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IMAbINAII� ���[All� BilDer Des NorDens In Verbindung mit Adria n von Buttlar, Heinrich Detering,
Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet, Silke Göttsch-Elten,
Volker Kapp, Ulrich Kuder, Lars Olof Larsson, Albert Meier, Olaf Mörke, Lutz Rühling und Bernhard Teuber herausgegeben von Thomas Haye
Bd.l
� PETER LANG
Frankfurt am Main . Berlin . Sern . Bruxelles . New York . Oxford . Wien
Annelore Engel-Braunschmidt Gerhard Fouquet Wiebke von Hinden Inken Schmidt (Hrsg.)
Ultima Thule Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart
� PETER LANG
Europäischer Verlag der Wissenschaften
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
: Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart / Annelore Engel- B raunschmi dt ; Gerhard Fouquet ; Wiebke von Hinden; Inken Schmidt (Hrsg.). - Frankfurt am Main; Berlin; Bem ; Bruxelles ; New York; Oxford ; Wien : Lang, 2001 (Imaginatio borealis. Bilder des Nordens; Bd. I) ISBN 3-631-37091-1
Ultima Thule
Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier .
ISSN 1615-908X
ISBN 3-63 1-37091-1
© Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmu ng des Verlages unzulä ssig und stratbar. Das gilt insbesondere filr Vervielfältigungen, Über setzungen Mikroverfilmungen und die E i nsp eicherung u nd Verarbeitung in elektronischen Systemen. geschützt. Jede Verwertung außerhalb der
,
Printed in Germany 1 2 3 4 6 7
VORWORT ZUR REIHE
Mit dem vorliegenden Band begründet das Graduiertenkolleg Imaginatio borealis. Perzeption, Rezeption und Konstruktion des Nordens (GK 515) eine neue Schriftenreihe, in der seine an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel durchgefiihrten
Forschungen
und
Studien
(Ringvorlesungen,
Kolloquien,
Vorträge und Dissertationen) einer akademischen wie außerakademischen Öffentlichkeit zugängl ich gemacht werden sollen. Das seit dem 1. Oktober 1999 bestehende Kolleg verfolgt einen kulturwissen schaftlichen Ansatz, dessen interdisziplinäre Ausrichtung sich in einem breiten Spektrum von Fächern und Fachrichtungen spiegelt (Geschichte der Frühen Neuzeit, Mittel- und Neulateinische Philologie, Mittlere und Neuere Kunst geschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Neuere Skandinavische Literaturwissenschaft, Romanische Philologie, Slavische Philologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Volkskunde). Hierbei soll das theoretische und metho dische Rüstzeug, welches die Wissenschaft von der Imagologie bereitstellt, zur Untersuchung
j ene r
mentalen Bilder
und diskursiven Konzepte eingesetzt
werden, die sich auf den europäischen 'Norden' oder auf einzelne Aspekte von 'Nördlichkeit' beziehen. Die imaginären B ilder des Nordens haben eine lange Tradition: Von der Antike bis in die heutige Zeit haben sie zur Selbstvergewisserung unterschied licher sozialer Gruppen, Völker, Nationen und Dynastien beigetragen, weshalb sie uns in allen Bereichen der Historie, Alltagskultur, Sprache, Literatur und Kunst des europäischen Kontinents begegnen. Trotz dieses ubiquitären Auf tretens sind sie nicht
a priori
vorgegeben, sondern sie werden konstruiert und
dekonstruiert; ihre Ausgestaltung unterliegt historischen Veränderungen, die
sich politisch-territorial, konfessionell, sprachli ch und kulturell manifestieren
können. Wer sich mit ihnen beschäftigt, lernt nicht nur etwas über die Varia bilität scheinbar naturgegebener Raumkonzepte,
sondern
erkennt mit ge
schärftem Blick auch die generellen Mechanismen schöpferischer Einbildungs kraft sind.
(imaginatio), wie sie in allen Bereichen des menschlichen Lebens wirksam
Der
erste
Band
Wintersemester
der
neuen
Reihe
präsentiert
die
Vorträge
der
im
1999/2000 durchgefiihrten Ringvorlesung, mit der das Kolleg
sein Studienprogramm eröffnet hat. Hierbei benennt der programmatische Titel, der eine berühmte Formulierung des römischen Tragikers Seneca aufgreift (Medea, v. 379), einen mythischen Extrempunkt des europäischen Nordens:
ultima Thule, j ene rätselhafte Insel am Rande des Erdkreises, die - so meinte der antike Seefahrer und Geograph Pytheas von Massalia - sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien liegt.
Doch bis weit in die frühe Neuzeit hinein war Thule weniger ein geographischer denn ein geistiger Fixpunkt, auf den die unterschiedlichsten Ideen und Vorstellungen von menschlicher Gemeinschaft projiziert wurden. So schildert im 1 1 . Jahrhundert der Kirchenhistoriker Adam von Bremen diesen Ort als Insel der Seligen und preist seine Bewohner: "Daher verbringen sie in heiliger Einfalt das Leben, da sie nichts weiter begehren, als was die Natur gewährt, und froh können sie mit dem Apostel sagen: 'Wenn wir Nahrung und Kleider haben, so wollen wir damit zufrieden sein' [1. Tim. 6, 8]. Denn anstatt der Städte haben sie ihre Berge, und Quellen sind ihr Vergnügen. Selig, sage ich, ist das Volk, das von niemandem um seine Armut beneidet wird [ ... ]" (IV 36). - Welcher mythische Ort könnte besser geeignet sein, das Konzept der 'Imaginatio borealis' zu illustrieren, als diese ultima Thule? Für die zügige und reibungslose Publikation des vorliegenden Bandes ist nicht nur allen Beiträgern, sondern auch den vier Herausgebern herzlich zu danken. Hierbei ist es kein Zufall, dass sich die editorische Quadriga je zur Häfte aus Hochschullehrern (Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet) und Doktorandinnen (Wiebke von Hinden, Inken Schmidt) zusammensetzt; vielmehr wird mit einer solchen Besetzung zum Ausdruck gebracht, dass es den Initiatoren des Kollegs ein wichtiges Anliegen ist, den wissenschaftlichen Nachwuchs möglichst frühzeitig an die Freuden und Mühen des akademischen Alltags heranzufiihre n. Aufgrund der positiven Erfahrungen wird dasselbe Herausgebergremium demnächst auch den zweiten Band der Reihe publizieren, welcher die Vorträge aus der Ringvorlesung des Sommersemesters 2000 enthalten soll. Für die produktive und angenehme Zusammenarbeit bei der Buchherstellung sei Herrn Michael Rücker vom Peter Lang Verlag gedankt. Lobende Erwähnung verdienen auch Carsten Binder und Jens Kreutzfeldt für ihren Einsatz beim Lesen der Korrekturfahnen. Im Namen der Kolleginnen und Kollegen Adrian von Buttlar, Heinrich Detering, Annelore Engel-Braunschmidt, Gerhard Fouquet, Silke Göttsch-Elten, Volker Kapp, Ulrich Kuder, Lars OlofLarsson, Albert Meier, Olaf Mörke, Lutz Rühling und Bemhard Teuber:
Kiel, im Oktober 2000
ThomasHaye (Sprecher des Graduiertenkollegs)
VORWORT DER HERAUSGEBER
"Ultima Thule"- dieser Begriff stand am Beginn der Vorlesungsreihe des Kieler Graduiertenkollegs
tion des Nordens
Imaginatio Borealis. Perzeption, Rezeption und Konstruk
im Wintersemester 1999/2000. Mit ihm verbinden sich seit
alters die Vorstellungen vom Norden, wie sie sich vom antiken Griechenland über
den
römischen
Kulturkreis
bis
in
die
Neuzeit
weitertrugen
und
entwickelten. Mit jenen Bildern des Nordens beschäftigen sich die Autoren dieses Bandes. Sie fragen nach den konkreten Ausprägungen und Vorstellungen, die sich für bestimmte Zeiten und bestimmte Menschen mit dem zumeist fremden Norden verbanden. Konstitutiv für Imaginationen in der Antike waren im wesentlichen
mythologische
Vorstellungen.
Diese tradierten Imagines
wurden im Laufe der Jahrhunderte durch neue Erfahrungen in Form von Reiseberichten erweitert, so dass ein vielfältiges und komplexes, durchaus ambivalentes Bild geographischen
dessen
und
entstand,
was
metaphorischen
sich
Sinn
uns
heute
präsentiert
-
als Norden mit
all
im
jenen
Konnotationen des Nordischen und der Nördlichkeit. Um diese Traditionen aufzudecken, wurde in der Vorlesungsreihe die Chronologie als maßgebliche Richtschnur verwendet, die auch
in
diesem Band
beibehalten wird.
Lutz Käppel zeigt
in seinem Beitrag anhand der Entwicklungspsychologie des
Schweizers Jean P i aget die Konstruktion des Nordens im antiken Griechenland mit besonderer Berücksichtigung der Interdependenzen zwischen figurativen und operativen Aspekten auf. Dabei steht die Imagination des Nordens, wie sie sich in Mythologie und Literatur niederschlägt, im Mittelpunkt. Die Voraussetzungen und Folgen der Rezeption vornehmlich römischer Schriften im Mittelalter behandelt
Al/an
A.
Lund.
Dabei richtet er sein Augen
merk auf die Konstruktion "nördlicher" Völker wie die Germanen und verknüpft die soziokulturellen Gegebenheiten mit der geographischen Verortung im "Norden". Hierbei spielt die zunehmende Auseinandersetzung mit der topo graphischen Größe Skandinavien in der Spätantike und im Mittelalter eine zentrale Rolle. Einen ähnlichen Aspekt beleuchtet
Francisco Molina Moreno,
indem er die
Aspekte eines "heiligen Nordens" in den Vorstellungen herausarbeitet, die von der Antike bis zum Mittelalter reichen. Diese stellen sich als Komplementär imaginationen zu einem Norden der Kälte und der Finsternis dar. Der Beitrag von Ola! Mörke zielt auf die Wechselbeziehungen zwischen den Fremd- und Selbstbildern des Nordens, die insbesondere in der Umbruchzeit des Dreißigjährigen Krieges v i ru lent werden und die politische Neuordnung und Wahrnehmung der nordeuropäischen Mächte prägen.
Diesen Gesichtspunkt beleuchtet Lars 010/ Larsson auf dem Gebiet der Bildenden Kunst. Die Vorstellungen vom Norden, wie sie sich insbesondere in der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts mani festieren, werden in seinem Beitrag kontrastiert mit skandinavischen Vorstel lungen von einer eigenen, anderen Antike und deren Konsequenzen für das Selbstbild im europäischen Kontext. Der Beitrag von Volker Kapp wendet sich ab von der konkreten geo graphischen Orientierung am Norden und widmet sich dem Einfluss der meta phorischen Vorstellungswelt des Ossianismus auf die Literatur der Romantik in Frankreich. Unter volkskundlicher Perspektive ana l ysiert Silke Gättsch-Elten die popu lären Bilder des Nordens in unterschiedlichen Medien und Kontexten. Diese reichen von den Weltausstellungen über T i er- und Völkerschauen bis hin zur Werbung eines großen schwedischen Möbelkonzerns. Das besondere Interesse gilt der Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung dieser Imagines. Das Fortleben tradierter Bilder von arktischen Regionen in den Köpfen derjenigen, die um 1 900 an Polarexpeditionen teilnahmen, sowie das Nachleben dieser Vorstellungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts untersucht Bettine Menke. Sie zeichnet hier eine I magin ation des Nordens, die als Extremerfahrung sowohl Schrecken als auch faszinierten Forscherdrang und besitzergreifende Neugier hervorruft. Den Band beschließt der Beitrag von Bernhard Teuber m it einer Synopse. Sie ist dem theoretisch-methodischen Rahmen dieser ersten Vorlesungsreihe gewidmet. Dabei entwickelt der Autor eine Topographie der Kultur anband der aktuellen Theoriedebatten und stellt Anknüp fungspunkte an bekannte Kulturtheoretiker wie M ichai l Bachtin, Stephen Greenblatt, Michel Foucault, Michel de Certeau und Jose Lezama Lima vor. Mit Hilfe dies e s Ansatzes wird ein dynamisches Modell konstruiert, innerhalb dessen sich Kulturen als imaginäre Räume mit spezifischen Ausprägungen le sen lassen.
Kiel, im Oktober 2000
Annelore Engel-Braunschmidt
Gerhard Fouquet Wiebke von Hinden
Inken Schmidt
INHALT
Vorwort zur Reihe
5
Vorwort der Herausgeber
7
Lutz Käppel: Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
11
A//an A. Lund: Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
29
Francisco Molina Moreno: Bilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
47
Ola!Mörke: Di e Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit. der politischen :{.,andschaft Europas
67
Lars Olo!Larsson: Eine andere Antike und die wilde Natur. Das Bild des Nordens in der bildenden Kunst der frühen Neuzeit
93
Zur Wirkmächtigkeit von Vorstellungswelten in
Volker Kapp: Bilder des Nordens in der französischen Literatur
der Romantik
107
Silke Göttsch-Elten: Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
123
Bettine Menke: Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek: Nachfahren Petrarcas und Dantes im Eis und in den Texten
145
Bernhard Teuber: I magi nati o boreaIis in einer Topographie der Kul tur
173
Autoren des Bandes
203
Personen- und Ortsreg iste r
207
BILDER DES NORDENS IM FRÜHEN ANTIKEN GRIECHENLAND Lutz Käppel
"Ultima Thule", die Insel am Rande der Welt als der Inbegriffvon Nördlichkeit, ist gewiss ein passender Obertitel für eine Ringvorlesung, die sich dem Bild widmet, das sich die europäischen Kulturen von den nördlichen Regionen ihres geographischen Territoriums gemacht haben und heute noch machen. Denn diese sagenhafte Insel irgendwo im Nordmeer, die man nur vom Hörensagen kannte, ist die ideale Metapher für jenes Gemisch aus Wissen, Fiktion und Kon struktion der Konzepte von Nördlichkeit, die insbesondere die Griechen ent wickelt haben. Den Gräzisten fordert dieser Titel freilich zusätzlich heraus. Die Heraus forderung besteht darin - und darüber täuscht der lateinisch formulierte Titel "ultima Thule" prima facie leichtfertig hinweg -, dass Thule eigentlich uns Gräzisten gehört. Denn es war Pytheas von Massilia, dem heutigen Marseille, der griechische Philosoph und Geograph des 4. Jhs. v. Chr., der als erster Re präsentant der griechisch-römischen Welt eine Reise in die nördlichen Regionen Europas unternahm und darüber in seinem Werk " Über den Okeanos" nach Maßgabe der modernsten Methoden der mathematischen Geographie seiner Zeit berichtete. Er - und fiir lange Zeit nur er allein - brachte die Kunde von der Insel Thule und vom Polarkreis mit seinen unerhörten Naturwundern authen tisch in die Zivilisation der mediterranen Welt. Seine Berichte verschlagen noch heute dem Leser durch die Authentizität ihrer Beobachtungen den Atem. Nur welche Insel Pytheas mit "Thule" gemeint haben könnte, war schon für die Römer, die die wissenschaftliche Erforschung des Nordens wiederaufgenommen hatten, ein rätselhaftes Geheimnis. Und so kam es, dass aus der wissen schaftlichen Entdeckung des Geographen Pytheas bald jene gleichsam mythische Chiffre für das nördliche Ende der Welt wurde, die auch wir noch verstehen und mit Bildern, Konzepten und Visionen füllen können. Für diesen "Mythos" Thule wäre der lateinische Titel dann doch berechtigt, denn es ist die lateinische Tradition, die diese mythische Projektionsfläche transportiert, die immer wieder neu mit Inhalten gefüllt wurde. Während der Begriff "Thule" also rur die abendländische Tradition den Norden als geistiges Konstrukt, als meta phorischen Raum, als quasi-mythische Proj ektionsfläche repräsentiert, markiert er für die griechische Geistesgeschichte gerade den Beginn der quasi-ent mythologisierenden naturwissenschaftlichen Erforschung des Nordens. Denn die Reise des Pytheas und ihre Beschreibung in "Peri toß Okeanoß" bildet den Angelpunkt des antiken griechischen Diskurses über den Norden. Im Folgenden soll jedoch die Zeit davor in den Blick genommen werden. Denn schon seit Homer hatten die Griechen durchaus ein sehr konkretes Bild vom Norden ausgeformt. Damit soll nicht die Auseinandersetzung mit den
12
Lutz Käppel
direkten nörd l i chen Nachbarn - den Thrakern oder den Skythen, von denen der Historiker Herodot im 5. Jh. v. ehr. berichtet - gemeint sein, sondern ein Bild vom Norden als e inem Konzept von Nördlichkeit schlechthin: und zwar einem Norden, der nicht bereist, erobert, erforscht und schriftlich dokumentiert ist, sondern der bestenfa ll s in disparaten Details vom Hörensagen bekannt und dem entsprech end ph antasiev o ll entworfen, konstruiert und imaginiert ist. Es liegt zwar auf der Hand, dass das aktive subjektive Konstruieren und Imag in ieren umso größer ist, je weniger Objektwissen über den erkannten Ge gen stand vor handen ist. Doch ist dies durchaus auch eine Form von Erkennen . Denn erstens ist das Mehr ode r Wen i ger an v ermeintl ichem Objektwis sen ohnehin fließend, und zweitens ist auch bei einer scheinbar hohen Rate an so lchem Wissen der entscheidende Akt der des Zueinander-in-Beziehung-Setzens, al so im Kern konstruktiv. "Erkennen" fasse ich damit im Sinne des Schweizer Entwickl ung spsycho logen und Erkenntnistheoretikers Jean Piaget ( 1 896-1980). Mit ihm möchte i ch im Fo l genden in der ge i stigen Konstruktion von Realität - in u nserem Fall der Realität des Norden s - zwe i A sp ekte des Denkens unter sche iden : 1
Erstens einen figurativen Aspe kt : Er besteht in der Imitation von äußeren, als statisch aufgefaßten Zuständen. Er realisiert sich in der Wahrnehmung; sein Er gebni s , die ge i stige V orstellung, ist das der intern al i s i erten Nachahm ung .
Der zweite Aspekt ist der op erative Asp ekt : Er besteht in einer gei stigen Transformation von einem Zustand in einen anderen. Er w i rd au sge fUhrt durch symb o l i sche Repräsentation . Sein Ergebn i s ist die Konstruktion von Trans form ati on ssy ste men, die s ich an oder mit Obj ekten ausführen lassen.
Das Erkennen eines Obj ektes erfo lgt erst durch das Zusammenspiel beider Aspekte. Denn ein Objekt erkennen heißt nicht, es ge i stig abzubilden, sondern operativ auf es einzuw irken . Entwicklungspsychologisch ausgedrückt : Ein Kind lernt seine Umwelt nicht dadurch zu erkennen, dass es sie immer und immer wieder anschaut und w ahrn immt , sondern dadurch, dass es die in ihr befindlichen Objekte zu sich und zu einander in Bezieh ung setzt u nd an i hnen in verschiedenen F ormen symbol is cher Repräsentation Systeme von Trans formationen erprob t, einfach ausgedrückt: indem es mit ihnen "spielt". Ein B i l d von der We l t , d.h. Erkenntni s, entsteht dabei in einem System von Trans formationen , die allmählich immer konsistenter werden. Piaget hat diesen Ansatz der genetischen Erkenntnistheorie zwar an Kindern entwickelt und emp irisch erforscht, konnte ihn jedoch auch auf die Beschreibung von Entwi cklungen von Erkenntn isprozessen überhaupt, i nsbesondere kollekti v en Erke nntnisprozes sen wie kulturellen Mustern in der Wahrnehmung v on I
J. Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, übers. von F. Herborth, 6. AufI., Frankfurt a. M. 1996, S. 2 1 -23 (eng!.: Genetic Epistemology, New YorklLondon 1970).
Bilder des Nordens im frUhen antik en G rieche n l a nd
13
Wirklichkeit oder der Evolution wissenschaftlicher Weltbilder ausdehnen.2 Ich werde diesen Ansatz der Bestimmung von Erkenntnis (d.h. der Konstruktion von Wirklichkeit) als Zu sammen sp ie l figurativer und operati v er Denkprozesse auf der symbolischen Ebene der Sprachlichkeit in der folgenden Analyse zugrunde legen. Dabei setze ich ausdrücklich seine Anwendbarkeit auch und gerade auf mythologische und literarische Weltentwürfe voraus, ohne dass damit behauptet wäre, dass d iese e iner gleichsam "kindlichen" Entwicklungsstufe angehörten, gegen die die Rationalität "erwachsener" Denkmodelle abzugrenzen wäre. Schon Piaget hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um Grundstrukturen von Wirklichkeitskonstruktion schlechthin handelt, die in den verschiedensten Varianten und in den verschiedensten Formen der Wirklichkeitserfassung offen oder latent wirksam ist. 3 Im Folgenden beschränke ich mich auf die Repräsentationsform der Sprachlichkeit. Andere symbolische Repräsentations medien wie die darstellende Kunst ode r die symbolische rituelle Handlung wären ebensolche Repräsentationsformen. Ich muss sie hier in dieser kurzen Darstellung leider übergehen. Welches sprachliche Material steht uns nun für diese Analyse der Bilder des im anti ken Griechenland zur Verfügung? Ich erwähnte bereits, dass ich die Darstellung der Thraker und Skythen hier beiseite lassen und mich dem Konzept v o n Nördlichkeit als der Himmelsrichtung an sich zuwenden möchte.
Nordens
2 Piaget, E in filhrung (wie Anm. 1), bes. S. 87 f. 3
Piaget, Einführung (wie
Anm.
1),
S.7-28. - Einen ersten zö gernden Schritt zur
Übertragung des entwicklungsgeschichtlichen Modells auf die Beschreibung mythi scher
Denkformen hat U. Hölsche r, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Ro man , München 1988, S. 137-140 getan: "Es fehlt viel, dass diese Einsichten (sc. die Piagets) direkt auf das mythologische Denken übertragbar wär en [ ...] Auch ist die Berechtigung der Analogie der kindlichen Entwicklungsphasen zu den anthropologischen umstritten. Immerhin triiR man dort auf Kategorien, die das hier Gemeinte erläutern. Der Handlungscharakter der Raumvorstellung entspricht dem, was hier als das erzählende Wesen der mythischen Räumlichkeit benannt wurde" (S. 140). Vgl. auch schon ähnliche Ansätze zur B eschrei bung mythischer Raumvorstellungen bei K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 170: "Der mythische Raum ist lrein al l gem eines Medium, in dem sich Gegenstände befinden, sondern Raum und Rauminhalt bilden eine unauflösliche Einhei t [ ... ] Er s te llt keine kontinuierliche Punktmannigfaltigkeit dar, sondern ist aus lauter diskreten Elem enten [ . . . ] zusammengesetzt [... ] (Er) ist nicht homogen, da sich in ihm Orte dadurch unterscheiden, dass sie [ ... ] ei n e absolute Lage haben (Oben, Unten usf.) [ ... ] Er ist nicht isotrop, da es keinesfalls gleichgültig ist, in welcher Richt ung sich eine Ereigni s fo l ge ausbreitet [...] Mythisch gibt es keinen Gesamtraum , in dem alles seine Stelle hat, in den alles eingeordnet werden karm, sondern es gibt nur Aneinanderreihungen einzelner Raumelernente [ ... ]". Vgl. auch E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II: Das mythische Denken, 9. Aufl., Ndr. Darmstadt 1994, S.109-116, bes. S. IIl: "[ .. . ] alle Anschauung der Form ist (sc. im mythi schen Raum) eingeschmolzen in die Anschauun g des Inhalts [ .. . ]".
Lutz Käppel
14 Ich
habe
zu
diesem
Thema,
das
in
der
gräz istischen
Altertumskunde
merkwürdigerweise nicht einmal in einer umfassenden Materialsammlung -
ges c hweige denn in einer systematischen
Untersuchung - einen Niederschlag
gefunden hat, folgende drei Materialkomplexe ausgewählt:
1)
Erstens eine Passage aus der Odyssee Homers von der Wende vom zum
7.
Jh. v. Chr., und zwar das Abenteuer, das Odysseus bei seiner
fahrt bei den sog. Lästrygonen im
8. Irr
1 0. Buch erlebt. Eine interessante zu Beginn des 1 1 .
Folie dazu ist die Beschreibung der Kimmerier Buches. 2)
Den zweiten Materialkomplex, den ich behandeln werde, möchte ich das Syndrom der Nördlichkeit in der mythologischen Konstruktion des
Gottes ApolIon nennen, und zwar in den 'Symptomen': 'ApolIon und der
Schwan', 'ApolIon und die Hyperboreer' sowie die 'Bernsteintränen der
Heli aden nach dem Tod des Phaethon'.
3)
A l s Drittes schließlich werde ich i n einem kurzen Ausblick die Dar stellung des Nordens bei dem schon erwähnten Pytheas von MassiIia
skizzieren und kurz vor dem Hintergrund der Ergeb nisse von
1 ) und 2)
zu interpretieren versuchen. Der unterschiedliche Charakter dieser drei Materialkomplexe wird jeweils ver schiedene methodische Zugriffe erforderlich machen. Der erste erfordert, da es sich um die
literarische Darstellung des Themas Norden handelt,
einen literatur
wissenschaftlichen Zugriff im engeren Sinne, d.h. zur Klärung der Leitfrage nach der Konzeption des Nordens ist vorrangig nach der poetischen Funktion
des Textausschnittes im Gesamtwerk zu fragen . Der zweite erfordert als
logische
mytho
Gesamtkonstruktion die Methode der strukturalen Mythenanalyse, und
das dritte Beispiel schließlich lädt als
geschichtlichen Einordnung ein.
wissenschaftlicher
Text zur geistes
l.
Zunächst also zu Homer: Ein wesentliches Charakteristikum des (Groß-)Epos ist
es , dass in ihm die Welt als umfassendes Ganzes darg estellt wird. In der Ilias ist es das Universum von Göttern und
E i nzelschicks ale (Achill ,
M enschen
im großen Krei s paradigmatischer
Hektor etc. ), in der Odyssee dagegen tut sich die Welt
in ihrer bunten Konkretheit als umfassendes "Universum" auf: Das " Soziale" wird ebenso zum Thema wie das "Zeitgeschichtliche", die "griechischen Fürstennachbarschaften" ebenso wie die "mittelmeerische Handelswelt", die "Exotik Ägyptens" wie die "Wunder der Meere". Die Welt des Odysseus ist-
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
15
wie Uvo Hölscher es treffend genannt hat - "die Welt".4 In der Tat sind eine Fülle von realen geographischen Orten erkennbar: Ithaka selbst, die Ägäis ins gesamt, auch Kreta, Zypern , Ägypten und Sizilien, um nur einige zu nennen. S Jenseits dieser bekannten Welt des Mittelmeerraumes liegt die Welt der Aben teuer und Irrfahrten des Odysseus. Sie führen ihn in unbekannte Regi onen des Erdkreises: zu merkwürdigen Völkern, furchterregenden Riesen, exotischen Zauberinnen, bis hin zu Fabelwesen, ja sogar bi s in die Unterwelt. Odysseus' Bericht über diese Abenteuer und Irrfahren erfolgt im zweiten Teil der Schilde rungen von seinem Aufenthalt bei den Phäaken: den sog. Apologoi (B uch 9-12). Bereits seit dem Hellenismus war man bemüht, die Geographie dieser Irrfahrten im Rahmen der Geweils) bekannten Mittelmeergeographie zu lokalisieren,6 eine B emühun g, die bis heute nicht abreißt.7 Allen diesen Lokalisierungsversuchen gemeinsam ist die Prämisse, dass der jeweils gesuchte Ort einen Platz in der , realen ' Welt haben müsse, und zwar in dem Sinne, dass dieser Platz im Rahmen einer - insbesondere an den Rändern - damals noch unvollständig erforschten und ansonsten auch in der Vorstellung ein weni g deformierten "Welt" liege, die aber doch im wesentlichen grundsätzlich nach den Kategor ien unserer Raumvorstellung strukturiert ist: auf einer "Landkarte [ ... ] mit weißen Flecken und von der Phantasie ergänzten Rändern".8 In einem solchen Modell wäre jedoch ein wesentliches Charakteristikum des mythologischen Raumes und damit der homerischen Geographie v erkannt . Denn das mythologische Denken kennt nicht - wie etwa später die atomistische Philosophenschule um Demokrit - den leeren physikalischen Raum. Raum wird nur erfahren an den Dingen und Vorgängen; sie sind nicht im Raum, sie sind der Raum - ähnlich übrigens wie die Zeit, die bei den frühen Griechen nicht als Medium, in dem etwas stattfindet, aufgefasst wird, sondern - wie Hermann Fränkel eindrücklich gezeigt hat - nur als "erfüllte Zeit", als Eigen schaft der 4
6
8
Dazu und zum Folgenden s. Hölscher, Die Odyssee (wie Arun . 3), S. 135-158; die oben zitierten Begriffe aufS. 135. Zu Ithaka: Hom. Od. 1,102ff.; 13,93ff., 187ff.; Kreta: Hom. Od. 19,I72f., 188f., 338; Zypern: Horn. Od. 4,83; 8,362; 17,442ff.; Ägypten : Hom. Od. 3,300; 4,351ff.; 14,245ff.; 17,425ff.; Sizilien: Horn. Od. 20,383; 14,21l. Die frühesten Autoren, die sich der Lokalisierung der Abenteuer widmeten, waren Kallisthenes (s. Strabo 12,3,5 C. 54 2), Zenon (s. Dio Chysostomos 53,4; Stoicorum veterum fragmenta fr. 275 [vol. 1,63]), Demetrius von Skepsis (Strabo 13,1,45 C. 603); Hipparchos (Strabo 1,1,2 C. 2 und 1,2,20 C. 27) und Apollodor (Fragmenta Graecorum Historicorum 244 F 157, 170, 171 Müller), Aristarch und Krates von Mallos (Strabo 1,2,24 C. 30); Polybios 34,2,1-4, 8; vgl. F. W. Walbank, A Historical Commentary on Polybios I1I, Oxford 1979, S. 577-587. Obwohl schon Eratosthenes davor gewarnt hatte, die Irrfahrten geographisch zu lokali sieren: "Man wird herausfinden, wo Odysseus herumgeirrt ist, wenn man den Schuh macher findet, der den Windschlauch des Aeolus genäht hat" (überliefert bei Strabo 1,2,15 C.24).
Hölscher, Die Odyssee (wie Anm. 3), S. 137.
Lutz Käppel
16
Geschehnisse selbst.9 Nur kurz verweisen möchte ich an dieser Stelle auf die Untersuchungen Piagets zur Entwicklung von Raumvorstellungen von Kindern unter sieben Jahren: Auch sie erfassen Raum zunächst nur als relative Lage von Objekten ohne Beachtung von Nähe und Feme - also leerem physikalischem Raum - im Prozess spielerischer verinnerlichter Handlung.lo Ganz ähnlich verfl:ihrt - bei allen Differenzen das mythologische Denken: Dem Handlungs charakter der Raumvorstellung bei Kindern entspricht hier das erzählende Wesen der mythischen Räumlichkeit. -
Eine Route der Irrfahrten des Odysseus an einer modemen Landkarte nach zuzeichnen, verbietet sich also schon allein aus diesen grundsätzlichen Gründen. Un d doch sind die Abenteuer der Odyssee nicht vollkommen außerhalb jeglicher Geographie. I I Die Irrfahrt fUhrt nicht sogleich ins märchenhafte Nirgendwo. Nordsturm (Boreas) war es, der Odysseus' Flotte vor der thrakischen Küste erfasste und nach Süden bis zur Südspitze der Peloponnes brachte. Am Kap Malea, der rechten Fingerspitze der Peloponnes, möchte Odysseus dann nach Westen einbiegen - wie es in 9,80 heißt - offensichtlich doch, um in Richtung Ithaka, das sich bekanntlich südlich von Korfu befindet, nach Hause zu fahren. Aber genau hier wächst der Nordsturm zu solcher Gewalt, dass er die Schiffe neun Tage über das offene Meer treibt - neun Tage, d.h. eine unendlich lange Zeit - hinein in ein Irgendwo, ins Land des Vergessens zu den Lotophagen, immerhin in ein Irgendwo, in das man von Norden aus gelangt war,· das also irgendwie südlich liegt. Nach dem anschließenden Polyphemabenteuer kommt man zur Windinsel des Aiolos, von wo aus Odysseus nach neun Tagen unter Westwind bis kurz vor Ithaka gelangt (10,28); Aiolos ist also irgendwo im Westen (westlich von Ithaka) zu denken. Die übernächste Station ist dann die Zauberin Kirke in Aiaia, dort wo die Wohnung und Tanzplätze der Morgenröte sind (12,4), also im Osten. Im Süden also wohnen die Lotophagen, im Westen Aiolos, im Osten Kirke. Zwischen Aiolos und Kirke liegt nun das Lästrygonen Abenteuer. Die Märchen-Geschichte, die im Prinzip überall spielen könnte, ist mit der berühmten und merkwürdigen Beschreibung eingeleitet, die mich veranlasst hat, diesen Text rur Sie zur Interpretation auszUwählen. Ich gebe die schöne metrische Übersetzung von Roland Hampe, 12 Buch 10, V. 80-86:
9 10
11
12
H. Fränkel, D ie Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: ders., Wege und
Formen des frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hrsg. von F. Tietze, 3. Aufl., München 1968, S. 1 -22. J. Piaget , B. Inhelder u.a., Die Entwicklung des räumlichen D enkens beim Kinde Ge sammelte Werke, Bd. 6, S tuttgart 1975, S. 486-5 1 7, S. 520f.; J. Piaget, Nachahmung, Spiel und Traum, Gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 1 975, bes. S. 117-367. Vgl. auch Hübner ,
(wie Anm. 3) und Cassirer (wie Anm . 3).
Das Folgende in Anlehnung an Hölscher, Die Odyssee (wie Anm. 3), S. 1 42- 1 47. Homer, Odyssee, übers. von R. Hampe, Stuttgart 1979.
17
Bilder des Nordens im frilhen antiken Griechenland 80
85
Und sechs Tage fuhren die Nächte wir durch und die Tage, Kamen am siebenten dann zur steilen Feste des Lamos, Nach Telepylos, dem lästrygonischen, dort wo der Hirte, Wenn er eintreibt, ruft, und es hört ihn der Hirte, der austreibt. Da verdiente ein schlafloser Mann wohl doppelte Löhne, Einen als Rin derh irt und einen als Hüter der weißen Schafe; denn nahe sind dort die Pfade der Nacht und des Tages.
Im Lästrygonenland ruft also der heimkehrende Hirte dem anderen zu, der bereits mit seiner Herde auszieht, und wer den Schlaf nicht brauchte, könnte dort doppelten Tageslohn verdienen, denn "nahe sind dort die Pfade der Nacht und des Tages" , d.h. kaum ist die Nacht gekommen, kommt auch schon der Tag. Die Aussage ist unmittelbar verständlich: Es ist ein Land, in dem die Nächte so ver schwindend kurz sind, dass ein Tag praktisch an den anderen anschließt. Die Vorstellung von einem solchen Land kann schwerlich aus der Phantasie oder aus astronomischen Spekulationen entsprungen sein. Ich halte es mit den Homer interpreten, die annehmen, dass eine feme Kunde von den Sonnennächten des hohen Nordens nach Griechenland gedrungen ist. )3 Die geschichtliche Möglich keit ist tatsächlich vorhanden. Bernstein ist von der Ostsee schon im 2. Jahr tausend nach Mykene gelangt, )4 weshalb nicht also auch diese Information? Doch dieses bloße Faktum der Sonnennacht im Norden ist nun bestenfalls das, was ich den figurativen Aspekt der poetischen Konstruktion nennen möchte; denn die nördliche Wirklichkeit entsteht erst operativ in der erzählerischen Handlung: Ich fahre fort im Text: V. 87-1 15:
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Und dann kamen wir hin zu dem herrlichen Hafen, den ringsum Schroffer Felsen umgibt, der beiderseits ununterbrochen; Steile ragende Küsten, einander grad gegenüber, Reichen tief in die Mündung hinein, und eng ist die Einfahrt. Dorthinein lenkten sie alle die Schiffe, die doppeltgeschweiften. Innen im hohlen Hafen wurden sie nah beieinander Festgebunden; denn niemals schwoll da innen die Woge, Weder groß noch gering; es war rings spiegelnde Glätte. Ich allein mit dem schwarzen Schiff hielt draußen vorm Hafen, Dort am äußersten Rand, und band die Taue an Felsen. Und ich kletterte auf eine felsige Warte und stand dort; Weder Werke von Rindern noch Menschen waren da sichtbar. We nig überzeugend scheint mir die Deutung von A. Heubeck, in: A. Heubeck,
A. Hoekstra, A Commentary on Homer's Odyssey, Vol. 11, Oxford 1 989, S. 48, der die
Lästrygonen im Osten lokalisieren möchte, weil sich dort Tag und Nacht bei Sonnenaufgang träfen; richtig dagegen u.a. A. Lesky, s.v. Homeros, in: RE Suppl. 1 1 14
(1968), Sp. 797.
Vgl. C. Hünemörder, R. Wartke, V. Pingel, s.v. Bernstein, in: Der Neue H. Cancik und H. Schneider, Bd. 2, StuttgartiWeimar 1997, S. 575-577.
Pauly,
hrsg. von
Lutz Käppel
18 Und wir sahen als einziges Rauch dem Boden entstei gen Da entsandt ich Gefährten, die so l l ten gehn und erkunden, Was filr Männer es seien, die Brot hier äßen im Lande. Zwei Mann wählte ich aus, dazu einen dritten a ls Herold. Ausgestiegen gingen den Fahrweg sie, wo die Wagen Sonst von den hohen Bergen das Holz zur S tadt hinab führen Trafen dort vor der Stadt ein Wasser holendes Mädchen, Des Antiphates des Lästrygonen, kräftige Tochter. Zum schön fließenden Quell Artäkia stieg sie herunter, Denn d ort holten sie filr die Stadt sich immer das Wasser. Und sie traten zu ihr und sprachen sie an mit der Frage, Wer denn hier ihr König sei und ihnen gebiete. Die wies gleich auf des Vaters Haus, das hochüberdachte. Als sie die stattlichen Häuser betraten, da fanden sie seine Frau, so groß wie ein Bergesgipfel und schauderten vor ihr. Die rief Antiphates g l eich den berühmten, aus der Versammlung, Ihren Gemahl. .
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Die Beschreibung der hellen, phantastischen Lichtverhältnisse korrespondiert mit der Beschreibung des Landes selbst: der ruhige Hafen, die schützenden Klippen, die angelegten Wege, die frische Quelle, die herrliche Stadt, die hohen Häuser, die Berge, das liebliche wasserholende Mädchen, die Versammlung auf der Agora: all dies zeigt deutlich das Gepräge der lieblichen odysseischen Landschaften, wie wir es z.B . vom paradiesischen Land der Phäaken kennen. Doch die Idylle trügt ich paraphrasiere die folgenden Verse 1 1 2- 1 29 : Die Lästrygonen entpuppen sich als gefährliche Menschenfresser (V. 1 1 6); sie bom bardieren die Flotte mit Felsen (V. 1 2 1 ), und Odysseus entkommt nur knapp unter hohen Verlusten dem Tode, dank seiner Vorsichtsmaßnahmen. -
Ein ambivalentes Land also ist dieser Norden. Auf der einen Seite hell, ein ladend, liebreizend, zweckmäßig angelegt mit Einrichtungen städtischer Zivi lisation und politischer Ordnung auf der anderen Seite bevölkert von tod bringenden, menschenfressenden Riesen. Der Name dieses Landes ist Telepylos, d.h. "Femtor" (V. 82). Ludwig Radermacher hat in diesem Namen einen Hin weis darauf erkannt, dass wir uns hier in dem Bereich der Hadesmythologie befinden.15 Das "feme Tor" ist das Tor am Ende der Welt, das Tor ins Jenseits, das Tor in den Tod. So lieblich die Landschaft und Zivilisation dort im nörd lichen Nirgendwo der Welt auch sein mag so die poetische Pointe der Geschichte am Eingang zum Jenseits lauert in jedem Falle für Menschen wie Odysseus und seine Kameraden immer nur der Tod. Ein Verweilen bei den Lästrygonen - so verlockend es scheint - ist einem Menschen nicht möglich. ,
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L. Radermacher Die Erzählungen der Odyssee, Wien 1 9 1 5 (Sitzungsber. der Österr. Akad. d. Wiss. Wien, PhiJosoph.-hist. Klasse, Bd. 178, 1 . Abh.), S . 17 und ders., Zur Hadesmytholog ie, Rheinisches Museum 60 (1905), S. 592; danach auch Hölscher, Die Odysse (wie Anm. 3), S . 145. ,
19
Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland
Das Epos formt also ein Gesamtbild im We chselspi el figurativer Erzählakte ei ners eits (also der S ch i lde rung der Sonnennacht im Norden, vielleicht auch des fehlenden Ackerbau s [V. 98 heißt es: "ke ine Werke von pflügenden Rindern"]) mit op erativen Erzählakten andererseits. Das Ergebnis ist eine Konstruktion des Nordens als einer Landschaft des Liebreizes u nd der zi vi l i s ator i s che n Ordnung. Im Rahmen des narrativen Ge samtkonzeptes der Irrfahrten setzt es außerdem die Kreisbewegung von den Lotoph agen (Süden) über Aiolos (Westen), d ie Lästrygonen (Norden) b i s zu Kirke (Osten) fort und gibt somit den Irrfahrten insgesamt als Durchquerung der gesamten Welt ihre plausible Kreis-Form (s. Abb. 1). Ich möchte nochmals betonen, dass es auc h in der Gesamt darsteIlung der Irrfahrten nicht um das Ansteuern von Koordinaten des physika l i sc hen Raumes geht, sondern um die narrative Konstruktion von Welt im operativen D urc hsp i elen ihrer elementaren Re l ation sbegriffe : südlich, westlich, nördlich, östlich. Zusätzlich rückt die N ördl ichke i t nun noch in e i n Jenseitskonzept ein, dem ich mich nun zum Abschluss der Homerinterpretation noch zuwenden möchte. Denn Telepylos i st nicht der einzige E i ngang ins Jenseits. Odysseus betritt die ei gen t liche Unterwelt auf einem anderen Weg
.
Zu Beginn des 11. Buches heißt es (V. 1 1 -22):
15
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Einen Tag lang fuhr das Schiff mit geschwollenen Segel n; Und die Sonne versank, und es dunkelten alle die Wege, Da erreicht' es den Rand des tiefen Okeanos-Stromes. Da befinden sich Volk und Stadt der kimmerischen Männer, Eingehüllt in Wolke und Dunst, und es blicket da niemals Helios nieder auf sie, der leuchtende, mit seinen Strahlen , Weder wenn aufwärts er zum ges tirnten Himmel emporstei g t, Noch wenn er wieder zur Erde herab vom Himmel sich wendet, Sondern schreckli che Nacht liegt über den el en de n Menschen. Dorthin kommend, liefen wir auf und nahmen die Schafe Aus dem Schiff und gi ngen entlang dem Okeanos-Strome, Bis zu dem Platz wir kamen, den uns gewiesen die Kirke.
Von dort aus geht es dann hinab in die Unterwelt, und die sog Nekyi a beg innt .
.
Es scheint also einen zweiten Ei ngang zu geben, erreichbar auf dem W asser weg, dem Ri ngstrom des Okeanos, der - so die gängige Vorste ll ung - die Wel t umfließt. Charakterisiert ist er durch folgende Merkmale: Die Einwohner heißen Kimmerier, es ist nebl ig und es ist permanent Nacht. Es scheint offensichtlich, dass d ieser Eingang als finstere s Gegenstück zu der hellen Jenseitskonzeption der Lästrygonen S tadt Telepylos konstruiert ist. Doch wo oder besser gesagt in we lcher Relation l i egt dieser Eingang der Kimmerier? Seit der Antike siedelte man die Kimmerier im äußersten Norden an und identifizierte sie mit einem glei chnam i gen historischen Stamm, der etwa Ende des 8. Jhds. vor Christus von Norden her den Kaukasus überschritten und in der Folge Kleinasien terrorisi ert
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hatte. Die Beschreibung der ewigen Dunkelheit ginge dann auf eine Kenntnis der langen Winternächte des Nordens zurück und der beschriebene Nebel auf den bis heute sprichwörtlichen "Londoner Nebel" . Doch Homer sah es offenbar anders. Denn kurz zuvor am Ende des 1 0. Buches hatte Odysseus von Kirke erfahren, dass der Weg dorthin durch das Blasen des Boreas (V. 507), also des Nordwinds, ermöglicht wird. Wir befinden uns also bei den Kimmeriern südlich, d.h. südlich von Kirke, also j edenfalls nicht nördlich. Dass die Kimmerier bei Homer ein südliches Volk sind, ist vor dem Hintergrund der Wirkungs geschichte ein besonders bemerkenswertes Ergebnis der Homerlektüre. 16 Für die Jenseitsvorstellung in der Odyssee als Gesamtkonzept bedeutet dies, dass hier offenbar komplementäre Teilkonzepte aufeinander bezogen werden : Lästrygonen
Kimmerier
hell
dunkel
liebliche geordnete Landschaft
Jammertal
nördlich
südlich 2.
Ich komme damit zum zweiten Materialkomplex, der Konstruktion der Nörd lichkeit in der Apollon-Mythologie. Gegen Ende des Schlussmythos der platonischen Po/Heia (620a) streifen bekanntlich die Seelen herum, um sich rur die bevorstehende Wiedergeburt eine neue Existenz zu wählen. Dort habe man auch die Seele, die einst Orpheus gewesen ist, gesehen, wie sie sich das Leben eines Schwanes wählte. [ ... ] Man habe auch einen Schwan ge sehen, der in einer Metamorphose ein menschliches Leben gewählt habe, und andere musische Lebewesen ebenso. 16
Seit der Antike identi fi zi e rte man das homerische mythische Volk mit dem historischen Reitervolk gleichen Namens, das im 8 .17. Jh. v. Chr. von Norden her in den MitteImeer raum ei nfi e l (vgl. z.B. Herodot, H i stori en 1 ,6; 1 , 1 5 f.; 1 , 1 03 ; bes. 4, 1 1 ff.; 4,45 ; 7,20). Die Kimmerier galten daher bis in die Modeme häufig als nördliches Volk. Die mythologische Geographie Homers setzt sie jedoch ei ndeutig in den Süden; vgl. dazu den neuesten maß gebl i chen Kommentar von A. Heubeck, in: A. Heubeck, A. Hoekstra, Commentary (wie Anm. 1 3), S. 77-79, bes. S. 78 : "(Odysseus) sets out at dawn ( 1 0,54 1 ) from the east ( 1 2,34), and travels with a north wind ( 1 0,507; 1 1 ,7-8) [ ... ) O. trav els along Oceanus following the rim of the earth from east to west via the southem perimeter [ . . . ] The mythological location of the Homeric Cimmerians' country at the entry to the Underworld in fact excludes any possibility of connecting them with the historical Cimmerians." (weitere Literatur ebd.).
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Abb. 1 : Schematische Darstellung der mythischen Irrfahrten-Geographie in der Odyssee
Orpheu s , der Sänger, wählt also flir ein neues Leben die Existenz eines Schwanes, Schwäne werden zu Menschen - man darf supplieren: Menschen wie Orpheus . Die Seele des Sängers und der Schwan sind o ffenbar al ternierende Exi stenzen . Dies verwundert nicht, denn Schwäne gelten seit jeher als S änger, die ins
besondere vor ihrem Tod, d.h. im platoni schen Bild: vor dem Wechsel ihrer
Existenzform, wunderschöne Gesänge erklingen lassen. 1 7 Platon schreibt sogar Sokrates, dem Ph i l o sophen, Schwanen-Qualität zu. Im Phaidon (84d-85b) ver glei cht er ihn mit den Vögeln, die - so heißt es wörtlich -,
obwohl sie auch vorher singen, ganz beso nders schön arn Zeitpunkt ihres Todes singen, weil si e sich ans ch i cken , zu d em Gott zu gehen, de ss en Diener sie sind [ . ]. Da si e ApolIons Vögel sind, sind sie prophetisch. S ie wissen vorher, dass das, was sie im Hades erwartet, gut ist - und sie erfreuen sich daran noch viel mehr an die se m Tag ihres Todes als je zuvor.
..
Die S chwäne - und damit verlasse ich j e tzt die plato ni sc he Sokrates-Schwan Metaphorik, die in noch viel umfassenderem Sinne ihre Darstellungsmittel aus 17
Vgl. Eur. HerakIes 69 1 -4; Verg. Aen. 1 0, 1 9 1 f. ; Hor. Od. 2,20 etc.
Lutz Käpp el
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der Apollon -R el igion bezieht, als ich hier darstellen kann - diese Schwäne als o haben ihren P l atz in der Apollon-Mythologie. In Kallimach os viertem Hymnus spielen die Schwäne spezie ll eine Rolle in Verb indung mit Delos, dem Haupt kultort und Geburtsort des Gottes: Es heißt in V. 249-252: '
Die Schwäne, des Gottes propheti sche Sänger, umkreisten Delos siebenmal. Diese Musen Vögel sangen bei der Geburt des Go tt es. Deshalb b and der Knabe später s i eben Saiten auf seine Lyra, um die Anzahl der Gesänge der Vö gel bei seiner Geburt abzub ilden -
.
Vier Elemente sind es somit bis jetzt, die die Schwan-Mytho logie bestimme n : Musikalität sogar ihr Flug symbolisiert mit ihren sie ben Kreisen die sieben Tonschritte bis zur Oktave , Tod, Geburt und Kreisbewegung. Das griechische Wort für Schwan "kyknos" wird in dieser und viel en anderen Quellen häufig wortspielerisch mit "kyklos" zusammengebracht. Dies ist gewiss kein Zufall. Denn es gehört nicht viel Phantasie dazu, in dieser Konstellation von Myth o logemen auch d en Jahreszyklus zu sehen 1 8 Die singenden Schwäne markieren den Kreislauf des Jahres b zw der Jahreszeiten durch ihre Migrati o n : Wenn der griechische Frühling kommt, ziehen sie fort nach Norden und kehren erst wieder im Herbst, wenn die Natur stirbt. Ihr eigener Lebenszyklus scheint dabei dem übrigen Jahreszyklus auf sonderbare Weise entgegenzulaufen: Der To d ist auch in diesem Kontext i hr eigentliches Leben. -
-
.
.
Und in der Tat: Schon in der Antike stellte man fest, dass die Schwäne in Norditalien und Nordgriechenland - weiter im Süden findet man sie nämlich nicht mehr - im Winter nur zu Gast sind. Sie brüten nämlich nicht hier, sondern offenbar im Norden, woher sie im Herbst kommen Im Frühling, wenn der be fruchtende Zephyros-Wind b läst, zieht der Schwan wieder nach Norden davon. Und unsere Que llen nennen auch das exakte Ziel des Fluges nach Norden: das Land der Hyperb oreer, des Volkes, das über ("hyper"), also j enseits des Nord winds "Boreas" wohnt .
.
Die erste ausführliche Erwähnung dieses Landes der Hyperboreer finden wir in ei nem Apollon-Hymnos des Lyrikers Alkaios um 600 v. ehr. Der Inhalt des Gedichtes ist nur in einer Paraphrase des spätantiken Redners Hirnerios erhalten: Als ApolIon geboren wurde, stattete ihn Zeus mit einer go ldene n Mitra und einer
Lyra aus und gab ihm obendrein e inen Wagen zum Fahren, Schwäne waren der Wagen, und er schickte ihn nach Oel ph i und zur Kastalischen Quelle, damit er von dort den Griechen Recht un d Gesetz verkünden solle. Er aber sti eg auf den
18
Die Vorstellung vom Jahres-"Zyklus" im Griechischen ist abgeleitet vom kreisfOrmigen Umschwung der Gestirne (vgl. Platon, Timaio s 3 8d; AristoteIes, Oe mundo 39I b I 8). Das Bild des Kreises sollte insbesondere die wiederkehrende Sequenz der Jahreszeiten be schreiben (so Euripides Orestes 1 6 1 5 ; ders, Philoktetes 477), konnte aber auch ganz un spezifisch das Jahr al l ge me i n bezeichnen (Euripides, Orestes 544; He rodot , Hi storien 1 1 2
etc.).
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Wagen und trieb die Schwäne an zum Flug zu den Hyperboreern. Als die Delpher dies merkten, komponierten sie einen Paian, also ein Lied, und stellten einen C hor von Jünglingen um den Dreifuß, die den Gott von den Hyperboreern herbeirufen sollten. Als der, der ein ganzes Jahr dort Recht gesprochen hatte, hörte, dass die Delpher ihn riefen, befahl er sofort den Schwänen, von den Hyperboreern ab zufliegen. (Alkaios fr. 307 Voigt Himerios, Oratio 48, 1 0 f. Colonna). =
Da es zu Beginn des Sommers war, als die Delpher den Gott riefen - so geht es sinngemäß weiter - kommt Apol Ion in jedem Jahr zu Beginn des Sommers von den Hyperboreern nach Delphi . Den Winter aber verbringt er mit se inen Schwänen bei " seinem" Volk, den Hyperboreern. Bevor ich näher auf das Bild eingehe, das sich die griechische Mythologie von den Hyperboreern machte, möchte ich noch einige Hinweise darauf geben, wie eng die Hyperboreer-Mythologie mit ApolIon verknüpft war: Dort im Norden, so heißt es in einem Scholion zu Pindar l 9 und bei anderen,
habe ApolIon einen Tempel §ehabt. Antoninus Liberalis, Iamblich und Philostrat beschreiben ihn sogar. 0 Diodor betont eigens, dass der Tempel weit im Norden zu finden sei; dort sei der Geburtsort Letos, der Mutter ApoIJons. 21
Doch die delische Nord-Süd-Mythologie ist noch komplexer. Die schon erwähnte Mutter ApolIons, Leto, gebiert den Gott und seine Schwester Artemis auf der Insel Delos, an eine Palme gelehnt, griechisch "phoinix" : die Phoinix Palme ? 2 Schon in der Antike wusste man, dass die Palme, obwohl sie in Europa wächst, hier unfruchtbar ist. Früchte trägt sie nur im heißen Süden. 23 Sie teilt diese Eigenschaft als südliche Pflanze also mit dem nördlichen Schwan, der im Norden brütet und sich in Griechenland nicht vermehrt, sondern nur überwintert. Im Ägyptischen wie in der griechischen pythagoreischen Interpretation sym bolisiert die Phoinix-Palme den Monatszyklus: jeden Monat treibt die Pflanze ein neues Blatt hervor. 24 Neben der Phoinix-Palme, die wir von Delos her kennen, gibt es nun aber auch den Phoinix-Vogel. 25 Er ist - wie die Palme offenbar ebenfalls ägyptischer Provenienz und repräsentiert den Sonnenzyklus 19
20 2
1
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25
Scholion zu Pindar, Olympie 3, 1 8 (3,33b Drachmann ) . Antoninus Liberalis, Metamorphosen 20; lamblich, Leben des Pythagoras 9 1 ; Philostrat, Leben des Apollonios von Thyana 6, I 0- 1 1 . Diodor 2,47. Homer, Odyssee 6, 1 62f. ; Homerischer Hymnus auf ApolIon, h. 3 , 1 1 7; vgl. F.M. Ah l , Amber, Avallon, and Apollo's Singing Swan, in: AJPh ( 1 982), S. 3 8 1 mit Anm. 29 (dort weitere Stellen). Plinius, Naturalis historia 1 3 ,26-28 mit Ahl (wie Anm. 22), S. 3 8 1 . Horapollon, Hieroglyphica 1 ,3 f. mit Ahl (wie Anm. 22) S . 381 . Zur Bezeichnung und zum Zusammenhang der Homonyme Palme-Vogel s. R. van den Bro ek, The Myth of the Phoenix according to Classical and Early Christian Traditions, Leiden 1 972 ( Etudes preliminaires aux religions orientales dans I'empire romain, tome 24), S. 5 1 -66.
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24
des Jahres: Jedes
Jahr stirbt er und ersteht wieder neu. 26 Diese Sonne-Mond
Phoinix-Mythologie ist nun ganz subtil in die delische Apollon-Mythologie 27 Sonne und Mond sind in der Gestalt Apol lons und der hineinkonstruiert: Artemis präsent, doch auch in der Gestalt Apollons und Letos. Zu Leto, der Frau, gehört die Phoinix-Palme, der Mond-Zyklus. Zu Apollon, dem männlichen Pendant, könnte nun der Phoinix-Vogel treten, der Sonnenzyklus. Er i st j edoch offenbar verzichtbar. Für ihn tritt ein anderer Vogel ein: Kyknos, der Schwan aus dem Norden. Damit stehen der männliche Schwan und die weibliche Palme, S onne und Mond, Norden und Süden nebeneinander. Kall imachos sagt im Hymnus, V.
4-5
2.
ganz harmlos über Delos :
[ . . . ] die delische Palme (Phoinix) nickte sUB und abrupt, der Schwan (Kyknos) sang schön in der Luft.
Es würd e an d ieser Stelle zu weit führen, zu beschreiben, wie weit d ie Kon struktion bis in kleinste Detai ls die Totalität des Daseins mythologisch reprä 28 sentiert. Hierzu nur ein letztes Beispiel: der Mythos des Sonnensohnes
Phaethon. Er durfte den Wagen seines Vaters fahren und entzündete in seiner Unerfahrenheit e i n
kosmisches Feuer, das die Welt verni chtet hätte, wenn nicht
Zeus ihn mit dem Blitz erschlagen hätte. Sein Körper fallt in den Fluß Eridanos . S e i n Freund und seine Schwestern sterben v o r Trauer und Schmerz. Doch die Götter haben Erbarmen mit ihnen und verwandeln sie . Der Freund heißt
Kyknos, und er wird zum Schwan, die Sonnentöchter, die Heliaden, werden
zu
29 Bäumen und ihre Tränen werden zu Bernstein • Der Schwan ist also ein Freund des Sonnensohnes, dessen Schwestern den Bernstein, den Sonnenstein des Nordens, produzieren. Sonne, Schwan und Bernstein gehören offenbar eng
zus amme n.
Der Norden erscheint dabei auch hier als das Land der Sonne.
Wie sieht es nun aus in diesem Land, in das die Schwäne fliegen, wenn es wärmer wird, das Land der Hyperboreer? Es ist das Land, in das Heroen nach einem verdienstvollen Leben entrückt werden, unerreichbar für Menschen: Pindar gibt in seiner
1 0. pythischen Ode eine Beschreibung:
Zu Schiff nicht und nicht zu Fuß wandernd, könntest du finden
30
z ur
Hyperboreerversammlung den wundersamen Weg.
Bei denen ließ sich einst Perseus bewirten, der Heerfiihrer, als er ihre Wohnstätten betrat
und sie traf, wie sie herrliche Hekatomben von Eseln dem Gott darbrachten; an ihren Festen 35
26 27
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und Lobpreisungen freut sich ständig
Apol1on am meisten
und lacht, wenn er sieht die geile Tol1heit der Tiere.
van den Broek, Phoenix (wie
Anm . 26), S. 1 46-232.
Das Folgende nach A h l (wie Anm. 22), S. 383-398. Mehr dazu bei Ahl (wie Anm. 23), Ovid, Metamorphosen
S. 380-3 89. 1 ,747-2,380.
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45
25
Die Muse aber bleibt nicht außerhalb bei ihren Bräuchen; überal l sind Mädchenchöre und Lyraklang und Flötenschall im Schwung; mit goldenem Lorbeer binden sie sich das Haar auf und sitzen heiter beim Festmahl. Krankheiten nicht noch das verfluchte Alter mischt sich unter das heilige Volk; der Mühen und Kämpfe ledig, wohnen sie entronnen vergeltender Nemesis. Aber aus kühner Brust atmend, kam einst Danaes Sohn voran ging Athene zur Schar der se li gen Männer; er tötete Gorgo [. ]30 -
-
..
Ein herrliches Leben also führen die Hyperboreer - ohne Krankheit und Tod, in üppigem Überfluss, ein Festschmaus ohne Ende: eine paradiesische Utopie. Doch auch sie ist nicht ohne den Hauch des Todes. Denn ganz am Ende erfahren wir (V. 44-47): Dort hat Perseus eine der Gorgonen getötet. Hier wohnen also jene gräßlichen Ungeheuer, bei deren Anblick jeder sterbliche Mensch zu Tode erstarrt. Perseus überlebt nur durch den Trick, dass er sie durch einen Spiegel anschaut. Das Haupt der getöteten Gorgo, der Medusa mit Namen, hat er zwar mitgenommen und schließlich Athene übergeben, die es auf ihren Schild montiert, doch die anderen Gorgonen sind durchaus noch da: Ein le bendiger Mensch, der das Paradies betritt, würde es nicht überleben. Damit ist klar, dass auch dieses Paradies ein Jenseits ohne Wiederkehr ist. Wie Homers Lästrygonenland in der Odyssee ist also auch das Hyperboreer land eine kunstvolle Konstruktion im Rahmen einer komplexen Jenseits mythologie. l l Die figurativen Elemente dieser Konstruktion, die Migration des Schwanes nach Norden m i t dem Jahreszeitenzyklus, sein Gesang beim Sterben, das Wissen um die nördliche Provenienz des Bernsteins, und ich füge hinzu : vielleicht auch ein Wissen darum, dass in der nordischen Mythologie der über das Wasser gleitende, weiße Schwan den über den Horizont fahrenden Sonnen wagen symbolisierte32 all dies ist in einem Akt operativer Verarbeitung zu einem Bild des Nordens als einer musischen, sorgenfreien, lichtvollen Welt komponiert, die die positive, tröstliche S eite der Vergänglichkeit des Lebens symbolisiert. Die dunkle Tiefe der Erde ist die griechische Hölle, der Tartaros, sein Eingang liegt im Süden, der Norden ist dagegen das griechische Paradies. -
30 3
1
Pindar, Olympie 1 0,29-47; in Übersetzung zi tiert
nach:
Pindar, Siegesl ieder, hrsg., übers.
und mit einer Einleitung versehen von D. Brem er , München 1 992, S. 207. Zu den Hyperboreern insgesamt s . A. Ambühl, s .v. ,Hyperboreioi ' , in: Der Neue
P auly hrsg. von H. Cancik und H. Schneider, Bd. 5, Stuttgart- Weimar 1 998, S. 802f.; Pindaro, Le Pitiche, introd., testo critico e trad. di B. Gentili, commento a cura di P. A. Bemadini, E. Cingano, B. Gentili e P. G i ann i n i , Rom 1 995. S. 630f. 3 2 Abi (wie Anm . 22), S. 390-4 1 1 . ,
Lutz
26
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3.
Als Letztes einige wenige Bemerkungen zu Pytheas von Massilia, 3 3 der i n der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. nach Norden gereist war und etwa in den 20er Jahren, also um 322 v. Chr., einen Bericht darüber in "Peri tou Okeanou" vorgelegt hat. Uns sind von dieser Schrift einige wenige, aber hochinteressante Fragmente erhalten, die einen Eindruck von Pytheas' Beobachtungen geben. So berichtet Strabo über das Werk des Pytheas folgendes: Pytheas habe laut Polybios behauptet, das gesamte zugängliche Britannien bereist haben, und er gab an, dass der Umfang der Insel mehr als 40 000 Stadien (also ca. 8000 km) sei. Außerdem habe Pytheas einen Bericht über Thule gegeben und jene Gegend, in der es weder eigentliches Land an sich noch Meer noch Luft gab, sondern ein Gemisch aus diesen, das einer Meerlunge glich, in der - wie er sagt Erde und Wasser und alles überhaupt in der Schwebe sei, und dieses sei gleichsam das Band, das das All zusammenhalte, worauf man weder gehen noch fahren könne. Das, was der Lunge gleiche, habe er selbst gesehen, das andere wisse er vom Hörensagen. ( Strabo 2,4, l f. C. 1 04[ Pytheas [ 7a Mette). zu
=
Später heißt es: Noch unsicherer aber ist wegen der weiten Entfernung unsere Kenntnis von Thule; denn dieses setzt man von allen angefUhrten Ländern am nördlichsten an [ ] Was die Himmelserscheinungen und die mathematische Untersuchung betrifft, so scheint Pytheas die Verhältnisse einigermaßen zutreffend be hand elt zu haben, die in der Nähe der gefrorenen Zone herrschen: Dass Kulturpflanzen und Haustiere teils völlig fehlen, teils selten sind, und dass man sich von Hirse und anderen Krautarten, von Fruchten und Wurzeln nähre; wo aber Getreide und Honig vorhanden sei, braue man daraus ein Getränk. Das Getreide dreschen die Einwohner, weil sie keine klaren Tage haben, in großen Gebäuden, nachdem man dorthin die Ähren gebracht hat; denn offene Tennen sind wegen des fehlenden Sonnenscheins und der Regengüsse unbrauchbar. (Strabo 4,5,5 C. 20 1 Pytheas fr. 6g Mette). ...
=
Und Plinius, der römische Naturkundler, berichtet: Wenn in den Tagen der Sommersonnenwende die Sonne dem Pol näher kommt, hat das Land, das unter dem kurzen Umlauf des Lichtes liegt, sechs Monate lang beständig Tag, und wenn sie sich umgekehrt zur Wintersonnenwende entfernt hat, ebenso lange Nacht. Das soll, wie Pytheas berichtet, auf der Insel Thule der Fall sein, sechs Tagereisen nördlich von Britannien. (Plinius, Naturalis historia 11 1 86 Pytheas fr. 1 3a Mette). =
33
Folgende Ausgaben dieses wichtigen Autors sind einschlägig: H.l. Mette, Pytheas von Massalia, Berlin 1 952; Ch.H. Roseman, Pytheas of Massalia: On the Ocean, C hicag o 1 994; S. Bianchetti, Pitea di Massalia: L'Oceano, Pisa-Rom 1 998 (Biblioteca di studi antichi, 82); übersetzt von D. Stichenoth, Pytheas von Marseille. Über das Weltmeer, KölnlGraz 1 95 9 .
Bi lder des Nordens im frühen antiken G riechenland
27
Und etwas später heißt es: Eine Tagesreise von Thule liegt das gefro rene Meer, das manche 'das Meer des Kronos' nennen. (Plinius, Naturalis historia 4,94 Pythe as fr. 1 1 b M ette) =
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Der Astronom Geminus schließlich, ein Zeuge des 1 . Jhs. v. ehr., berichtet: Für die nördlich des Marm aramee res wohnenden Menschen hat der län gste Tag 1 6 Äquinoktialstunden, und für die noch weiter nördlich wohnenden 1 7 und 1 8. In diesen Ge g enden scheint auch Pytheas gewesen zu sei n Er sagt jedenfalls in seinem Werk: ,Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt (Ge minus, E lementa Astronomiae 6,9 Pytheas fr. 9a Mette). .
.'
=
Mit diesem schönen, poetischen, dem wohl einzig wörtlichen Zitat, das wir von Pytheas besitzen, breche ich die Auswahl der Zeugnisse ab. Wie anders ist hier die Auffassung von dem beschriebenen nördlichen Gebiet als bei Homer oder in der Apollon-Mythologie: Genaue Koordinaten werden ge geben: sechs Tagesreisen nördlich von Britannien, eine Tagesreise südlich des ewigen Eises liege die Insel Thule; die Landwirtschaft sei bescheiden, das Wetter meistens schlecht; die langen Tage des Sommers werden durch ebenso lange Nächte des Winters aufgehoben und eine Zone, in der Erde, Wasser und Luft so als Gemisch auftreten, dass es ihn an eine Meerlunge erinnert, werden möglicherweise im Sinne der platonischen Naturlehre des Timaios? - konkre tisierend als das Band, das das All und seine Elemente in den verschiedenen Aggregatzuständen verbindet, verstanden. 34 Pytheas' Wissen blieb auf lange Zeit ein unüberprüfbarer Reisebericht. Thule
ist bis heute verschollen. Doch hat Pytheas das Bild eines Nordens, geprägt von
Nebel, Dunkelheit und Kärglichkeit, etabliert, das in der Folgezeit durch Rei sende, Forscher und Eroberer immer mehr Nahrung erhalten und weiterentwickelt werden konnte. Ein neues Paradigma von Nördlichkeit war geboren. Dass in einem solchen Konstrukt schl ießlich das düstere Volk der Kimmerier, das wir bei Homer noch im Süden angetroffen hatten, jetzt in der Tradition im Norden seinen Platz finden konnte, verwundert nicht. Wissenschaftliche Protokolle, Messinstrumente und Koordinatensysteme hatten gesiegt. Das Paradies war - zumindest vorerst - verloren.
34
Platon, Timaios 3 1 b-34a, bes. 3 1 c 1 mit Pytheas fr. 7a Mette.
DIE ERFINDUNG GERMANIENS UND DIE ENTDECKUNG SKANDINAVIENS IN ANTIKE
UND MITTELALTER AHan A .
Lund
Einleitende Bemerkungen Das Interesse der Neuzeit an den antiken Germanen hängt auch mit dem eth nischen Selbstverständnis insbesondere der Deutschen zusammen, die sich als Nachkommen germanischer Stämme zu bestimmten Zeiten gern haben sehen wollen. Bei der ethnischen Identifikation der Deutschen mit den Germanen spielten vor allem Kontinuitätsvorstellungen eine wichtige Rol le : Man dachte dabei
zunächst
in
Kategorien
der
Territorien
und
der
Abstammungs
gemeinschaften, später der Nationen und Nationalitäten. Es geht um Denk weisen und Vorstellungen, die auch in der j üngeren und jüngsten Germanen forschung nicht völlig überwunden und verschwunden sind. Ignoriert wurde bei diesem
Vorgehen vor allem der Umstand,
dass
die
ethnische
Selbstzu
schreibung, d.h. die subjektive Ethnizität, vielschichtig und von der j eweiligen Situation abhängig ist, verändert werden kann und gelegentlich auch wird; denn bei der Frage der ethnischen Selbstidentifikation handelt es sich um einen
an
dauernden Prozess. Die subj ektive Ethnizität ist, mit anderen Worten, nicht statisch und, wie schon gesagt, auch nicht unveränderlich, wie etwa die ethnische Identifikation der heutigen Schwaben mit den antiken Sweben im Prinzip voraussetzt. Weiter wurde die Sicht der antiken Römer oft unkritisch rezipiert, so dass die Menschen, die diese für Germanen hielten
und
auch so
benannten, ohne weiteres als Germanen betrachtet wurden, obwohl es dabei um zwei verschiedene Sichtweisen geht, nämlich die von innen und die von außen, oder, wenn man so will, die Sicht der Ingroup und die der ethnische Selbstidentifikation
das
Outgroup,
wobei die
entscheidende Kriterium ist, wenn man ver
allgemeinernde Kategorisierungen von außen vermeiden will. Die römischen Autoren aber, die über die Germanen schrieben, betrachteten ehen diese von außen und setzten, wie wir sehen werden, ethnische Sammelkategorien weithin mit geographischen Räumen gleich. Das Verständnis der antiken Texte, die sich mit den Germanen befassen, wird noch dadurch kompliziert, dass der heutige Germanenbegriff ursprünglich l inguistisch konzipiert worden ist. Demnach sind Germanen in erster Linie Menschen, die germani sch sprechen. Der antike römische und der heutige Germanenbegriff decken sich demnach nicht, denn unser Germanenbegriff ist mit dem der antiken Römer nicht kompatibel und auch nicht vergleichbar. Einfacher ausgedrückt, kann man sagen, dass die Germanen der römischen Antike nicht wussten, dass sie germanisch - in unserem Sinn - sprechen. Die Römer wussten es auch nicht. Dem sei hinzu gefügt, dass es für die Fragestellung, seit wann es die Germanen gibt bzw. ob sie erfunden oder entdeckt wurden, belanglos ist, wann man angefangen hat, ger-
Allan A. Lund
30
manisch zu
sprechen. Die sogenannte erste germanische Lautverschiebung hilft l Zum einen ist es schwierig, Kriterien
da nicht weiter. Auch nicht theoretisch :
aufzustellen, nach denen man klar entscheiden kann, wann eine begonnen hat; zum
anderen ist es
wissenschaftlich
neue Sprache problematisch zu definieren,
was eine Sprache ist. Aber selbst wenn das nicht so wäre, ist die Sprache für die Se l bstzus chre i bung zu e iner bestimmten ethnischen Gruppe nicht ( bzw . n i c h t unbe d ingt) das entscheidende Kriterium der Ethn i zität .
Erster Teil: Zur Erfindung der Germanen Es
gilt
heute als Stand der Germanenforschung, die gerade in den letzten Jahren
erlebt hat daß sowohl der geograph i s che B egri ff Germania wie auch der ethnische Begriff Germani vor Gaius I u li us Caesar (100-44 v. Chr.) noch unbekannt waren ? Dies lässt sich am besten damit erklären, dass Caesar beides konstruiert bzw erfunden hat, sowohl das geo einen gewaltigen Aufschwung
,
.
graphische Gebiet 'Germanien' als auch die mit diesem deckungsgleiche Be völkerung 'Germanen' . Dabei gab Caesar, was erstaunlich
ist, nicht nur
den
Menschen im germanischen Raum ihren Namen, sondern er benannte auch als erster das von ihnen bewohnte Gebiet rechts des Rheins als Germanien. Er war demnach tUr die alten Römer wie tUr uns primus inventor Germaniae Germanorumque, d.h. der Erfinder Germaniens sowie der ethnischen Groß gruppe 'Germanen' . Die Erfindung, nicht die Entdeckung Germaniens und der Germanen vollzog s i ch bei Caesar im L aufe seiner gallischen Feldzüge, d.h. in den Jahren 58 bis 5 1 v. Ch r die demnach den zeitlichen Rahmen angeben. Es lässt sich auch nachweisen, wie bei ihm der geographische Begriff Germania in den Jahren 5 5 bis 53 v. Chr. entstanden ist. Erst nach di eser Zeit g i b t es die dis tinkten geographischen Großräume, di e GalIien (Gallia Ulterior bzw. Gallia Comata bzw. Gallia Bracata) und German i en (Germania) heißen, die durch die sichtbare Grenzlinie des Rhe ins voneinander getrennt werden. Caesar teilt, mit anderen Worten, den geographischen Raum, den man in der gr i echisch römischen Antike als den nordwest l ich en Teil der bekannten und existierenden Welt betrachtete, in zwei weitausgedehnte Gebiete auf, wobei er eine völlig neue geo- und ethnographi sche Gliederung des Nordwestens Europas unter nimmt. Am wi cht igsten ist dabei für Caesar selbst aller Wahrscheinlichkeit nach die Ko nstrukti o n Galliens und die damit einhergehende Aufte i l ung der GaIIi e r Galliens gewesen. Die geo- und ethnographischen Kategorien Germani en u n d .,
Siehe Elmar Seebold, Wann hat ei ne S prache be gonnen ?, in: Theoretical Grammatical
Description, hrsg.
Linguistics
and
von Robin Sackmann , Amsterdam 1 996, S. 287-296.
Siehe : Die Germanen, Studienausgabe von: Real lexikon der Germanischen Altertums kunde, hrsg. von He inri ch Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe, Berli nlN ew York 1 998,
S. 7 ff. ; AHan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1 998, S . 36 ff. ; Walter
Pohl,
Die
Germanen, München
2000, S. 1
ff., 5 0 ff.
D i e Erfi nd ung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
31
Germanen hat er nur deswegen konstruiert, weil er das gallische Gebiet links des Rheins deutlich davon absetzen und abgrenzen wollte. Die Konstruktion Ger maniens und der G ermanen war, mit anderen Worten, ein Nebenprodukt , neben sächlich , wenn man so will . Werfen wir, um dies zu verdeutlichen, zunächst den Blick auf die Vorstellung von Europa, wie man sich in der Zeit vor Caesar diesen W eltte i l vorstellte. Vor Caesar sah die ethno-geographi sche 'Landkarte' des nordwestlichen Europas ganz anders aus als nach ihm . Oder anders ausgedrückt: Vor Caesar gab es ganz andere V orstellungen und Konzeptionen von diesem weiträurnigen geo graphisc hen Gebiet sowie von dessen ethnischen Verhältnissen. Es lebten nach den antiken griechischen Autoren im nordwestlichen Teil Europas die Kelten, und im Nordosten saßen die Skythen. Dabei ist das E thnonym 'Kelten' keine Bezeichnung einer reellen, existierenden ethnischen Grossgruppe mit einem "Wir-Geruhl", sondern schlicht und einfach als eine Kategorisierung von Seiten der antiken Hellenen zu begre ifen , die unter Kelten etwa 'nordwestliche Bar baren' verstanden, wie der Anthropologe Malcolm Chapman vor wenigen Jahren festg estellt hat . D i ese nüchterne Feststellung stellt indirekt die ethn i sche Realität der Kelten in Frage .3 Ich brauche deshalb kaum zu erwähnen, dass Chapmans Erklärung von einigen Keltologen übel au fgenommen worden ist4 bzw. ignoriert wird. In der Mitte zw i schen den Kelten und d en Skythen, d.h. dort, wo sich diese trafen, gab es nach den antiken griechischen Autoren eine M ischkategori e, die Kelto-Skythen genannt wurde. Es ist dies eine hybride Konstruktion, die auf der unwissenschaftlichen Vors tell ung basiert, das s es so etwas wie reine Formen der Kultur oder des Ethnos gibt. Einige Gelehrte neigten früher dazu , diese ethnische Glie d erung rur bare Münze zu nehmen: S ie platzierten demgemäß die Mischkategorie "Kelto-Skythen" dort, wo die Germanen namentlich später auftauchen. Durch die erwähnte Zweiteilung des nördlichen Europa durch die Hellenen, die seit etwa Hekataios bzw. Herodot an fangen von Kelten zu sprec hen , s lässt sich dieses Gebiet umschreiben. Es geht dabei ganz deutlich um eine v erein fachte, schematische Aufgliederung des nordwesteuropäi schen Kontinents, die den damal i ge n ethnischen Gegebenheiten nicht entspricht und auch nie entsprochen hat. Die schematische Zweitei lung wurde durch Caesar in eine Dreigliederung abgewandelt, und zwar so, dass es von jetzt ab zwi s c he n den Skythen und den Galliern die Ge rmanen gibt, wobei nicht nur das Gebiet 4
5
Siehe M. Chapman, The Ce1ts. The Construction of a Myth, Hounds m ill s etc. 1 992. Siehe etwa D. EIlis Evans, Celticity, Celtic Awareness and Celtic Studies, in: Zeitschrift filr keltische Philologie 49-50 ( 1 997), S. 1-27; Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Dar stel lung ihrer Kultur, Wien 1 997, bes. S. 32-5 1 ; siehe ferner Ruth und Vincent Megaw, Do the Ancie nt Celts S t i l l Live? An Essay on Identity and Contextuality, in: Sludia C e l t i ca 3 1 ( 1 997), S . 1 07- 1 2 3 ; Simon James, The Atl ant ic Celts. Anc i ent People or Modem Inven tion?, London 1 999. S iehe Philip M. Freeman, The Earliest Greek Sources on the Celts, in: E tudes celtiques 32 ( 1 996), S. 1 1 -48.
Al!an A. Lund
32
der Kelten von den Galliern und von d en G enn anen abgetrennt wird, sondern auch die B egri ffe teilweise neu besetzt werden. Diese neue Erkenntnis, die gar keine echte w ar , sondern eine Caesarische Konstruktion, setzte sich e i gent lich nur bei den antiken Römern durch. Die antiken griechischen Autoren blieben mit relativ wenigen Ausnahmen wie etwa Dionysios von H ali karnas sos (geboren etwa 60 v. C hr .), Diodor von S izilien ( l . Jh. v . Chr.), Strabo (63 v . Chr. - ca. 2 4 n . Chr l und Plutarch (ca. 4 5 - ca. 1 20 n. Chr.) bei den alten geo - un d ethnographischen Vorstellungen und ethnischen Konzeptionen st e c ken . Dies ist au c h darauf zurückzuflihren, dass Caesar nur anscheinend die Gennanen entdeckt hatte. In Wi rklichkeit hatte er, um eine evidente A n alo gie zu bringen , wie Columbus die Indianer Nordamerikas die Gennanen re c hts des Rheins und demgemäß i hren Lebensraum 'Gennanien' schlicht und einfach konstruiert. Oder genauer ausge drü ckt : Caesar hat die B e zei c hnungen und Begriffe Germani und Germania im Sinn von Land der Gennanen rechts des Rheines konstru iert ; denn diese Sammelbegri ffe werden den damaligen ethnischen Gegebenheiten keineswegs gerec ht . Man kann annehmen, dass Caesar das Ethnonym Germani im nördlichen Gallien, wo es nach ihm Germani cisrhenani gab , vo rgefun den und auf das Gebiet rechts des Rheins üb ertragen oder besser (zurück)proj iziert hat. Dadurch hat er Gennanien als Heimat und Urheimat der Gennanen erfunden. Das W i c hti g ste daran ist aber, dass er ni cht nur das linksrheinische geo grap h i s c he Gebiet 'Gallien' als Ge gensatz zu 'Germanien' , dem Land der rechtsrheinischen Gennanen, begri ffli c h konstruierte, sondern vielIeicht auch g leich zeiti g a ls Gegenbegri ff zu dem ga l Iisc hen Gebiet Nordital iens, Gallia Cisalpina, sowie zur römischen Provinz, Gallia Narbonensis, konzipierte. Caesar reduzierte dabei das von den Kelte n bewohnte Gebiet gewal ti g, was dem gelehrten röm ischen Publikum bestimmt aufgefalIen ist. Er stelIt j a expressis verb i s fest, dass es die Kelten im erweiterten S inn der gri e chi schen Autoren einfach nicht gibt: Nur ein Drittel der Menschen in Gallia Ulterior nennen und verstehen sich ja als Kelten .
Beachtenswert ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der Caesar schon im das wahrscheinlich erst im Jahre 52 v. Chr. geschrieben wurde, diese neue Erkenntnis bringt ; er betont, dass nur ein Drittel der Bevölkerung Galliens Kelten sind oder sich eher als Kelten begreifen: Eingangskapitel des Bel/um Gallicum,
Gal!ia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aqui tani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Gal!i appel!antur. - Das gesamte gallische Gebiet ist in drei Regionen gegliedert. Die eine davon bewohnen die
Belger, die zweite die Aquitaner, die dritte die, die sich selbst Kelten nennen, von
uns aber Gallier genannt werden (Gal!. 1 , 1 , 1 ). 6
Strabo schrieb sein Werk zwischen 1 8 und 24 n.Chr. Siehe Daniela Dueck, The Date and Method of Composition of Strabo's "Geography". in: Hermes 1 27 ( 1 999), S. 467-478.
Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in
A nt i ke und Mittelalter
33
Die in der Forschung noch heute übliche Gleichsetzung von Kelten und Galliern ist demnach problematisch, weil die Gelehrten damit die Sammelbezeichnungen der antiken Hellenen und Römer rur d ie Barb aren Nordwesteuropas ohne Um stände übernehmen. Man verwendet dabei nicht die Selbstbezeichnungen von Ingroups, sondern von Outgroups, wie die zitierte Stelle bei Caesar zeigt, die meistens falsch verstanden wurde. So paraphrasie rt ein Gelehrter die Stelle folgendermaßen: "Caesar überliefert, dass jenes Volk, das von den Römern als Galli bezeichnet werde, sich selbst Celtae nenne.,, 7 Dem sei noch hinzugefügt, dass kein antiker oder mittelalterlicher Quellenautor davon berichtet, dass sich die Menschen etwa in Britannien oder in Irland Ke lten oder Gallier genannt hätten. 8 Zurück zu Caesars Konstruktion der Germanen! Auffallend ist bei ihm, dass er von Germanen berichtet, die den Rhein überquert hätten und nach Gallien e ingewan dert seien . Man könnte meinen, dies widerspreche seinem Konzept, nach dem der Rhein die ethnische Grenzlinie zwischen den Galliern und den Germanen bildet. Das ist aber nicht der Fall; denn die E inwanderungen von Germanen nach Gallien zeigen bloß, dass es um Eingewanderte im antiken Sinn geht, d.h. um im Lande ni cht ursprünglich ansässige Menschen, was wörtlich für Nichteingeborene steht, war doch in der Antike die Vorstel l ung weit ver breitet, di e ersten Menschen seien an verschiedenen Orten in der Urzeit im Sinn des Wortes aus der Erde entsprossen. Den entscheidenden Be itrag zur antiken Konstruktion der Germanen - und somit zur späteren Rezeption derselben von der Renaissance bis heute - lieferte der römische Ethnograph Cornelius Tacitus mit seinem "Goldenen Büchlein", der Germania, d ie wahrscheinlich im Jahr 98 n. Chr. gesch rieben wurde. Waren die Germanen zunächst, d.h. bei Caesar, Menschen, di e in erste r Linie rechts des Rheins lebten in einem Gebiet, dessen Um fang und äußerste Grenzen im Norden und im Osten noch unbekannt waren, änderte sich dies zum Te i l über die nächsten rund 90 Jahre, bis dann Pomponius Mela etwa 43 n. Chr. das von Gennanen bewohnte Gebiet, Germanien, präzisiert (De chorographia !ihr; tres, 3 ,25 u. 3 1 ) :
Gennania hinc ripis eius usque ad Alpes, a meridie ipsis Alpibus, ab ori ente Sannaticarum confinio gentium, qua septentrionem spectat Oceanic o litore ob ducta est. [ . . . ] S upe r Albim Codanus ingens sinus magnis parvisque insulis refer tus est. - Germanien wird auf dieser Seite bis hin zu den Alpen von seinen Ufern. im Süden von den Alpen selbst, im Osten von der Grenzscheide gegen die sarmatischen Sttimme und im Norden von der Küste des Ozeans umgeben. [ . .] Oberhalb der Eibe liegt die riesige Codan-Bucht, die voll von grossen und kleinen Inseln ist.
Siehe Alexander Demandt, Antike Siehe James (wie Anm. 4).
Staatsfonnen,
Berlin 1 995,
S. 4 1 3 .
Allan A. Lund
34
Etwa denselben geographischen Raum um schrei bt Tacitus im Jahre 98 n. Chr. dann etwas genauer. Es heißt bei ihm so (Germ. 1 , 1 ) :
Rae ti sque et Pannoniis Rhen o et Danuvio fluminibus, a Sannatis Dacisque mut uo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit, la tos sinus et i n sularum inmensa spatia complectens, nuper cogni ti s q u i b usd am gentibus ac regibus, quos he l i um ap eruit Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus, modico flexu in occidentem versus septentrional i Oce ano miscetur. Danuvius, molli et c\ementer edito montis Abnobae iugo effusus, pluris populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat; septimum os paludibus hauritur. Das Land der Germanen insgesamt wird von den Galliern, den Rätern sowie den Pannoniern durch den Rhein und die Donau, von den Sar maten und den Dalrern durch wechselseitige Furcht oder durch Gebirge ab gegrenzt. Die übrigen Gebiete umgibt das Weltmeer, das breite Landvorsprünge und Inseln unermesslicher A usdehnung umschließt. Erst unlängst hat ein Krieg dort den Zugang zu einigen unbekannten Stämmen und Königen erschlossen. Der Rhein, der auf einem unzugänglichen und steilen Gipfel der Rätischen A lpen ent springt, vereinigt sich nach einem leichten Bogen gegen Westen mit dem nörd lichen Meer. Die Donau, die einem sanften und allmählich ansteigenden Rüclren des Abnobagebirges entströmt, besucht mehrere Völker, ehe sie sich mit sechs Armen ins Schwarze Meer ergießt. Eine siebte Mündung verliert sich in Sümpfen. Germania o m n i s a Gallis
.
-
Auffallend an dieser Besc hre i bung de s germani schen Raumes ist, dass Tacitus kein einziges Wort v erl i ert über die zwischen 82 und 90 n. Chr. konstituierten rö m i sc hen Provinzen Germania Superior und Germania Inferior, die nicht nur in literarischen Texten, sondern auch inschriftlich bezeugt sind, wo sie Germania utraque bzw. duae Germaniae heiß en Nicht auffallend ist d age gen , dass Tacitus den Namen und Begriff Germania libera für d as von Römern nicht eroberte Gennani en weder kennt noch b enutzt ; denn dieser Name wurde erst in der Neuzeit erfunden. 9 Auch die Wortv erb i ndung Germania libera war i n der Antike unbekannt. Was schliesslich den Begriff Germania magna betrifft, war er Tac itu s unbekannt, auch gab es, soviel ich weiß, diese Wortverbindung im Late in i schen nicht. Dage gen g i bt es bei Klaudios Ptolemaios die Bezeichnung megale Germania, d.h. Großgermanien . 1 O .
Mi t sei ner Umschreib ung der äußeren geo graphi sc hen Grenzen G erman ien s will Tacitus vor allem die seit der Urzeit isolierte Lage der Germanen hervor heben, Sie leben nämlich, wie er i ndi rekt sagt, in ei ne r anderen Welt, die nur von einzelnen Schiffen aus der römischen We l t (ab orbe nostro) besucht w ird (Germ. 2, 1 ). Ihre kulturelle Rückständigkeit, die schon Caesar ange schn itten, und d i e Pomponius Mela noch betont hatte, liegt demnach sozusagen auf der Hand; denn die Germanen leben nach Tacitus jense its der sichtbaren geo9
10
Vgl.
Helmut Neumeier, 'Freies Germanien' / 'Germania libera'
rischen Begriffs, in: Ge rm ania 75 { I 997), S. 5 3-67. Vgl . Mari a R.-AJfflldi, Germania magna - nicht libera, in: bes. S. 48.
-
Zur Genese e i nes
histo
Germania 75 ( 1 997), S. 45-52,
Die Erfindung Gennaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
35
graphi schen Grenzen des Rheins und der Donau und somit i m B ewussts ei n der Römer j en se i ts der damit zusammenfallenden kulturellen Barrieren, d.h. in ei ner ganz anderen und fremden Welt. Da bei i hnen weder Götter noch Menschen aus der antiken Welt je als Kulturbringer zu B es uch gewesen sind, ist ihre Lebens weise im G anzen noch immer, wie sie ursprünglich war. Die Germanen si nd demnach kulturell fast unentwickelt ge bli eben und befinden sich im Grunde in einer anderen Zeit oder, wenn man so w i l l , auf einer anderen Zeitstufe. Sie sind, mit anderen Worten, un zi v i l i si erte Barbaren. Dem sei hinzugefügt, das s der an tike römische Barbarenbegriff mit dem gr iech ischen oder eher hellenischen Bar barenbegriff nicht völlig identisch ist und nur zum Teil konverg iert . Für die antike n Hellenen waren im Prinzip alle Nichthellenen Barbaren; denn die Fremd en konnten gar n i cht Hellenen werden, auch dann nicht, wenn sie die wi chti gsten Vo raussetzungen dafür erfüllt hätten, d.h. die hellenische Sprache erl ernt und sich die hellen i sche Paideia zugeeignet hätten. Selbst dann wurden sie stets aus dem Hellenenturn ausgegrenzt und für Fremde gehalten. Es gab demnach zwischen den antiken Hellenen und allen Barbaren ein a sym metri s c h e s Verhältnis, was so zu verstehen ist, dass Hellene und B arbar zusammen ein uni 11 versell es, komplementäres, bipolares und asymmetrisc he s B egri ffsp aar bilden. Die P o s it ionen sind ja nicht austauschbar, auch schließen sie eine dritte Mög l i chkei t bzw. Variante aus. Bei den Römern änderte sich dies zum Teil, was vielleicht daran liegt, dass sie sich ursprünglich zu den Barbaren, d.h. zu den Nichtgriechen zäh lten. Sie hatten, mit anderen Worten, zunächst den helle nischen B arb are nbe gri ff ohne weiteres übernommen. Nach römischem Daftir halten gab es G riech en, Römer und Barbaren. Bei dieser neuen begrifflichen Konstruktion des ethnischen Weltbildes hatte sich evidentermaßen ein iges geändert. Di e Barbaren waren vor allem in der frühen römischen Kaiserzeit Menschen, die noch nicht ins röm i s che Reich eingeg l ie dert worden waren. Der römische Barbarenbe gri ff beinhaltet demnach - völlig im Unters chi ed zum hel l enischen - eine zeitliche Komponente , auch ist er nicht exklusiv. Auf der anderen Seite gingen die Römer, was etwa Sprache und Sprechen betrifft, mit den Hellenen darin kon form, dass die Barbaren im Grunde keine Sprache hatten. Sprachen doch die Römer immer von den beiden Kultursprachen wie von ei nem 12 Paar (utraque Iingua; uterque sermo). Nach diesen klärenden B em erkunge n zu dem rö mischen B arb arenbegri ff können wir uns j etzt kurz der F rage nach der Authentizität des Germanenbildes im ersten Teil der Germania des Tacitus zuwenden (Kap. 1 -27, 1), der vor allem den Stoff ge l iefert hat, aus dem die Deutschen ihr Ge rm an e n bil d gebildet haben. Zunächst grenzt Tacitus, w ie s chon geze i gt, die Lage der Germanen insgesamt IJ 1
2
Siehe die grundlegende Arbeit von Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Se mantik asymmetrischer Gegenb egri ffe, in: Vergangene Zukunft, hrsg. von Reinhart Koselleck, Frankfurt am Main 1 984, S. 2 1 1 -259. Vgl. Michel Dubuisson, Vtraque Iingua, in: L'Antiquite Classique 50 ( 1 98 1 ), S . 2 74-286.
36
Allan A. Lund
von der Außenwelt, insbesondere von der zivilisierten We l t, ab, um aus der geographi sch be d i ngte n Isolation der G erm anen i hre k ulture ll e Rü ck ständ i gke it und ihr Barbarenturn herzuleiten. Die postuli erte Abgrenzung der Germanen von Einwanderern i m A l lg eme in en un d i hre Au sgre nzung von der antiken Kultur welt im Besonderen lassen sie nicht nur in einem künstlich et abl ierten geo graph i s che n Raum leben, sondern zeigen auch, dass die Dars tellung weniger als Ethnographi e denn als Paraethnographi e zu verstehen ist - ohne dass man dies durch arc h äo l og ische Arbeiten belegen muss. Es ge ht demnach im ersten Teil der Germania nicht um e i ne ec hte o der vi rtuell e Ethnographie einer bestimmten ethnischen Großgruppe, deren M itgl i eder ein "Wir-Gefühl" haben, sondern um e ine konstruierte Population von an dersartig en B arb aren , d ie de m e nt sprec h end in einer unzivilisierten Welt leben und in einer rauen Umwelt überleben. Aus der behaup teten Isoliertheit der Germanen ergibt sich nach Tacitus zwangsläufig i hr durc hau s homogenes Äußeres - sie sind nicht mit Fremden vermischt (Germ. 4). Die Barbaren Germaniens sind nach ihm fast noch die Urgermanen: Frauen und Männer sind gleich groß und gleich stark (Germ. 20,3), un d ihr Erscheinungsbild ist gekennze i chnet von ihren großen Körpern, ihren blonden Haaren und ihren blauen Augen und ihrer rauen Stimme, was alles letztlich auf den E i nfl u s s der Luftfeuchtigkeit und des Klimas zurückzuführen i st (Germ. 4). Für da s römische Publikum entsp ri cht das Äußere der Germ anen ihrem Inneren; denn dargestellt wird gemäß der physiognomischen Denkweise der Antike ei n C haraktertyp , und zwar der des aggress i v en Menschen - des homo iracundus, wi e wir d i e s en vor allem aus Senecas De ira kennen. D i eser Menschentyp, ich hätte beinahe Idealtyp ge sag t , ist vor allem dadurch charakterisiert, dass er leicht in Rage gerät, den Wutausbruch aber s c hne l l w ieder üb ersteht , weil er keine Ausdauer besitzt. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass der Germane schlicht und einfach faul i st : Er schu ftet nicht, um die Felder zu bestellen oder den Boden zu bewässern (Germ. 26). Er ist mit anderen Worten kein Bauer, der sei n tägliche s Brot mühsam verdient, sondern versteht sich als Räuber, der l ieb er i m K ampf " seine Wunden verdienen als die Scholle pflügen möchte" (vgl. Germ. 1 4,3 ). Hinzu kommt noch, dass die germ an i sche Landschaft aus römischer Sicht un schön ist (Germ. 2, 1 ), was te i l s dam it zusammenhängt, dass der Boden nicht b estell t wird , teils darauf zurückzuführen i st, dass er sumpfig ist . \ 3 Di e s ist alles Taciteische Deutung und Darlegung des Wesens des Germanen, d.h. des aggressiven Barbaren. Ü b erh aupt hat in der Taciteischen Darstellung und Interpretation der Germanen deren aggre ssiv e s V erhalten Konseque n zen für die Lebensweise und die Gesellschaftsform, insofern man nach römischem Dafürhalten im Fall der Germanen von Gesellschaftsform oder Gemeinschaftsform (societas) überhaupt sprechen kann; denn die aggre ss iven freien Germanen sind durch i hren Individual ismus (liberIas) charakterisiert, 13
Vgl. Federico Borca, Palus omni modo vitanda, in: The ClassicaJ Bull etin 73 ( 1 997), S. 3 - 1 2.
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
37
wozu passt, dass sie überall bewaffnet auftreten, auch auf der Volksver sammlung (Germ 1 3 , 1 ). Gemäß ihrem aggressiven Gemüt leben sie weit voneinander entfernt und haben auch keine Städte (Germ. 1 6, 1 ). Ich denke, diese wenigen Beispiele genügen, damit klar wird, in wie hohem Maße das Taciteische Bild der Germanen von ethnozentrischen Vorurteilen, Barbaren klischees und -stereotypen sowie literarischen Topoi bestimmt ist. Dem sei hinzugefii gt, dass es im ersten Teil der Germania um eine Betonung der Andersartigkeit der germanischen Barbaren geht, so dass man nicht ohne Grund von einer imaginären Ethnographie sprechen kann. .
Die Germania des Tacitus wurde in den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung nicht besonders häufi g zitiert, jedoch öfter als in dem j üngsten 'Germania' Kommentar von J. B. Rives (Oxford 1 999) angenommen wird. 1 4 Das hängt, wie man vermuten darf, auch damit zusammen, dass die Begriffe Germania und Germani an Tagesaktualität längst verloren hatten: Germanien stand lange nicht mehr auf der politischen Agenda, worüber sich schon Tacitus (Germ . 4 1 ,2) beschwert hatte. Germania und Germanen wurden nach wenigen Jahrhunderten als historische Begri ffe und als Namen der Vergangenheit verstanden. So berichtet (um 5 5 1 n.Chr.) etwa Jordanes (Get. 67), dass die Goten, die nach ihm Franken heißen, die Gebiete der Germanen verwüsten. Zum anderen bleibt und besteht Germania als geographischer Begri ff. Noch Adam von Bremen verwendet den Begriff "Germanien" an einer Stelle (4,4). Der ethnische Obe rbegri ff Germani, der nach Tacitus ( Germ 2 , 3 ) von den Germanen nur den Römern gegenüber als Selbstbezeichnung und -identifikation benutzt wurde, d.h. auf Anfrage (im Sinn der Frage : "Bist du Germane?") wird nur noch selten verwendet, weil sich die verschiedenen Stämme wie immer lieber mit ihren Stammesnamen bezeichnen. Die alten Germanen werden erst nach der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus durch die deutschen Humanisten vor rund 500 Jahren als neue Germanen wiedergeboren und neu belebt. Als solche überlebten sie in der Wissenschaft bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, in der Populärwissenschaft leben sie gelegentlich noch heute, wenn sie unter dem Titel "die ersten Deutschen " verkauft werden. .
Zweiter
Teil: Zur Entdeckung Skandinaviens
Machen wir jetzt einen gewalti ge n Sprung von der Zeit des Tacitus bis zum chri stlichen Autor Adam von Bremen ! Bei Adam von Bremen, der etwa um 1 07 6 sein Werk Historia Hammaburgensis ecclesia, wie er es selbst nennt, ge SChrieb en hat, I S hat die skandinavische Halbinsel ihren Namen noch nicht be-
:4 S e e J . B. Rives, Tacitus Germania, Oxford S
i h
1 999 ,
S. 66 f.
Ich benutze hier und unten als Textgrundlage die Ausgabe
von Bemhard Schmeidler:
Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. Hannover/Leipzig 1 9 1 7 (MGH, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 2).
Allan A . Lund
38
kommen, was darauf zurückzuftihren ist, dass man sie noch ni cht richtig 'ent deckt' oder erkundet bzw konstruiert hatte. Nach dem S prachgeb rauch Adams von Bremen war man e i gentl i ch nicht weit davon entfernt, spricht er doch von Schonen - der Ortsame soll nach heutigen Etymologen mit Skandinavien ver wandt sein -, das er als Halbinsel (fere insula) b etrachtet oder vielleicht wörtlich im Sinn von 'fast eine Insel' versteht. Er schreibt (4,7): .
Sconia
est
pars ultima
Daniae, fere insula; undique e n i m cincta est mari, preter
unurn terrae brachiurn, quod ab oriente continens Sueoniam disterrninat a Dania.
-
Schonen ist der äusserste Teil Daniens ("Dänemarks '�, eine Halbinsel. Sie ist nämlich von allen Seiten vom Meer umgeben, wenn man von einer Landzunge absieht, die im Osten das Land der Sueonen von Danien ("Dänemark'� trennt.
Adam von Bremen kennt auch nicht den Namen 'Skandinavien', das im nach klas s i schen Latein Scadinavia bzw. Scatinavia heißt. Daftir operiert er aber mit einem geographischen Begriff des Nordens, der de m h eut i gen S kan di n av ien b egriff im engeren S inn e ntspr i c h t (3 ,72), besteht doch der Norden bei ihm aus "Danien, Suedien und Nortmannien". (Man bemerke die Reihenfolge, die es auch heute gibt - im Dänischen! ) Es geht aber dabei weder um eine geogra phische noch um eine kulturelle Einheit, wie aus Buch 4,2 1 deutlich hervorgeht: Transeuntibus insulas Danorum alter mundus
aperitur in Sueoniam vel
Nortman
niam, quae sunt duo l ati ssim a regna aquilonis et nostro orbi adhuc fere incognita.
- Wenn man das Land der Dänen passiert hat, dann eröffnet sich einem eine andere Welt in der Gestalt Sueoniens und Nortmanniens. Diese beiden weitaus gedehnten Reiche im Norden sind noch so gut wie unbekannt auf unserer Breite.
Um zu verdeutlichen, warum A dam von Bremen Norden bzw. Skandinavien in ein Ins e l geb i et ( spri ch : die In se l n Dänemarks ) und ein Festland (sprich: Schweden und Norwegen) aufteilt und dabei den letzten Teil eine ganz andere Welt (alter orbis) nennt, ist es unvermeidlich, dass wir zunächst einen kurzen Blick auf die geo- und ethnographische Tradition werfen. 16
Im Mittelalter stellte man sich gewöhn li ch vor, dass die Welt (orbis terrarum) aus den folgenden drei Teilen besteht: Asien, Afrika und Europa. 1 7 Zum Ver gleich hatte man in der grie chisch römi schen Antike bal d mit einer Zweiteilung, bal d mit einer Dreiteilung der We l t operiert, wobei Afrika ohne Ägypten, welches ein Teil Asiens war, oft zu Europa ge zählt wurde. (Dem sei in einer Parenthese hinzugefügt, dass Afrika - außer bei dem antiken römischen Autor S all u st i us C ri spus - übl i cherwe i s e Li byen genannt wurde.) Die drei Weltteile, -
16 17
Zur antiken Vorstellung von alter bzw. alius orbis siehe F ederico Borca, Alius orbis: Percorsi letterari nell' "altrove", in: Atene e Roma N. S. 43 ( 1 998), S. 2 1 -39. Siehe Evelyn Edson, Mapping Time and Space. H o w Medieval Mapmakers viewed their W orl d London 1 997, S. 1 8 ff. ; Folker Reichert, G renzen in der Kartographie des Mittel alters, in: M igratio n und Grenze, hrsg. von Andreas Gestrich u. Marita Krauss, Stuttgart 1 998, S. 1 5-3 9. ,
Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
39
stellte man sich ferner vor, bilden insgesamt etwa eine Scheibe, die auf dem Weltmeer (Oceanus) fließt. Dies ist noch bei Adam von Bremen erkennbar; sagt er doch folgendes (4,3 5): Post Nortmanniam, quae est ultima aquilonis provintia, nihil invenies habitacionis humanae ni si terribilem visu et i n fi nitum occeanum, qui totum mundum amplectitur. A uf der anderen Seite Nortmanniens, das am äußersten Rande des Nordens liegt, leben keine Menschen, denn dort gibt es nur den furchterregenden und unermesslichen Ozean, der die ganze Welt umschließt. -
Diese Vorstellung schlägt sich auch auf andere Art und Weise in dem Sprach gebrauch Adams von Bremen nieder. So trennt er ziemlich konsequent den äußeren Ozean vom inneren Meer, d.h., er unterscheidet gewöhnlich zwischen dem Weltmeer (Oceanus) und der Ostsee (mare Ba//icum). Die Erde stellten sich fast alle mittelalterlichen Geographen wie schon ihre antiken Kollegen wie eine Kugel vor. Dass man sich im Mittelalter gedacht hätte, die Erde sei so flach wie ein Pfannkuchen, wie m an im Dänischen sagt, i st eine moderne Kon struktion, die auf Gelehrte des 1 9. Jahrhunderts zurückgeht. J 8 Die für das euro päisc he Mittelalter typische Dreiteilung der damals bekannten Welt sah man durch das Faktum bestätigt, dass die drei Teile der Erde nach der Sintflut von den Nachkommen Noahs bevölkert wurden, nämlich Sem, Harn und Japhet: Sem bekam Asien, Harn A fri k a und Japhet Europa. Asien, wozu auch unser Kleinasien zählte, wurde als der größte aller Weltteile betrachtet. Er umfasste den ganzen Osten und die halbe Welt und war besonders für das Christentum deswegen wichtig, weil sich dort Jerusalem und das Paradies befanden. Dem entsprechend war dieser große Weltteil auf den sogenannten T-O-Karten (auch T-in-O-Karten oder O-T-Karten genannt), die im Mittelalter der vorherrschende Typ von 'Landkarten' waren, dem Osten zugewandt, d.h. die Karten waren wörtlich "orientiert" . Dem sei noch hinzugefiigt, dass die Auslegung, wonach "O-T" fiir Orbis Terrarum stehe, wahrscheinlich erst im siebzehnten Jahrhundert entstand. -
Für die antiken Hellenen war die geo- und ethnographische Gliederung wie schon vorher gesagt - ziemlich einfach. Im Nordwesten gab es die Kelten und im Nordosten die Skythen, bis Caesar die Germanen erfand, die Kelten gewaltig reduzierte und die Germanen zwischen den Galliem und den S kythen platzierte. -
Für Caesar wie für seine Z eitgeno s sen war die nördliche Grenze Europas un bekannt. Erst rund 90 Jahre nach Caesar, d.h. im Jahre 43/44 n. Chr. skizzierte der römische Geograph Pomponius Mela in seiner Erdbeschreibung, Chorographia, das gesamte Gebiet der Germanen. Ich verweise auf die TextsteIle, die schon erwähnt wurde. �
Vgl. Jeffrey
.
B. Russel, Inventmg the Flat Earth,
New York 1 99 1 .
40
AHan A. Lund
Man vennisst bei Pomponius Mela etwa die Erwähnung Jütlands, erfährt aber dafür ein wenig über die Inseln im Weltmeer nördlich Gennaniens. Schon Kaiser Augustus (3 1 v. Chr. 14 n.Chr.) hatte den Versuch unternommen, das Gebiet zwischen dem Rhein und der EIbe zu erobern, um dort eine römische Provinz zu konstituieren. Die Römer hörten wahrscheinlich bei der Gelegenheit zum ersten Mal von der EIbe, wie aus dem politischen Testament des Augustus, dem sogenannten Monumentum Ancyranum aus dem Jahr 14 n.Chr. hervorgeht: -
Gallias
et H isp anias provincias, item Germaniam, qua inc lud it Oce anus a
Gadibus
Die gallischen und spanischen Provinzen und ebenso Germanien habe ich befriedet, d h. , ein Gebiet, welches durch den Ozean von Gades bis zur Mündung der Eibe umschlossen wird ad ostium Albis fluminis pacavi.
-
Ebenda sagt er noch, dass seine Flotte gegen Osten bis zum kimbrischen Vor gebirge (promuntorium Cimbrorum) gesegelt sei. Diese Bemerkung hat dazu beigetragen, dass die Kimbern von einigen Laien und vielen Gelehrten in Jüt land platziert und ab etwa 1 6 1 6 vom Dänen C. C. Lyschander als ursprünglich in Jütland lebend betrachtet wurden, wobei der Ortsname Himmerland im Sinn von Kimberland ausgelegt wurde. Außerdem wurde Skagen mit dem promuntorium Cimbrorum gleichgesetzt. Bekanntlich gelang es den Römern nicht, im Gebiet zwischen dem Rhein und der EIbe eine provincia Germania zu errichten. Nach der berühmten Niederlage des Varus im Teutoburger Wald (saltus Teutoburgiensis) im Jahre 9 n. Chr. wurden die diesbezüglichen Pläne endgültig aufgegeben, obwohl ein paar spätere Kaiser vielleicht nochmals mit dem Gedanken gespielt haben über den Rhein vorzudringen. Am Ausgang des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hat der Ethnograph Tacitus demgemäß rückblickend nicht ohne Grund mit Bedauern gesagt, dass die EIbe, einst ein berühmter Fluss, jetzt an Interesse verloren habe. (Tacitus war offensichtlich noch befangen in dem zeitlichen Bar barenbegriff der frühen Kaiserzeit.) Dazu passt, dass derselbe Strom fast völlig aus den historischen Berichten verschwindet, um erst wieder zur Zeit Karls des Großen aus Anlass von dessen Zwangschristianisierung der Sachsen, d.h. gegen Ende des achten Jahrhunderts, aktuell zu werden. 19 Erst ab diesem Zeitpunkt wird di e Erk und ung Skandinaviens wieder aufgenommen, was mit Bezug auf die Aktivität der christlichen Missionare im Norden erklärt werden kann. 19
Eibe i n Politik und lite ratur der Antike. Berichte aus den S itzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissen schaften e.V. Hamburg Jahrgang 1 5 ( 1 997), Heft 4, bes. S . 71 ff.; Klaus P ete r Johne : "Einst war sie ein hoch be rühmte r und wohlbekannter Fluss": Die Eibe in d en Schriften des Tacitus, in: Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezept io n Festschrift rur Karl Christ zum 75. Geburtstag, hrsg von Peter Kneissl u. Volker Losemann, Stuttgart 1 998, S. 3 9 5 -409; Karl Christ, Zentrum, Grenze und Peripherie. Die EIbe in augu stei sche r und tiberischer Zeit, in: Acta Classica 42 ( 1 999), S. 35-45 . Vgl . Jürgen D eining er: Flumen Albis [sie ! statt Albis flumen] . Die ,
-
.
D ie Erfindung Gennaniens und die Entdec kung Skandinaviens in Antike und M i ttel alter
41
Zurück in die Vergangenheit ! Im Jahre 43 n. Chr erwähnt Pomponius Mela einen Ortsnamen, nämlich Codannovia, der sich auf das nördliche Germanien bezieht und von optimistischen Herausgebern in Scandinavia geändert wird, damit die Stelle auf die Ostsee und Skandinavien ve rweist, obwohl die Erwähnung der Orkaden zu Vorsicht mahnt. Es heißt Chorographia 3 ,5 4 etwa folgendermaßen : 2 o .
Triginta sunt Orcades angustis inter se diductae spatiis, septem Hamodae contra Germaniam vectae in i I Io sinu, quem Codanum diximus. ex Hs Codannovia [MülIenhoff et editores recentiores : Scadinavia] quam adhuc Teutoni tenent, [et] ut fecunditate alias, ita magnitudine antestat. Es gibt dreißig Orkaden, die von einander nur durch schmale Zwischenrdume getrennt sind, sowie sieben Hamo dae, die nach Germanien zu gelegen sind in jenem Meerbusen, den wir die Codan-Bucht genannt haben. Von ihnen übertrifft Codannovia, das bis heute die Teutonen bewohnen, die anderen an Fruchtbarkeit und Größe. -
Die Namen der besprochenen sieben Inseln in der Codan-Bucht, die von den Gelehrten ohne zwingenden Grund mit der Ostsee gleichgesetzt wird, hätte man selbstverständlich gern erfahren. Möglich ist, dass sie alle insgesamt "die Siebeninseln" heißen und dass das falsch überlieferte Haemodae etwa durch Hebdomae oder Hebdomades oder Ähnliches zu emendieren ist. Der Name von einer dieser Inseln ist nach Plinius dem Älteren (Nat. 4,96), der kurz nach Pomponius Mela schreibt, Scatinavia: Mons Saevo ibi [ . ] immanem [ ] emcit sinum, qui Codanus vocatur, refertus ..
...
insulis, quarurn c 1arissima est Scatinavia incompertae rnagnitudinis, portionem tantum eius, quod notum sit, Hillevionum gente qui ngentis incolente pagis. quare alterum orbem terrarum eam appellant. Dort bildet ein Gebirge namens Saevo [. . . ] einen riesigen [. . . ] Meerbusen, der Codan heißt und voller Inseln ist. Die berühmteste davon ist Scatinavia, deren Umfang unbekannt ist. Lediglich einen Teil davon bewohnen, soviel bekannt ist, die Hillevionen mit ihren 500 Gauen. Deshalb nennt man Scatinavia eine andere Welt. -
Dies dürfte die älteste uns bekannte TextsteIle sein, wo der Name Scatinavia sicher überliefert ist. Wie wir sehen werden, behält die � e Lokalität ihren Insel status noch lange Ze it .
Bei Tacitus, der um 98 n. Chr. die Germania verfasste, werden die Grenzen und die Ausdehnung Germaniens ein wenig anders angegeben; d enn er kennt, so scheint es, die von Pomponi u s Mela skizzierten geographischen Grenzen des Gebietes und erwähnt noch die Codan-Bucht (Germ. I ) : ,
Das übrige Gennanien umgibt das Weltmeer, das breite Landvorsprilnge und Inseln unennesslicher A u sdehnung umsch l ie ßt . 20
Vgl. Allan A. Lund, Zu Pomponi us Mela 3 ,20 und 3,54, in: Cl ass ica et Mediaevalia 42
( 1 99 1 ),
S. 24 1 -246.
42
Allan A. Lund
Diese TextsteIle ist durch zwei Umstände auffal l end : Zum einen gibt es darin nichts, was darauf hindeutet, dass er Kenntnis von "Jütland" gehabt hat, das einige Jahrzehnte später bei Ptolemaios unter den Namen "Kimbrische Halb insel" bekannt wurde. Dazu passt, dass Tacitus auch an an derer Stelle in der Germania die Kimbern in einer Meeresbucht (Germ. 3 7, 1 ) pl atziert . Es hei ßt folgendermaßen : Eundem Germaniae sinum proximi Oceano Cimbri tenent, parva nunc civitas sed gloria ingens. - An demselben Meerbusen, unmittelbar am Ozean, wohnen die Kimbern.
Zum anderen sind mit den im ersten Kapitel der Germania erwähnten Inseln nicht, wie man bis vor kurzem in der F or schung annahm, die skandinavischen Inseln nördlich des germanisc hen Fe stlandes gem ei nt, sondern Inseln wie etwa B ritannien sowie die erst kurz vorher ( im Jahre 84 n. Chr.) von den Römern durch Agri c o l a entdeckten oder eher wiederentdeckten Orkaden . 2 1 Tacitus spricht auch als Einziger von der suebischen See (Germ. 45 ,2 : mare Suebicum), die höchst wahrscheinlich mit de r Co dan-B ucht, d.h. mit der Ostsee, gleichgesetzt werden kann. Aus skandinavischer Sicht ist von Belang, dass Tacitus als erster die Suionen, die auf einer Insel im Weltmeer leben, erwähnt (Germ. 44,2). Dabei meint er, wie man vermuten darf, eine I nse l , die mit der vorher besprochenen Scatinavia gleichgesetzt werden darf.
Mehrere Jahrhunderte nach Pomponius Mela wurde seine geograp hi sche Skizze Germaniens von Jordanes kopiert. Dieser Autor spricht in seinem Werk De origine actibusque Getarum aus dem Jahr 5 5 1 allerdings n ich t von Codannovia, sondern von Scandza oder Scandzia (Get. 1 6) : A d Scandziae insulae situm , quod superius reliquimus, redeamus. D e hac etenim in secundo sui operis libro Claudius Ptolomeus, orbis terrae discriptor egregius, meminit dicens: est in Oceani arctoi salo posita insula magna, nomine Scandza. [ ... ]. Oe qua et Pomponius Mela in maris sinu Codano positam refert, cuius ripas influit Oceanus. - Wenden wir uns wieder der Lage Scandzias zu, von der wir oben abgeschweift sind. Über diese Insel berichtet nämlich der herausragende Geograph Claudius Ptolemaeus im zweiten Buch seines Werkes folgendermaßen: "Im nördlichen Ozean liegt eine grosse Insel, die Scandza heißt". [. . .]. Von dieser Insel berichtet auch Pomponius Mela, dass sie in der Codan-Bucht liegt, deren Kasten der Ozean bespalt.
Für Jordanes g enügte d ie Besc hrei b ung Melas offensichtlich nicht . Er wandte sich deshalb dem Griechen Klaudios Ptolemaios zu (etwa 85- 1 65 ) , dessen Name latinisiert Claudius Ptolemaeus lautet. Dieser hatte in seinem Werk über Geographie in den Büchern Zwei bis Sieben, die vie ll ei cht schon zwischen 1 3 5 21
S iehe Reinhard Wolters, Eine Anspielung auf Agricola im Eingangskapitel der Germania, in: Rheinisches Museum N. F. 1 3 7 ( 1 994), S. 77-95.
D ie Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens i n Antike und Mittelalter
43
und 1 42 n. Chr. geschrieben wurden, an einer Stelle (2, 1 1 ) eine Gruppe von vier Inseln erwähnt, die östlich der Kimbrischen Halbinsel lagen, die er kennt. Diese Inseln heißen insgesamt Skandiai. Die größte davon heißt auch Skandiai. Die ganze Inselgruppe dürfte nach ihr benannt worden sein. Diese Insel befindet sich vor der Weichsel ( Vistula). Bemerkenswert ist dabei, dass Jordanes jenseits von Sachsen die Kimbrische Halbinsel ansetzt und die Namen einer dort lebenden ethnischen Gruppe erwähnt (2, 1 1 ,7). Bei den beiden folgenden Autoren aus dem sechsten Jahrhundert, die über die Geschichte der Goten schreiben, nämlich der lateinisch schreibende Jordanes und der griechisch schreibende Prokop, findet sich zum ersten Mal das Ethnonym 'Dänen'. Jordanes (Get. 3 ,23 ) schreibt Dani, Prokop (Bell. Goth . 2,25,3) Danoi. Prokop platziert diese Dänen in Jütland, wo gegen Jordanes, der offenkundig schwedophil ist, sie aus Suetidi (d.h. svithiod) stammen lässt. Dies lässt vermuten, dass sie von dem skandinavischen Festland stamme n, das er, um alles durcheinander zu bringen, Thule nennt. Für Paulus Diaconus (etwa 720-799) waren die Langobarden Germanen, die von einer Insel im Ozean ausgewandert waren, die Scadinavia heißt (Hist. Lang. 1 ,3). Diese Auffassung von Skandinavien ändert sich erst bei Adam von Bremen. Er operiert teils mit einem skandinavischen Festland, teils mit skandi navischen Inseln. Gleichzeitig zieht er eine kulturelle Grenzlinie zwischen dem Gebiet der Dänen und dem der sonstigen skandinavischen bzw. nordischen Be völkerungen, die nach antiker Tradition, d.h. nach Plinius dem Ä lteren, wie in einer ganz anderen und fremden Welt (alter orbis) lebend betrachtet werden, was auch mit der weiten Ausdehnung des geographischen Raumes zusammen hängt (4,2 1 ). Ich verweise hier auf das vorher gebrachte Zitat. Adam von Bremen gibt als seine Quelle für die Auskünfte, die er über die Orkneyinseln oder Orcades bringt, die Namen der spätantiken Autoren Martianus Capella (5. Jhd.) und C. Iulius Solinus p. Jhd.) an. In Wirklichkeit zitiert er nicht Solinus, sondern Orosius (5. Jhd.). 2 Dem sei hinzugefügt, dass die antiken Autoren Pomponius Mela, Plinius der Ä ltere und Cornelius Tacitus verschiedener Meinung waren, was die Zahl der Inseln betrifft, die zu dieser Gruppe gehören. Adam von Bremen erwähnt als erster nicht nur Eisbären, die er durch den Ausdruck "weiße Bären" umschreibt (4,32), sondern er ist auch der erste Autor, der Grönland sowie das Wunderland Vinland bespricht (4,3 8). Das ist auffallend. Außerdem bezeichnet er die beiden Länder als Inseln. Das ist auch bemerkenswert; denn dies wurde im Falle Grönlands erst im Jahre 1 902 fest gestellt ?3 Was insbesondere Vinland betrifft, wo angeblich wilder Wein wächst, 22 23
Vgl. Piergiorgio Parro ni, S urviving Sources of the Classical Geographers through Late Antiquity and the Medieval Period, in: Arcti c 37 ( 1 984), S. 352-3 5 8 , bes. S. 354. Siehe Max Winner, The Mysterious Vinland Map, in: Viking Voyages to North America, hrsg. von Birthe L. Clausen, Roskilde 1 993, S. 77-82.
Allan A. Lund
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scheint es bei den jüngeren Gelehrten, die sich mit dieser mythischen und mys tischen Insel befassen, in Vergessenheit geraten zu se in , dass Adam von Bremen das älteste Quellenzeugnis für diese Lokalität ist. Wenn Adam von Bremen Gronland und Vinland ohne Umstände Inseln nennt, so deswegen, wei l man seit der Antike dazu neigte, neuentdecktes Land im Ozean für eine Insel zu halten. Zum Kreis der mythischen Inseln des hohen Nordens geh ört auch Thule. Die erste Erwähnun g Thules verdanken wi r dem antiken Hellenen Pythe as von Mas sal ia, der zwischen den Jahren 3 5 0 und 3 2 5 v. Chr . eine Entdeckungsfahrt gegen Norden unternahm. Seine S chri ft über diese Fahrt, näm l ich Peri Okeanou, die schon in der Antike umstritten war, ist, sehen wir von e i n em direkten Zitat bei Gemi nos aus Rhodos ( 1 . Jahrhundert v. Chr.) ab, nur indirekt überliefert. Der römische G eograph Pom poniu s Mela (Chor. 3,57) platziert Thule gegenüber den Belcae - er meint damit d i e skythischen Bevölkerungsgruppen östlich der Wei ch se l ( Vistula). Me las Thule lag demnach wei t weg entfernt von Pytheas' Thule, dem Tacitus anscheinend zustimmt; denn in seiner Beschre i bung der ersten röm i s chen Umsege l ung B ritanni ens, di e der Eroberer Agri cola im Jahre 84 n. Chr. anordnet, heißt es (Agr. 1 0,4 ) : Ac simul incognitas ad id tempus insulas. quas orcadas vocant, invenit domuitque. - Bei derselben Gelegenheit enldeckJe und bezwang er auch einige unbekannte Inseln, die Orkaden genannt werden.
Bei sp äteren Autoren wie Solinus (22,9), Martianus Capel l a (6,666), Isidorus Honorius von Autun ( 1 ,3 1) und D icuil (7,7-9) hören wir wieder von Thule. Der Letztgenannte identifizierte Thule ebenso mit I s land wie auch Adam von Bremen, der 4,36 schre i bt : (ca. 5 60-636) (Etym . 1 4,66,4),
Thyle nune Island appellatur a glaeie. quia oeeanum astringit. deshalb Island genannt, weil es das Meer erstarren lässt.
-
Thyle wird heute
Diese Textstelle erinnert nicht v on ungefähr an "das geronnene Meer" , das öfters bei den antiken Autoren erwähnt wird, womit letztlich das �ismeer gem ei nt sein dürfte. So hatte Tacitus im Jahr 98 im Agricola (Agr. 1 0,5) vom " trägen Meer" (mare pigrum) gesprochen. Dementsprechend hatte er in der Germania da s "träge und fast unbewegliche Me er" (mare pigrum ae prope immotum) erwähnt, das es nördlich der Suionen gab (Germ. 45, 1 ). Rund 50 Jahre früher hatte Plinius der Ältere (Not. 4 , 1 04 und 3 7,35 bzw. 4,94) dasse lbe "das ge frorene Meer" (mare eoncretum bzw. mare congelatum) genannt. Die b e sp ro chenen Autoren sind vielleicht in ihrer Darstellung beeinflusst durch die Darstellung des Pytheas von Massalia, de r Eismeer und Thule mi tei nander verknüpft hatte. P l ini us der Ä ltere war der Meinung, dass das geronnene Meer nur einen Tag entfernt war von Thule, das wiederum ganze sechs Tage entfernt von Britannien lag. C . Iulius S oli nu s und Martianus C ap el l a meinten aber, dass dieses Meer di es elbe Insel umgebe. Der i ri sche G eograph Dicuil ( etwa 825 n.Chr.) war anderer
Oie Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter
45
Auffassung. Er ging in dieser Frage fast mit dem älteren Plinius konform. In einem Kommentar (Skolion 1 5 0) zu Adam von Bremen heißt es u . a folgendermaßen : Oe occeano Britannico, qui Oaniam tangit et Nordmann iam, magna recitantur a nautis miracula, quod circa Orchadas mare sit concretum et ita spissum a sale, ut vix moveri possint naves, n i si te mpestati s auxilio. - Vom britannischen Meer, das an Danien und Nordmannien grenzt, berichten die Seeleute Phantastisches, dass das Meer um die Orchaden geronnen und so salzig sei, dass sich die Schiffe kaum bewegen können, es sei denn es gibt einen Sturm.
Weiter heißt es bei Adam von Bremen (4,39): Post quam insulam, ait, terra non invenitur habitabilis in iIIo oceano, sed omnia, quae ultra sunt, glacie intolerabili ac caligine inmensa sunt. Cuius rei Martianus ita meminit: Ultra Thilen, inquiens, navigatione unius die mare concretum est. Hinter dieser Insel. sagt er, gibt es im Ozean keine bewohnbaren Inseln mehr, sondern alles, was weiter draußen liegt. ist von Schneemassen bedeckt und in un endliche Nebel gehüllt. Dazu sagt noch Marlianus: Eines Tages Seefahrt jenseits von Thule ist das Meer geronnen. -
Thule ist zu Recht, wie mir scheint, eine Insel auf der Wanderung genannt worden. 24
24
Siehe Vincent H. de P. Cassidy, The Voyage of an I s l and, in: Specu l um 38 ( 1 963), S . 595-602 .
BILDER DES HEI LIGEN NORDENS IN
ANTIKE ,
PATRISTIK UND MITTELALTER
Francisco Molina Moreno
J. Einleitung
-
Der thematische Rahmen dieses Graduiertenkollegs ist, vor allem wegen seiner begrüßenswerten interdisziplinären Orientierung, genauso weitgefachert wie sein Titel anregend ist: " Imaginatio borealis". Ich werde hier eine Rundumschau von mythischen und poetischen Aspekten der imagines der Regionen des Nordens in der Antike und im Mittelalter anbieten. Hierrur werden wir zu einer imaginären Reise zu sagenumwobenen Ländern aufbrechen, Länder wie das der Hyperboreer oder 'Ultima Thule', die in der Phantasie der Menschen der Antike in den nördlichen (borealen) Regionen zu finden waren. Unsere Reiseruhrer, wenn man mir diesen Ausdruck hier gestatten mag, werden die schriftlichen Zeugnisse der griechischen und lateinischen Literatur aus Antike und Mittelalter sein. Wir möchten herausfinden, was die Grundlagen - und zwar textuelle Grundlagen, Que l l en zunächst, aber auch Grundlagen mythischer und historisch religiöser Natur - rur das sind, was wir als "Der Mythos des nördlichen Paradieses" bezeichnen können, also als die imaginäre Verortung der Utopie eines Landes oder eines Paradieses I in den Gefilden des Nordens, und, genereller gesprochen, die Zuweisung heil iger Attribute zu eben diesen Re gionen. Die Gestaltung dieser Verbindung symbolischer und poetischer Vorstellungen (imagines) ist ein Phänomen, das umso mehr reizt untersucht zu werden, wenn wir die tatsächliche Unkenntnis über das nördliche Eurasien in Betracht ziehen, von der wir rur die Geographie der Antike und des Mittelalters ausgehen können. Für die Begründer der großen Zivilisationen Griechenlands und Roms handelte es sich um ein Gebiet mit unwirtlichem Klima, bedrohlich und schwer zu erreichen. Nichtsdestoweniger hatte dieser "Mythos des nördlichen Paradieses" unterschiedliche "Realisierungen", um in Begriffen der strukturellen Linguistik zu sprechen: das Land der Hyperboreer - 'Ultima Thule' (das diesem Mythos vor allem nach den lateinischen Zeugnissen eingebunden wurde), oder die in Richtung Nordwesten gelegene Insel des Kronos, von der Plutarch spricht ( Ober das Gesicht des Mondes, 94 1 a - 942a) und die auch einige Eigenschaften besitzt, die Beachtung verdienen. Das gleiche gilt fiir das Land der Meropen, das von Theopomp von Chios beschrieben wird, das Land der Arympheer, auf die Mein besonderer Dank gilt Edmund Voges, Kiel, der den Text aus dem Spanischen übersetzt hat. Wir m üssen bedenken, d ass die Länder, die wir zunächst d urchgehe n werden, keine Para diese im eschatologischen Sinne sind, obschon sie v ie l e Charakteristika des El ysiums aufweisen.
Francisco MoHna Moreno
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Plinius verweist, und die Insel Talge, die von Mela (III, 6, 58) erwähnt wird. In diesem Vortrag werde ich mit der Überprüfung einiger Zeugnisse des Mythos des Nordens aus der Antike beginnen, über ihre Bedeutung in der Antike nach denken und darüber, was diesem Mythos bleibende Bedeutung verschaffte. Denn es war in der Tat mehr als schwierig, dass dieser Mythos des Nordens im Mittelalter überleben konnte. Bis zum Ende der Antike musste die Invasion der Völker, die "Barbaren" genannt wurden und die ausgerechnet über den limes im Norden in das Römische Imperium eingedrungen waren, bei den Menschen am Mittelmeer eine kaum beruhigende Vorstellung der nördlichen Länder hervorrufen. Und fiir die mittelalterliche Geographie blieb der Norden ein be unruhigender Bereich, der kaum bekannt und schwer zu erkunden war. Im Mittelalter versuchten viele Gelehrte diese geographischen Wissenslücken zu fii l len, indem sie sich der Autorität der antiken Geographen bedienten, die, wie es Strabo (VII, 3, 1 ) zugibt, fortgefahren waren, mit einer mythischen Geo graphie die Lücken im Wissen über unerforschte Gebiete zu fii l len. 2 Allerdings vermittelten schon einige antike Autoren antinordische Vorurteile, die sich augenscheinlich zu bestäti gen schienen, namentlich durch die Einfalle der Nor mannen. 3 Außerdem begann sich ein Zusammenhang zwischen der Gewalt tätigkeit der Invasoren und der Härte des Klimas in den Regionen, aus denen sie kamen, herauszubilden, ein Zusammenhang, der schon im hippokratischen Traktat Über die Lüfte, Wasser und Orte (Kap. 4) angedeutet worden war. Auf diese Weise präsentierten die Märchen- und Phantasiegeschichten, die die Wissenslücken der Geographie hätten fii l len können, keinen paradiesischen oder utopischen, sondern einen abscheulichen und schrecklichen Norden. 4 Das heid nisch-religiöse Fundament des Mythos des hyperboreischen Paradieses, also der Apollon-Kult, war verschwunden, und die Christen konnten sich nun an Jeremia ( 1 , 1 4) erinnern, wo es heißt, dass sich das Böse vom Norden her ausbreiten wird, und sie konnten diesen Satz mit den Einfällen der Barbaren in Verbindung bringen, die ihn zu bestätigen schienen. 5 Dies würde ausschließen, dass man ein Paradies denken konnte, das sich im äußersten Norden der Welt befand: In der Tat kennen wir nicht einen einzigen Text aus dem Bereich dessen, was wir mit 2 3
4
S
R. Dion, La notion d' Hyperboreens: ses vicissitudes au cours de l' Antiquite, in: Bulletin de I'Association Guillaume Bude ( 1 976), Heft 2, S. 1 43 - 1 57, bes. S. 1 50. Ü ber d ie politischen und kulturellen Umstände der ne gati ven Anschauung in Bezug auf
L. De Anna, 11 mito deI Nord. Tradizioni classiche e medievali, Neapel 1 994, S. 1 6 fT. , mit einer Ü berprüfung der wissenschaftlichen Kenntnisse über die nördlichen Gebiete in Spätantike und Mittelalter. Vgl. G. Tardiola, Atlante fantastico deI medioevo, Anzio 1 990, S. 95 ff. Hinsichtlich der Geographie- und Ethnographiegeschichte sind die Bücher von L. De Anna, Conoscenza e immagine della Finlandia e del Settentrione nella c u l tura c1assico - medievale, Turku 1 988 (Ann ales Universitatis Turkuensis, Sero B . Tom. 1 80), u nd ders . , 11 mi to (wie Anm. 3), den Norden, vgl .
vortrefflich.
Vgl . L. De Anna, Conoscenza (wie Anm. 4), S. 3 1 3 .
Bil der des hei l i gen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
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" Visionsliteratur" bezeichnen können und der von Seelenreisen ins Jenseits 6 berichtet, der das Paradies im Norden situiert. Das Gleiche kann man von den Theologen und Bibelkommentatoren sagen, die versuchten, die geographische Lage des irdischen Paradieses zu bestimmen: 7 Fast alle situieren es im Femen Osten oder auch in Mesopotamien oder Armenien, aber mir ist nicht bekannt, dass irgendeiner es am Nordpol platziert. Dies widerspricht offenbar den Daten der Genesis (2, 8). Also sieht es nicht danach aus, dass das Mittelalter bereit war, sich ein uto pisches Land im äußersten Norden der Welt vorzustellen, weder in Bezug auf die Geographie noch im Hinblick auf seine Vorstellungskraft. Aber wenn die mittelalterlichen Geographen sich auf Plinius, Mela und Martianus Capella beriefen, konnten sie - mehr oder weniger christianisiert - das wiedergeben, was jene über die Hyperboreer gesagt hatten. Die Autorität, die die antiken Schriftsteller bei den Gelehrten des Mittelalters genossen, konnte das Überleben des Mythos des Paradieses im Norden erleichtern. Auf diese Weise überlebte der "Mythos des Paradieses des Nordens" trotz vieler Höhen und Tiefen: Im Jahre 1477 übersetzt Enea Silvio de' Piccolomini in dem Teil, den er dem Norden Europas widmet (siehe: Asiae Europaeque elegantissima descriptio, XIII-XV) fast buchstabengetreu, was Diodor von Sizilien 11, 47, über unsere Hyperboreer geschrieben hatte. 8 Dennoch vermögen wir schon jetzt zu sagen, dass die geringe Zahl von Verweisen auf die Hyperboreer in der mittelalterlichen lateinischen Literatur überrascht. Doch auch wenn es sich um ein Randphänomen handelt, ist es von großem Interesse, ob und wie der Mythos der Hyperboreer im Mittelalter fortdauerte. Dies könnte vielleicht das allgemein düstere Bild, das das Mittelalter von den nördlichen Ländern hatte, erhellen. Doch bevor wir mit der Untersuchung der Texte beginnen, sollten wir festhalten, dass der Zeitraum, den wir als Mittelalter verstehen, üblicherweise den Zeitraum ab dem Jahr des Endes des Römischen Imperiums bis zum Jahr der Entdeckung 6
Vgl . u.a. J. Amat, Songes et visions. L' au-delä dans la litterature latine
tardive, Paris 1 985; (ve-Xme siecle), Rom 1 994; und P. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1 98 1 , und ders., Mittelalterliche Visionsliteratur, Darmstadt 1 989. Vgl. U . a. F. Vigouroux, "Paradis" und "Paradis terrestre", in: ders. (Hrsg.), Dictionnaire de la Bible, Paris 1 908, IV. Bd.; M. Alexandre, Entre c iel et terre: les premiers debats sur le site du Paradis (Gen., 2, 8 1 5 et ses receptions), in: B. Deforgue, F. Jouan ( H rsg ), Peuples et pays mythiques. Actes du Veme. Colloque du Centre de Recherc hes Mythol og iq ues de I' Universite de Paris X (Chantilly, 1 8-20 septembre 1 986). Paris 1 988, S . 1 87-224, und J. Delumeau Une histoire du Paradis: le j ardin des del i ces Paris 1 992 (eng!. : History of Paradise: the Garden of Eden in Myth and Tradition, New York, 1 995). Vg l. F. Molina Moreno , De septentrionis geographia fabulosa in fontibus ant iq uae et mediae lati nitati s , in: Romanobarbarica 1 5, 1 998, S . 1 27- 1 42, und derso, De Hyperboreorum renascen ti a (Vortrag vom 1 9. August 1 998 bei den in Nizza abgehalte nen
C I . Carozzi, L e voyage d e I'äme dans l'au-delä d 'ap res la Iitterature latine
-
,
Feriae Latinae Nicenses).
.
,
Francisco Molina M ore no
50
Amerikas umfasst, auch wenn wir uns dessen bewusst sind, dass man aus kultureller Sicht fast ab Mitte des XIV. Jahrhunderts von der Renaissance sprechen kann. Dennoch glaube ich auf Grund dessen, was man im engeren Sinne auf den Bereich der Geographie bezieht, dass man bis 1 492 vom Mittelalter sprechen kann, und danach richte ich mich auch, selbst wenn hiervon abgesehen einige der Autoren, die ich zitieren werde, schon aus tiefstem Herzen Humanisten s i n d . Beginnen wir nun also mit einer Darstellung des Mythos des Landes der Hyperboreer und anderer, die ihm ähnlich sind, auf Grundlage der literarischen Quellen der griechischen und lateinischen Antike. 9 Danach werde ich die Formen untersuchen, in denen bestimmte Züge dieser Mythen im Mittelalter 10 fortdauerten. IL
Bilder des heiligen Nordens im klassischen Altertum
Ich werde ve rsu che n, diesen Teil meines Vortrags möglichst kurz zu halten, zumal der Inhalt, den ich hier behandeln möchte, dem der ersten Vorträge der Ringvor1esung "Ultima Thule: Bilder des fremden Nordens von der Antike bis zur Gegenwart" sehr verwandt ist (konkret die Beiträge von Lutz Käppel und Allan A. Lund ) . Ich möchte nur eine Rundschau anbieten, die als Grundlage für meine Beobachtungen darüber dienen soll, was ich meine - so überraschend das auch klingen mag - als den Mythos des "Heiligen Nordens" im Mittelalter bezeichnen zu können. Die Vo rstell ung des heiligen Nordens in de r Antike spiegelte sich in dem Mythos des Landes der Hyperboreer l l w i der, das Pindar (01. III, vv. 3 1 -2) jen seits des No rdwi nd es situiert. Abgesehen von diesem Land werden Sie alle 'Ultima Thule' im Sinn haben, das aber in den Quellen der Antike kaum etwas Paradiesisches hatte (vg1. z.B. Strabo, I, 4, 2). Auch muss man das Land der Arympheer erwähnen (Plinius der Ä ltere, nat. , VI, 34) und das Land der Me ropen, das an das der Hyperboreer angrenzt (Theopomp v.on Chios, FGrH 2b, 9
Dieser Teil unserer Darstellung gründet sich auf unsere Arbeiten von 1 998 (wie Anm . 8) und ders., Haci a el paraiso hiperb6reo, in: L. Gi!, M. Martinez Pastor und R. M. Aguilar (Hrsg.), Corolla Complutensis in memoriam Josephi S. Las so de la Vega contexta. Homenaje al Profesor Jose S. Lasso de la Vega, Madrid 1 998, S. 505-5 1 5 . 10 Vgl . unseren Aufsatz von 1 998 (wie Anm. 8), ders., Paraiso (wie Anm. 9), un d ders., Renascentia, (wie Anm. 8). 1 1 O. Crusius, Hyperboreer, in: W. H. Roscher ( Hrsg.), Ausflihrliches Lexikon der griechischen und römischen Mythol ogie , Stuttgart 1 886-90, Nachdruck Hildesheim 1 965, I, 2, Sp. 2805-283 5 (Anhang von M. Mayer, über die Ikonographie, ebd., Sp. 2836-284 1 ), und Daebritz, Hyperboreer, in RE IX, 1 , Sp. 25 8-279. Für die lateinischen Quellen s. P. Aalto und T. Pekkanen, Latin Sources on North-Eastern Euras i a, 2 Bde., Wiesbaden 1 97580 (Asi at ische Forschungen, Bd. 44).
Bilder des heiligen Nordens in
Anti ke, Patristik und Mittelalter
51
1 1 5 F 75). Und letztlich müssen auch die Inseln von Talge im Kasp is chen Meer (Me la, III, 5 8 ), d i e Hebuden (Solinus, Appendix, XII), die sogenannte Aurea (Avienus, Orbis terrae, 767-77 1 ), in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thule, und die Insel, die von Kronos bewohnt wird und im Westen von B ritannien li egt (P l utarch , Über das Gesicht des Mondes, 94 1 a-942a), genannt werden. Die nördlichen Regionen Europa s sind die Bühne für einige N aturphänome ne , die die Menschen der Antike sehr beeindrucken konnten , wenn sie es denn wagten, sie zu erforschen. Namentlich die verlängerte S on nenein strahl ung um die Zeit der Sommersonnenwende herum ste l lte solch einen extremen Unter schied zwis c hen dem Norden Europas im Vergl e ich zum medite rranen Europa dar, d ass diese Zone in den Augen der Ersten, die es wagten, sie zu erfors ch en , in e i ne übernatürliche Aura geta ucht wurde. Vo n diesem Phänomen sp reche n z.B. Mela (III, 6, 5 7), d er es in 'Ultima Thule' situiert (der gleiche Autor schließt es in seiner Be schreibun g der Hyperboreer e i n, III, 3 6-7), und auch Plutarch ( Über das Gesicht des Mondes, 94 1 d ) , wo er die I n s e l des Kronos beschreibt. Dieser Gott ist auch Nam e n sgebe r für ein gefrorenes Me er, das Plinius (nat. IV, 1 04) erwähnt. Von einem Meer i n di esen Breiten erzäh lt Tac itus F o l g en de s : l2 liegt noch ein anderes Meer, träge und beinahe ohne Bewegung. Dass dieses Meer den Erdkreis abrundet und abschließt, wird dadurch glaubhaft, dass der letzte Schein der bereits hinabtauchenden Sonne bis zum S onnenaufgang in solcher Helligkeit anhält, dass er die Sterne überstrahlt; außerdem - so fügt der Volksglaube hinzu - hört man den Klang der auf
Jenseits von den Suionen
tauchenden Sonne und sieht Umrisse von Pferden und das strahlenumkränzte Haupt (des Sonnengottes).
Welt (Germania, 45).
13
Nur b is
dahin geht - und das
darf man
glauben - die
Genau diese übernatürliche Aura, oder jedenfalls das Bewusstsein dav on , dass es sich um eine andere Welt handeln würde, konnte darauf E i n flu s s neh men , die se Gegen d e n zum S c h aup l atz von Utopi e n und Phantasien zu machen. Die Charakterisierung des Landes der Hyp erbore er und seiner Einwohner folgt dem Modell utop isch er Länder: Man sprach ihnen ein Klima zu, das immer an genehm und von großer Fruchtbarkeit ist, und man glaubte, dass seine Ein wohner die gerechtesten und gl ü c kli chst en Men s chen der We l t w aren , d i e frei von Krankheite n waren und zudem ein bemerkenswert langes Leben hatten (vgl., z.B . Pindar, Zehnte pythische Ode, 24-44, und He kata ios von Abdera, FGrH 3 a 264 F 7). Im Fall des Land es d er Hyp erbore er und der Insel des Kronos handelt es sich um Völker, die dem Kult der Götter geweiht waren , und die Grie c hen g lau bten, dass einige Charakteristika des Apollon-Kulte s au s dem Land der Hyperboreer stammten (vgl . z.B. Pausanias, I, 1 8, 5 und X, 5, 7). Der 12 13
Vgl. L. De Anna, Conoscenza (wie Anm. 4), S. 3 8 , 4 1 -43. Übersetzung von Arno Mauersberger in: Tacitus, Gennania,
.
Zweisprachig. Aus de m Late I
nischen übertragen und erläutert von A . M. , Frankfurt a. M. 1 980, S. 97.
Francisco
52
Molina Moreno
ständig andauernde Frühling und die hervorbrechende Fruchtbarkeit waren auch auf den Inseln Talge, Aurea und auf den Hebuden vorhanden. In Bezug auf Thule ist die Eigenschaft, die alle Quellen betonen, die Verlängerung der täg lichen Sonneneinstrahlung während eines Zeitraums von sechs Monaten, was dazu ruhrte, dass man dieses Land rur den Ruhepunkt der Sonne hielt (Hl. Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIV, 6, 4; vgl. Pytheas, fr. 9 a Mette, 8 Roseman). Aber trotz all dieser paradiesischen und heiligen Charakteristika wurden weder das Land der Hyperboreer noch die anderen Regionen der imaginären Geographie des Nordens als Paradies für die Seelen der Toten angesehen. Es existieren nur einige wenige zweifelhafte Zeugnisse, die dem Land der Hyper boreer diese eschatologische Dimension zusprechen (Bacchylides, Epinikien, III, 58-60; Diodor von Sizilien, III, 59, 6-7; Sophokles, fr. 956 Radt; Horaz, Carm., 11, 20). Dies liegt vielleicht daran, dass ApolIon eigentlich weder ein Seelen geIeiter noch ein Gott des Jenseits ist. IIl. Bilder des heiligen Nordens im Mittelalter
Wie ich schon in der Einleitung erwähnt habe, ist die Vorstellung von Europas Norden im Mittelalter gar nicht positiv gewesen. Zu den historischen Um ständen muss man symbolische Motivationen hinzufügen, wie z.B. solche, wie wir sie finden, wenn die Heilige Hildegard von Bingen in dem Liber divinorum operum simplicis hominis (I, 4, 48) sagt, dass der Norden auf der linken Seite bleibt (was nichts Gutes verheißt), wenn man nach Osten blickt, wo die Sonne aufgeht (was wiederum Jesus symbolisiert) . Nun präsentierte schon eine der ersten Quellen der mittelalterlichen Symbolik, die Clavis, die Meliton von Sardes zugeschrieben wird (2. Jahrh. n. Chr.), ein düsteres B ild des Nordens. Wir lesen in diesem Bändchen l4 (3 , 43), dass der Norden den Teufel oder die Ungläubigen symbolisiert, denn der Prophet sagte, dass die Fl amme des Bösen sich vom Norden her über die Erde ausbreiten wird (und darin gibt es eine Ähn lichkeit zu Jer. , I , 1 4). 1 5 Etwas weiter (6, 1 , 6) hebt der Autor der Clavis diese negativen Konnotationen des Nordens hervor und erinnert an eine Passage des Buches Jesaj a, in der der Teufel sagt: "Ich werde mein Haus im Norden haben, und ich werde genauso sein wie der AIImächtige". 16 Aber es gab auch gelegentliche Wiederbelebungen des Mythos der Hyper boreer. Lassen Sie sie uns schnell durchgehen. Ich meine, dass die Autoren, die dem Mittelalter einige Daten über das Land der Hyperboreer übermittelt hatten, Martianus Capella, VI, 663-4, und der Heilige Isidor von Sevilla, Etymologien 14
IS
16
Vgl. J. P. Laurant, Symbolisme et Ecriture. Le cardinal Pitra et la "Clef" de Meliton de Sardes, Paris 1 988. D. E. Fass, The Symbolic Uses of North, in: Judaism. A Quarterly Journal of Jewish Life and Thought 37 ( 1 988), S. 465-473. Vgl . 15., 1 4, 1 3 , und den HI. Augustinus von Hippo, Conf., X, 36, 59.
j!!lder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
53
(XIV, 8, 7), waren. Vielleicht war es jene erste erwähnte Passage, auf die Adam von Bremen sich bezog, als er im 1 1 . Jahrhundert (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, IV, 1 2) 1 7 sagte, dass die römischen Schriftsteller diej enigen Völker, die im Norden von Dänemark wohnen, Hyperboreer nannten und dass M art i anus Capella sie in v i e l en Lobpreisungen anrief. Mit diesem Verweis wurde die Absicht verfolgt, die Völker des Nordens, die das Christentum angenommen hatten, in ein positives Licht zu rücken (vgl. Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, IV, 2 1 und 3 5). Die große Gelehrsamkeit des Heiligen Isidor von Sevilla erlaubte es ihm, einen der schönsten Aspekte des Mythos der Hyperboreer aufzugreifen: In den Etymologien (XII, 7, 1 9) sagt er, dass in der Region der Hyperboreer, wenn die Zitherspieler sängen, die Schwäne in großen Gruppen hinzuströmten und mit sängen (vgl . Aelian, Über die Natur der Tiere, XI , 1 , der seinerseits Hekataios von Abdera, FGrH, 3a, 264 F 1 2, folgt). Es ist wahrscheinlich, dass Geoffrey of Monmouth hier Isidor von Sevilla folgt, wenn er diese Details wiedergibt ( Vita Merlin;, vv. 1 334 tI.).18 Wir finden ebenfalls Hinweise auf unsere Hyperboreer im Werk von Robert Grosseteste (De natura locorum, pp. 68-9 Baur),19 Roger Bacon (Opus Majus, vol. I' K 1 34 Bridges)20 und Pierre d'Ailly ( Ymago Mund;, I, 1 1 , vol. I, S. 23 2-4 Buron 1 und 1 2, vol. I, S. 238 Buron). Sie versuchten das, was man von dem angenehmen Klima des Landes der Hyperboreer erzählte, mit der Erfahrung der winterlichen Härten der umgebenden Regionen in Einklang zu bringen. Und über dieses angenommene milde Klima wurden die Angaben annehmbar und glaubwürdig, die Mela (III, 3 7), Plinius der Ältere (IV, 89), Solinus (XVI, 3-5) und Martianus Capella (VI, 664) über die mythischen Hyperboreer gemacht hatten.
Schließlich übersetzte Enea Silvio de' Piccolomini, Asiae Europaeque elegan tissima descriptio, XIV,22 in Zurschaustellung klassischer Gelehrsamkeit auf hohem Niveau und mit größerer stilistischer Eleganz als seine Vorgänger (wenn 17 I' 1
9
20 2
1
22
V gl. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis Ecclesiae ponti ficum, hrsg. von G. H. Pern, Hannover 1 846 (MGH, Scriptores, 7), S. 267-3 89, Nr. 8. V gl. Geoffrey of Monmouth, Vita Merlini, in: La legende Arthurienne. Etudes et docurnents, hrsg. von E. Faral, Bd. 3, Paris 1 929, Nachdruck New York 1 973 . V gl. Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste Bischofs von Lincoln, hrsg. von L. Baur, Münster 1 9 1 2 (BGPhMA, IX). Vgl. The 'Opus Majus of Roger Bacon, hrsg. von J. H. Bridges, Oxford 1 897, Nachdruck Frankfurt a. M. 1 964. V gl. "Ymago m undi , texte latin et traduction fran-raise des quatre trait6s cosmographiques de d'Ailly et des notes marginales de Christophe Colomb [ . . . ], hrsg. von E. Buron, Paris '
"
1 930.
V gl Aeneas Silvius Piccolomini, Asiae Europaeque elegantissima descriptio. Veneti i s 1 4 7 7, apud J ohannem de Colonia. Wir haben eine spätere Au sgabe (P ari s ii s , ap ud Galeotum a prato , ad primam Palatii regii columnam, 1 5 34) verwendet. .
Francisco Molina Moreno
54
auch ohne j edes Interesse an einer kritischen Überprüfung der Daten)
fast al les ,
was Diodor von Sizil ien
seinerseits Hekataios von Abdera,
wortgetreu
11, 47 über d i e Hyperb oreer gesagt hatte (der
FGrH, 3 a 264 F 7, al s Quel le nutzte). ,
Aber abgesehen von diesen Wiederbelebungen des Mythos aus der Antike be steht die eigentlich mittelalterliche Version dieses
Mythos darin, dass dem
Polarstern und dem Himmelsnordpol hei lige Bedeutung zugeschrieben wird. Dies bedeutet e ine weitere Manifestation
dessen, was auch schon in dem Mytho s
der Hyperboreer begründet lag : Man sagte, dass sie unter dem Himmelsnordpol
wohnten (Mela, III, 3 6). Lassen Sie uns h i er einige mittelal terl i che Zeugnisse was wir die Hei ligkeit des Himmelsnordpols nennen können .
dessen betrachten,
IIf. 1.
Der heilige Pol im Mittelalter
III. 1 . 1 . Der Pol arstern im Mittelalter ist sehr bemerkenswert, weil sie mit des Nordens als Kardinalpunkt kollidiert. Schon in der Clavis Melitonis, 3 , 28 h e i ßt es, dass der Polarstern23 die hei l i ge Kirche repräsentiert, und zwar wegen der Heiligkeit der sieben Sterne (dies könnte sich auf d i e Analogie der sieben Sterne des kl einen Bären und die s ieb en Sakramente beziehen, obwohl wie es scheint, die Anzahl der sieben Sakramente erst ab dem 1 3 . Jahrhundert offiziell galt). 24 Das Gleiche können wir bei Hrabanus Maurus, A llegoriae in Sacram Scripturam (PL, 1 1 2, 862), lesen. In De universo, 9, 1 3 (PL, 1 1 1 , 272273) sagt Hrabanus Maurus, dass der Polarstern, weil er auf der Achse der Welt Die Symbolik des Polarsterns
der
,
l iegt, den nächtl ichen Raum erleuchtet, ohne j emals unterzugehen. Dies offen bart nicht nur
das
Leben e i nige r isol ierter Heiliger, sondern symb olisi ert
gleichzeitig die gesamte Kirche, denn es ist demzufolge sicher, dass die Kirche unter Mühen zu leiden hat, aber dennoch g i bt
es nichts, was sie zu Fall bringt. Eigenschaften des Polarsterns, die schon in den homerischen Gedichten zum Ausdruck geb ra ch t werden. I n der Jlias, (XVIII, 489) un d der Odyssee, (V, 275) heißt es, dass dieser Stern niemals im Ozean badet, und der Astronom Eudoxos hat wohl im 4. Jahrhundert Folgendes ge l eh rt : "Es gibt einen Stern, der immer am gleichen Ort b l e i bt und dieser Stern i st der Pol des Universums" (fr. 1 1 ).
Das
steht in Einklang
mit
den
,
23
24
Der lateinische Text der Clavis und auch Hrabanus Maurus und Aldhelmus (s. unten) nennen ihn "Arcturus" ; obschon das der Name des Sterns "alpha Bootis" (z. B. bei Ps. Eratosthenes, Cat , 8) ist, entspricht die Charakterisierung, die wir von diesem Stern in den hier angeführten Texten (bes. bei Aldhelmus) finden, dem Polarstern. V gl. Catholic Encyclopaedia, Sacraments, Internet: [http://www.newadvent.org/cathenl1 3295a.htm#IV] .
Bilder des hei ligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
55
Auch spricht Hrabanus Maurus davon (De universo, 9, 1 3 [PL, 1 1 1 , 273]), dass der Polarstern, der in den kalten Regionen aufgeht, das Gesetz des Alten Testaments repräsentiert (diese zweideutigen Konnotationen des Polarsterns waren schon im 7. 8. Jahrhundert bei Aldhelmus, Opera , S. 72, 1 3 25 präsent), während die Pleiaden, die im Osten aufgehen, die Gnade des Neuen Testaments repräsentieren. Ihm zufolge wäre also das Gesetz von Norden her gekommen, um mit rauer Strenge den ihm Unterworfenen vorzuschreiben, dass man die einen fUr ihre Sünden durch Steinigung bestrafe und die anderen mit dem Tode durch das Schwert. Im Gegensatz dazu zeigen die Pleiaden - auch sieben an der Zahl - die Gnade des Neuen Testaments umso klarer, je besser alle Menschen sie ohne Probleme sehen können. -
Obwohl die Konnotationen des Polarsterns beunruhigend sind, wenn wir in Betracht ziehen, dass Hrabanus Maurus ihn mit der Kirche in Verbindung bringt, darf man nicht vergessen, dass das irdische Paradies nach Beda, Hexaem. , I (PL, 9 1 , 43-44), eine Allegorie der Kirche war, genau wie auch für 26 Hrabanus Maurus, De univ. , 1 2, 3 (PL, 1 1 1 , 3 3 4) . Und ein letztes Beispiel für die Heiligkeit des Polarsterns bietet die Legende Lapsus et conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, 11, 2 ff? 7 der Roswitha von Gandersheim, nach der der Polarstern, um den sich das Universum dreht und der nie untergeht, sondern als Stella Maris den Seefahrern den rechten Weg weist, ein Symbol fiir die Jungfrau Maria ist. Aber auf die ununterbrochene Sichtbarkeit des Pols verwiesen schon Anaxagoras (fr. 1 DK) und Eudoxos (fr. 76). Dies fUhrt uns auf die Fährte, dass man schon in der Antike dem Himmelspol einige Konnotationen von Heiligkeit zuweisen konnte, die man im Mittelalter beibehalten hat. Wir werden gl eich noch andere Zeugnisse d i eser Heiligkeit des Himmelspols zu sehen bekommen. ill . 1 . 2. Der Himmelspol und die Achse der Weit In De universo des bereits erwähnten Hrabanus Maurus (De univ. 9, 6 [PL, 1 1 1 , 265 C-D] ) heißt es, dass es zwei Punkte gibt, an denen die Welt gehalten wird, der Norden und der Süden. Um sie dreht sich der Himmel, sie symbolisieren die zwei Testamente und verweisen das Leben der Gegenwart auf das Reich in der 2S 26
2
7
Vgl. Aldhelmus (7.-8. Jhd.), Opera, hrsg. von R. Ehwald, Berl in 1 9 1 9, Nachdruck 1 984 (MGH, AA, 1 5). Über das nach dem Bild des heiligen irdischen Raums begriffene Paradies s. G . Widengren, Religionens värld, Stockholm 1 945 (erweiterte deutsche Übersetzung: Reli gionsphänomenologie, Berlin 1 969; Spanisch von A. Alemany: Fenomeno1ogi a de la reli gi6n, Madrid 1 976, S. 1 39). Auch für die Antike war das Land der Hyperboreer ein Abbild von Delphi: vgl. Hekataios von Abdera, FGrH, 3 a, 2 64 F 7 und 1 2 . Roswitha (ca. 930/940 - 1 002), Lapsus e t conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, hrsg. von P. von Winterfeld, B e r l i n 1 902, Nachdruck Berl inIZürich 1 965 (MGH, S S . rer. germ. in usum scholarum separatim editi, 3 4) S. 148. ,
56
Francisco Molina Moreno
Zukunft. Hrabanus Maurus fügt hinzu, dass diese beiden deshalb als 'Halte punkte des Herrn' beschrieben werden, der damit das Finnament befestigt habe (I Reg. , 2). Es verleiht der Erdachse eine heilige Bedeutung, und dafür sollte ich noch einige Beispiele bringen. Tatsächlich erscheint der Pol (und zwar nicht der geographische Nordpol, sondern der Himmelspol) implizit mit Gott assoziiert, und von dieser Verbindung gibt es einige heidnische Vorläufer, wie wir z.B. bei Senecas Bercules Oetaeus, 5 5 9 sehen, wo Jupiter mit dem Pol assoziiert wird, oder in einem Epigramm aus der Anthologia Graeca, XVI, 2 1 4, wo es Eros ist, der sich des Pols bemächtigt. Von besonderem Interesse erscheint mir die Ver bindung von Kronos mit dem Pol, die wir z.B. in der Octavia finden, die Seneca zugeschrieben wird (V. 396). Wir werden noch andere Zeugnisse dieser Asso ziation zwischen Kronos und dem Pol sehen, aber man muss dabei in Betracht ziehen, dass in diesen Texten der Begriff "Pol" im Sinne von "Himmel" verwen det wird (z.B. bei Ps.-Seneca, Octavia, V. 3 96; vgl. Ovid, Amores, III, 8, 3 5). Dennoch scheint es auch, dass Anaxagoras (fr. 1 DK) schon im 5. Jahrhundert vor Christus den Begriff "Pol" verwendet hat, um sich auf den Mittelpunkt des oberen Teils des Himmelsgewölbes zu beziehen. Und in Zeiten des römischen Reichs verwendete man den Begriff "Pol ", um den Himmelsnordpol zu be zeichnen (Dio Cassius, FGrB 3c, 707, F 4, Zeile 1 8 ; Eukleides, Phainomena, Prooimion, Zei len 1 6 ff. und 64 ff.; Kleomedes, S. 82, Zeile 2 1 Ziegler) oder auch um den geographischen Nordpol zu bezeichnen (Kleomedes, S. 62-72 Ziegler; Dionysios von Halikamassos, Antiquitates romanae, XIV, 1 , 1 , 3). Aber man kann in einigen Zeugnissen der Assoziation des Nordens mit dem Hei ligen sehen, dass das, was den Himmelsnordpol zu etwas Heiligem macht, die Tatsache ist, dass er den festen Mittelpunkt des oberen Teils des Himmelsgewölbes darstellt. Auf diese Weise versichert der Autor eines Epigramms, das in die Anthologiae Graecae Appendix (Ep igrammata demonstrativa, Nr. 3 2 7 ) aufgenommen ist, dass er, als er den heiligen Tempel der Jungfrau Maria sah, glaubte, das Zentrum des strahlenden Pols zu betreten. Hier wird der Begriff "Pol" im Sinne von "Himmel" verwendet, aber das, was er mit dem Tempel der Heiligen Maria vergleicht, ist genau das Zentrum dieses Himmels. Für diese Art des Vergleichs, in der der Himmel mit dem Tempel in Beziehung gesetzt wird, findet sich eine Vielzahl sowohl christlicher als auch heidnischer Zeugnisse (auch das Land der Hyperboreer wurde als ein heiliger Ort beschrieben, und man sagte nach Diodor von Sizilien, 11, 47, dass es dort einen Tempel des ApolIon gab). Die Vorstellung des Himmels als Tempel erscheint z.B. bei Seneca, Bercules furens, V. 3 und, zum Ende der Antike, bei Dracontius, De laudibus Dei, I, 3-4. Dementsprechend gibt es eine Vielzahl von Zeugnissen, in denen umgekehrt die Tempel mit einer Vorstellung des Himmels bedacht werden, z.B. bei Diodor von Sizilien (XVIII, 2 7 4) und in der Anth% giae Graecae Appendix (Epigrammata demonstrativa, 3 02, 3 03, 305, 3 1 2, 323 und 382). ,
�i1der des hei l igen Nordens in Ant i ke , Patristik und Mittelalter
��'
57
Andererseits ist di e Erhöhung auch e i ne numinose Qualität des Himmels, und diese E rh öh ung findet ihren höchsten Ausdruck am nördlichen Himmelspol, wie man es sch on von Anax agoras (fr. 1 DK überliefert von Diogenes L ae rti o s , 11, 9) und Aratos (I, 1 9-27) bis zu einem ausgesprochen wi ch ti gen Zeugnis, und zwar dem des Alexander von Aphrodisias in se inem Kommentar zu den meteoro logischen Traktaten des A ris toteles , S. 70 Hayduck, findet. Es lohnt sich, diesen Text zu übersetzen, weil er Verweise auf Details enthält, die die Basis einer Zuwe i sung von Heiligkeit zum Pol bilden konnten : Dafiir, das s die Teile, die dem Großen Bären (d.h. dem Norden) zugewandt sind, höher liegen, ist ein gutes Argument, dass [schon] die Mehrzahl der alten Meteorologen glaubte, dass die Sonne nicht vertikal unter der Erde her, sondern horizontal um die Erde herum wandere, und zwar weil dieser Teil der Erde höher sei und die Sonne, wenn sie in d ie sen Bereich gerate, unsichtbar werde und [ so] die Nacht erzeuge.
, Außerdem sehe man den Himmelspol immer, und um ihn drehe sich das Universum. Dies s i nd C harakterist i ka, auf die schon Eudoxos (fr. 1 1 un d 76 und ; ' ,: Ps.-Eudoxos, Ars astronomica, col. 6), Aristoteles, De caelo ( 28 5 b 9) (und der ;: i ' pseudo-aristotelische Traktat De mundo [39 1 b 1 9-392a 1 ff.]), und Eukl ides , " r Phaenomena ( P ro o i m i o n, Zeile 64 Menge) h i nde ute n . Eben dieses griechische ' :\ Wort " P o l" wird aus der Wurzel des Verbs gebildet, das auf Griechisch / ' �kreisen" bedeutet, wi e schon Aristophanes , Aves ( 1 82-3), festste l lte . Und es ist : ':'i' von großer Bedeutung, dass der Pol eine p os i tiv e Deutung als festes Zentrum : ,:' :: ' erflihrt, das immer im oberen Teil des Himmelsgewölbes zu seh en ist und um T�, ,das s i ch das ge samte Universum dreht : So sagt z.B. D ionys i o s von :' ,' Halikarnassos, Antiquitates romanae (11, 5, 3), dass für diejenigen, die nach '( 1 ' :. Osten schauen , die Teile, die im Norden liegen, auf der linken S e i te bl e i ben , ;�i:: , , aber d ass diese mehr Wert hätten, weil sich im Norden das eine Ende der ',: ;:\ ':Weltachse erhebt und sich um si e das Un iversum dreht. Und außerdem , s ch l ießt ' 1!}: " Dionysios von Halikamassos, sei der eine, als arktisch bezeichnete von den fiinf I ' , ! � : ' Kre isen, die die Sphäre umkre i sen , immer sichtbar. /'\ " \ !i(,;: : , D ie Eigenschaften von Erhöhung und Zentrum in Verb i ndun g mit dem Hei<; : ; Ügen ersche i nen sehr klar, z.B. im Merobaudis Carmen (I, 5 -6) au s dem 5 . Sr: Jahrhundert nach Christus. Und die Vita Landiberti Episcopi Traiectensis, ,:i auctore Stephano (S. 386, 1 6 ff. Krusc hi 8 sagt, dass Gott in "den höchsten Höhen des Pols " re s idiere . Aldhe lm u s, De virginitate, XL (S. 292, 9),29 spricht von der Jungfrau Maria, die verd i ene , in ihrem Schoß den "König der Welt und Herrscher des Pols" zu tragen . Und in den Versen 1 1 19 ff. des Carmen de virginitate des g l ei chen Autors erscheint der Pol als P aradi e s und Sitz der .
,,
28
29
Vg l. B . Kru sch , in: MG H , SS. rer, m ero v . , Bd. 6, Hanno ver/Leipzig 1 99 7, S. 385-392, Nr. 1 2, 2. Vgi. Anm. 25 .
1 9 1 3 , Nachdruck
Francisco Molina Moreno
58
Glückseligen . Es heißt dort, dass der Ewige Vater, dessen Gesetze den Hei l i gen den Sieg beschert, die Pfeile zerbrach, die die Märtyrer quälten, und dass diese " zu den hohen Gewölben des himmelhohen Pols" gelangten. Auf diese spielt das Gedicht auch als Heimstatt der Heiligen und Märtyrer an (auch in den Versen
1 227, 1 8 8 1 Locediensis ,
286 1 /2). 1 0 / 0 heißt
und
I n den es
Vita et Miracula Sancti Bononii abbatis
einfach,
dass
die
hei l i ge
Hauptfigur
zum
"unbeschreiblichen Ruhm der Pole " aufstieg. Und dieser höchste Punkt im Himmel ist demnach der S itz Gottes und der Glücksel i gen, und auf ihn verweisen die " hohen Gewölbe des himmelhohen Pols " , die in den genannten Texten erwähnt werden, so wie auch in den Versen
5 703/4
der
Vita metrica s. Anselmi Lucensis episcopi auctore Rangerio. ] 1
Diese
sind besonders interessant, weil sie darauf verwei sen, was die Engel schöre als Loblied des Triumphs in den Gipfeln des Pol s singen. Und in dem Traktat
Musica disciplina
des Aurelianus
Reomensis (9. Jh.)
sagt dieser, dass die Engel 32 ein weiterer
auf dem Gipfel der Sterne die Loblieder auf den Herrn sängen,
Hinweis auf den Himmel snordpol in B ezug auf seine zentrale und erhöhte Stellung im Himmelsgewölbe. Dass der Gesang der Engel genau im allerhöchsten Punkt des Pols angesiedelt wird, ist ein i nteressanter Aspekt, wei l er vielleicht eine Spur rur eine Unter suchung l egt, der wir im Rahmen dieses Vortrags nicht bis zum Ende nachgehen können. Ich möchte nur darauf verweisen, dass Texte wie der oben erwähnte vielleicht erlauben, von einer Relation zwi schen dem Himmelspol und der kos mischen Musik zu sprechen. Der Heilige Ambrosius von Mailand spricht von
dem Gesang der Engel als Loblied auf den Herrn, und i n diesem Konte xt
(Enarrationes in XII psalmos Davidicos, [PL, 1 4, 92 1 -2])
erwähnt er auch die
Weitachse, die sich mit der Sanftheit eines ununterbrochenen L iedes dreht und
deren Klang man an den Grenzen der Erde hört. Es scheint, dass man
am
Himmelsnordpol diese kosmische Musik hört, die, wenn auch nicht durch die Sterne, so doch durch d i e Weltachse hervorgerufen wird. Diese Klänge, die von
der Weltachse produziert werden, welche der Heilige Ambrosius mit ähnlichen Begri ffen charakteri siert wie die Sphärenharmonie (z. B .
Scipionis,
V,
3
=
De
re publica,
VI,
1 8),
in Ciceros Somnium
werden also mit dem gleichen Ort (dem
Himmel snordpol) in Verbindung gebracht wie der Gesang der Engel oder der Glückseligen in den Textpassagen, die ich zuvor dargestellt habe.
30 31 32
Hrsg. von G. Schwartz u. A. Hofmeister, Leipzig 1 934, Nachdruck 1 976 (MGH, SS., 3 0, 11. Teil ), S. 1 023- 1 03 3 , Nr. 33. Hrsg. von E. Sackur, G. Schwartz u. B. Schmeidler, Leipzig 1 929 (MGH, SS., 3 0, H. Teil), S. 1 1 52- 1 3 07, bes. S . 1 275 . Vgl. Musica disciplina, hrsg. von M. Gerbert, Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum, 3 Bde . , St. Blasien 1 784, Nachdruck Hildesheim 1 963, I, S. 27-63 , bes. S. 6 1 ; Internet: [http://www.music.indiana.edultmI/9th- I l th/AURMUS_TEXT.html] .
r ;
.'
..mIder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
59
D iese Assoziationen mit Vorstellungen und I deen gehen vom A lten Testament im B uch Hiob (37, 22) l esen wir, dass sich vom Norden her ein goldener Schein erhebt und über ihm der unendliche Ruhm Gottes aufsteigt. And erers eits wird das Loblied des Herrn von den E n gel n und den Sternen gesungen (Psalm 1 48, 2-4; Hiob, 38, 7), und dank des Psalms 1 50, 3-5 wi ssen wir, dass das Lob lied Musik ist (vgl. Cl emen s Alexandrinus, Ecl. , 8, 9, 1 ). In den biblischen Texten, die ich erwähnt habe, scheint es so zu sein, das s di e E nge l für d ie kos mische Mus i k verantwortlich sind. In Griechenland finden wir ebenfalls einige Gottheiten, die mit den Sternen oder mit unterschiedlichen Regi onen des Universums in Verb i n dung gebracht werden. Gottheiten, die auch s i n gen (und , auf die se Weise die Harmonie der Sphären herstellen) und mit den Engeln das , ' , Ikono graph ische E lem ent d e r F l üge l gem e in habe n , s i nd di e Sire nen , die i n d em ', : ' tdythos d e s Er e r s ch e in en (Platon, Staat, 6 1 7b). Vielleicht sollte ich an d ie s er > �teH e von den Iynges sprechen, e i ne seltsame Art von Gottheiten, d i e bestimmte , : tharakterzüge mi t den Engeln und Sirenen teilen und die auch mit den Polen in Verbindung gebracht werden. 33 Wir soll ten uns also einen kleinen Exkurs über Iynges erlauben. 4iese , ,' 34 ';' , Lassen Sie mich mit der F e s t ste l lu n g beginnen, dass mit Iynx "Wendehals,, Jfmeint war (Iynx torquil/a, ein Voge l , der als Talisman ge braucht wurde, um die untre uen Geliebten zurückzubringen),3s und später "Verzauberung,, 36 be fJ.eutete . Unter den Neuplatonikern bezeichnete das Wort im P lural Götter nach ' Pler h ie rarchische n Ordnung, die einem Grad der Emanation des Universums Mtsprach (Damaskios, De principiis, I. Bd., S. 286 und 307 Ruelle). Aber d avo n ,bgesehen, assoziierte man die Iynges mit den unterschied lichen Regionen des Universums, so in den Oracula chaldai'ca, 76, die von Damaskios zitiert werden Parmenidem, S . 59, 23 ff. RueHe). Und in In Parmenidem, S . 95, 1 1 ff. o . " elle, weist Damaskios ihnen die Funktion zu, die Seelen nach oben zu ge" . . .. ', ' .. -ten: In a11 dem sind sie wie die pythag ore i s chen Sirenen und Musen (Plutarch, . Quaestiones convivales, IX, 1 4, 6, 2, 745 d 8-e 3 ; P rokl o s , III. Hymne, vv. 6-8), ' oder wie die Hierarchien der Eng el des Judentums und des Christentums, die " auch mit S tern en assoziiert werden oder doch zumindest mit Regionen des Uni" _ums (A scens io Jesaiae, 7, 1 5, 1 9, 2 1 , 29 und 33 37 für das Judentum; Kyrill v.� Jerus al em , PG, 3 3 , 704 und Cosmas Indicopleustes, 2, 84 und 9 7 für das auS:
'
S ji' !. .
34
35
36
37
Vgl. Francisco Molina Moreno, Las sirenas pitag6ricas y su trasfondo (Vortrag auf dem X.
Spanischen Kongress für klassischen Studien vom 2 1 . bis zum 24. September an der Universität Al cala de Henares Madrid), Vgl. Ari stoteles, Historia animalium, 5 04 a 1 2; ders., De partibus anirnalium, 695 a 23 , und Aelian, De nalura animalium, 6, 1 9. Vgl. Theokrit, ldyllia, 2 , 1 7. Ari stophanes, Lysistrata, 1 1 1 0, und Lukian, De domo, 1 3 , 6. Vgl. As censio Isaiae, griechische Fassung, hrsg. von E. Norelli, Turnho u t 1 995 (C orp us Chri sti anorum, Series Apocryphorum, : Textus; 8 : Commentarius, lndice s) . 7
Francisco Molina Moreno
60 Christentum). Und sie fUhren ebenfalls die Seelen
(Lc. , 1 6, 22).
der
Gerechten i ns
Paradies
Außerdem besitzen den antiken Beschre ibungen zufolge die Sirenen eine
sonderheit, die
Phi l os tr atu s erlaubte, sie
mit
Be
den Figuren mesopotami scher
Kunst in Verbindung zu bringen, die, nach diesem Autor, eben diese Iynges re präsentieren. Die Sirenen hatten, so wie Apollon, eine prophetische Gabe (Od. , 1 2, 1 89-9 1 ). Und Pindar (fr. 52 i Snell-Maehler, vv. 63 ff.) sp ric ht von einem Tempel des ApolIon, der mit Keledones � eschmückt sei. Dies s ind F i guren, die die Antike mit den Si renen identifizierte. 8 Seinerseits beschreibt Philostratus in VA, 6, 1 1 genau den gleichen Tempel wie Pindar (fr. 52 i Snell-Maehler, vgI . auch Pausanias X, 5, 5 ff.), doch Phi l o str atu s gebraucht das Wort Iynges an statt von Keledones und sagt, dass diese Iynges die Ü berzeugungsgabe der Sirenen hätten. Außerdem spricht Philostratus davon, dass die Dachkonstruktion des babylonischen K ön i gsp a las tes ( VA , 1 , 25) den Himmel repräsentierte und das von ihr vier Iynges herabhingen, die von den Magiern "Zungen der Götter"
genannt wurden .
Andererseits sagen die KurzgeJasste und knappe Übersicht der Lehren der Chaldäer von Psellos39 und der 1 7. B ri ef von Michael Italikos,40 dass die Iynges chaldäische Gottheiten seien, und Proklos, Kommentar zu Platos Parmenides, 1 1 99, 3 6 un d Kommentar zu Platos Kratylos, 7 1 , 1 1 4, s t e l l t sie als W esen dar, die zwischen dem Herrn und der Welt stehen. All dies läßt uns an den Nahen
Mittleren Osten denken, zumal auch die Engel des Judentums und sind,4 1 mit unterschiedlichen Regionen des Uni versums assoziiert werden, die Seelen in den Himmel geleiten und Mittler zwi schen Gott und der Welt sind. Außerdem nähern die Flügel sie den Sirenen und der Welt der Vögel an, auf die der Name der Iynges verwe i st. 42 Und schl ießlich sind n ach Proklos, Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Euklides (S. 9 1 , 3 Friedl.), die Zentren aller Sphären und der Pole Symbole der und
C hri stent ums hierarchisiert
" iyngischen" Götter.
IV. Rückkehr zur Antike: noch einige Bilder des heiligen Nordens
Andere Gottheiten, die in der Antike mit dem Himmelspol assoziiert wurden, sind Rhea (Proklos, Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Eukleides, S. 90, 1 4 FriedI.) und Kronos (nach Proklos, Kommentar zu Platos Staat, 11, 2 1 3), wobei außerdem die Weltachse als ein Symbol der Göttin, di e das L eben spendet, gesehen wird. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um Rhea, wenn 38
Vgl. Pausanias, X, 5, 1 2.
1 97 1 , S. 1 85 u. 1 89. Ebd., S . 2 1 3-2 1 5 . Aber man muss beachten, d a ss die Musen un d Sirenen nicht hierarchisiert sind. Und die Vögel wurden als Boten der Götter betrachtet; vgl . 11., 24, 292.
39 E. Des Places, Les orac1es chaldaiques, Paris 40 41
42
�' �er des hei ligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter ' .
61
das Scholion zu Apollonios Rhodios, I, 1 098 in Betracht zieht. Die 27. orphische Hymne, vv. 4 ff., ruft Kybele an, die mit Rhea als Herrin des Pols und des Throns des Zentrums der Welt und als Mutter aller Geschlechter der Götter und Menschen identifiziert wird. Andererseits ist Rhea auch die Frau von !{ronos (11. , XV, 1 87; Hesiod, Theogonie, 453 f.; Ps.-Apollodor, I , 4; Pausanias, VIII , 8, 2), und die Pythagoreer nennen die Konstellationen des Kleinen und Großen Bären "Hände von Rhea" (Porphyrios, Pythagorasbiographie, 4 1 ). Es ist ,neiner Meinung nach wahrscheinlich, dass diese Götter am Pol ihren Platz haben (also an einem Punkt, in dem nach einer von Aristoteles, De spiritu, 484b , l I angeregten Idee der kosmogonische Prozess seinen Anfang nahm43 und , i; �essen Vorhandensein in der griechischen Kosmologie ich bisher noch nicht ;fd:aabe untersuchen können). Denn man brachte diese Götter mit dem Beginn der }:' Welt in Verbindung, d.h. mit dem goldenen Zeitalter: Der "große König des ;\':: illten Pols und der vorherigen Welt" (Martial, Epigramme, XI I , 62, 1 ) ist \ ;/ k!onos, da die folgenden Verse sagen: Unter seiner Herrschaft mußte man nicht ' iten , und es gab wed�r B � itze vo� Königen (ei� Verwe �s auf die Blit� des . :;", Zeus) noch Personen, dIe sIe verdIent gehabt hatten. DIes stImmt mIt der r Cbarakterisierung des goldenen Zeitalters überein (bei Hesiod, Werke und Tage, ,�; .:;vy. 1 09 ff.; Tibull, I, 3, 35-48, und Ovid, Met. , I , 89- 1 1 2 . ) . Dass Kronos, der ';;; ' Herr des goldenen Zeitalters, mit dem Himmelspol assoziiert ist, stimmt mit X: seiner Situierung auf einer Insel im äußersten Nordwesten des Atlantischen t: :, Ozeans in dem Mythos von Sila überein, der von Plutarch erzählt wird (Über j; ' Qu Gesicht des Mondes, 94 1 a-942a). Diese Insel trägt auch Züge der Inseln der , ';> : Seligen, über die ebenfalls Kronos herrschte (Hesiod, Werke und Tage, vv. 1 68 .i{ :' ijOO ff. und Plutarch, Sertorius, 8). Hier ist es bedeutsam, dass diejenigen, die ;;i< .... Insel des Kronos gingen, gemäß dem Mythos von Sila eine Wiedergeburt n (Plutarch, Über das Gesicht des Mondes, 94 1 c). :. JJlaIl
{p
��� iW, ' ' ,Die antike Vorstellung, dass Kronos auf einer Insel im äußersten Nordwesten ��,' � Welt ausruhe (wie es in Plutarchs Traktat Über das Gesicht des Mondes ';;�\f'Brgestellt i �t), gibt uns Anlass �r R�flexion. �uch von 'Ultima �ule' glau�te
' )k\'E:;
dass dIes der Ort war, wohm dIe Sonne SIch wandte, wenn sIe untergmg ikephoros Gregoras, Historia romana, Bd. III, S. 5 1 7), oder dass sie sich dort ,J;� . , d der Sommersonnenwende aufhielt (HI. Isidor von Sevilla, Etymologien, i$ XlV, 6, 4). Man glaubte, dass die nördlichen Regionen der Ort seien, wo die :;� ihre natürliche Ruhestatt nach ihrem Durchlaufen des Himmelsgewölbes , , bebe. Denn nach Geminos, Einfohrung in die Phänomene, VI, 8 f. ( Sphaeropoeia, F 3 76a, 6, 8 f. , S. 26 1 , 1 1 bis 263 , 3), hatte Pytheas erzählt, dass die Eingeborenen dieser Regionen ihm gezeigt hätten, wo die Sonne sich zur Ruhe lege ( Pytheas, fr. 9a Mette, 8 Roseman). Offensichtlich korrespondieren
J} ,
' Sonne
=
=
43
M. Eliade, Traite d'histoire des religions, 8. Aufl., Paris 1 980 (span. : übers. von A. Medinaveitia, Tratado de h istoria de las religiones: morfolo g ia y dialectica de 10 sagrado, 2. Aufl., Madrid 1 98 1 , S. 379-3 84),
62
Francisco Molina Moreno
die nordwe stl ich en Reg i onen , von d enen die Antike sagte, dass dort Thule un d die Insel des Kronos waren, mit dem Punkt, wo die Sonne im Sommer untergeht, und e s ist mehr als wahrs c he i n l ich , dass Pytheas seine Forschungs reisen im S ommer unternahm. Was uns hier interessiert, ist die B e o bachtung, dass der Norden und der Westen in der Antike die Ei gen sch a ft te il e n, Ruhepunkt der Sonne zu sein . Dies e ntspricht einem Grundsc h em a, das durch die Sonnenwende statt durch die Kardinalpunkte b e sti mmt ist. 44 Letztli ch te ilen sich d ie I n s el, auf de r Kronos au s ruht, und di e Insel Thule, wo die Sonne ausruht, ihre Lage im Nordwesten. Dies kann andererseits m i t ein igen Zeugnissen übereinstimmen, die Kronos und die Sonne miteinander in Verb in dung bri ngen , e ine Ve rb i ndung, die Diodo r von Siz i lien, 11, 3 0, 3, den Babyion i ern zuschre i bt . D ieses Z e ugnis entstand, bevor Plutarch seinen Mythos von Sila aufschrieb, in dem die Insel des Kronos genannt wi rd . Andere Zeugnis se die ser Verbindun g von Krono s und Sonne finden sich bei Theon von Smyrna, S. 1 3 0, 22-23 Hiller, und b e i Servius, Kommentar zu Vergils Aeneis, I, 729. Und we nn diese Assoziation von Kronos und Sonne mit der Lage der Insel des Kronos im äußersten Nordwesten der Welt zu tun haben konnte, dann kann g l eichze iti g die Situi erun g eines i mag inären Landes im äußersten Nord en, 4S das Apo l lon geweiht war (namentlich das Land der Hyperboreer), mit einer Assoziation von Apol l on und der Sonne zu tun haben, eine Verbindung, die doch so problematisch i st, dass ich einen kleinen Überbl i c k anb ieten so l lte.
Moreau46 hat schon in den homerischen Gedichten E i genschaften ApoHons au fgezeigt, d ie erl aube n, von seiner Verbindung mit der Sonne zu s prechen . Gehen wir auf die offensichtlichsten ein. Beide sind leuchtend (man nennt Apol Ion Phoibos, seit Il. , I, 4 3 ; vgl. Homerische Apollonhymne, vv. 440 und ff.). Die Pfeile, die Apollon schleudert, d.h. die S trah l en der Sonne (Od. , 5, 479, fiir die Sonne; Homerische Apollonhymne, 45, fiir den Gott von Delphi ) s i nd Grundlage dafür, dass man Apollon den 'Schleuderer' oder 'Werfer' nennt (11. , IX, 404), mit einem sehr ähnlichen Ausdruck also (m it der g l e i chen B e de utung), wie der, mit dem die Sterne bezeichnet werden, d i e auch S trah l en aussenden (Pto l oma io s, Tetrabiblos, III, 1 1 , 1 0). Man sollte hier hinzufiigen, dass beide mit der Zahl S ieb en in Verb i ndun g ste hen : Apo l lon wurde am Siebenten de s Monats geboren (Hesi od, Werke und Tage, 770, und vgl. Kalli mach o s , Deloshymne, vv. 44 45
46
Vgl. A . B all abriga, Le solei! et le Tartare. L'image mythique du monde en Grece archal'que, Paris 1 986, S. 1 75- 1 76. Oder Nordwesten, nach Hekataios von Abdera, FGrH 3a, 264 F 7. Vgl. A . Moreau, Quand ApolIon devint Sole i!, in: A. Bakhouche, A. Moreau et I.C. Turpin (Hrsg.), Les astres. Actes du Colloque International de M o ntpel l ier, 23-25 mars 1 995, Mo ntpe l lier 1 996 (Seminaire d' Etudes des Mentalites Antiques, Publications de la Recherche , Universite Paul Valery, Bd. I), S . 1 1 -3 5 . Vgl. auch P. Boyance, L'Apollon solaire, in: Melanges d'archoologie, d'epigraphie et d' histo i re offerts a Ierome Carcopino, Paris 1 966, S. 1 49- 1 70.
Bilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
63
249 ff.), und Julian, Or. , V, 1 72c-d, nennt die Sonne die "der sieben Strahlen". Aischylos hat schon Orpheus eine Identifikation zwischen ApolIon und HeHos zugeschrieben (8 . 1 3 8 Radt, überliefert von Ps.-Eratosthenes, Catasterismi, 2 4 T. 1 1 3 Kern, und vgl . Fr. 1 72 Kern), und Menander der Rhetor, De epidicticis, S . 6 Russell-Wilson, weist Parmenides (A 20 DK) und Empedokles (A 23 DK) die gleiche Identifikation zu. Andere Zeugnisse der Assoziation von Apollon mit der Sonne sind - und zwar schon in einem pythagoreischen Orbit - die 34. orph ische Hymne und die 3 7. Dissertation, 4-5, von Maximus Tyrius. Beide haben schon einen Vorläufer im 5. Jahrhundert v. Chr. : Namentlich Oenopides von Chios, Fr. 7 DK, der augenscheinlich gesagt hat, dass die Sonne "Loxias" hieß, weil sie die Ekliptik entlangwandere, die in Bezug auf den Äquator geneigt sei (geneigt griechisch loxe). Aber es ist auch so, dass "Loxias" ein Epitheton ApolIons war (seit Bacchylides, Epinikien, XIII, 1 48). M orea u hat diese Assoziation von ApolIon und Sonne mit derjenigen in Verbindung gebracht, die zwischen ApolIon und dem Land der Hyperboreer vermittelt. 47 Er dreht dabei die Argumentation von Kerenyi 48 um: Demnach sei die Assoziation ApolIons mit dem Land der Hyperboreer ein Beweis rur seinen Sonnencharakter, denn in diesem Land würde sich im Sommer das Sonnenlicht über ganze Tage erstrecken. =
=
v.
Zusammenfassung
In all diesen Zeugnissen finden wir das, was den Kern des Mythos der Hyper boreer ausmacht: Die Heiligung des Pols, der als fester Punkt im oberen Teil des Himmelsgewölbes verstanden wird und durch den die Weltachse verläuft, die Himmel und Erde verbindet. 49 Während die Ursprünge der Legende der Hyperboreer in den Ritualen des Apollon-Kultes in Delos und Delphi lagen, nach denen man sich ein Land vorstellte, aus dem ApolIon kam und aus dem seine Verehrer ihm Opfergaben sandten, 50 wurde ausgehend von einer Volks etymologie die Vorstellung entwickelt, dass dieses Land sich in einer Region befand, die sich vom äußersten Nordosten bis zum äußersten Nordwesten der bekannten Welt erstrecke. Auf diese Vorstellung konnten auch b est i mmte As pekte ApolIons Einfluss nehmen, die auf den Norden Europas verweisen und die sich der keltischen Religion annähern 5 1 (so wie auch die vorhandenen Handels47
41 49
so SI
Moreau, ApolIon (wie Anm. 46), S. 26-28.
Vgl. K. Kerenyi, ApolIon Wien 1 937, S. 48. Eliade, Traite (wie Anrn. 43), S . 304-305 und 377-3 80 und W. Schmied-Kowarzik, Frühe Sinnbilder des Kosmos, Ratingen-Castellaun-Düsse1dorf 1 974. . L R. Farne l I, Tbe Cults of Greek States, Oxford 1 896- 1 905, Nachdruck New York 1 977, Bd. 4, S. 99 . F. M. Ahl, Amber, Avallon and Apollo's S i nging Swan, in: AJPh 1 03 ( 1 982), S . 3 73-4 1 1 und M . Mund-Dopchie, La survie Iitteraire de 1a Thule de PytMas. Un exemple de la ,
64
Francisco Molina Moreno
kontakte zwischen Griechenland und den Küsten des Ostseeraums i2• Aber offenkundig ist die Verbindung dieses imaginären Volkes mit dem Pol und der Weltachse in Texten wie dem von Mela (III, 3 6), Plinius dem Ä l ter en (nat. , IV, 89) oder Martianus Capel l a (VI, 663-664, S. 329, 9- 1 6 Dick). Und in Bezug auf die Weltachse hatte Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, I, 1 , gesagt, dass es in den kalten Regionen weniger Krankheiten gebe, weil die Mehrzahl der dortigen Völker nach seiner Ausdrucksweise "unter der arktischen Achse" geboren würden. Dies war eine - wenn auch unter bio-geographischen Aspekten zweifelhafte - Weise, mythische Grundschemata in die Ethnologie zu übertragen. Diese mythischen Grundschemata, nach denen man davon ausgeht, dass der Himmelspol der Punkt sein kann, von dem die Kosmogonie ihren Anfang nahm, können auch die Assoziation des Pols mit den Göttern rechtfertigen, die mit dem Goldenen Zeitalter in V erbindung steh en ( wie Kronos und Rhea). Der Fall der neuplatonischen lynges ist bei unserem derze itigen Kenntnisstand weiterhin problematisch. Nachdem der Ap ollon-Kul t (abgesehen von gelegentlichen gebildeten Re miniszenzen des Mythos der Hyperboreer beim Hl. Isidor von Sevilla, Adam von Bremen, Geoffrey of Monmouth, Robert Grosseteste , Roger Bacon, Pierre d'A i lly oder Enea S ilvio de' Piccolomini) verschwunden ist, kommt diese Heilig keit der We1tachse und des Pols in der Vorste l lung des westlichen Christentums im Mittelalter in anderer Weise zum Ausdruck: die heilige Symbolik des Polarsterns (Clavis Melitonis, 3, 28; Hrabanus Maurus, Allegoriae in Sacram Scripturam, PL, 1 1 2, 862; Roswitha, Lapsus et conversio Mariae Neptis Habrahae Heremicolae, 11, 2 ff.) oder die Assoziation des Pols mit Gott. In den Zeugnissen, die diesen letzten Punkt betreffen, darf man 'Pol' nicht im Sinne von 'geographischer Nordpol' verstehen (der, soweit wir wissen, im Mittelalter überhaupt keine positive Konnotation hatte) , sondern als 'Himmelsnordpol', oder sogar in seinem weiteren Sinn als 'Himmel' , eine Bedeutung, die der Pol schon in der Antike hatte. Das, was dazu führte, das s der Pol mit Gott assoziiert wurde, war die Tatsache, dass er der feste Punkt im oberen Teil des Himmelsgewöl bes war. Und von dem Moment an, in dem er mit Gott assoziiert wurde, konnte er auch als Heimstatt der Seelen der Glückseligen vorgestellt werden. Diese Assoziation mit Gott reproduziert die Ass ozi ati on mit ApolIon, Kronos, Rhea und den mysteriösen heidnischen "iyngischen" Gottheiten, die einerseits den für die Harmonie der Sphären verantwortlichen Sirenen ähnlich waren, und anderer seits den Engeln , die im Judentum und Christentum für die Himmelsmusik zuständig waren. Diese kosmische Musik bestand aus dem Lobgesang des Herrn, den man nach dem Traktat von Aurelianus Reomensis (De musica disciplina) "auf dem Gipfel der Sterne" hörte. Dieser Gipfel der Sterne könnte
52
permanence des schemas antiques dans la culture europeenne, in: L'antiquite classique 59 ( 1 990), S. 79-97. Dion, La notion (wie Anm. 2).
�i1der des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter
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eine Anspielung auf den Himmelsnordpol sein, unter dem nach der Vorstellung der Antike das utopische Land der Hyperboreer lag, das auch einem Gott geweiht war, dem man in G esängen huldigte (Pindar, Zehnte pythische Ode, vv. 37 ff.; Hekataios von Abdera, FGrH, 3 a, 264 F 7), wie dies auch die Seligen im christlichen Paradies tun. Sowohl im Heidentum als auch im Christentum machten die Eigenschaften der Erhöhung und der Festigkeit und der Bezug zu der Weltachse aus dem Himmelsnordpol etwas Heiliges.
DIE EUROPÄISI ERUNG DES NORDENS IN DER FRÜHEN NEUZEIT ZU R WIRKMÄCHTIGKEIT VON LANDSCHAFT EUROPAS
VORSTELLUNG SWELTEN IN DER POLITISCHEN
Olaf M ö rke
Der Überfall der Nordmänner, der Wikinger, auf das Kloster Lindisfarne in Northumberland im Jahr 793 war für die Betroffenen im Wortsinn eine Heim suchung. In das bekannte Eigene brach das Fremde mit gewaltsamer Macht ur plötzlich ein und zerstörte die geheiligten Grundlagen des gesellschaftlichen Seins. So jedenfalls interpretierte es die zeitgenössische Überlieferung. Der im fränkischen Reich lebende northumbrische Mönch Alkuin, der wohl meist zitierte 'Zeitzeuge', berichtet über die Entweihung von Reliquien, Kirchenraub und Priestermord. " Seit fast dreihundertfünfzig Jahren haben wir und unsere Väter in diesem geliebten Land gelebt, und noch niemals wurde in Britannien ein Schrecken verbreitet, der dem vergleichbar gewesen wäre". I Das Anglo Saxon-Chronicle berichtet über das Jahr 793 : In diesem Jahr erschi enen gräßliche V orze i chen über Northumberland und erschreckten die Einwohner in betrüblicher Weise: Es waren ungeheure Blitze, und in den Lüften sah man ents etz l i c he Drachen. Bald darauf folgte eine große Hungersnot, und wenig später [ . . . ] überfielen und zerstörten die Heiden die Kirche Gotte s in Lindisfarne und beg in gen Raub un d Totschl ag 2 .
Heimsuchungscharakter und düstere himmlische Vorzeichen erinnern in ihrer Kombination an ein Erklärungsmuster für die Ereignisse, das die fremden Eindringlinge als Instrument des göttlichen Strafgerichts angesichts der eigenen Sündhaftigkeit sah. 3 Nicht nur die erwähnten Kommentatoren, sondern die Darstellungen in den angelsächsischen Quellen des 9. und 1 0. Jahrhunderts insgesamt schufen damit ein Interpretament für die Wikingerüberfälle, das diese in den eigenen Kulturhorizont christlicher Heils- beziehungsweise Unheilsvor stellungen integrieren ließ. Es ist zu betonen, dass es sich dabei nicht um einen quasi normalen Vorgang der Abstrafung handelte, der alltäglicher Sündhaftigkeit auf dem Fuße folgte. Die Fokussierung auf die strafende Funktion der wikingschen Ü berfälle stellte vermutlich keineswegs bloß eine Ad-hoc-Erfindung durch die betroffenen Zeit genossen dar, die lediglich der komplexitätsreduzierenden Erklärung des in seiner Plötzlichkeit und Unerwartetheit sonst Unerklärlichen diente. Vielmehr
3
Zitiert nach : Regis Boyer, Die Wiki n ge r . Aus dem Französischen von L ind a Gräz, Stutt gart 1 994, S. 1 4 . Zit ie rt nach: Boyer (wie Anm. 1 ), S. 1 3 . S o e xpliz i t auch bei Alkuin. Dazu: Rudolf Simek, Die Wikinger, Münc hen 1 998, S . 26.
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lässt sich die Verbindung zu einer grundsätzlichen Dimension des christlich eschatologischen Weltbildes ziehen, die sich in solcherart Bewertung nieder schlug. Strafgericht und Heilserwartung gingen eine untrennbare Einheit ein, war das Strafgericht doch unabdingbar notwend ig zur W ie d erherste l l un g der eigenen Heilsfähigkeit. In den aus der Perspektive der Betroffenen überlieferten fränkischen und eng lischen Berichten über die Wikingerüberfälle aus dem 9. und 1 0. Jahrhundert zeichnete sich die Verbindung der Bedrohung mit dem geographischen Raum ab, au s der diese kam. Die nördliche Herkunft von Dani und Nortmanni konnte 4 eindeutig ausgemacht werden. Es deutete sich hier ein Konzept von Nördlichkeit an, dessen interpretatorische Wurzel angesichts der geistlichen Autorschaft der Chronistik und Annalistik wahrscheinlich in der Kenntnis alttestamentarisch-eschatologischer Prophetien zu suchen ist . Nur so lässt sich die Verbindung der Erei gnisschi l d erung mit den Hinweisen auf die Funktion der Üb erfälle als göttliches Strafgericht erklären. Der heilsgeschichtlich wirksame Gegensatz von Nord und Süd findet sich z.B . bei dem Propheten Daniel. Er schildert, gleichsam als Vorstufe der Erlösung, den fortwährenden Kampf des Königs des Südens (aus Mittag) mit dem schrecklichen König aus dem Norden (aus Mitternacht), dem Vol lstrecker des göttlichen Strafgerichts. s Nach dem letzten Nordkönig, dem schrecklichsten von allen, "bis mit jm ein ende werde" (Daniel Kap. 1 1 ,45), erfolgt dann die Schei dung zwi schen den Gottlosen und den zur Erlösung anstehenden Gerechten. " Viel werden gereinigt / geleutert vnd bewerd werden / vnd die Gottlosen werden gottlos Wesen fUren / vnd die Gottlosen werdens nicht achten / aber die Verstendigen werdens achten" (Daniel Kap. 1 2, 1 0). Ähnlich heißt es bei Jeremia (Kap. 4, 6-7) : Werffi zu Zion ein Panir autT I HeutTet euc h vnd se ume t nicht I Denn ich bri nge ein vnglilck herzu von Mitternacht I vnd ein grossen jamer. Es feret daher der Lewe aus seiner hecke I vnd der Verstörer d er Heiden zeucht einher aus seinem ort I Das er dein Land verwüste I vnd deine Stedte ausbrenne I das niemand drinne wone.
Weiter im Buch des gleichen Propheten zum gleichen Thema, jedoch mit einer Akzentverschiebung. Das 50. Kapitel spricht nicht mehr von dem aus Norden einfallenden König. Dort übernimmt ein mitternächtlich-nördliches Volk (Kap. 50, 2-3 , 8- 1 0) die Aufgabe des Strafenden "wider Babel vnd das Land der Chal deer" (Kap. 50, 1 ).
4 S
(wie Anm. 3), S. 29-36. Kap_ 1 0- 1 2. Zitate der Bibeltexte nach: Dr. Martin Luther, Wittenberg 1 545 (ND München 1 9 72, hrsg. von H an s Volz).
Dazu: S imek, Wikinger Daniel,
Schrift,
D i e gantze
H ei l ig e
Die E uropäi s ierung des Nordens in der Frühen
Neuzeit
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Es mag erstaunen, dass in Überlegungen zu einem Thema der Frühneuzeit geschichte der Blick zunächst auf die Wikingerzeit gelenkt wird. Dies hat einen höchst simplen, für die Interpretation der Position des Nordens im politisch geographischen Raumgefüge Europas freilich wichtigen Grund. Mit den Wikingereinfällen auf den britischen Inseln und dem westeuropäischen Festland wurde in Europa die Basis eines räumlich verortbaren wertorientiert-normativen Konzeptes der Beziehung von Norden und Süden - oder besser: Nichtnorden gelegt, welches das späte Frühmittelalter mit der Frühen Neuzeit bis in die erste Hälfte des 1 7 . Jahrhunderts verkl ammerte. 6 In diesen gut achthundert Jahren konstituierte und hielt sich im Bereich der Raumbeziehungen bestimmenden kollektiv-ethnischen Identitäten ein Konstrukt, das auf der in der jüdisch-christ lichen Vorstellungswelt fest verankerten heilsgeschichtlichen Komplementarität von Nördlichkeit (Mi ttern ac ht) und Südlichkeit (Mittag) basierte. Spätestens im 9. und 1 0. Jahrhundert wurde jenes heilsgeschichtliche Kon strukt durch den konfliktgeladenen Kontakt zwischen Wikingern auf der einen,
angelsächsischen und fränkischen Regionen auf der anderen Seite auf den euro päischen Raum übertragen. Der in der Chronistik der betroffenen Regionen früh einsetzende Wandel in der Bezeichnung für die Invasoren von den räuml ich un spezifischen Begriffen pagani und barbari zu den lokalisierbaren Dani oder Nortmanni verweist auf die Identifikation des zunächst lediglich heils geschichtlich-abstrakten Nordens mit dem skandinavischen Raum. 7 Skandi navien als europäischer Norden geriet für die westeuropäischen Interpretatoren zur zunächst fremden Anderweit. Ihr gegenüber nahm die Eigenwelt die heils geschichtliche Position des Südens ein. Solcherart theologische Basis des Raumverständnisses hob jedoch die Trennung von Eigen- und Anderweit dadurch dialektisch auf, dass die Existenz des skandinavischen Nordens und dessen Einbruch in die Ei g enwelt zur Vorau ssetzung dafür geriet, den Status eigener Sündhaftigkeit durch das nördliche Strafgericht zu überwinden. Norden und Süden erfuhren durch diese Interpretation eine systemische Verschmelzung, indem beide zu notwendigen Elementen eines sinnstiftenden Handlungs zusammenhanges erhoben wurden. Mit den Wikingereinfällen setzte dergestalt die mentale E uropäi s i erung Skandinaviens ein.
6
Der dem Folgenden zugrunde l i egende Begriff des Normativen beschränkt s i ch nicht auf die 'Norm' als "vorgeschriebenen, sank tion ierten und allgemein geltenden Verhaltens
"über Werte bezeichnet
standard" , sondern umfasst ferner die diesem eingeschränkten Nonnenverständnis
geordneten Orientierungseinrichtungen einer Gesellschaft", die auc h als
'
'
werden. Zur Beziehung von Norm und Wert: Paul Münch, Grundwerte der früh
neuzeitli chen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, i n : Winfried Schulze (Hrsg.), Ständi sc he Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1 988, S. 53-72,
Zitate S.
61. Dazu oben Anm . 4.
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Olaf Mörke
Die Wirkmächtigkeit der heilsgeschichtlich gegründeten Integration Skandi naviens in den europäischen Nonnen- und Vorstellungshorizont blieb kein Phä nomen des frühen Mittelalters. Ihre epochengestaltende Kraft wird dadurch unterstrichen, dass sie in abgewandelter Fonn wieder im Vorfeld und im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges auftauchte. Es sei festgehalten: Die bezüglich der Beziehung zwischen Skandinavien und dem 'Rest' Europas festzustellende Epocheneinheit zwischen dem 9. und dem frühen 1 7. Jahrhundert gründete in einem theologisch-heilsgeschichtlichen Kontext, dessen Interpretation im Detail, wie noch zu zeigen sein wird, freilich Umdeutungen erfuhr. Die für unseren Argumentationszusammenhang wichtigste Umdeutung dieser Beziehung war ein Produkt der Umgestaltung der einheitlich lateinisch-christ lichen Welt im Gefolge der Reformation. Die Herausbildung konfessioneller Blöcke berührte auch und gerade den Platz Skandinaviens auf der macht politischen Landkarte Europas. Die Reformation stärkte einerseits erheblich die innenpolitische Position des Königtums in Dänemark, der skandinavischen Vonnacht bis in das frühe 1 6. Jahrhundert. Andererseits ennöglichte sie die staatliche Konsolidierung des sich 1 523 aus der dänisch dominiert!!n Kalmarer Union lösenden Schweden unter der Dynastie der Wasa. Sie legte damit den Grund für den Aufstieg des Landes zur Dänemark ablösenden Vonnacht des Ostseeraumes. Zusammen mit dem Großteil der Territorien in der Nordhälfte des Alten Reiches fonnten Dänemark und Schweden am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges den Kern des lutherischen Europa. Beide skandi navischen Mächte profilierten sich im Verlauf des 1 6 1 8 durch den böhmisch pfalzischen Krieg ausgelösten europäischen Mächteringens als Vor- und Schutzmächte des Protestantismus und versuchten dies für den Ausbau der eigenen Machtposition im Nord- und Ostseeraum zu nutzen. Der dänische König Christian IV. scheiterte freilich militärisch und musste 1 629 im Frieden von Lübeck seine politischen Ambitionen begraben. Anders Schweden unter Gustav 11. Adolf. Hier entwickelte sich aus der Mischung einer konsequenten Aktivierung des aggressiven Gotenmythos mit protestantischem Sendungs bewusstsein ein außerordentlich erfolgreiches Instrument zur Mobilisierung gesellschaftlicher und politischer Ressourcen für ein expansives Staatswesen, das dem Dominium maris baltiei zumindest nahe kam und seinen Großmacht status bis gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts zu halten verstand. 8 Zu dem ideologischen Aggressionspotential Schwedens, insbesondere zum Gotenmythos unter Gustav 11. Adolf und dem schwedischen Reichskanzler Axel Oxenstierna: Bengt An
karloo, Europe and the G10ry of Sweden. The Emergence of a Swedish Self-Image in the Early Seventeenth Century, in: Göran Rystad (Hrsg.), Europe and Scandinavia. Aspects of the Process of Integration in the Seventeenth Century, Lund 1 9 8 3 , S. 2 3 7-244; Johanne s Burkhardt, Der Dre i ßigjähri ge Krieg, Frankfurt am Main
1 992, S . 5 1 -63 ; Olaf Mörke, Ba
taver, Eidgenossen und Goten. Gründungs- und Begründungsmythen in den Niederlanden, der Schweiz und Schweden in und Nation,
Frankfurt
am
der Frühen Neuzeit, in: Helmut Berding ( Hrsg .), Mythos 1 996 (Studien zur Entwicklung des kollektiven
Main
Die Europäi s ierung des No rden s
in der Frühen Neuzeit
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Der Erfolg der Stilisierung Gustav Adolfs zum Retter des Protestantismus zeigte sich besonders im Rekurs auf die oben erwähnten heilsgeschichtlichen Prophetien. Der Schwedenkönig geriet in der protestantischen Flugschriften propaganda im Reich zum 'Löwen aus Mitternacht' , dem Helden, der aus Norden kommend, das Urteil über die Hure Babyion, die katholische Welt, zu vollstrecken habe. 9 Die Wirkmächtigkeit einer christlichen Vorstellungswelt, die von der dialektischen Beziehung von Nördlichkeit und Südlichkeit ausging, bestand folglich unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, dem späten 1 6. und der ersten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts, in Mitteleuropa fort. Sie unterschied sich aber von der des 9. und 1 0. Jahrhunderts. Zum einen war der Norden als geographischer und politischer Raum in Gestalt des Königreiches Schweden konkret benennbar. Das Bild vom Norden, hier konkret von Schweden, knüpfte sich an ein Konzept von Staatlichkeit, das sich nicht grundsätzlich von dem allgemeinen europäischen Muster unterschied. Schweden griff als Staatsrnacht unter einem freilich charismatischen Führer, der seine besondere Qualität auch aus seiner Nördlichkeit bezog, in einen poli tischen Konflikt ein, in dem es um Prinzipien von Staatlichkeit ging, die im 1 6. und 1 7. Jahrhundert zum politischen Diskurs im gesamten Mittel- und Westeuropa gehörten und kein nördliches Spezifikum darstellten. S tänd is c he 'Libertät' und die als ein Kernelement mit ihr aufs engste verbundene Bekenntnisfreiheit der deutschen Reichsstände konturierten j ene Prinzipien in der Auseinandersetzung während des gesamten Verlaufes des Dreißigjährigen Krieges auf der Seite der reichsständischen Machtkonkurrenten des habs burgischen Kaiserhauses. 1O Indem sich sowohl Dänemark als auch Schweden in Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 3), S. 1 04- 1 32; Sverker Ore dsson, Geschi chtsschrei bung Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krie g Berlin 1 994 (H i stori sc he Forschungen, Bd. 52). Astrid Heyde, Kunstpolitik und Propaganda im Di enst des Großrnachtstrebens. Die Aus wirkungen der gustav-ado l fi ni schen repraesentati o maiestatis' auf Schweden und Deutschland bis zum Ende des Nordi sc hen Krieges ( 1 660), in: 1 648 Krieg und Frieden in Europa, hrsg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling, 3 Bde., Münster 1 998, Textband 2, S. 105-1 1 1 , bes. S. 1 07 f. ; Maria Pfeffer, Flugschriften zum Dre i ß i gj ähri gen Krieg. Aus der Häberl i n Sarn m l ung der Thurn- und Tax i sschen Hotbibliothek, Frankfurt arn Main 1 993 (Regen sburger Beiträge zur deutschen Sprach und Literaturwissenschaft B, Bd. 53), S . 89; eine detaillierte Interpretation der populären p rot estanti sche n Publizistik bietet: Hellmut Zschoch, Größe und Grenzen des 'Löwen von M i tte rnacht Das Bild Gustav Adolfs in der popul ären p ro testant i s chen Publizistik als Beipiel religiöser Situationswahrnehmung im Dreißigjährigen Krieg, in: Zeitschrift für Theo l og ie und Kirche 91 ( 1 994), H. I , S. 25-50. Zur Entwi c kl ung des ständis chen Fre i he its b egri ffes siehe den Artikel 'Freiheit', in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache i n Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Wemer Conze, Reinhart Kose l lec k 8 Bde., Stuttgart 1 9 72- 1 997, Bd. 2, S. 446-456. Im Vorfeld des Dre i ßi gjährigen Krieges erlangt dieser Freiheitsb egriff im spanisch-niederländischen Konflikt der Aus e i nande rsetzun g sein deutlichstes Profil. Dazu: Martin van G el de ren De Nederlandse Opstand ( 1 5 5 5- 1 6 1 0) : van
und Kul t
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den Dreißigjährigen Krieg einschalteten und sich die gemeineuropäischen Legitimationsargumente um die ständische Freiheit zu eigen machten, stellten sie unter Beweis, dass die nördlichen Mächte integrale Bestandteile des europäischen Politiksystems geworden waren. Der Gegensatz von lateinisch christlicher E igenwelt und der nördlichen Anderwelt, welcher die mentale Verarbeitung der Wikingereinfalle bestimmt hatte, bestand nicht mehr. Zu differenzieren ist hier freilich zwischen Dänemark und Schweden Das dänische Königreich gehörte spätestens seit seiner staatlichen Konsolidierung im späten 1 4. Jahrhundert "eher dem 'alten' als dem 'neuen Europa' oder zumindest einer Übergangszone" an und hatte sich als e i genständiger Faktor im europäischen Politiksystem etabliert. I I Wenn folgen d vor allem von Schweden als Kern des europäi schen Nordens die Rede ist, so deshalb, weil von ihm als der neuen europäischen Macht des 1 7 . J ahrhunderts die wesentlichen Impulse fiir die Um und Neudeutung der Stellung des Nordens in Europa ausgingen .
.
Zum anderen indizierte ein zweites Phänomen, dass der Norden durch den Süden im Dreißigj ährigen Krieg im Vergleich zum 9. und 1 0. Jahrhundert eine normative Umdeutung erfahren hatte. Sein Eingreifen in das politisch soziale Geschehen des Südens erschien positiv gewendet Gustav 11 . Adolf, der nörd liche Löwe, war rur die protestantische Propaganda - die ohnehin spärlichere katholische nahm von seiner genuin nördl i chen Qualität keine Notiz - keine, wenn auch heilsgeschichtlich notwen d ige, Gestalt der Finsternis mehr, sondern eine Lichtgestalt. Die Spaltung des einheitlichen lateinischen Christentums in d ie Konfessionskirchen bildete die log i sche Voraussetzung filr diese Wendung. Die mitteleuropäische Gemengelage konfessionsverschiedener Terri tori en ließ die Konfrontation von Tugend und Sündhaftigkeit, von C hrist und Antichrist, im politisch-geographischen Raum ohne die Nord-Süd Dichotom ie zu. Die apoka lyptischen Visionen des Alten Testaments, von denen angenommen worden ist, dass sie die Folie filr die Interpretation d er Wikingere infalle lieferten, konnten von denj enigen in Mittel- und Westeuropa posit i v gewendet werden, die sich durch ihren rechten protestantischen Glauben dem nordischen Löwen' an verwandt filhlten und sich dadurch aus der südlichen Sündhaftigkeit ausn ahmen. -
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Es ist in der F orschung durchaus plausibel vermutet worden, dass in der an Endzeiterwartungen reichen Zeit des späten 1 6 . und frühen 1 7 . Jahrhunderts bei der Kreation des Gustav-Adolf-Bildes auf die "Magische Propheceyung des Paracelsus zurückgegriffen wurde. Paracelsus hatte unter Bezug auf die oben "
'vrijheden' naar 'oude vrij heid' en de 'vrij heid der conscientien', in: E.O.G. Haitsma Mulier, W.R.E. Velema (Hrsg.), V rij heid Een geschiedenis van de vijftiende tot de twintigste eeuw, Amsterdam 1 999, S. 27-52. Zur Bedeutung der ständischen Freiheit als Katalysator mittel- und westeuropäischer Politikkonflikte am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges: Burkhardt, Der Dreißgjährige Krieg (wie Anm. 8), S. 63-90. Heinz Schill i ng Die neue Zeit. Vom Christeneuropa zum Europa der Staaten 1 25 0 bis 1 750, Berlin 1 999 (Siedler Geschichte Europas), S. 1 5 8 f .
11
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Eie Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
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zitierte Jeremiastelle (Kap. 4, 6-7) das Kommen des Löwen aus dem Norden vorausgesagt, der den Antichrist besiege und ein Goldenes Zeitalter des Friedens auf der Erde einleiteY Eine Darstel lung von 1 63 1 132, der Zeit des Siegeszuges der gustav-adolfinischen Truppen durch Deutschland, vor allem durch die Bis tüme r an Mittelrhein und Main in das katholische Bayern, popularisierte ein drücklich diese Vision und bezog sie auf das konkrete Kriegsgeschehen. Das Flugblatt, das auf typische Weise Bild- und Textinformation verbindet, trägt den Titel "Der Mitternächtische Lewe, welcher in vollen Lauff durch die Pfaffen Gasse rennet" . 1 3
Abb. 1 : "Der Mittemächtische Lewe . . . "
Im Textteil geraten die Vertreter der katholischen Kirche zu "Baalspfaffen" .
Deutlich schlägt sich die Anspielung auf den alttestamentarischen Kontext 1
2
13
Gennan Illustrated Broadsheet in the Seventeenth C entury. Histo Studies, 2 Bde., Baden-Baden 1 966/ 1 967 (Bib liotheca B ibli ographic a Aureliana, Bde. 1 7/20), Bd. I , S. 1 3 8; Pfeffer, Flugschriften (wie Anm. 9), S. 89; Zschoch, Größe (wie Anm. 9), 26 f. Deutsche Illustrierte Flugblätter des 1 6. und 1 7 . Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Hann s, 4 Bde., Tübingen 1 985- 1 989, Bd. 2, S. 4 1 4 f. Nr. 237. Siehe dazu im gleichen Band auch die Nm. 299 f. William A. Coupe, Tbe
rical
and Iconographical
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nieder. Der Adler, seit alters auch Symbol Roms als Zentrum der christlichen Welt, steht hier tur den habsburgischen Kaiser Ferdinand 11., der zusammen mit einem Bären die Flucht ergreift. Der Bär verweist auf die zweite Führungsgestalt des katholischen Deutschland, Herzog Maximilian von Bayern. Beide, Fer dinand und Maximilian, werden in ironisierend-denunziatorischer Absicht den "Baalspaffen" - im Bildhintergrund sind ein Kloster und Mönchsgestalten zu erkennen - zugesellt, deren Qualifikation als "feistes Klostervolk" und der Hin weis auf das "Schweine schnauffen" ihre Sündhaftigkeit bloßstellt. Als Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen im November 1 632 fiel, "wurde die Todesnachricht auf den Flugblättern kaum thematisiert, gelegentlich sogar geleugnet. Man beschäftigt sich mit dem Sieger und verkündet in einem Flug blatt aus dem Jahr 1 63 3 'Der Schwede lebet noch,.,, 1 4 Pfeffer erklärt die Illustration des Flugblattes. Sie "zeigt Gustav Adolf auf einem gekrönten Felsen mit dem schwedischen und dem sächsischen Wappen [ . ] . Im Bildhintergrund ist eine Schlachtszene angedeutet. Über Gustav Adolf, der ein von Lorbeerzweigen umwundenes Schwert als Symbol tur Ruhm und Sieg in der Hand hält, schweben zwei Engel mit Palmzweigen und halten einen Lorbeerkranz über sein Haupt. Engel und Wappen bilden einen Triumphbogen um Gustav Adolf. Rechts im Bild der siebenköpfige Drache der Apokalypse mit der Papsttiara. Er erinnert an die Vernichtung des Drachen zu Babel durch Daniel [ . . . ] : Ein Engel steigt vom Himmel, fesselt den Drachen und wirft ihn in den Abgrund. Der Drache symbolisiert die von Gustav Adolf besiegten Katho lischen. Vom linken oberen Bildrand erhebt sich ein Sturm gegen den Drachen, der als göttlicher Beistand tur Gustav Adolf zu interpretieren ist." I S Der zwei spaltige Text stellt in der ersten Spalte die Trauer um den Gefallenen dar. Die zweite Spalte, der Freude gewidmet, wendet den leiblichen Tod Gustav Adolfs in ein metaphysisches Weiterleben des Helden in der Sache, fiir die er gestorben ist. In den Siegen Schwedens über das päpstliche Babel erfährt er gleichsam eine Wiedergeburt zum ewigen Leben: "Der Schwede lebet noch / vnd wird auch ewig leben / Wenn Christus wird das Reich dem Vater vbergeben / Wird ruffen alle Welt: Da liget Babels Joch Im tieffen HellenPful. Der Schwede lebet noch." Die Anspielungen auf Gustav Adolf als "unser" Simson und Judas Makkabäus verband die göttliche Mission, in der er handelte, mit d er Art und Weise, wie diese Mission zu ertullen sei : im militärischen Kampf tur das Volk Gottes. Der Schwedenkönig wurde nicht nur hier, sondern in vielfaltigen propagandistischen Bezügen zum mi/es christianus erhoben und damit in eine seit dem Mittelalter verbreitete europäische Tradition gesetzt. 16 Der nördliche Held und der in einer ..
14
Pfeffer, Flugschriften (wie
15 16
Pfeffer,
Bd. 2
Anm. 9), S. 89 f.; s i ehe Anm. 1 3), S. 5 34 f., Nr. 305. Flugschriften (wie Anm . 9), S. 90.
(wie
auch:
D eutsche
Dazu: Wolfgang Harms, Gustav Adolf als christlicher Alexander Zu Formen des Wertens von Zeitgeschichte
Illustrierte Flugblätter,
und Judas
Makkabäus.
in Flugschrift und illustriertem Flugblatt um
Die Europäisierung des Nordens
in der Frühen Neuzeit
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Tradition stehende Gottesstreiter verschmolzen in dem Kult um Gustav Adolf zu einer Symbiose, die im Vergleich mit der Wikingerzeit einen deutlichen W and e l der S i cht auf den Norden indizierte.
gesarnteuropäischen
Abb.
2: "Der Schwede lebet noch"
1 632, in: Wirkendes Wort 35 ( 1 985), S. 1 68- 1 83 ; Heyde, Kunstpolitik (wie Anm. 9), Andreas Wang, Der 'Miles christianus' im 1 6. und 1 7. Jahrhu ndert und s eine mittelalterliche Tradition . Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphi sche r Bildlichkeit, Frankfurt a. M. 1 975 (Mikrokosmos, Bd. I ).
S. 1 07 f.;
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D i e m itteleuropäi schen Protestanten hoben den Charakter des Nordens als fremde Anderweit, die dem Süden antithetisch gegenübergesetzt wurde, dia lektisch auf, indem sie Gu stav Adolf - und mit i hm ganz Schweden - zum not wend igen Bestandteil ihrer Eigenwelt machten, ja gleichsam den König aus dem Norden zu ihrer Führer- und L ichtge stalt erhoben. Die Integrati o n von Norden und Süden, ihre gleichwertige V ersc hmelzung zu ein em normativen und po litisch-sozialen Raum, war pe rfekt. Al lerdings war eine Veränderung in der Be ziehu ng zwischen Skandinavien auf der einen sowie Mittel- und Westeuropa auf der anderen Seite eingetreten, die das geograp hi s che Raumkriterium, das noch im normativen Konzept vom Löwen aus Mi ttern ac ht die zentrale Rolle gespielt hatte, überflüssig werden ließ. Die geographische Dimension der Verortung von pol iti s chen Kulturen spielte nämlich ab dem Moment als normatives Konstrukt keine Rolle mehr, al s der mitternächtlich-nördliche L öwe in den Süden eingetreten war. Sie wurde durch den Parameter Konfession ersetzt. Dieser hielt sich zwar fakti sch im Großen und Ganzen auch an ein geographisches Raumkriterium, war doch der Norden Europas p rote st ant i sche r als der Süden und der Süden katholi scher als der Norden. Die Argumentationslogik war davon jedoch, anders als im frühen Mittelalter, nicht mehr abhängig. Die konfessionellen Konfrontationslinien hielten sich nicht länger zwingend an die mytho l o g i s che und norm at i ve Windrose. Der No rde n war i m Dreiß i gj ähr igen Krieg auch aus der Sicht des Südens endgültig zu einem integrierten Bestandteil de s europäischen Kosmos geworden. Geg en eine solche Interpretation wird man einwenden können, dass diese Integration Skandinaviens bereits im Hoch- und S p ätmittel al ter vollzogen worden war. Schließlich hatte die Hanse den Ostseeraum zu einem Wirtschafts und Interessenraum verbunden. Die Beziehungen in diesem ökonomischen System wurden freilich von der unterschiedlichen Qu al ität von Zentrum und Peripherie geprägt, wobei das Zentrum zunäc hst dem nicht zu Skandinavien gehören d en hansischen Kernraum der wendischen Hansestädte mit dem Vorort Lübeck und sp äter , seit dem 1 6. Jahrhundert der ho l l änd isc hen Küstenregion mit Amsterdam zuzuordnen gewesen ist. I ? D ie wirtschaftliche Integration des Ostseeraumes blieb eine hierarchische, in der sich Skandinavien am nach geordneten Ende befand. Die Herstellung einer glei c hwertige n Einbind un g von Skandinavien, insbesondere Schweden, als dem Norden E uropas in den po lit isch sozial en Raum des Kontinents vollzog sich endgültig erst durch die Einordnung i n den normativen Kontext des Prozesses d er Herausbildung der ,
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Dazu beispielhaft: Immanuel Wallerstein, Das modeme Weltsystem listischer Landwirtschaft und die europäi sche Weltökonomie im
-
Die Anfange kapita
1 6. Jahrhundert. Aus dem
Amerikanischen von A n ge lika Schweikhart, Frankfurt a. M. 1 986, S. IOD f., 1 46, 280. Zur Beziehung Skandinaviens
zur
H an se und den ökonomischen Zentren Weste uropa auf
schlussreich auch: S chi lli ng , Die neue Zeit (wie Anm. 1 1 ), S . 1 5 8- [ 6 1 .
Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
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europäischen Konfessionsblöcke. 1 8 Die Konstruktion von Überlegenheit durch den Gotenmythos und den Bezug auf die heilsgeschichtliche Mission Schwedens bildete einen notwendigen Bestandteil kompensatorischer Selbst vergewisserung in der Phase des Eintritts der neuen schwedischen Macht in den europäischen Politikkontext. Sie lieferte das ideologische Unterfutter der gleich berechtigten Integration in diesen Kontext, in der das schwedische auf ein mit ihm konkurrierendes Überlegenheitskonstrukt traf, das auf dem universalen Geltungsanspruch der habsburgischen Monarchie und des Papsttums basierte. 1 9 Als Faktoren zur Mobilisierung der ru r die expansive Außenpolitik notwendigen innenpolitischen materiellen und mentalen Ressourcen blieben Gotizismus und Überlegenheitsanspruch auch noch im späteren 1 7. Jahrhundert und darüber hinaus identifikationsstiftender Bestandteil der innerschwedischen Politik kultur. 20 Sie sorgten im Innem eine sich aus der Alterität speisende Identität, die im realen Vollzug der schwedischen Militär- und Außenpolitik im weiteren Verlauf des Dreißigj ährigen Krieges verloren gehen sollte. In ihm entwickelte sich Schweden als Vormacht des Nordens zu einem an das allgemein europäische Muster angepassten Repräsentanten des säkularisierten Machtstaats kalküls.
flir
Dem Dreißigj ährigen Krieg, eingebettet in eine Vielzahl kleinerer Kriege, von denen hier besonders auf die Schwedens mit Dänemark, Polen und Russland seit dem Ende des 1 6. Jahrhunderts hinzuweisen ist, und vor allem dem West Mischen Friedensschluss von 1 648 kommt eine zentrale Rolle rur die Formie rung eines neuartigen politischen Europakonzeptes zu, zu dem auch der Norden in Gestalt der beiden skandinavischen Mächte DänemarkINorwegen und vor allem Schweden gehörte. Zwischen 1 630, dem Jahr des Kriegseintritts Schwedens, und dem Friedensjahr 1 648 vollzog sich ein fundamentaler Wandel der Sicht auf Skandinavien als dem europäischen Norden. Der Krieg, der wesentlich als ein regionaler Konflikt um das Konfessionsproblem und die mit ihm aufs engste verbundene Frage nach der Ausgestaltung der Beziehung zwischen Monarch, dem König in Böhmen und dem Kaiser im Reich, und Stän den begonnen hatte, mutierte seit den 1 63 0er Jahren zu einem europäischen Machtstaatskonflikt. In ihm blieb zwar die Klärung der Beziehung von Kaiser und Reichsständen und die Konfessionsdifferenz als Handlungsmotiv bestehen, diese innerreichischen Momente wurden aber immer stärker durch das Bestre ben der Schaffung von Einflusszonen säkular-staatlichen Interesses mit gesamt-
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Dazu grundlegend: Schilling, Die neue Zeit (wie Anm . 1 1 ) ; ders., Europa und der Norden auf dem Weg in die Neuzeit, in: Europa und der Norden, Bericht über das 7. deutsch-nor wegische Historikertreffen in TromSl<J, Juni 1 994, hrsg. von Norges Forskningsräd, Oslo 1 995, S. 5 1 -7 1 . D8ZIl: Burkhardt, Der Dre i ß igj ähri ge Krieg (wie Anm. 8), S . 58-6 0. Beispielhaft dazu: Bemd Henningsen, Die schwedische Konstruktion einer nordischen Identität durch Olof Rudbeck, Berlin 1 997 (Arbeitspapiere 'Gemeinschaften', Bd. 9).
Olaf Mörke
78
europäischer Perspektive überlagert.2 1 Deutlich wird dies vor allem an dem den Kriegsverlauf zwischen 1 63 5 und 1 64 8 maßgeblich beeinflussenden Bündni s zwischen dem katholischen Frankreich und dem protestantischen Schweden.22 Gemeinsames Ziel bei der Mächte war die S chw ächung der alten dynastischen Vormacht in West- und Mitteleuropa, des Hauses Habsburg. Der französischen Krone ging es darum, sich aus der Umklammerung durch die Habs b urger zu lösen, die sowohl in Spanien herrschten als auch die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches innehatten und überdies neben den österreichischen Erb l ande n über einen eigenen Territoriengürtel vom heutigen Belgien bis nach Burgund geboten. Das schwedische und das allerdings weniger erfolgreiche dänische Interesse richtete sich darauf, den habsb urg i sche n Zugriff auf den als jeweils eigenes Einflussgebiet angesehenen Ostseeraum zu verhindern. Dabei bedienten sich alle, Frankreich wie Schweden und mit Abschwächung auch Dänemark, eines für unseren Kontext interessanten politischen Arg uments
.
Nicht zu Unrecht sah man nämlich das H au s Habs b urg als Repräsentanten des mittelalterlichen politischen Universalismus, der Idee v o n einer einheitlichen Herrschaft über die gesamte christliche Welt. Nachdem dessen Gegner Frank reich und Schweden zunäch st selbst auf der propagandistischen Klaviatur von mit dem habsburgischen konkurrierenden politischen Universalanspruchen ge spielt hatten,23 zu denen auch der schwedische Rekurs auf die Goten und die heilsgeschichtliche Interpretation der Rolle Gustav Adolfs gehörten, setzte sich schlussendlich in der politischen Praxis e i n zu den konkurrierenden Universa lismen altern atives Konzept durch, das im Westfälischen Friedensinstrument von 1 64 8 seinen rechtsverbindlichen Niederschlag fand: die territorialstaatliche Libertät im Reich und die Souveränität der europäischen Einzelstaaten als Träger eines neuen europäischen Völkerrechts.24 Die Umsetzung einer impe rialen Universalismusidee war damit endgültig unmöglich geworden. Das Souveränitätsprinzip schloss die normative Prävalenz des einen über den anderen, und damit eben auch heilsgeschichtlich begründete Universal herrschaftsansprüche, per definitionem ebenso aus wie politisch-räumliche Überlegenheitskonstrukte, die sich aus der Übertragung von heilsgeschichtlichen Konzepten in die politi sche Sphäre ergaben. Indem das katholische Frankreich und das lutherische Schweden zu Garantiemächten des auf dem Souveränitäts grundsatz fußenden Friedens von 1 648 erhob en wurden, mussten auch sie sich in ihrer politischen Normsetzung diesem Grundsatz fügen .
21 22 23
24
Auf die Perspektive einer neuen machtstaatlichen Ordnung Europas um die Mitte des 1 7. Anm . 1 1 ), S. 446-455.
Jahrhunderts verweist überzeugend: Schilling, Die neue Zeit (wie
Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg, Göttingen 1 985, S. 5 1 -59. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anrn. 8), S.
30-63 .
Zum reichsintemen und europäisch-völkerrechtlichen Rechtscharakter des Westfillischen Friedens: Heinhard Steiger, Konkreter Friede und allgemeine Ordnung Bedeutung der Verträge vom 24. Oktober (wie Anrn. 9), Textband I, S. 437-44 6 .
1 648, in: 1 648
-
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Zur rechtlichen
Krieg und Frieden in Europa
Die Europäisierung des Nordens
in der Frühen Neuzeit
79
1 7. Jahrhunderts ze ntral en p oliti sc hen
Der Exkurs in die europäi sche Geschichte der ersten Hälfte des sollte eine Ahnung von zwei für unseren Problemkreis
Wan d l u ngspro zessen vennitteln, welche den Schwellencharakter der ersten Ifäl fte des 1 7. Jahrhunderts belegen. Zum einen zeichnet sich ab, wie sich im Dreißgjährigen Krieg selbst ein Nonnenwechsel im europäischen P o l it iksys te m zu vollziehen b eg an n Das Prinzip der Konfessionsblöcke im Streit um sich .
gegenseitig ausschließende universale Wahrheitsansprüche wurde von dem der s äku lare n E i n ze ls taats i nte ressen abge lö st Diese Einzelstaaten konnten, un abhäng ig von ihrer Konfessionszugehörigkeit, wechselnde Allianzen eingehen, .
di e ei nzi g der Nützlichkeitserwägung im Rahmen einer weltlichen S taatsräs o n fo lgten D ie no rdi s chen Kön igreiche waren seit dem Dreißigjährigen Krieg zu Mächten mutiert, die sich hinsichtlich ihrer Verortun g i m g e s amteur opäi s che n Kräftespiel qualitativ in nichts von den anderen europäischen Staaten unter schieden. Das g i l t für das protestantische Dänemark, das in dem für es wiederum n icht e rfo l grei c hen Nordischen Krieg von 1 654 bis 1 660 zusamm en mit dem katholischen Po len gegen seine ebenfalls p rote s tanti sch e Konkurrenzmacht Schweden stritt. Außerdem suchte Dänemark in de r zweiten Hälfte des 1 7. J ah r hunderts in einem komplexen System von Allianzen auch die Verbindung zu den österreichischen Habsburgem, noch immer einer Kemmacht des euro .
päischen Katholizismus, um das weitere Vordringen Schwedens im südlichen 25 Ostseeraum zu unterbinden. Das gilt aber auch für Schweden selbst, das bis
zum Beginn des 1 8 . Jahrhunderts in einem we ch sel vo llen A l l i anzen sp i e l stand das e i nzi g dem machtstaatlichen Interesse an Ausbau und Fest i gung seiner 26 Großmachtposition im Norden Europas diente. ,
Die Einbeziehung Dänemarks und vor allem der ne ue n Macht Schweden
in
die großflächig verflochtenen Allianzsysteme seit dem Dre i ßigj ährigen Krieg
i ndi z ie rt
die vollendete Integration des Nordens in die Nonnalität des gesamt europäi s chen Politikdiskurses. Sie beugten sich dem ge samteuropäischen Kräfte sp iel der "Höfe und Allianzen" u n d gestalteten es mit. 27 Dies sch l ug sich
auch in der innenpolitischen Entwicklung niede r . Sowohl Dänemark als auch 25
26 27
Max B raubach, Vom WestfiUischen Frieden bis
zur
Gebhardt - Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg.
Französischen
von
Revolution, in:
Herbert Grundmann , 9. Aufl . ,
Stuttgart 1 970, S. 250 f. , 265-267, 272 f. B raubach , Vom Westfälischen Frieden (wie Anm. 25), S. 249-25 1 , 26 1 , 265 , 272 f. , 278 f. Mit der griffigen Formulierung vom Europa der Höfe und Allianzen markiert Heinz Schilling Kernpunkte der europäischen Politikkultur vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Ancien reg i me . Der H i nwe i s auf die p olit i sc h e und kulturelle Rolle der Höfe bezieht s i c h auf de n Bedeutungszuwachs des m o n arch i sc he n Elements für die G e st altung des inneren Staatsausbaus. Mit der Hervorhebung der Allianzen und Allianzkriege profiliert er Gestaltungselemente des europäischen S taatens yste ms unter d e n B e d ingu n ge n der einzelstaat lichen Souveränität und des säkularisierten Machtstaats interesses. Dazu : Heinz S ch i ll in g Höfe und Allianzen - Deutschland 1 648- 1 763, Berlin ,
1 989,
S.
1 6-48.
O l af Mö rke
80
Schweden folgten bezüglich der Ausgestaltung monarchischer Macht nach dem Westfälischen Frieden dem gesamteuropäisch verbreiteten Muster, das in Rich tung auf die absolute Königsgewalt verlief. In Dänemark etablierte sich nach 1 665 langfristig ein absolutes monarchi sches Regiment in einem Ausmaß, das selbst in Frankreich, das als Prototyp des Absolutismus gilt, nicht erreicht wurde. In Schweden dauerte das absolutistische Experiment von 1 693 bis
1 720.28 Es wurde von der bis 1 772 andauernden parlamentarischen Souveränität
des
Reichstages
abgelöst,
die
sich
ihrerseits
wiederum
an
den
politik
theoretischen und -praktischen Vorgaben der europäischen Naturrechtsdebatte orientierte. 29 Ihr folgte 1 772 der Staatsstreich Gustavs III . , "der ein aufgeklärtes 3 Regime preußisch-österreichi scher Art einfUhren wollte". o Zum Zweiten war
zu
zeigen, wie sich der
Prozess
der Integration speziell
Schwedens, das nicht auf die langfristige Brlickenfunktion des däni schen Kern reiches zwischen dem Norden und Mittel- sowie Westeuropa zurückblicken konnte, als gleichberechtigtes Subjekt in das europäi sche Staaten system vollzog. Es begann mit der Herausbildung der Konfessionsblöcke, einem Prozess inner halb des Heiligen Römischen Reiches und in Europa insgesamt, der bis in die 1 530er Jahre zurlickreichte. Die Reformation beförderte die innerstaatl iche Kon solidierung und die kulturelle Kommunikation mit den protestantischen süd 1 lichen Nachbarn. 3 Gestaltete sich diese Kommunikation zunächst vornehmlich einseitig i n Süd-Nord-Richtung, so wurde das lutherische Schweden bald durch den Mobilisierungseffekt zweier heilsgeschichtlich-mythologischer Konstrukte von Nördlicbkeit als aktiv gestaltendes Element in den mitteleuropäischen
Politikkontext hereingeholt. Ohne den aggressiven nach außen gerichteten Üb erlegenheitsmythos des Gotizismus, der vornehmlich in Schweden selbst expansiv mobilisierende Wirkung entfaltete, und das heilsgeschichtlich ge gründete und ebenso auf Expansion drängende Konzept des Löwen aus Mitter nacht, das vor allem von Schwedens protestanti schen Bündnispartnern im deutschen Reich des Dreißigj ährigen Krieges planmäßig eingesetzt wurde, wäre eine Legitimation der Üb ernahme der schwedischen Führungsrolle fUr den euro21
29
Wolfgang Reinhard h at un l ängst den reizvollen Versuch unternommen, die Entwi cklung des dänischen und sch wed i schen Herrschaftssystems in den europäischen Kontext ein zuordnen. Siehe: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den An flin ge n bis zur Gegenwart, München 1 999, S. 47-52, 74-76. M i chael F. MetcaJf, Parliarnentary S overe i gnty and RoyaJ React ion, 1 7 1 9- 1 809, in: ders. ( H rs g ) The Riksdag. A History o f the Swedish Parliarnent, Stockholm 1 987, S. 1 09- 1 64, hier bes. S . 1 24- 1 26. Reinhard, Geschichte (wie Anm. 28), S . 76. Zur sc hwe disc he n Reformation im Überblick mit besonderem Akzent auf den deutschen Einflüssen: Arthur Erwin Imhof, Grundzüge der nordischen Geschichte, Darrn stadt 1 970, S. 84-89; Michael Roberts, The Early Vasas. A History of Sweden, 1 523 - 1 6 1 1 , C arn bri dge 1 9 68, S. 75-9 1 , 1 07- 1 44. .
30
31
,
Eie Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
81
päischen Protestantismus schwerlich möglich gewesen. Die Übernahme einer S chlüssel posit i on in den politisch-militärischen Ausei nandersetzungen de s Dre i ß igjähri gen Krieges war aber die Voraussetzung dafiir, dass sich mit dem gesamteuropäischen auch das schwedische Pol i ti kkonzept selbst säkularisieren konnte. Die politische Eigendynamik des Krieges evozierte die Beschleunigung eines Wandels in den Beziehungen der beteiligten innerreichischen und euro päischen Mächte hin zu e i ner von säkularen Prinzipien und Interessen ge tragenen Ordnung der souveränen Einzelstaaten in Mitteleuropa. Schweden musste di e s e sich im Westfälischen Friedensinstrument andeutende Ordnung mittragen, wollte es im Konzert der europäischen Mächte mitspielen. der Einbeziehung Schwedens als aktivem M i tträger einer sich in Richtung das säkularisierte Staatsinteresse entwickelnden Ordnung der europäischen Mächte erübrigte sich auch die heilsgeschichtlich gründende Vernordung Schwedens als Qualität e i gener Art, d i e es gegenüber dem 'Nichtnorden' ab setzte. Auf der europäischen Landkarte kollektiver politischer Identitäten in Mittel- und Westeuropa war 'Norden' seit der zweiten Hälfte des 1 7 . Jahr hunderts folgerichtig vornehmlich nur noch eine topographische Bezeichnung. Mit
au f
Zwar spielte Karl XII. von Schweden im Nordischen Krieg als Reaktion auf den wachsenden militärischen und allianzpolitischen Druck zu Anfang des 1 8. Jahrhunderts noch einmal die Karte des Löwen aus Mitternacht aus. 32 Der Effekt unterschied sich aber gründ li ch von dem, den er um 1 63 0 gehabt hatte. Sub stantielle Unterstützung außerhalb Schwedens blieb aus. Das Land stand po litisch wie militärisch isoliert, seine europäische Großmachtrolle wurde nach den Friedensschlüssen von 1 7 1 9 bis 1 72 1 auf die einer Regionalmacht reduziert. Angesichts des Systems der pragmatisch-säkularem Staatsinteresse folgenden Allianzbildungen und der seit dem Ende des 1 7. Jahrhunderts andauernden Ver suche, ein europäisches Kräftegleichgewicht zu etablieren,3 3 war auch nichts anderes als der Mißerfolg einer aggressiven Heilsideologie wie der vom mitter nächtlichen Löwen zu erwarten. Mit den 1 7 1 3/ 1 4 erfolgten Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden nach dem Spanischen Erbfolgekrieg und von Stockholm, Frederiksborg und Nystad nach dem Nordischen Krieg war der 1 648 eingeleitete Prozeß einer Europäisierung Europas im Sinn pri nzipieller Bündnis flhigkeit jedes der Einzelstaaten mit jedem, verbunden mit dem Ende univer salistisch-heilsgeschichtlicher begründeter Herrschaftsansprüche, abgeschlossen. D i e S taaten de s Kontinents waren zu gleichberechtigten Völkerrechtssubjekten 32 33
Mi chae l Roberts, Gustavus Adolphus. A History of Sweden, 1 6 1 1 - 1 632, 2 Bde., La ndon, New York, Toronto 1 95 3 , Bd. 1 , S. 526. Als Ü berbl ick über die Motivik des europäischen Politiksystems von der zweiten Hälfte des 1 7. bis zum B e g inn des 1 9 . Jahrhunderts vorzüglich : Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse
Zeitalter Ludwi g XIV. bis zum Wi ener Kongreß, (Erträge der Fo rsch un g , Bd. 56) , bes. S. 1 -4, 86-89; Schilling , Die neue Ze i t (wie Anm. 1 1 ), S. 446-455.
vom
82
Olaf Mörke
geworden. Dieser genuin frühneuzeitliche Europäisierungsprozeß auf der Basis der durchaus konfliktreichen Ausbalancierung von Einzelstaatsinteressen löste seit der Mitte des 1 7. Jahrhunderts einen mittelalterl ichen Traditionsstrang ab, in dem die Europäisierung auf der Basis normativer und politisch-praktischer Uni versalansprüche der Kaiserkrone und der einen Kirche betrieben worden war. Die schwedische Politik unter Gustav 11. Adolf und in Resten auch noch unter Karl XII. gründete, ganz in dieser Tradition befangen, auf der Formulierung ei nes mit dem habsburgisch-katholischen konkurrierenden Universalanspruchs, der sich freilich gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts endgültig überlebt hatte. 34 Zu Anfang des 1 8 . Jahrhunderts hatte Europa zu einer Gestalt gefunden, in der der Norden seiner besonderen Qualität bereits insofern entkleidet war, als er nunmehr nicht mehr - weder positiv noch negativ - in einem heilsgeschichtlich gegründeten Raumsystem verortet wurde, in welchem dem Norden die Funktion eines normativen Pols eignete. Die Ordnungsmanie des Barockzeitalters goss die schon im Mittelalter verbreiteten regionalen und nationalen Stereotypen wieder holt in eine tabellarische Form, welche dem Bemühen um einen abgrenzend wertenden Vergleich der europäischen Völker Rechnung trug. 35 Als prominentes Beispiel gilt die "Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern und Ihren Aigenschaften" , eine tabellarische Völkertafel aus der habsbur�isch-öster reichischen Steiermark, die im frühen 1 8 . Jahrhundert entstanden ist. 6
34
3S
36
Johannes Burkhardt arbeitet in Auseinandersetzung mit den Kritikern der Universalismus these das universalistische Potential des schwedischen Politikkonzeptes heraus. Freilich wurde dieses durch den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges auf die realistische Absicht eingeschränkt, "die Nummer eins im Norden zu sein". Siehe: Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 8), S. 30-3 5 , 5 1 -63, Zitat S. 62. - Mit zahlreichen Belegen zum Universalismus bei Gustav 11. A do lf: Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1 986 (Schriftenreihe der Hist. Komm. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 32), S. 95- 1 03 . Kritisch gegenüber der Universalismusthese: Klaus Zernack, Schweden als europäische Großm acht der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 232 ( 1 98 1 ), S. 327-3 57. Zernack quali fiziert die Groß macht Schweden als "contra-universales Imperium" (S. 327). Die Motive der Großmacht bildung sieht er pragmatisch-sicherheitspolitisch und ökonomisch gegründet (S. 333-3 3 8). Dies ist zutreffend, reicht jedoch nicht aus, um die Universalismusthese zurückzuweisen, da die ebenfalls handlungsbegründenden ideologischen Grundlagen der gustav-adolfi nischen Großmachtpolitik, die auf die Existenz eines eigenen universalistischen Hinter grundes hinweisen, von ihm nicht berücksichtigt werden. Mit zahlreichen Beispielen zur Stereotypenbildung: Winfried Schulze, D i e Entstehung des Vorurteils. Zur Kultur der Wahrnehmung fremder Nationen in der europäischen frühen Neuzeit, in: Europa und der Norden (wie Anm. 1 8 ) , S. 7-39, hier bes. S. 24 f. Dazu Schulze, Entstehung (wie Anm. 3 5), S. 24; Die Türken vor Wien. Europa und die Entsche id ung an der Donau 1 683, Katalog der 82. Sonderausstellung des Historischen Mu seums der Stadt Wien, Wien 1 983, S. 265 f. (Kat.Nr. 20/29).
Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
Abb. 3 : "KlliZe Beschreibung ...
83
"
Jede S palte steht für eines von zehn europäischen Völkern, denen in den Zeilen jeweils in offens ich tl ich komparativer A bs i cht 1 7 Eigenschaftskategorien zu gewiesen werden. Wie nun schlug sich in dieser Tabe l l e die Normalisierung des Nord ens aus der Sicht des 'Nichtnordens' nieder? Zun ächst ist festzuhalten, dass wir es mit einer Quelle zu tun haben, die aus dem Kernbereich des mittel
europäischen Katholizismus stammt, eben aus den österreichischen Erblanden. Dies lenkt die Au finerksamke it auf das einstmals so zentrale konfessionelle Ar gument und seinen Stel lenwert i n der populären Wahrnehmung unter den neuen Bedi ngungen des sich entwickelnden säkularen Mächteeuropa. Di e gängige Interpretation betont, dass es sich um eine " Rangliste" handelt. 37 "In de utli c her Differenz zwischen West- und Mitteleuropa werden die ost- u nd südost europäischen Völker dargestellt, de utl ic h ist eine Abwertung in östlicher Ri chtung z u erkennen. ,, 3 8 Im großen Ganzen trifft d ie s zu. Der Rang listen charakter manifestiert sich eindeuti g am Anfang und Ende der Tabe l l e Der an erster Stelle stehend e Spanier kommt als Bester weg. Am Ende beginnen s ich bei dem "Boläck", dem Polen, und dem "Unger" (Ungarn) d i e negativen Zu.
: Die Türken vor Wien (wie Anm. 36), S. 265 (Kat.Nr. 20/29). Schulze, Entstehung (wie Anm . 3 5), S. 24.
84
Olaf Mörke
weisungen zu häufen, ehe dann am "Muskawith" (Russen) und dem Osmanen, dem "Tirk oder Griech", der ganz am Ende steht, kein gutes Haar mehr gelassen wird. Im Mittelfeld allerdings, den Spalten zwei bis fiinf, vom "Frantzoß" über den "Wälisch" (Italiener), den "Teutschen" und den "Engerländer" bis zum "Schwöth" (Schweden) zeigt sich eine eher ausgewogene Mischung von Positiv und Negativzuweisungen, ohne dass man eine eindeutige Rangfolge zu erkennen vermag. Eine nähere Betrachtung der Ordnungsprinzipien vertieft den Einblick in das gesamteuropäische Wahrnehmungsmuster. Zunächst fällt auf, dass die Reihung von europäischen Völkern beileibe nicht vollständig ist. Es wurden offen sichtlich nur diejenigen erfasst, denen Bedeutung für Europa zuzubilligen war. Bezeichnenderweise fehlen u.a. die Portugiesen, die Niederländer und die Dänen, die noch zu Beginn des 1 6. (Portugiesen), bis zum Beginn des 1 7 . (Dänen) und bis zum letzten Drittel des 1 7. Jahrhunderts (Niederländer) eine wichtige gesamteuropäische Rolle gespielt hatten, nunmehr aber im Wind schatten der Entwicklung lagen. Die Zusammenstellung des Ensembles offen bart ein durchaus feines Gespür für die Komposition des europäischen Mächte systems in den ersten Jahrzehnten des 1 8 . Jahrhunderts. Deutlich wird dies etwa durch die Einbeziehung der Moskowiter, der Russen. Mit Zar Peter 1., dem Großen ( 1 689- 1 725), gewannen sie den Anschluss an das europäische Politik und Wirtschaftssystem und sollten fortan eine wichtige Rolle im Mächtekonzert spielen. Die Ungarn, in den 1 68 0ern und 1 690ern endgültig aus türkischer Herr schaft in den österreichisch-habsburgischen Staatsverband überführt, spielten seit dem frühen 16. Jahrhundert eine zentrale Rolle als Front- und Grenzraum in der Auseinandersetzung zwischen christlicher und islamischer Welt. Die gesamte Periode der Beziehungen Ungarns zu der vordringenden Macht der Habsburger war durch das Bestreben nach einem Höchstmaß an ungarischer Eigenständigkeit gekennzeichnet. Adelsaufstände gegen den neuen habs burgischen Herren sorgten noch zwischen 1 703 und 1 7 1 1 dafür, dass Ungarn ein erheblicher Unsicherheitsfaktor im europäischen Politikspiel blieb. Es nimmt nicht wunder, dass die Ungarn aus österreichischer Sicht als " untreu", "aller grausambst", "bluthbegirig" und "aufriererisch", so einige der national charakterlichen Zuweisungen in der Völkertafel, angesehen wurden. Von den beiden nordischen Mächten des 1 7. Jahrhunderts war nur noch Schweden übrig geblieben. Im von 1 700 bis 1 72 1 dauernden Nordischen Krieg hatte der Schwedenkönig Karl XII ., in der europäischen Großmachttradition Gustav Adolfs und Axel Oxenstiernas, die Balance des Mächtesystems noch einmal heftig durcheinandergebracht, ehe Russland Schweden als Vormacht im Ostsee raum ablöste. Es war also durchaus konsequent, Schweden noch eine wichtige Rolle im Theatrum Europaeum spielen zu lassen. Die Nennung der Nationen in der Völkertafel folgte einer gesamteuropäischen Perspektive. Platz fanden die jenigen, die für den gesamteuropäischen politischen Handlungszusammenhang
Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit
85
von Bedeutung waren. Von einer wie auch immer gearteten nördlichen Sonder rolle, einem wertenden Konzept, das sich auf der Achse Nördlichkeit und Süd Iichkeit abtragen ließe, findet sich indes keine Spur. Die Auflistung der Einzelnationen markiert aber nicht das einzige Ordnungs prinzip der Tabelle. Es lassen sich nämlich drei europäische Großregionen herausdestillieren. Zunächst die drei romanischen Völker der Spanier, Franzosen und Italiener am Anfang. Es folgen die gennanischen Nationen der Deutschen, Engländer und Schweden in der Mitte. Romania und Gennania als raum konstituierende Kriterien waren präsent. Sie blieben freilich insofern wert neutral, als sich die Verteilung von Positiv- und Negativeigenschaften weder auf die Gennania noch auf die Romania beschränkten und sich Häufungen nur in der auf die Einzelnationen orientierten Stereotypenbildung zeigten. Auffällig ist die Häufung der Positivzuschreibungen an die Spanier auf der einen, der Negativzuschreibungen an die Franzo sen auf der anderen Seite. Das dürfte im Ursprung der Quelle im habsburgischen Raum seine Begründung finden. In der Gruppe der Gennania fällt ein gewisser Gegensatz zwischen dem Engländer und dem Schweden auf. Hier der weltgewandte, betriebsame aber auch verweich lichte englische homo oeconomicus, dessen Sitten "Wohl Gestalt", dessen Naturell "Lieb-reich", dessen Verstand "Ammuthig" und dessen "Anzeigung deren Eigenschaften" "Weiblich" sowie dessen Wissenschaft "Welt Weis" ist. Demgegenüber nimmt sich der Schwede eher als Verkörperung der Tugenden und Untugenden des aufrecht-wackeren, etwas sturen Hinterwäldlers aus, ohne indes insgesamt negativ markiert zu sein. Seine S itten sind " Stark und Grosz", seine Natureigenschaft "Graus-sam", sein Verstand "Hartknäkig", seine Kleidung "Von Löder". Als Herrn erkennt er eine "Freue Herrschaft" an vielleicht eine Anspielung auf die schwedische 'Freiheitszeit' nach l 720 und damit auch ein Hinweis auf die Entstehungszeit der Quelle. In der Kategorie "Vergleichung mit denen Thiren" reserviert man für ihn "Einen Ochsen" . Will man in diesem Katalog e i n Konzept von Nördlichkeit, repräsentiert durch den Schweden, sehen, so allenfalls ein implizites, das sich von dem ex pliziten der protestantischen Mythologie aus dem l 6. und l 7 . Jahrhundert deutlich unterschied. Es offenbarten sich Elemente eines anthropologischen Eigenschaftskataloges, dessen Differenzierungen und Distinktionen auf klima theoretischen Grundlagen beruhten, die allenthalben Eingang in die Bildung von Nationalstereotypen gefunden hatten. 39 Für die Interpretation der politisch-nor mativen Landkarte aus mitteleuropäischer Sicht spielte aber ein solches Konzept keine handlungswirksame Rolle mehr. Der Wandel, wie er sich im Vergleich des vorgestellten Materials abzeichnet, könnte kaum deutlicher sein: Aus den Schweden, der Hoffnung des protestantischen Europa und den großen Wider sachern des katholischen habsburgischen Kaisertums aus der ersten Hälfte des 39
Ebd., S.
24 f.
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Olaf Mörke
1 7. Jahrhunderts, war ein zwar unterscheidbares - aber das trifft auf alle anderen Nationen ebenfalls zu - Volk geworden, das gleichwohl zu einem sich im Be reich der politischen Normen und des konkreten politischen Handlungsrahmens und -musters integrierenden Europa gehörte. Ihm konnte man in der Tafel aus der Steiermark, immerhin einem Kerngebiet der konfessionspolitischen Durch dringungsoffensive des habsburgischen Katholizismus,4o in der Kategorie "Gottesdienst" ganz neutral zugestehen, dass seine Bewohner "Eifrig in Glau ben" seien !
Die dritte Großregion der Völkertafel bildete der weder zur Romania noch zur Germania gehörende Osten und Südosten Europas - Polen, Ungarn, Russen und Türken. Polen und Ungarn formten eine Zwischenzone, in der sich die Negativ zuweisungen zu häufen begannen, ehe sie bei Russen und Osmanen kulmi nierten. Ob daraus freilich eine grundsätzliche Ost-West-Dichotomie konstruiert werden kann, ist fragwürdig. Eindeutig wohl in der Beziehung zu den Osmanen. Sie waren noch immer der, wenn auch auf dem Rückzug befindliche, Funda mentalfeind der christlich-europäischen Welt. Ihr Herrscher sei ein "Thiran", ihre Natur und Eigenschaft sei die eines "Jung Teufel" . Interessant auch hier die Rubrik "Gottesdienst", wo der islamische Osmane auf eine Stufe mit dem ortho doxen Russen gestellt wird. Beider Gottesdienst sei ein "Abtriniger" . Der Mos lem und der orthodoxe Christ gehörten nicht zur christlichen Welt, der die Pro testanten vom katholischen Österreich nunmehr sehr wohl zugerechnet wurden. Auch dies kann mit der konkreten politischen Situation in der ersten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts erklärt werden. Die osmanische Bedrohung war noch immer Bestandteil langlebiger kollektiver politischer Identitäten. 4 1 Der Mosko witer schickte sich an, an der europäischen Tür zu klopfen, stellte den Anspruch, Mitspieler auf der politischen Bühne Europas zu werden, zu deren etablierten Akteuren alle, von den Spaniern bis zu den Schweden, gehörten. Die Rolle der Russen indessen war schwer zu kalkulieren. Sie stellten ein noch fremdes Bedrohungspotential dar. Auch das sollte sich wenig sp äter, gegen Ende des 1 8. Jahrhunderts, geändert haben, als unter Zarin Katharina 11. auch die Russen in den Krei s der Berechenbaren Einzug gehalten hatten und sie mit Preussen und Österreich munter daran gingen, auf Kosten Polens Einflusszonen in Ostmittel europa abzustecken. Wie dem auch sei, der politisch-normative Paradigmawechsel nach 1 648 fand in der Völkertafel aus der Steiermark offensichtlich Niederschlag. Er gründete, dies sei noch einmal betont, im Prozess des Wandels von einer am christlich universalen Heilsverständnis orientierten Interpretation politischer Weltordnung 40
41
Zur Durchdringung Innerösterreichs,
zu
dem auch die Steiennark gehörte, durch die katho der Habsburger: Schilling, Höfe (wie
Iisch-etatistische Konfessionalisierungsoffensive
Anm. 27), S. 3 09-3 1 8.
S i ehe dazu z.B.:
Die Türken vor Wien
(w i e Anm. 3 6), S. 370-374.
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hin zu einer Au sri chtung des p olitischen Handeins an den Maximen einer säkularen Staatsraison. Anders als bei der an der He i lsordnu ng orientierten Sicht spie l te die argu m entati o nsl ogisch zwi ngende Verb indung von Raumbezi ehung und politischem Konzept, die aus der heilsgeschichtlich-mythologisch belegbaren und desh al b der säku l ar-p o l it ische n I nteress ensph äre e nth ob enen qua litat iven Differenz von Nord und Süd resultierte, jetzt keine Rolle mehr. Im Nac h fo l gekonzept des säkularen Machtstaatsinteresses fanden sich zwar auch noch impl i zi t Elemente eines normativ gegrün deten Raumkonstruktes, die im Fall der Völkertafel auf ein West-Ost-Getalle hindeuten. Dieses unterlag aber einem Handlungskalkül, das in eben jener säkular-politischen Interesse nsp h äre angesiedelt war. Es bildete keine u nhinterfragbare H and l ungsv oraus setzung mehr, sondern war lediglich ab ge l e itete Funktion des säkularen Staatsinteresses. Es sollte deutlich geworden sein, dass fiir den Übergang zwischen den beiden so grund ve rsch i edenen po liti s chen Normensystemen die apoklayptisch eschatologische Aufladung p o l iti s ch en Handeins im vom Prozess der Konfessional is ierung geprägten Ze i traum zwischen dem zweiten Drittel des 1 6. Jahrhunderts und der um 1 63 5 beginnenden S chJ ussphase des Dreißigjäh ri gen Krieges von zentraler Bedeutung gewesen war. Den politisch und theol ogi s ch universalen Ansprüchen von Papst- und Kaisertum, die trotz der zeitweise heftig divergierenden praktisch po litischen Interessen in der Verknüpfung von p o liti scher Herrschaftsidee und theol ogi s cher Ge ltung s macht zwi ngend aufeinander angewiesen blieben, wurde mit der Reformation ein konkurrierender un iverse l l er Wahrh eitsanspruch gegenübergestellt. Mit der Verfesti gung der dogmatis che n Gegensätze zwischen Katholizismus und Protestantismus seit der Form u l i erung der Confessio Augustana von 1 530 und ihrer Zurückweisung durch die kathol ische Kirche sowie mit der theo l ogi s chen und organ i s atorisch en Konsoli d i erung des Katholizismus durch das zwischen 1 545 und 1 563 tagende Reformkonzil von Trient und Bologna entwickelte sich aus dem theologischen auch ein fundamentaler po l iti s cher An tag onism us zwischen Katholiken und Protestanten auf e uropäischer Ebene. Dem politischen Protestantismus freilich fehlte ein europaweit wirksam werdendes Zentrum, welches das katholische Europa seit dem Konzil wieder und mehr als zuvor in Rom besaß. Die protestantischen Klein- und Mittelterritorien des Hei l i ge n Römischen Reiches waren nicht in der Lage, ein solches zu formen. Sicherlich b ildeten das lutherische Wi tte n berg das zwinglische Zürich und das ca lv in i s che Genf m aßgeb l i che ge i sti ge Orientierungspunkte ihrer j eweil igen Bekenntn i sse Ange si chts der machtp o l iti s chen Durch s c h l agskraft, die das h ab sburg isch e Kaisertum im Dreißigjährigen Krieg bis zum Restituti onsed i kt von 1 629 entwicke lte und die sich auch aus der ideo l ogischen Unterfiitterung durch den wiedererstarkten röm i sch trident ini s c hen Kath oli zi smus spei ste drängen sich j edoch hinsichtlich der Frage Zweifel auf, ob der m i ttele uropäi sc h re i ch i s che Protestantismus sich als fähig erwiesen hätte, den Prozess der innerko n -
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fessionellen Stabilisierung in eine dauerhafte politische Bestandssicherung umzusetzen. Zwar zeigte sich, dass Kaiser Ferdinand Ir. mit dem Restitutions edikt den Bogen zu überspannen drohte und ihm selbst die katholischen Kurfürsten nicht bedingungslos zu folgen gewillt waren, gleichwohl hielt er an der Absicht fest, seine und die Stellung des Katholizismus im Reich konsequent auszubauen. 42 Die Chance auf die Etablierung eines kraftvollen Gegengewichtes gegen diese Tendenz ergab sich erst durch den Eintritt des gustav-adolfinischen Schweden in den Krieg. Es zeigte sich als eine Macht, die ein eigenes politisches Konzept verfolgte, das zunächst außerhalb des innerreichischen Politikkalküls stand, sich dieses jedoch sehr bald zunutze machte. Seinen Ausgangspunkt bildete die erfolgreiche, außerordentlich aggressive und expansive Staatsbildung, welche die Entwicklung Schwedens seit dem Ende des 1 6. Jahrhunderts charakterisierte. Die sukzessive Eroberung von Territorien an der südlichen Ostseeküste, beginnend mit Estland 1 5 82, endend mit Vorpommern 1 630, ist zu Recht als pragmatische Notwendigkeit eigenstaatlicher Konsolidierung der neuen Macht interpretiert worden.43 Sie ergab sich zum einen aus dem Kampf um die Vor herrschaft im Ostseeraum mit Dänemark, dem Konkurrenten um das Dominium maris baltici, aus dessen Dominanz Schweden sich erst 1 523 mit der Auf kündigung der Kalmarer Union, die es in Personalunion an die dänische Krone gebunden hatte, lösen konnte. Zum anderen aber auch aus dem Konflikt der protestantischen mit der katholischen Linie des Hauses Wasa, die seit 1 5 87 Polen regierte, von 1 592 bis 1 604 die Kronen Schwedens und Polens in Personalunion zusammenfiihrte und den Anspruch auf Schweden auch nicht aufgab, nachdem schon 1 598 König Sigismund Wasa vom schwedischen Reichstag rur abgesetzt erklärt worden war. Die Stärkung des protestantischen Profils Schwedens erwies sich ebenso wie der Expansionsdrang nach Süden also zunächst als Notwendigkeit im Prozess eigenstaatlicher Profilbildung und in einer innerdynastischen Auseinandersetzung. Das gilt auch fiir die ideologische Untermauerung der Politik der protestantischen Wasa durch die Aktivierung des unter Gustav Adolf dann so hochwirksamen Mythenkomplexes von Gotizismus und alttestamentarischer Löwengeschichte.
An dieser Stelle trafen sich funktional die schwedische Selbststilisierung im Gotenmythos und die Fremdstilisierung des Löwen aus Mitternacht durch den mitteleuropäischen Protestantismus als Konstrukte ideologischer Unter mauerung der Bewahrung des schwedischen Kernlandes durch offensive Strategie. Hier, in einer außerordentlich kurzen Phase von wenigen Jahren um 1 630, existierte im Muster der nationalen Stereotypenbildung aus der mittel42 43
und konfessionellen Konstellation i m Reich um 1 629: Georg S chmidt, Der Dreißigjährige Krieg, 4. Aufl ., München 1 999, S. 43-49. Zemack, Schweden (wie Anm. 34), S. 333-338; Günter Barudio, Gustav Adolf - der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1 982, S . 39 1 .
Z ur machtpolitischen
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europäischen Perspektive ein heilsgeschichtlich gegründetes Bild vom Norden, das sich ganz auf Schweden konzentrierte. Nördlichkeit wurde noch einmal, wie schon mit anderer Wertung während der Wikingerzeit, zum wirkmächtigen nonnativen politischen Konzept, das sehr bald wieder verschwand, als in der Fonnierung eines antiuniversalistischen, säkularen Politikkonzeptes seit dem späteren 1 7. Jahrhundert der Norden in politischer Hinsicht zum rein geo graphischen Phänomen geworden war. Der Argumentationsgang schließt sich an dieser Stelle insofern, als hin reichend deutlich geworden sein sollte, welche Dynamik der Wechsel im poli tischen Nonnensystem des 1 7 . Jahrhunderts für die Verortung des Nordens im europäischen Politikkontext besaß. Dieser Prozess, in dessen Zentrum der Dreißigjährige Krieg und die Westfälische Friedensordnung standen, besaß frei lich in der ersten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts einen Vorlauf, während dessen sich eine Sogwirkung entfaltete, welche die Voraussetzungen dafür schuf, dass Skandinavien, vor allem die neue Macht Schweden, an den politischen Handlungszusammenhang West- und Mitteleuropas zunächst herangeführt und später in ihn vollends integriert wurde. Jener Vorlaufprozess spielte sich im Hei ligen Römischen Reich selbst ab. Er markierte das faktische Ende der politischen Wirksamkeit der universalistischen Herrschaftsidee des Kaisertums und den Übergang zur territorialstaatlich-reichsständischen Organisation des Alten Reiches. Noch Karl V., der zwischen 1 5 1 9 und 1 5 5 5 die Kaiserkrone trug, erhob in den ersten Jahren seiner Herrschaft den universalen Charakter seines Amtes, die Erhaltung der Einheit der christlichen Welt, zur Leitlinie seiner Politik. 44 In diesem Sinn war er der letzte mittelalterliche Herrscher auf dem Kaiserthron. Als Gebieter über Spanien und seine Kolonien sowie über das Heilige Römische Reich kam er diesem Anspruch näher als seine Vorgänger. Gleichwohl blieb es letztlich bei der Fonnulierung des bloßen Anspruches. Bestritten wurde er nicht zuletzt durch Franz 1., den französischen rois tres chrestienne, der versuchte, mit Habsburg um die politische Führung der christlichen Welt zu streiten. Ü berwunden wurde der universale Anspruch letztlich aber durch die Entwicklung der faktischen Politikstrukturen des Heiligen Römischen Reiches selbst. Es präsentierte sich am Ende des Spätmittelalters als außerordentlich heterogenes Gebilde, das erst am Anfang eines gesamtstaatlichen Verdichtungsprozesses stand. Als königs- bzw. kaisernah, als dem Kaiser interessenbedingt und ideell nahestehend, galten grosso modo nur weite Teile Oberdeutschlands mit den habsburgischen Territorien selbst und deren Anrainern. 4 s "Das verstaatete Reich deutscher 44
4S
Zu Politik und Herrschaftskonzept Karl V.: Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutsch land 1 5 1 7- 1 648, Berlin 1 988, S . 2 1 5-223; in knappem und präzisem Ü berblick: Luise Schom-Schütte, Karl V. Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 2000. Die Einteilung in königsnahe, königsoffene und königsfe me Zonen als Kriterium zur Ord nung des politischen Raumes des spätmittelalterl ichen Deutschland entwickelt: Peter -
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Nation war um 1 500 [ ... ] nur in Oberdeutschland Realität. Kaiser und Reichsstände beanspruchten jedoch, dass ihre Regelungen auch rur den nieder deutschen Raum gelten sollten - nur interessierte sich dort kaum jemand dafiir . ,, 46 Niederdeutschland galt als königs- bzw. kaiserfern. Ansätze einer Ein bindung des niederdeutschen Nordens in das politische System des Reiches wurden mit den Reichsreformen nach dem Wormser Reichstag von 1 495 ge schaffen. Mit der zunehmenden Institutionalisierung des Reichstages, mit den Ansätzen zur Schaffun g eines Reichssteuer-, Militär- und Rechtssystems war ein Beginn gelegt, auch den niederdeutschen Norden in die gesamtreichischen Ent scheidungsstrukturen einzubeziehen. Die Reformation, die flächendeckend und dauerhaft vor allem den Norden des Reiches erfasste, schien nun auf den ersten Blick die Voraussetzungen für den politischen Homogenisierungsprozess zu nichte zu machen, das Reich zu spalten. In der Tat kam es in den 1 5 3 0ern zu einer politisch-konfessionellen Blockbildung, die sich insofern räumlich nieder schlug, als der Schwerpunkt des politischen Protestantismus nördlich des Mains zu verorten war. Dieses bedeutete nun aber keineswegs eine Isolierung des Nordens innerhalb des Reiches. Das Gegenteil traf zu . Die Regelung des Konfessionsproblems erwies sich als Hauptanforderung an die institutio nalisierte Reichspolitik, sowohl in seiner immer wieder aufflammenden Kon flikthaftigkeit als auch in den Versuchen der Friedensschaffung, vom Augs burger Religionsfrieden von 1 55 5 bis zum Westfälischen Frieden von 1 648. Der angesichts des Konfessionskonfliktes entstehende politische Regelungsbedarf setzte den Prozess der Heranführung des Nordens des Reiches an das Reichs system, der mit den Reichsreformen um 1 500 begonnen hatte, verstärkt fort. "Die Augsburger Friedensordnung beendete die religiöse Einheit und förderte die territoriale Staatsbildung. Sie hatte nicht Kaiser und Reich zugunsten der Kurfürsten und Fürsten entmachtet, sondern den Glaubensstreit im Sinne der komplementären Staatlichkeit reguliert und darur �esorgt, dass sich der Reichs Staat auf Niederdeutschland ausdehnen konnte. " Konfessionelle Identitäten, die sich durchaus räumlich fokussieren ließen, wurden von einer gesamtMoraw, Von offener Verfass ung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittel alter - 1 250 bis 1 490, Frankfurt a. M., Berlin 1 985, passim; ders., Franken als königsnahe Landschaft im späten Mittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 1 1 2 ( 1 976),
S. 1 23- 1 38.
-
"Intern blieb das Reich ein polyzentrisches Gebilde. Oberdeutschland und
Niederdeutschland waren [ . . . ] bis ins 1 5 . Jahrhundert hinein nicht allzu eng miteinander verbunden.
Das
Reich
46 47
umfaßte
süd-
und
westeuropäisch-gereifte
und
ost-
und
Landschaften. Gemessen am Zeitpunkt der Christianisierung und der Einfllhrung des Städtewesens schloß es Regionen in sich, die zwischen äußerstem W es ten und äußerstem Nordosten eine rund tausendjährige Kluft aufwiesen; der Unterschied zwischen Italien und Norwegen war kaum großer." Zitat: Moraw, Verfassung, S. 24 f. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1 495-1 806, München 1 999, S. 40 f. Schmidt, Geschichte (wie Anm . 46), S. 1 1 3. - Den fUr das reichische Kohärenzmodell Schmidts zentralen Begriff des komplementären Reichs-Staates erklärt er ebd., S. 40-44. nordeuropäisch-junge
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rei chischen Identität überlagert. "Trotz aller Sprengkraft des Konfessionellen profitierte der Reichs-Staat von der Bindekraft der Konfessionen. Die von den Bekenntnissen ausgehende Mobilisierung brachte neue, regionenübergreifende Verklammerungen. Die mit dem Schmalkaldischen Bund eingeleitete Inte gration der niederdeutschen Stände in den oberdeutschen Reichs-Staat wurde im Dreißigjährigen Krieg unumkehrbar. ,, 48 Der heilsgeschichtliche Antagonismus zwischen Nord und Süd, wie er sich bei den Protestanten im Dreißigjährigen Krieg zeigte und der Schweden als dem Norden, aus dem die Erlösung vom babylonischen Joch der römischen Kirche kommen sollte, kurzzeitig ein so deutliches Eigen- und Überlegenheitsprofil im kontinentalen Protestantismus verleihen sollte, wurde schon im zeitlichen Vor feld seiner Wirksamkeit von säkular-politischen Handlungs- und aus ihnen wiederum erwachsenden gesamtreichischen Identitätsmustem überlagert, welche die Überwindung eben dieses Antagonismus implizierten. 49 Was sich im Heiligen Römischen Reich um 1 500 abzuzeichnen begann: Die Integration des reichsfemen Nordens als Subjekt in den Handlungszusammenhang des Reiches durch gemeinsame Interessen und durch institutionalisierte und verrechtlichte politische Verfahren vollzog sich im 1 7 . Jahrhundert in ganz ähnlicher Weise bezüglich der Position Nordeuropas - und in dieser Zeit ist Schweden in poli tischer Hinsicht aus kontinentaler Perspektive mit dem Norden gleichzusetzen im kontinentalen Kontext. Der Wechsel des politischen Nonnensystems in Europa - weg von der heilsgeschichtlichen Begründung von Politik, hin zum säkularen Machtsstaatsinteresse - schuf die Voraussetzung zur Integration des Nordens in das System politischer Interessen und Verfahren sowie völker rechtlicher Bindungen, das den gesamten Kontinent bis zum Ende des Ancien regime bestimmte. Der Dreißigjährige Krieg bildete den entscheidenden Er eigniskomplex tur die endgültige politisch-handlungsorientierte und nonnative Integration des Nordens nach Europa.
48
49
Schmidt, Geschichte (wie Anm. 46), S . 1 3 3 . Siehe dazu die Beiträge in: Der südliche Ostseeraum und das Alte Reich, hrsg. von Nils Jörn u. Michael North, Köln/Weimar 2000 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 35).
EIN E ANDERE ANTIKE UND DIE WILDE N ATU R DA S B ILD DES NORDENS IN DER BILDENDEN KUNST DER FRÜHEN NEUZEIT Lars OIof Larsson
Kein Künstler der frühen Neuzeit setzte sich mit den Vorstellungen seiner Zeit vom "Norden" bzw. vom "Nordischen" im allgemeinen Sinne bewusst aus einander. Eine solche AufgabensteIlung wäre ihm völlig fremd gewesen. Die bildende Kunst dieser Zeit gestaltete die Ideologien des Gemeinwesens, sie diente dem religiösen Kult und der weltlichen Macht mit den Bilddarstellungen, die diese brauchten. Sie erfüllte außerdem dokumentarische Aufgaben, d.h. sie hielt Orte, Ereignisse und Besonderheiten verschiedener Art im Auftrag der un mittelbar Interessierten im Bilde fest. Dies geschah in einer Vielzahl von Medien mit sehr unterschiedlicher Öffentlichkeitswirkung, von der Zeichnung über das Gemälde bis hin zur Druckgraphik. Darüber hinaus eroberte sie sich gerade zu dieser Zeit mit Motivgattungen wie Landschaft, Stillleben und Genre in zunehmendem Maße Aufgabengebiete, die im wesentlichen dem delectare dienten und aus denen sich das entwickelte, was wir im modernen Sinne eine "freie Kunst" nennen können. Wenn wir also nach dem Bild des Nordens in der bildenden Kunst der frühen Neuzeit fragen, müssen wir in diesen hier grob um rissenen Aufgabenfeldern suchen. Dabei soll die Aufmerksamkeit vor allem auf zwei Aspekte gelenkt werden, an denen nordische Eigenart und nordische Ver hältnisse erkannt und veranschaulicht wurden: Die "andere Antike" und die "wilde Natur" .
Eine andere Antike Die "andere", also die eigene Antike wird in den nordischen Ländern in der frühen Neuzeit ein wichtiges Thema für die patriotische Geschichtsschreibung. Es ging darum, die eigene Bedeutung in der Staatengemeinschaft der Gegenwart durch den Nachweis einer möglichst weit zurückreichenden und glanzvollen Vergangenheit zu unterstreichen. Eine lange Geschichte war unverzichtbar für das Prestige einer Dynastie bzw. einer Nation. Mit dieser Aufgabe waren Archivare und Historiographen betraut. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf das Sammeln, Übersetzen und Edieren von isländischen und anderen altnordischen Dichtwerken und Chroniken. 1 Ein Beispiel dafür, wie mit solchen Editionen die I
die antiquarische Forschung und Geschichtsschreibung siehe: Gustav Löw, Svensk fomtid i svensk historieforskning, 1 908, Bd. 1 ; Sten Lindroth, Svensk lärdomshistoria, 4 Bde., Stockholm 1 975, Bd. 3: Stonnaktstiden, S. 235-348; Henrik Schück, Kgl. Vitterhets-, historie- och antikvitetsakademien, Bd. 1 -3, Stockholm 1 93 2/ 1 933, zeigt auch die Entwicklung in Dänemark auf. Für
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internationale gelehrte Welt angesprochen wurde, ist die schöne Ausgabe von Saxo Grammaticus' Gesta Danorum von 1 5 14, die in Paris erschien ? Auf dem Titelblatt dieser Ausgabe ist ein dänischer König, in zeitgenössische Rüstung gekleidet - also ohne Merkmale, die die Gestalt als "altnordisch" aus weisen würden an der Spitze seiner Gefolgsleute dargestellt. Der Rahmen ist mit Renaissancemotiven wie Pilaster und Groteskenornamentik gestaltet. In unserem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass unter den grotesken Elementen auch zwei Drachen eingeftigt sind. Dieses Motiv ist der aus der Anti ke abgeleiteten Groteskenornamentik fremd und kann nur als bewusste Übernahme aus einer älteren nordischen Handschrift erklärt werden, die den "antiken" nordischen Ursprung der Chronik andeuten soll. Das Drachenmotiv stellt, ganz im Sinne der Rhetorik, eine Anpassung der Schmuckformen an den Inhalt dar und zeugt vom Bewusstsein der historischen Zugehörigkeit der Drachenornamentik. -
In engem Zusammenhang mit dem Sammeln von Urkunden und der Edition von Chroniken steht die genealogische Forschung, die vor allem darum bemüht war, großartige Stammbäume der Herrscherhäuser zu konstruieren. Diese reichten in der Regel zurück in die Zeit des Alten Testaments. Sowohl in Däne mark als auch in Schweden wurden, ähnlich wie z.B. in Frankreich und Bayern in der zweiten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts, B ildteppichfolgen mit Darstellungen von historischen und märchenhaften Königen des Reiches produziert; ein anderes Medium solcher Propaganda war das illustrierte Buch. Die schwedische Folge, die aus fünf Tapeten bestand, zeigte die ersten Könige des Reiches, Magog (ein Enkel Nohas) und seine Söhne Sveno und Gotus ? Die dänische Folge war weit anspruchsvoller. Sie umfasste außer dem Bildnis des regierenden Königs Friedrich H. und dessen Thronfolger Christi an nicht weniger als 1 1 1 Könige und reichte ebenfalls in die Zeit des Alten Testaments zurück. 4 In keiner von diesen Darstellungen ist der Versuch gemacht worden, den Königen durch Kostüme oder Attribute einen sp ezifisch altnordischen Charakter zu geben. Sie werden in denselben modi wie die entsprechenden Gestalten aus dem Alten 2
3
He rausgegeben von Christiern Pedersen, Kanon i ker in Lund, m it Unterstützung des dänischen Königs und des B i schofs von Roskilde. Gedruckt bei J odoc us Badius Ascensius; David Wilson, Else Roesdahl, Vikingarnas betydel s e för Europa, in: Svenolof Karlsson, (Hrsg.), Frihetens källa. N ordens betydelse för Europa, Nordiska rädet 1 9 92 S. 45. Sie wurden 1 56 1 - 1 5 69, wahrscheinlich nach Entwürfen von Domenicus ver Wilt gewebt. Nur zwei Tapeten, mit D arstel lungen von Magog und Sveno, haben sich erhalten. Als lite rarische Quelle diente Johannes Magnus ( 1 488-1 544), Hi storia de omnibus regibu s Gothorum Sveonumque ( 1 554); John Böttiger, Sve nska Statens sarnling af väfda tapeter, 2 Bde., Stockholm 1 895, Bd. I ; Farbige Abb. der Sveno-Tapete in: Renäs sansens konst. Signums Svenska konsthistoria, Lund 1 996, S. 269. Die Tape ten wurden 1 58 1 - 1 585 in der Werkstatt Hans Kniepers gewebt. Die Serie um fa ss te 40 Tape te n M. Mackeprang, Flamand Christensen, Kronborg-tapeterne, Kopen hagen 1 950. ,
.
�ine andere Antike und die wilde Natur
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Te stament oder der klassischen Antike in der Historienmalerei der Zeit dar gestellt. Im 1 7 . Jahrhundert entwickelte sich sowohl in Dänemark als auch in Schweden eine antiquarische Forschung, die sich dem Aufsuchen und der Inter pretation von Bodendenkmälern und anderen Artefakten widmete. Sie wurde in beiden Ländern vom Staat großzügig unterstützt und erhielt bereits um die Mitte des Jahrhunderts institutionellen Charakter. Die Rolle der bildenden Kunst in diesem Zusammenhang beschränkte sich darauf, durch Bilddarstellungen die Funde zu dokumentieren und die meist sehr anspruchsvollen Publikationen zu illustrieren, wobei das Titel- und Widmungsblatt oft eine eindrucksvolle Zurschaustellung der nationalen Ideologie zeigen (Abb. 1 ). 5 Die besondere Aufinerksamkeit der antiquarischen Forschung galt den zahl reichen Runeninschriften, die an die Zeit vor der Latinisierung des Nordens er innerten. Diese bildeten einen Ersatz fiir Skulpturen und Architekturruinen, die ja eine so wichtige Rolle fiir die Vorstellungen von der römischen und grie chischen Antike spielten. In den Runensteinen besaß man immerhin steinerne Denkmäler, und da ihre Schrift damals als noch älter als die griechische und römische galt, schienen sie von einer besonders ehrwürdigen nordischen Ver gangenheit zu zeugen. Runenschrift und Bilder von Runensteinen wurden seit Beginn des 1 7. Jahrhunderts in Dänemark wie in Schweden in zahlreichen Publikationen vorgestellt (Abb. 2). Sie gehörten auch früh zu den Bildsymbolen, die auf die spezifisch nordische Vergangenheit der beiden Reiche, auf die eigene Antike verweisen. Ein besonders ehrgeiziger und auch im gesamteuropäischen Kontext bemerkenswerter Versuch, die Geschichte der Nation von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart in einem Bilderzyklus darzustellen, wurde in den 1 63 0er Jahren von Christian IV. von Dänemark initiiert. In über 80 Bildern, von denen eine Auswahl als Gemälde heute noch Räume auf Schloss Kronborg schmücken und die in ihrer Gesamtheit als Kupferstichfolge einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollten, wollte der König die Geschichte Dänemarks vorstel len. 6 Die Arbeit an der graphischen Folge blieb leider in den Anfiingen stecken. Die Gemälde fielen 1 659 größtenteils den plündernden Schweden zum Opfer. Sie sind heute, sofern erhalten, in verschiedenen Sammlungen in
5
Schück, Vitterhetsakademien (wie
Anm .
1 ), Bd. 2, 1 932, S. 40- 1 1 5 und Bd. 3 , 1 933,
S. 273-3 1 8; Lindroth, Lärdomshistoria (wie Anm. I ), S. 320-326; David Wilson, Vikings
and Gods in European Art, Moe sgärd Museum 1 997, S. 1 3-22; H. D. SchepeIern, Museum Wormianum: dets forudsetninger og tilblivelse, Odense 1 97 1 ; H. D. Schepelem, Ulla
6
Houkjaer, The Kronborg Series. King Christian IV and His Pietures of Early Danish History (The Royal Museum of Fine Arts), Kopenhagen 1 988, S. 28-34.
Ebd.
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Abb. I : Johannes Peringskiöld, Monumenta Ullerakerensia,
1 7 1 9, Widmungsblatt. Radierung.
Eine andere Antike und die wilde Natur
Abb.
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2: Runenstein in Uppland. Hol:cschnitt. Nach Peringskiöld, Monumenta,
1 7 1 9.
Schweden und Dänemark verstreut zu finden. Die Zeichnungen, die für die Ge mälde wie für d i e Kupferstiche als Vorlage dienen sollten, sind aber zum großen Teil erhalten und geben eine gute Vorstellung von dem Projekt.
Als wissenschaftliche Berater waren mehrere dänische Historiker engagiert; die wichtigste Rolle scheint aber der als Runenforscher und Antiquar bekannte Arzt Oie Worm ( 1 5 88- 1 654) ge spielt zu haben, auf dessen Initiative das ganze Projekt anscheinend auch zurückgeht. Als Quelle für die Auswahl der Szenen diente vor allem Saxos Gesta Danorum; für die Übersetzung der Taten und Ereignisse, die Saxo beschreibt, in eine verständliche Bildsprache griffen die Künstler auf italienische und niederländische Darstellungen der römischen Ge schichte zurück. Besonders die zahlreichen Kupfersti che Antonio Tempe stas ( 1 5 5 5- 1 63 0) wurden gern zu Rate gezogen. Der Auftrag für das Gesamtprojekt erhielt der in Dänemark tätige holländische Kupferstecher Simon de P asse ( 1 595- 1 647), der eine ganze Reihe vor allem Utrechter Künstler für den Auftrag gewann. Am wichtigsten waren darunter Simons Bruder Crispin 11. de Pas se
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( 1 597- 1 670) und Gerrit van Honthorst ( 1 590- 1 656). Die Konstruktion dieses Auftrages zeigt, wie kompliziert es sein kann, im konkreten Fall zwischen dem "Eigenbild" und dem "Fremdbild" zu unterscheiden. Für die Auswahl der Szenen, die dargestellt werden sollten, und wohl auch fiir ihre Interpretation waren dänische Gelehrte verantwortlich, für die Übersetzung in das Medium des Bildes sorgten aber ausländische Künstler, die mangels einer brauchbaren nor dischen Bildüberlieferung darauf angewiesen waren, auf Muster aus anderen kulturellen Kontexten zurückzugreifen. Die ersten Darstellungen der Serie sind den religiösen Gebräuchen der heid nischen Vorfahren gewidmet. Von einer Verklärung der heidnischen Vergan genheit kann aber keine Rede sein. Dafiir war man sich wahrscheinlich viel zu sicher, durch die Annahme des Christentums auf eine höhere Stufe der Kultur gelangt zu sein. Hinzu kommt natürlich, dass die von den Missionierungs interessen geprägte Tendenz der schriftlichen Quellen eine objektive Sicht der Dinge unmöglich machte. Die Grausamkeit der rituellen Menschenopfer wird drastisch unterstrichen, die Priester und Wahrsagerinnen sind mit physiogno mischen Mitteln in ein negatives Licht gerückt. Die Darstellung, wie König Jarrik die gefangen genommenen Wenden zu Tode quälen lässt, ist ein gutes Beispiel fiir die Überzeugung, dass die heidnischen Vorfahren besonders grau sam gewesen seien. Andere Bilder zeugen dagegen von dem Mut und der Kampftüchtigkeit, aber auch von dem großen Ansehen der Vorfahren. Besonders interessant ist die Darstellung von den kimbrischen Gesandten, die Kaiser Augustus ihre Aufwartung machen. ' Hier wird die Mäßigung der kampf lustigen und sieggewohnten Barbaren bezeugt. Sie sind, wie andere Bilder ge zeigt haben, stark genug, um j eden Gegner zu besiegen, und ihre Herrschaft wird von vielen Völkern anerkannt. Sie handeln aber nicht destruktiv, sondern ordnen sich freiwillig einer höheren Weltordnung unter, die hier durch Kaiser Augustus symbolisiert wird. In Schweden fehlt ein vergleichbares bildkünstlerisches Projekt. Dafiir finden wir dort im Bereich der akademischen Gelehrsamkeit den wohl originellsten Beitrag zur Interpretation der ältesten nordischen Geschichte. In seinem großen Werk Atlantica (4 Bde., 1 679- 1 702) legte der Gelehrte Olof Rudbeck ( 1 6301 702) unter Aufgebot einer erdrückenden Menge abenteuerlich interpretierter Indizien und Argumente seine verblüffende Entdeckung dar, dass das von Platon beschriebene A tlantis gar nicht untergegangen, sondern in Wirklichkeit Schweden sei. 8 Aus kunsthistorischer Sicht interessiert dabei vor allem, dass 8
Ebd., S . 66 f. Olof Rudbeck, Atland eller Manheim (lateinischer T itel : Atlantica), 4 Bde., Uppsala 1 6791 702. Neue vollständige Ausgabe des schwedischen Textes und der Bildtafel, Uppsala 1 937-50; Löw, Fomtid (wie Anm . 1 ); Gustav Löw, Rudbeckiana, Uppsala 1 93 0 ; Johan Nordström, Oe yverbornes ö, in: Rudbeckstudier, Stockholm 1 930. Neudruck in: Oe yverbomes Ö, Stockholm 1 934, S. 89- 1 54; Ragnar Josephson, Det hyperbore i ska Uppsala,
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ihm ein architekturhistorisches Argument besonders wichtig war. D urch Unter suchungen an der mittelalterlichen Kirche von Alt-Uppsala meinte er feststellen zu kön ne n dass im Turm dieser Kirche der von Adam von Bremen beschriebene he idnis ch� Tempel von Alt-Uppsala integriert sei. 9 Rudbeck rekonstruierte diesen Bau als quadratische Halle mit zwei Bogenöffnungen nach j e der Seite und erklärte ihn für identisch mit dem von Platon erwähnten Poseidontempel auf Atlantis (Abb. 3). In dem sog. Janustempel in Rom erkannte er ein Fortleben des Uppsalaer Tempeltypus. In Alt-Uppsala stand demnach das älteste, wenn auch von späteren Eingriffen stark veränderte Bauwerk der Welt und der Prototyp des späteren klassischen antiken Tempelbaus. Rudbeck, der eine ganze Menge von Architektur verstand und selbst ein tüchtiger Architekt war, musste freilich zugeben, dass der Tempel von Uppsala etwas "klobig gebaut" sei "nach unserer Art" - und dass die alten Griechen und Römer den Typus sehr verfeinert hätten. An der Pioniertat der nordischen Kultur sei aber nicht zu rütteln. Vor diesem Hintergrund konnte die Rolle, die Schweden damals in Europa beanspruchte, nur als angemessen gelten. ,
-
Abb. 3 : Kirche von Alt-Uppsala. Holzschnitt. Nach Olof Rudbeck, AtIantica.
9
Stockholm 1 940 (Sv. humanistiska fö rbundet Bd. 5 1 ); Lindroth, I ), S. 284-305 und 599 f. mit weiterführender Literatur. Josephson, Uppsala (wie Anm. 8), S. 3 7-6 1 . Anm.
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Lärdomshistoria (wie
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Auch in Erik Dahlberghs ( 1 625-1 703) großem Tafelwerk Svecia antiqua et hodierna, begonnen um 1 660 und veröffentlicht 1 7 1 7, spielt die "nordische Antike" eine wichtige Rolle. lo Dahlbergh übernimmt allerdings nicht die phantastischen Geschichtskonstruktionen, die wir bei Rudbeck finden. Eine Re konstruktion des Tempels von Alt-Uppsala, der wichtigsten heidnischen Kult stätte des Reiches, durfte aber natürlich nicht fehlen. Dahlbergh gibt den Tempel nach einer Darstellung wieder, die sich angeblich im Haus der HI. Birgitta in Rom befand und daher möglicherweise von Olaus Magnus ( 1 490- 1 5 5 7) stammen könnte. Ansonsten zeigt er eine Auswahl der als historisch wichtig angesehenen altnordischen Stätten und Denkmäler aus Mittel- und Südschweden in relativ nüchterner und sachlicher Fonn (Abb. 4). An der Echtheit einer als Darstellung des heidnischen Gottes Thor gedeuteten, heute nicht mehr nachweisbaren Holzskulptur, die sich im Dom von Uppsala befand, scheint er allerdings nicht gezweifelt zu haben. Mit dem Ende der Großmachtstellung beider nordischen Reiche und mit dem Einzug aufgeklärter Denkweisen verlor die altnordische Thematik nicht nur an Attraktivität, sie wurde gelegentlich sogar der Lächerlichkeit preisgegeben. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde sie unter neuen geistesgeschichtlichen Prämissen wieder aktualisiert. Das ist aber nicht Thema dieser Darstellung.
Der Norden in europäischer Perspektive Der Norden spielte im 1 6. und 1 7. Jahrhundert eine immer wichtigere Rolle für die europäische Politik und Wirtschaft. Daher überrascht es nicht, dass diese Region auch in der bildenden Kunst anderer Länder in verschiedener Weise ihre Spuren hinterlassen hat. Große Ereignisse wie der Dreißigjährige Krieg oder der Nordische Krieg haben selbstverständlich Anlass zu zahlreichen Bilddar stellungen in unterschiedlichen Medien gegeben; einen spezifisch nordischen Bezu g weist dabei das Thema "Der Löwe aus der Mitternacht" auf, das in der Propaganda um Gustav 11. Adolf eine sehr wichtige Rolle spielte. Darauf näher
10
Die veröffentlichte Fassung
der Svecia antiqua
das heutige Schweden, wobei die dargestellt sind. Nicht veröffentlicht wurde der Text zu den Tafeln, obwohl zum großen Teil bereits geschrieben. Die ursprüng lich geplanten Ansichten aus den baltischen Provinzen wurden nicht ausgeführt. Zum Zeit punkt der Veröffentlichung waren sie de facto auch bereits verlorengegangen. Svecia antiqua wurde 1 856 neu aufgelegt, z. T. unter Verwendung der alten Platten. Die wissen schaftliche Standardausgabe ist Erik Vennberg, Svecia antiqua et hodierna, Stockholm 1 924. Ein Neudruck dieser Auflage erschien Stockholm 1 98 3 . SchOck, Vitterhets
mittelschwedischen Regionen
akademien
(wie
Anm. I ),
am
umfasst
ausfilhrlichsten
1 933,
S. 286-40 1 .
Börje
fäderneslandet. En studie i Erik Dahlberghs verksamhet Universitatis Upsaliensis, Ars svetica Bd. 1 0), S. 14 f.
Magnusson,
Att
illustrera
som tecknare, Uppsala 1 986 (Acta
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Eine andere Antike und die wilde Natur
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Abb. 4: Der sog. "Schlüsselstein" bei Sigtuna. Kupferstich. Nach Erik D altlbergh , Svecia antiqva.
einzugehen würde hier zu weit führen. 1 I Im Folgenden sollen vor alle11l Bilddar stellungen betrachtet werden, die hal b wegs friedliche Begegnungell mit dem Norden dokumentieren.
Darstellungen nordischer Themen in der europäischen Kunst finden wir vor
allem bei den Holländern. Da s hängt hauptsächlich mit der starken w irtsc haft
lichen Aktivität der Niederländer in der Nordsee und im Ostseeraum zusammen, erklärt s ich aber auch daher, dass d ie Malerei und Graphik in den Niederl anden im 1 6. und 1 7. J ahrhundert eine quantitative und qualitative Blüte erlebte wi e nirgends sonst nördlich der Alpen. Die uns bekannten Gemälde lassen v ie l e verschiedene Aspekte holländischer Aktivität in Nordeuropa erkellnen : See sch lachten um die Kontrolle des Ostsee h andels , das Engagement im Ber�b.au und in der Waffenherstellung in S chweden, der Walfang und die Fischere i 1 m Nordatlantik. 12 Diese Bilder, die m ei st von großem F ormat und kii nst l eri sc h 11 12
Johan Nordström, Lejonet frän Norden, in: Samlaren, 1 934 und in: De yVerbomes ö, Stockholm 1 934, S. 9-5 1 . Jeroen Giltraij , J an Kelch (H rsg.), Herren der Meere - Meister der Kun st. D a s ltolländi�he Seebild im 1 7. Jh. , Ausstellungskatalog Rotterdam und Berlin 1 996- 9 7 , Nr. 2 0-1. C omehsz Vroom, Holländische SchifTe vor Schloß Kronborg, 1 6 1 4), Nr. 5 8 ( J an A brahamsz
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Lars Olof Larsson
anspruchsvoll ausgefiihrt sind, nehmen eine Stellung zwischen Dokumentation und "freier Kunst" ein. Anlass ihrer Herstellung war in den meisten Fällen der Wunsch, bestimmte Ereignisse oder Unternehmungen zu dokumentieren. Die Darstellungen von Seeschlachten und vom Walfang haben sich aber zu speziellen Gattungen entwickelt, die anscheinend auf dem Bildermarkt begehrt waren. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass solche Darstellungen auch als graphische Blätter verbreitet wurden. Sie haben wahrscheinlich in nicht zu unterschätzendem Maße die Vorstellungen, die man sich im übrigen Europa vom Norden machte, mitgeprägt. Es leuchtet ein, dass der abenteuerliche Walfang die Phantasie anregte, daher bedarf es wohl an sich keines Hinweises auf bestehende Bildtraditionen, um zu erklären, warum gerade dieser Erwerbszweig und nicht etwa der ökonomisch sicher wichtigere Holz- oder Getreidehandel ein so beliebtes Bildthema wurde. Nun wissen wir aber auch, dass gerade Wale und Walfang, Eisbären und der ge fährliche Umgang mit ihnen seit Olaus Magnus' Charta marina von 1 53 9 die Vorstellungen über diesen Teil des Globus prägten. Es stellt sich also schon die Frage, in welchem Verhältnis Realitätserfahrung und Bildüberlieferung in diesem Falle zueinander stehen.
Wilde Natur Die frühesten künstlerisch anspruchsvollen Darstellungen skandinavischer Landschaften stammen von einem holländischen Künstler des 1 7 . Jahrhunderts, Allaert van Everdingen ( 1 62 1 - 1 675), den es um die Mitte des Jahrhunderts nach Südnorwegen und Westschweden verschlug. Datierte und mit Ortsangaben ver sehene Zeichnungen belegen, dass er vor Ort Landschaftsstudien angefertigt hat. 1 3 Nach seiner Rückkehr nach Amsterdam wiederholte und variierte er seine skandinavischen Motive und bereicherte die niederländische Landschaftsmalerei mit Elementen, die auch von anderen Künstlern, z. B. von Jacob van Ruysdael ( 1 628- 1 682), aufgegriffen wurden. Das zentrale Motiv dieser Ikonographie waren Wasserfälle und Stromschnellen, Motive, die ihren Rang als Standard motive in der Ikonographie skandinavischer Landschaftsdarstellungen bis in unser Jahrhundert behauptet haben.
13
Beerstraaten, Seeschlacht in Ö resund 1 658), Nr. 86 (L. Verschuier, Walfang, ca. 1 665), Nr. 92 (A. Storck, Walfang, ca. 1 665) und Nr. 1 1 0 (A. Salm, Walfang, ca. 1 7 1 0); Klaus Bußmann, Heinz Schilling (Hrsg.), 1 648. Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungs katalog Münster und Osnabrück 1 998-99, S . 56 f. (A.v. Everdingen, Julita bruk in Schweden). Karl Erik Steneberg, Kristianatidens mAleri, Malmö 1 95 5 , S. 1 1 8- 1 25; Wolfgang Stechow, Dutch Landscape Painting of the 1 7th Century, London 1 966, S. 1 42- 1 46. A. I. Davies, Allaert van Everdingen (Diss. Harvard 1 973), New YorkJLondon 1 978.
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Anders als bei den W al fangb il dern ist al lerd in gs fragli ch , inwieweit die Be J ahrhunderts solche Darste l lungen primär als nordische Land schaft en rezi p ierte n . Vielleicht lag ihr Re i z vor allem darin, dass sie au fgrund ihrer Wildheit und der Primitivität der menschlichen B e hausu ngen, die ge legentli ch darin v orkommen, als allgemein verstandene und n i c ht näher lokali sierte G egenb il der zu der vertrauteren zivilisierten und urbanen Welt ge sehen werden konnten. Dafür könnte die Tatsache sprechen, dass d iese neuen Motive von anderen Malern, die keinen Bezug zum Norden Europas hatten, so schnell assimiliert wurden, ganz im Gegensatz etwa zu den Brasilienansichten Frans Posts, von denen kein Einfluss auf die holländische Landschaftsmalerei aus gegangen i st . In der Hand von Künstlern, die die nordische Natur aus eigener Erfahrung nicht kannten, ging auch bald der Eindruck von Authentizität ver loren. In Jacob van Ruys dae ls Gemälden sind die Stromschnellen und Fichten selten als Elemente e i n er skand inavi schen Landschaft bestimmbar; oft gen ug wirken sie im Vergleich zu E v erd ingens Dar stel l ungen wie willkürlich gewählte Kulissen. In einem Fall scheint aber außer Zweifel zu stehen, dass Everdingens skandinavische Landschaften auch als solche gesehen wurden. Im Trip enhui s, der Amsterdamer Residenz der Gebr. Trip, die in der schwedischen Waffen produkti on stark en gag i ert waren, hängen Sopraporten mit Darstel l ungen von Wasserfällen und an deren Motiven der "wilden Natur" vo n seiner Hand, die s i ch er an die wich ti gen Geschäftsverbindungen mit dem Norden erinnern sollen. 1 4 trachter des 1 7.
Auch in der skandinavischen und vor allem in der schwedi schen Kunst des 1 7. Jahrhunderts wurde die nordische Natur gel e gentlich G egens tand künstle rischer Darstellungen. Auch dafür liefert Dahlberghs Svecia antiqua v i el e Bei sp i e l e. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die "wilde Natur" vor allem als Folie für Le i stun g und Fortschritt der Zivilisation dient; nur selten wird dem Betrachter ein E i ndruc k von der E i genwerti gke it der Natur vermittelt. Eine solche Au snahm e bildet das Panorama der imposanten Wasserfälle von Troll h ättan. Dieses Bild wird freilich ergänzt durch eine Darstellung au f demselben Blatt von einem zweiten Wasserfall, der von einer kühn konstruierten Brücke übersp annt wird. Andere B e i spie l e zeigen die Nutzbarmach u ng der Wasserfälle als Energi eque ll e oder für den Lachsfang. Von dem erfo l gre i chen Kampf der Zivilisation gegen die "wilde Natur" zeugen auch die Titelblätter der Provinzen des Großherzogtums F i nn l an d s. Ein gewisses kulturelles Nord- bzw. Ost Südgefälle i st dabei nicht zu übersehen. Während die Menschen in Nordfinnland und Karelien noch im dichten Wald und umgeben von wilden Bären und Wölfen ihre kleinen Ackerfelder roden und bestellen, zeigt die Darstellung Süd fi n nl ands ein zwar kleines, aber wohlbestelltes Gehöft und im Vordergrund einen S te inmetzen , der an einem schönen korinthischen Kapitel l arbeitet. 14
K. E. S teneberg, mäleri (wie Anm. 1 3), S . 1 22 f.; Davies. Everdingen (wie Anm. 1 3), Nr. 1 0 1 - 1 04.
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Lars 01of Larsson
Künstlerisch bemerkenswerter als die Stiche aus Svecia antiqua sind einige Gemälde, an denen zu erkennen ist, dass die Künstler versucht haben, mit Hilfe von Witterung und Lichtstimmungen und nicht nur durch bestimmte Landschaftselemente, wie Wasserfalle oder Fichten, etwas spezifisch Nordisches zu gestalten. Wenn zum Beispiel David Klöcker von Ehrenstrahl ( 1 628- 1 698) eine Birkhuhn- oder Auerhahnjagd malt, so i st der Auftrag selbstverständlich im Zusammenhang mit den zahlreichen anderen Jagd darstellungen zu sehen, die er rur den schwedischen König malte. 1 S In der Art und Weise aber, wie er diese Jagdszenen in eine Stimmung einbettet, die von dem spezifischen Licht eines kalten Frühlingsmorgens bei Sonnenaufgang geprägt ist, dokumentiert er nicht nur, wie diese Vögel bei der Balz geschossen wurden, sondern er erschließt auch der Malerei eine neue Dimension in der Wiedergabe der nordischen Natur. Zwei Stockholmer Veduten mögen das Bild abrunden. Die älteste uns bekannte Darstellung Stockholms, die sog. Vädersolstavlan von 1 5 3 5 , wurde gemalt, um ein bestimmtes Lichtphänomen am H i m me l zu dokumentieren. Daher nimmt der Himmel einen so großen Platz auf dem Bild ein. 1 6 Irgend welche atmosphärischen Besonderheiten hat der Maler aber nicht darstellen können oder wollen. Als Cornelis van der Meulen ( 1 642- 1 692) gut 1 00 Jahre später eine Ansicht der Stadt malte, war auch ihm der Himmel besonders darstellungswürdig; jetzt handelte es sich aber nicht um ein Ausnahmephänomen, sondern um etwas ganz Normales aber auch spezifisch Nordisches, um die helle Sommernacht. 17 Wir wissen nicht, ob diese Lichtstimmung dem Maler mehr bedeutete als nur ein orts- und jahreszeittypisches Phänomen (wie es später in der skandinavischen Malerei um 1 900 der Fall war); er hat es auf jeden Fall wie kein Künstler vor ihm verstanden, Stockholm als nordische Stadt darzustellen, indem er die Stadt in der speziellen Sommerabendbeleuchtung malte. Es liegt auf der Hand, dass Darstellungen wie van der Meulens Stadtansicht oder Klöckers Vogeljagdbilder eine intime Kenntnis der spezifisch nordischen Verhältnisse voraussetzen. Es gehört aber noch etwas anderes dazu. Van der Meulen und David Klöcker waren beide Ausländer und haben den Norden erst im Erwachsenenalter kennengelernt. Beide waren aber auch lange genug in Schweden, um mit den Verhältnissen dort vertraut zu sein. Vielleicht haben sie einen schärferen Blick für die spezifischen Lichtverhältnisse Skandinaviens 15 16 17
Beide im Nationalmuseum, Stockholm. Bertil Rapp, Djur och Stilleben i karolinskt mäleri, Stockholm 1 95 1 , S. 1 0 1 - 1 06. Jan Svanberg, Vädersolstavlan i Storkyrkan. IV : Det konsthistoriska sammanhanget, in: Samfundet Sankt Eriks Arsbok 1 999, S. 65-86. K. E. Steneberg, En Stockholmsbild frm 1 600-talet, in: Samfundet Sankt Eriks Arsbok 1 944, S. 93 . Farbige Abb. in: Barockens konst. Signums svenska konsthistoriska, Lund 1 997, S. 3 9 1 .
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gehabt als die einheimischen Zeitgenossen, denen Phänomene wie die hellen Sommerabende selbstverständlich waren. Van der Meulen und K löcker waren außerdem wahrscheinlich mit der europäischen Landschaftsmalerei ihrer Z eit vertraut, kannten die Bilder eines Claude Lorrain und der holländ ischen sog. "Italienisanten" . Ihre Darstellungen der römischen Campagna im typischen Sonnendunst mögen van der Meulen und Klöcker die Anregung gegeben haben, Licht und Atmosphäre zum Thema ihrer eigenen Landschaftsmalerei zu machen. Ihre persönliche Leistung besteht dann darin, den spezifischen Charakter nor discher Lichtverhältnisse erkannt und die adäquaten malerischen Ausdrucks mittel gefunden zu haben, diese in ihrer Kunst darzustellen.
BIL DER DES NORDENS IN DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR DER ROMANTIK
Volker Kapp
Im Schlusswort seiner Rheinreise ( 1 842) schreibt Victor Hugo, der Mensch des Nordens sei immer derselbe. Er steige unter bestimmten Konstellationen des Klimas und des Schicksals vom Pol nach Süden und verschwinde dann wieder für zwei Jahrtausende. 1 Hugo verkehrt hi er eine Vorstellung von Montesquieu, der im 5 . Kapitel des 1 7. Buches von L 'Esprit des Lois ( 1 748) Nordeuropa als die Wiege der Völker bezeichnet, die keine Tyrannei ertragen und deshalb immer wieder durch ihre Invasionen die Völker des Südens von den Fesseln ihrer Knechtschaft befreien, in ihr Gegenteil. Diese Gegenüberstellung des Fruhautklärers und des Romantikers soll einleitend darauf hinweisen, dass einer seits bereits die Autklärung sich mit Konstruktionen von Nördlichkeit beschäf tigt, andererseits die Vorstellung vom Norden etwas historisch Gewachsenes und in sich Widersprüchliches ist. Man kann die Voraussetzungen, von denen die Konstruktion der Bilder des Norde ns in der französischen Romantik ausgeht, in drei Punkten zusammen fassen: 1.
2
Das Phantasiebild des Nordens ist für die Franzosen bis ins 1 8. Jahr hundert mit etwas Barbarischem assoziiert, das tendenziell negativ be setzt i st. Es ist nicht auf den Norden Europas beschränkt, sondern wird in einem al lgemeinen Schema der Opposition von Norden und Süden eingeordnet, bei dem der Norden das Kalte, Unzivilisierte und Kämpferische, der Süden das Warme, Zivilisierte und Genießerische repräsentiert. Eine Umwertung lässt sich seit Montesquieus L 'Esprit des Lois belegen. Montesquieu beruft sich auf Reisebeschreibungen, denen zufolge die Gegend um Stockholm fruchtbar sei, weil sie die Gebirge von Norwegen und Lappland vor dem Nordwind schützen. 2 Im Norden gebe es also nicht nur unwirtliche Öde, sondern auch kulti viertes Land. Mit Hilfe der Klimatheorie will der Autor die kriege rische Überlegenheit der Bewohner von nördlichen Gegenden be weisen. Die Völkerwanderung müsse man als Eroberung des warmen
"L'homme du nord propremcnt dit est toujours le meme. A de certaines epoques clima teriques et fatales, il descend du päle et se fait voir aux nations meridionales, pu i s il s'en va, et il revient deux mille ans apres, et l'histoire le retrouve tel qu'elle l'avait l aisse " (Hugo, Le Rhin 11, in: Oeuvres com plt!te s, Paris 1 927, S. 3 56). "[ ] en Europe [ ... ] les montagnes de Norwege et de Laponie sont des boulevards admi rables qui couvrent de ce vent les pays du nord; que cela fait qu'ä Stockholm [ ... ] le terrain produit des fruits, des grains, des plantes [ ... ]" (Montesquieu, De I'Esprit des Lois. Texte etabli avec une introduction, des notes et des vari antes par Gonzague Truc, 2 vol., Paris 1 956, vol . I , S. 287). •••
Volker Kapp
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Südens durch die Bewohner des unwirtlichen Nordens verstehen. In diesem Zusammenhang spielt Montesquieu nicht nur die unabhängigen Nordländer gegen die Bewohner des Südens, sondern auch die Asiaten als Unfreie gegen die Europäer des Nordens als Freie aus. 3 2.
Die Kenntnisse über den Norden verdankt Frankreich im 18. Jahr hundert Historikern wie Paul-Henri Mallet ( 1 73 0- 1 807), einem Genfer, der 1 752 in Kopenhagen Professor für französische Literatur wurde, aber bei den Studenten nicht ankam, so dass er viel Zeit zum Forschen bzw. Publizieren hatte. Er veröffentlichte zwischen 1 75 5 und 1 75 8 mehrere Werke über dänische Geschichte, darunter eine dreibändige Histoire de Danmark ( 1 758). Mallet erschließt den Franzosen die Edda und konstruiert eine Verwandtschaft zwischen den Skandinaviern und den Galliern. 4 Mallets Bücher werden im 1 9. Jahrhundert von Madame de Stall I bis Hugo systematisch für literarische Klischees des Nordens ausgebeutet. Die Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik sind häufig aus zweiter Hand und haben selten etwas mit dem geographischen Norden Europas zu tun.
3.
Die Bilder des Nordens knüpfen an die Ossian-Begeisterung an, die zur Entstehung einer Dichotomie zwischen der Literatur des Südens, die aus der antiken Literatur des Alten Rom hervorgegangen ist, und der Literatur des Nordens beiträgt, die man von Ossian herleitet. Schottland und Wales werden dabei von Frankreich aus als Norden angesehen und stehen für eine geographisch bis nach Skandinavien und Island reichende, auch England und Deutschland einschließende Zone. Die erste Welle des französischen Ossianismus gehört in die zweite Hälfte des 1 8. Jahrhunderts. Der Wirtschaftsreformer Turgot ( 1 72 7 - 1 7 8 1 ) eröffnet 1 760 den Reigen der französischen Übersetzun gen von Ossian, Le Toumeur veröffentlicht 1 777 die erste vollständige Prosaübertragung.
Die nun folgenden Überlegungen setzen die Verwurzelung der Romantik im Denken der Aufklärung voraus, die fiir das hier zu behandelnde Thema folgende Ausgangsbasis ergibt: Die Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik haben weniger mit einem geographischen Konzept von Norden als mit einem imaginären Konstrukt von Nördlichkeit zu tun. Die Romantiker über nehmen eine bereits im 1 8 . Jahrhundert entstandene Antinomie von Literatur des Nordens und des Südens, um im Namen eines Konzepts von Nördlichkeit, das für die Kräfte des Irrationalen steht, gegen die rationalistische Klarheit eines mit der humanistischen Ästhetik gleichgesetzten Klassizismus der Aufklärung zu 3
4
"Les peuples du nord de l'Europe I'ont conquise en hommes !ihres" (ebd., S. 290). V gl. Paul van Tieghem, Le Preromantisme. Etudes d'histoire litteraire europc!enne, Paris 1 924, S. 1 1 6 f.
Bilder des Nordens in der französischen
Literatur der Romantik
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prote stiere n Die Bilder vom Norden, die von der Literatur der französ i schen Romanti k transp orti ert werden verdanken sich deshalb mehr dem Konstrukt von Nördlichkeit als einem B l ick oder gar einer Reise von Paris in den geograph i .
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schen Norden.
Diese einleitenden Bemerkungen sol len v erständlich machen, warum zu
B eginn des 1 9. J ahrhundert s die Ko nstrukt ion von Nördlichkeit etwas Ver trautes, die Nachahmung der D i chtungen des Ossian aber gl e i chwohl etwas Be fremdliches i st Chateaubriand ahmt in Atala die schotti sch e B ardendic htung unter den Vorzeichen des Exotismus nach, wenn er eine Indianerin wie einen B arden s i nge n lässt. Die literarische Kritik verhöhnte ihn; die lesende Öffent lichkeit gab ihm Recht und ließ das Werk zu einem fulminanten E rfo l g werden, durch den der Autor in k ürze ster Zeit berühmt wurde. A l s Chateaubriand Atala s chri eb war er noch überzeugt, dass es Ossian wirklich gegeb en habe. In se i nem gl e i chze iti g mit Atala entstandenen Rene l äs st er se in en Protagon i sten aus gerechnet in Amerika von seiner Begegnung mit dem letzten Barden "auf den Bergen Kaledoniens" erzählen. Dieser habe s ei ne D ichtungen gesungen, während er auf einem bemoosten Stein gesessen habe: "no us etions assis sur q u atre pierres ro ngee s de mousse; un torrent couloit a nos p i ed s ; le chevreuil paissoit a qu el qu e d i s tanc e p arm i les deb ri s d'une tour, et le vent des mers simoit sur la b ruyere de C ona ,, 5 Bach, Eichhörnchen, Ruine und vom Meer her kommende Bri s e e vozi eren i n der Lite ratur der Au fk l ärung wie der franzö sischen Romantik Bilder des Nordens. Neu und fiir den frühen Chateaubriand kennze i chnen d i st le d i gl i ch die Tatsache, dass d i e Barden di chtung in e i ne Epo che vor dem Christentum verlegt wird, während Chateaubriand kurze Zeit später die D i chtu ngen des Ossian rur das Chri ste ntum reklamieren wird, sobald er zu der Erkenntnis gekomm en ist, dass es sich um eine geniale Fälschung handele. 6 Sei ne Konstruktion von Bildern des Nordens bri ngt also gegenüber der Au f klärung keine neuen Einsichten. In der Romantik ändert sich lediglich der Stellenwert di e ser Konstruktion. Sie erhält eine viel zentralere S te l lung inner halb der Di chtungs lehre Außerdem setzt eine Umwertung des Barbarischen ein. Es wi rd entweder als Gegenpol zur Hochkultur ges chätzt od er innerha l b der Ästhet ik des Häs s l i chen p osi ti v eingestuft. H i ngegen bringt die unmittelbare Anschauun g keine grund l e gende Modifikation der Bilder d e s Nordens. Im Ge .
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folge der Französischen Revolution und des Kaiserreichs müssen bedeutende Literaten wie Chateaubriand und Madame de Stael ins Exil g ehen Sie legen über ihren Aufenthalt in Ländern, die dem Norden zugerechnet werden, Rechen .
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S 6
Chateaubriand, Re ne Edition critique, introduction et note s par J. M. Gautier Geneve 1 970, S. 39. Vgl. die Auseinandersetzung mit Madame de Stal!l in der Let/re cl M de Fontanes; in: Chateaubriand, Essai sur les revolutions. Genie du chri s tiani sme Texte etabli, presente et annote par Maurice Regard, Paris 1 978 (Pleiade), S. 1 273- 1 277. .
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Volker Kapp
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schaft ab und ve rm i tte ln wichtige Impu l se fiir die Romantik, doch liefern sie kein grundsätzlich neues Bild des Nordens. Schauen wir uns zunächst die Aussagen von Madame de Stael in ihrem Buch über Deutschland an. Sie situiert im Vorwort Deutschland geographisch richtig, nämlich im Zentrum von Europa. 7 In den allgemeinen Vorbemerkungen argu mentiert sie j edoch mit einem Dre ierschema Sie teilt die Völker Europas in eine lateinische, eine german i sche und eine slawische "Rasse" ein und rechnet die Deutschen, die Schweizer, die En gl änd er, die Schweden, die Dänen und die Holländer den "teutonischen Völkern" zu, die erst später als die latei n i s che "Rasse" zivilis iert worden seien. Diese Teutonen sind in ihren Augen offen s icht lich identisch mit den "Völkern des Nordens", die in die lateinische Welt ei ngedrungen seien und dann deren christliche Kultur übernommen hätten.8 Demnach sind sie, so meint die Autorin direkt von einem Zustand der Barbarei in vorchristlicher Zeit zum Christentum übergegangen. Daraus entstünde das m i tte lal terl i che Rittertum. Ihre L iteratur ist daher von gotischen Kirchen und alten Burgen, Rittern, Hexen und Gespenstern bevölkert und befasst sich in ih ren besten Werken mit den Geheimnissen einer träumerischen und einsamen Natur.9 Erstaunlicherweise gewinnt hier ein B ild nordischer Literatur die Ober hand über die tatsächliche deutsche Literatur. Madame de Stael spricht an schließend über die Weimarer Klassik. Für sie liegen Götti n gen, Weimar, Le ip zig und Jena in Norddeutschland. Skandinavien interessiert sie nicht, obwohl oder vielleicht gerade weil sie mit einem schwedischen Diplomaten verheiratet war .
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Die Begegnung mit Deutschland beurteilt sie kritisch. Gleich beim Über queren des Rheines will sie die Andersartigkeit der Zivilisation bemerkt haben. Die Norddeutschen hält sie für tüchtig und fleißig, aber sterbenslangweilig, denn, so meint sie, sie reißen ihre blöden Witze nur, um sich selbst zu unter halten. Deshalb sei es für einen Franzosen besser, sich in der stillen Einsamkeit zu l angwe i l en als sich von solchem Humor belästigen zu lassen. 1 O Sie schreibt ein eigenes Kapitel über die Konversation, um mittels einer vergleichenden soziologischen und völkerpsychologischen Studi e die Überlegenheit der Fran zosen auf di esem Gebiet und die Unfähigkeit der De utschen zur Ko nvers ati on 7
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"L'Allemagne,
par sa situation geographique, peut etre consideree comme le ca:ur de l'Europe [ ... l " (Germaine de Stal!I, Oe I'Allemagne, in: Oeuvres completes, Nachdruck der Ausgabe von 1 86 1 , 3 vol., Genf 1 967, vol. 2, S. 2). Vgl. ebd., S . 3 . "Leur imagination s e plait dans les vieilles tours, dans les creneaux, au milieu des guerriers, des sorcieres et des revenants; et les mysteres d'une nature reveuse et solitaire forment le principal charme de leurs poesies" (ebd.). Vgl. ihre Aussage über Nord deutschland: "Les campagnes desertes, les maisons noircies par la fumee, les eglises gothi ques semblent preparees pour les contes de sorcieres ou de revenants" (ebd., S. 28). Vgl. ebd.
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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darzulegen. 1 1 Kant greift in seiner Anthrof% gie in pragmatischer Hinsicht diese Charakterisierung der Franzosen auf. 1 Der Soziologe Norbert Elias bestä tigt in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die Analyse von Madame de Stael, wenn er das zentralisti sche Frankreich gegen die Vielfalt der deutschen Kleinstaaten ausspielt und daraus folgert: In Deutschland "[ . . . ] i st die Intelligenz über das ganze Land verstreut. [In Frankreich] ist immer die Unterhaltung eines der wichtigsten Kommunikationsmittel und überdies seit Jahrhunderten eine Kunst; hier ist das wichtigste Kommunikationsmittel das Buch [ . . . ] . ,, 13 Dieser Aspekt der Konstruktion von Nördlichkeit durch Madame de Stael hat ent scheidend zum Entstehen der Opposition zwischen französischem "esprit" und deutschem " Geist" bzw. zum Antagonismus von französischer Vorstellung von Zivilisation und deutschem Konzept der Kultur beigetragen. Wenden wir uns nun Chateaubriand zu. Chateaubriand thematisiert den Nor den im Kapitel über die Kelten in seinem 1 797 während des Exils in London veröffentlichten Essai sur /es revolutions. Auch er spricht davon, dass sich die Barbaren aus dem Norden auf ihrer Wanderung in den Süden zum Christentum 1 bekehren. 4 In einer Fußnote verweist er auf Mallets Introduction a [ 'histoire du Danmark und liefert damit die Quelle, aus der auch Madame de Stael ihre Vor stellungen bezieht. Für ihn ist die Rel igion der nordischen Barbaren an Dunkel heit, Sturm, Gewitter, Wolken und Nebel geknüpft, die er für typische Erscheinungsformen des Nördlichen hält. 1 5 Chateaubriand, der die Dichtungen des Ossian selbst in seinen frühen Gedichten nachgeahmt hat, entwirft eine Sze nerie nächtlicher Erscheinungen von Geistern, die auf die phantastische Literatur der Romantik vorausweist: In den Wolken erscheinen die toten Helden; über die Wipfel der Tannen huschen seltsame Schattenbilder; das nächtliche Heulen des Sturmes in den Birken oder das Säuseln des Windes in den Gräsern weckt die Assoziation von Stimmen. Das Bild des Nordens wird mit einsamer, wilder Natur verbunden, die zu melancholischem Träumen einlädt. Städte scheint es in diesem Norden nicht zu geben, was vielleicht ein spätes Echo auf die zu Chateaubriands Quellen gehörende Germania des Tacitus ist. Eine der Funktionen einer solchen Konstruktion von Nördlichkeit ist leicht zu erkennen, wenn Chateaubriand die Konversion der Barbaren an den Schock bin11
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Ebd., S. 22-26. Vgl . Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Darrn stadt 1 964, Bd. 4, S. 662 f. Norbert Elias, Ü ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Ode., Frankfurt 1 977, Bd. I , S. 35. "A mesure qu'i1s emigraient vers le Sud, en quittant les regions sombres et tempetueuses du Septentrion, ils perdaient I'idee de leur culte parternel, inherent au climat qu'ils habitaient" (Chateaubriand, Essai [wie Anm. 6], S. 3 8 9) . "[ . . . ] enfin la religion de ces peuples s'etait dissipee avec les orages, les nues et les vapeurs du Nord" (ebd., S. 3 89).
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dei, den eine ursprünglich rein sinnliche, unverbrauchte Phantasie bei der Be gegnung mit der Welt des Geistes erlebt. Diese Passage müssen wir uns wieder genauer ansehen. Sie beginnt mit einer Definition dieser menschlichen Fähigkeit als etwas zugleich Aktives und Passives, nämlich als Echo und Spiegel der ihn umgebenden Natur. 1 6 Dann folgt die Behauptung, dass die Phantasie der Bar baren, die Waldmenschen heißen, von der wilden Natur des Nordens, d. h. von Wüsten, Höhlen, Bächen und Gebirgen so beeindruckt sei, dass sie sich mit Ge räuschen, Gespenstern und einem S inn für das Große vollsauge: "[ ... ] celle de I'homme des bois, frappee du spectacle des deserts, des cavernes, des torrents, des montagnes, se remplit de murmures, de fantörnes, de grandeur" . 1 7 Bei der Konfrontation mit der christlichen Offenbarung, die Chateaubriand als "geistige Dinge" bezeichnet, kapituliere die Phantasie der Barbaren sofort, denn "la mort de I'imagination, c'est la connaissance de la verite.,, 1 8 Dies ist besser gesagt als gedacht. Ein Umkehrschluss ist möglich, dass nämlich die Entfaltung der Imagi nation die literarische Fiktion ermöglicht. In dieser Hinsicht wäre dieser Ge danke für die Poetik romantischen Dichtens zu verwenden. Ob Chateaubriand diese gegenläufige Interpretation seiner Aussage explizit vorgesehen hat, scheint mir ungewiss. Charles Nodier zieht hingegen diesen Schluss. Er schreibt 1 822 in seinem Vorwort zu Trilby, einer fantastischen Erzählung, die seinen Ruhm begründete, dass er seine Geschichte in Schottland situiert hat, weil man nur noch im unberührten Norden jene rührenden Spuren menschlicher Urzeit finden könne: Il faut courir au bout de l'Europe; affronter les mers du Nord et les glaces du pöle, et decouvrir dans quelques huttes a demi sauvages une tribu tout a fait isolee du reste des homrnes, pour pouvoir s'attendrir sur les touchantes erreurs, seul reste 19 des äges d'ignorance et de sensiblite.
Nodier will in Schottland nicht nur di e Nordsee, sondern auch das Eismeer angetroffen haben. Er tut nämlich so, als ob diese Geschichte eine Frucht seiner Liebe zu Schottland sei, das er bereist hat. Zwar gibt er zu, dass die Schotten seine Reiseeindrücke höhnisch kommentiert hätten, doch stört ihn das wenig. Er hat bei seinen Reisen wohl mehr die imaginäre Welt von Walter Scott als das tatsächliche Land gesehen und den Stoff für seine Erzählung aus Scott bezogen, den er mit den Augen von E. T. A. Hoffmann liest. Ich möchte die fantastische Literatur hier nicht weiter untersuchen und mich nun einem anderen Aspekt von Nördlichkeit zuwenden, bei dem es um die 16
"L'imagination est une faculte active, a la fois echo et miroir de la nature qui l'environne" (ebd., S. 3 88). 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Smarra, Trilby et autres contes. Chronologie, preface bibliographie et notes par Jean-Luc Steinmetz, Paris 1 980, S. 1 45 .
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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Identität der Franzosen geht. Die Literatur der französischen Romantik verbindet mit den Bildern des Nordens nicht nur Konzepte von Alterität, sondern auch eine Suche nach einer neuen Facette von Identität. Diese Doppelfunktion wird bereits im Essai sur fes revolutions von Chateaubriand angesprochen, wenn die Welt des Ossian mit der der Kelten identifiziert wird, die bekanntlich Ur einwohner des späteren Frankreich waren. Die Kelten bewohnen nach seiner Ansicht die B retagn e , Gallien und Gennan i en . Sie sind fiir ihn Barbaren, doch hat deren Beschreibung für ihn etwas Faszinierendes, das er mit dem Adjektiv "romantisch" charakterisiert. 2o Er gibt in einer Fußnote selbst an, dass er sich bei seiner Beschreibung einerseits an antike Autoren wie Tacitus, Caesar oder Strabo, andererseits an Ossi an, die Edda oder den englischen Historiker Robert Henry ( 1 7 1 8- 1 790) hält. Für unsere weiteren Überlegung über Bilder des Nor dens in der Literatur der französischen Romantik ist es von Bedeutung, dass über die Kelten der Norden in geographische Räume gerückt wird, die ander weitig dem Süden zugeschlagen werden. Etwas vereinfacht gesprochen geht es um die geographische und kulturelle Verortung Frankreichs, das je nach Stand punkt zum Norden wie zum Süden gehören kann. Die Auseinandersetzung zwischen Klassizismus und Romantik wird in dieser Perspektive zu einem Problem der Konstruktion von Nördlichkeit. Chateaubriand betont die Alterität der Kelten im Vergleich zur Gegenwart, spricht ihnen aber eine Größe zu, die eine solche der "choses antiques" seL 2 t Die Verwendung der Adjektive roman tisch und antik ist hier sicherlich terminologisch ungenau, sie steht jedoch in Analogie zu den Überlegungen, mit denen Madame de Stael in ihrem De f'Allemagne den Begriff des Romantischen einfUhrt. Madame de Stael knüpft an den damals in Deutschland neuen Begriff des Romantischen an, der die seit der okzitanischen Dichtung entstandene mittel alterliche Literatur bezeichnet, die vom Christentum und dem Rittertum geprägt ist. Sie wählt dann wieder Dichotomien wie Antike - Mittelalter, Norden Süden, Rittertum und griechisch-römische Welt, um die philosophische Rela tivität von "le gout antique et le gout moderne,, 2 2 zu betonen. Damit distanziert sie sich von der Gleichsetzung des Begriffs des Klassischen mit dem des Voll endeten und definiert statt dessen die klassische Dichtung als jene des Alter tums, die romantische als jene der christlichen Ära, die im Mittelalter ihre Wurzeln hat. Es ist außer Zweifel, dass damit der Modellcharakter der Antike außer Kraft gesetzt und der humanistischen eine 'modeme' Literaturästhetik als 20 21
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"Le tableau des nations barbares oiTre je ne sais quoi de romantique, qui nous attire." (Chateaubriand, Essai [wie Anm . 6], 8. 1 70). "Nous aimons qu'on nous retrace des usag es diiTerents des nötres, surtout si les siecles y ont imprime cette grandeur qui regne dans les choses antiques, comme ces colonnes qui paraissent plus beiles lorsque la mousse des temps s'y est attachee." (ebd., 8. 1 70). 8t a!!l , De l'AlIemagne (wie Anm. 7), 8. 6 1 .
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konkurrierendes Modell zur Seite gestellt wi rd. Es fragt sich aber, wie diese Vorstellung von Modernität zu verstehen ist. In seinem Aufsatz "Literari sche Trad ition und gegenwärti ge s Bewußtsein der Modernität" beruft sich Hans Robert Jauß auf Stendhals Pamphlet Racine et Shakespeare, um den Begriff der Romantik in die Vorgeschichte des Konzepts der Modernität einzuordnen, wie er es bei Baudelaire grundgelegt sieht. Mit e iner für ihn typi s chen S tilfigur behauptet er, Stendhals Definition habe "m i t der bisheri gen Geschichte des Wortes [ ge b rochen] und se i n e traditionelle Grund bedeutung gerade ins Gegenteil" verkehrt.23 D i e berühmte Definition des Romantischen, die lauB im Au ge hat, setzt die Romantik als Literatur, die dem Volk mit Bezug auf d ie Gegenwart höchstes V ergnügen bereitet, den klas sischen Werken entgegen, die früheren Generationen einmal gefallen hatten ?4 Damit übernimmt, so Jauß, der Begri ff des Romantischen die Funktion, die ur sprünglich der l atein i sche B e griff "modernus" hatte, u nd erhäl t die "Bed e utung des Aktuellen" , dem ke ine "autoritative Vergangenheit" gegenübersteht. 2 5 Diese pointierte Formu lierung von lauB entzie ht dem romantischen Gegen konzept zur klassisch-humanistischen Literaturästhetik ihr historisches Funda ment und lö st sie völlig von allen Überlegungen, die aus dem Ossianismus hervorge gangen sind. lauß liest Ste n dhals Schrift selektiv, andern fa ll s hätte ihn der dort erwähnte26 Titel Han d'Islande, ein früher Roman von Victor Hugo, darauf hinwei sen müssen, dass der Norden für die französischen Romantiker sicherlich ebenso charakteristisch ist wie der Gegenwartsbezug. lauB hat zwar insofern recht, als Hugo hier seine Bearbeitung eines nor dischen Stoffes durch eine ironische Vergegenwärtigung der Poetik des he roisch-galanten Romans von Mademoiselle de Scudery herausstellt. Im 9. Ka pi tel lässt er einen Offizier die Geschi c hte des berühmten Räubers Han d'Islande nach dem Muster dieses Romantypus des 1 7. J ahrhunderts skizzieren. "[ . . . ] les aventure s de Han pourraient fournir un roman de l i cieux, dans le genre des su blimes ecrits de la demoiselle Scudery [ . . . ]. 11 faudrait, par exemp l e, adoucir notre climat, orner nos traditions, modifier nos noms barbares. ,, 27 Der Romancier folgt aber n i c ht dem Plan, den er hier einem Offizier in den M und
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Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1 970, S. 52. "Le romantisme est l'art de presenter aux peuples les reuvres litteraires qui, dans l'etat actuel de leurs habitudes et de leurs croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible. Le classicisme, au contraire, leur presente la litterature qui donnait le plus grand plaisir possible a leurs arriere-grands-peres. " (Stendhal, Racine et Shakespeare, in: Oeuvres completes, texte etabli et annote avec pre face et avant-propos par Pierre Martino, nouvelle edition, Geneve 1 970, S. 39). Jauß, Literaturgeschichte (wie Anm. 23), S. 53. Stendhal, Racine et Shakespeare (wie Anm. 24), S. 72. Hugo, Roman 1. Han d'lslande , in: Oeuvres completes, Paris 1 926, S . \ 03 .
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legt, sondern hebt bewußt auf das Klischee des fremden Nordens ab. Er mächte den Leser provozieren und schreibt deshalb beschwichtigend: Que le lecteur ne s'etonne pas si nous rencontrons souvent des ruines a la cime des monts de Norvege. [ ] En Norvege surtout, au siecle ou nous nous sommes transportes, ces SOrtes de constructions aeriennes etonnaient autant par leur variete 8 que par leur nombre ? ...
Die Handlung ist auf 1 699 datiert29 und spielt sicherlich u.a. deshalb in Trondheim, weil diese Stadt eine Kirche besitzt, die Hugo als "un des plus beaux morceaux de l'architecture gothique" bezeichnet. 30 Hugo verlegt die Handlung seines Romans nach Norwegen, weil er so dem französischen Leser vorgaukeln kann, daß im rauhen Norden im 1 7. Jahrhundert Sitten herrschten, die denen von Frankreich unter Ludwig XIV. völlig entgegengesetzt sind. Der Roman des jungen Hugo, dessen Handlung im femen Norden situiert ist, erschien in eben jenen Jahren, als Stendhal seine Artikelserie Racine et Shakespeare publizierte. Diese Amputation des romantischen Selbst verständnisses durch Jauß kommt einer Marginalisierung der Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik gleich, die ich nicht hinnehmen kann. Deshalb möchte ich dem verkürzt einseitigen Begriff des Romantischen bei Jauß die These entgegensetzen, dass es bei den Bildern des Nordens in der französischen Literatur der Romantik um eine Vorstellungswelt geht, die - mit der Tenninologie von Jauß gesprochen - gegenwärtiges Bewusstsein mittels Oppositionsbeziehungen zu autoritativer Vergangenheit artikuliert. Die Konstruktion nördlicher Bilder dient nämlich dazu, die für Frankreich ohnehin zentrale Bindung an Rom durch eine zusätzliche Rückkoppelung an die keltischen Ursprünge zu ergänzen, um dadurch dem seit der Aufklärung mit dem Rationalismus gleichgesetzten Klassizismus ein irrationales Korrektiv entgegenzusetzen, das nicht nur der logischen Strenge der Prosa das freie Spiel der Poesie, sondern auch dem hellen Licht des Verstandes die dunklen Seiten des schwer Durchschaubaren, Geheimnisvollen oder sogar Furchtbaren entgegensetzt. Chateaubriand benennt diesen Antagonismus treffend in seinen Memoires d'Outre-Tombe an lässlich des Todes von Louis de Fontanes ( 1 75 7- 1 82 1 ), den er
den letzten Schriftsteller der klassischen Schule nennt. Er reiht Fontanes unter die Melancholiker ein und sieht in ihm einen Nachfahren von Rousseau, aber auch von Fenelon, somit einen Autor, dessen Wurzeln bis in die Epoche des Sonnenkönigs zurückreichen. Dem Klassizisten Fontane s stellt er sich selbst als Romantiker entgegen und erklärt rundweg, mit ihm hätte die romantische Schule begonnen, die eine Revolution in der französischen Literatur bedeutet hat. 28
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Ebd., S. 253. Ebd., S. 32. Ebd., S. 3 3 .
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Worin manifestiert sich diese Revolution? In e iner Welt, die mit den üb li chen Rege ln des klassisch human istischen Literaturverständnisses nicht in Über einstimmung geb racht werden kann. 3 1 Nun muss man aber wissen, dass Fon tanes zu den Verehrern von Os sian gehörte un d in se i ne D i chtungen ebenso wie Chateaubriand selbst intertextuelle Bezüge zu Ossian e in arb e itet . Außerdem hat er Chateaubriand d ie Rückkehr nach Frankreich und den Beginn seiner lite rarischen Karriere im Kaiserreich ermöglicht. Er hat ihn dazu angehal ten , eine der mögl i c herweise misslungenen Nachahmungen von Os s i an aus seinem Roman Atala herauszunehme n und durch eine umgearb e i tete Fassung zu er setzen. Geschah dies alles nur aus Freundschaft oder wäre es nicht genauso denkbar, dass F o ntan es neben dem von Chateaubriand betonten Fremden auch etwas Verwandtes in der romantischen Literatur gesehen hat? Die Konkurrenz
alternativer Möglichkeiten von klass ischer und romanti scher dient sicher nicht nur der Verlebendigung einer von der Blässe des Gedankens bedrohten Phantasie, auch wenn die Reaktion gegen die Aufklärung eine der ze ntral e n Komponenten der französischen Romantik i st. Gerade die in der F orschung he fti g umstrittene Konstruktion einer bis in die Mitte des 1 8. Jahrhunderts, s o m it also bis ins Zentrum der Aufklärung hineinragenden Früh ro mant i k spri cht gegen eine Verab solut i erung der "romantischen Revolution" . Di e Konstruktion von Nördlichkeit weist über die Entgegensetzung von Auf klärung und Romantik hi naus auf etwas bei den Ep ochen Gemeinsames hin, das diesen B i l dern des Nordens überhaupt erst ihren ei gentli chen Sinn verleiht.
Dichtung
Hier müssen wir nochmals auf d ie deutl i che Untersche idung zwischen den Konstruktionen von Nörd l ichkeit und dem tatsächl ichen Norden dri ngen und betonen, dass die Vordenker romantischer Nördlichkeitskonzepte beides klar trennen. Madame de Stael will in De utschl and vorwiegend historische Zeu gni sse aus mittelalterli cher Zeit wahrge nommen haben, weil die s e zu ihrem Konzept von moderner, romantischer Literatur passen. Sie behauptet aber nie, irgendwo Zwergen begegnet zu sein, d ie damals offensichtlich noch nicht zur Dekoration der Anwesen eines bestimmten Typs von Deutschen gehörten . Chateaubriand verrät einen wachen Sinn für literarische Konv enti onen, ' wenn er in den Memoire d'Outre-Tombe seine Schwester Lucile einerseits als Gestalt in einem schottischen Roman von Walter Scott rur großartig und andererseits als vereinsamte junge Frau auf einer Burg in der Bretagne für unglüc k lich hält: "Dans les bruyeres de la Caledonie, Lucile eut ete une femme celeste de Walter Scott, douee de la seconde vue ; dans les bruyeres armo rica i n es , elle n ' etait qu'une solitaire avantagee de beaute, de genie et de malheur. ,, 32 Auch wenn der Memoirenschreiber hier für die Bretagne die alte Beze ichnun g Armorika benutzt, weiß er genau zwischen literarischer Fiktion und Wirklichkeit zu 31
32
Vgl . Chateaubriand, Memoires d'Outre-Tombe. Nouvelle edition critique, etablie, presentee et annotee par Jean-Claude Berchet, 2 vol., Paris 1 989, vol . I , S. 592-602. Ebd., S. 2 1 6.
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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unterscheiden. Die Bilder des Nordens gehören zur Fiktionalität, doch erhalten sie gerade dadurch ihre Wirkmacht, dass sie mit Bildern der klassisch antiken Vorstel lungswelt ausgetauscht werden können. Damit kommen wir zu einer weiteren Facette der Bilder des Nordens in der Literatur der französischen Romantik . Victor Hugo schreibt im Juli 1 876, dass Paris Rom besiegen werde, wobei Rom für ihn die Rel i gion , Paris die Vernunft symbolisiert. Er behauptet dabei kategorisch : "L'äme de la vieille Rome est au} ourd'hui dans Paris. C'est Paris qui a le Capitole; Rome n'a p l u s que le Vatican." 3 Er spri cht hier nicht vom Norden, aber es ist offensichtlich, dass er die alte Rivalität zwischen den beiden Städten im Auge hat und damit auch das Zentrum Europas vom Süden nach Norden verle gen will. Die Romant i ke r fühlten sich in ge wiss e r Weise als Erben der Französischen Revolution, doch kann man nur mit großen Einschränkungen von einer Zäsur sprechen, wenn man von der Wirku ng der Revolution auf die französische L i teratur spricht. Be zügl i c h der Antikenverehrung gi bt es höchstens ei ne Verschiebung vom kaiserlichen zum republikanischen Rom, aber kei n eswegs einen Bruch mit dem Alten Rom. Als das französische Heer 1 798 das päpstli c he Rom erob e rte , verlas Feldmarschall Louis-Alexandre Berthier eine Erklärung, in der die Manen von Cato, P ompei us , Brutus und C icero als Zeugen dafür angerufen werden, dass die "K i nder der G all i er " l ediglich den Römern ihre alte Freiheit zurückgeben wollen. 34 Die französische Armee soll nicht nur die alte Republik der Römer wiederaufleben lassen, sondern auch hinter d i e Christian isi erung zurückgehen und eine neue Form des Heidentums durchsetzen. Die Antike ist dabei ein bevorzugtes Feld zum Austragen kon kurrierender Machtansprüche, da der P apst in Rom seit jeher die römische Kirche als legi time Erbin des Alten Rom hinge stel lt hat. 3s
D i e Ideol ogi e der Revolutionäre lässt sich vielleicht am besten mit der Formel "Rallumer le flambeau de l'Antiquite" des französischen Archäol ogen Quatre mere de Quincy ( 1 755- 1 849) kommentieren, die Starobinski zitiert und mit der Bemerkung einführt, dass die in Rom versammelten Ku n sttheoret iker das Ge fühl hatten " de participer a une revolution qui est une resurrection. ,,36 D i e französischen Vorreiter des Neoklass i zi smus in Rom verdanken ihre Neuauflage der Renaissance wen i ger den Zeugnissen des Altertums, die sie vor Au gen 33 34 3
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Victor Hugo, Oeuvres completes. Actes et paroies 1II depuis I'exil 1 870- 1 876, Paris 1 927, S . 39. Vgl. dazu Volker Kapp, Revolution und Rhetorik in Italien, in: Die Revolution in Europa erfahren und dargestellt, hrsg. von Siegfried Jüttner, Frankfurt 1 99 1 , S. 1 3 1 - 1 47, hier: S. 1 34 f. Vgl . dazu Volker Kapp, Die Antike als Darstellungsmuster weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 3 1 ( 1 990), S. 6994. Jean Slarobinski, 1 789. Les emblemes de la raison, Paris 1 979, S. 96.
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haben, als der Lektüre von Winckelmann und Mengs, die sie als Repräsentanten des nördlichen Humanismus ansehen. Doch sollte man auch hier wiederum nicht am Detail kleben bleiben, sondern sich ins Gedächtnis rufen, dass dieser Neo klassizismus von den Revolutionären an das Kaiserreich weitergegeben wurde und im Maler Jacques Louis David ( 1 748- 1 825) seine emblematische Aus prägung findet. J7
David ist in diesem Zusammenhang auch deshalb von Interesse, weil Stendhal im Vorwort von Racine et Shakespeare die Lage des französischen Theaters im Jahre 1 823 mit der Davids im Jahre 1 780 vergleicht, der mit der klassizistischen Manier eines Le Brun brechen musste, um sein berühmtes Gemälde der Horatier malen zu können. J8 An späterer Stelle räumt Stendhal ein, dass David vielleicht den Großen des 1 7. Jahrhunderts wie Le Brun nicht das Wasser reichen konnte, doch ist er der Meinung, dass ohne ihn die Kunst des Kaiserreichs und der frühen Romantik undenkbar gewesen wären. J9 David hat antike Klischees dazu benutzt, um zunächst in Rom den Papst und dann in Paris dessen Gegenspieler Napoleon zu verherrlichen. Er wurde aber auch von Napoleon beauftragt, Szenen aus Ossi an, einer der Lieblingslektüren des selbst ernannten Kaisers, ins Bild zu setzen. Beide Muster, die dem Süden zugerechnete Antike und der im Norden situierte Ossiankult, werden zwar gegeneinander ausgespielt, aber bilden doch entgegengesetzte Pole eines einzigen, umfassenden Konstrukts, das eine mythische Basis für Machtansprüche liefert. Wie aber die offizielle Kultur des Kaiserreichs den klassizistischen Geschmack mit dem Kult des nordischen Barden Ossian zu vereinbaren sucht, so können auch die Vordenker der franzö sischen Romantik nicht aus diesem Spannungsfeld einer als südlich inter pretierten Antike und eines mit der Antike konkurrierenden Mythos des Nordens ausbrechen. Die Hinwendung zum Norden in der Literatur der französischen Romantik steht in der Traditionsl inie des bis ins Mittelalter zuruckreichenden Konkurrenz kampfes zwischen Paris und Rom um die Führungsrolle innerhalb der europäi schen Kultur. Die Kulturpolitik des Sonnenkönigs verfolgte systematisch die Zielsetzung, Paris zur Hauptstadt der Gelehrtenrepublik zu erheben. 4o Sie hat mit dem Siegeszug der französischen Sprache und Kultur den Vorrang von Paris etabliert und den philosophes wie den Revolutionären das Bewusstsein ver mittelt, dass sie diese Position ausbauen müssen, um dem übrigen Europa die 37 38
Vgl. e bd S . 65-82. "La poesie drarnatique est en France au point ou le celebre David trouva la peinture vers 1 780. [ ] M. David apprit a la peinture a deserter les traces des Lebrun et des Mignard, et a oser montrer Brutus et les Horaces." (Stendhal, Racine et Shakespeare [wie Arun. 24], S . 26). Ebd ., S . 49. Vgl. dazu Mare Fumaroli, Rome et Paris - Capitales de la Republique europeenne des Lettres, Hamburg 1 999, S. 2 1 -68; sowie mein Vorwort zu diesem Werk, bes. S. 7- 1 7. .,
...
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Bilder des
N orden s in der französischen Literatur der Romantik
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Segnungen französischer Lebensanschauung zu vermitteln oder womöglich - so wie die Armeen der Revolution und von Napoleon - sogar ihren politischen Willen aufzuzwingen. Der Mythos von Paris überlagert dabei den Mythos von Rom. 4 1 Victor Hugo hat Paris i n seiner Poesie ins Erhabene gesteigert. In seinem Ge dicht über den Triumphbogen nennt er Paris "la cite mere" und vergleicht sie mit Memphis und Rom.42 Karlheinz Stierle kommentiert diesen Text mit der Bemerkung: "Paris ist die brausende Mitte des bruit du monde, die alles über tönt" 43 , und er erkennt richtig, dass Hugo die gegenwärtige Stadt in eine imagi näre Vergangenheit [rückt] und sie so ins Mythische hebt.44 Dieses Mythische rührt aber nicht nur von einer imaginären Vergangenheit, sondern von der ideo logischen Konstruktion her, die Paris als neues Rom im S inne der translatio imperii et studii deutet. Deshalb schlägt Hugo in seinem Roman Notre Dame de Paris nostalgische Töne an, wenn er das mittelalterliche Paris der Renaissance ann ähert. Damit komme ich zum Schluss und möchte statt einer Zusammenfassung nochmals folgendes betonen: Die französische Romantik stellt einem vom Bürgertum konservativ gepflegten Neoklassizismus als Alternative einen Kult des Nordens entgegen, dessen Status Analogien mit dem Kult der Antike auf weist. Das vieldeutige Klischee von der Literatur des Nordens ist ihr willkommen, weil es für die unterschiedlichsten Zwecke verwendbar ist. Es ist genauso schwammig wie das Konzept der Literatur des Südens, der die antike Literatur zugerechnet wird. Was Madame de StacH in ihrem Roman Corinne ( 1 807) bezüglich der Skulpturen schreibt, ist für das romantische Verständnis des Gegensatzes von Norden und Süden charakteristisch, dass nämlich der Genius, der im Norden die Künstler innerlich aufwühlt, im Süden lediglich zu einer zusätzlichen Qualität der ausgewogenen Harmonie wird.45 Dies ist die Überzeugung der Frau, die mit ihrer Schrift De La Litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sodales ( 1 800) den Übergang von der Auf klärung zur Romantik einleitet. 41
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44 4S
D i e sen Aspekt hat Karlheinz Stierie i n seinem ansonsten bemerkenswerten Buch völlig übersehen: Vg\. ders, Der Mytho s von Paris. Zeichen und B ewu sstsei n der Stadt, München 1 993 . Hugo, Oeuvres poetiques. P refac e par Gaetan Picon; editi on etablie et ann o tee par Pierre Albouy, 3 vol . , Paris 1 964 (Pleiade), vol. I , S. 93 8 f. Ebd., S. 660. Ebd., S . 66 1 . "Mais les statues [ . . . ] offrent une image de I'etemelle tranquillite, q ui s'accorde mer veilleusement avec l'effet general du Midi sur I'homme. II semb l e que 111 les beaux-arts soient les paisibl es spectateurs de la nature, et que le gen ie lui-meme, qui ag i te l'äme dans le Nord, ne soit, sous un beau dei, qu'une harmonie de plus" ( Germ ai ne de Stael, Corinne ou I'Italie; in: Oeuvres completes [wie Anm. 7], vo\. I , S. 725 f.).
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Madame de Stael stellt in diesem Werk die vi el zitierte These auf dass e s im Norden und im S ü d en zwei völ lig ve rsc hiedene Literaturen gebe, dere n eine auf Ho mer, deren andere auf Ossian zu rückgehe Die Griechen, Römer, Italiener und Spanier s ow ie die Franzosen zur Zeit Ludw igs XIV. re c hnet sie de r Lite ratur des S üde n s zu, w ährend die engli s c hen , deutschen und einige dän i s che und schwedische Werke zu der des Nordens geh örten die mit den Gesängen der schottischen Barden, der isländi schen Sagas un d der skandinav i schen P o e s ie begonnen habe. Diese an d er Wende vom 1 8. zum 1 9. Jahrhundert keineswegs origi nelle Me i n un g erla ubt es der Verfasserin, die B e h auptu ng aufzustellen, dass die Eng l änder und die De uts chen nur dort ori ginel l sind, wo sie wie Ossian durch die no rdi sche Mythologie geprägt sind, während ihre Beschäftigung mit der Antike w en i ger fruchtbringend gewesen sei 4 6 Mit diesem kühnen Urte i l trägt Madame de Stael ei ne s der Vorurteile der italienischen Humanisten weiter, das die Humanisten des Nordens, allen voran Erasmus von Rotterdam, in Rage versetzt hat. Sie kannte diesen historisch bede utsamen Streit vennutlich gar nicht und hätte i h n auch ni c ht verstehen kö n n e n weil sie ihn letztlich vo n Rom nach Paris verlegt un d trotz al l er Bewunderung für die deutsche Kultur und Lite ratur Paris und der französischen Kultur den Vo rzu g gibt. ,
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Wie Madame de Stael kons trui ert die romantische Literatur ihre B ilder des No rde n s letztlich immer im Gegenzug zu B ildern des Südens und bezweckt damit zw eierlei : Einerseits eine Au s w eitung des Raumes im Vergleich zu der auf de n Raum des Mittelmeeres zentrierten klassizistischen Literatur, und and ere rseit s eine Ausweitung der Ge s ch i chte über die römische Ko l o n is ierun g Galliens hinaus bis zu jenen schwer zu fass end en keltischen Ursprüngen hin, über di e eine Verwandtschaft der Franzosen mit de n Völkern des Nordens herausgearbeitet we rde n kann. Auch wenn die Ro mantiker die Blickrichtung we ch se l n und eher von Norden nac h Süden als von Süden nach Norden blicken, bleiben sie ders e l b en Dichotomie von klassisch und modem verpflichtet wie i hre Gegner. Die von ihnen entwickelten Bilder des Nordens dienen l etztl i ch genauso der Stärkung des franz ös is chen kulturellen Hegemonialanspruchs, w ie ihn auch i hre klassizistischen Anti poden m it Berufung auf das als k l a ss ik glorifizi erte Zeita lte r Ludwigs XIV. ve rtreten Mit dieser S chlussfolgerung m ö c hte ich selbstverständlich nicht bestreiten, dass die Imagination de s Nordens sich ver s elbständ i gt und sich be i s p i e l sw ei s e in der fanta stischen Literatur von der po li tischen Funktionalisierung löst, doch können solche in sich literarisch höchst bedeutsamen Ersch e i n ung e n nur dann sinnvoll in das E rsc hei nungsbild der .
Romantik eingeord n et werden, wenn man s i ch bewusst macht, dass 46
die Ent-
"Les Anglais et les Allemands ont, sans doute, souvent imite les anciens. Ils ont retire d'utiles I�ns de cette etude feconde ; mais leurs beautes originales portant l'empreinte de la mythologie du Nord, ont une sorte de ressemblance, une certaine grandeur poetique dont Ossian est le premier type" (Gennaine de Stael, Oeuvres compli�tes [wie Anm. 7], vol. 1 , S . 252).
Bilder des Nordens in der französischen Literatur der Romantik
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deckung und Nutzung des Nordens für die Literatur sich i n e ine Langzeit perspektive einschreibt, die trotz aller Brüche und Verwerfungen in Hinblick auf klassizisti sche Vorstellungen ein erhebliches Maß an Kontinuität aufweist.
POPULÄRE BILDER VOM NORDEN IM
1 9. UND 20.
JAHRHUNDERT
Silke Göttsch-Elten
Volkskunde beschäftigt sich im Gegensatz zu den meisten anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen nicht mit den Spitzenprodukten der Kultur, nicht mit den großen Ereigni ssen der Weltgeschichte. " Volkskunde" , so hat Hermann Bausinger das einmal treffend formuliert, " [ . . . ] bereitet ihre opulentesten Mahlzeiten aus dem Gnadenbrot vieler anderer Disziplinen"} Was diese mit Verweis auf die künstlerische Qualität oder auf die Bedeutung für das Weltgeschehen als trivial oder banal abtun, das untersucht in der Regel die Volkskunde. Es geht nicht um Leonardo da Vinci, sondern um den Röhrenden Hirschen, nicht um die großen Kriege, sondern um deren Verarbeitung im auto biographischen Erzählen oder in Liedern, so könnte man plakativ und exem plarisch diese Differenz skizzieren. Für die Volkskunde sind diese Bereiche nicht "trivial", sondern werden als Ausdruck einer populären Kultur interpretiert, es geht um ihren Stellenwert in der Alltagskultur, altertümlich ausgedrückt um ihren Sitz im Leben. Volkskunde fragt, so könnte man zusammenfassen, nach der Aneignung und Deutung der Welt durch die Menschen, nach dem kollek tiven Zeichen- und Symbolsystem also, das Menschen ausbilden, um sich die Welt, in der sie leben, anzueignen und sie zu interpretieren. Nicht wissen schaftlich fundierte Weltbilder, wie sie in Geistes-, Natur- und Technik wissenschaften entworfen werden, sondern die Analyse von Alltagswissen, also jener unhinterfragten Wissensbestände und Verhaltensweisen, mit denen wir unsere sozialen Beziehungen routinisieren, unsere Umwelt wahrnehmen und unser Verhalten organisieren, ist das Feld der Volkskunde. Populäre Vor stellungen und Bilder formen das AIItagswissen, sind kollektiver Bestandteil unserer Kultur und dienen der Verständigung über die Welt. Sie entstehen ni cht von selbst, sondern sind Ergebnis eines Prozesses, in dem Neues und Fremdes so aufbereitet und modelliert wird, dass es in das bereits vorhandene Wissen über die Welt integriert werden kann und so scheinbar oder tatsächlich verstehbar wird. Die Deutungsmuster gewinnen ihre Plausibilität aus der j eweiligen Lebenswelt.
Es wird also nicht um die ästhetische Entdeckung des Nordens gehen, die seit Ende des 1 8. Jahrhunderts durch die bildungsbürgerlichen Eliten betrieben wurde, sondern um die Vermittlung von Vorstellungen über den Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert an eine breite soziale Schicht, also um die Frage, welche Medien daran beteiligt waren, welche Ausdrucksformen verwendet wurden und welche Inhalte die Bilder, die dann zu Alltagswissen, zu in unterschiedlichen dem
Hennann Bausinger, Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde, in: Zeitschrift fUr Volkskunde 65 ( 1 969), S. 232-250, hier: S. 239.
Silke Göttsch-Elten
1 24 Kontexten
(Werbung,
Lebensstil )
Tourismus,
verfügbaren
Zeichen
und
selbst werden B egri ff " S tereo typ "
Symbolen werden konnten, enthielten. Die Zeichen und Symbole in der Regel mit dem aus der S ozialpsy chologi e ent lehnten
kulturwiss enschaftl iche Forschung zentrales Konzept B egri ff für eine unwissenschaftliche E inste l lung,2 damit hat er auf die Differenz zwischen empi ri scher Analyse und Al ltags wissen verwiesen. Der Begriff wurde 1 922 von Walter Lippman in seinem B uch Public opinion geprägt. Lippman verstand darunter Fiktionen und Bi lde r in unseren Köpfen, die weder wahr noch falsch bezeichnet, der ein
für
die
darstellt. Stereotyp, so Hennann Bausinger, sei der wissenschaftliche
sind, schematische Modelle bzw. Karten der sozialen Umwelt also, die wie eine
An leitung zum Sehen, zur W ahrnehmung der Welt
fungi eren. Stereotype sind
somit wertneutral, müssen also nicht n egativ konnotiert sein.
Die modeme So zi al psy chologie hat diesen Ansatz definiert Stere otyp als
kognitives Schema,
wei terentwickelt
und
das es erlaubt, Infonnationen schnell
und effektiv zu verarbeiten und somit der problemlosen Orientie rung in unserer Umwelt dient. Stereotype
beruhen
wegen ihres Zwange s zur Reduktion auf 3 Übergeneral is ierung und Akzen
fehlerhaften und fonnelhaften Denkp rozes sen .
tuierung prägen das Spezi fische d es Stereotyps und bedi n gen se i n e lichkeit und
Akze ptanz in der j eweil i gen Gruppe .
Ei ndring
Stereotyp e haben nicht unbedi ngt negative gesellschaftlich e Funktionen, sondern sind ganz im Gegenteil notwendiger und stabilisierender Faktor unse rer
lebenswe l tl i chen Er fahrung . Es geht also
nicht
darum, Stereotype auf ihren
Wahrheitsgehalt an einer wie auch immer definierten Wirklichkeit zu über
prüfen. Ihre positive gesellschaft l iche
Wi rkung ist, wie Bau singer herausstellt,
unübersehbar. Sie enthalten einen relativen Wahrheitsgehalt, bieten Orien
. tierungsfunktion in einer ständ i g komplexer werdenden Umwelt
an und hab en
eine realitätsstiftende Wirkung, d.h. sie erzeugen eine neue Wi rkl ichke i t, de ren ges e llschaftliche Konstruktion wiederum Untersuchungsgegenstand se in kann.
In diesem Sinne interessiert sich die Volkskunde fiir die Entstehung von Stereotypen und deren kulturelle Vennittlung. Dabei spielt die Frage nach den
ihnen zugrundeliegenden Bildern und Wertvorste llungen und deren Ver werden zu einem groß en Teil durch Medien geprägt und tradiert, die mit den ihnen e igenen Ins zenierungs- und Ve nnittl ungsstrategien Wirklichkeit bündeln, zuspitzen und präsentieren .
änderung im historischen Verlauf eine wesentliche Rolle. Stereotype
2
3
Hermann Bausinger, Name und Stereotyp, in: Stereotypenvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder - Selbstbilder - Identität. Festschrift filr Georg R. Schroubek zum 65. Geburtstag, hrsg. von Helge Gemdt, München 1 988, S. 1 3- 1 9, hier: S. 1 3 . Peter O . Güttler, Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungs änderungen, 3. Aufl., MünchenlWien 2000, S. 1 1 0- 1 1 2 .
Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
1 25
Wie kein Jahrhundert zuvor und vielleicht auch danach hat das 1 9. Jahrhundert mit Medien experimentiert. Die " Sehsucht", die Lust an Bildern hat eine Fülle medialer Darstellungsformen entstehen lassen, von denen manche heute vergessen sind, vieles aber von dem, was vermittelt wurde, in seiner ikono graphischen Kraft bis heute fortwirkt. Am Anfang der Überlegungen soll ein kurzer Blick auf die früheste Massenillustrierte, das Pfennigmagazin, stehen, um auf ältere Formen der kulturellen Vermittlung hinzuweisen. Ausfiihrl icher sollen Weltausstellungen und Völkerschauen vorgestellt werden und schließlich wird es kurz um die Verdichtung populärer Bilder vom Norden im Kaiserreich gehen, dafür werden vor allem die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelm 11. und die Bilder des schwedischen Malers earl Larsson stehen. Mit einigen knappen Über legungen am Schluss werden die Nachwirkungen bis in die Gegenwart skizziert. Auf die Germanophilie, die frühen rassekundlichen Ansätze und die Lebens reformbewegung, die ebenfalls mentaler Ausdruck des Kaiserreichs waren, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, weil hiermit ein ganz anderes und sehr komplexes Feld aufgemacht werden würde.
Das Pjennigmagazin Mit der Auflösung der räumlichen und sozialen Horizonte seit dem Beginn der Frühen Neuzeit (Entdeckungsfahrten, Entstehung der empirischen Wissen schaften) und vor allem mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 1 8. Jahrhunderts (allgemeine Schulpflicht, Professionalisierung akademischer Berufe, wachsende Mobilität, Ausbildung der Industrie gesellschaft) wuchs das Wissen über die Welt stetig an. Auch Bevölkerungs schichten, die bisher nicht an den Wissenszuwächsen teilhatten, erhielten mehr und mehr Kenntnis über die Welt jenseits ihrer unmittelbaren Erfahrung. Medien bereiteten das Wissen auf und sorgten rur dessen Verbreitung. Für die Frühe Neuzeit sei nur an die Bedeutung der Flugblätter und Flugschriften und der Jahrmärkte erinnert, auf denen das Exotische vorgefiihrt wurde (also: der Eskimo, der Elch), allerdings ohne es zu kontextualisieren, der Reiz der Fremd heit erschöpfte sich im Anblick selbst. Der Bildungsanstieg im 1 9. Jahrhundert vermehrte das Wissen über die Welt und damit auch die Rezeptionsweisen. Es entstanden Zeitschriften, die ein breiteres Publikum als Leser anvisierten. Die erste deutsche Illustrierte war das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur 4 Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse, Vorbilder mit fast gleichem Titel gab es bereits in den USA. In Deutschland erreichte dieses Magazin sehr schnell hohe Auflagenzahlen, schon 1 83 3 , im ersten Erscheinungsjahr, wurden 30 - 3 5 4
Charakterisienmg vgl. Andreas Schmidt, "Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint [ ]". Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland 1 75 5 bis 1 8 5 5 , Münster u. a. 1 999, S. 1 66- 1 70.
Zur
. . .
1 26
Silke Göttsch-Elten
Tausend Stück von einer Auflage gedruckt und verkauft, was sich in den f olgenden Jahren auf 100.000 Stück steigern s ollte. Aber bereits in den 1840er Jahren kam es zu einem starken Rückgang in der Auflagenhöhe, weil das Inte resse an tagespo litischen Ereignissen wuchs, das durch die aktuellen Tages zeitungen befriedigt wurde. Das Pfennigmagazin hingegen orientierte sich stärker an den Bildungsidealen des 18. Jahrhunderts, man setzte auf Volks aufklärung und nicht auf Informati on für den m odemen Leser. s Das Anliegen war Belehrung, die Tradition der Spätaufklärung lebendig. Dem Norden wurde übrigens nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen Regionen der Welt. Besonders intensiv war die Berichterstattung über Island und Lappland, in den Augen der Leser sicher exotischere Regi onen als Norwegen und Schweden, die überwiegend mit Geschichten über ihre Könige und damit in dynastischen Bezügen thematisiert wurden. Die Beschreibungen bewegten sich durchweg in den gängigen aufklärerischen Wahrnehmungsschemata. Behandelt werden Land und Leute, als o Naturkunde, die Wirtschaft und Lebensverhältnisse von Menschen und ihre Abhängigkeit v on den natürlichen Gegebenheiten. Die bei gegebenen Illustrati onen vermitteln den Eindruck von Momentaufnahmen, allerdings ohne das Pathos der in jener Zeit entstehenden Volkslebensmalerei, die es versteht, Volkskultur zu Stimmungen zu verdichten. Noch bestimmt die Vermischung v on Merkwürdigkeits- und Tatsachenblick, wie sie für das Genre spätaufklärerischer Landesbeschreibung typisch ist, Wahrnehmung und Ver mittlung. Die ethnozentristische Perspektive der Schilderungen war unüber sehbar, d. h. man beschrieb, was man auch in der eigenen Kultur für wichtig hielt: Behausung, Kleidung, Erwerbsstruktur und Nationaleigenschaften. Die Maxime bürgerlicher Tugenden wurden übertragen: Man vermisste den not wendigen Fleiß, was durch die langen Nächte erklärt wurde, es wurde auf mangelnde Sauberkeit, fehlende Hygiene hingewiesen, die Krankheiten begünstigte.6 Eine Verherrlichung des Nordens war nicht intendiert, der Norden nicht Motiv zivilisationsmüden Eskapismus, die große Vergangenheit, die in den Sagas tradiert war, wurde nicht erwähnt, ebens owenig eine faszinierende, mit Ossianschen Attributen ausgestattete Natur vorgeführt. Die ästhetischen Kate gorien der Wahrnehmung von Land und Leuten waren in der frühen Massen literatur n och andere als dann am Ende des 19. Jahrhunderts. Schlicht gesagt, der Norden war fremd, die Differenz evident gemacht durch die Übertragung eigener Erfahrungshorizonte, was beschrieben wurde, stand häufig genug im Widerspruch zur aufklärerischen Vernunft der deutschen Zeitgen ossen.
S 6
Zu
diesem Prozess vgl. Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1 800, Stuttgart 1 993 . Reikiavik, in: Das Pfennig-Magazin 1 839, S. 28 f.
Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
1 27
Die Entstehung des Massenpublikums Seit Beginn des 1 9. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis nach Authentizität, nach der Echtheit der Informationen. Es entstand eine Vielzahl von Medien, die diesem Bedürfnis Rechnung trugen, man kann es als das Jahrhundert der Visualisierung bezeichnen. Am Ende des Jahrhunderts stand die Entwicklung des Films als das das Hier und Jetzt aufhebende Medium. Mit Visuali sierung sind allerdings nicht nur zweidimensionale Bilder ge meint, sondern auch "Kulturinszenierungen" in einem umfassenderen S inne, also die Versuche, Handlungen oder Vorstellungswelten auf eine Effekt dramaturgie hin zu konzipieren, ' dazu gehörten z. B . Panoramen, Dioramen, aber auch Ausstellungskonzeptionen jener Zeit. Voraussetzung für diese Ent wicklung war das Entstehen eines Massenpublikums und damit die Ausbildung einer Unterhaltungskultur, die den Gesetzen der Kommerzialisierung folgt. Vanessa R. Schwartz hat in einem Aufsatz über die Vergnügungskultur in Paris in jener Zeit beschrieben, wie sich im Umgang mit den neuen Etablissements Flänerie, ein Begriff, den sie in Anlehnung an den Flaneur von Walter Benjamin prägt, als spezifische Form der Wahrnehmung des entstehenden großstädtischen Publikums herausbildet. 8 Der umherschweifende Blick des Betrachters wird nicht mehr durch das pädagogische Bemühen eines Autors konzentriert wie noch beim Pfennigmagazin, sondern die Wirkung der Unterhaltungsindustrie beruht auf dem Angebot ständig neuer optischer Reize. Schwartz hat an Pariser Einrichtungen (Leichenschauhaus Morgue, Wachsfigurenkabinett) gezeigt, dass diese Zuschauerschaft eine neue ausgeprägte Lust an der Realität implizierte, die sich, so ihr Fazit, aus dem Verschwinden der Grenze zwischen Kunst und Wirk lichkeit ergab, daraus, dass Wirklichkeit in ein Schauspiel verwandelt wurde und gleichzeitig die Schaustellungen immer realistischer wurden. Die Gier nach Authentizität wurde mit Simulation von Wirklichkeit befriedigt, aber da die Simulation mit authentischen Versatzstücken angereichert war, vermischten sich die Eindrücke zu einer untrennbaren Einheit. Um diesen Effekt zu erzielen, ent wickelte das späte 1 9. Jahrhundert neue Formen der Inszenierungen. Zwei "Kulturinszenierungen", Weltausstellungen und Völkerschauen, sollen im Folgenden vorgestellt werden, um an ihnen exemplarisch zu zeigen, wie die Konturierung des Stereotyps von Nördlichkeit geleistet wurde, wie Versatz stücke einer Kultur zu einem unverwechselbaren Ensemble komponiert wurden, aus dem die skandinavische Tourismuswerbung und die Vermarktung skandi navischer Produkte bis heute ihre Prägnanz ziehen. Diese Medien erreichten Stefan
Müller-Doohm
und
Klaus
Neumann-Braun
(Hrsg.),
Kulturinszenierungen,
Frankfurt a. M. 1 995, S. 1 0.
Vanessa R. Schwartz, Die kinematische Zuschauerschaft vor dem Apparat. Die öffentliche Lust an der Realität im Paris des Fin de siecIe, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, hrsg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1 998, S. 283-3 1 8, hier: S. 284.
1 28
Silke Göttsch-Elten
nicht nur viele Menschen und trugen damit zur Popularisierung der Bilder bei, sondern mit ihnen wurden auch ganz neue Formen der Wahrnehmung eingelernt, die modemen Medienkonsum kennzeichnen. Der Norden als vorindustrielle Idylle
1 85 1 wurde in London die erste Weltausstellung als internationale Industrie schau veranstaltet. Weltausstellungen wurden in der Folge zum Schauplatz nationaler Selbstdarstellung, adressiert an ein internationales Publikum, das mit seinen Reisen dorthin den modemen Massentourismus einleitete. Sie avan cierten in der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts zu beliebten und viel besuchten Massenveranstaltungen. In prachtvollen Büchern und in den illustrierten Zeitschriften jener Zeit wurde ausführlich und anschaulich darüber berichtet. 9 Kaum ein anderes Ereignis des 1 9. Jahrhunderts hat die Ausstellungs praktiken, auch die der kulturhistorischen Museen, so stark inspiriert und geprägt. Sie gelten als unmittelbare Vorläufer des Freilichtmuseums, nicht nur weil Artur Hazelius, der Begründer des ersten Freilichtmuseums 1 89 1 in Skansen bei Stockholm, seine Ausstellungstechniken auf den Weltausstellungen ausprobierte und verfeinerte, sondern vor allem weil die sogenannten ethno graphischen Dörfer für die Weltausstellungen erfunden wurden. Weltausstellungen waren in erster Linie Orte, an denen die Nationen mit ihren technischen Erfindungen und ihrem wirtschaftlichen Fortschritt miteinander konkurrierten, aber mehr und mehr wurden sie auch zum Ort der Darstellung nationaler kultureller Identität, zum Ort, an dem die nationalen Kulturen mit einander wetteiferten J O und an dem die einzelnen Nationalstaaten sich als kulturelle Einheit in ihrer Eigenart präsentierten. Dieses Spannungsverhältnis von Fortschritt und Tradition war von Anfang an den Weltausstellungen inhärent, bereits 1 85 1 versahen einzelne Länder ihre Abteilungen mit Versatzstücken ihrer nationalen Ikonographie oder, um es im klassisch volkskundlichen Vokabular auszudrücken, mit Objekten ihrer Volks kultur, und dazu gehörten in jener Zeit Architektur, Trachten und Volkskunst. 1 I 1 85 1 in London präsentierten sich die einzelnen Nationen noch in einem einzigen festen Ausstellungsgebäude, wobei die Präsentation von Volkskultur zunächst keine große Rolle spielte, wie man einem zeitgenössischen Bericht 9
Vgl. dazu die reichhaltige Literatur, z. B. Winfried Kretschmer, Geschi chte der Weltausstellungen, Frankfurt a. M. und New York 1 999. 10 Bjame Stoklund, Nationernes kulturella arena. 1 800-tallets verdensutstillninger, in: Kul turens nationalisering. Et etno l ogisk perspektiv paa det nationale. Red. Bjame Stoklund, Kopenhagen 1 999, S. 1 39- 1 57 . 1 1 Viele Anstöße und B ei sp ie l e verdanke ich der ergie bi gen und anregenden Dissertation von Martin Wörner, Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1 85 1 - 1 900, Milnster u. a. 1 999.
Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
1 29
entnehmen kann. Der Autor beschreibt u. a. ausführlich die skandinavische Ein heit, wobei er die " Skandinavier" ausdrückl ich zu den freien Völkern rechnet, wie sonst nur noch die Schweizer. Nach einer ausführlichen Beschreibung der geographischen Bedingungen (raues Klima, karge Gebirgslandschaft, lange Winternächte, in denen die Einwohner im Hause bleiben müssen) fasst er zu sammen :
Alle diese Umstände scheinen das Aufkommen einer gewissen, der schweizerischen ähnlichen Industrie zu begünstigen. Gleichwohl finden wir im Katalog nur 8 B ei träg e aus Norwegen - Silber, Kupfer und Eisen als Erz- und Hüttenerzeugniß, Pottasche und eine Sammlung norwegi scher Perlen. Nach trägl ich sind noch einige Holzschnitzeieren aufgestellt, die sich aber entfernt nicht mit den schweizerischen messen können. Die Rückständigkeit der norwegischen Industrie erklärt er folgendermaßen,
Norwegen sei reicher an Naturprodukten als die Schweiz (Metall, Fischerei, Wald), deshalb hätten die dünngesäten Einwohner es nicht so nötig zu arbeiten. Außerdem fehle
ihnen
aufgrund der hohen
Schutzzölle der Anreiz der
Konkurrenz.
D er an ein Verbot grenzende Zoll auf fremde Tuche hat nicht zur Errichtung von Manufakturen, sondern zu der Importation ganzer Schiffsladungen alter Kleidung gefiihrt . Man sieht in Christiania alle die Leibröcke, die drei Jahre vorher in England oder Deutschland Mode waren und die Damen müssen sich mit den Londoner Ladenhütern begnügen. Über Schweden heißt es :
Von Bedeutung sind nur die Eisensachen. Die Proben von Handspinnerei und Handweberei aus Flachs - darunter eine 4000 schwedische Ellen lange Strähne Garn, die nicht ein volles Loth wiegt, von e iner Bäuerin gesponnen beweisen nur, daß aus diesem Industriezweig etwas werden könnte. -
Und über Dänemark:
Nur die nautischen und physikalischen Instrumente sind einer ernsten Betrachtung werth. Die Jacken, Strümpfe, Nachtmützen und Fausthandschuhe, die der jütische Ochsenhirt auf der Weide strickt, und die mit Ruß � Iasierten Töpfe der jütischen Bauern sind merkwürdig, aber auch nur merkwürdig. 2 Der Maßstab der Bewertung war Modernität, das Verfügen über neue Techniken und Maschinen und die damit verbundene ökonomische Produktivität. Die Rückgriffe der skandinavischen Länder auf Volkskultur wurde mit ironischer Distanz 12
.
zur
Kenntnis genommen.
L Bucher Kulturhistorische Skizzen aus Frankfurt a. M. 1 8 5 1 , S. 1 5 8- 1 60. ,
der Industrieausstellung
aller Völker,
Silke Göttsch-Elten
1 30
1 867 in P ari s änderte sich das Konzept der Präsentation Marsfeld wurde zur Ausstellungsfläche. Die zu ständ i ge Ausstellungskommission rief dazu auf, da s s jede Nation sich auch durch irgen de i n Gebäude oder d u rch sonst ein passendes bauliches Unter nehmen präsentieren so l l e , das in " mö gl i chst deutlicher und zugleich i nteress anter Weise die Ei g en th üml ichke ite n des betreffenden Volkes i n B e zug auf seine Sitten und Gebräuche wie auf seine ganze Lebensweise veran s chaul i cht " . J3 So entstan d schließlich ein parc etranger mit 1 75 Geb äu den , er stellt den Urtypus des " ethno grap h i sche n Dorfes" dar. Eigentl ich hatte der Aus ste l lung s l e iter, der franzö s i s che Sozialstatistiker Frederic Le Plays e i nen ganz anderen Plan v erfo l gt , er, der in ganz Euro pa B udgetforschun gen in Arbeiter familien anstellte, wol lte auf diesem Wege zu einer nationenübergreifenden Lö s u ng der akuten Wohnungsfrage kommen, ve rfol gte also sozialpolitische Inte re s s e n . Aber die Länder ori e nti erte n sich nicht an d i e sen Vorst el l u ngen , sondern griffen b e i de r S e lbstdarste l lu ng auf ethn ograph ische Besonderheiten zurück, um ihre Länder zu präsenti eren , so war z. B. eine ori gi n al e Hütte e i n er Familie aus Lappl an d mit au s g estopft en Renntieren zu s eh en . Besondere Auf merks amke it erregte aber das Haus aus Schweden, weil hier in konge ni aler Weise Ge s chi chte mit lan de styp i schem Baustil verwoben worden war un d so ein besonders e inprägs ames und dichtes Bild schwedischer Identität angeboten wurde : Bei der We lt au sste l l ung
grund legen d ,
das
ge s amte
ein sc hl ichtes , aus Holz errichtetes Haus. Eine markante, schneckenfOnnig gewundene Auße ntreppe führte zum oberen Stockwerk, um das eine mit schuppenartigen Ho l zschinde i n verkleidete Galerie führte. Das Dach bestand aus Moos, die Innenwände hatte man mit Birkenrinde überzogen. Das Gebäude stellte
eine idealisierte Ko pie des Hauses von Ornäs in der Provinz Dalarna dar; dort sollte sich nach der Überlieferung der schwedische Nationalheld Gustav Wasa vor den Verfolgungen der Dänen verb orgen haben, bevor er sie an der Spitze eines schwedischen Heeres besiegte und schl i eßl i ch 1 523 zum König gekrönt wurde. In dieser filr die schwed i sc he Nation w ichti gen historischen Begebenheit erklärt sich die bes o nd ere Bedeutung der Errichtung des einfachen Häuschens . Es repräsentierte also weniger ein typisch ländliches Gebäude, viehnehr war es eine Art Nationaldenkmal, "une maison hi storique , sacree pour la Suede par le sej ours du heros p'roscrit, qui allait deveni r bientöt le conquerant et le fondateur de son 14 royaume" .
Während andere europäische Länder sich in ihrer Selbstdarstel lung auf ihre Span i en rekurrierte z.B. auf das Motiv der Alhambra, Belgien auf d as der flandrischen Renaissance und Grie chenl an d präsentierte sich mit einem antiken Landhaus ( P ari s 1 878), präsentierten Norwegen und Schweden prononciert ländl i che Architekturformen .
E l iteku l tu r b e zo gen ,
13
14
Zit. n. Wörner (wie
Anrn. 1 1 ), S. 49.
Wörner (wie Anrn. 1 1 ), S. 52.
P opul äre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
131
Abb. 1 : Schwedisches Trachtenpaar ftlr die Weltausstellung Paris 1 878, ausgestellt in Skansen, Stockholm in den 1 890er Jahren. Aus: Jonas Berg, Dräktdockor - Hazelius och andras, in: Fataburen 1 980, S. 9-28, hi er : S. 27.
Abb. 2: Artur Hazelius' vier Tableaus rur die Weltausstellung 1 878 in Paris (franz. Zeitungszeichner). Aus: Jonas Berg, Dräktdockor Hazelius och andras, in: Fataburen 1 980, S. 9-28, hier: S . 25. -
Silke Göttsch-Elten
1 32
Auf der Weltausstellung in Paris 1 878 errichteten sie gemeinsam (Symboli sierung der Personalunion) ein in Holz ausgeführtes Gebäu de das in zwei 15 der linke symbolisierte Schweden, ,
gie be l ständige Bauteile untergliedert war,
der rechte Norwegen. Julius Lessing, Direktor des B erl iner Kunstgewerbe museums, stellte fest, daß dieses Gebäude besonders "nordische
E i genart ver "
körpere. "Der heimische Holzbau, welcher sich dort vom frühen Mittelalter her
ohne erhebliche Veränderungen erhalten hat, ist wi eder zu nationaler Geltung
gelangt" . Die Verzierung der Fassade "so primiti v und alterthÜlnlich", "daß man
das gol dig leuchtende Fichtenholz nur wenig zu bräunen brauchte, um den Bau
in die frühmittelalterlichen Teile eines Museums einzureihen . " Diese Formen zugleich aber so "ursprünglich und frisch, daß sie jeder Entwicklung fähig sind"
. 16
Weiterbenutzun g und
In diesem Sinne erfii l lte die norwegische Ornamentik
d ie Forderungen der ze i tgenös si schen Kunstgewerbebewegung, die die alten
handwerklichen Traditionen in ihrer B edeutung
fiir die Wie derbelebung der im
Untergang geglaubten Handwerkskunst sah. Die Interpretation, die dem histo ristischen Baustil unterlegt wurde, verweist auf den ahistorischen Blick: Seit dem frühen Mittelalter bis heute ohne erhebliche Veränderungen, damit werden Kontinuitätsprämissen ungeprüft unte rste ll t, die dem Leser suggerieren sollten,
als sei hier im Norden eine Welt stehen geblieben, unberührt von den in Mittel europa so ras anten Veränderungen vor all em seit Beginn des 1 9 . Jahrhun derts
.
Diese Vorstellung verstärkten Norwegen und Schweden auf den folgenden
We ltaus stell u ngen
.
In ganz ähnlicher Weise wie Architektur fungierte auch Tracht als Signal
nation aler Identität. Bekleidung war seit 1 85 1 in London feste Ausstellungs einheit,
gezeigt wurde a l l erd i ngs
Mode
und
Alltagskleidung,
also
Zeit
genössisches, ohne den nostalgischen Rückgriff, Trachten spielten anfangs eine nur untergeordnete Rolle. Norwegen hatte al lerd i n gs schon 1 85 5 "quelques costumes nationaux" ausgestellt und 1 862 in London zwei Puppen in bäuerlicher Hochzeitstracht präsentiert: "an exact costume which has been
centuries
preserved for
among the si mp le min ded persons", so der verklärende Kommentar -
eines Besuchers.
Die meiste Beachtung fand aber die Abteilung Schwedens (die schwedischen Trachten errangen die begehrte Goldmedaille) und Norwegens. Hatten die übrigen Länder ihre Trachten entweder in V itrinen ausgelegt oder an Schneiderpuppen, [ ], präsentiert waren die lebensgroßen Figurinen des Königreiches "d'apres ' nature" gestaltet. 7 . . .
15
16 17
Wörner (wie Anm 1 1 ), S. 30. Julius Lessing, B e ri chte von der Pariser Weltausstellung 1 878, Berlin 1 878, S. 42, zit. n. Wörner (wie Anm 1 1 ), S. 30. Types et costume s suedois et norvegi ens, in: L' IlIustration, 20. April 1 867, S. 25 1 , Abb. S. 252, zit. n. Wörner (wie Anm. 1 1 ), S. 1 48. .
.
Populäre B i lde r vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
133
Hierzu modellierte der Bildhauer Carl August Söderman Köpfe und Hände nach lebendigen Vorbildern aus Gips, die anschließend wirklichkeitsgetreu koloriert wurden. Die Gestalten erschienen den Betrachtern deshalb oft so lebensnah, "so täuschend nach �ebildet, als ständen sie lebendig unter uns und spazierten mit uns umher" J S ! 40 Trachtentypen der verschiedenen Provinzen wurden vorgeführt, neuartig und vorbildgebend für alle folgenden Trachten präsentationen war die Zusammenstellung zu ethnographischen Tableaus ?O Damit gelang den Schweden eine gänzlich neue Dimension der Visualisierung von Volksleben, die durch ihr Zusammenspiel von Trachtenfiguren und dem Nachstellen von Motiven aus der Volkslebenmalerei eine ganz eigene Dramatik erhielt. Norwegen und Schweden ste llten 1 7 Trachtengruppen vor gemalten Hintergrundpanoramen aus, die wie dreidimensionale Theateraufflihrungen wirkten. Eine zeitgenössische Beschreibung zeigt, wie einprägsam das für den Betrachter war: Hier ist ein junges Mädchen, das Heu mäht, m it blauen Augen, blondem Haar und ros igen Wangen, sie geht nach Hause, eine Freundin schmückt ihr die Haare und sie trifft auf einem Fest ihren Geliebten, es folgt eine weitere Szene Hochzeit i n der Hochzeitstracht und dann ein Bild, die junge Familie, die junge Mutter trägt ein Baby in einem Korb und dann das abschließende Tableau "nordische Schlittenfahrt" ; Jetzt gehen sie auf eine lange Reise, der S ch litten wird gezogen von Rentieren und ist mit Fellen ausgelegt, sie sitzen dort warm und gemütlich und fahren nach Lapp l and.
Noch stärker als mit Architektur konnte über die Ausstellung von Trachten und ihre Einbindung in Tableaus, die "Volksleben" in Tracht in Dreidimensionalität umsetzten, der Anschein von Authentizität erreicht werden. Dean MacCannell hat dieses Spiel mit Echtheit im Zusammenhang mit dem Tourismus als "staged authenticity,, 2 J bezeichnet. Es ging dabei nicht um die Realität an sich, sondern um die Simulation von Realität. Dolf Sternberger stellt in seinen Überlegungen zum Panorama fest, dass in keiner der Schilderungen über den Besuch eines Panoramas je die Enttäuschung eines Betrachters zu finden sei, der sich durch die Simulationen getäuscht sah, daraus folgert er, und ich meine zu Recht, dass die Kunst der Täuschung um ihrer selbst willen getrieben werde, und nicht um 22 zu täuschen. An die eingangs gemachten Bemerkungen zur Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Leben sei an dieser Stelle erinnert. 18 19 20 21
22
A. Ebeling, Das Wunder der Pariser Weltausstellung 1 867, Köln 1 867, S . 297, zit. n. Wömer (wie Anm. 1 1 ), S. 1 49. Wömer (wie Anm. 1 1 ), S. 1 48 f. Ebd., S. 1 49. Dean MacCannelI, Staged Authenticity. Arrangement of social space in tourist settings, i n; American Journal of Sociology 79 ( 1 973), S . 5 8 9-603, umfassender und neuer Regina Bendix, In Search of Authenticity. The Fonnation of Folklore Studies, Madison 1 997. Dolf Stemberger, Das Panorama oder Ans i chten vom 1 9. Jahrhundert, (Erstausgabe 1 938), Frankfurt a. M. 1 98 1 , S. 1 9.
Silke Göttsch-Elten
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Die Reduktion nationaler Identität auf arrangierte Versatzstücke einer Volks kultur, über deren "Echtheit" sich streiten ließe, die stereotype Verwendung von Interpretamenten, die an den Bedürfnissen einer bürgerlichen Gesellschaft Maß nahmen, und deren Inszenierung (ver-)führte auch zur Selbstverklärung, wurde mithin geglaubte Wirklichkeit. Es überrascht nicht, dass Artur Hazelius bei seinen Ausstellungen im Nordiska Museet in der Drottingsgata in Stockholm
und später in Skansen genau auf diese Muster zurückgriff, um schwedische Nationalkultur zu imaginieren: Dioramen, ins Dreidimensionale inszenierte Volkslebenbilder, Stubeninterieurs, Trachtentableaus, Lappenhütten zum Tei l von "echten" , d.h. lebende n Menschenfamilien bewohnt, die Rentiere waren ohnehin lebendig. Die Wirkung war immens, nicht nur Besucher aus ganz Europ a reisten an, auch das Stockholmer Großstadtpublikum flanierte durch die Ausstellungen. Weltausstellungen mit ihren eigenen Gesetzen der Sel bst
darstellung im internationalen Kontext zeigen, wie Selbstverklärung, das Autostereotyp, zur Fremdverklärung, zum Heterostereotyp, wird und wie eng
diese bei den Prozesse miteinander verzahnt sind. Neben Architektur und Tracht galt besonders die Volkskunst als Ausdruck
einer bäuerlichen Ästhetik. Ihre Entdeckung stand im engen Zus amm enhang zur ästhetischen Diskussion um das Kunstgewerbe in der zweite Hälfte des 1 9 .
Jahr
hunderts, die vor allem durch den Engländer John Ruskin und den deutschen Architekten Gottfried Semper angestoßen wurde. Volkskunst sollte das durch die industrielle Produktion desorientierte Handwerk wieder zu qualitätvoller Arbeit anregen und dem durch industrielle Massenproduktion verderbten Ge schmack aufhel fen. Volkskunst war aber nicht nur abgelöste ästhetische Kate gorie. Der in jener Zeit gern gebrauchte Begriff Bauernkunst, der eine Einheit von Produktion und Konsumtion in vorindustrieller Zeit suggeriert, steht für die schwärmerische Haltung der Volkskunst gegenüber. Der Bauer, so glaubte man,
habe die Reste der nationalen Kultur bewahrt, weil er den Veränderungen der modernen Welt weitgehend widerstanden habe. Hausfleiß, so einer der mehr oder weniger synonym gebrauchten Begriffe rür Volkskunst, ist ein Wort, das bis heute in Norwegen und Schweden für nationales Ku n stgewerbe steht. 1 867 wurde auf der Pariser Weltausstellung erstmals eine Ausstellung mit dem Titel
Histoire de travail gezeigt,
die in der Retrospektive das künstlerische Schaffen
der Nationen zum Thema hatte. Traditionelle Obj ekte wurden als "immer wichtiger werdendes
Material rür unsere e igenen Kompositionen" verstanden
und ihre Bedeutung "als Erbe eigenständiger Formen" für die "Verbindung von 23 Kunst und Industrie,, betont. Jacob von Falke, Kunsthistoriker am Österreichischen Museum für Kunst und
Industrie und vermutlich Inspirator der schwedischen Hausfleißbewegung, 24 be23
Zit. n. Wömer (wie Anm . 1 1 ), S. 200. Detlev Sievers, Der Einfluss der skandinavischen Hausfleißbewegung auf den deutschen Handfertigkeitsunterricht, in: Colloquium Balticum Ethnographieum. Wege und
24 Kai
Populäre Bilder vom Norden im
1 9 . und 20. Jahrhundert
135
richtete bere i ts 1 867 i n Paris fasziniert über die Holzschnitzereien aus NOlWegen und Schweden. Die Gegenüberste lltung tradierter Fonnen und Techniken mit modemen Erzeugnissen des Kunstgewerbes schien ihm besonders gel un gen . "Wohl kein Land au f der Welt", so schrieb er, "zeige so die Mischung moderner Cultur und alterthümlicher Kunstelemente noch in der heutigen Industrie wie Schweden und NOlWegen." Seine Begeisterung für d ie scheinbar j ahrhun derte alte Tradition mutet heute naiv an, wenn er schreibt, dass Texti li en zu finden seien "mit d en primitivsten Fonnen der Ornamentik, die der einfachsten Haus technik angehören und der uräItesten Zeit entstammen,,?5 Die Anregu n gen für die Gewerbeschulen schienen Falke fast unerschöpflich. Für die Weltausste llung in Wien 1 873 konzipierte Falke eine Ausstellungs einheit "Nationale Hausindustrie" , an de r sich d ie Industrieländer übrigens ni cht b etei l igten . Dort kritisierte Falke die skandinavischen Trachtentableaus, die ihm zu sehr ethnographische und damit letztendlich touristische Sehenswürd igkei ten in den Blick rü ckten , dagegen, so F alke , seien wichtige Erzeugni sse der skandi navi schen Hausindustrie nicht ausgestellt worden, Skandinavien setzte also in seiner Selbstdarstellung mehr auf die Wirksamkeit zusammengesetzter Volks lebentableaus als auf die Ästhetik vereinzelter Objekte. Volkskunst, Haus industrie oder Hausfleiß waren - eingebunden in die zeitgenössische Kunst gewerbedisku ss i o n - besonders gut geeignet, nationale Eigenart und kulturelle Identität und deren scheinbar ungebrochene Kontinuität zu repräsent i eren . Es ist bemerkenswert, dass die gro ße n Industrienationen diese Möglichkeit n icht nutzten, so ndern L änder, die eher am Anfang industrieller Entwi ckl un g standen, bzw. noch weit davon entfernt waren, sich hier besonders pro fi l i erten . Die These der "Kompensation ökonomischer Rüc kständigkeit,, 26 mag hier ihre Bestätigung finden. Auf jede n Fall wurden die Nationen selbst, und d as triffi nicht nur für Schweden und NOlWegen, sondern auch für andere Länder (Russland, Sieben bürgen u s w . ) zu, a l s Re l iktgebiete wahrgenommen, als Regionen, in denen sich Altes, Uraltes oder sogar Urältestes noch erhalten habe. Das Bild einer vor industriellen Idylle verfestigte sich, was ganz wesentlich durch die Nationen selbst in Gang gesetzt worden ist.
25
Teilnehmer ethnisch-kultureHer Kontakte in Cimennanis, Ri ga 1 993, S. 1 89-2 1 0.
der Ostseeregion, hrsg. von Saulevedis
Jacob Falke, Die Kunstindustrie der Gegenwart. Studien auf der Pariser We1taussteHung im Jahre 1 867, Le i pzi g 1 868, S. 14 f., zit. n. Wömer (wie Anm. 1 1 ), S. 2 1 0. 26 Gottfri ed Korff, Folklorismus und Regionalismus. Eine S kizze zum Problem der kultu reHen Kompensation ö konom i sc her Rückständigkeit, in: Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, hrsg. von Hennann B ausi nger und Konrad Köstlin, NeurnUnster 1 98 1 , S. 3 9-52.
S ilke Göttsch-Elten
136
Der exotische Norden - Völkerschauen Aber es waren nicht nur die unregelmäßig in den Metropolen stattfindenden Weltausstellungen, die mit avancierten In szenierunge n Bilder der Welt pro duzierten, auch andere neu entstehende (groß) städtische Schaustellungen ver mittelten mit ganz ähnlichen Techniken Einblicke in fr em de oder gar e x otis ch e Welten, dazu gehörten auch die Völkerschauen und Panoramen .
Völkerschauen als Massenvergnügen gab es in England bereits seit B egi nn des 1 9 . Jahrhunderts. Zu ihrem Durchbruc h verhalf ihnen in Deutschland seit Mitte der 1 870er Jahre der Hamb urger Tierhändler earl Hagenbe ck. 1 874 ver anstaltete er als erste Völkerschau eine "Lappen-Schau" . Die Idee dazu entstand nach einem Bericht des Tiennalers Leutemann, eines Freundes Hage nbe cks , folgendennaßen: Ungefähr im August 1 874 erhielt ich von daß er, da Nachfrage
nach Rennthieren
habe, und zu deren Wartung auch einige
,
H. einen Brief, worin er mir mittheilte, He erd e aus Lappland bestellt
sei, eine
Lappländer
we rde mitkommen lassen.
D arauf schrieb ich ihm sofort wenn er das beab sichti ge, so möge er doch gleich
,
das Unternehmen dadurch zu einer eigenartigen Sehenswürdigkeit gestaiten daß er durch Mitbringen von S chlitten, Zelten, Geräthschaften, durch Anschließen von
H unden und sons tigem Zubehör die ganze Gruppe vollständigen Vorzei gen des Lappländer Lebens geeignet mache 2 7
Frauen und Kindern,
Hagenbeck
.
zum
selbst kommentierte diesen Brief in seiner Autobiografie mit den
Worten: Was dem Künstler in seinem Briefe vorschwebte, war sicherlich nur das malerische nordi sche Bild, das er sich nur in abgeschlossener Vollkommenheit mi t Menschen und Tieren und womöglich einem winterlichen Hintergrund vorzu stellen vermochte. In diesem V orschlag war aber schon die gl ückli che Idee der Völkerausstellungen, die sich in den nächsten Jahren wie eine bunte Kette aneinanderreihten, verborgen . Lappländer und Nubier, Eskimos und Somali, Kal m ücken und
schiedensten
Ind ier, Singhalesen und Hottentotten, die Bewohner der
,
Zon en ja Ant ipo den reichten einander in
gle ichsam die Hände in ihren
27 28
Zit.
n.
ver
den kommenden Jahren
Zügen durch die europäischen Hauptstädte?8
Lothar Dittrich und Annelore Rieke-Müller, earl Hagenbeck ( 1 884- 1 9 1 3)
handel und Schaustellungen im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.
M. 1 998.
- Tier
earl H agenbeck , Von Tieren und Menschen . Erlebni s se und Erfahrun gen, München 1 909, S. 80.
Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
Von
An fan g
an stellte er die hohe
Authentizität seiner
137
S chauen heraus:
Die Gäste aus dem hohen Norden hatten gar keine Be griffe von Schaustellung und was damit zusammenhängt, es wurde auch absolut keine Vorstellung gegeben [ . . . ) Es bot sich hier wirklich ein Bild, das wohl im kle i nen eine getreue Kopie 9 des Naturlebens war ?
Abb. 3 : Carl Hagenbecks Eismeer-Panorama auf der Berliner Gewerbeausstellung 1 896. Aus: Lothar DittrichiAnnelore Rieke-Müller, Carl Hagen beck ( 1 844- 1 9 1 3). Tierhandel und Schaustellungen im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1 998, S. 3 3 3 .
Der beständige Hinweis au f
das hohe Maß a n Authenti zi tät war n i c ht nur Werbestrategie, man war d av o n überzeugt, dass kein Schauspiel vor geführt wurde, sondern " un ge zwun gen es Treiben", mithin " Al l tag " : Die Same n zeigten , wie man mit Rentieren bespannte Schlitten fuhr, die Tiere einfing und molk oder sie als Packpferde verwendete, wie man die Eskimozelte au fst ellte und abbaute . Das auf den Weltausstellungen so erfol gre i che Prinzip der unauf lösl i chen Vermischung von Real ität und malerischer Vermischung wurde auch hier mit großem Erfolg eingesetzt. Die erste "Lappländer"-Schau ging von Hamburg n ach Berlin und dann nach L eipzi g , erreichte also v i e l e Zuschauer an verschiedenen Orten.
geschickte
Lappen und Eskimos gehörten wie Menschen aus Asien und Afrika in die Völker", die auf d e n Völ kerschauen vorgeführt w erden sollten. Den großen Erfolg der Lappländer-Schau erk l ärte Hagenbeck auch mit "Menagerie exotischer
29
Ebd . , S . 8 1 .
1 38
Silke Göttsch-Elten
den eben erschienenen Reiseschilderungen der Polarforscher Nansen und Amundsen. 30 Bereits 1 877 warb auf seine Anregung hin der norwegische Kapitän Johan Adrian Jacobsen eine Eskimo-Schau mit drei Männern, einer Frau mit ihren zwei Kindern tUr Hagenbeck an, außerdem brachte er eine umfangreiche ethno grafische S amm lung einschließlich Schlittenhunde mit. Allein in Hamburg kamen in wenigen Tagen 44.000 Zuschauer. Von dort aus wanderte sie nach Paris und dann nach Berlin, wo sie im Beisein von Kaiser Wilhelm I. eröffnet wurde, danach weiter nach Dresden, Köln, Brüssel, Paris und Hannover. Das allgemeine Interesse an exotischen, nicht zum alteuropäischen Kultur kreis gehörig geltenden Völkern, dazu rechnete man auch die Samen und Eskimos, war seit den frühen Entdeckungen groß. In der 2. Hälfte des 1 9. Jahr hunderts wurde die anfängliche Neugier durch die Hypothesen der sich aus differenzierenden Naturwissenschaften und deren Popularisierung3 1 weiter geschürt. Man ging davon aus, dass an außereuropäischen Völkern unter schiedliche zivilisatorische Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte ab zulesen seien. Die entstehende Rasselehre richtete ihr wissenschaftliches Interesse auf den physisch-anthropologischen Aspekt und beschrieb und vermaß die äußeren Unterschiede der Menschen und klassifizierte diese zu Rassen. Mit den naturwissenschaftlich ausgerichteten Expeditionen gingen frühe ethno logische Forschungen einher, die die Unterschiede in Verhalten, Sprache und materieller Kultur aufzeichneten. Im Gegensatz zur Präsentation auf den Weltausstellungen, wo nationale Identität zur Schau gestellt wurde und deshalb der Kanon des Präsentierten stets Vergleichbarkeit und Differenz zugleich repräsentierte, setzten die Völker schauen allein auf Differenz, ihre Attraktion speiste sich aus der Exotik. Völker schauen waren nicht nur Spektakel für ein Publikum, das auf Zerstreuung aus war, sondern Völkerschauen dienten vielen Zwecken. Die Anthropologen "erhielten" Menschen, an denen sie ihre rassekundlichen Untersuchungen vor nehmen konnten, die völkerkundlichen Museen bestückten mit den Objekten, die zur Ausstaffierung der Vorfiihrungen mitgebracht wurden, ihre Samm lungen.
Ein anderes Unterhaltungsmedium, das am Ende des 1 9. Jahrhunderts noch einmal an Popularität gewann, war das Panorama. Bereits 1 822 war in London ein erstes Nordkap-Panorama zu sehen gewesen. 1 888 eröffnete in Berlin das Panorama "Nordland", das Ausschnitte aus den Landschaften der Lofoten und nordische Gebirgsszenen darstellte. Das Berliner Panorama blieb bis 1 89 1 ge30
31
Ebd., S. 85 f. Vgl. dazu Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 1 9. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1 848- 1 9 1 4, München 1 998.
Populäre Bilder vom Norden im 1 9. und 20. Jahrhundert
1 39
öffnet und wurde am 1 3 . Juli 1 888 von Kaiser Wilhelm 11. besucht, der später behauptete, dadurch zu seinen Nordlandreisen, die erste führte ihn 1 889 zu den Lofoten, angeregt worden zu sein; 32 ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt, es war auf jeden Fall eine gute Tourismuswerbung für Norwegen. Die Idee des Panoramas griff auch earl Hagenbeck für die Ausgestaltung seines Tierparks auf. Als er 1 907 den Tierpark eröffnete, gehörte zu den Attraktionen ein Eismeerpanorama. 33 Damit war der entscheidende Schritt zu einer Inszenierung von Tieren in einer Landschaftskulisse getan, die dem Prinzip der im 1 9. Jahrhundert mit dem Medium Panorama entwickelten "Reise mit den Augen" folgte. Bilder, wie sie Völkerschauen und Panoramen dem Betrachter darboten, re duzierten komplexe Wirklichkeiten und verdichteten diese so, dass der Eindruck der Ganzheitlichkeit der Lebenswelt suggeriert wurde. Da die B ilder durch Wiederholung eingeübt wurden, ließen sie stereotype Vorstellungen über den Norden entstehen. Damit trugen sie dazu bei, die fremde, exotische, nie gesehene Welt dennoch kommunizierbar, erzählbar zu machen. Die Fähigkeit zur Erzählbarkeit der Welt war eine wichtige Voraussetzung, stereotype Vor stellungen über den Norden und seine Menschen zu entwickeln und zu trans portieren.
Die deutsche Nordland-Begeisterung um 1900 An den Unterhaltungsmedien Weltausstellung, Vökerschau und Panorama wurde gezeigt, wie stereotype Vorstellungen über den Norden geprägt und ver mittelt wurden. Auf die Gründe für die Faszination, die dem Norden entgegen gebracht wurde, ist verschiedentlich hingewiesen worden, dieser Aspekt soll ab schließend vertieft werden. Offensichtlich war die Begeisterung in der Mitte des 1 9. Jahrhunderts für die skandinavischen Länder eher gering, das lassen auch die zitierten Bemerkungen des Besuchers der ersten Weltausstellung in London 1 85 1 vermuten. Für den be ginnenden Tourismus in Deutschland spielte Skandinavien keine Rolle. Lediglich die Engländer, die Pioniere des Tourismus schlechthin, bereisten be reits sehr früh Norwegen und Schweden. Als sich König Oscar 11. von Schweden und Norwegen 1 873 auf seine Krönungsreise begab, besuchte er auch das Nordkap, andere gekrönte Häupter folgten ihm später. Reisebeschreibungen, die früheste stammt aus Amerika vom Jahr 1 882, priesen Skandinavien als das
32 Birgit Marschall, Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms 33
H., Heidel berg 1 99 1 (Skandinavische Arbeiten, 9), S. 28. Matthias Gretzschel und Ortwin Pelc, Hagenbeck. Tiere, Menschen, Illusionen, Hamburg 1 998, S. 64.
Silke Göttsch-Elten
1 40 "Land der Mitternachtssonne " .
34
Damit begann ein Wechsel in der Wahr
nehmung, Skandinavien war nicht mehr das Land der Dunkelheit, der langen Nächte, sondern der Helligkeit, der Mitternachtssonne und der Mittsommer nacht. Diese Vorstellung wurde in der Folgezeit durch die Malerei verstärkt, man denke nur an Bilder von Anders Zorn oder earl Larsson. Aber auch der Vorstoß in die letzten weißen Flecken auf der Landkarte, die Polarexpeditionen, lenkte die Aufinerksamkeit gen Norden. Das Nordland-Pano rama in Berlin wurde eröffnet, als der Norweger Fridtjof Nansen auf Skiern Grönland durchquerte und für einige Zeit als verschollen galt, ein Ereignis, das viel Aufmerksamkeit in der aufkommenden Massenpresse fand. Anfang der 1 890er Jahre durchquerte Nansen das Nordmeer mit der Fram, die so konstruiert 35 der S ieg
war, dass sie angeblich nicht durch Eisberge zerdrückt werden konnte,
des Menschen über die Natur, ein Thema, das das 1 9. Jahrhundert faszinierte. In Deutschland waren es besonders die Nordland-Reisen Kaiser Wilhelms
11.,
die die Begeisterung vor allem für Norwegen schürten. Damit in mehr oder
weniger engem Zus ammenhang stehen noch drei weitere Phänomene, zum einen die Begeisterung alternative
für die skandinavische Literatur und die sehr heterogene
Lebensreformbewegung
und
die
antimodernistische
Heimat
bewegung. 1 8 89 brach Wilhelm zollern auf, weitere
25
11. zu seiner ersten Nordlandreise mit der Yacht Hohen
Fahrten sollten folgen. Kaiser Wilhelm stilisierte sich mit
diesen Reisen und ihrer publizistischen Vermarktung, die ausgesprochen
�
e schickt und publikumswirksam betrieben wurde, zum Germanen schlechthin. 6 1 889 berichtete die Zeitschrift " Volk" mit folgenden Worten darüber:
Der erste aller Germanen grüßt jene wunderbaren Küsten, an denen Nordlands Recken das Meer bezwingen, den Mut zu weltgeschichtlichen Taten stählen ge lernt haben. Die Skal den werden in ihren Gräbern erwachen [ . . . ] Heil dem Asasohn! Seinesj;leichen i st nicht auf dem blauen Meer, seine Mannen, sie kämp fen so fern. Für die Identitätsfindung der jungen deutschen Nation war es ohne Zweifel notwendig, sich selbst in historische Bezüge einzuordnen und sich über die
Anbindung an eine germanische Verwandtschaft als alt zu legitimieren. Die Anleihen bei der Rassetheorie sind unüberhörbar, sie geben der Verklärung einen neuen Zungenschlag. 34 Vgl. dazu Marschall (wie Anm. 32), S. 1 8 1 - 1 83 . 35 Michael Engel brecht, Die deutsche Rezeption der skandinavischen Entdeckungsfahrten ins Eismeer, in: Robert Bohn und Michael Engel brec ht (Hrsg.), Weltgeltung und Regi onal i tät. Nordeuropa um 1 900, Frankfurt a M. u. a. 1 992, S. 253-260, hier: S. 254. 36 Vgl. dazu Marschall (wie Anm. 32). 3 7 Zit. n. Marschall (wi e Anm. 32), S. 1 9 1 .
Populäre Bilder vom Norden im 1 9 . u nd 20. Jahrhundert
141
Die Begeisterung des Kaisers, vor allem aber deren publizistische Vermarktung lösten eine wahre Norwegeneuphorie in Deutschland aus. Der deutsche Tourismus nach Skandinavien nahm seinen Anfang, man reiste auf den Spuren des Kaisers und d.h. in die Fjordlandschaften Norwegens. Illustrierte Familienblätter jener Zeit wie die Gartenlaube berichteten ausfiihrIich über Reisen in die Fjorde Norwegens, übrigens nicht nur über die des Kaisers. Paul Güßfeldt, der autorisierte Kommentator der kaiserlichen Nordlandreisen, stilisierte den Sognefjord als die Ossianlandschaft schlechthin,J8 damit hatte sich das Ossiansche Leitbild vom geographischen Raum gänzlich abgelöst und war zu einer Idee geworden, auffindbar in einer nordisch gestimmten Seelen landschaft. Von diesem Mythos zehrten noch die KdF-Reisen der National sozialisten. Wer den Begriff "Nordland" letztendlich geprägt hat, ist nicht ganz ent schieden, manche schreiben diese Wortschöpfung Wilhelm II. zu. Auf jeden Fall passte diese Bezeichnung hervorragend in die Stimmung jener Zeit. Zunächst nur auf das nördliche Norwegen gemünzt, wurde sie bald zu einem über greifenden Begriff für einen Raum, der von Schottland bis St. Petersburg reichen konnte. Nationalstaatliche Differenzierungen waren in einer imaginierten gemeinsamen Abstammung und Glaubenswelt aufgehoben. In der Folge der kaiserlichen Reisen blühte nicht nur der Skandinavien tourismus in Deutschland auf, es entstanden auch viele skandinavische Vereine, die Vorstellungen einer pangermanischen Kultur stärkten. 1 899 veröffentlichte Fritz Lienhard seine Nordlandlieder, die er in die Teile Ausfahrt, Norwegen, Schottland und Hochland gliederte. In ihnen wurde das Interesse am mythischen Norden literarisch gebündelt. Die Landschaft Ossians war damit das Nordland geworden, zur Idee also, die sich im ästhetischen Naturerleben konkretisierte. 39 Nordland, Skandinavien war das Ursprungsland, jenes Land, in dem man die verschütteten gemeinsamen germanischen Traditionen noch lebendig, oder wenigstens noch sichtbar glaubte. Solchen Bildern hatten Norwegen und Schweden mit ihrer nationalen Präsentation auf den Weltausstellungen in nicht unerheblichem Maße vorgearbeitet. Auch die Skandinavier bedienten sich in ihrer Selbstdarstellung des Mythos des Germanischen. Aber es war nicht nur der Rückgriff in die Vergangenheit, der die Wahr nehmung des Nordens in Deutschland prägte, auch das modeme Schweden bot Bilder an, die gut in die Zivilisationskritik der Zeit um 1 900 integrierbar waren. Besonders der Maler earl Larsson wurde im Umfeld der Lebensreform bewegung und der Heimatbewegung rezipiert. Seine Beliebtheit stieg sprung38 39
Paul Güßfeldt, Kaiser Wilhelm's 11. Reisen nach Norwegen in den Jahren 1 889 bis 1 892 , 2. Aufl ., Berlin 1 892. Dieses Buch wurde auch ins Norwegische übersetzt. Vgl. dazu Cecilia Lengefeld, Der Maler des glücklichen Heims. Zur Rezeption Carl Larssons im wilhelminischen Deutschland, Heidelberg 1 993 .
Silke Göttsch-Elten
1 42
haft, als er sein "Haus in der Sonne" in Sundborn in Dalarna, der Volkskultur
landschaft Schwedens schlechthin, und seine Familie zum Motiv gemacht
hatte. 40 Seine Bilder trugen den Wert "Heimat" in sich, durch ihren klein
räumigen Bezug und die prononcierte Darstellung einer intakten und ländl ich
geprägten Welt, das traf den Nerv j ener Zeit auch in Deutschland. So lobte
Heinrich Sohnrey, einflussreicher Protagonist der Heimatbewegung, in einer Re
zension ohne Einschränkung die B ilder, als das Buch "Mein Heim" in der be
rühmten "Blauen Reihe" erschien. Die Schilderung einer als typisch schwedi sch ausgegebenen Landschaft und ihrer Menschen spiegelte das nationenüber
greifende Konzept "Heimat" kongenial wider, Heimat war nicht regionaler
Bezugspunkt, sondern Gefühlswert geworden, der sich sowohl in intakter Natur und auch in einer intakten, d.h. dem bürgerlichen Modell entsprechenden
Familie ausdrückte. Die Heimatbewegung mit ihrer großstadtfeindlichen Hal
tung, die sich gegen alles Dekadente und Französisierende in der Kultur wendete, fand in diesen B ildern einen Fluchtpunkt. Die Schwedin Ellen Key
hatte das Jahrhundert des Kindes proklamiert, das so aussehen musste, wie die
Kinder Larssons auf den Bildern, der Einfluss der englischen Reformbewegung auf den Wohnstil war unübersehbar, Licht und Helligkeit strahlten aus den
Bildern.
Die knappe Aufzählung mag genügen, um zu zeigen, wie sich auf unter
schiedlichen Ebenen um 1 900 das Interesse am Norden bündelt, wie der Norden
auf sehr verschiedene Weise als Projektionsfläche für Defizite und Wünsche der
kaiserzeitlichen Gesellschaft genutzt werden konnte. Die B ilder sind im 1 9.
Jahrhundert durch das Zus amme nspiel von Auto- und Heterostereotypen ge
formt worden und sie funktionieren zum Teil wenigstens bis heute. Das ikono
graphische Gedächtnis transportiert sie, auch wenn sie sich in vielem von den damaligen Deutungen gelöst haben.
1 974 eröffnete IKEA in Deutschland seine erste Filiale. In einem Katalog des
Jahres
1 983/84
heißt es " Schweden ist Mittsommernacht. Der längste Tag des
Jahres, alles blüht, ist Licht; Leute tanzen, Kinder spielen . " Das Bett, das mit diesen Worten angepriesen wird, heißt " Sundborn" nach dem Wohnort von Carl
Larsson, das Kopfteil, so Cecilia Lengefeld, erinnere entfernt an ein Bett aus 4 Lilla Hyttnäs, das auch auf Bildern Larssons abgebildet sei . 1 lKEA nutzte in perfekter Weise ein vorformuliertes Schwedenbild zur Ver
marktung seiner Produkte, dass die in der Regel in der damal igen DDR her gestellt worden waren, interessiert(e) niemand. Das vermittelte Schwedenbild passte zu gut in die Zeit: Es war die Zeit der beginnende Ökologiebewegung.
Der Slogan lautete: " Unser Stammbaum ist die Kiefer" , eine einheimische,
schnell nachwachsende Baumart, das beruhigte das ökologische Gewissen. Die
40 Vgl. dazu die infonnative Arbeit von Cecilia Lengefeld (wie Anm. 39). 4 1 Zit. n. Lengefeld (wie Anm. 39), S . 1 09.
Populäre Bilder vom Norden im 1 9 . und 20. Jahrhundert
1 43
Zeit der Mahagonimöbel war vorbei. Möbel und Einrichtungsstil für die jüngere Generation sollten zweckmässig, hell, praktisch, beweglich, nicht überladen sein, eben anders als die der Elterngeneration. Dem Verdacht, dem Konsum zwang (-terror) zu erliegen, entzog man sich durch den Hinweis auf die niedrigen Preise, die an Aldi erinnernde Präsentation und das Prinzip der Mit nahme und des Eigenbaus. Auch die Wiederentdeckung des Kindes spiegelt sich hier wider, die Möbel waren unempfindlich, also kindgerecht, Summerhill war zum Schlagwort für eine neue Pädagogik geworden, auch Ellen Key fand wieder Leser. Die Firmenphi losophie reproduzierte die Vorstellung einer nicht hierarchischen Gesellschaft, der informelle Umgang, das Duzen, gehören, wie Orvar Löfgren gezeigt hat, zum Mythos der Schwedisierung in Schweden, passten in das Deutschland der Nachstudentenbewegung. 4 2 Übrigens fällt auch die Wiederentdeckung von earl Larsson in diese Zeit: Es erscheinen Bücher auf dem deutschen Markt, Postkarten, Briefpapier, Plakate, die u. a. auch von IKEA vertrieben werden. Die Bilder, auf die in dieser Zeit zurückgegriffen wurde, stammen aus dem
1 9. Jahrhundert, sie sind zählebig, können in immer anderen gesellschaftlichen
Situationen wiederbelebt werden. Die Bilder sind festgelegt, die Deutungs möglichkeiten aber offen, einmal etablierte Stereotype können in unter schiedliche ideologische oder politische Konzepte eingepasst und funktiona lisiert werden. Was mit durchaus konservativen, oder sogar reaktionären Inter pretationen besetzt war, lässt sich 75 Jahre später zum Ausdruck von Freiheit und Liberalität umdeuten.
42
Billy Ehn, Jonas Frykman und Orvar Löfgren, Försvenskningen av Sverige, Stockholm 1 993 .
POLARFAHRT ALS BIBLIOTHEKSPHÄNOMEN UND DIE POLARGEBIETE DER BIBLIOTHEK : NACHFAHREN PETRARCAS UND DANTES 1M
EIS UND IN DEN TEXTEN )
Bettine Menke
Ich stelle Ihnen mit dem Polargebiet nicht nur ein Motiv der Texte, sondern den Fall einer metatextuellen Metapher vor, also einer Metapher, durch die poetische Texte von sich selbst sprechen, sich selbst modellieren. Mit den Polargebieten und den Fahrten in diese geben poetische Texte eine mythopoetische Selbst thematisierung der Poesie zu lesen. Denn Polargebiete geben den Topos der Primarität ab und das Telos und Modell für die Suche nach einer anfänglichen Leere ohne Spuren. Mit Polarfahrten wird deren Erreichbarkeit verhandelt, das heißt aber die Un-Erreichbarkeit eines Terrains der Spurlosigkeit entwickelt. Der Umweg, den meine Darstellung nimmt, ist als der Umweg einer Nach träglichkeit Teil meiner These: Die Spurlosigkeit wird aufgefunden nur als Nachträglichkeit, das, was nur einmal sich ereignet, in der Wiederholung. Vor der Arktis/Antarktis-Renaissance in den 90er Jahren des letzten (20.) Jahr hunderts2 erschienen in den 80er Jahren zwei deutschsprachige Romane, in denen Polarfahrten unternommen werden, Sten Nadolnys sofort breit rezipierte Entdeckung der Langsamkeit (von 1 983) und Christoph Ransmayrs ( 1 984 er schienener) Die Schrecken des Eises und der Finsternis. 3 Unter dem Titel Die Schrecken des Eises und der Finsternis macht sich ein gebürtiger Südtiroler, Josef Mazzini, wohnhaft in Wien, Anfang der Achtziger Jahre, zum Nachfahren einer 1 00 Jahre zurückliegenden Polarexpedition. Er folgt - schreibend und rei send - der Osterreichisch- Ungarischen Nordpolarexpedition von 1 872- 1 874, die auf der Suche nach der Nord-Ost-Passage unter der Doppelkommandantur (zur See und zu Lande) von Carl Weyprecht und Julius Payer mit italienischen Matrosen und Tiroler Bergsteigern an Bord der "Admiral Tegetthofr' ins Polar gebiet östlich von Spitzbergen aufbricht. Das Schiff wird gerade 40 Tage ge segelt sein, um fürchterliche zwei Jahre im Eis eingeschlossen mehr oder weniger nordwärts zu driften; zufällig wird die Expedition auf dieser Drift eine Inselgruppe entdecken, die den Namen Franz-Joseph-Land erhält, und dann I
2
Der folgende Text ist eine kürzere Vortragsfassung von " Po largeb ie te der Bibliothek. Ü ber eine metapoetische Metapher", DVjs, Dez. 2000. Er geht zurück auf ein Seminar an der Universität Konstanz (im SS 1 994) und V orträge, die ich seit 1 996 an d en Universitäten Frankfurt a. M., Frankfurt (Oder), Münster, Erfurt, Zürich, Bi elefe l d , Hannover und Kiel vo rgetrage n habe. Vgl. etwa di e Ausstellung Arktis - Antarktis, Kunst- und Ausstellungshalle der B undes republik Deutschland, Bonn 1 998. Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1 983; Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1 984.
Bettin e Menke
1 46
unter unsäglichen Qualen und mit unsagbarem Glück zu Fuß und in Booten über Eis und Eismeer zurückkehren. Diese Expedition wird nun im Roman von Ransmayr zur Vorlage, nach der Mazzini seine Fahrt ins Polargebiet unternehmen wird, um in diesem zu verschwinden. Damit aber nicht genug, wird diese Konstruktion von Vorfahren und Nachfahren mit einer Herausgeber Fiktion versehen. Die genannten beiden Fahrten werden Lesern von einem anderen Nachfahren dargeboten, der nicht im Raum nachfährt, sondern der eher widerwillige Nachfolger von Mazzinis Schreiben wird. Er schreibt ab und überliefert, was Mazzini schon exzerpiert und kompiliert hat. Die Rückdatierung der erzählten Polarfahrt ins 1 9. Jahrhundert in Ransmayrs wie auch in Nadolnys Roman (dessen Entdeckung der Langsamkeit sich entlang und anhand der fiktiven Biographie FrankIins vollzieht) erfolgt mit historischer Präzision. Denn das 1 9. Jahrhundert war der Zeitraum erneuter Suche nach Nordwest- und Nordost-Passagen und einer auch massenmedial unterstützten Polarbegeisterung. 4 Nord-Polarfahrten im Dienste der Suche nach der Passage sind im 1 9. Jahrhundert - nach längeren Unterbrechungen - allerdings vor allem und zunächst Sache englischen Interesses und, anders als im 16. und 1 7. Jahr hundert, eine Sache der engl ischen Regierung. 5 Der Preis von 2000 Pfund Sterling wird 1 8 1 7 von der englischen Admiralität erneut ausgesetzt. Die Offiziere der siegreichen englischen Flotte sollten nach den Napoleonischen Kriegen anderweitig beschäftigt werden; dies datiert das neue Interesse an den Polarfahrten präzise. 6 Österreich-Ungarn aber gehört weder zu den Seefahrer Nationen, noch viel weniger zu denen der Polarfahrten. Ransmayrs Roman stellt die Unglaubwürdigkeit der Reise als deren Unwahrscheinlichkeit aus: 4 Das 1 9. Jahrhundert kannte eine
neue Euphor ie fUr Polarfahrt, die massenmedial unter wurde und sich in Mass enmedien wie auch einer Vielzahl von Buchp ubl i kati onen ni eders chlug Dies zei gen d i e P ol are xp edi tionen FrankIins, vor allem die letzte ver schollene und die l ange Nac hgeschich te der Suche nach ihr. D ie Geschichte der Polarforschung verzeichnet den Einschnitt nach 1 6 1 5/ 1 6. "Das eng lische Parlament setzte 1 743 einen Preis von 20.000 Pfd. Sterl. aus auf die Entdeckung der Nordwestpassage; keine Unt erne hmun g aber hatte Erfolg, auch die Versuche Cooks 1 778 und Clerkes 1 779, sie in der Richtung W . nach 0., also aus dem Beringmeer zu finden , glUckten nicht Infol gedessen geri et en diese Bestrebunge n ins Stocken, und es wurde auch di e dafür ausgesetzte B el ohnung wi ede r zurUckgezogen . Erst im 1 9 . Jhd. wieder richteten s i ch die Hauptanstrengungen nach NW., ftihrten e nd lich zur Entde ckung der nordwest lichen Durchfahrt und erschlossen die Inselwelt im N. des ameri kanische n Kontinents. Bis zur Aufklärung des Schicksal s FrankIins und seiner Gefllhrte n ( 1 859 [durc h Mac C l i ntock ]) wurden in diesem Jahrhundert mehr als 50 Schiffe und 1 0mal Lande x pedi ti o nen mit Booten und Schlitten nach j enem Teil des Eismeeres ausgesandt." (Friedrich Embacher, Lex i kon der Reisen und Entdeckungen, L e izig 0.J. [ 1 8 8 1 ] , repr.: Amsterdam 1 96 1 , S. 3 8 1 ). Vgl. Friedrich von Hellwald, Im e wigen Eis. Geschichte der Nordpol Fahrten von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Stuttgart 1 88 1 , S. 53 8-540. Vgl Jules Verne, Les voyageurs du XIX" s i ede , Paris 1 880, in Au swah l deutsch in: Die großen Seefahrer und Entdecker, Zürich 1 974, S . 470. stützt
.
S
.
6
.
Polarfahrt als B iblio thek sphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 47
[D]as Vorspiel zu Mazzinis Verschwi nden begann , als er unter den antiquari schen Beständen der Buchhandlung Koreth die mehr als hundert Jahre alte Beschreibung einer Eismeerfahrt entdeckte, die so dramatisch, so bizarr und am Ende so unwahrscheinlich war wie sonst nur eine Phantasie: Es war der Bericht J ul i us Ritter von Payers über die k. u. k. österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, ' erschienen in W i en 1 876 bei m Hof- und Universitätsbuchhändler Alfred Hölder.
Die Unternehmung, so unwahrscheinl ich sie ist, die B izarre rie der Geschehnisse, des entdeckten "entsetzlichen Landes", wie des Zufalls einer Entdeckung, die die Expedition doch noch zu einem Erfolg gemacht haben wird, ist aber historisch. Nichts weist nach eingeübtester literarischer Konvention einen Bericht genauer als fiktiven aus, als eine diesen begleitende Herausgeberschaft, die dessen Authentizität zu inszenieren hat. Was Leser als Ausweis des Fake längst zu entschlüsseln gewöhnt sind, die (allen Normen genügenden) Literatur nachweise, die das Ende von Die Schrecken des Eises und der Finsternis be legend nachreicht, erweist sich hier aber als red herring. Er läßt diejenigen, die diesem und seinen Spuren folgen, allerdings nicht leer ausgehen, sondern stattet sie - in Enttäuschung der erwarteten Enttäuschung - mit einem Stapel Bücher aus, denen der verschiedenen Teilnehmer der unglaubwürdigen Polar expedition. 8 Diese Schriften und ihre Kon-Texte situieren das Unternehmen der öster reichisch-ungarischen Expedition im Kontext der Wendung des Interesses an der Passagen-Suche hin zum Pol (im letzten Drittel des 1 9. Jahrhunderts) und der national ausgeprägten Diskussion (der Möglichkeit) diesen zu erreichen. 9 Der Geograph August Petermann wies als Initiator deutscher Polarexpeditionen, im Unterschied zu angelsächsischen Unternehmungen, die in der Tradition der Suche nach der Nord-Westpassage den Weg westlich von Grönland nehmen, einen Weg durchs Eismeer östlich von Grönland ins "offene Polarmeer" an, auf
Ran sm ayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S . 1 9. Julius Payer, Die österreichlsch-ungarische Nordpolexpedition in den Jahren 1 872- 1 874, k. k. Hof- und Universitätsbuchhändler Alfred Hölder, Wien 1 876; e arl Weyprecht, Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebniß, Hartleben's Verlag, WienlPestfLeipzig 1 876; Dtto Krisch, Tagebuch der zweiten österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition. Aus dem Nachlasse des Verstorbenen herausgegeben von Anlon Krisch, Wallishausser'sche Verlagsbuchhand lung Wien 1 875; J ohann Haller, Erinne rungen eines Tiroler Teilnehmers an Julius v. Payer's Nordpol-Expedition 1 872/ 1 874. Aus dem Nachlasse bereitgestel1t von seinem Sohne Ferdinand Hal l er und h erau sgegeben von R. KIebeisberg, U ni versitäts verlag Wagner, Innsbruck 1 959. Die als "Nordpolfrage" diskutiert wurde - so August Petennann, Die No rdpo lfrage (mit einem Auszug aus Richard A. Procter, The proposed Journey to the North Pole, in: Temple Bar, Nov. 1 867, S . 5 3 6-546), in: Geographische M itthe i lungen , 1 4. Jg., Gotha 1 868, S. 1 69. ,
9
Bettine Menke
1 48 dem auch die Zweite 74 versucht. lO
Ostereichisch- Ungarische Nordpolarexpedition
sich
1 872-
Aus den Büchern der Expeditionsmitglieder, den Briefen und Handschriften
von Payer und Weyprecht aus dem " Ö sterreichischen Kriegsarchiv/ Marine
abteilung" schreibt Mazzini aus, überliefert der ihm folgende Herausgeber und zitiert der Text, der unter dem Autor-Namen Ransmayr erschienen ist. Dem
"Hinweis"
am
Ende dieses Buches zufolge haben: "Die Figuren dieses Romans
[ . . . ] an ihrer Geschichte mitgeschrieben." Kursiv gedruckt - typographisch markiert also - machen diese Texte einen nicht unbeträchtlichen Teil des
Schreckens des Eises und der Finsternis aus. Der Bezug auf die 1 00 Jahre zurückliegende Reise erfolgt durch Zitieren. Der Expeditionsbericht ist viel stimmig, der Text offen intertextuell organisiert. Er präsentiert sich - offen
sichtlich
-
als intertextueller, als
heterogener
durch die
typographische
Insze
nierung des Zitats und die Kombination verschiedener Textsorten : Diagramm e, Schemata, Listen, Exkurse und Bildmaterialien, u.a. Stiche aus Payers Expedi 11
tionsbericht und Farbphotographien polarer Landschaft.
Ab- und ausgeschrieben worden ist hier Vieles : weitere Literatur über Polar gebiete und -fahrten - bis zur verunglückten Ballon-Fahrt des italienischen General Nobile, denen folgend der Text in drei Exkursen die Geschichte der Pol-Mythen nachschreibt. Er zitiert und
fUhrt an: die Heilige Schrift, wie nicht
anders zu erwarten i st, und die kanonischen Autoren Dante, Petrarca, Milton, Shakespeare und Lessing, aber auch Zeitschriften und einen ins Zwielicht gerückten Swinigel.
12
Wir haben es z u tun mit einer Phantastik der Bibliothek, u n fantastique de bibliotheque, wie der Titel Foucaults für seine Lektüre von Flauberts Ver suchung des Heiligen Antonius lautet, auf den meine Titelformulierungen anspielen: Das Polargebiet "dehnt sich" - so zitiere ich Foucault - "von Buch
zu
Buch zwischen den Schriftzeichen; es entsteht und bildet sich heraus im 13 Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen. ,,
Die Fahrt zum Pol selbst i s t - nach den polarforscherischen Gepflogenheiten 1 9. Jahrhunderts - mit Büchern ausgestattet; 14 Schule und B ibliothek sollen
des
auch an Bord der Admiral
Tegetthojf - als psycho-hygienische
Vorkehrungen
die lange Pol-Winter-Nacht überstehen helfen. 10
11 12
13 14
Die einer Vorexpedition im Gebiet zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja 1 87 1 folgte. "Der rastlosen Thätigkeit Petermanns gelang es, erfolgreich auch in Deutschland zu Polar forschungen anzuregen" (so Embachers Lexikon der Entdeckungen, wie Anm. 5, S. 3 87). Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 29- 1 37. In der Konstellation der Weihnachtsgaben, ebd., S. 1 05. Michel Foucault, Un 'fantastique' de bibliotheque, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a M. 1 988, S. 1 57- 1 77, hier: 1 60. Vgl. Hellwald, Im ewigen Eis (dem Freund Julius Ritter von Payer gewidmet) (wie Arun. 5), S. 564 f., 672, 698; Veme, Seefahrer und Entdecker (wie Anm. 6), S. 475 ff., 479.
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 49
In diesen Jännerwochen läßt We yprecht Schule halten, auch wenn vor ihnen noch keiner so nahe am Nordpol überwintert hat , und auch wenn diese kreischende Wüste sie unablässig bedroht, so soll j etzt doch jeder lesen und schreiben lernen soll die Bordbibliothek - vierhundert Bände, darunter Lessings und Shakespeares Dramen, auch John Miltons Verlorenes Paradies und ve gi lbende Ausgaben der Neuen Freien Presse gegen die End losi gkeit der Zeit und gegen die Schwermut verwenden können. Poesie! sollen sie haben und Gedanken über den Jammer der IS Gegenwart hinaus. ,
r
-
Die eingebrachten Texte sind Prätexte der Polarfahrt. Dies gilt fii r Miltons
Paradise Lost, Frankenstein, 16 treten, wie es
ist dieses doch Vorlage unter anderem von Mary Shelleys in dem demiurgische Hybris und Polentdeckung fiireinander ein
für das Buch Hiob gilt, das das Modell des "Landes Uz" fiir die
Polarregion abgibt, und fii r die Zitationen Petrarcas und Dantes . Mit den drei letztgenannten fii hre ich im Folgenden paradigmatische Fälle der intertextuellen ModelIierung des Polargebiets an und werde dabei zeigen, dass umgekehrt das Polargebiet selbst zur metatextuellen Metapher wird. 1 . In der Zitation des ineinander durch.
Buch Hiob
schlagen die verschiedenen Textschichten
Aus ihm wird explizit zitiert;
wenn der Kommandant
Weyprecht es "in dieser Zeit der Eispressungen" verliest und verballhornend 17 appliziert. Der Trost aus der Applikation wird abgewehrt: "Hier ist nicht das 18 Land UZ.,, Dann aber heißen die "Aufzeichnungen" selbst " aus dem Lande 9 UZ". 1 Sie handeln von der zweiten Überwinterung im Angesicht des ihnen von der Phantastik des Zufalls zugefii hrten neuen noch nicht betretenenen Landes, von Krankheit und Agonie eines der zu Mit-Autoren gewordenen Teilnehmer, und von den Schlittenfahrten auf dem Franz-Joseph-Land, das charakterisiert ist durch: " Basalttürme, Brucheis, grelle, tote Berge, Schluchten, Grate, Halden, Klippen und kein Moos, keine Sträucher. Nur Steine und Eis.
[ ] ...
Wenn das ein
Paradies i st, wie muß dann erst die Hölle sei n . "
IS
Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 24.
16 Frankenstein, or, (he Modern Prometheus ( 1 8 1 8/ 1 83 1 ) steht unter dem Motto eines
Milton-Zitats; das Monster l i e st Paradise Los/ und ist modelliert nach dem Modell von dessen Satan wie Adam (vgl. Andrew Griffin, Fire and I ce in Frankens/ein, in: The En durance of Frankenstein. Essays on Mary Shelley's Novel, hrsg. von George Levine, U.C. Knoe p fl m ache , B e rke l eylLos AngeleslLondon 1 979, S. 49-73 , hier: 68 ff., Peter Brooks, Godlike Science/ Unhallowed Arts': Language, Nature, and Monstrosity, in: The En durance of Frankenstein, S. 205-220, hier: 20 7 2 1 0 ff.). 17 Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 72 . 18 Ebd., S. 1 0 1 f. 1 9 In der Ü berschrift zu Kap. 1 5, ebd., S. 1 8 0 ff.
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1 50
Das Franz Josejs-Land zeigte den vollen Ernst der hocharktischen Natur; be sonders im Anfang des Frühjahres schien es allen Lebens entblößt zu sein. Oberall starrten ungeheure Gletscher von den hohen Einöden des Gebirges herab, dessen Massen sich in schroffen Kegelbergen kühn erhoben. AI/es war in blendendes Weiß gehü//t� wie candirt starrten die Säulenreihen der sym metrischen Gebirgsetagen. 0
Zeilen aus dem Buch Hiob untertiteln dann, nicht so leicht wiederzuerkennen, die eingefügten Farbfotografien polarer Schönheit: "Kamst du bis zu den Spei chern des Schnees und sahst du die Kammern des Hagels ?" (das ist, gleichsam fotografisch maskiert, Buch Hiob 3 8, 22). Und seine Verse bilden, nun mit Quellen-Nachweis und neu- und ummontiert, den ersten Text des Exkurses zu den Pol-Mythen, als Mythos eines "äußersten Winkels" der " Finstern is", der Leere und des Orts der "Einsicht" . 21 2. Im Eis der Neujahrsnacht 1 872/73 sollen (so Ransmayr) die italienischen Matrosen der Österreichisch- Ungarischen-Polarexpedition zu Harmonika begleitung gesungen haben: Solo e pensaso i piu deserti campi vo mesurando a pass; lardi e lenti, e gli occhi parIa per fuggire intent 2 ove vestigio human I'arena stampi.
�
Es handelt sich um die erste Strophe von Petrarcas berühmtem Sonett 3 5 , was hier aber nicht gesagt wird. Wenn dies im nächsten Kapitel wieder zu hören ist, wird es Petrarca zugeschrieben, 23 wird es - in einem Traum Mazzinis - Gegen stand "verzweifelter Wiederholungen" des Auswendiglernens, und es wird über setzt, auf deutsch wiederholt: Einsam und in Gedanken durchmeß ich! die ödesten Gefilde/ mit zögernden, langsamen Schritten! und die Augen führ ich! auf Flucht bedac ht, umher,! aufmerkend,! wo Menschenspur im S ande sich einpräge.
2
0
So Payer, nach ebd., S. 1 93 . "Denn in der That sind die öden Gestade der Polarländer die wahre Heimat des Hungers. " (Payer, Nordpolexpedition, wie Anm . 8, S. 203 .) Zur "Schönheit" dieser Bilder vgl. Payer, nach Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 99. " Ebd., S. 1 72 ff. Es ist eine Montage aus den Versen 3 8.22-24, 3 8 . 1 6- 1 7 (die "Gott selber spricht:") und 28. 1 - 4, 28. 6-8., 28. 9- 1 4 . 22 Ebd., S. 1 05 . 23 Ebd., S . 1 07 f.
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Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und di e P ol argebiete der Bibliothek
Mit "Campi deserti" ist dieses Kapitel überschrieben; und i m "kahle[n] , öde[n] Felsenland da draußen" werden die Campi deserti Petrarcas wörtlich genommen, realisiert. Petrarca, dessen Name durch seine Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1 3 3 5 so 10achim Ritters berühmte Studie verbunden ist mit dem Aufgang des Konzepts der Landschaft, 24 wird hier aufgerufen für das, was eben dies, Landschaft, nicht ist, die Ödnis ohne S pur des Menschen, während Landschaft gerade ausmacht, dass Natur "in ihrer Beziehung auf den empfindenden Menschen" aufgefaßt wird. 2s -
-
Petrarcas textuelle Inszenierung der Besteigung des Mont Ventoux charakte risiert Landschaft durch die Ambivalenz des Aufstiegs zwischen Ausblick und theologisch motivierter Ab- und Rückwendung aufs Buch. Der Blick ins mit geführte Buch, die Confessiones der Autorität Augustinus, die die Ab-Wendung nach innen vorschreibt, führt zum beschämten Verzicht auf den durch den er höhten Standpunkt ermöglichten Ausblick in die Welt. Damit ist so akzentuiert Blumenberg - " [d]ie vergleichsweise bescheidene Wanderung zu einem symbolischen Unternehmen stilisiert, bei dem ans Sündhafte streifende Begierde und fromme Scheu vor dem Niebetretenen, Wagemut und Furcht, Anmaßung und Selbstbesinnung [ . ] zusammenwirken." 26 Als verfehlter transcensus, als den er diese inszeniert, entspricht Petrarcas Bergbesteigung einer anderen Ent deckung, die paradigmatisch geworden ist für die Literatur zumal imaginärer Polfahrten, der "letzten Reise des Odysseus" (wie Borges sie nennt), die dieser in Dantes Inferno unternimmt. -
..
Unter dem Motto der Campi deserti wird - in einer polargeschichtlichen Fehllektüre von Petrarcas Sonett - ein Land gesucht, das noch nie von einem menschlichen Fuß betreten wurde. Das Fliehen der von Menschen hinter24
2S
Joac h i m Ritter, Lan dschaft . Zur
F u nkti o n des Äs thet ischen in der modemen Gesellschaft ( 1 963), in: ders , Subjektivität, Frankfurt a. M. 1 974, S. 1 4 1 - 1 63 , hier: S. 1 4 1 . Ri tter Landschaft (wie Anm. 24), S. 1 50, 1 53 f. Landsc haft werden Felder, Ströme, Hügel "erst, wenn sich der M en sch i hnen ohne prakti schen Zweck in 'freier' gen i eßender Anschauung zuwendet um als er selbst in der Natur zu sein. Mit seinem Hi nausgehen verändert die Natur ihr Gesi c ht Was sonst das Genutzte oder als Ö dland das Nutzlose i st und was über Jahrhunderte h in ungesehe n und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war wird zum Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhet i sch zur Landschaft." (S. 1 5 1 , vgl. S. 1 62). Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugi erde (Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von: Die Le gi timität der Neuzeit, dritter Teil), Frankfurt a. M. 1 973, S. 1 4 3 . D i es alles gibt sich wie eine ungeheue rl i c he Versuchung des Menschen, und i h r e ntspri cht die Erfahrung auf dem Gipfel [ . ]. D i e Konkurrenz zwischen Außen und Innen, zwischen Welt und Seele endet dam i t, daß Petrarca die ständig mitgeftihrte Taschenausgabe der Confessiones Augus tins aufschlägt und genau v orsehu ngsge mäß auf e ine Stelle im zehnten Buch [also über die memorial trifft, an der das Staunen über die H öhen der Berge, die Fluten des Meeres und der S tröme und die Bahnen der Gestirne in harten Kontrast gesetzt ist zur Selbstvergessenheit des M ensche n . .
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26
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1 52
Modell der Polar-Expedition. Aber diese Fahrten Spuren finden statt im Medium der Bücher. Dies ist die Spann ung, die nur die Paradoxie dieser Unternehmung ausmachen kann, die 27 Antinomie zwischen der Spurlos i gkeit einer "leeren Welt", die gesucht wird, und der Ordnung der Spuren, die der Text mit seiner intertextuellen Verfasstheit lassenen Spuren fungiert als ins Unbetretene, ohne
exponiert: Der intertextuelle Text ist der der Spuren, der Spuren anderer Texte, fremder Zeichen. Bevor ich der Relevanz
des
Spurenparadigmas für Polar-Expeditionen in der
Verlängerung von Petrarcas Campi Bezug auf Dantes Inferno ausführen.
deserti weiter
nachgehe,
möchte
ich
den
3. Terra nuova so heißt durch eine weitere Kapitelüberschrift das neu ent deckte unbekannte Land. Dieser Titel motiviert sich durch Dantes Ulysses und dessen " letzte Fahrt" im 26. Gesang des Inferno. Sie geht über die Grenze, die die Säulen des Herkules anzeigen, hinaus in "[un] mondo senza genIe" zum andern Pol und sie wird scheitern an der "nuova terra", einem gewaltigen Berg in einem vierfachen Strudel. -
[Aus einer Höllenflamme spricht Odysseus:] Ich bin hinaus aufs offene Meer gefahren. [ ... ] Als wir an jene Meeresenge kamen,! Wo Herkules die Zeichen auf gerichtet,! Damit die Menschen nicht mehr weiterfUhren [ . . . ] [überredet er die Ge flihrten:] 'An diesem eurem kurzen Lebensabend,! Der unsem wachen Sinnen noch verblieben,! Sollt ihr euch der Erforschung [I'esperienza] nicht verschließen, Der Sonne folgend, unbewohnter Länder [mondo senza gente] . [ . . ]1 Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere,l Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben.' Ich machte die Geflihrten so begierig! Durch diese kurze Rede auf die Reise, [ ... ]. Die Ruder hoben wir zum tollen Fluge,/ Und immer weiter drangen wir [ . ]. Und alle Sterne schon des andern Pols sah man zur Nacht und unsern schon gesunken [ ... ].1 Da ist vor uns ein Berg emporgestiegen! In dunkler Ferne; der schien so gewaltig,/ Wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Wir freuten uns, doch ward es bald zum Un heil,! denn von dem neuen Lande kam ein Strudel [ehe dalla nuova terra un turbo nacque. ]1 Und schüttelte des Schiffes Vorderseite. Dreimal ließ er's mit allen Wassern kreisen, Beim vierten Male ging das Heck nach oben; Den Bu� nach unten, wie's dem Herrn! gefallen,/ Bis über uns die Wogen sich geschlossen.' 8 .
.
27 28
.
Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 1 8. Dante, Divina Comedia, ital.ldtsch, übers. u. komm. von Herrmann Gmelin, 3 Bde., Stuttgart 1 949, Bd. I, 1. Teil, repr.: MOnehen 1 988, Inferno 26. Gesang, Vers 52- 1 42 . Die terra nuova der südlichen Hemisphäre, auf die die Vorsokratiker geschlossen hatten und die AristoteIes projektiv benannte (vgl. Elizabeth Arthur, Antarctic Navigation, New York 1 994 [dt. : Eislandfahrt, Frankfurt a. M. 1 997, darin: Kap. "Terra nova"] ; Alan Gurney, Below the Convergence: Voyages toward Antarctica 1 699- 1 839, New York 1 997 [dt.: Der weiße Kontinent. Die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker, München 1 999]), wird von Ransmayrs Text also wörtlich an den Norden zitiert. Gegen den Dualismus des
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 53
Diese Fahrt zum Südpol ist eine Übertretung - so haben Borges und B lumen berg diese letzte Reise des Odysseus aufgegriffen. 29 Odysseus überschreitet die gesetzten Zeichen der dem Menschen 'zugewiesenen' bewohnbaren Welt; seine Fahrt wiederholt den Sündenfall, "Überschreitung des Zeichens (il trapasar dei segno)" auch dieser - wie Dantes Adam im Paradiso sagt. Im Zwielicht der curiositas, in dem Dante seinen Odysseus stehen läßt, Zwielicht von deren mittelalterlicher Verwerfung und neuzeitlicher Umwertung30 rückt Dantes im Südpolarmeer im Anblick nie gesehenen Landes gescheiterter Odysseus neben Petrarca, der auf dem Gipfel des Mont Ventoux die ästhetische Weltneugier ebenso eröffnete, wie im abwendenden Blick ins autoritative Buch zurück nahm. 3 1 B lumenberg, i n dessen Analyse der "theoretischen Neugierde" dies nach zulesen ist, bemerkt nicht, daß es bei Odysseus letzter Fahrt um eine Polarfahrt geht, wie ihre traditio aber zeigt: Diese scheiternde Fahrt ist durch die vielfache Zitation ihres Modells der Übertretung vor allem in der englischsprachigen Lite ratur des 1 9 . Jahrhunderts der Mythos nicht nur imaginärer Polar-Fahrten ge worden; er ist der in der Ausprägung Polarfahrt als Apokalypse bestuntersuchte; ich verweise auf die Untersuchungen von Metzner und Frank. 32 Die Dante Weiterschreibung ergibt eher denn eine "ununterbrochene Traditionslinie", 33 ein Geflecht intertextueller Verwebungen, in der die Karten Mercators und Texte von (u.a.) Schnabel (Die Insel Felsenburg, 1 73 1 -43), 34 Chamisso (Salas y
29 30
31
nördlichen und des südlichen Pols argum enti ert auch Joachim Metzner, Persönlichkeits zerstörung und Weltuntergang, Tübingen 1 9 7 6 , S. 145. Jorge Luis Borges, Die letzte Reise des Odysseus (Nueve Ensayos Dantescos, 1 982), in: Die letzte Reise der Odysseus, München 1 987, S. 1 52 f. Blumenberg, Prozeß (wie Anm . 26), 1 39. "[A]uch in einem ein Jahr späteren Brief Petrarcas über die Lage der rätselhaften Insel Thule" - und damit im direkten Bezug aufs Polargebiet - findet sich die "zunächst freige gebene, dann aber [ . .. ] negati vierte W ißbegierde (Blumenberg): "was wir mit eifriger Mühe gesucht haben, ungestraft bleibt es unbekannt. Mag Thule im Norden verborgen bleiben, mag im Süden verborgen bleiben die Quelle des Nils, wenn nur mitten zwischen ihnen die Tugend festen Fuß faßt und nicht verborgen bleibt . . . Wir wollen also nicht al l zu viele Mühe verschwenden an die Erkundung eines Ortes, den wir vielleicht mit Freuden verlassen würden, sobald wir ihn gefunden hätten" (zit. n. Blumenberg, Prozeß, wie Arun. 26, 1 46). Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wie Arun. 28) und diesem in vielem folgend Manfred Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a. M. 1 979. Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wi e Arun. 28), S. 1 68. "Über den Einwohnern dieser utopischen Insel schwebt ein vom 'Altvater' erlassenes Verbot, das Geheimnis der Insel durch eine Südpolexpedition zu e rgründe n und so die Aura des Heiligen ergründend zu zerstören. Zwischen dem Pol und der Insel fliegen heilige Vögel . " (Frank, wie Arun. 32, S. 1 1 9); vgl . insb. Arno Schmid t Herrn Schnabels Spur ( 1 956), in: ders., Zur Deut schen Literatur 1 , Zürich 1 988, S. 5 1 -78, hier: 53 f. , 70, 79 f. ; ders., Zettels Traum ( Studienausgabe in 8 Heften), 2. Aufl . , Frankfurt a. M. 1 9 8 6 , S. 244, 486 u.ä. "
32 33
34
..
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Gomez, 1 829), Cooper (The Monikins, 1 83 6), Coleridge ( The Rime 0/ the Ancient Mariner, 1 7 9 8 ) , Poe (The Narrative 0/ A. G. Pym, 1 83 8),35 Baudelaire, Veme (Le sphinx des glaces, 1 8 9 5 ) , Rimbaud36 und Laßwitz (A u/zwei Planeten, 1 897) wie Heyrn, der wie auch T.S. Eliot ( The Waste Land, 1 92217 an Shackletons antarktische Reiseprotokolle anschließt, darüber hinaus auch - mit Milton - Melville (Moby Dick, or, The Whale, 1 8 5 1 )38 und Mary Shel ley (Frankenstein, or, the Modern Prometheus, 1 8 1 8i9 sich gegenseitig kommen tieren, zitieren, fortschreiben. Alle Metatexte dieser intertextuellen Textur haben darüber hinaus schon Vorlagen und Prätexte an Schriften von Borges und Amo Schmidt. Der vierfache Wirbel am gewaltigen Berg von Dantes Pol gibt den Prototyp all j ener 'whirlpools' und Mahlströme, in denen die säkulare Weltneugier, die discovery, geahndet wird. 40 Poe - der Dante zitiert - greift dabei auch auf Land karten Mercators zurück, die am Nordpol Dantes gewaltigen Berg inmitten eines Strudels zeigen, der von vier reißenden Flüssen gebildet wird (Abb. 1 ), 41 was den Pol als "Negativ des Paradieses" ausweist,42 - und spezifischer als die kartographisch verzeichnete - systematische Grenze der Kartographie, also topographischer Verortbarkeit. Das Modell der Übertretung, das - in der Forschung - bisher in der Parallele von Polarfahrt als Reise ans Ende der Welt und Apokalypse verengt und zu eng an die Entwürfe von utopischen Pol3S
Für die Intertextualität Poes, Schnabels und Coleridges vgl. Frank, Fahrt (wie Anm 32), S. 1 1 8 f. U.a.; für die Korrektur PoeslPyms durch Veme, vgl. ebd., S. 1 20 : "Natürlich handelt sich's [bei '1ener Eissphinx, die sich als Magnetberg enthüllt",] um den legendären Polfelsen Dantes, den Magnetberg der alten Sagen." 3 6 Vgl. Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wie Anm . 28), S. 9 2 fr., Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 1 42-48. 37 Vgl. Metzner, Persönlichkeitszerstörung (Anm. 28), S. 21 f. 38 Dessen Motto (zum Lev iathan) ist aus Miltons Paradise Lost; e r schließt auch explizit an Coleridge an (New York 1 967, S. 1 64 ff.). Borges macht darauf "aufmerksam" , dass der Moby Dick von Melville, "der sicherlich die Komödie i n der Ü bersetzung von Longfellow kannte", " genau mit dem Schluß des Gesangs von Dante [endet] : Das Meer schließt sich über ihnen" (Borges, Odysseus, wie Anm . 29, S. 26). Beide Literaturen englischer Sprache seien "vom dantesken Odysseus beeinflußt worden" (S. 1 56 f.). 39 Neben Milton (Anm. 1 6) fUhrt Frankenstein auch Colerides The Rime o[ the Ancient Mariner an (New York [Penguin], 1 963 [mit einem Nachwort von Harold Bloom], S. 20 f.); vgl . Bloom, ebd., S. 2 1 8 f., S. 222, Brooks, Monstrosity (wie Anm 1 6). 40 Vgl. Frank, Fahrt (wie Anm . 32), S. 49. 4 1 Vgl. Gerard Mercators Weltkarte ( g rav . 1 569) u. Rumold Mercator, Polarkarte ( 1 595), aus: Meister der K artographie , hrsg. von Leo Bagrow, R. A. Skelton, London, Berlin 1 963, Taf. LXX, S. 397 u. Taf. XCVI, S . 423 . Dies belegt die Verlegbarkeit der Bilder des (feh lenden) Südens an den Pol des Nordens. Poes Ms. Found in a Bottle spricht von einem auf den Mercator-Karten eingetragenen Riesenstrudel; in A Descent into the Maelström ist er an die Lofoten verlegt (vgl . Olaus Magnus , Carta Marina, 1 539). 42 Metzner, Persönlichkeitszerstörung (wie Anm. 28), S. 27; vgl. Frank, Fahrt (wie Anm. 32), S. 1 1 1 . .
.
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 55
Reichen geb u nden wurde, 4 3 muss demgegenüber in einer Vers chieb u ng gele sen werden, die auf d ie Petrarca fehllesende Frage nach Spur und Spurlo s igke i t zurückkommt: Es geht um die Möglichkeit der Topographierbarkeit, der Aufzeichenbarkeit und der Lesbarkeit eines noch einmal - auf der Fläche der Karte - exterritorial gedachten Orte s , 44 um das in Polarfahrten real is i erte Phantasma eines Ortes ohne Eintrag, der Spurlosigke it .
Abb. l : Rumold Mercator, Polarkarte (n. Gerard Mercator), 1 595. 43 44
Vgl. Metmer, Persönlichkeitszerstörung (wie Anm. 28), S . 3 , 46, 66, 72, 1 1 2, 1 1 5 , 1 44 f.
u.ä.
"1 have reached these Lands but nearly/ From an ultimate dirn Thule -/ Frorn a wild weird clime that lieth, sublime,! - Out of SPACE - out of TIME." (E. A. Poe, Dreamland, Complete Works Bd. VII, S. 89, zit. n. Metzner, Persönlichkeitszerstörung, wie Anm. 28, S. 32).
Bettine Menke
1 56
Die Mythen der Pol(ar)fahrt sind Modellierungen der Grenze, der durch Modelle der Grenze gedachten Topographie und der Überschreitung. Die Nordwest- oder -ostpassage wäre der "weiße Weg nach Indien"; Julius Payer schrieb (wie Ransmayr zitiert): Zur "Erreichung" des Paradieses des Handels sollte "selbst der verkehrteste A bkürzungsweg nicht gescheut werden [ ] - der durch das Eis". Als Passagensuche ist die Polarfahrt gebunden an die Entdeckung des Kolumbus und an die mit dieser Entdeckung dessen, was er fur Indien hielt, in stallierte Territorial-Politik: Der Vertrag von Tordesillas, der 1 494 das Niemandsland zwischen S anien und Portugal aufteilt, was eine päpstliche Bulle E für immer besiegeln muß, 5 zwingt die nicht beteiligten Engländer und Hollän der um l enes Neue Land, das zur "Barriere jener westlichen Reise nach Asien" wurde,4 herum auf die "nördlichen Routen - die Wege ins Eis", "dorthin [ ... ], wo alles kostbar ist und die L u ft schwer vom Geruch der Gewürze" , " ins Paradies" , das ''jenseits der Packeismauern" gesucht wird. Im 'einen' homogenen Raum, den die des Kolumbus für alle folgenden Entdeckungen eröffnete, wird die heterogene Ordnung der Teleologie zitiert und eingetragen, kontinuiert und umgeschrieben, bis zur Entdeckung der - unpraktikablen Passagen und darüber hinaus, in der Wendung auf die Pole. ...
Die Übertretung der Grenze, die - so Dantes Odysseus - nicht überschritten werden durfte, konnte - nach Kolumbus' Erreichen einer terra nuova, so hat Torquato Tasso Dante neugelesen - gewendet werden zum affirmativen Para digma der Entdeckung. Im B ild der Säulen des Herkules und ihrer Weisung 'Nec plus ultra', "Bis hierher und nicht weiter", die der Odysseus Dantes noch so ver standen und missachtet hatte, dass der Mensch sich hier nicht weiterwagen dürfe, wird nun das Wahrzeichen des neuzeitlichen gegen das bisher Gültige gerichteten Aufbruches gefunden. 47 Die Übertretung wird als affirmatives Modell zitiert. Zuletzt wird nicht übertretend eine terra nuova, sondern die Übertretung selbst (als das Neue, dem ein Terrain unterstellt wird) gesucht; in ihrem Aufschub, der die Grenze verschiebt, wird sie auf Dauer gestellt (die ihr Ende und ihre Grenze an den Polen findet).
4S
"Die Neue Welt und alle ihre Länder, die bereits entdeckten wie die noch unbekannten, seien aufzuteilen unter den Völkern der Iberischen Halbinsel; jener Meridian, der 1 200 Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln von Pol
zu
Pol
um
den Erdball
verlaufe,
bilde die Grenze, die Länder östlich dieser Linie seien Portugal, die westlichen dagegen
Die Schrecken, wie Anm. 3, hier und das Folgende S . 45). Vgl. Cornelia Vismann, Terra nullius. Zum Feindbegriff im Völkerrecht, in: Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechnik en
Spanien zugeeignet." (Ransmayr,
von Institutionen, hrsg. von Armin Adam, Martin Stingelin, Berlin
1 59- 1 64.
46
Procter, Joumey (wie Anm. 9), S.
47
So argumentiert und belegt Blumenberg, Prozeß (wie
Schrecken (wie Anm.
1 996, S. 1 59- 1 74, h ier:
1 70; vgl. hier und das Folgende: Ransrnayr, Die
3), S. 45.
Anm. 26), S . 1 4 1 .
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 57
Dem
entspri cht der topos des Betretens des 'Noch'-nicht-Betretenen: die Weiße Fuß-Spur des Menschen - mit jener Metaphori k , die noch immer und zuletzt gerade noch, etwa 1 868 in der F ormulierung August Petermanns, "Die Nordpolfrage" zu mode l lieren hat: Mit dem "Wunsch gerade das auszuführen, was noc h niemals ein Anderer vor ihm zu thun im Stande war" , dem " Wunsch" , "dahin vorzudringen, wo noch kein menschlicher Fuß gestanden hat, und das zu erreichen, was andere Menschen als unerreichbar an�enommen haben" ,48 wird die Überschreitung, die die Polreise wäre, so relativ,4 wie nun tatsächlich "das letzte Reservat " für die geographische Lokalisierung " neuzei tl iche[r] Grenzüberschreitungen" in den Gebi eten am Pol gefunden wird. 50 ohne
Der Pol gibt einen letzten (noch) nicht erreichten: nicht-betretenen und ab bild losen Ort ab, 5 1 jenen Punkt, der im Aufschub seines noch nicht-Erreichtseins den beschränkten Raum geographischer Entdeckung noch in seiner Ausdehnung hält: daher "ist es ein wahres Glück, dass der Nordpo l noch nicht erreicht, die s2 Dieser " Unstetigke itspunkt " und Nilquelle noch nicht entdec kt ist" . 48
Petermann/Procter, Journey (wie Anm. Gelegenheit
wahr,
9),
S.
1 70.
Petermann nimmt einleitend die
fiIr eine deutsche Expedition zu plädieren, während seinerseits der Text
Procters selbst eine englische Nordpolarexpedition initi ieren möchte, die einer geplanten französischen zuvorkommen möge;
49
50 51
N ordpo l arfrage zu Ende S . 23-3 1 , hier: S . 24).
des Jahres
"'plus ultra' heißt der 'Wahlspruch' zum 'Stand der 1 874'" (Geographische Mitteilungen 1 875, 2 1 . Jg.,
Wie Weyprechts Deutung des "Bis hierher und nicht weiter" als j eweilige "Practicabilität des Nordpolarmeeres" bei jeweiligem Packeisstand zeigt '''Bis hierher und nicht weiter' hat schon so mancher Polarfahrer gesagt, und sein Nachfolger ist ruhig über die Eismauern hinweggefal1ren, die der Vorgänger 'für die Ewigkeit gebaut ' erklärt halte. Der Pol ist weder absolut praclicable, noch absolut impracticable. Es wird im ganzen Polargebiele stets weite Strecken geben, die, je nach den Eisverhältnissen der Jahre und der Jahreszeiten, das eine oder das andere sind' (Die Resultate der englischen Polar Expedition, in: Neue freie Presse, Nr. 4388, 1 1 . Nov. 1 876; teilweise auch abg edruckt i n : Petermanns Geogr. Mitth. 1 876, S. 457-45 8). Helmuth Lethen, Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden, in: Modeme
versus Postmoderne, hrsg. von Dietmar Kamper, Willem van Reij en, Frankfurt a. M.
1 987,
S. 282-324, hier: S . 304. Und einen durch "Reservation " : "nie betretenen", "unnahbaren" und bilderlos "unphoto
graphierten", "geheiligten" Ort, vgl. Albert Ehrenstein, Wudandermeer, in: Gedichte und
Prosa, hrsg . von K.
Otten, Neuwied, Berlin
1 96 1 , S. 368. Dies gehorcht noch einmal dem für den und
Modell der Erhabenheit, der Unterstellung eines Unerreichbaren, eines Jenseits
anstelle eines Entzugs. Payers Expeditionsbericht bemüht dafilr ebenso die Wendung der
geläufigen Bilder erhabener Landschaft (vgl . etwa ders.,
Unbeschreiblichkeit wie die
Nordpolexpedition,
solche Gemälde (ders.,
52
Anm . 50), S. 304.
Anm 8, S. 3 1 , 33, 1 04) und bei Ransmayr malt er auch selbst Die Schrecken, wie Anm 3, S. 246); vgl . auch Lethen, Kälte (wie
wie
Stand der Nordpolarfrage
.
.
zu E nde des Jahres
1 874 (wie Anm . 4 8 ), S . 23. Dem konfrontiert
Weyprecht als das Ende des Paradigmas geographischer Entdeckung das Polargebiet als
Raum, dem j eder Punkt gleich gültig ist, der durch gleichmäßig verteilte Messpunkte,
Bettine Menke
1 58
"Indifferenzpunkt aller Bestimmungen" (in Kurd Laßwitz' A uf zwei Planeten, 1 897), der abstrakte "schwarze Punkt" am "weißlichen Himmel" (in Georg Heyms Die Südpolfahrer, 1 9 1 1 ), 53 das Nichts eines nur als fiktiver Koordinaten schnittpunkt existierenden Punktes, 54 der als abstrakter Punkt sich entzieht und nicht erreichbar ist, wird zum ex-territorialen Ort einer letzten Leere, wird imaginiert als Ende der Welt und Durchgangspunkt in andere Welten. 55 Ein Jenseits' wird gedacht als 'noch nicht' Betretenes und dramatisiert als Un betretbares, so daß die Polarregion zum topos des absolut Entzogenen wird, als Bild der Hybris (nach dem Modell von Mary Shelleys Frankenstein) wie als 'Sehnsuchtsbild' eines Sich- Verlierens (nach dem Modell von Poes Narrative of A. G. Pym). Das Vordringen in Campi deserti, die (noch) kein menschlicher Fuß betreten habe, in der Flucht der Spuren gibt das Modell ab für die Polarfahrt, an die im 1 9. Jahrhundert einzig noch verbliebenen unbetretenen Orte, die "weißen Flecken" der Landkarten, die die Polargebiete wörtlich realisieren. Aber das ge suchte Gebiet der Spurlosigkeit, Unmarkiertheit wird nur mit einer überreichen Ausstattung an Mythen, S innstrukturen und Modellen von Sinnkonstitution, von Inter-Texten aufgesucht. Das Polargebiet dementiert als Bibliotheksphänomen,
S3
S4
durch vergleichbare und regelmäßige Messungen in transnationalen Maßstäben ausgesteckt würde (Die Nordpol-Expeditionen der Zukun ft und deren sicheres Ergebnis verglichen mit den bisherigen Forschungen auf dem arktischen Gebiete, wie Anm. 8, S. 40). Georg Heym, Die Südpolfahrer, in: ders., Dichtungen und Schriften, hrsg. von Karl Ludwig Schneider, 2 Bde., München 1 960-68, Bd. 2 ( 1 962), S. 1 23 ; al l erdings : "Das war das Geheimnis". Vgl. auch Ransmayr mit Payer, Die Schrecken (wie Anm . 3 ) S . 37, 1 79. Er wäre ohne Wert - wenn er erreicht sein würde - (wie Petennann ebenso weiß, wie Kraus): " das sofortige Erreichen solcher Kernpunkte würde gewiss in vielen FäHen auf eine Phantom Jagd hinauslaufen, denn z.B. der Nordpol an sich dürfte ein unter allen Umständen wohl wenig bemerkenswerther Punkt sein, und selbst bei den heutigen Leistungen der Astronomie bleibt es abzuwarten, ob der Punkt so leicht zu finden, seine Lage mit einiger Sicherheit best i mmt werden kann" (Petennanns Geographische Mittheilungen, 1 875, 2 1 . Jg. , S . 23). "Was war das Paradigma aller Begehrlichkeit? Der Trumpf der Streberei? Die Ultima Thule der Neugierde? Der Ersatz rur das verlorene Paradies? [ ... ] Ac h es l itt die Menschheit nicht beim Tagwerk: der Gedanke daß da oben noch ein paar Quadratmeilen waren, die ein menschlicher Fuß nicht betreten hatte, war unerträglich. Freudlos wie der F leck den es endlich zu finden gelang, war das Leben, solange er nicht gefunden war. Es war eine Blamage, daß wir, denen die Welt gehört, uns ihr letztes Endchen vorenthalten lassen sollten. [ . ] Ich war enttäuscht! rief Herr Cook, und nann te das Idol der Menschheit einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nic ht erreicht wurde. " (Karl Kraus, Die Entdeckung des Nordpols, Die Fackel Nr. 287, S. 1 - 1 4, ,
,
,
..
ss
hier: S. 3).
dies extraterrestische (wie bei Laßwitz) oder die innerterrestische Schalenwelt ist auf Athanasius Kirchers Theorie vom Mundus subterraneus, Bd. 1 , Amsterdarn 1 665, S. 1 60; vgl . Schweikert, Nachw. zu Laßwitz, Auf zwei Planeten, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1 984, S . 965/6). Seien
(hinzuweisen
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 59
das es doch ist, also durch seine intertextuelle Verfasstheit das, was in ihm auf gefunden werden sollte: der Ort ohne Spuren, der topos der Spurlosigkeit. Spuren müssen schon hinterlassen worden sein. Das Polargebiet, der Ort jenseits aller Eintragungen, wird begangen schon immer in den Spuren von Vorgängern. Das Paradigma der Spur ist in zweierlei Hinsicht ftlr Polarfahrten von Belang: 1 . für die Entdeckung der polaren Räume selbst, durch deren Gebundenheit an die Modi des Aufschreibens und 2. für das Modell der Nachfolge, den Nachfahren als Detektiv. ad 1 : Spuren müssen hinterlassen worden sein, damit es die polare Ent deckung gegeben haben wird. Wie die Polarfahrt sich mit Texten ausstattet, die B ibliothek ins Eis mitfuhrt, so muss sie sich umgekehrt in Bibliotheken und Ar chiven niederschlagen, wie die Osterreichisch- Ungarische Expedition im "Österreichischen Kriegsarchiv/ Marineabteilung" , in der "Kartens amm lung der Nationalbibliothek" , in Büchern und Zeitschriftenartikeln. Polare Entdeckungs fahrten sind präokkupiert durch Fragen der Aufzeichnung, deren Archivierung und Sicherung (in Bordbuch, Tagebuch, Tabellen wissenschaftlicher Mes sungen). Denn was hier entdeckt wird, werden überhaupt nur auf Karten zu ver zeichnende Linien 56 sein: Einzeichnungen von Geweiliger) Eisfreiheit, Packeis linien und - wenn sie denn angetroffen wurden - Küstenlinien, Kaps, Fj orden, Gletschern - und deren Benennung. Ohne den Eingang ins Archiv wird es die polare Entdeckung nicht gegeben haben. Umgekehrt manifestieren sich Ent deckungen in Steinpyramiden, die hinterlassen werden und in ihnen: Blechdosen mit Dokumenten. Innerhalb des Paradigmas der geographischen Entdeckung geht es um die Eintragung von Zeichen im Polargebiet so gut wie des Polar gebiets : Um die Aufzeichnungen, Karten und Benennungen, die unbedingt zurückgebracht werden müssen, und die Markierungen und Aufzeichnungen, die hinterlassen werden ftlr Nachfolger, die im Antreffen der Zeichen und Doku mente zu eben solchen geworden sein werden. Die spurlosen Campi deserti müssen zum Gedächtnisraum organisiert werden können - durch die Verzeichnung und Benennung, eine Gedächtnispolitik des Benennens, der Bannung von Orten durch Namen in der "eisigen schnee verwehten Leblosigkeit" , wie sie sich etwa auf der Karte von "Franz Josef Land" (Abb. 2) niedergeschlagen hat.
S6
Vgl . mit Payer Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 37.
Bettine Menke
1 60 Weil man den Kommandanten zu Lande seinerzeit
MiIitärakademie
zum
Lieutenanten der Infanterie
an
der Wiener Neustädter
ausgebildet hat, heißt nun gleich
e i ne ganze Insel, die wie eine unge he u re Miesmuschel im A ustria-Sund liegt,
Insel Wiener Neustadt. Pay er
streut seine Namen wie Bannsprüche über den
Arch ipel , forscht dabei in seinen Erinnerungen und findet im me r neue Städte und
Freunde, die er im Eis verewigen will und vergißt dabei
Herrscherhaus, de r er
Kunst und
doch nie, auch de m
der Wissenschaft zu huldigen: Cap Grillparzer sagt
zu einem wüsten Felsenturm und Cap Kremsmünster zu einem anderen. Die
Litanei der schönen Namen wird mit j edem Tag länger - Insel Klagen/urt, Kranprinz-Rudalj-Land, Erzherz�fRainer-Insel, Cap Fiume, Cap Triest, Cap
Buda Pest, Cap Tyral und
so fort.
Zu dem, was mitgefiihrt werden wird und sich in Polar-Karten einträgt, gibt es
s.
als Gegenstück eine memoriale Zeichenordnung, die zurückgelassen wir Zeichen,
58
die über den Untergang des "verlassenen, schließlich
vom
Eis
zerdrückten" Schiffes, wie über das mögliche Scheitern des Rückzuges aus dem Eis hinaus sollen wirken können, die als "Nachlass" ( s o ebenso Chamissos
y
Gomez,
wie Schrotts
Adressierung j edoch
57
Finis Terrae) 59 auf Nachfolger gleichsam
nicht zu sichern ist.
Salas
warten, deren
Zu finden ist auch ein Cap Hellwald, nach j e nem Freund, der seine Geschichte der Anm. 5) wiederum JuJius Ritter von Payer widmen w ird Vgl. Rans mayr Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 20 1 ; vgl. die Endgültige Karte von Franz
Nordpolarexpeditionen (wie
.
,
Joseph Land entdeckt von der
"
2.
Österr.-Ungar.n Nordpolar-Expedition
Aufgenommen von Julius Payer" aus: Petermann's
1 873
& 1 874.
G eographische Mittheilungen, 1 876,
Taf. II (Abb. 2). Sie "zerren ihre Last die KüstenJinien von immer neuen Inseln entlang, überqueren gefrorene Meerengen, durchsteigen Gebirge, kartieren das Land, und was immer ges c hieht, ge s chie ht in einer eisigen, schneeverwehten Leblosigkeit [ . ] . Bogensekunde um Bogensekunde plagen sich die Landvermesser auf den äußersten Norden zu. " (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anm. 3, S. 2 00). Ebd., S. 2 1 7. Adelbert von Chamisso, Salas y Gomez, in: Werke, Berlin ( H e m pe l ) [0.1.], I . Theil, S . 3 80-3 89, hier: S. 382; Raoul Schrott, F i ni s Terrae. Ein Nachlaß, Innsbruck 1 99 5 . ..
58
59
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen
Abb. 2:
und
Franz Josef Land
die Polargebiete der
Bibliothek
161
Bettine Menke
1 62
ad 2: Das Spuren-Paradigma ist das des Detektivs und seines konstruierenden konjekturalen metonymischen Lesens und dieses - so Ginzburg60 - das Para digma des Wissens um 1 900. Seine Spurensuche und -lektüre macht den Detek tiv zum Nachfolgenden - auf der Spur, Spuren lesend; er bewegt sich in den Spuren eines anderen und wird zum Modell des Nachfahren, hier ebenso des fiktiven Erzählers Mazzini,61 der die Nachfahrenschaft des Schreibenden auf der Spur seiner "Vorläufer" schließlich diesen nach-fahrend realisiert, wie des fik tiven Herausgebers als seines Doppelgängers und Nachfolgers auf seinen Schrei b-Spuren. 62 Der Schreibende wird bestimmt als der Nachfahre in der Spur eines anderen. Erinnert sei dafür an das Modell Harold Blooms für die Intertextualität der Texte: Jeder Autor schreibt als Nachkomme - in einer agonistischen Interaktion mit und gegen Vorläufer-Texte. 63 In Ransmayrs Roman realisiert sich der schreibend Wiederholende als Nach fahre und Nach-Fahrender - der als A benteurer aus den Bibliotheken - und aus diesen hera us- komme .64 Aber gerade dadurch hat er erneut wiederholt: Denn eben dieses Modell der Nachfahrenschaft, Modell der Intertextualität selbst, hat (mindestens) eine prominente Vorlage. Genauer handelt es sich um zwei Texte und ihre Relation: Jules Vernes Le sphinx des glaces ( 1 895), und E.A. Poes The Narrative 0/A.G. Pym ( 1 838). Die Fahrt in Vernes Le sphinx des glaces ist eine Fahrt auf den Spuren von Poes Narrative, wiederholt die Fahrt Pyms zum Süd pol, setzt ihr nachfahrend Poes Roman fort und korrigiert ihn - nicht zuletzt an der Stelle, an der dessen Text abbrach.65 Die Fahrt in der Nachfolge von Pyms 60
Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes n i mmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherungen. Über die verborgene Geschlchte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berl i n 1 983, S. 6 1 -96. Der Detektiv ist, Formulierungen von Mazzini und von Payer zufo1ge, auch Modell der Entdeckung (vgl. Payer, Ransmayr, wie Anrn 3, S. 200 und über Mazzinis Gehen in der unbekannten Stadt Oslo, S . 68). Der "mit Payers Aufzeichnungen einen Beweis flir eines seiner erfundenen Abenteuer in den Händen zu halten glaubte" (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anrn 3, S. 20). Dieser geht "Hinweisen" nach , " flil l[t] Leerstellen mit Vermutungen aus und empfinde es am Ende einer Indizienkette doch als Willkür, wenn ich sage: So war es." Dies "ermöglicht m ir nicht viel mehr, als wahrscheinliche Situationen wiederherzustellen" (ebd., S. 56). H aro ld Bloom, The Anxiety of Influence, Oxford University Press 1 973 (dt.: Einfl uß Angst, Frankfurt/Basel 1 995); ders, A Map of Misread i ng , Oxford 1 975 (dt . : Eine Topographie des Feh l l esens, Frankfurt a. M. 1 997). Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 65 f. "In seiner bewundernden Reverenz an Poe lüftet Verne sozusagen den Schleier des Geheimnisses um das we itere Schicksal Pym ' s, den Poe so kunstvoll, allem 'denouement' am Ende seiner Erzählung abhold, 'gewoben' hatte. " (Schwe ikert, Nachwort, wie Anm. 5 5 , S . 908). Diese " U ngewi ßhei ten " sollen auch andere S c hriftste l l er z u präzisierungen angeregt haben, neben Verne: C.A. Drake, A Strange Discovery ( 1 897), der "die we i ß e Riesengestalt als eine Statue auf einer V u l k an i nsel am Südpol" erk l ärte , Howard Ph. .
61 62 63
64 65
.
Polarfahrt
als B i bli ot heksph änom en und die Polargebiete der Bibliothek
1 63
Reise macht diese - gegen die selbstverständliche Voraussetzung, es handle sich bei Poes Text um Fiktion, um "Erfindung unseres großen Dichters,, 66 zur realen. Die Hinterlassenschaften, Nachrichten, Relikte, Spuren dessen, wovon "in dem Bericht [Pyms] die Rede ist" , werden in der Wirklichkeit des Verneschen Le sphinx des glaces aufgefunden, Poes Narrative damit als "Tatsachenbericht" er wiesen - das "Buch Edgar Poes - also tatsächlich der Bericht Gordon Pyms" als "der sicherste Reiseführer" seiner Nachfolger. Dadurch wird nun Poes Text fiktiv - auf seinen Realitätsgehalt hin überprüfbar. Und in den Abweichungen des auf der fiktiven Fahrt Vorgefundenen von den "höchst seltsamen Beob achtungen", die der Vorläufer-Text auf der Insel Tsalal oder bezüglich des be rühmten offenen Polar-Meeres gemacht haben wollte, sowie durch die Korrektur des ihm vor-liegenden Textes inszeniert sich Vernes Text selbst als authen tischer Bericht; er parasitiert im Effekt der Realität seiner Fiktionen an dem von ihm gelesenen Text. 67 Das Modell der Nachfolge, Modell des intertextuellen Bezugs von Texten auf Texte, einer Lektüre der Spuren anderer Texte, dem Mazzinis "Erfinden der (vergangenen) Wirklichkeit", sein Auffinden des "Beweises für eines seiner er fundenen Abenteuer" und Ransmayrs Roman folgt,68 ist selbst Zitat - Zitat von Jules Vernes fortschreibender Lektüre von Poes Gordon Pym. Die Intertextua lität dieses Prätextes gibt das Modell ab für das Schreiben in Nachfahrenschaft und die Polar- als Nachfahrt. Vernes Vorgehen, in den Spuren des Vorfahren (des schon Kartographierten) die "weißen Flecken auf der Landkarte" aufzusuchen, "sorgsam" zu inventari sieren, um sich - als Zweiter - als Erster einzutragen und sie in Verlängerung der bekannten Tatsachen auszufüllen, 69 ist in Georg Heyms Das Tagebuch des Shakleton ( 1 9 1 1 ) wiederzuerkennen. Er überschreibt seinen Vorgängertext, schreibt sich in seiner Spur an die Weiße heran, schreibt ihn fort, dorthin, wohin der Vorgänger-Text nicht kam, und lässt seinen Vorgänger dort ankommen, wo dieser nicht war, um in seinen Spuren, als sein Nachfolger den utopischen Ort zu erreichen. ( zu erst 1 93 1 ). (Frank, Fahrt, wi e Arun. 32, S. 1 1 9.). 66 Die Ei s sphi nx , Frankfurt 1 968, S. 22. 67 Der E ingangssatz : "Diese Ge sch ichte wird niemand rur wahr halten. Trotzdem veröffent liche ich sie , möge man sie nun glauben oder nicht." (Eissphinx, wie Anm. 66, S. 7) ent gegnet der Poeschen Eingangskonstruktion, er habe vorgezogen, das Authentische (weil niemand es glauben werde) als Fiktion auszugeben; und auch diese Fiktion des Authen tischen verkennt ke i n Leser. 68 Vgl. Ransmayr, Die Schrecken (Anm. 3), S. 1 7 f. 69 N ach dem Mode l l Dantes, der "se i ne Th eo l ogi e und noch einiges andere mehr in die freien Räume, die im 'Rahmen der mittelalterlichen Kosmologie zur V erfd gun g standen", ent worfen h ab e (M iche l Butor, Die Krise der Sc i en ce-F i ct ion, in: Essays zur mode rn en Lite ratur und Mu s i k, München 1 965, S. 220-232, hier: S. 223). Lovecraft, At the Mountain of Madness
Bettine Menke
1 64
Das Tagebuch des ShakJeton
spricht vom Doppel einer Reise: des fiktiven
Herausgebers auf den Spuren des sogenannten echten Shakleton; und es doubelt
einen Text, den Bericht Shackletons, der unter dem Titel 21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der historischen Südpolexpedition 1907/8 1 909/ 1 0 in deutscher Übersetzung erschien. Dieser ist die zitierte und fortgeschriebene, zur Fälschung erklärte, korrigierte und überschrittene Vorlage, die in Heyms Erzählung einen
Doppelgänger hervorbringt. 70
Heyms
Tagebuch
überschreitet mit der Südpol ar
Expedition, die es zu dokumentieren vorgibt, eine Grenze, die durch die vorgelegten
Aufzeichnungen
Shackletons
präzise
lokalisiert
ist:
Ernest
Shackleton unternahm 1 907/8 einen Versuch den Südpol zu erreichen.
21
zu
be
Meilen vor dem Pol waren er und seine Begleiter gezwungen umzukehren, weil sie nur so hoffen konnten, mit dem verbliebenen Proviant den Rückweg
wältigen. Heyms
Tagebuch
lässt nun mit seinem
double
Shackletons, den fak
tisch Heimgekehrten zum bloßen falschen Doppelgänger erklärend, diesen Punkt der Umkehr hinter sich.
Am 1 0.
Januar, an jenem Tag, an dem Shackleton
und die anderen in den eigenen "Fußspuren", "unserer Fährte", so Shackleton, zurückkehrten, 71 beginnt - fortschreibend - Heyms sogenanntes 'echtes Tage buch' seines Shakleton, der abweichend von seiner Vorlage den Weg nach Süden fortsetzt: 7 2
70
H. Shakletons das des wahren ist bis dahin, wo unter 88°7' ihr letztes Lager aufschlug, ehe sie den forcierten Angriff nach Süden unternahm, der sie angeblich bis 88°23' führte. Ich nehme [ ] an, dass da, wo die "Ich nehme an, dass das Tagebuch Ernest
die Expedition
...
Expedition nach dem Pseudolager gewendet hat, sie in der Tat noch nicht gezwungen war, umzukehren, dass sie vielmehr ihre Route südwärts noch fortgesetzt hat, und dass sie dabei
in Gebiete gekommen ist, die von intelligenten Wesen bewohnt wurden. [ . . . ], dass die vier
Royds zurückkamen, 29. Oktober 1 908 verlassen hatten. " (Das Tagebuch des Shakleton, in: Dichtungen und Schriften, wie Anm. 53, 2. Bd, S. 1 24- 1 4 3 , hier: S . 1 29.) (9. Januar) "Glücklicherweise waren unsere Fußspuren durch den Schneesturm nicht ver wischt worden. Und nun heimwärts! Mag uns dies auch dauern, doch wir haben unser Bestes versucht! [Kapitel XXIV: Der Rückmarsch] 10. Januar. Aufbruch um 7.30 bei leichtem Winde. Mit nur einstündiger Mittagsrast marschierten wir den ganzen Tag und waren abends 29,790 Kilometer nördlicher. Es war wirklich ein S ege n fiIr uns, dass der Sturm unsere Fährte nicht verweht hatte". (Ernest H. Shackleton, 2 1 Meilen vom Südpol . D i e Geschichte der britischen Südpol-Expedition 1 907/09, 3 Bde., Berlin 0.1. [ 1 909/ 1 0], B d . I, S . 473 ; vgl . d i e "Generalkarte m i t den von der Expedition vorgenommenen Forschungsreisen und Vermessungen" der "Englischen Südpol-Expedition 1 907" [Abb. 3 ]). Männer, die am 28. Februar 1 909 wieder in das Lager am 'Cape'
nicht dieselben waren, wie die, die es am
71
72
Der Aufbruch findet hier eine halbe Stunde früher statt. "Und in Gedanken rechnete ich
aus, dass wir bei Tagesmärschen von ungeflihr 25-30 km in Kürze am Pol sein 89° 1 5 ' wollten wir unser letztes Depot errichten, und den Rest der Tour im Sturm nehmen." (Heym, Shakleton, wie Anm. 70, S. 1 3 1 ).
mir
mussten. Auf
Polarfahrt als Bibliotheksphänomen und die Polargebiete der Bibliothek
1 65
Hinter mir hinaus bis an den Rand des Horizontes [ .. ] sah ich die Spuren der Schlittenkufen verlaufen. Und an ihnen entlang ging der weite Weg an das Schiff, an das Meer, in warme menschliche Regionen. Bis hierher war der Mensch ge kommen, hinter seinen Idealen her, unter entsetzlichen Leiden, Frost-Wunden und Hunger, ein Blinder der einem wahnsinnigen Führer dreintappt, [ . . . ] in einfOr migem Trott, wie ein Zug sibirischer Sträflinge [ .. ] dem weißen Mond entgegen, der wie die Larve eines Gespenstes am blauen Himmel aufgehängt war.73 .
.
Die Überschreitung wird durch die wiederholend nachfahrende Markierung der Grenze : "Bis hierher" - datiert, die Zone des Unbetretenen präzise auf 88°23' lokalisiert (Abb. 3), und hier eröffuet durch die Vorlage, an der Stelle, die diese dem Nachfolgenden: Detektiv, Entdecker, Nach-Schreiber (so dessen Gegen-Lektüre, die dieser schreibend nachfahrend unternimmt) anweist. -
Heym s Das Tagebuch des Shakleton doubelt einen Text und usurpiert dessen Stelle, die der Primarität. Dies ist aber nur möglich durchs Nachreisen, Nachfahren; es muss sich schon jemand auf die Spur dieser Reise, die Shakleton zum Pol gelangen und dort sich verlieren lässt, gesetzt haben: Der Text erhält eine Herausgeberfiktion, die in der Vorrede (die sich selbst auf 1 926 nach datiert) ihrerseits nochmals gedoppelt ist durch die zitierende Inanspruchnahme eines fiktiven wissenschaftlichen Vorläufers. 74 Der fiktive Herausgeber, Hannawacker, weist sich, den Nachfahren(den) des 'echten', fiktiv am Südpol verbliebenen Shakleton, durch das Auffinden des sog. 'echten' Tagebuchs, das er "aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings" genommen haben will, als "Entdecker des Südpols" aus, der er nur als Zweiter gewesen sein kann. 75 73
Ebd., S. 1 33 f. "Hier hat noch niemand gestanden, diese Stille hat noch niemand zerrissen." "Ihre Fährte sahen sie hinter sich, die beiden Schlittenspuren, die sich in den zerrissenen Abhängen der vereisten Berge verloren. Bis hierher war der Mensch gekommen" (Heym, Südpolfahrer, wie Anm. 53, S. 1 20 f.). 7 4 D ieser wahnsinnig verstorbene Wissenschaftler wird mit dem 'echten' Tagebuch nach träglich ins Recht gesetzt. Er hat die zurückgekehrten Polarforscher zu seelenlosen Doppel gängern ihrer selbst erklärt; fiIr die "technisch so glänzend ausgefiihrte n Golems" werden Autoritäten berufen, fiktive wiss. Werke nachgewiesen (Heym, Shakleton, wie Anm. 70, S. 1 25 f.) und eine mathematische Formel "zur Transplantation des Gedächtnisses, des Charakters [ ... ] auf den Golem" angeschrieben. Die falschen Heimgekehrten (S. 1 26) seien nicht länger als neun oder zehn Jahre lebensfahig; dies verspricht die Beglaubigung dieser wissenschaftlichen Hypothese: "Wenn aber die Shakleton, Adams, MarshalI, Wild spätes tens im Jahre 1 9 1 9 gestorben sind, so werde ich glänzend gerechtfertigt sein." (S. 1 28). 75 Er heißt der "berühmte Entdecker des Südpols H. H. H. Hannawacker", der das "Tagebuch Ernest H. Shakletons, des unglücklichen Südpolfahrers" "aus den knöchernen Händen des erfrorenen Flüchtlings nahm" . Hingewiesen wird auf "das große Werk H. H. H. Hanna wackers I Die Entdeckung des Südpolsl in unserem Verlage. 2 5 . Auflage. London 1 925.1 Und ebensO! Das Reich des Südpolarmenschenl 204. Auflage. London 1 925. W. B. Graham and White" (S. 1 3 0), sowie "Vom selben Verfasser im selben Verlag: die Ent deckung des Südpols und die Auffindung der Leichen Shakletons und seiner Freunde. 326. Auflage".
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Abb. 3 : Südpol, Süd-Victoria Land
In den vorgefundenen Wiederholungen und wiederholten Wiederholungen und Zitationen prägt sich die Systematik der Einsetzung von Nachfahren aus. In Ransmayrs Schrecken des Eises und der Finsternis weist sich der schreibend nachfolgende Herausgeber und Nachschreiber durch seine Aversionen �egen den Vorläufer als Doppelgänger aus und thematisiert sein Verspätetsein. 6 Die Sekundarität des Schreibens wird durch die Logik der Pol-Entdeckung, durch den Schrecken der vorgefundenen Spur, ein "Fleck" anstelle der "jungfräu lichen" Fläche dramatisiert (wie ein Drama über den wohl berühmtesten
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Vgl. Ransmayr, Die Schrecken (wie Anm. 3), S. 20 f., dazu wäre E.A. Poes Wi1/iam Wilson heranzuziehen.
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77 Zweiten, Scott, zeigt). Denn dieser ist, "einmal entdeckt", nichts, wie Karl Kraus Cook sagen lässt: "Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als dass er nicht erreicht wurde" . 78 Die nicht hintergehbare Sekundarität und die Zu mutung, die diese ist, wurde au sd rückli c h in Mary Shelleys Frankenstein: Auf der Spur des Monsters seiner Schöpfung, die nur als dem i urgi sche , wieder holende und verfehlte Produktion ausfallen kann , verschlägt es Frankenstein ins Polareis, wo er auf das double seiner Hybris, de n Polreisenden trifft, den fik tiven Verfasser des Gesamttextes. 79 Gegen das Gescheitertsein des verspäteten doubles, wie auch gegen die Versuche/ung einer "Reservation" des letzten Nicht-Betretenen und Abbildlosen aber konnte Karl Kraus die " Dupl izität " der Entdeckung des Nordpol s - durch Cook und Peary - als ironische s Glück der Geschichte verstehen, "dass er nämlich - doppelt - nicht entdeckt wurde" . "Einmal erreicht", i st er weniger als nichts; 80 "doppelt hält besser" und "doppelt" entdeckt, ist er "nicht entdeckt" .8 1 D iese Gesetzmäßigkeit sah Kraus am Südpol - durch Scott und Amundsen - bestätigt, durch die "Duplizität der Dupli zität der Fäll e " . 82 Das Polargeb i e t wird - zum ersten Mal - in den Spuren der Vorgänger be treten. Das, was Heyms " S hakl eton" jenseits der durch den Prätext demarkierten Grenze begegnet sein soll, b ezieht er von Vorgänge rtexten . Es ist n ichts andere s 77
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uns den jungfräul i ch en Po l , I Den wir als die ersten betreten " ( Re i nhard Goeri ng, Die Südpolexpedition des Kapitän Scott, in: Prosa, Dramen, Verse, Langen! Müller München 1 96 1 , S. 505-560, hier: S . 5 1 2). " W i l son : Schnell, was ist los? Was s iehst du? Bowers: Dort! Grauenhaft! Furchtbar! W i l so n : Ein schwarzer Fleck. Scott: Im weiten Weiß! Scott : o G ott ! [ .. . ] 0 Tod ! 0 graue nvo l l , entsetzlich." (S. 520, vgl. S. 52 1 f.). Am un dsen s Männer pflanzten ihre Fahne auf und ließen "ein kleines ZeIt" "stehen,! Drin ein Brief für den Nachfo l ger. " (S . 523). "Der Pol ist bere i t s entdeckt!! Ein anderer ist schon hiergewesen . [ . . . ] S o mordet dir den Zweiten der Erste" (S. 525). Vom S chei tern, das die Verspätung ist, rührte das Interesse an Scott her, vgl. etwa: Vladi mi r Nabokov, Der Pol. Drama in einem Akt (Uraufführung am 28. September 1 996 an der Schaubühne Berlin, Fass. v. Botho Strauß, Auffilhrungsrechte Rowohl t V1g., Reinbek); für die Bezugnahmen von Benn, Eich u.a. vgl. M etz ner (wie Anm. 2 8 ), s. 1 06 f. und noch e i nmal die Nach fo l ge in Arthur, Antarctic Navi gati on (wie Anm. 28). " Ei nmal erreicht, ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also ein Etwas, das ärmer ist als das Nichts, eine Krücke der Erflillung und eine S chranke der Vorstellung . " (Kraus, Ent deckung, wie Anm. 54, S. 3). "Zeig
"] will satiate my ardent curiosity wilh the sight 0/ a part 0/ the world never be/ore visiled,
(Walton in Shelley, Franke nstein, wie Anm. 39, S. 1 5 ; vgl. O wen Beattiel John Geiger, Der eisige Schlaf. Das Schicksal der Franklin-Expedition, mit einem Vorwort von Sten Nadolny, M ün che n 1 992 [eng\. : Frozen in Time, 1 987], S. 1 0). Kraus, Entde ckung (wie Anm . 54), S. 3 . "'Daß der Nordpo l entdeckt wurde, ist traurig' entgegnete ic h; 'l ust ig ist dabei nur, daß er ni cht entdeckt wurde'." (Kraus, Die Fackel, Nr. 3 09, S. 30, vg\ . ders. , Entdeckung, wie Anm. 54, S. 5 f.) "Wer hat zuerst den N ordpo l nicht entdec kt ? " (ebd., S. 8). Kraus, Die Fackel, Nr. 345, S. 9. and may Iread a land never be/ore imprinted by Ihe foot 0/ man . "
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als ein Puzzle der aus Pyms Polarfahrt bekannten Details: weiter im Süden scheinen "alle unsere geographischen Begriffe", "alles was vor uns über den Pol geschrieben ist von den weiten eisigen Wüsten, von der unermeßlichen Kälte der Einöden der Antarktis" "auf den Kopf gestellt" durch nachlassenden Frost, Wärme, Dunst und Nebelwand. 83 Das Nachlassen von "Wille und Energie,, 84 wird Heyms Tagebuchschreiber "Einflüsse[n] von außen" zuschreiben, "dass wir damals schon innerhalb des psychischen Walles waren, den diese Polar menschen um ihre Geheimnisse errichtet haben". 85 Nebel und Dunst, "der weiße Vorhang" oder " Schleier", von dem Poes Narrative 0/A. G. Pym (im Eintrag für den 22 März) spricht, wird sich bei Heym wie ein Vorhang heben und verspricht als "Tor der Geheimnisse" "auf einmal" sichtbar zu machen,86 was Poes Narrative versagt: "die Paradiese des Südpols". 87 Aber das ist - "das alles in einem seltsamen Weiß,, 88 - erneut nichts anders als Zitation : jene "eigenartigen" "schlohweißen" Bewohner des Pols, ausgestattet mit einem merkwürdigen "Köhlerbaum", an dem "einige Zeichen" "uns wie hebräische Buchstaben erscheinen" , sind Zitate vor allem des Finales von Poes Narrative und dessen abschließender "Note". 89
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Heym, Shakleton (wie Anm. 70), S. 1 35. Die Phänomene werden betäti gt durch Messungen. 84 Heym Shakleton (wie Arun 70), S. 1 4 1 . Dies entspri cht Pyms "numbness 0/ body and mind" , als "Benommenheit" auch von Ransmayr zit iert, (Arun. 3), S. 62. 8 5 Heym, Shakleton (wie Arun. 70), S. 1 32. 86 " [W]elche Wunder mochten nun unser warten - hinter diesen Mauem aus Nebeln und Dunst." (Heym, Shakleton, wie Arun 70, S. 1 37). Im sich verziehenden Nebel "schlossen wir" "nur ungefähr", daß wir über dem Rand eines Tales saßen, das 'wahrscheinlich' von zwei großen Bergen zur Rechten und zur Linken begrenzt, in die unbekannte Tiefe ging. Auf eirunal [ . . ] kommen ein paar ge waltige Winde den Abgrund herauf ... " (ebd., S. 1 38). 87 "So muß die Erschütterung gewesen sein, mit der Cortez die Städte Montezumas schaute oder Pizarro die goldenen Dächer der Inkas zu seinen Füßen sah." (Heym, Shakleton, wie Arun. 70, S. 1 39). So eröffnet sich dem Blick auf den Innenraum der "Schalenwelt" der Insel Felsenburg "'das schönste Lustrevier von der Welt' " (Schmidt, Spur, wie Arun 34, S. 60). 88 Dies w ird systematisch aufgefiihrt für Flora, Fauna und die Polwesen: "irgendeine species weißen dornigen Nadelholzes", "Tiere [ ] bleiche Wesen (Heym , Shakleton, wie Anm. 70, S. 1 39), "alles in denselben fahlen Farbtönen [ . . ]. Und mir ist al s zöge ich wie ein blutloser Schatten über die ble iche Wiese eines versunkenen Totenrei ches, [ . ] in der grausamen Erstarrung einer ew ig en Vergessenh eit (S. 1 4 1 ). 89 Die "schlohweise Gesichtsfarbe, und seine weiße Behaarung" (Heym, Shakleton, wie Arun . 70, S. 1 40) zitiert Poes Pym : "die Tön ung der Haut der Gestalt, war von der völligen Weißnis des Schnees", und aus der Offenbarung: " Se i n Haupt aber und sein Haar waren weiß wie Schnee" (vgl. Peter H",eg, Fräulein Smillas Gespür für Schnee, München 1 994, S . 76). Zitiert sind die Zeichen, die auf Poes Insel Tsalal gefunden wurden. Hingewiesen wird auch au f Kubins Die andere Seile (Metzner, Persönlichkeitszerstörung, wie Arun . 28, S. 77). ,
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Die Doppelgängerei der Nachfahren prägt nicht nur das Modell des Schreibenden als Nachfahre aus, sondern damit die Uneinholbarkeit eines 'Ur sprungs', eines originären, eines unbegründeten Schreibens, den die noch-nicht betretenen weißen Flächen modellieren, die doch im Text erreicht worden sein sollen. Und gerade auch Poes Narrative 0/ A. G. Pym selbst, 'Vorlage' der genannten Texte und ihres nachfahrenden Schreibens, schreibt sich her aus an deren Texten. 9o "Auch im vorliegenden Fall POE sehe ich ein Textgewebe _"9 1 ist von Amo Schmidt zu lesen, der in seinen Texten die intertextuellen Ver webungen in Sachen Polarfahrten entfaltet, ihnen insbesondere in Zettels Traum Raum gegeben hat. Nur noch das ständige Raunen der Wiederholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat. Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen [ ... ) ; es dehnt sich von Buch und Buch zwischen den Schriftzeichen aus; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. 92 Es ist ein Bibliotheksphänomen.
Dies macht, so Foucault, das Phantastische des 1 9. Jahrhunderts aus. Arno Schmidts Exposition der intertextuellen Verwebungen, exemplarisch anhand und für Poes Narrative, bestätigt dies. Die Angewiesenheit auf andere Texte, auf die fremden Worte stellt er als die 'Zumutung' aus - für ".Qichter, die sich ein-
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" [D)aß auch diese 'alte Vorlage' wieder ihre Vorlage hat - [ ] ", nämlich Schnabels Insel Felsenburg, zeigt A. Schmidts Schnabels Spur (wie Anm. 34, S. 53). Die Anm. zu Schmidts Übersetzung Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket (Anm. v. K. Schuhmann) weisen hin auf James Fenimore Coopers Roman The Monikins ( 1 836) und die "Vorlage Benjamin MorrelI, A Narrative of Four Voyages, to the South ...
Sea, North and South Pacitic Ocean, Chinese Sea, Ethiopia and Southern Atlantic Ocean, Indian and Antarctic Ocean. From the Year 1 822 to 1 83 1 . Comprising Critical Surveys of Coasts and Islands, with Sailings Directions [ ], New York 1 832". "Als Que lle fiIr den Plan des ganzen Werkes kommt auch in Frage ein Roman von Captain Adam Seaborn [Pseudonym von John Cleve Symmes, 1 780- 1 829 ?], Symzonia: A Voyage of Discovery ( 1 820)"; Symmes "veröffentlichte 1 826 gem e i n sam mit James McBride Symmes' Theory of Concentric Spheres. Danach besteht die Erde aus hohlen, konzentrischen und an den Polen offenen Sphären. B e i 82 n. Br. nahm Symmes eine Öffnung an, durch die man in das bewohnte Erdinnere gelangen könne." (Zürich 1 994, S. 269 f.). Jeremi ah Reynolds, An hänger von Symmes, gehörte mit seiner A dress on the Subject 0/ a Surveying and Exploring Expedition to the Pacific Oeean and South Seas, zu den "treibenden Kräfte[n] hinter der ersten antarktischen Expedition der Vereinigten Staaten" und "inspirierte Poe zu seinem Arthur Gordon Pym" (Arthur, Eislandfahrt, wie Anm. 28, S. 1 7); zu diesen Spekulationen, vgl. Jules Vernes, Reise zum Mittelpunkt der Erde (Schmidt, Zettels Traum , wie Anm. 34, S. 8, 304 f. u.ä.), sowie Lovecrafts At the Mountain 0/ Madness und den anderen Anschluß im Übergang in Science tiction in Laßwitz, Auf zwei Planeten, wie Anm. 55). 9 1 Schmidt, Zettels Traum (wie Anm. 34), S. 26, vgl. S. 27 f., 46, 48-5 1 , 54, 280 f. u.ä. 92 Foucault, Fantastique (wie Anm. 1 3), S . 1 60. ...
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1 70 bilden, vom �rie ster herzukommen" , 93 wie für Leser,
die se i t dem 1 8 . Jh. ver den Genuss der Kunst verde rbe . 94 Gerade "an so über zeugend=Exaktem", an Zahlen, Daten, Namensverzeichnissen, Statistiken, Ort s regi stern , Karten entzünde " s i ch die komb i n ierend e Fantasie" - so Schmidt im 95 Anschluss an Schnabel und andere Suchen nach den Enden der Welt; " man schöp ft [ . . . ] [das P hantasti sche] aus der Genau i gke it des Wissens; im Dokument harrt sein Reichtum. Man [ . . . ] muß lesen" - so F ou caul t . "Es sind", wie Fou cau lt sagt, "die bereit s gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an win zigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Re produktionen, die der Phantasie [ . . . ] die Mächte des Unmöglichen zutragen."
muten,
dass Wissen
Das Betreten des bisher Unbetretenen in den Spuren von
Vor-Fahren, durch Prä- und Intertextualität des Textes, i st eine offensichtlich paradoxe Unter nehmung. Diese Paradoxie aber strukturiert die Fahrten ins Polargebiet. Nicht nur kann, wie Foucault für das Phantastische des 1 9. Jahrhunderts formu li ert , "nur noch das ständige Raunen der Wiederh ol ung [ . . . ] u ns überliefern, was nur ein e i nziges Mal stattgefunden hat" , sondern mehr noch wird das, "was nur ein einziges Mal stattgefunden hat" od er stattfinden kann, schon ein " stän di ge [s] Raunen der Wiederholungen" gewesen sein. " [E]s entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte " , zwischen den Texten und in j enen Zwischen räumen, die sich im (intertextue l l verfas s te n) Text öffnen. die
Während Vernes Eissphinx dort, wo das Erzählen in Poes Narrative abbricht, M agnetberg einsetzt und Heyms Das Tagebuch des Shakleton im Nach fahren am Ort eines Abbruchs nochmals in der Übertretung einen neuen Raum zu eröffnen prätendi ert, um ein geheimes Pol-Reich aufzusuchen - und Poe nachliest, wird Mazzinis Nachfahren bei R an smayr sein spurloses Verschwinden sein. Und ist nicht gerade dies, das S ich-Verlieren, das V e rspre ch en? Das Ver schwinden, das wieder einen Nachfahren als double des Erzäh l e rs Mazzini ein-
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Schmidt, Zettels Traum (wie Anm. 34), S. 1 6. Vgl. Schmidt, Schnabels Spur (wie Anm. 34), S. 5 1 -5 3 , ders., Zettels Traum (wie Anm. 34), S. 1 7, 32. Schmidt, Schnabels Spur (wie Anm. 34), S. 72 f. und A. Schmidt, Kosmas. Oder Vom Berge des Nordens ( 1 955), in: Das Erzählerische Werk, Zürich 1 985, Bd. I, S. 93- 1 56, hier: S. 1 36. Verhandelt wird die Frage der Verzeichenbarkeit (und der Möglichkeit) von Exterritorialität zu einer anderen Zeit, einem andern Ort. Im Anschluss an Schmidts "Gadir. Oder Erkenne dich selbst" (ebd., S. 36, 4 1 f.) wäre dies auszuführen auch mit Schrott, Finis Terrae (wie Anm. 59), der mehrfach, in vier Büchern, der Reise und dem fiktiven Logbuch des pytheas von Massalia nachfUhrt, jenes "griechischen Navigators und Astronomen, der im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als erster den Norden Europas entdeckt hatte und bis nach Thule gelangt war" (S. 1 1 f., vgl. James S. Romm, The Edges of the Earth in Ancient Thought. Geography, Exploration, and Fiction, Princeton 1 992, S. 1 57 f.).
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gesetzt hat,96 steht unter der Überschrift: "Die Zeit der leeren Seiten". Aber kein Buch gehört dieser Zeit an. Die 'weißen Seiten', auf denen Mazz i ni "seinen Ort" erreicht haben sol\ 97 - spurlose Campi deserti - modellieren diesen als Unerreichbarkeit - für jedes Erzäh len Diese metatextuelle Funktion des Polargebietes ist vorgegeben durch das Ende von Poes Narrative 0/A. G. Pym wie ich abschließend verdeutlichen möchte. .
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I n Po es Roman steht im Abbruch des Erzählens - nach der nicht mehr er zählten Rückkehr des Protagonisten und Erzählers (von Poes Narrative) aus dem weißen Dunst des Südpolargebiets - und an der Stelle des Fehlens fiktiv verlo rener Kapitel eine abschließende "Note", in der der fiktive Herausgeber spricht. Im supplementierenden Nachtrag handelt der Text von der Schrift; und zwar tut er dies, indem er nun j ene Höhlengänge der Insel der Schwärze, Tsalal, von denen zuvor erzählt wurde, 98 noch einmal schwarz auf weiß verzeichnet und sie nun als Schriftzeichen liest. Schwarz auf weiß auf der Buchseite eingetragen sollen diese nun auch eben dies : "Schwarz" und " Weiß" bedeuten - als Schrift zeichen (die Heyms "Köhlerzeichen", die [metatextuelle] Schwärze unter streichend, ins Erzählte und ins im Erzählten enthüllte Geheimnis übernimmt). Als Schriftzeichen verschiedener morgenländischer Sprachen und Schriften ge lesen99 sagen sie - einer äthiopischen Wortwurzel folgend - das Schwarze, näm lich "'To be shady,' - whence all the inflections of shadow or darkness", und einer "Arabischen Wortwurzel" folgend - das Weiße, '''To be white', whence all the inflections of brilliancy and whiteness" . Was die Erzählung an ihren fiktiven Orten, "Tsalal" einerseits und "the region of the south" andererseits, radikal aus96
Bei Ransmayr wie in Poes Narrative, Vemes Le sphinxe, Heyms Tagebuch des Shakleton Das Verschwinden stellt die Aufgabe der "Rekonstruktion" (Ransmayr, Die Schrecken, wie Anm. 3, S. 229) wie de r A ustreibung des Verschwundenen "aus der Welt" (S. 9 ff., 238), die des Weitersprechens - anstelle der Erzählung u nd diese unterlaufend (bei Poe). Ebd., S . 2 1 8 ff. " The loss of two or three final chapters (for there were but two or three) is the more deeply to be regretted, as, it cannot be doubted, they contained matter to the Pole itself, or at least to regions in its very near proxi m ity; and as, too, the statements of the author in relation to these reg i on s may shortly be verified or contradicted by means of the govemmental expe d iti on now preparing for the Southem Ocean. On one point in the narrative some remarks may weIl be offered [ . ]. We allude to the chasms found in the island of Tsalal, and to the whole of the figures upon pages 87 1 , 872, 873 ." (Edgar Allan Poe, The Narrative of Arthur Gordon Pym, in: The Complete Tales and Poems, New York 1 982, S . 748-883 , hier: ' S. 882 f.). Dies entspricht der romantischen Arabeske: "eine phantastis che , irreale Kombination ver schiedener Bildlogiken und Darstellungsmodi [ . . ]. U nte rschi ed l i che Realitätsebenen inner halb des Bildgefüges werden dadurch deutlich", dass in ihm eine " Spannung zwischen 'Omamentmodus und Bildmodus'" ausgetragen wird (Günter Oesterle, Arabeske, Schrift und Poesie in Hoffmanns Kunstmärchen 'Der goldene Topf, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 , 1 99 1 , S. 90 f., 92 f.). u . a.
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einander treten ließ ("Nothing white was to be found at Tsalal, and nothing otherwise in the subsequent voyage to the region beyond.") tritt - im Nachtrag im Schwarz auf Weiß der Schriftzeichen zusammen und wird so gelesen. Damit wird aber - rückwirkend - die Zone des Weißen ohne anderes ("nothing other wise"), jene Unbestimmbarkeiten, in der Fahrt und Erzählung (Pyms) endeten, charakterisiert als die der radikalen Unmöglichkeit von Erzählung und mehr noch von Schrift. Aber - vergessen wir dies nicht - die Sprache von Tsalal, die drei Grundrisse der Höhlen, das Tekelili, der Schrei der fremden weißen Polvögel, die 'das Weiße' sagen, sind selbst intertextuelle Effekte. 1 oo Es wäre daher die falsche Frage, wie der exterritoriale Ort vom Text ansprechbar wäre; vielmehr ist umgekehrt zu lesen, dass dort, wo das spurlos Weiße gesucht wird, immer schon die Spur, ein Gewimmel von Spuren war. Und damit eröffnet sich eine ganz andere Geschichte, die der Schriften und Texte und ihrer Räume. Das Polargebiet "dehnt sich" " von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus". Es war einerseits auszuweisen als ein "Bibliotheksphänomen" . Als solches aber ist es anderseits das 'Polargebiet', das heißt der ex-territoriale Ort der Bibliothek. Es ist der topos des Endes aller Schriftzeichen, allen Aufge schriebenseins. - Dieser Ort aber ist als "Zwischenraum der Texte" (weiß zwischen schwarz) allen Büchern eingetragen. Der ausgeschlossene Ort der Texte eröffnet sich in ihren Zwischen-Räumen, in den Texten, 1 0 1 den Zwischenräumen, die die Bücher innen öffilen, in denen sich die Texte von sich selbst abheben.
IOO SO liest Schmidt in Zettels Traum: fllr die "'Sprache von Tsalal"', wie fllr die dort einge grabenen Zeichen ist u.a. in der Bibel, insb. der Genesis nachzuschlagen: "Die 'Sprache von Zalal' ist, ganr-simpl , ein, absichtlich leicht korrumpiertes Hebräisch" ([wie Anm. 34], 30 f.). "was 'teke l i =l i ' meint - ? [ ... ] Wenn du unter den hebräischen 'Farben' nach siehst, findest Du dort ein 'tekeleth' [ . . . ]. Erst vom TALMUD her hat sich ergeben , daß es sich um das, im Subtropischen anscheinend schier=unerträglich die Pupille angreifende , Ge istergestrahle des klaren Himmels & des widerspiegelnden Meeres handelt" (ebd., vgl. S. 1 1 , 1 4). " wo=her hatte POE seine ganzen Nicht=Kenntnisse im Hebräischen=etc?". "Von Charles Anthon' [ . . . ] : 'Der ihm auch fllr die Rezensi on von STEPHENS 'Arabia Peträa' die H inweise gab: Die habm sich 'gekannt';" - "wie könnte POE auf die barocke Er klärung verfalln sein?'! 'Weil sie nichts=weniger denn 'barock' war; vielmehr aufs pein lichste 'in der Luft lag'" (S. 3 1 f.; Herv. i. Orig.). 101 V gl. fllr dies e Akzentuierung Renate Lachmann , Bachtins Dialogizität und die ak meisti sc he Mythopoetik als Paradigma dialog ische r Lyrik, in: Das Gespräch, München 1 984, S. 490 f. , 496, sowie Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a. M. 1 990.
IM AGINATIO BOREALIS IN EINER TOPOGRAPHIE DER KULTUR Bemhard Teuber
Beginnen möchte ich mit der berühmten Belegstelle für den Titel unserer Vor lesungsreihe: "Ultima Thule" - 'das äußerste Thule'. Sie findet sich im zweiten Chorlied von Senecas Tragödie Medea. In anapaestischen Dimetern beklagt dort der Chor die Unordnung und grenzenlose Vermischung, die der bisherigen Weltordnung durch die Weiterentwicklung der Schiff-Fahrt drohen werde. Bruno W. Häuptli erkennt in seinem Kommentar zur Stelle "die Angst des Chors vor einer globalen Allerweltskultur, die mit dem Welthandel, der Verwischung der kulturellen und politischen Grenzen, der Kolonialisierung mit militärischer Sicherung, den globalen Bevölkerungsverschiebungen die eigene Identität be droht" . I Sehen wir uns die entscheidende letzte Strophe dieses Liedes an ! 365
Nunc iam cessit pontus et omnes leges: non Palladia compacta manu regum referens inclita remos quaeritur Argo quaelibet altum cumba pererrat; pati tur
terminus omnis motus et urbes
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m uros terra posuere nova; nil qua fuerat sede re li quit pervius orbis: Indus ge l idum potat Araxen, Albin Persae Rhenumque bibunt - venient annis saecula seri s, qu i bus Oceanus vincula rerum laxet et i ngens pateat tell us Tethy sque novos detegat orbes nec sit terris ultima Thule ?
See / schon jeglich Gebot: nicht der Argo / der berühmten, gefügt von Pallas' Hand, / di e die Ruder heim von Kön i gen trug, / es durchsteuert schon jeder Nachen die Flut. / Kein Markstein verbleibt. In Neuland verlegt / nun manch eine Stadt ihrer Mauern Rin g . / Ni chts lässt, wo es war, d i e erschlossene Welt. / Das e i si ge Nass des Araxes [ F l uss in Arm enienl schl Üfft / der Inder, es trinkt der Perser bereits / aus Eibe und Rhein. Es wird kommen die Zeit, / wenn die Jahre vergehn, wo de s Oceans Strom / den Erdenring sprengt und ein rie si ges Land / sich weithin erstreckt, wo Tethl. s ent hüllt, / was an Räumen sie barg - das Ende der Welt / i st Thule nicht mehr. ] [überwunde n nunmehr erduldet die bedarfs,
Bruno W. Häuptli in: Seneca, Medea, Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übers. von dems., Stuttgart 1 993, S . 1 1 4 . Seneca, M edea , Vers 364-379, hrsg. von Häuptli, S. 34/3 6 (lateinisch). Seneca, M edea, Vers 3 64-379, hrsg. vo n Häuptli, S. 3 5/37 (de utsch ) .
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Die vorgetragenen Verse sind angefüllt mit antiker Topik: Thule, eine Insel im äußersten Norden (womöglich auch Nordwesten), die der Grieche Pytheas von Marseille im 4. Jahrhundert vor Christus bereist haben will, über die unter anderem Strabo, Tacitus (im Agricola, nicht aber in der Germania) und Plinius der Ä ltere berichten,4 gilt als ein klar definierter Rand, ein Ende der Welt: finis terrae, wie man ab dem Mittelalter sagen wird. Die Pointe des Chorlieds besteht aus unserer S icht darin, dass die ultima Thule ihr Epitheton nicht für immer wird behalten können; dass sie nicht dazu bestimmt ist, für immer der äußerste Rand der Erde zu bleiben. Dereinst wird die Meeresgöttin Tethys im Oceanus neue Welten eröffuen, so dass das ferne Thule nicht mehr an der Peripherie, sondern innerhalb der bewohnten und von Schiffen befahrenen Welt, innerhalb der OiKOUlJ.iv1l ytl , zu liegen kommen wird. Das Fremde, Unheimliche wird zu etwas Bekanntem, Heimeligem werden. Mit einer solchen Umkehrbarkeit der gängigen geographischen Schemata rechnet im Üb rigen auch der fast zeit genössische Plinius der Ä ltere, wenn er in seinen Ausführungen über die Küsten im Norden und die Insel Scandia gleichfalls die Existenz eines alter orbis terrarum, eines neuen Erdkreises, behauptet, der sich von dort aus den See fahrern erschließe. 5 Was immer mit der vorgeblichen Insel Scandia (nach anderen Lesarten auch Scatinavia oder gar Scandinavia) näherhin gemeint sein mag, ob Seeland oder Schonen : Es fällt schwer, in dieser 'Neuen Welt' nicht die Inselwelt und die Gestade der Ostsee erkennen zu wollen. Und in einer ähnlich aneignenden Lesweise meinte Ferdinand, der Sohn des Admirals Christoph Columbus, in Senecas Medea sei von einem antiken Autor bereits die Inbesitz nahme der Westindischen Inseln durch seinen Vater prophezeit worden. 6 4
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Vgl. Strabo, Geograph i c a 11,4, 1 C 1 04; IV,5,5 C 20 1 ; parall. 1,4,2-4 C 63-64; Tacitus, Agricola 1 0,4; Plinius maior, Naturalis historia 11,75,77,1 86; IV, 1 6,30, 1 04 und öfters. So heißt es etwa bei Plinius unter Verwendung desselben Epitheton wie bei Seneca: "Ultima o mnium [seil . insularum] quae memorantur Tyle [sie] . " (Naturalis historia IV, 1 6,30, 1 04.) "Incipit deinde clarior aperiri fama ab gente I nguaeonum quae est prima in Germania. mo n s Saevo ibi, inmensus nec R i paei s iugis minor, inmanem atl Cimbrorum usque pro muntorium effi cit sinum, qui Codanus vocatur, refertus insulis, quarum clarissima est Scatinavia, incompertae m agn itudini s, porti o nem tantum eius, quod notum sit, HiIlevionum gente quingentis incolente pagis: quare alterum orbem terrarum eam appellant. nec minor est opinione Aeninga." (Plinius, Naturalis historia IV,96, hrsg. von Carolus Mayhoff [ 1 906], Bde. I-VI, Stuttgart 1 98 5 , Bd. I). - 'Sodann g ibt es verlässlichere Nachricht ab dem Land der Inguaeo nen, dem ersten Stamm auf dem Gebiet Germaniens. Dort liegt das Saevo-Gebirge; es ist von riesigen Ausmaßen, nicht et wa kleiner als das Rhipaeus-Gebirge (in Scythien) und bildet b i s hin zum Cimbrischen V orgebirge einen riesigen Golf. Dieser wi rd Codanus genannt und ist von Inseln übersät, deren berühmteste Scatinavia ist. Sie ist von unbekannter Größe; das Volk der H i ll evi o nen jedenfalls bewohnt, soweit bekannt, mit seinen fünfhundert Ansiedlunge n nur einen Teil davon. Darum nennt man diese Ins el einen neuen Erdkreis, und nach üblicher Meinung ist auch Aeninga ke i n eswegs kleiner.' Beleg wiederum bei Häuptli, in: Seneca, Medea, hrsg. von dem s , S. 1 1 4. ,
.
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1 75
Festzuhalten bleibt, dass die antiken Dokumente, die auf ihre je spezifische Weise Gründungsurkunden einer Geographie, aber auch einer Imagologie (oder besser vielleicht: einer Ikonologie) des Nordens sind, die Wandelbarkeit der eigenen topographischen Ordnungskonzepte mit zu bedenken, ja geradewegs vorauszusetzen scheinen. Eine topographische Ordnung, die vom Verlauf der Zeit und der Geschichte, die von Transportmitteln, Wegen, Reise- oder auch Seerouten abhängig ist, darf als ein Produkt der Kultur angesehen werden. Worum es uns im Folgenden gehen soll, ist darum eine Topographie der Kultur und wir werden zu fragen haben, inwiefern 'Bilder vom Norden', inwiefern ein den Norden erst bildendes und abbildendes Vermögen der menschlichen Einbildungskraft einen Platz in einer Topographie der Kultur erhalten kann, inwiefern also imaginatio borealis und kulturelle Topographie miteinander in Verbindung zu bringen sind. Im Einzelnen bedeutet dies, dass wir uns dem Thema mit Hilfe einer Reihe von Theoriestücken in drei Reflexionsschritten nähern werden :
-
1 . das Verhältnis von Raum und Kultur, 2. das Verhältnis von Imagination und Kultur, 3 . das Verhältnis von Imagination und Raum. 1.
Raum und Kultur: Chronotopos, Heterotopie, Parcours
Die kulturanthropologischen Arbeiten von Clifford Geertz haben den Zu sammenhang von Text und kulturellen Praktiken in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. So schreibt Geertz in seinem bekannten Essay über den bali nesischen Hahnenkampf: "that cultural forms can be treated as texts, as ima ginative works buiIt out of social materials " . ' Nun ist freilich die behauptete Homologie von kulturellen Formen oder Praktiken einerseits, von imaginativen - das heißt: literarischen, fiktionalen - Texten andererseits eine überaus folgen reiche Hypothese. Der New Historicism mit Stephen Greenblatt an der Spitze hat Geertz' Theorie übernommen und in seinen Interpretationen anzuwenden versucht, insbesondere in Bezug auf das Werk Shakespeares und anderer Autoren der englischen Renaissance. 8 Wenn auch die Inbezugsetzung außer literarischer Diskurse zu den literarischen Formationen in den Anwendungs beispielen des New Historicism ohne große Probleme vonstatten geht, so ist gleichwohl festzustellen, dass dessen Vertreter gegenüber der Spezifik lite7
Clifford Geertz, Deep Pl ay Notes on the Balinese Cockfight ( 1 972), in: The Interpretation of Culture. Selected Essays ( 1 973), New York 1 993, S. 4 1 2-453, hier: S. 449. 8 Vgl. Stephen J. Greenblatt, Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare, Chi cago/Lo ndon 1 980; ders., Towards a Poetics of Culture ( 1 987), in: Learning to Curse. Essays in Early Modem Culture, New Y orklLondon 1 990, S. 1 46- 1 60; de rs ., Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1 988. .
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rarischer Texte oftmals eine gewisse Indolenz aufweisen . Dies könnte im Übrigen auch ein Grund dafiir sein, warum sich neohistoristische Ansätze nur schwer mit dekonstruktiven Lesarten versöhnen lassen, welch letztere stärker auf die Sprachlichkeit und Poetizität der Texte achten. Will man tatsächlich die Anregungen aus der Kulturanthropologie aufgreifen und einen Brückenschlag zwischen einer Beschreibung der Kultur und einer Beschreibung des poetischen Textes vornehmen, müsste man meines Erachtens versuchen, pertinente Text-Theorien auf die Analyse einer Kultur zu übertragen. Eine erste Möglichkeit sehe ich hierbei in einem Rekurs auf die schon klassische Darstellung des estnischen Semiotikers Jurij M. Lotman über Die Struktur literarischer Texte aus dem Jahre 1 970 - und zwar gerade deswegen, weil Lotman Texte in Abhängigkeit von der Kultur beschreibt, so dass es um so ein facher sein dürfte, seine Text-Theorien wiederum auf die Text-externe Kultur zurückzuübertragen. Wesentlich für Lotmans Argumentation sind zunächst einmal die Begriffe des Modells und des S y stems. So heißt es bei ihm: "Die Literatur spricht in einer besonderen Sprache , die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird. Deshalb definiert man die Literatur als sekundäres modellbildendes System. ,, 9 Welche Besonderheit hat dann aber die Literatur als ein sekundäres model/bildendes System? In ihrer Eigenschaft als Kunstwerk bildet die Literatur die unbegrenzte Weite der äußeren Welt auf den begrenzten Raum des eigenen Textes ab. Grundlage hierfiir ist bei Lotman eine an phäno menologischen Überlegungen ausgerichtete anthropologische Prämisse : Die menschliche Geistestätigkeit tendiert von sich aus dazu, abstrakte Merkmale in räumliche Vorstellungsbilder zu übersetzen. Räumliche Konkretion findet sich damit auch in der Literatur: In fo lgede ss en wird die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt und die interne SyntagIWtik der Elemente IO innerhalb des Textes zur Sprache der räumlichen MOdellierung.
Die " Sprache der räumlichen Modellierung" übersetzt demnach beständig Begriffe, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumliche Relationen und konstruiert auf dieser Basis spezifische Kulturmodelle: Bereits auf der Ebene der supratextuellen, rein ideologischen Modellbildung erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundle genden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit. Die Begriffe "hoch/niedrig", "rechts/links", "nah/fern", "offen/geschlossen", "abgegrenzt/nicht abgegrenzt" , "diskret lununter brochen" erwei sen sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit 9
10
Jurij Michailovil! Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München 1 972, S. 39. [Russisch: Struktura chudozestvennogo teksta, Moskva 1 970.] Lotman, Struktur literarischer Texte (wie Anm. 9), S. 3 1 2.
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keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten die Bedeutung "wertvoll/wertlos", "gut/schlecht", " f genlfremd", "zugänglich/unzugänglich", "sterblich/unsterblich" und dergleichen.
j
Mit seinen Üb erlegungen redet Lotman keinem pauschalen Universalismus das Wort. Denn er stellt ausdrücklich fest: Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisations prinzip für den Aufbau eines "Weltbildes" - eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist. Vor dem Hintergrund solcher Strukturen gewinnen dann auch die speziellen von diesem oder jenem Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle ihre Be 12 deutsamkeit.
Selbstverständlich stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Kulturtyp und literarischem Raummodell näherhin beschaffen ist - ob es etwa nach Art einer Widerspiegelung (durchaus im orthodox marxistischen Sinn) oder aber im Sinne einer kontrafaktischen, kritischen, gar phantastischen Deformation zu denken ist. Erheblich wichtiger aber als diese durchaus zu diskutierenden Einzelfragen scheint mir angesichts der kulturanthropologischen Wende in den Literatur- und Medienwissenschaften ein ganz anderer Gesichtspunkt zu sein: Indem Lotman den literarischen Text sowohl als Raummodell wie auch als Kulturmodell be greift, verschränkt er gewissermaßen den Raum- mit dem Kulturbegriff - und er suggeriert zugleich, dass nicht nur Texte eine räumliche Ordnung modellhaft aktualisieren, sondern dass überhaupt die unterschiedlichen Kulturtypen durch je spezifische räumliche Ordnungen charakterisiert sind. Nicht nur Texte, sondern auch Kulturen sind offenkundig Raummodelle und von daher ist es eigentlich folgerichtig, dass man auch Text-externe kulturelle Phänomene mit Hilfe jener Text-Theorien beschreiben kann, die den Text als Raummodell verstehen. Kul turwissenschaft wird so verstanden zur Topographie und wir können in diesem Zusammenhang einen Gedankengang des New Historicism aufnehmen und weiterentwickeln. Louis A. Montrose und andere haben darauf hingewiesen, dass es neben der Geschichtlichkeit eines Textes immer auch die Textualität der Geschichte gibt, das heißt: Geschichte ist Produkt oder Effekt einer Text gestalt. 13 Entsprechendes müsste von Lotman her gesehen dann wohl auch für den Raum gelten. Neben der Räumlichkeit des Textes gibt es offenkundig eine Textualität des Raumes; eine bestimmte Raumordnung ist Produkt oder Effekt eines Sprachspiels. Angesichts dieser bleibenden und - gerade auch in der heutigen Debatte - immer noch aktuellen Leistung Lotmans scheint mir ein
IJ 12 13
Ebd., S. 3 1 3. Ebd., S. 3 1 3 . Louis A . Montrose, Professing the Renaissance. The Poetics and Politics o f Culture, in: The New Historicism, hrsg. von H. Aram Veeser, New York/London 1 989, S. 1 5-36.
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anderer Streitpunkt in den Hintergrund treten zu dürfen, nämlich die Über legung, wie genau ein solches Raummodell strukturiert ist. Lotmans eigener Entwurf geht bekanntlich von einer binären Topographie aus, von oppositiv geordneten semantischen Feldern, die durch eine prinzipiell unüberschreitbare Grenze getrennt sind, welche gleichwohl im sujethaften Text vom Helden überschritten wird. Eine solche Topographie klingt durchaus plau sibel und sie hat sich ja auch forschungsgeschichtlich seit den frühen 1 970er Jahren in zahllosen Interpretationen bewährt. Gleichwohl spricht vieles dafür, dass mit Lotmans Raumkonzept nur ein Teil der beobachtbaren Phänomene zu erfassen ist. Eine Konsequenz könnte darin bestehen, Lotmans Raumkonzept immer weiter zu verfeinern, bis es irgendwann einmal doch der Vielzahl der Phänomene gerecht wird. Ich persönlich bezweifle allerdings aus prinzipiellen Gründen, dass dies gelingen wird. Stattdessen möchte ich heute drei zusätzliche Entwürfe skizzieren, die wir bislang in unserem Kolleg noch nicht eingehend diskutiert haben und die mir weniger eine Ausarbeitung denn eine Alternative zu Lotmans Raumkonzeption zu sein scheinen, was natürlich nicht ausschließt, dass sie sich bei der konkreten Analyse miteinander verbinden lassen. Die theo retischen Kontrast-Entwürfe stammen - in der Reihenfolge ihres Erscheinens von Michail Bachtin, Michel Foucault und Michel de Certeau (zufallig haben also alle drei Autoren denselben Erzengel zum Namenspatron wie Jurij Lotmans Vater auch).
Chronotopos In einer Monographie, die in den Jahren 1 937/3 8 entstand und 1 973 um eine Schlussbemerkung ergänzt wurde, widmet sich Michail Bachtin den Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Bachtin beruft sich auf Anregungen aus der Relativitätstheorie, die ja in der früheren Sowjetunion lange Zeit geächtet war; ihm geht es aber sodann darum, charakteristische Orte literarischer Werke in ihrem unaufgebbaren Zusammenhang mit einer bestinunten . Zeit zu sehen. Er schreibt: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen woUen wir als Chronotopos ("Raumzeit" müsste die wörtliche Ü bersetzung lauten) bezeichnen. [ . ] Für uns ist wichtig, dass sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur (den Chronotopos in anderen Bereichen der Kultur werden wir hier nicht behandeln). ..
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1 79
Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusamm en und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfilllt und dimensioniert. Diese Ü ber schneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charak 14 teristisch filr den künstlerischen Chronotopos.
Bachtin beschreibt in seiner Abhandlung eine ganze Reihe von Chronotopoi, etwa den Weg, der im antiken Abenteuerroman eine bedeutsame Rolle spielt, dann auch das Schloss der englischen Golhic Novel, den Empfangssalon der Romane Balzacs, das Provinzstädtchen bei Flaubert und last but not least die Schwelle, das Treppenhaus oder den Korridor bei Dostoj evskij . Wir erkennen somit, dass es neben punktuellen, klar begrenzten Chronotopoi auch sehr viel weitläufigere Manifestationen geben kann wie im Fall des Provinzstädtchens oder gar des Reisewegs, der beispielsweise im Goldenen Esel des Apuleius von Hypata in Thessalien bis nach Korinth, in anderen antiken Liebes- und Abenteuerromanen gar durch mehrere Provinzen und Länder führen kann. Folgerichtig wurde j üngst erst vorgeschlagen, das Paris des 1 9. Jahrhunderts ebenfalls als einen umfassenden Chronotopos zu lesen. 15 Wie aber wäre es, wenn man raumzeitliche Manifestationen des Nordens wie das Land der Hyper boreer; die Germania des Tacitus; die Einfallsgebiete der 'Nordmänner' im Northumbria des frühen Mittelalters; das Schweden unter Gustav Adolf mitsamt den skandinavischen Bilderwelten, die den Norden als eine 'andere Antike' aus zustellen suchen; das Deutschland der Jahrzehnte um 1 800 oder auch die skan dinavischen Territorien des 1 9. Jahrhunderts als ebenSOV Iele Chronotopoi verstünde, in denen ein Territorium zu einer unverwechselbaren Zeit konkrete Gestalt gewinnt?
Heterotopie Während Bachtin die Kategorie des Chronotopos einfUhrt, prägte Michel Foucault in den 1 960er Jahren den Begriff der Heterotopie. Der Terminus fällt erstmals, soweit ich sehe, im Vorwort zu Les Mols et [es Choses ('Die Ordnung der Dinge') von 1 963, wo Foucault auf die Eintragungen einer chinesischen Enzyklopädie zu sprechen kommt, die Jorge Luis Borges in einem seiner Essays zitiert hat, wo der Begriff allerdings im Horizont der rhetorischen Topik ver-
14 Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen IS
zur historischen Poetik, übers. von Michael Dewey ( 1 986), Frankfurt a. M. 1 989, S. 7 f. [Russisch: Voprosy literatury i estetiki. Issledovanija raznych let, 1 937-38/1 973, Moskva 1 975.] Rainer Warning, Der Chronotopos Paris bei den 'Realisten', in: Die Phantasie der Rea listen, München 1 999, S. 269-3 1 1 .
1 80
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standen ist ! 6 Vor allem aber wird der Heterotopie-Begriff 1 967 bei einem Vor trag vor Architekten erläutert und nun dezidiert auf die Probleme der Raum struktur bezogen. l ? Die Heterotopie fungiert bei Foucault als materialistischer Gegenbegriff zur rationalistischen Utopie - und sie ist vor allem eine Signatur der sich entfaltenden Modeme. Die traditionale Gesellschaft des Mittelalters, so Foucault, definiert ihren Raum über Gegensätze wie sakral/profan, geschützt/ungeschützt, städtisch/ländlich, himmlisch/irdisch. Auch in einer solch traditionalen Ordnung gibt es Heterotopien; in ihnen vollziehen sich die Wende punkte des Lebens, die rites de passage, sie haben demnach eine offen oder versteckt sakrale Funktion und stehen mit dem Heiligen oder Himmlischen in Verbindung. Nach der Copernicanischen Wende jedoch wird der Raum im Abendland profaniert und homogenisiert; er charakterisiert sich nurmehr durch seine etendue, seine 'Ausdehnung'. Die Aneignung, Gestaltung und Organisation des Raums hat von nun an durch planerische, gleichsam urbanistische emplace ments, durch 'Anlagen' zu erfolgen. Die ausgedehnte Fläche mit ihren einzelnen 'Anlagen' bildet einen homogenen Raum, eine Homotopie. Foucault selbst inter essiert sich in seinem Artikel freilich nicht für die gleichförmige Ordnung des Raums, sondern gerade umgekehrt für spezifische contre-emplacements, fiir 'Gegen-Anlagen', welche die homogene Struktur dieses Raums unterbrechen und 18 verkehren. Im Gegensatz zu den vormodernen Ordnungen, die sich letztlich immer über eine Opposition von drinnen vs. draußen artikulieren, situieren sich die charak teristischen Heterotopien der Modeme gerade nicht mehr draußen, sondern drinnen. Aber in dieser Funktion sind die Heterotopien dennoch - so verstehe ich Foucault - gleichsam Statthalterinnen des Draußen; sie erhalten den Charakter von Enklaven, von Einschlüssen, die zur umgebenden Ordnung des homotopen Raums quer stehen und in denen sich manifestiert, was letztlich das Andere der Gesellschaft ist und was in früheren Zeiten ihr Draußen gewesen wäre. Die Heterotopien sind demnach gewissermaßen ein Supplement zu einer archaischen Wildnis, die von der homogenen Ausdehnung des modemen Raums immer weiter an den Rand gedrängt wurde - bis hin zu dem Punkt, wo sie mög licherweise in ihrer Existenz bedroht ist. Zu diskutieren bliebe die Frage, ob sich in der Heterotopie das Phänomen einer systemtheoretisch zu fassenden re-entry 16 17
18
Michel Foucault, Les Mots et les Choses. Une archeologie des sciences humaines, Paris 1 963, S. 9 f. Michel Foucault, Espaces autres ( 1 967 als Vortrag, publ. 1 984), in: Dits et ecrits, hrsg. vo n Daniel Defert und Fran�ois Ewald, 4 Bde . , Paris 1 994, Bd. IV, § 360. [Deutsch: Andere Räume, übers. von Walter Seitter, 1 987, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ä sthetik, hrsg. von Karlheinz Barck und anderen ( 1 990), 6. durchgesehene Aufl., Leipzig 1 998, S. 34-46.] Seitter verwendet in der genannten Ü bersetzung die Ausdrücke 'Plazierung' und 'Gegen plazierung', was zwar die Lokalisierung im Raum, nicht aber den raumplanerischen und damit polizeilich-politischen Zugriff des Unterfangens bezeichnet.
Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur manifestiert: Konstituiert sich das System i n
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D iffe renz z u
sein er Umwelt, so 19 - und
kehrt di ese Unterschei du ng bekanntlich innerhalb des Systems wieder
entsprechend
gilt: Ist
die Ordnung
durch den Ausschluss des Verfemten konsti
dieses Verfemte in Gestalt der Heterotopie wieder, um sich vom homotopen Raum abzugrenzen.
tuiert worden, so kehrt innerhalb der Ordnung
Foucault unterscheidet prakti sch zwei Arten von modernen Heterotopien. Die einen tragen ganz offensichtlich Anstalts-Charakter: Es sind die nach der Franzö s i s chen Revolution säkularisierten Friedhöfe am Rand der Städte, Kran kenhäuser, Irrenanstalten, Gefängnisse, Kase rne n , Bordelle. An diese Hetero top ie n verwiesen werde n Unangepasste, Verhaltensauffällige, Deviante, al s o all jene, die s i c h dem Normalismus der modernen Gesellschaft entziehen wie beispielsweise Kranke, Irre, Kriminel le, Bewaffnete, Pro sti tu i erte und schließ lich Tote ?O Daneben gibt es Heterotopien, die vordergründig einen weniger fragwürd i gen Charakter haben; Foucault nennt ausdrücklich Gärte n , Museen, Bibliotheken, Jahrmärkte und Kolonien einschließlich der Ferienkolonien. Dennoch stellt auch diese letztgenannte Klasse von Heterotopien nicht einfach einen Macht-freien Raum dar ; eher geht es darum, dort GUter zu verwahren, Individuen einzuweisen und Bedürfuisse zu befriedigen, die zwar tendenziel l s ubvers iv s in d , aber d urch entspec hende Administration innerhalb der Anlage Ordnungs-verträglich gema cht werden sollen. Eine weitere Frage ist es dann, ob die Kontrolle, die durch Auslagerung in eine Heterotopie angestrebt wird, auch in j edem Falle gelingt oder nicht. Dass die Heterotopien in den homogenen Raum eingefii gt sind, unterwirft sie einer Re g ul i erung, die es schwer macht, sie in klarer Opposition zu ihrer Umgebung zu definieren, wie es Lotman postu lieren würde (in klarer Opposition zum homogenen Raum stünde wohl nur die Utop i e, die ja gerade nicht ex i sti ert). Dass d ie Heterotopien im homogenen Raum gleichwohl F rem dkö rper sind, zeigt aber auch ihre bleibende Wider ständigkeit gegenüber der Ordn ung und dies macht es schwer, sie in Äquivalenz zur Homotopie zu definieren. H ete rotop ien bi lden mithin eine räts e l h afte Rest klasse von Räumen, die weder in einer klaren Oppositions- noch auch in einer Äquivalenzbeziehung zum normalisierten, homotopen Raum zu stehen sche inen . Was die Nördli c hkeits -Themati k betrifft, so liegt es auf der Hand, dass Kul turen, die sich selbst im P ri nzi p als nicht nördlich definieren, gleichwohl ver19
20
Albert Meier, Wir Cimmerier. Zur Logik einer Kulturdifferenz bei Goethe und einigen Zeitgenossen, in: Ortrud Gu� ahr (Hrsg.), Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspekti ve , PaderbornlMünchenlWienlZürich 2000, S. 1 27- 1 3 9. Vgl. darüber hinaus zur Kategorie der re-enlry i n systemtheoretischer S icht Christoph Reinfandt, Artikel Syslemlheorie, in: Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. von Ansgar Nünning, S tuttgart 1 998, S. 52 1 -523 . Zum Begriff des Normalismus vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird ( 1 998), 2., aktualisierte und erweiterte Aufl . , Opladen IWiesbaden 1 999. V gl .
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mittels der Heterotopien einen 'inneren Norden' konstruieren können - beinahe so wie Joseph Beuys einst seine 'innere Mongolei' kreiert hatte. Wir haben von Weltausstellungen und Völkerschauen gehört, wo der Norden und seine Bewohner Schau-Objekt außerhalb des Nordens waren; wir werden über Land schaftsgärten sprechen, die den Norden an anderem Ort nachinszenieren ? 1 All dies sind offenkundige Fälle von Heterotopie - und wie der Übergang vom ver mutlich harmlosen Landschaftsgarten zur Weltausstellung oder gar zur Völker schau beweist, können solche Inszenierungen ihrerseits schnell zu propa gandistischen Schachzügen im Spiel der Macht und im Spiel um die Macht ge raten.
Parcours Das dritte Modell einer Raumkonzeption unabhängig von Lotman, das ich heute vorstellen möchte, stammt vom französischen Jesuiten und Historiker Michel de Certeau. Certeau, der durch eine Arbeit über die Teufelsaustreibungen von Loudun im 1 7. Jahrhundert berühmt geworden war, übernahm viele Vorstel lungen von Foucault. Während freilich vor allem der frühe Foucault immer wieder die Macht der Episteme, des Diskurses und der daraus abgeleiteten Institutionen betont hat, gilt Certeaus Interesse in seinem Buch L 'Invention du quotidien von 1 980 gerade umgekehrt den konterdiskursiven Listen und tak tischen Ausweichmanövern, mit denen es den Trägem einer unbotmäßigen Alltagskultur gelingen kann, sich gegen die Strategien der Machtapparate zu wehren. In diesem Zusammenhang spielt die Aneignung des Raumes, zumal des städtischen, für ihn eine herausragende Rolle. Certeau unterscheidet aus diesem Grund die Kategorien von lieu ('Ort') und espace ('Raum'). Au depart entre espace et lieu, je pose une d istinet ion qui delimitera un ehamp Est un [jeu l'ordre (quel qu'il soi t) selon lequel des elements sont distribues dans des rapports de eoexistenee. S'y trouve done exelue la po ss i b iJi te pour de ux eho ses, d'etre a l a meme p laee La loi du propre y regne : les el ements eonsideres sont les uns ä. eöte des autres, ehacun situe en un endroit "propre'' et d isti net qu'il definit. Un lieu est done une eon fi guration instantanee de posi tions Il i mp l i que une i ndic at i on de stabilite. II y a espaee des qu'on prend en eonsideration des vecteurs de direction, des quantites de vitesse et la variable de temps. L'espace est un croisement de mobiles. Il est en quelque sorte anime par I'ensemble des mouvements qui s'y deploient. Est espaee l'effet produi t par les operations qui l'orientent, le eireonstancient, le tempora li sent et I ame n ent a fonetionner en unite polyval ente .
,
.
"
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'
21
Vgl. den Beitrag von Silke Göttsch-Elten in diesem Band. Siehe früher schon Adrian von Buttlar, Das "Nationale" als Thema der Gartenkunst des 1 8. und 1 9. Jahrhunderts, i n : Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt "Natur im Kopf' ( Stuttgart, 2 1 .-26. Juni 1 993), hrsg. vom Kulturamt der Landes hauptstadt Stuttgart, Frommann-Holzbog.
Imaginatio boreali s in e iner Topograp hi e der Kultur
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de programmes conflictuels ou de p rox i m ite contractuelles. L'espace se rait au Iieu ce que devient le mot quand il est parle, c'est-a-dire quand il e st saisi dans I'ambigune d'une effectuati o n , mue en un te nne re levant de multiples conventions, pose comme l'acte d'un present (ou d' un temps) , et modifie par les transfonnati ons due s a des voisinages successifs. A la di fference du Heu , il n'a donc ni l'univocite ni la stab il ite d'un " propre " . E n somme, l 'espace est un Heu prati q ue . Ainsi la ru e geometriquement definie par un urbanisme est transfonnee en espace par des marcheurs. De meme, la lecture est l'espace produit par la pratique du Heu que constitue un systeme des signes un ecrit.
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[Zu Anfang setze ich zwischen Raum und Ort eine U nters c he idu ng, die ein en Gegenstandsbereich begren zen wird. Es sei ein Ort die Ordnung (welcher Art auch im mer), der zufolge Elemente einander in Verhältnissen der Koexistenz zugeord net sind. Somit ist fllr zwei Gegenstände die Mö gl ichkeit ausgeschlossen, sich an ein und demselben Platz zu be fi nd en . Es herrscht dort da s Gesetz des "Eigentlichen" ; die betrachteten Elemente befinden sich j eweils nebeneinander; jedes an einer eigentlichen und unterschiedenen Stelle, di e es definiert. Ein Ort ist demnach eine Konfiguration zu einem be st immten Augenbli ck. Er be i nhaltet das Merkmal der Stabilität. Es entsteht ein Raum, sobald man Richtungsvektoren, Ge schwi nd i gkeits größe n und die Variable der Zeit hinzunimmt. Der Raum ist eine Kreuzung von beweg lichen Elementen. Er wird in gewiss er Weise durch die Menge der Be wegungen beseelt, die dort zum Austrag kommen. Es se i Raum der Effekt der Operat i onen , die ihm eine Orienti erung ge ben, ihn in ein Netz von Umständen einbinden, ihn verzei t l ichen und es ihm ge statten , als v i e l we rt ige Einheit von konflig ierenden Programmen und vertraglich vereinbarten Verflechtungen zu fungi e ren. Der Raum verhält sich zum Ort wie das Wort zu dem , was tatsächl i ch gesprochen wird; das heißt: wenn es in der Zweideut i gkeit eines V o llzugs ver standen wird; wenn es sich zu einem bedeutungsentscheidenden Ausdruck mann i gfaltiger Vereinbarungen w andelt ; wenn es als Akt gebraucht wird, der eine Gegenwart (oder eine Zeit) begründet; wenn es durch Veränderungen umgestal tet wird, die sich aus seinen aufeinander folgenden Nachbarschaften ergeben. Im Untersch i ed zum Ort, zei chn et sich der Raum also weder durch Eindeutigkeit noch durch die S tabilität des " E igentli chen " aus . Zusammengefasst: Der Raum ist ein Ort, der Gegen stand einer Praxis geworden ist. Ebenso wird di e Straße, d ie von Stadtplanem nach geometrischen Linien bestimmt wurde , von den Gehenden in einen Raum verwandelt. Auf gleiche Weise ist die Lektüre der Raum, der aus der prakti schen Begegnung mit einem Ort entsteh t, der von einem Zeic hen system gebildet wird - nämlich von einem Schriftstück. ]23
22 M i che l de Certeau, L'Invention du q uo ti di en . Arts de faire, Paris 1 980, S. 208. [Deutsch : 23
Kunst des Handeins, übers. von Ronald Vouille, Berlin 1 988.] Michel de Certeau, L'Invention du quotidi en, S. 208, eigene Übersetzung. Vgl. auch die angege bene Ü bersetzung von Voui l l e , S. 2 1 7 f., die mir an ein igen Ste l l en ungenau erscheint.
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Sowohl für den statischen Ort als auch für den dynamischen Raum gibt e s Certeau zufolge privilegierte Darstellungsweisen, wobei er sich auf eine Unter suchung von Charlotte Linde und William Labov aus der pragmatischen Sprachwissens c haft beruft. 24 Der Ort kann auf einer Karte ( engli s ch : map, französisch: carte) repräsentiert werden, der Raum erschließt sich dagegen erst in der Beschreibung einer Strecke oder eines Weges (englisch : tour, französisch : parcours). Einer Karte entspricht der Bericht : "Neben der Küche befindet sich das Kinderzimmer" ; einem Parcours hingegen die Anweisung: "Du biegst nach rec hts um die Ecke und dann trittst du ins Wohnzimmer." Ein Parcours definiert weniger einen Raum, als dass er erläutert, wie man sich darin bewegen, wie man ihn sich erschließen kann. Der Parcours ist sozusagen eine Gebrauchs anweisung, die auf die räumlich abstrakte Ordnung nur mittelbar Bezug nimmt und stattdessen den Benutzer und seine konkreten Bedürfnisse im S inn hat. Überhaupt sagt Certeau, dass eine kartographische Ordnung des Raums in der Regel das Ergebnis eines konkreten Parcours und nicht etwa dessen Voraus setzung i st. Der Verweis auf die Sprache bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Certeau die Opposition von Ort und Raum in Homologie zu Saussures Dicho tomie von langue und parole und darüber hinaus in Homologie zum Unterschied zwischen kontextfreier Semantik und kontextualisierter Pragmatik, zwischen logischem (eigentlichem) und rhetorischem (übertragenem) Sprec hen sieht. Zentral ist bei Certeau (wie auch schon beim späten Wittgenstein) die Kategorie des Gebrauchs, von dem her bei Wittgenstein das jeweilige Sprachspiel, bei Certeau der Raum seine spezifische Kontur gewinnt. Darum auch privilegiert Certeau gegenüber der abstrakt bleibenden Definition eines Ortes die konkret anschauliche Narration, die von der Durchquerung eines Raums berichtet. Obwohl Certeau sich ausdrücklich auf Arbeiten Lotmans beruft, zeigt sich, dass er dessen methodische Bli c kri chtung de facto umkehrt. Die Grenzüberschreitung von Lotmans Helden erfolgt auf der Basis einer kartographisch fixierten Ord nung, die dieser Grenzüberschreitung je schon vorausliegt. Bei Certeau kann eine karthographisch fixierte Ordnung des Raums erst nachträglich konstruiert werden, nachdem der Reisende in seinem Parcours den Raum schon durchquert und verändert hat. Insofern trägt in Gegenüberstellung zu Lotmans beinahe klassischem Struktural ismus Certeaus Modell deutlich postmoderne Züge. Weiterhin schreiben bei Certeau die Vektoren des Parcours dem Raum eine spezifisc he Ausrichtung ein. Auf Grund der besonderen Art, wie sich die Rei senden im Raum bewegen , erhält dieser Raum eine Orientierung, ihm wächst eine Art von Gravitationszentrum zu, auf das hin die einzelnen Bewegunge n im Raum zusteuern oder dem sie in einem zentrifugalen Impuls gerade umgekehrt 24
Charlotte Linde/William Labov, Spatial Networks Thought, in: Language 5 1 ( 1 975), S. 924-939.
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and
Imaginatio borealis in einer Topograph i e der Kultur
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zu entkommen trachten. Es liegt nahe, sowohl mythische als auch historische Berichte von Reisen nach dem Norden und aus dem Norden als solche Parcours im Sinn von Certeau zu lesen; ihnen nicht eine immer schon voraufliegende Ordnung zu unterstellen, sondern die nachträgliche und stets reversible Kon struktion dieser Ordnung aus dem Verlauf des Weges durch den Raum zu be obachten. Es liegt weiterhin nahe, mit einer Umpolung des räumlichen Koor dinatensystems zu rechnen, sobald sich die Richtung der maßgebl ichen Wege im Raum ändert. Fernand Braudei hat diesen Prozess exemplarisch an Hand der allmählichen Veränderungen beschrieben, die dazu geführt haben, dass sich ab dem 1 7. und 1 8. Jahrhundert das Gravitationszentrum der Handels-Schiff-Fahrt vom mediterranen Süden weg zum atlantischen Norden hin verlagert hat. 25 Diese Verlagerung praeludiert den kulturtypologischen Verwerfungen von Süden und Norden, die dann das 1 8. und 1 9. Jahrhundert kennzeichnen werden und auf die jetzt ausführlicher einzugehen ist. 2.
Imagination und Kultur: Der imaginäre Raum
Die imaginatio, griechisch als !plXvtlXoilX bezeichnet, das heißt: die Ein bildungskraft, gilt in der abendländischen Philosophie lange Zeit als unsichere Kantonistin unter den sogenannten Seelenvermögen des Menschen. In der aristotelisch-scholastischen Tradition ist die menschliche Seele aus drei Schichten aufgebaut. Die anima vegetabilis haben Pflanzen, Tiere und Menschen gemeinsam; sie umfasst die Fähigkeit sich zu nähren, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Die anima sensitiva haben Tiere und Menschen gemeinsam; sie umfasst die Fähigkeit, sich willkürlich zu bewegen und Sinneswahr nehmungen zu empfinden. Die anima rationalis schließlich ist allein dem Menschen vorbehalten; sie besteht aus den drei Vermögen des intellectus (Verstand), der memoria (Gedächtnis) und der voluntas (Willen). Bei Aristote1es liegt die !plXvtlXoilX zwischen der Sinneswahrnehmung (lXio�T]o��) und dem Denken (öuxVOUX)?6 Die !plXvtlXoilX respektive imaginatio erweist sich als die 2S
"Le proces sus qui menace la Mediterranee et qui aura finalement raison d'elle, ce n'est ri en moins que le depl acement du centre du monde, de la mer Interieure a l'ocean Atlantique. Au debut de ce processus se placent la decouverte de l'Amerique, en 1 492, et le periple du cap de Bonne-Esperance, en 1 497- 1 498." (Fernand Braudei und andere, La Mediterranee. L'Espace et l'histoire [ 1 9771 , Paris 1 985, S. 1 78 . ) - 'Der Prozess, der das Mittelmeer bedroht und der es zu guter Letzt zur Strecke bringen wird, ist nichts anderes als die Ver schiebung des Weltzentrums vom Mittelländischen Meer zum Atlantischen Ozean. Am B eginn dieses Prozesses stehen die Entde ck u ng Amerikas im Jahre 1 492 und die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung i n den Jahren 1 497 und 1 498.' 26 Grundlegend e Ausführungen zur cpav'tao(a finden sich bei Aristoteles, De anima 1Il,3, 427 a-429 a, in: Über die Seele, Griechisch und Deutsch, hrsg. und abers. von Horst SeidI, Hamburg 1 995, S . 1 52- 1 65 . Es heißt do rt : "Daß also das Wahrnehmen ['to aioMveolta\] und das Einsehen (verständiger Sinn) [tO CjlQovt:\v1 nicht dasselbe sind, ist deutlich. Am
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Fähigkeit, die Eindrücke der äußeren fünf Sinne innerlich zu verdoppeln und dem Denken weiter zu vermitteln. Die imaginatio ist somit ein notwendiges Zwischenglied zwischen anima sensitiva und anima rationa/is, denn einerseits ist sie den ausschließlich menschlichen Fähigkeiten intellectus und memoria zu geordnet und sie hat damit eine rationale Komponente, andererseits aber ist sie von den nur äußeren Sinneswahrnehmungen abhängig, auf deren Informationen sie aufbaut. Sie untersteht darum nicht in ausreichendem Maße der Kontrolle der Vernunft. Sogar manche Tierarten besitzen eine Komponente der imaginatio in ihrer anima sensitiva und so bleibt die Einbildungskraft trotz ihrer Leistungen stets auch verdächtig. Es kommt in der scholastischen Auffassung nämlich hinzu, dass die imaginatio nicht nur als ein Bild-abbildendes Vermögen auf treten kann (in der Terminologie der Schulen unterschiedslos als phantasia oder imaginatio bezeichnet), wie es sich aus der äußeren Wirklichkeit herleitet, sondern dass auf dieser Grundlage darüber hinaus laut Avicenna eine potentia imaginativa wirksam wird, die innere Bilder ausformt, für die es kein Vorbild in der äußeren Wirklichkeit gibt, beispielsweise wenn sich jemand, weil er Gold und weil er einen Berg gesehen hat, einen goldenen Berg vorstellt, den es in der Wirklichkeit nicht gibt. In einem solchen Fall gerät die potentia imaginativa zur freien Erfindung oder rar zur Sinnestäuschung und sie bleibt allein auf den Menschen beschränkt. 2 Unnötig zu sagen, dass die kreative Dimension der
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einen haben alle Lebewesen teil, am andern nur wenig. Aber auch das vernünftige Erkennen, in welchem sich das Richti ge und das N icht- Richtige findet, ist n icht dasselbe wie das Wahrnehmen. Das Ri chtige findet sich als Eins i cht , Wissenschaft und richtige Meinung, das N icht-Richti ge als das Entgegengesetzte hiervon. Die Wahrnehmung von ihren spezifischen Objekten ist nämlich immer wahr und liegt bei al l en Lebewesen vor, das Denken hingegen kann auch fehlerhaft sein und liegt nur dort vor, wo auch Verstand; denn Vorstellung [Ij)/Xv't/XoC/X] ist etwas anderes als Wahrnehmung [/XioÖTJ o��) und Denken [o\civO\/X). Und wie sie selbst nicht ohne Wahrnehmung vorkommt, so gibt es ohne Vorstellung keine Annahme [imOATJ1Jm]. Daß sie aber nicht derselbe Vernunft akt ist wie die Annahme, leuchtet ein; denn dieser Vorgang (das Vorstellen) liegt bei uns, sooft wir es wollen - denn wir können uns etwas vor Augen stellen, wie diejenigen, welche sich auf die Gedächntiskunst verlegt haben und etwas in Bildern darstellen -, das Meinen [oo�ci'e\V] hingegen liegt nicht bei uns; denn es ist entweder falsch oder wahr. Ferner, wenn wir etwas Schreckliches oder Furchtbares meinen ( vermuten) , empfinden wir dies sofort mit, ebenso wenn etwas Kühnes. Bei der Vorstellung aber verhalten wir uns ebenso, wie wenn wir auf einer Zeichnun g das Schreckliche o der Kühl).e beschauen." (De anima 111,3, 427 b, übers. von Seid!.) Vg!. S . Tho mas Aquinas, S umma theologiae, I, quaes t i o 79, articulus 4 : "Utrum interiore s sensus convenienter distinguantur. " Es heißt dort im H inblick auf die inneren S i nne : "Sed contra est quod Avicenna, in suo !ibro De anima (pag . 4 cap. 1 ), ponit quinque potentias sensitivas
interiores:
sicilicet
sensum
communem,
phantasiam,
imaginativam,
aesti
et memorativam. [ 0 0 '] S ic ergo ad receptionem formarum sens i bil i um ordinatur sensus p ropri us et communis: de quorum distinctione post d icetur. - Ad harum autem formarum retentionem aut conservationem ordinatur phantasia, sive imaginat i o , quae idem sunt: est enim phantasia sive imaginatio quasi thesaurus quid am formarum per sensum mativam,
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imaginatio im Horizont des scholastischen Denkens keineswegs als Chance, sondern umgekehrt als Gefährdung des Menschen begriffen wird. Im 1 6. Jahrhundert kommt es bei manchen Autoren zu einer Aufwertung der imaginatio, insbesondere im medizinischen Diskurs des spanischen Arztes Juan Huarte de San Juan und auch bei Sir Francis Bacon ?8 Beide reformulieren aus unterschiedlichen Gründen das scholastische Konzept der drei Vermögen der gestalt, dass neben Verstand und Gedächtnis als drittes Vermögen die Ein bildungskraft tritt, die nunmehr an der Stelle des Willens steht. Daneben gibt es aber weiterhin eine starke Fraktion der Ablehnung der imaginatio, die konsequent in den Cartesianismus mündet und ihren Höhepunkt in Frankreich bei Malebranche findet, der in seinem Traktat De La recherche de La verite von 1 674 das berühmte Dictum formulieren kann: "L'imagination est la folle du logis." - [Die Einbildungskraft ist die Närrin des Hauses. f9
Eine Aufwertung der Imagination erfolgt dann zweifellos im 1 8. Jahrhundert - natürlich in Folge des Paradigmenwechsels vom Rationalismus zum Sensua lismus, der sich von England aus durchsetzt; andererseits aber wohl auch, weil paradoxerweise die unmittelbare physiologische Grundlage der imaginatio, ihre Abhängigkeit von den äußeren Sinneswahrnehmungen, zunehmend vergessen und stattdessen auf klimatische Einflüsse zurückgeftihrt wird. Dies ist deutlich bei Montesquieu der Fal l : Im Zusammenhang der Klimatheorie, die er 1 748 in De I'esprit des lois entwickelt, behauptet Montesquieu, die Menschen des warmen Südens seien stärker mit Empfindsamkeit und Imagination begabt als im Norden, da die herrschende Wärme die Nervenbahnen stimuliere und
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acceptarum. [ ... ] Avicenna vero ponit quintam potentiam, mediam inter aestimativam et imaginativam, quae componit et dividit formas imaginatas; ut patet cum ex forma imaginata auri et forma imaginata montis componimus unam formam montis aurei, quem nunquam vidimus. Sed ista operatio non apparet in aliis animalibus ab homine, in quo ad hoc sufficit virtus imaginativa. Cui etiam hanc actionem attribuit Averroes, in Iibro quodam quem fecit De sensu et sensibilibus (cap. 8)". Zur Legitimation der Imagination im Zeitalter der Renaissance vgl. Juan Huarte de San Juan, Examen de ingenios para las ciencias ( 1 575), hrsg. von Guillermo Seres, Madrid 1 989 (Cätedra). [Deutsch: Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, übers. von Gotthold Ephraim Lessing, Zerbst 1 752.] Vgl. weiterhin Karlheinz Barck, Das 'Thea ter der Imagination' und der 'Palast der Philosophie'. Francis Bacons Artikulation von Poe sie und Imagination, in: Ders., Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexions geschichte zwischen Aufklärung und Modeme, StuttgartlWeimar 1 993, S . 1 4-24. Zur bislang unterschätzten Bedeutung der Imagination im Denken Montaignes vgl. Karin Westerwelle, Montaigne, die Imagination und die Kunst, Habilitationsschrift an der Philo sophischen Fakultät der Universität Düsseldorf, Wintersemester 1 99912000. Nicolas Malebranche, De la recherche de la verite ( 1 674), hrsg. von Genevieve Rodis Lewis, Paris 1 962. Das zweite Buch ist ausdrücklich De l 'imagination untertitelt und arbeitet sorgfliltig die Affinität von Einbildung (imagination) und Wahnsinn (folie) heraus. Vgl . daneben wiederum Barck, 'Taumel der Imagination' und 'Gift des Intellekts'. Nicolas MaIebranches 'Pathologie der Imagination', in: Poesie und Imagination, S. 25-3 5 .
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schneller reagieren lasse. 3o Eine imaginatio borealis, eine nördliche Einbildungskraft, das wäre für Montesquieu praktisch noch eine contradictio in adiecto gewesen, da die Imagination aus seiner Sicht (wie später auch bei Stendhal) per definitionem im Süden aufzusuchen war. Wohl aber weiß Montesquieu von einer merkwürdigen Krankheit zu berichten, welche auf Grund der klimatischen Verhältnisse die Menschen im feuchten England erfasse und scharenweise in den Selbstmord treibe. Die bei Montesquieu geschi lderte maladie anglaise ist im Prinzip eine Spiel art der Melancholie, verstanden als ein pathologisch ausgelöstes taedium vitae. Wenn man die 'englische Krankheit' darum mit einem ganz anders gearteten Melancholiekonzept zusammenzwingt, demzufolge sich der Melancholiker durch eine besondere Leistung seiner Imagination auszeichnet, 3 1 dann wird es denkbar, das nördliche Klima mit seiner Feuchtigkeit doch als einen Er möglichungsgrund der Imagination anzusehen. Ich kann hier leider nicht nachzeichnen, wie genau sich diese Modifikation ergeben hat. Bedeutsame Zwischenstationen sind auf jeden Fall Diderots ästhetische Schriften mit ihrer Verherrlichung des Genies, das von der Regelpoetik und der antiken Tradition schon weitgehend emanzipiert ist; dann wohl auch die enthusiastische Rezeption des Ossianismus. In voller Ausprägung findet sich die Auffassung einer melan cholischen Imagination des Nordens bei Madame de Statil und natürlich auch bei Chateaubriand, der ja sein alter ego Rene nicht von ungefähr als einen Menschen des Nordens zeichnet. 32 Baudelaire benennt ausdrücklich die 30
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Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de Mo ntes quieu De I 'esprit des lois [ 1 748], in: <Euvres completes, hrsg. von Roger Caillois (2 Bde.), Paris, 1 95 1 , Bd. 1I (Editions de la Pleiade). Maßgeblich ist hier vor allem im XIV. Buch ("Des lois dans le rapport qu'elles ont avec la nature du climat") das zweite Kapitel ("Combien les hommes sont differents dans les divers climats"). Vgl. Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Satum und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst [eng l isch 1 964], übers. von C hrista Buschendorf, Frankfurt am Main 1 992. S iehe zu diesem Themenkomplex auch d en Be itrag von Volker Kapp in diesem Band. Madame de Stael rechnet eine spezifische 'Einb i l d ungs kraft des Nordens' den scho ttischen Barden in der Gefolgschaft Ossi ans und den englischen Dichtem zu: "[ ] mais ils ont conserve l'imagination du nord, ce1le qui se plait sur le bord de la mer, au bruit des vents, dans les bruyeres sauvages; celle enfin qui porte vers I'avenir, vers un autre monde, I'ame fatiguee de sa destinee. L imagi natio n des hommes du nord s'elance au de l a de cette terre dont ils habitoient les confins; elle s'elance a travers les nuages qui bordent le ur horizon, et semblent representer I'obscur passage de la vie a I'eternite" (De la litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales [ 1 800], hrsg. von Paul van Tieghem, 2 Bde., Geneve/Paris 1 9 59, Bd. I, S. 1 80). '[ ] aber sie haben die Einb ildungskraft des Nordens bewahrt; diese findet ihr Wohlgefallen am Gestade des Meeres, im Brausen des Windes, in den wild wachsenden Pflanzen der Heide; diese führt schließlich die Seele, die ihres Schicksals müde geworden ist, in die Zukunft, in eine andere Welt hinein. Die Ein b il dungskraft der Menschen des Nordens schießt über diese Erde hinaus, an deren Rand sie ,
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...
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Imagination als die reine des facultes ( 1 859); 33 mit seinem Kult des englischen Dandy und des Spleen und mit seinem Hang zu Belgien wird er dieser Imagina tion ein unverkennbar nördliches Gepräge geben. Mit dem bislang Gesagten ist angede utet, dass die Konzepte des Raums und des Nordens allemal ei n en wesentlich imaginären Status haben. Jüngere Theorien, insbesondere die li terarische Anthropologie , die Wol fgang Iser im Anschluss an den griechisch- stämm i gen P hi l oso p hen und Soziologen Comelius Castoriadis skizziert hat, schlagen vor, das Ä sthetische überhaupt eng ans Ima ginäre zu binden. 3 4 Casto riad i s hat ja in seinem bekannten Buch L 'Institution sodale de l 'imaginaire von 1 975 die gesellschaftliche Ord nung als das prekäre Produkt eines fluktuierenden ' Magma' - ähnlichen Imaginären beschrieben, das sich - im unabschließbaren Wechs e l sp iel zwischen diskretem Uyet \I (reden) und kontinuierlichem 't'euxew (v erfertigen) - vermittels immer wieder neuer Figurationen (Bilder) Ausdruck verschafft. 35 Eine solche Grundlage aller gesellschaftlichen Institutionen nennt Castoriadis das radikal Imaginäre. Iser hat auf dieser theoretischen Grundlage eine Konzeption des Fiktiven vorgestellt, worin die ästhetische Fiktion als ein vermittelndes Glied zwischen dem Realen und dem radikal Imaginären gewissermaßen die Kraftquellen des Imaginären anzapft und für die Gesellschaft nutzbar macht. Die Übertragung der Erklärungsmodelle eines Castoriadis und eines Iser au f kul t urwissenschaftl iche Frages tellungen ist nicht unproblematisch, zumal die Trieb-energetische Argumentation der beiden Verfasser ihre Herkun ft aus der Psychoanalyse Lacans deutlich zu erkennen gibt. Gleichwohl macht der - leider allzu rasche - Durchgang durch die Geschichte des Imaginationsbegriffs deut lich, dass Raum - Semanti ken im Imaginären fundiert sind - wie i mmer man dann auch dieses Imaginäre bestimmen mag. Persönlich würde ich vorschlagen, hier auf den kubanischen Kulturhistoriker, Essayisten und Romancier Jose Lezama Lima zurückzugreifen . Im Umfeld vo n Überlegungen zur Epochenproblematik und in Auseinandersetzung mit der Kulturtypologie von Amold Toynbee h at wohnten; s i e schießt durch die Wolken hindurch, die ihren Horizont begrenzen und den unbekannten Ü bergang vom Leben zur Ew i gk eit zu verbildlichen schei nen' . " Im agi natio
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borealis" kann so gesehen auch gelesen werden als gelehrte Rückübersetzung ins Lateinische von Madame de Staels g l ück l i c he r Formel von der " i maginatio n du nord". Zu Chateaubriands kurzem Roman Rene aus dem Jahr 1 802 vg I . Wolfgang Matzat, Chateaubriand. Unendliche Perspektive und Melancholie, in: Diskursgeschichte der lei densc haft, Tübingen 1 990, S. 85- 1 32. CharIes B aud e l aire, Salon de 1 859, in: <Euvres completes , hrsg. von Marcel A. RufT, Paris 1 968, S . 3 9 1 -424, hier: S . 396. VgI . Wolfgang I ser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthro pologie, Frankfurt a. M. 1 993, S. 3 50-3 77. Comelius Castoriadis, L' I nstitut i o n imaginaire de la societe, Paris 1 975. Kritisch zu Casto ri adi s äußert sich Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwöl f Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1 985, S. 3 80-3 89.
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Lezama die Redeweise von eras imaginarias, von 'imaginären Zeitaltern', einge führt und durch diesen Tenninus betonen wollen, dass unsere Ep och en konstruktionen, beispielsweise die Rede vom Barock, nicht nur imaginärer Her kunft sind, sondern dass ihre besondere Leistung gerade auch darin besteht, unsere Imagination zu stimulieren.36 In diesem Sinn wäre es wohl an der Zeit, ebenso offensiv von espacios imaginarios, von 'imaginären Räumen' oder gar von i mag i n ären Raum-Zeiten' im Sinne der Chronotopoi zu sprech en - gemeint ist damit eine Reihe von diachron aufeinander folgenden Bildern des Nordens, von denen ein jedes als ein spezieller Raum mit seinem spezifischen Zeit-Index strukturiert ist. We nn wir al s o oben festgestellt haben, dass Kulturen den Raum modellieren, dass sie Raummodelle sind, dann können wir jetzt in einem starken Sinn h i nzufiigen : Kulturen lassen sich als imaginäre Räume lesen. '
3. Imagination im Raum: Ostung vs. Nordung
Wenn sich Kulturen als imaginäre Räume auffassen lassen, dann müsste d i es heißen, dass die kulturellen Räume von den Vektoren eines paradigmatischen Parcours aufgespannt werden und dass sie auf spezifische Weise nach einer be stimmten Himmelsrichtung hin orientiert sind. Ich will diese These an zwei zeitlich weit auseinander l i egenden Textbeispielen verdeutlichen, nämlich an der Topographie des Liebespalastes bei Andreas Capellanus und an d er Polar landschaft in einem Sonett des schon genannten Baudelaire.
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Jose Lezama Lima, La expresi6n arnericana ( 1 957), La Habana 1 993 [Deutsch: Die arnerikanische Ausdruckswelt, übers. von Gerhard Poppenberg, Frankfurt arn Main 1 992] . Zu den eras imaginarias heißt es dort: "Dazu muß die Betonung, die die zeitgenössische Geschichtsschreibung auf die Kulturen legt, auf die imaginären Weltalter verschoben werden. So wie Toynbee einundzwanzig Kulturtypen bestimmt hat: die verschiedenen Weltalter bestimmen, in denen sich die imago als Geschichte durchgesetzt hat. Das heißt: die etruskische, die karolingische, die bretonische etc. Einbildungskraft, wo die Tat, wenn sie auf dem Wandteppich eines imaginären Weltalters erschien, ihre Wirklichkeit und ihre Schwerkraft erlangte. Wenn es einer Kultur nicht gelingt, einen Typus von Einbildung zu schaffen, wenn so etwas überhaupt möglich sein sollte, wäre sie in dem Maß, wie die Massen der Jahrtausende sie verschütteten, schlechterdings unentzifferbar. " (Ü bers. von Poppenberg, S. 25, im spanischen Original S. 1 4.) Zum Konzept der 'imaginären Weltalter' allgemein vgl . ebenfalls Poppenberg, Ausdruckswelt und Weltalter. Eine Nachbemerkung des Ü bersetzers, in: Die arnerikanische Ausdruckswelt, S. 1 5 3 - 1 62, sowie Bernhard Teuber, Curiositas et crudelitas. Das Unheimliche arn Barock bei G6ngora, Sor Juana lnes de la Cruz und Jose Lezama Lima, in: Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, hrsg. von Joachim Küpper/Friedrich Wolfzettel, München 2000, S. 6 1 5-652, hier: S . 628-63 7.
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Ostung und verfemter Norden bei A ndreas Capellanus Der Kleriker Andreas Capellanus schreibt um 1 1 85 in Nordfrankreich, vermut lich in Troyes am Hof der Marie de Champagne seine berühmte Abhandlung De amore, wobei er in den ersten bei den Büchern das Imaginäre der höfischen Liebe darstellt, um dieses dann im dritten Buch aus theologischen Gründen zu verurteilen. 3 7 An einer Stelle wird in einer allegorischen Vision der Palast des Liebesgottes folgendermaßen geschildert: Fertur enim et est verum, in medio mundi constructum esse palatium quattuor omatissimas habens facies, et in fac i e qualibet est porta pul cherri ma valde. In ipso autem palatio solus amor et dominarum meruerunt habitare collegia. Orientalem quidem portam solus sibi deus appropriavit am o ris , aliae vero tres certis dominarum sunt ordinibus destinatae. Et dominae portae meridianae ianuis semper morantur apertis et ostii semper reperiuntur i n limine, si cut et domi nae occidentalis portae, sed ipsae extra i p s i us limina portae sem per reperiuntur vagantes. Quae ve ro septentrio nalis meruerunt portae custodiam, semper clausis 38 morantur ianuis et extra palatii terminos nihil aspic iunt .
[Es wird berichtet und diese Nachricht ist wahr, dass in der Mitte der Welt ein Palast gebaut ist, der vier re i ch geschmückte Fassaden besitzt, und i n j ede Fassade ist ein wunderschönes Tor ei ng e l ass en. Im Palast selbst aber dürfen nur Amor und auserwählte Damengesellschaften wohnen. Das Osttor hat sich der Lie besgott zum al l ein igen Besitz erkoren; die anderen drei Tore aber sind rur bestimmte Klassen von Damen bestimmt. Die Damen am Südtor halten sich an einer stets geöffneten Tür auf und befinden sich auf der Schwelle de s Eingangs; ebenso verhält es sich bei den Damen am Westtor ; diese stehen jedoch vor der Schwelle. Die Damen schließlich, deren Los es ist, am Nordtor Wache zu halten stehen immer vor verschlossener Tür und außerhalb der Mauer des Palastes bekommen sie nichts zu sehen.] ,
Jedes der vier beschriebenen Tore des Palastes, in dem der Liebesgott wohnt, entspricht einem Kardinalpunkt und wird in der Folge mit bestimmten Eigen schaften belehnt, die sich auf die dort befindlichen Personen übertragen. Den Ostteil des Palastes beansprucht der Liebesgott für sich und er gleicht darum der wärmenden Sonne, die ebenfalls im Osten aufgeht. Mit der vollen Macht seiner Strahlen trifft Amor nur die Frauen am südlichen Tor, die eine kluge Wahl treffen und nur den Verehrern, die es verdienen, ihre Gegenliebe schenken: "quia, quum sint in meridie cunctae dispositae, ab ipsius in oriente habitantis 37
Vgl. C.S. Lewis, The Allegory of Love. A Study in Medieval Trad i t i on [ 1 936], Oxford/New York 1 990, S. 1 -43 ; R üd iger S chne l l, Andreas C apellanus Zur R ezeption des röm i schen und kanonischen Rechts in 'De amore', München 1 982 (Münstersche Mittel alter-Schriften, Bd. 46); ders., Cau sa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/München 1 985. Andre as Capellanus, De amore libri tres, hrsg. von E. Trojel, Ed i t i o altera, MUnchen 1 964, 1,6 D, S. 89. .
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amoris meruerunt radio co ru scari,,39 - [denn da sie sich allesamt im Süden be finden, haben sie es verdient, vom Strahl des im Osten wohnenden Liebesgottes gebräunt zu werden] . Das Westtor hingegen ist durch übermäßige Feuchtigkeit gekennzeichnet, so dass die dort verweilenden 'Allerweltsfrauen' (mulieres communes) zwar jedermann Gehör schenken und ihm - wie die Dirnen (meretrices) - zu Willen sind, aber gerade deshalb von wahrer höfi scher Liebe weit entfernt bleiben : " quia, quum in occidente ipsarum reperiatur habitatio sita, igneus amoris radius a b oriente ad ilIas us q ue pervenire non potest,, 40 - [denn da sich ihr Aufenthalt im Westen befindet, vermag der Feuerstrahl des Liebesgottes von Osten her nicht bis zu ihnen vorzudringen] . Am Nordtor schließlich erhören die Damen überhaupt keinen Verehrer: " Septentrionales vero sunt iIlae mulieres, quae amare recusant,,41 - [im Norden aber sind diejenigen Frauen, die sich weigern zu lieben] . Deswegen werden sie vom Liebesgott ausgesperrt und müssen draußen vor dem Tor verharren (" semper c1ausis morantur ianuis et extra palatii terminos n i hi l aspiciunt"). Die Unverträglichkeit zwischen dem Norden und der höfischen Liebe mag, wie wenig später im Rahmen einer ausführlichen Vision erklärt wird, auch daran liegen , dass der Norden als die Region einer exzessiven Trockenheit (siccitas) aufgefasst wird, die zur gleichfalls exzessiven Feuchtigkeit des Westens (humiditas) und zur maßvollen Lieblichkeit des Südens (amoenitas) in Kontrast steht - und die wohl auch von der feurigen Hitze des Ostens (igneus [ . . . ] radius) zu unterscheiden wäre. Jedenfalls befindet sich die Quelle des Lichts und der lebensspendenden Wärme unzweifelhaft im Osten. Der Vorzug des Südens be steht darin, dass er vermittels eines geregelten Austausche s am Licht und an der Wärme des Ostens partizipieren kann, während der Westen und erst recht der Norden hierzu nicht in der Lage sind. Der Süden ist also ein abgeleiteter und temperierter Osten. Gemäß der Lehre von den vier Beschaffenheiten (qualitates), auf denen die mittelalterliche Naturkunde beruht, könnte man des Weiteren voraussetzen, dass der Osten vor allem durch Hitze und Trockenheit (calor et siccitas), der Westen durch Feuchtigkeit und Kälte (humiditas et jrigiditas) charakterisiert sind; Süden und Norden wären ebenfalls komplexe Klimate: Der Süden bietet eine rundum gemäßigte Kombination von (nicht zu großer) Wärme und (ausreichender) Feuchtigkeit (calor et humiditas), wo hingegen der Norden als über die Maßen trocken und - der Systematik zuliebe vermutlich auch als kalt vorgestellt werden muss (siccitas etjrigiditas). Jeden falls weist das Desinteresse der Damen an L i eb e sd ingen auf eine 'Frigidität' hin, die sich aus der konstitutionellen Kälte des Nordens und seiner Lebewesen er klären ließe, denen es verwehrt ist, von der Glut des Liebesgottes im Osten erwärmt zu werden. 39
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Ebd., S. 90. Ebd., S. 90 f. Ebd., S . 9 1 .
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Wie bei vielen mittelalterlichen Topographien so ist auch d i e An l age des Li ebespalasts bei Andreas Cape l l anu s nicht binär, sondern quaternär strukturiert, wobei sich das Muster in diesem Fall an die vier Himmel sric htungen anlehnt. Es lässt sich daraus eine grobe schematische Darstellung ableiten: Sinistra
Dextra
PaJalium Amoris
ORIENTALlS PORTA DEVS AMORIS S EPTENTRIONALIS
PORTA
Dominae amare recusanles
MERIDIANA
PORTA
Dominae sapienter amantes
OCCIDENTALIS PORTA
Mulieres communes veJ meretrices
Der imaginäre Raum, der im oben angeführten Plan aufgespannt wird, entspricht nicht nur der Anlage eines Palastes oder einer Burg, sondern vielleicht mehr noch dem kreuzförmigen Grundriss einer romanischen Kirche, wobei man sich einen - seltenen - Zentralbau, aber auch (wie oben geschehen) einen üblichen Langbau vorstellen mag. In der Ap s i s an der Ostseite hat der Li ebesgott seinen Thron; ihm am nächsten befinden s ich die Damen des südlichen Querschiffs, die auch im Innern Platz nehmen dürfen. Die Damen am westlichen Tor des Lang schiffs treten ein und au s , wie es i hnen gefä l lt, denn sie lieben unterschiedslos und treffen wie oben beschrieben keine vernünftige Wahl. Am Nordportal halten sich schließlich d iejenigen auf, die der Liebe entsagt haben. Darum hat sie der Liebe s gott nach draußen verbannt; das Nordtor bleibt nämlich immer ver schlossen. Dass der i mag i näre Raum deutlich zum Liebesgott h in ausgerichtet ist, zeigt sich nicht nur daran, dass alle Damen dorthin gelangen wollen und der Osten flir das lebe n s n otwen dige Licht und für die Wärme der Sonne steht; sondern es verdeutl i c ht sich noch stärker an einer kuriosen Bemerkung des Erzählers, der für die Liebesunfähigkeit der Frauen am Nordportal folgende Begründung nachschiebt: "et merito, quia in sinistra p o s itas deus non respicit ipsas, quia sunt maledictae,, 42 - [und dies geschieht ihnen verdientermaßen; denn da sie sich zur linken Seite befinden, schaut der (L iebes ) Gott sie nicht an, sie s in d ja verdammt]. 42
Ebd., S. 9 1 .
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War Gott Amor zuvor schon mit der Sonne verglichen worden, so stellt sich n un heraus, dass er darüber hinaus (ebenso wie übrigens auch die Sonne) christomorphe Züge trägt. Amor, zu dessen Rechter die liebenden Frauen des Südens und zu de ssen Linker die lieblosen Frauen des Nordens stehen, ist in typol o gischer Entsprechung zum Weltenrichter im Evangelium nach Matthäus gezeichnet. 43 Während die l i ebenden Frauen die Rolle der S e l igen zur Rechten des Menschensohns einnehmen, sind die indifferenten Frauen diej enigen, die zu seiner Linken stehen und dem Feuer der Höl le ausgeliefert werden. 44
Wenn wir vor dem Hintergrund des Gesagten erneut den Plan betrachten, dann fällt uns auf, dass der Norden dort zwar zur Linken liegt; dass es aber die Linke aus der Perspektive des Betrachters, nicht aus der Perspektive des Liebes gottes ist, sofern dieser mit dem Rücken zum Südtor stehen und in Richtung der ihm gegenüber befindlichen Frauen blicken sollte. Die Festlegung der linken und der rechten Seite erfolgt demnach durch den Betrachter, der auf die Szene von unten her (oder von Westen her) schaut. Dies bedeutet aber auch, dass der Betrachter, um überhaupt den Norden zu seiner Linken und den Süden zu seiner Rechten zu haben, nach Osten hin s c ha uen muss. Das Beispiel zeigt, dass die Struktur des Raumes, der bei Andreas Capellanus beschrieben wird, nicht un abhängig vom Betrachter zu Stande kommt und dass der B etrachter durch die Ausrichtung seines B l i c kes hin nach Osten dem Raum eine Richtung g i bt; diese Richtung entspringt dem Parcours des B etrachterb l ick s durch den Raum: Der Liebespalast als Raum ist also in einem ganz buchstäblichen Sinne 'orientiert'; das heißt nach Osten hin aufgespannt, 'ge-ostet' - und auch die weithin nega tiven, abwertenden Bedeutungsinhalte, die dem Norden zugeschrieben werden, sind an die Orientierung des Betrachters oder an den Parcours seines Blickes gekoppelt, insofern der Raum von Westen nach Osten durchmessen wird, so dass der Norden links, der Süden rechts zu liegen kommt. Der Norden ist also in der i magin ären Topographie des Andreas Capellanus dem Osten (und auch dem mit dem Osten verbundenen Süden) untergeordnet. Das heißt: der Norden ist negativ semantisiert als ein lebensfeindlicher Raum. Die Einbildungskraft, die den Norden zu ihrem G egen stand hat, die imaginatio borealis i m eigentlichen Sinn also, steht hier ganz im Zeichen einer klaren abiectio, einer Verwerfung 43
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VgL. Matthäus 25, 1 3 -46. In der späteren Vision werden Höllenstrafen ausdrücklich erwähnt: Die Frauen aus der Region der humiditas im Westen werden folgendermaßen bestraft: "quantus stridor erat et gemitus, satis esset narrare difficile" (Andreas Capellanus, De amore, 1,6 D, S. 1 03) 'Wieviel Zähneknirschen und Heulen es dort gab , das ausflihrlieh zu erzählen wäre schwierig.' - Von den Frauen aus der Region der siccilas im N o rden heißt es weiterhin: "Tantus quidem dolor tantaque ibi erat afHictio, quantam vix crederem inter i p sas Tartareas potestates adesse" (Andreas Capellanus, D e amore, 1,6 D, S. 1 04) - 'so groß war der Schmerz und so groß war die Betrübnis, wie ich sie nicht einmal bei den Mächten der Unterwelt für mög li ch gehal t en hätte'.
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oder Verfemung des Fremden, die aus dem Norden einen unheimlichen Ort des Draußen macht.4s Nordung und A uratisierung des Verfemten bei Baudelaire Abschließend wenden wir u ns einem Sonett von Charles Baudelaire zu, das 1 85 1 erstmals veröffentlicht wurde. 46 Es wurde 1 8 57 in die Fleurs du mal aufgenommen und fi guri ert dort unter Nummer XXX in der Abteilun g Spleen et ideal. Seit der Zweitausgabe von 1 86 1 trägt es den dem Psalter entlehnten Titel : De profundis c/amavi. - [Aus der Tiefe rufe ich ( . . . ) zu dir] . 4 1
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Der Begriff der abiectio (Verwerfung des 'Nordens' durch den 'Süden') soll eine von vier grundlegenden und historisch wirkungsmächtigen Konzeptualisierungsweisen von 'Nörd Iichkeit' innerhalb des abendländischen Wissens bezeichnen. Als weitere - j eweils kon kurrierende oder kooperierende - Kategorien wären sodann aemulatio (Wettstreit des 'Nordens' mit dem 'Süden'), imitatio (Nachahmung des 'Nordens' durch den 'Süden') und vindicatio (Selbstbehauptung des 'Nordens' aus eigenem Recht ohne Rückgriff auf den 'Süden') in Anschlag zu bringen. Zu einer Deutung der abieclio auf psychoanalytischer Basis vgl. Julia Kristeva, Pouvoirs de l'horreur. Essai sur I'abjection, Paris 1 980, S. 9-25. Kristeva geht davon aus, dass der Ekel vor dem Abjekten, wie er sich in der Phobie äußert, ein ambivalentes Phänomen sei, insofern sich vermittels der abiectio das Ich gegenüber dem Anderen zu behaupten, das Drinnen vom Draußen zu scheiden trachte, obwohl die Grenze zwischen beiden Bereichen durchlässig bleibe. In der Freud'schen Psychoanalyse selbst ist eine solche abieclio nicht ausdrücklich vorgesehen, wohl aber ergeben sich Berührungspunkte mit der "Verwerfung" (französisch: jorclusion, rejet), der "Ver drängung" (französisch: rejoulemen/) und der "Verneinung" (französisch: denegalion). Vgl. ebenda S. 1 4 f.; vgl. weiterhin insbesondere J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Artikel Verwerfung, in: Das Vokabular der Psychoanalyse [französisch 1 967], übers. von Emma Moersch, Frankfurt am Main 1 972, S. 608-6 1 2 . Nach Auffassung von Mme Kristeva ist die abiectio auch eine genuine Reaktionsweise gegenüber dem Heiligen (ebenda S. 24 f.), denn aus der Sicht der Religionswissenschaft konstituiert sich das Heilige gleichermaßen über ein in Bann ziehendes, verklärtes jascinosum wie über ein gefijrchtetes, verfemtes tremendum. (Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [ 1 9 1 7], München 1 987, S. 1 3-37 u. S. 42-52; vgl. weiterhin Roger Caillois, L'Homme et le Sacre, ( 1 939], Troisieme edition, Paris 1 963, S . 4 1 -76). Schaurig und faszinierend sind der Norden - wie auch der Westen - bei Andreas Capellanus allemal deswegen, weil sie feme Lokalitäten bereit stellen, an denen sich Szenen extremer Brutalität und Grausamkeit imaginieren lassen. Zur Publikationsgeschichte vgl . die Kommentare einschlägiger Ausgaben sowie Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires 'Fleurs du mal' (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse), Heidelberg 1 953, S . 82 f. Vgl. Psalm 1 30/1 29, 1 .
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1 96 De profundis c1amavi.
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J'implore ta pitie, Toi, I'unique que j'aime, Du fond du gouffre obscur ou mon ca:ur est tombe. C'est un univers mome a l'horizon plombe, OU nagent dans la nuit I'horreur et le blaspheme; Un solei I sans chaleur plane au-dessus six mois; Et les six autres mois la nuit couvre la terre; C'est un pays plus nu que la terre polaire; Ni betes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! Or il n'est pas d'horreur au monde qui surpasse La froide cruaute de ce solei I de glace Et cette immense nuit semblable au vieux Chaos; Je j alouse le sort des plus vils animaux Qui peuvent se pionger dans un sommeil stupide, 48 Tant I'echeveau du temps lentement se devide !
[Dich, einzig Liebe mir, beschwör' ich um Erbarmen / In dunklen Abgrund fiel mein Herz, hör seinen Schrei / Aus trüber Welt im Rund des Horizonts von Blei / Wo Fluch und Grauen sich im Meer der Nacht umarmen! // Dort Sonne, die nicht wärmt, ob sechs der Monde schwebt, / Sechs andre schlägt die Nacht den Gau in ihre Bande; / Viel nackter als am Pol ist es in diesem Lande / Kein Tier, kein Bach, kein Wald, kein Grün dari nnen lebt! // Auf Erden gibt es nicht so große Schrecklichkeiten / Als dieser Eisessonne kalte Grausamkeiten / Und die dem Chaos gleiche ungeheure Nacht; // Ich neide niederstem Getiere noch die Macht, / In stumpfen Schlummers Meer versinkend zu verstocken / So langsam spinnt 49 die Zeit ihr zähes Werg vom Rocken.] -
...
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Der Titel zitiert mit dem Psalm 1 30 ( 1 29 nach der alten Zählung der Vulgata) nicht nur das alttestamentliche Gebet, sondern zugleich auch die römische Li turgie der Begräbnisfeier. An deren Beginn rezitiert der Priester (oder der Chor) eben diesen Psalm vor dem Katafalk, um Gott im Namen des Verstorbenen anzurufen. Schon in der liturgischen Situation ist der Psalm damit idolopoeia, das heißt Rede, die einem Toten in den Mund gelegt wird. Überträgt man diesen Sachverhalt auf das Gedicht, dann ist anfcedeutet, dass auch hier der lyrische Sprecher wie aus einem Sarg heraus ruft. 0 Anders als im liturgischen Vorbild wendet er sich allerdings nicht an Gott, sondern an eine feme, abweisende Ge liebte, die als Adressatin des Textes fungiert und die über gottgleiche Macht zu verfiigen scheint. Was der Sprecher in seiner Klage benennt, ist ein Zustand der Trostlosigkeit, der abgrundtiefen Melancholie, den er über die Beschreibung
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Baudelaire, Les Fleurs du mal [ 1 857], hrsg. von Henri Lemaitre, Paris 1 964, S. 59. Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übers. von Carlo Schmitt, Frankfurt a. M. 1 976, S. 5 1 . Nicht von ungefähr folgt auf das Sonett De profundis c1amavi unter Nummer XXX dann das Gedicht mit dem Titel Vampire unter Nummer XXXI.
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einer äußeren Landschaft zu artikulieren sucht, die ftlr die eigene seelische Ver fas sung stehen SOll . 5 1 Bezeichnend tur unseren Zusammenhang ist die Tatsache, dass der Sprecher zur Veranschaulichung seiner Situation eine imaginäre Landschaft in der Polar region wählt. Denn das phantastische Land, darin er se in Dasein fristen muss, zeichnet sich durch einen einzigen volle sechs Monate währenden Sommertag und eine ebenso lange Winternacht aus: " Un solei! sans chaleur plane au-dessus six m o i s / Et l e s six autres mois la nuit couvre la terre." (Vers 5 f.) - [Eine Sonne ohne Wärme kreist sechs Monate oben am Himmel I und in den sec hs weiteren Monaten bedeckt die Nacht die Erde.] Plinius der Ä ltere weist zweimal darauf hin, dass solch ei n langer Tag und solch ei n e lange Nacht auf der Insel Thule anzutreffen seien, die Pytheas bereist habe: [ . . . ] id quod cog it ratio credi, solstitii d iebus accedente sole propius verticem mundi angusto lucis ambitu subiecta terrae continuos dies habere senis mensibus noctesque e diverso ad brum am remoto. quod fieri in insula Thyle Pytheas Massiliensis scribit. 5 2 [ ( ... ) wobei Grunde der Vernunft zu der Auffassung zwingen, dass, wenn in den Tagen der Sonnenwende die Sonne näher an den S che i tel punkt der Welt heran ruckt, im schmalen Bereich des einfaIlenden Lic htes die darunter gelegenen Landstriche während sechs Monaten ununterbrochene Tage haben - und dass im Ge genzug die Nächte ebenso lang sind, sobald die Sonne sich in den Nebel zurückgezogen hat. Dies gHt auch, wie Pytheas von Marseille schrei bt, filr die Insel Thul e . ]
Das quasi myth ische Nordland, das Baudelaires Gedicht zeichnet, enthält also ein wesentliches Charakteristikum der Insel Thule. 53 51
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Die Landschaftsbeschreibung dient Baudelaire generel1 als Indikator filr die S ee l enlage des lyri schen Ich. Vgl. hierzu Hess, Die Landschaft in Baudelaires 'Fleurs du mal' (wie Anm. 46). Eine ausführliche Interpretation unseres Gedichts findet sich ebd., S. 82-86. Vor einem nur mimeti schen Missverständnis von Baudelaires Naturbeschreibungen warnt auch Hans Robert Jauß, Kunst als Anti-Natur. Zur ästheti schen Wende nach 1 7 89, in: Studien zum Epochenwande l der ästhetischen Modeme, Frankfurt a. M. 1 989, S. 1 1 9- 1 56. Plinius, Naturalis h istoria 11,75 ,77, 1 86 . V gl . weiterhin: "Ultima omnium quae memorantur Tyle, in qua solstitio nuIlas esse noctes indicavimus, cancri signum sole transeunte, nul10sque contra per brumam dies . hoc quidem senis mensibus continuis fieri arbitrantur." (Plinius , Naturalis historia IV, 1 6,30, 1 04.) - 'Die äußerste al1er Inseln , die erwähnt werden, ist Thule, wo es, wie wi r schon angefllhrt haben, zur Zeit der Sonnenwende, sobald die Sonne das Sternzeichen des Krebses durchquert hat, keine Nächte gibt und wo es um gekehrt in der nebligen Jahreszeit keine Tage gi bt . Man meint, dass dieser Zustand jeweils sechs Monate ununterbrochen anhält.' Das andere Charakteristikum besteht Strabo zufolge darin, dass die Insel nahe an der Region des st ändi g gefrorenen Meeres l ie ge. Ein Reflex solcher Kälte findet sich auch bei Baudelaire. Die Sonne ist "un sol eH sans chaleur" ('eine Sonne o hne Wärme') und "un soleH de glace" (Vers 5; 1 0). Dass die Nacht dem alten Chaos ähnele ("semblable au vieux
Bernhard Teuber
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Trotz der intertextuellen Reminiszenzen aus dem D i skurs der antiken Geo graphen ist die extreme Landschaft des bei Baudelaire gezeichneten Nordens nicht referentiell zu lesen, sondern sie trägt al l egori sc he Züge : Die äußere bo reale Topographie steht wie bereits angedeutet für die p sychi sch e Erfahrung des Ennui. 54 An der Textoberfläche bekundet sich dies allein schon darin, dass das im Gedicht beschriebene Land die Schrecken einer rea l en Polarregion nicht etwa vergegenwärtigt, sondern noch übertrifft: " C'est un pays plus nu que la te rre polaire." (Vers 7.) - [Es ist ein Land, dass nackter als d i e Erde am Pol arge b i et ist.] Die dem Pol zugewandte Insel Thule steht demnach für die noch weit schlimmere Befindlichkeit im Innern des Sprecher s . Aber es zeigt sich doch auch, dass wenn überhaupt, dann eben nur eine Landschaft des Nordens die Ab gründi gkei t des Gemeinten auszudrücken vennag. Baudelaires wider sprüchliches Projekt der ästhetischen Aufwertung des Hässlichen und des Bösen bedient sich und bedarf sowohl hier als auch an anderen Stellen offenkundig einer imaginatio borealis, die mit der Imagination des B ös en Hand in Hand geht.55 In seinem Peintre de la vie moderne setzt Baudelaire d aru m auch nahezu umstandslos die aurore boreale mit einer lumiere infernale gleich. 56 Er beerbt hier traditionelle Vorstellungen von der Verfemtheit des Nordens, von der abiectio borealis, aber es zeigt sich, das s er diese Verfemtheit ästhetisch aus-
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Chaos", Vers 1 1 ), erinnert wiederum an Ausführungen bei Strabo. Ihm zufolge besteht das Meer auf der Breite von Thule aus einem Gemisch von Elementen, wo Wasser, Luft, Eis und Nebel ein unentwirrbares Gemenge bilden (vgl. Strabo, 11,4 , 1 C 1 04). Vgl. auch Franrrois Lasserre, Artikel Thule, in: Der Kleine Pauly, München 1 975, Band V, Sp. 799. Zur Allegorie bei Baudelaire vgl . insbesondere Hans Robert JauB, Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie [ 1 978], in: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne (wie Anm. 5 1 ), S. 1 66- 1 8 8 . Zum Bösen als einer Kategorie der hnagination vgl. auch Karl Heinz Bohrer, Das Böse eine ästhetische Kategorie? [ 1 985], in: Ders., Nach der Natur. Über Politik und Ä sthetik, München 1 988, S. 1 1 0- 1 32. "Sur un fond d'une lumiere infernale ou sur un fond d'aurore boreale, rouge, orange, sulfureux, rose (le rose revelant une idee d'extase dans la frivolite), quelquefois violet (couleur affectionnee des chanoinesses, braise qui s'eteint derriere un rideau d'azur), sur ces fonds magiques, imitant diversement les feux de Bengale, s enle ve I'image variee de la beaute interlope. [ .. . ] Elle represente bien la sauvagerie dans la civilisation. Elle a sa beaute qui lui vient du Mal, toujours denuee de spiritualite, mais quelquefois teintee d'une fatigue qui j oue la melancolie." (Baudelaire, Le Peintre de la vie modeme [ 1 863], in: <Euvres comph!tes [wie Anm. 33], S. 546-566, hier: S. 563 . ) - 'Im Hintergrund flackert das Höllenlicht oder die Mitternachtssonne in Rot, Orange, Schwefelgelb, Rosa (das Rosa drückt eine Idee leichtlebiger Ekstase aus), manchmal in Violett (der begehrten Farbe von Äbtissinnen, einer G l ut , die hinter einem azurblauen Vorhang zu verlöschen begi nnt) ; von diesem verzauberten Hintergrund, der auf mann i gfache Art bengalische Feuer nachahmt, setzt s i ch das abwechslungsreiche Bild der halbseidenen Schönheit ab. [ . .. ] Sie vertritt eben die W i ldnis inmitten der Zivilisation. Sie besitzt ihre eigene Schönheit, die ihr vom Bösen kommt, das stets von allem Geisti gen los gelöst, aber mitunter doch von einer Mattigkeit gezeichnet ist, die vorspielt, Melancholie zu sein.' '
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zubeuten versteht: Er sti lisiert sie wie etwa auch sein Vorbild Edgar Allan Poe in A Descent into the Maels tröm zu einem bösen E rhabenen , das gerade und vielleicht überhaupt nur im Norden zu sich selbst zu kommen vennag. 57 Baudelaire ist bekanntlich mit einer historischen und sozi alen Ko nj unktur konfrontiert, die vom Verl ust des Kultischen und der Aura geprägt ist, und er versucht in seiner Lyrik - so die plausible Lektüre eines Walter Benjamin -, seiner Gegenwart die Erfahrung des Sakralen und des Auratische n gewisser maßen sub contraria specie wieder einzuschreiben. 58 Das heißt: Das trostlos Heillose , ja o ffen Satanische der von Baude l aire entworfenen Szenarien re figuriert paradoxerweise ein unheimlich Heiliges unter den Bedingungen der Modeme. Darum, so scheint es, greift Baudelaire die B ilder vom Norden keines falls in romantischer Verklärung oder Überhöhung auf, wie es bei der Gene ration seiner Vorgänger und wohl auch noch bei Gerard de Nerv al üblich war. 5 9 Vielmehr schließt Baudelaire bewusst an topische Bilder eines verfemten Nordens an, die überwiegend auf vormodeme Traditionen zurückgehen dürften. Der Verfemtheit eines blasphemischen Nord ens ("OU nagent dans la nuit l'horreur et le blaspheme " [Vers 4] - [wo in der Nacht Schrecken und Lästerung wogen]) verleiht Baudelaire eine quas i s akralisierende Aura . Kaum weniger deutlich als in De profundis clamavi bekundet sich Baudelaires paradoxes Anliegen einer ästhetischen Au fWertung des barbarisch abjekten Nordens in seinem ebenso einschlägigen Prosagedicht Any where out 0/ the World. 60 In einem Selbstgespräch befragt dort das Ich seine kranke Seele, 57
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Der Ich-Erzähler und seine Informanten vermitteln uns in A Descent info Ihe Maelslräm eine instruktive Vorstel l ung von Poes B i l d des Nordens : "I looked dizzily, and beheld a wide expanse of ocean, whose waters wore so inky a hue as to bring at onc e to my mind the Nubian geographer' s [scil . Strabo?] account of the Mare Tenebrarum. A panorama more de p l o rably desolate no human imagination can cone eive . [00'] The ordinary accounts of this vortex [seil. the Mae l strö m] had by no means prepared me for what I saw. That of Jonas Ramus, which i s p erhap s the most circumstantial of any, eannot impart the faintest conception either of the magni fi cence , or of the horror of the scene - or of the wild bewi lde ring sense of the novel whi eh eonfounds the beholder. [00'] Never shall l forget the sensations of awe, horror, and ad miration with which I gazed about me . " (Ed gar Allan Poe, A Descent into the Maelström [ 1 84 1 ] , in: Selected Writings , h rsg . von David Galloway, London 1 967, S. 225-242, hier: S. 226, S. 228 u. S. 238.) Vgl. Walter Benjamin, Über ein ige Motive bei Baudelaire [ 1 939/40] , i n : Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hoc hkapi tali smus [ 1 955], hrsg. von Rolf Tiede mann, Frankfurt a. M. 1 974, S. 1 0 1 - 1 49, h i er : S. 1 40- 1 49. V gl. zur Aufwertung des Nordens ab der Romantik d ie grundlege nde Dissertationsschrift von Karl H ein z Bohrer, Der Mythos vom Norden. St udien zur romantisc hen G esch ich ts p rop he tie , Heidelberg 1 96 1 . Baude l aire, Any where [sie] out of the Worl d - N' i mporte ou hors du monde, in: Petits Poemes en prose, XLVIII [ 1 867], in: (Euvres completes (wie Anm. 33). Den engl i schen Titelvers zitiert Poe bereits in The Poelic Principle von 1 855. Er entstam mt dem Gedicht The Bridge 0/ Sighs [ 1 844] von Thomas Hood, das Baudelaire se inerse its 1 865 ins
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B ernhard Te u ber
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wohin sie denn emigrieren wolle - nach Lissabon, nach Holland oder etwa ins tropi sche Batavia? Als die Seele immerzu stumm bleibt, hebt der Sprecher zu e i nem letzten aberwitzigen Vorschlag an, auf den die Seele mit Begeisterung reagieren wird: En es-tu donc venue a ce point d'engourdissement que tu ne te plaises que dans ton mal? S'il en est ainsi, fuyons vers les pays qui sont les analogies de la Mort. Je tiens notre affaire, pauvre äme! Nous ferons nos malles pour Torneo. Allons plus loin encore, a I'extreme bout de la Baltique; encore plus loin de la vie, si cest possible, Installons-nous au pöle. La le soleil ne frise qu'obliquement la terre, et les lentes alternatives de la lumiere et de la nuit suppriment la variete et augmentent la monotonie, cette moitie du ncant . La, nous pourrons prendre de longs bains de tenebres, cependant que, pour nous divertir, les aurores boreales nous enverront de temps en temps leurs gerbe s roses, comme des reflets d'un feu d'artifice de I'Enfer! Enfin mon äme fait explosion, et sage me nt elle me crie: "N'importe out n' i mporte 61 out pourvu que ce soit hors de ce monde .,, [Bist d u etwa an den Punkt der Erstarrung gel angt, wo d u nur noch Vergnügen in deinem Leid zu finden vermagst? Wenn dem so ist, dann lass uns in die Länder fliehen, die Analogien des Todes sind. - Ich vertrete deine Geschäftsinteressen, arme Seele ! Wir packen uns ere Koffer filr Torneo. Lass uns noch weiter fahren, an das äußerste Ende des Baltischen Meeres; noch viel weiter, wenn es nur men schenmöglich ist; lassen wir uns nieder am Pol. Dort streift die Sonne nur schräg die Erde und der langsame Wechsel von Licht und Nacht verhindert jede Ab wechslung und verstärkt die Eint önigke i t, welche die Hälfte des Nichts ausmacht. Dort werden wir lange in Finsternis baden; und unterdessen wird zu unserer Zer streuung das Nordlicht von Zeit zu Zeit seine rosa schimmernden Garben zu uns heTÜbersenden, so als spiegelte sich in seinen Funken ein Feuerwerk der Hölle. Da end l i ch sprudelt es aus meiner Seele heraus und voller Weisheit schre it sie: "Wohin auch immer! Wohin auch immer, wenn es nur außerhalb dieser Welt ist ! "]
Der alle.ernste Norden, die äußerste Insel im Meer, die ultima Thule ganz dicht am eisigen Pol wirken auf den Sprecher von De profundis clamavi oder von Any where out ofthe World nicht weniger fremdartig und lebensfeindlich als dereinst auf Odysseus die Bucht der Laestrygonen oder gar die Stadt der Cimmerier. 62 Aber nur in dieser äußersten Fremdheit, nur in einem vor Kälte und Leblosigkeit starrenden Norden kann s i ch - wenn denn überhaupt - der heroische Dichter der Modernität, wie er in Baudelaires lyrischen Stellvertreterfiguren Gestalt ge winnt, halbwegs zu Hause fühlen. Es ist der bei Baudelaire imaginierte Norden
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Französische übersetzt hatte. Auf Parallelen zwischen De profundis clamavi und Any where out the World weist ebenfalls hin Hess, Landschaft (wi e Anm . 46), S. 85. Baudel ai re, Any where out the World, in: ffiuvres completes (wie Anm. 33). Der Ortsname Torneo steht offenbar - so auch die Ansicht der Kommentatoren - für das heutige Tornio, die finnische Grenzstadt zu Schweden am Bottnischen Meerbusen. Vgl . Homer, Odyssee, X , 80 ff. un d XI, l 4 ff. Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Lutz Käppel in diesem Band.
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kein heimelig-beseligender, sondern ein unheimlich-bedrohlicher Raum. Doch in dieser gefährlichen Bedrohlichkeit konserviert der Norden Elemente einer ambivalenten, ja barbarischen Sakralität, die Baudelaire und seine Mitstreiter der profanen Behaglichkeit des bürgerlichen Zeitalters allemal vorgezogen hätten. Schwerlich lässt sich ein eindrucksvollerer Beleg als dieser rur den Tat bestand finden, dass die imaginäre Topographie der modernen Literatur genordet ist - gerade auch dort, wo ihre starken Texte die literarische Tradition der abiectio borealis immer noch fortschreiben.
AUTOREN DES BANDES
Silke Göttsch-Elten, geb. 1 95 2 . Studium der Volkskunde, Mittleren und Neueren
Geschichte und Nordischen Philologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1 980 Promotion. 1 9801 1 98 1 wissenschaftliches Volontariat am Württem bergischen Landesmuseum Stuttgart. 198 1 / 1982 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Volkskunde. 1 982- 1 989 Hochschulassistentin an der Christi an Albrechts-Universität zu Kiel . 1 989 Habilitation. 1 99 1 - 1 995 Professorin für Volkskunde an der Universität Freiburg/Br. Seit 1 995 Professorin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel . Forschungsschwerpunkte : Historische Volkskulturforschung, Genderforschung, Bürgerliche Kultur um 1 900. Lutz Käppel, geb. 1 960. Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Oxford und Tübingen. 1 990 Promotion mit der Arbeit: "Paian. Studien zur Ge schichte einer Gattung" (ersch. BerlinlNew York 1 992). 1 99 1 Bruno-Snell-Preis der Mommsen-Gesellschaft. 1 992/ 1 993 Junior Fellow am Center for Hellenic Studies in Washington, D.C. 1 997 Habilitation mit der Arbeit: "Die Kon struktion der Handlung in der Orestie des Aischylos" (ersch. München 1 998). 1 999 Berufung auf die Professur fiir Klassische Philologie, insbes. Gräzistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2000 Berufung in die Zentraldi rektion des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Ordentliches Mitglied des DAI. Fachgebietsherausgeber "Mythologie" des Lexikons "Der Neue Pauly" ( 1 5 Bde. Stuttgart 1 996 ff.). Forschungsschwerpunkte: Griechische Poesie, griechische Mathematik, Literaturtheorie, Übergangsphänomene zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen.
Volker Kapp, geb. 1 940. 1 966 Staatsexamen in den Fächern Französisch und Theologie. 1 966- 1 968 wissenschaftlicher Tutor am Studium generale der Universität Freiburg. 1 968- 1 97 1 Lektor an der Universität Bari. 1 970 Promotion. 1 97 1 - 1 973 akademischer Rat an der Universität Heidelberg. 1 9731 986 akademischer Rat an der Universität Trier. 1 977- 1 979 Habilitations stipendium der DFG. 1 980 Habilitation an der Universität Trier. 1 982 Straßburg-Preis rür die Habilitationsschrift. 1 982 Vertretung einer C3 -Professur für Theaterwissenschaft an der Universität München. 1 9 84- 1 985 Professeur inv i te a l'Universite de Metz. 1 986- 1 992 Professor an der Universität ErlangenlNürnberg. 1 99 1 Professeur invite a l'Universite de Lyon. Seit 1 992 Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwer p unkte: Französische Literatur, vor allem des 1 7 . Jahrhunderts und italienische Literatur des 1 6 . und 1 7. Jahrhunderts sowie Übersetzungstheorie; Frömmig keitsliteratur, Kunsttheorie, Rhetorik, europäisches Theater.
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Autoren des Bandes
Lars 010/ Larsson, geb. 1 93 8 in Västeräs in Schweden. Ab 1 958 Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Germanistik in Stockholm, Berlin (FU) und Wien. 1 964 Fi l .Lic- Examen an der Universität Stockholm. 1 9651 1 966 Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Zentralinstitut rur Kunst geschichte in München. 1 967 Promotion an der Universität Stockholm mit einer Dissertation über Adrian de Vries. Ernennung zum Privatdozenten rur das Fach Kunstgeschichte. Seitdem Lehrtäti gke i t an der Universität Stockholm. 1 97 1 1 1 972 Fellow am Harvard Center for Renaissance Studies Villa "I Tatti" in Florenz. 1 980 Ernennung zum Universitätsprofessor an der Christian-Albrechts Universität zu Kie l . Forschungsschwerpunkte: Höfische Kunst der frühen Neuzeit, skandinavische Malerei und Plastik des 1 9. Jahrhunderts, Architektur und Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts. Al/an A. Lund, geb. 1 944. Studium der Klassischen Philologie und der Neogräzistik an der Universität Kopenhagen. 1 970/ 1 97 1 Postgraduate Studies in The s saloniki. 1 972- 1 980 Gymnasiallehrer. 1 984 Forschungsstipend i at in Rom. 1 986- 1 996 Forschungsstipendiat in München. 1 99 1 Promotion und Habilitation. Lebt als freier Schriftsteller. Wichtigste Veröffentlichungen: P. Cornelius Tacitus, Germania, Interpr., hrsg., übertr., komm. und mit einer Bibliographie versehen von A. A. Lund, Heidel berg 1 988; Zur Gesamtinterpretation der "Germania" des Tacitus, in: Aufs tieg und Niedergang der Römischen Welt 11, Bd. 3 3 . 3 , hrsg. von W. Haase u. H. Temporini, Berlin/New York 1 99 1 , S. 1 8 581 988; L. Annaeus Seneca, Ap ocolocyntosis Divi Claudii, hrsg., übers. u. komm. von A. A. Lund, Heidelberg 1 994; Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezep tion der "Germania" des Tacitus im "Dritten Reich", Heidelberg 1 995 ; Die ersten Germanen: Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1 99 8 . I n Vor bereitung u.a. : Himmler og hans akademiske hj relpere, Kopenhagen 200 1 . Bettine Menke. 1 98 8 Promotion in Konstanz, veröffentlicht als : "Sprachfiguren. Name - Allegorie - Bild nach Wal ter Benjam i n", München 1 99 1 . 1 996 Habilitation mit der Schrift: "Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Katka", München 2000. Unterrichtete an der Universität Konstanz, der Europa-Universität Viadri na Frankfurt (Oder) , der J.W. Goethe Universität Frankfurt a. M. und der Philipps-Universität in Marburg. Lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte : Literaturtheorie, Rhetorik, Dekonstruktion, gen der studies, Gedächtnis, Romantik, Barock, Manierismus, Medientheorie (Schrift, Kl ang, Bi l d, Visualität) , mythopoetische Figuren (Sirenen, Memnon).
Autoren des Bandes
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Ola! Mörke, geb. 1 952. Studium der Geschichte, Politikwissenschaften und Pädagogik an der Philipps-Universität Marburg. 1 976 Staatsexamen. 1 978- 1 984 wissenschaftl icher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich " Spätmittelalter und Reformation" (Universität Tübingen). 1 983 Promotion. 1 985- 1 996 zunächst Lehrbeauftragter, dann Mitarbeiter, Assistent und Oberassistent am Historischen Institut der Universität Gießen. 1 992/ 1 993 Fellow in Residence am Netherlands Institute for Advanced Study (WassenaarlNL). 1 994 Habilitation. 1 995 Lehrstuhlvertretung an der Humboldt-Universität Berlin. Seit 1 996 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte (Schwerpunkt: Frühe Neuzeit) an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel . Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Reformation, spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtgeschichte, Geschichte der Niederlande, Geschichte kultureller Identitäten. Francisco Molina Moreno, geb. 1 969 in Madrid. Studium der Klassischen Philologie an der Universidad Complutense bis 1 992. 1 998 Promotion mit der Arbeit: "Orfeo y la mitologia de la musica" . Forschungsschwerpunkte: Mythologie der Musik, Philosophie der Musik in der Antike, mythische Geo graphie und Kosmographie. Momentane Forschungstätigkeit zum Thema Be ziehungen zwischen Seele und Musik bei der Orphik und die pythagoreische Philosophie. Bernhard Teuber, geb. 1 954. Studium der Romanischen und Klassischen Philologie in München, Tours und Salamanca. 1 986 Promotion in München mit der Arbeit: " Sprache, Körper, Traum. Zur kamevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit", Tübingen 1 989. 1 992 Forschungs stipendiat der Humboldt-Stiftung in Madrid. 1 994 Habilitation in München mit der Arbeit: "Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung beim hl. Johannes von Kreuz. 1 996 Professor für Romanische Philologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit August 2000 Professor für fran zösische und spanische Literatur sowie für das romanische Mittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Kame valeske Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, spanische Mystik, Literatur der Modeme in Frankreich und Lateinamerika, literarische Anthro pologie, Theorien der Postmoderne.
PERSONEN- UND ORTSREGlSTER
Personen Adam von Bremen 6, 37, 38, 39, 43-45, 53, 64, 99 Aelian 5 3 Agricola 4 2 , 44 Ailly, Pierre de 5 3, 64 Aischylos 63 Alexander von Aphrodisias 57 Alkaios 22, 23 Alkuin 67 Ambrosius von Mailand 5 8 Amundsen, Roald 1 3 8, 1 67 Anaxagoras 55-57 Andreas Capellanus 1 90, 1 93 , 1 94 Antoninus Liberalis 23 Apollonios Rhodios 6 1 Apuleius, Lucius 1 79 Aratos 57 Aristophanes 57 Aristoteies 57, 6 1 , 1 52, 1 85 Augustinus, Aurelius 1 5 1 Augustus 40, 98 Aurelianus Reomensis 58, 64 Avicenna 1 86 Bacchylides 52, 63 Bachtin, Michail 8, 1 78, 1 79 Bacon, Francis 1 87 Bacon, Roger 53, 64 Balzac, Honore de 1 79 Baudelaire, Charles 1 1 4, 1 54, 1 88, 1 90, 1 95, 1 97- 1 99, 200 Bausinger, Hermann 1 23, 1 24 Beda 55 Benjamin, Walter 1 27, 1 99 Berthier, Louis-Alexandre 1 1 7 Beuys, Joseph 1 82 Bloom, Harold 1 62
Blumenberg, Hans 1 5 1 , 1 53 Borges, Jorge Luis 1 5 1 , 1 5 3, 1 54, 1 79 Braude!, Ferdinand 1 85 Brutus, Marcus Iunius 1 1 7 Caesar, Gaius Iulius 30-34, 39, ! 1 3 Cassius Dio 56 Castoriadis, Comelius 1 89 Cato, Marcus Porcius 1 1 7 Certeau, Michel de 8 , 1 78, 1 82, 1 84 Chamisso, Adelbert von 1 53 , 1 60 Champagne s. Marie de Champagne Chapman, Malcolm 3 1 Chateaubriand, Fran�ois Rene Vicomte de 1 09, 1 1 1 - 1 1 3 , 1 1 5, 1 1 6, 1 88 Christian IV. von Dänemark und Norwegen 70, 94, 95 ,Cicero, Marcus Tullius 58, 1 1 7 Clemens Alexandrinus 59
Coleridge, Samuel Taylor 1 54 Cook, Frederick Albert 1 5 8, 1 67 Cook, James 1 46 Cooper, James Fenimore 1 54 Cosmas Indicopleustes 59 Dahlbergh, Erik 1 00, 1 0 1 , 1 03 Damaskios 59 Dante Al i gh ieri 1 45, 1 48, 1 49, 1 5 1 - 1 54, 1 56, 1 63 Davi d , Jacques Louis 1 1 8 Demokrit 1 5 Di cui l 44 Diderot, Denis 1 88 Diodor 23, 32, 49, 52, 54, 56, 62 Diogenes Laertios 57 Dionysios von Halikamassos 32, 56, 5 7
Personen-
208 Dostojevskij , Fjodor Michailowitsch 1 79 Dracontius, Blossius Emi lius 5 6 Drake, C .A. 1 62 Elias, Norbert I 1 1 Eliot, Thomas Ste arns
Erasmus von Rotterdam
1 20
1 3 6- 1 3 8
Hagenbeck,
H ekatai os von Henry, Robert
Milet 3 1 1 13
Herodot 1 2, 3 1 6 1 , 62 Heym, Georg 1 54, 1 5 8, 1 70, 1 7 1
Hesiod
Eudoxos von Knidos 54, 5 5 , 5 7
56, 5 7
Euldeides
77-79, 82, 84-86, 89 Car1 1 36- 1 3 9 Hampe, Roland 1 6 Hazelius, Artur 1 28, 1 3 1 , 1 34
Habsburger 7 1 ,
Hekataios von Abdera 5 1 , 5 3 , 54, 65
1 54
Empedokles von Agrigent 63 Eskimos
und Ortsregister
Everdingen, Allaert van
1 02, 1 03
1 63 - 1 65,
1 67, 1 68,
Hildegard von Bingen 52
22 E.T.A. 1 1 2 Hölscher, Uvo 1 5 Homer 14, 20, 25, 27 Himerios
Falke, Jacob von Fenelon
1 34 , 1 3 5
115
Ferdinand 11.,
Kaiser d. HI. 88 Flaubert, Gustave 1 48, 1 79 Fontanes, Louis de 1 1 5 , 1 1 6 Foucault, Michel 8, 1 48, 1 69, 1 70, 1 78- 1 82 Röm. Reiches 74,
Fränkel, Hermann 1 5
H rabanus Maurus 54-56, 64 Huarte de San Hugo, Victor
Juan, Juan 1 87 1 07, 1 08, 1 1 4, 1 1 5 , 1 1 7, 1 1 9
23
Iser, Wolfgang
89
44 98
Honorius (von Autun?) Honthorst, Gerrit van
I ambl i ch
Franken 3 7
Franklin, John 1 46 Franz I. von Frankreich
Hoffmann,
1 89
Isidor von Sevilla 44, 52, 53, 6 1 , 64
Freud, Sigmund 1 95 Friedrich 11. von Dänemark und Norwegen 94
138 1 1 4, 1 1 5
Jacobsen, Johan Adrian Jauß, Hans Robert Jordanes 37, 42, 43
Gallier 30-33
Julian
63
Geertz, C l i fford 1 75 Geminos
27, 44, 6 1
Geoffrey of Monmouth 5 3 , 64
7, 29-37, 39, 1 40 Carlo 1 62 Goten 37, 43, 77, 78, 88 Greenblatt, Stephen 8, 175
Kallimachos 24 ,
62
Kant, Immanuel 1 1 1
Große 40
Germanen
Karl der
Ginzburg,
Karl V., Kaiser d. HI. Röm. Reiches 89
Grosseteste, Robert 53, 64 Güßfeldt, Pa ul
141 Adolf von Schweden 7 0- 72 , 74-76, 78, 82, 84, 88, 1 00, 1 79 Gustav 111. von Schweden 80
Gustav 11.
8 1 , 82, 84 Große 86 Kelten 3 1 -33, 39, 1 1 1 , 1 1 3 Kerenyi, K. 63 Key, E ll en 1 42, 1 43 Ki mbem 40 Kleomedes 56 Klöcker von Ehrenstrahl, David 1 04, 1 05 Karl
XII. von Schweden
Katharina 11., die
Personen- und Ortsregister Knieper, Hans 94
Kolumbus, Christoph 32, 1 56, 1 74 Kraus, Karl 1 5 8, 1 67 Kyrill von Jerusalem 5 9 Labov, W illi am 1 84
209 Mercator, Rumold 1 55 Meulen, Cornelis van der 1 04, 1 05 M i ch ael Italikos 60 Milton, John 1 4 8, 1 49, 1 54 Montesquieu, Charles-Louis de 1 07, 1 87,
1 88
Lacan, Jacques 1 89
Montrose, Louis A. 1 77
Lappen 1 3 7
Moreau, A. 62, 63
Larsson, Carl Olof l 25, 1 40- 1 43 Laßwitz, Kurd 1 54, 1 58
Nado l ny, Sten 1 45, 1 46
Le Brun, Charles 1 1 8 Le P lays , Frederic 1 30 Le Tourneur, M. 1 08 Lengefeld, C ec ili a 1 42 Lessing, Gotthold Ephrai m 1 48, 1 49
Nansen, Fr idtj o f 1 3 8, 1 40 N apo leon 1 1 8, 1 1 9 Nerval, Gerard de 1 99 Nikephoros Gregoras 6 1 Nodier, Charles 1 1 2
Les s i ng Julius 1 32 Leutemann, H ei nri ch 1 36
Normannen 48
Lezama Lima, Jose 8, 1 89 Lienhard, Fritz 1 4 1
Oenop ides von Chios 63 Orosius 43
Linde, Charlotte 1 84 Li ppman, Walter 1 2 4
Oskar 11. von Schweden und Norwegen
,
Löfgren Orvar 143 Lorrain, Claude 1 05 ,
Lotman, Jurij M. 1 76- 1 78, 1 8 1 , 1 82, 1 84 Lovecraft, Howard Ph. 1 63
1 39 Ossian 8, 1 08, 1 09, 1 1 1 , 1 1 3 , 1 1 6, 1 1 8, 1 20, 1 4 1 , 1 88 Ovid (Publius Ovidius Naso) 6 1 Oxenstierna, Axel 84
Ludw ig XIV. von Frankreich 1 2 0
Lyschander, C.C. 40
Paracelsus 72 Parmenides von Elea 63
MacCanne lI, Dean 1 3 3 Magnus, Johannes 94 Magnus, OIaus 1 00, 1 02 Malebranche, Nico l as 1 87 Mal let Paul-Henri 1 08, 1 1 1 Marie de C hampagne 1 9 1 Martialis, M . V aleri us 6 1 Martianus Capella 4 3 , 44, 49, 5 2 , 53, 64 Maximilian, Herzog von Bayern 74 Maximus Tyrius 63 Meliton von Sardes 52 Melville, Hermann 1 54 Menander Rhetor 63 Mengs, Anton Raphae l 1 1 8 Mercator, Gerhard 1 53 - 1 5 5 ,
Passe, Cri s pin II. de 97 Passe, Simon de 97 Paulus D i ac onus 43, 64 Pausanias 5 1 , 6 1 Payer, Julius 1 45 , 1 47, 1 48, 1 56, 1 57, 1 60 Peary, Robert Edwin 1 67 Peringskiöld, Johannes 96, 97 Peter 1., der Große 84 Peterrnann, August 1 47, 1 48. 1 57, 1 5 8 Petrarca, Francesco 1 45 , 1 48- 1 53, 1 5 5 Pfeffer, Maria 74 P h i l ostrato s , Flavius 23, 60 Piaget, Jean 7, 1 2, 1 6
Piccolomini, Enea Silvio deo 49, 53, 64
210 Pindar 23, 24, 50, 5 1 , 60, 65 Platon 2 1 , 59, 98, 99 Plinius der Ä ltere 26, 4 1 , 43, 44, 48-5 1 , 53, 64, 1 74, 1 97 Plutarch 32, 47, 5 1 , 59, 6 1 , 62 Poe, Edgar A llan 1 54, 1 58, 1 62, 1 63, 1 68- 1 7 1 , 1 99 P olyb ios 26 Pompei us 1 1 7 P omponius Mela 33, 34, 39-44, 48, 49, 5 1 , 53, 54, 64 Porphyrios 6 1 Post, Frans 1 03 Proklos 60 Prokop 43 Psellos, Konstantinos 60 Ptolemaios, Klaudios 34, 42 Pytheas von Massalia 5, 1 1 , 1 4, 26, 27, 44, 52, 6 1 , 1 70, 1 74, 1 97 Quatremere de Quincy, Antoine C. 1 1 7
Radermacher, Lud wi g 1 8 Ransmayr, Christoph 1 45, 1 46, 1 48, 1 50, 1 52, 1 56, 1 57, 1 62, 1 63, 1 66, 1 70 R i mbaud , Jean Nicolas Arthur 1 54 Ritter, Joachim 1 5 1 Rives, J.B. 37 Roswitha von G andersh e i m 5 5 , 64 Rousseau, Jean-Jacques 1 1 5 Rudbeck, 010f 98, 99, 1 00 Ruskin, John 1 34 Ruysdael, Jacob van 1 02, 1 03 Sachsen 40 S all u sti u s C rispus , Gaius 3 8 Saussure, Ferdinand d e 1 84 Saxo Grammaticus 94, 97 Schmidt, Arno 1 54, 1 69, 1 70, 1 72 S chnabel, Johann Gottfried 1 53 Schrott, Raoul 1 60, 1 70 Schwartz, Vanessa R. 1 27 Scott, Robert Falcon 1 67
Personen- und Ort sreg ister
Scott, Walter 1 1 2, 1 1 6 Semper, Gottfried 1 3 4 Seneca, Lucius Annaeus (der Jünge re) 5 , 3 6 , 5 6 , 1 73 , 1 74 Servius 62 Shackleton, Ernest Henry 1 64 S hakespeare, William 1 48, 1 49, 1 75 Shel l ey, Mary 1 49, 1 54, 1 5 8, 1 67 Skythen 3 1 , 39 Söderman, Carl August 133 Sohnrey, Heinrich 1 42 Sokrates 2 1 Solinus, C . Iulius 43, 44, 5 1 , 53 S ophokle s 52 Stael-Holstein, Anne Louise Germaine de (Madame de Stael) 1 08 - 1 1 1 , 1 1 3 , 1 1 6, 1 1 9, 1 20, 1 88, 1 89 Starobinski, Jean 1 1 7 Stendhal l 1 4, 1 1 5, 1 1 8 Sternberger, Dolf 1 3 3 Stierle, Karlheinz 1 1 9 Strabo 26, 32, 48, 50, 1 1 3, 1 74, 1 97 Tacitus, Comelius 33-37, 40-44, 5 1 , 1 1 1 , 1 1 3 , 1 74, 1 79 Tasso, Torquato 1 5 6 Tempesta, Antonio 97 Theon von Smyrna 62 Theopomp von Chios 47, 50 Tibullus, Albius 6 1 Toynbee, Amold 1 89 Turgot, Anne Robert Jacques 1 08 V arus 40 Veme, Jules 1 54, 1 62, 1 63, 1 70 Wasa 70, 88 Wasa, Gustav 1 3 0 Wasa, Si gm und 8 8 Weyprecht, Car l 1 45, 1 48, 1 49, 1 5 7 Wikinger 67-69, 7 2 , 7 5 , 89 Wilhelm 1., Dt. Kaiser und König von Preußen 1 3 8
Personen- und Ortsregister Dt. Kaiser und König von Preußen 1 25, 1 39- 1 4 1 Will, Domenicus ver 94 Winckelmann, Johann Joac him 1 1 8 Wittgenstein, Ludwig 1 84 Worm, Oie 97 Wilhelm 11.,
21 1 Franz-Joseph-Land 1 45, 1 49, 1 50, 1 59, 161 Frederiksborg 8 1 Genf 87 Göttingen 1 1 0 Grönland 43, 44, 1 40, 1 47
Zorn, Ande rs Leonhard 1 40 Hamburg 1 37 Hannover 1 38
Orte Ägäis 1 5 Alpen 33, 1 0 1 Amsterdam 76, 1 02 Antarktis 1 45, 1 68 Arktis 1 45 Atlantik 1 0 1 Atlantis 98, 99 Augsburg 90 Baden 8 1 Baltisches Meer (Ostsee) 200 Bayern 73, 94 Beringmeer 1 46 Berlin 1 32, 1 37, 1 38, 140 Böhmen 77 Bologna 87 Bretagne 1 1 3 , 1 1 6 Brüssel 1 3 8 Burgund 78 Campagna 1 05 Christiania 1 29 Dalama 1 30, 1 42 Delos 22-24, 63 Delphi 22, 23, 62, 63 Donau 34, 35 Dresden 1 3 8 Eismeer 44, 1 1 2, 1 37, 1 39, 1 46, 1 47 Eibe 33, 40
Island 44, 1 08, 1 26 Jena 1 1 0 Jerusalem 39 Kalmar 88 Karelien 1 03 Kaspisches Meer 5 1 Köln 1 3 8 Kopenhagen 1 08 Korfu 1 6 Korinth 1 79 Lappland 1 07 1 26, 1 30, 1 33, 1 36 Leipzig 1 1 0, 1 37 Lissabon 200 Lofoten 1 3 8, 1 39, 1 54 London 1 1 1 , 1 28, 1 32, 1 3 8, 1 39 Lübeck 70, 76 Lützen 74 ,
Main 90 M armarameer 27 Memphis 1 1 9 Mittelmeer 48 Mont Ventou x 1 5 1 , 1 53 Nordkap 1 3 8 Nordland 1 25, 1 39- 1 4 1 , 1 97 Nordmeer 1 1 , 1 40 Nordost-Passage 1 45, 1 46, 1 56
Personen- und Ortsregister
212
Nordpol 49, 56, 64, 1 49, 1 54, 1 57, 1 58, 1 67 Nordpolanne er 1 57 Nordsee 1 0 1 , 1 1 2 Nordwest-Passage 1 46, 1 47, 1 56 Northumbria (Northumberland) 67, 1 79 Nowaja Semlja 148 Nystad 8 1 Orkaden 4 1 -45 Ostsee 1 7, 39, 4 1 , 42, 64, 76, 78, 79, 84, 88, 1 0 1 , 1 74 Paris 94, 1 09, 1 1 7- 1 1 9, 1 27, 1 30- 1 32, 1 34, 1 35, 1 38, 1 79 Peloponnes 1 6 Po1 26, 55, 56, 1 07, 1 47, 1 48, I SO, 1 5� 1 � 1 � 1 � 1 6� 1 � 1 � 1 � 1 96, 1 98, 200 Polanneer 1 47, 1 63 Rastatt 8 1 Rhein 30-35, 40 Rom 47, 74, 87, 99, 1 00, 1 08, 1 1 7- 1 1 9 Schonen 1 74 Schwarzes Meer 34 Seeland 1 74 Sigtuna 1 0 1 Skagen 40 Skansen 1 28, 1 3 1 , 1 34
S ognefjord 1 4 1 Spitzbergen 1 45, 1 48 St. Petersburg 1 4 1 Steiermark 82, 86 Stockholm 8 1 , 1 04, 1 07, 1 28, 1 3 1 , 1 34 Südpol 1 53, 1 62, 1 64- 1 68 Südpolanneer 1 53 Sundborn 1 42 Teutoburger Wald 40 Thessalien 1 79
ThuJe 5-7, 1 1 , 26, 27, 43-45, 47, 50-52, 6 1 , 62, 1 53 , I S S, 1 58, 1 70, 1 73, 1 74, 1 97, 1 98, 200 Tordesillas 1 56 Tomio 200 Trient 87 Trollhättan 1 03
Trondheim 1 1 5 Troyes 1 9 1
Uppland 97 Uppsala 99, 1 00 Utrecht 8 1 Vorpomm em 8 8
Weichsel 43, 44 Weimar 1 1 0 Wien 1 3 5 Wittenberg 87 Worms 90 Zürich 87
Imaginatlo borealis Bilder de. Norden. Herausgegeben von Thomas Haye
Band
1
Annelore Engel-Braunsch mid1 (Hrsg . ) :
Ultima Thule.
I Gerhard Fouquet I Wiebke von Hinden l i nken Nordens von d e r Antike bis zur Gegenwart. 2001 .
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Identitäten, Mental itäten, Mythen u n d Stereotypen i n multieth nischen eu ropäischen Reg ionen Fran kfurVM . , Berl i n , Bern, New York, Pa ris, Wien, 2 . , d u rchges. Auf l . 1 99 9 .
262 S.
I S B N 3 -63 1 -34682-4
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D i eser Tag u n gsband u ntersucht " Das B i ld vom Anderen " aus versc h iedenen Perspektiven . H isto r i ke r, Ethnologen , Literatu r- und Religionswissenschafter
setzen sich h ierbei mit der Mental itätsgesch ichte m u l tinationaler europä ischer Re g io ne n auseinander: Böhmen, Schlesien, di e Slowake i , Ostgalizien, d ie
B ukowi na, S iebe n b ü rgen, d i e Vojvod i na, Bosn ien-Herzegowi na, der Kosovo, die Alpen-Ad ria-Reg ion, Tirol und die S c hwe i z sind in i h rer Ko mplexität
Gegensta nd der B etrachtung .
Aus dem Inhalt: " B i l der in den Köpfe n " a u s eth n o l ogisc her, re l i g ions
wissensch aftl icher und l iteraturwi ssenschaftlicher S i c h t . Vom Zusammen leben der Völ ker · Stereotypen in Leh rbüchern
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