatz zu 'Germanien', dem Land der rechtsrheinischen Germanen, begrifflich konstruierte, sondern vielleicht auch gleichzeitig als Gegenbegriff zu dem gallischen Gebiet Norditaliens, Gallia Cisalpina, sowie zur römischen Provinz, Gallia Narbonensis, konzipierte. Caesar reduzierte dabei das von den Kelten bewohnte Gebiet gewaltig, was dem gelehrten römischen Publikum bestimmt aufgefallen ist. Er stellt ja expressis verbis fest, dass es die Kelten im erweiterten Sinn der griechischen Autoren einfach nicht gibt: Nur ein Drittel der Menschen in Gallia Ulterior nennen und verstehen sich ja als Kelten. -
Beachtenswert ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der Caesar schon im Eingangskapitel des Bellum Gallicum, das wahrscheinlich erst im Jahre 52 v. Chr. geschrieben wurde, diese neue Erkenntnis bringt; er betont, dass nur ein Drittel der Bevölkerung Galliens Kelten sind oder sich eher als Kelten begreifen: Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aqui tani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. Das gesamte -
gallische Gebiet ist in drei Regionen gegliedert. Die eine davon bewohnen die Belger, die zweite die Aquitaner, die dritte die, die sich selbst Kelten nennen, von uns aber Gallier genannt werden (GaII. 1 , 1 , 1). 6
1I
Strabo schrieb sein Werk zwischen 18 und 24 n.Chr. Siehe Daniela Dueck, The Date and Method ofComposition of Strabo's "Geography" , in: Hennes 1 27 ( 1 999), S. 467-478.
Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
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Die in der Forschung noch heute übliche Gleichsetzung von Kelten und Galliern ist demnach problematisch, weil die Gelehrten damit die Sammelbezeichnungen der antiken Hellenen und Römer rür die Barbaren Nordwesteuropas ohne Um stände übernehmen. Man verwendet dabei nicht die Selbstbezeichnungen von Ingroups, sondern von Outgroups, wie die zitierte Stelle bei Caesar zeigt, die meistens falsch verstanden wurde. So paraphrasiert ein Gelehrter die Stelle folgendermaßen: "Caesar überliefert, dass jenes Volk, das von den Römern als Galli bezeichnet werde, sich selbst Celtae nenne.,,7 Dem sei noch hinzugefügt, dass kein antiker oder mittelalterlicher Quellenautor davon berichtet, dass sich die Menschen etwa in Britannien oder in Irland Kelten oder Gallier genannt hätten.8 Zurück zu Caesars Konstruktion der Germanen! Auffallend ist bei ihm, dass er von Germanen berichtet, die den Rhein überquert hätten und nach Gallien eingewandert seien. Man könnte meinen, dies widerspreche seinem Konzept, nach dem der Rhein die ethnische Grenzlinie zwischen den Galliern und den Germanen bildet. Das ist aber nicht der Fall; denn die Einwanderungen von Germanen nach Gallien zeigen bloß, dass es um Eingewanderte im antiken Sinn geht, d.h. um im Lande nicht ursprünglich ansässige Menschen, was wörtlich für Nichteingeborene steht, war doch in der Antike die Vorstellung weit ver breitet, die ersten Menschen seien an verschiedenen Orten in der Urzeit im Sinn des Wortes aus der Erde entsprossen. Den entscheidenden Beitrag zur antiken Konstruktion der Germanen - und somit zur späteren Rezeption derselben von der Renaissance bis heute - lieferte der römische Ethnograph Cornelius Tacitus mit seinem "Goldenen Büchlein", der Germania, die wahrscheinlich im Jahr 98 n. Chr. geschrieben wurde. Waren die Germanen zunächst, d.h. bei Caesar, Menschen, die in erster Linie rechts des Rheins lebten in einem Gebiet, dessen Umfang und äußerste Grenzen im Norden und im Osten noch unbekannt waren, änderte sich dies zum Teil über die nächsten rund 90 Jahre, bis dann Pomponius Mela etwa 43 n. Chr. das von Germanen bewohnte Gebiet, Germanien, präzisiert (De chorographia !ibri tres, 3,25 u. 3 1 ): Gennania hinc ripis eius usque a d Alpes, a meridie ipsis Alpibus, ab oriente Sarmaticarum confinio gentium, qua septentrionem spectat Oceanico litore ob ducta est. [ ... J Super Albim Codanus ingens sinus magnis parvisque insulis refer tus est. Germanien wird auf dieser Seite bis hin zu den Alpen von seinen Ufern, -
im Süden von den Alpen selbst, im Osten von der Grenzscheide gegen die sarmatischen Stämme und im Norden von der Küste des Ozeans umgeben. [ .] Oberhalb der Eibe liegt die riesige Codan-Bucht, die voll von grossen und kleinen Inseln ist. .
Siehe Alexander Demandt, Antike Staatsformen, Berlin 1 995, S. 4 1 3 . Siehe James (wie Anm. 4).
34
AHan A. Lund
Etwa denselben geographischen Raum umschreibt Tacitus im Jahre 98 n. Chr. dann etwas genauer. Es heißt bei ihm so (Germ. 1 , 1 ): Gennania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sannatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit, la tos sinus et insularum inmensa spatia complectens, nuper cognitis quibusdam gentibus ac regibus, quos bellum aperuit. Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus, modico flexu in occidentem versus septentrionali Oce ano miscetur. Danuvius, molli et c\ementer edito montis Abnobae iugo effusus, pluris populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat; septimum os paludibus hauritur. - Das Land der Germanen insgesamt wird von den Galliern,
den Rätern sowie den Pannoniern durch den Rhein und die Donau, von den Sar maten und den Dakern durch wechselseitige Furcht oder durch Gebirge ab gegrenzt. Die übrigen Gebiete umgibt das Weltmeer, das breite Landvorsprünge und Inseln unermesslicher A usdehnung umschließt. Erst unlängst hat ein Krieg dort den Zugang zu einigen unbekannten Stämmen und Königen erschlossen. Der Rhein, der auf einem unzugänglichen und steilen Gipfel der Rätischen Alpen ent springt, vereinigt sich nach einem leichten Bogen gegen Westen mit dem nörd lichen Meer. Die Donau, die einem sanften und allmählich ansteigenden Rücken des Abnobagebirges entströmt, besucht mehrere Völker, ehe sie sich mit sechs Armen ins Schwarze Meer ergießt. Eine siebte Mündung verliert sich in Sümpfen.
Auffallend an dieser Beschreibung des germanischen Raumes ist, dass Tacitus kein einziges Wort verliert über die zwischen 82 und 90 n. Chr. konstituierten römischen Provinzen Germania Superior und Germania Inferior, die nicht nur in literarischen Texten, sondern auch inschriftlich bezeugt sind, wo sie Germania utraque bzw. duae Germaniae heißen. Nicht auffallend ist dagegen, dass Tacitus den Namen und Begriff Germania libera für das von Römern nicht eroberte Germanien weder kennt noch benutzt; denn dieser Name wurde erst in der Neuzeit erfunden.9 Auch die Wortverbindung Germania libera war in der Antike unbekannt. Was schliesslich den Begriff Germania magna betrifft, war er Tacitus unbekannt, auch gab es, soviel ich weiß, diese Wortverbindung im Lateinischen nicht. Dagegen gibt es bei Klaudios Ptolemaios die Bezeichnung megale Germania, d.h. Großgermanien.lo Mit seiner Umschreibung der äußeren geographischen Grenzen Germaniens will Tacitus vor allem die seit der Urzeit isolierte Lage der Germanen hervor heben. Sie leben nämlich, wie er indirekt sagt, in einer anderen Welt, die nur von einzelnen Schiffen aus der römischen Welt (ab orbe nostro) besucht wird (Germ. 2, 1 ). Ihre kulturelle Rückständigkeit, die schon Caesar angeschnitten, und die Pomponius Mela noch betont hatte, liegt demnach sozusagen auf der Hand; denn die Germanen leben nach Tacitus jenseits der sichtbaren geo9 Vgl. Helmut Neumeier, 'Freies Gennanien' / 'Gennania libera' - Zur Genese eines histo 10
rischen Begriffs, in: Gennania 75 ( 1 997), S. 53-67. VgI. Mafia R.-Alfoldi, Gennania magna - nicht Iibera, in: Gennania 75 (1 997), S. 45-52, bes. S. 48.
Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
35
graphischen Grenzen des Rheins und der Donau und somit im Bewusstsein der Römer j enseits der damit zusammenfallenden kulturellen Barrieren, d.h. in einer ganz anderen und fremden Welt. Da bei ihnen weder Götter noch Menschen aus der antiken Welt je als Kulturbringer zu Besuch gewesen sind, ist ihre Lebens weise im Ganzen noch immer, wie sie ursprünglich war. Die Germanen sind demnach kulturell fast unentwickelt geblieben und befinden sich im Grunde in einer anderen Zeit oder, wenn man so will, auf einer anderen Zeitstufe. Sie sind, mit anderen Worten, unzivilisierte Barbaren. Dem sei hinzugefügt, dass der an tike römische Barbarenbegriff mit dem griechischen oder eher hellenischen Bar barenbegriff nicht völlig identisch ist und nur zum Teil konvergiert. Für die antiken Hellenen waren im Prinzip alle Nichthellenen Barbaren; denn die Fremden konnten gar nicht Hellenen werden, auch dann nicht, wenn sie die wichtigsten Voraussetzungen dafür erfüllt hätten, d.h. die hellenische Sprache erlernt und sich die hellenische Paideia zugeeignet hätten. Selbst dann wurden sie stets aus dem Hellenentum ausgegrenzt und flir Fremde gehalten. Es gab demnach zwischen den antiken Hellenen und allen Barbaren ein asymmetrisches Verhältnis, was so zu verstehen ist, dass Hellene und Barbar zusammen ein uni II verselles, komplementäres, bipolares und asymmetrisches Begriffspaar bilden. Die Positionen sind ja nicht austauschbar, auch schließen sie eine dritte Mög lichkeit bzw. Variante aus. Bei den Römern änderte sich dies zum Teil, was vielleicht daran liegt, dass sie sich ursprünglich zu den Barbaren, d.h. zu den Nichtgriechen zählten. Sie hatten, mit anderen Worten, zunächst den helle nischen Barbarenbegriff ohne weiteres übernommen. Nach römischem Dafür halten gab es Griechen, Römer und Barbaren. Bei dieser neuen begrifflichen Konstruktion des ethnischen Weltbildes hatte sich evidentermaßen einiges geändert. Die Barbaren waren vor allem in der frühen römischen Kaiserzeit Menschen, die noch nicht ins römische Reich eingegliedert worden waren. Der römische Barbarenbegriff beinhaltet demnach - völlig im Unterschied zum hellenischen - eine zeitliche Komponente, auch ist er nicht exklusiv. Auf der anderen Seite gingen die Römer, was etwa Sprache und Sprechen betrifft, mit den Hellenen darin konform, dass die Barbaren im Grunde keine Sprache hatten. Sprachen doch die Römer immer von den bei den Kultursprachen wie von einem 12 Paar (utraque lingua; uterque sermo). Nach diesen klärenden Bemerkungen zu dem römischen Barbarenbegriff können wir uns jetzt kurz der Frage nach der Authentizität des Germanenbildes im ersten Teil der Germania des Tacitus zuwenden (Kap. 1 -27, 1 ), der vor allem den Stoff geliefert hat, aus dem die Deutschen ihr Germanenbild gebildet haben. Zunächst grenzt Tacitus, wie schon gezeigt, die Lage der Germanen insgesamt 11 12
S le ' he die grundlegende Arbeit von Reinhart KoseHeck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Vergangene Zukunft, hrsg. von Reinhart Koselleck, Frankfurt am Main 1 984, S. 2 1 1 -259. V gI. Michel Dubuisson, Vtraque lingua, in: L'Antiquite Classique 50 ( 1 98 1 ), S. 274-286.
36
li! I
I
I
Allan A. Lund
von der Außenwelt, insbesondere von der zivilisierten Welt, ab, um aus der geographisch bedingten Isolation der Germanen ihre kulturelle Rückständigkeit und ihr Barbarentum herzuleiten. Die postulierte Abgrenzung der Germanen von Einwanderern im Allgemeinen und ihre Ausgrenzung von der antiken Kultur welt im Besonderen lassen sie nicht nur in einem künstlich etablierten geo graphischen Raum leben, sondern zeigen auch, dass die Darstellung weniger als Ethnographie denn als Paraethnographie zu verstehen ist - ohne dass man dies durch archäologische Arbeiten belegen muss. Es geht demnach im ersten Teil der Germania nicht um eine echte oder virtuelle Ethnographie einer bestimmten ethnischen Großgruppe, deren Mitglieder ein "Wir-Geftihl" haben, sondern um eine konstruierte Population von andersartigen Barbaren, die dementsprechend in einer unzivilisierten Welt leben und in einer rauen Umwelt überleben. Aus der behaupteten Isoliertheit der Germanen ergibt sich nach Tacitus zwangsläufig ihr durchaus homogenes Äußeres - sie sind nicht mit Fremden vermischt (Germ. 4). Die Barbaren Germaniens sind nach ihm fast noch die Urgermanen: Frauen und Männer sind gleich groß und gleich stark (Germ. 20,3), und ihr Erscheinungsbild ist gekennzeichnet von ihren großen Körpern, ihren blonden Haaren und ihren blauen Augen und ihrer rauen Stimme, was alles letztlich auf den Einfluss der Luftfeuchtigkeit und des Klimas zurückzuftihren ist (Germ. 4). Für das römische Publikum entspricht das Äußere der Germanen ihrem Inneren; denn dargestellt wird gemäß der physiognomischen Denkweise der Antike ein Charaktertyp, und zwar der des aggressiven Menschen - des homo iracundus, wie wir diesen vor allem aus Senecas De ira kennen. Dieser Menschentyp, ich hätte beinahe Idealtyp gesagt, ist vor allem dadurch charakterisiert, dass er leicht in Rage gerät, den Wutausbruch aber schnell wieder übersteht, weil er keine Ausdauer besitzt. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass der Germane schlicht und einfach faul ist: Er schuftet nicht, um die Felder zu bestellen oder den Boden zu bewässern (Germ. 26). Er ist mit anderen Worten kein Bauer, der sein tägliches Brot mühsam verdient, sondern versteht sich als Räuber, der lieber im Kampf "seine Wunden verdienen als die Scholle pflügen möchte" (vgl. Germ. 1 4,3). Hinzu kommt noch, dass die germanische Landschaft aus römischer Sicht unschön ist (Germ. 2, 1 ), was teils damit zusammenhängt, dass der Boden nicht bestellt wird, teils darauf zurückzuftihren ist, dass er sumpfig ist. 13 Dies ist alles Taciteische Deutung und Darlegung des Wesens des Germanen, d.h. des aggressiven Barbaren. Überhaupt hat in der Taciteischen Darstellung und Interpretation der Germanen deren aggressives Verhalten Konsequenzen für die Lebensweise und die Gesellschaftsform, insofern man nach römischem DaftirhaIten im Fall der Germanen von Gesellschaftsform oder Gemeinschaftsform (societas) überhaupt sprechen kann; denn die aggressiven freien Germanen sind durch ihren Individualismus (libertas) charakterisiert, 13
Vgl. Federico Borca, Palus omni modo vitanda, in: The Classical Bulletin 73 (1 997), S, 3-12,
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
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wozu passt, dass sie überall bewaffnet auftreten, auch auf der Volksver sammlung (Germ. 1 3 , 1 ). Gemäß ihrem aggressiven Gemüt leben sie weit voneinander entfernt und haben auch keine Städte (Germ. 1 6 , 1 ). Ich denke, diese wenigen Beispiele genügen, damit klar wird, in wie hohem Maße das Taciteische Bild der Germanen von ethnozentrischen Vorurteilen, Barbaren klischees und -stereotypen sowie literarischen Topoi bestimmt ist. Dem sei hinzugeftigt, dass es im ersten Teil der Germania um eine Betonung der Andersartigkeit der germanischen Barbaren geht, so dass man nicht ohne Grund von einer imaginären Ethnographie sprechen kann. Die Germania des Tacitus wurde in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung nicht besonders häufig zitiert, jedoch öfter als in dem jüngsten 'Germania' Kommentar von J. B. Rives (Oxford 1 999) angenommen wird. 1 4 Das hängt, wie man vermuten darf, auch damit zusammen, dass die Begriffe Germania und Germani an Tagesaktualität längst verloren hatten: Germanien stand lange nicht mehr auf der politischen Agenda, worüber sich schon Tacitus (Germ. 4 1 ,2) beschwert hatte. Germania und Germanen wurden nach wenigen Jahrhunderten als historische Begriffe und als Namen der Vergangenheit verstanden. So berichtet (um 55 1 n.Chr.) etwa Jordanes (Gel. 67), dass die Goten, die nach ihm Franken heißen, die Gebiete der Germanen verwüsten. Zum anderen bleibt und besteht Germania als geographischer Begriff. Noch Adam von Bremen verwendet den Begriff "Germanien" an einer Stelle (4,4). Der ethnische Oberbegriff Germani, der nach Tacitus (Germ. 2,3) von den Germanen nur den Römern gegenüber als Selbstbezeichnung und -identifikation benutzt wurde, d.h. auf Anfrage (im Sinn der Frage: "Bist du Germane?") wird nur noch selten verwendet, weil sich die verschiedenen Stämme wie immer lieber mit ihren Stammesnamen bezeichnen. Die alten Germanen werden erst nach der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus durch die deutschen Humanisten vor rund 500 Jahren als neue Germanen wiedergeboren und neu belebt. Als solche überlebten sie in der Wissenschaft bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, in der Populärwissenschaft leben sie gelegentlich noch heute, wenn sie unter dem Titel "die ersten Deutschen" verkauft werden. Zweiter Teil: Zur Entdeckung Skandinaviens
Machen wir jetzt einen gewaltigen Sprung von der Zeit des Tacitus bis zum christlichen Autor Adam von Bremen! Bei Adam von Bremen, der etwa um 1 076 sein Werk Historia Hammaburgensis ecclesia, wie er es selbst nennt, ge schrieben hat, 1 5 hat die skandinavische Halbinsel ihren Namen noch nicht be14 1
5
Siehe J. B. Rives, Tacitus Germania, Oxford 1 999, S. 66 f. Ich benutze hier und unten als Textgrundlage die Ausgabe von Bemhard Schmeidler: Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, Hannover/Leipzig 1 9 1 7 (MGH, Scriptores rerum Gennanicarum in usum scho1arum, 2).
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Allan A. Lund
Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
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kommen, was darauf zuruckzuftihren ist, dass man sie noch nicht richtig 'ent deckt' oder erkundet bzw. konstruiert hatte. Nach dem Sprachgebrauch Adams von Bremen war man eigentlich nicht weit davon entfernt, spricht er doch von Schonen - der Ortsame soll nach heutigen Etymologen mit Skandinavien ver wandt sein -, das er als Halbinsel (fere insula) betrachtet oder vielleicht wörtlich im Sinn von 'fast eine Insel' versteht. Er schreibt (4,7):
stellte man sich ferner vor, bilden insgesamt etwa eine Scheibe, die auf dem Weltmeer (Oceanus) fließt. Dies ist noch bei Adam von Bremen erkennbar; sagt er doch folgendes (4,3 5):
Sconia est pars ultima Daniae, fere insula; undique enim cincta est mari, preter unum terrae brachium, quod ab oriente continens Sueoniam distenninat a Dania. -
Nordens liegt, leben keine Menschen, denn dort gibt es nur den furchterregenden und unermesslichen Ozean, der die ganze Welt umschließt.
Post Nortmanniam, quae est ultima aquilonis provintia, nihil invenies habitacionis humanae ni si terribilem visu et infinitum occeanum, qui totum mundum amplectitur. - A uf der anderen Seite Nortmanniens, das am äußersten Rande des
Schonen ist der äusserste Teil Daniens ("Dänemarks"), eine Halbinsel. Sie ist nämlich von allen Seiten vom Meer umgeben, wenn man von einer Landzunge absieht, die im Osten das Land der Sueonen von Danien ("Dänemark") trennt.
Diese Vorstellung schlägt sich auch auf andere Art und Weise in dem Sprach gebrauch Adams von Bremen nieder. So trennt er ziemlich konsequent den äußeren Ozean vom inneren Meer, d.h., er unterscheidet gewöhnlich zwischen dem Weltmeer (Oceanus) und der Ostsee (mare Balticum). Die Erde stellten sich fast alle mittelalterlichen Geographen - wie schon ihre antiken Kollegen wie eine Kugel vor. Dass man sich im Mittelalter gedacht hätte, die Erde sei so flach wie ein Pfannkuchen, wie man im Dänischen sagt, ist eine modeme Kon struktion, die auf Gelehrte des 1 9. Jahrhunderts zuruckgeht. 1 8 Die ftir das euro päische Mittelalter typische Dreiteilung der damals bekannten Welt sah man durch das Faktum bestätigt, dass die drei Teile der Erde nach der Sintflut von den Nachkommen Noahs bevölkert wurden, nämlich Sem, Harn und Japhet: Sem bekam Asien, Harn Afrika und Japhet Europa. Asien, wozu auch unser Kleinasien zählte, wurde als der größte aller Weltteile betrachtet. Er umfasste den ganzen Osten und die halbe Welt und war besonders für das Christentum deswegen wichtig, weil sich dort Jerusalem und das Paradies befanden. Dem entsprechend war dieser große Weltteil auf den sogenannten T-O-Karten (auch T-in-O-Karten oder O-T-Karten genannt), die im Mittelalter der vorherrschende Typ von 'Landkarten' waren, dem Osten zugewandt, d.h. die Karten waren wörtlich "orientiert" . Dem sei noch hinzugeftigt, dass die Auslegung, wonach "O-T" ftir Orbis Terrarum stehe, wahrscheinlich erst im siebzehnten Jahrhundert entstand.
Adam von Bremen kennt auch nicht den Namen 'Skandinavien', das im nach klassischen Latein Scadinavia bzw. Scatinavia heißt. Dafür operiert er aber mit einem geographischen Begriff des Nordens, der dem heutigen Skandinavien begriff im engeren Sinn entspricht (3,72), besteht doch der Norden bei ihm aus "Danien, Suedien und Nortmannien". (Man bemerke die Reihenfolge, die es auch heute gibt - im Dänischen!) Es geht aber dabei weder um eine geogra phische noch um eine kulturelle Einheit, wie aus Buch 4,2 1 deutlich hervorgeht: Transeuntibus insulas Danorum alter mundus aperitur in Sueoniam vel Nortman niam, quae sunt duo latissima regna aquilonis et nostro orbi adhuc fere incognita.
- Wenn man das Land der Dänen passiert hat, dann eröffnet sich einem eine andere Welt in der Gestalt Sueoniens und Nortmanniens. Diese beiden weitaus gedehnten Reiche im Norden sind noch so gut wie unbekannt aufunserer Breite.
Um zu verdeutlichen, warum Adam von Bremen Norden bzw. Skandinavien in ein Inselgebiet (sprich: die Inseln Dänemarks) und ein Festland (sprich: Schweden und Norwegen) aufteilt und dabei den letzten Teil eine ganz andere Welt (alter orbis) nennt, ist es unvermeidlich, dass wir zunächst einen kurzen Blick auf die geo- und ethnographische Tradition werfen. 16 Im Mittelalter stellte man sich gewöhnlich vor, dass die Welt (orbis terrarum) aus den folgenden drei Teilen besteht: Asien, Afrika und Europa. 1 7 Zum Ver gleich hatte man in der griechisch-römischen Antike bald mit einer Zweiteilung, bald mit einer Dreiteilung der Welt operiert, wobei Afrika ohne Ägypten, welches ein Teil Asiens war, oft zu Europa gezählt wurde. (Dem sei in einer Parenthese hinzugefügt, dass Afrika - außer bei dem antiken römischen Autor Sallustius Crispus - üblicherweise Libyen genannt wurde.) Die drei Weltteile, 16 17
Für die antiken Hellenen war die geo- und ethnographische Gliederung - wie schon vorher gesagt - ziemlich einfach. Im Nordwesten gab es die Kelten und im Nordosten die Skythen, bis Caesar die Germanen erfand, die Kelten gewaltig reduzierte und die Germanen zwischen den Galliern und den Skythen platzierte. Für Caesar wie für seine Zeitgenossen war die nördliche Grenze Europas un bekannt. Erst rund 90 Jahre nach Caesar, d.h. im Jahre 43/44 n. Chr. skizzierte der römische Geograph Pomponius Mela in seiner Erdbeschreibung, Chorographia, das gesamte Gebiet der Germanen. Ich verweise auf die TextsteIle, die schon erwähnt wurde.
Zur antiken Vorstellung von alter bzw. alius orbis siehe Federico Borca, Alius orbis: Percorsi letterari nell' "a1trove", in: Atene e Roma N. S . 43 (1 998), S. 2 1 -39. Siehe Evelyn Edson, Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers viewed their World, London 1 997, S. 1 8 ff.; Folker Reichert, Grenzen in der Kartographie des Mittel alters, in: Migration und Grenze, hrsg. von Andreas Gestrich u. Marita Krauss, Stuttgart 1 998, S. 1 5-39.
18
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V gl. Jeffrey B. Russel, Inventmg the Flat Earth, New York 1 99 1 .
Allan A. Lund
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Man vermisst bei Pomponius Mela etwa die Erwähnung Jütlands, erfährt aber daflir ein wenig über die Inseln im Weltmeer nördlich Germaniens. Schon Kaiser Augustus (3 1 v. Chr. - 1 4 n.Chr.) hatte den Versuch unternommen, das Gebiet zwischen dem Rhein und der Eibe zu erobern, um dort eine römische Provinz zu konstituieren. Die Römer hörten wahrscheinlich bei der Gelegenheit zum ersten Mal von der Eibe, wie aus dem politischen Testament des Augustus, dem sogenannten Monumentum Ancyranum aus dem Jahr 1 4 n.Chr. hervorgeht:
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
Zurück i n die Vergangenheit! I m Jahre 4 3 n . Chr. erwähnt Pomponius Mela einen Ortsnamen, nämlich Codannovia, der sich auf das nördliche Germanien bezieht und von optimistischen Herausgebern in Scandinavia geändert wird damit die Stelle auf die Ostsee und Skandinavien verweist, obwohl di� Erwähnung der Orkaden zu Vorsicht mahnt. Es heißt Chorographia 3 ,54 etwa folgendermaßen:2o Triginta sunt Orcades angustis inter se diductae spatiis, septem Hamodae contra Germaniam vectae in illo sinu, quem Codanum diximus. ex iis Codannovia [Müllenhoff et editores recentiores: Scadinavia] quam adhuc Teutoni tenent, [et] ut fecunditate alias, ita magnitudine antestat. Es gibt dreißig arkaden, die von
Gallias et Hispanias provincias, item Germaniam, qua includit Oceanus a Gadibus ad ostium Albis flurninis pacavi. Die gallischen und spanischen Provinzen und -
-
ebenso Germanien habe ich befriedet, d.h., ein Gebiet, welches durch den Ozean von Gades bis zur Mündung der EIbe umschlossen wird.
Ebenda sagt er noch, dass seine Flotte gegen Osten bis zum kimbrischen Vor gebirge (promuntorium Cimbrorum) gesegelt sei. Diese Bemerkung hat dazu beigetragen, dass die Kimbern von einigen Laien und vielen Gelehrten in jüt land platziert und ab etwa 1 6 1 6 vom Dänen C. C. Lyschander als ursprünglich in Jütland lebend betrachtet wurden, wobei der Ortsname Himmerland im Sinn von Kimberland ausgelegt wurde. Außerdem wurde Skagen mit dem promuntorium Cimbrorum gleichgesetzt.
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Bekanntlich gelang es den Römern nicht, im Gebiet zwischen dem Rhein und der EIbe eine provincia Germania zu errichten. Nach der berühmten Niederlage des Varus im Teutoburger Wald (saltus Teutoburgiensis) im Jahre 9 n. Chr. wurden die diesbezüglichen Pläne endgültig aufgegeben, obwohl ein paar spätere Kaiser vielleicht nochmals mit dem Gedanken gespielt haben über den Rhein vorzudringen. Am Ausgang des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hat der Ethnograph Tacitus demgemäß rückblickend nicht ohne Grund mit Bedauern gesagt, dass die EIbe, einst ein berühmter Fluss, jetzt an Interesse verloren habe. (Tacitus war offensichtlich noch befangen in dem zeitlichen Bar barenbegriff der frühen Kaiserzeit.) Dazu passt, dass derselbe Strom fast völlig aus den historischen Berichten verschwindet, um erst wieder zur Zeit Karls des Großen aus Anlass von dessen Zwangschristianisierung der Sachsen, d.h. gegen Ende des achten Jahrhunderts, aktuell zu werden. 19 Erst ab diesem Zeitpunkt wird die Erkundung Skandinaviens wieder aufgenommen, was mit Bezug auf die Aktivität der christlichen Missionare im Norden erklärt werden kann. 19
Vgl. Jürgen Deininger: Flumen Albis [sie! statt Albis flumen]. Die Eibe in Politik und Lite ratur der Antike. Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissen schaften e.V. Hamburg, Jahrgang 1 5 ( 1 997), Heft 4, bes. S. 71 ff.; Klaus-Peter Johne: "Einst war sie ein hoch berühmter und wohlbekannter Fluss": Die Eibe in den Schriften des Tacitus, in: Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, hrsg. von Peter Kneissl u. Volker Losemann, Stuttgart 1 998, S. 395-409; Karl Christ, Zentrum, Grenze und Peripherie. Die Eibe in augusteischer und tiberischer Zeit, in: Acta Classica 42 ( 1 999), S. 35-45.
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einander nur durch schmale Zwischenräume getrennt sind, sowie sieben Hamo dae, die nach Germanien zu gelegen sind in jenem Meerbusen, den wir die Codan-Bucht genannt haben. Von ihnen übertrifft Codannovia, das bis heute die Teutonen bewohnen, die anderen an Fruchtbarkeit und Größe.
Die Namen der besprochenen sieben Inseln in der Codan-Bucht, die von den Gelehrten ohne zwingenden Grund mit der Ostsee gleichgesetzt wird, hätte man selbstverständlich gern erfahren. Möglich ist, dass sie alle insgesamt "die Siebeninseln" heißen und dass das falsch überlieferte Haemodae etwa durch Hebdomae oder Hebdomades oder Ähnliches zu emendieren ist. Der Name von einer dieser Inseln ist nach Plinius dem Älteren (Nat. 4,96), der kurz nach Pomponius Mela schreibt, Scatinavia: Mons Saevo ibi [... ] immanem [ . . . ] efficit sinurn, qui Codanus vocatur, refertus insulis, quarurn clarissima est Scatinavia incompertae magnitudinis, portionem tantum eius, quod notum sit, Hillevionum gente quingentis incolente pagis. quare alterum orbem terrarum eam appellant. Dort bildet ein Gebirge namens Saevo -
[ . .} einen riesigen [ . .} Meerbusen, der Codan heißt und voller Inseln ist. Die berühmteste davon ist Scatinavia, deren Umfang unbekannt ist. Lediglich einen Teil davon bewohnen, soviel bekannt ist, die Hillevionen mit ihren 500 Gauen. Deshalb nennt man Scatinavia eine andere Welt.
Dies dürfte die älteste uns bekannte TextsteIle sein, wo der Name Scatinavia sicher überliefert ist. Wie wir sehen werden, behält die�e Lokalität ihren Insel status noch lange Zeit. Bei Tacitus, der um 98 n. Chr. die Germania verfasste, werden die Grenzen und die Ausdehnung Germaniens ein wenig anders angegeben; denn er kennt, so scheint es, die von Pomponius Mela skizzierten geographischen Grenzen des Gebietes, und erwähnt noch die Codan-Bucht (Germ. I ) : Das übrige Germanien umgibt das Weltmeer, das breite Landvorsprünge und Inseln unermesslicher Ausdehnung umschließt. 20
Vgl. Allan A. Lund, Zu Pomponius Mela 3,20 und 3,54, in: Classica et Mediaevalia 42 ( 1 99 1 ), S. 24 1 -246.
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Diese TextsteIle ist durch zwei Umstände auffallend: Zum einen gibt es darin nichts, was darauf hindeutet, dass er Kenntnis von "Jütland" gehabt hat, das einige Jahrzehnte später bei Ptolemaios unter den Namen "Kimbrische Halb insel" bekannt wurde. Dazu passt, dass Tacitus auch an anderer Stelle in der Germania die Kimbern in einer Meeresbucht (Germ. 37, 1 ) platziert. Es heißt folgendermaßen: Eundem Germaniae sinum proximi Oceano Cimbri tenent, parva nune civitas sed gloria ingens. An demselben Meerbusen, unmittelbar am Ozean, wohnen die -
Kimbern.
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Zum anderen sind mit den im ersten Kapitel der Germania erwähnten Inseln nicht, wie man bis vor kurzem in der Forschung annahm, die skandinavischen Inseln nördlich des germanischen Festlandes gemeint, sondern Inseln wie etwa Britannien sowie die erst kurz vorher (im Jahre 84 n. Chr.) von den Römern durch Agricola entdeckten oder eher wiederentdeckten Orkaden?l Tacitus spricht auch als Einziger von der suebischen See (Germ. 45,2: mare Suebicum), die höchst wahrscheinlich mit der Codan-Bucht, d.h. mit der Ostsee, gleichgesetzt werden kann. Aus skandinavischer Sicht ist von Belang, dass Tacitus als erster die Suionen, die auf einer Insel im Weltmeer leben, erwähnt (Germ. 44,2). Dabei meint er, wie man vermuten darf, eine Insel, die mit der vorher besprochenen Scatinavia gleichgesetzt werden darf. Mehrere Jahrhunderte nach Pomponius Mela wurde seine geographische Skizze Germaniens von Jordanes kopiert. Dieser Autor spricht in seinem Werk De origine actibusque Getarum aus dem Jahr 55 1 allerdings nicht von Codannovia, sondern von Scandza oder Scandzia (Get. 1 6) : A d Scandziae insulae situm, quod superius re!iquimus, redeamus. D e hac etenim in seeundo sui operis !ibro Claudius Ptolomeus, orbis terrae diseriptor egregius, meminit dieens: est in Oeeani arctoi salo posita insula magna, nomine Seandza. [00']' De qua et Pomponius Mela in maris sinu Codano positam refert, euius ripas influit Oeeanus. - Wenden wir uns wieder der Lage Scandzias zu, von der wir
oben abgeschweift sind. Über diese Insel berichtet nämlich der herausragende Geograph Claudius Ptolemaeus im zweiten Buch seines Werkes folgendermaßen: "Im nördlichen Ozean liegt eine grosse Insel, die Scandza heißt". [ . .]. Von dieser Insel berichtet auch Pomponius Mela, dass sie in der Codan-Bucht liegt, deren Küsten der Ozean bespült.
Für Jordanes genügte die Beschreibung Melas offensichtlich nicht. Er wandte sich deshalb dem Griechen Klaudios Ptolemaios zu (etwa 85- 1 65), dessen Name latinisiert Claudius Ptolemaeus lautet. Dieser hatte in seinem Werk über Geographie in den Büchern Zwei bis Sieben, die vielleicht schon zwischen 1 3 5 21
Siehe Reinhard Wolters, Eine Anspielung auf Agricola im Eingangskapitel der Germania, in: Rheinisches Museum N. F. 1 37 ( 1 994), S. 77-95.
D ie Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
43
und 1 42 n. Chr. geschrieben wurden, an einer Stelle (2, 1 1 ) eine Gruppe von vier Inseln erwähnt, die östlich der Kimbrischen Halbinsel lagen, die er kennt. Diese Inseln heißen insgesamt Skandiai. Die größte davon heißt auch Skandfai. Die ganze Inselgruppe dürfte nach ihr benannt worden sein. Diese Insel befindet sich vor der Weichsel ( Vistula). Bemerkenswert ist dabei, dass Jordanes j enseits von Sachsen die Kimbrische Halbinsel ansetzt und die Namen einer dort lebenden ethnischen Gruppe erwähnt (2, 1 1 ,7). Bei den beiden folgenden Autoren aus dem sechsten Jahrhundert, die über die Geschichte der Goten schreiben, nämlich der lateinisch schreibende Jordanes und der griechisch schreibende Prokop, findet sich zum ersten Mal das Ethnonym 'Dänen'. Jordanes (Get. 3 ,23) schreibt Dani, Prokop (Bell. Goth. 2,25,3) Danoi. Prokop platziert diese Dänen in Jütland, wo gegen Jordanes, der offenkundig schwedophil ist, sie aus Suetidi (d.h. svithiod) stammen lässt. Dies lässt vermuten, dass sie von dem skandinavischen Festland stammen, das er, um alles durcheinander zu bringen, Thule nennt. Für Paulus Diaconus (etwa 720-799) waren die Langobarden Germanen, die von einer Insel im Ozean ausgewandert waren, die Scadinavia heißt (Hist. Lang. 1 ,3). Diese Auffassung von Skandinavien ändert sich erst bei Adam von Bremen. Er operiert teils mit einem skandinavischen Festland, teils mit skandi navischen Inseln. Gleichzeitig zieht er eine kulturelle Grenzlinie zwischen dem Gebiet der Dänen und dem der sonstigen skandinavischen bzw. nordischen Be völkerungen, die nach antiker Tradition, d.h. nach Plinius dem Älteren, wie in einer ganz anderen und fremden Welt (alter orbis) lebend betrachtet werden, was auch mit der weiten Ausdehnung des geographischen Raumes zusammen hängt (4,2 1). Ich verweise hier auf das vorher gebrachte Zitat. Adam von Bremen gibt als seine Quelle für die Auskünfte, die er über die Orkneyinseln oder Orcades bringt, die Namen der spätantiken Autoren Martianus Capella (5. Jhd.) und C. Iulius Solinus (3 . Jhd.) an. In Wirklichkeit zitiert er nicht Solinus, sondern Orosius (5. Jhd.). 22 Dem sei hinzugefügt, dass die antiken Autoren Pomponius Mela, Plinius der Ältere und Cornelius Tacitus verschiedener Meinung waren, was die Zahl der Inseln betrifft, die zu dieser Gruppe gehören. Adam von Bremen erwähnt als erster nicht nur Eisbären, die er durch den Ausdruck "weiße Bären" umschreibt (4,32), sondern er ist auch der erste Autor, der Grönland sowie das Wunderland Vinland bespricht (4,38). Das ist auffallend. Außerdem bezeichnet er die beiden Länder als Inseln. Das ist auch bemerkenswert; denn dies wurde im Falle Grönlands erst im Jahre 1 902 fest gestellt.23 Was insbesondere Vinland betrifft, wo angeblich wilder Wein wächst, 22 23
Vgl. Piergiorgio Parroni, Surviving Sources of the Classical Geographers through Late Antiquity and the Medieval Period, in: Arctic 37 ( 1 984), S. 352-358, bes. S. 354. Siehe Max Winner, The Mysterious Vinland Map, in: Vi king Voyages to North America, hrsg. von Birthe L. Clausen, Roskilde 1 993, S. 77-82.
Allan A. Lund
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scheint es bei den jüngeren Gelehrten, die sich mit dieser mythischen und mys tischen Insel befassen, in Vergessenheit geraten zu sein, dass Adam von Bremen das älteste Quellenzeugnis für diese Lokalität ist. Wenn Adam von Bremen Grönland und Vinland ohne Umstände Inseln nennt, so deswegen, weil man seit der Antike dazu neigte, neuentdecktes Land im Ozean für eine Insel zu halten. Zum Kreis der mythischen Inseln des hohen Nordens gehört auch Thule. Die erste Erwähnung Thules verdanken wir dem antiken Hellenen Pytheas von Massalia, der zwischen den Jahren 350 und 325 v. Chr. eine Entdeckungsfahrt gegen Norden unternahm. Seine Schrift über diese Fahrt, nämlich Peri Okeanou, die schon in der Antike umstritten war, ist, sehen wir von einem direkten Zitat bei Geminos aus Rhodos ( 1 . Jahrhundert v. Chr.) ab, nur indirekt überliefert. Der römische Geograph Pomponius Mela (Chor. 3 ,57) platziert Thule gegenüber den Belcae er meint damit die skythischen Bevölkerungsgruppen östlich der Weichsel ( Vistula). Melas Thule lag demnach weit weg entfernt von Pytheas' Thule, dem Tacitus anscheinend zustimmt; denn in seiner Beschreibung der ersten römischen Umsegelung Britanniens, die der Eroberer Agricola im Jahre 84 n. Chr. anordnet, heißt es (Agr. 1 0,4):
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
Auffassung. Er ging in dieser Frage fast mit dem älteren Plinius konform. In einem Kommentar (Skolion 1 5 0) zu Adam von Bremen heißt es u.a. folgendermaßen: De occeano Britannico, qui Daniam tangit et Nordmanniam, magna recitantur a nautis miracula, quod circa Orchadas mare sit concretum et ita spissum a sale, ut vix moveri possint naves, nisi tempestatis auxilio. Vom britannischen Meer, das -
an Danien und Nordmannien grenzt, berichten die Seeleute Phantastisches, dass das Meer um die Orchaden geronnen und so salzig sei, dass sich die Schiffe kaum bewegen können, es sei denn es gibt einen Sturm.
Weiter heißt es bei Adam von Bremen (4,39): Post quam insulam, ait, terra non invenitur habitabilis in illo oceano sed omnia quae ultra sunt, glacie intolerabili ac caligine inmensa sunt. Cuius r i Martianu ita meminit: Ultra Thilen, inquiens, navigatione unius die mare concretum est. -
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Ac simul incognitas ad id tempus insulas, quas orcadas vocant, invenit domuitque. Bei derselben Gelegenheit entdeckte und bezwang er auch einige -
unbekannte Inseln, die arkaden genannt werden.
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Hinter dieser Insel, sagt er, gibt es im Ozean keine bewohnbaren Inseln mehr, sondern alles, was weiter draußen liegt, ist von Schneemassen bedeckt und in un endliche Nebel gehüllt. Dazu sagt noch Martianus: Eines Tages Seefahrt jenseits von Thule ist das Meer geronnen.
Thule ist zu Recht, wie mir scheint, eine Insel auf der Wanderung genannt worden.24
Bei späteren Autoren wie SoIinus (22,9), Martianus CapeIIa (6,666), Isidorus (ca. 560-636) (Etym. 1 4,66,4), Honorius von Autun ( 1 ,3 1 ) und Dicuil (7,7-9) hören wir wieder von Thule. Der Letztgenannte identifizierte Thule ebenso mit Island wie auch Adam von Bremen, der 4,36 schreibt: Thyle nunc Island appellatur a glacie, quia oceanum astringit.
deshalb Island genannt, weil es das Meer erstarren lässt.
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Thyle wird heute
Diese TextsteIle erinnert nicht von ungefähr an "das geronnene Meer", das öfters bei den antiken Autoren erwähnt wird, womit letztlich das Eismeer gemeint sein dürfte. So hatte Tacitus im Jahr 98 im Agricola (Agr. 1 0,5) vom "trägen Meer" (mare pigrum) gesprochen. Dementsprechend hatte er in der Germania das "träge und fast unbewegliche Meer" (mare pigrum ae prope immotum) erwähnt, das es nördlich der Suionen gab (Germ. 45, 1 ). Rund 50 Jahre früher hatte Plinius der Ältere (Nat. 4, 1 04 und 37,35 bzw. 4,94) dasselbe "das gefrorene Meer" (mare coneretum bzw. mare eongelatum) genannt. Die besprochenen Autoren sind vielleicht in ihrer Darstellung beeinflusst durch die Darstellung des Pytheas von Massalia, der Eismeer und Thule miteinander verknüpft hatte. Plinius der Ältere war der Meinung, dass das geronnene Meer nur einen Tag entfernt war von Thule, das wiederum ganze sechs Tage entfernt von Britannien lag. C. Iulius Solinus und Martianus Capella meinten aber, dass dieses Meer dieselbe Insel umgebe. Der irische Geograph Dicuil (etwa 825 n.Chr.) war anderer
24
Siehe Vincent H. de P. Cassidy, The Voyage of an Island, in: Specu(um 38 ( 1 9 63), S. 5 9 5 -602.
BILDER DES HEILIGEN NORDENS IN ANTIKE, PATRISTIK UND MITTELALTER Francisco Molina Moreno
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1.
Einleitung
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Der thematische Rahmen dieses Graduiertenkollegs ist, vor allem wegen seiner begrüßenswerten interdisziplinären Orientierung, genauso weitgefächert wie sein Titel anregend ist: "Imaginatio borealis". Ich werde hier eine Rundumschau von mythischen und poetischen Aspekten der imagines der Regionen des Nordens in der Antike und im Mittelalter anbieten. Hierfür werden wir zu einer imaginären Reise zu sagenumwobenen Ländern aufbrechen, Länder wie das der Hyperboreer oder 'Ultima Thule', die in der Phantasie der Menschen der Antike in den nördlichen (borealen) Regionen zu finden waren. Unsere Reiseführer, wenn man mir diesen Ausdruck hier gestatten mag, werden die schriftlichen Zeugnisse der griechischen und lateinischen Literatur aus Antike und Mittelalter sein. Wir möchten herausfinden, was die Grundlagen - und zwar textuelle Grundlagen, Quellen zunächst, aber auch Grundlagen mythischer und historisch religiöser Natur - für das sind, was wir als "Der Mythos des nördlichen Paradieses" bezeichnen können, also als die imaginäre Verortung der Utopie eines Landes oder eines Paradieses I in den Gefilden des Nordens, und, genereller gesprochen, die Zuweisung heiliger Attribute zu eben diesen Re gionen. Die Gestaltung dieser Verbindung symbolischer und poetischer Vorstellungen (imagines) ist ein Phänomen, das umso mehr reizt untersucht zu werden, wenn wir die tatsächliche Unkenntnis über das nördliche Eurasien in Betracht ziehen, von der wir für die Geographie der Antike und des Mittelalters ausgehen können. Für die Begründer der großen Zivilisationen Griechenlands und Roms handelte es sich um ein Gebiet mit unwirtlichem Klima, bedrohlich und schwer zu erreichen. Nichtsdestoweniger hatte dieser "Mythos des nördlichen Paradieses" unterschiedliche "Realisierungen", um in Begriffen der strukturellen Linguistik zu sprechen: das Land der Hyperboreer - 'Ultima Thule' (das diesem Mythos vor allem nach den lateinischen Zeugnissen eingebunden wurde), oder die in Richtung Nordwesten gelegene Insel des Kronos, von der Plutarch spricht ( Über das Gesicht des Mondes, 94 1 a - 942a) und die auch einige Eigenschaften besitzt, die Beachtung verdienen. Das gleiche gilt rur das Land der Meropen, das von Theopomp von Chios beschrieben wird, das Land der Arympheer, auf die Mein besonderer Dank gilt Edmund Voges, Kiel, der den Text aus dem Spanischen übersetzt hat. Wir müssen bedenken, dass die Länder, die wir zunächst durchgehen werden, keine Para diese im eschatologischen Sinne sind, obschon sie viele Charakteristika des Elysiums aufweisen.
Francisco Molina Moreno
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Plinius verweist, und die Insel Talge, die von Mela (III, 6, 5 8) erwähnt wird. In diesem Vortrag werde ich mit der Überprüfung einiger Zeugnisse des Mythos des Nordens aus der Antike beginnen, über ihre Bedeutung in der Antike nach denken und darüber, was diesem Mythos bleibende Bedeutung verschaffte. • I
Denn es war in der Tat mehr als schwierig, dass dieser Mythos des Nordens im Mittelalter überleben konnte. Bis zum Ende der Antike musste die Invasion der Völker, die "Barbaren" genannt wurden und die ausgerechnet über den limes im Norden in das Römische Imperium eingedrungen waren, bei den Menschen am Mittelmeer eine kaum beruhigende Vorstellung der nördlichen Länder hervorrufen. Und für die mittelalterliche Geographie blieb der Norden ein be unruhigender Bereich, der kaum bekannt und schwer zu erkunden war. Im Mittelalter versuchten viele Gelehrte diese geographischen Wissenslücken zu füllen, indem sie sich der Autorität der antiken Geographen bedienten, die, wie es Strabo (VII, 3, 1 ) zugibt, fortgefahren waren, mit einer mythischen Geo graphie die Lücken im Wissen über unerforschte Gebiete zu füllen. 2 Allerdings vermittelten schon einige antike Autoren antinordische Vorurteile, die sich augenscheinlich zu bestätigen schienen, namentlich durch die Einfalle der Nor mannen.3 Außerdem begann sich ein Zusammenhang zwischen der Gewalt tätigkeit der Invasoren und der Härte des Klimas in den Regionen, aus denen sie kamen, herauszubilden, ein Zusammenhang, der schon im hippokratischen Traktat Über die Lüfte, Wasser und Orte (Kap. 4) angedeutet worden war. Auf diese Weise präsentierten die Märchen- und Phantasiegeschichten, die die Wissenslücken der Geographie hätten füllen können, keinen paradiesischen oder utopischen, sondern einen abscheulichen und schrecklichen Norden.4 Das heid nisch-religiöse Fundament des Mythos des hyperboreischen Paradieses, also der Apollon-Kult, war verschwunden, und die Christen konnten sich nun an Jeremia ( 1 , 1 4) erinnern, wo es heißt, dass sich das Böse vom Norden her ausbreiten wird, und sie konnten diesen Satz mit den Einfällen der Barbaren in Verbindung bringen, die ihn zu bestätigen schienen.5 Dies würde ausschließen, dass man ein Paradies denken konnte, das sich im äußersten Norden der Welt befand: In der Tat kennen wir nicht einen einzigen Text aus dem Bereich dessen, was wir mit 2
R. Dion, La notion d' Hyperboreens: ses vicissitudes au cours de
3
Über die politischen und kulturellen Umstände der negativen Anschauung in Bezug auf
I'
Antiquite, in: Bulletin
de I'Association Guillaume Bude ( 1976), Heft 2, S. 1 43-1 57, bes.S. 1 50.
den Norden, vgl. L. De Anna, Il mito dei Nord. Tradizioni classiche e medievali, Neapel
1 994, S. 16 ff., mit einer Überprüfung der wissenschaftlichen Kenntnisse über die
4
nördlichen Gebiete in Spätantike und Mittelalter.
Vgl. G. Tardiola, Atlante fantastico del medioevo, Anzio 1 990, S.95 ff. Hinsichtlich der
Geographie- und Ethnographiegeschichte sind die Bücher von L. De Anna, Conoscenza e
49
"Visionsliteratur" bezeichnen können und der von Seelenreisen ins Jenseits berichtet,6 der das Paradies im Norden situiert. Das Gleiche kann man von den Theologen und Bibelkommentatoren sagen, die versuchten, die geographische Lage des irdischen Paradieses zu bestimmen:7 Fast alle situieren es im Femen Osten oder auch in Mesopotamien oder Armenien, aber mir ist nicht bekannt, dass irgendeiner es am Nordpol platziert. Dies widerspricht offenbar den Daten der Genesis (2, 8). Also sieht es nicht danach aus, dass das Mittelalter bereit war, sich ein uto pisches Land im äußersten Norden der Welt vorzustellen, weder in Bezug auf die Geographie noch im Hinblick auf seine Vorstellungskraft. Aber wenn die mittelalterlichen Geographen sich auf Plinius, Mela und Martianus Capella beriefen, konnten sie - mehr oder weniger christianisiert - das wiedergeben, was jene über die Hyperboreer gesagt hatten. Die Autorität, die die antiken Schriftsteller bei den Gelehrten des Mittelalters genossen, konnte das Überleben des Mythos des Paradieses im Norden erleichtern. Auf diese Weise überlebte der "Mythos des Paradieses des Nordens" trotz vieler Höhen und Tiefen: Im Jahre 1 477 übersetzt Enea Silvio de' Piccolomini in dem Teil, den er dem Norden Europas widmet (siehe: Asiae Europaeque elegantissima descriptio, XIII-XV) fast buchstabengetreu, was Diodor von Sizilien II, 47, über unsere Hyperboreer geschrieben hatte. 8 Dennoch vermögen wir schon jetzt zu sagen, dass die geringe Zahl von Verweisen auf die Hyperboreer in der mittelalterlichen lateinischen Literatur überrascht. Doch auch wenn es sich um ein Randphänomen handelt, ist es von großem Interesse, ob und wie der Mythos der Hyperboreer im Mittelalter fortdauerte. Dies könnte vielleicht das allgemein düstere Bild, das das Mittelalter von den nördlichen Ländern hatte, erhellen. Doch bevor wir mit der Untersuchung der Texte beginnen, sollten wir festhalten, dass der Zeitraum, den wir als Mittelalter verstehen, üblicherweise den Zeitraum ab dem Jahr des Endes des Römischen Imperiums bis zum Jahr der Entdeckung 6
Vgl. u.a.J. Amat, Songes et visions. L' au-delit dans la litterature latine tardive, Paris 1 985; CI. Carozzi, Le voyage de l'äme dans I'au-delä d'apres la litterature latine (ve-Xme siecle), Rom 1 994; und P. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1 98 1 ,
und ders., Mittelalterliche Visionsliteratur, Darmstadt 1 989.
Vgl. u.a. F. Vigouroux, "Paradis" und "Paradis terrestre", in: ders. (Hrsg.), Dictionnaire de la Bible, Paris 1 908, IV. Bd.; M. Alexandre, Entre ciel et terre: les premiers debats sur le
site du Paradis (Gen., 2, 8-1 5 et ses receptions), in: B. Deforgue, F. Jouan (Hrsg.), Peuples
et pays mythiques. Actes du veme. Colloque du Centre de Recherches Mythologiques de l' Universite de Paris X (Chantilly, 1 8-20 septembre 1 986). Paris 1 988, S. 1 87-224, und J.
Delumeau, Une histoire du Paradis: le jardin des delices, Paris 1 992 (engl.: History of Paradise: the Garden of Eden in Myth and Tradition, New York, 1 995).
immagine della Finlandia e del Settentrione nella cultura classico - medievale, Turku 1 988
Vgl. F.Molina Moreno, De septentrionis geographia fabulosa in fontibus antiquae et
vortrefflich.
Hyperboreorum renascentia (Vortrag vom 1 9. August 1 998 bei den in Nizza abgehaltenen
(Annales Universitatis Turkuensis, Sero B. Tom. 1 80), und ders., Il mito (wie Anm. 3),
5
Bilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
Vgl.
L. De Anna, Conoscenza (wie Anm. 4), S. 3 1 3 .
mediae
latinitatis,
in:
Feriae Latinae Nicenses).
Romanobarbarica
1 5,
1 998,
S. 1 27-1 42,
und
ders.,
De
�.. Francisco Molina Moreno
50
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,
Amerikas umfasst, auch wenn wir uns dessen bewusst sind, dass man aus kulturelIer Sicht fast ab Mitte des XIV. Jahrhunderts von der Renaissance sprechen kann. Dennoch glaube ich auf Grund dessen, was man im engeren Sinne auf den Bereich der Geographie bezieht, dass man bis 1 492 vom Mittelalter sprechen kann, und danach richte ich mich auch, selbst wenn hiervon abgesehen einige der Autoren, die ich zitieren werde, schon aus tiefstem Herzen Humanisten sind. Beginnen wir nun also mit einer Darstellung des Mythos des Landes der Hyperboreer und anderer, die ihm ähnlich sind, auf Grundlage der literarischen QuelIen der griechischen und lateinischen Antike. 9 Danach werde ich die Formen untersuchen, in denen bestimmte Züge dieser Mythen im Mittelalter fortdauerten. lo
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II
i, II
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Bilder des heiligen Nordens im klassischen Altertum
Ich werde versuchen, diesen Teil meines Vortrags möglichst kurz zu halten, zumal der Inhalt, den ich hier behandeln möchte, dem der ersten Vorträge der Ringvorlesung "Ultima Thule: Bilder des fremden Nordens von der Antike bis zur Gegenwart" sehr verwandt ist (konkret die Beiträge von Lutz Käppel und AlIan A. Lund). Ich möchte nur eine Rundschau anbieten, die als Grundlage rur meine Beobachtungen darüber dienen solI, was ich meine - so überraschend das auch klingen mag - als den Mythos des "Heiligen Nordens" im Mittelalter bezeichnen zu können. Die Vorstellung des heiligen Nordens in der Antike spiegelte sich in dem Mythos des Landes der Hyperboreerl l wider, das Pindar (01. III, vv. 3 1 -2) jen seits des Nordwindes situiert. Abgesehen von diesem Land werden Sie alle 'Ultima Thule' im Sinn haben, das aber in den Quellen der Antike kaum etwas Paradiesisches hatte (vgl. z.B. Strabo, I, 4, 2). Auch muss man das Land der Arympheer erwähnen (Plinius der Ältere, nat. , VI, 34) und das Land der Me ropen, das an das der Hyperboreer angrenzt (Theopomp von Chios, FGrH 2b, 9
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Dieser Teil unserer Darstellung gründet sich auf unsere Arbeiten von 1 998 (wie Anrn. 8) und ders., Hacia el paraiso hiperb6reo, in: L. GiI, M. Martinez Pastor und R. M. Aguilar (Hrsg.), Corolla Complutensis in memoriam Josephi S. Lasso de la Vega contexta. Homenaje al Profesor Jose S. Lasso de la Vega, Madrid 1 998, S. 505-5 1 5 . Vgl. unseren Aufsatz von 1 998 (wie Anm. 8), ders., Paraiso (wie Anm. 9), und ders., Renascentia, (wie Anm. 8). O. Crusius, Hyperboreer, in: W. H. Roscher (Hrsg.), Ausflihrliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Stuttgart 1 886-90, Nachdruck Hildesheim 1 965, 1, 2, Sp. 2805-2835 (Anhang von M. Mayer, über die Ikonographie, ebd., Sp. 2836-284 1 ), und Daebritz, Hyperboreer, in RE IX, I , Sp. 258-279. Für die lateinischen Quellen s. P. Aalto und T. Pekkanen, Latin Sources on North-Eastern Eurasia, 2 Bde., Wiesbaden 1 97580 (Asiatische Forschungen, Bd. 44).
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1 1 5 F 75). Und letztlich müssen auch die Inseln von Talge i m Kaspischen Meer (Mela, III, 58), die Hebuden (Solinus, Appendix, XII), die sogenannte Aurea (Avienus, Orbis terrae, 767-77 1), in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thule, und die Insel, �ie von Kronos bewohnt wird und im Westen von Britannien liegt . (Plutarch, Uber das Gesicht des Mondes, 941 a-942a), genannt werden. Die nördlichen Regionen Europas sind die Bühne rur einige Naturphänomene, die die Menschen der Antike sehr beeindrucken konnten, wenn sie es denn wagten, sie zu erforschen. Namentlich die verlängerte Sonneneinstrahlung um die Zeit der Sommersonnenwende herum stellte solch einen extremen Unter schied zwischen dem Norden Europas im Vergleich zum mediterranen Europa dar, dass diese Zone in den Augen der Ersten, die es wagten, sie zu erforschen, in eine übernatürliche Aura getaucht wurde. Von diesem Phänomen sprechen z.B. Mela (III, 6, 57), der es in 'Ultima Thule' situiert (der gleiche Autor schließt es in seiner Beschreibung der Hyperboreer ein, III, 3 6-7), und auch Plutarch (Über das Gesicht des Mondes, 94 1 d), wo er die Insel des Kronos beschreibt. Dieser Gott ist auch Namensgeber rur ein gefrorenes Meer, das Plinius (nat. IV, 1 04) erwähnt. Von einem Meer in diesen Breiten erzählt Tacitus Folgendes: Jenseits von den Suionenl 2 liegt noch ein anderes Meer, träge und beinahe ohne Bewegung. Dass dieses Meer den Erdkreis abrundet und abschließt, wird dadurch glaubhaft, dass der letzte Schein der bereits hinabtauchenden Sonne bis zum Sonnenaufgang in solcher Helligkeit anhält, dass er die Sterne überstrahlt; außerdem - so fugt der Volksglaube hinzu - hört man den Klang der auf tauchenden Sonne und sieht Umrisse von Pferden und das strahlenumkränzte Haupt (des Sonnengottes). Nur bis dahin geht - und das darf man glauben - die 13 Welt (Germania, 45).
Genau diese übernatürliche Aura, oder jedenfalls das Bewusstsein davon, dass es sich um eine andere Welt handeln würde, konnte darauf Einfluss nehmen, diese Gegenden zum Schauplatz von Utopien und Phantasien zu machen. Die Charakterisierung des Landes der Hyperboreer und seiner Einwohner folgt dem Modell utopischer Länder: Man sprach ihnen ein Klima zu, das immer an genehm und von großer Fruchtbarkeit ist, und man glaubte, dass seine Ein wohner die gerechtesten und glücklichsten Menschen der Welt waren, die frei von Krankheiten waren und zudem ein bemerkenswert langes Leben hatten (vgl., z.B. Pindar, Zehnte pythische Ode, 24-44, und Hekataios von Abdera, FGrH 3a 264 F 7). Im Fall des Landes der Hyperboreer und der Insel des Kronos handelt es sich um Völker, die dem Kult der Götter geweiht waren, und die Griechen glaubten, dass einige Charakteristika des Apollon-Kultes aus dem Land der Hyperboreer stammten (vgl. z.B. Pausanias, 1, 1 8, 5 und X, 5, 7). Der 12 3
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y'gl. L. De Anna, Conoscenza (wie Anm. 4), S. 38, 4 1 -43. . Ubersetzung von Arno Mauersberger in: Tacitus, Germania, Zweisprachig. Aus dem Latei nischen übertragen und erläutert von A. M., Frankfurt a. M. 1 980, S. 97.
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ständig andauernde Frühling und die hervorbrechende Fruchtbarkeit waren auch auf den Inseln Talge, Aurea und auf den Hebuden vorhanden. In Bezug auf Thule ist die Eigenschaft, die alle Quellen betonen, die Verlängerung der täg lichen Sonneneinstrahlung während eines Zeitraums von sechs Monaten, was dazu ruhrte, dass man dieses Land rur den Ruhepunkt der Sonne hielt (HI. Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIV, 6, 4; vgl. Pytheas, fr. 9a Mette, 8 Roseman). Aber trotz all dieser paradiesischen und heiligen Charakteristika wurden weder das Land der Hyperboreer noch die anderen Regionen der imaginären Geographie des Nordens als Paradies für die Seelen der Toten angesehen. Es existieren nur einige wenige zweifelhafte Zeugnisse, die dem Land der Hyper boreer diese eschatologische Dimension zusprechen (Bacchylides, Epinikien, III, 58-60; Diodor von Sizilien, III, 59, 6-7; Sophokles, fr. 956 Radt; Horaz, Carm., II, 20). Dies liegt vielleicht daran, dass ApolIon eigentlich weder ein Seelen geieiter noch ein Gott des Jenseits ist. 111.
Bilder des heiligen Nordens im Mittelalter
Wie ich schon in der Einleitung erwähnt habe, ist die Vorstellung von Europas Norden im Mittelalter gar nicht positiv gewesen. Zu den historischen Um ständen muss man symbolische Motivationen hinzurugen, wie z.B. solche, wie wir sie finden, wenn die Heilige Hildegard von B ingen in dem Liber divinorum operum simplicis hominis (I, 4, 48) sagt, dass der Norden auf der linken Seite bleibt (was nichts Gutes verheißt), wenn man nach Osten blickt, wo die Sonne aufgeht (was wiederum Jesus symbolisiert). Nun präsentierte schon eine der ersten Quellen der mittelalterlichen Symbolik, die Clavis, die Meliton von Sardes zugeschrieben wird (2. Jahrh. n. Chr.), ein düsteres Bild des Nordens. Wir lesen in diesem Bändchenl 4 (3, 43), dass der Norden den Teufel oder die Ungläubigen symbolisiert, denn der Prophet sagte, dass die Flamme des B �sen sich vom Norden her über die Erde ausbreiten wird (und darin gibt es eine Ahn lichkeit zu Jer., I , 1 4). 1 5 Etwas weiter (6, 1 , 6) hebt der Autor der Clavis diese negativen Konnotationen des Nordens hervor und erinnert an eine Passage des Buches Jesaja, in der der Teufel sagt: "Ich werde mein Haus im Norden haben, und ich werde genauso sein wie der Allmächtige" . 1 6
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Aber es gab auch gelegentliche Wiederbelebungen des Mythos der Hyper boreer. Lassen Sie sie uns schnell durchgehen. Ich meine, dass die Autoren, die dem Mittelalter einige Daten über das Land der Hyperboreer übermittelt hatten, Martianus Capella, VI, 663-4, und der Heilige Isidor von Sevilla, Etymologien 14
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Vgl. J. P. Laurant, Symbolisme et Ecriture. Le cardinal Pitra et la ''Clef'' de Meliton de Sardes, Paris 1 988. D. E. Fass, The Symbolic Uses of North, in: Judaism. A Quarterly Journal of Jewish Life and Thought 37 ( 1 988), S. 465-473. Vgl. Is., 1 4, 1 3 , und den Hl. Augustinus von Hippo, Conf., X, 36, 59.
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(XIV, 8, 7), waren. VieIleicht war es jene erste erwähnte Passage, auf die Adam von Bremen sich bezog, als er im 1 1 . Jahrhundert (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, IV, 12)1 7 sagte, dass die römischen Schriftsteller diej enigen Völker, die im Norden von Dänemark wohnen, Hyperboreer nannten und dass Martianus Capella sie in vielen Lobpreisungen anrief. Mit diesem Verweis wurde die Absicht verfolgt, die Völker des Nordens, die das Christentum angenommen hatten, in ein positives Licht zu TÜcken (vgl. Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, IV, 2 1 und 3 5). Die große Gelehrsamkeit des Heiligen Isidor von Sevilla erlaubte es ihm, einen der schönsten Aspekte des Mythos der Hyperboreer aufzugreifen: In den Etymologien (XII, 7, 1 9) sagt er, dass in der Region der Hyperboreer, wenn die Zitherspieler sängen, die Schwäne in großen Gruppen hinzuströmten und mit sängen (vgl. Aelian, Über die Natur der Tiere, XI, 1 , der seinerseits Hekataios von Abdera, FGrH, 3a, 264 F 1 2, folgt). Es ist wahrscheinlich, dass Geoffrey of Monmouth hier Isidor von Sevilla folgt, wenn er diese Details wiedergibt (Vita Merlini, vv. 1 334 ff.). 1 8 Wir finden ebenfalls Hinweise auf unsere Hyperboreer im Werk von Robert Grosseteste (De natura locorum, pp. 68-9 Baur), 19 Roger Bacon (Opus Majus, vol. I, g 1 3 4 Bridges)20 und Pierre d'Ailly (Ymago Mundi, I, 1 1 , vol. I, S. 232-4 Buron I und 1 2, vol. I, S. 238 Buron). Sie versuchten das, was man von dem angenehmen Klima des Landes der Hyperboreer erzählte, mit der Erfahrung der winterlichen Härten der umgebenden Regionen in Einklang zu bringen. Und über dieses angenommene milde Klima wurden die Angaben annehmbar und glaubwürdig, die Mela (III, 3 7), Plinius der Ältere (IV, 89), Solinus (XVI, 3-5) und Martianus Capella (VI, 664) über die mythischen Hyperboreer gemacht , hatten. Schließlich übersetzte Enea Silvio de' Piccolomini, Asiae Europaeque elegan tissima descriptio, XIV,22 in Zurschaustellung klassischer Gelehrsamkeit auf hohem Niveau und mit größerer stilistischer Eleganz als seine Vorgänger (wenn 17
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Vgl. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis Ecclesiae pontificum, hrsg. von G. H. Pertz, Hannover 1 846 (MGH, Scriptores, 7), S . 267-389, Nr. 8. Vgl. Geoffrey of Monmouth, Vita Merlini, in: La legende Arthurienne. Etudes et documents, hrsg. von E. Faral, Bd. 3, Paris 1 929, Nachdruck New York 1 973. Vgl. Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste Bischofs von Lincoln, hrsg. von L. Baur, Münster 1 9 1 2 (BGPhMA, IX). Vgl. The 'Opus Majus' of Roger Bacon, hrsg. von J. H. Bridges, Oxford 1 897, Nachdruck Frankfurt a. M. 1 964. Vgl. "Ymago mundi", texte latin et traduction fran�aise des quatre traites cosmographiques de d'Ailly et des notes marginales de Christophe Colomb [ . . . ], hrsg. von E. Buron, Paris 1 930.
Vgl. Aeneas Silvius Piccolomini, Asiae Europaeque elegantissima descriptio. Venetiis 1 477, apud Johannem de Colonia. Wir haben eine spätere Ausgabe (Parisiis, apud Galeotum a prato, ad primam Palatii regii columnam, 1 534) verwendet.
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auch ohne jedes Interesse an einer kritischen Überprüfung der Daten) wortgetreu fast alles, was Diodor von Sizilien 11, 47 über die Hyperboreer gesagt hatte (der seinerseits Hekataios von Abdera, FGrH, 3a, 264 F 7, als Quelle nutzte). Aber abgesehen von diesen Wiederbelebungen des Mythos aus der Antike be steht die eigentlich mittelalterliche Version dieses Mythos darin, dass dem Polarstern und dem Himmelsnordpol heilige Bedeutung zugeschrieben wird. Dies bedeutet eine weitere Manifestation dessen, was auch schon in dem Mythos der Hyperboreer begründet lag: Man sagte, dass sie unter dem Himmelsnordpol wohnten (Mela, III, 3 6). Lassen Sie uns hier einige mittelalterliche Zeugnisse dessen betrachten, was wir die Heiligkeit des Himmelsnordpols nennen können. III. 1. Der heilige Pol im Mittelalter 111. 1 . 1 . Der Polarstern
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Die Symbolik des Polarsterns im Mittelalter ist sehr bemerkenswert, weil sie mit der des Nordens als Kardinalpunkt kollidiert. Schon in der Clavis Melitonis, 3, 28 heißt es, dass der Polarstern23 die heilige Kirche repräsentiert, und zwar wegen der Heiligkeit der sieben Sterne (dies könnte sich auf die Analogie der sieben Sterne des kleinen Bären und die sieben Sakramente beziehen, obwohl, wie es scheint, die Anzahl der sieben Sakramente erst ab dem 1 3 . Jahrhundert offiziell galt). 24 Das Gleiche können wir bei Hrabanus Maurus, Allegoriae in Sacram Scripturam (PL, 1 1 2, 862), lesen. In De universo, 9, 1 3 (PL, 1 1 1 , 272273) sagt Hrabanus Maurus, dass der Polarstern, weil er auf der Achse der Welt liegt, den nächtlichen Raum erleuchtet, ohne j emals unterzugehen. Dies offen bart nicht nur das Leben einiger isolierter Heiliger, sondern symbolisiert gleichzeitig die gesamte Kirche, denn es ist demzufolge sicher, dass die Kirche unter Mühen zu leiden hat, aber dennoch gibt es nichts, was sie zu Fall bringt. Das steht in Einklang mit den Eigenschaften des Polarsterns, die schon in den homerischen Gedichten zum Ausdruck gebracht werden. In der llias, (XVIII, 489) und der Odyssee, (V, 275) heißt es, dass dieser Stern niemals im Ozean badet, und der Astronom Eudoxos hat wohl im 4. Jahrhundert Folgendes gelehrt: "Es gibt einen Stern, der immer am gleichen Ort bleibt, und dieser Stern ist der Pol des Universums" (fr. 1 1 ).
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Der lateinische Text der Clavis und auch Hrabanus Maurus und Aldhelmus ( s . unten) nennen ihn "Arcturus"; obschon das der Name des Sterns "alpha Bootis" (z. B. bei Ps. Eratosthenes, Cat , 8) ist, entspricht die Charakterisierung, die wir von diesem Stern in den hier angeführten Texten (bes. bei Aldhelmus) finden, dem Polarstern. V gl. Catholic Encyclopaedia, Sacraments, Internet: [http://www.newadvent.orgicathen/1 3295a.htm#IV] .
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Auch spricht Hrabanus Maurus davon (De universo, 9, 13 [PL, 1 1 1 , 273]), dass der Polarstern, der in den kalten Regionen aufgeht, das Gesetz des Alten Testaments repräsentiert (diese zweideutigen Konnotationen des Polarsterns waren schon im 7. - 8. Jahrhundert bei Aldhelmus, Opera, S. 72, 1 325 präsent), während die Pleiaden, die im Osten aufgehen, die Gnade des Neuen Testaments repräsentieren. Ihm zufolge wäre also das Gesetz von Norden her gekommen, um mit rauer Strenge den ihm Unterworfenen vorzuschreiben, dass man die einen für ihre Sünden durch Steinigung bestrafe und die anderen mit dem Tode durch das Schwert. Im Gegensatz dazu zeigen die Pleiaden - auch sieben an der Zahl - die Gnade des Neuen Testaments umso klarer, je besser alle Menschen sie ohne Probleme sehen können. Obwohl die Konnotationen des Polarsterns beunruhigend sind, wenn wir in Betracht ziehen, dass Hrabanus Maurus ihn mit der Kirche in Verbindung bringt, darf man nicht vergessen, dass das irdische Paradies nach Beda, Hexaem. , I (PL, 9 1 , 43-44), eine Allegorie der Kirche war, genau wie auch für Hrabanus Maurus, De univ. , 1 2, 3 (PL, 1 1 1 , 334).26 Und ein letztes Beispiel für die Heiligkeit des Polarsterns bietet die Legende Lapsus et conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, 11, 2 ff.27 der Roswitha von Gandersheim, nach der der Polarstern, um den sich das Universum dreht und der nie untergeht, sondern als StelIa Maris den Seefahrern den rechten Weg weist, ein Symbol fUr die Jungfrau Maria ist. Aber auf die ununterbrochene Sichtbarkeit des Pols verwiesen schon Anaxagoras (fr. 1 DK) und Eudoxos (fr. 76). Dies fUhrt uns auf die Fährte, dass man schon in der Antike dem Himmelspol einige Konnotationen von Heiligkeit zuweisen konnte, die man im Mittelalter beibehalten hat. Wir werden gleich noch andere Zeugnisse dieser Heiligkeit des Himmelspols zu sehen bekommen. 111.
1 . 2. Der Himmelspol und die Achse der Welt
In De universo des bereits erwähnten Hrabanus Maurus (De univ. 9, 6 [PL, 1 1 1 ,
C-D]) heißt es, dass es zwei Punkte gibt, an denen die Welt gehalten wird, der Norden und der Süden. Um sie dreht sich der Himmel, sie symbolisieren die zwei Testamente und verweisen das Leben der Gegenwart auf das Reich in der 265
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Vgl. Aldhelmus (7.-8. Jhd.), Opera, hrsg. von R. Ehwald, Berlin 1 9 1 9, Nachdruck 1 984 (MGH, AA, 1 5). Über das nach dem Bild des heiligen irdischen Raums begriffene Paradies s. G. Widengren, Religionens värld, Stockholm 1 945 (erweiterte deutsche Übersetzung: Religionsphänomenologie, Berlin 1 969; Spanisch von A. Alemany: Fenomenologia de la religi6n, Madrid 1 976, S. 1 39). Auch fur die Antike war das Land der Hyperboreer ein Abbild von Delphi: vgl. Hekataios von Abdera, FGrH, 3a, 264 F 7 und 1 2. Roswitha (ca. 930/940 - 1 002), Lapsus et conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, hrsg. von P. von Winterfeld, Berlin 1 902, Nachdruck Berlin/Zürich 1 965 (MGH, SS. rer. germ. in usum scholarum separatim editi, 34), S. 148.
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Zukunft. Hrabanus Maurus fügt hinzu, dass diese beiden deshalb als 'Halte punkte des Herrn' beschrieben werden, der damit das Firmament befestigt habe (J Reg. , 2). Es verleiht der Erdachse eine heilige Bedeutung, und dafür sollte ich noch einige Beispiele bringen. Tatsächlich erscheint der Pol (und zwar nicht der geographische Nordpol, sondern der Himmelspol) implizit mit Gott assoziiert, und von dieser Verbindung gibt es einige heidnische Vorläufer, wie wir z.B. bei Senecas Hercules Oetaeus, 559 sehen, wo Jupiter mit dem Pol assoziiert wird, oder in einem Epigramm aus der Anthologia Graeca, XVI, 2 1 4, wo es Eros ist, der sich des Pols bemächtigt. Von besonderem Interesse erscheint mir die Ver bindung von Kronos mit dem Pol, die wir Z.B. in der Octavia finden, die Seneca zugeschrieben wird (V. 396). Wir werden noch andere Zeugnisse dieser Asso ziation zwischen Kronos und dem Pol sehen, aber man muss dabei in Betracht ziehen, dass in diesen Texten der Begriff "Pol" im Sinne von "Himmel" verwen det wird (z.B. bei Ps.-Seneca, Octavia, V. 396; vgl. Ovid, Amores, III, 8, 3 5). Dennoch scheint es auch, dass Anaxagoras (fr. 1 DK) schon im 5 . Jahrhundert vor Christus den Begriff "Pol" verwendet hat, um sich auf den Mittelpunkt des oberen Teils des Himmelsgewölbes zu beziehen. Und in Zeiten des römischen Reichs verwendete man den Begriff "Pol", um den Himmelsnordpol zu be zeichnen (Dio Cassius, FGrH 3c, 707, F 4, Zeile 1 8; Eukleides, Phainomena, Prooimion, Zeilen 1 6 ff. und 64 ff.; Kleomedes, S. 82, Zeile 2 1 Ziegler) oder auch um den geographischen Nordpol zu bezeichnen (Kleomedes, S. 62-72 Ziegler; Dionysios von Halikamassos, Antiquitates romanae, XIV, 1 , 1 , 3). Aber man kann in einigen Zeugnissen der Assoziation des Nordens mit dem Heiligen sehen, dass das, was den Himmelsnordpol zu etwas Heiligem macht, die Tatsache ist, dass er den festen Mittelpunkt des oberen Teils des Himmelsgewölbes darstellt. Auf diese Weise versichert der Autor eines Epigramms, das in die Anthologiae Graecae Appendix (Epigrammata demonstrativa, Nr. 327) aufgenommen ist, dass er, als er den heiligen Tempel der Jungfrau Maria sah, glaubte, das Zentrum des strahlenden Pols zu betreten. Hier wird der Begriff "Pol" im Sinne von "Himmel" verwendet, aber das, was er mit dem Tempel der Heiligen Maria vergleicht, ist genau das Zentrum dieses Himmels. Für diese Art des Vergleichs, in der der Himmel mit dem Tempel in Beziehung gesetzt wird, findet sich eine Vielzahl sowohl christlicher als auch heidnischer Zeugnisse (auch das Land der Hyperboreer wurde als ein heiliger Ort beschrieben, und man sagte nach Diodor von Sizilien, 11, 47, dass es dort einen Tempel des ApolIon gab). Die Vorstellung des Himmels als Tempel erscheint z.B. bei Seneca, Hercules furens, V. 3 und, zum Ende der Antike, bei Dracontius, De laudibus Dei, I, 3-4. Dementsprechend gibt es eine Vielzahl von Zeugnissen, in denen umgekehrt die Tempel mit einer Vorstellung des Himmels bedacht werden, z.B. bei Diodor von Sizilien (XVIII, 27, 4) und in der Anthologiae Graecae Appendix (Epigrammata demonstrativa, 3 02, 3 03, 305, 3 1 2, 323 und 3 82).
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Andererseits ist die Erhöhung auch eine numinose Qualität des Himmels, und diese Erhöhung findet ihren höchsten Ausdruck am nördlichen Himmelspol, wie man es schon von Anaxagoras (fr. 1 DK überliefert von Diogenes Laertios, 11, 9) und Aratos (I, 1 9-27) bis zu einem ausgesprochen wichtigen Zeugnis, und zwar dem des Alexander von Aphrodisias in seinem Kommentar zu den meteoro logischen Traktaten des Aristoteles, S. 70 Hayduck, findet. Es lohnt sich, diesen Text zu übersetzen, weil er Verweise auf Details enthält, die die Basis einer Zuweisung von Heiligkeit zum Pol bilden konnten: Dafiir, dass die Teile, die dem Großen Bären (d.h. dem Norden) zugewandt sind, höher liegen, ist ein gutes Argument, dass [schon] die Mehrzahl der alten Meteorologen glaubte, dass die Sonne nicht vertikal unter der Erde her, sondern horizontal
um
die Erde herum wandere, und zwar weil dieser Teil der Erde höher
sei und die Sonne, wenn sie in diesen Bereich gerate, unsichtbar werde und [so] die Nacht erzeuge.
Außerdem sehe man den Himmelspol immer, und um ihn drehe sich das Universum. Dies sind Charakteristika, auf die schon Eudoxos (fr. 1 1 und 76 und " Ps.-Eudoxos, Ars astronomica, co!. 6), Aristoteles, De caelo (285b 9) (und der pseudo-aristotelische Traktat De mundo [39 1 b 1 9-392a 1 ff.]), und Euklides, Phaenomena (Prooimion, Zeile 64 Menge) hindeuten. Eben dieses griechische Wort "Pol" wird aus der Wurzel des Verbs gebildet, das auf Griechisch , "kreisen" bedeutet, wie schon Aristophanes, Aves ( 1 82-3), feststellte. Und es ist ' yon großer Bedeutung, dass der Pol eine positive Deutung als festes Zentrum erfahrt, das immer im oberen Teil des Himmelsgewölbes zu sehen ist und um ,das sich das gesamte Universum dreht: So sagt z.B. Dionysios von , Halikarnassos, Antiquitates romanae (11, 5, 3), dass für diejenigen, die nach ! :,Osten schauen, die Teile, die im Norden liegen, auf der linken Seite bleiben, >r" , aber dass diese mehr Wert hätten, weil sich im Norden das eine Ende der , :,:' Weltachse erhebt und sich um sie das Universum dreht. Und außerdem, schließt I 'H} ' Dionysios von Halikarnassos, sei der eine, als arktisch bezeichnete von den fünf "'i; ' kreisen, die die Sphäre umkreisen, immer sichtbar. I
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}i ' Die Eigenschaften von Erhöhung und Zentrum in Verbindung mit dem Hei�, ' �igen erscheinen sehr klar, Z.B. im Merobaudis Carmen (I, 5-6) aus dem 5 .
' ,i' 'ahrhundert nach Christus. Und die Vita Landiberti Episcopi Traiectensis,
,:, auctore Stephano (S. 3 86, 1 6 ff. Krusch)28 sagt, dass Gott in "den höchsten JIöhen des Pols" residiere. Aldhelmus, De virginitate, XL (S. 292, 9)/9 spricht Von der Jungfrau Maria, die verdiene, in ihrem Schoß den "König der Welt und Herrscher des Pols" zu tragen. Und in den Versen 1 1 1 9 ff. des Carmen de virginitate des gleichen Autors erscheint der Pol als Paradies und Sitz der 28
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Vgl. B. Krusch, in: MGH, SS. rer, merov., Bd. 6, Hannover/Leipzig 1 9 1 3 , Nachdruck 1 997, S. 385-392, Nr. 1 2, 2. Vgl. Anm, 25.
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Glückseligen. Es heißt dort, dass der Ewige Vater, dessen Gesetze den Heiligen den Sieg beschert, die Pfeile zerbrach, die die Märtyrer quälten, und dass diese "zu den hohen Gewölben des himmelhohen Pols" gelangten. Auf diese spielt das Gedicht auch als Heimstatt der Heiligen und Märtyrer an (auch in den Versen 1 227, 1 8 8 1 und 286 1 /2). In den Vita et Miracula Sancti Bononii abbatis Locediensis, 1 0,3 0 heißt es einfach, dass die heilige Hauptfigur zum "unbeschreiblichen Ruhm der Pole" aufstieg. Und dieser höchste Punkt im Himmel ist demnach der Sitz Gottes und der Glückseligen, und auf ihn verweisen die "hohen Gewölbe des himmelhohen Pols", die in den genannten Texten erwähnt werden, so wie auch in den Versen 5703/4 der Vita metrica s. Anselmi Lucensis episcopi auctore Rangerio. 3 1 Diese sind besonders interessant, weil sie darauf verweisen, was die Engelschöre als Loblied des Triumphs in den Gipfeln des Pols singen. Und in dem Traktat Musica disciplina des Aurelianus Reomensis (9. Jh.) sagt dieser, dass die Engel auf dem Gipfel der Sterne die Loblieder auf den Herrn sängen,32 ein weiterer Hinweis auf den Himmelsnordpol in Bezug auf seine zentrale und erhöhte Stellung im Himmelsgewölbe. Dass der Gesang der Engel genau im allerhöchsten Punkt des Pols angesiedelt wird, ist ein interessanter Aspekt, weil er vielleicht eine Spur rür eine Unter suchung legt, der wir im Rahmen dieses Vortrags nicht bis zum Ende nachgehen können. Ich möchte nur darauf verweisen, dass Texte wie der oben erwähnte vielleicht erlauben, von einer Relation zwischen dem Himmelspol und der kos mischen Musik zu sprechen. Der Heilige Ambrosius von Mailand spricht von dem Gesang der Engel als Loblied auf den Herrn, und in diesem Kontext (Enarrationes in XII psalmos Davidicos, [PL, 1 4, 92 1 -2]) erwähnt er auch die WeItachse, die sich mit der Sanftheit eines ununterbrochenen Liedes dreht und deren Klang man an den Grenzen der Erde hört. Es scheint, dass man am Himmelsnordpol diese kosmische Musik hört, die, wenn auch nicht durch die Sterne, so doch durch die Weltachse hervorgerufen wird. Diese Klänge, die von der Weltachse produziert werden, welche der Heilige Ambrosius mit ähnlichen Begriffen charakterisiert wie die Sphärenharmonie (z.B. in Ciceros Somnium Scipionis, V, 3 De re publica, VI, 1 8), werden also mit dem gleichen Ort (dem Himmelsnordpol) in Verbindung gebracht wie der Gesang der Engel oder der Glückseligen in den Textpassagen, die ich zuvor dargestellt habe. =
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..m.lder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
Diese Assoziationen mit Vorstellungen und Ideen gehen vom A lten Testament aus: im Buch Hiob (37, 22) lesen wir, dass sich vom Norden her ein goldener Schein erhebt und über ihm der unendliche Ruhm Gottes aufsteigt. Andererseits wird das Loblied des Herrn von den Engeln und den Sternen gesungen (Psalm 148, 2-4; Hiob, 38, 7), und dank des Psalms 1 50, 3-5 wissen wir, dass das Lob lied Musik ist (vgl. Clemens Alexandrinus, Ecl. , 8, 9, 1 ). In den biblischen Texten, die ich erwähnt habe, scheint es so zu sein, dass die Engel für die kos mische Musik verantwortlich sind. In Griechenland finden wir ebenfalls einige Gottheiten, die mit den Sternen oder mit unterschiedlichen Regionen des l)niversums in Verbindung gebracht werden. Gottheiten, die auch singen (und auf diese Weise die Harmonie der Sphären herstellen) und mit den Engeln das , ikonographische Element der Flügel gemein haben, sind die Sirenen, die in dem Mythos des Er erscheinen (Platon, Staat, 6 1 7b). Vielleicht sollte ich an dieser �telle von den Iynges sprechen, eine seltsame Art von Gottheiten, die bestimmte Charakterzüge mit den Engeln und Sirenen teilen und die auch mit den Polen in Verbindung gebracht werden.33 Wir sollten uns also einen kleinen Exkurs über diese Iynges erlauben. , Lassen Sie mich mit der Feststellung beginnen, dass mit Iynx " Wendehals,, 34 $emeint war (Iynx torquilla, ein Vogel, der als Talisman gebraucht wurde' um die untreuen Geliebten zurückzubringen),3 5 und später "Verzauberung"3 6 be �eutete. Unter den Neuplatonikern bezeichnete das Wort im Plural Götter nach �er hierarchischen Ordnung, die einem Grad der Emanation des Universums �tsprach (Damaskios, De principiis, I. Bd., S. 286 und 307 Ruelle). Aber davon �gesehen, assoziierte man die Iynges mit den unterschiedlichen Regionen des pniversums, so in den Oracula chaldaica, 76, die von Damaskios zitiert werden (In Parmenidem, S . 59, 23 ff. Ruelle). Und in In Parmenidem, S. 95, 1 1 ff. elle, weist Damaskios ihnen die Funktion zu, die Seelen nach oben zu ge lten: In all dem sind sie wie die pythagoreischen Sirenen und Musen (Plutarch, Quaestiones convivales, IX, 1 4, 6, 2, 745 d 8-e 3; Proklos, IIJ. Hymne, vv. 6-8), oder wie die Hierarchien der Engel des Judentums und des Christentums, die lUch mit Sternen assoziiert werden oder doch zumindest mit Regionen des Uni �ersums (Ascensio Jesaiae, 7, 1 5, 1 9, 2 1 , 29 und 33 3 7 für das Judentum; Kyrill von Jerusalem, PG, 33, 704 und Cosmas Indicopleustes, 2, 84 und 97 für das
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Hrsg. von G. Schwartz u. A. Hofmeister, Leipzig 1 934, Nachdruck 1 976 (MGH, SS., 30, 11. Teil ), S. 1 023- 1 033, Nr. 33. Hrsg. von E. Sackur, G. Schwartz u. B. Schmeidler, Leipzig 1 929 (MGH, SS., 30, II. Teil), S. 1 1 52-1 307, bes. S. 1 275. Vgl. Musica disciplina, hrsg. von M. Gerbert, Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum, 3 Bde., St. Blasien 1 784, Nachdruck Hildesheim 1 963, I, S. 27-63, bes. S. 6 1 ; Internet: [http://www.music.indiana.edultm1l9th- 1 1 thlAURMUS_TEXT .htrnl].
59
34
3S
36
37
Vgl. Francisco Molina Moreno, Las sirenas pitag6ricas y su trasfondo (Vortrag auf dem X. . sp�sc�en Kongress ftir klassischen Studien vom 2 1 . bis zum 24. September an der Umversttät Alcal:i de Henares Madrid). VgI Aristoteles, Historia animalium, 504 a 1 2; ders., Oe partibus animalium, 695 a 23, und : Aehan, Oe natura anirnalium, 6, 1 9. V gl. Theokrit, Idyllia, 2, 1 7. stoPhanes, Lysistrata, 1 1 1 0, und Lukian, Oe domo, 1 3 , 6. gl : �scensio Isai�e, griechische Fassung, hrsg. von E. Norelli, Turnhout 1 995 (C orpus Christtanorum, Senes Apocryphorum, 7: Textus; 8: Comrnentarius, Indices).
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Francisco Molina Moreno
60
Christentum). Und sie führen ebenfalls die Seelen der Gerechten ins Paradies (Lc. , 16, 22). Außerdem besitzen den antiken Beschreibungen zufolge die Sirenen eine Be sonderheit, die Philostratus erlaubte, sie mit den Figuren mesopotamischer Kunst in Verbindung zu bringen, die, nach diesem Autor, eben diese Iynges re präsentieren. Die Sirenen hatten, so wie ApolIon, eine prophetische Gabe (Od. , 12, 1 89-9 1). Und Pindar (fr. 52 i Snell-Maehler, vv . 63 ff.) spricht von einem Tempel des ApolIon, der mit Keledones �eschmückt sei. Dies sind Figuren, die die Antike mit den Sirenen identifizierte. 8 Seinerseits beschreibt Philostratus in VA, 6, 11 genau den gleichen Tempel wie Pindar (fr. 52 i SnelI-Maehler, vgI. auch Pausanias X, 5, 5 ff.), doch Philostratus gebraucht das Wort Iynges anstatt von Keledones und sagt, dass diese Iynges die Überzeugungsgabe der Sirenen hätten. Außerdem spricht Philostratus davon, dass die Dachkonstruktion des babylonischen Königspalastes ( VA , 1, 25) den Himmel repräsentierte und das von ihr vier lynges herabhingen, die von den Magiern "Zungen der Götter" genannt wurden.
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Andererseits sagen die Kurzgejasste und knappe Übersicht der Lehren der Chaldäer von Psellos39 und der 17. Brief von Michael Italikos,40 dass die Iynges chaldäische Gottheiten seien, und Proklos, Kommentar zu Platos Parmenides, 1199, 36 und Kommentar zu Platos Kratylos, 7 1, 114, stellt sie als Wesen dar, die zwischen dem Herrn und der Welt stehen. All dies läßt uns an den Nahen und Mittleren Osten denken, zumal auch die Engel des Judentums und Christentums hierarchisiert sind,4 1 mit unterschiedlichen Regionen des Uni versums assoziiert werden, die Seelen in den Himmel geleiten und Mittler zwischen Gott und der Welt sind. Außerdem nähern die Flügel sie den Sirenen und der Welt der Vögel an, auf die der Name der Iynges verweist.42 Und schließlich sind nach Proklos, Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Euklides (S. 9 1, 3 Friedl.), die Zentren aller Sphären und der Pole Symbole der "iyngischen" Götter.
I. I
IV. Rückkehr zur Antike: noch einige Bilder des heiligen Nordens
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Andere Gottheiten, die in der Antike mit dem Himmelspol assoziiert wurden, sind Rhea (Proklos, Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Eukleides, S. 90, 14 FriedI.) und Kronos (nach Proklos, Kommentar zu Platos Staat, H, 2 13), wobei außerdem die Weltachse als ein Symbol der Göttin, die das Leben spendet, gesehen wird. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um Rhea, wenn 38
Vgl. Pausanias, X, 5 , 1 2.
39 E. Des Places, Les oracles chaldai"ques, Paris 1 97 1 , S. 1 85 u. 1 89. 40 41
42
Ebd., S. 2 1 3-2 1 5 . Aber man muss beachten, dass die Musen und Sirenen nicht hierarchisiert sind. Und die V ögel wurden als Boten der Götter betrachtet; vgl. 11., 24, 292.
der des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
Bil -
61
das Scholion zu Apollonios Rhodios, I, 1 098 in Betracht zieht. Die 27. orphische Hymne, vv. 4 ff., ruft Kybele an, die mit Rhea als Herrin des Pols und des Throns des Zentrums der Welt und als Mutter aller Geschlechter der Götter und Menschen identifiziert wird. Andererseits ist Rhea auch die Frau von }(ronos (11. , XV, 187; Hesiod, Theogonie, 453 f.; Ps.-Apollodor, I, 4; Pausanias, VIII, 8, 2), und die Pythagoreer nennen die Konstellationen des Kleinen und Großen Bären "Hände von Rhea" (Porphyrios, Pythagorasbiographie, 4 1). Es ist pleiner Meinung nach wahrscheinlich, dass diese Götter am Pol ihren Platz haben (also an einem Punkt, in dem nach einer von Aristoteles, De spiritu, 484b 1 1 angeregten Idee der kosmogonische Prozess seinen Anfang nahm43 und �essen Vorhandensein in der griechischen Kosmologie ich bisher noch nicht �abe untersuchen können). Denn man brachte diese Götter mit dem Beginn der Vlelt in Verbindung, d.h. mit dem goldenen Zeitalter: Der "große König des P.Jten Pols und der vorherigen Welt" (Martial, Epigramme, XII, 62, 1 ) ist lCronos, da die folgenden Verse sagen: Unter seiner Herrschaft mußte man nicht eiten, und es gab weder Blitze von Königen (ein Verweis auf die Blitze des \ . �us) noch Personen, die sie verdient gehabt hätten. Dies stimmt mit der ptarakterisierung des goldenen Zeitalters überein (bei Hesiod, Werke und Tage, ." !fi. 109 ff.; Tibull, I, 3, 35-48, und Ovid, Met. , I, 89- 112.). Dass Kronos, der . Herr des goldenen Zeitalters, mit dem Himmelspol assoziiert ist, stimmt mit seiner Situierung auf einer Insel im äußersten Nordwesten des Atlantischen \ ans in dem Mythos von Sila überein, der von Plutarch erzählt wird (Über ifas Gesicht des Mondes, 94 1a-942a). Diese Insel trägt auch Züge der Inseln der ' I' �ligen, über die ebenfalls Kronos herrschte (Hesiod, Werke und Tage, vv. 168 SI , ' �d ff. und Plutarch, Sertorius, 8). Hier ist es bedeutsam, dass diejenigen, die jii � Insel des Kron�� gingen, gemäß dem Mythos von Sila eine Wiedergeburt en (Plutarch, Uber das Gesicht des Mondes, 94 1c). ;�i; Plan
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1'17 ' Die antike Vorstellung, dass Kronos auf einer Insel im äußersten Nordwesten ;�; �r Welt ausruhe (wie es in Plutarchs Traktat Über das Gesicht des Mondes ', ; \ tpsrgestellt ist), gibt uns Anlass zur Reflexion. Auch von 'Ultima Thule' glaubte 1k;: flm, dass dies der Ort war, wohin die Sonne sich wandte, wenn sie unterging }fr,:!�ikephoros Gregoras, Historia romana, Bd. III, S. 5 17), oder dass sie sich dort I:': �end der Sommersonnenwende aufhielt (HI. Isidor von Sevilla, Etymologien, ;�\ XIV, 6, 4). Man glaubte, dass die nördlichen Regionen der Ort seien, wo die .; Sonne ihre natürliche Ruhestatt nach ihrem Durchlaufen des Himmelsgewölbes habe. Denn nach Geminos, Einführung in die Phänomene, VI, 8 f. ( Sfha�ropoeia, F 376a, 6, 8 f., S. 261, 11 bis 263, 3), hatte Pytheas erzählt, dass die Emgeborenen dieser Regionen ihm gezeigt hätten, wo die Sonne sich zur Ruhe lege ( Pytheas, fr. 9a Mette, 8 Roseman). Offensichtlich korrespondieren
f
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43
M. E liade, Traite d'histoire des religions, 8. Aufl., Paris 1 980 (span.: übers. von A. Medinaveitia, Tratado de historia de las religiones: morfologia y dialectica de 10 sagrado, 2.Aufl., Madrid 1 98 1 , S. 379-384).
62
Francisco Mo1ina Moreno
die nordwestlichen Regionen, von denen die Antike sagte, dass dort Thule und die Insel des Kronos waren, mit dem Punkt, wo die Sonne im Sommer untergeht, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass Pytheas seine Forschungs reisen im Sommer unternahm. Was uns hier interessiert, ist die Beobachtung, dass der Norden und der Westen in der Antike die Eigenschaft teilen, Ruhepunkt der Sonne zu sein. Dies entspricht einem Grundschema, das durch die Sonnenwende statt durch die Kardinalpunkte bestimmt ist.44
I,
1, 1
Letztlich teilen sich die Insel, auf der Kronos ausruht, und die Insel Thule, wo die Sonne ausruht, ihre Lage im Nordwesten. Dies kann andererseits mit einigen Zeugnissen übereinstimmen, die Kronos und die Sonne miteinander in Verbindung bringen, eine Verbindung, die Diodor von Sizilien, 11, 30, 3, den Babyioniern zuschreibt. Dieses Zeugnis entstand, bevor Plutarch seinen Mythos von Sila aufschrieb, in dem die Insel des Kronos genannt wird. Andere Zeugnisse dieser Verbindung von Kronos und Sonne finden sich bei Theon von Smyrna, S. 1 30, 22-23 Hiller, und bei Servius, Kommentar zu Vergils Aeneis, I, 729 . Und wenn diese Assoziation von Kronos und Sonne mit der Lage der Insel des Kronos im äußersten Nordwesten der WeIt zu tun haben konnte, dann kann gleichzeitig die Situierung eines imaginären Landes im äußersten Norden,45 das Apollon geweiht war (namentlich das Land der Hyperboreer), mit einer Assoziation von Apollon und der Sonne zu tun haben, eine Verbindung, die doch so problematisch ist, dass ich einen kleinen Überblick anbieten sollte. Moreau46 hat schon in den homerischen Gedichten Eigenschaften ApolIons aufgezeigt, die erlauben, von seiner Verbindung mit der Sonne zu sprechen. Gehen wir auf die offensichtlichsten ein. Beide sind leuchtend (man nennt Apollon Phofbos, seit 11. , I, 43; vgl. Homerische Apollonhymne, vv. 440 und ff.). Die Pfeile, die ApolIon schleudert, d.h. die Strahlen der Sonne (Od. , 5, 479, für die Sonne; Homerische Apollonhymne, 45, fiir den Gott von Delphi) sind Grundlage dafür, dass man ApolIon den 'Schleuderer' oder 'Werfer' nennt (II. , IX, 404), mit einem sehr ähnlichen Ausdruck also (mit der gleichen Bedeutung), wie der, mit dem die Sterne bezeichnet werden, die auch Strahlen aussenden (Ptolomaios, Tetrabiblos, III, 1 1 , 1 0). Man sollte hier hinzufügen, dass beide mit der Zahl Sieben in Verbindung stehen: Apollon wurde am Siebenten des Monats geboren (Hesiod, Werke und Tage, 770, und vgl. Kallimachos, Deloshymne, vv. 44 45
46
Vgl. A . Ballabriga, Le solei! et le Tartare. L'image mythique du monde en Grece archai'que, Paris 1 986, S. 1 75-1 76. Oder Nordwesten, nach Hekataios von Abdera, FGrH 3a, 264 F 7. Vgl. A. Moreau, Quand ApolIon devint SoleiI, in: A. Bakhouche, A. Moreau et J.C. Turpin (Hrsg.), Les astres. Actes du Colloque International de Montpellier, 23-25 mars 1 995, Montpellier 1 996 (Seminaire d' Etudes des Mentalites Antiques, Publications de la Recherche, Universite Paul Valery, Bd. I), S. 1 1 -3 5 . Vgl. auch P. Boyance, L'Apollon solaire, in: Melanges d'archeologie, d'epigraphie et d'histoire offerts a Jeröme Carcopino, Paris 1 966, S. 1 49- 1 70.
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B ilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
63
249 ff.), und Julian, Or. , V, l 72c-d, nennt die Sonne die "der sieben Strahlen". Aischylos hat schon Orpheus eine Identifikation zwischen Apollon und Helios zugeschrieben (S. 1 3 8 Radt, überliefert von Ps.-Eratosthenes, Catasterismi, 24 T. 1 1 3 Kern, und vgl. Fr. 1 72 Kern), und Menander der Rhetor, De epidicticis, S . 6 Russell-Wilson, weist Parmenides (A 20 DK) und Empedokles (A 23 DK) die gleiche Identifikation zu. Andere Zeugnisse der Assoziation von Apollon mit der Sonne sind - und zwar schon in einem pythagoreischen Orbit - die 34. orphische Hymne und die 37. Dissertation, 4-5, von Maximus Tyrius. Beide haben schon einen Vorläufer im 5. Jahrhundert v. Chr.: Namentlich Oenopides von Chios, Fr. 7 DK, der augenscheinlich gesagt hat, dass die Sonne "Loxias" hieß, weil sie die Ekliptik entlangwandere, die in Bezug auf den Äquator geneigt sei (geneigt griechisch loxe). Aber es ist auch so, dass "Loxias" ein Epitheton ApolIons war (seit Bacchylides, Epinikien, XIII, 1 48). Moreau hat diese Assoziation von ApolIon und Sonne mit derjenigen in Verbindung gebracht, die zwischen ApolIon und dem Land der Hyperboreer vermittelt.47 Er dreht dabei die Argumentation von Kerenyi48 um: Demnach sei die Assoziation ApolIons mit dem Land der Hyperboreer ein Beweis für seinen Sonnencharakter, denn in diesem Land würde sich im Sommer das Sonnenlicht über ganze Tage erstrecken.
=
=
V.
Zusammenfassung
In all diesen Zeugnissen finden wir das, was den Kern des Mythos der Hyper boreer ausmacht: Die Heiligung des Pols, der als fester Punkt im oberen Teil des Himmelsgewölbes verstanden wird und durch den die Weltachse verläuft, die Himmel und Erde verbindet.49 Während die Ursprünge der Legende der Hyperboreer in den Ritualen des Apollon-Kultes in Delos und Delphi lagen, nach denen man sich ein Land vorstellte, aus dem Apollon kam und aus dem seine Verehrer ihm Opfergaben sandten,50 wurde ausgehend von einer Volks etymologie die Vorstellung entwickelt, dass dieses Land sich in einer Region befand, die sich vom äußersten Nordosten bis zum äußersten Nordwesten der bekannten Welt erstrecke. Auf diese Vorstellung konnten auch bestimmte As pekte ApolIons Einfluss nehmen, die auf den Norden Europas verweisen und die sich der keltischen Religion annähem5 1 (so wie auch die vorhandenen Handels47
48
49 so
51
Moreau, ApolIon (wie Anm. 46), S. 26-28. Vgl. K. Kerenyi, ApolIon, Wien 1 937, S. 48. Eliade, Traite (wie Anm. 43), S . 304-305 und 377-380 und W. Schmied-Kowarzik, Frühe Sinnbilder des Kosmos, Ratingen-Castellaun-Düsseldorf 1 974. L. R. FarnelI, The Cults of Greek States, Oxford 1 896-1 905, Nachdruck New York 1 977, Bd. 4, S. 99. F. M. Ahl, Amber, Avallon and Apollo's Singing Swan, in: AJPh 1 03 ( 1 982), S. 373-4 1 1 und M. Mund-Dopchie, La survie litteraire de la Thule de Pytheas. Un exemple de la
64
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11 !'
Francisco Molina Moreno
kontakte zwischen Griechenland und den Küsten des Ostseeraums)52. Aber offenkundig ist die Verbindung dieses imaginären Volkes mit dem Pol und der Weltachse in Texten wie dem von Mela (III, 3 6), Plinius dem Älteren (nat. , IV, 89) oder Martianus Capella (VI, 663-664, S. 329, 9- 1 6 Dick). Und in Bezug auf die Weltachse hatte Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, I, 1 , gesagt, dass es in den kalten Regionen weniger Krankheiten gebe, weil die Mehrzahl der dortigen Völker nach seiner Ausdrucksweise "unter der arktischen Achse" geboren würden. Dies war eine - wenn auch unter bio-geographischen Aspekten zweifelhafte - Weise, mythische Grundschemata in die Ethnologie zu übertragen. Diese mythischen Grundschemata, nach denen man davon ausgeht, dass der Himmelspol der Punkt sein kann, von dem die Kosmogonie ihren Anfang nahm, können auch die Assoziation des Pols mit den Göttern rechtfertigen, die mit dem Goldenen Zeitalter in Verbindung stehen (wie Kronos und Rhea). Der Fall der neuplatonischen lynges ist bei unserem derzeitigen Kenntnisstand weiterhin problematisch. Nachdem der Apollon-Kult (abgesehen von gelegentlichen gebildeten Re miniszenzen des Mythos der Hyperboreer beim Hl. Isidor von Sevilla, Adam von Bremen, Geoffrey of Monmouth, Robert Grosseteste, Roger Bacon, Pierre d'Ailly oder Enea Silvio de' Piccolomini) verschwunden ist, kommt diese Heilig keit der Weltachse und des Pols in der Vorstellung des westlichen Christentums im Mittelalter in anderer Weise zum Ausdruck: die heilige Symbolik des Polarsterns (Clavis Melitonis, 3, 28; Hrabanus Maurus, A llegoriae in Sacram Scripturam, PL, 1 1 2, 862; Roswitha, Lapsus et conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, 11, 2 ff.) oder die Assoziation des Pols mit Gott. In den Zeugnissen, die diesen letzten Punkt betreffen, darf man 'Pol' nicht im Sinne von 'geographischer Nordpol' verstehen (der, soweit wir wissen, im Mittelalter überhaupt keine positive Konnotation hatte), sondern als 'Himmelsnordpol', oder sogar in seinem weiteren Sinn als 'Himmel', eine Bedeutung, die der Pol schon in der Antike hatte. Das, was dazu führte, dass der Pol mit Gott assoziiert wurde, war die Tatsache, dass er der feste Punkt im oberen Teil des Himmelsgewölbes war. Und von dem Moment an, in dem er mit Gott assoziiert wurde, konnte er auch als Heimstatt der Seelen der Glückseligen vorgestellt werden. Diese Assoziation mit Gott reproduziert die Assoziation mit ApolIon, Kronos, Rhea und den mysteriösen heidnischen "iyngischen" Gottheiten, die einerseits den für die Harmonie der Sphären verantwortlichen Sirenen ähnlich waren, und anderer seits den Engeln, die im Judentum und Christentum für die Himmelsmusik zuständig waren. Diese kosmische Musik bestand aus dem Lobgesang des Herrn, den man nach dem Traktat von Aurelianus Reomensis (De musica disciplina) "auf dem Gipfel der Sterne" hörte. Dieser Gipfel der Sterne könnte
52
perrnanence des schemas antiques dans la culture europeenne, in: L'antiquite cJassique 59 ( 1 990), S . 79-97. Dion, La notion (wie Anrn. 2).
65
eine Anspielung auf den Himmelsnordpol sein, unter dem nach der Vorstellung der Antike das utopische Land der Hyperboreer lag, das auch einem Gott geweiht war, dem man in Gesängen huldigte (Pindar, Zehnte pythische Ode, vv. 37 ff.; Hekataios von Abdera, FGrH, 3a, 264 F 7), wie dies auch die Seligen im christlichen Paradies tun. Sowohl im Heidentum als auch im Christentum machten die Eigenschaften der Erhöhung und der Festigkeit und der Bezug zu der Weltachse aus dem Himmelsnordpol etwas Heiliges.
DIE EUROPÄISIERUNG DES NORDENS IN DER FRÜHEN NEUZEIT ZUR WIRKMÄCHTIGKEIT VON VORSTELLUNGSWELTEN IN DER POLITISCHEN LANDSCHAFT EUROPAS Olaf Mörke
Der Überfall der Nordmänner, der Wikinger, auf das Kloster Lindisfarne in Northumberland im Jahr 793 war für die Betroffenen im Wortsinn eine Heim suchung. In das bekannte Eigene brach das Fremde mit gewaltsamer Macht ur plötzlich ein und zerstörte die geheiligten Grundlagen des gesellschaftlichen Seins. So jedenfalls interpretierte es die zeitgenössische Überlieferung. Der im fränkischen Reich lebende northumbrische Mönch Alkuin, der wohl meist zitierte 'Zeitzeuge', berichtet über die Entweihung von Reliquien, Kirchenraub und Priestermord. " Seit fast dreihundertflinfzig Jahren haben wir und unsere Väter in diesem geliebten Land gelebt, und noch niemals wurde in Britannien ein Schrecken verbreitet, der dem vergleichbar gewesen wäre".1 Das Anglo Saxon-Chronicle berichtet über das Jahr 793 : In diesem Jahr erschienen gräßliche Vorzeichen über Northumberland und erschreckten die Einwohner in betrüblicher Weise: Es waren ungeheure B litze, und in den Lüften sah man entsetzliche Drachen. Bald darauf folgte eine große Hungersnot, und wenig später [ ... ] überfie len und zerstörten die Heiden die Kirche Gottes in Lindisfame und begingen Raub und Totschlag ?
Heimsuchungscharakter und düstere himmlische Vorzeichen erinnern in ihrer Kombination an ein Erklärungsmuster flir die Ereignisse, das die fremden Eindringlinge als Instrument des göttlichen Strafgerichts angesichts der eigenen Sündhaftigkeit sah.3 Nicht nur die erwähnten Kommentatoren, sondern die Darstellungen in den angelsächsischen Quellen des 9. und 1 0 . Jahrhunderts insgesamt schufen damit ein Interpretament flir die Wikingerüberfälle, das diese in den eigenen Kulturhorizont christlicher Heils- beziehungsweise Unheilsvor stellungen integrieren ließ. Es ist zu betonen, dass es sich dabei nicht um einen quasi normalen Vorgang der Abstrafung handelte, der alltäglicher Sündhaftigkeit auf dem Fuße folgte. Die Fokussierung auf die strafende Funktion der wikingschen Überfälle stellte vermutlich keineswegs bloß eine Ad-hoc-Erfindung durch die betroffenen Zeit genossen dar, die lediglich der komplexitätsreduzierenden Erklärung des in seiner Plötzlichkeit und Unerwartetheit sonst Unerklärlichen diente. Vielmehr
3
Zitiert nach: Regis Boyer, Die Wikinger. Aus dem Französischen von Linda Gräz, Stutt gart 1 994, S. 14. Zitiert nach: Boyer (wie Anm. 1), S. 1 3 . S o explizit auch bei Alkuin. Dazu: Rudolf Simek, Die Wikinger, München 1 998, S. 26.
Olaf Mörke
68
I
schlug. Strafgericht und Heilserwartung gingen eine untrennbare Einheit ein,
höchst simplen, für die Interpretation der Position des Nordens im politisch geographischen Raumgefüge Europas freilich wichtigen Grund. Mit den
eigenen Heilsfähigkeit. In den aus der Perspektive der Betroffenen überlieferten fränkischen und eng
11 ,!i
69
Es mag erstaunen, dass in Überlegungen zu einem Thema der Frühneuzeit
war das Strafgericht doch unabdingbar notwendig zur Wiederherstellung der
, I ,
Eie Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
lässt sich die Verbindung zu einer grundsätzlichen Dimension des christlich
eschatologischen Weltbildes ziehen, die sich in solcherart Bewertung nieder
1
r'". ./:
lischen Berichten über die Wikingerüberfälle aus dem
9.
und
10.
Jahrhundert
zeichnete sich die Verbindung der Bedrohung mit dem geographischen Raum ab, aus der diese kam. Die nördliche Herkunft von Dani und Nortmanni konnte eindeutig ausgemacht werden.4 Es deutete sich hier ein Konzept von
Nördlichkeit an, dessen interpretatorische Wurzel angesichts der geistlichen Autorschaft der Chronistik und Annalistik wahrscheinlich in der Kenntnis alttestamentarisch-eschatologischer Prophetien zu suchen ist. Nur so lässt sich
die Verbindung der Ereignisschilderung mit den Hinweisen auf die Funktion der Überfälle als göttliches Strafgericht erklären.
Der heilsgeschichtlich wirksame Gegensatz von Nord und Süd findet sich z.B.
bei dem Propheten Daniel. Er schildert, gleichsam als Vorstufe der Erlösung,
den fortwährenden Kampf des Königs des Südens (aus Mittag) mit dem
schrecklichen König aus dem Norden (aus Mitternacht), dem Vollstrecker des
göttlichen Strafgerichts.5 Nach dem letzten Nordkönig, dem schrecklichsten von allen, "bis mit jm ein ende werde" (Daniel Kap.
1 1 ,45),
erfolgt dann die Schei
dung zwischen den Gottlosen und den zur Erlösung anstehenden Gerechten. "Viel werden gereinigt
/
geleutert vnd bewerd werden
/
vnd die Gottlosen
werden gottlos Wesen füren / vnd die Gottlosen werdens nicht achten Verstendigen werdens achten" (Daniel Kap. (Kap.
4, 6-7):
/ aber die
1 2, 1 0). Ähnlich heißt es bei Jeremia
geschichte der Blick zunächst auf die Wikingerzeit gelenkt wird. Dies hat einen
Wikingereinfällen auf den britischen Inseln und dem westeuropäischen Festland
wurde in Europa die Basis eines räumlich verortbaren wertorientiert-normativen
Konzeptes der Beziehung von Norden und Süden - oder besser: Nichtnorden -
gelegt, welches das späte Frühmittelalter mit der Frühen Neuzeit bis in die erste
Hälfte des
17.
Jahrhunderts verklammerte.6 In diesen gut achthundert Jahren
konstituierte und hielt sich im Bereich der Raumbeziehungen bestimmenden kollektiv-ethnischen Identitäten ein Konstrukt, das auf der in der jüdisch-christ lichen Vorstellungswelt fest verankerten heilsgeschichtlichen Komplementarität
von Nördlichkeit (Mitternacht) und Südlichkeit (Mittag) basierte. Spätestens im
9.
und
10.
Jahrhundert wurde jenes heilsgeschichtliche Kon
strukt durch den konfliktgeladenen Kontakt zwischen Wikingern auf der einen,
angelsächsischen und fränkischen Regionen auf der anderen Seite auf den euro
päischen Raum übertragen. Der in der Chronistik der betroffenen Regionen früh einsetzende Wandel in der Bezeichnung für die Invasoren von den räumlich un
spezifischen Begriffen verweist
pagani
auf
die
und
barbari
zu den lokalisierbaren
Identifikation
navien als europäischer Norden geriet
des
zunächst
Dani
oder
lediglich heils geschichtlich-abstrakten Nordens mit dem skandinavischen Raum. 7 Skandi
Nortmanni
für die westeuropäischen Interpretatoren
zur zunächst fremden Anderweit. Ihr gegenüber nahm die Eigenwelt die heils
geschichtliehe Position des Südens ein. Solcherart theologische Basis des
Raumverständnisses hob jedoch die Trennung von Eigen- und Anderweit
dadurch dialektisch auf, dass die Existenz des skandinavischen Nordens und dessen Einbruch in die Eigenwelt zur Voraussetzung dafür geriet, den Status
Werffi zu Zion ein Panir auff / Heuffet euch vnd seumet nicht / Denn ich bringe ein vnglück herzu von Mitternacht / vnd ein grossen jamer. Es feret daher der Lewe aus seiner hecke / vnd der Verstörer der Heiden zeucht einher aus seinem ort / Das er dein Land verwüste / vnd deine Stedte ausbrenne / das niemand drinne wone.
eigener Sündhaftigkeit durch das nördliche Strafgericht zu überwinden. Norden
�d Süden erfuhren durch diese Interpretation eine systemische Verschmelzung, mdem beide zu notwendigen Elementen eines sinnstiftenden Handlungs
�sarnmenhanges erhoben wurden. Mit den Wikingereinfällen setzte dergestalt dIe mentale Europäisierung Skandinaviens ein.
Weiter im Buch des gleichen Propheten zum gleichen Thema, jedoch mit einer Akzentverschiebung. Das ,
I,
50.
Kapitel spricht nicht mehr von dem aus Norden
einfallenden König. Dort übernimmt ein mitternächtlich-nördliches Volk (Kap.
50, 2-3, 8- 1 0) die Aufgabe des Strafenden "wider Babel vnd das Land der Chal deer" (Kap. 50, 1 ).
5
Dazu: Simek, Wikinger (wie Anm. 3), S. 29-36. Daniel, Kap. 1 0- 1 2. Zitate der Bibeltexte nach: Dr. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrift, Wittenberg 1 545 (ND München 1 972, hrsg. von Hans Volz).
Der dem Folgenden zugrunde liegende Begriff des Normativen beschränkt sich nicht auf die 'Norm' als "vorgeschriebenen, sanktionierten und allgemein geltenden Verhaltens standard", sondern umfasst ferner die diesem eingeschränkten Normenverständnis "über geordneten Orientierungseinrichtungen einer Gesellschaft", die auch als 'Werte' bezeichnet werden. Zur Beziehung von Norm und Wert: Paul Münch, Grundwerte der früh neuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1 988, S. 53-72, Zitate S. 6 1 . Dazu oben Anm. 4.
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Die Wirkmächtigkeit der heilsgeschichtlich gegründeten Integration Skandi naviens in den europäischen Nonnen- und Vorstellungshorizont blieb kein Phä nomen des frühen Mittelalters. Ihre epochengestaltende Kraft wird dadurch unterstrichen, dass sie in abgewandelter Fonn wieder im Vorfeld und im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges auftauchte. Es sei festgehalten: Die bezüglich der Beziehung zwischen Skandinavien und dem 'Rest' Europas festzustellende Epocheneinheit zwischen dem 9. und dem frühen 1 7. Jahrhundert gründete in einem theologisch-heilsgeschichtlichen Kontext, dessen Interpretation im Detail, wie noch zu zeigen sein wird, freilich Umdeutungen erfuhr. Die für unseren Argumentationszusammenhang wichtigste Umdeutung dieser Beziehung war ein Produkt der Umgestaltung der einheitlich lateinisch-christ lichen Welt im Gefolge der Reformation. Die Herausbildung konfessioneller Blöcke berührte auch und gerade den Platz Skandinaviens auf der macht politischen Landkarte Europas. Die Refonnation stärkte einerseits erheblich die innenpolitische Position des Königtums in Dänemark, der skandinavischen Vonnacht bis in das frühe 16. Jahrhundert. Andererseits ennöglichte sie die staatliche Konsolidierung des sich 1 523 aus der dänisch dominierten Kalmarer Union lösenden Schweden unter der Dynastie der Wasa. Sie legte damit den Grund für den Aufstieg des Landes zur Dänemark ablösenden Vonnacht des Ostseeraumes. Zusammen mit dem Großteil der Territorien in der Nordhälfte des Alten Reiches fonnten Dänemark und Schweden am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges den Kern des lutherischen Europa. Beide skandi navischen Mächte profilierten sich im Verlauf des 1 6 1 8 durch den böhmisch pfälzischen Krieg ausgelösten europäischen Mächteringens als Vor- und Schutzmächte des Protestantismus und versuchten dies für den Ausbau der eigenen Machtposition im Nord- und Ostseeraum zu nutzen. Der dänische König Christian IV. scheiterte freilich militärisch und musste 1 629 im Frieden von Lübeck seine politischen Ambitionen begraben. Anders Schweden unter Gustav H. Adolf. Hier entwickelte sich aus der Mischung einer konsequenten Aktivierung des aggressiven Gotenmythos mit protestantischem Sendungs bewusstsein ein außerordentlich erfolgreiches Instrument zur Mobilisierung gesellschaftlicher und politischer Ressourcen für ein expansives Staatswesen, das dem Dominium maris baltici zumindest nahe kam und seinen Großmacht status bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu halten verstand. 8 8
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Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
Der Erfolg der Stilisierung Gustav Adolfs zum Retter des Protestantismus zeigte sich besonders im Rekurs auf die oben erwähnten heilsgeschichtlichen Prophetien. Der Schwedenkönig geriet in der protestantischen Flugschriften propaganda im Reich zum 'Löwen aus Mitternacht', dem Helden, der aus Norden kommend, das Urteil über die Hure Babyion, die katholische Welt, zu vollstrecken habe. 9 Die Wirkmächtigkeit einer christlichen Vorstellungswelt, die von der dialektischen Beziehung von Nördlichkeit und Südlichkeit ausging, bestand folglich unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, dem späten 1 6. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Mitteleuropa fort. Sie unterschied sich aber von der des 9. und 1 0. Jahrhunderts. Zum einen war der Norden als geographischer und politischer Raum in Gestalt des Königreiches Schweden konkret benennbar. Das Bild vom Norden, hier konkret von Schweden, knüpfte sich an ein Konzept von Staatlichkeit, das sich nicht grundsätzlich von dem allgemeinen europäischen Muster unterschied. Schweden griff als Staatsrnacht unter einem freilich charismatischen Führer, der seine besondere Qualität auch aus seiner Nördlichkeit bezog, in einen poli tischen Konflikt ein, in dem es um Prinzipien von Staatlichkeit ging, die im 1 6. und 1 7. Jahrhundert zum politischen Diskurs im gesamten Mittel- und Westeuropa gehörten und kein nördliches Spezifikum darstellten. Ständische 'Libertät' und die als ein Kernelement mit ihr aufs engste verbundene Bekenntnisfreiheit der deutschen Reichsstände konturierten jene Prinzipien in der Auseinandersetzung während des gesamten Verlaufes des Dreißigjährigen Krieges auf der Seite der reichsständischen Machtkonkurrenten des habs burgischen Kaiserhauses. I O Indem sich sowohl Dänemark als auch Schweden in Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 3), S. 1 04-1 32; Sverker Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, Berlin 1 994 (Historische Forschungen, Bd. 52).
-
Astrid Heyde, Kunstpolitik und Propaganda im Dienst des Großmachtstrebens. Die Aus wirkungen
der
gustav-adolfinischen
'repraesentatio
maiestatis'
Deutschland bis zum Ende des Nordischen Krieges ( 1 660), in: 1 648 Europa, hrsg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling,
auf
Schweden
und
Krieg und Frieden in
3 Bde., Münster 1 998, Textband 2,
S. 1 0 5- 1 1 1 , bes. S. 1 07 f. ; Maria Pfeffer, Flugschriften zum Dreißigjährigen Krieg. Aus der Häberlin-Sammlung der Thurn- und Taxisschen Hotbibliothek, Frankfurt am Main 1 993 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach und Literaturwissenschaft B, Bd. 53), S . 89; eine detaillierte Interpretation der populären protestantischen Publizistik bietet: Hellmut Zschoch, Größe und Grenzen des 'Löwen von Mitternacht'. Das Bild Gustav Adolfs in der
Zu dem ideologischen Aggressionspotential Schwedens, insbesondere zum Gotenmythos unter Gustav 11. Adolf und dem schwedischen Reichskanzler Axel Oxenstiema: Bengt An
karloo, Europe and the Glory of Sweden. The Emergence of a Swedish Self-Image in the Early Seventeenth Century, in: Göran Rystad (Hrsg.), Europe and Scandinavia. Aspects of
Io
populären protestantischen Publizistik als Beipiel religiöser Situationswahrnehmung im Dreißigjährigen Krieg, in: Zeitschrift rur Theologie und Kirche 9 1 ( 1 994), H. 1 , S. 25-50. Zur Entwicklung des ständischen Freiheitsbegriffes siehe den Artikel 'Freiheit', in :
the Process of Integration in the Seventeenth Century, Lund 1 983, S. 237-244; Johannes
Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt am Main 1 992, S. 5 1 -63; Olaf Mörke, Ba
Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, 8 Bde., Stuttgart
taver, Eidgenossen und Goten. Gründungs- und Begründungsmythen in den Niederlanden,
1 972-1 997, Bd. 2, S. 446-456. Im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges erlangt dieser Freiheitsbegriff im spanisch-niederländischen Konflikt der Auseinandersetzung sein
der Schweiz und Schweden in der Frühen Neuzeit, in: Helmut Berding (Hrsg.), Mythos und Nation,
Frankfurt
am
Main
1 996 (Studien zur Entwicklung des kollektiven
deutlichstes Profil. Dazu: Martin van Gelderen, De Nederlandse Opstand ( 1 5 5 5- 1 6 1 0) : van
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den Dreißigjährigen Krieg einschalteten und sich die gemeineuropäischen Legitimationsargumente um die ständische Freiheit zu eigen machten, stellten sie unter Beweis, dass die nördlichen Mächte integrale Bestandteile des europäischen Politiksystems geworden waren. Der Gegensatz von lateinisch christlicher Eigenwelt und der nördlichen Anderweit, welcher die mentale Verarbeitung der Wikingereinfälle bestimmt hatte, bestand nicht mehr. Zu differenzieren ist hier freilich zwischen Dänemark und Schweden. Das dänische Königreich gehörte spätestens seit seiner staatlichen Konsolidierung im späten 1 4. Jahrhundert "eher dem 'alten' als dem 'neuen Europa' oder zumindest einer Übergangszone" an und hatte sich als eigenständiger Faktor im europäischen l1 Politiksystem etabliert. Wenn folgend vor allem von Schweden als Kern des europäischen Nordens die Rede ist, so deshalb, weil von ihm als der neuen europäischen Macht des 1 7 . Jahrhunderts die wesentlichen Impulse fiir die Um und Neudeutung der Stellung des Nordens in Europa ausgingen. I.
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zitierte Jeremiastelle (Kap. 4, 6-7) das Kommen des Löwen aus dem Norden vorausgesagt, der den Antichrist besiege und ein Goldenes Zeitalter des Friedens 12 auf der Erde einleite. Eine Darstellung von 1 63 1 132, der Zeit des Siegeszuges der gustav-adolfinischen Truppen durch Deutschland, vor allem durch die Bis tümer an Mittelrhein und Main in das katholische Bayern, popularisierte ein drücklich diese Vision und bezog sie auf das konkrete Kriegsgeschehen. Das Flugblatt, das auf typische Weise Bild- und Textinformation verbindet, trägt den Titel "Der Mitternächtische Lewe, welcher in vollen Lauff durch die Pfaffen Gasse rennet" . 1 3
Zum anderen indizierte ein zweites Phänomen, dass der Norden durch den Süden im Dreißigjährigen Krieg im Vergleich zum 9. und 1 0. Jahrhundert eine normative Umdeutung erfahren hatte. Sein Eingreifen in das politisch-soziale Geschehen des Südens erschien positiv gewendet. Gustav H. Adolf, der nörd liche Löwe, war fiir die protestantische Propaganda - die ohnehin spärlichere katholische nahm von seiner genuin nördlichen Qualität keine Notiz - keine, wenn auch heilsgeschichtlich notwendige, Gestalt der Finsternis mehr, sondern eine Lichtgestalt. Die Spaltung des einheitlichen lateinischen Christentums in die Konfessionskirchen bildete die logische Voraussetzung fiir diese Wendung. Die mitteleuropäische Gemengelage konfessionsverschiedener Territorien ließ die Konfrontation von Tugend und Sündhaftigkeit, von Christ und Antichrist, im politisch-geographischen Raum ohne die Nord-Süd-Dichotomie zu. Die apoka lyptischen Visionen des Alten Testaments, von denen angenommen worden ist, dass sie die Folie fiir die Interpretation der Wikingereinfälle lieferten, konnten von denjenigen in Mittel- und Westeuropa positiv gewendet werden, die sich durch ihren rechten protestantischen Glauben dem 'nordischen Löwen' an verwandt fiihlten und sich dadurch aus der südlichen Sündhaftigkeit ausnahmen. Es ist in der Forschung durchaus plausibel vermutet worden, dass in der an Endzeiterwartungen reichen Zeit des späten 1 6. und frühen 1 7. Jahrhunderts bei der Kreation des Gustav-Adolf-Bildes auf die "Magische Propheceyung" des Paracelsus zurückgegriffen wurde. Paracelsus hatte unter Bezug auf die oben
11
'vrijheden' naar 'oude vrijheid' en de 'vrijheid der conscientien', in: E.O.G. Haitsma Mulier, W.R.E. Velema (Hrsg.), Vrijheid. Een geschiedenis van de vijftiende tot de twintigste eeuw, Amsterdam 1 999, S. 27-52. Zur Bedeutung der ständischen Freiheit als Katalysator mittel- und westeuropäischer Politikkonflikte am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges: Burkhardt, Der Dreißgjährige Krieg (wie Anm. 8), S. 63-90. Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christeneuropa zum Europa der Staaten 1 250 bis 1 750, Ber/in 1 999 (Siedler Geschichte Europas), S. 1 5 8 f -
Abb. 1 : "Der Mittemächtische Lewe ...
"
Im Textteil geraten die Vertreter der katholischen Kirche zu "Baalspfaffen". Deutlich schlägt sich die Anspielung auf den alttestamentarischen Kontext
12 William A. Coupe, The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century. Histo 13
rical and Iconographical Studies, 2 Bde., Baden-Baden 1 966/1 967 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana, Bde. 1 7/20), Bd. 1 , S. 1 3 8 ; Pfeffer, Flugschriften (wie Anm. 9), S. 89; Zschoch, Größe (wie Anm. 9), 26 f. Deutsche Illustrierte Flugblätter des 1 6 . und 1 7. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Harms, 4 Bde., Tübingen 1 985- 1 989, Bd. 2, S. 4 1 4 f. Nr. 237. Siehe dazu im gleichen Band auch die Nm. 299 f.
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nieder. Der Adler, seit alters auch Symbol Roms als Zentrum der christlichen Welt, steht hier rur den habsburgischen Kaiser Ferdinand IL, der zusammen mit einem Bären die Flucht ergreift. Der Bär verweist auf die zweite Führungsgestalt des katholischen Deutschland, Herzog Maximilian von Bayern. Beide, Fer dinand und Maximilian, werden in ironisierend-denunziatorischer Absicht den "Baalspaffen" - im Bildhintergrund sind ein Kloster und Mönchsgestalten zu erkennen - zugesellt, deren Qualifikation als "feistes Klostervolk" und der Hin weis auf das "Schweine schnauffen" ihre Sündhaftigkeit bloßstellt.
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gesamteuropäischen Tradition stehende Gottesstreiter verschmolzen in dem Kult um Gustav Adolf zu einer Symbiose, die im Vergleich mit der Wikingerzeit einen deutlichen Wandel der Sicht auf den Norden indizierte.
Als Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen im November 1 632 fiel, "wurde die Todesnachricht auf den Flugblättern kaum thematisiert, gelegentlich sogar geleugnet. Man beschäftigt sich mit dem Sieger und verkündet in einem Flug blatt aus dem Jahr 1 63 3 'Der Schwede lebet noch,.,, 14 Pfeffer erklärt die Illustration des Flugblattes. Sie "zeigt Gustav Adolf auf einem gekrönten Felsen mit dem schwedischen und dem sächsischen Wappen [ ...] . Im Bildhintergrund ist eine Schlachtszene angedeutet. Über Gustav Adolf, der ein von Lorbeerzweigen umwundenes Schwert als Symbol rur Ruhm und Sieg in der Hand hält, schweben zwei Engel mit Palrnzweigen und halten einen Lorbeerkranz über sein Haupt. Engel und Wappen bilden einen Triumphbogen um Gustav Adolf. Rechts im Bild der siebenköpfige Drache der Apokalypse mit der Papsttiara. Er erinnert an die Vernichtung des Drachen zu Babel durch Daniel [ ... ] : Ein Engel steigt vom Himmel, fesselt den Drachen und wirft ihn in den Abgrund. Der Drache symbolisiert die von Gustav Adolf besiegten Katho lischen. Vom linken oberen Bildrand erhebt sich ein Sturm gegen den Drachen, der als göttlicher Beistand rur Gustav Adolf zu interpretieren ist."15 Der zwei spaltige Text stellt in der ersten Spalte die Trauer um den Gefallenen dar. Die zweite Spalte, der Freude gewidmet, wendet den leiblichen Tod Gustav Adolfs in ein metaphysisches Weiterleben des Helden in der Sache, fiir die er gestorben ist. In den Siegen Schwedens über das päpstliche Babel erfahrt er gleichsam eine Wiedergeburt zum ewigen Leben: "Der Schwede lebet noch / vnd wird auch ewig leben / Wenn Christus wird das Reich dem Vater vbergeben / Wird ruffen alle Welt: Da liget Babels Joch Im tieffen HellenPful. Der Schwede lebet noch." Die Anspielungen auf Gustav Adolf als "unser" Simson und Judas Makkabäus verband die göttliche Mission, in der er handelte, mit der Art und Weise, wie diese Mission zu errullen sei: im militärischen Kampf rur das Volk Gottes. Der Schwedenkönig wurde nicht nur hier, sondern in vielfältigen propagandistischen Bezügen zum mi/es christianus erhoben und damit in eine seit dem Mittelalter verbreitete europäische Tradition gesetzt. 16 Der nördliche Held und der in einer 14
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Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
15 16
Pfeffer, Flugschriften (wie Anm. 9), S. 89 f.; siehe auch: Deutsche Illustrierte Flugblätter, Bd. 2 (wie Anm. 1 3), S. 534 f., Nr. 305. Pfeffer, Flugschriften (wie Anm. 9), S. 90. Dazu: Wolfgang Harrns, Gustav Adolf als christlicher Alexander und Judas Makkabäus. Zu Formen des Wertens von Zeitgeschichte in Flugschrift und illustriertem Flugblatt um
Abb. 2: "Der Schwede lebet noch"
1 632, in: Wirkendes Wort 35 ( 1 985), S. 1 68- 1 83; Heyde, Kunstpolitik (wie Anm. 9), S. 1 07 f.; Andreas Wang, Der 'Miles christianus' im 16. und 1 7. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit, Frankfurt a. M. 1 975 (Mikrokosmos, Bd. 1).
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Die mitteleuropäischen Protestanten hoben den Charakter des Nordens als fremde Anderweit, die dem Süden antithetisch gegenübergesetzt wurde, dia lektisch auf, indem sie Gustav Adolf - und mit ihm ganz Schweden - zum not wendigen Bestandteil ihrer Eigenwelt machten, ja gleichsam den König aus dem Norden zu ihrer Führer- und Lichtgestalt erhoben. Die Integration von Norden und Süden, ihre gleichwertige Verschmelzung zu einem normativen und po litisch-sozialen Raum, war perfekt. Allerdings war eine Veränderung in der Be ziehung zwischen Skandinavien auf der einen sowie Mittel- und Westeuropa auf der anderen Seite eingetreten, die das geographische Raumkriterium, das noch im normativen Konzept vom Löwen aus Mitternacht die zentrale Rolle gespielt hatte, überflüssig werden ließ. Die geographische Dimension der Verortung von politischen Kulturen spielte nämlich ab dem Moment als normatives Konstrukt keine Rolle mehr, als der mitternächtlich-nördliche Löwe in den Süden eingetreten war. Sie wurde durch den Parameter Konfession ersetzt. Dieser hielt sich zwar faktisch im Großen und Ganzen auch an ein geographisches Raumkriterium, war doch der Norden Europas protestantischer als der Süden und der Süden katholischer als der Norden. Die Argumentationslogik war davon jedoch, anders als im frühen Mittelalter, nicht mehr abhängig. Die konfessionellen Konfrontationslinien hielten sich nicht länger zwingend an die mythologische und normative Windrose. Der Norden war im Dreißigj ährigen Krieg auch aus der Sicht des Südens endgültig zu einem integrierten Bestandteil des europäischen Kosmos geworden. Gegen eine solche Interpretation wird man einwenden können, dass diese Integration Skandinaviens bereits im Hoch- und Spätmittelalter vollzogen worden war. Schließlich hatte die Hanse den Ostseeraum zu einem Wirtschafts und Interessenraum verbunden. Die Beziehungen in diesem ökonomischen System wurden freilich von der unterschiedlichen Qualität von Zentrum und Peripherie geprägt, wobei das Zentrum zunächst dem nicht zu Skandinavien gehörenden hansischen Kernraum der wendischen Hansestädte mit dem Vorort Lübeck und später, seit dem 1 6 . Jahrhundert, der holländischen Küstenregion mit Amsterdam zuzuordnen gewesen ist. 17 Die wirtschaftliche Integration des Ostseeraumes blieb eine hierarchische, in der sich Skandinavien am nach geordneten Ende befand. Die Herstellung einer gleichwertigen Einbindung von Skandinavien, insbesondere Schweden, als dem Norden Europas in den politisch-sozialen Raum des Kontinents vollzog sich endgültig erst durch die Einordnung in den normativen Kontext des Prozesses der Herausbildung der 17
Dazu beispielhaft: Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem - Die Anfange kapita listischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 1 6. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Angelika Schweikhart, Frankfurt a. M. 1 986, S. 1 00 f., 146, 280. Zur Beziehung Skandinaviens zur Hanse und den ökonomischen Zentren Westeuropa auf schlussreich auch: Schilling, Die neue Zeit (wie Anm. 1 I ), S. 1 58- 1 6 1 .
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europäischen Konfessionsblöcke. 1 8 Die Konstruktion von Überlegenheit durch den Gotenmythos und den Bezug auf die heilsgeschichtliche Mission Schwedens bildete einen notwendigen Bestandteil kompensatorischer Selbst vergewisserung in der Phase des Eintritts der neuen schwedischen Macht in den europäischen Politikkontext. Sie lieferte das ideologische Unterfutter der gleich berechtigten Integration in diesen Kontext, in der das schwedische auf ein mit ihm konkurrierendes Überlegenheitskonstrukt traf, das auf dem universalen Geltungsanspruch der habsburgischen Monarchie und des Papsttums basierte. 1 9 Als Faktoren zur Mobilisierung der für die expansive Außenpolitik notwendigen innenpolitischen materiellen und mentalen Ressourcen blieben Gotizismus und Überlegenheitsanspruch auch noch im späteren 1 7. Jahrhundert und darüber hinaus identifikationsstiftender Bestandteil der innerschwedischen Politik kultur.2o Sie sorgten im Innern für eine sich aus der Alterität speisende Identität, die im realen Vollzug der schwedischen Militär- und Außenpolitik im weiteren Verlauf des Dreißigjährigen Krieges verloren gehen sollte. In ihm entwickelte sich Schweden als Vormacht des Nordens zu einem an das allgemein europäische Muster angepassten Repräsentanten des säkularisierten Machtstaats kalküls. Dem Dreißigjährigen Krieg, eingebettet in eine Vielzahl kleinerer Kriege, von denen hier besonders auf die Schwedens mit Dänemark, Polen und Russland seit dem Ende des 1 6. Jahrhunderts hinzuweisen ist, und vor allem dem West falischen Friedensschluss von 1 648 kommt eine zentrale Rolle für die Formie rung eines neuartigen politischen Europakonzeptes zu, zu dem auch der Norden in Gestalt der bei den skandinavischen Mächte Dänemark/Norwegen und vor allem Schweden gehörte. Zwischen 1 630, dem Jahr des Kriegseintritts Schwedens, und dem Friedensjahr 1 648 vollzog sich ein fundamentaler Wandel in der Sicht auf Skandinavien als dem europäischen Norden. Der Krieg, der wesentlich als ein regionaler Konflikt um das Konfessionsproblem und die mit ihm aufs engste verbundene Frage nach der Ausgestaltung der Beziehung zwischen Monarch, dem König in Böhmen und dem Kaiser im Reich, und Stän den begonnen hatte, mutierte seit den 1 630er Jahren zu einem europäischen Machtstaatskonflikt. In ihm blieb zwar die Klärung der Beziehung von Kaiser und Reichsständen und die Konfessionsdifferenz als Handlungsmotiv bestehen, diese innerreichischen Momente wurden aber immer stärker durch das Bestre ben der Schaffung von Einflusszonen säkular-staatlichen Interesses mit gesamt18
19 20
Dazu grundlegend: Schilling, Die neue Zeit (wie Anm. 1 I ); ders., Europa und der Norden auf dem Weg in die Neuzeit, in: Europa und der Norden, Bericht über das 7. deutsch-nor wegische Historikertreffen in Trams"" Juni 1 994, hrsg. von Norges Forskningsräd, Oslo 1 995, S. 5 1 -7 1 . Dazu: Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 8), S . 58-60. Beispielhaft dazu: Bernd Henningsen, Die schwedische Konstruktion einer nordischen Identität durch Olof Rudbeck, Berlin 1 997 (Arbeitspapiere 'Gemeinschaften', Bd. 9).
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europäischer Perspektive überlagert.21 Deutlich wird dies vor allem an dem den Kriegsverlauf zwischen 1 63 5 und 1 648 maßgeblich beeinflussenden Bündnis zwischen dem katholischen Frankreich und dem protestantischen Schweden.22 Gemeinsames Ziel beider Mächte war die Schwächung der alten dynastischen Vormacht in West- und Mitteleuropa, des Hauses Habsburg. Der französischen Krone ging es darum, sich aus der Umklammerung durch die Habsburger zu lösen, die sowohl in Spanien herrschten als auch die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches innehatten und überdies neben den österreichischen Erb landen über einen eigenen Territoriengürtel vom heutigen Belgien bis nach Burgund geboten. Das schwedische und das allerdings weniger erfolgreiche dänische Interesse richtete sich darauf, den habsburgischen Zugriff auf den als jeweils eigenes Einflussgebiet angesehenen Ostseeraum zu verhindern. Dabei bedienten sich alle, Frankreich wie Schweden und mit Abschwächung auch Dänemark, eines für unseren Kontext interessanten politischen Arguments. Nicht zu Unrecht sah man nämlich das Haus Habsburg als Repräsentanten des mittelalterlichen politischen Universalismus, der Idee von einer einheitlichen Herrschaft über die gesamte christliche Welt. Nachdem dessen Gegner Frank reich und Schweden zunächst selbst auf der propagandistischen Klaviatur von mit dem habsburgischen konkurrierenden politischen Universalansprüchen ge spielt hatten/3 zu denen auch der schwedische Rekurs auf die Goten und die heilsgeschichtliche Interpretation der Rolle Gustav Adolfs gehörten, setzte sich schlussendlich in der politischen Praxis ein zu den konkurrierenden Universa lismen alternatives Konzept durch, das im Westfalischen Friedensinstrument von 1 648 seinen rechtsverbindlichen Niederschlag fand: die territorial staatliche Libertät im Reich und die Souveränität der europäischen Einzelstaaten als Träger eines neuen europäischen Völkerrechts.24 Die Umsetzung einer impe rialen Universalismusidee war damit endgültig unmöglich geworden. Das Souveränitätsprinzip schloss die normative Prävalenz des einen über den anderen, und damit eben auch heilsgeschichtlich begründete Universal herrschaftsansprüche, per definitionem ebenso aus wie politisch-räumliche Überlegenheitskonstrukte, die sich aus der Übertragung von heilsgeschichtlichen Konzepten in die politische Sphäre ergaben. Indem das katholische Frankreich und das lutherische Schweden zu Garantiernächten des auf dem Souveränitäts grundsatz fußenden Friedens von 1 648 erhoben wurden, mussten auch sie sich in ihrer politischen Normsetzung diesem Grundsatz fügen. 21
22 23
24
Auf die Perspektive einer neuen machtstaatlichen Ordnung Europas um die Mitte des 1 7. Jahrhunderts verweist überzeugend: Schilling, Die neue Zeit (wie Anm . 1 1), S. 446-455. Gerhard Schormarm, Der Dreißigjährige Krieg, Göttingen 1 985, S. 5 1 -59. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 8), S. 30-63. Zum reichsinternen und europäisch-völkerrechtlichen Rechtscharakter des Westfalischen Friedens: Heinhard Steiger, Konkreter Friede und allgemeine Ordnung - Zur rechtlichen Bedeutung der Verträge vom 24. Oktober 1 648, in: 1 648 Krieg und Frieden in Europa (wie Anm. 9), Textband I, S. 437-446. -
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Der Exkurs in die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts sollte eine Ahnung von zwei rur unseren Problemkreis zentralen politischen Wandlungsprozessen vermitteln, welche den Schwellencharakter der ersten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts belegen. Zum einen zeichnet sich ab, wie sich im Dreißgjährigen Krieg selbst ein Normenwechsel im europäischen Politiksystem zu vollziehen begann. Das Prinzip der Konfessionsblöcke im Streit um sich gegenseitig ausschließende universale Wahrheitsansprüche wurde von dem der säkularen Einzelstaatsinteressen abgelöst. Diese Einzelstaaten konnten, un abhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit, wechselnde Allianzen eingehen, die einzig der Nützlichkeitserwägung im Rahmen einer weltlichen Staatsräson folgten. Die nordischen Königreiche waren seit dem Dreißigjährigen Krieg zu Mächten mutiert, die sich hinsichtlich ihrer Verortung im gesamteuropäischen Kräftespiel qualitativ in nichts von den anderen europäischen Staaten unter schieden. Das gilt rur das protestantische Dänemark, das in dem für es wiederum nicht erfolgreichen Nordischen Krieg von 1 654 bis 1 660 zusammen mit dem katholischen Polen gegen seine ebenfalls protestantische Konkurrenzmacht Schweden stritt. Außerdem suchte Dänemark in der zweiten Hälfte des 1 7. Jahr hunderts in einem komplexen System von Allianzen auch die Verbindung zu den österreichischen Habsburgern, noch immer einer Kernmacht des euro päischen Katholizismus, um das weitere Vordringen Schwedens im südlichen Ostseeraum zu unterbinden.25 Das gilt aber auch rur Schweden selbst, das bis zum Beginn des 1 8 . Jahrhunderts in einem wechselvollen Allianzenspiel stand, das einzig dem machtstaatlichen Interesse an Ausbau und Festigung seiner Großmachtposition im Norden Europas diente?6 Die Einbeziehung Dänemarks und vor allem der neuen Macht Schweden in die großflächig verflochtenen Allianzsysteme seit dem Dreißigjährigen Krieg indiziert die vollendete Integration des Nordens in die Normalität des gesamt europäischen Politikdiskurses. Sie beugten sich dem gesamteuropäischen Kräftespiel der "Höfe und Allianzen" und gestalteten es mit.27 Dies schlug sich auch in der innenpolitischen Entwicklung nieder. Sowohl Dänemark als auch 25 26
27
Max Braubach, Vom WestHilischen Frieden bis zur Französischen Revolution, in: Gebhardt - Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von Herbert Grundmarm, 9. Aufl., Stuttgart 1 970, S. 250 f., 265-267, 272 f. Braubach, Vom Westfalischen Frieden (wie Anm. 25), S. 249-25 1 , 2 6 1 , 265, 272 f., 278 f. Mit der griffigen Formulierung vom Europa der Höfe und Allianzen markiert Heinz Schilling Kernpunkte der europäischen Politikkultur vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Ancien regime. Der Hinweis auf die politische und kulturelle Rolle der Höfe bezieht sich auf den Bedeutungszuwachs des monarchischen Elements für die Gestaltung des inneren Staatsausbaus. Mit der Hervorhebung der Allianzen und Allianzkriege profiliert er Gestaltungseiernente des europäischen Staatensystems unter den Bedingungen der einzelstaatlichen Souveränität und des säkularisierten Machtstaats interesses. Dazu: Heinz Schilling, Höfe und Allianzen - Deutschland 1 648-1 763, Berlin 1 989, S. 1 6-48.
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Schweden folgten bezüglich der Ausgestaltung monarchischer Macht nach dem Westfälischen Frieden dem gesamteuropäisch verbreiteten Muster, das in Rich tung auf die absolute Königsgewalt verlief. In Dänemark etablierte sich nach 1 665 langfristig ein absolutes monarchisches Regiment in einem Ausmaß, das selbst in Frankreich, das als Prototyp des Absolutismus gilt, nicht erreicht wurde. In Schweden dauerte das absolutistische Experiment von 1 693 bis 1 720. 28 Es wurde von der bis 1 772 andauernden parlamentarischen Souveränität des Reichstages abgelöst, die sich ihrerseits wiederum an den politik theoretischen und -praktischen Vorgaben der europäischen Naturrechtsdebatte orientierte. 29 Ihr folgte 1 772 der Staatsstreich Gustavs III., "der ein aufgeklärtes Regime preußisch-österreichischer Art einführen wollte" .30 Zum Zweiten war zu zeigen, wie sich der Prozess der Integration speziell Schwedens, das nicht auf die langfristige Brückenfunktion des dänischen Kern reiches zwischen dem Norden und Mittel- sowie Westeuropa zurückblicken konnte, als gleichberechtigtes Subjekt in das europäische Staatensystem vollzog. Es begann mit der Herausbildung der Konfessionsblöcke, einem Prozess inner halb des Heiligen Römischen Reiches und in Europa insgesamt, der bis in die 1 530er Jahre zurückreichte. Die Reformation beförderte die innerstaatliche Kon solidierung und die kulturelle Kommunikation mit den protestantischen süd lichen Nachbarn. 3 1 Gestaltete sich diese Kommunikation zunächst vornehmlich einseitig in Süd-Nord-Richtung, so wurde das lutherische Schweden bald durch den Mobilisierungseffekt zweier heilsgeschichtlich-mythologischer Konstrukte von Nördlichkeit als aktiv gestaltendes Element in den mitteleuropäischen Politikkontext hereingeholt. Ohne den aggressiven nach außen gerichteten Überlegenheitsmythos des Gotizismus, der vornehmlich in Schweden selbst expansiv mobilisierende Wirkung entfaltete, und das heilsgeschichtlich ge gründete und ebenso auf Expansion drängende Konzept des Löwen aus Mitter nacht, das vor allem von Schwedens protestantischen Bündnispartnern im deutschen Reich des Dreißigjährigen Krieges planmäßig eingesetzt wurde, wäre eine Legitimation der Übernahme der schwedischen Führungsrolle für den euro28
Wolfgang Reinhard hat unlängst den reizvollen Versuch unternommen, die Entwicklung des dänischen und schwedischen Herrschaftssystems in den europäischen Kontext ein zuordnen. Siehe: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1 999, S. 47-52, 74-76. 29 Michael F. Metcalf, Parliamentary Sovereignty and Royal Reaction, 1 7 1 9- 1 809, in: ders. (Hrsg.), The Riksdag. A History of the Swedish Parliament, Stockholm 1 987, S. 1 09-1 64, hier bes. S. 1 24-1 26. 30 Reinhard, Geschichte (wie Anm. 28), S. 76. 3 1 Zur schwedischen Reformation im Überblick mit besonderem Akzent auf den deutschen Einflüssen: Arthur Erwin Imhof, Grundzüge der nordischen Geschichte, Darmstadt 1 970, S. 84-89; Michael Roberts, The Early Vasas. A History of Sweden, 1 523-1 6 1 1 , Cambridge 1 968, S. 75-9 1 , 1 07-1 44.
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päischen Protestantismus schwerlich möglich gewesen. Die Übernahme einer Schlüsselposition in den politisch-militärischen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges war aber die Voraussetzung dafür, dass sich mit dem gesamteuropäischen auch das schwedische Politikkonzept selbst säkularisieren konnte. Die politische Eigendynamik des Krieges evozierte die Beschleunigung eines Wandels in den Beziehungen der beteiligten innerreichischen und euro päischen Mächte hin zu einer von säkularen Prinzipien und Interessen ge tragenen Ordnung der souveränen Einzelstaaten in Mitteleuropa. Schweden musste diese sich im Westfalischen Friedensinstrument andeutende Ordnung mittragen, wollte es im Konzert der europäischen Mächte mitspielen. Mit der Einbeziehung Schwedens als aktivem Mitträger einer sich in Richtung auf das säkularisierte Staatsinteresse entwickelnden Ordnung der europäischen Mächte erübrigte sich auch die heilsgeschichtlich gründende Vernordung Schwedens als Qualität eigener Art, die es gegenüber dem 'Nichtnorden' ab setzte. Auf der europäischen Landkarte kollektiver politischer Identitäten in Mittel- und Westeuropa war 'Norden' seit der zweiten Hälfte des 1 7. Jahr hunderts folgerichtig vornehmlich nur noch eine topographische Bezeichnung. Zwar spielte Kar! XII. von Schweden im Nordischen Krieg als Reaktion auf den wachsenden militärischen und allianzpolitischen Druck zu Anfang des 1 8. Jahrhunderts noch einmal die Karte des Löwen aus Mitternacht aus.32 Der Effekt unterschied sich aber gründlich von dem, den er um 1 63 0 gehabt hatte. Sub stantielle Unterstützung außerhalb Schwedens blieb aus. Das Land stand po litisch wie militärisch isoliert, seine europäische Großmachtrolle wurde nach den Friedensschlüssen von 1 7 1 9 bis 1 72 1 auf die einer Regionalmacht reduziert. Angesichts des Systems der pragmatisch-säkularem Staatsinteresse folgenden Allianzbildungen und der seit dem Ende des 1 7 . Jahrhunderts andauernden Ver suche, ein europäisches Kräftegleichgewicht zu etablieren,33 war auch nichts anderes als der Mißerfolg einer aggressiven Heilsideologie wie der vom mitter nächtlichen Löwen zu erwarten. Mit den 1 7 1 3/14 erfolgten Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden nach dem Spanischen Erbfolgekrieg und von Stockholm, Frederiksborg und Nystad nach dem Nordischen Krieg war der 1 648 eingeleitete Prozeß einer Europäisierung Europas im Sinn prinzipieller Bündnis fähigkeit jedes der Einzelstaaten mit jedem, verbunden mit dem Ende univer salistisch-heilsgeschichtlicher begründeter Herrschaftsansprüche, abgeschlossen. Die Staaten des Kontinents waren zu gleichberechtigten Völkerrechtssubjekten 32 33
Michael Roberts, Gustavus Adolphus. A History of Sweden, 1 6 1 1 - 1 632, 2 Bde., London, New York, Toronto 1 953, Bd. 1 , S. 526 . Als Überblick über die Motivik des europäischen Politiksystems von der zweiten Hälfte des 1 7. bis zum Beginn des 1 9. Jahrhunderts vorzüglich: Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwig XIV. bis zum Wiener Kongreß, (Erträge der Forschung, Bd. 56), bes. S. 1 -4, 86-89; Schilling, Die neue Zeit (wie Anm. 1 1 ), S. 446-455.
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geworden. Dieser genuin frühneuzeitliche Europäisierungsprozeß auf der Basis der durchaus konfliktreichen Ausbalancierung von Einzelstaatsinteressen löste seit der Mitte des 1 7. Jahrhunderts einen mittelalterlichen Traditionsstrang ab, in dem die Europäisierung auf der Basis normativer und politisch-praktischer Uni versalansprüche der Kaiserkrone und der einen Kirche betrieben worden war. Die schwedische Politik unter Gustav II. Adolf und in Resten auch noch unter Karl XII. gründete, ganz in dieser Tradition befangen, auf der Formulierung ei nes mit dem habsburgisch-katholischen konkurrierenden Universalanspruchs, der sich freilich gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts endgültig überlebt hatte. 34 Zu Anfang des 1 8. Jahrhunderts hatte Europa zu einer Gestalt gefunden, in der der Norden seiner besonderen Qualität bereits insofern entkleidet war, als er nunmehr nicht mehr - weder positiv noch negativ - in einem heilsgeschichtlich gegründeten Raumsystem verortet wurde, in welchem dem Norden die Funktion eines normativen Pols eignete. Die Ordnungsmanie des Barockzeitalters goss die schon im Mittelalter verbreiteten regionalen und nationalen Stereotypen wieder holt in eine tabellarische Form, welche dem Bemühen um einen abgrenzend wertenden Vergleich der europäischen Völker Rechnung trug.35 Als prominentes Beispiel gilt die "Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern und Ihren Aigenschaften", eine tabellarische Völkertafel aus der habsbur�isch-öster reichischen Steiermark, die im frühen 1 8. Jahrhundert entstanden ist. 6
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Abb. 3: "Kurze Beschreibung..."
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Johannes Burkhardt arbeitet in Auseinandersetzung mit den Kritikern der Universalismus these das universalistische Potential des schwedischen Politikkonzeptes heraus. Freilich wurde dieses durch den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges auf die realistische Absicht eingeschränkt, "die Nummer eins im Norden zu sein". Siehe: Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 8), S. 30-35, 5 1 -63, Zitat S. 62. - Mit zahlreichen Belegen zum Universalismus bei Gustav 11. Adolf: Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1 986 (Schriftenreihe der Hist. Komm. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 32), S. 95-103. Kritisch gegenüber der Universalismusthese: Klaus Zernack, Schweden als europäische Großmacht der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 232 ( 1 981), S. 327-357. Zernack qualifiziert die Groß macht Schweden als "contra-universales Imperium" (S. 327). Die Motive der Großmacht bildung sieht er pragmatisch-sicherheitspolitisch und ökonomisch gegründet (S. 333-338). Dies ist zutreffend, reicht jedoch nicht aus, um die Universalismusthese zurückzuweisen, da die ebenfalls handlungsbegrÜlldenden ideologischen Grundlagen der gustav-adolfi nischen Großmachtpolitik, die auf die Existenz eines eigenen universalistischen Hinter grundes hinweisen, von ihm nicht berücksichtigt werden. Mit zahlreichen Beispielen zur Stereotypenbildung: Winfried Schulze, Die Entstehung des Vorurteils. Zur Kultur der Wahrnehmung fremder Nationen in der europäischen frühen Neuzeit, in: Europa und der Norden (wie Anm. 1 8), S. 7-39, hier bes. S. 24 f. Dazu Schulze, Entstehung (wie Anm. 35), S. 24; Die Türken vor Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1 683, Katalog der 82. Sonderausstellung des Historischen Mu seums der Stadt Wien, Wien 1983, S. 265 f. (Kat.Nr. 20/29).
Jede Spalte steht für eines von zehn europäischen Völkern, denen in den Zeilen jeweils in offensichtlich komparativer Absicht 1 7 Eigenschaftskategorien zu gewiesen werden. Wie nun schlug sich in dieser Tabelle die Normalisierung des Nordens aus der Sicht des 'Nichtnordens' nieder? Zunächst ist festzuhalten, dass wir es mit einer Quelle zu tun haben, die aus dem Kernbereich des mittel europäischen Katholizismus stammt, eben aus den österreichischen Erblanden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf das einstmals so zentrale konfessionelle Ar gument und seinen Stellenwert in der populären Wahrnehmung unter den neuen Bedingungen des sich entwickelnden säkularen Mächteeuropa. Die gängige Interpretation betont, dass es sich um eine "Rangliste" handelt.37 "In deutlicher Differenz zwischen West- und Mitteleuropa werden die ost- und südost europäischen Völker dargestellt, deutlich ist eine Abwertung in östlicher R.ichtung zu erkennen.,, 38 Im großen Ganzen trifft dies zu. Der Ranglisten charakter manifestiert sich eindeutig am Anfang und Ende der Tabelle. Der an erster Stelle stehende Spanier kommt als Bester weg. Am Ende beginnen sich bei dem "Boläck", dem Polen, und dem "Unger" (Ungarn) die negativen Zu-
�: Die Türken vor Wien (wie Anm. 36), S. 265 (Kat.Nr. 20/29). Schulze, Entstehung (wie Anm. 35), S. 24.
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weisungen zu häufen, ehe dann am "Muskawith" (Russen) und dem Osmanen, dem "Tirk oder Griech", der ganz am Ende steht, kein gutes Haar mehr gelassen wird. Im Mittelfeld allerdings, den Spalten zwei bis fiinf, vom "Frantzoß" über den "Wälisch" (Italiener), den "Teutschen" und den "Engerländer" bis zum "Schwöth" (Schweden) zeigt sich eine eher ausgewogene Mischung von Positiv und Negativzuweisungen, ohne dass man eine eindeutige Rangfolge zu erkennen vermag. Eine nähere Betrachtung der Ordnungsprinzipien vertieft den Einblick in das gesamteuropäische Wahrnehmungsmuster. Zunächst fallt auf, dass die Reihung von europäischen Völkern beileibe nicht vollständig ist. Es wurden offen sichtlich nur diejenigen erfasst, denen Bedeutung fiir Europa zuzubilligen war. Bezeichnenderweise fehlen u.a. die Portugiesen, die Niederländer und die Dänen, die noch zu Beginn des 1 6. (Portugiesen), bis zum Beginn des 17. (Dänen) und bis zum letzten Drittel des 1 7 . Jahrhunderts (Niederländer) eine wichtige gesamteuropäische Rolle gespielt hatten, nunmehr aber im Wind schatten der Entwicklung lagen. Die Zusammenstellung des Ensembles offen bart ein durchaus feines Gespür für die Komposition des europäischen Mächte systems in den ersten Jahrzehnten des 1 8. Jahrhunderts. Deutlich wird dies etwa durch die Einbeziehung der Moskowiter, der Russen. Mit Zar Peter 1., dem Großen ( 1 689- 1 725), gewannen sie den Anschluss an das europäische Politik und Wirtschaftssystem und sollten fortan eine wichtige Rolle im Mächtekonzert spielen. Die Ungarn, in den 1 680em und 1 690ern endgültig aus türkischer Herr schaft in den österreichisch-habsburgischen Staatsverband überfiihrt, spielten seit dem frühen 1 6. Jahrhundert eine zentrale Rolle als Front- und Grenzraum in der Auseinandersetzung zwischen christlicher und islamischer Welt. Die gesamte Periode der Beziehungen Ungarns zu der vordringenden Macht der Habsburger war durch das Bestreben nach einem Höchstmaß an ungarischer Eigenständigkeit gekennzeichnet. Adelsaufstände gegen den neuen habs burgischen Herren sorgten noch zwischen 1 703 und 1 7 1 1 dafiir, dass Ungarn ein erheblicher Unsicherheitsfaktor im europäischen Politikspiel blieb. Es nimmt nicht wunder, dass die Ungarn aus österreichischer Sicht als "untreu", "aller grausambst", "bluthbegirig" und "aufriererisch", so einige der national charakterlichen Zuweisungen in der Völkertafel, angesehen wurden. Von den beiden nordischen Mächten des 1 7. Jahrhunderts war nur noch Schweden übrig geblieben. Im von 1 700 bis 1 72 1 dauernden Nordischen Krieg hatte der Schwedenkönig Karl XII., in der europäischen Großmachttradition Gustav Adolfs und Axel Oxenstiernas, die Balance des Mächtesystems noch einmal heftig durcheinandergebracht, ehe Russland Schweden als Vormacht im Ostsee raum ablöste. Es war also durchaus konsequent, Schweden noch eine wichtige Rolle im Theatrum Europaeum spielen zu lassen. Die Nennung der Nationen in der Völkertafel folgte einer gesamteuropäischen Perspektive. Platz fanden die jenigen, die für den gesamteuropäischen politischen Handlungszusammenhang
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von Bedeutung waren. Von einer wie auch immer gearteten nördlichen Sonder rolle, einem wertenden Konzept, das sich auf der Achse Nördlichkeit und Süd lichkeit abtragen ließe, findet sich indes keine Spur. Di Auflistung der Einzelnationen markiert aber nicht das einzige Ordnungs . � pnnzlp de� !abelle. Es lassen sich nämlich drei europäische Großregionen herausdestilheren. Zunächst die drei romanischen Völker der Spanier, Franzosen und Italiener am Anfang. Es folgen die germanischen Nationen der Deutschen Engländer und Schweden in der Mitte. Romania und Germania als raum� konstituierende Kriterien waren präsent. Sie blieben freilich insofern wert neutral, als sich die Verteilung von Positiv- und Negativeigenschaften weder auf die Germania noch auf die Romania beschränkten und sich Häufungen nur in der auf die Einzelnationen orientierten Stereotypenbildung zeigten. Auffällig ist die Häufung der Positivzuschreibungen an die Spanier auf der einen, der Negativzuschreibungen an die Franzosen auf der anderen Seite. Das dürfte im Ursprung der Quelle im habsburgischen Raum seine Begründung finden. In der Gruppe der Germania fallt ein gewisser Gegensatz zwischen dem Engländer und dem Schweden auf. Hier der weltgewandte, betriebsame aber auch verweich lichte englische homo oeconomicus, dessen Sitten "Wohl Gestalt", dessen Naturell "Lieb-reich", dessen Verstand "Ammuthig" und dessen "Anzeigung deren Eigenschaften" "Weiblich" sowie dessen Wissenschaft "Welt Weis" ist. Demgegenüber nimmt sich der Schwede eher als Verkörperung der Tugenden und Untugenden des aufrecht-wackeren, etwas sturen Hinterwäldlers aus, ohne indes insgesamt negativ markiert zu sein. Seine Sitten sind " Stark und Grosz" , seine Natureigenschaft "Graus-sam", sein Verstand "Hartknäkig", seine Kleidung "Von Löder". Als Herrn erkennt er eine "Freue Herrschaft" an vielleicht eine Anspielung auf die schwedische 'Freiheitszeit' nach 1 720 und damit auch ein Hinweis auf die Entstehungszeit der Quelle. In der Kategorie "Vergleichung mit denen Thiren" reserviert man fiir ihn "Einen Ochsen". Will man in diesem Katalog ein Konzept von Nördlichkeit, repräsentiert durch den Schweden, sehen, so allenfalls ein implizites, das sich von dem ex pliziten der protestantischen Mythologie aus dem 1 6. und 1 7. Jahrhundert deutlich unterschied. Es offenbarten sich Elemente eines anthropologischen Eigenschaftskataloges, dessen Differenzierungen und Distinktionen auf klima theoretischen Grundlagen beruhten, die allenthalben Eingang in die Bildung von Nationalstereotypen gefunden hatten.39 Für die Interpretation der politisch-nor mativen Landkarte aus mitteleuropäischer Sicht spielte aber ein solches Konzept keine handlungswirksame Rolle mehr. Der Wandel, wie er sich im Vergleich des vorgestellten Materials abzeichnet, könnte kaum deutlicher sein: Aus den Schweden, der Hoffnung des protestantischen Europa und den großen Wider sachern des katholischen habsburgischen Kaisertums aus der ersten Hälfte des 39
Ebd., S . 24 f.
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1 7. Jahrhunderts, war ein zwar unterscheidbares - aber das trifft auf alle anderen Nationen ebenfalls zu - Volk geworden, das gleichwohl zu einem sich im Be reich der politischen Normen und des konkreten politischen Handlungsrahmens und -musters integrierenden Europa gehörte. Ihm konnte man in der Tafel aus der Steiermark, immerhin einem Kerngebiet der konfessionspolitischen Durch dringungsoffensive des habsburgischen Katholizismus,4o in der Kategorie "Gottesdienst" ganz neutral zugestehen, dass seine Bewohner "Eifrig in Glau ben" seien! Die dritte Großregion der Völkertafel bildete der weder zur Romania noch zur Germania gehörende Osten und Südosten Europas - Polen, Ungarn, Russen und Türken. Polen und Ungarn formten eine Zwischenzone, in der sich die Negativ zuweisungen zu häufen begannen, ehe sie bei Russen und Osmanen kulmi nierten. Ob daraus freilich eine grundsätzliche Ost-West-Dichotomie konstruiert werden kann, ist fragwürdig. Eindeutig wohl in der Beziehung zu den Osmanen. Sie waren noch immer der, wenn auch auf dem Rückzug befindliche, Funda mentalfeind der christlich-europäischen Welt. Ihr Herrscher sei ein "Thiran", ihre Natur und Eigenschaft sei die eines "Jung Teufel". Interessant auch hier die Rubrik "Gottesdienst", wo der islamische Osmane auf eine Stufe mit dem ortho doxen Russen gestellt wird. Beider Gottesdienst sei ein "Abtriniger". Der Mos lem und der orthodoxe Christ gehörten nicht zur christlichen Welt, der die Pro testanten vom katholischen Österreich nunmehr sehr wohl zugerechnet wurden. Auch dies kann mit der konkreten politischen Situation in der ersten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts erklärt werden. Die osmanische Bedrohung war noch immer Bestandteil langlebiger kollektiver politischer Identitäten. 41 Der Mosko witer schickte sich an, an der europäischen Tür zu klopfen, stellte den Anspruch, Mitspieler auf der politischen Bühne Europas zu werden, zu deren etablierten Akteuren alle, von den Spaniern bis zu den Schweden, gehörten. Die Rolle der Russen indessen war schwer zu kalkulieren. Sie stellten ein noch fremdes Bedrohungspotential dar. Auch das sollte sich wenig später, gegen Ende des 1 8 . Jahrhunderts, geändert haben, als unter Zarin Katharina 11. auch die Russen in den Kreis der Berechenbaren Einzug gehalten hatten und sie mit Preussen und Österreich munter daran gingen, auf Kosten Polens Einflusszonen in Ostmittel europa abzustecken. Wie dem auch sei, der politisch-normative Paradigmawechsel nach 1 648 fand in der Völkertafel aus der Steiermark offensichtlich Niederschlag. Er gründete, dies sei noch einmal betont, im Prozess des Wandels von einer am christlich universalen Heilsverständnis orientierten Interpretation politischer Weltordnung 40
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Zur Durchdringung Innerösterreichs, zu dem auch die Steiermark gehörte, durch die katho Iisch-etatistische Konfessionalisierungsoffensive der Habsburger: Schilling, Höfe (wie Anm. 27), S. 309-3 1 8 . Siehe dazu z.B.: Die Türken vor Wien (wie Anm. 36), S. 370-374.
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hin zu einer Ausrichtung des politischen Handeins an den Maximen einer säkularen Staatsraison. Anders als bei der an der Heilsordnung orientierten Sicht spielte die argumentationslogisch zwingende Verbindung von Raumbeziehung und politischem Konzept, die aus der heilsgeschichtlich-mythologisch belegbaren und deshalb der säkular-politischen Interessensphäre enthobenen qualitativen Differenz von Nord und Süd resultierte, j etzt keine Rolle mehr. Im Nachfolgekonzept des säkularen Machtstaatsinteresses fanden sich zwar auch noch implizit Elemente eines normativ gegründeten Raumkonstruktes, die im Fall der Völkertafel auf ein West-Ost-Gefälle hindeuten. Dieses unterlag aber einem Handlungskalkül, das in eben jener säkular-politischen Interessensphäre angesiedelt war. Es bildete keine unhinterfragbare Handlungsvoraussetzung mehr, sondern war lediglich abgeleitete Funktion des säkularen Staatsinteresses. Es sollte deutlich geworden sein, dass für den Übergang zwischen den beiden so grundverschiedenen politischen Normensystemen die apoklayptisch eschatologische Aufladung politischen Handeins im vom Prozess der Konfessionalisierung geprägten Zeitraum zwischen dem zweiten Drittel des 1 6. Jahrhunderts und der um 1 63 5 beginnenden Schlussphase des Dreißigjährigen Krieges von zentraler Bedeutung gewesen war. Den politisch und theologisch universalen Ansprüchen von Papst- und Kaisertum, die trotz der zeitweise heftig divergierenden praktisch-politischen Interessen in der Verknüpfung von politischer Herrschaftsidee und theologischer Geltungsmacht zwingend aufeinander angewiesen blieben, wurde mit der Reformation ein konkurrierender universeller Wahrheitsanspruch gegenübergestellt. Mit der Verfestigung der dogmatischen Gegensätze zwischen Katholizismus und Protestantismus seit der Formulierung der Confessio A ugustana von 1 530 und ihrer Zurückweisung durch die katholische Kirche sowie mit der theologischen und organisatorischen Konsolidierung des Katholizismus durch das zwischen 1 545 und 1 563 tagende Reforrnkonzil von Trient und Bologna entwickelte sich aus dem theologischen auch ein fundamentaler politischer Antagonismus zwischen Katholiken und Protestanten auf europäischer Ebene. Dem politischen Protestantismus freilich fehlte ein europaweit wirksam werdendes Zentrum, welches das katholische Europa seit dem Konzil wieder und mehr als zuvor in Rom besaß. Die protestantischen Klein- und Mittelterritorien des Heiligen Römischen Reiches waren nicht in der Lage, ein solches zu formen. Sicherlich bildeten das lutherische Wittenberg, das zwinglische Zürich und das calvinische Genf maßgebliche geistige Orientierungspunkte ihrer j eweiligen Bekenntnisse. Angesichts der machtpolitischen Durchschlagskraft, die das habsburgische Kaisertum im Dreißigjährigen Krieg bis zum Restitutionsedikt von 1 629 entwickelte und die sich auch aus der ideologischen Unterfütterung durch den wiedererstarkten römisch-tridentinischen Katholizismus speiste, drängen sich jedoch hinsichtlich der Frage Zweifel auf, ob der mitteleuropäisch-reichische Protestantismus sich als fähig erwiesen hätte, den Prozess der innerkon-
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fessionellen Stabilisierung in eine dauerhafte politische Bestandssicherung umzusetzen. Zwar zeigte sich, dass Kaiser Ferdinand Ir. mit dem Restitutions edikt den Bogen zu überspannen drohte und ihm selbst die katholischen Kurfürsten nicht bedingungslos zu folgen gewillt waren, gleichwohl hielt er an der Absicht fest, seine und die Stellung des Katholizismus im Reich konsequent auszubauen. 42 Die Chance auf die Etablierung eines kraftvollen Gegengewichtes gegen diese Tendenz ergab sich erst durch den Eintritt des gustav-adolfinischen Schweden in den Krieg. Es zeigte sich als eine Macht, die ein eigenes politisches Konzept verfolgte, das zunächst außerhalb des innerreichischen Politikkalküls stand, sich dieses j edoch sehr bald zunutze machte. Seinen Ausgangspunkt bildete die erfolgreiche, außerordentlich aggressive und expansive Staatsbildung, weIche die Entwicklung Schwedens seit dem Ende des 1 6. Jahrhunderts charakterisierte. Die sukzessive Eroberung von Territorien an der südlichen Ostseeküste, beginnend mit Estland 1 582, endend mit Vorpommern 1 630, ist zu Recht als pragmatische Notwendigkeit eigenstaatlicher Konsolidierung der neuen Macht interpretiert worden.43 Sie ergab sich zum einen aus dem Kampf um die Vor herrschaft im Ostseeraum mit Dänemark, dem Konkurrenten um das Dominium maris balfici, aus dessen Dominanz Schweden sich erst 1 523 mit der Auf kündigung der Kalmarer Union, die es in Personalunion an die dänische Krone gebunden hatte, lösen konnte. Zum anderen aber auch aus dem Konflikt der protestantischen mit der katholischen Linie des Hauses Wasa, die seit 1 587 Polen regierte, von 1 592 bis 1 604 die Kronen Schwedens und Polens in Personalunion zusammenführte und den Anspruch auf Schweden auch nicht aufgab, nachdem schon 1 598 König Sigismund Wasa vom schwedischen Reichstag flir abgesetzt erklärt worden war. Die Stärkung des protestantischen Profils Schwedens erwies sich ebenso wie der Expansionsdrang nach Süden also zunächst als Notwendigkeit im Prozess eigenstaatlicher Profilbildung und in einer innerdynastischen Auseinandersetzung. Das gilt auch flir die ideologische Untermauerung der Politik der protestantischen Wasa durch die Aktivierung des unter Gustav Adolf dann so hochwirksamen Mythenkomplexes von Gotizismus und alttestamentarischer Löwengeschichte.
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An dieser Stelle trafen sich funktional die schwedische Selbststilisierung im Gotenmythos und die Fremdstilisierung des Löwen aus Mitternacht durch den mitteleuropäischen Protestantismus als Konstrukte ideologischer Unter mauerung der Bewahrung des schwedischen Kernlandes durch offensive Strategie. Hier, in einer außerordentlich kurzen Phase von wenigen Jahren um 1 63 0, existierte im Muster der nationalen Stereotypenbildung aus der mittel42 43
Zur machtpolitischen und konfessionellen Konstellation im Reich um 1 629: Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, 4. Aufl., München 1 999, S. 43-49. Zemack, Schweden (wie Anrn. 34), S. 333-338; Günter Barudio, Gustav Adolf - der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1 982, S. 3 9 1 .
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europäischen Perspektive ein heilsgeschichtlich gegründetes Bild vom Norden, das sich ganz auf Schweden konzentrierte. Nördlichkeit wurde noch einmal, wie schon mit anderer Wertung während der Wikingerzeit, zum wirkmächtigen normativen politischen Konzept, das sehr bald wieder verschwand, als in der Formierung eines antiuniversalistischen, säkularen Politikkonzeptes seit dem späteren 1 7. Jahrhundert der Norden in politischer Hinsicht zum rein geo graphischen Phänomen geworden war. Der Argumentationsgang schließt sich an dieser Stelle insofern, als hin reichend deutlich geworden sein sollte, welche Dynamik der Wechsel im poli tischen Normensystem des 1 7. Jahrhunderts flir die Verortung des Nordens im europäischen Politikkontext besaß. Dieser Prozess, in dessen Zentrum der Dreißigjährige Krieg und die Westfalische Friedensordnung standen, besaß frei lich in der ersten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts einen Vorlauf, während dessen sich eine Sogwirkung entfaltete, welche die Voraussetzungen daflir schuf, dass Skandinavien, vor allem die neue Macht Schweden, an den politischen Handlungszusammenhang West- und Mitteleuropas zunächst herangeführt und später in ihn vollends integriert wurde. Jener Vorlaufprozess spielte sich im Hei ligen Römischen Reich selbst ab. Er markierte das faktische Ende der politischen Wirksamkeit der universalistischen Herrschaftsidee des Kaisertums und den Übergang zur territorialstaatlich-reichsständischen Organisation des Alten Reiches. Noch Kar! V., der zwischen 1 5 1 9 und 1 55 5 die Kaiserkrone trug, erhob in den ersten Jahren seiner Herrschaft den universalen Charakter seines Amtes, die Erhaltung der Einheit der christlichen Welt, zur Leitlinie seiner Politik.44 In diesem Sinn war er der letzte mittelalterliche Herrscher auf dem Kaiserthron. Als Gebieter über Spanien und seine Kolonien sowie über das Heilige Römische Reich kam er diesem Anspruch näher als seine Vorgänger. Gleichwohl blieb es letztlich bei der Formulierung des bloßen Anspruches. Bestritten wurde er nicht zuletzt durch Franz L, den französischen rois tres chrestienne, der versuchte, mit Habsburg um die politische Führung der christlichen Welt zu streiten. Überwunden wurde der universale Anspruch letztlich aber durch die Entwicklung der faktischen Politikstrukturen des Heiligen Römischen Reiches selbst. Es präsentierte sich am Ende des Spätmittelalters als außerordentlich heterogenes Gebilde, das erst am Anfang eines gesamtstaatlichen Verdichtungsprozesses stand. Als königs- bzw. kaisernah, als dem Kaiser interessenbedingt und ideell nahestehend, galten grosso modo nur weite Teile Oberdeutschlands mit den habsburgischen Territorien selbst und deren Anrainern.45 "Das verstaatete Reich deutscher 44 4S
Zu Politik und Herrschaftskonzept Karl V.: Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutsch land 1 5 1 7- 1 648, Berlin 1 988, S. 21 5-223; in knappem und präzisem Überblick: Luise Schom-Schütte, Karl V. - Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 2000. Die Einteilung in königsnahe, königsoffene und königsfeme Zonen als Kriterium zur Ord nung des politischen Raumes des spätmittelalterlichen Deutschland entwickelt: Peter
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Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
Nation war um 1 500 [ . . ] nur in Oberdeutschland Realität. Kaise� und . Reichsstände beanspruchten jedoch, dass ihre Regelungen auch fur den �Ieder deutschen Raum gelten sollten - nur interessierte sich dort kaum Jem�d dafür.,,46 Niederdeutschland galt als königs- bzw. kaiserfern. Ansätze einer Em . bindung des niederdeutschen Nordens in das politische System des Reiches . wurden mit den Reichsreformen nach dem Wormser Reichstag von 1 495 ge schaffen. Mit der zunehmenden Institutionalisierung des Reichstages, mit d�n Ansätzen zur Schaffung eines Reichssteuer-, Militär- und Rechtssystems war em Beginn gelegt, auch den niederdeutsch�n Norden i� die �esa�treichischen Ent scheidungsstrukturen einzubeziehen. Die ReformatIOn, die flachendeckend und dauerhaft vor allem den Norden des Reiches erfasste, schien nun auf den ersten Blick die Voraussetzungen fUr den politischen Homogenisierungsprozess zu nichte zu machen das Reich zu spalten. In der Tat kam es in den 1 5 30ern zu einer politisch-ko�fessionellen Blockbildung, die sich insofe� rä�mlich nied�r . . schlug, als der Schwerpunkt des politischen Prote�tantlsmus �ordhch des Mams . zu verorten war. Dieses bedeutete nun aber kemeswegs eme Isoherung des Nordens innerhalb des Reiches. Das Gegenteil traf zu. Die Regelung des Konfessionsproblems erwies sich als Hauptanforderung an die institutio nalisierte Reichspolitik, sowohl in seiner immer wieder aufflammenden Kon flikthaftigkeit als auch in den Versuchen der Friedensschaffung, vom Augs burger Religionsfrieden von 1 55 5 bis zum Westfälische� Frieden von 1 648. Der . angesichts des Konfessionskonfliktes entstehende pohtls�he Regelungsb:darf setzte den Prozess der HeranfUhrung des Nordens des Reiches an das Reichs system, der mit den Reichsreformen um 1 500 begonnen hatte, verstärkt fort. . "Die Augsburger Friedensordnung beendete die religiöse Einheit und förderte die territoriale Staatsbildung. Sie hatte nicht Kaiser und Reich zugunsten der KurfUrsten und Fürsten entmachtet, sondern den Glaubensstreit im Sinne der komplementären Staatlichkeit reguliert und dafU .ßesorgt, dass sich der R���hs � . Staat auf Niederdeutschland ausdehnen konnte. , KonfessIOnelle Identltaten, die sich durchaus räumlich fokussieren ließen, wurden von einer gesamt-
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reichischen Identität überlagert. "Trotz aller Sprengkraft des Konfessionellen profitierte der Reichs-Staat von der Bindekraft der Konfessionen. Die von den Bekenntnissen ausgehende Mobilisierung brachte neue, regionenübergreifende Verklammerungen. Die mit dem Schmalkaldischen Bund eingeleitete Inte gration der niederdeutschen Stände in den oberdeutschen Reichs-Staat wurde im Dreißigjährigen Krieg unumkehrbar.,,48
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Der heilsgeschichtliche Antagonismus zwischen Nord und Süd, wie er sich bei den Protestanten im Dreißigjährigen Krieg zeigte und der Schweden als dem Norden, aus dem die Erlösung vom babylonischen Joch der römischen Kirche kommen sollte, kurzzeitig ein so deutliches Eigen- und Überlegenheitsprofil im kontinentalen Protestantismus verleihen sollte, wurde schon im zeitlichen Vor feld seiner Wirksamkeit von säkular-politischen Handlungs- und aus ihnen wiederum erwachsenden gesamtreichischen Identitätsmustern überlagert, welche die Überwindung eben dieses Antagonismus implizierten.49 Was sich im Heiligen Römischen Reich um 1 5 00 abzuzeichnen begann : Die Integration des reichsfernen Nordens als Subjekt in den Handlungszusammenhang des Reiches durch gemeinsame Interessen und durch institutionalisierte und verrechtlichte politische Verfahren vollzog sich im 1 7. Jahrhundert in ganz ähnlicher Weise bezüglich der Position Nordeuropas - und in dieser Zeit ist Schweden in poli tischer Hinsicht aus kontinentaler Perspektive mit dem Norden gleichzusetzen im kontinentalen Kontext. Der Wechsel des politischen Normensystems in Europa - weg von der heilsgeschichtlichen Begründung von Politik, hin zum säkularen Machtsstaatsinteresse - schuf die Voraussetzung zur Integration des Nordens in das System politischer Interessen und Verfahren sowie völker rechtlicher Bindungen, das den gesamten Kontinent bis zum Ende des Ancien regime bestimmte. Der Dreißigjährige Krieg bildete den entscheidenden Er eigniskomplex fUr die endgültige politisch-handlungsorientierte und normative Integration des Nordens nach Europa.
Moraw Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittel alter i 250 bis 1 490, Frankfurt a. M., Berlin 1 985, passim; ders., Franken als königsnahe Landschaft im späten Mittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 1 12 (1 976), S. 1 23-138. "Intern blieb das Reich ein polyzentrisches Gebilde. Oberdeutschland und Niederdeutschland waren [ ... ] bis ins 1 5 . Jahrhundert hinein nicht allzu eng miteinander verbunden. Das Reich umfaßte süd- und westeuropäisch-gereifte und ost- und nordeuropäisch-junge Landschaften. Gemessen am Ze�tpu t der �hristi�isierung und der . Einführung des Städtewesens schloß es Regionen In Sich, die zWls7hen außerstern Wes�en und äußerstem Nordosten eine rund tausendjährige Kluft aufWiesen; der Unterschied zwischen Italien und Norwegen war kaum größer." Zitat: Moraw, Verfassung, S. 24 f. . Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1 806, München 1 999, S. 40 f. Schmidt, Geschichte (wie Anm. 46), S. 1 1 3. - Den für das reichische Kohärenzmodell Schmidts zentralen Begriff des komplementären Reichs-Staates erklärt er ebd., S. 40-44. -
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Schmidt, Geschichte (wie Anm. 46), S. 133. Siehe dazu die Beiträge in: Der südliche Ostseeraum und das Alte Reich, hrsg. von Nils Jörn u. Michael North, Köln/Weimar 2000 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 35).
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EINE ANDERE ANTIKE UND DIE WILDE NATUR DAS BILD DES NORDENS IN DER BILDENDEN KUNST DER FRÜHEN NEUZEIT Lars Olof Larsson
Kein Künstler der frühen Neuzeit setzte sich mit den Vorstellungen seiner Zeit vom "Norden" bzw. vom "Nordischen" im allgemeinen Sinne bewusst aus einander. Eine solche AufgabensteIlung wäre ihm völlig fremd gewesen. Die bildende Kunst dieser Zeit gestaltete die Ideologien des Gemeinwesens, sie diente dem religiösen Kult und der weltlichen Macht mit den Bilddarstellungen, die diese brauchten. Sie erfiillte außerdem dokumentarische Aufgaben, d.h. sie hielt Orte, Ereignisse und Besonderheiten verschiedener Art im Auftrag der un mittelbar Interessierten im Bilde fest. Dies geschah in einer Vielzahl von Medien mit sehr unterschiedlicher Öffentlichkeitswirkung, von der Zeichnung über das Gemälde bis hin zur Druckgraphik. Darüber hinaus eroberte sie sich gerade zu dieser Zeit mit Motivgattungen wie Landschaft, Stillleben und Genre in zunehmendem Maße Aufgabengebiete, die im wesentlichen dem delectare dienten und aus denen sich das entwickelte, was wir im modemen Sinne eine "freie Kunst" nennen können. Wenn wir also nach dem Bild des Nordens in der bildenden Kunst der frühen Neuzeit fragen, müssen wir in diesen hier grob um rissenen Aufgabenfeldern suchen. Dabei soll die Aufmerksamkeit vor allem auf zwei Aspekte gelenkt werden, an denen nordische Eigenart und nordische Ver hältnisse erkannt und veranschaulicht wurden: Die "andere Antike" und die "wilde Natur". Eine andere Antike Die "andere", also die eigene Antike wird in den nordischen Ländern in der frühen Neuzeit ein wichtiges Thema fiir die patriotische Geschichtsschreibung. Es ging darum, die eigene Bedeutung in der Staatengemeinschaft der Gegenwart durch den Nachweis einer möglichst weit zurückreichenden und glanzvollen Vergangenheit zu unterstreichen. Eine lange Geschichte war unverzichtbar fiir das Prestige einer Dynastie bzw. einer Nation. Mit dieser Aufgabe waren Archivare und Historiographen betraut. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf das Sammeln, Übersetzen und Edieren von isländischen und anderen altnordischen Dichtwerken und Chroniken. 1 Ein Beispiel dafiir, wie mit solchen Editionen die I
Für die antiquarische Forschung und Geschichtsschreibung siehe: Gustav Löw, Svensk fomtid i svensk historieforskning, 1908, Bd. 1 ; Sten Lindroth, Svensk lärdomshistoria, 4 Bde., Stockholm 1 975, Bd. 3: Stormaktstiden, S. 235-348; Henrik Schück, Kgl. Vitterhets-, historie- och antikvitetsakademien, Bd. 1 -3, Stockholm 1 932/ 1 933, zeigt auch die Entwicklung in Dänemark auf.
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Auf dem Titelblatt dieser Ausgabe ist ein dänischer König, in zeitgenössische Rüstung gekleidet - also ohne Merkmale, die die Gestalt als "altnordisch" aus weisen würden - an der Spitze seiner Gefolgsleute dargestellt. Der Rahmen ist mit Renaissancemotiven wie Pilaster und Groteskenornamentik gestaltet. In unserem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass unter den grotesken Elementen auch zwei Drachen eingeftigt sind. Dieses Motiv ist der aus der Antike abgeleiteten Groteskenornamentik fremd und kann nur als bewusste Übernahme aus einer älteren nordischen Handschrift erklärt werden, die den "antiken" nordischen Ursprung der Chronik andeuten soll. Das Drachenmotiv stellt, ganz im Sinne der Rhetorik, eine Anpassung der Schmuckformen an den Inhalt dar und zeugt vom Bewusstsein der historischen Zugehörigkeit der Drachenornamentik.
Im 1 7 . Jahrhundert entwickelte sich sowohl in Dänemark als auch in Schweden eine antiquarische Forschung, die sich dem Aufsuchen und der Inter pretation von Bodendenkmälern und anderen Artefakten widmete. Sie wurde in beiden Ländern vom Staat großzügig unterstützt und erhielt bereits um die Mitte des Jahrhunderts institutionellen Charakter. Die Rolle der bildenden Kunst in diesem Zusammenhang beschränkte sich darauf, durch Bilddarstellungen die Funde zu dokumentieren und die meist sehr anspruchsvollen Publikationen zu illustrieren, wobei das Titel- und Widmungsblatt oft eine eindrucksvolle Zurschaustellung der nationalen Ideologie zeigen (Abb. 1 ).5
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Die besondere Aufmerksamkeit der antiquarischen Forschung galt den zahl reichen Runeninschriften, die an die Zeit vor der Latinisierung des Nordens er innerten. Diese bildeten einen Ersatz ftir Skulpturen und Architekturruinen, die ja eine so wichtige Rolle ftir die Vorstellungen von der römischen und grie chischen Antike spielten. In den Runensteinen besaß man immerhin steinerne Denkmäler, und da ihre Schrift damals als noch älter als die griechische und römische galt, schienen sie von einer besonders ehrwürdigen nordischen Ver gangenheit zu zeugen. Runenschrift und Bilder von Runensteinen wurden seit Beginn des 1 7. Jahrhunderts in Dänemark wie in Schweden in zahlreichen Publikationen vorgestellt (Abb. 2). Sie gehörten auch früh zu den Bildsymbolen, die auf die spezifisch nordische Vergangenheit der beiden Reiche, auf die eigene Antike verweisen.
In engem Zusammenhang mit dem Sammeln von Urkunden und der Edition von Chroniken steht die genealogische Forschung, die vor allem darum bemüht war, großartige Stammbäume der Herrscherhäuser zu konstruieren. Diese reichten in der Regel zurück in die Zeit des Alten Testaments. Sowohl in Däne mark als auch in Schweden wurden, ähnlich wie Z.B. in Frankreich und Bayern in der zweiten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts, Bildteppichfolgen mit Darstellungen von historischen und märchenhaften Königen des Reiches produziert; ein anderes Medium solcher Propaganda war das illustrierte Buch. Die schwedische Folge, die aus ftinf Tapeten bestand, zeigte die ersten Könige des Reiches, Magog (ein Enkel Nohas) und seine Söhne Sveno und Gotus. 3 Die dänische Folge war weit anspruchsvoller. Sie umfasste außer dem Bildnis des regierenden Königs Friedrich H. und dessen Thronfolger Christian nicht weniger als 1 1 1 Könige und reichte ebenfalls in die Zeit des Alten Testaments zurück.4 In keiner von diesen Darstellungen ist der Versuch gemacht worden, den Königen durch Kostüme oder Attribute einen spezifisch altnordischen Charakter zu geben. Sie werden in denselben modi wie die entsprechenden Gestalten aus dem Alten
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Testament oder der klassischen Antike in der Historienmalerei der Zeit dar gestellt.
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Eine andere Antike und die wilde Natur
internationale gelehrte Welt angesprochen wurde, ist die schöne Ausgabe von Saxo Grammaticus' Gesta Danorum von 1 5 14, die in Paris erschien?
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Ein besonders ehrgeiziger und auch im gesamteuropäischen Kontext bemerkenswerter Versuch, die Geschichte der Nation von ihren ersten Anfangen bis in die Gegenwart in einem Bilderzyklus darzustellen, wurde in den 1 63 0er J�en von Christian IV. von Dänemark initiiert. In über 80 B ildern, von denen eme Auswahl als Gemälde heute noch Räume auf Schloss Kronborg schmücken und die in ihrer Gesamtheit als Kupferstichfolge einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollten, wollte der König die Geschichte Dänemarks vorstellen.6 Die Arbeit an der graphischen Folge blieb leider in den Anfiingen stecken. Die Gemälde fielen 1 659 größtenteils den plündernden Schweden zum Opfer. Sie sind heute, sofern erhalten, in verschiedenen Sammlungen in
Herausgegeben von Christiern Pedersen, Kanoniker in Lund, mit Unterstützung des dänischen Königs und des Bischofs von Roskilde. Gedruckt bei Jodocus Badius Ascensius; David Wilson, Else Roesdahl, Vikingamas betydelse för Europa, in: Svenolof Karisson, (Hrsg.), Frihetens källa. Nordens betydelse för Europa, Nordiska radet 1992, S. 45. Sie wurden 1 56 1 - 1 569, wahrscheinlich nach Entwürfen von Domenicus ver Wilt gewebt. Nur zwei Tapeten, mit Darstellungen von Magog und Sveno, haben sich erhalten. Als lite rarische Quelle diente Johannes Magnus (1488-1 544), Historia de omnibus regibus Gothorum Sveonumque (1 554); John Böttiger, Svenska Statens samling af väfda tapeter, 2 Bde., Stockholm 1 895, Bd. I ; Farbige Abb. der Sveno-Tapete in: Renässansens konst. Signums Svenska konsthistoria, Lund 1 996, S. 269. Die Tapeten wurden 1 58 1 -1585 in der Werkstatt Hans Kniepers gewebt. Die Serie um fasste 40 Tapeten. M. Mackeprang, Flamand Christensen, Kronborg-tapeterne, Kopen hagen 1 950.
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Sehück, Vitterhetsakademien (wie Anm. I), Bd. 2, 1 932, S. 40-1 1 5 und Bd. 3, 1 933, S. 273-3 1 8; Lindroth, Lärdomshistoria (wie Anm. I ), S. 320-326; David Wilson, Vikings and Gods in European Art, Moesgärd Museum 1 997, S. 1 3-22; H. D. Schepelern, Museum Wormianum: dets forudsetninger og tilblivelse, Odense 1 97 1 ; H. D. Schepelern, Ulla Houkjaer, The Kronborg Series. King Christian IV and His Pictures of Early Danish History (The Royal Museum of Fine Arts), Kopenhagen 1 988, S. 28-34. Ebd.
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Eine andere Antike und die wilde Natur
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Abb. 2: Runenstein in Uppland. Holzschnitt. Nach Peringskiöld, Monumenta, 1 7 1 9.
Schweden und Dänemark verstreut zu finden. Die Zeichnungen, die für die Ge mälde wie für die Kupferstiche als Vorlage dienen sollten, sind aber zum großen Teil erhalten und geben eine gute Vorstellung von dem Projekt.
Abb. 1 : Johannes Peringskiöld, Monumenta Ullerakerensia, 1 7 19, Widmungsblatt. Radierung.
Als wissenschaftliche Berater waren mehrere dänische Historiker engagiert; die wichtigste Rolle scheint aber der als Runenforscher und Antiquar bekannte Arzt OIe Worm ( 1 588- 1 654) gespielt zu haben, auf dessen Initiative das ganze Projekt anscheinend auch zurückgeht. Als Quelle für die Auswahl der Szenen diente vor allem Saxos Gesta Danorum; für die Übersetzung der Taten und Ereignisse, die Saxo beschreibt, in eine verständliche Bildsprache griffen die Künstler auf italienische und niederländische Darstellungen der römischen Ge schichte zurück. Besonders die zahlreichen Kupferstiche Antonio Tempestas ( 1 55 5- 1 63 0) wurden gern zu Rate gezogen. Der Auftrag fur das Gesamtprojekt erhielt der in Dänemark tätige holländische Kupferstecher Simon de Passe ( 1 595- 1 647), der eine ganze Reihe vor allem Utrechter Künstler für den Auftrag gewann. Am wichtigsten waren darunter Simons Bruder Crispin H. de Passe
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Lars Olof Larsson
( 1 597- 1 670) und Gerrit van Honthorst ( 1 590- 1 656). Die Konstruktion dieses Auftrages zeigt, wie kompliziert es sein kann, im konkreten Fall zwischen dem "Eigenbild" und dem "Fremdbild" zu unterscheiden. Für die Auswahl der Szenen, die dargestellt werden sollten, und wohl auch für ihre Interpretation waren dänische Gelehrte verantwortlich, für die Übersetzung in das Medium des Bildes sorgten aber ausländische Künstler, die mangels einer brauchbaren nor dischen Bildüberlieferung darauf angewiesen waren, auf Muster aus anderen kulturellen Kontexten zurückzugreifen. Die ersten Darstellungen der Serie sind den religiösen Gebräuchen der heid nischen Vorfahren gewidmet. Von einer Verklärung der heidnischen Vergan genheit kann aber keine Rede sein. Dafür war man sich wahrscheinlich viel zu sicher, durch die Annahme des Christentums auf eine höhere Stufe der Kultur gelangt zu sein. Hinzu kommt natürlich, dass die von den Missionierungs interessen geprägte Tendenz der schriftlichen Quellen eine objektive Sicht der Dinge unmöglich machte. Die Grausamkeit der rituellen Menschenopfer wird drastisch unterstrichen, die Priester und Wahrsagerinnen sind mit physiogno mischen Mitteln in ein negatives Licht gerückt. Die Darstellung, wie König Jarrik die gefangen genommenen Wenden zu Tode quälen lässt, ist ein gutes Beispiel für die Überzeugung, dass die heidnischen Vorfahren besonders grau sam gewesen seien. Andere Bilder zeugen dagegen von dem Mut und der Kampftüchtigkeit, aber auch von dem großen Ansehen der Vorfahren.
Eine andere Antike und die wilde Natur
ihm ein architekturhistorisches Argument besonders wichtig war. Durch Unter suchungen an der mittelalterlichen Kirche von Alt-Uppsala meinte er feststellen zu kö?nen, dass im Turm dieser Kirche der von Adam von Bremen beschriebene . h� ldmsche Tempel von Alt-Uppsala integriert sei.9 Rudbeck rekonstruierte diesen �au �ls q�a �ratische H �lle mit zwei Bogenöffnungen nach jeder Seite . . und er�larte Ihn fur Identisch mit dem von Platon erwähnten Poseidontempel auf A tlantzs (Abb. 3). In dem sog. Janustempel in Rom erkannte er ein Fortleben des Uppsalaer Tempeltypus. In Alt-Uppsala stand demnach das älteste wenn auch vo� späteren � ingriffen �tark veränderte Bauwerk der Welt und der Prototyp des . spate�en klassischen antiken Tempelbaus. Rudbeck, der eine ganze Menge von Architektur verstand und selbst ein tüchtiger Architekt war, musste freilich zugeben, dass der Tempel von Uppsala etwas "klobig gebaut" sei - "nach u� serer Art" - un� d�ss die alten Griechen und Römer den Typus sehr verfeinert h �tten. An der PlOmertat der nordischen Kultur sei aber nicht zu rütteln. Vor . diesem Hmtergrund konnte die Rolle, die Schweden damals in Europa beanspruchte, nur als angemessen gelten.
Besonders interessant ist die Darstellung von den kimbrischen Gesandten, die Kaiser Augustus ihre Aufwartung machen.? Hier wird die Mäßigung der kampf lustigen und sieggewohnten Barbaren bezeugt. Sie sind, wie andere Bilder ge zeigt haben, stark genug, um jeden Gegner zu besiegen, und ihre Herrschaft wird von vielen Völkern anerkannt. Sie handeln aber nicht destruktiv, sondern ordnen sich freiwillig einer höheren Weltordnung unter, die hier durch Kaiser Augustus symbolisiert wird. In Schweden fehlt ein vergleichbares bildkünstlerisches Projekt. Dafür finden wir dort im Bereich der akademischen Gelehrsamkeit den wohl originellsten Beitrag zur Interpretation der ältesten nordischen Geschichte. In seinem großen Werk A tlantica (4 Bde., 1 679- 1 702) legte der Gelehrte Olof Rudbeck ( 1 6301 702) unter Aufgebot einer erdrückenden Menge abenteuerlich interpretierter Indizien und Argumente seine verblüffende Entdeckung dar, dass das von Platon beschriebene A tlantis gar nicht untergegangen, sondern in Wirklichkeit Schweden seL 8 Aus kunsthistorischer Sicht interessiert dabei vor allem, dass Ebd., S. 66 f. Olof Rudbeck, Atland eller Manheim (lateinischer Titel: Atlantica), 4 Bde., Uppsala 1 6791 702. Neue vollständige Ausgabe des schwedischen Textes und der Bildtafel, Uppsala 1 937-50; Löw, Fomtid (wie Anm . 1 ); Gustav Löw, Rudbeckiana, UppsaIa 1 930; Johan Nordström, Oe yverbomes Ö, in: Rudbeckstudier, Stockholm 1 930. Neudruck in: Oe yverbomes Ö, Stockholm 1 934, S. 89- 1 54; Ragnar Josephson, Oet hyperboreiska Uppsala,
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Abb. 3: Kirche von AIt-Uppsala. Holzschnitt. Nach Olof Rudbeck, Atlantica.
Stockholm 1 940 (Sv. humanistiska förbundet, Bd. 5 1 ); Lindroth, Lärdomsh istoria (wie Anm. 1 ), S. 284-305 und 599 f. mit weiterführender Literatur. Josephson, Uppsala (wie Anm. 8), S. 37-6 1 .
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Auch in Erik Dahlberghs ( 1 625-1 703) großem Tafelwerk Svecia antiqua et hodierna, begonnen um 1 660 und veröffentlicht 1 7 17, spielt die "nordische Antike" eine wichtige Rolle. 1 o Dahlbergh übernimmt allerdings nicht die phantastischen Geschichtskonstruktionen, die wir bei Rudbeck finden. Eine Re konstruktion des Tempels von Alt-Uppsala, der wichtigsten heidnischen Kult stätte des Reiches, durfte aber natürlich nicht fehlen. Dahlbergh gibt den Tempel nach einer Darstellung wieder, die sich angeblich im Haus der HI. Birgitta in Rom befand und daher möglicherweise von Olaus Magnus ( 1 490- 1 5 57) stammen könnte. Ansonsten zeigt er eine Auswahl der als historisch wichtig angesehenen altnordischen Stätten und Denkmäler aus Mittel- und Südschweden in relativ nüchterner und sachlicher Form (Abb. 4). An der Echtheit einer als Darstellung des heidnischen Gottes Thor gedeuteten, heute nicht mehr nachweisbaren Holzskulptur, die sich im Dom von Uppsala befand, scheint er allerdings nicht gezweifelt zu haben.
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Mit dem Ende der Großmachtstellung beider nordischen Reiche und mit dem Einzug aufgeklärter Denkweisen verlor die altnordische Thematik nicht nur an Attraktivität, sie wurde gelegentlich sogar der Lächerlichkeit preisgegeben. Erst gegen Ende des 1 8. Jahrhunderts wurde sie unter neuen geistesgeschichtlichen Prämissen wieder aktualisiert. Das ist aber nicht Thema dieser Darstellung. Der Norden in europäischer Perspektive Abb. 4: Der sog. " Schlüsselstein" bei Sigtuna. Kupferstich. Nach Erik Dablbergh,
Der Norden spielte im 1 6. und 1 7. Jahrhundert eine immer wichtigere Rolle für die europäische Politik und Wirtschaft. Daher überrascht es nicht, dass diese Region auch in der bildenden Kunst anderer Länder in verschiedener Weise ihre Spuren hinterlassen hat. Große Ereignisse wie der Dreißigjährige Krieg oder der Nordische Krieg haben selbstverständlich Anlass zu zahlreichen Bilddar stellungen in unterschiedlichen Medien gegeben; einen spezifisch nordischen Bezug weist dabei das Thema "Der Löwe aus der Mitternacht" auf, das in der Propaganda um Gustav 11. Adolf eine sehr wichtige Rolle spielte. Darauf näher
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Die veröffentlichte Fassung der Svecia
antiqua umfasst das heutige
Svecia antiqva.
einzugehen würde hier zu weit fUhren. 1 1 Im Folgenden sollen vor allem Bilddar stellungen betrachtet werden, die halbwegs friedliche Begegnungetl mit dem Norden dokumentieren. Darstellungen nordischer Themen in der europäischen Kunst finden wir vor allem bei den Holländern. Das hängt hauptsächlich mit der starken wirtschaft lichen Aktivität der Niederländer in der Nordsee und im Ostseeraum zusammen, derlanden �rklärt sich aber auch daher, dass die Malerei und Graphik in den Nie 1� 1 6. und 1 7. Jahrhundert eine quantitative und qualitative Blüte erlebte wie mrgends sonst nördlich der Alpen. Die uns bekannten Gemälde lassen viele verschiedene Aspekte holländischer Aktivität in Nordeuropa erketlnen : See schl �chten um die Kontrolle des Ostseehandels, das Engagement itll Bergbau und m der Waffenherstellung in Schweden, der Walfang und die Fi scherei im Nordatlantik. 1 2 Diese Bilder, die meist von großem Format und kiinstlerisch
Schweden, wobei die
mittelschwedischen Regionen am ausfiihrlichsten dargestellt sind. Nicht veröffentlicht
wurde der Text zu den Tafeln, obwohl zum großen Teil bereits geschrieben. Die ursprüng lich geplanten Ansichten aus den baltischen Provinzen wurden nicht ausgeftihrt. Zum Zeit
punkt der Veröffentlichung waren sie de facto auch bereits verlorengegangen.
antiqua wurde
Svecia
1 8 5 6 neu aufgelegt, z. T. unter Verwendung der alten Platten. Die wissen
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schaftliche Standardausgabe ist Erik Vennberg, Svecia antiqua et hodiema, Stockholm 1 924. Ein Neudruck dieser Auflage erschien Stockholm
akademien
(wie
Anm . I),
1 933,
S. 286-40 1 .
Börje
1 983.
Schück, Vitterhets
Magnusson,
Att
illustrera
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Hidemeslandet. En studie i Erik Dahlberghs verksamhet som tecknare, Uppsala 1 986 (Acta Universitatis Upsaliensis, Ars svetica Bd. 1 0), S. 14 f.
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Johan Nordström, Lejonet frän Norden, in: Samlaren, 1 934 und in: De yVerbomes ö, Stockholm 1 934, S. 9- 5 1 . Jeroen Giltraij , Jan Kelch (Hrsg.), Herren der Meere - Meister der Kun st. Das polländische Seebild im 1 7. Jh., Ausstellungskatalog Rotterdam und Comelisz Berlin 1 996-9 7, Nr. 2 Vroom, Holländische Schiffe vor Schloß Kronborg, 1 6 1 4), Nr. 5 8 (lan Abrahamsz
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anspruchsvoll ausgeführt sind, nehmen eine Stellung zwischen Dokumentation und "freier Kunst" ein. Anlass ihrer Herstellung war in den meisten Fällen der Wunsch, bestimmte Ereignisse oder Unternehmungen zu dokumentieren. Die Darstellungen von Seeschlachten und vom Walfang haben sich aber zu speziellen Gattungen entwickelt, die anscheinend auf dem Bildermarkt begehrt waren. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass solche Darstellungen auch als graphische Blätter verbreitet wurden. Sie haben wahrscheinlich in nicht zu unterschätzendem Maße die Vorstellungen, die man sich im übrigen Europa vom Norden machte, mitgeprägt.
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Es leuchtet ein, dass der abenteuerliche Wal fang die Phantasie anregte, daher bedarf es wohl an sich keines Hinweises auf bestehende Bildtraditionen, um zu erklären, warum gerade dieser Erwerbszweig und nicht etwa der ökonomisch sicher wichtigere Holz- oder Getreidehandel ein so beliebtes Bildthema wurde. Nun wissen wir aber auch, dass gerade Wale und Walfang, Eisbären und der ge fährliche Umgang mit ihnen seit Olaus Magnus' Charta marina von 1 539 die Vorstellungen über diesen Teil des Globus prägten. Es stellt sich also schon die Frage, in welchem Verhältnis Realitätserfahrung und B ildüberlieferung in diesem Falle zueinander stehen. Wilde Natur Die frühesten künstlerisch anspruchsvollen Darstellungen skandinavischer Landschaften stammen von einem holländischen Künstler des 1 7. Jahrhunderts, Allaert van Everdingen ( 1 62 1 - 1 675), den es um die Mitte des Jahrhunderts nach Südnorwegen und Westschweden verschlug. Datierte und mit Ortsangaben ver sehene Zeichnungen belegen, dass er vor Ort Landschaftsstudien angefertigt hat. 1 3 Nach seiner Rückkehr nach Amsterdam wiederholte und variierte er seine skandinavischen Motive und bereicherte die niederländische Landschaftsmalerei mit Elementen, die auch von anderen Künstlern, z. B. von Jacob van Ruysdael ( 1 628- 1 682), aufgegriffen wurden. Das zentrale Motiv dieser Ikonographie waren Wasserfälle und Stromschnellen, Motive, die ihren Rang als Standard motive in der Ikonographie skandinavischer Landschaftsdarstellungen bis m unser Jahrhundert behauptet haben.
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Beerstraaten, Seeschlacht in Öresund 1 658), Nr. 86 (L. Verschuier, Walfang, ca. 1 665), Nr. 92 (A. Storck, Walfang, ca. 1 665) und Nr. 1 1 0 (A. Salm, Walfang, ca. 1 7 1 0); Klaus Bußmann, Heinz Schilling (Hrsg.), 1 648. Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungs katalog Münster und Osnabrück 1 998-99, S. 56 f. (A.v. Everdingen, Julita bruk in Schweden). Karl Erik Steneberg, Kristianatidens mAleri, Malmö 1 955, S. 1 1 8- 1 25 ; Wolfgang Stechow, Dutch Landscape Painting of the 1 7th Century, London 1 966, S. 1 42- 1 46. A. 1. Davies, Allaert van Everdingen (Diss. Harvard 1 973), New York/London 1 978.
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Eine andere Antike und die wilde Natur
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Anders als bei den Walfangbildern ist allerdings fraglich, inwieweit die Be trachter des 1 7. Jahrhunderts solche Darstellungen primär als nordische Land �chaften rezi�ierten. Vielleicht lag ihr Reiz vor allem darin, dass sie aufgrund . Ihrer 'Ylldhel� und der Primitivität der menschlichen Behausungen, die ge legentlIch darm vorkommen, als allgemein verstandene und nicht näher lokali sierte Gegenbilder zu der vertrauteren zivilisierten und urbanen Welt gesehen werden konnten. Dafür könnte die Tatsache sprechen, dass diese neuen Motive von anderen Malern, die keinen Bezug zum Norden Europas hatten so schnell assimiliert wurden, ganz im Gegensatz etwa zu den Brasilienansi�hten Frans Posts, von denen kein Einfluss auf die holländische Landschaftsmalerei aus gegangen ist. In der Hand von Künstlern, die die nordische Natur aus eigener Erfahrung nicht kannten, ging auch bald der Eindruck von Authentizität ver loren. In Jacob van Ruysdaels Gemälden sind die Stromschnellen und Fichten selten al� � lemente einer skandinavischen Landschaft bestimmbar; oft genug . Wirken sie Im Vergleich zu Everdingens Darstellungen wie willkürlich gewählte Kulis�en. �n einem Fall scheint aber außer Zweifel zu stehen, dass Everdingens skandmavlsche Landschaften auch als solche gesehen wurden. Im Tripenhuis, der Amsterdamer Residenz der Gebr. Trip, die in der schwedischen Waffen produktion stark engagiert waren, hängen Sopraporten mit Darstellungen von Wasserfällen und anderen Motiven der "wilden Natur" von seiner Hand die sicher an die wichtigen Geschäftsverbindungen mit dem Norden eri;nern sollen. 1 4 Auch in der skandinavischen und vor allem in der schwedischen Kunst des
17. Jahrhunderts wurde die nordische Natur gelegentlich Gegenstand kÜllstle
nscher Darstellungen. Auch dafür liefert Dahlberghs Svecia antiqua viele Bei spiele. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die "wilde Natur" vor allem als Folie rur Leistung und Fortschritt der Zivilisation dient; nur selten wird dem Betrachter ein Eindruck von der Eigenwertigkeit der Natur vermittelt. Eine solche Ausnahme bildet das Panorama der imposanten Wasserfälle von Troll hättan. Dieses Bild wird freilich ergänzt durch eine Darstellung auf demselben Blatt von einem zweiten Wasserfall, der von einer kühn konstruierten Brücke überspannt wird. Andere Beispiele zeigen die Nutzbarmachung der Wasserfälle als Energiequelle oder rur den Lachsfang. Von dem erfolgreichen Kampf der Zivilisation gegen die "wilde Natur" zeugen auch die Titelblätter der Provinzen des Großherzogturns Finnlands. Ein gewisses kulturelles Nord- bzw. Ost Südgefälle ist dabei nicht zu übersehen. Während die Menschen in Nordfinnland und Karelien noch im dichten Wald und umgeben von wilden Bären und Wölfen ihre kleinen Ackerfelder roden und bestellen, zeigt die Darstellung Südfinnlands ein zwar kleines, aber wohlbestelltes Gehöft und im Vordergrund einen Steinmetzen, der an einem schönen korinthischen Kapitell arbeitet.
14 K. E. Steneberg, mäleri (wie Anm. 1 3), S. 1 22 f.; Davies, Everdingen (wie Anm. 1 0 1 - 1 04.
1 3), Nr.
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Lars 01of Larsson
Künstlerisch bemerkenswerter als die Stiche aus Svecia antiqua sind einige Gemälde, an denen zu erkennen ist, dass die Künstler versucht haben, mit Hilfe von Witterung und Lichtstimmungen und nicht nur durch bestimmte Landschaftselemente, wie Wasserfälle oder Fichten, etwas spezifisch Nordisches zu gestalten. Wenn zum Beispiel David Klöcker von Ehrenstrahl ( 1 628- 1 698) eine Birkhuhn- oder Auerhahnjagd malt, so ist der Auftrag selbstverständlich im Zusammenhang mit den zahlreichen anderen Jagd darstellungen zu sehen, die er für den schwedischen König malte. 1 5 In der Art und Weise aber, wie er diese Jagdszenen in eine Stimmung einbettet, die von dem spezifischen Licht eines kalten Frühlingsmorgens bei Sonnenaufgang geprägt ist, dokumentiert er nicht nur, wie diese Vögel bei der Balz geschossen wurden, sondern er erschließt auch der Malerei eine neue Dimension in der Wiedergabe der nordischen Natur.
Ei", Mda, Antik, ""d di, wild, N"�
1 05
gehabt als die einheimischen Zeitgenossen, denen Phänomene wie die hellen Sommerabende selbstverständlich waren. Van der Meulen und Klöcker waren außerdem wahrscheinlich mit der europäischen Landschaftsmalerei ihrer Zeit vertraut, kannten die Bilder eines Claude Lorrain und der holländischen sog. "Italienisanten". Ihre Darstellungen der römischen Campagna im typischen Sonnendunst mögen van der Meulen und Klöcker die Anregung gegeben haben, Licht und Atmosphäre zum Thema ihrer eigenen Landschaftsmalerei zu machen. Ihre persönliche Leistung besteht dann darin, den spezifischen Charakter nor discher LichtverhäItnisse erkannt und die adäquaten malerischen Ausdrucks mittel gefunden zu haben, diese in ihrer Kunst darzustellen.
Zwei Stockholmer Veduten mögen das Bild abrunden. Die älteste uns bekannte Darstellung Stockholms, die sog. Vädersolstavlan von 1 535, wurde gemalt, um ein bestimmtes Lichtphänomen am Himmel zu dokumentieren. Daher nimmt der Himmel einen so großen Platz auf dem Bild ein. 1 6 Irgend welche atmosphärischen Besonderheiten hat der Maler aber nicht darstellen können oder wollen. Als Cornelis van der Meulen ( 1 642- 1 692) gut 1 00 Jahre später eine Ansicht der Stadt malte, war auch ihm der Himmel besonders darstellungswürdig; jetzt handelte es sich aber nicht um ein Ausnahmephänomen, sondern um etwas ganz Normales aber auch spezifisch Nordisches, um die helle Sommernacht. 1 7 Wir wissen nicht, ob diese Lichtstimmung dem Maler mehr bedeutete als nur ein orts- und jahreszeittypisches Phänomen (wie es später in der skandinavischen Malerei um 1 900 der Fall war); er hat es auf jeden Fall wie kein Künstler vor ihm verstanden, Stockholm als nordische Stadt darzustellen, indem er die Stadt in der speziellen Sommerabendbeleuchtung malte. Es liegt auf der Hand, dass Darstellungen wie van der Meulens Stadtansicht oder Klöckers Vogeljagdbilder eine intime Kenntnis der spezifisch nordischen Verhältnisse voraussetzen. Es gehört aber noch etwas anderes dazu. Van der Meulen und David Klöcker waren beide Ausländer und haben den Norden erst im ErwachsenenaIter kennengelernt. Beide waren aber auch lange genug in Schweden, um mit den Verhältnissen dort vertraut zu sein. Vielleicht haben sie einen schärferen Blick für die spezifischen Lichtverhältnisse Skandinaviens 15 16 17
Beide im Nationalmuseum, Stockholm. Bertil Rapp, Djur och Stilleben i karolinskt mäleri, Stockholm 1 95 1 , S. 1 0 1 - 1 06. Jan Svanberg, Vädersolstavlan i Storkyrkan. IV: Det konsthistoriska sammanhanget, in: Samfundet Sankt Eriks Arsbok 1 999, S. 65-86. K. E. Steneberg, En Stockholmsbild fräll 1 600-talet, in: Samfundet Sankt Eriks Arsbok 1 944, S. 93. Farbige Abb. in: Barockens konst. Signums svenska konsthistoriska, Lund 1 997, S. 391 .
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BILDER DES NORDENS IN DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR DER ROMANTIK Volker Kapp
Im Schlusswort seiner Rheinreise ( 1 842) schreibt Victor Hugo, der Mensch des Nordens sei immer derselbe. Er steige unter bestimmten Konstellationen des Klimas und des Schicksals vom Pol nach Süden und verschwinde dann wieder für zwei Jahrtausende. ' Hugo verkehrt hier eine Vorstellung von Montesquieu, der im 5 . Kapitel des 1 7 . Buches von L 'Esprit des Lais ( 1 748) Nordeuropa als die Wiege der Völker bezeichnet, die keine Tyrannei ertragen und deshalb immer wieder durch ihre Invasionen die Völker des Südens von den Fesseln ihrer Knechtschaft befreien, in ihr Gegenteil. Diese Gegenüberstellung des Frühaufklärers und des Romantikers soll einleitend darauf hinweisen, dass einer seits bereits die Aufklärung sich mit Konstruktionen von Nördlichkeit beschäf tigt, andererseits die Vorstellung vom Norden etwas historisch Gewachsenes und in sich Widersprüchliches ist. Man kann die Voraussetzungen, von denen die Konstruktion der Bilder des Nordens in der französischen Romantik ausgeht, in drei Punkten zusammen fassen:
1.
Das Phantasiebild des Nordens ist für die Franzosen bis ins 1 8 . Jahr hundert mit etwas Barbarischem assoziiert, das tendenziell negativ be setzt ist. Es ist nicht auf den Norden Europas beschränkt, sondern wird in einem allgemeinen Schema der Opposition von Norden und Süden eingeordnet, bei dem der Norden das Kalte, Unzivilisierte und Kämpferische, der Süden das Warme, Zivilisierte und Genießerische repräsentiert. Eine Umwertung lässt sich seit Montesquieus L 'Esprit des Lais belegen. Montesquieu beruft sich auf Reisebeschreibungen, denen zufolge die Gegend um Stockholm fruchtbar sei, weil sie die Gebirge von Norwegen und Lappland vor dem Nordwind schützen.2 Im Norden gebe es also nicht nur unwirtliche Öde, sondern auch kulti viertes Land. Mit Hilfe der Klimatheorie will der Autor die kriege rische Überlegenheit der Bewohner von nördlichen Gegenden be weisen. Die Völkerwanderung müsse man als Eroberung des warmen
"L'homme du nord proprement dit est toujours le meme. A de certaines epoques clima teriques et fatales, il descend du pole et se fait voir aux nations meridionales, puis il s'en va, et il revient deux mille ans apres, et I'histoire le retrouve tel qu'elle l'avait laisse" (Hugo, Le Rhin II, in: Oeuvres completes, Paris 1 927, S. 356). ''[. .. ] en Europe [ ... ] les montagnes de Norwege et de Laponie sont des boulevards admi rables qui couvrent de ce vent les pays du nord; que cela fait qu'i1 Stockholm [ ... l le terrain produit des fruits, des grains, des plantes [ .. .]" (Montesquieu, Oe l'Esprit des Lois. Texte etabli avec une introduction, des notes et des variantes par Gonzague Truc, 2 vol., Paris 1 956, vol. 1 , S. 287).
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Volker Kapp
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Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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Südens durch die Bewohner des unwirtlichen Nordens verstehen. In diesem Zusammenhang spielt Montesquieu nicht nur die unabhängigen Nordländer gegen die Bewohner des Südens, sondern auch die Asiaten als Unfreie gegen die Europäer des Nordens als Freie aus. 3
protestieren. Die Bilder vom Norden, die von der Literatur der französischen Romantik transportiert werden, verdanken sich deshalb mehr dem Konstrukt von Nördlichkeit als einem Blick oder gar einer Reise von Paris in den geographi schen Norden.
2.
Die Kenntnisse über den Norden verdankt Frankreich i m 1 8. Jahr hundert Historikern wie Paul-Henri Mallet ( 1 730- 1 807), einem Genfer, der 1 752 in Kopenhagen Professor für französische Literatur wurde, aber bei den Studenten nicht ankam, so dass er viel Zeit zum Forschen bzw. Publizieren hatte. Er veröffentlichte zwischen 1 75 5 und 1 758 mehrere Werke über dänische Geschichte, darunter eine dreibändige Histoire de Danmark ( 1 758). Mallet erschließt den Franzosen die Edda und konstruiert eine Verwandtschaft zwischen den Skandinaviern und den Galliern. 4 Mallets Bücher werden im 1 9. Jahrhundert von Madame de Stael bis Hugo systematisch ftir literarische Klischees des Nordens ausgebeutet. Die Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik sind häufig aus zweiter Hand und haben selten etwas mit dem geographischen Norden Europas zu tun.
3.
Die Bilder des Nordens knüpfen an die Ossian-Begeisterung an, die zur Entstehung einer Dichotomie zwischen der Literatur des Südens, die aus der antiken Literatur des Alten Rom hervorgegangen ist, und der Literatur des Nordens beiträgt, die man von Ossian herleitet. Schottland und Wales werden dabei von Frankreich aus als Norden angesehen und stehen für eine geographisch bis nach Skandinavien und Island reichende, auch England und Deutschland einschließende Zone. Die erste Welle des französischen Ossianismus gehört in die zweite Hälfte des 1 8. Jahrhunderts. Der Wirtschaftsreformer Turgot ( 1 727- 1 78 1 ) eröffnet 1 760 den Reigen der französischen Übersetzun gen von Ossian, Le Tourneur veröffentlicht 1 777 die erste vollständige Prosaübertragung.
Diese einleitenden Bemerkungen sollen verständlich machen, warum zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Konstruktion von Nördlichkeit etwas Ver trautes, die Nachahmung der Dichtungen des Ossian aber gleichwohl etwas Be fremdliches ist. Chateaubriand ahmt in Atala die schottische Bardendichtung unter den Vorzeichen des Exotismus nach, wenn er eine Indianerin wie einen Barden singen lässt. Die literarische Kritik verhöhnte ihn; die lesende Öffent lichkeit gab ihm Recht und ließ das Werk zu einem fulminanten Erfolg werden, durch den der Autor in kürzester Zeit berühmt wurde. Als Chateaubriand Atala schrieb, war er noch überzeugt, dass es Ossian wirklich gegeben habe. In seinem gleichzeitig mit Atala entstandenen Rene lässt er seinen Protagonisten aus gerechnet in Amerika von seiner Begegnung mit dem letzten Barden "auf den Bergen Kaledoniens" erzählen. Dieser habe seine Dichtungen gesungen, während er auf einem bemoosten Stein gesessen habe: "nous etions assis sur quatre pierres rongees de mousse; un torrent couloit a nos pieds; le chevreuil paissoit a quelque distance parmi les debris d'une tour, et le vent des mers simoit sur la bruyere de Cona. ,,5 Bach, Eichhörnchen, Ruine und vom Meer her kommende Brise evozieren in der Literatur der Aufklärung wie der franzö sischen Romantik Bilder des Nordens. Neu und ftir den frühen Chateaubriand kennzeichnend ist lediglich die Tatsache, dass die Bardendichtung in eine Epo che vor dem Christentum verlegt wird, während Chateaubriand kurze Zeit später die Dichtungen des Ossian für das Christentum reklamieren wird, sobald er zu der Erkenntnis gekommen ist, dass es sich um eine geniale Fälschung handele.6 Seine Konstruktion von Bildern des Nordens bringt also gegenüber der Auf klärung keine neuen Einsichten. In der Romantik ändert sich lediglich der Stellenwert dieser Konstruktion. Sie erhält eine viel zentralere Stellung inner halb der Dichtungslehre. Außerdem setzt eine Umwertung des Barbarischen ein. Es wird entweder als Gegenpol zur Hochkultur geschätzt oder innerhalb der Ästhetik des Hässlichen positiv eingestuft. Hingegen bringt die unmittelbare Anschauung keine grundlegende Modifikation der Bilder des Nordens. Im Ge folge der Französischen Revolution und des Kaiserreichs müssen bedeutende Literaten wie Chateaubriand und Madame de Stael ins Exil gehen. Sie legen über ihren Aufenthalt in Ländern, die dem Norden zugerechnet werden, Rechen-
Die nun folgenden Überlegungen setzen die Verwurzelung der Romantik im Denken der Aufklärung voraus, die ftir das hier zu behandelnde Thema folgende Ausgangsbasis ergibt: Die Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik haben weniger mit einem geographischen Konzept von Norden als mit einem imaginären Konstrukt von Nördlichkeit zu tun. Die Romantiker über nehmen eine bereits im 1 8. Jahrhundert entstandene Antinomie von Literatur des Nordens und des Südens, um im Namen eines Konzepts von Nördlichkeit, das fur die Kräfte des Irrationalen steht, gegen die rationalistische Klarheit eines mit der humanistischen Ästhetik gleichgesetzten Klassizismus der Aufklärung zu 4
•
"Les peuples du nord de l'Europe ront conquise en hornmes !ibres" (ebd., S. 290). Vgl. Paul van Tieghem, Le PnSromantisme. Etudes d'histoire litteraire europeenne, Paris 1 924, S. 1 1 6 f.
Chateaubriand, Rene. Edition critique, introduction et notes par J. M. Gautier, Geneve 1 970, S. 39. VgI. die Auseinandersetzung mit Madame de Stael in der Lettre a M de Fontanes; in: Chateaubriand, Essai sur les revolutions. Genie du christianisme. Texte etabli, presente et annote par Maurice Regard, Paris 1 978 (Pleiade), S. 1 273-1 277.
1 10
Volker Kapp
tik, doch liefern sie schaft ab und vermitteln wichtige Impulse für die Roman ns. Norde kein grundsätzlich neues Bild des in ihrem Buch Schauen wir uns zunächst die Aussagen von Madame de Stael hisch richtig, geograp land Deutsch t Vorwor im situiert Sie an. über Deutschland n argu erkunge nämlich im Zentrum von Europa.7 In den allgemeinen Vorbem in eine Europas Völker die mentiert sie jedoch mit einem Dreierschema. Sie teilt die rechnet und ein "Rasse" e lateinische, eine germanische und eine slawisch die und Dänen die en, Schwed die er, Deutschen, die Schweizer, die Engländ he lateinisc die als später erst die zu, " Völkern schen Holländer den "teutoni offen Augen ihren in sind n Teutone Diese seien. worden rt "Rasse" zivilisie he Welt sichtlich identisch mit den "Völkern des Nordens", die in die lateinisc hätten.8 men übernom Kultur eingedrungen seien und dann deren christliche Demnach sind sie, so meint die Autorin, direkt von einem Zustand der Barbarei e das in vorchristlicher Zeit zum Christentum übergegangen. Daraus entstünd und Kirchen n gotische von daher ist Literatur Ihre . mittelalterliche Rittertum ih in sich befasst und t bevölker tern Gespens und Hexen Rittern, Burgen, alten einsamen und ren besten Werken mit den Geheimnissen einer träumeri schen Natur.9 Erstaunl icherweise gewinnt hier ein Bild nordischer Literatur die Ober an hand über die tatsächliche deutsche Literatur. Madame de Stael spricht Leip Weimar, , Göttingen liegen sie Für Klassik. r schließend über die Weimare zig und Jena in Norddeutschland. Skandinavien interessiert sie nicht, obwohl oder vielleicht gerade weil sie mit einem schwedischen Diplomaten verheiratet war. Die Begegnung mit Deutschland beurteilt sie kritisch. Gleich beim Über queren des Rheines will sie die Andersartigkeit der Zivilisation bemerkt haben. Die Norddeutschen hält sie für tüchtig und fleißig, aber sterbenslangweilig, denn, so meint sie, sie reißen ihre blöden Witze nur, um sich selbst zu unter halten. Deshalb sei es für einen Franzosen besser, sich in der stillen Einsamkeit zu langweilen als sich von solchem Humor belästigen zu lassen.lo Sie schreibt ein eigenes Kapitel über die Konversation, um mittels einer vergleichenden soziologischen und völkerpsychologischen Studie die Überlegenheit der Fran zosen auf diesem Gebiet und die Unfähigkeit der Deutschen zur Konversation 7
8
9
10
le cceur de "L'Allemagne, par sa situation geographique, peut etre consideree comme der Nachdruck , complt!tes Oeuvres in: e, I'Allemagn De l'Europe [ ... ]" (Germaine de Stael, Ausgabe von 1 86 1 , 3 vo1., Genf l 967, vo1. 2, S. 2). Vg1. ebd., S. 3. des "Leur imagination se plait dans les vieilles tours, dans les creneaux, au milieu solitaire et reveuse nature d'une mysteres les et revenants; des guerriers, des sorcieres et forment le principal charme de \eurs poesies" (ebd.). Vg1. ihre Aussage über Nord deutschland: "Les campagnes desertes, les maisons noircies par la fumee, les eglises gothi ques semblent preparees pour les contes de sorcieres ou de revenants" (ebd., S. 28). Vg1. ebd.
• .:/i".
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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d�rzulegen. I I �a?t greift in seiner Anthrffologie in pragmatischer Hinsicht diese Charaktenslerung der Franzosen auf. Der Soziologe Norbert Elias bestä tigt in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die Analyse von Madame de Stael, wenn er das zentralistische Frankreich gegen die Vielfalt der deutschen �leinstaaten ausspielt und daraus folgert: In Deutschland "[ ... ] ist die Intelligenz uber d�s �anze Land verstreut. [In Frankreich] ist immer die Unterhaltung eines der Wichtigsten Kommunikationsmittel und überdies seit Jahrhunderten eine 3 Kunst; hier ist das wichtigste Kommunikationsmittel das Buch [...]." 1 Dieser Aspekt der Konstruktion von Nördlichkeit durch Madame de Stael hat ent scheidend zum Entstehen der Opposition zwischen französischem "esprit" und d:u��chem "Geist" bzw. zum Antagonismus von französischer Vorstellung von . und deutschem Konzept der Kultur beigetragen. ZlvlhsatlOn Wenden wir uns nun Chateaubriand zu. Chateaubriand thematisiert den Nor den im Kapitel über die Kelten in seinem 1 797 während des Exils in London veröffentlichten Essai sur les revolutions. Auch er spricht davon, dass sich die Barbaren aus dem Norden auf ihrer Wanderung in den Süden zum Christentum bekehren. 14 In einer Fußnote verweist er auf Mallets Introduction Cl l'histoire du Danmark und liefert damit die Quelle, aus der auch Madame de Stael ihre Vor stellungen bezieht. Für ihn ist die Religion der nordischen Barbaren an Dunkel heit, Sturm, Gewitter, Wolken und Nebel geknüpft, die er für typische Erscheinungsformen des Nördlichen hält. 15 Chateaubriand, der die Dichtungen des Ossian selbst in seinen frühen Gedichten nachgeahmt hat, entwirft eine Sze nerie nächtlicher Erscheinungen von Geistern, die auf die phantastische Literatur der Romantik vorausweist: In den Wolken erscheinen die toten Helden' über die Wipfel der Tannen huschen seltsame Schattenbilder; das nächtliche H�ulen des Sturmes in den Birken oder das Säuseln des Windes in den Gräsern weckt die Assoziation von Stimmen. Das Bild des Nordens wird mit einsamer, wilder Natur verbunden, die zu melancholischem Träumen einlädt. Städte scheint es in diesem Norden nicht zu geben, was vielleicht ein spätes Echo auf die zu Chateaubriands Quellen gehörende Germania des Tacitus ist. Eine der Funktionen einer solchen Konstruktion von Nördlichkeit ist leicht zu erkennen, wenn Chateaubriand die Konversion der Barbaren an den Schock bin11 1
1
2 3
14 1
5
Ebd., S. 22-26. V �1. I ��uel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und . Padagoglk, m: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Darmstadt 1 964, Bd. 4, S. 662 f. . " Norbert Ehas, Uber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt 1 977, Bd. 1 , S. 35. "A mes�re q �'ils emi�raient vers le Sud, en quittant les regions sombres et tempetueuses du Septentnon, Ils perdalent l'idee de leur culte parternei, inherent au climat qu'ils habitaient" (Chateaubriand, Essai [wie Anm. 6], S. 389). "[ ... ] enfin la religion de ces peuples s'etait dissipee avec les orages, les nues et les vapeurs du Nord" (ebd., S. 389).
Volker Kapp
1 12
det, den eine ursprünglich rein sinnliche, unverbrauchte Phantasie bei der Be gegnung mit der Welt des Geistes erlebt. Diese Passage müssen wir uns wieder
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Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
Identität der Franzosen geht. Die Literatur der französischen Romantik verbindet
mit den Bildern des Nordens nicht nur Konzepte von Alterität, sondern auch
genauer ansehen. Sie beginnt mit einer Definition dieser menschlichen Fähigkeit als etwas zugleich Aktives und Passives, nämlich als Echo und Spiegel der ihn
eine Suche nach einer neuen Facette von Identität. Diese Doppelfunktion wird bereits im Essai sur fes revolutions von Chateaubriand angesprochen, wenn die
baren, die Waldmenschen heißen, von der wilden Natur des Nordens, d. h. von
einwohner des späteren Frankreich waren. Die Kelten bewohnen nach seiner
umgebenden Natur. 16 Dann folgt die Behauptung, dass die Phantasie der Bar
Wüsten, Höhlen, Bächen und Gebirgen so beeindruckt sei, dass sie sich mit Ge
Welt des Ossian mit der der Kelten identifiziert wird, die bekanntlich Ur
Ansicht die Bretagne, Gallien und Germanien. Sie sind rur ihn Barbaren, doch
räuschen, Gespenstern und einem Sinn für das Große vollsauge: " [ . ] celle de l'homme des bois, frappee du spectacle des deserts, des cavernes, des torrents,
hat deren Beschreibung für ihn etwas Faszinierendes, das er mit dem Adjektiv
Dinge" bezeichnet, kapituliere die Phantasie der Barbaren sofort, denn "la mort de l'imagination, c'est la connaissance de la verite.,, 18 Dies ist besser gesagt als
Henry
danke für die Poetik romantischen Dichtens zu verwenden. Ob Chateaubriand diese gegenläufige Interpretation seiner Aussage explizit vorgesehen hat, scheint mir ungewiss.
um die geographische und kulturelle Verortung Frankreichs, das je nach Stand
..
des montagnes, se remplit de murmures, de fantörnes, de grandeur". 17 Bei der Konfrontation mit der christlichen Offenbarung, die Chateaubriand als "geistige
gedacht. Ein Umkehrschluss ist möglich, dass nämlich die Entfaltung der Imagi nation die literarische Fiktion ermöglicht. In dieser Hinsicht wäre dieser Ge
Charles Nodier zieht hingegen diesen Schluss. Er schreibt
Vorwort zu
1 822 in seinem Trilby, einer fantastischen Erzählung, die seinen Ruhm begründete,
dass er seine Geschichte in Schottland situiert hat, weil man nur noch im
unberührten Norden jene rührenden Spuren menschlicher Urzeit finden könne:
Il faut courir au bout de l'Europe; affronter les mers du Nord et les glaces du pole, et decouvrir dans quelques huttes a demi sauvages une tribu tout a fait isolee du reste des hommes, pour pouvoir s'attendrir sur les touchantes erreurs, seul reste 19 des äges d'ignorance et de sensiblite. Nodier will in Schottland nicht nur die Nordsee, sondern auch das Eismeer
"romantisch" charakterisiert.20 Er gibt in einer Fußnote selbst an, dass er sich bei
seiner Beschreibung einerseits an antike Autoren wie Tacitus, Caesar oder Strabo, andererseits an Ossian, die
Edda oder den englischen Historiker Robert ( 1 7 1 8- 1 790) hält. Für unsere weiteren Überlegung über Bilder des Nor
dens in der Literatur der französischen Romantik ist es von Bedeutung, dass
über die Kelten der Norden in geographische Räume gerückt wird, die ander weitig dem Süden zugeschlagen werden. Etwas vereinfacht gesprochen geht es
punkt zum Norden wie zum Süden gehören kann. Die Auseinandersetzung
zwischen Klassizismus und Romantik wird in dieser Perspektive
zu
einem
Problem der Konstruktion von Nördlichkeit. Chateaubriand betont die Alterität
der Kelten im Vergleich zur Gegenwart, spricht ihnen aber eine Größe zu, die
.
' 21 D'le Verwendung der AdJe ' ktlve ' elOe so Iche der " choses ant'lques '' sei. roman-
tisch und antik ist hier sicherlich terminologisch ungenau, sie steht jedoch in
Analogie zu den Überlegungen, mit denen Madame de Stael in ihrem
f'Allemagne den Begriff des Romantischen einführt.
De
Madame de Stael knüpft an den damals in Deutschland neuen Begriff des
Romantischen an, der die seit der okzitanischen Dichtung entstandene mittel
alterliche Literatur bezeichnet, die vom Christentum und dem Rittertum geprägt ist. Sie wählt dann wieder Dichotomien wie Antike - Mittelalter, Norden -
Süden, Rittertum und griechisch-römische Welt, um die philosophische Rela
angetroffen haben. Er tut nämlich so, als ob diese Geschichte eine Frucht seiner Liebe zu Schottland sei, das er bereist hat. Zwar gibt er zu, dass die Schotten
tivität von "Ie gout antique et le gout moderne,,22 zu betonen. Damit distanziert
tatsächliche Land gesehen und den Stoff für seine Erzählung aus Scott bezogen,
endeten und definiert statt dessen die klassische Dichtung als jene des Alter tums, die romantische als jene der christlichen Ära, die im Mittelalter ihre
seine Reiseeindrücke höhnisch kommentiert hätten, doch stört ihn das wenig. Er hat bei seinen Reisen wohl mehr die imaginäre Welt von Walter Scott als das den er mit den Augen von E. T. A. Hoffinann liest.
Ich möchte die fantastische Literatur hier nicht weiter untersuchen und mich
sie sich von der Gleichsetzung des Begriffs des Klassischen mit dem des Voll
Wurzeln hat. Es ist außer Zweifel, dass damit der Modellcharakter der Antike
außer Kraft gesetzt und der humanistischen eine 'modeme' Literaturästhetik als
nun einem anderen Aspekt von Nördlichkeit zuwenden, bei dem es um die 16 1
7 18
1
9
"L'imagination est une faculte active, a la fois echo et miroir de la nature qui l'environne" (ebd., S. 3 88). Ebd. Ebd. Smarra, Trilby et autres contes. Chronologie, preface bibliographie et notes par Jean-Luc Steinmetz, Paris 1 980, S. 145.
20 2\ 22
"Le tableau des nations barbares offre je ne sais quoi de romantique, qui nous attire." (Chateaubriand, Essai [wie Anm . 6], S. 1 70). "Nous aimons qu'on nous retrace des usages differents des nötres, surtout si les siecles y ont imprime cette grandeur qui regne dans les choses antiques, comme ces colonnes qui paraissent plus beiles lorsque la mousse des temps s'y est attachee." (ebd., S. 1 70). Stael, De l'AIIemagne (wie Anm. 7), S. 6 1 .
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Bilder des Nordens i n der französischen Literatur der Romantik
Volker Kapp
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legt, sondern hebt bewußt auf das Klischee des fremden Nordens ab. Er möchte den Leser provozieren und schreibt deshalb beschwichtigend:
konkurrierendes Modell zur Seite gestellt wird. Es fragt sich aber, wie diese Vorstellung von Modernität zu verstehen ist. In seinem Aufsatz "Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität" beruft sich Hans Robert Jauß auf Stendhals Pamphlet Racine et Shakespeare, um den Begriff der Romantik in die Vorgeschichte des Konzepts der Modernität einzuordnen, wie er es bei Baudelaire grundgelegt sieht. Mit einer für ihn typischen Stilfigur behauptet er, Stendhals Definition habe "mit der bisherigen Geschichte des Wortes [gebrochen] und seine traditionelle Grund bedeutung gerade ins Gegenteil" verkehrt?3 Die berühmte Definition des Romantischen, die Jauß im Auge hat, setzt die Romantik als Literatur, die dem Volk mit Bezug auf die Gegenwart höchstes Vergnügen bereitet, den klas sischen Werken entgegen, die früheren Generationen einmal gefallen hatten?4 Damit übernimmt, so Jauß, der Begriff des Romantischen die Funktion, die ur sprünglich der lateinische Begriff "modemus" hatte, und erhält die "Bedeutung des Aktuellen", dem keine "autoritative Vergangenheit" gegenübersteht.25 Diese pointierte Formulierung von Jauß entzieht dem romantischen Gegen konzept zur klassisch-humanistischen.. Literaturästhetik ihr historische� F�nda ment und löst sie völlig von allen Uberlegungen, die aus dem Osslamsmus hervorgegangen sind. Jauß liest Stendhals Schrift selektiv, andernfalls hätte ihn der dort erwähnte26 Titel Han d'Islande, ein früher Roman von Victor Hugo, darauf hinweisen müssen, dass der Norden für die französischen Romantiker sicherlich ebenso charakteristisch ist wie der Gegenwartsbezug. Jauß hat zwar insofern recht, als Hugo hier seine Bearbeitung eines nor dischen Stoffes durch eine ironische Vergegenwärtigung der Poetik des he roisch-galanten Romans von Mademoiselle de Scudery herausstellt. Im 9. Ka pitel lässt er einen Offizier die Geschichte des berühmten Räubers Han d'Islande nach dem Muster dieses Romantypus des 1 7. Jahrhunderts skizzieren. "[ .. . ] les aventures de Han pourraient fournir un roman delicieux, dans le genre des su [ . .. ]. II faudrait, par exemple, adoucir blimes ecrits de la demoiselle Scudery . 1 ler nos noms barbares. ,,27 Der d'fi mo l11ons, d· tra nos orner notre c1imat, Romancier folgt aber nicht dem Plan, den er hier einem Offizier in den Mund
Que le lecteur ne s'etonne pas si nous rencontrons souvent des ruines a Ja cime des monts de Norvege. [... ] En Norvege surtout, au siecle ou nous nous sommes transportes, ces sortes de constructions aeriennes etonnaient autant par leur variete zs que par leur nombre,
Die Handlung ist auf 1 699 datiert29 und spielt sicherlich u.a. deshalb in Trondheim, weil diese Stadt eine Kirche besitzt, die Hugo als "un des plus beaux morceaux de l'architecture gothique" bezeichnet. 30 Hugo verlegt die Handlung seines Romans nach Norwegen, weil er so dem französischen Leser vorgaukeln kann, daß im rauhen Norden im 1 7. Jahrhundert Sitten herrschten, die denen von Frankreich unter Ludwig XIV. völlig entgegengesetzt sind. Der Roman des jungen Hugo, dessen Handlung im femen Norden situiert ist, erschien in eben jenen Jahren, als Stendhal seine Artikelserie Racine et Shakespeare publizierte. Diese Amputation des romantischen Selbst verständnisses durch Jauß kommt einer Marginalisierung der Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik gleich, die ich nicht hinnehmen kann. Deshalb möchte ich dem verkürzt einseitigen Begriff des Romantischen bei Jauß die These entgegensetzen, dass es bei den Bildern des Nordens in der französischen Literatur der Romantik um eine Vorstellungswelt geht, die - mit der Terminologie von Jauß gesprochen - gegenwärtiges Bewusstsein mittels Oppositionsbeziehungen zu autoritativer Vergangenheit artikuliert. Die Konstruktion nördlicher Bilder dient nämlich dazu, die für Frankreich ohnehin zentrale Bindung an Rom durch eine zusätzliche Rückkoppelung an die keltischen Ursprünge zu ergänzen, um dadurch dem seit der Aufklärung mit dem Rationalismus gleichgesetzten Klassizismus ein irrationales Korrektiv entgegenzusetzen, das nicht nur der logischen Strenge der Prosa das freie Spiel der Poesie, sondern auch dem hellen Licht des Verstandes die dunklen Seiten des schwer Durchschaubaren, Geheimnisvollen oder sogar Furchtbaren entgegensetzt. Chateaubriand benennt diesen Antagonismus treffend in seinen Memoires d'Outre-Tombe anlässlich des Todes von Louis de Fontanes ( 1 75 7- 1 82 1 ), den er den letzten Schriftsteller der klassischen Schule nennt. Er reiht Fontanes unter die Melancholiker ein und sieht in ihm einen Nachfahren von Rousseau, aber auch von Fenelon, somit einen Autor, dessen Wurzeln bis in die Epoche des Sonnenkönigs zurückreichen. Dem Klassizisten Fontanes stellt er sich selbst als Romantiker entgegen und erklärt rundweg, mit ihm hätte die romantische Schule begonnen, die eine Revolution in der französischen Literatur bedeutet hat.
23 Hans Robert JauB, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1 970, S. 52. 24 "Le romantisme est rart de presenter aux peuples les reuvres litteraires qui, dans I'etat
actuel de leurs habitudes et de leurs croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible. Le classicisme, au contraire, leur pn!sente Ja litterature qui donnait Je plus grand plaisir possible a leurs arriere-grands-peres." (Stendhal, Racine et Shakespeare, in: Oeuvres completes, texte etabli et annote avec preface et avant-propos par Pierre Martino, nouvelle edition, Geneve 1 970, S. 39). 25 lauB, Literaturgeschichte (wie Anm. 23), S. 53. 26 Stendhal, Racine et Shakespeare (wie Anm. 24), S. 72. 27 Hugo, Roman 1. Han d'Islande, in: Oeuvres completes, Paris 1926, S. 1 03 .
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Ebd., S. 253. Ebd., S. 32. Ebd., S . 3 3 .
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Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
Volker Kapp
unterscheiden. Die Bilder des Nordens gehören zur Fiktionalität, doch erhalten sie gerade dadurch ihre Wirkmacht, dass sie mit Bildern der klassisch antiken Vorstellungswelt ausgetauscht werden können. Damit kommen wir zu einer weiteren Facette der Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik.
Worin manifestiert sich diese Revolution? In einer Welt, die mit den üblichen Regeln des klassisch humanistischen Literaturverständnisses nicht in Über einstimmung gebracht werden kann. 3 1 Nun muss man aber wissen, dass Fon tanes zu den Verehrern von Ossian gehörte und in seine Dichtungen ebenso wie Chateaubriand selbst intertextuelle Bezüge zu Ossian einarbeitet. Außerdem hat er Chateaubriand die Rückkehr nach Frankreich und den Beginn seiner lite rarischen Karriere im Kaiserreich ermöglicht. Er hat ihn dazu angehalten, eine der möglicherweise misslungenen Nachahmungen von Ossian aus seinem Roman Atala herauszunehmen und durch eine umgearbeitete Fassung zu er setzen. Geschah dies alles nur aus Freundschaft oder wäre es nicht genauso denkbar, dass Fontanes neben dem von Chateaubriand betonten Fremden auch etwas Verwandtes in der romantischen Literatur gesehen hat?
Victor Hugo schreibt im Juli 1 876, dass Paris Rom besiegen werde, wobei Rom für ihn die Religion, Paris die Vernunft symbolisiert. Er behauptet dabei kategorisch: "L'äme de la vieille Rome est au� ourd'hui dans Paris. C'est Paris qui a le Capitole; Rome n'a plus que le Vatican." 3 Er spricht hier nicht vom Norden, aber es ist offensichtlich, dass er die alte Rivalität zwischen den beiden Städten im Auge hat und damit auch das Zentrum Europas vom Süden nach Norden verlegen will. Die Romantiker ftihlten sich in gewisser Weise als Erben der Französischen Revolution, doch kann man nur mit großen Einschränkungen von einer Zäsur sprechen, wenn man von der Wirkung der Revolution auf die französische Literatur spricht. Bezüglich der Antikenverehrung gibt es höchstens eine Verschiebung vom kaiserlichen zum republikanischen Rom, aber keineswegs einen Bruch mit dem Alten Rom. Als das französische Heer 1 798 das päpstliche Rom eroberte, verlas Feldmarschall Louis-Alexandre Berthier eine Erklärung, in der die Manen von Cato, Pompeius, Brutus und Cicero als Zeugen daftir angerufen werden, dass die "Kinder der Gallier" lediglich den Römern ihre alte Freiheit zurückgeben wollen.34 Die französische Armee soll nicht nur die alte Republik der Römer wiederaufleben lassen, sondern auch hinter die Christianisierung zurückgehen und eine neue Form des Heidentums durchsetzen. Die Antike ist dabei ein bevorzugtes Feld zum Austragen kon kurrierender Machtansprüche, da der Papst in Rom seit jeher die römische Kirche als legitime Erbin des Alten Rom hingestellt hat. 3 5
Die Konkurrenz alternativer Möglichkeiten von klassischer und romantischer Dichtung dient sicher nicht nur der Verlebendigung einer von der Blässe des Gedankens bedrohten Phantasie, auch wenn die Reaktion gegen die Aufklärung eine der zentralen Komponenten der französischen Romantik ist. Gerade die in der Forschung heftig umstrittene Konstruktion einer bis in die Mitte des 1 8. Jahrhunderts, somit also bis ins Zentrum der Aufklärung hineinragenden Früh romantik spricht gegen eine Verabsolutierung der "romantischen Revolution". Die Konstruktion von Nördlichkeit weist über die Entgegensetzung von Auf klärung und Romantik hinaus auf etwas beiden Epochen Gemeinsames hin, das diesen Bildern des Nordens überhaupt erst ihren eigentlichen Sinn verleiht. Hier müssen wir nochmals auf die deutliche Unterscheidung zwischen den Konstruktionen von Nördlichkeit und dem tatsächlichen Norden dringen und betonen, dass die Vordenker romantischer Nördlichkeitskonzepte beides klar trennen. Madame de Stael will in Deutschland vorwiegend historische Zeugnisse aus mittelalterlicher Zeit wahrgenommen haben, weil diese zu ihrem Konzept von moderner, romantischer Literatur passen. Sie behauptet aber nie, irgendwo Zwergen begegnet zu sein, die damals offensichtlich noch nicht zur Dekoration der Anwesen eines bestimmten Typs von Deutschen gehörten. Chateaubriand verrät einen wachen Sinn für literarische Konventionen, wenn er in den Memoire d'Outre- Tombe seine Schwester Lucile einerseits als Gestalt in einem schottischen Roman von Walter Scott für großartig und andererseits als vereinsamte junge Frau auf einer Burg in der Bretagne für unglücklich hält: "Dans 1es bruyeres de la Ca1edonie, Luci1e eilt ete une femme celeste de Walter Scott, douee de la seconde vue ; dans les bruyeres armoricaines, elle n'etait qu'une solitaire avantagee de beaute, de genie et de malheur.,,32 Auch wenn der Memoirenschreiber hier ftir die Bretagne die alte Bezeichnung Armorika benutzt, weiß er genau zwischen literarischer Fiktion und Wirklichkeit zu 31
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Die Ideologie der Revolutionäre lässt sich vielleicht am besten mit der Formel "Rallumer Ie flambeau de l'Antiquite" des französischen Archäologen Quatre fiere de Quincy ( 1 75 5 - 1 849) kommentieren, die Starobinski zitiert und mit der Bemerkung einführt, dass die in Rom versammelten Kunsttheoretiker das Ge fiih l hatten "de participer a une revolution qui est une resurrection. ,,3 6 Die französischen Vorreiter des Neoklassizismus in Rom verdanken ihre Neuauflage der Renaissance weniger den Zeugnissen des Altertums, die sie vor Augen 33 34 35
Vgl. Chateaubriand, Memoires d'Outre-Tombe. Nouvelle edition critique, etablie, presen tee et annotee par lean-Claude Berchet, 2 vol., Paris 1 989, vol. 1 , S. 592-602. Ebd., S. 2 1 6.
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Victor Hugo, Oeuvres completes. Actes et paroies III depuis I'exil 1 870-1 876, Paris 1 927, S. 39. Vgl. dazu Volker Kapp, Revolution und Rhetorik in Italien, in: Die Revolution in Europa erfahren und dargestellt, hrsg. von Siegfried lättner, Frankfurt 1 99 1 , S. 1 3 1 -147, hier: S. 1 34 f. Vgl. dazu Volker Kapp, Die Antike als Darstellungsmuster weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums, in: LiteraturwissenschaftIiches Jahrbuch 3 1 ( 1 990), S. 6994. Jean Starobinski, 1 789. Les emblemes de la raison, Paris 1 979, S. 96.
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Volker Kapp
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haben als der Lektüre von Winckelmann und Mengs, die sie als Repräsentanten des n Ördlichen Humanismus ansehen. Doch sollte man auch hier wiederum nicht am Detail kleben bleiben, sondern sich ins Gedächtnis rufen, dass dieser Neo klassizismus von den Revolutionären an das Kaiserreich weitergegeben wurde und im Maler Jacques Louis David ( 1 748-1 825) seine emblematische Aus prägung findet. 3 7
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Segnungen französischer Lebensanschauung zu vermitteln oder womöglich - so wie die Armeen der Revolution und von Napoleon - sogar ihren politischen Willen aufzuzwingen. Der Mythos von Paris überlagert dabei den Mythos von Rom.4 1
Damit komme ich zum Schluss und möchte statt einer Zusammenfassung nochmals folgendes betonen: Die französische Romantik stellt einem vom Bürgertum konservativ gepflegten Neoklassizismus als Alternative einen Kult des Nordens entgegen, dessen Status Analogien mit dem Kult der Antike auf weist. Das vieldeutige Klischee von der Literatur des Nordens ist ihr willkommen, weil es für die unterschiedlichsten Zwecke verwendbar ist. Es ist genauso schwammig wie das Konzept der Literatur des Südens, der die antike Literatur zugerechnet wird. Was Madame de Stael in ihrem Roman Corinne (1 807) bezüglich der Skulpturen schreibt, ist für das romantische Verständnis des Gegensatzes von Norden und Süden charakteristisch, dass nämlich der Genius, der im Norden die Künstler innerlich aufwühlt, im Süden lediglich zu einer zusätzlichen Qualität der ausgewogenen Harmonie wird.45 Dies ist die Überzeugung der Frau, die mit ihrer Schrift De la Litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales ( 1 800) den Übergang von der Auf klärung zur Romantik einleitet.
Die Hinwendung zum Norden in der Literatur der französischen Romantik steht in der Traditionslinie des bis ins Mittelalter zurückreichenden Konkurrenz kampfes zwischen Paris und Rom um die Führungsrolle innerhalb der :uropäi . sehen Kultur. Die Kulturpolitik des Sonnenkönigs verfolgte systematisch die 0 Zielsetzung, Paris zur Hauptstadt der Gelehrtenrepublik zu erheben.4 Sie h�t mit dem Siegeszug der französischen Sprache und Kultur den Vorrang vo� PariS etabliert und den philosophes wie den Revolutionären das Bewusstsem ve� mittelt, dass sie diese Position ausbauen müssen, um dem übrigen Europa die 38
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
Victor Hugo hat Paris in seiner Poesie ins Erhabene gesteigert. In seinem Ge dicht über den Triumphbogen nennt er Paris "la cite mere" und vergleicht sie mit Memphis und Rom.4 2 Karlheinz Stierle kommentiert diesen Text mit der Bemerkung: "Paris ist die brausende Mitte des bruit du monde, die alles über tönt,,43 , und er erkennt richtig, dass Hugo die gegenwärtige Stadt in eine imagi näre Vergangenheit [rückt] und sie so ins Mythische hebt.44 Dieses Mythische rührt aber nicht nur von einer imaginären Vergangenheit, sondern von der ideo logischen Konstruktion her, die Paris als neues Rom im Sinne der translatio imperii et studii deutet. Deshalb schlägt Hugo in seinem Roman Notre Dame de Paris nostalgische Töne an, wenn er das mittelalterliche Paris der Renaissance annähert.
David ist in diesem Zusammenhang auch deshalb von Interesse, weil Stendhal im Vorwort von Racine et Shakespeare die Lage des französischen Theaters im Jahre 1 823 mit der Davids im Jahre 1 780 vergleicht, der mit der klassizistischen Manier eines Le Brun brechen musste, um sein berühmtes Gemälde der Horatier malen zu können? 8 An späterer Stelle räumt Stendhal ein, dass David vielleicht den Großen des 1 7. Jahrhunderts wie Le Brun nicht das Wasser reichen konnte, doch ist er der Meinung, dass ohne ihn die Kunst des Kaiserreichs und der frühen Romantik undenkbar gewesen wären. 39 David hat antike Klischees dazu benutzt, um zunächst in Rom den Papst und dann in Paris dessen Gegenspieler Napoleon zu verherrlichen. Er wurde aber auch von Napoleon beauftr�gt, . Szenen aus Ossian einer der Lieblingslektüren des selbst ernannten Kaisers, ms Bild zu setzen. B ;ide Muster, die dem Süden zugerechnete Antike und der im Norden situierte Ossiankult, werden zwar gegeneinander ausgespielt, aber bilden doch entgegengesetzte Pole eines einzigen, umfassenden Konstrukts, das eine mythische Basis für Machtansprüche liefert. Wie aber die offizielle Kult�r des Kaiserreichs den klassizistischen Geschmack mit dem Kult des nordischen Barden Ossian zu vereinbaren sucht, so können auch die Vordenker der franzö sischen Romantik nicht aus diesem Spannungsfeld einer als südlich inter pretierten Antike und eines mit der Antike konkurrierenden Mythos des Nordens ausbrechen.
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41 42
Vgl. ebd., S. 65-82. . "La poesie dramatique est en France au point OU le celebre David trouva la pel�ture vers 1 780. [ ... ] M. David apprit a la peinture a deserter les traces des Lebrun et es Mlgnard, et a oser montrer Brutus et les Horaces." (Stendhal, Racine et Shakespeare [wie Anm . 24], S. 26). Ebd., S. 49. Vgl. dazu Mare Fumaroli, Rome et Paris - Capitales de la Republique europeenne des Lettres, Hamburg 1 999, S. 2 1 -68; sowie mein Vorwort zu diesem Werk, bes. S. 7- 1 7.
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Diesen Aspekt hat Karlheinz Stierle in seinem ansonsten bemerkenswerten Buch völlig übersehen: Vgl. ders, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1 993. Hugo, Oeuvres poetiques. Preface par Gaetan Pieon; edition etablie et anno tee par Pierre Albouy, 3 vol., Paris 1964 (Pleiade), vol. 1 , S. 938 f. Ebd., S. 660. Ebd., S. 66 1 . "Mais les statues [ ... ] offrent une image de I'etemelle tranquillite, qui s'accorde mer veilleusement avec l'effet general du Midi sur I'homme. II semble que la les beaux-arts soient les paisibles spectateurs de la nature, et que le genie lui-meme, qui agite l'äme dans le Nord, ne soit, sous un beau eie!, qu'une harmonie de plus" (Germaine de Stael, Corinne ou I'Italie; in: Oeuvres completes [wie Anm. 7], vol. 1 , S. 725 f.).
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Volker Kapp
Madame de Stael stellt in diesem Werk die viel zitierte These auf, dass es im Norden und im Süden zwei völlig verschiedene Literaturen gebe, deren eine auf Homer, deren andere auf Ossian zurückgehe. Die Griechen, Römer, Italiener und Spanier sowie die Franzosen zur Zeit Ludwigs XIV. rechnet sie der Lite ratur des Südens zu, während die englischen, deutschen und einige dänische und schwedische Werke zu der des Nordens gehörten, die mit den Gesängen der schottischen Barden, der isländischen Sagas und der skandinavischen Poesie begonnen habe. Diese an der Wende vom 18. zum 1 9 . Jahrhundert keineswegs originelle Meinung erlaubt es der Verfasserin, die Behauptung aufzustellen, dass die Engländer und die Deutschen nur dort originell sind, wo sie wie Ossian durch die nordische Mythologie geprägt sind, während ihre Beschäftigung mit der Antike weniger fruchtbringend gewesen sei.46 Mit diesem kühnen Urteil trägt Madame de Stael eines der Vorurteile der italienischen Humanisten weiter, das die Humanisten des Nordens, allen voran Erasmus von Rotterdam, in Rage versetzt hat. Sie kannte diesen historisch bedeutsamen Streit vermutlich gar nicht und hätte ihn auch nicht verstehen können, weil sie ihn letztlich von Rom nach Paris verlegt und trotz aller Bewunderung fur die deutsche Kultur und Lite ratur Paris und der französischen Kultur den Vorzug gibt. Wie Madame de Stael konstruiert die romantische Literatur ihre Bilder des Nordens letztlich immer im Gegenzug zu Bildern des Südens und bezweckt damit zweierlei: Einerseits eine Ausweitung des Raumes im Vergleich zu der auf den Raum des Mittelmeeres zentrierten klassizistischen Literatur, und andererseits eine Ausweitung der Geschichte über die römische Kolonisierung Galliens hinaus bis zu jenen schwer zu fassenden keltischen Ursprüngen hin, über die eine Verwandtschaft der Franzosen mit den Völkern des Nordens herausgearbeitet werden kann. Auch wenn die Romantiker die Blickrichtung wechseln und eher von Norden nach Süden als von Süden nach Norden blicken, bleiben sie derselben Dichotomie von klassisch und modem verpflichtet wie ihre Gegner. Die von ihnen entwickelten Bilder des Nordens dienen letztlich genauso der Stärkung des französischen kulturellen Hegemonialanspruchs, wie ihn auch ihre klassizistischen Antipoden mit Berufung auf das als Klassik glorifizierte Zeitalter Ludwigs XIV. vertreten. Mit dieser Schlussfolgerung möchte ich selbstverständlich nicht bestreiten, dass die Imagination des Nordens sich ver selbständigt und sich beispielsweise in der fantastischen Literatur von der poli tischen Funktionalisierung löst, doch können solche in sich literarisch höchst bedeutsamen Erscheinungen nur dann sinnvoll in das Erscheinungsbild der Romantik eingeordnet werden, wenn man sich bewusst macht, dass die Ent46
"Les Anglais et les Allemands ont, sans doute, souvent imite les anciens. Ils ont retire d'utiles le90ns de cette etude feconde ; mais leurs beautes originales portant l'empreinte de la mythologie du Nord, ont une sorte de ressemblance, une certaine grandeur poetique dont Ossian est le premier type" (Germaine de Stael, Oeuvres completes [wie Anm. 7], vol. 1 , S. 252).
Bilde r des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
121
deCkung und Nutzung des Nordens für die Literatur . sich in eine Lan zeit pers�e�tJ.:e emsc hreibt, die trotz aller Brüche und Verwerfungen in Hinbli;k auf klaSSIZIstIsche Vorstellungen ein erhebliches Maß an Kontinuität aufweist.
POPULÄRE BILDER VOM NORDEN IM 1 9 . UND 20. JAHRHUNDERT Silke Götlsch-Elten
Volkskunde beschäftigt sich im Gegensatz zu den meisten anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen nicht mit den Spitzenprodukten der Kultur, nicht mit den großen Ereignissen der Weltgeschichte. "Volkskunde", so hat Hermann Bausinger das einmal treffend formuliert, " [ . . . ] bereitet ihre opulentesten Mahlzeiten aus dem Gnadenbrot vieler anderer Disziplinen". I Was diese mit Verweis auf die künstlerische Qualität oder auf die Bedeutung für das Weltgeschehen als trivial oder banal abtun, das untersucht in der Regel die Volkskunde. Es geht nicht um Leonardo da Vinci, sondern um den Röhrenden Hirschen, nicht um die großen Kriege, sondern um deren Verarbeitung im auto biographischen Erzählen oder in Liedern, so könnte man plakativ und exem plarisch diese Differenz skizzieren. Für die Volkskunde sind diese Bereiche nicht "trivial", sondern werden als Ausdruck einer populären Kultur interpretiert, es geht um ihren Stellenwert in der Alltagskultur, altertümlich ausgedrückt um ihren Sitz im Leben. Volkskunde fragt, so könnte man zusammenfassen, nach der Aneignung und Deutung der Welt durch die Menschen, nach dem kollek tiven Zeichen- und Symbolsystem also, das Menschen ausbilden, um sich die Welt, in der sie leben, anzueignen und sie zu interpretieren. Nicht wissen schaftlich fundierte Weltbilder, wie sie in Geistes-, Natur- und Technik wissenschaften entworfen werden, sondern die Analyse von Alltagswissen, also jener unhinterfragten Wissensbestände und Verhaltensweisen, mit denen wir unsere sozialen Beziehungen routinisieren, unsere Umwelt wahrnehmen und unser Verhalten organisieren, ist das Feld der Volkskunde. Populäre Vor stellungen und Bilder formen das Alltagswissen, sind kollektiver Bestandteil unserer Kultur und dienen der Verständigung über die Weit. Sie entstehen nicht von selbst, sondern sind Ergebnis eines Prozesses, in dem Neues und Fremdes so aufbereitet und modelliert wird, dass es in das bereits vorhandene Wissen über die Welt integriert werden kann und so scheinbar oder tatsächlich verstehbar wird. Die Deutungsmuster gewinnen ihre Plausibilität aus der jeweiligen Lebenswelt.
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Es wird also nicht um die ästhetische Entdeckung des Nordens gehen, die seit dem Ende des 1 8. Jahrhunderts durch die bildungsbürgerlichen Eliten betrieben wurde, sondern um die Vermittlung von Vorstellungen über den Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert an eine breite soziale Schicht, also um die Frage, welche Medien daran beteiligt waren, welche Ausdrucksformen verwendet wurden und welche Inhalte die Bilder, die dann zu Alltagswissen, zu in unterschiedlichen Hennann Bausinger, Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde, in: Zeitschrift rur Volkskunde 65 (1 969), S. 232-250, hier: S. 239.
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Populäre Bilder vom Norden im 19. und 20. Jahrhundert
Silke Göttsch-Elten
1 24 Kontexten
(Werbung,
Tourismus,
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Lebensstil)
verfügbaren
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Zeichen
Wie kein Jahrhundert zuvor und vielleicht auch danach hat das
und
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1 9. Jahrhundert
mit Medien experimentiert. Die "Sehsucht", die Lust an Bildern hat eine Fülle
Symbolen werden konnten, enthie ten. Die Zei� hen und Symbole se st werde . in der Regel mit dem aus der Sozmlpsychologle entlehnten Begnff Stereotyp bezeichnet der ein für die kulturwissenschaftliche Forschung zentrales Konzept
medialer Darstellungsformen entstehen
lassen, von denen manche heute
vergessen sind, vieles aber von dem, was vermittelt wurde, in seiner ikono
�
darstellt. S ereotyp, so Hermann Bausinger, sei der wissenschaftliche Begriff für 2 eine unwissenschaftliche Einstellung, damit hat er auf die Differenz zwischen
kurzer Bhck auf die früheste Massenillustrierte, das Pfennigmagazin, stehen, um
Walter Lippman in seinem Buch
Weltausstellungen und Völkerschauen vorgestellt werden und schließlich wird
graphisc�en Kraft bis heute fortwirkt. Am Anfang der Überlegungen soll ein
� wurde 1 922 von Public opinion geprägt. Llppman verstand
empirischer Analyse und Alltagswissen verwiesen. Der Begri
auf ältere Formen der kulturellen Vermittlung hinzuweisen. Ausführlicher sollen
darunter Fiktionen und B ilder in unseren Köpfen, die weder wahr noch falsch
es kurz um die Verdichtung populärer Bilder vom Norden im Kaiserreich gehen
dafür werden vor allem die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelm
sind schematische Modelle bzw. Karten der sozialen Umwelt also, die wie eine
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und die Bilde
legungen am Schluss werden die Nachwirkungen bis in die Gegenwart skizziert.
somit wertneutral, müssen also nicht negativ konnotiert sein.
Auf die Germanophilie, die frühen rassekundlichen Ansätze und die Lebens
Die modeme Sozialpsychologie hat diesen Ansatz weiterentwickelt und
definiert Stereotyp als
11.
des schwedischen Malers earl Larsson stehen. Mit einigen knappen Über
Anl itung zum Sehen, zur Wahrnehmung der Welt fungieren. Stereotype sind
reformbewegung, die ebenfalls mentaler Ausdruck des Kaiserreichs waren soll
kognitives Schema, das es erlaubt, Informationen schnell
; und
und effektiv zu verarbeiten und somit der problemlosen Orientierung in unserer
an dieser Stelle nicht eingegangen werden, weil hiermit ein ganz andere
lichkeit und Akzeptanz in der jeweiligen Gruppe.
Das Pfennigmagazin
n, Stereotype haben nicht unbedingt negative gesellschaftliche Funktione serer un Faktor nder sondern sind ganz im Gegenteil notwendiger und stabilisiere . lebensweltlichen Erfahrung. Es geht also nicht darum, Stereotype auf Ihren Wahrheitsgehalt an einer wie auch immer definierten Wirklichkeit zu über llt, prüfen. Ihre positive gesellschaftliche Wirkung ist, wie Bausinger . herausst� Onen bieten gehalt, Wahrheits relativen einen enthalten Sie bar. unüberseh tierungsfunktion in einer ständig komplexer werdenden Umwelt an und haben
Mit der Auflösung der räumlichen und sozialen Horizonte seit dem Beginn der
sehr komplexes Feld aufgemacht werden würde.
Umwelt dient. Stereotype beruhen wegen ihres Zwanges zur Reduktion auf 3 fehlerhaften und formelhaften Denkprozessen. Übergeneralisierung und Akzen tuierung prägen das Spezifische des Stereotyps und bedingen seine Eindring
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1 25
Frühen Neuzeit (Entdeckungsfahrten, Entstehung der empirischen Wissen
schaften) und vor allem mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft am Ende es 1 8. Jahrhunderts (allgemeine Schulpflicht, Professionalisierung
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akademischer
�
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3
Mobilität,
Ausbildung
der
Industrie
und mehr enntnis über die Welt jenseits ihrer unmittelbaren Erfahrung. . . M dlen bere tete das Wls en auf und sorgten für dessen Verbreitung. Für die � � � : Frühe NeuzeIt sei nur an die Bedeutung der Flugblätter und Flugschriften und der Jahrmärkte erinnert, auf denen das Exotische vorgeführt wurde (also: der . ES lmo, der EIch), allerdings ohne es zu kontextualisieren, der Reiz der Fremd
�
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heit erschöpfte sich im Anblick selbst. Der Bildungsanstieg im 1 9. Jahrhundert
vermehrte das Wissen über die Welt und damit auch die Rezeptionsweisen. Es entstanden Zeitschriften, die ein breiteres Publikum als Leser anvisierten.
präsentieren.
2
wachsende
�
deren eine realitäts stiftende Wirkung, d.h. sie erzeugen eine neue Wirklichkeit, kann. sein tand gesellschaftliche Konstruktion wiederum Untersuchungsgegens von Entstehung die für e In diesem Sinne interessiert sich die Volkskund den nach Frage die spielt Dabei g. Vermittlun Stereotypen und deren kulturelle Ver deren und llungen Wertvorste und Bildern egenden ihnen zugrundeli en zu änderung im historischen Verlauf eine wesentlich� Roll.e. S ereo pe wer einem großen Teil durch Medien geprägt und tradiert, die mIt den Ihne� eigenen und Inszenierungs- und Vermittlungsstrategien Wirklichkeit bündeln, zuspItzen
:
Berufe,
ges�llschaft �chs d�s Wissen über die Welt stetig an. Auch Bevölkerungs schichten, die bisher nIcht an den Wissenszuwächsen teilhatten, erhielten mehr
Die erste deutsche Illustrierte war das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbrei:un? gemeinnütziger Kenntnisse,4 Vorbilder mit fast gleichem Titel gab
Hermann Bausinger, Name und Stereotyp, in: Stereotypenvorstel lungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkrei s Fremdbilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift für Georg. R. Schroubek zum 65. Geburtstag, hrsg. von Helge Gerndt, München 1 988, S. 1 3-19, hier: S. 13. Peter o. Güttler, Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen, 3. Aufl., MünchenlWien 2000, S. 1 1 0-1 12.
es bereIts In den USA. In Deutschland erreichte dieses Magazin sehr schnell hohe Auflagenzahlen, schon 1 833, im ersten Erscheinungsjahr, wurden 30 - 3 5
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Zur Charakterisierung vgl. Andreas Schmidt, "Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze �rde weint [ . . . ]". Zur kulturellen Vermittlung von Naturkata strophen in Deutschland 1 755 bis 1 855, Münster u. a. 1999, S. 1 66-1 70.
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Silke Göttsch-Elten
Populfu"e Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
Tausend Stück von einer Auflage gedruckt und verkauft, was sich in den folgenden Jahren auf 1 00 .000 Stück steigern sollte. Aber bereits in den 1 840er Jahren kam es zu einem starken Rückgang in der Auflagenhöhe, weil das Inte resse an tagespolitischen Ereignissen wuchs, das durch die aktuellen Tages zeitungen befriedigt wurde. Das Pfennigmagazin hingegen orientierte sich stärker an den Bildungsidealen des 1 8. Jahrhunderts, man setzte auf Volks aufklärung und nicht auf Information für den modemen Leser.5 Das Anliegen war Belehrung, die Tradition der Spätaufklärung lebendig. Dem Norden wurde übrigens nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen Regionen der Welt. Besonders intensiv war die Berichterstattung über Island und Lappland, in den Augen der Leser sicher exotischere Regionen als Norwegen und Schweden, die überwiegend mit Geschichten über ihre Könige und damit in dynastischen Bezügen thematisiert wurden. Die Beschreibungen bewegten sich durchweg in den gängigen aufklärerischen Wahmehmungsschemata. Behandelt werden Land und Leute, also Naturkunde, die Wirtschaft und Lebensverhältnisse von Menschen und ihre Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten. Die bei gegebenen Illustrationen vermitteln den Eindruck von Momentaufnahmen, allerdings ohne das Pathos der in jener Zeit entstehenden Volkslebensmalerei, die es versteht, Volkskultur zu Stimmungen zu verdichten. Noch bestimmt die Vermischung von Merkwürdigkeits- und Tatsachenblick, wie sie für das Genre spätaufklärerischer Landesbeschreibung typisch ist, Wahrnehmung und Ver mittlung. Die ethnozentristische Perspektive der Schilderungen war unüber sehbar, d. h. man beschrieb, was man auch in der eigenen Kultur für wichtig hielt: Behausung, Kleidung, Erwerbsstruktur und Nationaleigenschaften. Die Maxime bürgerlicher Tugenden wurden übertragen: Man vermisste den not wendigen Fleiß, was durch die langen Nächte erklärt wurde, es wurde auf mangelnde Sauberkeit, fehlende Hygiene hingewiesen, die Krankheiten begünstigte.6
Die Entstehung des Massenpublikums Seit Beginn des 1 9. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis nach Authentizität nach d�r Echtheit der Informationen. Es entstand eine Vielzahl von Medie� die dlese� Bedürfnis Rechnung trugen, man kann es als das Jahrhundert' der . . Vlsu�hslerung bezeich?en. Am Ende des Jahrhunderts stand die Entwicklung des Films als das das Hier und Jetzt aufhebende Medium.
�it Visualisierung sind allerdings nicht nur zweidimensionale Bilder ge memt, sondern auch "Kulturinszenierungen" in einem umfassenderen Sinne also die Versuche, Handlungen oder Vorstellungswelten auf eine Effekt� dramaturgie hin zu konzipieren,1 dazu gehörten z. B. Panoramen, Dioramen, a�er auch Ausstellungskonzeptionen jener Zeit. Voraussetzung für diese Ent �icklung war das Entstehen �ines Massenpublikums und damit die Ausbildung emer Unterhaltungskultu�, �ie den Gesetzen der Kommerzialisierung folgt. YR?essa R. .Schwartz hat m emem Aufsatz über die Vergnügungskultur in Paris m Jener Zeit beschrieben, wie sich im Umgang mit den neuen Etablissements Flänerie, ein Begriff, den sie in Anlehnung an den Flaneur von Walter Benjamin präg�, als spezifische For;:n der Wahrnehmung des entstehenden großstädtischen . P�bhkums herausbildet. Der umherschweifende Blick des Betrachters wird nIcht mehr durch das pädagogische Bemühen eines Autors konzentriert wie noch beim Pfennigmagazin, sondern die Wirkung der Unterhaltungsindustrie b �ru�t auf dem Angebot ständig neuer optischer Reize. Schwartz hat an Pariser Emnchtungen (Leichen�chauhaus Morgue, Wachsfigurenkabinett) gezeigt, dass . d!ese Zuschaue�schaft eme neue ausgeprägte Lust an der Realität implizierte, die . Sich, so ihr FaZit, aus dem Verschwinden der Grenze zwischen Kunst und Wirk lic�keit ��gab, daraus, dass Wirklichkeit in ein Schauspiel verwandelt wurde und . gleichzeitIg die Schaustellungen immer realistischer wurden. Die Gier nach ,,\uthent.izität . wurde �it Simulation von Wirklichkeit befriedigt, aber da die S�mulatton mit authenttschen Versatzstücken angereichert war vermischten sich di� Eindrücke zu einer untrennbaren Einheit. Um diesen Effekt zu erzielen ent Wickelte das späte 19. Jahrhundert neue Formen der Inszenierungen Zwei "Kulturinszenierungen", Weltausstellungen und Völkerschauen, soll�n im Folgen?en vorgestellt werden, um an ihnen exemplarisch zu zeigen, wie die Kontunerung des Stereotyps von Nördlichkeit geleistet wurde wie Versatz stücke ein�r Kultur zu einem unve�echselbaren Ensemble kom oniert wurden, . . aus dem die skandm�vische T?unsmuswerbung und die Vermarktung skandi . navischer Produkte biS heute ihre Prägnanz ziehen. Diese Medien erreichten
Eine Verherrlichung des Nordens war nicht intendiert, der Norden nicht Motiv zivilisationsmüden Eskapismus, die große Vergangenheit, die in den Sagas tradiert war, wurde nicht erwähnt, ebensowenig eine faszinierende, mit Ossianschen Attributen ausgestattete Natur vorgeführt. Die ästhetischen Kate gorien der Wahrnehmung von Land und Leuten waren in der frühen Massen literatur noch andere als dann am Ende des 1 9. Jahrhunderts. Schlicht gesagt, der Norden war fremd, die Differenz evident gemacht durch die Übertragung eigener Erfahrungshorizonte, was beschrieben wurde, stand häufig genug im Widerspruch zur aufklärerischen Vernunft der deutschen Zeitgenossen.
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Zu dl'esem Prozess vgl. Erl'ch Scho"n, Der Verlust der SI'nnll'chkel't oder Die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1 800, Stuttgart 1 993. Reikiavik, in: Das Pfennig-Magazin 1 839, S. 28 f.
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Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun (Hrsg.) Kulturinszenierungen Frankfurt a. M. 1 995, S. 1 0. Vanessa R. SChW��, Die inemat sche Zuschauerscha ft vor dem Apparat. Die öffentliche Lust an der R:aI'Itat Im Pans des Fm de siec1e, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in . eIn lte B h hrsg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1 998, S . 8 _3 I 8, 84.
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Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
Silke Göttsch-Elten
Der Norden als vorindustrielle Idylle 1 8 5 1 wurde in London die erste Weltausstellung als internationale Industrie schau veranstaltet. Weltausstellungen wurden in der Folge zum Schauplatz nationaler Selbstdarstellung, adressiert an ein internationales Publikum, das mit seinen Reisen dorthin den modernen Massentourismus einleitete. Sie avan cierten in der zweiten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts zu beliebten und viel besuchten Massenveranstaltungen. In prachtvollen Büchern und in den illustrierten Zeitschriften jener Zeit wurde ausführlich und anschaulich darüber berichtet.9 Kaum ein anderes Ereignis des 1 9. Jahrhunderts hat die Ausstellungs praktiken, auch die der kulturhistorischen Museen, so stark inspiriert und geprägt. Sie gelten als unmittelbare Vorläufer des Freilichtmuseums, nicht nur weil Artur Hazelius, der Begründer des ersten Freilichtmuseums 1 89 1 in Skansen bei Stockholm, seine Ausstellungstechniken auf den Weltausstellungen ausprobierte und verfeinerte, sondern vor allem weil die sogenannten ethno graphischen Dörfer für die Weltausstellungen erfunden wurden.
Weltausstellungen waren in erster Linie Orte, an denen die Nationen mit ihren technischen Erfindungen und ihrem wirtschaftlichen Fortschritt miteinander konkurrierten, aber mehr und mehr wurden sie auch zum Ort der Darstellung nationaler kultureller Identität, zum Ort, an dem die nationalen Kulturen mit einander wetteiferten10 und an dem die einzelnen Nationalstaaten sich als kulturelle Einheit in ihrer Eigenart präsentierten. Dieses Spannungsverhältnis von Fortschritt und Tradition war von Anfang an den Weltausstellungen inhärent, bereits 1 85 1 versahen einzelne Länder ihre Abteilungen mit Versatzstücken ihrer nationalen Ikonographie oder, um es im klassisch volkskundlichen Vokabular auszudrücken, mit Objekten ihrer Volks kultur, und dazu gehörten in jener Zeit Architektur, Trachten und Volkskunst. 1 1
Alle diese Umstände scheinen . . das Aufkommen emer gewissen, der . sc hwelze " nschen ähnhc , hen Industrie zu begünstigen . Gleich wohl finden . r . �talog nur 8 Beiträge aus Norwegen - Silber, r und Eisen als E u ?. tt�ner�eugllI.ß, pottasche und ine SammlungKupfe norwegischer Perlen. Nach � . . tr�ghch smd n ch elllIge Holzschnltzeieren aufgestellt, die sich aber ? entfernt nicht mit den schwelzen.sehen messen können.
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Der an ein Verbot grenzende Zoll auf fremd e Tuche hat nicht zur Errichtung von M �ufakturen, ond rn zu e I portation ganzer Schiffsladungen alter Kleidung � � � � geftihrt. Man Sieht m Chrlstlanla alle die Leibröcke, die drei Jahre vorher in England oder Deutschland Mode waren und die Damen müssen sich mit den Londoner Ladenhütern begnügen.
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Über Schweden heißt es: nur die Eisensachen. Die Proben von Hand spinnerei und �andw;ben�1 ngaussind Flachs - darunter eine 4000 schwedisch e Ellen lange Strähne . Von Bedeu�
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arn, le mc t em volles Loth wiegt, von einer Bäuerin gesponnen nur, daß aus diesem Industriezweig etwas werden könnte.
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Und über Dänemark: hen Instrumente sind einer ernsten Betra chtung ;e�h.!�.le Jacken, St�mpfe, Nachtmütz en und Fausthandschuhe , die Nur die autischen und physikalisc
der jütische . e se �rt auf der W lde strick t, und die mit Ruß glasierten Töpfe der � jütischen . B auern smd merkwürdig, aber auch nur merkwfudig :12
einzigen festen Ausstellungsgebäude, wobei die Präsentation von Volkskultur zunächst keine große Rolle spielte, wie man einem zeitgenössischen Bericht
Vgl. dazu die reichhaltige Literatur, z. B. Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltaus stellungen, Frankfurt a. M. und New York 1999. Bjarne Stoklund, Nationernes kulturella arena. 1 800-tallets verdensutstillninger, in: Kul turens nationalisering. Et etnologisk perspektiv paa det nationale. Red. Bjarne Stoklund, Kopenhagen 1 999, S. 1 39-1 57. Viele Anstöße und Beispiele verdanke ich der ergiebigen und anregenden Dissertation von Martin Wörner, Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1 8 5 1 - 1 900, Münster u. a. 1999.
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Die Rückstä�dig�eit der norwegischen Indu strie erklärt er folgendermaßen Norwegen sei re�cher � Naturprodukten als die Schweiz (Metall Fischerei' Wald), deshalb hatten die dünngesäten Einwohne r es nicht so nötig �u arbe'It ' Außerdem fehle ihnen aufgrund der hohe n Schutzzöl le der Anreiz Konkurrenz.
1 8 5 1 in London präsentierten sich die einzelnen Nationen noch in einem
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en�nehmen kann. Der Autor beschreibt u. a. ausführlich die skandl'naVI' sc he Em' helt, wobel' er d'le "Skand'mavI. er" ausdrück lich . zu den freien Völkern rechnet, . . WIe sonst nur noch �Ie Schweizer. Nach einer ausführlichen Beschreibung der . ge?grap�lsche � Bedmgu�gen (raues Klima, karge Gebi rgslandschaft, lange . Wmternachte, m denen dIe Emw ohner im Hause bleiben müssen) fasst er zu sammen:
nicht nur viele Menschen und trugen damit zur Popularisierung der Bilder bei, sondern mit ihnen wurden auch ganz neue Formen der Wahrnehmung eingelernt, die modernen Medienkonsum kennzeichnen.
Der Maßsta? der Bewertung war Modernit ät, das Verfügen über neue Techniken �d M�schmen und die damit verbunde ne ökonomische Produktivität Die R�ckgnffe der ska?dinavischen Länder auf Volkskultur wurde mit ironi�cher DIstanz zur Kenntms genommen. 12
L. Bucher, Kulturhistorische Skizz en aus der Industrieausstellung aller Völker, Frankfurt a. M. 1 8 5 1 , S. 1 5 8-1 60.
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Bei der Weltausstellung 1 867 in Paris änderte sich das Konzept der Präsentation grundlegend, das gesamte Marsfeld wurde zur Ausstellungsfläche. Die zuständige Ausstellungskommission rief dazu auf, dass jede Nation sich auch durch irgendein Gebäude oder durch sonst ein passendes bauliches Unter nehmen präsentieren solle, das in "möglichst deutlicher und zugleich interessanter Weise die Eigenthümlichkeiten des betreffenden Volkes in Bezug auf seine Sitten und Gebräuche wie auf seine ganze Lebensweise veran schaulicht" . 13 So entstand schließlich ein parc etranger mit 1 75 Gebäuden, er stellt den Urtypus des "ethnographischen Dorfes" dar. Eigentlich hatte der Aus stellungsleiter, der französische Sozialstatistiker Frederic Le Plays einen ganz anderen Plan verfolgt, er, der in ganz Europa Budgetforschungen in Arbeiter familien anstellte, wollte auf diesem Wege zu einer nationenübergreifenden Lösung der akuten Wohnungsfrage kommen, verfolgte also sozialpolitische Interessen. Aber die Länder orientierten sich nicht an diesen Vorstellungen, sondern griffen bei der Selbstdarstellung auf ethnographische Besonderheiten zurück, um ihre Länder zu präsentieren, so war z. B. eine originale Hütte einer Familie aus Lappland mit ausgestopften Renntieren zu sehen. Besondere Auf merksamkeit erregte aber das Haus aus Schweden, weil hier in kongenialer Weise Geschichte mit landestypischem Baustil verwoben worden war und so ein besonders einprägsames und dichtes Bild schwedischer Identität angeboten wurde: ein schlichtes, aus Holz errichtetes Haus. Eine markante, schneckenforrnig gewundene Außentreppe ftihrte zum oberen Stockwerk, um das eine mit schuppenartigen Holzschindein verkleidete Galerie führte. Das Dach bestand aus Moos, die Innenwände hatte man mit Birkenrinde überzogen. Das Gebäude stellte eine idealisierte Kopie des Hauses von Omäs in der Provinz Dalama dar; dort sollte sich nach der Überlieferung der schwedische Nationalheld Gustav Wasa vor den Verfolgungen der Dänen verborgen haben, bevor er sie an der Spitze eines schwedischen Heeres besiegte und schließlich 1 523 zum König gekrönt wurde. In dieser fiir die schwedische Nation wichtigen historischen Begebenheit erklärt sich die besondere Bedeutung der Errichtung des einfachen Häuschens. Es repräsentierte also weniger ein typisch ländliches Gebäude, vielmehr war es eine Art Nationaldenkmal, "une maison historique, sacree pour la Suede par le sejours du heros Rroscrit, qui allait devenir bientöt le conquerant et le fondateur de son 14 royaume".
Populäre Bilde r vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
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Abb. 1 : Sch.wedisches Trachtenpaar fiir die Weltausstellung Paris 1 878 ausgestel It In Skansen, St�ckholm in den 1 890er Jahren. Aus: Jona� . �erg, Dräktdockor - Hazelms och andras' in: Fataburen 1 980, S . 9-28 hier: S. 27. ,
Während andere europäische Länder sich in ihrer Selbstdarstellung auf ihre Elitekultur bezogen, Spanien rekurrierte z.B. auf das Motiv der Alhambra, Belgien auf das der flandrischen Renaissance und Griechenland präsentierte sich mit einem antiken Landhaus (Paris 1 878), präsentierten Norwegen und Schweden prononciert ländliche Architekturformen. 13
14
Zit. n. Wömer (wie Anm. 1 1 ), S. 49. Wömer (wie Anm. 1 1 ), S. 52.
. Abb " 2 · Artur H azerJUs vier Tableaus ftir die Weltausstellung . 1 878 in Paris (fr Zeit . ��s���hn�r5 Aus: Jonas Berg, Dräktdockor Hazelius och andras, in: Fataburen 1 S 9 8 S . '
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Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 2 0. Jahrhundert
Auf der Weltausstellung in Paris 1 878 errichteten sie gemeinsam (S�mboli: sierung der Personalunion) ein in Holz �usge�hrtes Gebä��e, das m zwei giebelständige Bauteile untergliedert war, l der hnke sym�ohslerte Schweden, der rechte Norwegen. Julius Lessing, Direktor des Berl�ner K�nstge';erbe museums stellte fest daß dieses Gebäude besonders "nordische Eigenart , ver : körpere. ' Der heimis�he Holzbau, welcher sich dort vom frühe� Mittelalter her ohne erhebliche Veränderungen erhalten hat, ist wieder zu natiOnaler Geltung gelangt". Die Verzierung der Fassade "so primitiv und alterthümlich", "daß man das goldig leuchtende Fichtenholz nur wenig zu bräunen brauchte, um den Bau in die frühmittelalterlichen Teile eines Museums einzureihen." Diese Formen zugleich aber so "ursprünglich und frisch, daß sie jeder Wei�erbenutzung u�d Entwicklung flihig sind" . 1 6 In diesem Sinne erfüllte die norwegische ?m�menbk die Forderungen der zeitgenössischen Kunstgewerbebewegung, dle die alt�n handwerklichen Traditionen in ihrer Bedeutung für die Wiederbelebung der lm Untergang geglaubten Handwerkskunst sah. Die Interpr�tati�n, die de� hist� ristischen Baustil unterlegt wurde, verweist auf den ahlstorIschen B �lck: Selt dem frühen Mittelalter bis heute ohne erhebliche Veränderungen, damit werden Kontinuitätsprämissen ungeprüft unterstellt, die dem Leser suggeriere?- sollten, . als sei hier im Norden eine Welt stehen geblieben, unberührt von den m MIttel europa so rasanten Veränderungen vor allem seit Beginn des 1 9 . Jahrhunderts. Diese Vorstellung verstärkten Norwegen und Schweden auf den folgenden Weltausstellungen.
Hi�r ist ein junges Mädchen, das Heu mäht, mit blauen Augen, blond em Haar und rosigen Wangen, sie geht nach Hause, eine Freundin schmückt ihr die Haare und sie trifft auf einem Fest ihren Geliebten, es folgt eine weitere Szene Hochzeit in d r Hochze tstr cht und dann � ein Bild, die junge Familie, die � junge Mutter trägt em Baby m emem Korb und dann das abschließende Tableau "nordische Schlitten�ahrt" : Je � geh�n sie auf eine lange Reise, der Schlitten wird gezogen von Rentieren und Ist mit Fellen ausgelegt, sie sitzen dort warm und gemütlich und fahren nach Lappland.
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!'loch �UU:ker als �it Architektur konnte über die Ausstellu
In ganz ähnlicher Weise wie Architektur fungierte auch Tracht als Signal nationaler Identität. Bekleidung war seit 1 85 1 in London feste Ausstellungs einheit, gezeigt wurde allerdings Mode und Alltagskle�dung, also Z�it genössisches ohne den nostalgischen Rückgriff, Trachten spielten anfangs eme nur unterge�rdnete Rolle. Norwegen hatte allerdings �chon 1 8: 5 :: quelques . costumes nationaux" ausgestellt und 1 862 in London zwel Puppen m bauerhcher Hochzeitstracht präsentiert: "an exact costume which has been preserved for centuries among the simple-minded persons", so der verklärende Kommentar eines Besuchers.
ng von Trachten und Ihre Embmdung m Tableaus, die "Vol ksleben" in Tracht in Dreidimensionalitä t umsetzten, der Anschein von Authentiz ität erreicht werden. Dean MacCannell hat dieses Spiel mit Echtheit im Zusamme nhang mit dem Tourismus als "staged authenticity,,21 bezeichnet. Es ging dabe i nicht um die Realität an sich sondern um die Simulation von Re lität. Dolf Sternberger stellt in seinen Über � legungen . zum Panorama fest, dass m kem er der Schilderungen über den Besuch eines Panoramas je die Enttäuschung eines Betrachters zu finden sei der sich durc h d�e Simulationen getäuscht sah, dara us folgert er, und ich mein� zu Recht, dass die Kunst der Täuschung um ihrer selb st willen getrieben werde und nicht um zu täuschen 22 An die eingangs gem achten Bemerkungen zur V�rwischun : g der Grenzen ZWischen Kunst und Leben sei an dieser Stelle erinnert. 18 A. Ebelin �, Das Wunder der Pariser
Die meiste Beachtung fand aber die Abteilung Schwedens (die schwedischen
Trachten errangen die begehrte Goldmedaille) und Norwegens. Hatten die übrigen . Länder ihre Trachten entweder in Vitrinen ausgelegt oder an Schneiderpuppen,
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präsentiert waren die lebensgroßen Figurinen des Königreiches "d'apres
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nature" gestaltet.
1 15
16 17
Wörner (wie Anm . 1 1 ), S. 30.
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. Julius Lessing, Berichte von der Pariser Weltausstellung 1 878, Berhn 1 878, S. 42, Zit. n,
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Wörner (wie Anm . 1 1 ), S. 30. . Types et costurnes suedois et norvegiens, in: L'I1IustratJon, 20, Apnl 1 867, S. 2 5 1 , Abb, S ' 2 � � � wörn� �� Anm ' I I ) S ' 1 48 ' , '
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Hierzu modellie�e der Bildhauer earl August Söderman Köpfe und Hände nach . lebendlge� VorbIldern aus Gips, die anschließend wirklichkeitsgetreu koloriert wurden. Dle Gestalten erschiene n den Betrachtern deshalb oft so lebensnah "so täuschend nachgebildet, als ständ en sie lebendig unter uns und spazierte� mit uns umh er,,1 8 . 19 40 Trachtentyp . en der verschledenen Provinzen wurden vorgeführt, neuartig und vorbildge bend für alle folgenden Trachten präs�ntationen war die Zusammenstel lung zu ethnographischen Tableaus. 2o Damlt gelang den Schweden eine gänz lich neue Dimension der Visualisierung von Volksleben, die durch ihr Zus ame m nspiel von Trachtenfiguren und dem Nachstellen von Motiven aus der Volk slebenmalerei eine ganz eigene Dramatik er�ielt. Norwegen und Schweden stellt en 1 7 Trachtengruppen vor gemalten H�ntergru dpan ramen aus, die wie dreidimensionale Theateraufftihrunge n. � n wlrkten. Eme zeltgenössische Beschreib ung zeigt, wie einprägsam das fur den Betrachter war:
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.. Worner (wie Anm . 1 1 ), S. 149. Wörner (wie Anm . 1 1 ), S. 148 f. Ebd., S. 1 49.
Weltausstellung 1 867, Köln 1 867, S. 297, zit. n.
Dean MacCannell, Staged Auth enticity, Arrangement of social . space in tourist settings, in: Amencan Journal of Socio logy 79 ( 1 973) S 589 603 , u mfiassend er und neuer Regina ' . . 22 BendiX, In Search 0 f AuthentlC " lty, Th e Fonnation of Folklore Studies, Madison 1 997. Dolf Stern berger, Das Panorama oder Ansichten vom 1 9. Jahrhu ndert, (Erstausgabe 1 938) F� ' 1 98 1 S 1 9 ' ' ' '
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Die Reduktion nationaler Identität auf arrangierte Versatzstücke einer Volks kultur, über deren "Echtheit" sich streiten ließe, die stereotype Verwendung von Interpretamenten, die an den Bedürfnissen einer bürgerlichen Gesellschaft Maß nahmen, und deren Inszenierung (ver-)fiihrte auch zur Selbstverklärung, wurd� . mithin geglaubte Wirklichkeit. Es überrascht nicht, dass Artur HazelIus bel seinen Ausstellungen im Nordiska Museet in der Drottingsgata in Stoc�olm und später in Skansen genau auf diese Muster zurückgriff, um schwedl�che . Nationalkultur zu imaginieren: Dioramen, ins Dreidimensionale mszemert� Volkslebenbilder, Stubeninterieurs, Trachtentableaus, Lappenhütten zum Tell von "echten", d.h. lebenden Menschenfamilien bewohnt, die Rentiere waren ohnehin lebendig. Die Wirkung war immens, nicht nur Besu�her aus g�z Europa reisten an, auch das Stockholmer Großstadtpublikum flanierte durch die Ausstellungen. Weltausstellungen mit ihren eigenen Gesetzen der Selbst darstellung im internationalen Kontext zeigen, wie Selbstverklärun�, das . Autostereotyp, zur Fremdverklärung, zum Heterostereotyp, wird und wie eng diese beiden Prozesse miteinander verzahnt sind. Neben Architektur und Tracht galt besonders die Volkskunst als Ausdruck einer bäuerlichen Ästhetik. Ihre Entdeckung stand im engen Zusammenhang zur ästhetischen Diskussion um das Kunstgewerbe in der zweite Hälfte des 1 9 . Jahr hunderts, die vor allem durch den Engländer John Ruskin und den deutschen Architekten Gottfried Semper angestoßen wurde. Volkskunst sollte das durch die industrielle Produktion desorientierte Handwerk wieder zu qualitätvoller Arbeit anregen und dem durch industrielle Massenproduktion verderbten Ge schmack aufhelfen. Volkskunst war aber nicht nur abgelöste ästhetische Kate gorie. Der in jener Zeit gern gebrauchte Begriff Bauernkunst, der eine Einheit . von Produktion und Konsumtion in vorindustrieller Zeit suggeriert, steht fiir die schwärmerische Haltung der Volkskunst gegenüber. Der Bauer, so glaubte man, habe die Reste der nationalen Kultur bewahrt, weil er den Veränderungen der modernen Welt weitgehend widerstanden habe. Hausfleiß, so einer der mehr oder weniger synonym gebrauchten Begriffe rür Volkskunst, ist ein Wort, das bis heute in Norwegen und Schweden rür nationales Kunstgewerbe steht. 1 867 wurde auf der Pariser Weltausstellung erstmals eine Ausstellung mit dem Titel Histoire de travail gezeigt, die in der Retrospektive das künstlerische Schaffen der Nationen zum Thema hatte. Traditionelle Objekte wurden als "immer wichtiger werdendes Material rür unsere eigenen Kompositionen" verstanden und ihre Bedeutung "als Erbe eigenständiger Formen" fiir die "Verbindung von Kunst und Industrie,, 23 betont. Jacob von Falke, Kunsthistoriker am Österreichischen Museum fiir Kunst und Industrie und vermutlich Inspirator der schwedischen Hausfleißbewegung, 24 be23
24
Zit. n. Wömer (wie Anm. 1 1), S. 200. Kai Detlev Sievers Der Einfluss der skandinavischen Hausfleißbewegung auf den deutschen Handferti keitsunterricht, in: Colloquium Balticum Ethnographicum. Wege und
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richtete bereits 1 8 �7 in Paris fasziniert über die Holzschnitzereien aus Norwegen und Schweden. Die Gegenüberstelltung tradierter Formen und Techniken mit �odernen. Erzeugnissen des Kunstgewerbes schien ihm besonders gelungen. Wohl kem Land auf der Welt", so schrieb er, "zeige so die Mischung moderner Cultur und alterthümlicher Kunstelemente noch in der heutigen Industrie wie Schwede� und Norwegen." Seine Begeisterung fiir die scheinbar jahrhunderte . alte TradltlOn mutet heute naiv an, wenn er schreibt, dass Textilien zu finden seien "mit den primitivsten Formen der Ornamentik, die der einfachsten Haus t�chnik angehören und der urältesten Zeit entstammen,,?5 Die Anregungen fiir die Gewerbeschulen schienen Falke fast unerschöpflich. Für die Weltausstellung in Wien 1 873 konzipierte Falke eine Ausstellungs einheit "Nationale Hausindustrie" , an der sich die Industrieländer übrigens nicht beteiligten. Dort kritisierte Falke die skandinavischen Trachtentableaus, die ihm �u sehr et.hnographische und damit letztendlich touristische Sehenswürdigkeiten m den Blick rückten, dagegen, so Falke, seien wichtige Erzeugnisse der skandi . naVischen Hausindustrie nicht ausgestellt worden Skandinavien setzte also in seiner Selbstdarstellung me�r auf die Wirksamkeit zusammengesetzter Volks �ebenta?leaus als auf die Asthetik vereinzelter Objekte. Volkskunst, Haus mdustne oder Hausfleiß waren - eingebunden in die zeitgenössische Kunst gewerbediskussion - besonders gut geeignet, nationale Eigenart und kulturelle Identität und deren scheinbar ungebrochene Kontinuität zu repräsentieren. Es ist bemerkenswert, dass die großen Industrienationen diese Möglichkeit nicht nutzten, sond�rn Länder, die eher am Anfang industrieller Entwicklung standen, bzw. noch welt davon entfernt waren, sich hier besonders profilierten. Die These der "Kompe�sation ökonomischer Rückständigkeit,, 26 mag hier ihre Bestätigung finden. Auf Jeden Fall wurden die Nationen selbst, und das trifft nicht nur fiir Schweden und Norwegen, sondern auch fiir andere Länder (Russland, Sieben bürgen usw.) zu, als Reliktgebiete wahrgenommen, als Regionen, in denen sich Altes, Uraltes oder sogar Urältestes noch erhalten habe. Das Bild einer vor industriellen Idylle verfestigte sich, was ganz wesentlich durch die Nationen selbst in Gang gesetzt worden ist.
25 26
T�ilnehme� e�isch-kultureller Kontakte in der Ostseeregion, hrsg. von Saulevedis Clmermanls, Riga 1 993, S. 189-2 10. !acob Falke, Die Kunstindustrie der Gegenwart. Studien auf der Pariser Weltausstellung Im J 1 867, Leipzig 1 868, S. 1 4 f., zit. n. Wömer (wie Anm . 1 1 ), S. 2 1 0. Gottfned Korff, Folklorismus und Regio nalismus. Eine Skizze zum Problem der kultu rell�n Kompensation ökonomischer Rücks tändigkeit, in: Heimat und Identität. Proble me regIOnaler Kultur, hrsg. von Hermann Bausi nger und Konrad Köstlin" Neumünster 1981 S. 39-52 .
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Von Anfang an stellte er die hohe Authentizi tät seiner Schauen heraus:
Der exotische Norden - Völkerschauen Aber es waren nicht nur die unregelmäßig in den Metropolen stattfindenden Weltausstellungen, die mit avancierten Inszenierungen Bilder der Welt pro duzierten, auch andere neu entstehende (groß)städtische Schaustellungen ver . mittelten mit ganz ähnlichen Techniken Einblicke in fremde oder gar exotische Welten, dazu gehörten auch die Völkerschauen und Panoramen.
Die Gäst� aus dem hohen Norden hatten gar keine Begriffe von Schaustellung und was damit zusammenhängt, es wurde auch absolut keine Vorstellung gegeben [ . . . ) Es bot sich hier wirklich ein Bild, das wohl im kleinen eine getreue Kopie des Naturlebens war. 29
Völkerschauen als Massenvergnügen gab es in England bereits seit Beginn des 1 9. Jahrhunderts. Zu ihrem Durchbruch verhalf ihnen in Deutschland seit Mitte der 1 870er Jahre der Hamburger Tierhändler earl Hagenbeck. 1 874 ver anstaltete er als erste Völkerschau eine "Lappen-Schau" . Die Idee dazu entstand nach einem Bericht des Tiermalers Leutemann, eines Freundes Hagenbecks, folgendermaßen: Ungetahr im August 1 874 erhielt ich von H. einen Brief, worin er mir mittheilte, daß er, da Nachfrage nach Rennthieren sei, eine Heerde aus �appland bestellt habe, und zu deren Wartung auch einige Lappländer werde mitkommen lass�n. Darauf schrieb ich ihm sofort, wenn er das beabsichtige, so möge er doch gleich das Unternehmen dadurch zu einer eigenartigen Sehenswürdigkeit gestalten, daß er durch Mitbringen von Schlitten, Zelten, Geräthschaften, durch Anschließen von Frauen und Kindern, Hunden und sonstigem Zu ehör die gawe Gruppe zum vollständigen Vorzeigen des Lappländer Lebens geeignet mache.
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Hagenbeck selbst kommentierte diesen Brief in seiner Autobiografie mit den Worten: Was dem Künstler in seinem Briefe vorschwebte, war sicherlich nur das malerische nordische Bild, das er sich nur in abgeschlossener Vollkommenheit mit Menschen und Tieren und womöglich einem winterlichen Hintergrund vorzu stellen vermochte. In diesem Vorschlag war aber schon die glückliche Idee der Völkerausstellungen, die sich in den nächsten Jahren wie eine bunte Kett� aneinanderreihten, verborgen. Lappländer und Nubier, Eskimos und Somah, Kalmücken und Indier, Singhalesen und Hottentotten, die Bewohner der ver schiedensten Zonen, ja Antipoden reichten einander in den kommenden Jahren S gleichsam die Hände in ilrren Zügen durch die europäischen Hauptstädte ?
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28
Zit. n. Lothar Dittrich und Annelore Rieke-Müller, Carl Hagenbeck ( 1 884- 1 9 1 3) - Tier handel und Schaustellungen im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1 998. Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen, München 1 909 , S. 80.
Abb. 3 : C�l !iagenbecks EisJ.Ueer-Panorama auf der Berliner Gewerbeausstellung 1 896. Aus: Lothar Dlttnch/Annelore Rieke-Müller, Carl Hagenbeck (1 844- 1 9 1 3). Tierhandel und Schaustellungen im Deutschen Kaiserreich , Frankfurt a. M. 1 998, S. 333.
Der beständige Hinweis auf das hohe Maß an Authentizität war nicht nur ges�hickte Werbestrategie, man war davon überzeugt, dass kein Schauspiel vor geführt �rde, sondern "u gezwungenes Treib . en", mithin "Alltag": Die Samen � . zeIgten, WIe man mIt Rentieren bespannte Schlitten fuhr, die Tiere einfing und . molk oder SIe als Packpferde verwendete, wie man die Eskimozelte aufstellte �d. abbaute. D�s auf den Weltausstellungen so erfolgreiche Prinzip der unauf l �shch:n VermIschung von Realität und malerischer Vermischung wurde auch hIer mIt großem Erfolg eingesetzt. Die erste "Lappländer"-Schau ging von . Hamburg nach Berlm und dann nach Leip zig, erreichte also viele Zuschauer an verschiedenen Orten. Lappen und Eskimos gehörten wie Men schen aus Asien und Afrika in die "Menagerie exotischer Völker", die auf den Völkerschauen vorgefUhrt werden sollten. Den großen Erfolg der Lapplände r-Schau erklärte Hagenbeck auch mit
29
Ebd., S. 8 1 .
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den eben erschienenen Reiseschilderungen der Polarforscher Nansen und Amundsen. 3 0
öffnet und wurde am 1 3 . Juli 1 888 von Kaiser Wilhe1m 11. besucht, der später behauptete, dadurch zu seinen Nordlandreisen, die erste tUhrte ihn 1 889 zu den Lofoten, ru:geregt wor�en zu sein;3 2 ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt, es war aufJeden Fall eIne gute Tourismuswerbung tUr Norwegen.
Bereits 1 877 warb auf seine Anregung hin der norwegische Kapitän Johan Adrian Jacobsen eine Eskimo-Schau mit drei Männern, einer Frau mit ihren zwei Kindern tUr Hagenbeck an, außerdem brachte er eine umfangreiche ethno grafische Sammlung einschließlich Schlittenhunde mit. Allein in Hamburg kamen in wenigen Tagen 44.000 Zuschauer. Von dort aus wanderte sie nach Paris und dann nach Berlin, wo sie im Beisein von Kaiser Wilhelm I. eröffnet wurde, danach weiter nach Dresden, Köln, Brüssel, Paris und Hannover. Das allgemeine Interesse an exotischen, nicht zum alteuropäischen Kultur kreis gehörig geltenden Völkern, dazu rechnete man auch die Samen und Eskimos, war seit den frühen Entdeckungen groß. In der 2. Hälfte des 1 9. Jahr hunderts wurde die anfangliche Neugier durch die Hypothesen der sich aus differenzierenden Naturwissenschaften und deren Popularisierung3 1 weiter geschürt. Man ging davon aus, dass an außereuropäischen Völkern unter schiedliche zivilisatorische Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte ab zulesen seien. Die entstehende Rasselehre richtete ihr wissenschaftliches Interesse auf den physisch-anthropologischen Aspekt und beschrieb und vermaß die äußeren Unterschiede der Menschen und klassifizierte diese zu Rassen. Mit den naturwissenschaftlich ausgerichteten Expeditionen gingen frühe ethno logische Forschungen einher, die die Unterschiede in Verhalten, Sprache und materieller Kultur aufzeichneten. Im Gegensatz zur Präsentation auf den Weltausstellungen, wo nationale Identität zur Schau gestellt wurde und deshalb der Kanon des Präsentierten stets Vergleichbarkeit und Differenz zugleich repräsentierte, setzten die Völker schauen allein auf Differenz, ihre Attraktion speiste sich aus der Exotik. Völker schauen waren nicht nur Spektakel tUr ein Publikum, das auf Zerstreuung aus war, sondern Völkerschauen dienten vielen Zwecken. Die Anthropologen "erhielten" Menschen, an denen sie ihre rassekundlichen Untersuchungen vor nehmen konnten, die völkerkundlichen Museen bestückten mit den Objekten, die zur Ausstaffierung der Vorführungen mitgebracht wurden, ihre Samm lungen. Ein anderes Unterhaltungsmedium, das am Ende des 1 9. Jahrhunderts noch einmal an Popularität gewann, war das Panorama. Bereits 1 822 war in London ein erstes Nordkap-Panorama zu sehen gewesen. 1 888 eröffnete in Berlin das Panorama "Nordland", das Ausschnitte aus den Landschaften der Lofoten und nordische Gebirgsszenen darstellte. Das Berliner Panorama blieb bis 1 89 1 ge30
31
Ebd., S. 85 f. Vgl. dazu Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 1 9:. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Offentlichkeit 1 848- 1 9 1 4, München 1 998.
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Die Idee des Panoramas griff auch earl Hagenbeck tUr die Ausgestaltung . . seInes .Tierpar�s auf. Als er 1 90 � den :ierpark eröffnete, gehörte zu den 3 . AttraktiOnen eIn Eismeerpanorama. DamIt war der entscheidende Schritt zu ei�er Insze�ierung von Tieren in einer Landschaftskulisse getan, die dem . P �mzip der 1m 1 9. Jahrhundert mit dem Medium Panorama entwickelten "Reise mlt den Augen" folgte. Bilder, wie sie Völkerschauen und Panoramen dem Betrachter darboten re duzierten komplexe Wirklichkeiten und verdichteten diese so, dass der Ein&uck de� Ganzheitlichkeit der Lebenswelt suggeriert wurde. Da die Bilder durch WIederholung eingeübt wurden, ließen sie stereotype Vorstellungen über den Norden entstehen. Damit trugen sie dazu bei, die fremde, exotische, nie gesehe�� Welt �ennoch kommunizierbar, erzählbar zu machen. Die Fähigkeit zur Erzähl �arkeit der Welt war ein� wichtige Voraussetzung, stereotype Vor . stellungen uber den Norden und seme Menschen zu entwickeln und zu trans portieren. Die deutsche Nordland-Begeisterung um 1 900
An den Unterhaltungsmedien Weltausstellung, Vökerschau und Panorama �rde gezeigt, wie st�reotype Vorstellungen über den Norden geprägt und ver mIttelt wurden. �uf die Gründe tUr die Faszination, die dem Norden entgegen gebracht wurde, 1st verschiedentlich hingewiesen worden ' dieser Aspekt soll abschließend vertieft werden. Of�ensi�htlich war die Begei sterung in der Mitte des 1 9. Jahrhunderts für die skandmavischen Länder eher gering, das lassen auch die zitierten Bemerkungen d�s Besuchers der ersten Weltausstellung in London 1 85 1 vermuten. Für den be gIn�enden Tourismus in Deutschland spielte Skand inavien keine Rolle. . L�dIghch die Engländer, die Pioniere des Tourismus schlechthin, bereisten be reIts sehr früh Norwegen und Schweden. Als sich König Oscar Ir. von Schweden und Norwegen 1 873 auf seine Krönungsreise begab, besuchte er auch d�s N�rdkap, andere gekrönte !läupter folgten ihm später . Reisebeschreibungen, dIe fruheste stammt aus Amenka vom Jahr 1 882, priesen Skandinavien als das 32
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. B'Irglt Marschall, Rei �en und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms H., Heide . lberg 1 9 1 (SkandInaVische Arbeiten, 9), S. 28. Matthlas Gretzschel und Ortwin Pelc, Hagen beck. Tiere Menschen, Illusionen Hamburg ' 1 998, S. 64.
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Silke Göttsch-Ehen
"Land der Mitternachtssonne".3 4 Damit begann ein Wechsel in der Wahr nehmung, Skandinavien war nicht mehr das Land der Dunkelheit, der langen Nächte, sondern der Helligkeit, der Mitternachtssonne und der Mittsommer nacht. Diese Vorstellung wurde in der Folgezeit durch die Malerei verstärkt, man denke nur an Bilder von Anders Zorn oder Carl Larsson. Aber auch der Vorstoß in die letzten weißen Flecken auf der Landkarte, die Polarexpeditionen, lenkte die Aufmerksamkeit gen Norden. Das Nordland-Pano rama in Berlin wurde eröffnet, als der Norweger Fridtjof Nansen auf Skiern Grönland durchquerte und für einige Zeit als verschollen galt, ein Ereignis, das viel Aufmerksamkeit in der aufkommenden Massenpresse fand. Anfang der 1 890er Jahre durchquerte Nansen das Nordmeer mit der Fram, die so konstruiert war, dass sie angeblich nicht durch Eisberge zerdrückt werden konnte, 35 der Sieg des Menschen über die Natur, ein Thema, das das 19. Jahrhundert faszinierte. In Deutschland waren es besonders die Nordland-Reisen Kaiser Wilhelms 11., die die Begeisterung vor allem für Norwegen schürten. Damit in mehr oder weniger engem Zusammenhang stehen noch drei weitere Phänomene, zum einen die Begeisterung für die skandinavische Literatur und die sehr heterogene alternative Lebensreformbewegung und die antimodernistische Heimat bewegung. 1 889 brach Wilhelm IL zu seiner ersten Nordlandreise mit der Yacht Hohen zollern auf, weitere 25 Fahrten sollten folgen. Kaiser Wilhelm stilisierte sich mit diesen Reisen und ihrer publizistischen Vermarktung, die ausgesprochen ge schickt und publikumswirksam betrieben wurde, zum Germanen schlechthin.36 1 889 berichtete die Zeitschrift "Volk" mit folgenden Worten darüber: Der erste aller Germanen grüßt jene wunderbaren Küsten, an denen Nordlands Recken das Meer bezwingen, den Mut zu weltgeschichtlichen Taten stählen ge lernt haben. Die Skalden werden in ihren Gräbern erwachen [ . . . ] Heil dem Asasohn! Seine�leichen ist nicht auf dem blauen Meer, seine Mannen, sie kämpfen so fern.
Für die Identitätsfindung der jungen deutschen Nation war es ohne Zweifel notwendig, sich selbst in historische Bezüge einzuordnen und sich über die Anbindung an eine germanische Verwandtschaft als alt zu legitimieren. Die Anleihen bei der Rassetheorie sind unüberhörbar, sie geben der Verklärung einen neuen Zungenschlag. 34
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Vgl. dazu Marschall (wie Anrn. 32), S. 1 8 1 - 1 8 3 . Entdeckungsfahrten ins Michael Engelbrecht, Die deutsche Rezeption der skandinavischen Weltgeltung und Regionalität. Eismeer, in: Robert Bohn und Michael Engelbrecht (Hrsg.), S. 254. Nordeuropa um 1 900, Frankfurt a. M. u. a. 1 992, S. 253-260, hier: Vgl. dazu Marschall (wie Anrn. 32). Zit. n. Marschall (wie Anrn. 32), S. 1 9 1 .
Populäre Bilder vom Norden i m 19. und 20. Jahrhundert
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I?ie Beg�isterung des Kaisers, vor allem aber deren publizistische Vermarktung loste� eme wahre Norwegeneuphorie in Deutschland aus. Der deutsche Tounsm�s nach Skandinavien nahm seinen Anfang, man reiste auf den Spuren des �alse�s u�d d.h . in die Fjordlandschaften Norwegens. Illustrierte . . . . . Fa�llhe�blatter Jener Zelt wie die Gartenlaube berichteten ausführlich über . . R�lsen m die Fjorde Norwegens, übrigens nicht nur über die des Kaisers. Paul G?��eldt, der autorisierte Kommentator der kaiserlichen Nordlandreisen, stJlIslerte den Sognefj ord als die Ossianlandschaft schlechthin,3 8 damit hatte sich . . . das
V!er den Begriff "�ordla�d" letztendlich geprägt hat, ist nicht ganz ent schlede�, manche schrelben diese Wortschöpfung Wilhelm H. zu. Aufjeden Fall . passte diese B �zel�hnung hervorragend in die Stimmung jener Zeit. Zunächst . nur auf das nordhche Norwegen gemünzt, wurde sie bald zu einem über . gr�lfenden Begriff für . einen �um, der von Schottland bis St. Petersburg . �elch�� konnte . . NatlOnalstaathche Differenzierungen waren in einer Imagmlerten gememsamen Abstammung und Glaubenswelt aufgehoben.
I� der �olge der kaiserlichen Reisen blühte nicht nur der Skandinavien t�unsmus m Deutschland auf, es entstanden auch viele skandinavische Vereine dl� Vo�stellungen einer pangermanischen Kultur stärkten. 1 899 veröffentlicht� . Fntz Llenhard seme Nordl�ndlieder, die er in die Teile Ausfahrt, Norwegen, Schottla�d un Hochla�d ghede:te. In ihnen wurde das Interesse am mythischen Norden IIteransch gebundelt. Die Landschaft Ossians war damit das Nordland geworden, zur Idee also, die sich im ästhetischen Naturerleben konkretisierte. 39
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Nor�land, Skandi ?avien war das Ursprungsland, jenes Land, in dem man die vers �hutteten geme�nsamen germanischen Traditionen noch lebendig, oder welligstens �o�h sICht?ar glaubte. Solchen Bildern hatten Norwegen und Schwede� mit Ihrer natIOnalen Präsentation auf den Weltausstellungen in nicht �nerhebhchem Maße vorgearbeitet. Auch die Skandinavier bedienten sich in Ihrer Selbstdarstellung des Mythos des Germanischen. Aber es war nicht �ur der Rückgriff in die Vergangenheit, der die Wahr n�hmung des Nordens m Deutschland prägte, auch das modeme Schweden bot BIlder an, die gut in die Zivilisationskritik der Zeit um 1 900 integrierbar waren. Besonders der Maler Carl Larsson wurde im Umfeld der Lebensreform bewegung und der Heimatbewegung rezipiert. Seine Beliebtheit stieg sprung38
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;aul Güßfeld.t, Kaiser �ilhelm's
Ir. Reisen nach Norwegen in den Jahren 1 889 bis 1 892,
. Aufl., Berhn 1 �92. Dieses Buch wurde auch ins Norwegische übersetzt.
. Vgl. daz� Ce�lha Lengefeld, Der Maler des glücklichen Heims. Zur Rezeption Carl Larssons Iffi wilhelminischen Deutschland, Heidelberg 1 993 .
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haft, als er sein "Haus in der Sonne" in Sundborn in Dalarna, der Volkskultur landschaft Schwedens schlechthin, und seine Familie zum Motiv gemacht hatte.40 Seine Bilder trugen den Wert "Heimat" in sich, durch ihren klein . räumigen Bezug und die prononcierte Darstellung einer intakten und ländlich geprägten Welt, das traf den Nerv jener Zeit auch. in Deutschlan? � o lobte Heinrich Sohnrey, einflussreicher Protagonist der Heimatbewegung, m emer Re zension ohne Einschränkung die B ilder, als das Buch "Mein Heim" in der be rühmten "Blauen Reihe" erschien. Die Schilderung einer als typisch schwedisch ausgegebenen Landschaft und ihrer Menschen s�iegelte das nation�nüber . greifende Konzept "Heimat" kongenial wider, H� lmat war ?I�ht regIOnaler Bezugspunkt, sondern Gefühlswert geworden, der Sich sowohl m mtakter Natur und auch in einer intakten, d.h. dem bürgerlichen Modell entsprechenden Familie ausdrückte. Die Heimatbewegung mit ihrer großstadtfeindlichen Hal tung, die sich gegen alles Dekadente und Französisierende in der Kultur wendete fand in diesen Bildern einen Fluchtpunkt. Die Schwedin Ellen Key hatte da� Jahrhundert des Kindes proklamiert, das so aussehen musste, wie die Kinder Larssons auf den Bildern, der Einfluss der englischen Reformbewegung auf den Wohnstil war unübersehbar, Licht und Helligkeit strahlten aus den Bildern. Die knappe Aufzählung mag genügen, um zu zeigen, wie si�h auf unter schiedlichen Ebenen um 1 900 das Interesse am Norden bündelt, wie der Norden auf sehr verschiedene Weise als Projektionsfläche für Defizite und Wünsche der kaiserzeitlichen Gesellschaft genutzt werden konnte. Die Bilder sind im 1 9 . Jahrhundert durch das Zusammenspiel von Auto- und Heterostereotypen ge formt worden und sie funktionieren zum Teil wenigstens bis heute. Das ikono graphische Gedächtnis transportiert sie, auch wenn sie sich in vielem von den damaligen Deutungen gelöst haben.
Populäre Bilder vom Norden im 19. und 20. Jahrhundert
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Zeit der Mahagonimöbel war vorbei. Möbel und Einrichtungsstil für die jüngere . Generation sollten zweckmässig, hell, praktisch, beweglich, nicht überladen sein, eben anders als die der Elterngeneration. Dem Verdacht, dem Konsum zwang (-terror) zu erliegen, entzog man sich durch den Hinweis auf die niedrigen Preise, die an Aldi erinnernde Präsentation und das Prinzip der Mit n�me. und d � s Eigenbaus. Auch die Wiederentdeckung des Kindes spiegelt sich hier Wider, die Möbel waren unempfindlich, also kindgerecht, Summerhill war zum Schlagwort für eine neue Pädagogik geworden, auch Ellen Key fand wieder Leser. Die Firmenphilosophie reproduzierte die Vorstellung einer nicht hierarchischen Gesellschaft, der informelle Umgang, das Duzen, gehören, wie Orvar Löfgren gezeigt hat, zum Mythos der Schwedisierung in Schweden, p�sste? in das Deutschland der Nachstudentenbewegung. 42 Übrigens fällt auch die Wiederentdeckung von Carl Larsson in diese Zeit: Es erscheinen Bücher auf dem deutschen Markt, Postkarten, Briefpapier, Plakate, die u. a. auch von IKEA vertrieben werden. Die Bilder, auf die in dieser Zeit zurückgegriffen wurde, stammen aus dem
1 9. Jahrhundert, sie sind zählebig, können in immer anderen gesellschaftlichen
Situationen wiederbelebt werden. Die Bilder sind festgelegt, die Deutungs möglichkeiten aber offen, einmal etablierte Stereotype können in unter schiedliche ideologische oder politische Konzepte eingepasst und funktiona lisiert werden. Was mit durchaus konservativen, oder sogar reaktionären Inter pretationen besetzt war, lässt sich 75 Jahre später zum Ausdruck von Freiheit und Liberalität umdeuten.
1 974 eröffnete IKEA in Deutschland seine erste Filiale. In einem Katalog des Jahres 1 983/84 heißt es "Schweden ist Mittsommernacht. Der längste Tag des Jahres, alles blüht, ist Licht; Leute tanzen, Kinder spielen." Das Bett, das mit diesen Worten angepriesen wird, heißt "Sundborn" nach dem Wohnort von Carl Larsson, das Kopfteil ' so Cecilia Lengefeld, erinnere entfernt an ein Bett aus . . Lilla Hyttnäs, das auch auf Bildern Larssons abgebildet seI.' 4 1
IKEA nutzte in perfekter Weise ein vorformuliertes Schwedenbild zur Ver marktung seiner Produkte, dass die in der Regel in der �amaligen DDR h�r gestellt worden waren, interessiert(e) niemand. Das vermlt!elte Schwedenbild passte zu gut in die Zeit: Es war die Zeit der begin�end� O�olog�ebe,:",e�ung. Der Slogan lautete: "Unser Stammbaum ist die Kiefer ' eme em�elmlsch� , . schnell nachwachsende Baumart, das beruhigte das ökologische Gewissen. Die
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Vgl. dazu die informative Arbeit von Cecilia Lengefeld (wie Anrn. 39). Zit. n. Lengefeld (wie Anrn. 39), S. 1 09.
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Billy Ehn, Jonas Frykman und Orvar Löfgr en, Försvenskningen av Sverige Stockholm ' 1 993 .
POLARFAHRT ALS BIBLIOTHEKSPHÄNOMEN UND DIE POLARGEBIETE DER BIBLIOTHEK: NACHFAHREN PETRARCAS UND DANTES IM EIS UND IN DEN TEXTEN l Bettine Menke
Ich stelle Ihnen mit dem Polargebiet nicht nur ein Motiv der Texte, sondern den Fall einer metatextuellen Metapher vor, also einer Metapher, durch die poetische Texte von sich selbst sprechen, sich selbst modellieren. Mit den Polargebieten und den Fahrten in diese geben poetische Texte eine mythopoetische Selbst thematisierung der Poesie zu lesen. Denn Polargebiete geben den Topos der Primarität ab und das Telos und Modell fur die Suche nach einer anfanglichen Leere ohne Spuren. Mit Polarfahrten wird deren Erreichbarkeit verhandelt, das heißt aber die Un-Erreichbarkeit eines Terrains der Spurlosigkeit entwickelt. Der Umweg, den meine Darstellung nimmt, ist als der Umweg einer Nach träglichkeit Teil meiner These: Die Spurlosigkeit wird aufgefunden nur als Nachträglichkeit, das, was nur einmal sich ereignet, in der Wiederholung. Vor der Arktis/Antarktis-Renaissance in den 90er Jahren des letzten (20.) Jahr hunderts2 erschienen in den 80er Jahren zwei deutschsprachige Romane, in denen Polarfahrten unternommen werden, Sten Nadolnys sofort breit rezipierte Entdeckung der Langsamkeit (von 1 983) und Christoph Ransmayrs ( 1 984 er schienener) Die Schrecken des Eises und der Finsternis.3 Unter dem Titel Die Schrecken des Eises und der Finsternis macht sich ein gebürtiger Südtiroler, Josef Mazzini, wohnhaft in Wien, Anfang der Achtziger Jahre, zum Nachfahren einer 1 00 Jahre zurückliegenden Polarexpedition. Er folgt - schreibend und rei send - der Österreichisch-Ungarischen Nordpolarexpedition von 1 872- 1 874, die auf der Suche nach der Nord-Ost-Passage unter der Doppelkommandantur (zur See und zu Lande) von Carl Weyprecht und Julius Payer mit italienischen Matrosen und Tiroler Bergsteigern an Bord der "Admiral Tegetthoff" ins Polar gebiet östlich von Spitzbergen aufbricht. Das Schiff wird gerade 40 Tage ge segelt sein, um rurchterliche zwei Jahre im Eis eingeschlossen mehr oder weniger nordwärts zu driften; zufcillig wird die Expedition auf dieser Drift eine Inselgruppe entdecken, die den Namen Franz-Joseph-Land erhält, und dann I
Der folgende Text ist eine kürzere Vortragsfassung von "Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher", DVjs, Dez. 2000. Er geht zurück auf ein Seminar an der Universität Konstanz (im SS 1 994) und Vorträge, die ich seit 1 996 an den Universitäten Frankfurt a. M., Frankfurt (Oder), Münster, Erfurt, Zürich, Bielefeld, Hannover und Kiel vorgetragen habe. Vgl. etwa die Ausstellung Arktis - Antarktis, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundes republik Deutschland, Bonn 1 998. Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1 983; Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1 984.
Bettine Menke
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Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
unter unsäglichen Qualen und mit unsagbarem Glück zu Fuß und in Booten über Eis und Eismeer zurückkehren. Diese Expedition wird nun im Roman von Ransmayr zur Vorlage, nach der Mazzini seine Fahrt ins Polargebiet unternehmen wird, um in diesem zu verschwinden. Damit aber nicht genug, wird diese Konstruktion von Vorfahren und Nachfahren mit einer Herausgeber Fiktion versehen. Die genannten beiden Fahrten werden Lesern von einem anderen Nachfahren dargeboten, der nicht im Raum nachfährt, sondern der eher widerwillige Nachfolger von Mazzinis Schreiben wird. Er schreibt ab und überliefert, was Mazzini schon exzerpiert und kompiliert hat. Die Rückdatierung der erzählten Polarfahrt ins 1 9. Jahrhundert in Ransmayrs wie auch in Nadolnys Roman (dessen Entdeckung der Langsamkeit sich entlang und anhand der fiktiven Biographie Franklins vollzieht) erfolgt mit historischer Präzision. Denn das 1 9. Jahrhundert war der Zeitraum erneuter Suche nach Nordwest- und Nordost-Passagen und einer auch massenmedial unterstützten Polarbegeisterung.4 Nord-Polarfahrten im Dienste der Suche nach der Passage sind im 1 9. Jahrhundert - nach längeren Unterbrechungen - allerdings vor allem und zunächst Sache englischen Interesses und, anders als im 1 6. und 1 7. Jahr hundert eine Sache der englischen Regierung. 5 Der Preis von 2000 Pfund Sterlin wird 1 8 1 7 von der englischen Admiralität erneut ausgesetz�. Die Offiziere der siegreichen englischen Flotte sollten nach den Napoleomschen Kriegen anderweitig beschäftigt werden; dies datiert das neue Interesse an den Polarfahrten präzise.6 Österreich-Ungarn aber gehört weder zu den Seefahrer Nationen, noch viel weniger zu denen der Polarfahrten. Ransmayrs Roman stellt die Unglaubwürdigkeit der Reise als deren Unwahrscheinlichkeit aus:
[D]as Vorspiel zu Mazzinis Verschwinden begann, als er unter den antiquarischen Beständen der Buchhandlung Koreth die mehr als hundert Jahre alte Beschreibung einer Eismeerfahrt entdeckte, die so dramatisch, so bizarr und am Ende so unwahrscheinlich war wie sonst nur eine Phantasie: Es war der Bericht Julius Ritter von Payers über die k. u. k. österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, erschienen in Wien 1 876 beim Hof- und Universitätsbuchhändler Alfred Hölder.7
Die Unternehmung, so unwahrscheinlich sie ist, die Bizarrerie der Geschehnisse, des entdeckten "entsetzlichen Landes", wie des Zufalls einer Entdeckung, die die Expedition doch noch zu einem Erfolg gemacht haben wird, ist aber historisch. Nichts weist nach eingeübtester literarischer Konvention einen Bericht genauer als fiktiven aus, als eine diesen begleitende Herausgeberschaft, die dessen Authentizität zu inszenieren hat. Was Leser als Ausweis des Fake längst zu entschlüsseln gewöhnt sind, die (allen Normen genügenden) Literatur nachweise, die das Ende von Die Schrecken des Eises und der Finsternis be legend nachreicht, erweist sich hier aber als red herring. Er läßt diejenigen, die diesem und seinen Spuren folgen, allerdings nicht leer ausgehen, sondern stattet sie - in Enttäuschung der erwarteten Enttäuschung - mit einem Stapel Bücher aus, denen der verschiedenen Teilnehmer der unglaubwürdigen Polar
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Das 19. Jahrhundert kannte eine neue Euphorie für Polarfahrt, die massenmedial unter stützt wurde und sich in Massenmedien wie auch einer Vielzahl von Buchpublikationen niederschlug. Dies zeigen die Polarexpeditionen FrankIins, vor allem die letzte ver schollene und die lange Nachgeschichte der Suche nach ihr. Die Geschichte der Polarforschung verzeichnet den Einschnitt nach 1 6 1 5/ 1 6. "Das eng lische Parlament setzte 1 743 einen Preis von 20.000 Pfd. Sterl. aus auf die Entdeckung der Nordwestpassage; keine Unternehmung aber hatte Erfolg, auch die Versuche Cooks 1 778 und Clerkes 1 779, sie in der Richtung W . nach 0., also aus dem Beringmeer zu finden, glückten nicht. Infolgedessen gerieten diese Bestrebungen ins Stocken, und es wurde auch die dafür ausgesetzte Belohnung wieder zurückgezogen. Erst im 1 9 . Jhd. wieder richteten sich die Hauptanstrengungen nach NW., führten endlich zur Entdeckung der nordwest lichen Durchfahrt und erschlossen die Inselwelt im N. des amerikanischen Kontinents. Bis zur Aufklärung des Schicksals FrankIins und seiner Gefahrten ( 1 859 [durc Mac . Clintock]) wurden in diesem Jahrhundert mehr als 50 Schiffe und l Omal Landexped�tlO�en mit Booten und Schlitten nach jenem Teil des Eismeeres ausgesandt." (Fnednch Embacher Lexikon der Reisen und Entdeckungen, Leizig 0.1. [ 1 8 8 1 ], repr.: Amsterdam 1 96 1 , S. 8 1 ). Vgl. Friedrich von Hellwald, Im ewigen Eis. Geschichte der Nordpol Fahrten von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Stuttgart 1 8 8 1 , S. 538-540. Vgl. Jules Verne, Les voyageurs du XIXe siecle, Paris 1 880, in Auswahl deutsch in: Die großen Seefahrer und Entdecker, Zürich 1 974, S. 470.
expedition.8
Diese Schriften und ihre Kon-Texte situieren das Unternehmen der öster reichisch-ungarischen Expedition im Kontext der Wendung des Interesses an der Passagen-Suche hin zum Pol (im letzten Drittel des 1 9. Jahrhunderts) und der national ausgeprägten Diskussion (der Möglichkeit) diesen zu erreichen.9 Der Geograph August Petermann wies als Initiator deutscher Polarexpeditionen, im Unterschied zu angelsächsischen Unternehmungen, die in der Tradition der Suche nach der Nord-Westpassage den Weg westlich von Grönland nehmen, einen Weg durchs Eismeer östlich von Grönland ins "offene Pol armeer" an, auf
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Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 9 . Julius Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition i n den Jahren 1 872- 1 874, k. k. Hof- und Universitätsbuchhändler Alfred Hölder, Wien 1 876; Carl Weyprecht, Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebniß, Hartleben's Verlag, Wien/Pest/Leipzig 1 876; Otto Kriseh, Tagebuch der zweiten österreich isch-ungarischen i Nordpol-Expedition. Aus dem Nachlasse des Verstorbenen herausgeg eben von An on Kriseh, Wallishausser'sche Verlagsbuchhandlung, Wien 1 875; Johann Haller, Erinne rungen eines Tiroler Teilnehmers an Julius v. Payer's Nordpol-Expedition 1 872/1 874. Aus dem Nachlasse bereitgestellt von seinem Sohne Ferdinand Haller und herausgegeben von R. Klebelsberg, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1 959. Die als "Nordpolfrage" diskutiert wurde - so August Peterrnan n, Die Nordpolfrage (mit einem Auszug aus Richard A. Procter, The proposed Journey to the North Pole, in: Temple Bar, Nov. 1 867, S. 536-546), in: Geographische Mittheilungen, 14. Jg., Gotha 1 868, S. 1 69.
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dem auch die Zweite Östereichisch-Ungarische Nordpolarexpedition sich 1 8721 74 versucht. 0 Aus den Büchern der Expeditionsmitglieder, den Briefen und Handschriften von Payer und Weyprecht aus dem "Österreichischen Kriegsarchiv/ Marine abteilung" schreibt Mazzini aus, überliefert der ihm folgende Herausgeber und zitiert der Text, der unter dem Autor-Namen Ransmayr erschienen ist. Dem "Hinweis" am Ende dieses Buches zufolge haben: "Die Figuren dieses Romans [...] an ihrer Geschichte mitgeschrieben." Kursiv gedruckt -. typogra�hisch markiert also - machen diese Texte einen nicht unbeträchthchen Tell des Schreckens des Eises und der Finsternis aus. Der Bezug auf die 1 00 Jahre zurückliegende Reise erfolgt durch Zitieren . Der Expeditionsbericht ist viel stimmig, der Text offen intertextuell organisiert. Er präsentiert sich - offen sichtlich - als intertextueller, als heterogener durch die typographische Insze nierung des Zitats und die Kombination verschiedener Textsorten: Diagramm�, Schemata, Listen, Exkurse und Bildmaterialien, u.a. Stiche aus Payers Expedl11 tionsbericht und Farbphotographien polarer Landschaft. Ab- und ausgeschrieben worden ist hier Vieles: weitere Literatur über Polar gebiete und -fahrten - bis zur verunglückten Ballon-Fahrt des italienischen General Nobile, denen folgend der Text in drei Exkursen die Geschichte der Pol-Mythen nachschreibt. Er zitiert und fUhrt an: die Heilige Schrift, wie nicht anders zu erwarten ist, und die kanonischen Autoren Dante, Petrarca, Milton, Shakespeare und Lessing, aber auch Zeitschriften und einen ins Zwielicht gerückten Swinigel. 1 2 Wir haben es zu tun mit einer Phantastik der Bibliothek, un fantastique de bibliotheque, wie der Titel Foucaults flir seine Lektüre von Flauberts Ver suchung des Heiligen Antonius lautet, auf den meine Titelformulierungen anspielen: Das Polargebiet "dehnt sich" - so zitiere ich Foucault - "von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen." I3 Die Fahrt zum Pol selbst ist - nach den polarforscherischen Gepflogenheiten des 1 9 . Jahrhunderts - mit Büchern ausgestattet; 1 4 Schule und Bibliothek sollen auch an Bord der Admiral Tegetthoff- als psycho-hygienische Vorkehrungen die lange Pol-Winter-Nacht überstehen helfen. 10 Il 2 1 I3
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Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
Bettine Menke
Die einer Vorexpedition im Gebiet zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja 1 87 1 folgte. "Der rastlosen Thätigkeit Petermanns gelang es, erfolgreich auch in Deutschland zu Polar forschungen anzuregen" (so Embachers Lexikon der Entdeckungen, wie Anm. 5, S. 387). Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 29-1 37. In der Konstellation der Weihnachtsgaben, ebd., S. 1 05. Michel Foucault, Un 'fantastique' de bibliotbeque, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1 988, S. 1 57-1 77, hier: 1 60. Vgl. Hellwald, Im ewigen Eis (dem Freund Julius Ritter von Payer gewidmet) (wie Anm . 5), S. 564 f., 672, 698; Verne, Seefahrer und Entdecker (wie Anm. 6), S. 475 ff., 479.
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In diesen Jännerwochen läßt Weyprecht Schule halten, auch wenn vor ihnen noch . kemer so nahe am Nordpol überwintert hat, und auch wenn diese kreischende Wüste sie unablässig bedroht, so soll jetzt doch jeder lesen und schreiben lernen soll die Bordbibliothek - vierhundert Bände, darunter Lessings und Shakespeare Dramen, auch John Miltons Verlorenes Paradies und vergilbende Ausgaben der Neuen Freien Presse - gegen die Endlosigkeit der Zeit und gegen die Schwermut verwenden können. Poesie! sollen sie haben und Gedanken über den Jammer der Gegenwart hinaus. I 5
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Die eingebrachten Texte sind Prätexte der Polarfahrt. Dies gilt fiir Miltons
Paradise Lost, ist dieses doch Vorlage unter anderem von Mary Shelleys Frankenstein, 1 6 in dem demiurgische Hybris und Polentdeckung fiireinander ein treten, wie es fiir das Buch Hiob gilt, das das Modell des "Landes Uz" fiir die
Polarregion abgibt, und fiir die Zitationen Petrarcas und Dantes. Mit den drei letztgenannten fiihre ich im Folgenden paradigmatische Fälle der intertextuellen Modellie�ng des Polargebiets an und werde dabei zeigen, dass umgekehrt das Polargebiet selbst zur metatextuellen Metapher wird. 1 . In der Zitation des Buch Hiob schlagen die verschiedenen Textschichten ineinander durch. Aus ihm wird explizit zitiert, wenn der Kommandant Weyprecht es "in dieser Zeit der Eispressungen" verliest und verballhornend appliziert. I? Der Trost aus der Applikation wird abgewehrt: "Hier ist nicht das Land UZ.,, 18 Dann aber heißen die "Aufzeichnungen" selbst "aus dem Lande UZ". 19 Sie handeln von der zweiten Überwinterung im Angesicht des ihnen von der Phantastik des Zufalls zugefiihrten neuen noch nicht betretenenen Landes' von Krankheit und Agonie eines der zu Mit-Autoren gewordenen Teilnehmer und von den Schlittenfahrten auf dem Franz-Joseph-Land, das charakterisiert is� du:ch: "Basaltt�rme, Brucheis, grelle, tote Berge, Schluchten, Grate, Halden, Khpp�n �nd k�m Moos, keine Sträucher. Nur Steine und Eis. [ . ..] Wenn das ein ParadIes 1st, WIe muß dann erst die Hölle sein."
:: Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 24.
Fr�nkens!ein, or, the Modern Prometheus ( 1 8 1 8/ 1 8 3 1 ) steht unter dem Motto eines Mllton-Zltats; das Monster liest Paradise Lost und ist modelliert nach dem Modell von dessen Satan wie Adam (vgl. Andrew Griffin, Fire and Ice in Frankenstein, in: The En
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durance of Frankenstein. Essays on Mary Shelley's Novel, hrsg. von George Levine, U.C. Knoepflma�her, BerkeleylLos AngeleslLondon 1 979, S. 49-73, hier: 68 ff., Peter Brooks, . Godhke SClence/ Unhallowed Arts': Language, Nature, and Monstrosity, in: The Endurance of Frankenstein, S. 205-220, hier: 207, 2 1 0 ff.). Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 72. Ebd., S. 101 f. .. In der Uberschrift zu Kap. 1 5, ebd., S. 1 80 ff.
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Das Franz Joseft-Land zeigte den vollen Ernst der hocharktischen Natur; be . zu em. . sonders im Anfang des Frühjahres schien es allen Lebens entbloßt � Überall starrten ungeheure Gletscher von den hohen Einöden des Geblrg�s herab dessen Massen sich in schroffen Kegelbergen kühn erhobe�. Alles war m blend�ndes Weiß gehüllt,� wie candirt starrten die Säulenreihen der sym o metrischen Gebirgsetagen.
wie�erzuerkenne�, Zeilen aus dem Buch Hiob untertiteln dann, nicht so leicht bis zu de� Spei du t "Kams heit: Schön r . die eingefügten Farbfotografien polare Ist, glelchsa� (das " ? e1s g : H des ern Kamm die du c chern des Schnees und sahst . bilden, nun mit fotografisch maskiert, Buch Hiob 3 8, 22). Und seme Verse e Exk�r��s zu Quellen-Nachweis und neu- und ummontiert, den .ersten Text , � rnls , der Fmste der ls " den Pol-Mythen, als Mythos. eines1 "äußersten Wmke 2 Leere und des Orts der "E'mSlcht" .
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yr) die italienischen 2. Im Eis der Neujahrsnacht 1 872/73 sollen (so Rans�� On zu Harmonikaxpedltl Polare ischenMatrosen der Österreichisch- Ungar
begleitung gesungen haben:
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
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Mit "Campi deserti" ist dieses Kapitel überschrieben; und im "kahle[n], öde[n] Felsenland da draußen" werden die Campi deserti Petrarcas wörtlich genommen, realisiert. Petrarca, dessen Name durch seine Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1 3 3 5 - so Joachim Ritters berühmte Studie - verbunden ist mit dem Aufgang des Konzepts der Landschaft,24 wird hier aufgerufen für das, was eben dies, Landschaft, nicht ist, die Ödnis ohne Spur des Menschen, während Landschaft gerade ausmacht, dass Natur "in ihrer Beziehung auf den empfindenden Menschen" aufgefaßt wird. 25 Petrarcas textuelle Inszenierung der Besteigung des Mont Ventoux charakte risiert Landschaft durch die Ambivalenz des Aufstiegs zwischen Ausblick und theologisch motivierter Ab- und Rückwendung aufs Buch. Der Blick ins mit geführte Buch, die Confessiones der Autorität Augustinus, die die Ab-Wendung nach innen vorschreibt, führt zum beschämten Verzicht auf den durch den er höhten Standpunkt ermöglichten Ausblick in die Welt. Damit ist - so akzentuiert Blumenberg - "[d]ie vergleichsweise bescheidene Wanderung zu einem symbolischen Unternehmen stilisiert, bei dem ans Sündhafte streifende Begierde und fromme Scheu vor dem Niebetretenen, Wagemut und Furcht, Anmaßung und Selbstbesinnung [ . . ] zusammenwirken.,, 26 Als verfehlter transcensus, als den er diese inszeniert, entspricht Petrarcas Bergbesteigung einer anderen Ent deckung, die paradigmatisch geworden ist für die Literatur zumal imaginärer Polfahrten, der "letzten Reise des Odysseus" (wie Borges sie nennt), die dieser in Dantes Inferno unternimmt. .
Solo e pensoso i piil deserti campi vo mesurando a passi tardi e lenti, e gli occhi porto perfuggire intent� . ,:2 ove vestigio human I,arena stampl.
Sonett � 5, v-:as Es handelt sich um die erste Strophe von Petrarcas be�hmte� u horen Ist, hier aber nicht gesagt wird. Wenn dies im nächsten Kapitel wlede� � --: G:gen ls Mazzm wird es Petrarca zugeschrieben/3 wird es - in eine� Traum . uberwird es und rnens, stand "verzweifelter Wiederholungen" des Auswendlgle setzt, auf deutsch wiederholt: Einsam und in Gedanken durchmeß ich! die ödesten Gefilde/ mit zögernden, langsamen Schritten! und die Augen fUhr ich! auf Flucht bedacht, umher,! aufmerkend,! wo Menschenspur im Sande sich einpräge.
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nder die
Ebd., S. 105. Ebd., S. 1 07 f.
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der Polarlä öden Gestade So P ayer, nach ebd ., S . 1 93 . "Denn in der That sind die . 8, S . 203 .) Zur �. wie ion, lexpedit Nordpo (Payer, " s. Hunger des wahre Heimat . 3), S. 99. Anm (wie en Schreck Die yr, Ransma "Schönheit" dieser Bilder vgl. Payer nach , 3 8 . 1 6- 1 7 (die "Gott selber 8.22-24 3 Versen den aus Montag eine ist Es ff. 72 1 Ebd., S. spricht:" ) und 28. 1 - 4, 28. 6-8., 28. 9-14.
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Unter dem Motto der Campi deserti wird - in einer polargeschichtlichen Fehllektüre von Petrarcas Sonett - ein Land gesucht, das noch nie von einem menschlichen Fuß betreten wurde. Das Fliehen der von Menschen hinterJoachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modemen Gesellschaft ( 1 963), in: ders., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1 974, S. 1 4 1 - 1 63, hier: S. 1 4 1 . Ritter, Landschaft (wie Anm. 24), S . 1 50, 1 53 f. 'Landschaft' werden Felder, Ströme, Hügel "erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in 'freier' genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein. Mit seinem Hinausgehen verändert die Natur ihr Gesicht. Was sonst das Genutzte oder als Ödland das Nutzlose ist und was über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhetisch zur Landschaft." (S. 1 5 1 , vgl. S. 1 62). Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde (Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von: Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil), Frankfurt a. M. 1 973, S. 143. "Dies alles gibt sich wie eine ungeheuerliche Versuchung des Menschen, und ihr entspricht die Erfahrung auf dem Gipfel [ ... ]. Die Konkurrenz zwischen Außen und Innen, zwischen Welt und Seele endet damit, daß Petrarca die ständig mitgeführte Taschenausgabe der Confessiones Augustins aufschlägt und genau vorsehungsgemäß auf eine Stelle im zehnten Buch [also über die memorial trifft, an der das Staunen über die Höhen der Berge, die Fluten des Meeres und der Ströme und die Bahnen der Gestirne in harten Kontrast gesetzt ist zur Selbstvergessenheit des Menschen."
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Aber diese Fahrten lassenen Spuren fungiert als Modell der Polar-Expedition. r. Dies ist die Büche der m ins Unbetretene, ohne Spuren finden statt im Mediu kann, die chen ausma g ehmun Untern Spannung die nur die Paradoxie dieser 2 ht wird, gesuc die 7 , Welt" n "leere einer t Antinomi� zwischen der Spurlosigkei sstheit Verfa en xtuell interte seiner mit Text der die n, und der Ordnung der Spure Texte, er ander n Spure exponiert: Der intertextuelle Text ist der der Spuren, der fremder Zeichen. Expeditionen in der Bevor ich der Relevanz des Spurenparadigmas für Polarmöchte ich den ehe, nachg weiter Verlängerung von Petrarcas Campi deserti Bezug auf Dantes Inferno ausführen. 3. Terra nuova
neu ent - so heißt durch eine weitere Kapitelüberschrifts das Ulysses und
Dante deckte unbekannte Land. Dieser Titel motiviert sich durch die Grenze, die über geht Sie erno. Inf des g Gesan 26. im dessen "letzte Fahrt" gente" zum senza die Säulen des Herkules anzeigen, hinaus in "[un] mondo tigen Berg gewal einem , terra" andern Pol und sie wird scheitern an der "nuova in einem vierfachen Strudel . [Aus einer Höllenflamme spricht Odysseus:] Ich bin hinaus aufs offene Meer gefahren. [ ... ] Als wir an jene Meeresenge kamen,! Wo Herkules die Zeiche� auf gerichtet,! Damit die Menschen nicht mehr weiterführen [... ] [überredet er dl� Ge fahrten:] 'An diesem eurem kurzen Lebensabend,! Der unsern wachen Smnen noch verblieben,! Sollt ihr euch der Erforschung [l'esperlenza] nicht verschließen, Der Sonne folgend, unbewohnter Länder [mondo senza gente]. [... ]1 Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere,! Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben.' Ich machte die Gefahrten so begierig! Durch diese kurze Rede auf die Reise, [... ]. Die Ruder hoben wir zum tollen Fluge,! Und immer weiter drangen wir [.. .]. Und alle Sterne schon des andern Pols sah man zur Nacht und unsern schon gesunken [... ].1 Da ist vor uns ein Berg emporgestiegen! In dunkler Feme; der schien so gewaltig,! Wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Wir freuten urlS, doch ward es bald zum Un heil,! denn von dem neuen Lande kam ein Strudel [ehe dalla nuova terra un turbo nacque.]/ Und schüttelte des Schiffes Vorderseite. Dreimal ließ er's mit allen Wassern kreisen, Beim vierten Ma e ging das eck nach oben, Den BU�fach . unten, wie's dem Herrn! gefallen,! BIS über uns die Wogen sich geschlossen.
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Diese �ahrt zum Südpol ist eine Übertretung - so haben Borges und Blumen berg diese letzte Reise des Odysseus aufgegriffen?9 Odysseus überschreitet die gesetzten Zeichen der dem Menschen 'zugewiesenen' bewohnbaren Welt; seine Fahrt wiederholt den Sündenfall, "Überschreitung des Zeichens (il trapasar dei segno)" auch dieser - wie Dantes Adam im Paradiso sagt. Im Zwielicht der curiositas, in dem Dante seinen Odysseus stehen läßt Zwielicht von deren mittelalterlicher Verwerfung und neuzeitlicher Umwert�ng3 0 rückt Dantes im Südpolarmeer im Anblick nie gesehenen Landes gescheiterter Odysseus neben Petrarca, der auf dem Gipfel des Mont Ventoux die ästhetische Weltneugier ebenso eröffnete, wie im abwendenden Blick ins autoritative Buch zurück nahm. 3 l Blumenberg, in dessen Analyse der "theoretischen Neugierde" dies nach zulesen ist, bemerkt nicht, daß es bei Odysseus letzter Fahrt um eine Polarfahrt geht, wie ihre traditio aber zeigt: Diese scheiternde Fahrt ist durch die vielfache Zitation ihres Modells der Übertretung vor allem in der englischsprachigen Lite ratur des I? Jahr?underts der Mythos nicht nur imaginärer Polar-Fahrten ge worden; er 1st der In der Ausprägung Polarfahrt als Apokalypse bestuntersuchte' ich verweise auf die Untersuchungen von Metzner und Frank.32 Die Dante� Weiterschreibung ergibt eher denn eine "ununterbrochene Traditionslinie" 33 ein Geflecht intertextueller Verwebungen, in der die Karten Mercators und Texte von (u.a.) Schnabel (Die Insel Felsenburg, 1 73 1 -43) ,34 Chamisso (Salas y 2 9
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Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 8. von Herrmann Gmelin, 3 Bde., Dante, Divina Comedia, ital.ldtsch, übers. u. komm. 26. Gesang, Vers 52-142 . Die Inferno 988, 1 n Münche repr.: Teil, 1. I, Bd. 949, 1 t Stuttgar geschlossen hatten und ratiker Vorsok die die auf häre, terra nuova der südlichen Hemisp Navigation, New York ic Antarct die Aristoteles projektiv benannte (vgl. Elizabeth Arthur, nova"] ; Alan Gumey, "Terra Kap. darin: 997, 1 M. a. rt Frankfu 1 994 [dt.: Eislandfahrt, York 1 997 [dt.: Der New 839, 699-1 1 ica Below the Convergence: Voyages toward Antarct n 1 999]), wird Münche er, Entdeck ihrer und tis Antark der hte Geschic weiße Kontinent. Die us des Dualism den Gegen zitiert. von Ransmayrs Text also wörtlich an den Norden
nördlichen und des südlichen Pols argumentiert auch Joachim Metzner, Persönlichkeitszerstörun� und Welt�tergang, T�bingen 1 976, S. 145. Jorge Llils Borges, Die letzte Reise des Odysseus (Nueve Ensayos Dantescos' 1 982), in: Die letzte Reise der Odysseus, München 1 987, S. 1 52 f. Blumenberg, Prozeß (wie Anm. 26), 1 39. "[A]uch in einem ein Jahr späteren Brief Petrarcas über die Lage der rätselhaften Insel Thule" - und damit im direkten Bezug aufs Polargebiet - findet sich die "zunächst freige ge ene, dann aber [ ... ] negativierte Wißbegierde" (Blumenberg): "was wir mit eifriger M e gesuch� haben, ungestraft bleibt es unbekannt. Mag Thule im Norden verborgen bleiben, mag Im Süden verborgen bleiben die Quelle des Nils wenn nur mitten zwischen i en die Tugend festen Fuß faßt und nicht verborgen bleibt .. . Wir wollen also nicht allzu viele Mühe verschwenden an die Erkundung eines Ortes, den wir vielleicht mit Freuden verlassen würden, sobald wir ihn gefunden hätten" (zit. n. Blumenberg' Prozeß, wie Anm. 26, 1 46). Metzner, Persönli�hkeitszerstörung (wie Anm. 28) und diesem in vielem folgend Manfred . Frank, Die unendhche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a. M. 1 979. .etzner, Pers?nlichkeitsze:störung (�ie Aum. 28), S. 1 68. Uber den Emwohnern dieser utopischen Insel schwebt ein vom 'Altvater' erlassenes Verbot, das Geheimnis der Insel durch eine Südpolexpedition zu ergründen und so die A�a des Heiligen er�ründend zu zerstören. Zwischen dem Pol und der Insel fliegen heilige Vogel .. : " (Frank, wie Anm. 32, S. 1 1 9); vgl. insb. Arno Schmidt, Herrn Schnabels Spur ( I 956), m : ders., Zur Deutschen Literatur 1 , Zürich 1 988, S. 5 1 -78, hier: 53 f. , 70, 79 f.; ders., Zettels Traum (Studienausgabe in 8 Heften) 2. Aufl. , Frankfurt a. M . 1 986, S. 244, 486 u.ä.
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Reichen gebunden wurde 43 muss demgeg ·· · · enuber m emer Verschiebung gelesen . . ' we�� die auf die Petrarca fehllesende Frage nach Spur und Spurlosigkeit u c . m t: �s geht um die Möglichkeit der Topographierbarkeit der u zelc en ar�elt und der Lesbarkeit eines noch einmal - auf der Fläch� der . Karte - ex�erntonal gedachten Ortes,44 um das in Polarfahrten realisierte Phantasma emes Ortes ohne Eintrag, der Spur losigkeit.
Gomez, 1 829), Cooper (The Monikins, 1 836), Coleridge (The Rime of the Ancient Mariner, 1 798), Poe (The Narrative of A. G. Pym, 1 83 8),35 Baudelaire, Veme (Le sphinx des glaces, 1 895), Rimbaud36 und Laßwitz (Aufzwei Planeten, 1 897) wie Heym, der wie auch T.S. Eliot (The Waste Land, 1 922)37 an
Shackletons antarktische Reiseprotokolle anschließt, darüber hinaus auch - mit Milton - Melville (Moby Dick, or, The Whale, 1 85 1 )38 und Mary Shelley (Frankenstein, or, the Modern Prometheus, 1 8 1 8i9 sich gegenseitig kommen tieren, zitieren, fortschreiben. Alle Metatexte dieser intertextuellen Textur haben darüber hinaus schon Vorlagen und Prätexte an Schriften von Borges und Amo Schmidt.
Der vierfache Wirbel am gewaltigen Berg von Dantes Pol gibt den Prototyp all jener 'whirlpools' und Mahlströme, in denen die säkulare Weltneugier, die discovery, geahndet wird. 40 Poe - der Dante zitiert - greift dabei auch auf Land karten Mercators zurück, die am Nordpol Dantes gewaltigen Berg inmitten eines Strudels zeigen, der von vier reißenden Flüssen gebildet wird (Abb. 1 ), 4 1 was den Pol als "Negativ des Paradieses" ausweist,42 - und spezifischer als die kartographisch verzeichnete - systematische Grenze der Kartographie, also topographischer Verortbarkeit. Das Modell der Übertretung, das - in der Forschung - bisher in der Parallele von Polarfahrt als Reise ans Ende der Welt und Apokalypse verengt und zu eng an die Entwürfe von utopischen Pol35
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Für die Intertextualität Poes, Schnabels und Coleridges vgl. Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 1 1 8 f. u.a.; für die Korrektur Poes/Pyms durch Veme, vgl. ebd., S. 1 20: "Natürlich handelt sich's [bei 'Jener Eissphinx, die sich als Magnetberg enthüllt",] um den legendären Polfelsen Dantes, den Magnetberg der alten Sagen." Vgl. Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wie Anm. 28), S. 92 ff., Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 1 42-48. Vgl. Metzner, Persönlichkeitszerstörung (Anm. 28), S. 2 1 f. Dessen Motto (zum Leviathan) ist aus Miltons Paradise Lost; er schließt auch explizit an Coleridge an (New York 1 967, S. 1 64 ff.). Borges macht darauf "aufmerksam", dass der Moby Dick von Melville, "der sicherlich die Komödie in der Übersetzung von Longfellow kannte", "genau mit dem Schluß des Gesangs von Dante [endet]: Das Meer schließt sich über ihnen" (Borges, Odysseus, wie Anm. 29, S. 26). Beide Literaturen englischer Sprache seien "vom dantesken Odysseus beeinflußt worden" (S. 1 56 f.). Neben Milton (Anm. 16) fUhrt Frankenstein auch Colerides The Rime 0/ the Ancient Mariner an (New York [Penguinl, 1 963 [mit einem Nachwort von Harold Bloom], S. 20 f.); vgl. Bloom, ebd., S. 2 1 8 f., S. 222, Brooks, Monstrosity (wie Anm . 1 6). Vgl. Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 49. Vgl. Gerard Mercators Weltkarte (grav. 1 569) u. Rumold Mercator, Polarkarte (1 595), aus: Meister der Kartographie, hrsg. von Leo Bagrow, R. A. Skelton, London, Berlin 1 963, Taf. LXX, S. 397 u. Taf. XCVI, S. 423. Dies belegt die Verlegbarkeit der Bilder des (feh lenden) Südens an den Pol des Nordens. Poes Ms. Found in a Boule spricht von einem auf den Mercator-Karten eingetragenen Riesenstrudel; in A Descent into the Maelström ist er an die Lofoten verlegt (vgl. Olaus Magnus, Carta Marina, 1 539). Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wie Anm. 28), S. 27; vgl. Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 1 1 1 .
Abb. l : Rumold Mercator, Polarkarte (n. Gerard Mercator), 1 595. 4 3 44
���. Metzner, PersönliChkeitszerstörung (wie Anm. 28), S. 3, 46, 66, 72, 1 1 2, 1 1
5, 144 f. "I have reached these Lands but nearl y/ From an uIf1mate d·1m ule -/ From a wild weird clime that lieth, sublime / Out of SPACE - out of TIME ' . (E. A. Poe, Dreamland Complete Works Bd. VII, S. 89, . ZIt. n. Metzner, Persönlichkeitszerstö rung, wie Anm . 28 S. 32).
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Die Mythen der Pol(ar)fahrt sind Modellierungen der Grenze, der durch Modelle der Grenze gedachten Topographie und der Überschreitung. Die Nordw�st- od�r -ostpassage wäre der "weiße Weg nach Indien"; Julius Payer schneb (wie Ransmayr zitiert): Zur "Erreichung" des Paradieses des Handels sollte "selbst der verkehrteste Abkürzungsweg nicht gescheut werden [ ...] - der durch das Eis". Als Passagensuche ist die Polarfahrt gebunden an die Ent�eck�ng �es Kolumbus und an die mit dieser Entdeckung dessen, was er für Indien hielt, m stallierte Territorial-Politik: Der Vertrag von Tordesillas, der 1 494 das Niemandsland zwischen SEanie� und Po�ugal au��ilt, was ei�� päpstliche B �lle . . für immer besiegeln muß, 5 zwmgt die mcht beteiligten Englander und Hollan der um jenes Neue Land, das zur "Barriere jener westlichen Reise nach Asien" wurde,46 herum auf die "nördlichen Routen - die Wege ins Eis", "dorthin [ ... ], wo alles kostbar ist und die Luft schwer vom Geruch der Gewurze , ms Paradies", das "jenseits der Packeismauern" gesucht wird. Im 'einen' homogenen Raum, den die des Kolumbus fUr alle folgenden Entdeckungen eröffnete wird die heterogene Ordnung der Teleologie zitiert und eingetragen, kontinui�rt und umgeschrieben, bis zur Entdeckung der - unpraktikablen Passagen und darüber hinaus, in der Wendung auf die Pole. Die Übertretung der Grenze, die - so Dantes Odysseus - nicht überschritten werden durfte konnte - nach Kolumbus' Erreichen einer terra nuova, so hat Torquato Tas;o Dante neugelesen - gewendet werden zum affirmativen Para digma der Entdeckung. Im Bild der Säulen des Herkules und ihrer Weisung Wec plus ultra', "Bis hierher und nicht weiter", die der Odysseus Dantes noch so ver standen und missachtet hatte, dass der Mensch sich hier nicht weiterwagen dürfe wird nun das Wahrzeichen des neuzeitlichen gegen das bisher Gültige gerichteten Aufbruches gefunden.47 Die Übertretung wird als afflrmativ:s Modell zitiert. Zuletzt wird nicht übertretend eine terra nuova, sondern die Übertretung selbst (als das Neue, dem ein Terrain unterstellt wird) gesuc?t; . in ihrem Aufschub, der die Grenze verschiebt, wird sie auf Dauer gestellt (die Ihr Ende und ihre Grenze an den Polen findet). •.
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Dem entspricht der topos des Betretens des 'Noch'-nicht-B ohne Fuß- Spur des Menschen - mit jener Metaphor etretenen: die Weiße ik, die noch immer und zuletzt gerade noch, etwa 1 868 in der Formulierung Augu Nordpolfrage" zu modellieren hat: Mit dem "Wunsch geradst Petermanns, "Die was noch niemals ein Anderer vor ihm zu thun im Stand e das auszuführen e war" dem "Wunsch'" "da�in vorzudringen, wo noch kein menschlic her Fuß gestande� hat, und das z� e:rel.�hen, was andere Menschen als unerreichbar an enom die Uberschreitung, die die Polreise wäre, so relativ,4� wie men haben",48 wird nun tatsächlich "das letzte Reserva:" fUr die geographi sche Lokalisierung "neuzeitliche[r] . . Grenzuberschreitungen" m den Gebieten am Pol gefunden wird. 50 Der Pol gibt einen letzten (noch) nicht erreichten: nicht-betr bildlosen Ort ab,5 1 jenen Punkt, der im Aufschub seines noch etenen und ab d�n beschr�ten R�um geographischer Entdeckung noch in nicht-Erreichtseins h�lt: daher Ist es e�n wahres Glück, dass der Nordpol nochseiner Ausdehnung Nilquelle noch mcht entdeckt ist". 52 Dieser "Uns nicht erreicht, die tetigkeitspunkt" und .
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"Die Neue Welt und alle ihre Länder, die bereits entdeckten wie die noch unbekannten, seien aufzuteilen unter den Völkern der Iberischen Halbinsel; jener Meridian, der 1 200 Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln von Pol zu Pol um den Erdball verlaufe, bilde die Grenze, die Länder östlich dieser Linie seien Portugal, die westlichen dagegen Spanien zugeeignet." (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anm. 3, hier und das Folgende . S. 45). Vgl. Cornelia Vismann, Terra nullius. Zum Feindbegriff im Völkerrecht, m: . Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechm �en von Institutionen, hrsg. von Arrnin Adam, Martin Stingelin, Berlin 1 996, S. 1 59-174, hier: 1 59-164. 46 Procter, Journey (wie Anm. 9), S. 1 70; vgl. hier und das Folgende: Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 45. 47 So argumentiert und belegt Blumenberg, Prozeß (wie Anm. 26), S. 1 4 1 .
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Peterrnann/Procter, Journey (wie Anm. 9), S. 1 70. Peterrnann nimmt einleitend die Gelegenheit wahr, flir eine deutsche Exped ition zu plädieren, während seinerseits der Text Proct r� selbst eine englische Nordpolarex pedition initiieren möchte, die einer geplan � ten franzosischen zuvorkommen möge; "'plus ultra' heißt der 'Wahlspruch' zum 'Stand der Nordpolarfrage zu Ende des Jahres 1 8 74'" (Geographische Mitteilungen 1 875, 2 1 . Jg., S. 23-3 1 , hier: S. 24). Wie Weyprechts Deutung des "Bis hierhe r und nicht weiter" als jeweilige "Practicabilität des Nordpolarmeeres" bei jeweiligem Packeisstan d zeigt '''Bis hierher und nicht
weiter' h�t schon S? mancher Polarfahrer gesagt, und sein Nachfolger ist ruhig über die Elsm�uern hmweggefaliren, die der Vorgänger Jür die Ewigkeit gebaut' erklärt hafte. Der Pol Ist �eder absol�t practicable, noch absol ut impracticable. Es wird im ganzen Polargebiete stets welfe Strecken geben, die, je nach den Eisverhältnissen der Jahre und der J�h:esz�iten, das e�ne oder das andere sind' (Die Resultate der englischen Polar
ExpeditIOn, m: Neue freie Presse, Nr. 4388, 1 1 . Nov. 1 876; teilweise auch abged ruckt in: Peterrnanns Geogr. Mitth. 1 876, S. 457-4 58). o Helmuth Lethen, Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden, in: Modeme versus Postm derne, hrsg. von Dietmar Kamper, Willem van Reijen, Frankfurt ? a. M. 1 987, S. 282-3 24, hier: S. 304. SI Und �men ' ��ch "��se��tion": "nie betretenen", "unnahbaren" und bilderlos "unphoto graphlerten , , geheilIgten Ort, vgl. Albert Ehrenstein, Wudanderrneer, in: Gedichte und Prosa, hrsg. von K. O ten, Neuwied, Berlin 1 96 1 , S. 368. Dies gehorcht noch einma � l dem Modell d r Erhabenheit, der Unterstellu ng eines Unerreichbaren, eines Jense � its für den und anstelle el es Ent ugs . Pay rs Expe ditionsbericht bemüht dafür ebenso � . � � . die Wendung der Unbeschrelbh � eIt �Ie die geläufigen Bilder erhabener Landschaft (vgl. etwa ders., Nordpolex dltlOn, Wie � . 8, S. 3 1 , 33, 1 04) und bei Ransmayr malt r: er auch selbst solche Gemalde (ders., Die Schrecken, wie Anm 3, S. 246); vgl. auch Lethe n, Kälte (wie 5 Anm . 50), S. 304. 2 Stand der Nordpolarfrage zu Ende des Jahres 1 874 (wie Anm 48), S. 23. Dem konfrontiert Weyprecht a�s das Ende des Parad igmas geographischer Entdeckung das Polargebiet als Raum, dem Jeder Punkt gleich gültig ist, der durch gleichmäßig verteilte Messpunkte, s
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"Indifferenzpunkt aller Bestimmungen" (in Kurd Laßwitz' � u/ zwei l!laneten, 1 897), der abstrakte "schwarze Punkt" am "weißlichen HlI�mel" (m . Georg Heyms Die Südpolfahrer, 191 1),53 das Nichts eines nur alsfikt �r Koor�maten schnittpunkt existierenden Punktes,54 der als abstrakter. Punkt sich entzieht u�d nicht erreichbar ist, wird zum ex-territorialen Oe: emer letzten L�;re, wird imaginiert als Ende der Welt und Durchgangspunkt m andere Welten. Ein 'j enseits' wird gedacht als 'noch nicht' Betretenes und dramatisiert �ls Un betretbares, so daß die Polarregion zum topos des absolut Entzogene� � als Bild der Hybris (nach dem Modell von Mary Shelleys Frankenstezn) w�e als 'Sehnsuchtsbild' eines Sich- Verlierens (nach dem Modell von Poes Narrative 0/
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A . G. Pym).
Das Vordringen in Campi deserti, die (noch) kein me�schlicher Fuß bet:et�n habe, in der Flucht der Spuren gibt das Modell ab fur. die Polarfah�, � di� im 19 . Jahrhundert einzig noch verbliebenen unbetretenen . ?rte, die weißen Flecken" der Landkarten, die die Polargebiete wörtlich reah �ter�n. �?er d�s ge suchte Gebiet der Spurlosigkeit, Unmarkiertheit wird nur � t emer �be�eichen Ausstattung an Mythen, Sinnstrukturen und Modellen von Sm�konstltut�on, von Inter-Texten aufgesucht. Das Polargebiet dementiert als BibllOtheksphanomen, l
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durch vergleichbare und regelmäßige Messungen in transnationalen Maßstäben ausgestec�t . würde (Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft und eren �icheres Ergebnis verghchen mit den bisherigen Forschungen auf dem arktischen GebIete, WIe Anm. 8 S. 40). : Georg Heym, Die Südpolfahrer, in: ders., Dichtungen und Schriften, rsg. �on Kar! Ludwig Schneider, 2 Bde., München 1 960-68, Bd. 2 ( 1 962), S. 1 23 ; allerdmgs: Das war
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das Geheimnis".
.. Vgl. auch Ransmayr mit Payer, Die Schrecken (wie Anm . 3) S. 37 1 79 Er ware �hne : : Wert wenn er erreicht sein würde - (wie Petermann ebenso weIß, wIe Kraus): ,das . sofortige Erreichen solcher Kernpunkte würde gewiss in v elen Fällen auf em� Phantom Jagd hinauslaufen, denn z.B. der Nordpol an sich dürfte em unter a len Um�tanden wohl . wenig bemerkenswerther Punkt sein, und selbst bel den heutJ�en Lelstu�ge� der . Astronomie bleibt es abzuwarten ob der Punkt so leicht zu finden, seme Lage mit elmger Sicherheit bestimmt werden k " (Petermanns �eogr�phische Mittheilungen, 1 87: 2 � . Jg., S. 23). "Was war das Paradigma aller BegehrhchkeJt? Der T�pf der Strebere�;. D�e Ultima Thule der Neugierde? Der Ersatz fUr das verlorene ParadIes? ... ] Ach, es htt dle . Menschheit nicht beim Tagwerk: der Gedanke, daß da oben noch ein paar Quadra�eIlen waren' die ein menschlicher Fuß nicht betreten hatte, war unerträglich. Freudlos wie der Fleck den es endlich zu finden gelang, war das Leben, solange er nicht gefunden war. Es war ine Blamage, daß wir, denen die Welt gehört, uns ihr letztes Endchen vorenthalte lassen sollten. ... ] Ich war enttäuscht! rief Herr Cook, und nannte das Idol der Mensc e einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weite� wertvoll, als daß er mcht erreicht wurde." (Karl Kraus, Die Entdeckung des Nordpols, DIe Fackel Nr. 287, S. 1-14, hier: S. 3). . . . he S chaIenwelt Seien dies extraterrestische (wie bei LaßWItz) oder die ' InnerterrestJsc (hinzuweisen ist auf Athanasius Kirchers Theorie vom Mundus su terraneus, Bd. 1 , . Amsterdam 1 665, S. 1 60; vgl. Schweikert, Nachw. zu LaßwItz, Auf zwei Planeten, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1 984, S. 965/6). _
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das es doch ist, also durch seine intertextuelle Verfa t das, was in ihm auf gefunden werden sollte: der Ort ohne Spuren, derssthei topos der Spurlosigkeit. Spuren müssen schon hinterlassen worden sein. Das Polargebiet, der Ort jenseits aller Eintragungen, wird begangen schon immer in den Spuren von Vorgängern.
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der Bibliothek
Das Paradigma der Spur ist in zweierlei Hinsicht fUr Polarfahrten von Belang: 1 . fUr die Entdeckung der polaren Räume selbst, durch deren Gebundenheit an die Modi des Aufschreibens und 2. fUr das Modell der Nachfolge, den Nachfahren als Detektiv. ad 1 : Spuren müssen hinterlassen worden sein, damit es die polare Ent deckung gegeben haben wird. Wie die Polarfahrt sich mit Texten ausstattet, die Bibliothek ins Eis mitfUhrt, so muss sie sich umgekehrt in Bibliotheken und Ar chiven niederschlagen, wie die Österreichisch-Ungarische Expedition im "Österreichischen Kriegsarchiv/ Marineabteilung" , in der "Kartensammlung der Nationalbibliothek", in Büchern und Zeitschriftenartikeln. Polare Entdeckungs fahrten sind präokkupiert durch Fragen der Aufzeichnung, deren Archivierung und Sicherung (in Bordbuch, Tagebuch, Tabellen wissenschaftlicher Mes sungen) . Denn was hier entdeckt wird, werden überhaupt nur auf Karten zu ver zeichnende Linien56 sein: Einzeichnungen von Geweiliger) Eisfreiheit, Packeis linien und - wenn sie denn angetroffen wurden - Küstenlinien, Kaps, Fjorden, Gletschern - und deren Benennung. Ohne den Eingang ins Archiv wird es die polare Entdeckung nicht gegeben haben. Umgekehrt manifestieren sich Ent deckungen in Steinpyramiden, die hinterlassen werden und in ihnen: Blechdosen mit Dokumenten. Innerhalb des Paradigmas der geographischen Entdeckung geht es um die Eintragung von Zeichen im Polargebiet so gut wie des Polar gebiets: Um die Aufzeichnungen, Karten und Benennungen, die unbedingt zurückgebracht werden müssen, und die Markierungen und Aufzeichnungen, die hinterlassen werden fUr Nachfolger, die im Antreffen der Zeichen und Doku mente zu eben solchen geworden sein werden. Die spurlosen Campi deserti müssen zum Gedächtnisraum organisiert werden können - durch die Verzeichnung und Benennung, eine Gedächtnispolitik des Benennens, der Bannung von Orten durch Namen in der "eisigen schnee verwehten Leblosigkeit", wie sie sich etwa auf der Karte von "Franz JosefLand" (Abb. 2) niedergeschlagen hat.
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Vgl. mit Payer Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 37.
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Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polarg ebiete der Bibliothek
Weil man den Kommandanten zu Lande seinerzeit an der Wiener Neustädter Militärakadernie zum Lieutenanten der Infanterie ausgebildet hat, heißt nun gleich eine ganze Insel, die wie eine ungeheure Miesmuschel im Austria-Sund liegt, Insel Wiener Neustadt. Payer streut seine Namen wie Bannsprüche über den Archipel, forscht dabei in seinen Erinnerungen und findet immer neue Städte und Freunde, die er im Eis verewigen will und vergißt dabei doch nie, auch dem Herrscherhaus, der Kunst und der Wissenschaft zu huldigen: Cap Grillparzer sagt er zu einem wüsten Felsenturrn und Cap Kremsmünster zu einem anderen. Die Litanei der schönen Namen wird mit jedem Tag länger Insel Klagen/urt, -
Kronprinz-Rudolj-Land, Erzherz�fRainer-Insel, Cap Fiume, Cap Triest, Cap Buda Pest, Cap Tyrol und so fort.
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Zu dem, was mitgeführt werden wird und sich in Polar-Karten einträgt, gibt es als Gegenstück eine memoriale Zeichenordnung, die zurückgelassen wir Zeichen,58 die über den Untergang des "verlassenen, schließlich vom Eis zerdrückten" Schiffes, wie über das mögliche Scheitern des Rückzuges aus dem Eis hinaus sollen wirken können, die als "Nachlass" (so ebenso Chamissos Salas 9 y Gomez, wie Schrotts Finis Terrae) 5 auf Nachfolger gleichsam warten, deren Adressierung jedoch nicht zu sichern ist.
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Zu finden ist auch ein Cap Hel/wald, nach jenem Freund, der seine Geschichte der Nordpolarexpeditionen (wie Anm. 5) wiederum JuJius Ritter von Payer widmen wird. Vgl. Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 20 1 ; vgl. die "Endgültige Karte von Franz Joseph Land entdeckt von der 2. Österr.-Ungar.n Nordpolar-Expedition 1 873 & 1 874. Aufgenommen von Julius Payer" aus: Petermann's Geographische Mittheilungen, 1 876, Taf. II (Abb. 2). Sie "zerren ihre Last die Küstenlinien von immer neuen Inseln entlang, überqueren gefrorene Meerengen, durchsteigen Gebirge, kartieren das Land, und was immer geschieht, geschieht in einer eisigen, schneeverwehten Leblosigkeit [. . ]. Bogensekunde um Bogensekunde plagen sich die Landvermesser auf den äußersten Norden zu." (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anm. 3, S. 200). Ebd., S. 2 1 7. Adelbert von Chamisso, Salas y Gomez, in: Werke, Berlin (Hempel) [0.1.], I. Theil, S. 380-389, hier: S. 382; Raoul Schrott, Finis Terrae. Ein Nachlaß, Innsbruck 1 995. .
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Abb. 2: Franz JosefLand
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renden ad 2: Das Spuren-Paradigma ist das des Detektivs und seines konstruie 60 - das Para zburg Gi so dieses und Lesens � konjekturalen metonymischen digma des Wissens um 1 900. Seine Spurensuche und -lekture macht �en J?etek tiv zum Nachfolgenden - auf der Spur, Spuren lesend; er bew�gt sich m den Spuren eines anderen und 61wird zum Modell des Nachfahren, �Ier ebenso des fiktiven Erzählers Mazzini, der die Nachfahrenschaft des Schrelbend.en auf der Spur seiner "Vorläufer" schließlich diesen nach-fahrend realisiert, wIe des . fik tiven Herausgebers als seines Doppelgängers und Nachfolgers auf semen Schreib-Spuren. 62 Der Schreibende wird bestimmt als der Nachfahre in der Spur eines anderen. Erinnert sei dafür an das Modell Harold Blooms für die Intertextualität ?er me - in einer agonistischen InteraktIOn Texte: Jeder Autor schreibt als Nachkom 63 mit und gegen Vorläufer-Texte. In Ransmayrs Roman realisiert sich der schreibend Wiederholende als Nach fahre und Nach-Fahrender - der als A benteurer aus den Bibliotheken - und aus diesen heraus-komme. 64 Aber gerade dadurch hat er erneut wiederholt: Denn eben dieses Modell der Nachfahrenschaft, Modell der Intertextualität selbst, hat (mindestens) eine prominente Vorlage. Genauer handelt es sich um zwei Texte und ihre Relation: Jules Vernes Le sphinx des glaces ( 1 895), und E.A. Poes The Narrative 0/A . G. Pym ( 1 83 8). Die Fahrt in Vernes Le sr:hinx des glaces ist e�ne . Fahrt auf den Spuren von Poes Narrative, wiederholt die Fahrt Pyms zum Sud pol ' setzt ihr nachfahrend Poes Roman fort und korrigiert ihn - nicht zuletzt an der Stelle, an der dessen Text abbrach.65 Die Fahrt in der Nachfolge von Pyms
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Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sher ock Holm�s nimmt ., die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach SIC selbst, I�.: der� , Spurensicherungen. Über die verborgene Geschichte, Kunst und s�z�ales Gedachtms Payer von und Mazzml von gen Formulierun ist, Detektiv Der -96. 1 6 S. 983 1 Berlin zufolge, auc Modell der Entdeckung (vgl. Payer, Ransmayr, wie Anm . 3, S. 200 und über Mazzinis Gehen in der unbekarmten Stadt Oslo, S. 68). . m 61 Der "mit Payers Aufzeichnungen einen Beweis fUr eines seiner erfundenen Abenteuer 20). S. 3, Anm. wie Schrecken, Die (Ransmayr, glaubte" halten zu Händen den d� es 62 Dieser geht "Hinweisen" nach, "fUll[t] Leerstellen �it Vermutungen au� u�d ��pfi.? ermoghcht am Ende einer Indizienkette doch als Willkür, wenn Ich sage: So war es. Dies mir nicht viel mehr, als wahrscheinliche Situationen wiederherzustellen" (ebd., S. 56� . University Press 1 973 (dt.: Emfl�ß 63 Harold Bloom, The Anxiety of Influence, Oxford , Oxford 1 975 (dt.: Eme Misreading of Map A Angst, Frankfurt/Basel 1 995); ders, Topographie des Fehllesens, Frankfurt a. M. 1 997). 64 Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 65 f. . Verne sozusagen den Schleier des 65 "In seiner bewundernden Reverenz an Poe lüftet t' Geheimnisses um das weitere Schicksal Pym's, den Poe so kunstvoll, allem 'denouemen Anm. 55 , am Ende seiner Erzählung abhold, 'gewoben' hatte." (Schweikert, Nachwort, wie erun�en S. 908). Diese "Ungewißheiten" sollen auch andere Schriftsteller zu präz,is weiße angeregt haben, neben Verne: C.A. Drake, A Strange Discovery ( 1 897), der ' die Ph . Howard erklärte, Südpol" am l Vulkaninse einer auf Statue eine Riesengestalt als
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Polarfal1rt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
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Re.ise macht diese - gegen die selbstverständliche Voraussetzung, es handle sich bel Poes Text um Fiktion, um "Erfindung unseres großen Dichters,,66 zur realen. Die Hinterlassenschaften, Nachrichten, Relikte, Spuren dessen, wovon "in dem Bericht [Pyms] die Rede ist", werden in der Wirklichkeit des Verneschen Le sphinx des glaces aufgefunden, Poes Narrative damit als "Tatsachenbericht" er wiesen - das "Buch Edgar Poes - also tatsächlich der Bericht Gordon Pyms" als "der sicherste Reiseführer" seiner Nachfolger. Dadurch wird nun Poes Text fiktiv - auf seinen Realitätsgehalt hin überprüfbar. Und in den Abweichungen des auf der fiktiven Fahrt Vorgefundenen von den "höchst seltsamen Beob achtungen", die der Vorläufer-Text auf der Insel Tsalal oder bezüglich des be rühmten offenen Polar-Meeres gemacht haben wollte, sowie durch die Korrektur des ihm vor-liegenden Textes inszeniert sich Vernes Text selbst als authen tischer Bericht; er parasitiert im Effekt der Realität seiner Fiktionen an dem von ihm gelesenen Text.67 Das Modell der Nachfolge, Modell des intertextuellen Bezugs von Texten auf Texte, einer Lektüre der Spuren anderer Texte, dem Mazzinis "Erfinden der (vergangenen) Wirklichkeit", sein Auffinden des "Beweises für eines seiner er fundenen Abenteuer" und Ransmayrs Roman folgt,68 ist selbst Zitat - Zitat von Jules Vernes fortschreibender Lektüre von Poes Gordon Pym. Die Intertextua lität dieses Prätextes gibt das Modell ab für das Schreiben in Nachfahrenschaft und die Polar- als Nachfahrt. rn�s Vorgehen, in den Spuren des Vorfahren (des schon Kartographierten) . V,�weißen die Flecken auf der Landkarte" aufzusuchen, "sorgsam" zu inventari sieren, um sich - als Zweiter - als Erster einzutragen und sie in Verlängerung der bekannten Tatsachen auszufüllen,69 ist in Georg Heyms Das Tagebuch des Shakleton ( 1 9 1 1 ) wiederzuerkennen. Er überschreibt seinen Vorgängertext schreibt sich in seiner Spur an die Weiße heran, schreibt ihn fort, dorthin, wohi� der Vorgänger-Text nicht kam, und lässt seinen Vorgänger dort ankommen wo dieser nicht war, um in seinen Spuren, als sein Nachfolger den utopischen O� zu erreichen. 66 6 7
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Lovecraft, At the Mountain of Madness (zuerst 1 93 1). (Frank, Fal1rt, wie Anm . 32, S. 1 19.). Die Eissphinx, Frankfurt 1 968, S. 22. . D er E'mgangssatz: "D'lese Gesch'IChte Wird niemand fUr wahr halten. Trotzdem veröffentliche ich sie, möge man sie nun glauben oder nicht." (Eissphinx, wie Anm. 66, S. 7) ent g�gnet der Poeschen Eingangskonstruktion, er habe vorgezogen, das Authentis che (weil memand es glauben werde) als Fiktion auszugeben; und auch diese Fiktion des Authen tischen verkennt kein Leser. Vgl. Ransmayr, Die Schrecken (Anm. 3), S. 1 7 f. Nach dem Modell Dantes, der "seine Theologie und noch einiges andere mehr in die freien Räume, die im en der mittelalterlichen Kosmologie zur VerfUgung standen", ent worfen habe ( hchel Butor, Die Krise der Science-Fiction, in: Essays zur modemen lite ratur und MUSik, München 1965, S. 220-232, hier: S. 223).
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spricht vom Doppel einer Reise: des fiktiven Herausgebers auf den Spuren des sogenannten echten Shakleton; und es doubelt einen Text, den Bericht Shackletons, der unter dem Titel 21 Meilen vom Südpol. r Die Geschichte der historischen Südpolexpedition 1 907/8 1 90911 0 in deutsche g Fälschun zur riebene, fortgesch und zitierte die ist Übersetzung erschien. Dieser erklärte, korrigierte und überschrittene Vorlage, die in Heyms Erzählung einen Doppelgänger hervorbringt.70 Heyms Tagebuch überschreitet mit der Südpola� die durch die Expedition, die es zu dokumentieren vorgibt, eine Grenze, vorgelegten Aufzeichnungen Shackletons präzise lokalisiert ist: Ernest Shackleton unternahm 1 907/8 einen Versuch den Südpol zu erreichen. 2 1 Meilen vor dem Pol waren er und seine Begleiter gezwungen umzukehren, weil sie nur so hoffen konnten, mit dem verbliebenen Proviant den Rückweg zu be wältigen. Heyms Tagebuch lässt nun mit seinem double Shackletons, den fak tisch Heimgekehrten zum bloßen falschen Doppelgänger erklärend, diesen Punkt der Umkehr hinter sich. Am 1 0. Januar, an jenem Tag, an dem Shackleton und die anderen in den eigenen "Fußspuren", "unserer Fährte", so Shackleton, zurückkehrten,71 beginnt - fortschreibend - Heyms sogenanntes 'echtes Tage buch' seines Shakleton, der abweichend von seiner Vorlage den Weg nach Süden fortsetzt:72
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek Hinter mir hinaus bis an den Rand des Horizontes [ ... ] sah ich die Spuren der Schlittenkufen verlaufen. Und an ihnen entlang ging der weite Weg an das Schiff, an das Meer, in warme menschliche Regionen. Bis hierher war der Mensch ge kommen, hinter seinen Idealen her, unter entsetzlichen Leiden, Frost-Wunden und Hunger, ein Blinder der einem wahnsinnigen Führer dreintappt, [ ... ] in einför migem Trott, wie ein Zug sibirischer Sträflinge [ ... ] dem weißen Mond entgegen, 73 der wie die Larve eines Gespenstes am blauen Himmel aufgehängt war.
Das Tagebuch des Shakleton
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bis dahin, wo "Ich nehme an, dass das Tagebuch Ernest H. Shakletons das des wahren ist Angriff nach forcierten den sie ehe ' aufschlug, Lager letztes ihr 88°7 unter die Expedition da, wo die Süden unternahm, der sie angeblich bis 88°23 ' führte. Ich nehme [ ... ] an, dass n war, gezwunge nicht noch Tat der in sie hat, gewendet er Pseudolag dem nach Expedition dass sie dabei umzukehren, dass sie vielmehr ihre Route südwärts noch fortgesetzt hat, und ], dass die vier in Gebiete gekommen ist, die von intelligenten Wesen bewohnt wurden. [ ... zurückkamen, Royds 'Cape' am Lager das in Männer, die am 28. Februar 1 909 wieder hatten." (Das verlassen 908 1 Oktober 29. am es die die, wie waren, dieselben nicht S. 1 24- 143, Bd, 2. 53, Anm. wie Schriften, und n Tagebuch des Shakleton, in: Dichtunge hier: S. 1 29.) Fußspuren durch den Schneesturm nicht ver 7 1 (9. Januar) "Glücklicherweise waren unsere haben unser wischt worden. Und nun heimwärts ! Mag uns dies auch dauern, doch wir 7.30 bei um Aufbruch Januar. 10. h] Rückmarsc Der Bestes versucht! [Kapitel XXIV: Tag und leichtem Winde. Mit nur einstündiger Mittagsrast marschierten wir den ganzen dass der uns, fiir Segen ein wirklich war Es nördlicher. waren abends 29,790 Kilometer vom Südpol. Sturm unsere Fährte nicht verweht hatte". (Ernest H. Shackleton, 2 1 Meilen [ 1909/10], Die Geschichte der britischen Südpol-Expedition 1 907/09, 3 Bde., Berlin 0.1. enen Bd. 1, S. 473; vgl. die "Generalkarte mit den von der Expedition vorgenomm . [Abb 907" 1 pedition Südpol-Ex n "Englische der gen" Forschungsreisen und Vermessun . 3� statt. "Und in Gedanken rechnete I ch 72 Der Aufbruch findet hier eine halbe Stunde früher am Pol s�in mir aus, dass wir bei Tagesmärschen von ungefähr 25-30 km in Kürze der Tour 1m Rest den und errichten, Depot letztes unser wir wollten mussten. Auf 89° 1 5' Sturm nehmen." (Heym, Shakleton, wie Anm. 70, S. 1 3 1 ) .
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Die Überschreitung wird - durch die wiederholend nachfahrende Markierung der Grenze: "Bis hierher" - datiert, die Zone des Unbetretenen präzise auf 88°23' lokalisiert (Abb. 3), und hier eröffnet durch die Vorlage, an der Stelle, die diese dem Nachfolgenden: Detektiv, Entdecker, Nach-Schreiber (so dessen Gegen-Lektüre, die dieser schreibend nachfahrend unternimmt) anweist. Heyms Das Tagebuch des Shakleton doubelt einen Text und usurpiert dessen Stelle, die der Primarität. Dies ist aber nur möglich durchs Nachreisen, Nachfahren; es muss sich schon jemand auf die Spur dieser Reise, die Shakleton zum Pol gelangen und dort sich verlieren lässt, gesetzt haben: Der Text erhält eine Herausgeberfiktion, die in der Vorrede (die sich selbst auf 1 926 nach datiert) ihrerseits nochmals gedoppelt ist durch die zitierende Inanspruchnahme eines fiktiven wissenschaftlichen Vorläufers. Der fiktive Herausgeber, Hannawacker, weist sich, den Nachfahren(den) des 'echten', fiktiv am Südpol verbliebenen Shakleton, durch das Auffinden des sog. 'echten' Tagebuchs, das er "aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings" genommen haben will, als "Entdecker des Südpols" aus, der er nur als Zweiter gewesen sein kann. 75 7
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Ebd., S. 1 33 f. "Hier hat noch niemand gestanden, diese Stille hat noch niemand zerrissen." "Ihre Fährte sahen sie hinter sich, die beiden Schlittenspuren, die sich in den zerrissenen Abhängen der vereisten Berge verloren. Bis hierher war der Mensch gekommen" (Heym, Südpolfahrer, wie Anm. 53, S. 1 20 f.). Dieser wahnsinnig verstorbene Wissenschaftler wird mit dem 'echten' Tagebuch nach träglich ins Recht gesetzt. Er hat die zurückgekehrten Polarforscher zu seelenlosen Doppel gängern ihrer selbst erklärt; für die "technisch so glänzend ausgeführten Golems" werden Autoritäten berufen, fiktive wiss. Werke nachgewiesen (Heym, Shakleton, wie Anm. 70, S. 1 25 f.) und eine mathematische Formel "zur Transplantation des Gedächtnisses, des Charakters [ . . . ] auf den Golem" angeschrieben. Die falschen Heimgekehrten (S. 1 26) seien nicht länger als neun oder zehn Jahre lebensfähig; dies verspricht die Beglaubigung dieser wissenschaftlichen Hypothese: "Wenn aber die Shakleton, Adams, MarshalI, Wild spätestens im Jahre 1 9 1 9 gestorben sind, so werde ich glänzend gerechtfertigt sein." (S. 1 28). Er heißt der "berühmte Entdecker des Südpols H. H. H. Hannawacker", der das "Tagebuch Ernest H. Shakletons, des unglücklichen Südpolfahrers" "aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings nahm". Hingewiesen wird auf "das große Werk H. H. H. Hanna wackers 1 Die Entdeckung des Südpolsl in unserem Verlage. 25. Auflage. London 1 925.1 Und ebens61 Das Reich des Südpolarmenschenl 204. Auflage. London 1 925. W. B. Graham and White" (S. 1 30), sowie "Vom selben Verfasser im selben Verlag: die Ent deckung des Südpols und die Auffindung der Leichen Shakletons und seiner Freunde. 326. Auflage".
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Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
Zweiten, Scott, zeigt).77 Denn dieser ist, "einmal entdeckt", nichts, wie Karl Kraus Cook sagen lässt: "Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als dass er nicht erreicht wurde". 78 Die nicht hintergehbare Sekundarität und die Zu mutung, die diese ist, wurde ausdrücklich in Mary Shelleys Frankenstein: Auf der Spur des Monsters seiner Schöpfung, die nur als demiurgische, wieder holende und verfehlte Produktion ausfallen kann, verschlägt es Frankenstein ins Polareis, wo er auf das double seiner Hybris, den Polreisenden trifft, den fik tiven Verfasser des Gesamttextes.79 Gegen das Gescheitertsein des verspäteten doubles, wie auch gegen die Versuche/ung einer "Reservation" des letzten Nicht-Betretenen und Abbildlosen aber konnte Karl Kraus die "Duplizität" der Entdeckung des Nordpols - durch Cook und Peary - als ironisches Glück der Geschichte verstehen, "dass er nämlich - doppelt - nicht entdeckt wurde". "Einmal erreicht", ist er weniger als nichts; 80 "doppelt hält besser" und "doppelt" entdeckt, ist er "nicht entdeckt" .8 1 Diese Gesetzmäßigkeit sah Kraus am Südpol - durch Scott und Amundsen - bestätigt, durch die "Duplizität der Duplizität der Fälle". 82 Das Polargebiet wird - zum ersten Mal - in den Spuren der Vorgänger be treten. Das, was Heyms "Shakleton" jenseits der durch den Prätext demarkierten Grenze begegnet sein soll, bezieht er von Vorgängertexten. Es ist nichts anderes 77
Abb. 3: Südpol, Süd-Victoria Land
In den vorgefundenen Wiederholungen und wiederholten Wiederholungen und Zitationen prägt sich die Systematik der Einsetzung v�n �achfahren a� s . I Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis wel�t sIch de: schreIbe � nachfolgende Herausgeber und Nachschreiber �u�ch se.me Ave��lOne� �eg�n den Vorläufer als Doppelgänger aus und thematlSlert sem Verspatetsem. Die Sekundarität des Schreibens wird durch die Logik der Pol-Entdecku�g, du�ch den Schrecken der vorgefundenen Spur, ein "Fleck" anstelle der ') ungfrau lichen" Fläche dramatisiert (wie ein Drama über den wohl beruhmtesten 76
3), S. 20 f., dazu wäre E.A. Poes William Vgl. Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. Wilson heranzuziehen.
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"Zeig uns den jungfräulichen Pol, ! Den wir als die ersten betreten" (Reinhard Goering, Die Südpolexpedition des Kapitän Scott, in: Prosa, Dramen, Verse, Langen! Müller München 1 96 1 , S. 505-560, hier: S. 5 1 2). "Wilson: Schnell, was ist los? Was siehst du? Bowers: Dort! Grauenhaft! Furchtbar! Wilson: Ein schwarzer Fleck. Scott: Im weiten Weiß! Scott: o Gott! [ ... ] 0 Tod! 0 grauenvoll, entsetzlich." (S. 520, vgl. S. 521 f.). Amundsens Männer pflanzten ihre Fahne auf und ließen "ein kleines Zelt" "stehen,! Drin ein Brief fiir den Nachfolger." (S. 523). "Der Pol ist bereits entdeckt!! Ein anderer ist schon hiergewesen. [ ... ] So mordet dir den Zweiten der Erste" (S. 525). Vom Scheitern, das die Verspätung ist, rührte das Interesse an Scott her, vgl. etwa: Vladimir Nabokov, Der Pol. Drama in einem Akt (Uraufführung am 28. September 1 996 an der Schaubühne Berlin, Fass. v. Botho Strauß, Aufführungsrechte Rowohlt Vlg., Reinbek); für die Bezugnahmen von Benn, Eich u.a. vgl. Metzner (wie Anm. 28), S. 1 06 f. und noch einmal die Nachfolge in Arthur, Antarctic Navigation (wie Anm. 28). " Einmal erreicht, ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also ein Etwas, das ärmer ist als das Nichts, eine Krücke der Erfüllung und eine Schranke der Vorstellung. " (Kraus, Ent deckung, wie Anm. 54, S. 3). "1 will satiate my ardent curiosity with the sight ofapart of the world never before visited, and may tread a land never before imprinted by the foot of man." (Walton in Shelley,
Frankenstein, wie Anm. 39, S. 1 5 ; vgl. Owen Beattie! John Geiger, Der eisige Schlaf. Das Schicksal der Franklin-Expedition, mit einem Vorwort von Sten Nadolny, München 1 992 [eng\. : Frozen in Time, 1 987], S. 1 0). Kraus, Entdeckung (wie Anm. 54), S. 3 . "'Daß der Nordpol entdeckt wurde, ist traurig' entgegnete ich; 'lustig ist dabei nur, daß er nicht entdeckt wurde'." (Kraus, Die Fackel, Nr. 309, S. 30, vg\. ders., Entdeckung, wie Anm. 54, S. 5 f.) "Wer hat zuerst den Nordpol nicht entdeckt?" (ebd., S. 8). Kraus, Die Fackel, Nr. 345, S. 9.
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s: weiter im Süden als ein Puzzle der aus Pyms Polarfahrt bekannten Detail uns über den Pol vor was "alles fe", scheinen "alle unsere geographischen Begrif en Kälte der eßlich unerm der von n, Wüste geschrieben ist von den weiten eisigen n Frost, ssende nachla durch t" gestell Kopf den "auf . 84 Einöden der Antarktis" 83 Das Nachlassen von "W'll ,, nergle E d I e un Wärme, Dunst und Nebelwand. wir "dass , � eibe zuschr wird Heyms Tagebuchschreiber "Einflüsse[n] von außen" s waren, den diese Polar damals schon innerhalb des psychischen Walle 85 Nebel und Dunst, "der weiße ". haben menschen um ihre Geheimnisse errichtet G. Pym (im Eintrag. rur Vorhang" oder "Schleier", von dem Poes Narrative 0/ A. heben und verspncht ng Vorha ein wie Heym bei sich den 22 März) spricht, wird 86 r zu machen, was Poes als "Tor der Geheimnisse" " auf einmal" sichtba 87 das ist - "das alles in Narrative versagt: "die Paradiese des Südpo ls". Aber 88 - erneut nichts anders als Zitation: jene "eigenartigen" einem seltsamen Weiß,, einem merkwürdigen "schlohweißen" Bewohner des Pols, ausgestattet mit sche Buchstaben hebräi wie "uns n" Zeiche "Köhlerbaum", an dem "einige ive und dessen Narrat Poes von Finales des allem erscheinen" , sind Zitate vor 89 . abschließender "Note" 83
Phänomene werden betätigt durch Heym, Shakleton (wie Anm. 70), S. 1 35 . Die Messungen. S. 1 4 1 . Dies entspricht Pyms "numbness of body and 84 Heym, Shakleton (wie Anrn. 70), mind" , als "Benommenheit" auch von Ransmayr zitiert, (Anm. 3), S. 62. 8 5 Heym, Shakleton (wie Anm. 70), S. 1 32. diesen Mauem aus Nebeln und 86 " [W]elche Wunder mochten nun unser warten - hinter sich verziehend�n Nebel '�hl� ssen Im 37). 1 S. 70, Anm. wie on, Shaklet (Heym, Dunst." saßen, das wahrschemhch �on wir" "nur ungefähr", daß wir über dem Rand eines Tales t, in die unbekannte Tiefe gmg. begrenz Linken zur und Rechten zur Bergen großen zwei Abgrund herauf ... " (ebd., S. 1 3 8). Auf einmal [ ... ] kommen ein paar gewaltige Winde den die Städte Montezumas schau�e Cortez der mit sein, gewesen terung Erschüt die muß 87 "So sah." (Heym, Shakleton, WIe Füßen seinen zu Inkas der oder Pizarro die goldenen Dächer den Innenraum der "Schalenwelt" der auf Blick dem sich eröffnet So 39). 1 S. 70, Anm. t, Spur, wie Anm. 34, Insel Felsenburg "'das schönste Lustrevier von der Welt'" (Schmid . S. 60). die Polwesen: "irgendeine. specles 88 Dies wird systematisch aufgeführt für Flora, Fauna und (Heym, Shakleton, wie !,�. weißen dornigen Nadelholzes", "Tiere [ ...] bleiche Wesen" mir ist als zöge ich "':Ie em Und .]. .. [ en Farbtön fahlen en . 70, S. 1 39), "alles in denselb Totenreiches, [ ... ] m der enen versunk blutloser Schatten über die bleiche Wiese eines 1). . grausamen Erstarrung einer ewigen Vergessenheit" (S. 1 4 ng" (Heym, Shakleton, Wie 89 Die "schlohweise Gesichtsfarbe, und seine weiße Behaaru der Gestalt, war von der völligen Anm. 70, S. 1 40) zitiert Poes Pym: "die Tönung der Haut aber und sein Haar waren Haupt "Sein Weißnis des Schnees", und aus der Offenbarung: für Schnee, München 1 994, Gespür Smillas Fräulein Hoeg, Peter (vgl. weiß wie Schnee" gefunden wurden. Hingewiesen S. 76). Zitiert sind die Zeichen, die auf Poes Insel Tsalal erstörung, wie Anm. 28, chkeitsz Persönli r, (Metzne Seite andere Die wird auch auf Kubins S. 77).
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
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Die Doppelgängerei der Nachfahren prägt nicht nur das Modell des Schreibenden als Nachfahre aus, sondern damit die Uneinholbarkeit eines 'Ur sprungs', eines originären, eines unbegründeten Schreibens, den die noch-nicht betretenen weißen Flächen modellieren, die doch im Text erreicht worden sein sollen. Und gerade auch Poes Narrative of A. G. Pym selbst, 'Vorlage' der genannten Texte und ihres nachfahrenden Schreibens, schreibt sich her aus an deren Texten.9o "Auch im vorliegenden Fall POE sehe ich ein Textgewebe _,, 91 ist von Amo Schmidt zu lesen, der in seinen Texten die intertextuellen Ver webungen in Sachen Polarfahrten entfaltet, ihnen insbesondere in Zettels Traum Raum gegeben hat. Nur noch das ständige Raunen der Wiederholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat. Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen [ ... ] ; es dehnt sich von Buch und Buch zwischen den Schriftzeichen aus; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. 92 Es ist ein Bibliotheksphänomen.
Dies macht, so Foucault, das Phantastische des 1 9. Jahrhunderts aus. Arno Schmidts Exposition der intertextuellen Verwebungen, exemplarisch anhand u?d rur Poes Narrative, bestätigt dies. Die Angewiesenheit auf andere Texte, auf die fremden Worte stellt er als die 'Zumutung' aus - rur ".Qichter, die sich ein90
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"[D]aß auch diese 'alte Vorlage' wieder ihre Vorlage hat - [ ... ] " , nämlich Schnabels Insel Felsenburl5.: zeigt A. Schmidts Schnabels Spur (wie Anm. 34, S. 53). Die Anm. zu Schmidts Ubersetzung Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket (Anm. v. K. Schuhmann) weisen hin auf James Fenimore Coopers Roman The Monikins
( 1 836) und die "Vorlage Benjamin Morrell, A Narrative of Four Voyages, to the South Sea, North and South Pacific Ocean, Chinese Sea, Ethiopia and Southern Atlantic Ocean, Indian and Antarctic Ocean. From the Year 1 822 to 1 83 1 . Comprising Critical Surveys of Coasts and Islands, with Sailings Directions [ ... ], New York 1 832". "Als Quelle für den Plan des ganzen Werkes kommt auch in Frage ein Roman von Captain Adam Seaborn [Pseudonym von lohn Cleve Symmes, 1 780-1 829 ?], Symzonia: A Voyage of Discovery ( 1 820)"; Sy�mes "veröffentlichte 1 826 gemeinsam mit lames McBride Symmes' Theory of Concentnc Spheres. Danach besteht die Erde aus hohlen, konzentrischen und an den Polen offenen Sphären. Bei 82 n. Br. nahm Symmes eine Öffnung an, durch die man in das bewohnte Erdinnere gelangen könne." (Zürich 1 994, S. 269 f.). Jeremiah Reynolds, An hänger von Symmes, gehörte mit seiner Adress on the Subject of a Surveying and E::ploring Expedition 10 the Pacific Ocean and South Seas, zu den "treibenden Kräfte[n] hi�ter der ersten antarktischen Expedition der Vereinigten Staaten" und "inspirierte Poe zu semem Arthur Gordon Pym" (Arthur, Eislandfahrt, wie Anm. 28, S. 1 7); zu diesen Spekulati�nen, vgl. Jules Vemes, Reise zum Mittelpunkt der Erde (Schmidt, Zettels Traum, wie Anm. 34, S. 8, 30� f. u.ä.), sowie Lovecrafts At the Mounlain of Madness und den anderen Anschluß im Ubergang in Science fiction in Laßwitz" Auf zwei Planeten wie Anm. 55). Schmidt, Zettels Traum (wie Anm. 34), S. 26, vgl. S. 27 f., 46, 48-5 1 , 54, 280 f. u.ä. Foucault, Fantastique (wie Anrn. 1 3), S. 1 60. -
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bilden, vom Priester herzukommen",93 wie für Leser, die seit dem 1 8 . Jh. ver muten, dass Wissen den Genuss der Kunst verderbe. 94 Gerade "an so über zeugend=Exaktem", an Zahlen, Daten, Namensverzeichnissen, Statistiken, Orts registern Karten entzünde "sich die kombinierende Fantasie" - so Schmidt im Anschlu�s an Schnabel und andere Suchen nach den Enden der Welt; 95 "man schöpft [ ...] [das Phantastische] aus der Genauigkeit des Wissens; im Dokument harrt sein Reichtum. Man [...] muß lesen" - so Foucault. "Es sind", wie Foucault sagt, "die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an win zigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Re produktionen, die der Phantasie [... ] die Mächte des Unmöglichen zutragen." Das Betreten des bisher Unbetretenen in den Spuren von Vor-Fahren, durch die Prä- und Intertextualität des Textes, ist eine offensichtlich paradoxe Unter nehmung. Diese Paradoxie aber strukturiert die Fahrten ins Polargebiet. N� cht nur kann, wie Foucault für das Phantastische des 19. Jahrhunderts formuhert, "nur noch das ständige Raunen der Wiederholung [... ] uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat", sondern mehr noch wird das, "was nur ein einziges Mal stattgefunden hat" oder stattfinden kann, schon ein "ständige[s] Raunen der Wiederholungen" gewesen sein. "[E]s entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte", zwischen den Texten und in jenen Zwischen räumen, die sich im (intertextuell verfassten) Text öffnen. Während Vernes Eissphinx dort, wo das Erzählen in Poes Narrative abbricht, einen Magnetberg einsetzt und Heyms Das Tag: buch des Sh�kleton im Nach fahren am Ort eines Abbruchs nochmals in der Ubertretung emen neuen Raum zu eröffnen prätendiert, um ein geheimes Pol-Reich aufzusuchen - und Poe nachliest, wird Mazzinis Nachfahren bei Ransmayr sein spurloses Verschwinden sein. Und ist nicht gerade dies, das Sich-Verlieren, das Versprechen? Das Ver schwinden, das wieder einen Nachfahren als double des Erzählers Mazzini ein. 93 Schmidt, Zettels Traum (wie Anm 34), S. 1 6. 1 -53, ders., Zettels Traum (wie 94 Vgl. Schmidt, Schnabels Spur (wie Anm 34), S. 5 Anm. 34), S. 1 7, 32. Vom Anm. 34), S. 72 f. und A. Schrnidt, Kosmas. Oder 95 Schmidt, Schnab els Spur (wie 1 56, 93S. I, Bd. 985, 1 Zürich Werk, rische Berge des Nordens ( 1 955), in: Das Erzähle (und der Möglichkeit) von keit henbar Verzeic der Frage die wird delt Verhan hier: S. 1 36. Ort. 1m Anschluss an Schrnidts Exterritorialität zu einer anderen Zeit, einem andern f.) wäre dies auszuführen auch mit "Gadir. Oder Erkenne dich selbst" (ebd., S. 36, 41 vier Büchern, der Reise und dem in ch, mehrfa der Schrott, Finis Terrae (wie Anm. 59), Uhrt, jenes "griechischen Navigators und fiktiven Logbuch des pytheas von Massalia nachf Zeitrechnung als erster den Norden unserer vor ndert Astronomen, der im vierten Jahrhu (S. 1 1 f., vgl. . James S. o�m, war" gelangt Thule nach bis und hatte t entdeck Europas ExploratIOn, and FlctlOn, phy, Geogra ht. Thoug t The Edges of the Earth in Ancien Princeton 1 992, S. 157 f.).
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
gesetzt hat,96 steht unter der Überschrift: "Die Zeit der leeren Seiten". Aber kein Buch gehört dieser Zeit an. Die 'weißen Seiten', auf denen Mazzini "seinen Ort" erreicht haben so1l97 - spurlose Campi deserti - modellieren diesen als Unerreichbarkeit - für jedes Erzählen. Diese metatextuelle Funktion des P�la�gebietes �st vorgegeben durch das Ende von Poes Narrative ofA. G. Pym wie Ich abschheßend verdeutlichen möchte. In Poes Roman steht im Abbruch des Erzählens - nach der nicht mehr er zä�lten Rückkehr des Protagonisten und Erzählers (von Poes Narrative) aus dem weißen Dunst des Südpolargebiets - und an der Stelle des Fehlens fiktiv verlo rener Kapitel e�ne abschließende "Note", in der der fiktive Herausgeber spricht. Im supplementlerenden Nachtrag handelt der Text von der Schrift; und zwar tut er dies, indem er nun jene Höhlengänge der Insel der Schwärze' Tsalal, von denen zuvor erza··hlt wurde,98 noch emmal schwarz auf weiß verzeichnet und sie · nun als . Schriftzeichen liest. Schwarz auf weiß auf der Buchseite eingetragen sollen diese nun auch eben dies: "Schwarz" und " Weiß" bedeuten - als Schrift zeichen (die Heyms "Köhlerzeichen", die [metatextuelle] Schwärze unter streichend, ins Erzählte und ins im Erzählten enthüllte Geheimnis übernimmt). Als Schriftzeichen verschiedener morgenländischer Sprachen und Schriften ge l�sen99 sagen sie - einer äthiopischen Wortwurzel folgend - das Schwarze, näm hch "'To be shady,' - whence all the inflections of shadow or darkness" und einer "Arabischen Wortwurzel" folgend - das Weiße, '''To be white', wh�nce all the inflections ofbrilliancy and whiteness". Was die Erzählung an ihren fiktiven Orten, "Tsalal" einerseits und "the region ofthe south" andererseits, radikal aus-
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Bei Ransmayr wie in Poes Narrative, Vernes Le sphinxe, Heyms Tagebuch des Shaldeton u.a. Das V :rschwinden stellt die Aufgabe der "Rekonstruktion" (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anm. 3, S. 229) wie der 'Austreibung' des Verschwundenen "aus der Welt" (S. 9 ff., 238), die des Weitersprechens - anstelle der Erzählung und diese unterlaufend (bei Poe). Ebd., S. 2 1 8 ff. "The loss of two or three final chapters (for there were but two or three) is the more deeply . to be regretted, as, It carmot be doubted, they contained matter to the Pole itself or at least to regions in its very near proximity; and as, too, the statements of the author i relation to t �se regions may shortly be verified or contradicted by means of the govemmental expe . dition now preparmg for the Southern Ocean. On one point in the narrative some remarks weil be offered [...]. We allude to the chasms found in the island of Tsalal, and to the may whole of the figures upon pages 8 7 1 , 872, 873." (Edgar Allan Poe, The Narrative of Arthur Gordon Pym, in: The Complete Tales and Poems, New York 1 982' S. 748-883 , hier: S. 882 f.). ' Dies entspricht der romantischen Arabeske: "eine phantastische, irreale Kombination ver schiedener Bildlogiken und Darstellungsmodi [ ...] . Unterschiedliche Realitätsebenen inner halb des Bildgeftiges werden dadurch deutlich", dass in ihm eine "Sparmung zwischen 'Ornamentmodus und Bildmodus'" ausgetragen wird (Günter Oesterle Arabeske Schrift und Poesie in Hoffmanns Kunstmärchen 'Der goldene Topf, in: Athe äum. Jahr uch für Romantik 1 , 1991, S. 90 f., 92 f.).
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Tsalal, and nothing einander treten ließ ("Nothing white was to be found at tritt - im Nachtrag ") d. beyon region the to e otherwise in the subsequent voyag gelesen. Damit so wird und men zusam n zeiche Schrift im Schwarz auf Weiß der ing other ("noth s wird aber - rückwirkend - die Zone des Weißen ohne andere endeten, ) (Pyms ung wise"), jene Unbestimmbarkeiten, in der Fahrt und Erzähl mehr und ung Erzähl von t lichkei charakterisiert als die der radikalen Unmög noch von Schrift. Grundrisse Aber - vergessen wir dies nicht - die Sprache von Tsalal, die dreiel, die 'das Polvög weißen n fremde der Schrei der i, der Höhlen, das Tekelil falsche die daher Weiße' sagen, sind selbst intertextuelle Effekte.lOo Es wäre hr ist vielme wäre; chbar Frage, wie der exterritoriale Ort vom Text anspre schon immer wird, t gesuch Weiße umgekehrt zu lesen, dass dort, wo das spurlos die Spur, ein Gewimmel von Spuren war. Und damit eröffnet sich eine ganz andere Geschichte, die der Schriften und Texte und ihrer Räume. zeichen Das Polargebiet "dehnt sich" "von Buch zu Buch zwischen den Schrift solches Als . en" hänom theksp "Biblio ein als eisen auszuw its aus". Es war einerse der Ort itoriale aber ist es anderseits das 'Polargebiet' , das heißt der ex-terr allen Aufge n, zeiche Bibliothek. Es ist der topos des Endes aller Schrift (weiß schriebenseins. - Dieser Ort aber ist als "Zwischenraum der Texte" der Ort ne chlosse ausges Der agen. eingetr zwischen schwarz) allen Büchern den , Texten den in men, en-Räu Zwisch ihren Texte eröffnet sich in Zwischenräumen, die die Bücher innen öffnen, in denen sich die Texte von sich selbst abheben.
IMAGINATIO BOREALIS IN EINER TOPOGRAPHIE DER KULTUR Bernhard Teuber
Beginnen möchte ich mit der berühmten Belegstelle für den Titel unserer Vor lesun�sreihe: "Ultima Thule" - 'das äußerste Thule'. Sie findet sich im zweiten Chorhed vo? Senecas Tragödie Medea. In anapaestischen Dimetern beklagt dort der Chor die Unordn�ng und grenzenlose Vermischung, die der bisherigen Weltordnung durch die Weiterentwicklung der Schiff-Fahrt drohen werde Brun� W. Häuptli erkennt in seinem Kommentar zur Stelle "die Angst des Chor� vor emer globalen Alle�eltskultur, die mit dem Welthandel, der Verwischung d�r kulturellen und pohtIschen Grenzen, der Kolonialisierung mit militärischer Slche��ng, den �lobale� Bevölke�ngsverschiebungen die eigene Identität be droht, . Sehen wir uns die entscheidende letzte Strophe dieses Liedes an! 365
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[Überwunden nu�ehr erduldet die See / schon jeglich Gebot: nicht der Argo b� �fs, / der beruhmten, gefügt von Pallas' Hand, / die die Ruder heim von Komg�n trug, / es durchsteuert schon jeder Nachen die Flut. / Kein Markstein ��rblelbt. In Neul�d verlegt / nun manch eine Stadt ihrer Mauem Ring. / Nichts lasst, �o es wa:.' die erschlossene Welt. / Das eisige Nass des Araxes [Fluss in Arm�men], schlurft / der Inder, es trinkt der Perser bereits / aus Eibe und Rhein. Es wlr� kommen die Zeit, / wenn die Jahre vergehn, wo des Oceans Strom / den Erdennng sprengt und ein riesiges Land / sich weithin erstreckt wo Tethvs ent J' hüllt, / was an Räumen sie barg - das Ende der Welt / ist Thule ni ht mehr. ]
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Tsalal"', wie für die dort einge So liest Schmidt in Zettels Traum: für die "'Sprache von nachzuschlagen: "Die 'Sprache Genesis der insb. Bibel, der in u.a. ist grabenen Zeichen iertes Hebräisch" ([wie Anm. korrump leicht von Zalal' ist, ganz=simpl, ein, absichtlich hebräischen 'Farben' nach den unter du Wenn ] ... [ ? meint i' 'tekeli=l 34], 30 f.). "was hat sich ergeben, daß es her D TALMU vom siehst, findest Du dort ein 'tekeleth' [ ... ]. Erst die Pupille angreifende, ch nerträgli schier=u end anschein ischen Subtrop im das, sich um n Meeres handelt" (ebd., vgl. Geistergestrahle des klaren Himmels & des widerspiegelnde e im Hebräischen=etc?" . enntniss Nicht=K ganzen seine POE hatte "wo=her 4). 1 S. 1 1 , von STEPHENS 'Arabia on Rezensi die für auch ihm "Von Charles Anthon' [ ... ] : 'Der könnte POE auf die barocke Er Peträa' die Hinweise gab: Die habm sich 'gekannt';" - "wie war; vielmehr aufs pein 'barock' denn eniger nichts=w sie klärung verfalln sein?'/ 'Weil lichste 'in der Luft lag'" (S. 3 1 f.; Herv. i. Orig.). s Dialogizität und die ak 101 Vgl. für diese Akzentuierung Renate Lachmann, Bachtin Das Gespräch, München in: meistische Mythopoetik als Paradigma dialogischer Lyrik, M. 1 990. a. t Frankfur r, Literatu und nis Gedächt 1 984, S. 490 f., 496, sowie
Nunc iam cessit pontus et omnes patitur leges: non Palladia compacta manu regum referens inclita remos quaeritur Argo quaelibet altum cumba pererrat; terminus ornni s motus et urbes muros terra posuere nova; nil qua fuerat sede reliquit pervius orbis: Indus gelidum potat Araxen, Albin Persae Rhenumque bibunt - venient annis saecula seris, quibus Oceanus vincula rerum laxet et ingens pateat tellus Tethysque novos detegat orbes nec sit terris ultima Thule ?
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Bruno W. Häuptli in: Seneca, Medea, Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übers. von dems., Stuttgart 1 993, S. 1 1 4. Seneca, Medea, Vers 364-379, hrsg. von Häuptli, S. 34/36 (lateinisch). Seneca, Medea, Vers 364-379, hrsg. von Häuptli, S. 35/37 (deutsch).
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Bemhard Teuber
Die vorgetragenen Verse sind angefüllt mit antiker Topik: Thule, eine Insel im äußersten Norden (womöglich auch Nordwesten), die der Grieche Pytheas von Marseille im 4. Jahrhundert vor Christus bereist haben will, über die unter anderem Strabo, Tacitus (im Agricola, nicht aber in der Germania) und Plinius der Ältere berichten,4 gilt als ein klar definierter Rand, ein Ende der Welt: finis terrae, wie man ab dem Mittelalter sagen wird. Die Pointe des Chorlieds besteht aus unserer Sicht darin, dass die ultima Thule ihr Epitheton nicht für immer wird behalten können; dass sie nicht dazu bestimmt ist, für immer der äußerste Rand der Erde zu bleiben. Dereinst wird die Meeresgöttin Tethys im Oceanus neue Welten eröffnen, so dass das feme Thule nicht mehr an der Peripherie, sondern innerhalb der bewohnten und von Schiffen befahrenen Welt, innerhalb der oiKoullev11 yTj , zu liegen kommen wird. Das Fremde, Unheimliche wird zu etwas Bekanntem, Heimeligem werden. Mit einer solchen Umkehrbarkeit der gängigen geographischen Schemata rechnet im Übrigen auch der fast zeit genössische Plinius der Ältere, wenn er in seinen Ausführungen über die Küsten im Norden und die Insel Scandia gleichfalls die Existenz eines alter orbis terrarum, eines neuen Erdkreises, behauptet, der sich von dort aus den See fahrern erschließe .5 Was immer mit der vorgeblichen Insel Scandia (nach anderen Lesarten auch Scatinavia oder gar Scandinavia) näherhin gemeint sein mag, ob Seeland oder Schonen: Es fällt schwer, in dieser 'Neuen Welt' nicht die Inselwelt und die Gestade der Ostsee erkennen zu wollen. Und in einer ähnlich aneignenden Lesweise meinte Ferdinand, der Sohn des Admirals Christoph Columbus, in Senecas Medea sei von einem antiken Autor bereits die Inbesitz nahme der Westindischen Inseln durch seinen Vater prophezeit worden.6
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Vgl. Strabo, Geographica II,4,1 C 104; IV,5,5 C 20 1 ; parall. 1,4,2-4 C 63-64; Tacitus, Agricola 1 0,4; Plinius maior, Naturalis historia II,75,77,1 86; IV,16,30,104 und öfters. So heißt es etwa bei Plinius unter Verwendung desselben Epitheton wie bei Seneca: "Ultima omnium [seil. insularum] quae memorantur Tyle [sie]." (Naturalis historia IV, 1 6,30,104.) "Incipit deinde c1arior aperiri fama ab gente Inguaeonum, quae est prima in Germania. mons Saevo ibi, inmensus nec Ripaeis iugis minor, inmanem ad Cimbrorum usque pro muntorium efficit sinum, qui Codanus vocatur, refertus insulis, quarum clarissima est Scatinavia, incompertae magnitudinis, portionem tantum eius, quod notum sit, Hillevionum gente quingentis incolente pagis: quare alterum orbem terrarum eam appellant. nec minor est opinione Aeninga." (Plinius, Naturalis historia IV,96, hrsg. von Carolus Mayhoff [ 1 906], Bde. I-VI, Stuttgart 1 985, Bd. I). - 'Sodann gibt es verlässlichere Nachricht ab dem Land der Inguaeonen, dem ersten Stamm auf dem Gebiet Germaniens. Dort liegt das Saevo-Gebirge; es ist von riesigen Ausmaßen, nicht etwa kleiner als das Rhipaeus-Gebirge (in Scythien) und bildet bis hin zum Cimbrischen Vorgebirge einen riesigen Golf. Dieser wird Codanus genannt und ist von Inseln übersät, deren berühmteste Scatinavia ist. Sie ist von unbekannter Größe; das Volk der Hillevionen jedenfalls bewohnt, soweit bekannt, mit seinen fünfhundert Ansiedlungen nur einen Teil davon. Darum nennt man diese Insel einen neuen Erdkreis, und nach üblicher Meinung ist auch Aeninga keineswegs kleiner.' Beleg wiederum bei Häuptli, in: Seneca, Medea, hrsg. von dems., S. 1 14.
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
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Fes�zuhalten bleibt, dass die antiken Dokumente, die auf ihre je spezifische Welse G�d.ungsu�kunden einer �eographie, aber auch einer Imagologie (oder b�sser VIelleIcht: emer IkonologIe) des Nordens sind, die Wandelbarkeit der eIgenen topographischen Ordnungskonzepte mit zu bedenken, ja geradewegs vo�auszusetzen scheinen. Eine topographische Ordnung, die vom Verlauf der Zelt und der Geschichte, die von Transportmitteln, Wegen, Reise- oder auch Seerouten abhängig ist, darf als ein Produkt der Kultur angesehen werden. Worum �s uns im Folgenden gehen soll, ist darum eine Topographie der Kultur und WIr werden zu fragen haben, inwiefern 'Bilder vom Norden', inwiefern ein den Norden erst bildendes und abbildendes Vermögen der menschlichen Einbildungskraft einen Platz in einer Topographie der Kultur erhalten kann inwi� fern also imaginatio borealis und kulturelle Topographie miteinander i� Verbmdung zu bringen sind. Im Einzelnen bedeutet dies, dass wir uns dem Thema mit Hilfe einer Reihe von Theoriestücken in drei Reflexionsschritten nähern werden: -
1. 2. 3.
das Verhältnis von Raum und Kultur, das Verhältnis von Imagination und Kultur, das Verhältnis von Imagination und Raum.
1. Raum und Kultur: Chronotopos, Heterotopie, Parcours
Die kulturanthropologischen Arbeiten von Clifford Geertz haben den Zu sammenhang von Text und kulturellen Praktiken in den Mittelpunkt des Int�resses gerückt. So schreibt Geertz in seinem bekannten Essay über den bali nesIschen Hahnenkampf: "that cultural forms can be treated as texts as ima ginative �orks built out of social materials".7 Nun ist freilich die b�hauptete HomologIe von kulturellen Formen oder Praktiken einerseits, von imaginativen - ?as heißt: literarischen, fiktionalen - Texten andererseits eine überaus folgen reiche Hypothese. Der New Historicism mit Stephen Greenblatt an der Spitze hat Geertz' Theorie übernommen und in seinen Interpretationen anzuwenden versucht, insbesondere in Bezug auf das Werk Shakespeares und anderer �utor�n der e�glischen Renaissance.8 Wenn auch die Inbezugsetzung außer ht:ra�lscher DIskurse zu den literarischen Formationen in den Anwendungs bel�plelen des New Historicism ohne große Probleme vonstatten geht, so ist gleIchwohl festzustellen, dass dessen Vertreter gegenüber der Spezifik liteClifford Geertz, Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight (1972), in: The Interpretation of Culture. Selected Essays (1 973), New York 1 993, S. 4 12-453, hier: S. 449. Vgl. Stephen J. Greenblatt, Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare, Chi cago/London 1 980; ders., Towards a Poetics of Culture (1 987), in: Learning to Curse. Essays in Early Modem Culture, New YorkILondon 1 990, S . 146-1 60; ders., Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England' Oxford 1 988.
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
Bernhard Teuber
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eis�n. . Dies kö�nte im rarisc, her Texte . oftmals eine gewisse Indolenz auf,,:stons tIsche Ansatze.. nur Vb " ngen auch em Grund dafür sein, warum sich neohl letztere starker welch , lassen nen versöh ten schwer mit dekonstruktiven Lesar auf die Sprachlichkeit und Poetizität der Texte achten . gie aufgre �fen Will man tatsächlich die Anregungen aus der Kulturanthropolo tur und emer � Ku der und einen Brückenschlag zwischen einer Beschreibung man meme te müs �. Erachtens � Beschreibung des poetischen Textes vornehmen, ubertr�gen. zu ltur K emer se Analy � versuchen, pertinente Text-Theorien auf die sche schon d auf s Rekur einem in i �� . klassi Eine erste Möglichkeit sehe ich hierbe Struktu� DIe uber n . Lotma M Jurij tikers Semio chen . Darstellung des estnis gerade deswegen, w.el literarischer Texte aus dem Jahre 1 970 - und zwa� dass es um so em Lotman Texte in Abhängigkeit von der Kultur beschreibt; soText-e xterne Kultur die auf facher sein dürfte, seine Text-Theorien wiederum zurückzuübertragen. l die !3eg�iffe .des Wesentlich für Lotmans Argumentation sind zunächst einma spncht .�n .emer tur Litera "Die ihm: bei es heißt So Modells und des Systems. der naturhc.�en besonderen Sprache, die als sekundäres System a�f �d über tur �ls �ekundares Sprache errichtet wird. Deshalb definiert man die Litera die Literatur als aber ann � hat modellbildendes System." 9 Welche Besonderheit Kunstwer als chaft Eigens rer � i In ein sekundäres model/bildendes Systen:? . n d auf Welt n außere der Weite � begre�e bildet die Literatur die unbegrenzte el tman L bei ist hierfur lage Grund ab. � �� �n p�an� Raum des eigenen Textes se. D�e Pramls menologischen Überlegungen ausgerichtete anthropologische t Merkm ale. m abstrak � menschliche Geistestätigkeit tendiert von sich aus dazu, Sich findet etIOn Konkr liche räumliche Vorstellungsbilder zu übersetzen. Räum damit auch in der Literatur:
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Infolgedessen wird die Struktur des Raumes eines Textes z m Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt und die interne �ynta gt1k der Elemente innerhalb des Textes zur Sprache der räumlichen ModelIIerung.
Die "Sprache der räumlichen Modellierun( ü�ers�tzt �emnach .beständig Begriffe, die an sich nicht räumlicher Natur smd, m raumhche RelatIOnen und konstruiert auf dieser Basis spezifische Kulturmodelle:
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Bereits auf der Ebene der supratextuellen, rein ideologischen Modellbild�ng erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als ines der g� le enden �Itt l . zur Deutung der Wirklichkeit. Die Begriffe hoch/medng , rechts/links , . "nah/fern", "offen/geschlossen", "abgegrenzt/nicht abgegrenzt", "diskret /ununte� brochen" erweisen sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit 9
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übers. von Rolf-Dietrich Keil, Jurij Michailovic Lotlnan, Die Struktur literarischer Texte, go teksta, Moskva 1 970.] stvenno chudoze a Struktur h: [Russisc 39. S. 972, n 1 Münche Lotman, Struktur literarischer Texte (wie Anm. 9), S. 3 1 2.
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keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten die Bedeutung "wertvoll/wertlos", "gut/schlecht", " r gen/fremd", "zugänglich/unzugänglich", "sterblich/unsterblich" und dergleichen.
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Mit seinen Überlegungen redet Lotman keinem pauschalen Universalismus das Wort. Denn er stellt ausdrücklich fest: Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisations prinzip für den Aufbau eines "Weltbildes" - eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist. Vor dem Hintergrund solcher Strukturen gewinnen dann auch die speziellen von diesem oder jenem Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle ihre Be 12 deutsarnkeit.
Selbstverständlich stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Kulturtyp und literarischem Raummodell näherhin beschaffen ist - ob es etwa nach Art einer Widerspiegelung (durchaus im orthodox marxistischen Sinn) oder aber im Sinne einer kontrafaktischen, kritischen, gar phantastischen Deformation zu denken ist. Erheblich wichtiger aber als diese durchaus zu diskutierenden Einzelfragen scheint mir angesichts der kulturanthropologischen Wende in den Literatur- und Medienwissenschaften ein ganz anderer Gesichtspunkt zu sein: Indem Lotman den literarischen Text sowohl als Raummodell wie auch als Kulturmodell be greift, verschränkt er gewissermaßen den Raum- mit dem Kulturbegriff - und er suggeriert zugleich, dass nicht nur Texte eine räumliche Ordnung modellhaft aktualisieren, sondern dass überhaupt die unterschiedlichen Kulturtypen durch je spezifische räumliche Ordnungen charakterisiert sind. Nicht nur Texte, sondern auch Kulturen sind offenkundig Raummodelle und von daher ist es eigentlich folgerichtig, dass man auch Text-externe kulturelle Phänomene mit Hilfe jener Text-Theorien beschreiben kann, die den Text als Raummodell verstehen . Kul turwissenschaft wird so verstanden zur Topographie und wir können in diesem Zusammenhang einen Gedankengang des New Historicism aufnehmen und weiterentwickeln. Louis A. Montrose und andere haben darauf hingewiesen, dass es neben der Geschichtlichkeit eines Textes immer auch die Textualität der Geschichte gibt, das heißt: Geschichte ist Produkt oder Effekt einer Text gestalt. 13 Entsprechendes müsste von Lotman her gesehen dann wohl auch für den Raum gelten. Neben der Räumlichkeit des Textes gibt es offenkundig eine Textualität des Raumes; eine bestimmte Raumordnung ist Produkt oder Effekt eines Sprachspiels. Angesichts dieser bleibenden und - gerade auch in der heutigen Debatte - immer noch aktuellen Leistung Lotmans scheint mir ein II
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Ebd., S. 3 1 3. Ebd., S. 3 1 3. Louis A. Montrose, Professing the Renaissance. The Poetics and Politics of Culture, in: The New Historicism, hrsg. von H. Aram Veeser, New York/London 1 989, S. 1 5-36.
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anderer Streitpunkt in den Hintergrund treten zu dürfen, nämlich die Über legung, wie genau ein solches Raummodell strukturiert ist.
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Lotmans eigener Entwurf geht bekanntlich von einer binären Top�gr�p� ie . aus, von oppositiv geordneten semantischen Feldern, die durch e�ne pnnzlplell . unüberschreitbare Grenze getrennt sind, welche gleichwohl Im sUJethaften Text vom Helden überschritten wird. Eine solche Topographie klingt durchaus plau sibel und sie hat sich ja auch forschungsgeschichtlich seit den frühen 1970er Jahren in zahllosen Interpretationen bewährt. Gleichwohl spricht vieles dafür, dass mit Lotmans Raumkonzept nur ein Teil der beobachtbaren Phänomene zu erfassen ist. Eine Konsequenz könnte darin bestehen, Lotmans Ra� mkonzept immer weiter zu verfeinern, bis es irgendwann einmal doch der Vielzahl der Phänomene gerecht wird. Ich persönlich bezweifle allerdings aus �rinz�piellen . . . Gründen, dass dies gelingen wird. Stattdessen möchte Ich heute �rel zusatzhche . Entwürfe skizzieren ' die wir bislang in unserem Kolleg noch mcht emgehend diskutiert haben und die mir weniger eine Ausarbeitung denn eine Alternative zu Lotmans Raumkonzeption zu sein scheinen, was natürlich nicht auss�hließt, dass sie sich bei der konkreten Analyse miteinander verbinden lassen. Die theo retischen Kontrast-Entwürfe stammen - in der Reihenfolge ihres Erscheinens von Michail Bachtin Michel Foucault und Michel de Certeau (zufällig haben also alle drei Autore� denselben Erzengel zum Namenspatron wie Jurij Lotmans Vater auch). Chronotopos
In einer Monographie, die in den Jahren 1 93 7/38 entstand und 1 973 um eine Schlussbemerkung ergänzt wurde, widmet sich Michail Bachtin den Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Bachtin beruft sich auf Anregungen aus der Relativitätstheorie, die ja in der früheren Sowjetunion lange �eit geächtet war; ihm geht es aber sodann darum, charakteristische Orte litera:lscher Werke in ihrem unaufgebbaren Zusammenhang mit einer bestimmten Zeit zu sehen. Er schreibt: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (nRaumzeitn müsste die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichne�. [ . .. ] Für uns i�t wichtig, dass sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zelt und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur (den Chronotopos in anderen Bereichen der Kultur werden wir hier nicht behandeln).
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
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Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Über schneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charak 14 teristisch für den künstlerischen Chronotopos.
Bachtin beschreibt in seiner Abhandlung eine ganze Reihe von Chronotopoi, etwa den Weg, der im antiken Abenteuerroman eine bedeutsame Rolle spielt, dann auch das Schloss der englischen Gothic Novel, den Empfangssalon der Romane Balzacs, das Provinzstädtchen bei Flaubert und last hut not least die Schwelle, das Treppenhaus oder den Korridor bei Dostoj evskij . Wir erkennen somit, dass es neben punktuellen, klar begrenzten Chronotopoi auch sehr viel weitläufigere Manifestationen geben kann wie im Fall des Provinzstädtchens oder gar des Reisewegs, der beispielsweise im Goldenen Esel des Apuleius von Hypata in Thessalien bis nach Korinth, in anderen antiken Liebes- und Abenteuerromanen gar durch mehrere Provinzen und Länder führen kann. Folgerichtig wurde jüngst erst vorgeschlagen, das Paris des 19. Jahrhunderts ebenfalls als einen umfassenden Chronotopos zu lesen. 1 5 Wie aber wäre es, wenn man raumzeitliche Manifestationen des Nordens wie das Land der Hyper boreer; die Germania des Tacitus; die Einfallsgebiete der 'Nordmänner' im Northumbria des frühen Mittelalters; das Schweden unter Gustav Adolf mitsamt den skandinavischen Bilderwelten, die den Norden als eine 'andere Antike' aus zustellen suchen; das Deutschland der Jahrzehnte um 1 800 oder auch die skan dinavischen Territorien des 19. Jahrhunderts als ebensoviele Chronotopoi verstünde, in denen ein Territorium zu einer unverwechselbaren Zeit konkrete Gestalt gewinnt? Heterotopie
Während Bachtin die Kategorie des Chronotopos einführt, prägte Michel Foucault in den 1960er Jahren den Begriff der Heterotopie. Der Terminus fällt erstmals, soweit ich sehe, im Vorwort zu Les Mots et les Choses ('Die Ordnung der Dinge') von 1 963, wo Foucault auf die Eintragungen einer chinesischen Enzyklopädie zu sprechen kommt, die Jorge Luis Borges in einem seiner Essays zitiert hat, wo der Begriff allerdings im Horizont der rhetorischen Topik ver14 Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, übers. von Michael Dewey (1 986), Frankfurt a. M. 1 989, S. 7 f. [Russisch: Voprosy literatury i estetiki. Issledovanija raznych let, 1 937-38/1973, Moskva 1 975.] 15 Rainer Waming, Der Chronotopos Paris bei den 'Realisten', in: Die Phantasie der Rea listen, München 1 999, S. 269-3 1 1 .
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standen ist. 16 Vor allem aber wird der Heterotopie-Begriff 1 967 bei einem Vor trag vor Architekten erläutert und nun d�zidie� auf die Probleme ?e� �aum . struktur bezogen. 17 Die Heterotople fungiert bel Foucault als mat�nahstlscher . Gegenbegriff zur rationalistischen Utopie - und sie ist vor allem � me Signatur der sich entfaltenden Moderne. Die traditionale Gesellschaft des Mittelalters, so Foucault definiert ihren Raum über Gegensätze wie sakral/profan, geschützUungeschützt, städtisch/ländlic� , hi��lisch/irdis�h. Auc? in �iner solch traditionalen Ordnung gibt es Heterotoplen; m Ihnen vollZiehen slch die Wende . punkte des Lebens, die rites de passage sie habe? demnach elne o�fen od�r : . versteckt sakrale Funktion und stehen mit dem Helhgen oder Hlmmhschen m Verbindung. Nach der Copemicanischen Wende je�o�h ",,:ird der Raum im Abendland profaniert und homogenisiert; er charaktenslert sich nurmehr du�ch . seine etendue seine 'Ausdehnung'. Die Aneignung, Gestaltung und Organisation des Raums h �t von nun an durch planerische, gleichsam urbanistische emplace ments, durch 'Anlagen' zu erfolgen. Die ausgedehnte FI�che mit ihren einz� lnen 'Anlagen' bildet einen homogenen Raum, eine Homotople. Foucault selbst mter essiert sich in seinem Artikel freilich nicht für die gleichförmige Ordnung des Raums, sondern gerade umgekehrt für spezifis�he contre-emplacemenfs, für 'Gegen-Anlagen', welche die homogene Struktur dieses Raums unterbrechen und verkehren. 18
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Im Gegensatz zu den vormodernen Ordnungen, die s�c� letztlich in:uner über . eine Opposition von drinnen vs. draußen artikulieren, sltmeren sich die charak teristischen Heterotopien der Moderne gerade nicht mehr draußen, sondern drinnen. Aber in dieser Funktion sind die Heterotopien dennoch - so verstehe ich Foucault - gleichsam Statthalterinnen des Draußen; sie erhalten den Charakter von Enklaven, von Einschlüssen, die zur umgebenden Ordnung des . homotopen Raums quer stehen und in denen sich m�ifes�iert, was letzthch das Andere der Gesellschaft ist und was in früheren Zelten Ihr Draußen gew�sen wäre. Die Heterotopien sind demnach gewissermaßen ein Supplement zu emer archaischen Wildnis die von der homogenen Ausdehnung des modemen Raums immer weiter an de� Rand gedrängt wurde - bis hin zu dem Punkt, wo sie m?g licherweise in ihrer Existenz bedroht ist. Zu diskutieren bliebe die Frage, ob sich in der Heterotopie das Phänomen einer systemtheoretisch zu fassenden re-entry 16
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humaines, Paris Michel Foucault, Les Mots et les Choses. Une archeologie des sciences 1 963, S. 9 f. . . et ecnts, hrsg. von Michel Foucault, Espaces autres ( 1 967 als Vortrag, pub\. 1 984), m: DIts [Deutsch: Andere 360. § IV, Bd. 994, 1 Paris Bde., 4 Ewald, Daniel Defert und Franyois ung heute od Wahrnehm esis. Räume, übers. von Walter.. Sei �er, 1 987, in: Ais� ( 1 990), . anderen und Barck Karlhemz von hrsg. Asthetlk, anderen Perspektiven einer durchgesehene Aufl., Leipzig 1998, S. 34-46.] g' und 'Gegen Seitter verwendet in der genannten Übersetzung die Ausdrücke 'Plazierun erischen und raumplan den aber nicht plazierung', was zwar die Lokalisierung im Raum, damit polizeilich-politischen Zugriff des Unterfangens bezeichnet. "
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manifestiert: Konstituiert sich das System in Differenz zu seiner Umwelt, so kehrt diese Unterscheidung bekanntlich innerhalb des Systems wiederl9 - und entsprechend gilt: Ist die Ordnung durch den Ausschluss des Verfemten konsti tuiert worden, so kehrt innerhalb der Ordnung dieses Verfemte in Gestalt der Heterotopie wieder, um sich vom homotopen Raum abzugrenzen. F oucault unterscheidet praktisch zwei Arten von modernen Heterotopien. Die einen tragen ganz offensichtlich Anstalts-Charakter: Es sind die nach der Französischen Revolution säkularisierten Friedhöfe am Rand der Städte, Kran kenhäuser, Irrenanstalten, Gefängnisse, Kasernen, Bordelle. An diese Hetero topien verwiesen werden Unangepasste, Verhaltensauffällige, Deviante, also all jene, die sich dem Normalismus der modemen Gesellschaft entziehen wie beispielsweise Kranke, Irre, Kriminelle, Bewaffnete, Prostituierte und schließ lich Tote?O Daneben gibt es Heterotopien, die vordergründig einen weniger fragwürdigen Charakter haben; Foucault nennt ausdrücklich Gärten, Museen, Bibliotheken, Jahrmärkte und Kolonien einschließlich der Ferienkolonien. Dennoch stellt auch diese letztgenannte Klasse von Heterotopien nicht einfach einen Macht-freien Raum dar; eher geht es darum, dort Güter zu verwahren, Individuen einzuweisen und Bedürfnisse zu befriedigen, die zwar tendenziell subversiv sind, aber durch entspechende Administration innerhalb der Anlage Ordnungs-verträglich gemacht werden sollen. Eine weitere Frage ist es dann, ob die Kontrolle, die durch Auslagerung in eine Heterotopie angestrebt wird, auch in j edem Falle gelingt oder nicht. Dass die Heterotopien in den homogenen Raum eingefügt sind, unterwirft sie einer Regulierung, die es schwer macht, sie in klarer Opposition zu ihrer Umgebung zu definieren, wie es Lotman postu lieren würde (in klarer Opposition zum homogenen Raum stünde wohl nur die Utopie, die ja gerade nicht existiert). Dass die Heterotopien im homogenen Raum gleichwohl Fremdkörper sind, zeigt aber auch ihre bleibende Wider ständigkeit gegenüber der Ordnung und dies macht es schwer, sie in Äquivalenz zur Homotopie zu definieren. Heterotopien bilden mithin eine rätselhafte Rest klasse von Räumen, die weder in einer klaren Oppositions- noch auch in einer Äquivalenzbeziehung zum normalisierten, homotopen Raum zu stehen scheinen. Was die Nördlichkeits-Thematik betrifft, so liegt es auf der Hand, dass Kul turen, die sich selbst im Prinzip als nicht nördlich definieren, gleichwohl ver19 Vg\. Albert Meier, Wir Cimmerier. Zur Logik einer Kulturdifferenz bei Goethe und
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einigen Zeitgenossen, in: Ortrud Gutjahr (Hrsg.), Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspektive, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 127-1 39. Vgl. darüber hinaus zur Kategorie der re-entry in systemtheoretischer Sicht Christoph Reinfandt, Artikel Systemtheorie, in: Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. von Ansgar NÜlllling, Stuttgart 1 998, S. 521 -523. Zum Begriff des Normalismus vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird ( 1 998), 2., aktualisierte und erweiterte Aufl., Opladen /Wiesbaden 1 999.
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Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur de programmes conflictuels ou de proximite contractuelles. L'espace serait au lieu ce que devient le mot quand il est parle, c'est-a-dire quand il est saisi dans l'ambiguIte d'une effectuation, mue en un terme relevant de multiples conventions, pose comme l'acte d'un pn:sent (ou d'un temps), et modifie par les transformations dues a des voisinages successifs. A la difference du lieu, il n'a donc ni l'univocite ni la stabilite d'un "propre". En somme, l'espace est un lieu pratique. Ainsi la rue geometriquement definie par un urbanisme est transformee en espace par des marcheurs. De meme, la lecture est l'espace produit par la pratique du lieu que constitue un systeme des signes 22 un ecrit.
können - beinahe mittels der Heterotopien einen 'inneren Norden' konstruieren Wir haben �on hatte. so wie Joseph Beuys einst seine 'innere Mongolei' kreiert und seme Norden der wo gehört, Weltausstellungen und Völkerschauen Land über werden wir waren; s Norden des lb Bewohner Schau-Objekt außerha All eren?l inszeni � nac Ort anderem an Norden den die n, schaftsgärten spreche . ver vom ng dies sind offenkundige Fälle von Heterotopie - und wie der Uberga zur Völker mutlich harmlosen Landschaftsgarten zur Weltausstellung oder gar zu propa schnell ts ihrersei schau beweist, können solche Inszenierungen Macht gedie um Spiel im und Macht der gandistischen Schachzügen im Spiel raten.
[Zu Anfang setze ich zwischen Raum und Ort eine Unterscheidung, die einen Gegenstandsbereich begrenzen wird. Es sei ein Ort die Ordnung (welcher Art auch immer), der zufolge Elemente einander in Verhältnissen der Koexistenz zugeordnet sind. Somit ist ftir zwei Gegenstände die Möglichkeit ausgeschlossen, sich an ein und demselben Platz zu befinden. Es herrscht dort das Gesetz des "Eigentlichen"; die betrachteten Elemente befinden sich jeweils nebeneinander; jedes an einer eigentlichen und unterschiedenen Stelle, die es definiert. Ein Ort ist demnach eine Konfiguration zu einem bestimmten Augenblick. Er beinhaltet das Merkmal der Stabilität. Es entsteht ein Raum, sobald man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variable der Zeit hinzunimmt. Der Raum ist eine Kreuzung von beweglichen Elementen. Er wird in gewisser Weise durch die Menge der Be wegungen beseelt, die dort zum Austrag kommen. Es sei Raum der Effekt der Operationen, die ihm eine Orientierung geben, ihn in ein Netz von Umständen einbinden, ihn verzeitlichen und es ihm gestatten, als vielwertige Einheit von konfligierenden Programmen und vertraglich vereinbarten Verflechtungen zu fungieren. Der Raum verhält sich zum Ort wie das Wort zu dem, was tatsächlich gesprochen wird; das heißt: wenn es in der Zweideutigkeit eines Vollzugs ver standen wird; wenn es sich zu einem bedeutungsentscheidenden Ausdruck mannigfaltiger Vereinbarungen wandelt; wenn es als Akt gebraucht wird, der eine Gegenwart (oder eine Zeit) begründet; wenn es durch Veränderungen umgestaltet wird, die sich aus seinen aufeinander folgenden Nachbarschaften ergeben. Im Unterschied zum Ort, zeichnet sich der Raum also weder durch Eindeutigkeit noch durch die Stabilität des "Eigentlichen" aus. Zusammengefasst: Der Raum ist ein Ort, der Gegenstand einer Praxis geworden ist. Ebenso wird die Straße, die von Stadtplanem nach geometrischen Linien bestimmt wurde, von den Gehenden in einen Raum verwandelt. Auf gleiche Weise ist die Lektüre der Raum, der aus der praktischen Begegnung mit einem Ort entsteht, der von einem Zeichensystem gebildet wird - nämlich von einem 23 Schriftstück.]
Parcours
ich heute Das dritte Modell einer Raumkonzeption unabhängig von Lotman, das de Michel er Historik und Jesuiten ischen französ vom vorstellen möchte, stammt von ungen austreib Teufels die über Arbeit eine durch der , Certeau Certeau . Vorstel Loudun im 1 7. Jahrhundert berühmt geworden war, übernahm viele i�er lt Foucau frühe der lungen von Foucault. Während freilich vor allem eten abgelelt daraus der und es Diskurs wieder die Macht der Episteme, des du n 'Inventio L Buch seinem in e Interess s Certeau Institutionen betont hat, gilt tak und Listen en iskursiv konterd den hrt umgeke gerade 980 1 quotidien von äßigen tischen Ausweichmanövern, mit denen es den Trägem einer unbotm zu parate Machtap der en Alltagskultur gelingen kann, sich gegen die Strategi des zumal , Raumes des ng Aneignu wehren. In diesem Zusammenhang spielt die diesem städtischen, ftir ihn eine herausragende Rolle. Certeau unterscheidet aus . ('Raum') espace und ('Ort') lieu Grund die Kategorien von Au depart entre espace et lieu, je pose une distinction qui delimitera un champ. Est un [jeu l'ordre (quel qu'il soit) selon lequel des elements sont distribues dans des rapports de coexistence. S'y trouve donc exclue la possibilite, pour deux choses, d'etre a la meme place. La loi du "propre" y regne: les elements consideres sont les uns a cöte des autres, chacun situe en un endroit "propre" et distinct qu'il definit. Un lieu est donc une configuration instantanee de positions. Il implique une indication de stabilite. Il y a espace des qu'on prend en consideration des vecteurs de direction, des quantites de vitesse et la variable de temps. L'espace est un croisement de mobiles. Il est en quelque sorte anime par I'ensemble des mouvements qui s'y deploient. Est espace l'effet produit par les operations qui I'orientent, le circonstancient, le temporalisent et l'amenent a fonctionner en unite polyvalente 21
Vgl. den Beitrag von Silke Göttsch-Elten in diesem Band. Siehe früher schon Adrian von Buttlar, Das "Nationale" als Thema der Gartenkunst des 1 8. und 19. Jahrhunderts, in: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt "Natur im Kopf" (Stuttgart, 2 1 .-26. Juni 1 993), hrsg. vom Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart, Frommann-Holzbog.
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Michel de Certeau, L'Invention du quotidien. Arts de faire, Paris 1 980, S. 208. [Deutsch: Kunst des Handeins, übers. von Ronald Vouille, Berlin 1 988.] Michel de C �:teau, L'Invention du quotidien, S. 208, eigene Übersetzung. Vgl. auch die angegebene Ubersetzung von Vouille, S. 2 1 7 f., die mir an einigen Stellen ungenau erscheint.
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Sowohl für den statischen Ort als auch für den dynamischen Raum gibt es Certeau zufolge privilegierte Darstellungsweisen, wobei er sich auf eine �nter suchung von Charlotte Linde und William Labov aus der pragmatischen Sprachwissenschaft beruft. 24 Der Ort kann auf einer �arte .cenglisch: map, französisch: carte) repräsentiert werden, der Raum erschheßt Sich dagegen erst in der Beschreibung einer Strecke oder eines Weges (englisch: tour, französis�h: parcours). Einer Karte entspricht der Bericht: "Neben der Küche be�ndet Sich das Kinderzimmer'" einem Parcours hingegen die Anweisung: "Du biegst nach rechts um die Ecke �nd dann trittst du ins Wohnzimmer." Ein Parcours definiert weniger einen Raum, als dass er erläutert, wie man sich darin bewegen, wie man ihn sich erschließen kann. Der Parcours ist sozusagen eine Gebrauchs anweisung, die auf die räumlich abstrakte Ordnung nur mittelbar Bezug nimmt und stattdessen den Benutzer und seine konkreten Bedürfnisse im Sinn hat. Überhaupt sagt Certeau, dass eine kartographische Ordnung des Raums in der Regel das Ergebnis eines konkreten Parcours und nicht etwa dessen Voraus setzung ist.
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Der Verweis auf die Sprache bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Certeau die Opposition von Ort und Raum in Homologie zu Saussures Dic�o tomie von langue und parole und darüber hinaus in Homologie zum Unterschied zwischen kontextfreier Semantik und kontextualisierter Pragmatik, zwischen logischem (eigentlichem) und rhetorischem (übertragenem) Sprechen sieht. Zentral ist bei Certeau (wie auch schon beim späten Wittgenstein) die Kategorie des Gebrauchs, von dem her bei Wittgenstein das jeweilige Sprachspiel, bei Certeau der Raum seine spezifische Kontur gewinnt. Darum auch privilegiert Certeau gegenüber der abstrakt bleibenden Definition eines Ortes die konkret anschauliche Narration, die von der Durchquerung eines Raums berichtet. Obwohl Certeau sich ausdrücklich auf Arbeiten Lotmans beruft, zeigt sich, dass er dessen methodische Blickrichtung de facto umkehrt. Die Grenzüberschreitung von Lotmans Helden erfolgt auf der Basis einer kartographisch fixierten Ord nung, die dieser Grenzüberschreitung je schon vorausliegt. Bei Certeau k�nn eine karthographisch fixierte Ordnung des Raums erst nachträglich konstruiert werden nachdem der Reisende in seinem Parcours den Raum schon durchquert und ve �ändert hat. Insofern trägt in Gegenüberstellung zu Lotmans beinahe klassischem Strukturalismus Certeaus Modell deutlich postmoderne Züge. Weiterhin schreiben bei Certeau die Vektoren des Parcours dem Raum eine spezifische Ausrichtung ein. Auf Grund der besonderen Art, wie sich die Rei senden im Raum bewegen, erhält dieser Raum eine Orientierung, ihm wäc�st eine Art von Gravitationszentrum zu, auf das hin die einzelnen Bewegungen Im Raum zusteuern oder dem sie in einem zentrifugalen Impuls gerade umgekehrt 24
the Study of Language and Charlotte Linde/W illiam Labov, Spatial Networks as a Site for 924-939. S. 975), Thought, in: Language 5 1 ( 1
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zu entkommen trachten. Es liegt nahe, sowohl mythische als auch historische Berichte von Reisen nach dem Norden und aus dem Norden als solche Parcours im Sinn von Certeau zu lesen; ihnen nicht eine immer schon voraufliegende Ordnung zu unterstellen, sondern die nachträgliche und stets reversible Kon struktion dieser Ordnung aus dem Verlauf des Weges durch den Raum zu be obachten. Es liegt weiterhin nahe, mit einer Umpolung des räumlichen Koor dinatensystems zu rechnen, sobald sich die Richtung der maßgeblichen Wege im Raum ändert. Fernand Braudei hat diesen Prozess exemplarisch an Hand der allmählichen Veränderungen beschrieben, die dazu geführt haben, dass sich ab dem 1 7. und 1 8. Jahrhundert das Gravitationszentrum der Handels-Schiff-Fahrt vom mediterranen Süden weg zum atlantischen Norden hin verlagert hat. 25 Diese Verlagerung praeludiert den kulturtypologischen Verwerfungen von Süden und Norden, die dann das 1 8. und 1 9. Jahrhundert kennzeichnen werden und auf die jetzt ausführlicher einzugehen ist. 2. Imagination und Kultur: Der imaginäre Raum Die imaginatio, griechisch als <paV'rcwi'a bezeichnet, das heißt: die Ein bildungskraft, gilt in der abendländischen Philosophie lange Zeit als unsichere Kantonistin unter den sogenannten Seelenvermögen des Menschen. In der aristotelisch-scholastischen Tradition ist die menschliche Seele aus drei Schichten aufgebaut. Die anima vegetabilis haben Pflanzen, Tiere und Menschen gemeinsam; sie umfasst die Fähigkeit sich zu nähren, zu wachsen und s!ch fortzupflanzen. Die anima sensitiva haben Tiere und Menschen gemeinsam; sie umfasst die Fähigkeit, sich willkürlich zu bewegen und Sinneswahr nehmungen zu empfinden. Die anima rationalis schließlich ist allein dem Menschen vorbehalten; sie besteht aus den drei Vermögen des intellectus (Verstand), der memoria (Gedächtnis) und der voluntas (Willen). Bei Aristoteles liegt die <panaai'a zwischen der Sinneswahrnehmung (ataihlat,» und dem Denken (öuXVOW)?6 Die <panaai'a respektive imaginatio erweist sich als die 25
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"Le processus qui menace la Mediterranee et qui aura finalement raison d'elle, ce n'est rien moins que le deplacement du centre du monde, de la mer Interieure a l'ocean Atlantique. Au debut de ce processus se placent la decouverte de l'Amerique, en 1492, et le periple du cap de Bonne-Esperance, en 1497-1498." (Fernand Braudei und andere, La Mediterranee. L'Espace et l'histoire [ 1 977], Paris 1 985, S. 1 78.) - 'Der Prozess, der das Mittelmeer bedroht und der es zu guter Letzt zur Strecke bringen wird, ist nichts anderes als die Ver schiebung des Weltzentrums vom Mittelländischen Meer zum Atlantischen Ozean. Am Beginn dieses Prozesses stehen die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 und die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung in den Jahren 1 497 und 1498.' Grundlegende Ausführungen zur <j>cxvtcxo(cx finden sich bei Aristoteles De anima III 3 427 a-429 a, in: Über die Seele, Griechisch und Deutsch, hrsg. und übers � von Horst Sei : n Hamburg � 995, S. 1 52-1 65. Es heißt dort: "Daß also das Wahrnehmen [tO cxio{)avw{)cx\] und das Emsehen (verständiger Sinn) [tO (jlQ o ve'i v] nicht dasselbe sind, ist deutlich. Am
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Fähigkeit, die Eindrücke der äußeren ftinf Sinne in�erlich �u ,:,erdoppeln �nd dem Denken weiter zu vermitteln. Die imaginatio 1st somit em not,,:endlges . Zwischenglied zwischen anima sensitiva und anima rationalis, denn eme�selts ist sie den ausschließlich menschlichen Fähigkeiten intellectus und memorza zu geordnet und sie hat damit eine rationale Kompone�te, andererseits aber i st sie . von den nur äußeren Sinneswahrnehmungen abhängig, auf deren InformatIOnen sie aufbaut. Sie untersteht darum nicht in ausreichendem Maße der Kontrolle der Vernunft. Sogar manche Tierarten besitzen eine Komponente �er imag�natio in ihrer anima sensitiva und so bleibt die Einbildungskraft trotz lhrer Lelstungen stets auch verdächtig. Es kommt in der scholastischen Auffassung nämlich hinzu ' dass die imaginatio nicht nur als ein Bild-abbildendes Vermögen auf treten kann (in der Terminologie der Schulen unterschiedslos als pha:ztasia �der . . imaginatio bezeichnet), wie es sich aus der äußeren W�rkhchk� lt herleltet, . sondern dass auf dieser Grundlage darüber hinaus laut AVlcenna eme potentza
imaginativa wirksam wird, die innere Bilder ausformt, ftir ? ie es kein yorbild in . der äußeren Wirklichkeit gibt, beispielsweise wenn sich J emand, well er Gold . und weil er einen Berg gesehen hat, einen goldenen Berg vorstellt, den es m der Wirklichkeit nicht gibt. In einem solchen Fall gerät die potentia imaginativa zur freien Erfindung oder rar zur Sinnestäuschung un� sie bl�ibt a�lein �uf den Menschen beschränkt? Unnötig zu sagen, dass die kreative DimenSIOn der nur wenig. Aber auch das vernünftige einen haben alle Lebewesen teil, am andern Nicht-Richtige findet, ist nicht dasselbe das und e Richtig das Erkennen in welchem sich als Einsicht, Wissenschaft und richtige wie das Wahrnehmen. Das Richtige findet sich tzte hiervon. Die Wahrnehmung von engese Entgeg das als e Meinung, das Nicht-Richtig und liegt bei allen Lebewesen vor, das ihren spezifischen Objekten ist nämlich immer wahr nur dort vor, w.,o auch Verstand; denn liegt und sein aft fehlerh Denken hingegen kann auch ehmung [atoßT]ot�] nd Denken Wahrn Vorstellung [<paV'[ao{a] ist etwas anderes als g vorkommt, so gibt e o e ehmun Wahrn ohne nicht selbst Und wie sie ders�lbe V rnunftakt Ist . wie nicht aber sie Vorste llung keine Annahme [tmoA:rplm ]. Daß hegt bel uns, sooft wir es llen) Vorste (das ng Vorga dieser denn ein' t die Annahme leuchte ' gen, welche sich auf die diejeni wie , stellen wollen de wir können uns etwas vor Augen das Meinen -, len darstel ildern B in etwas und haben t Gedächntiskunst verleg F<:rner, wenn Ir etwas . arn: w oder falsch er hingegen liegt nicht bei uns; denn es ist entwed dies sofort mit, ebenso Wlf den n empfi ten), (vermu meinen bares Schreckliches oder Furcht , wie wenn wir auf ebenso uns wir en verhalt wenn etwas Kühnes. Bei der Vorstellung aber anima 1II,3, 427 b, übers. (De uen." bescha Kühne oder kliche Schrec das einer Zeichnung . . von Seid\.) mt r res Summa theolog ae, I, q aesti? 7�, articul s �: "Utrum. 27 Vg\. S. Thomas Aquinas, Im Hmbhck auf dIe nner.en SInne. S.ed sensus convenienter distinguantur ." Es heIßt dort (pag. 4 cap. 1 ), pomt qumque potent/a.s contra est quod Avicenna, in suo libro De anima phantasiam, imaginativam, aestl nem, commu sensitivas interiores: sicilicet sensum formarum sensibilium ordinatur mativam, et memorativam. [ . .,] Sic ergo ad receptionem dicetur. - Ad harum autem post tione distinc quorum de sensus proprius et communis: sive imaginatio, quae idem sia, formarum retentionem aut conservationem ordinatur phanta formarum per sensum quidam us thesaur quasi atio imagin sunt: est enim phantasia sive
[ötavo\a]. _
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imaginatio im Horizont des scholastischen Denkens keineswegs als Chance, sondern umgekehrt als Gefährdung des Menschen begriffen wird.
Im 1 6 . Jahrhundert kommt es bei manchen Autoren zu einer AufWertung der imaginatio, insbesondere im medizinischen Diskurs des spanischen Arztes Juan Huarte de San Juan und auch bei Sir Francis Bacon,zs Beide reformulieren aus unterschiedlichen Gründen das scholastische Konzept der drei Vermögen der gestalt, dass neben Verstand und Gedächtnis als drittes Vermögen die Ein bildungskraft tritt, die nunmehr an der Stelle des Willens steht. Daneben gibt es aber weiterhin eine starke Fraktion der Ablehnung der imaginatio, die konsequent in den Cartesianismus mündet und ihren Höhepunkt in Frankreich bei Malebranche findet, der in seinem Traktat De la recherche de la wirite von 1 674 das berühmte Dictum formulieren kann: "L'imagination est la folie du logis." - [Die Einbildungskraft ist die Närrin des Hauses.]29 Eine AufWertung der Imagination erfolgt dann zweifellos im 1 8. Jahrhundert - natürlich in Folge des Paradigmenwechsels vom Rationalismus zum Sensua lismus, der sich von England aus durchsetzt; andererseits aber wohl auch, weil paradoxerweise die unmittelbare physiologische Grundlage der imaginatio, ihre Abhängigkeit von den äußeren Sinneswahrnehmungen, zunehmend vergessen und stattdessen auf klimatische Einflüsse zurückgeftihrt wird. Dies ist deutlich bei Montesquieu der Fall: Im Zusammenhang der Klimatheorie, die er 1 748 in De I/esprit des lois entwickelt, behauptet Montesquieu, die Menschen des warmen Südens seien stärker mit Empfindsamkeit und Imagination begabt als im Norden, da die herrschende Wärme die Nervenbahnen stimuliere und
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acceptarum. Avicenna vero ponit quintam potentiam, mediam inter aestimativam et imaginativam, quae componit et dividit formas imaginatas; ut patet cum ex forma imaginata auri et forma imaginata montis componimus unam formam montis aurei, quem nunquam vidimus. Sed ista operatio non apparet in aliis animalibus ab homine, in quo ad hoc sufficit virtus imaginativa. Cui etiam hanc actionem attribuit Averroes, in libro quodam quem fecit De sensu et sensibilibus (cap. 8)". Zur Legitimation der Imagination im Zeitalter der Renaissance vg\. Juan Huarte de San Juan, Examen de ingenios para las ciencias (1575), hrsg. von Guillermo Sen�s, Madrid 1 989 (Cätedra). [Deutsch: Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, übers. von Gotthold Ephraim Lessing, Zerbst 1 752.] Vgl. weiterhin Karlheinz Barck, Das 'Thea ter der Imagination' und der 'Palast der Philosophie'. Francis Bacons Artikulation von Poe sie und Imagination, in: Ders ., Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexions geschichte zwischen Aufklärung und Moderne, StuttgartlWeimar 1 993, S. 14-24. Zur bislang unterschätzten Bedeutung der Imagination im Denken Montaignes vg\. Karin Westerwelle, Montaigne, die Imagination und die Kunst, Habilitationsschrift an der Philos phischen Fakultät der Universität Düsseldorf, Wintersemester 1 999/2000. Nlcolas Malebranche, De la recherche de la verite (1 674), hrsg. von Genevieve Rodis Lewis, Paris 1 962. Das zweite Buch ist ausdrücklich De I'imagination untertitelt und arbeitet sorgfaltig die Affinität von Einbildung (imagination) und Wahnsinn (folie) heraus. Vgl. daneben wiederum Barck, 'Taumel der Imagination' und 'Gift des Intellekts'. Nicolas Malebranches 'Pathologie der Imagination', in: Poesie und Imagination, S. 25-3 5 .
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schneller reagieren lasse. 3 o Eine imaginatio borealis, eine nördliche Einbildungskraft, das wäre für Montesquieu praktisch noch eine contradictio in adiecto gewesen, da die Imagination aus seiner Sicht (wie später auch bei Stendhal) per definitionem im Süden aufzusuchen war. Wohl aber weiß Montesquieu von einer merkwürdigen Krankheit zu berichten, welche auf Grund der klimatischen Verhältnisse die Menschen im feuchten England erfasse und scharenweise in den Selbstmord treibe. Die bei Montesquieu geschilderte maladie anglaise ist im Prinzip eine Spiel art der Melancholie, verstanden als ein pathologisch ausgelöstes taedium vitae. Wenn man die 'englische Krankheit' darum mit einem ganz anders gearteten Melancholiekonzept zusammenzwingt, demzufolge sich der Melancholiker durch eine besondere Leistung seiner Imagination auszeichnet/ 1 dann wird es denkbar, das nördliche Klima mit seiner Feuchtigkeit doch als einen Er möglichungsgrund der Imagination anzusehen. Ich kann hier leider nicht nachzeichnen, wie genau sich diese Modifikation ergeben hat. Bedeutsame Zwischenstationen sind auf jeden Fall Diderots ästhetische Schriften mit ihrer Verherrlichung des Genies, das von der Regelpoetik und der antiken Tradition schon weitgehend emanzipiert ist; dann wohl auch die enthusiastische Rezeption des Ossianismus. In voller Ausprägung findet sich die Auffassung einer melan cholischen Imagination des Nordens bei Madame de Stael und natürlich auch bei Chateaubriand, der ja sein alter ego Rene nicht von ungefähr als einen Menschen des Nordens zeichnet. 32 Baudelaire benennt ausdrücklich die 30
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Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, De l'esprit des lo ! s [ 1 748], in: <Euvres complt�tes, hrsg. von Roger Caillois (2 Bde.), Paris, 1 95 1 , Bd. II (Editions de la Pleiade). Maßgeblich ist hier vor allem im XIV. Buch ("Des lois dans le rapport qu'elles ont avec la nature du climat") das zweite Kapitel ("Combien les hommes sont differents dans les divers climats"). Vgl. Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst [englisch 1 964], übers. von Christa Buschendorf, Frankfurt am Main 1 992. Siehe zu diesem Themenkomplex auch den Beitrag von Volker Kapp in diesem Band. Madame de Stael rechnet eine spezifische 'Einbildungskraft des Nordens' den schottischen Barden in der Gefolgschaft Ossians und den englischen Dichtern zu: "[ ... ] mais ils ont conserve l'imagination du nord, ceIle qui se plait sur le bord de la mer, au bruit des vents, dans les bruyeres sauvages; ceIle enfin qui porte vers l'avenir, vers un autre monde, I'ame fatiguee de sa destinee. L'imagination des hommes du nord s'elance au deUt de cette teITe dont ils habitoient les confins; elle s'elance a travers les nuages qui bordent leur horizon, et semblent representer l'obscur passage de la vie a I'eternite" (De la litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales [ 1 800], hrsg. von Paul van Tieghem, 2 Bde., Geneve/Paris 1 959, Bd. I, S. 1 80). '[ ... ] aber sie haben die Einbildungskraft des Nordens bewahrt; diese findet ihr Wohlgefallen am Gestade des Meeres, im Brausen des Windes, in den wild wachsenden Pflanzen der Heide; diese führt schließlich die Seele, die ihre s Schicksals müde geworden ist, in die Zukunft, in eine andere Welt hinein. Die Ein bildungskraft der Menschen des Nordens schießt über diese Erde hinaus, an deren Rand sie
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
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Imagination als die reine des facultes ( 1 859); 33 mit seinem Kult des englischen Dandy und des Spleen und mit seinem Hang zu Belgien wird er dieser Imagina tion ein unverkennbar nördliches Gepräge geben. Mit dem bislang Gesagten ist angedeutet, dass die Konzepte des Raums und des Nordens allemal einen wesentlich imaginären Status haben. Jüngere Theorien, insbesondere die literarische Anthropologie, die Wolfgang Iser im Anschluss an den griechisch-stämmigen Philosophen und Soziologen Cornelius Castoriadis skizziert hat, schlagen vor, das Ästhetische überhaupt eng ans Ima ginäre zu binden. 34 Castoriadis hat ja in seinem bekannten Buch L 'Institution sociale de l'imaginaire von 1 975 die gesellschaftliche Ordnung als das prekäre Produkt eines fluktuierenden 'Magma'-ähnlichen Imaginären beschrieben, das sich - im unabschließbaren Wechselspiel zwischen diskretem Atyew (reden) und kontinuierlichem 1:euxnv (verfertigen) - vermittels immer wieder neuer Figurationen (Bilder) Ausdruck verschafft. 3 5 Eine solche Grundlage aller gesellschaftlichen Institutionen nennt Castoriadis das radikal Imaginäre. Iser hat auf dieser theoretischen Grundlage eine Konzeption des Fiktiven vorgestellt, worin die ästhetische Fiktion als ein vermittelndes Glied zwischen dem Realen und dem radikal Imaginären gewissermaßen die Kraftquellen des Imaginären anzapft und für die Gesellschaft nutzbar macht. Die Übertragung der Erklärungsmodelle eines Castoriadis und eines Iser auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen ist nicht unproblematisch, zumal die Trieb-energetische Argumentation der bei den Verfasser ihre Herkunft aus der Psychoanalyse Lacans deutlich zu erkennen gibt. Gleichwohl macht der - leider allzu rasche - Durchgang durch die Geschichte des Imaginationsbegriffs deut lich, dass Raum-Semantiken im Imaginären fundiert sind - wie immer man dann auch dieses Imaginäre bestimmen mag. Persönlich würde ich vorschlagen, hier auf den kubanischen Kulturhistoriker, Essayisten und Romancier Jose Lezama Lima zurückzugreifen. Im Umfeld von Überlegungen zur Epochenproblematik und in Auseinandersetzung mit der Kulturtypologie von Arnold Toynbee hat wohnten; sie �chießt durch die Wolken hindurch, die ihren Horizont begrenzen und den unbekannten Ubergang vom Leben zur Ewigkeit zu verbildlichen scheinen'. "Imaginatio borealis" kann so gesehen auch gelesen werden als gelehrte Rückübersetzung ins Lateinische von Madame de Staels glücklicher Formel von der "imagination du nord". Zu Chateaubriands kurzem Roman Rene aus dem Jahr 1 802 vgl. Wolfgang Matzat, Chateaubriand. Unendliche Perspektive und Melancholie, in: Diskursgeschichte der Lei denschaft, Tübingen 1 990, S. 85- 1 32. 3 3 Charles Baudelaire, Salon de 1 859, in: <Euvres completes, hrsg. von Marcel A. Ruff, Paris 1 968, S. 3 9 1 -424, hier: S. 396. 34 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthro pologie, Frankfurt a. M. 1 993, S. 350-377. 35 ComeIius Castoriadis, L'Institution imaginaire de la societe, Paris 1 975. Kritisch zu Castoriadis äußert sich Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1 985, S. 380-389.
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Lezama die Redeweise von eras imaginarias, von 'imaginären Zeitaltern', einge fuhrt und durch diesen Terminus betonen wollen, dass unsere Epochen konstruktionen, beispielsweise die Rede vom Barock, nicht nur imaginärer Her kunft sind, sondern dass ihre besondere Leistung gerade auch darin besteht, unsere Imagination zu stimulieren. 36 In diesem Sinn wäre es wohl an der Zeit, ebenso offensiv von espacios imaginarios, von 'imaginären Räumen' oder gar von 'imaginären Raum-Zeiten' im Sinne der Chronotopoi zu sprechen - gemeint ist damit eine Reihe von diachron aufeinander folgenden Bildern des Nordens, von denen ein jedes als ein spezieller Raum mit seinem spezifischen Zeit-Index strukturiert ist. Wenn wir also oben festgestellt haben, dass Kulturen den Raum modellieren, dass sie Raummodelle sind, dann können wir jetzt in einem starken Sinn hinzufügen: Kulturen lassen sich als imaginäre Räume lesen.
3.
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur
Ostung und verfemter Norden bei Andreas Capellanus Der Kleriker Andreas Capellanus schreibt um 1 1 85 in Nordfrankreich, vermut lich in Troyes am Hof der Marie de Champagne seine berühmte Abhandlung De amore, wobei er in den ersten beiden Büchern das Imaginäre der höfischen Liebe darstellt, um dieses dann im dritten Buch aus theologischen Gründen zu verurteilen. 3 7 An einer Stelle wird in einer allegorischen Vision der Palast des Liebesgottes folgendermaßen geschildert: Fertur enim et est verum, in medio mundi constructum esse palatium quattuor omatissimas habens facies, et in facie qualibet est porta pulcherrima valde. In ipso autem palatio solus amor et dominarum meruerunt habitare collegia. Orientalem quidem portam solus sibi deus appropriavit amoris, aliae vero tres certis dominarum sunt ordinibus destinatae. Et dominae portae meridianae ianuis semper morantur apertis et ostii semper reperiuntur in limine, sicut et dominae occidentalis portae, sed ipsae extra ipsius limina portae semper reperiuntur vagantes. Quae vero septentrionalis meruerunt portae custodiam, semper c1ausis 38 morantur ianuis et extra palatii terminos nihil aspiciunt.
Imagination im Raum: Ostung vs. Nordung
Wenn sich Kulturen als imaginäre Räume auffassen lassen, dann müsste dies heißen, dass die kulturellen Räume von den Vektoren eines paradigmatischen Parcours aufgespannt werden und dass sie auf spezifische Weise nach einer be stimmten Himmelsrichtung hin orientiert sind. Ich will diese These an zwei zeitlich weit auseinander liegenden Textbeispielen verdeutlichen, nämlich an der Topographie des Liebespalastes bei Andreas Capellanus und an der Polar landschaft in einem Sonett des schon genannten Baudelaire.
36
Jose Lezama Lima, La expreSlOn americana ( 1 957), La Habana 1 993 [Deutsch: Die amerikanische Ausdruckswelt, übers. von Gerhard Poppenberg, Frankfurt am Main 1 992]. Zu den eras imaginarias heißt es dort: "Dazu muß die Betonung, die die zeitgenössische Geschichtsschreibung auf die Kulturen legt, auf die imaginären Weltalter verschoben werden. So wie Toynbee einundzwanzig Kulturtypen bestimmt hat: die verschiedenen Weltalter bestimmen, in denen sich die imago als Geschichte durchgesetzt hat. Das heißt: die etruskische, die karolingische, die bretonische etc. Einbildungskraft, wo die Tat, wenn sie auf dem Wandteppich eines imaginären Weltalters erschien, ihre Wirklichkeit und ihre Schwerkraft erlangte. Wenn es einer Kultur nicht gelingt, einen Typus von Einbildung zu schaffen, wenn so etwas überhaupt möglich sein sollte, wäre sie in dem Ma!3, wie die Massen der Jahrtausende sie verschütteten, schlechterdings unentzifferbar. " (Ubers. von Poppenberg, S. 25, im spanischen Original S. 14.) Zum Konzept der 'imaginären Weltalter' allgemein vgl. ebenfalls Poppenberg, Ausdruckswelt und Weltalter. Eine Nachbemerkung des Übersetzers, in: Die amerikanische Ausdruckswelt, S. 1 53 - 1 62, sowie Bernhard Teuber, Curiositas et crudelitas. Das Unheimliche am Barock bei G6ngora, Sor Juana lnes de la Cruz und Jose Lezama Lima, in: Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, hrsg. von Joachim Küpper/Friedrich Wolfzettel, München 2000, S. 6 1 5-652, hier: S. 628-637.
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[Es wird berichtet und diese Nachricht ist wahr, dass in der Mitte der Welt ein Palast gebaut ist, der vier reich geschmückte Fassaden besitzt, und in jede Fassade ist ein wunderschönes Tor eingelassen. Im Palast selbst aber dürfen nur Amor und auserwählte Damengesellschaften wohnen. Das Osttor hat sich der Liebesgott zum alleinigen Besitz erkoren; die anderen drei Tore aber sind für bestimmte Klassen von Damen bestimmt. Die Damen am Südtor halten sich an einer stets geöffneten Tür auf und befinden sich auf der Schwelle des Eingangs; ebenso verhält es sich bei den Damen am Westtor; diese stehen jedoch vor der Schwelle. Die Damen schließlich, deren Los es ist, am Nordtor Wache zu halten, stehen immer vor verschlossener Tür und außerhalb der Mauer des Palastes bekommen sie nichts zu sehen.]
Jedes der vier beschriebenen Tore des Palastes, in dem der Liebesgott wohnt, entspricht einem Kardinalpunkt und wird in der Folge mit bestimmten Eigen schaften belehnt, die sich auf die dort befindlichen Personen übertragen. Den Ostteil des Palastes beansprucht der Liebesgott für sich und er gleicht darum der wärmenden Sonne, die ebenfalls im Osten aufgeht. Mit der vollen Macht seiner Strahlen trifft Amor nur die Frauen am südlichen Tor, die eine kluge Wahl treffen und nur den Verehrern, die es verdienen, ihre Gegenliebe schenken: "quia, quum sint in meridie cunctae dispositae, ab ipsius in oriente habitantis 37
38
Vgl. C.S. Lewis, The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition [ 1 936], Oxford/New York 1 990, S. 1 -43; Rüdiger Schnell, Andreas Capellanus. Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in 'De amore', München 1 982 (Münstersche Mittel alter-Schriften, Bd. 46); ders., Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, BernlMünchen 1 985. Andreas Capellanus, De amore Iibri tres, hrsg. von E. Trojel, Editio altera, München 1 964, 1,6 D, S. 89.
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amoris meruerunt radio coruscari,,39 - [denn da sie sich allesamt im Süden be finden, haben sie es verdient, vom Strahl des im Osten wohnenden Liebesgottes gebräunt zu werden]. Das Westtor hingegen ist durch übermäßige Feuchtigkeit gekennzeichnet, so dass die dort verweilenden 'Allerweltsfrauen' (mulieres communes) zwar jedermann Gehör schenken und ihm - wie die Dirnen (meretrices) - zu Willen sind, aber gerade deshalb von wahrer höfischer Liebe weit entfernt bleiben: "quia, quum in occidente ipsarum reperiatur habitatio sita, igneus amoris radius ab oriente ad illas usque pervenire non potest,, 40 - [denn da sich ihr Aufenthalt im Westen befindet, vermag der Feuerstrahl des Liebesgottes von Osten her nicht bis zu ihnen vorzudringen] . Am Nordtor schließlich erhören die Damen überhaupt keinen Verehrer: "Septentrionales vero sunt illae mulieres, quae amare recusant,, 4 1 - [im Norden aber sind diejenigen Frauen, die sich weigern zu lieben] . Deswegen werden sie vom Liebesgott ausgesperrt und müssen draußen vor dem Tor verharren ("semper clausis morantur ianuis et extra palatii terminos nihil aspiciunt"). Die Unverträglichkeit zwischen dem Norden und der höfischen Liebe mag, wie wenig später im Rahmen einer ausführlichen Vision erklärt wird, auch daran liegen, dass der Norden als die Region einer exzessiven Trockenheit (siccitas) aufgefasst wird, die zur gleichfalls exzessiven Feuchtigkeit des Westens (humiditas) und zur maßvollen Lieblichkeit des Südens (amoenitas) in Kontrast steht - und die wohl auch von der feurigen Hitze des Ostens (igneus [ ...] radius) zu unterscheiden wäre. Jedenfalls befindet sich die Quelle des Lichts und der lebensspendenden Wärme unzweifelhaft im Osten. Der Vorzug des Südens be steht darin, dass er vermittels eines geregelten Austausches am Licht und an der Wärme des Ostens partizipieren kann, während der Westen und erst recht der Norden hierzu nicht in der Lage sind. Der Süden ist also ein abgeleiteter und temperierter Osten. Gemäß der Lehre von den vier Beschaffenheiten (qualitates), auf denen die mittelalterliche Naturkunde beruht, könnte man des Weiteren voraussetzen, dass der Osten vor allem durch Hitze und Trockenheit (calor et siccitas), der Westen durch Feuchtigkeit und Kälte (humiditas et jrigiditas) charakterisiert sind; Süden und Norden wären ebenfalls komplexe Klimate: Der Süden bietet eine rundum gemäßigte Kombination von (nicht zu großer) Wärme und (ausreichender) Feuchtigkeit (calor et humiditas), wo hingegen der Norden als über die Maßen trocken und - der Systematik zuliebe vermutlich auch als kalt vorgestellt werden muss (siccitas et jrigiditas). Jeden falls weist das Desinteresse der Damen an Liebesdingen auf eine 'Frigidität' hin, die sich aus der konstitutionellen Kälte des Nordens und seiner Lebewesen er klären ließe, denen es verwehrt ist, von der Glut des Liebesgottes im Osten erwärmt zu werden. 39
40
4\
Ebd., S. 90. Ebd., S. 90 f. Ebd., S. 9 1 .
Imaginatio borealis i n einer Topographie der Kultur
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":'ie bei vielen . mittelalterlichen Topographien so ist auch die Anlage des Llebe sp�lasts bel Andr�as �apellanus nicht binär, sondern quaternär strukturiert, . wobei Sich das Muster m diesem Fall an die vier Himmelsrichtungen anlehnt. Es lässt sich daraus eine grobe schematische Darstellung ableiten: Sinistra
Palatium Amoris
Dextra
ORIENTALlS PORTA DEVS AMORIS SEPTENTRIONALlS PORTA Dominae amare recusantes
MERIDIANA PORTA Dominae sapienter amantes
OCCIDENTALlS PORTA Mulieres communes vel meretrices
�er imaginäre Raum, der im oben angeführten Plan aufgespannt wird, entspricht mcht nur der Anlage eines Palastes oder einer Burg, sondern vielleicht mehr noch dem kreuzförmigen Grundriss einer romanischen Kirche wobei man sich einen - seltenen - Zentralbau, aber auch (wie oben geschehe�) einen üblichen Langbau vorstellen mag. In der Apsis an der Ostseite hat der Liebesgott seinen Thro�; ihm am nächsten befinden sich die Damen des südlichen Querschiffs, die auc� Im Innern Platz nehmen dürfen. Die Damen am westlichen Tor des Lang . schiffs treten em und aus, wie es ihnen gefällt, denn sie lieben unterschiedslos und treffen wie oben beschrieben keine vernünftige Wahl. Am Nordportal halten sich schließlich diejenigen auf, die der Liebe entsagt haben. Darum hat sie der Liebesgott nach draußen verbannt; das Nordtor bleibt nämlich immer ver �chlo�sen . . Das� der imaginäre Raum deutlich zum Liebesgott hin ausgerichtet 1st, zeIgt Sich mcht nur daran, dass alle Damen dorthin gelangen wollen und der Osten für das lebensnotwendige Licht und für die Wärme der Sonne steht· son�ern es verd�utl �cht sich noch stärker an einer kuriosen Bemerkung de� . Er�lers, der für dl� LIebesunfähigkeit der Frauen am Nordportal folgende �egrund�ng nachschiebt: "et merito, quia in sinistra positas deus non respicit Ipsas, qUla sunt maledictae,, 42 - [und dies geschieht ihnen verdientermaßen' den� da sie sich zur linken Seite befinden, schaut der (Liebes) Gott sie nicht an . . sIe smd p verdammt].
:
42
Ebd., S. 91 .
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War Gott Amor zuvor schon mit der Sonne verglichen worden, so stellt sich nun heraus, dass er darüber hinaus (ebenso wie übrigens auch die Sonne) christomorphe Züge trägt. Amor, zu dessen Rechter die liebenden Frauen des Südens und zu dessen Linker die lieblosen Frauen des Nordens stehen, ist in typologischer Entsprechung zum Weltenrichter im Evangelium nach Matthäus gezeichnet. 43 Während die liebenden Frauen die Rolle der Seligen zur Rechten des Menschensohns einnehmen, sind die indifferenten Frauen diej enigen, die zu seiner Linken stehen und dem Feuer der Hölle ausgeliefert werden. 44 Wenn wir vor dem Hintergrund des Gesagten erneut den Plan betrachten, dann fallt uns auf, dass der Norden dort zwar zur Linken liegt; dass es aber die Linke aus der Perspektive des Betrachters, nicht aus der Perspektive des Liebes gottes ist, sofern dieser mit dem Rücken zum Südtor stehen und in Richtung der ihm gegenüber befindlichen Frauen blicken sollte. Die Festlegung der linken und der rechten Seite erfolgt demnach durch den Betrachter, der auf die Szene von unten her (oder von Westen her) schaut. Dies bedeutet aber auch, dass der Betrachter, um überhaupt den Norden zu seiner Linken und den Süden zu seiner Rechten zu haben, nach Osten hin schauen muss. Das Beispiel zeigt, dass die Struktur des Raumes, der bei Andreas Capellanus beschrieben wird, nicht un abhängig vom Betrachter zu Stande kommt und dass der Betrachter durch die Ausrichtung seines Blickes hin nach Osten dem Raum eine Richtung gibt; diese Richtung entspringt dem Parcours des Betrachterblicks durch den Raum: Der Liebespalast als Raum ist also in einem ganz buchstäblichen Sinne 'orientiert'; das heißt nach Osten hin aufgespannt, 'ge-ostet' - und auch die weithin nega tiven, abwertenden Bedeutungsinhalte, die dem Norden zugeschrieben werden, sind an die Orientierung des Betrachters oder an den Parcours seines Blickes gekoppelt, insofern der Raum von Westen nach Osten durchmessen wird, so dass der Norden links, der Süden rechts zu liegen kommt. Der Norden ist also in der imaginären Topographie des Andreas Capellanus dem Osten (und auch dem mit dem Osten verbundenen Süden) untergeordnet. Das heißt: der Norden ist negativ semantisiert als ein lebensfeindlicher Raum. Die Einbildungskraft, die den Norden zu ihrem Gegenstand hat, die imaginatio borealis im eigentlichen Sinn also, steht hier ganz im Zeichen einer klaren abiectio, einer Verwerfung
43 VgL Matthäus 25,1 3-46. 44 In der späteren Vision werden Höllenstrafen ausdrücklich erwähnt: Die Frauen aus der Region der humiditas im Westen werden folgendermaßen bestraft: "quantus stridor erat et gemitus, satis esset narrare difficile" (Andreas Capellanus, De amore, 1,6 D, S. 1 03) -
'Wieviel Zähneknirschen und Heulen es dort gab, das ausführlich zu erzählen wäre schwierig.' - Von den Frauen aus der Region der siccitas im Norden heißt es weiterhin: "Tantus quidem dolor tantaque ibi erat aillictio, quantam vix crederem inter ipsas Tartareas potestates adesse" (Andreas Capellanus, De amore, 1,6 D, S. 1 04) - 'so groß war der Schmerz und so groß war die Betrübnis, wie ich sie nicht einmal bei den Mächten der Unterwelt für möglich gehalten hätte'.
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oder Verfemung des Fremden, die aus dem Norden einen unheimlichen Ort des Draußen macht.45 Nordung und Auratisierung des Verfemten bei Baudelaire Abschließend wenden wir uns einem Sonett von Charles Baudelaire zu, das 1 85 1 erstmals veröffentlicht wurde.46 Es wurde 1 857 in die Fleurs du mal aufgenommen und figuriert dort unter Nummer XXX in der Abteilung Spleen et ideal. Seit der Zweitausgabe von 1 86 1 trägt es den dem Psalter entlehnten Titel: De profundis clamavi. - [Aus der Tiefe rufe ich ( ) zu dir] .47 oo.
45 Der Begriff der abiectio (Verwerfung des 'Nordens' durch den 'Süden') soll eine von vier
grundlegenden und historisch wirkungsmächtigen Konzeptualisierungsweisen von 'Nörd lichkeit' innerhalb des abendländischen Wissens bezeichnen. Als weitere - jeweils kon kurrierende oder kooperierende - Kategorien wären sodann aemulatio (Wettstreit des 'Nordens' mit dem 'Süden'), imitalio (Nachahmung des 'Nordens' durch den 'Süden') und vindicatio (Selbstbehauptung des 'Nordens' aus eigenem Recht ohne Rückgriff auf den 'Süden') in Anschlag zu bringen. Zu einer Deutung der abiectio auf psychoanalytischer Basis vgl. Julia Kristeva, Pouvoirs de I'horreur. Essai sur I'abjection, Paris 1 980, S. 9-25. Kristeva geht davon aus, dass der Ekel vor dem Abjekten, wie er sich in der Phobie äußert, ein ambivalentes Phänomen sei, insofern sich vermittels der abiectio das Ich gegenüber dem Anderen zu behaupten, das Drinnen vom Draußen zu scheiden trachte, obwohl die Grenze zwischen beiden Bereichen durchlässig bleibe. In der Freud'schen Psychoanalyse selbst ist eine soIche abiectio nicht ausdrücklich vorgesehen, wohl aber ergeben sich Berührungspunkte mit der "Verwerfung" (französisch: forclusion, rejet), der "Ver drängung" (französisch: refoulement) und der "Verneinung" (französisch: denegation). Vgl. ebenda S. 1 4 f.; vgL weiterhin insbesondere J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Artikel Verwerfung, in: Das Vokabular der Psychoanalyse [französisch 1 967], übers. von Emma Moersch, Frankfurt am Main 1 972, S. 608-612. Nach Auffassung von Mme Kristeva ist die abiectio auch eine genuine Reaktionsweise gegenüber dem Heiligen (ebenda S. 24 f.), denn aus der Sicht der Religionswissenschaft konstituiert sich das Heilige gleichermaßen über ein in Bann ziehendes, verklärtes fascinosum wie über ein gefürchtetes, verfemtes tremendum. (VgL Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [ 1 9 1 7], München 1 987, S. 1 3-37 u. S. 42-52; vgl. weiterhin Roger Caillois, L'Homme et le Sacn:, [1 939], Troisieme edition, Paris 1 963, S. 4 1 -76). Schaurig und faszinierend sind der Norden - wie auch der Westen - bei Andreas Capellanus allemal deswegen, weil sie feme Lokalitäten bereit stellen, an denen sich Szenen extremer Brutalität und Grausamkeit imaginieren lassen. 46 Zur Publikationsgeschichte vgl. die Kommentare einschlägiger Ausgaben sowie Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires 'Fleurs du mal' (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse), Heidelberg 1 953, S. 82 f. 47 Vgl. Psalm 1 30/129, 1 .
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einer äußeren Landschaft zu artikulieren sucht, die flir die eigene seelische Ver fassung stehen sol1. 5 1
De projundis clamavi.
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J'implore ta pitie, Toi, l'unique que j'aime, Du fond du gouffre obscur ou mon ca:ur est tombe. C'est un univers morne a l'horizon plombe, OU nagent dans la nuit l'horreur et le blaspherne; Un soleil sans chaleur plane au-dessus six mois; Et les six autres mois la nuit couvre la terre; C'est un pays plus nu que la terre polaire; Ni betes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! Or i! n'est pas d'horreur au monde qui surpasse La froide cruaute de ce solei I de glace Et cette immense nuit semblable au vieux Chaos; Je jalouse le sort des plus vi!s animaux Qui peuvent se pionger dans un sommeil stupide, 48 Tant l'echeveau du temps lentement se devide!
Bezeichnend für unseren Zusammenhang ist die Tatsache, dass der Sprecher zur Veranschaulichung seiner Situation eine imaginäre Landschaft in der Polar region wählt. Denn das phantastische Land, darin er sein Dasein fristen muss, zeichnet sich durch einen einzigen volle sechs Monate währenden Sommertag und eine ebenso lange Winternacht aus: "Un solei! sans chaleur plane au-dessus six mois / Et les six autres mois la nuit couvre la terre." (Vers 5 f.) - [Eine Sonne ohne Wärme kreist sechs Monate oben am Himmel / und in den sechs weiteren Monaten bedeckt die Nacht die Erde.] Plinius der Ältere weist zweimal darauf hin, dass solch ein langer Tag und solch eine lange Nacht auf der Insel Thule anzutreffen seien, die Pytheas bereist habe: [ ... ] id quod cogit ratio credi, solstitii diebus accedente sole propius verticem mundi angusto lucis ambitu subiecta terrae continuos dies habere senis mensibus noctesque e diverso ad brumam remoto. quod fieri in insula Thyle Pytheas 5 Massiliensis scribit. 2
[Dich, einzig Liebe mir, beschwör' ich um Erbarmen / In dunklen Abgrund fiel mein Herz, hör seinen Schrei / Aus trüber Welt im Rund des Horizonts von Blei / Wo Fluch und Grauen sich im Meer der Nacht umarmen! // Dort Sonne, die nicht wärmt, ob sechs der Monde schwebt, / Sechs andre schlägt die Nacht den Gau in ihre Bande; / Viel nackter als am Pol ist es in diesem Lande . . / Kein Tier, kein Bach, kein Wald, kein Grün darinnen lebt! // Auf Erden gibt es nicht so große Schrecklichkeiten / Als dieser Eisessonne kalte Grausamkeiten / Und die dem Chaos gleiche ungeheure Nacht; // Ich neide niederstem Getiere noch die Macht, / In stumpfen Schlummers Meer versinkend zu verstocken - / So langsam spinnt 49 die Zeit ihr zähes Werg vom Rocken.] -
[ ( ... ) wobei Gründe der Vernunft zu der Auffassung zwingen, dass, wenn in den Tagen der Sonnenwende die Sonne näher an den Scheitelpunkt der Welt heran rückt, im schmalen Bereich des einfallenden Lichtes die darunter gelegenen Landstriche während sechs Monaten ununterbrochene Tage haben - und dass im Gegenzug die Nächte ebenso lang sind, sobald die Sonne sich in den Nebel zurückgezogen hat. Dies gi!t auch, wie Pytheas von Marseille schreibt, für die Insel Thule.]
.
Der Titel zitiert mit dem Psalm 1 30 ( 1 29 nach der alten Zählung der Vulgata) nicht nur das alttestamentliche Gebet, sondern zugleich auch die römische Li turgie der Begräbnisfeier. An deren Beginn rezitiert der Priester (oder der Chor) eben diesen Psalm vor dem Katafalk, um Gott im Namen des Verstorbenen anzurufen. Schon in der liturgischen Situation ist der Psalm damit idolopoeia, das heißt Rede, die einem Toten in den Mund gelegt wird. Überträgt man diesen Sachverhalt auf das Gedicht, dann ist angedeutet, dass auch hier der lyrische Sprecher wie aus einem Sarg heraus ruft. so Anders als im liturgischen Vorbild wendet er sich allerdings nicht an Gott, sondern an eine feme, abweisende Ge liebte, die als Adressatin des Textes fungiert und die über gottgleiche Macht zu verfUgen scheint. Was der Sprecher in seiner Klage benennt, ist ein Zustand der Trostlosigkeit, der abgrundtiefen Melancholie, den er über die Beschreibung
Das quasi mythische Nordland, das Baudelaires Gedicht zeichnet, enthält also ein wesentliches Charakteristikum der Insel Thule. 53
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Baudelaire, Les Fleurs du mal [ 1 857], hrsg. von Henri Lemaitre, Paris 1 964, S. 59. Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übers. von Carlo Schmitt, Frankfurt a. M. 1 976, S. 5 1 . Nicht von ungefähr folgt auf das Sonett De projundis clamavi unter Nummer XXX dann das Gedicht mit dem Titel Vampire unter Nummer XXXI.
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Die Landschaftsbeschreibung dient Baudelaire generell als Indikator für die Seelenlage des lyrischen Ich. VgL hierzu Hess, Die Landschaft in Baudelaires 'Fleurs du mal' (wie Anrn. 46). Eine ausführliche Interpretation unseres Gedichts findet sich ebd., S. 82-86. Vor einem nur mimetischen Missverständnis von Baudelaires Naturbeschreibungen warnt auch Hans Robert JauB, Kunst als Anti-Natur. Zur ästhetischen Wende nach 1 789, in: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Modeme, Frankfurt a. M. 1 989, S. 1 1 9-1 56. Plinius, Naturalis historia II,75,77,1 86. VgL weiterhin: "Ultima omnium quae memorantur Tyle, in qua solstitio nullas esse noctes indicavimus, cancri signum sole transeunte, nullosque contra per brumam dies. hoc quidem senis mensibus continuis fieri arbitrantur." (Plinius, Naturalis historia IV, 1 6,30, 1 04.) - 'Die äußerste aller Inseln, die erwähnt werden, ist Thule, wo es, wie wir schon angeführt haben, zur Zeit der Sonnenwende, sobald die Sonne das Sternzeichen des Krebses durchquert hat, keine Nächte gibt und wo es um gekehrt in der nebligen Jahreszeit keine Tage gibt. Man meint, dass dieser Zustand jeweils sechs Monate ununterbrochen anhält.' Das andere Charakteristikum besteht Strabo zufolge darin, dass die Insel nahe an der Region des ständig gefrorenen Meeres liege. Ein Reflex solcher Kälte findet sich auch bei Baudelaire. Die Sonne ist "un solei! sans chaleur" ('eine Sonne ohne Wärme') und "un solei! de glace" (Vers 5; 1 0). Dass die Nacht dem alten Chaos ähnele ("semblable au vieux
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Bernhard Teuber
Trotz der intertextuellen Reminiszenzen aus dem Diskurs der antiken Geo graphen ist die extreme Landschaft des bei Baudelaire gezeichneten Nordens nicht referentiell zu lesen, sondern sie trägt allegorische Züge: Die äußere bo reale Topographie steht wie bereits angedeutet für die psychische Erfahrung des Ennui. 54 An der Textoberfläche bekundet sich dies allein schon darin, dass das im Gedicht beschriebene Land die Schrecken einer realen Polarregion nicht etwa vergegenwärtigt, sondern noch übertrifft: "C'est un pays plus nu que la terre polaire." (Vers 7.) - [Es ist ein Land, dass nackter als die Erde am Polargebiet ist.] Die dem Pol zugewandte Insel Thule steht demnach für die noch weit schlimmere Befindlichkeit im Innern des Sprechers. Aber es zeigt sich doch auch, dass wenn überhaupt, dann eben nur eine Landschaft des Nordens die Ab gründigkeit des Gemeinten auszudrücken vennag. Baudelaires wider sprüchliches Projekt der ästhetischen Aufwertung des Hässlichen und des Bösen bedient sich und bedarf sowohl hier als auch an anderen Stellen offenkundig einer imaginatio borealis, die mit der Imagination des Bösen Hand in Hand geht.55 In seinem Peintre de la vie moderne setzt Baudelaire darum auch nahezu umstandslos die aurore boreale mit einer lumiere inlernale gleich. 56 Er beerbt hier traditionelle Vorstellungen von der Verfemtheit des Nordens, von der abiectio borealis, aber es zeigt sich, dass er diese Verfemtheit ästhetisch aus-
54 55 56
Chaos", Vers 1 1), erinnert wiederum an Ausführungen bei Strabo. Ihm zufolge besteht das Meer auf der Breite von Thule aus einem Gemisch von Elementen, wo Wasser, Luft, Eis und Nebel ein unentwirrbares Gemenge bilden (vgl. Strabo, H,4,1 C 1 04). Vgl. auch Fran90is Lasserre, Artikel Thule, in: Der Kleine Pauly, München 1 975, Band V, Sp. 799. Zur Allegorie bei Baudelaire vgl. insbesondere Hans Robert Jauß, Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie [ 1 978], in: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne (wie Anm. 5 1 ), S. 1 66-1 88. Zum Bösen als einer Kategorie der Imagination vgl. auch Karl Heinz Bohrer, Das Böse eine ästhetische Kategorie? [ 1 985], in: Ders., Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München 1 988, S. 1 1 0-1 32. "Sur un fond d'une lumiere infernale ou sur un fond d'aurore boreale, rouge, orange, sulfureux, rose (Je rose revelant une idee d'extase dans la frivolite), quelquefois violet (couleur affectionnee des chanoinesses, braise qui s'eteint derriere un rideau d'azur), sur ces fonds magiques, imitant diversement les feux de Bengale, s'enleve I'image variee de la beaute interlope. [ ... ] Elle represente bien la sauvagerie dans la civilisation. Elle a sa beaute qui lui vient du Mal, toujours denuee de spiritualite, mais quelquefois teintee d'une fatigue qui joue la melancolie." (Baudelaire, Le Peintre de la vie modeme [ 1 863], in: (Euvres completes [wie Anm. 33], S. 546-566, hier: S. 563.) - 'Im Hintergrund flackert das Höllenlicht oder die Mitternachtssonne in Rot, Orange, Schwefelgelb, Rosa (das Rosa drückt eine Idee leichtlebiger Ekstase aus), manchmal in Violett (der begehrten Farbe von Äbtissinnen, einer Glut, die hinter einem azurblauen Vorhang zu verlöschen beginnt); von diesem verzauberten Hintergrund, der auf mannigfache Art bengalische Feuer nachahmt, setzt sich das abwechslungsreiche Bild der halbseidenen Schönheit ab. [ ... ] Sie vertritt eben die Wildnis inmitten der Zivilisation. Sie besitzt ihre eigene Schönheit, die ihr vom Bösen kommt, das stets von allem Geistigen losgelöst, aber mitunter doch von einer Mattigkeit gezeichnet ist, die vorspielt, Melancholie zu sein.'
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zubeuten versteht: Er stilisiert sie wie etwa auch sein Vorbild Edgar Allan Poe in A Descent into the Maelsträm zu einem bösen Erhabenen, das gerade und vielleicht überhaupt nur im Norden zu sich selbst zu kommen vennag. 57 Baudelaire ist bekanntlich mit einer historischen und sozialen Konjunktur konfrontiert, die vom Verlust des Kultischen und der Aura geprägt ist, und er versucht in seiner Lyrik - so die plausible Lektüre eines Walter Benjamin -, seiner Gegenwart die Erfahrung des Sakralen und des Auratischen gewisser maßen sub contraria specie wieder einzuschreiben. 58 Das heißt: Das trostlos Heillose, ja offen Satanische der von Baudelaire entworfenen Szenarien re figuriert paradoxerweise ein unheimlich Heiliges unter den Bedingungen der Modeme. Darum, so scheint es, greift Baudelaire die Bilder vom Norden keines falls in romantischer Verklärung oder Überhöhung auf, wie es bei der Gene ration seiner Vorgänger und wohl auch noch bei Gerard de Nerval üblich war. 59 Vielmehr schließt Baudelaire bewusst an topische Bilder eines verfemten Nordens an, die überwiegend auf vormoderne Traditionen zurückgehen dürften. Der Verfemtheit eines blasphemischen Nordens ("OU nagent dans la nuit l'horreur et le blaspheme" [Vers 4] - [wo in der Nacht Schrecken und Lästerung wogen]) verleiht Baudelaire eine quasi sakralisierende Aura. Kaum weniger deutlich als in De prolundis clamavi bekundet sich Baudelaires paradoxes Anliegen einer ästhetischen AufWertung des barbarisch abjekten Nordens in seinem ebenso einschlägigen Prosagedicht Any where out 01 the World. 60 In einem Selbstgespräch befragt dort das Ich seine kranke Seele, 57
58 59 60
Der Ich-Erzähler und seine Informanten vermitteln uns in A Descent into the Maelsträm eine instruktive Vorstellung von Poes Bild des Nordens: "I looked dizzily, and beheld a wide expanse of ocean, whose waters wore so inky a hue as to bring at once to my mind the Nubian geographer's [seil. Strabo?] account of the Mare Tenebrarum. A panorama more deplorably desolate no human imagination can conceive. [ ... ] The ordinary accounts of this vortex [seil. the Maelström] had by no means prepared me for what 1 saw. That of Jonas Ramus, which is perhaps the most circumstantial of any, cannot impart the faintest conception either of the magnificence, or of the horror of the scene - or of the wild bewildering sense of the novel which confounds the beholder. [00'] Never shall 1 forget the sensations of awe, horror, and admiration with which 1 gazed about me." (Edgar Allan Poe, A Descent into the Maelström [ 1 84 1 ], in: Selected Writings, hrsg. von David Galloway, London 1 967, S. 225-242, hier: S. 226, S. 228 u. S. 238.) Vgl. Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire [ 1 939/40], in: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [ 1 955], hrsg. von Rolf Tiede mann, Frankfurt a. M. 1 974, S. 1 0 1 - 149, hier: S. 140-1 49. Vgl. zur Aufwertung des Nordens ab der Romantik die grundlegende Dissertationsschrift von Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom Norden. Studien zur romantischen Geschichts prophetie, Heidelberg 1 96 1 . Baudelaire, Any where [sie] out of the World - N'importe o u hors du monde, in: Petits Poemes en prose, XLVIII [ 1 867], in: (Euvres completes (wie Anm. 33). Den englischen Titelvers zitiert Poe bereits in The Poetic Principle von 1 855. Er entstammt dem Gedicht The Bridge 0/ Sighs [ 1 844] von Thomas Hood, das Baudelaire seinerseits 1 865 ins
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wohin sie denn emigrieren wolle - nach Lissabon, nach Holland oder etwa ins tropische Batavia? Als die Seele immerzu stumm bleibt, hebt der Sprecher zu einem letzten aberwitzigen Vorschlag an, auf den die Seele mit Begeisterung reagieren wird: En es-tu donc venue a ce point d'engourdissement que tu ne te plaises que dans ton mal? S'il en est ainsi, fuyons vers les pays qui sont les analogies de la Mort. Je tiens notre affaire, pauvre ame! Nous ferons nos malles pour Torneo. Allons plus loin encore, a l'extreme bout de la Baltique; encore plus loin de la vie, si cest possible, Installons-nous au pOle. La le soleil ne frise qu'obliquement la terre, et les lentes alternatives de la lurniere et de la nuit suppriment la variete et augmentent la monotonie, cette moitie du neant. La, nous pourrons prendre de longs bains de tenebres, cependant que, pour nous divertir, les aurores boreales nous enverront de temps en temps 1eurs gerbes roses, comme des reflets d'un feu d'artifice de l'Enfer! Enfin mon ame fait explosion, et sagement elle me crie: "N'importe ou! n'importe 61 ou! pourvu que ce soit hors de ce monde.,, [Bist du etwa an den Punkt der Erstarrung gelangt, wo du nur noch Vergnügen in deinem Leid zu finden vermagst? Wenn dem so ist, dann lass uns in die Länder fliehen, die Analogien des Todes sind. - Ich vertrete deine Geschäftsinteressen, arme Seele! Wir packen unsere Koffer für Torneo. Lass uns noch weiter fahren, an das äußerste Ende des Baltischen Meeres; noch viel weiter, wenn es nur men schenmöglich ist; lassen wir uns nieder am Pol. Dort streift die Sonne nur schräg die Erde und der langsame Wechsel von Licht und Nacht verhindert jede Ab wechslung und verstärkt die Eintönigkeit, welche die Hälfte des Nichts ausmacht. Dort werden wir lange in Finsternis baden; und unterdessen wird zu unserer Zer streuung das Nordlicht von Zeit zu Zeit seine rosa schimmernden Garben zu uns herübersenden, so als spiegelte sich in seinen Funken ein Feuerwerk der Hölle. Da endlich sprudelt es aus meiner Seele heraus und voller Weisheit schreit sie: "Wohin auch immer! Wohin auch immer, wenn es nur außerhalb dieser Welt ist!"]
Der alleffernste Norden, die äußerste Insel im Meer, die ultima Thule ganz dicht am eisigen Pol wirken auf den Sprecher von De profundis c/amavi oder von Any where out ofthe World nicht weniger fremdartig und lebensfeindlich als dereinst auf Odysseus die Bucht der Laestrygonen oder gar die Stadt der Cimmerier. 62 Aber nur in dieser äußersten Fremdheit, nur in einem vor Kälte und Leblosigkeit starrenden Norden kann sich - wenn denn überhaupt - der heroische Dichter der Modernität, wie er in Baudelaires lyrischen Stellvertreterfiguren Gestalt ge winnt, halbwegs zu Hause ftihlen. Es ist der bei Baudelaire imaginierte Norden
61 62
Französische übersetzt hatte. Auf Parallelen zwischen De profundis clamavi und Any where out the World weist ebenfalls hin Hess, Landschaft (wie Anm. 46), S. 85.
Baudelaire, Any where out the World, in: (Euvres completes (wie Anm. 33). Der Ortsname Torneo steht offenbar - so auch die Ansicht der Kommentatoren für das heutige Tornio, die finnische Grenzstadt zu Schweden am Bottnischen Meerbusen. Vgl. Homer, Odyssee, X,80 ff. und XI,1 4 ff. Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Lutz Käppel in diesem Band. -
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kein heimelig-beseligender, sondern ein unheimlich-bedrohlicher Raum. Doch in dieser gefährlichen Bedrohlichkeit konserviert der Norden Elemente einer ambivalenten, ja barbarischen Sakralität, die Baudelaire und seine Mitstreiter der profanen Behaglichkeit des bürgerlichen Zeitalters allemal vorgezogen hätten. Schwerlich lässt sich ein eindrucksvollerer Beleg als dieser ftir den Tat bestand finden, dass die imaginäre Topographie der modemen Literatur genordet ist - gerade auch dort, wo ihre starken Texte die literarische Tradition der abiectio borealis immer noch fortschreiben.
AUTOREN DES BANDES Silke Göttsch-Elten, geb. 1 952. Studium der Volkskunde, Mittleren und Neueren Geschichte und Nordischen Philologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1980 Promotion. 1 980/198 1 wissenschaftliches Volontariat am Württem bergischen Landesmuseum Stuttgart. 198 111982 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Volkskunde. 1 982-1 989 Hochschulassistentin an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel. 1 989 Habilitation. 1 99 1 - 1 995 Professorin für Volkskunde an der Universität Freiburg/Br. Seit 1 995 Professorin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte : Historische Volkskulturforschung, Genderforschung, Bürgerliche Kultur um 1 900. Lutz Käppel, geb. 1 960. Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Oxford und Tübingen. 1 990 Promotion mit der Arbeit: "Paian. Studien zur Ge schichte einer Gattung" (ersch. Berlin/New York 1 992). 1 99 1 Bruno-Snell-Preis der Mommsen-Gesellschaft. 1992/1 993 Junior Fellow am Center for Hellenie Studies in Washington, D.C. 1 997 Habilitation mit der Arbeit: "Die Kon struktion der Handlung in der Orestie des Aischylos" (ersch. München 1 998). 1 999 Berufung auf die Professur ftir Klassische Philologie, insbes. Gräzistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2000 Berufung in die Zentraldi rektion des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Ordentliches Mitglied des DA!. Fachgebietsherausgeber "Mythologie" des Lexikons "Der Neue Pauly" ( 1 5 Bde. Stuttgart 1 996 ff.). Forschungsschwerpunkte: Griechische Poesie, griechische Mathematik, Literaturtheorie, Übergangsphänomene zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen. Volker Kapp, geb. 1 940. 1 966 Staatsexamen in den Fächern Französisch und Theologie. 1 966-1 968 wissenschaftlicher Tutor am Studium generale der Universität Freiburg. 1 968- 1 97 1 Lektor an der Universität Bari. 1 970 Promotion. 1 97 1 - 1 973 akademischer Rat an der Universität Heidelberg. 1 9731 986 akademischer Rat an der Universität Trier. 1 977- 1 979 Habilitations stipendium der DFG. 1 980 Habilitation an der Universität Trier. 1 982 Straßburg-Preis ftir die Habilitationsschrift. 1 982 Vertretung einer C3-Professur ftir Theaterwissenschaft an der Universität München. 1 984- 1 985 Professeur invite a l'Universite de Metz. 1 986- 1 992 Professor an der Universität Erlangen/Nürnberg. 1 99 1 Professeur invite a I'Universite de Lyon. Seit 1992 Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwer punkte: Französische Literatur, vor allem des 1 7. Jahrhunderts und italienische Literatur des 1 6. und 1 7. Jahrhunderts sowie Übersetzungstheorie; Frömmig keitsliteratur, Kunsttheorie, Rhetorik, europäisches Theater.
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Autoren des Bandes
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Lars Dio! Larsson, geb. 1 93 8 in Västeras in Schweden. Ab 1 958 Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Germanistik in Stockholm, Berlin (FU) und Wien. 1 964 Fil.Lic-Examen an der Universität Stockholm. 1965/1 966 Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Zentralinstitut für Kunst geschichte in München. 1 967 Promotion an der Universität Stockholm mit einer Dissertation über Adrian de Vries. Ernennung zum Privatdozenten für das Fach Kunstgeschichte. Seitdem Lehrtätigkeit an der Universität Stockholm. 1 97 1 /1972 Fellow am Harvard Center for Renaissance Studies Villa "I Tatti" in Florenz. 1 980 Ernennung zum Universitätsprofessor an der Christian-Albrechts Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Höfische Kunst der frühen Neuzeit, skandinavische Malerei und Plastik des 1 9. Jahrhunderts, Architektur und Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts.
Dia! Mörke, geb. 1 952. Studium der Geschichte, Politikwissenschaften und Pädagogik an der Philipps-Universität Marburg. 1 976 Staatsexamen. 1 978- 1 984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Spätmittelalter und Reformation" (Universität Tübingen). 1 983 Promotion. 1 985- 1 996 zunächst Lehrbeauftragter, dann Mitarbeiter, Assistent und Oberassistent am Historischen Institut der Universität Gießen. 1 992/ 1 993 Fellow in Residence am Netherlands Institute for Advanced Study (WassenaarlNL). 1 994 Habilitation. 1 995 Lehrstuhlvertretung an der Humboldt-Universität Berlin. Seit 1 996 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte (Schwerpunkt: Frühe Neuzeit) an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Reformation, spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtgeschichte, Geschichte der Niederlande, Geschichte kultureller Identitäten.
Al/an A. Lund, geb. 1 944. Studium der Klassischen Philologie und der Neogräzistik an der Universität Kopenhagen. 1 970/ 1 97 1 Postgraduate Studies in Thessaloniki. 1 972- 1 980 Gymnasiallehrer. 1 984 Forschungsstipendiat in Rom. 1986- 1 996 Forschungsstipendiat in München. 1991 Promotion und Habilitation. Lebt als freier Schriftsteller. Wichtigste Veröffentlichungen: P. Cornelius Tacitus, Germania, Interpr., hrsg., übertr., komm. und mit einer Bibliographie versehen von A. A. Lund, Heidelberg 1 988; Zur Gesamtinterpretation der "Germania" des Tacitus, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II, Bd. 33.3, hrsg. von W. Haase u. H. Temporini, Berlin/New York 1 99 1 , S. 1 8581 988; L. Annaeus Seneca, Apocolocyntosis Divi Claudii, hrsg., übers. u. komm. von A. A. Lund, Heidelberg 1 994; Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der "Germania" des Tacitus im "Dritten Reich", Heidelberg 1 995; Die ersten Germanen: Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1 998. In Vor bereitung u.a. : Himmler og hans akademiske hjrelpere, Kopenhagen 200 1 .
Francisco Molina Moreno, geb. 1 969 in Madrid. Studium der Klassischen Philologie an der Universidad Complutense bis 1 992. 1 998 Promotion mit der Arbeit: "Orfeo y la mitologfa de la musica". Forschungsschwerpunkte: Mythologie der Musik, Philosophie der Musik in der Antike, mythische Geo graphie und Kosmographie. Momentane Forschungstätigkeit zum Thema Be ziehungen zwischen Seele und Musik bei der Orphik und die pythagoreische Philosophie.
Bettine Menke. 1988 Promotion i n Konstanz, veröffentlicht als: "Sprachfiguren. Name - Allegorie - Bild nach Walter Benjamin", München 1 99 1 . 1 996 Habilitation mit der Schrift: "Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka", München 2000. Unterrichtete an der Universität Konstanz, der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), der J.W. Goethe Universität Frankfurt a. M. und der Philipps-Universität in Marburg. Lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Rhetorik, Dekonstruktion, gender studies, Gedächtnis, Romantik, Barock, Manierismus, Medientheorie (Schrift, Klang, Bild, Visualität), mythopoetische Figuren (Sirenen, Memnon).
Bernhard Teuber, geb. 1 954. Studium der Romanischen und Klassischen Philologie in München, Tours und Salamanca. 1 986 Promotion in München mit der Arbeit: "Sprache, Körper, Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit", Tübingen 1 989. 1 992 Forschungs stipendiat der Humboldt-Stiftung in Madrid. 1 994 Habilitation in München mit der Arbeit: "Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung beim hl. Johannes von Kreuz. 1 996 Professor für Romanische Philologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit August 2000 Professor für fran zösische und spanische Literatur sowie für das romanische Mittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Kame valeske Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, spanische Mystik, Literatur der Modeme in Frankreich und Lateinamerika, literarische Anthro pologie, Theorien der Postmoderne.
PERSONEN-
UND ORTS REGISTER
Personen Adam von Bremen 6, 37, 38, 39, 43-45, 53, 64, 99 Aelian 53 Agricola 42, 44 Ailly, Pierre de 53, 64 Aischylos 63 Alexander von Aphrodisias 57 Alkaios 22, 23 Alkuin 67 Ambrosius von Mailand 58 Amundsen, Roald 138, 1 67 Anaxagoras 55-57 Andreas Capellanus 1 90, 1 93, 1 94 Antoninus Liberalis 23
Blumenberg, Hans 1 5 1 , 1 53 Borges, Jorge Luis 1 5 1 , 153, 1 54, 1 79 Braudei, Ferdinand 1 85 Brutus, Marcus Iunius 1 1 7 Caesar, Gaius Iulius 30-34, 39, 1 1 3 Cassius Dio 56 Castoriadis, Comelius 1 89 Cato, Marcus Porcius 1 1 7 Certeau, Michel de 8, 1 78, 1 82, 1 84 Chamisso, Adelbert von 1 53 , 1 60 Champagne s. Marie de Champagne Chapman, MaIcolm 3 1 Chateaubriand, Fran�ois Rene Vicomte de 1 09, 1 1 1 - 1 1 3 , 1 1 5, 1 16, 1 88 Christian IV. von Dänemark und Norwegen 70, 94, 95
Apollonios Rhodios 6 1 Apuleius, Lucius 1 79 Aratos 57 Aristophanes 57 Aristoteles 57, 6 1 , 1 52, 1 85 Augustinus, Aurelius 1 5 1 Augustus 40, 98
,Cicero, Marcus Tullius 58, 1 1 7 Clemens Alexandrinus 59 Coleridge, Samuel Taylor 1 54
Aurelianus Reomensis 58, 64
Cook, Frederick Albert 1 58, 1 67
Avicenna 1 86
Cook, James 1 46 Cooper, James Fenimore 1 54
Bacchylides 52, 63 Bachtin, Michail 8, 1 78, 1 79
Cosmas Indicopleustes 59
Bacon, Francis 1 8 7 Bacon, Roger 5 3 , 64 Balzac, Honore de 1 79 Baudelaire, Charles 1 1 4, 1 54, 1 88, 1 90, 1 95, 1 97-199, 200 Bausinger, Herrnann 1 23 , 1 24 Beda 55 Benjamin, Walter 127, 1 99 Berthier, Louis-Alexandre 1 1 7 Beuys, Joseph 1 82 Bloom, Harold 1 62
Dahlbergh, Erik 1 00, 101, 1 03 Damaskios 59 Dante Alighieri 1 45, 148, 1 49, 1 5 1 - 1 54, 1 56, 1 63 David, Jacques Louis 1 1 8 Demokrit 1 5 Dicuil 44 Diderot, Denis 1 88 Diodor 23, 32, 49, 52, 54, 56, 62 Diogenes Laertios 57 Dionysios von Halikamassos 32, 56, 57
Personen- und Ortsregister
208 Dostojevskij, Fjodor Michailowitsch 1 79 Dracontius, Blossius Emilius 56
Habsburger 7 1 , 77-79, 82, 84-86, 89 Hagenbeck, Carl 1 36-139
Drake, C.A. 1 62
Hampe, Roland 16 Hazelius, Artur 128, 1 3 1 , 1 34 Hekataios von Abdera 5 1 , 53, 54, 65 Hekataios von Milet 3 1
Elias, Norbert 1 1 1 Eliot, Thomas Stearns 1 54 Empedokles von Agrigent 63 Erasmus von Rotterdam 1 20 Eskimos 1 3 6-1 3 8 Eudoxos von Knidos 54, 55, 57 Eukleides 56, 57 Everdingen, Allaert van 1 02, 1 03 Falke, Jacob von 1 34, 135 Fenelon 1 1 5 Ferdinand 11., Kaiser d. Hl. Röm. Reiches 74, 88 Flaubert, Gustave 1 48, 1 79 Fontanes, Louis de 1 1 5, 1 1 6 Foucault, Michel 8, 1 48, 1 69, 1 70, 1 78-1 82 Frankei, Hermann 1 5 Franken 37 Franklin, John 146 Franz I. von Frankreich 89 Freud, Sigmund 1 95 Friedrich H. von Dänemark und Norwegen 94 Gallier 30-33 Geertz, Clifford 1 75 Geminos 27, 44, 6 1 Geoffrey of Monmouth 5 3 , 64 Germanen 7, 29-37, 39, 1 40 Ginzburg, Carlo 1 62 Goten 37, 43, 77, 78, 88 Greenblatt, Stephen 8, 1 75 Grosseteste, Robert 53, 64 Güßfeldt, Paul 141 Gustav 11. Adolfvon Schweden 70-72, 74-76, 78, 82, 84, 88, 1 00, 1 79 Gustav III. von Schweden 80
Henry, Robert 1 1 3 Herodot 1 2, 3 1 Hesiod 6 1 , 62 Heym, Georg 1 54, 1 58, 1 63-1 65, 1 67, 1 68, 1 70, 1 7 1 Hildegard von Bingen 52 Himerios 22 Hoffmann, E.T.A. 1 1 2 Hö1scher, Uvo 1 5 Homer 1 4 , 20, 25, 2 7 Honorius (von Autun?) 44 Honthorst, Gerrit van 98 Hrabanus Maurus 54-56, 64 Huarte de San Juan, Juan 1 87 Hugo, Victor l 07, 1 08, 1 14, 1 1 5, 1 1 7, 1 1 9 Iamblich 23 Iser, Wolfgang 1 89 Isidor von Sevilla 44, 52, 53, 6 1 , 64 Jacobsen, Johan Adrian 1 3 8 Jauß, Hans Robert 1 1 4, 1 1 5 Jordanes 37, 42, 43
Personen- und Ortsregister Knieper, Hans 94 Kolumbus, Christoph 32, 1 56, 1 74 Kraus, Kar! 1 58, 1 67 Kyrill von Jerusalem 59
209 Mercator, Rumold 1 55 Meulen, Cornelis van der 1 04, 1 05 Michael Italikos 60 Milton, John 1 48, 149, 1 54 Montesquieu, Charles-Louis de 1 07, 1 87,
Labov, William 1 84 Lacan, Jacques 1 89
188 Montrose, Louis A. 1 77
Lappen 1 3 7
Moreau, A. 62, 63
Larsson, Carl Olof 125, 1 40-143 Laßwitz, Kurd 1 54, 1 58 Le Brun, Charles 1 1 8 Le Plays, Frederic 1 30 Le Tourneur, M. 1 08 Lengefeld, Cecilia 142 Lessing, Gotthold Ephraim 1 48, 149 Lessing, Julius 132 Leutemann, Heinrich 136 Lezama Lima, Jose 8, 1 89 Lienhard, Fritz 1 4 1 Linde, Charlotte 1 84 Lippman, Walter 1 24 Löfgren, Orvar 143 Lorrain, Claude 1 05 Lotman, Jurij M. 1 76-1 78, 1 81 , 1 82, 1 84 Lovecraft, Howard Ph. 1 63 Ludwig XIV. von Frankreich 1 20 Lyschander, C.C. 40
Nadolny, Sten 1 45, 146 Nansen, Fridtjof 138, 140 Napoleon 1 1 8, 1 1 9 Nerval, Gerard de 1 99 Nikephoros Gregoras 6 1 Nodier, Char!es 1 1 2 Normannen 48 Oenopides von Chios 63 Orosius 43 Oskar 11. von Schweden und Norwegen 1 39 Ossian 8, 1 08, 1 09, 1 1 1 , 1 1 3, 1 1 6, 1 1 8, 1 20, 1 41 , 1 88 Ovid (Publius Ovidius Naso) 6 1 Oxenstierna, Axel 84 Paracelsus 72 Parmenides von Elea 63 Passe, Crispin 11. de 97
Julian 63
MacCannelI, Dean 1 33 Magnus, Johannes 94 Magnus, Olaus 1 00, 1 02
Kallimachos 24, 62 Kant, Immanuel 1 1 1 Kar! der Große 40 Kar! V., Kaiser d. Hl. Röm. Reiches 89 Karl XII. von Schweden 8 1 , 82, 84 Katharina 11., die Große 86
Malebranche, Nicolas 1 87 Mallet, Paul-Henri 1 08, 1 1 1 Marie de Champagne 1 9 1 Martialis, M . Valerius 6 1 Martianus Capella 43, 44, 49, 52, 53, 64 Maximilian, Herzog von Bayern 74
Peary, Robert Edwin 1 67 Peringskiöld, Johannes 96, 97 Peter I., der Große 84
Maximus Tyrius 63 Meliton von Sardes 52 Melville, Hermann 1 54
Petermann, August 147, 1 48, 1 57, 1 5 8 Petrarca, Francesco 1 45, 148-1 53, 1 55 Pfeffer, Maria 74
Menander Rhetor 63 Mengs, Anton Raphael 1 1 8 Mercator, Gerhard 1 5 3 - 1 55
Philostratos, Flavius 23, 60 Piaget, Jean 7, 1 2, 1 6 Piccolomini, Enea Si!vio de' 49, 53, 64
Kelten 3 1 -33, 39, 1 1 1, 1 1 3
Kerenyi, K. 63 Key, Ellen 142, 1 43 Kimbern 40 Kleomedes 56 Klöcker von Ehrenstrahl, David 1 04, 1 05
Passe, Simon de 97 Paulus Diaconus 43, 64 Pausanias 5 1 , 6 1 Payer, Julius 145, 1 47, 1 48, 1 56, 1 57, 1 60
Personen- und Ortsregister
210 Pindar 23, 24, 50, 5 1 , 60, 65 Platon 2 1 , 59, 98, 99 Plinius der Ältere 26, 4 1 , 4 3 , 44, 48-5 1 , 53, 64, 1 74 , 1 97 Plutarch 32, 47, 5 1 , 59, 6 1 , 62 Poe, Edgar Allan 1 54, 1 58, 1 62, 1 63, 1 6 8- 1 7 1 , 1 99 Polybios 26 Pompeius 1 1 7 Pomponius Mela 3 3 , 34, 39-44, 48, 49, 5 1 , 53, 54, 64 Porphyrios 6 1 Post, Frans 1 03 Proklos 60 Prokop 43 Psellos, Konstantinos 60 Ptolemaios, Klaudios 34, 42 Pytheas von Massalia 5, 1 1 , 14, 26, 27, 44, 52, 6 1 , 1 70, 1 74, 1 97 Quatremere d e Quincy, Antoine C . 1 1 7 Radermacher, Ludwig 1 8 Ransmayr, Christoph 1 45, 1 46, 1 48, 1 50, 1 52, 1 56, 1 57, 1 62, 1 63, 1 66, 1 70 Rimbaud, Jean Nicolas Arthur 1 54 Ritter, Joachim 1 5 1 Rives, J.B. 37 Roswitha von Gandersheim 55, 64 Rousseau, Jean-Jacques 1 1 5 Rudbeck, 010 f 98 99, 1 00 Ruskin, John 1 34 Ruysdael, Jacob van 1 02, 1 03 ,
Scott, Walter 1 1 2, 1 1 6 Semper, Gottfried 1 3 4 Seneca, Lucius Annaeus (der Jüngere) 5, 36, 56, 1 73, 1 74 Servius 62 Shackleton, Ernest Henry 1 64 Shakespeare, William 148, 1 49, 1 75 Shelley, Mary 1 49, 1 54, 1 58, 1 67 Skythen 3 1 , 39 Söderman, Carl August 1 3 3 Sohnrey, Heinrich 1 42 Sokrates 2 1 Solinus, C. Iulius 43, 44, 5 1 , 53 Sophokles 52 Stael-Hoistein, Anne Louise Germaine de (Madame de Stael) 1 08-1 1 1 , 1 1 3 , 1 1 6, 1 1 9, 120, 1 88, 1 89 Starobinski, Jean 1 1 7 Stendhal l 14, 1 1 5, 1 1 8 Stemberger, Dolf 1 33 Stierle, Karlheinz 1 1 9 Strabo 26, 32, 48, 50, 1 1 3, 1 74, 1 97 Tacitus, Cornelius 33-37, 40-44, 5 1 , 1 1 1 , 1 1 3, 1 74, 1 79 Tasso, Torquato 156 Tempesta, Antonio 97 Theon von Smyrna 62 Theopomp von Chios 47, 50 Tibullus, Albius 6 1 Toynbee, Arnold 1 89 Turgot, Anne Robert Jacques 1 08 Varus 40
Sachsen 40 Sallustius Crispus, Gaius 3 8 Saussure, Ferdinand de 1 84 Saxo Grammaticus 94, 97 Schmidt, Arno 1 54, 1 69, 1 70, 1 72 Schnabel, Johann Gottfried 1 53 Schrott, Raoul 1 60, 1 70 Schwartz, Vanessa R. 1 27 Scott, Robert Falcon 1 67
Personen- und Ortsregister Wilhelm Ir., Dt. Kaiser und König von Preußen 1 25, 139- 1 4 1 Wilt, Domenicus ver 94
Wasa, Gustav 130 Wasa, Sigmund 88 Weyprecht, Carl 145, 148, 1 49, 1 5 7 Wikinger 67-69, 72, 75, 89 Wilhelm r., Dt. Kaiser und König von Preußen 1 3 8
Franz-Joseph-Land 1 45, 1 49, 1 50, 1 59, 161 Frederiksborg 8 1
Winckelmann, Johann Joachim 1 1 8 Wittgenstein, Ludwig 1 84 Worm, OIe 97
Genf 87 Göttingen 1 1 0 Grönland 43, 44, 1 40, 1 47
Zorn, Anders Leonhard 1 40
Orte Ägäis 1 5 Alpen 33, 1 0 1 Amsterdam 76, 1 02 Antarktis 1 45, 1 68 Arktis 1 45 Atlantik 1 0 I
Atlantis 98, 99 Augsburg 90 Baden 8 1
Hamburg 1 3 7 Hannover 1 3 8 Island 44, 1 08, 126 Jena 1 10 Jerusalem 39 Kalmar 88 Karelien 1 03 Kaspisches Meer 5 1 Köln 1 3 8 Kopenhagen 1 08 Korfu 1 6 Korinth 1 79
Baltisches Meer (Ostsee) 200 Bayern 73, 94 Beringmeer 146 Berlin 1 32, 1 37, 1 38, 140 Böhmen 77 Bologna 87 Bretagne 1 1 3, 1 1 6 Brüssel 1 3 8 Burgund 78
London l l l , 1 28, 1 32, 1 3 8, 139 Lübeck 70, 76 Lützen 74
Campagna 1 05 Christiania 1 29
Main 90 Marmarameer 27
Dalama 1 30, 1 42
Memphis 1 1 9 Mittelmeer 48 Mont Ventoux 1 5 1 , 153
Verne, Jules 1 54, 1 62, 1 63, 1 70 Wasa 70, 88
21 1
Delos 22-24, 63 Delphi 22, 23, 62, 63 Donau 34, 35 Dresden 1 3 8 Eismeer 44, 1 1 2, 1 37, 1 39, 146, 147 Eibe 3 3 , 40
Lappland 1 07, 1 26, 1 30, 133, 1 36 Leipzig 1 1 0, 1 3 7 Lissabon 200 Lofoten 1 38, 1 39, 1 54
Nordkap 1 3 8 Nordland 1 25, 1 39-1 4 1 , 197 Nordmeer 1 1 , 140 Nordost-Passage 145, 1 46, 1 56
Personen- und Ortsregister
212 Nordpol 49, 56, 64, 149, 1 54, 1 57,
Thule 5-7, 1 1 , 26, 27, 43-45, 47, 50-52, 6 1 , 62, 153,
1 58, 1 67
1 98, 200
Nordpolarmeer 157 Nordwest-Passage 1 46, 147, 156
Tomio 200
Northurnbria (Northurnberland) 67, 1 79
Trient 87
Nowaja Semlja 1 48
Trollhättan 1 03
Nystad 8 1
Trondheim 1 1 5 Troyes 1 9 1
Orkaden 4 1 -45 Ostsee 1 7, 39, 4 1 , 42, 64, 76, 78, 79, 84,
Uppland 97 Uppsala 99, 1 00
88, 1 0 1 , 1 74
Utrecht 8 1 Paris 94, 1 09, 1 1 7- 1 1 9, 1 27, 1 30- 1 32, 1 34, Vorpommem 8 8
135, 1 38, 1 79 Peloponnes 1 6
Polarmeer 1 47, 1 63
Weichsel 4 3 , 44 Weimar 1 1 0 Wien 1 3 5 Wittenberg 87 Worms 90
Rastatt 8 1
Zürich 87
ISO,
1�1� 1� 1 � 1�1� 1� 1 � 1 96, 1 98, 200
Rhein 30-35, 40 Rom 47, 74, 87, 99, 1 00, 1 08, 1 1 7- 1 1 9 Schonen 1 74 Schwarzes Meer 34 Seeland 1 74 Sigtuna 1 0 1 Skagen 40 Skansen 1 28, 1 3 1 , 1 34 Sognefjord 1 4 1 Spitzbergen 145, 148 St. Petersburg 1 4 1 Steiermark 82, 8 6 Stockholm 8 1 , 1 04, 107, 1 28, 1 3 1 , 1 34 Südpol 1 53, 1 62, 1 64-168 Südpolarmeer 1 53 Sundborn 142 Teutoburger Wald 40 Thessalien 1 79
Herausgegeben von Thomas Haye
Tordesillas 1 56
Nordsee 101, 1 1 2
Pol 26, 55, 56, 1 07, 147, 148,
Imaginatio borealis Bilder des Nordens
I SS, 1 58, 1 70, 1 73, 1 74, 1 97,
Band
1
Annelore Engel-Braunschmidt
I
Gerhard Fouquet
I
Wiebke von Hinden l inken Schmidt
(Hrsg.): Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart.
2001 .
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Valeria Heuberger / Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hrsg .)
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Identitäten, Mental itäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen Frankfurt/M . , Berl i n , Bern, New York, Paris, Wien, 2 , durchges. Auf l . 1 99 9 .
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D ieser Tagu ngsband untersucht " Das Bild vom Anderen " aus verschiedenen Perspektiven . Histori ker, Ethnologen, Literatur- und Religionswissenschafter setzen sich hierbei mit der Mentalitätsgeschichte multinationaler europäischer Regionen auseinander: Böhmen, Schlesien, die Slowakei, Ostgallzlen, die
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die Alpen-Adria-Region, Tirol u n d die Schweiz sind in ihrer Komplexität
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Aus dem Inhalt:
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B ukowina, Siebenbürgen, die Vojvodi na, Bosnien-Herzegowina, der Kosovo, Gegenstand der Betrachtung . B i lder in den Köpfe n " aus ethnologischer, religions " wissenschaftlicher und l iteraturwissenschaftlicher Sicht · Vom Zusammen leben der Völker · Stereotypen in Lehrbüchern
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Wien