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forte, laut fortissimo, sehr laut piano, leise pianissimo, sehr leise allegro, schnell lento, langsam
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Axel Schmidt, Andrea Teuscher und Klaus Neumann-Braun crescendo, lauter werdend diminuendo, leiser werdend accelerando, schneller werdend rallentando, langsamer werdend
Ein- und Ausatmen .h, .hh, .hhh h, hh, hhh
Einatmen, je nach Dauer Ausatmen, je nach Dauer
Kult-Inszenierungen und Vermarktungsstrategien im „mentalen Kapitalismus“: Zum Wandel medialer Theatralität durch Marketingstrategien1 Udo Göttlich und Jörg-Uwe Nieland
1. Die Kultur des mentalen Kapitalismus Was vor wenigen Jahren noch für die Harald Schmidt Show und Wetten, dass ... galt, scheint sich nun vor allem für die Sendung TV total von Stefan Raab zu bewahrheiten: Auftritte in diesen Formaten ließen und lassen sich als Gradmesser für das Marketingpotenzial und den Kultstatus von jungen Mediensternchen bis hin zu Politikern werten. Diese Sendungen stellen eine Facette der Herausbildung der Kultur des „mentalen Kapitalismus“ (Franck 2003, 2005) dar. Das bestimmende Element dieser „Kultur“ kann darin zusammengefasst werden, dass der kulturelle Überbau die ökonomische Basis assimiliert hat (vgl. Franck 2003: 8). Nur so lässt sich nach Franck erklären, dass der- oder diejenige, die sich in diesem business oben hält, nur solange auch oben ist, wie er/sie eine zahlungsbereite – „nämlich Aufmerksamkeit zu zahlen bereite“ – Nachfrage befriedigt (vgl. ebd.: 9). Francks Deutung der kulturellen Entwicklung im letzten Jahrzehnt beruht auf der Beobachtung, dass das Wechselspiel von Achtgeben und Wertlegen zu einem Gesellschaftsspiel zusammengefunden hat. In diesem Spiel „ist das Achten, worauf andere achten, in einen Kreislauf des Gebens und Nehmens übergegangen.“ (Franck 2005: 14) Im Ergebnis kommt es zu einem „System hoch differenzierter und hoch integrierter Märkte“, das die Form kultureller Reproduktion affiziert: Weil die Summe der getauschten Beachtung zu einem Sozialprodukt geworden ist, behauptet Franck (ebd.), dass dieses „System der Bewertung die objektivierende Funktion übernommen hat, die so lange in Gründen jenseits des subjektiven Wertens und Achtens gesucht wurde.“ Eine solche Entwicklung bleibt nicht ohne Konsequenzen für die „Schauseite“ und
1 Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes „Kult-Inszenierungen und Vermarktungsstrategien im Kontext von Endlosserien und Musiksendungen“ dar, der in Willems, Herbert (Hrsg.) (2002): Die Gesellschaft der Werbung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 549-564. erschienen ist. Vgl. außerdem Göttlich (2007); Nieland (2008).
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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damit für die Theatralität der Medien, denn es entsteht eine neue „Art der Privatisierung eines öffentlichen Raums: die Privatisierung des uns als Subjekte umgebenden Erlebnisraums“, die zur Emergenz neuer Märkte führt (Franck 2003: 2). Weil auf diesen Märkten nicht Ware gegen Geld, sondern Information gegen Aufmerksamkeit getauscht wird, stellen sie etwas Neues dar (ebd.).2 Die Kultur des mentalen Kapitalismus schlägt sich in erster Linie beim Fernsehen nieder. Denn dem Fernsehen gelingt im Vergleich zu anderen Medien erstens eine stärkere Diversifizierung und Mischung des Angebots, es erreicht zweitens sein Publikum viel leichter und drittens agiert es in einer Doppelrolle, nämlich als ein Konsummarkt und zugleich als eine Börse. Als Börse fungiert das Fernsehen, weil es für ein Ranking der bekannten Gesichter sorgt und außerdem einen hohen Unterhaltungswert besitzt (vgl. Franck 2005: 152f.). Vor diesem Hintergrund erklärt sich das an der Programmentwicklung im letzten Jahrzehnt ablesbare Bestreben, mit der Präsentation von ständig neuen Stars und Sternchen die Aufmerksamkeitsspirale zu bedienen. Mit Francks Ansatz lassen sich auch die Ziele des Marketing in der Medienkultur und sein Einfluss auf die mediale Theatralität folgendermaßen umschreiben: Marketing dient dazu, das zu verkaufenden Produkt sowohl mit Prägnanz und Klarheit, als auch mit Attraktivität, Glaubwürdigkeit und Loyalität auszustatten, um Vertrauen beim Kunden zu erlangen. Der Kunde soll bereits auf den ersten Blick ohne große Vergleiche, das Produkt – und wohlmöglich nur das eine Produkt – kaufen. Markenbildung und Markensetzung sichern dem Produkt im Meer der vielfältigen Produkt- und Werbeinformationen Singularität, Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit – also absolute Aufmerksamkeit mit entsprechenden Kaufpräferenzen (vgl. Koziol 2007: 48). Für diese Zielsetzung gibt es aber auch Grenzen, die bei der Beschreibung von Veränderungen medialer Theatralität nicht unerwähnt bleiben können. Selbst wenn die Verantwortlichen etwas anderes behaupten: aus den vermarkteten Akteuren wurden und werden keine „Dauerbrenner“; sie bleiben meist Eintagsfliegen. Dabei fehlt es den neuen, von Marketingagenturen geschaffenen „Karrieristen“ nicht nur an „Personality“ und „Stilsicherheit“ (vgl. bspw. Lowe/Tennant 2002). Obendrein scheinen auch noch die Ideen für Formate auszugehen, in denen man die um Aufmerksamkeit kämpfenden Akteure dem Publikum weiterhin als attraktiv und begehrlich präsentieren könnte.3 Und auch der in Reaktion auf diese Situation ausgegebene Slogan: „Szenen statt Zielgruppen“ greift längst nicht mehr wie erhofft (vgl. die Beiträge in Gerken/Merks 1996).4 So erlahmen die seit Mitte der 1990er Jahre mit den Mitteln des „Kult-Marketing“ angezielten Steigerungsquoten, jedoch ohne dass die Kultur des mentalen Kapitalismus an ihre Grenzen stößt. Das einmal etablierte System steht den neuen Entwicklungen fordernd gegenüber und richtet scharf und unerbittlich. Gefangen in den aus
2 Vgl. grundlegend zur „ Ökonomie der Aufmerksamkeit“ Franck (1998) und zur „Inszenierungsgesellschaft“ die Beiträge in Willems/Jurga (1998). Douglas Kellner (bspw. 2005) geht noch einen Schritt weiter, er spricht im Anschluss an Guy Debord vom „Triumph des Spektakels“ in der Mediengesellschaft. 3 Vgl. zur Unterhaltungsproduktion im Allgemeinen die Beiträge in Friedrichsen/Göttlich (2004) und zur aktuellen Formatentwicklung im Speziellen die Beiträge Mikos/Döveling/Nieland (2007). 4 Es gab Prognosen wie: „Szenen und morphische Felder sind der beste Weg, um universal zu werden (...).“ (Gerken 1996: 25) oder „die Szenen sind die Rituale der neuen fraktalen Masse“ (ebd.: 28).
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der Aufmerksamkeits- und Öffentlichkeitsfalle erwachsenden Paradoxien (Schmidt 2001),5 sucht die Werbung ein Maß zwischen der (angeblich problemlosen) Verfügbarkeit von massenattraktiven Stilen und deren Vermarktung als außergewöhnlichem Ereignis.6 Mit Blick auf diese, von der Kultur des mentalen Kapitalismus angestoßenen Veränderungen geht es im ersten Teil des vorliegenden Beitrags sowohl um die Darstellung exemplarischer Erscheinungs- und Entwicklungsformen des Marketing in den Medien als auch um die Diskussion der Auswirkungen auf die Theatralität der Medien. Zur Einschätzung der kulturellen Folgen werden im zweiten Teil Beispiele für den Einfluss von neuen Medienangeboten auf Jugendszenen diskutiert. Den Hintergrund des Beitrags bilden die Ergebnisse aus dem Projekt „Daily Soaps und Kult-Marketing“ (vgl. u.a. Göttlich/Nieland 1998b; 2001; 2002a; Göttlich 2000; 2005), in dem wir den neuen Strategien im Medienbereich mit der Thetralitätsperspektive erstmals umfassend nachgegangen sind und ihre Ausweitung bis zu den Real Life Soaps und Casting Shows verfolgen konnten.
2. Kult-Marketing im Umfeld von Daily Soaps Das „Kult-Marketing“ (vgl. Bolz/Bosshart 1995; Bolz 1996) bezeichnete jene Marketing- und Merchandisingstrategien, die mit dem Aufstieg von neuen vor allem eigenproduzierten Unterhaltungsangeboten bei den privat-kommerziellen aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern seit Mitte der 1990er Jahre erstmals deutlich an Gewicht gewannen.7 Es waren damit eine Vielzahl neuer, bislang im deutschen Fernsehen nicht zum Einsatz gelangter Formen der Publikumsansprache und Werbemaßnahmen gemeint, die eng mit der Entwicklung der eigenproduzierten Daily Soaps sowie des Musiksenders VIVA in Verbindung standen.8 Nach und nach traten dann weitere Genres und Formate, wie z. B. die Real-Life-Soaps hinzu (vgl. u.a. Nieland/Göttlich 2002).9 Gemeinsames Kennzeichen dieser Angebote ist, dass sie vielfältige, oftmals über den konkreten Sendeanlass hinausgehende Bühnen geschaffen haben, auf denen das Produkt mit seinen Protagonisten präsentiert werden kann.10 Darüber hinaus ist den erwähnten Genres ihre beinahe ubiquitäre Verfügbarkeit durch die 5 Schmidt (2001: 78ff.) nennt als Paradoxien erstens die Aufmerksamkeitsverknappung (aufgrund der erfolgreichen Aufmerksamkeitssteigerung), zweitens die sinkende wirtschaftliche Effizienz von Werbemedienangeboten (vor dem Hintergrund des Anstiegs des kommunikativen Erfolges der Werbemaßnahmen und drittens die „Regionalisierung“ von Werbemedienangeboten (im Zuge der Mediennutzungsindividualisierung und Fragmentierung der Öffentlichkeit). 6 Vgl. grundlegend zum Zusammenspiel von Marketing und Events Boltz (1994); Gebhardt (2000), Willems (2000). 7 Vgl. zum Stellenwert von Eigenproduktionen im dualen Fernsehsystem u.a. Göttlich/Nieland (1998b), Karstens/ Schütte (1999) sowie Siegert (2001); vgl. auch die Beiträge in Friedrichsen/Göttlich (2004). 8 Vgl. zu den deutschen Daily Soaps Göttlich/Nieland (1998c; 2001; 2002a); zum Musikfernsehen die Beiträge in Neumann-Braun (1999) sowie Nieland (1999). 9 Erinnert sei an die Vermarktung der Sprüche des Big Brother-Kandidaten Zlatko, an den Verkauf des Inventars des Containers sowie die Eventisierung der Fernsehsendung während der Ein- und Auszüge der Kandidaten und der Gäste; vgl. auch Göttlich/Nieland (2002b). 10 Es ist derzeit eine offene Frage, ob sich im ‚social web‘ für solche Angebote eine Bühne bietet.
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tägliche Ausstrahlung sowie zahlreiche Wiederholungen und ausgiebige Selbstthematisierungen in Magazinen und Off-Line und On-Line-Werbung gemeinsam. Dies hat ihnen über Jahre hinweg hohe Marktanteile bei den für die Werbung relevanten Zielgruppen gesichert. Das Ziel, Moden, Stile, Trends, vor allem aber Marken über spezielle Inszenierungen bei den Jugendlichen zu verankern, hatte Erfolg. Da sich Marken, wie insbesondere das Beispiel der Techno-Szene zeigte, offensichtlich in kollektive, gruppenspezifische und individuelle Rituale integrieren lassen (vgl. Liebl 2000; Jacke 2001) und zum Teil der Alltagskultur wurden, war ein Ansatzpunkt gegeben, diese Entwicklung auch auf andere jugendkulturelle Bereiche auszuweiten (vgl. Hitzler 2000). In diesem Prozess sollten Marken zu „sekundären Sinnstiftungsagenturen“ werden, indem sie Eigenständigkeit gegenüber den Sendeangeboten und den Institutionen gewannen (Siegert 2001: 239).11 Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Big Brother sind in diesem Sinne vermarktet worden, und können auch heute noch als eigenständige Marken gelten. An dieser Stelle lässt sich zur Rolle des Kult-Marketing bekräftigen – was unsere früheren, diesem Aufsatz zugrundeliegenden Untersuchungen zu den Daily Soaps und Real Life Soaps sowie Musiksendungen bereits zeigten – dass dessen Erfolg auf folgenden Strategien beruht: – dem Marken- und Character-Branding,12 – der Entwicklung eines Sender- und Programmimages, – der Schaffung von Senderbindung, – dem Aufbau und der Pflege des „Audience Flows“, – der Schaffung und Verstärkung von Moden, Trends und Stilen, – dem Auf- und Ausbau von Präsentations- und Absatzmärkten (bspw. Göttlich/Nieland 1998a: 419). Der Einsatz des Kult-Marketings bei den Daily Soaps führte auch zur Re- und Neukombination der jeweiligen Genrekonventionen, was für die Weiterentwicklung des Genres in den 1990er Jahren entscheidend war.13 So wurde das genretypische Erzählkonzept der ineinander verschachtelten Geschichten über den Alltag als wichtige Basis für die vorwiegend jugendkulturelle Ansprache aufgegriffen. Damit wurden zum einen die Inszenierungsweisen des Alltäglichen verfeinert (vgl. Göttlich 1995; Göttlich/Nieland 1998a). Entscheidend war zugleich ein zweiter Aspekt, der in der Schaffung zusätzlicher, mit den Soaps aufs engste verbundenen populärkulturellen Ereignissen und Erlebniswelten mündete, für die es im deutschen Fernsehen bis zu diesem Zeitpunkt keinen Vergleich gab (vgl. Göttlich/Nieland 1998c). Ihr Ziel lässt sich darin zusammenfassen, das Angebot zu einem außergewöhnlichen Ereignis zu machen, gerade da es im Fernsehen täglich verfügbar ist. Es handelt sich vor allem drei Marketingstrategien – die wiederum zuerst im Umfeld der Daily Soaps zu beobachten waren – die auf Jugendmärkten ineinandergreifen. Zum einen das Sponsoring, also die Unterstützung einer Szene mit der gleichzeitigen Vermittlung von
11 Vgl. mit Blick auf die Potenziale des Internets als (neue) Werbeplattform u.a. Krempl (2001). 12 Character-Branding beschreibt den Vorgang, die als eigene Charaktere ausgebauten Medienfiguren und ihre Popularität zur Kennzeichnung von Produkten und Dienstleistungen einzusetzen, um diese durch die Verbindung zu veredeln und mit den der Medienfigur zugeschriebenen Attributen anzureichern (Siegert 2001: 165f.). 13 Beispiele wären die „Kindersoap“ Schloß Einstein (auf dem Kinderkanal) oder die von Grundy/UFA produzierte „Internetsoap“ Zwischen den Stunden.
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Werbebotschaften, die als „Kitt“ dienen sollen.14 Zum zweiten die Erlebnisweltenkonstruktion. Sie betrifft Möglichkeiten zur virtuellen Teilhabe an Lifestyle-Szenarien durch produktspezifisch konstruierten Erlebniswelten (Boltz 1994; vgl. auch Hitzler 2000).15 Drittens schließlich das Merchandising und Licensing, womit die Rechteverwertung von UrheberNebenrechten aus dem Entertainmentbereich und dem Imagetransfer von Symbolen, Figuren etc. aus Fernseh- und Kinofilmen auf Konsumgüter gemeint ist. Die Diffusion der symbolischen Markenwelten in die Alltagswelten fußt auf dem Ziel der Nutzung der mit ihnen verbundenen Emotionen als potenzielle Auslöser von Kaufentscheidungen für spezifische Produkte (Vollbrecht 2001: 252). Dieser Erfolg des Kult-Marketings war die Voraussetzung dafür, dass die Vernetzung der formalen, inhaltlichen und marketingbezogenen Strategien inzwischen auch in anderen Unterhaltungsangeboten eine immer wichtigere Rolle spielt (vgl. Göttlich/Nieland 1998b: 168; Nieland 2004). Vor allem die Figuren der Serien, aber auch der Protagonisten aus Big Brother, waren in den unterschiedlichsten Medien beinahe allgegenwärtig. Sie tauchten nicht nur täglich in den Soaps auf, sondern auch in Werbeclips, auf Promotion-Events, in Fanmagazinen, Lifestyle-Magazinen und in Musikproduktionen (vgl. Göttlich/Nieland 2002b). Diese Präsenz hält bis heute bei unterschiedlichen „Stars“ an, hat sich in den letzten Jahren aber von den Soaps auf die Sieger von sog. Casting-Shows verschoben. Für die Verankerung und den Erfolg des Kult-Marketings ausschlaggebend war desweiteren, dass ein Kultstatus besonders jenen Tendenzen, Moden oder Stilen zufiel, die auf eine leichte Wiedererkennbarkeit hin angelegt waren und Kommunikation sowie Verständigung auch zwischen verschiedenen Gruppen vor allem durch Symbole, Marken und Personen ermöglichten. Dem Kult um Marken und Stars kam damit eine ordnende Funktion zu, die neben die gesellschaftsstrukturellen Variablen wie Alter, Klasse, Stand und Schicht bzw. Beruf trat. Das Prinzip lautet – damals wie heute –: es müssen Brücken zur Jugendkultur gebaut werden. Hierzu hat sich die Einbindung der (Pop-)Musik bestens bewährt. So tauchten eine Zeit lang in fast jeder Daily Soap bekannte Gesichter aus den einschlägigen Musikclips bzw. Musiksendungen auf. Zugleich wurden in den Soaps eigene Karrieren junger Sänger angestoßen. Erste Beispiele für Erfolge waren Christian Wunderlich aus Verbotene Liebe sowie Oli P., Jeanette Biedermann und Yvonne Catterfeld aus der Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Die genannten Darsteller standen für bestimmte Musikstile und bildeten einen Kristallisationspunkt für bestimme jugendkulturelle Szenen16 – was durch Kleidung und Accessoires dieser Personen unterstrichen wurde. Und noch einem weiteren Ziel diente der kontinuierliche Austausch zwischen den Soaps und den Musikszenen. Da die täglichen Seifenopern ihrer Struktur nach ein standardisiertes Produkt sind, kann sich das Angebot des einen Senders von dem eines anderen Senders in diesem Sektor nur dauerhaft dadurch deutlich abgrenzen, wenn eine voneinander unterscheidbare Verpackung für die annähernd gleichen Geschichten und Dramatisierungsweisen gelingt. Das Programm-Design, in dessen Dienst die Musikgruppen
14 Diese Art der Vermarktung wird auch als „Do-it-yourself-Manipulation“ bezeichnet (Vollbrecht 2001: 251). Ein Beispiel für diese Strategie wäre der von der Zigarettenfirma Camel gesponserte „Air Rave“. 15 Hier wäre an die „Marlboro-Abenteuer“ oder auch die so genannte Erlebnisgastronomie zu denken. 16 Bezüge etwa zur Skater-Szene oder die Techno-Szene sind in den Daily Soaps zahlreich zu finden. Dies sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob und wie diese Verweise in den jeweiligen Szenen aufgenommen werden.
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standen, bot eine Gelegenheit dazu. Zugleich stellten die Musikgruppen weitere Verbreitungswege der Soap über die Ausstrahlung der einzelnen Serienfolgen hinaus sicher. Die Musikgruppen dienten der Absatz- und Marktanteilssteigerung des Ausgangsprodukts der Serie und des Senders. Als Multiplikatoren des Soap-Images funktionierten im Weiteren auch die Fanmagazine zu den einzelnen Soaps, die eine weitere Brücke zwischen populärkulturellen Ereignissen und den Soaps zu bilden suchten, indem sie oftmals als Ankündigungsorgane für die zusätzlichen Aktivitäten im Soap-Umfeld dienten. Verlost wurden beispielsweise Teilnahmen an Sportveranstaltungen mit den Serienstars oder auch Statistenrollen. Wer auf dem Laufenden bleiben wollte und bis heute auch bleiben will, ist aber nicht mehr nur auf diese Magazine verwiesen.17 Das Internetangebot zu den einzelnen Formaten bietet eine reichhaltige Plattform, die der Organisation der Zuschauerbindung dient, indem sie dem „Kunden“ den Anschein der Teilnahme lässt. Wie (ökonomisch) erfolgreich diese spezifische Ausrichtung des Kult-Marketings war, zeigt sich daran, dass auch heute noch ganze Lifestyle-Settings von der Inszenierungswelle erfasst werden und mit zu neuen Formen der Theatralität der Medien führen. So findet sich das Aufgreifen, Präsentieren und Verstärken von Trends der Jugendkultur nicht nur im Bereich der Popmusik. Soaps und Casting-Shows sind gerade für Moden und Stile von der Kleidung bis zu Wohnungseinrichtungen, Accessoires, Frisuren und ähnlichem mehr, weiterhin Trendverstärker. Daraus ergeben und entwickeln sich spezifische Alltagsbezüge, die nicht von vornherein auf bestimmte Schichten und Lebensstile festgelegt sind und Gelegenheiten zu Kombinationen bieten, was dem mit dem Begriff der „bricolage“ beschriebenen Verhalten in jugendkulturellen Szenen entgegenkommt. Bricolage wird hier als spezifische Umgangsweise mit Zeichen und Symbolen verstanden, die aus ihren ursprünglichen Bedeutungskontexten durch Aneignungen in neue Kontexte überführt und dabei umgedeutet werden. Resultat ist eine Vermischung unterschiedlicher Zeichen und Symbolsysteme zu einer neuen Bedeutungseinheit. Um zu erläutern, welchen Stellenwert diese Bricolage nicht nur im „Symbolhaushalt“ der Jugendlichen hat, sondern als Objekt und Motor aktueller Vergemeinschaftungsformen dieser Altersgruppe fungiert, werden im folgenden aktuelle jugendsoziologische Befunde diskutiert. Mit ihnen wird die Verbindungsstelle zwischen alltagskultureller Entwicklung und Theatralität der Medien unter dem Regime der Marketingentwicklung auf sozialisationstheoretischem Gebiet aufgesucht.
17 Auch wenn das Internet inzwischen teilweise diese Funktion übernimmt: So dient die Kommunikation in den Chats dem Austausch der Fans untereinander und bietet für die Macher eine Quelle, um Anregungen zur Verbesserung oder Weiterentwicklung der Soaps zu erhalten. Vor diesem Hintergrund haben die Sender und Produktionsfirmen in den letzten Jahren viel Geld und Zeit in den Aufbau und die Pflege der Internet-Seiten gesteckt.
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3. Zur Rolle medialer Theatralität für Jugendszenen18 Auf der Suche nach den aktuellen Vergemeinschaftungsformen hatten Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher (2001) die Szene als jenen Ort bestimmt, der zunehmend als Sozialisationsagentur fungiert und somit auch für das Marketing und neue Formen medialer Kommunikation spezifische Anschlussmöglichkeiten schafft. In Auseinandersetzung mit der Individualisierungsthese gingen sie dazu nicht von einem generellen Verlust, sondern vielmehr von Veränderungen sozialer Interaktionsmodi aus, die mit der Herauslösung des individuellen Lebenslaufs aus formalen Organisationen verbunden ist, die zur Entstehung neuer sozialer Zusammenhänge führt.19 Während die klassischen Instanzen wegbrechen, entstehen neue soziale Zusammenhänge.20 Die Szenen bilden in diesem Prozess für Jugendliche, deren Sozialbeziehungen vielfach situativer und assoziativer sind, eine neue Instanz. Auch Winfried Gebhardt spricht davon, dass Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse nicht zur Vereinsamung der Menschen, sondern zu Veränderungen der Formen und Modalitäten der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führen (Gebhardt 2000: 28). Zum einen transformieren sich die bisherigen Gesellschaftsformen. Sie werden in ihren Widersprüchen diffuser und ihren normativen Vorgaben unverbindlicher. Zum anderen werden sie zunehmend der Konkurrenz von neu entstehenden, offenen und partikularen Gesellungsformen, wie es typischerweise Szenen sind, ausgesetzt (ebd.). Grundsätzlich gilt, dass Gesellungsgebilde ihre vergemeinschaftende Kraft immer weniger im Rekurs auf die Lebenslagen ihrer Mitglieder gewinnen, sondern durch „verführerische“ Angebote und gemeinsame Interesse, Leidenschaften und Neigungen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 211). Das scheint die Stelle, an der die Symbole und Stilangebote des Marketings im Sinne „sekundärer Sinnstiftungsagenturen“ wirksam werden können. Bei den von Hitzler untersuchten und analysierten Szenen zeigte sich das an folgenden Kriterien: – dem Vorhandensein von langfristig erworbenem Wissen, – der Identifikation mit den in der Szene gepflegten Einstellungen und Haltungen, – einem wertrationalen Handlungsmodus mit entsprechenden Stilisierungen, – einem Engagement für den (augenblicklichen) Lebensstil, – der Existenz von spezifischen Treffpunkten, – der Existenz von Events, – der Verbreitung und Existenz interner Medien.21 Diese Kriterien bilden sozusagen die Eckpunkte dafür, Szenen als ein Interaktionsgeflecht zu beschreiben. Dieses Interaktionsgeflecht konstituiert sich auf der Akteursebene aus einem Publikum, aus Szenegängern sowie einer Organisationselite, aber auch Freunden und professionell Interessierten (ebd.: 211ff.). Die für den vorliegenden Zusammenhang zentrale Frage
18 Auf diesen theoretischen Bezugsrahmen stützen sich auch Göttlich (2007) sowie Nieland (2008). 19 Vgl. hierzu auch die Arbeit von Schroer (2001 insb.: 453f.); vgl. zu den Herausforderungen an die Lebensgestaltung Jugendlicher Schulze-Krüdener/Vogelgesang (2001). 20 Inwieweit hier eine Gegenbewegung zu dem von Robert Putman als „Bowling alone“ bezeichneten Trend entsteht, ist zur zeit (noch) nicht auszumachen. 21 Beschäftigt hat sich die Forschungsgruppe um Ronald Hitzler mit folgenden Szenen bzw. Gruppen: TechnoSzene, Hardcore-Szene, Schwarze-Szene, Skater-Szene, Graffiti-Szene, Konsolenspieler, Daily Soaps-Fans, Türkische Street Gangs, Antifa-Szene, Drogen-Szene, Jugendliche im DLRG und die Sportkletter-Szene.
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ist nun, inwiefern dieses Interaktionsgeflecht auch eine veränderte Voraussetzung für den Ort und die Rolle medialer Theatralität, die von Werbung und Marketing durchzogen ist, bildet. Was in diesem Zusammenhang die Frage der Medienbeziehung von Szenen anbelangt, so ist offensichtlich, dass heutzutage so gut wie keine Szene ohne Medien und medienvermittelte Symbole bestehen oder sich entwickeln kann. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die an Daily Soaps interessierten Jugendlichen, vor allem junge Mädchen im Alter von 12-16 Jahren nicht als Szene, sondern als eine soziale Gruppe von Fans gelten (Hitzler/Bucher/ Niederbacher 2001: 219). Unsere Forschungen zu den Daily Soaps, ihrer Produktion und dem Kult-Marketing, als auch der Nutzung und Aneignung von Soaps (vgl. Göttlich/Nieland 2001) legen allerdings den Schluss nahe, dass auch in dieser Gruppe sehr wohl eine Identifikation sowie ein „wertrationaler Handlungsmodus“ existiert (ebd.). Dies trifft in erster Linie auf die Kernzielgruppe der jungen Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren zu. Auch gibt es – eben mit dem KultMarketing in direkter Verbindung stehend – Treffpunkte (insbesondere die Produktionsstätten), Events (sowohl für einzelne Folgen geschaffene wie auch Beteiligung an anderen Veranstaltungen – etwa der Love-Parade) und schließlich auch interne Medien (insbesondere die bereits erwähnten Chats). Da die Produktionsfirmen und Sender intensiv die Fanclubs betreuen – die Clubs erhalten exklusive Informationen und Materialien – kann davon ausgegangen werden, dass es ein enges Kommunikationsnetz (teilweise auch interne Medien) zwischen der Organisationselite und professionell Interessierten gibt. Diese Beobachtung wird durch die im Netz stattfindende Kommunikation, an der sich auch Freunde (der Organisationselite) und Szenegänger beteiligen, bestätigt. Insbesondere die im Rahmen des Duisburger Forschungsprojektes durchgeführten Gruppendiskussionen und Einzelgespräche mit Jugendlichen zu ihrer Soap-Nutzung22 machten deutlich, dass es sehr früh bereits einen mit anderen Mädchen geteilten Lebensstil gibt, der auf einen dominanten Bezug zum medialen Angebot fußt (Göttlich/Nieland 1998a; 2001). Dieser Bezug stützt sich allerdings nicht nur auf ein mediales Angebot – hier die Soaps –, sondern auf ein Medienmenü, bestehend aus Musiksendungen, Soaps, Serien und zum Untersuchungszeitraum auch der Real-Life-Soap Big Brother (Göttlich/Nieland 2001; 2002b). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch im Fall von (mehr oder weniger intensiven) SoapNutzung von einer „Szene“ bzw. einem Interaktionsgeflecht und Akteurssystem sprechen. D.h. dass anhand der Soaps die Strukturen erworben und bekannt sind, die für den Zugang zu anderen mediengestützten Szenen genutzt und eingesetzt werden können, wenn das Interesse an den Soaps z.B. altersbedingt abnimmt. Dass diese Orientierung an Muster anschließt, die die Soaps vermittelt haben, lässt auch auf die Entstehung bzw. Herausbildung von neuen Szenen schließen, die möglicherweise mit dem Stil- und Symbolrepertoire der Soaps spielen. Neben den Selbstverwirklichungs-Szenen, Aufklärungs-Szenen und Hedonistischen-Szenen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 224f.) sprechen wir im Fall der spezifischen Gruppierungen von Soap-Nutzern von mediengestützten Szenen. Mediengestützte Szenen verweisen auf das Zusammenspiel von: Produktionsfirmen, Sendern, Spezial-Interest-Verlagen, Merchandisinganbietern und Stars. Denn hier verdichtet sich das, was Schmidt und Spieß als 22 Die Auswahl der Jugendlichen beschränkte sich übrigens nicht – wie im Fall des Dortmunder Projektes – auf Soap-Fans.
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Kommerzialisierung der Kommunikation bezeichnet haben: Marken und Figuren liefern das Material für kollektive Bedeutungskomponenten der Alltagsästhetik, indem sie den Aufbau von Stiltypen befördern. Auf diese Weise entstehen soziale Milieus mit erhöhter Binnenkommunikation (Schmidt/Spieß 1997: 82). Gerade im Rahmen dieser Binnenkommunikation erlernen die Jugendlichen auch die Werbe- und Marketingmechanismen zu durchblicken und als ein „taktisches Spiel“ zu begreifen. (Spar 1996: 58) Letztlich beschleunigen und verstärken die mediengestützten Szenen die von Hitzler und Mitarbeitern für die Szenen beobachtenden Trends der Differenzierung, Ästhetisierung, Eventisierung und Kommerzialisierung (2001: 227ff.). Offensichtlich wird dies auch bei den neuen Konzepten für Jugendserien, aber auch bei den Doku- und Reality-Soaps. Besonders auffällig ist diese Entwicklung allerdings bei der Vermarktung von Kinofilmen und Kult-Serien. Die von Star Trek bekannten Strategien – sowohl der Fernsehserie(n) wie auch der Kinofilme – setzen sich auch für den Bereich der Fantasy-Szenen (etwa bei Akte X, Star Wars sowie Herr der Ringe) fort.23 Die Fans der letztgenannten Filme stellen ebenfalls eine mediengestützte Szene dar, im Unterschied zu den Soap-Nutzern richtete sich hier das Marketing jedoch an eine erwachsende bzw. mitwachsende Zielgruppe.
4. Aktuelle Erscheinungsformen des Kult-Marketings: Steigerungen und Grenzen24 Als einschlägige internationale Beispiele für das Kult-Marketing im Umfeld von Daily Soaps und damit für den Einfluss auf die mediale Theatralität neuerer Fernsehformat können die Karrieren von Kylie Minogue und Natalie Imbruglia herangezogen werden (vgl. Göttlich/ Nieland 1998c). Die beiden Australierinnen traten in der Soap Neighbours auf und starteten im Anschluss eine Musikkarriere in Großbritannien bzw. weltweit. Hier zeigen sich nicht nur die Potenziale des Kult-Marketings, deutlich wird auch, wie wichtig ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Trading Down und Trading Up ist. Während das Trading Down eher das traditionelle und auch weitverbreitete Konzept verfolgt – nämlich die Kommerzialisierung durch Eingemeindung in den Massengeschmack (Liebl 2000: 384)25 –; fiel dem Trading Up offensichtlich eine „qualitätssichernde“ Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Produkte bzw. Marken – vor allem mediale Angebote – in Premiumbereiche der Programmstrukturen vordringen wollten.26 Die Automobilbranche lieferte hierzu das zentrale Erprobungsfeld. Der Zukauf der Marken Bentley, Bugatti und Lamborghini sowie die Produktion des Oberklassemodells Phaeton durch die Volkswagen AG führte vor Augen, was mit Trading Up erreicht werden sollte. Ausgerichtet auf das spezifische Konsumverhalten der kaufkräftigen, an Luxusgüter interessierten
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Die Durchschlagskraft zeigt sich außerdem an Produkten wie Pokémon oder Harry Potter. Vgl. hierzu auch Göttlich (2007) sowie Nieland (2008). Franz Liebl spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Oktoberfest-Kompatibilität‘. Für mediale Angebote trifft dies sozusagen systembedingt beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu.
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Zielgruppe versuchte sich das Marketing beim Trading Up auf die Ausdifferenzierung von Lebensstilen der „Nouveau Riche“ einzustellen, womit Luxus wieder als begehrliches und nicht mehr als anrüchiges Gut erscheint. Vor diesem Hintergrund war es für die Vermarktung zentral, den Austausch mit bestimmten, stilbildenden Eliten zu unterhalten, was dann auch auf andere Bereiche der Unterhaltungsindustrie abgefärbt hat. Im Musikbereich etwa hält Madonna bis heute nicht nur Kontakt zu einer breiten Palette unterschiedlicher Lebensstile und Szenen sondern auch zur Modebranche und Hollywood. Kylie Minogue – und in noch stärkerem Maß gilt dies für Madonna – ist in den letzten knapp 20 Jahren mit dem Publikum gewachsen, sie spricht nicht nur Teens und ihre ehemaligen Fans aus den 1980er Jahren an, sondern wagt auch Ausflüge in andere Genres und Stile – hierfür steht vor allem ihre Zusammenarbeit mit Nick Cave (Trading Up) oder ihre Rolle im Kinostreifen Street Fighter – Die entscheidende Schlacht 27(Trading Down). Um die Entwicklung und auch die Grenzen der praktizierten Strategien in ihrer Bedeutung für die mediale Theatralität zu benennen, gilt es, noch einmal die einzelnen Phasen der Einführung und Weiterentwicklung des Kult-Marketings zu beschreiben. Die erste Phase lässt sich in vier Unterschritte einteilen und kann für den Zeitraum von 1995 bis 2000 angesetzt werden. Ausgelöst durch die Fernsehkritik und die Qualitätsdebatte mit der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz stand zu Beginn vor allem bei den eigenproduzierten Seifenopern die Selbstthematisierung im Mittelpunkt. Dies meint in erster Linie Auftritte von Soap-Darstellern in Talkshows, Gameshows und Musiksendungen. Eine Ausweitung dieses Konzeptes zeichnete sich ab, als die Jugend(musik-)sendung Bravo TV Sondersendungen mit Soap-Stars veranstaltete oder Gameshows produziert wurden, in der ausschließlich die SoapStars auftraten. Als dritter Unterschritt sind Gastauftritte von Prominenten und der Austausch zwischen einzelnen Sendungen (Formaten) zu beobachten. Als bekannteste Beispiele gelten Verona Feldbusch und die VIVA-Moderatorin Daisy Dee mit ihren Rollen in der RTL2-Soap Alle zusammen. Aber auch umgekehrt gab es diesen Austausch, dass heißt Soap-Darsteller moderieren Musiksendungen oder wechseln zur Comedy (beispielsweise Dorkas Kiefer). Im vierten Unterschritt fungieren die Soaps als Plattform für die Musikkarrieren. Zu nennen sind hier Andreas Elsholz, Just Friends, Oli P. oder Jeanette Biedermann und Yonne Catterfeld (alle aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten). Eine Verfeinerung dieser Strategie gab es mit den Beteiligungen der Soap-Darsteller an Events (etwa der Love Parade, Modeschauen, Preisverleihungen). In dem hier als Phase 1 bezeichneten Abschnitt wurden Medienmarken-Bildung und -Management (Siegert 2001, vgl. außerdem Karstens/Schütte 1999) zum zentralen Instrument. (vgl. Siegert 2001, siehe außerdem Karstens/Schütte 1999). Die zweite Phase steht für die spürbare Ausweitung der Prinzipien des Kult-Marketings und fällt mit der Ausstrahlung der Reality-Soap Big Brother zusammen. Auch wenn es inzwischen bei allen ehemaligen Container-Bewohnern zum Karriereende (bzw. -absturz) gekommen ist,28 sind doch die großen Umsätze (vor allem während den ersten beiden Staffeln) als Per-
27 Es handelt sich um die Verfilmung des gleichnamigen (Kult-)Videospieles. Darüber hinaus entstand zum Film auch noch ein Videospiel. Regie Steven E. De Souza, u.a. mit Jean-Claude Van Damme, 1994. 28 Erinnert sei hier an den desaströsen Auftritt von Zlatko bei der (nationalen) Grand Prix-Ausscheidung oder die „Moderationsleistung“ von Jürgen bei den letzten Big Brother-Staffeln sowie anderen Ex-Containerbewohnern in Call in-Sendungen.
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fektionierung des Kult-Marketings anzusehen – nicht nur bezüglich der oben erwähnten Charterfolge. Allerdings sollte man den Begriff der Karriere genauso wie den des Stars hier nicht im herkömmlichen bzw. bekannten Sinne verstehen. Vielmehr zeigt die jüngste Entwicklung auf dem Pop-Musik-Markt, dass vor dem Hintergrund der Kult- und Markeninszenierungen eine neue Art von Stars entstanden ist. Diese Figuren können es nur zum semi-berühmten Teilzeitkult bei vorher definierten Zielgruppen bringen. Gleichzeitig aber ist – Dank über 30 Kanälen – gerade für solche Karrieren viel Platz und Bedarf (vgl. Hammerstein/Jakobs/Tuma 1999: 245). Der Star der ersten Big Brother-Staffel Zlatko Tprhovski (Sladdi) ist dafür ein gutes Beispiel. Hier findet sich auch die Anknüpfung an die spezifische Form der Alltagsdramatisierung, denn mit Stars wie Verona Feldbusch und eben Sladdi sind wir in die Ära des dauernden Plebiszits eingetreten: nur wer nichts richtig kann und nichts richtig tut, steht fürs tägliche Plebiszit im Fernsehen und den Zeitungen zur Verfügung (Seidel 1999: 15). Die dritte Phase schließlich begann noch während der Ausstrahlung der zweiten Big Brother-Staffel und steht in Verbindung mit der RTL2-Sendung Popstars. Im Rahmen dieser Sendung wurden Geschichten um die Bewerbung, das Casting, die Tanz- und Gesangsausbildung sowie zum einsetzenden Erfolg der zwei Popgruppen No Angles und Bro‘Sis erzählt.29 Mit der Sendung Deine Band gab es ähnliche Versuche auf RTL. Die Sendung 2Club auf VIVA schließlich griff das Sende- und Vermarktungskonzept von Popstars auf und verband es mit Soap-Elementen. Offenbar liegen dieser Phase zu Grunde: erstens die Offenlegung der Mechanismen und Prinzipien des Karriereaufbaus und seiner Vermarktung, zweitens die (weitere) Verkürzung der Karriereverläufe sowie drittens die Verbreitung der Vermarktungsaktivitäten (nicht mehr nur eine Fernsehsendung, sondern mehrere sowie außerdem Jugendund Musikzeitschriften, Produktwerbung etc.) zu Grunde. Mit den Sendungen Teenstar auf RTL II sowie vor allem Deutschland sucht den Superstar (RTL) werden die Strategien der dritten Phase weiter perfektioniert.30 Dabei versuchen die Moderatoren, Jugendlichen zwischen 13 und 19 Jahren die Verheißungen der Vermarktung beizubringen und für die Sendung auszunutzen. Die vierte Phase lässt sich bei Sendungen wie Becoming … auf MTV betrachten. Mit diesen Sendungen kommt es zu einer weiteren Steigerung des Kult-Marketings, weil der „Umweg“ über den Aufbau, die Produktion und die Vermarktung von Stars ausgespart wird. Dafür werden vielmehr das fertige Produkt (konkret: ein erfolgreiches Musikvideo) und der Kult-Status des jeweiligen Stars als Ausgangspunkt genommen, um von Fans das Starleben „nachspielen“ zu lassen. Für die Fans ist ein außergewöhnliches und einmaliges Ereignis geschaffen, da sie für zwei bis drei Tage in die Rolle der Stars schlüpfen. Gleichzeitig greifen die Produzenten und Vermarkter auf den verfügbaren und beim Publikum bekannten sowie attraktiven Rahmen zurück. Die Frisuren, die Outfits, die Locations, die Tanzschritte und natürlich die Musik sind vorhanden und werden von den ausgewählten Fans nachgespielt und auf diese Weise nacherlebt. Es handelt sich offensichtlich um ein kostengünstiges und nahezu risikoloses Verfahren, um erstens die Verfolgung der Ziele des Kult-Marketings durch
29 Bis März 2002 verkaufte Bro‘Sis 1,14 Mio. Singles des Titels „I Believe“ und No Angels 933 000 Singles des Titels „Daylight in Your Eyes“ und 400.000 Singles des Titels „There Must be an Angel“ (Klawitter 2002: 127). 30 Vgl. mit einer historischen Einordnung und einem Vorschlag für eine Theorie des musikalischen Wettbewerbs Helms (2005).
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Marken- und Character-Branding, um zweitens den Ausbau eines Senderimages, um drittens die Sicherstellung der Senderbindung und Pflege des Audience Flows und, um viertens die Verstärkung von aktuellen Musik- sowie Modetrends zu optimieren.31 Der Rückblick auf die vier Phasen zeigt, dass in jeder Phase fast ausschließlich die Strategie der Ausrichtung auf den Massengeschmack gewählt wurde. Doch die Grenzen dieses Vorgehens sind offensichtlich. Die Möglichkeiten des Formats wurden durch Berechenbarkeit und durch die Wiederholung des immer Gleichen ersetzt. Die aktuellen Sternchen werden in Fernsehshows und Talentwettbewerben von Marketingspezialisten ausgesucht; diese Marketingleute haben keine Verankerung in den Szenen und Eliten. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil der Band Pet Shop Boys zu lesen: Popstars liefern zwar „perfektes Fernsehen, aber dafür elende Musik“ (Lowe/Tennant 2002: 164). Offenbar wird von den Vermarktern nicht berücksichtigt, dass Trends und Kulte heute anderen Diffusionsprozessen unterliegen (vgl. bspw. Liebl 2000). Die Vorstellungen von linearen Verläufen sind inzwischen ebenso überholt wie die Kalkulierbarkeit ihrer Vermarktung. In der Kultur des mentalen Kapitalismus – so steht zu erwarten – wird es zu einer weiteren Nutzung von Trading Up- und Trading Down-Strategien kommen. Belege liefert aktuell der erfolgreiche Einsatz des Kult-Marketings im Umfeld von Sendungen wie TV total. Für die Analyse medialer Theatralität bedeutet das, sich nicht nur der jeweils aktuellen Marketingstrategien zu versichern, sondern deren jeweilige Umsetzung im Programm bzw. in den Medien zu analysieren, um der Entstehung von Medienwirklichkeiten auf der Spur zu bleiben. Deren Formen werden im Prozess der Mediatisierung immer nachhaltiger konstitutionell für soziales Handeln. So lässt sich in den letzten Jahren die Entwicklung zu einer Eventkultur mit unterschiedlich weit ausgreifenden Folgen und Erscheinungen ausmachen, an deren Entstehung die hier beschriebenen Prozesse und Formen einen bedeutenden Anteil haben.
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31 Flankiert werden Sendungen wie Becoming … von zahlreichen Dating- und Kupplungsshows sowie inzwischen auch Zeichentrickfilmen (etwa South Park, American Dad). Offensichtlich kommt das Musikfernsehen immer mehr ohne Musik aus – wahrscheinlich liegt hier der Hauptgrund für die Krise nicht nur des Musikfernsehens, sondern auch der Musikindustrie.
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Markante Persönlichkeiten – Prominente als Marken der Gegenwartsgesellschaft Sven Henkel und Benjamin von Walter
1. Problemstellung „Mary-Kate and Ashley“ lautet der Markenname, der bei amerikanischen Jugendlichen unter 14 Jahren bekannter ist als Coca-Cola (vgl. Jensen 2004: 46ff.). Bereits im Kleinkindalter wurden die amerikanischen Zwillinge Mary-Kate und Ashley Olsen systematisch vermarktet und crossmedial inszeniert. Der wirtschaftliche Erfolg von „Mary-Kate and Ashley“ begann mit Auftritten in TV-Serien und Familienfilmen, schnell kamen Bücher, CDs und Videospiele rund um das Leben der Teen-Stars auf den Markt, zudem Modepuppen, Kosmetikprodukte und exklusiv durch Wal-Mart vertriebene Bekleidung. Mittlerweile sind die einstigen Kinder-Stars Mary-Kate und Ashley Olsen erwachsen. Dennoch lassen sich mit dem Image „der niedlichen Zwillingsschwestern“ nach wie vor Milliarden-Umsätze (vgl. ebd.) erzielen. Das Beispiel zeigt, dass Menschen Fixpunkte wie Stars suchen, Symbolfiguren, die sie als vertraute Größen in ihren Alltag integrieren. Einhergehend mit der weltumgreifenden Präsenz der Massenmedien, ist die Anzahl von Stars, definiert als „(…) Publikumslieblinge, deren Persönlichkeit mit einem bestimmten Image verbunden ist“ (Jahnke 2001: 101) stark angestiegen (vgl. Cashmore 2003: 17; Gaitanides 2001: 5). Sie dienen dem Rezipienten als Projektionsfläche für Träume und Emotionen (vgl. Tenzer 2004: 43; Herbst 2003: 9), als Vorbild (vgl. Taylor et al. 1997: 126) sowie als Beziehungsersatz (vgl. Suckfüll 2003: 142; Gleich/Burst 1996: 182ff.). Darüber hinaus fungieren Stars aufgrund ihrer Berühmtheit und Beliebtheit für ihre Arbeitgeber als Vehikel für die Erschließung neuer Märkte (vgl. Cashmore 2003: 63ff.; Eichler 2003: 31), als Imageträger oder als Anziehungspunkt für neue Investoren (vgl. Gaitanides 2001: 10f.). Als Folge dieser Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren eine eigene Branche entwickelt, die sich ausschließlich mit der gezielten Vermarktung und Positionierung von Menschen auseinandersetzt. Positionierung wird in diesem Sinne als marktorientierte Beantwortung der Frage verstanden, wofür der Star bei wem steht und stellt ein marketingseitiges Konstrukt zur Entwicklung und Umsetzung eines in Hinblick auf die „relevanten Umwelten“ (Willems 1998: 64) Erfolg versprechenden Images dar. Eine große Herausforderung für dieses Geschäftsfeld ergibt sich daraus, dass sich auch Stars einer ständig wachsenden Konkurrenz gegenübersehen, was eine dauerhaft Erfolg versprechende Positionierung erschwert (vgl. Herbst 2003).
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Als probates Mittel, sich diesem Trend zu widersetzen, erscheint die Markierung des „Medienprodukts Star“ (Kruse 2001: 59). Marken beeinflussen die Präferenzbildung des Kunden und fungieren als Orientierungshilfe und Qualitätsindikator. Sie versprechen Unverwechselbarkeit, eine höhere Preistoleranz des Konsumenten und Wertbeständigkeit (Meffert 1998: 785ff.). Darüber hinaus sind sie Bindeglied zwischen Unternehmen und Konsumenten und repräsentieren so eine zentrale Determinante der Kundenbindung (vgl. Lau/Lee 1999: 341). Hellmann sieht insbesondere im Anspruch der Marke auf Glaubwürdigkeit ein zentrales Charakteristikum (vgl. Hellmann 2003: 447f.), weshalb Marken auch als Antwort auf die mit werblichen Theatralisierungen verbundene Authentizitätsproblematik (vgl. Willems 2000: 211ff.) aufgefasst werden können. Das enorme Erfolgspotenzial, welches die Markierung von Produkten impliziert, legitimiert jedoch noch lange nicht eine Übertragung des Markenkonzepts auf den Menschen. Menschen wandeln und verändern sich. Sie unterliegen beispielsweise einem natürlichen Alterungsprozess, was im Gegensatz zum Markenkriterium „gleich bleibendes Auftreten“ (Meffert et al. 2002b: 6) steht. Ebenfalls wird das Verhalten von Menschen von gefühlsmäßigen Schwankungen beeinflusst, was die Erfüllung der Forderung nach gleich bleibender Qualität enorm erschwert. Folglich bedarf die Betrachtung von Stars aus der Markenperspektive der vorherigen Anpassung des klassischen, produktbezogenen Markenverständnisses an die spezifischen Eigenschaften des Menschen.1 Zudem muss die Frage geklärt werden, ob ein Beziehungsaufbau zu einer Medienpersönlichkeit überhaupt möglich ist und wie eine solche Beziehung durch den Rezipienten erlebt und erfahren wird. Mit Hilfe der Markenterminologie wird somit der Versuch unternommen, das soziokulturelle Phänomen „Star“ rezipientenorientiert zu ergründen.
2. Der Markenbegriff und seine Übertragbarkeit auf den Menschen Meffert et al. definieren eine Marke als „(…) ein in der Psyche des Konsumenten (…) fest verankertes, unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung. Die zugrunde liegende Leistung wird dabei in einem möglichst großen Absatzraum über einen längeren Zeitraum in gleichartigem Auftritt und in gleich bleibender oder verbesserter Qualität angeboten“ (Meffert et al. 2002b: 6). Hinsichtlich der Übertragbarkeit des Markenkonzepts auf den Menschen impliziert diese Definition sowohl positive Aspekte als auch negative Aspekte. So kann auch in Bezug auf Fernsehakteure von unverwechselbaren Vorstellungsbildern ausgegangen werden, die sich durch über einen längeren Zeitraum gesammelte Konsumerfahrung fest in der Psyche verankert haben (vgl. Hippel 1996: 63f.). Treibende Kraft dieses Phänomens ist eine durch die technischen Möglichkeiten des Fernsehens entstehende, scheinbare Intimität zwischen Zuschauer und Fernsehstar. Diese kann zu einem Gefühl der Vertrautheit mit dem TV-Gegenüber (vgl. Horton/Wohl 1956: 216) führen. Der Star wird so zum Teil der Alltagserfahrung des Zuschauers, er ist fest in dieser verankert
1 Zu den Anforderungen an Marken vgl. Meffert et al. 2002b: 6.
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und kann in seiner wahrgenommenen Unverwechselbarkeit sogar den Status eines Freundes des Zuschauers (Suckfüll 2003: 135 ff.; Horton/Wohl 1956: 215ff.) erreichen. Auch kann das Kriterium der Ubiquität aufgrund der Reichweite des Mediums Fernsehen und seiner Bedeutung für den Menschen als erfüllt angesehen werden.2 Nur bedingt erfüllbar erscheinen hingegen die Forderungen nach gleich bleibendem Auftritt und gleich bleibender bzw. verbesserter Qualität. Kommunikationswissenschaftliche Arbeiten belegen jedoch auch in Hinblick auf diese Kriterien die Nähe zwischen Marke und „Marke Mensch“. So dokumentierten Horton und Wohl bereits 1956 das Bestreben der Fernsehtreibenden, den Starauftritt weitestgehend zu standardisieren, um so dem rezipientenseitigen Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität bei der Fernsehrezeption gerecht zu werden. Sie weisen ausdrücklich auf die gezielte Beeinflussung der Persona-Wahrnehmung durch das Management hin, indem sie feststellen: „The persona [Fernsehakteur] (…) has the peculiar virtue of being standardized according to the ‚formular‘ for his character and performance which he and his managers have worked out and embodied in an appropriate ‚production format‘. Thus his character and pattern of action remains basically unchanged in a world of otherwise disturbing change. The persona is ordinarily predictable, and gives his adherents no unpleasant surprise“ (Horton/Wohl 1956: 217f.). Auch wenn gezeigt werden konnte, dass es hinsichtlich der Wahrnehmung von Marken und Menschen Parallelen gibt, darf nicht übersehen werden, dass es sich bei Stars um Menschen und nicht zum Produkte handelt. So ist das Auftreten des Stars zwar bis zu einem gewissen Grad standardisierbar, ein Eins-zu-eins-Transfer des Markenkonzepts erscheint jedoch nicht möglich. Die Übertragung des Markenkonzepts auf den Menschen bedarf folglich der Modifikation des bis dato objektbasierten Markenverständnisses. Orientierungspunkte für ein solches Vorgehen finden sich in Arbeiten zur Markierung von Dienstleistungen. Verstanden als immaterielle, menschliche Leistungen, die im Moment der Leistungserstellung durch den Konsumenten in Anspruch genommen werden, sind Dienstleistungen ebenfalls durch spezifische Eigenschaften wie mangelnde Standardisierbarkeit charakterisiert. Dementsprechend sind sie im Sinne der klassischen Definition nicht markierbar (vgl. Bruhn/Meffert 2001: 4). Deshalb wurde mit der „Dienstleistungsmarke“ ein modifiziertes Markenkonzept geschaffen, das den spezifischen Eigenschaften von Dienstleistungen gerecht wird. Da dieses Markenverständnis den Menschen als Leistungsträger explizit berücksichtigt, liegt es nahe, das „Wirtschaftsgut Mensch“ entlang dienstleistungsspezifischer Merkmale zu analysieren. Eine umfassende Aufstellung charakteristischer Eigenschaften von Dienstleistungen gibt Bruhn (2000: 23), der sieben Dienstleistungsmerkmale identifiziert: (1) Immaterialität, (2) Nichtlagerfähigkeit, (3) Simultanität von Produktion und Konsumtion, (4) direkter Kontakt zwischen Anbieter und Nachfrager, (6) Standortgebundenheit und (7) Individualität. Des Weiteren ist aus Sicht der Autoren (8) die Nichtstandardisierbarkeit von Dienstleistungen zu berücksichtigen. Übertragen auf den Star können bereits hier folgende vergleichende Schlüsse gezogen werden: Die Leistung des Stars ist immateriell, sein Erscheinen ist weder lagerfähig noch jederzeit abfragbar, seine Leistung kann nicht ohne weiteres an jeden Ort gebracht werden und ist nicht in vollem Maße standardisierbar (Edelmann 2003: 154). Die Übertragung des Markenkonzepts auf das „Wirtschaftsgut Mensch“ erscheint somit unter Zuhilfe2 2001 empfingen deutsche Haushalte im Durchschnitt 39 Sender, die sie 192 Minuten pro Tag konsumierten (vgl. Gerhard 2002: 23f.).
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nahme des Dienstleistungskonzepts legitim. Auf die Vorgabe konstitutiver Anforderungen an Markenartikel wird abgesehen und die „Marke Mensch“ wie folgt definiert: Die „Marke Mensch“ ist ein in der Psyche des Konsumenten verankertes, unverwechselbares Vorstellungsbild von diesem Menschen. Die Leistung dieses Menschen wird dabei in einem möglichst großen Absatzraum über einen längeren Zeitraum bei weitestgehend gleichartigem Auftritt und weitestgehend gleich bleibender oder verbesserter Qualität angeboten.
3. Die „Marke Mensch“ als Beziehungspartner des Rezipienten Herkömmliche Marken und die „Marke Mensch“ (Stars) werden von Konsumenten und Rezipienten als Vehikel zur Befriedigung ihres grundlegenden Bedürfnisses nach Interaktion (vgl. Rosengren/Windahl 1972: 166ff.) und sozialer Bezogenheit (vgl. Kressmann et al. 2003: 405) herangezogen.3 Studien zur parasozialen Interaktion und zu Markenbeziehungen (Fournier 1999) belegen, dass Marken und Fernsehakteure jedoch keinesfalls ausschließlich als Ersatzlösung zur Befriedigung eines kurzfristigen Interaktionsansinnens fungieren, sondern auch als Beziehungspartner des Konsumenten. Sie tragen zur Erfüllung des Wunsches nach sozialer Bezogenheit bei. Die „Marke Mensch“ kann den Status eines Freundes erreichen und erfährt so eine tiefe kognitive und emotionale Zuwendung durch den Rezipienten (vgl. Gleich/Burst 1996: 107ff.; Vorderer 1996a: 153ff.). Eine besondere Rolle fällt hier der Möglichkeit der direkten Adressierung des Publikums durch den Star sowie der bewussten Inanspruchnahme technischer Möglichkeiten des Mediums Fernsehen zu. Durch den gezielten Einsatz von Zoom- oder Lichteffekten ist es mit Hilfe dieses audiovisuellen Mediums möglich, die Illusion räumlicher Nähe zu schaffen und so die tatsächlich vorherrschende physische Distanz zwischen Fernsehakteur und Zuschauer zu überwinden (vgl. Bente/Otto 1996: 225; Auter/Moore 1993: 425). Durch das erzeugte „continuous interplay“ (Horton/ Wohl 1956: 216) zwischen Medienwelt und realer Welt werden die Zuschauer zum strukturellen Gegenüber der Fernsehakteure und so aktiv in das Geschehen auf dem Bildschirm einbezogen (vgl. Mikos 1996: 105). An die Stelle des nur zusehenden Beobachters tritt somit der Rezipient als aktiver Teil eines entstehenden Beziehungsgefüges. Empirische Befunde belegen, dass Zuschauer normalerweise eine Form von personalen Beziehungen zu Fernsehpersonen entwickeln, was beispielsweise in der Äußerung von Gefühlen wie Mitleid mit dem Lieblingsakteur zum Ausdruck kommt. Die Folge dieser emotionalen Zuwendung ist eine erhöhte Bindung des Rezipienten an den Star und sein Format (vgl. Six/Gleich 2000; Gleich/ Burst 1996; Vorderer/Knobloch 1996; Vorderer 1996a; Rubin/Perse 1987).
3 Nachfolgend werden die Begriffe Marke und Marke Mensch sowie die Termini Rezipient und Konsument jeweils synonym verwendet.
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4. Markenbeziehungsqualität als Ausgangspunkt für die Formulierung eines umfassenden Markenbeziehungsrahmens Neben der absoluten Anzahl bestehender Beziehungen besitzt die Qualität der Beziehung zwischen Star und Rezipient Erfolgsrelevanz für die ökonomische Nutzbarkeit der Marke. So identifiziert Aaker einen positiven funktionalen Zusammenhang zwischen Markenpräferenz und Beziehungsqualität (vgl. Aaker 1996: 166f.). Zu einem vergleichbaren Schluss kommen Aaker et al., die in stabilen Kunden-Marken-Beziehungen „(…) the top goal of managers and a priority for academic research“ (Aaker et al. 2004: 5) sehen. Der umfassendste markenspezifische Ansatz zur Systematisierung des Konstrukts Beziehungsqualität stammt von Fournier (1998; 1999). Als Instrumentarium für die Evaluation und Einordnung zu beurteilender Marken entwickelte sie einen Eigenschaftsraum zur Untersuchung der verschiedenen Beziehungstypen zwischen Verbrauchern und Marken. Danach lassen sich Markenbeziehungen entlang der nachfolgenden Kriterien differenzieren und einer bestimmten Beziehungsform zuordnen (Fournier 1999: 141): Beziehungen sind (1) freiwillig (d.h. bewusst ausgewählt) vs. auferlegt, (2) positiv vs. negativ, (3) intensiv vs. oberflächlich (zufällig), (4) andauernd vs. kurzfristig, (5) öffentlich vs. privat, (6) formell (d.h. rollen- oder aufgabengebunden) vs. informell (persönlich) und (7) symmetrisch (i.S. einer Beziehung zwischen gleichwertigen Partnern) vs. asymmetrisch. Die Auseinandersetzung mit diesen Kriterien verdeutlicht das Transferierungspotenzial des Markenbeziehungsgedankens auf die Mensch-„Marke Mensch“-Beziehung. Der Rezipient kann sein Gegenüber frei wählen, wobei positive oder negative Nutzenerlebnisse Einfluss auf die Interaktionsintensität und die Regelmäßigkeit der Interaktion (vgl. Gleich/Burst 1996: 119ff.) nehmen. Entscheidend ist die Möglichkeit des Rezipienten „(…) to withdraw at any moment“ (Horton/Wohl 1956: 216). Er kann die Beziehung jederzeit beenden bzw. unterbrechen. Ebenfalls übertragbar erscheinen die anderen Kriterien. Eine von Aaker et al. (2004) durchgeführte Studie greift die Ergebnisse der Arbeit Fourniers auf und ergänzt den modelltheoretischen Rahmen um interaktive Internetseiten als neue Form von Beziehungspartnern. Die Autoren identifizieren vier Dimensionen der Beziehungsqualität: (1) Die Facette Intimität, definiert als „(…) deep understanding about the relationship partners as created through information disclosure“ (ebd.: 7), beschreibt starke Wissensstrukturen von Marken, deren reichhaltige Bedeutungsschichten tiefere Ebenen persönlicher und dauerhafter Beziehungsbande reflektieren. (2) Unter Verknüpfung der Marke mit der eigenen Identität ist die Fähigkeit der Marke bezeichnet, Facetten der eigenen Persönlichkeit anzusprechen. (3) Commitment, verstanden als „(…) enduring desire to continue the relationship combined with a willingness to make efforts toward that end“ (ebd.: 7), lässt sich in Anlehnung an Fournier als ideelle Abhängigkeit beschreiben. Häufig mit dem Konstrukt Treue in Verbindung gebracht, führt eine starke Markenbindung dazu, dass Konsumenten eine Markenbeziehung auch dann aufrechterhalten, wenn die Konsequenzen dieser Entscheidung im Widerspruch zu ihren aktuellen Interessen stehen. (4) Zufriedenheit reflektiert schließlich das Ergebnis der Gegenüberstellung von Erwartungen an und Erfahrungen mit der Markenbeziehung. Aufgrund der technischen Nähe von Internet und Fernsehen wird das Markenbeziehungskonstrukt von Aaker et al. als Zielkonstrukt des Markenbeziehungsmodells konzeptualisiert.
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5. Hypothesenherleitung und Modellbildung Das Bedürfnis nach sozialer Bezogenheit stellt das Kernstück des im Folgenden zu untersuchenden Wirkungszusammenhangs dar. Die Annahme, dass Rezipienten Fernsehstars als Freunde wahrnehmen, impliziert, dass sie eine stabile Beziehung zu Fernsehstars aufbauen. Dies lässt vermuten, dass die „Marke Mensch“ über ihre rezipientenseitige Nutzenstiftung hinaus auch die marketingspezifische Zielgröße der Kundenbindung beeinflusst. Markenbeziehungsqualität, verstanden als Maß für die Qualität, Tiefe und Stärke einer Beziehung (vgl. Fournier 1999: 155), bildet deshalb die Zielgröße des zu untersuchenden Markenbeziehungsmodells. Mit diesem Modell wird das Ziel verfolgt, den Prozess der Beziehungsentstehung zwischen Rezipient und „Marke Mensch“ unter Zuhilfenahme der in der Sozialpsychologie, Kommunikationsforschung und im Marketing verwendeten Determinanten Markenvertrauen, Audience Involvement und parasoziale ideale Selbstkongruenz zu erklären sowie die Intensität des Einflusses dieser Antezendenzien auf die Markenbeziehungsqualität mittels einer kausalanalytischen Untersuchung zu ermitteln. Um das Phänomen der Bindung des Rezipienten an die „Marke Mensch“ klarer herauszuarbeiten, wird zudem das Konstrukt Markenloyalität als Konsequenz der Markenbeziehungsqualität modelliert. Je höher demnach die wahrgenommene Beziehungsqualität eines Rezipienten bezüglich einer „Marke Mensch“ ist, desto höher ist auch die Loyalität des Rezipienten gegenüber dieser „Marke Mensch“ (vgl. Too et al. 2000: 7; Macintosh/Lockshin 1997: 488ff.; Henning-Thurau/Klee 1997: 742). Das Informationsverhalten des Konsumenten wird in hohem Maße durch den Grad der persönlichen Beteiligung beeinflusst, mit der seine Kauf- bzw. Konsumentscheidung verbunden ist. Diese Erfahrung hat zur Einführung des Involvement-Konstrukts in die Konsumentenforschung geführt (vgl. Roßmanith 2001: 39). Repräsentativ für die Marketingforschung ist die Definition von Andrews et al., die Involvement als „...individual, internal state of arousal with intensity, direction and persistence properties“ (Andrews et al. 1990: 28) beschreiben. Berücksichtigt man die besondere Beschaffenheit von TV-Produkten, die sich beispielsweise bezüglich des Kaufrisikos eindeutig von klassischen Produkten unterscheiden,4 bedarf es zudem der Zugrundelegung eines kommunikationswissenschaftlichen Involvement-Verständnisses. Diesem Anspruch wird das Konstrukt Audience Involvement gerecht, das die vorgetragenen Perspektiven vereinigt (vgl. Sood 2002: 155). Audience Involvement wird im Folgenden verstanden als das Maß für die Ich-Beteiligung (das innere Engagement), mit der ein Rezipient eine Entscheidung für oder gegen den Konsum eines medial vermittelten Angebots fällt. Die Intensität des Involvements wird dabei durch zwei Einflussgrößen determiniert: (1) die individuell wahrgenommene Relevanz des Formats, verstanden als Resultat der empfundenen Nähe zwischen dargebotenem Inhalt und Selbstkonzept des Rezipienten und (2) die Intensität auftretender parasozialer Interaktion zwischen Rezipienten und Medium bzw. den durch das Medium vermittelten Inhalten (vgl. Levy/Windahl 1985: 112). In Anlehnung an Perse und Rubin (1989: 62f.) sowie Rubin und Step (2000: 645) kann davon ausgegangen werden, dass das Risiko, von seinem Gegenüber enttäuscht bzw. verletzt 4 Im Gegensatz zu physischen Produkten ist die Entscheidung für ein TV-Format mit sehr geringen Risiken verbunden. So steht es dem Rezipienten jederzeit frei, von seiner Rezeptionsentscheidung zurückzutreten. Auch ist die Entscheidung i.d.R. mit keinerlei direkt zurechenbaren Kosten verbunden.
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zu werden, mit steigender Kommunikationsaktivität und einem größeren Wissen über das Gegenüber sinkt. Dies impliziert einen Anstieg der Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensnehmers (vgl. Becerra/Gupta 2003: 35; ähnlich Lau/Lee 1999: 345). Folgende Kausalität wird deshalb unterstellt: Je höher das Audience Involvement eines Rezipienten bezüglich einer „Marke Mensch“, desto höher ist auch das Vertrauen des Rezipienten in Bezug auf diese „Marke Mensch“. Zahlreiche kommunikationswissenschaftliche Studien bestätigen außerdem den Einfluss des Audience Involvement auf die Beziehungsqualität (vgl. Gordon et al. 1998; Taylor et al. 1997; Crosby et al. 1990). Stabile und dauerhafte Beziehungen sind dadurch charakterisiert, dass der Rezipient eine Botschaft nicht nur passiv aufnimmt, sondern diese gedanklich weiterverarbeitet und daraus Verhaltens- oder Einstellungsänderungen ableitet (vgl. Fischer/ Wiswede 2002: 337). In Hinblick auf das Konsumentenverhalten stellten Gordon et al. ferner fest, dass „(…) involved buyers are more likely to participate in marketing relationships and to derive value from this relationships“ (Gordon et al. 1998: 444). Es kann gefolgert werden: Je höher das Audience-Involvement eines Rezipienten bezüglich einer „Marke Mensch“ ist, desto höher ist auch die Beziehungsqualität des Rezipienten in Bezug auf diese „Marke Mensch“. Ähnlich wie bei Delgado-Ballester/Munuera-Alemán (2001: 1242) und Gurviez/Korchia (2003: 4) wird dem vorliegenden Modell ferner folgendes Verständnis von Markenvertrauen zugrunde gelegt: Markenvertrauen repräsentiert ein Sicherheitsgefühl des Konsumenten beim Kauf eines bestimmten Markenartikels. Dieses Sicherheitsgefühl resultiert aus der kundenseitigen Projektion positiver Erwartungen und Vorurteile auf die Marke und auf das hinter der Marke stehende Unternehmen. Delgado-Ballester/Munuera-Alemán gelingt zudem die empirische Bestätigung ihrer Hypothese, dass „(…) trust is a key variable in the development of an enduring desire to maintain a relationship (…) with a brand“ (ebd.: 1240). In Analogie zu soziologischen Ansätzen (vgl. Luhmann 1968) führen die Forscher die besondere Relevanz des Vertrauenskonstrukts auf seine Fähigkeit zur Komplexitäts- und Risikoreduktion (vgl. Chauduri/Holbrook 2001: 82f.; Delgado-Ballester/Munuera-Alemán 2001: 1242) zurück. Diese Argumentation führt zu folgender Hypothese: Je größer das Vertrauen eines Rezipienten in eine Beziehung mit einer „Marke Mensch“ ist, desto höher ist auch die Qualität dieser Beziehung. Verstanden als Vehikel zur symbolischen Selbstergänzung und zur Selbstdarstellung kann die Marke zudem dazu beitragen, die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Selbstwahrnehmung des Konsumenten (tatsächliches Selbst) und seinem Idealbild von sich selbst (ideales Selbst) zu verringern (vgl. Strebinger et al. 1997: 10ff.). Um die Eignung einer Marke als Mittel zum Ausdruck des Idealkonzeptes beurteilen zu können, greifen Sirgy et al. (1997: 252) auf das Konstrukt der idealen Selbstkongruenz zurück. Dieses bringt die Nähe zwischen idealem Selbstkonzept und Markenpersönlichkeit zum Ausdruck. Dem Konsumenten unterstellen die Autoren ein fundamentales Streben nach Übereinstimmung beider Konzepte. Um zu signalisieren, dass die Kongruenztheorie hier auf Rezipient-Star-Beziehungen angewendet wird, wird im Rahmen dieses Beitrags von parasozialer idealer Selbstkongruenz gesprochen. Es wird davon ausgegangen, dass das rezipientenseitige Streben nach parasozialer idealer Selbstkongruenz die Herausbildung von Audience Involvement verursacht und in Richtung und Intensität beeinflusst. Diese Argumentation findet sich auch in der Self-Im-
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provement-Theorie der Sozialpsychologie (Taylor/Lobel 1989) wieder. Danach suchen Menschen bewusst den Vergleich zu erfolgreicheren (idealeren) Mitmenschen, da diese ihnen als Vorbilder auf dem Weg der Erreichung des idealen Selbstbildes dienen (vgl. Taylor et al. 1997: 126). Der rezipientenseitige Wunsch nach parasozialer idealer Selbstkongruenz kann folglich zur Herausbildung eines Aktivierungspotenzials, d.h. zu Audience Involvement führen. Dieses Aktivierungspotenzial kommt im Bestreben des Rezipienten zum Ausdruck, den Status seines Vorbildes zu erreichen und wird umso höher ausfallen, je erreichbarer das Ziel der parasozialen idealen Selbstkongruenz aus Sicht des Rezipienten ist. Die Similarity-Attraction-Theorie beschreibt die Attraktivität einer interpersonalen Beziehung als Funktion der Ähnlichkeit der Beziehungspartner. Danach impliziert die Wahl eines ähnlichen Partners kognitive Konsistenz, wohingegen die Wahl eines unähnlichen Partners Dissonanzen verursacht (vgl. Taylor et al. 1997: 239f.). Unter Berufung auf Aron und Aron (1996: 334), die das Streben nach Selbstkonsistenz und -erweiterung als fundamentales menschliches Bedürfnis identifizieren, kann gefolgert werden, dass sowohl Ähnlichkeit als auch positive Unähnlichkeit die Beziehungsqualität zu verbessern vermögen (vgl. Kressmann et al. 2003: 405). Da die parasoziale ideale Selbstkongruenz diese Ähnlichkeit ausdrückt, gilt folgender Zusammenhang: Je höher die parasoziale ideale Selbstkongruenz eines Rezipienten bezüglich einer „Marke Mensch“ ist, desto besser ist die Qualität der Beziehung zwischen Rezipient und „Marke Mensch“. Sozialpsychologisch orientierte Forschungsarbeiten zu interpersonalen Beziehungen bestätigen außerdem den Einfluss wahrgenommener Ähnlichkeit auf die Vertrauensentstehung (vgl. Lau/Lee 1999: 349). Danach ist von folgendem Zusammenhang auszugehen: Je größer die wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen Konsument und Marke ausfällt, desto eher entsteht bei dem Konsumenten die Überzeugung, dass die Marke die gleichen Ziele und Interessen verfolgt wie er selbst (vgl. Doney/Cannon 1997: 40; Dion et al. 1995: 3). Ein vergleichbarer kausaler Zusammenhang findet sich bei Lau und Lee (1999), die argumentieren, dass „if a brand’s physical attributes or personality are judged to be similar to the consumers self-image, the consumer is likely to trust it“ (ebd.: 349), sowie bei Einwiller, die feststellt: „(…) similarity between the brand personality and the consumer personality can foster trust because most people trust others more who are similar to themselves.“ (Einwiller 2001: 8) Bezogen auf den vorliegenden Beitrag bedeutet dies, dass sich der Rezipient aufgrund der empfundenen Kongruenz zwischen sich und der „Marke Mensch“ eher in der Lage sieht, die Verlässlichkeit der „Marke Mensch“ vorauszusagen und als Folge dieser Vorhersagbarkeit Markenvertrauen entwickelt: Je größer die parasoziale ideale Selbstkongruenz eines Rezipienten bezüglich einer „Marke Mensch“ ist, desto höher ist auch das Vertrauen des Rezipienten in diese „Marke Mensch“. Einen Überblick über das komplette Hypothesensystem gibt folgende Grafik:
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Parasoziale ideale Selbstkongruenz
Audience Involvement
Markenvertrauen Markenbeziehungsqualität
Markenloyalität
6. Methodisches Vorgehen Um das postulierte Markenbeziehungsgefüge empirisch überprüfen zu können, wurden im Rahmen der Konstruktoperationalisierung die im Modell verwendeten latenten Variablen durch beobachtbare Indikatoren erfassbar und somit messbar gemacht. In diesem Zusammenhang wurden die Ergebnisse vergangener empirischer Studien herangezogen und die dort verwendeten Erhebungsansätze bezüglich ihrer Übertragbarkeit auf die vorliegende Problemstellung hinsichtlich ihrer messtechnischen Güte überprüft. Dabei wurden verschiedene Reliabilitäts- und Validitätskriterien zugrunde gelegt.5 Zu Beginn der Befragung wurde von den Probanden jeweils ein Lieblingsstar festgelegt (Nennung des Namens des Lieblingsmoderators/-serienstars), so dass sich die Beantwortung der einzelnen Statements immer auf den genannten Star bezog. Die Berücksichtigung von Fernsehfilm- und Kinoformaten ist gemäß der Forschung zur parasozialen Interaktion zwar möglich, erschien jedoch aufgrund des kurzen Erhebungszeitraums (ca. 3 Monate) nicht zielführend, da hier das Kriterium der wiederholten Interaktion mit der „Marke Mensch“ nicht oder nur unzureichend erfüllt wäre. Ebenso gibt es noch keine empirischen Arbeiten zur Übertragbarkeit des Konzepts parasozialer Beziehungen auf Akteure, die zwar regelmäßig
5 Siehe dazu die Ausführungen in Henkel/Huber 2005: 122ff.
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im Fernsehen auftreten, dies jedoch nicht zum Selbstzweck tun, so z.B. Sportler oder Politiker (vgl. Hippel 1998: 42ff.). Als Folge dieser Eingrenzung steht im weiteren Verlauf das Verhältnis zwischen Rezipienten und Moderatoren (non-fiktionale TV-Personae) beziehungsweise Serienstars (fiktionale TV-Personae) im Mittelpunkt des Interesses. In Anlehnung an Ansätze von Thorbjørnsen et al. (2002), Hayes et al. (2000) sowie Aaker et al. (2004) wurde Markenbeziehungsqualität entlang der wiederum jeweils multidimensional konzipierten Dimensionen Intimität, Selbstbezug, Commitment und Zufriedenheit erfasst. Als praktikabel zur Erfassung von Markenvertrauen erwiesen sich die Forschungsergebnisse von Gurviez und Korchia (2003). Die beiden Autoren schlagen die Messung des Vertrauenskonstrukts entlang der Dimensionen Glaubwürdigkeit, Integrität und Wohlwollen vor (ebd.: 12). Darüber hinaus findet die Auffassung von Mayer et al. (vgl. 1995: 718) Berücksichtigung, die eine Ergänzung der Dimension Kompetenz fordern. Verstanden als „Maß für die Rezipientenaktivität“ (vgl. Castello 1999: 116f.) vereinigt die Variable Audience Involvement kommunikations- und marketingwissenschaftliche Facetten und schränkt aufgrund dieser Multidisziplinarität die Auswahl zur Verfügung stehender Skalen stark ein. Der vorliegenden Arbeit wurde letztlich das Messinstrumentarium Castellos zugrunde gelegt. Er operationalisiert Audience Involvement dreidimensional entlang der Facetten „Favorite Program Affinity“ (FPA), „Parasocial Interaction“ (PSI) und „Post Viewing Condition“ (PVC) und verleiht dem Phänomen des Involviertseins auf diese Weise einen prozessualen Charakter. Die Skala zur Erfassung der FPA ist einer Studie von Abelman (1987) entnommen, das Messinstrumentarium zur Erfassung der PSI geht auf Rubin und Perse (1989) zurück, und die Skala zur Erfassung der PVC wurde durch Rubin und Perse (1987) entwickelt. Die Operationalisierung der parasozialen idealen Selbstkongruenz erfolgte auf Basis der auf sechs Indikatoren basierenden Skala von Sirgy et al. (1997). Diese erfasst die wahrgenommene Ähnlichkeit durch direkte Abfrage eines Kongruenzurteils, das die spontane, auf individuell relevanten Kriterien basierende Entscheidungsfindung des Konsumenten unterstützt, und zum anderen die Reliabilitäts- und Validitätsprobleme der indirekten Kongruenzerfassung kompensiert (vgl. ebd.: 231ff.). Schließlich wurde zur Messung von Markenloyalität eine Skala von Braunstein (vgl. 2000: 198ff.) herangezogen, die Aspekte wie „Cross Buying“, Preispremiumbereitschaft, Wiederkaufabsicht sowie die Beschwerdebereitschaft im Falle auftretender Unzufriedenheit berücksichtigt. Für das Gesamtmodell ergeben sich damit die in der folgenden Tabelle erfassten Indikatoren (Formulierung teilweise verkürzt):
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Konstrukt
Dimension
Item Persönliche Informationen über mich teilen. Kenne alle anderen Fernsehformate, in denen ... auftritt. Intimität Verfüge über ein großes Wissen über ... . Entspricht der Person, die ich gerne wäre. MarkenSelbstbezug Formate mit ... passen gut zu meinem Lebensabschnitt. beziehungs... vertritt Ansichten, die in meinem Leben wichtig sind. qualität Bereit zu kleinen Opfern, um Lieblingsformat zu sehen. Commitment So glücklich, dass ich kein anderes Format brauche. Werde Format mit ... auch in einem Jahr noch schauen. Ich bin absolut zufrieden mit der Leistung von ... . Zufriedenheit ... im Fernsehen zu sehen, bereitet mir großes Vergnügen. ... vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit. Glaubwürdigkeit Ich vertraue auf die hohe Qualität der Arbeit von ... . ... ist für mich ein Garant für gute Unterhaltung. ... ist aufrichtig gegenüber seinem Publikum. Integrität ... ist ehrlich gegenüber seinem Publikum. Markenvertrauen ... ist interessiert an seinem Publikum. ... arbeitet an sich, um Fortschritte zu machen. Wohlwollen ... ist bedacht, Bedürfnissen gerecht zu werden. ... ist ein sehr kompetenter Moderator/Schauspieler. Kompetenz Ich bin überzeugt von den Fähigkeiten von ... . ... verfügt über sehr umfangreiches Wissen. Würde mein Lieblingsformat wirklich vermissen. Lieblingsformat ist wichtiger Bestandteil meines Lebens. FPA Ohne mein Lieblingsformat würde mir etwas fehlen.
Audience Involvement
PSI
PVC
Parasoziale ideale Selbstkongruenz
Markenloyalität
Gefühl bei Rezeption als wäre ich mit Freunden zusammen. Freue mich schon auf den nächsten Sendetermin. Würde auch andere Formate mit ... anschauen. ... scheint zu wissen, was mich interessiert. Ich würde ... gerne einmal persönlich treffen. Ich finde ... attraktiv. Denke noch lang über Lieblingsformat nach. Denke noch lang über nächste Sendung nach. Denke noch lang über aufgetretene Akteure nach. Ich bin ... sehr ähnlich. Ich kann mich mit ... identifizieren. Ich bin ... überhaupt nicht ähnlich. Mein Persönlichkeitsprofil entspricht dem von ... . Beabsichtige, mein Lieblingsformat wieder zu schauen. Beabsichtige, meine Lieblingsformat weiter zu empfehlen. Würde Format auch schauen, wenn Sendezeit ungünstig. Beabsichtige, auch andere Formate mit ... anzuschauen.
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7. Stichprobe Als Erhebungsgesamtheit dienten alle Rezipienten frei empfangbarer Programme.6 In Anlehnung an eine Studie von Gerhard zur Medien- und Zuschauerforschung, die zeigt, dass die Fernsehgewohnheiten der über 16-jährigen Frauen und Männer keine signifikanten Unterschiede aufweisen (vgl. Gerhard 2002: 24), fand keine weitere Differenzierung der Probanden statt. Effektiv fanden 212 Probandenurteile im Rahmen der Auswertung Berücksichtigung, von denen 151 Probanden auf Basis einer Online-Befragung gewonnen werden konnten; 61 Personen nahmen offline an der Befragung teil. Der Großteil der Teilnehmer war zwischen 21 und 34 Jahre alt (65,6%). Das restliche Drittel entstammt zu 10,4% der Altersgruppe bis 20 Jahre, 10,8% der Probanden sind zwischen 35 und 49 Jahren alt, 11,8% sind im Alter zwischen 50 bis 64, 1,4% älter als 64 Jahre. Der Anteil der männlichen Probanden betrug 42,9%, der der weiblichen 57,1%. Darüber hinaus wurden der höchste Bildungabschluss sowie die tägliche Fernsehnutzungsdauer abgefragt. Danach verfügen 40,6% der Befragten über einen Studien- und 17,5% über einen Ausbildungsabschuss. 29,7% der Befragten gaben das Abitur als höchsten Bildungsabschluss an (Realschulabschluss 10,8% der Befragten, Hauptschulabschluss 1,4% der Befragten). In Bezug auf die Fernsehnutzung überwog der Anteil derer, die 61-90 Minuten pro Tag fernsehen (36,3%). 32,1% der Probanden gaben an, 31-60 Minuten vor dem Fernseher zu verbringen. 20,3% der Probanden sehen über 90 Minuten und 11,3% bis 30 Minuten pro Tag fern.
8. Ergebnisse Aufbauend auf der beschriebenen Konstruktoperationalisierung wurde das auf Basis theoretischer Überlegungen entwickelte Hypothesensystem mittels der PLS-Methode empirisch überprüft (Henkel/Huber 2005: 152ff.). Die Ergebnisse der Koeffizientenschätzungen werden im Folgenden auf ihren Bedeutungsgehalt hin analysiert. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass keiner der aufgestellten Hypothesen widersprochen werden konnte. Das Markenbeziehungsmodell bildet die Realität in einem äußerst zufriedenstellenden Maße ab. Für dieses positive Globalurteil spricht insbesondere der sehr hohe Erklärungsgehalt des Zielkonstrukts Beziehungsqualität sowie des nachgelagerten Konstrukts Markenloyalität. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es auf Basis der modellierten Antezendenzien von Beziehungsqualität möglich ist, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Mensch-„Marke Mensch“-Beziehungen zu erklären und zu evaluieren.
6 Pay-per-View-Formate erfahren keine Berücksichtigung, da ein anderes Fernsehverhalten unterstellt wird. Beispielsweise sind höhere Wechselbarrieren aufgrund direkt zurechenbarer Rezeptionskosten zu erwarten.
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8.1 Loyalität des Rezipienten zur „Marke Mensch“ Im vorliegenden Markenbeziehungsmodell repräsentiert die Markenloyalität die einzige Konsequenz des Zielkonstrukts Markenbeziehungsqualität. Mit einem Strukturgleichungskoeffizienten in Höhe von 0,7 wird der in der Hypothese formulierte Zusammenhang nachdrücklich bestätigt: Je besser demnach das Urteil eines Rezipienten hinsichtlich der Beziehungsqualität zu einem TV-Star ausfällt, desto motivierter ist dieser auch, sich loyal gegenüber dem Star zu verhalten und das Format wiedereinzuschalten. Daher ist auch die Wahrscheinlichkeit eines Wiederkonsum- und Weiterempfehlungsverhaltens größer. Darüber hinaus lassen die Ergebnisse den Schluss zu, dass Rezipienten mit einer starken Beziehung zu einer „Marke Mensch“ eine höhere Toleranz gegenüber ungünstigen Konditionen der Fernsehrezeption aufweisen (z.B. die Verlegung des Sendetermins auf einen ungünstigeren Zeitpunkt). Die Bereitschaft, auch andere Formate mit dem präferierten Star anzuschauen (Cross-BuyingAbsicht), weist die geringste Ladung auf das Loyalitätskonstrukt auf. Absolut gesehen ist im Falle hoher Beziehungsqualität jedoch auch dieses Loyalitätsverhalten zu erwarten (Ladung = 0,695).
8.2 Vertrauen des Rezipienten in die „Marke Mensch“ Das Markenvertrauen übt mit 0,202 den relativ geringsten Einfluss auf das Zielkonstrukt Markenbeziehungsqualität aus. Die Ergebnisse der PLS-Schätzung lassen aber dennoch den Schluss zu, dass es trotz der physischen Distanz zur Herausbildung von Vertrauen zwischen Rezipient und Fernsehstar kommen kann, und dass dieses gegenseitige Vertrauen die Beziehungsqualität positiv beeinflusst. Dem TV-Zuschauer ist es durch das Medium Fernsehen möglich, seinen Star zu beobachten und aufgrund dieser Erfahrung dessen Verhalten zu antizipieren. Diese Vorhersagbarkeit schafft Vertrauen und reduziert das Risiko des Rezipienten, im Rahmen seiner Beziehung zur „Marke Mensch“ durch sein Gegenüber enttäuscht zu werden. Die beziehungsstabilisierende Wirkung von Vertrauen lässt sich darauf aufbauend auf das Bedürfnis des Rezipienten zurückführen, diese einmal gewonnene Sicherheit zu erhalten. Das Beenden einer vertrauensvollen Beziehung käme dem Verlust von Vorhersagbarkeit gleich. Ein solcher Schritt würde den Rezipienten schlechter stellen und ist nicht zu erwarten.
8.3 Audience Involvement des Rezipienten Den mit Abstand größten Anteil an Varianz des Konstruktes Markenbeziehungsqualität erklärt die latente Größe Audience Involvement. Mit einem Strukturkoeffizienten von 0,606 weist der kausale Beziehungspfad zwischen diesen beiden Konstrukten den zweitgrößten Effekt im gesamten Schätzungsmodell auf. Wie bereits Horton und Wohl festhalten konnten, führt der audiovisuelle Charakter des Mediums Fernsehen zu einer scheinbaren Intimität zwischen Rezipient und Fernsehakteur (vgl. Horton/Wohl 1956: 215f.). Die vorliegenden Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die technisch erzeugte Nähe es mit sich bringt, dass
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Rezipienten den Fernsehakteur als Kommunikationspartner identifizieren und ihr Bedürfnis nach sozialer Bezogenheit durch die wiederholte parasoziale Interaktion mit dieser „Marke Mensch“ befriedigen. Diese Vermutung wird durch einen Einfluss der Dimension parasoziale Interaktion auf das Audience Involvement in Höhe von 0,857 bestätigt. Über die Relevanz tatsächlich stattfindender parasozialer Interaktion hinaus unterstreichen die Ergebnisse der Studie auch die enorme Bedeutung einer kontinuierlichen Ich-Beteiligung des Rezipienten im Rahmen der Herausbildung von Markenbeziehungsqualität. Hohe Ladungen der Dimensionen „Favorite Program Affinity“ (0,857) und „Post Viewing Cognition“ (0,778) auf das Audience Involvement führen zu der Schlussfolgerung, dass sich qualitativ hochwertige Rezipient-Star-Beziehungen dadurch auszeichnen, dass sich der Rezipient auch über die Rezeptionssituation hinaus mit dem von ihm präferierten Star auseinandersetzt. Das Resultat der Ich-Bezogenheit kann dabei kognitiver Natur sein, repäsentiert beispielsweise durch ein umfangreiches Markenwissen, als auch emotionale Züge tragen, ausgedrückt beispielsweise durch ein über die Sendezeit bestehendes, bleibendes Mitgefühl des Rezipienten mit einem unter Liebeskummer leidenden Serienstar. Als ein weiteres Ergebnis kann somit festgehalten werden, dass ein hohes Maß an Audience-Involvement eine rezipientenseitige Wechselbarriere darstellt und somit die Qualität der Rezipient-Star-Beziehung erheblich beeinflusst.
8.4 Parasoziale ideale Selbstkongruenz zwischen Rezipienten und „Marke Mensch“ Einen ebenfalls signifikanten Beitrag zur Varianzaufklärung der Beziehungsqualität leistet das Konstrukt parasoziale ideale Selbstkongruenz mit einem Strukturkoeffizienten in Höhe von 0,326. Die vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Wunsch nach Aufbau und Aufrechterhaltung einer Beziehung zu einem Star unmittelbar aus der wahrgenommenen Kongruenz zwischen Rezipientenpersönlichkeit und der Persönlichkeit der „Marke Mensch“ resultiert. Offenbar scheint der Rezipient durch das der „Marke Mensch“ inhärente Potenzial zur Selbstwerterhöhung motiviert zu sein, die Marke zum Ausdruck seines idealen Selbstkonzeptes zu nutzen. Dies impliziert, dass der Zuschauer durch die Markennutzung eine Art Zusatznutzen erwartet, den er in seine Rezeptionsentscheidung einbezieht. Kommt es im Rahmen der Fernsehrezeption zur Erfüllung dieser Nutzenerwartung, so ist davon auszugehen, dass sich diese Zusatznutzenstiftung positiv auf die Zufriedenheit des Rezipienten und somit auf dessen Neigung auswirkt, die Beziehung zu dieser „Marke Mensch“ durch weitere Interaktionen zu vertiefen. Die Untersuchungsergebnisse lassen somit den Schluss zu, dass ein hoher Grad an Deckungsgleichheit zwischen Rezipienten- und Markenpersönlichkeit einen positiven Einfluss auf die Qualität der Beziehung zwischen diesen Partnern hat.
8.5 Die Wahrnehmung der „Marke Mensch“ durch den Rezipienten Als Ergebnis in Bezug auf die Zielvariable Markenbeziehungsqualität kann somit festgehalten werden, dass die Resultate dieser Studie die Übertragbarkeit des Markenbeziehungsansatzes auf Rezipienten-Star-Beziehungen bestätigen. Rezipienten scheinen ihr Verhältnis zu
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einer „Marke Mensch“ als gegenseitige Beziehung wahrzunehmen, die mit einer sozialen Beziehung vergleichbar ist. Diese Beziehung ist durch Kontinuität und Stabilität sowie u.a. durch ein sehr hohes rezipientenseitiges Commitment gegenüber der „Marke Mensch“ charakterisiert und trägt in erheblichen Maße zur Loyalität des Rezipienten gegenüber den von ihm präferierten Star bei.
9. Schlussfolgerungen Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass eine hohe Qualität der Beziehung zwischen Rezipient und „Marke Mensch“ in erheblichen Maße zum Zustandekommen von Markenloyalität beiträgt. Hieraus lassen sich sowohl Handlungsempfehlungen zum Aufbau und zur Positionierung von Stars als auch Implikationen für das markengestützte Beziehungsmanagement zur Festigung der Rezipient-„Marke Mensch“-Beziehung ableiten. Der Erfolg bei der Bindung der Rezipienten an eine Marke ist untrennbar mit der Einhaltung bestimmter Kriterien verbunden, die ein hohes Maß an Disziplin seitens des Markenträgers und Markenmanagements erfordert. Wenn es das Ziel des Markenmanagements ist, einen Fernsehakteur als Marke aufzubauen und zu positionieren, so erfordert dies zunächst einmal die Identifikation und Festlegung unverwechselbarer Persönlichkeitseigenschaften. Bei diesen Attributen sollte es sich um grundlegende Eigenschaften des Markenträgers handeln, da dieser imstande sein muss, diese über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich und authentisch in Szene zu setzen. Nicht zuletzt durch Marktforschung können hierfür Anhaltspunkte eingeholt werden. So wird z.B. Günther Jauch als geistreich, charmant und vornehm wahrgenommen, Thomas Gottschalk hingegen durch Attribute wie Fröhlichkeit, Leidenschaftlichkeit und Temperament charakterisiert (vgl. Gilies 2003: 47). Im Weiteren besteht die Leistung der „Marke Mensch“ darin, auch über das eigentliche Format hinaus der vom Rezipienten erwarteten Positionierung gerecht zu werden und der von ihm erwarteten Theatralisierung zu entsprechen. Hierfür ist es zum einen nötig, dem Grundsatz der Kontinuität gerecht zu werden. Zum anderen ist es aber auch von zentraler Bedeutung, Spielräume zu schaffen, innerhalb derer eine Anpassung der Marke an sich verändernde Marktbedingungen möglich ist. Es gilt sicherzustellen, dass keine Überstrapazierung der Marke durch inflationären Einsatz stattfindet und dass ein anvisierter Markentransfer keine Verwässerung der Kernmarke nach sich zieht. Dabei geht es nicht um das Privatleben des Stars, sondern vielmehr um dessen öffentliches Auftreten in Rahmen anderer Medienformate oder Werbung. Wird ein Transfer zur Erschließung neuer Zielgruppen und Märkte unumgänglich, gilt es diesen Prozess langfristig zu planen, um aufgebautes Markenkapital zu erhalten. Im Falle der Erfolgskonstellation zwischen dem Format „Wetten dass...?“ und der Marke „Thomas Gottschalk“ wäre entsprechend der Markentransfer auf ein neues Format nur empfehlenswert, wenn das Zielformat signifikante Persönlichkeitseigenschaften des Moderators wie Temperament und Spontanität fördert. Ein Transfer auf Magazinformate wie beispielsweise „Monitor“ wäre hingegen nicht zielführend. Ähnliches gilt für das Starver-
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halten außerhalb des Medienunternehmens. So schließt z.B. Sabine Christiansen Auftritte als Werbe-Testimonial aus und achtet im Rahmen sonstiger öffentlicher Auftritte stets auf ein Umfeld, das ihrem „seriösen“ Image entspricht. Auftritte in Unterhaltungsshows werden durch das Management stets abgelehnt, wohingegen öffentliche Auftritte als Repräsentantin von UNICEF als imageförderlich begrüßt werden. Über die genannten allgemeingültigen Richtlinien hinaus sollte es das Ziel eines an einem loyalen Publikum interessierten Fernsehunternehmens sein, den Rezipienten durch gezielte Marketingmaßnahmen stärker in das Geschehen auf dem Bildschirm einzubinden und auf diese Weise seine Bereitschaft zur parasozialen Interaktion mit der „Marke Mensch“ zu fördern. Die Voraussetzungen hierfür müssen bereits im Vorfeld der Ausstrahlung des Formats geschaffen werden, insbesondere muss der Star für das Phänomen der parasozialen Interaktion sensibilisiert werden. Bereits Horton und Wohl verweisen auf die enorme Bedeutung der direkten Ansprache im Rahmen der Fernsehrezeption und erkennen darüber hinaus die unterstützende Wirkung von Mimik und Gestik (vgl. Horton/Wohl 1956: 215ff.). Des Weiteren besteht die Möglichkeit der Implementierung interaktiver Kommunikationsmaßnahmen während der Ausstrahlung des Formats, z.B. die Schaffung von Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme via Telefon, Fax oder E-Mail, die Beteiligung des Rezipienten an Entscheidungen durch Telefonvotings wie bei „Deutschland sucht den Superstar“ oder auch die Verlosung von Preisen bei der Beantwortung von auf das Format bezogenen Fragen. Da Audience Involvement eine kontinuierliche Aktivität des Zuschauers in Bezug auf die „Marke Mensch“ impliziert, gilt es weiterhin, Marketinginstrumente zu identifizieren, die den Zuschauer über die Phase der Ausstrahlung hinaus an das Format und an den auftretenden Star binden. Eine erfolgreiche „Marke Mensch“, mit der der Rezipient eine bestimmte für ihn relevante Bedeutung verbindet, muss letztlich in der Lebenswelt des Rezipienten verankert sein. Anreizinstrumente, sich weiter mit dem Star zu beschäftigen, stellen beispielweise Chat-Veranstaltungen im Umfeld des Ausstrahlungstermins, Fan-Klubs und Foren im Internet oder auch „Meet-and-Greet“-Termine, die einzelnen Zuschauern die Möglichkeit eröffnen, ihren Lieblingsstar im Rahmen von PR-Veranstaltungen persönlich kennen zu lernen, dar. Durch den Vertrieb von „gebrandeten“ Artikeln wie Textilien oder Tassen erhält die „Marke Mensch“ Einzug in weitere Lebensbereiche des Rezipienten. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen zudem, dass parasoziale ideale Persönlichkeitskongruenz eine wichtige Determinante der Beziehungsqualität darstellt. Ist das Persönlichkeitsprofil der „Marke Mensch“ klar definiert und liegen zudem gesicherte Informationen über wichtige Charakteristika der Zielgruppe vor, ist es am Markenmanagement, weitgehende Kongruenz zwischen Star und Publikum zu gewährleisten. Hierzu bedarf es in erster Linie der Kontinuität und Überwachung des Markenauftritts und einer Betonung der als relevant betrachteten, differenzierenden Star-Eigenschaften. Um rezipientenseitigen Bedürfnissen gerecht zu werden, bedarf es bei der Vermarktung und Positionierung von Stars letztlich strategischer Markenführung, was zur Festigung bestimmter Theatralitätsmuster im Sinne einer bestimmten Performance, Inszenierung und Korporalität führen kann. Stars wie Madonna und David Bowie, die sich erfolgreich ständig neu erfinden und Wandelbarkeit zu einer Komponente ihrer Positionierung gemacht haben, scheinen eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Der Markierung an sich kommt somit eine ambivalente Rolle zu. Einerseits ermöglicht und fördert sie Theatralisierung, andererseits
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verengt sie ähnlich wie Geld „den Raum möglicher und erforderlicher Theatralität“ (Willems 1998: 54), indem sie bestimmte Aspekte der Persönlichkeit des Stars rationalisiert und somit seinen Theatralitätsspielraum einschränkt. Die Markierung des Mediensubjekts Star bedingt somit Theatralisierung wie Enttheatralisierung.
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Parasoziale Authentizitäten oder Welche Identitäts-Unterschiede Stars in Mediengesellschaften machen Katrin Keller
1. Präludium: Ausblick auf das Selbst im Pop Jeder Anfang verletzt (…) die Welt durch die eine oder die andere Unterscheidung, um dies (und nicht sonst etwas) bezeichnen zu können. (Luhmann 1992: 547-548)
Identität ist eine relationale und bisweilen irrationale Angelegenheit, auch und gerade heute in Zeiten eines medial geprägten und somit hochkontingenten Alltags. In Mediengesellschaften sehen sich Medien-Nutzer mit kulturellen Haltlosigkeiten konfrontiert, zu deren Bewältigung sie auf Anker angewiesen sind, die ihnen Momente relativ stabiler Identitätswahrnehmung ermöglichen. Letztendlich geht es für das Individuum zeitlebens um die Erlangung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes, das immer zumindest mitschwingendes Ziel seines Handelns ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass menschliches Handeln im Allgemeinen motiviert ist durch den Wunsch nach Zufriedenheit, der, sind die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen nach Nahrung, Erholung und Sexualität erst einmal erfüllt, primär auf die Selbstwahrnehmung des Individuums rekurriert. Kein Ego möchte, unsicher seiner selbst, frei flottieren, und ein jeder möchte gefallen, zumindest sich selbst und jenen, auf deren Wertschätzung er Wert legt. So ist die Suche nach einer von der Selbstprüfungs-Instanz für stabil und positiv befundenen Identität immer auch eine Suche nach ego-externen Ankern für selbige. In Zeiten von Medien-, Spaß-, Erlebnis- (vgl. Schulze 2000) und sonstigen vermeintlich ideologisch tönernen Gesellschaften sind diese Anker, darf man dem allgemeinen sozialwissenschaftlichen Tenor Glauben schenken, immer öfter popkultureller Art. Im Folgenden soll es darum gehen, wie sich Ego als handelndes Individuum im sozialen Kontext umgeben von mediengesellschaftlicher Kontingenz Momente stabilen Identitätsempfindens beschert, die nicht nur Grundlage jeglichen Glücks- und Zufriedenheits-Gefühls sind: Um handeln zu können, muss sich Ego zunächst einmal auf sich selbst als Ego (also als Konzept seiner selbst) – im Unterschied zu Alter und seiner bzw. ihrer gemeinsamen Umwelt – verlassen können. Ego kann nur sein, was er ist, wenn er dies ist im Unterschied zu dem,
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was bzw. der er nicht ist. Nur als Ego im Unterschied zu Alter ist Ego orientiert und handlungsfähig, verfügt Ego über eine für ihn selbst und andere definierbare Identität. In Mediengesellschaften suchen und finden Medien-Nutzer eine Vielzahl von IdentitätsMarkern in den mehr als reichhaltig medial präsentierten Wirklichkeits-Entwürfen, die sie alltäglich umgeben. Im Folgenden soll es speziell um die Rolle von Stars als personalen parasozialen Identitäts-Ankern gehen, also um eine spezielle Art medial präsentierter Identitäts-Entwürfe und ihre Nutzungen zur Konstruktion von Identität. Stars erlauben es ihren Nutzern, vermittelt über mediale Star-Darstellungen Konzepte von Selbst und Fremd (Ego/Alter) zu entwerfen, wobei die medial beobachteten Stars sowohl als positiv als auch als negativ bewertete Identitäts-Marker – Ego eingrenzend wie ausgrenzend – zum Einsatz kommen können. Hier sollen zunächst Konzepte von ‚Identität‘ und ‚Rolle‘ entwickelt werden, die als allgemeine Grundlage für die konkrete Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Stars und Identität‘ dienen sollen. Das vorausgesetzte Rollen-Konzept geht von den Ausführungen E. Goffmans und R. Sennetts aus und muss eine Unterscheidung zwischen dem Star-Star (als beruflicher Rolle des Stars) und dem Star-Mensch (als seiner privaten Rolle) erlauben, um zwischen den Bezugnahmen der Star-Nutzer auf den Star als Privatmenschen und als ‚Berufs-Star‘ unterscheiden zu können. Der Star-Mensch ist dabei sowohl im Kontext seiner medial-privaten Darstellungen zu betrachten als auch als unterstellt privat-privater StarMensch, der sich grundsätzlich der medialen Wahrnehmbarkeit entzieht. Sowohl das Identitäts-Konzept als auch die Konzeption von Rollen als Grundlage von ‚personalen Auseinandersetzungen‘ verlangen zudem nach einer Vorstellung von Authentizität, die in ihrer Unterscheidung zwischen ‚authentisch‘ und ‚inauthentisch‘ identitätsrelevante Bewertungen anleitet. Der vorliegende Beitrag fragt nach der Bedeutung von Authentizität und Rollen im Kontext parasozialer Identitäts-Unterscheidungen: Wie nehmen Nutzer auf Stars Bezug? Welche Anforderungen stellen sie hinsichtlich der Authentizität von Stars? Welche Auswirkungen können Authentizitäts-Urteile auf die Beurteilung von Stars haben sowie auf die Unterscheidung von Nutzer-Selbst und Images des Stars? Wir werden sehen.
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2. Identitäts-Differenzen: Was wir sind, wenn wir sind, was wir nicht sind Wenn wir Identität als relationale Angelegenheit begreifen, meint dies zunächst einmal, dass Identität Bewusstsein voraussetzt, das nötig ist, um in Bezugnahmen zwischen sich selbst und dem Anderen unterscheiden zu können.1 Bewusstsein konstituiert sich in Unterscheidungs-Prozessen, in denen es sich zugleich auf sich selbst wie auf etwas als etwas von ihm Unterschiedenen bezieht. In jeder Vorstellung von Identität kumulieren sich folglich variable identitätsrelevante Bezugnahmen, die für das Selbst unhintergehbar sind, weil sie von ihm gemäß der Logik seines Selbst nur so und nicht anders vorgenommen werden können. Ego und Alter sind, wenn man so will, Prozessresultate der Unterscheidungen Egos (bzw. Alters als Ego’) (vgl. Schmidt 2003c: 2). Dergestalt abstrakte Erkenntnisse sind im Alltag gleichwohl wenig hilfreich. Hier brauchen wir zunächst einmal dringend den Glauben an kontinuierliche, kohärente und autonome Identitäten (vgl. Erikson 1966: 18, Hacker 1973: 176 und Schmidt 2000: 115), die wir – das versteht sich von selbst – im Alltag nicht als solche benennen oder gar hinterfragen. Stattdessen gehen wir selbstverständlich davon aus, dass wir – und auch alle anderen – morgens als diejenigen aufwachen, als die wir abends zu Bett gegangen sind, dass wir uns selbst auch in unseren absurdesten Handlungen stets wiedererkennen und dass wir über die Fähigkeit verfügen, unsere Handlungen bewusst und selbst zu steuern. Sensu S. J. Schmidt ist Identität in diesem Sinne virtuell. Sie ist verlässlich als kollektiv voraussetzbare Fiktion, also als ein Konzept, das in unserer Handlungsgemeinschaft mit den genannten Eigenschaften als allgemein anzuerkennende und zuverlässige Basis allen Denkens und Handelns vorausgesetzt wird, ohne dass sein Bestand ‚realistisch‘ zu überprüfen wäre. (Vgl. Schmidt 2003a: 36 und 2003b: 357) Und warum? Weil es anders nicht ginge, es gedanklich zu aufwendig wäre, jedes Selbst, das eigene wie das fremde, bei jeder Handlung mitlaufend in Frage zu stellen. Weil wir mit unseren Selbst- und Fremdbewusstseinen ins Straucheln gerieten und dies, ohne Zweifel, eher früher als später in selbstdestruktiven Wirklichkeits- und Handlungskollapsen enden würde, wie sie etwa aus schizoiden Psychopathologien bekannt sind. Die notwendige grundsätzliche alltagstaugliche Verlässlichkeit von Identität beschreibt auch J. Mitterer (2001: 60): Um als Instanz über das Sein oder zumindest das So-Sein der Dinge urteilen zu können, muss der Mensch eine Identität über den momentanen Zustand hinaus besitzen, in dem sein Urteil fällt. Er muss mehr sein als nur der Mensch-zum-Zeitpunkt-eines-Urteils.
Das Wissen, dass ich morgen „wieder zu mir kommen“ werde (Flusser 1993: 97) und die zumindest implizite Überzeugung, dass dies für alle anderen genauso gilt, kurz: der basale Glaube an Identität, dient als Chaos-Prophylaxe, die uns sicher und ohne ständige Welt-, Selbst- und Fremd-Erschütterungen handeln und durch unsere Leben gehen lässt. Mehr noch, als wir uns mögen, glauben wir an uns. 1 Vgl. zum Begriff der Bezugnahme auch Jünger (2002: 152). Schmidt (2003a: 30) setzt Bezugnahme als Bewusstseinsprinzip an, so dass Bewusstsein bzw. Bewusstseinsfähigkeit und Bezugnahme bzw. die Fähigkeit zu ihr sich wechselseitig bedingen.
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„Jede Identität“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler und Cultural Studies-Vertreter L. Grossberg, „braucht ihren Unterschied zu, ihre Verneinung von einem anderen Begriff (...).“ (Grossberg 1996: 89, Übersetzung K. K.) Darüber, dass Identität immer ein Drinnen und ein Draußen braucht, immer angewiesen ist auf Mechanismen von Eingrenzung und Ausgrenzung, auf sie tragende Metaphern, herrscht innerhalb des Identitäts-Diskurses inzwischen weitgehend eine Einigkeit, die sich für Vertreter unterschiedlichster Disziplinen und Fachrichtungen feststellen lässt. Aus konstruktivistischer Perspektive konstatiert so etwa G. Rusch, Basis der Entwicklung reflexiver Selbst-Sicht seien unter anderem soziale Erfahrungen, die sich auf andere beziehen, und damit das Erleben des eigenen Selbst durch das Erleben von anderen (vgl. Rusch 1987: 133-135). Und auch John Fiske, wie Grossberg ein prominenter Vertreter der Cultural Studies, entwirft Identität als soziales Konstrukt, das sich im Verhältnis zwischen Individuum und sozialer Umwelt formiert (vgl. Fiske im Gespräch mit Müller 1999: 196). In sozialen Handlungskontexten müssen Unterscheidungen notwendig kommunikabel sein und stützen sich somit auf sprachlich-narrative Schemata. Identität entsteht so im Erzählen von Unterscheidungen, die für die sich konstituierende Identität von Belang sind. Dabei organisieren Erzählschemata nicht erst die tatsächliche Kommunikation der Resultate dieser Unterscheidungen, sondern bereits die kognitiven Unterscheidungs-Operationen: Das Individuum erzählt sich in inneren Gesprächen vom eigenen Selbst in Relation zu anderen, und diese ‚inneren Selbstgespräche‘ gehorchen ähnlichen narrativen Gesetzmäßigkeiten wie die verbale Kommunikation mit seinen Mitmenschen.2 Indes: Diese schematische Äquivalenz steht gleichwohl unabhängig von einer etwaigen Deckungsgleichheit der Geschichten des Selbst für das Selbst und deren fremd-adressierter Versionen, wie sich hier später noch in der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Authentizität zeigen wird. „‚Ich‘ ist der Name, der konvergierende Beziehungen bezeichnet, und wenn alle Beziehungen, eine nach der anderen, abgezogen werden, dann bleibt kein ‚Ich‘ übrig“, schreibt V. Flusser (1997: 146). Identität unterbricht damit synchron, also punktuell in der Zeit, potenziell unbegrenzt möglichen Regress. Identität wird von Handelnden als nahezu unumstößliche Feststellung gesetzt, und ihre Setzung ist zugleich Voraussetzung3 für die Handlungsfähigkeit des sie (voraus)setzenden Individuums. Identität ist folglich nicht, weil sie, unabhängig von individuellen wie sozialen Auseinandersetzungen mit ihr, ist. Sie ist, weil sie so, wie sie ist, von Individuen im Kontext ihres Kollektivs für wahr genommen, angenommen, vorausgesetzt, geglaubt und damit kollektiv bestätigt wird.
2 Vgl. zum Zusammenhang von verbaler Kommunikation und Identität Rusch (1987: 134) und White (1992: 7). 3 Vgl. zu ‚Setzung‘ und ‚Voraussetzung‘ sowie deren wechselseitigem Bedingungsverhältnis Schmidt (2003a: 29).
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3. In Verhandlung: Rollen als Konstanten in Identifizierungs-Prozessen Das bisher Gesagte lässt sich, stark verkürzt, auf die Kernaussage reduzieren: Identität braucht Differenz. Die Differenz von Ego und Alter (oder auch die von ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘, wenn es um die soziale Identität des Individuums als Mitglied einer Gruppe geht4) kann nicht sinnvoll losgelöst von Egos und Alters wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander betrachtet werden. Ego weiß von sich im Wissen um Alter; Alter weiß von sich im Wissen um Ego. Und beide wissen, dass sie gegenseitig voneinander wissen. Indes: Alters Wahrnehmungen Egos sind für Ego ebenso wenig einsehbar wie die Selbstwahrnehmungen Egos für Alter (vgl. Barthes 1988: 218 und Goffman 2003: 68). Und so fragen sich Ego und Alter immerzu, was wohl der andere, wenn er doch von ihm weiß, wohl von ihm denken mag. Und unterstellen, mal mehr, mal weniger mit Erfolg, wo sie nicht wissen können, was sie für richtig, glaubhaft oder plausibel halten – aus welchen, meist erfahrungsgetragenen, Gründen auch immer. Wenn Ego sich selbst beobachtet, laufen so stets mindestens implizite Beobachtungen von Alter mit, die in erneuten Reflexivitätsloops wiederum die Beobachtungen Egos durch Alter und Alters durch Ego als Unterstellungen voraussetzen usw. Ist Alter als kognitives Konzept nicht aus den Selbstbeobachtungen Egos fortzudenken, können auch die Selbstbewertungen Egos nicht losgelöst von dessen Bewertungen Alters gedacht werden. Dabei ist Ego hochgradig parteiisch, wenn es um sein Selbst geht – also letztendlich immer: Identität bewertet immer bereits im Moment ihrer Unterscheidung. Ego kann sich ebenso wenig dafür entscheiden, Ego zu sein, wie statt Ego Alter zu sein (vgl. Luhmann 1992: 63), kann er doch schließlich aus seinem Kopf noch weniger heraus als aus seiner Haut. So wird er zum Opfer einer Art intrinsischen Affektlogik (vgl. Ciompi 1998 und 2005), in der er (ebenso wie Alter als Ego‘) seine handlungsdeterminierenden Bewertungs-Biasses bestenfalls wahrnimmt, sich dieser jedoch nicht grundsätzlich erwehren kann: Ego ist und bleibt sein eigenes ultimatives Axiom, ist in Identitäts-Angelegenheiten zugleich Günstling und Gönner. Seine vollendete Selbst-Zufriedenheit ist höchstes Ziel und Gut, das es, zumindest utopisch, mittels der Optimierung der auf Ego bezogenen Selbst- wie Fremd-Bewertungen zu erreichen gilt. Während man sich im Alltag grundsätzlich auf die relative diachrone Beständigkeit und synchrone wie diachrone Kohärenz von Identität verlassen können muss, erleben Individuen sich selbst und andere konkret fortwährend in wechselnden situativen Handlungskontexten, die zumindest teilweise zu dissonanten Handlungs- und damit Identitätswahrnehmungen führen. Identität zeichnet sich konzeptuell dadurch aus, dass sie in Form von Selbst- und Fremdbildern dazu in der Lage ist, beliebige Handlungen von Ego bzw. Alter etwaigen wahrgenommenen Widersprüchlichkeiten zum Trotz kohärent zu integrieren (vgl. Rusch 1987: 134f.). Identität kann dies gleichwohl nur deshalb flexibel leisten, weil sie als grundsätzlich kohärent angenommen wird. Will sagen: Erst die Annahme einer kohärenten Identität erlaubt die flexible Integration divergierender Handlungen und Handlungsweisen, ebenso wie umgekehrt Identitätskohärenz und -konstanz nur angesichts einer relativen integrativen Toleranz gegenüber abweichenden Handlungen angenommen werden können. Metaphorisch ausgedrückt: Die ‚Identitäts-Passform‘ kann gerade deshalb derart viel, auch scheinbar Widersprüchliches,
4 Vgl. zu sozialer Identität Mummendey (1995: 105-110).
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fassen, weil sie nicht für starr gehalten wird, was wiederum einen Grad an gefühlter Kohärenz ermöglicht, der bei absoluter Starrheit alsbald integrativ gesprengt würde. Um in ihren Beschreibungen der Kontextabhängigkeit des Handelns ihrer BeobachtungsObjekte gerecht zu werden, greift die Soziologie traditionell auf das Konzept der ‚sozialen Rolle‘ zurück. Wenn es um Rollen geht, geht es hier nahezu immer auch um Selbstdarstellungs-Mechanismen. Selbstdarstellungs-Theorien gehen üblicherweise von einer kohärenten und konstanten Identität aus, über die Individuen darstellerisch verfügen, und aus der sie, bewusst wie unbewusst und in Abhängigkeit von Kontext und interpersonalen Beziehungen, Aspekte zur Darstellung auswählen und andere zu verbergen suchen.5 Einer der bekanntesten Rollen-Theoretiker ist E. Goffman, amerikanischer Soziologe und Begründer der Impression-Management-Theory. Goffman fasst seine Interaktions-Beobachtungen unter der dramaturgischen Metapher der „Welt als Bühne“ (Goffman 1980: 143 und 2003: 232). „Wir alle spielen Theater“, heißt so auch Goffmans deutsche Übersetzung, wenngleich diese recht frei mit dem englischsprachigen Originaltitel „The Presentation of Self in Everyday Life“ umgeht (ders. 2003). Goffmans Kernannahme ist die des „totalen Rollenverdacht[s]“ (Dahrendorf 2003: VIII), unter den er seine handelnden „Darsteller“ stellt. Wer handelt, der stellt für Goffman unausweichlich immer auch sich selbst dar, zumindest, sofern diese Handlungen vor anderen, gemäß Goffmans Theater-Metaphorik dem „Publikum“, stattfinden. Darstellungen umfassen laut Goffman alle Tätigkeiten eines Teilnehmers in einer bestimmten Interaktions-Situation und dienen immer dem Zweck der Beeinflussung mindestens eines anderen Teilnehmers. Handelnde hegen in ihrer Rolle als Darsteller, so könnte man freier formulieren, also wenigstens unbewusst immer manipulative Absichten. Den Begriff der Rolle verwendet Goffman zur Beschreibung eines vorherbestimmten Handlungsmusters, das sich während einer Darstellung entfaltet und bei anderen Gelegenheiten wieder zur Vorführung kommen kann. Er führt aus: Wenn wir soziale Rolle als die Ausübung von Rechten und Pflichten definieren, die mit einem bestimmten Status verknüpft sind, dann können wir sagen, daß eine soziale Rolle eine oder mehrere Teilrollen umfaßt und daß jede dieser verschiedenen Rollen von dem Darsteller bei einer Reihe von Gelegenheiten vor gleichartigem Publikum oder vor dem gleichen Publikum dargestellt werden kann. (Goffman 2003: 18)
Die individuellen Handlungsfreiheiten des Darstellers bleiben in Goffmans Konzeption gleichwohl gering; der Darsteller selbst gerät zum Quasi-Opfer seines intrinsischen Manipulationstriebs, mit dem er sich im Rahmen prädeterminierter Rollen-Rechte und -Pflichten bewegt. Auch bei Goffman ist die Dichotomisierung entlang der Differenz authentisch/inauthentisch spürbar (hier: „zynisch“ vs. „aufrichtig“, ebd.: 20), die einem überall dort begegnet, wo die kontrastierende Dualisierung von Handlung und Darstellung, ‚wahrem Selbst‘ und ‚dargestelltem Selbst‘ (etc. pp.) Authentizitätsfragen gebiert und so zugleich Fragen nach der Moral des Handelnden in die Diskussion einschleppt. Als Motivation für den etwaigen Zynismus des Darstellers, der seinen eigenen, manipulativ ausgespielten Selbst-Darstellungen
5 Vgl. dazu kritisch Kugler (1998: 155).
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nicht glaubt, sieht Goffman wiederum dessen Streben nach positiven Selbst-Bewertungen durch sein Publikum bzw. nach der Idealisierung seines Selbst (vgl. ebd.: 35-54 und 1979: 116-128). Während R. Sennett seine Auseinandersetzungen mit dem Rollen-Konzept auf denen Goffmans basieren lässt, umgeht er in seiner Konzeption wesentliche Probleme, die sich in Goffmans dualistischer Positionierung begründen. Für Sennett ist eine Rolle zunächst einmal als Verhalten definiert, das in bestimmten Situationen für angemessen gehalten wird, in anderen hingegen nicht (vgl. Sennett 2002: 52). Darüber, welches Verhalten bzw. welche Handlungen situativ für angemessen oder unangemessen gehalten werden, orientieren sich Ego und Alter wiederum durch wechselseitiges mehr oder minder erfolgreiches Meinen voneinander in reflexiven Wahrnehmungskontexten. Anders als Goffman betont Sennett dabei den Zuschreibungscharakter von Rollen, die es nur als Attributionsprodukte geben kann: Über die Katalogisierung ihres Verhaltens hinaus stellt sich also die Frage, welchen Wert die Menschen ‚situationsspezifischem‘ Verhalten zuschreiben. Die Anschauungssysteme der Menschen und ihr Verhalten zusammengenommen machen erst eine Rolle aus. (Sennett 2002: 53)
Was bleibt nun für die hier vertretene Rollen-Auffassung? Zunächst einmal soll ‚Rolle‘ hier ausgehend von Goffman und Sennett verstanden werden als kontextuell beobachtete und beobachtbare Identitätsaspekte im Sinne von ‚erblickten‘ (lat.: aspicere: sehen, erblicken) Identitätsausschnitten. Dies meint keineswegs eine irgendwie geartete Identitäts- oder Kognitionstransparenz. Im Gegenteil: Gemeint ist, dass Handlungen bzw. Handlungsweisen Egos und/oder Alters von Ego und/oder Alter alltagspraktisch beobachtet werden und als Basis für Rückschlüsse auf einen wie auch immer gearteten Identitätskern gemäß der oben beschriebenen Voraussetzungen herangezogen werden. Rollenhandeln wird dadurch zu Rollenhandeln, dass ihm Relevanz für die Rolle eines Individuums – als Ausschnitt der Identität des Individuums – zugeschrieben wird. Handlungen sind zwangsläufig kontextuell gebunden, und so bleiben auch Rollen für ihre Genese stets auf Handlungskontexte angewiesen, von denen jedoch in der Rollenkonstruktion zu einem Flexibilität wie Kohärenz ermöglichenden Grad abstrahiert werden kann und muss (vgl. Identität). Wichtig für erfolgreiche Rollenzuschreibungen ist letzen Endes immer ein zumindest basaler sozialer Konsens der ‚Betroffenen‘: So greifen etwa die Handlungs-Rädchen der Lehrer- und Schüler-Rollen-Zuschreibungen idealiter dergestalt ineinander, dass Lehrer und Schüler in ihren komplementären Rollen handeln und damit funktionierenden Unterricht ebenso wie ihre eigenen Rollen produzieren und bestätigen.6 Rollen-Konzepte im Speziellen und Identitäts-Konzepte im Allgemeinen sind indes dann zum Scheitern verurteilt, wenn keine soziale Übereinkunft über sie erzielt werden kann, wenn also Reflexivität scheitert und man erfolglos meint: Wer sich für Jesus, Picasso oder Michael Jackson hält und zur allgemeinen Verwunderung seiner sozialen Umwelt getreu diesen Selbst-Annahmen handelt, findet sich meist früher oder später in einer psychiatrischen Einrichtung in der (sozial bestätigten) Patienten-Rolle wieder.
6 Vgl. zu Rollen-Komplementaritäten Luhmann (1998: 739).
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Rollen, so muss an dieser Stelle ergänzt werden, verlangen immer nach Schematisierungen (vgl. Zimbardo 1995: 723), die auch die (Rollen-)Beziehungen zwischen Ego und Alter bis zu einem gewissen (ausreichend flexiblen!) Grad konstant halten. Rollen schaffen situationsübergreifende Identitäts- und Handlungs-Erwartbarkeiten, die allen Handelnden Leben und Sozialität erleichtern. Wie von Goffman beschrieben, sind Rollen immer auch mit Erwartungen bezüglich Rollen-Rechten und Rollen-Pflichten verbunden und damit alltäglich überaus praktisch, wenn es darum geht, miteinander umzugehen. Und auch, wenn Alter nicht immer so funktioniert, wie Ego es aus seinem Rollenwissen heraus erwartet (und vice versa): Es ist erst die konstruktive Absteckung eines Rollenrahmens, die dessen erwartungsgetreue Bestätigung ebenso ermöglicht wie die Zurkenntnisnahme und ggf. fällige soziale Ahndung seiner Überschreitung.
4. Von Authentizität als wahrhaftigem Identitätsproblem Wie gesehen weiß Ego alles Wissen über sich nur in Differenz zu Alter und weiß damit letzten Endes sich selbst nur in Differenz zu Alter. Was Ego über Alter weiß, weiß er wiederum aus seinen Beobachtungen von bzw. über Alter. Das ergibt, verständlicherweise, eine durchaus wacklige Grundlage für oftmals folgenschwere, weil identitätsrelevante Annahmen. Es braucht also eine Art sozial konsentierten ‚doppelten Boden‘, der uns gerechtfertigt annehmen lässt, dass wir unseren Mitmenschen tendenziell Glauben schenken können. Dies leistet die Norm der Authentizität, die uns erlaubt, für andere authentisches Handeln anzunehmen, wenigstens aber normativ von ihnen einfordern zu können (vgl. Luhmann 1998: 225). Zweifel an Wahrhaftigkeit oder Authentizität werden so nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Auf theoretischer Ebene werden diese im Gegenteil sogar als notwendige andere Seite der Unterscheidung von wahrhaftig/nicht wahrhaftig bzw. authentisch/inauthentisch eingefordert und Vertrauen so sozial ermöglicht. Inauthentizität wird, so kann analog zu Luhmanns Beschreibung von Vertrauen und Misstrauen formuliert werden, zu einem funktionalen Äquivalent von Authentizität (vgl. Luhmann 2000: 92f.). Das zur Entstehung von Identität notwendige ‚wahre‘ Wissen über Alter wird moralisch durch die Norm der Authentizität einklagbar. Zumindest aber sieht sich Ego entlang der Authentizitäts-Norm in der Lage, über die Authentizität Alters positiv oder negativ zu befinden, um zu ihm und damit zu sich selbst Identität generierend in Beziehung treten zu können. Ego muss, salopp formuliert, darüber entscheiden können, was er von Alter zu halten hat, um sich innerhalb eines sinnvollen Bewertungs-Rahmens auf Alter beziehen zu können. Während Wahrheit tendenziell depersonalisiert an verbaler Kommunikation bzw. Aussagen gemessen wird (vgl. Luhmann 1998: 339 und Mitterer 2001: 90ff.), wird Authentizität dann zum Thema, wenn Handelnde in ihrer Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit als Kommunikationspartner bewertet werden sollen. Handlungen bzw. deren Resultate sind dementsprechend dann authentizitätsrelevant, wenn sie aus Sicht des Beobachters für den Beobachteten einen Selbstbezug aufweisen, also Anlass zu Annahmen über den Zusammenhang der uneinsehbaren Kognitionen des Handelnden und seiner beobachtbaren kommunikativen
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Darstellungen sind. Authentisch kann nur sein, wer oder was auch inauthentisch sein kann – und inauthentisch handeln kann im Alltags-Verständnis nur, wer sich seiner kognitiven (Identitäts-)Operationen als alternativer handlungsleitender Maxime bewusst ist und sich ebenso bewusst gegen deren authentische Darstellung entscheidet. Bewusst-Sein als Voraussetzung für Inauthentizität bzw. inauthentisches Handeln ist damit auf theoretischer Ebene auch Voraussetzung für Authentizität bzw. authentisches Handeln, während der Alltagshandelnde Authentizität oftmals gerade durch deren scheinbare Unreflektiertheit oder Unvermitteltheit gekennzeichnet sieht: Wir neigen dazu, ehrliche Darstellungen so zu sehen, als fänden sie ohne Absicht statt [bzw. Darstellungen, die scheinbar ohne Absicht stattfinden, als ehrlich zu bewerten, Anmerkung K. K.], als seien sie vielmehr ein Produkt unbewußter Reaktion des Einzelnen auf die tatsächliche Situation. Kunstvoll aufgemachte Darstellungen halten wir dagegen gern für mühselig, aus zahlreichen falschen Einzelheiten zusammengezimmert, da die Realität fehlt, auf die diese Einzelheiten die unmittelbare Antwort sein könnte [sic]. (Goffman 2003: 65)
Authentisch wirkt folglich im Alltag das (scheinbar) Uninszenierte, dessen uninszenierter Eindruck gleichwohl, z.B. in medialen Wirklichkeits-Entwürfen, gerade durch besonders ausgeklügelte Inszenierungs-Mechanismen hervorgerufen werden kann (vgl. Rasmussen 2000: 49 und Schütz 1999: 112f.). Die von Goffman beschriebene Aufmachung von Darstellungen knüpft an traditionelle Vorstellungen von ‚Inszenierung‘ als Synonym von ‚Inauthentizität‘ an (vgl. Fischer-Lichte 2000: 18). Inszenierung beinhaltet demnach immer Planung, Absicht und die kalkulierte Gestaltung von Handlungen. Sie intendiert bestimmte (Publikums-)Wirkungen und richtet ihre Dramaturgie nach diesen Wirkungs-Intentionen aus. Der Inszenierung steht als positives Ideal eine sich unvermittelt artikulierenden, scheinbar absichtslose Authentizität gegenüber, die für Echtheit, Wahrheit und Glaubwürdigkeit bürgt.7 Ein Beobachter kann letztlich jede Handlung eines Beobachteten auf dessen Authentizität bzw. Inauthentizität anrechnen, sei es dessen verbale Kommunikation, Gestik, Mimik oder auch die Musik, die dieser produziert. Dazu bedarf es keineswegs des Wissens oder gar Einverständnisses des Beobachteten: So mag Ego Alters Authentizität in Frage stellen, weil dieser in einer Kommunikationssituation scheinbar nervös die Hände knetet oder häufig blinzelt, während sich Alter vielleicht gar nicht bewusst ist, dass seine Authentizität und damit seine Tauglichkeit als verlässlicher Kommunikationspartner gerade auf dem Prüfstand stehen. Der stets mitgedachte moralische Anspruch der Authentizitäts-Kategorie verlangt, dass jeder Handelnde seinen Kognitionen entsprechend kommuniziert, dass also seine Kommunikationshandlungen mit seinen angenommenen, jedoch vom Beobachter nicht direkt überprüfbaren, Kognitionen übereinstimmen (vgl. Spielhagen/Geßner/Renner/Laux 2000: 273). Meint man im Alltag, bei einem Kommunikationspartner Diskrepanzen zwischen – im weitesten Sinne – Denken und Handeln feststellen zu können, führt dies in der Regel zu Inauthentizitäts-Vorwürfen und damit zu einer negativen Beurteilung des Anderen aufgrund der angenommenen Verletzung der Authentizitäts-Norm. Ursprung aller negativen Authentizitäts-Bewertungen ist ein Motivverdacht, der den Anderen erstens für fähig erklärt, Inauthen7 Vgl. für andere Müller-Doohm/Neumann-Braun (1995: 10) und Schicha (1999: 141). Vgl. kritisch die Beiträge in Fischer-Lichte/Pflug (2000).
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tizität zu inszenieren und ihm zweitens ein strategisches Interesse an dieser Inszenierung unterstellt. Authentizität ist, wenn man so will, eine Art Wahrheit mit direktem Bezug auf einen Handelnden, dessen (Authentizitäts-)Bewertung mit ihr auf dem Spiel steht. Basis für die Authentizitäts-Urteile und die mit ihnen einhergehenden Rückwirkungen auf die personalen Beurteilungen des Individuums sind dessen Handlungen als angenommene ausschnitthafte Repräsentationen seines Selbst. Positive Authentizitäts-Urteile sind auch im Angesicht von Geheimnissen möglich, die in Sachen Authentizität erst dann problematisch werden, wenn sie als vorsätzliche Zurückhaltung von Information bewertet werden, auf die ihr Beobachter ein Anrecht zu haben meint bzw. von der er meint, dass andere Ausgeschlossene über sie in Kenntnis gesetzt werden müssten (vgl. Westerbarkey 2000: 15). Es muss folglich nicht immer alles gesagt werden, aber alles Gesagte muss – fast immer – der Authentizitäts-Norm Folge leisten. Das kontingente Ding ‚Wahrheit‘ wird in seiner Unsicherheit umso sichtbarer, je mehr der Handelnde als Wahrheits-Urheber und damit Authentizitäts-‚Träger‘ in den Blick gerät. Wo im Falle der Wahrheit die Korrespondenz von Information und Außenwelt zum Thema gemacht wird8, steht bei Fragen nach Authentizität die Korrespondenz von Information und Innenwelt Alters als Teil der Außenwelt Egos auf dem Prüfstand. Authentizität wird damit zum pauschalen Gütekriterium, das festlegt, ob man geneigt ist, jemandem generell Glauben zu schenken. Die ubiquitäre Verpflichtung zur Wahrheit (vgl. Mitterer 2001: 64) ist letzten Endes eine Verpflichtung, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln – mehr kann so oder so nicht sinnvoll verlangt werden – und ist damit letztlich eigentlich eine Verpflichtung zur Authentizität. Was einmal gefällte Authentizitäts-Urteile angeht, so wiegen die Konsequenzen negativer Urteile weitaus schwerer als die positiver. Getreu dem Motto ‚Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.‘ erhält sich einmal gesäte Authentizitäts-Skepsis selbst und färbt nachfolgende Urteile mit Misstrauens-Tendenzen zu Ungunsten des Beobachteten.9 Positiv beurteilte Authentizität hingegen läuft sozusagen als stillschweigendes Einverständnis in der Kommunikation mit und setzt die Misstrauens-Alarmbereitschaft gegenüber dem für authentisch befundenen Kommunikationspartner herab. Bei allen hier vorgenommenen starken Schematisierungen von Kommunikation gilt indes: Es mag zwar immer alles erwartbar sein10, aber nicht alles kann immerzu erwartet werden. Zusammengefasst heißt das: Authentizität schafft Erwartbarkeiten, weil sie über (kommunikative) Verlässlichkeiten bestimmt und Ego und Alter so handlungsfähig in Beziehung zueinander setzt. Authentizität ist nicht „Exhibitionismus“ (Schwerfel 2000: 7), sondern ein Zuschreibungsprodukt, über das von Handelnden in ihren Beobachtungen anderer Handelnder anhand sozial verabschiedeter Indikatoren entschieden wird. Referenzmaßstäbe sind dabei die ‚innerseitigen‘ kognitiven Prozesse des Beobachteten, über die, innerhalb sozial prädeterminierter Entscheidungsrahmen, letztlich wiederum der die Authentizität Beurteilende befindet. Dank erprobter reflexiver Beobachtungsmechanismen funktioniert Authentizität relativ verlässlich als Indikator für die kommunikative Zuverlässigkeit von Kommu-
8 Zur kritischen Darstellung von Korrespondenztheorien von Wahrheit vgl. Janich (2000: 30-39). Zu einer Abbildtheorie der Wahrheit vgl. prominent Wittgenstein (2000). 9 Vgl. zu Misstrauen als Erwartungsstil Luhmann (2000: 97-99). 10 Luhmann (ebd.: 7) spricht von der „prinzipiellen Unberechenbarkeit anderer Menschen.“
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nikationspartnern. Egos Wissen über Alter generiert Erwartungen und beeinflusst damit im Kommunikationsverlauf Egos weitere Beurteilungen von Alter sowie dessen Kommunikationshandlungen und damit die kommunikativen Anschlusshandlungen Egos sowie dessen grundsätzliche Bereitschaft zur Kommunikation: „Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg.“ (Luhmann 2000: 9) Identität braucht also Authentizität, weil Identität Unterscheidungen von Ego und Alter braucht, die wiederum nach ihrer bewertenden Justierung durch Authentizität als eine Art personales kommunikatives Gütekriterium verlangen. Die Kategorie ‚Authentizität‘ läuft in Kommunikation immer mindestens implizit mit und verweist die beurteilten Handelnden auf ihre Plätze als geeignete, weil authentische und somit glaubwürdige, oder ungeeignete bzw. Misstrauen hervorrufende, weil als inauthentisch bewertete Kommunikationspartner. Auch hier braucht Authentizität Inauthentizität zu ihrer Unterscheidung genauso wie Ego Alter braucht, Schwarz Weiß braucht, Gut Böse braucht usw. Inauthentizität tritt ex negativo den Beweis von Authentizität an anderer Stelle an, bleibt dabei aber, genau wie Authentizität, als unterstellte Nicht-Übereinstimmung von Kognitionen und Kommunikationen Alters nicht beweisbar (vgl. Schicha 2000: 83). Die Lüge begründet die Wahrheit – und umgekehrt. Krankheit begründet Gesundheit – und umgekehrt. Und Inauthentizität begründet Authentizität – und umgekehrt. Je absoluter das Urteil, desto lauter schreit es nach Differenz.
5. Der Star: Star-Star und Star-Mensch zwischen Medien, Publikum und Image Stars sind pop personified. Wie Chr. Jacke (2004: 15) treffend bemerkt, wird man „im popkulturellen Feld immer wieder auf Personen (...) zurückgeworfen“, weil Identitäts-Unterscheidungen immer in kulturellen Kontexten vollzogen werden, die heute (mag man sie nun als popkulturell, mediengesellschaftlich oder anderes dergleichen beschreiben) maßgeblich durch mediale Wirklichkeits-Entwürfe geprägt sind. Diese Wirklichkeits-Entwürfe leben und werden erlebbar über ihre Personifikationen in medial präsenten und prominenten Handelnden, an deren Gesichter (und den Rest) wir unsere Herzen, Emotionen, Kognitionen und, in noch zu zeigender Weise, auch unsere Identitäten hängen. Für den, der sie wahrnehmend nutzt, können Stars als mediatisierte Lebens(stil)-Darsteller unterschiedliche Wichtigkeiten erlangen. In seinen Ein- und Aussortierungen, Abwertungen und Befürwortungen von Stars generiert der Nutzer Identität – seine eigene wie die anderer und letztlich auch die des Stars selbst. Bei Stars sieht es nicht anders aus als bei anderen Begriffen oder Kategorien, die zu ihrer Identifizierung nach ihrer Unterscheidung verlangen. Auch Stars kann es nur im Unterschied zu Nicht-Stars geben; beide Seiten bedingen und definieren sich wechselseitig: der Star den Nicht-Star durch dessen Absenz des Star-Glanzes und der Nicht-Star den Star, indem er die Star-Gloria durch seine eigene unglamouröse Normalität unterstreicht. Unterschieden wird oft und gerne auch innerhalb der Kategorie ‚Star‘, etwa zwischen Superstar, Megastar, Gigastar, Pseudo-Star oder eben dem ‚ganz normalen‘ Star (vgl. z.B. Faulstich 2000: 302).
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Dabei sind allzu rigide Star-Kategorisierungen allerdings mit Vorsicht zu genießen, lassen sie doch außer Acht, dass auch Stars ihren Status-Stempel qua sozialer und medial beförderter Übereinkunft erlangen und sich dabei stets in Unterscheidungs-Gewässern mit extrem hohen Flussgeschwindigkeiten bewegen. Star-Begriffe jeder Couleur werden, gerade in den Medien, ebenso inflationär wie suggestiv verwendet (vgl. Kriese 1994), um sozial nicht oder noch nicht konsentiertes Startum vermarktungsstrategisch heraufzubeschwören. Trotzdem lassen sich in der wissenschaftlichen Beobachtung Kriterien systematisieren, die als Indikatoren sozial konsentierten Startums angesehen werden können. Im Zusammenhang mit Stars taucht auffallend häufig der Begriff ‚Prominenz‘ bzw. ‚Prominente(r)‘ auf. Prominente sind als Folge ihrer wiederholten medialen Darstellungen bekannt, werden aber von Stars für gewöhnlich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht unterschieden: Nicht alle Prominenten sind Stars, aber alle Stars gehören zur Kategorie der Prominenten (vgl. Jacke 2001 und Staiger 1997: 49). Der Begriff ‚Prominenz‘ versucht eine vergleichsweise neutrale Beschreibung einer vornehmlich medial begründeten Relationalität, während der Begriff ‚Star‘ traditionell in weitaus stärkerem Maße Bewertungen vornimmt und den Star in emotionale(re) und moralische(re) Kontexte einordnet. Die Kategorie ‚Prominenz‘ betont die soziale Distanz, vornehmlich zum Publikum, etwa durch Erfolg oder Herkunft, hervorgehoben oder hervorgerufen durch Medialität. Startum bewertet und emotionalisiert in einem über ‚schlichte‘ Prominenz hinausgehenden Maße und gründet sich auf ein (emotionales, moralisches, Identität generierendes usw.) Resonieren des Stars im Publikum. Startum ist, quantitativ wie qualitativ, mehr als Prominenz (mehr Erfolg, mehr Präsenz, mehr Bekanntheit, mehr Liebe, mehr Aufregung, ...); Prominenz ist damit eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung von Startum. „Ein Star ist jemand, von dem behauptet wird, er sei ein Star“, schreibt S. Niehues (1997: 72) und liefert damit einen Fingerzeig in Richtung Publikum als entscheidender Determinante in Prozessen der Star-Genese. Star ist, wer in mediengesellschaftlichen Kontexten kognitiv wie kommunikativ als Star ausgelobt wird und diese Star-Benennungen von anderer (Medien-, Publikums-, ...) Seite durch eigene, auch medial präsente Darstellungen seiner (Star-) Identität bestätigt. Auch im Falle von Star-Identität greifen reflexive Wahrnehmungs- und Bewertungsmechanismen, die sich von denen nicht primär medialer Kontexte durch ihre spezifische Medialität und damit u. a. durch einen erhöhten Mutmaßungsgrad unterscheiden. Einfacher formuliert heißt dies zunächst: Kein Star ohne Star-Nutzer (die immer auch Medien-Nutzer sind), keine Star-Nutzer ohne Star (vgl. etwa Faulstich 2000: 295, Lowry 1997: 309 und Saxer 1997: 207). Auch die Identität des Stars muss dabei alltäglich als diachron relativ beständig und synchron wie diachron kohärent angenommen werden können (vgl. Faulstich/Korte/Lowry/Strobel 1997: 12), damit er identitätspraktisch funktionieren kann. Bereits nach kurzer Zeit in ihrem Status unbeständige ‚Stars‘ werden unter Labels wie ‚One Hit Wonder‘ als mediale Eintagsfliegen abgeschrieben. Beispiele par excellence für diese Kategorie sind ‚Big Brother‘-Kandidaten nach ihrer Container-Amnestie oder die ebenso kometenhaft aufsteigenden wie rasant verglühenden ‚Deutschland sucht den Superstar‘-Protegés. Es sind, so lässt sich aus dem bisher Gesagten schließen, weniger dem Star vermeintlich innerlich eingeschriebene Eigenschaften, die seinen Status bedingen, als vielmehr reflexive Identifizierungs-Prozesse der Unterscheidung von Star und Nicht-Star, die primär durch das Publikum als relevantem Anderen erfolgen. Nicht vermeintlich quantifizierbare Merkmale
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wie Schönheit, Intelligenz oder Talent sind entscheidend für Startum, sondern die Attraktivität des Stars als dessen Anziehungskraft bzw. Funktionalität für sein Publikum.11 Der Erfolg des Stars ist ebenso ein startypisches Unterscheidungs-Kriterium wie ein Indiz für eine Bündelung positiver Attraktivitäts-Urteile der Star-Nutzer auf der Person des Stars (vgl. Faulstich 2000: 295). Dem Publikum bleibt dabei stets nur die Wahl innerhalb des medialen Star-Angebots (vgl. Horton/Wohl 2002 [1956]: 75, Parr 1997: 83 und Patalas 1963: 15), was hier allerdings nicht im Sinne einer Nutzer-Entmächtigung missverstanden sein soll: Letztlich sind es allen nutzer- und kulturpessimistischen Annahmen zum Trotz die Medien-Nutzer, die über Erfolge und Misserfolge am Star-Markt entscheiden. Um die Attraktivität bzw. Nicht-Attraktivität von Star-Aspiranten be- und so über deren Karriereverläufe abstimmen zu können, müssen die potenziellen Stars für das Publikum zunächst einmal wahrnehmbar sein. Mangels direkter Kontakte treten die Medien als Präsentatoren zwischen die sich persönlich unbekannten Beteiligten am Star-Geneseprozess. Sie produzieren mediale Star-Entwürfe und machen die Nutzer so mit den potenziellen Stars bekannt (vgl. Westerbarkey 1991: 185). Im Gegenzug liefern die Stars den Medien neues Themenmaterial, das durch seinen Personalisierungs-Faktor ein besonderes Aufmerksamkeitspotenzial besitzt. So profitieren sowohl die Medien als auch die Stars selbst von ihrer Allianz (vgl. Lowry 2003b: 441, Niehues 1997: 71-72 und Staiger 1997: 51). Die Handlungen der Stars erreichen dank ihrer medialen Darstellungen eine größere Anzahl von Beobachtern, als es ohne ihre Medialität der Fall wäre. Der Star, so muss vorausgesetzt werden, handelt im Wissen um die prinzipielle mediale Beobachtbarkeit seiner selbst und seines Handelns, von der er einerseits profitiert, unter der er andererseits aber, wie oftmals paradox telegen beklagt, als vermeintliches ‚Medienopfer‘ leiden mag. Nichtsdestotrotz erreicht jeder Star seine Nutzer und potenziellen Fans nur via Medien (vgl. Ludes 1997: 87-90). Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Attraktivität des Stars und damit für Startum im Allgemeinen ist demzufolge seine Medien-Präsenz. Auf Basis der medialen Star-Entwürfe wählt das Publikum Stars an und ab, bewertet sie und geht alltäglich kognitiv und kommunikativ mit ihnen um. Die Star-Darstellungen, die die Medien anbieten, bemühen sich um scheinbar authentische und damit glaubwürdige Bilder der Stars. Diese stellvertretenden medialen Authentizitätsbemühungen im Namen des Stars betreffen sowohl seine berufliche Rolle, die hier als Star-Star bezeichnet werden soll, als auch seine Rolle als vermeintliche Privatperson, als Star-Mensch. Star-Star und Star-Mensch benennen hier zwei Rollen des Stars, die sich innerhalb reflexiver parasozialer Prozesse konturieren.12 Der Star selbst stellt sich medial vermittelt als beruflich und als privat dar und bietet somit kommunikative Indizien dafür, wie er als Star-Star und Star-Mensch zu sehen ist. Die berufliche Rolle des Stars wird dabei ausschlusshaft von seiner privaten Rolle unterschieden und umgekehrt: Was nicht StarStar ist, ist Star-Mensch – und vice versa. Der Star-Star kategorisiert und beschreibt den Star unter beruflichen Aspekten, der Star-Mensch offeriert Möglichkeiten zur personalen Beurteilung des Stars. 11 Vgl., auch empirisch, Hamlen (1991), Levy (1990) und Lowry (1997: 314). 12 Zum Konzept der parasozialen Interaktion als „Intimität über Distanz“ vgl. prominent Horton/Wohl (2002 [1956]).
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Im Zusammenhang mit dem Star und v. a. mit Grenzziehungen zwischen seiner beruflichen und seiner privaten Rolle taucht fast immer das Schlagwort ‚Image‘ auf, das als erklärende Allzweckwaffe im Medientheater um den Star gezückt wird. Das Image ist schuld, wenn sich der Star als Mensch missverstanden fühlt; das Image muss verändert werden, wenn sich der Star weiterentwickelt; und dem Image kann man kaum etwas anhaben, weil es letztlich stärker zu sein scheint als Star, Medien und Publikum. Aber ist dem wirklich so? Images setzen da an, wo das ‚in die Köpfe Gucken‘ scheitert. Sie stellen Handelnden schematisiertes Wissen über andere und sie selbst bereit, das auf Basis von Erfahrungen gewonnen, sozial orientiert und damit übersubjektiviert wird.13 Generalisierende Image-Aspekte sind v. a. dann als Handlungsprämisse von Bedeutung, wenn, wie K. Merten und J. Westerbarkey betonen, der Image-Referent nicht in der direkten interaktionalen Umwelt des Image-Bildenden verortet ist (vgl. Merten/Westerbarkey 1994: 208). Soll die Beschäftigung mit dem Star-Image nicht eindimensional geraten, ist es indes wichtig, sich vor Augen zu führen, dass der Star weder hilfloses (Medien-)Opfer seines all- und eigenmächtigen Images ist noch eine Art ‚artifizieller Schizophrener‘, der intentional-manipulativ ein zweites künstliches Bild seines Selbst entwirft, das er via Medien dem Publikum zum Fraß vorwirft.14 Wie alle Selbst- und Fremdbilder entstehen auch Images als Produkte reflexiver sozialer Prozesse. Isoliert man so aus dem prozessualen imagekonstruktiven Gefüge von Medien, Star und Publikum einzelne Parteien oder Faktoren als monokausale Image-Urheber, muss das Verständnis des StarImages zwangsläufig ein stark verkürztes bleiben.
6. In medias res: Parasoziale Star-Authentizitäten Gemäß D. Horton und R. R. Wohls Darstellungen von parasozialer Interaktion entsprechen die Voraussetzungen für eine Reaktion auf medial dargestellte Handelnde denen in einer sozialen Primärgruppe: „Wir begegnen den entferntesten und berühmtesten Menschen, als ob sie zu unserem Bekanntenkreis gehörten (...).“ (Horton/Wohl 2002: 74) In prinzipieller Ermangelung von Face-to-Face-Kontakten unterliegt die Wahrnehmung des Stars durch seine Nutzer parasozialen Bewertungskriterien, anhand derer die Nutzer über ihre emotionalen, moralischen usw. Bewertungen des Stars entscheiden und darüber, welche subjektive Wichtigkeit ihm für das Individuum zukommt. Die Bewertung des Stars erfolgt somit in Kontexten parasozialer Reflexivität analog zu der von nicht medial dargestellten Personen. (Vgl. Horton/Wohl 2002) Auch für den Star geht es in Authentizitätsfragen um das Verhältnis von Kognition und Kommunikation. Deren ‚Abgleich‘ (qua sozial approbierter Indikatoren) wird im Kontext von Medien-Entwürfen dadurch zusätzlich erschwert, dass dem Star durch seine mediale Vermittlung vorgeblich Kompetenzen darüber, wie er gesehen werden möchte, entzogen werden. Dabei gerät jedoch leicht in Vergessenheit, dass es sich im Falle des Stars ledig13 Vgl. zu Image und Imagefunktionen etwa Boorstin (1964: 158-177), Boulding (1968), Lippmann (1990: 61-77) und Lowry (2003a). 14 Vgl. als Beispiel der Ignoranz jeglicher Nutzer-Beteiligung am Star-Image Klippel/Winkler (1998: 336-343).
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lich um eine – zugegebenermaßen medial zugespitzte – Variante eines alltäglichen Problems der Identitäts-Wahrnehmung handelt: Wie gesehen ist die Selbst-Wahrnehmung Egos Alter ebenso unzugänglich, wie Alters Wahrnehmungen Egos für diesen nicht direkt und kommunikativ unvermittelt einsehbar sind. Kommunikation birgt indes stets die mit ihr verbundenen Gefahren und Motivverdächtigungen, deren Anzahl sich beim Star durch die medial prekarisierte Darstellungslage gefühlt erhöht. Hinter den Medien-Kulissen vermutet man, oftmals genährt vom Star selbst ebenso wie von den Medien und insbesondere der Boulevard-Front, einen privaten Star-Mensch, über dessen Eigenschaften und Abweichungen von seiner Rolle als Star-Star es sich (für Medien, Nutzer und Stars) zu spekulieren lohnt. Beiseite schiebt man indes allseits bereitwillig den Umstand, dass der Star privat-privat und damit außermedial mit seinen Nutzern per definitionem nichts zu schaffen hat. Das heißt: Auch Informationen über den privaten Star erreichen seine Nutzer stets nur medial vermittelt (vgl. Büsser 1997: 111 und Sommer 1997: 114). Star-Nutzer müssen sich folglich mit dem medial-privaten Star und Mutmaßungen darüber begnügen, wie dieser ‚ganz privat‘ und ‚wirklich‘ ist. Die Diskrepanz zwischen medial-privatem und privat-privatem Star wird zu diesem Zweck der Einfachheit halber komplett ausgeblendet und weicht auf Publikums- und insbesondere Fan-Seite einem gefühlten intuitiven Verständnis des ‚wirklichen‘ Stars. Stars handeln in ihrer Rolle als Star-Mensch unter Beobachtung im Paradoxon einer medialen Inszenierung von Nicht-Inszenierung. Während die berufliche Rolle des Stars, sei es als Schauspieler-Star, Musiker-Star, Sportler-Star oder Politiker-Star, Medien-Darstellungen als Teil der Rollen-Anforderungen verhältnismäßig problemlos integriert, verschließen Nutzer vor der Medialität des Star-Mensch die Augen, um diesen vorstellbar werden zu lassen. Ohne Medien-Darstellungen sind Stars als parasoziale Interaktionspartner nicht verfügbar; bei Kooperation mit den Medien setzen sie sich gleichwohl dem Vorwurf aus, im Darstellungsprozess Kompromisse bezüglich ihrer Authentizität einzugehen. Medien, so lassen sich die vorangegangen Ausführungen zusammenfassen, bieten ihren Nutzern Star-Entwürfe von Stars als beruflich wie privat Handelnden an, an deren Produktion die Stars selbst handelnd beteiligt sind. Um den Star, vor allem in seiner Rolle als Star-Mensch, unvermittelt-authentisch erscheinen zu lassen, werden jedoch zumindest die medial-privaten Selbst-Darstellungen des Stars tendenziell von Medien, Stars und Publikum so behandelt, als sei der Star an ihrer Medialität unbeteiligt. Lässt man die Vorstellung zu, dass Stars gezielt mit den Medien kooperieren und sich medienadäquater Selbst-Darstellungs- und Anti-Inszenierungs-Inszenierungsstrategien bedienen, gerät der Glaube an den Star als authentischen parasozialen Alter in Gefahr, scheint dieser doch wirkungsgerichtet zu agieren und nicht so, wie er denkt und fühlt. Diese Annahme ist vor allem im Hinblick auf den Star-Mensch wenig förderlich, für den sich Nutzer, insbesondere bei hoher eigener emotionaler Beteiligung, authentische Einblicke in das Leben des privat-privaten Stars bzw. eine Deckungsgleichheit von medial-privatem und privat-privatem Star wünschen. Während die berufliche Rolle des Stars als Star (oder spezifischer: als Schauspieler-Star, Musiker-Star, Politiker-Star usw.) mehr oder minder stillschweigend als Bezugsrahmen und Teil der Situationsdefinition mitläuft15, interessiert den Nutzer v. a. der weitaus schwerer 15 Vgl. zu Situationsdefinitionen Goffman (1980) und Meyrowitz (1990: 62-81).
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greifbare private Star: Der Star wird für sympathisch oder unsympathisch, authentisch oder inauthentisch, vielleicht auch qualifiziert oder unqualifiziert gehalten – das alles jedoch als Person und innerhalb primär personaler Bezugsrahmen. Auch wenn der Nutzer um berufliche Rollenstrukturen des Stars weiß, finden diese eher untergeordnet in die Bewertungen des Stars mit Schwerpunkt Star-Mensch Eingang. Die berufliche Rolle des Stars bleibt indes ein relevanter Aspekt von Star-Identität, nicht nur zu ihrer Unterscheidung von der privaten Rolle, sondern auch als konstitutiver Bestandteil von Star-Identität. Menschlich verantwortlich und damit unter identitätsbildenden Gesichtspunkten interessant wird der Star jedoch indes erst in seiner Rolle als Star-Mensch.
7. Zum Schluss Was also tun, wenn die Star-Authentizität auf dem Spiel steht? Parasoziale Authentizität, also der Eindruck, einen echten, unmanipuliert und nicht manipulativ handelnden Star vor sich zu haben, verlangt nach (Darstellungs-)Strategien. Was beim Publikum ankommt, kann indes nie und soll wohl auch nur selten das Selbstbild des Stars sein, weil auch Authentizität nicht ohne den kommunikativen Umweg der Selbst-Darstellung auskommt. D. Matejovski beschreibt dies am Beispiel der ‚Big-Brother‘-Protagonisten: „Die oft geführte Debatte über die Authentizität der ‚Big Brother‘-Akteure ist marginal, da jedes Fernsehgeschehen per se inszeniert ist. Zentral ist dagegen die Frage danach, was die Kandidaten inszenieren.“ (Matejovski 2000: 14) Unabhängig davon, wie sehr Selbstbild und Fremdbild des Stars unterstellt divergieren und ob und welche Intentionen den Star als Ko-Produzenten medialer Entwürfe seiner selbst leiten, sind Stars ebenso wie Star-Images folglich nie interpretatorisch hermetisch abgeriegelt oder vollkommen transparent (vgl. Longhurst 1996: 185 und Peters 1998: 35). Dies ergibt sich erneut – der Kreis schließt sich – aus der Unmöglichkeit eines objektiven Abgleichs von Selbstbild und Fremdbild nicht nur des Stars. Setzen sich Nutzer zu Stars parasozial in Beziehung – sei es nun wohlwollend und die Stars wie sich selbst bestätigend oder ablehnend, so dass der Star zur negativen Selbst-Utopie gerät (‚So könnte ich enden!‘) –, geschieht dies immer auf Basis einer zumindest implizit mitlaufenden Beurteilung der Authentizität des Stars. Diese entscheidet mit über seine Eignung als parasozialer Interaktionspartner und seine Bewertung als glaubwürdig oder unglaubwürdig. Parasoziale Authentizität wird somit zum Rahmen aller weiteren Auseinandersetzungen mit dem Star. So überrascht es nicht, dass es, je nach Genre, die ‚Echtheit‘, ‚Ehrlichkeit‘ oder auch ‚street cred‘ des Stars ist, die auffallend häufig zur Begründung des Urteils über ihn herangezogen wird. Popkultur wie Medienkultur sind Wahlpflichtveranstaltungen: Sie sind überall, und wir sind überall dabei und müssen uns entscheiden. Gerade die bis zur Unüberschaubarkeit diversifizierte Reichhaltigkeit des medien- bzw. popkulturellen Angebots macht es für Identitäts-Unterscheidungen relevant. Mit zunehmenden Freiheitsgraden des Nutzers wächst auch die Aussagekraft seiner Entscheidungen über sein Selbst. Ob mediale Hypes und der Umgang mit ihnen, Sell Out-Vorwürfe oder Fanclub-Gründungen, die Eröffnung neuer sub-
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kultureller Alternativen gegen die vermeintliche Mainstream-Allmacht oder Gespräche über das ‚Popstars‘-Finale: Sie alle generieren und lokalisieren Identität ebenso wie Populäre und Medien-Kultur, die in ihren Unterscheidungen und Bewertungen immerzu im Fluss gehalten werden. Intoleranz ist alltagspraktisch unabdingbar. Wir sehen, was und v. a. wer uns – und den anderen – gefällt und insbesondere auch, wer uns – und den anderen – nicht gefällt. Und dabei sehen wir immer auch: uns selbst.
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3. Internet
Theatrale Aspekte des Internet. Prolegomena zu einer zeichentheoretischen Analyse theatraler Textualität Mike Sandbothe
In Zeiten des Übergangs haben Metaphern Konjunktur. Und das ist keineswegs verwunderlich. Denn die Metapher, d.h. die Übertragung von einem semantischen Bereich in einen anderen, ist dasjenige sprachliche Instrument, das es uns erlaubt, einen Übergang als Übergang in Worte zu fassen. Die Metapher ist ein Ausdruck, der in sich selbst changiert, d.h. den historischen Übergang als semantischen Übertragungsprozess zur Darstellung bringt. In Zeiten des Übergangs, in denen mit den Phänomenen auch die Begriffe in Bewegung geraten, gibt es kaum exaktere und angemessenere sprachliche Instrumentarien als Metaphern. Aber auch für Metaphern gilt, wie für alle Worte, die wir benutzen, dass es wichtig ist, uns über den Gebrauch, den wir von ihnen machen, zu verständigen. Geschieht das, dann können Metaphern auf anspruchsvolle Weise zur wissenschaftlichen Erhellung komplexer Phänomene eingesetzt werden. Eine Metapher ist nicht per se unpräzise und schöngeistig, ein Begriff nicht per se präzise und wissenschaftlich. In beiden Fällen ist die Frage der Präzision und der Wissenschaftlichkeit eine Frage des Gebrauchs. Was ich im Folgenden versuchen möchte, ist, einige Ausdrücke, die wir gewöhnlich nicht als Metaphern nutzen, metaphorisch so in Bewegung zu setzen, dass sie zu Zwecken der Beschreibung unseres Umgangs mit dem Internet tauglich werden. Als Leitfaden für die methodische Metaphorisierung dieser Ausdrücke, zu denen zeichentheoretische Grundbegriffe wie ‚Bild‘, ‚Sprache‘ und ‚Schrift‘ gehören, dient mir dabei das semantische Feld der Theatralität. Theatrale Aspekte spielen im Internet in vielfältiger Hinsicht eine wichtige Rolle. Das soll im folgenden anhand einer kleinen Phänomenologie theatraler Aspekte des Internet vor Augen geführt werden. Drei unterschiedliche Aspekte von Theatralität treten dabei hervor, von denen sich einer als semiotisch grundlegend erweisen wird. Auf dem Weg einer zeichentheoretischen Analyse dieses semiotisch grundlegenden Theatralitätsaspekts werde ich versuchen, die semiotische Grundverfassung des Internet als Verfassung theatraler Textualität zu exponieren. Zuvor jedoch möchte ich in einer einleitenden Reflexion die begrifflichen Verschiebungen im Theatralitätskonzept thematisieren, die meines Erachtens notwendig werden, wenn man das Internet unter theatralen Gesichtspunkten analysieren möchte.
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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1. Vorüberlegungen zum Theatralitätsbegriff Als exemplarische Theatralitätsbestimmungen, die von den meisten Theatralitätsforschern implizit oder explizit vorausgesetzt werden, dürfen die Bestimmungen der Transitorität, der Prozessualität und der Korporalität theatralen Verhaltens gelten. Diese drei fundamentalen Theatralitätsbestimmungen rekurrieren auf das Theater als klassisches Paradigma der Theatralitätsforschung, um an seinem Leitfaden zugleich auch Phänomene beschreibbar zu machen, die außerhalb des Bereichs des Theaters liegen. Die genannten Theatralitätsbestimmungen sind mit Blick auf die theatralen Aspekte des Internet ein Stück weit zu relativieren.1 Ich beginne mit der Transitorität. Exemplarisch hat Joachim Fiebach in den siebziger Jahren ausgehend von Brechts Straßenszene Theatralität als einen „Prozeß“ bestimmt, „der sich in unmittelbarer Tätigkeit von Darstellenden und Zuschauenden raumzeitlich entfaltet und verzehrt.“ (Fiebach 1978: 127) Gleich zu Beginn des ersten Buches ihrer dreibändigen Semiotik des Theaters stellt auch Erika Fischer-Lichte die Transitorität theatraler Prozesse als fundamentale Theatralitätsbestimmung heraus. Sie schreibt: „Das materielle Artefakt des Theaters hat nicht – wie etwa ein Bild oder der Text eines Gedichts – eine von seinen Produzenten abgehobene, fixierbare autonome Existenz, sondern existiert nur im Prozeß seiner Herstellung.“ (Fischer-Lichte 1994: 15) Und sie ergänzt: „Das Transitorische des Theaters (...) hat sein Eigenes nicht nur darin, daß es sich – wie Musik oder auch mündliche Erzählung – in der Zeit realisiert, sondern daß diese seine Realisation an ihre Urheber gebunden bleibt, keine übertragbare, wiederholbare, eigenständige Existenz besitzt.“ (ebd.) Sicherlich ist unter den Bedingungen einer durch die elektronischen Massenmedien bestimmten Kultur die Akzentuierung der authentischen Situativität, der unreproduzierbaren Einmaligkeit und der unhintergehbaren Transitorität theatraler Vollzüge sinnvoll und geboten. Das Besondere nicht nur des Theaters, sondern auch vieler anderer Formen von Theatralität (wie z.B. von Popkonzerten, Fußballspielen, Zirkusveranstaltungen, Festen, politischen Zeremonien, Wahlkampf- oder Kongressveranstaltungen) besteht gerade in der aktuellen, d.h. auf die vergängliche Dauer eines ausgezeichneten Zeitabschnitts beschränkten und dadurch zugleich intensivierten Anwesenheit einer durch räumliche Vorgaben begrenzten Anzahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es ist diese spezifische Differenz, durch die theatrale Prozesse der beschriebenen Art gegenüber den massenmedialen Zeitkonserven ausgezeichnet sind, die uns von den elektronischen Medien tagaus und tagein präsentiert werden. Die Betonung dieser für bestimmte Theatralitätsformen charakteristischen Auszeichnung hat allerdings bei vielen Theoretikern dazu geführt, dass der Gegenstandsbereich der Theatralitätsforschung ohne Not auf Theatralitäten der beschriebenen Art begrenzt wurde. Diese Begrenzung gilt es zu problematisieren. Bereits unter Film-, Fernseh- und Radiobedingungen, d.h. durch die Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung, Inszenierung oder Simulation theatraler Prozesse kommen
1 Vgl. hierzu die Arbeit von Elizabeth Burns (1972), in der die Autorin ein wahrnehmungstheoretisches Konzept von Theatralität entwickelt, das Theatralität von den begrifflichen Vorgaben abzulösen erlaubt, die mit einer zu engen Ausrichtung am Theaterparadigma verbunden sind. Burns‘ aisthetische Theatralitätsdefinition lautet: „Theatricality is not therefore a mode of behaviour or expression but attaches to any kind of behaviour perceived and interpreted by others and described (mentally or explicitly) in theatrical terms“ (Burns 1972: 13)
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Aspekte einer medialen Theatralität in den Blick, die bei einer strengen Fixierung auf das Transitoritätsmoment aus dem Gegenstandsbereich der Theatralitätsforschung ausgeschlossen blieben.2 Die Berücksichtigung dieser nicht-transitorischen, weil reproduzierbaren Formen medialer Theatralität muss keinesfalls auf das von Walter Benjamin bereits in den dreißiger Jahren mit Blick auf den Stummfilm angestimmte Loblied auf die „Zertrümmerung der Aura“ (Benjamin 1977: 143) durch das „Dynamit der Zehntelsekunden“ (ebd.: 162) hinauslaufen. Es gilt vielmehr, die Differenz von medialen und nicht-medialen Darstellungsformen als eine Binnendifferenz von Theatralitätstypen zu verstehen, die jeweils ihre Eigenarten und Besonderheiten haben und nicht von vornherein normativ zu evaluieren sind. Diese Maxime ist in verstärktem Maße zu berücksichtigen, wenn man versucht, die für das Internet charakteristischen Aspekte von Theatralität zu analysieren. Im Unterschied zu den klassischen Broadcast-Medien der elektronischen Rundfunkkultur ermöglichen die Kommunikationsdienste des Internet schriftbasierte sowie zunehmend auch bild- und tonbasierte Formen der direkten, synchronen und reziproken Interaktion zwischen einer Vielzahl von Nutzerinnen und Nutzern. Insofern kann man sagen, dass das Internet eine medientechnische Einlösung derjenigen Forderungen mit sich bringt, die einst Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie in kritischer Absicht an den Rundfunk gestellt hatte: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“ (Brecht 1967: 129)3 Die durch das Internet ermöglichten telematischen Interaktionsformen sind mit den offenen und reziproken Kommunikationsstrukturen, die wir aus face-to-face-Gesprächen kennen, in vielen Hinsichten vergleichbar. Ähnlich wie das Telefon ermöglichen die Kommunikationsdienste des Internet ihren Nutzerinnen und Nutzern eine telekommunikative Gesprächssituation, die unabhängig ist von der physischen Anwesenheit der Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer. Mit den technischen Möglichkeitsbedingungen der Telepräsenz, durch die sich das Online-Gespräch vom alltäglichen Vis-à-vis-Gespräch unterscheidet, hängt zugleich zusammen, dass Internet-Interaktionen jederzeit von jeder Teilnehmerin und jedem Teilnehmer auf dem eigenen PC oder Server gespeichert und reproduzierbar gemacht werden können. Zwar besteht auch in nicht-medialen Kontexten prinzipiell die Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung. Die zunehmende Präsenz von Videokameras in lebensweltlichen Zusammenhängen macht das evident.4 Mit Blick auf das Internet aber ist herauszustellen, dass die digitale Bühne des Cyberspace, d.h. der Raum, in dem die virtuellen 2 Demgegenüber hat bereits Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie mögliche Verflechtungen zwischen Rundfunk und Theater in den Blick genommen und „eine direkte Zusammenarbeit zwischen theatralischen und funkischen Veranstaltungen“ (vgl. Brecht 1967: 133), vorgeschlagen. Eine Übersicht über neuere Konzepte einer medientheoretisch erweiterten Theaterwissenschaft gibt Karl Prümm, Lektüre des Audiovisuellen. Film und Fernsehen als Gegenstände einer erweiterten Theaterwissenschaft, in: Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, hrsg. von Renate Möhrmann, Berlin, Reiner Verlag, 1990. 3 Für eine ausführliche Analyse der medienstrukturellen Spezifika des Internet siehe Sandbothe 1997b: 56-82. 4 Vgl. hierzu auch die kritischen Bemerkungen, die sich bei Paul Virilio über die „Installierung von Kameras an öffentlichen Orten“ (Virilio 1992: 67) finden, sowie seine Befürchtungen bezüglich einer drohenden Omnipräsenz von „versteckten Kameras“ (ebd.: 64) im Haushalt.
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Interaktionen stattfinden, technisch gesehen selbst ein Speichermedium ist. Das ist bei den alltäglichen Lebensräumen, in denen wir uns IRL5 bewegen, nicht der Fall und markiert eine der basalen Differenzen, durch welche sich die virtuelle Welt des Internet von der physischen Welt des Alltagslebens unterscheidet. Zugleich ist in diesem Zusammenhang aber auch auf die Differenz hinzuweisen, die in Sachen Speicherbarkeit und Reproduzierbarkeit zwischen Internet auf der einen Seite und Fernsehen und Radio auf der anderen besteht. Während jeder Fernseh- und Radiobeitrag, der gesendet wird, im Regelfall von der Sendeanstalt zugleich auch mitgeschnitten und im Archiv abgelegt wird, liegt die Aufzeichnung von Internet-Interaktionen in den Händen der einzelnen Teilnehmerin und des einzelnen Teilnehmers. Sie besteht jederzeit als Möglichkeit, ist aber nicht institutionalisiert und wird von den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Wurde die Speicherung durchgeführt, dann besteht freilich ohne weiteres die Möglichkeit, die aufgezeichneten Interaktionen in konservierter Form im Internet via Suchmaschinen recherchierbar und damit weltweit zugänglich zu machen. Diese letztgenannte, nicht auf die direkte, persönliche Kommunikation zwischen synchron telepräsenten Akteuren, sondern auf die dekontextualisierte Publikation von Information abzielende Nutzungsform des Internet ist charakteristisch für die hypertextuelle Anwenderoberfläche des World Wide Web. Im World Wide Web wird das Speichermedium Internet explizit als Aufzeichnungs- und Publikationsmedium genutzt. Mit den darauf basierenden Anwendungen, die dem Internet in den letzten Jahren quasi biologische Wachstumsraten verschafft haben, hängt zusammen, dass für das Internet nicht nur die mehr oder weniger offensichtlichen Formen von Theatralität zu berücksichtigen sind, die sich in der synchronen Interaktion der Kommunikationsdienste realisieren. Darüber hinaus kommt vielmehr die theatrale Verfassung ins Spiel, durch welche die semiotische Struktur der graphischen Anwenderoberfläche des World Wide Web auf einer basalen Ebene bestimmt ist. Aus zeichentheoretischer Perspektive kann man sagen, dass sich im World Wide Web eine Theatralisierung der klassischen Monumentalmedien Bild und Schrift vollzieht. Aus diesem Sachverhalt, auf den ich im Fortgang ausführlicher eingehen werde, ergibt sich zugleich die Problematisierung der zweiten Determinante, die häufig als Grundbestimmung für Theatralität herangezogen wird. Ich meine die Bestimmung der Prozessualität. Theatralität wird von Theaterwissenschaftlern wie Fiebach, Fischer-Lichte u.a. als prozessualer und dynamischer Vollzug von der monumentalen Statik schrift- und bildhafter Strukturen abgegrenzt. Dies wurde in den oben zitierten Äußerungen der genannten Autor(inn)en bereits deutlich. Im Hintergrund steht dabei die als grundlegend aufgefasste Opposition von theatraler Oralität und momumentaler Literalität.6 Die kommunikativen und semiotischen Verhältnisse des Internet unterlaufen diese für die zeitgenössische Theatralitätsforschung zentrale Opposition. Mit Blick auf die Theatralität des Internet ist nicht allein von theatralen Prozessen, sondern auch und vor allem von theatralen Strukturen zu sprechen. Die zentrale Leitthese der folgenden Überlegungen besteht in der Annahme, dass sich im Internet eine Theatralisierung der traditionell als nicht-theatral aufgefassten medialen Zeichenstrukturen von Bild und Schrift vollzieht. 5 IRL‘ bzw. ‚RL‘ sind die im Internet üblichen Abkürzungen für ‚in real life‘ bzw. ‚real life‘. 6 Zur Problematisierung dieser Opposition aus historischer Perspektive vgl. Epping-Jäger 1996.
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Mit dieser Leitthese hängt auch die dritte begriffliche Erweiterung des Theatralitätskonzepts zusammen, die sich unter Internet-Bedingungen aufdrängt. Sie betrifft die Voraussetzung der Korporalität, d.h. der Körperhaftigkeit oder Körpergebundenheit theatraler Prozesse. Diese Voraussetzung markiert einen zentralen Bestandteil des modernen Theatralitätsverständnisses. Darauf weist Helmar Schramm im Schlusskapitel seines Buches Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts hin, wenn er schreibt: „Wie auch immer ‚Theater‘ definiert werden mag, unumstritten dürfte die Tatsache sein, daß es sehr wesentlich mit der physischen Präsenz darstellender Personen verbunden ist.“ (Schramm 1996: 258) Auch in diesem Punkt führen die medialen Verhältnisse des Internet zu einer Relativierung der üblichen Theatralitätsterminologie. Das gilt zum einen mit Blick auf die Theatralisierung, die unser Umgang mit Bild, Sprache und Schrift im World Wide Web erfährt. Darauf werde ich an späterer Stelle ausführlich eingehen. Zum anderen ist bezüglich der schriftbasierten Online-Chats darauf hinzuweisen, dass die ‚virtuelle Realität‘ des Internet nicht zuletzt deshalb als ‚virtuell‘ bezeichnet wird, weil es sich bei ihr um eine Realitätsform handelt, deren Konstruktion sich in einem künstlichen digitalen Raum vollzieht, in dem die Nutzerinnen und Nutzer losgelöst von den raum-zeitlichen Zwängen ihrer physischen Körperlichkeit virtuelle Körper mit imaginären Eigenzeiten und Eigenräumen erfinden können Es ist interessant zu sehen, wie sehr begriffliche Grundbestimmungen kultur-, theaterund sozialwissenschaftlicher Forschung implizit durch mediale Voraussetzungen geprägt sind. Das wird häufig erst explizit und bewusst, wenn sich – wie es gegenwärtig geschieht – die medialen Grundstrukturen einer Gesellschaft verändern. Ich komme nun zu der angekündigten kleinen Phänomenologie theatraler Aspekte des Internet.
2. Kleine Phänomenologie theatraler Aspekte des Internet Um eine erste Übersicht zu verschaffen, erscheint es mir hilfreich, drei Aspekte von Theatralität im Internet voneinander abzugrenzen. Der erste Aspekt hat mit theatralen Prozessen im engen und primären Wortsinn von ‚Theatralität‘, d.h. mit der Theatralität des Theaters zu tun. Als ‚theatral‘ in diesem Sinn bezeichne ich theaterähnliche Aufführungen, in deren Zentrum die dramatische Inszenierung fiktionaler Handlungsabläufe auf einer mehr oder weniger öffentlich zugänglichen Bühne steht. Prozesse dieser Art sind für die interaktiven Rollenspiele prägend, die auf den virtuellen Bühnen des Internet in den weit über 500 sogenannten Multi User Dungeons (MUDs)7 auf der Basis synchroner schriftlicher Kommunikation stattfinden.8 Weltweit verwandeln sich in den imaginären Kommunikationslandschaften der MUDs und MOOs alltäglich und allnächtlich Hunderttausende von Mediennutzern aus passiven Fernsehzuschauern in aktive
7 Vgl. hierzu die Schätzungen, die James Sempsey in seinem Aufsatz ‚Psyber Psychology‘ (1997) veröffentlicht hat. 8 Zur Einführung in die virtuellen Rollenspielwelten der MUDs und MOOs sowie für eine wissenschaftliche Analyse ihrer psychosozialen Dimensionen vgl. Turkle 1995. Siehe hierzu auch Sandbothe 1996a: 20-27.
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Internetschauspieler. Den anonymen, unidirektionalen Bildwelten des Fernsehens und den häufig kulturell erstarrten, professionalisierten Interaktionsformen der etablierten Theaterinstitutionen treten via Internet Praktiken nicht-professionellen Rollenspiels entgegen. Diese sind in die virtuellen Lebenswelten der Netizens unmittelbar eingebunden, da sie sich unter Netzbedingungen als gleichsam ‚natürlich‘ anmutende Kommunikationsformen nahelegen. Denn im Netz ist infolge der medialen Entkörperlichung seiner Akteure die Kommunikation von den psychosozialen Aspekten einer raum-zeitlich fixierbaren Körperidentität entlastet, die dem theatralen Spiel mit Identitäten im ‚wirklichen‘ Leben physische Grenzen setzt. Der zweite theatrale Aspekt des Internet hat mit theatralen Prozessen im weiten Wortsinn von ‚Theatralität‘ zu tun, d.h. mit Theatralitätsformen, die außerhalb der Theatralität des Theaters situiert sind. Damit meine ich Formen alltäglicher Selbstdarstellung, also die öffentlich oder teilöffentlich um Gunst und Schätzung werbende Selbstinszenierung von Menschen, Institutionen und Themen. Das Internet lässt sich als Ort permanenter Public Relations, als Raum einer auf Dauer gestellten Öffentlichkeitsarbeit beschreiben. Wer mit einer eigenen Homepage im Web ist, inszeniert sich und das, wofür er steht. Er macht Reklame, d.h. er ruft sich bei anderen ins Gedächtnis bzw. schreibt sich in das kollektive Gedächtnis des mit Hilfe von Suchmaschinen recherchierbaren digitalen Informationssystems Internet ein. Das gilt nicht nur für Firmen, Institutionen und Vereinigungen, sondern auch für Individuen. Das Internet funktioniert als eine Form kollektiver Prostitution, die häufig die Veröffentlichung auch noch des Individuellsten und Intimsten einschließt. Auf den Homepages vieler privater Internetnutzer, die vor allem in den kommerziellen Netzdiensten von AOL und CompuServe einen enormen Zuwachs verzeichnen, werden individuelle Vorlieben öffentlich gemacht, die vom Lieblingsgericht und der Lieblingsfernsehsendung über die Pallette der aktuellen Hobbies, Gesundheits- und Figurprobleme bis hin zu detaillierten Schilderungen individuell bevorzugter Sexualpraktiken reichen. Diese Rituale der Selbstentblößung habe ich im Blick, wenn ich von Internet-Theatralität im weiten Sinn spreche.9 Der dritte theatrale Aspekt des Internet hat mit theatralen Strukturen im weitesten Sinn von ‚Theatralität‘ zu tun, d.h. mit einer epistemologisch basalen Ästhetisierung unseres Umgangs mit Zeichen.10 Auch dieser Typus von Theatralität ist außerhalb der Theatralität des Theaters angesiedelt. Im Unterschied zum zweiten Theatralitätsaspekt, bei dem es sich um eine alltägliche Oberflächentheatralisierung menschlicher Selbstdarstellung handelt, verweist der dritte Theatralitätsaspekt explizit auf eine grundlegende Tiefentheatralisierung der symbolischen Formen menschlicher Kommunikation. Was ich im Blick habe, ist der Sachverhalt, dass die hypertextuelle Verfassung des World Wide Web einen vernetzten Raum des Schreibens und Denkens eröffnet, für den charakteristisch ist, dass er auf der semiotischen Basisebene zu einer Revalidierung bildhaft-dramatischer und aphoristisch-inszenatorischer Darstellungsformen führt. Autor und Leser lassen 9 Für die face-to-face-Kommunikation sind die theatralen Rituale von Erving Goffman in seinem Buch ‚Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag‘ (1983) bereits in den fünfziger Jahren analysiert worden. In den interaktiven Umwelten des Internet erscheinen sie unter den Bedingungen medialer Entkörperlichung und raum-zeitlicher Entgrenzung in radikalisierter und zugespitzter Form. 10 Eine differenzierte Analyse gegenwärtiger Ästhetisierungsprozesse ist von Wolfgang Welsch vorgelegt worden. Meine Analyse stützt sich insbesondere auf das von Welsch in seinem Aufsatz Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven (1996: 9-61) ausgebreitete Tableau.
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sich im World Wide Web nicht mehr trennscharf scheiden. Beide agieren als semiotische Dramaturgen und ästhetische Designer, die das Spiel der Signifikanten auf dem Schauplatz der digitalen Schrift theatral inszenieren und modellieren. Die dynamische Konstellation des interaktiven Hypertextgewebes im Raum, die Verflechtung von Bild, Sprache, Musik und Schrift zu einem transversalen Medienhybrid, die taktile Auszeichnung einzelner Zeichenkomplexe als anklickbare Links oder die von Java angebotenen Möglichkeiten, Buchstaben in Bewegung zu setzen und in graphische Szenen einzubetten – das alles sind Erscheinungsformen dessen, was ich als basale Tiefentheatralisierung unserer semiotischen „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1984) bezeichnen möchte. Der basale Charakter dieser semiotischen Tiefentheatralisierung liegt darin begründet, dass durch sie Theatralität in den Fundamenten unseres Zeichengebrauchs selbst verankert wird. Dabei handelt es sich um einen Transformationsprozess, dessen Verlauf und dessen Effekte sich zum derzeitigen Zeitpunkt nur tentativ umreißen lassen. Bei dem folgenden Versuch, einen solchen ersten Aufriss dieses Transformationsgeschehens zu geben, lasse ich mich von der Annahme leiten, dass das semiotische Basisgefüge von Bild, Sprache und Schrift unter Internetbedingungen auf eine Konstellation zusteuert, die sich als ‚theatrale Textualität‘ beschreiben lässt.11
3. Digitale Verflechtungen und theatrale Textualität An anderer Stelle habe ich die Veränderungen in unserem Zeichengebrauch, die der Übergang zum vernetzten Mediensystem des Internet mit sich bringt, als „digitale Verflechtungen“ (Sandbothe 1997: 125-137) beschrieben. Unter diesem Titel kommen drei grundlegende semiotische Tranformationstendenzen in den Blick: die Verschriftlichung der Sprache, die Verbildlichung der Schrift und die Verschriftlichung des Bildes. Auf dem Weg einer Explikation dieser drei für das Internet charakteristischen Transformationstendenzen lässt sich die Verfassung theatraler Textualität freilegen. Zur Beschreibung der ersten Verflechtungstendenz, die ich als Verschriftlichung der Sprache bezeichne, ist es hilfreich, sich zunächst noch einmal an den textorientierten Kommunikationsdiensten zu orientieren. Diese Dienste bilden die medientechnische Basis für die interaktiven Rollenspiele, die am Anfang meiner kleinen Phänomenologie theatraler Aspekte des Internet standen. Mit Blick auf die Nutzung dieser im Verhältnis zum World Wide Web ‚älteren‘ und einfacher strukturierten Anwendungen, die neuerdings zunehmend ins Web integriert werden, lassen sich signifikante Veränderungen in unserem Gebrauch von Sprache und Schrift herausarbeiten. In der „Computer Mediated Communication“ verflechten sich Merkmale, die bisher als Differenzkriterien zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten. (vgl. Reid 1992: 7-15). Die traditionelle Auszeichnung der gesprochenen Sprache als Medium der Präsenz wird durch die ‚appräsente Präsenz‘ der Teilnehmer im geschrie11 Die hier vorgeschlagene Terminologie lehnt sich an die in theaterwissenschaftlichen Kontexten etablierte Rede von theatralen bzw. theatralischen Texten an. Vgl. hierzu Fischer-Lichte 1995, insbes. 10-68 sowie Hess-Lüttich 1985: 65-82 und Totzeva 1995, insbes. Kapitel 6: 80-95.
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benen Gespräch des On-line Chat in Frage gestellt. Es ist dieses performative Schreiben eines Gesprächs, in dem Sprache interaktiv geschrieben statt gesprochen wird, das ich als Verschriftlichung der Sprache bezeichne. Dass es sich dabei um einen Modus der semiotischen Tiefentheatralisierung unseres Zeichengebrauchs handelt, wird deutlich, wenn man die Verschriftlichung der Sprache, die im geschriebenen Gespräch des Online-Chat stattfindet, zugleich als eine Versprachlichung der Schrift begreift. Das Medium der Schrift wird unter Buchdruckbedingungen als eine Verbreitungstechnologie genutzt, welche die unmittelbare Interaktion zwischen Sender und Empfänger ausschließt. Das Internet eröffnet demgegenüber Nutzungsmöglichkeiten, durch welche die Schrift als ein Medium einsetzbar wird, das den permanenten Wechsel zwischen Sender- und Empfängerposition ähnlich flexibel zu gestalten erlaubt, wie es im gesprochenen Gespräch der Fall ist. Wenn ich von einer Versprachlichung der Schrift rede, meine ich diese sprachanaloge, d.h. reziproke Nutzungsform einer im Gesprächsmodus interaktiv verwendeten Schrift. Als theatral wird die Online-Kommunikation aber nicht allein und nicht primär aufgrund des Sachverhalts wahrgenommen, dass sie bestimmte Momente der face-to-face-Kommunikation telematisch reproduziert. Entscheidend ist vielmehr, dass die aus dem Vis-à-vis-Gespräch bekannten Interaktivitätsmomente im Modus der Schrift auf eine medial entfremdete Weise neu inszeniert werden. Um die aus dieser Neukonstituierung des Verhältnisses von Sprache und Schrift hervorgehende, theatrale Binnenverfassung der beiden Zeichensysteme semiotisch zu präzisieren, ist es hilfreich, sich darauf zu besinnen, wie das Verhältnis von Sprache und Schrift traditionell bestimmt worden ist. Die Buchstaben der Schrift wurden seit Platon und Aristoteles als Zeichen von Zeichen12 definiert und der gesprochenen Sprache als einem System untergeordnet, das nicht seinerseits auf arbiträre Zeichen, sondern vielmehr auf authentische Vorstellungen und außersprachliche Gegenstände verweisen sollte. Diese Voraussetzung, die von Jacques Derrida als „Phonozentrismus“ (vgl. Derrida 1983: 25 u. ö.) des abendländischen Denkens philosophisch dekonstruiert worden ist, wird durch die Neuinszenierung des Verhältnisses von Sprache und Schrift im Internet medienpragmatisch unterlaufen. Im Online-Chat fungiert Sprache als Schrift, d.h. das gesprochene Wort realisiert sich im Schreiben als Zeichen von Zeichen. Und zugleich fungiert Schrift im Online-Chat als interaktiv modellierbares und kontextuell situiertes Schreiben von Sprache, d.h. das geschriebene Wort wird nicht länger als Zeichen eines authentischen, selbst vermeintlich nicht mehr zeichenhaften Zeichens missdeutet, sondern als Zeichen von Zeichen von Zeichen usw., d.h. als unendlicher semiotischer Verweisungszusammenhang verstanden. Geht man auf diesem Hintergrund zur zweiten der drei digitalen Verflechtungstendenzen über – nämlich zur Verbildlichung der Schrift – dann drängt sich die These auf, dass an die Stelle der lautlichen Präsenz, die für den Phonozentrismus charakteristisch war, in der graphischen Anwenderoberfläche des World Wide Web eine andere Form der Präsenz trete. Dabei würde es sich um die auf Ähnlichkeit beruhende visuelle Gegenwart eines abwesenden Referenten handeln, die wir traditionell mit der Vorstellung des Bildes als eines „natürlichen Zeichens“ (vgl. Krieger 1992) verbinden. Jay David Bolter vertritt diese These in einigen 12 Die kanonische Formulierung des Aristoteles lautet: „Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute“ (vgl. Aristoteles 1974: 95).
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neueren Aufsätzen, die sich mit der Stellung des „Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens“ (Bolter 1997: 37-55) befassen. Bolter schreibt: „Der naive Glaube an die Unmittelbarkeit des Bildes hat eine lange Geschichte, deren Spur sich von der Erfindung der perspektivischen Malerei bis in die Gegenwart hinein verfolgen läßt. Auch heute wird selbst der raffinierteste Betrachter des World Wide Web in Versuchung geführt, den komplexen Charakter einer Webseite zu vergessen, um sich auf das statische oder bewegte Bild als direkte Abbildung der Wirklichkeit zu konzentrieren.“ (ebd.: 54 ff.) Bolter folgend hätte man demnach mit Blick auf das World Wide Web mehr oder weniger pejorativ von einer Verbildlichung der Schrift in dem Sinn zu reden, dass die Relevanz von Sprache und Schrift zusehends durch die Vorherrschaft von Bildern unterminiert würde. Aber Bolter belässt es nicht bei diesem negativen Szenario. Er deutet darüber hinaus die Möglichkeit einer Verbildlichung der Schrift an, die keines der beiden Zeichensysteme unverändert lässt. So stellt Bolter am Ende des bereits zitierten Aufsatzes heraus: „Die Illusion der Präsenz wird im Internet neben einfallsreicheren und intelligenteren Formen hypertextueller Kommunikation existieren, in denen Wort und Bild auf selbstbezügliche Art miteinander interagieren.“ (ebd.: 55) Diese Art transversaler, d.h. querlaufender Interaktion, durch die beide Relate in ihrem Inneren transformiert werden, kommt in den Blick, wenn man die Verbildlichung der Schrift mit der in sie eingebundenen Tendenz zur Verschriftlichung des Bildes zusammendenkt. Ähnlich wie die Bilder, die in einer Theateraufführung auf der Bühne eine dramaturgische Rolle spielen, vom Zuschauer nicht isoliert als Bilder rezipiert werden, sondern als Bilder, die Bilder darstellen, können piktoriale Zeichen auf dem digitalen Schauplatz des Docuverse als Verweisungen fungieren, die in den konkreten Handlungsraum des pragmatischen Netznutzungsgeschehens eingebunden sind. Diese pragmatische Abkopplung des Bildes von seiner Abbildungsfunktion bezeichne ich als Verschriftlichtung des Bildes. Wenn wir Schriftzeichen lesen, lesen wir nicht jeden Buchstaben und jedes Wort als etwas, das aufgrund irgendeiner Ähnlichkeitsrelation zu etwas Außersprachlichem in Beziehung steht. Wir lassen uns beim Lesen vielmehr von einem Buchstaben zum nächsten, von einem Wort zum nächsten, von einem Satz zum nächsten usw. verweisen. Eine solche flottierende Lektüreform spielt sich im World Wide Web auch beim Umgang mit piktorialen Zeichen ein. Wir lesen das Bild als ein Zeichen, das uns nicht nur semantisch, sondern auch und vor allem pragmatisch, d.h. durch einen einfachen Mausklick auf andere Zeichen verweist. Im gleichen Zug verändert sich auch unser Umgang mit der Schrift. Und zwar derart, dass die flottierende Lektüre von Schriftzeichen durch eine für das hypertextuelle World Wide Web charakteristische bildhafte Dramatisierung des Zeichenarrangements modifiziert wird. Hypertextuelle Links fungieren in der digitalen Schrift als Schnittstellen, die den linearen Zeichenfluss des einzelnen Textes konterkarieren und sich statt dessen als gedankliche Knotenpunkte anbieten, die dem Leser die Möglichkeit geben, im Vollzug der Lektüre die individuelle Konstellation des Textes, d.h. die Abfolge von Textbausteinen und den unmittelbaren Anschluss an Inter-, Para-, Meta- und Hypotexte13 aktiv mitzugestalten. In diese offene, nicht-lineare Art der flottierenden Rezeption von Zeichen gehen Wahrnehmungsformen ein,
13 Zur weiteren Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Formen transtextueller Verflechtung vgl. Genette 1993.
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die wir aus der Rezeption von Bildern kennen. Bei der Wahrnehmung eines Bildes werden wir – anders als bei der Lektüre eines Buches – nicht von vornherein dazu verführt, einem linearen Abfolge-Pattern des Gedankenaufbaus zu folgen. Die piktorialen Elemente, aus denen sich ein Bild zusammensetzt, eröffnen vielmehr unterschiedliche Muster der nicht-linearen Rezeption und damit unterschiedliche Formen der Lektüre und der Konstruktion des Bildes als sinnhafter Einheit. Die semiotische Verfassung theatraler Textualität lässt sich auf diesem Hintergrund rezeptionsästhetisch als eine Wahrnehmungshaltung bestimmen, die zwischen den beiden Extremen einer unmittelbaren, aktiven Partizipation, die das reale Handeln in der konkreten Lebenspraxis charakterisiert, und der reflektierenden Distanz der Theorie anzusiedeln ist, die durch das Medium des Buches befördert wird. Die Theatralisierung unseres Umgangs mit Bild, Sprache und Schrift, die sich im World Wide Web vollzieht, kristallisiert sich in einer Verfassung von Textualität, die den Leser aktiv in das Geschehen nicht nur der interpretativen Sinnkonstitution, sondern auch der materiellen Textkonstruktion miteinbezieht. Der Leser eines Hypertextes ist nicht nur theoretisch engagiert in dem Sinn, dass er interpretierend den Sinn des Textes mit erzeugt. Durch die individuelle Auswahl der Links greift er darüber hinaus in den textuellen Raum mit ein und konstruiert das, was er liest, indem er es liest. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die rezeptionsästhetische Spezifität theatraler Texte in einer pragmatischen Theatralisierung unserer Zeichenverwendung und Sinnkonstitution niederschlägt. Der aktive Verstehenscharakter, der dem hermeneutischen Geschehen der Lektüre eigen ist, wird durch die pragmatische Dimension theatraler Textualität expliziert und radikalisiert. Zugleich unterscheidet sich die Theatralität digitaler Hypertexte durch diese ihre pragmatische Dimension von der Theatralität des Theaters. Zwar sind beide Theatralitäten in einem poietischen Mittelbereich zu situieren, der zwischen den Extremen der handelnden Praxis und der reflektierenden Theorie liegt.14 Aber die Theatralität theatraler Texte ist aufgrund ihrer pragmatischen Signatur unmittelbarer mit der Praxis verbunden als die Theatralität des Theaters, die aufgrund ihrer ästhetisch-künstlerischen Signatur vielmehr enge Verbindungen zur distanzierten Welt der Theorie unterhält. Ich habe mich in meinen Überlegungen so gut es ging darum bemüht, die theatralen Aspekte des Internet und die ihnen zugrunde liegende semiotische Tiefentheatralisierung unseres Zeichengebrauchs einigermaßen neutral zu beschreiben. Dass in jede vermeintlich bloße Deskription immer auch eine Menge Interpretation eingeht, ist selbstverständlich. Aber angesichts des Sachverhalts, dass die Diskussion um ‚Multimedia‘ nach wie vor zwischen apokalyptischen Schreckensszenarien und euphorischen Heilserwartungen oszilliert, erschien mir eine gewisse normative Zurückhaltung geboten. Aus diesem Grund habe ich die wohlfeile Frage nach den Chancen und Risiken der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien bewusst ausgeklammert. Das bedeutet nicht, dass mir diese Frage nicht am Herzen liegt. (vgl. Sandbothe 1996b: 35-48, sowie ders. 1996c: 424-433) Es bedeutet nur, dass ich eine wissenschaftliche Phänomenanalyse für eine notwendige Voraussetzung halte, ohne die eine differenzierte Kritik nicht zu leisten ist.
14 Die für das Theater charakteristische „Mischung von affektiver Partizipation und reflektierender Distanzierung“ hat Dieter Teichert am Beispiel der antiken Tragödie herausgearbeitet (vgl. Teichert 1996: 212).
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‚Theatralität der Abwesenheit‘. Grundrisse einer dramatologischen Betrachtung der neuen Medien1 Sebastian Pranz
Die neuen Medien haben in der Zeit ihrer Existenz bereits einen tief greifenden Wandlungsprozess vollzogen, der mindestens zwei zentrale Aspekte aufweist. Zum ersten kann man von der Ausbildung eines weltweit verfügbaren und in Hochgeschwindigkeit operierenden Netzwerkes sprechen, in dem jederzeit Jeder mit Jedem in Verbindung treten kann. Es geht in diesem Zusammenhang um einen Kommunikationsraum, der nach wie vor expandiert und dabei ständig neue Facetten ausbildet: leistungsfähigere Kommunikationsplattformen, innovative Präsentations- und Publikationsmöglichkeiten, multioptionale Handlungsumgebungen mit einer zunehmenden Partizipation der Nutzer etc. Zum zweiten, und das ist aus wissenssoziologischer Perspektive der interessantere Aspekt, gestaltet sich dieser Prozess als eine sukzessive Veränderung der Nutzungsgewohnheiten und Handlungspraxen, die sich mit den digitalen Medien verbinden. In diesem Zusammenhang sind u.A. medienspezifische Ausprägungen von Schriftsprache, kommunikative Gattungen und Wissenstypen, besondere Visualisierungs-Praktiken und daran anschließende Wahrnehmungsgewohnheiten entstanden sowie neue Formen des Spielens und Erlebens, die in zunehmend ausgestalteten SpielWelten stattfinden. Eng damit verbunden sind jeweils eigene – strategische, ludische, erotische, professionelle, alltägliche etc. – Selbstdarstellungslogiken (und: -Notwendigkeiten), die vor allem durch eine besondere Flexibilität im Umgang mit Rollen und Spielfiguren gekennzeichnet sind: Der Akteur steht vor der Aufgabe, sich selbst für den Netzraum und seine spezifischen Publika neu zu erfinden, wobei er „nur in der permanenten Selbstdarstellung überhaupt Präsenz zeigen kann“ (Adamowsky 2000: 203). Es geht also um einen weit reichenden Adaptionsprozess, in dessen Rahmen sich der Nutzer nicht nur an die Eigenarten eines ‚neuen Mediums‘ gewöhnt, sondern längst damit begonnen hat, einen neuen Raum für
1 Der vorliegende Aufsatz stellt eine maßgeblich erweiterte Fassung meines Disputationsvortrages dar, den ich am 5. Februar diesen Jahres am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen gehalten habe (vgl. Pranz 2009). Ich widme diesen Text – mit herzlichem Dank und in freundschaftlicher Verbundenheit – meinem Lehrer und Doktorvater Herbert Willems, dessen wissenssoziologische ‚Lesart‘ des Theatralitätsbegriffs ich hier übernehme und, mit Blick auf das besondere gesellschaftliche Feld der neuen Medien, weiterzuführen versuche.
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Alltagserfahrungen zu erschließen: er recherchiert, kauft und verkauft in diesem Raum, er lernt und spielt, streitet und verliebt sich, er richtet sich ein und präsentiert sich hier. Dabei gestaltet er das eigene Umfeld zunehmend selbst mit, indem er die technischen Strukturen mit einem individuellen Nutzungsinteresse überzieht und sich eigene Bühnen schafft, auf denen er sich selbst und einen Teil seines Lebens zeigt. Betrachtet man die neuen Medien vor dem Hintergrund der mit diesem Band behaupteten Generalthese einer „alle gesellschaftlichen Felder und Daseinsaspekte umfassen[-den]“ Theatralisierung2, dann wird schnell deutlich, dass die neuen Handlungs- und Kommunikationsräume auch und vor allem neue Spielräume erzeugen, in denen sich die Grenzen des Machbaren/Darstellbaren deutlich verschoben haben bzw. nach wie vor verschieben. Dabei geht es sowohl um neue Produktionslogiken bei der Inszenierung von Selbsten, Körpern, Räumen, Umwelten etc. als auch um eine neue Tragweite, die diese Inszenierungen für die handelnden Akteure und ihre Alltagsrealitäten haben. Erika Fischer-Lichte beschreibt diesen ‚qualitativen Sprung‘ in ihrem programmatischen Text „Grenzgänge und Tauschhandel“ wie folgt: Die neuen Medien tragen so wesentlich zu einer Theatralisierung unserer Alltagswelt bei, indem sie nur noch Zugang zu einer inszenierten Welt offenhalten. (Fischer-Lichte 2002: 293.
Die besondere ‚Transformationskraft‘ der neuen Medien verdankt sich zum einen sicherlich der Tatsache, dass das „Netz-Medium“ (Neverla 1998) systematisch Akteure und Publika zusammenschließt und jedermann eigene Bühnen zur Verfügung stellt – die Produktionsbedingungen liegen dabei zunehmend in der Hand der Handelnden selbst.3 Zum anderen, und das ist der Punkt um den es im Folgenden gehen soll, kennzeichnen sich die digitalen Vermittlungsstrukturen durch ein drastisch verändertes Verhältnis „von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe“4 (Luhmann 1997: 304), wobei letztlich alles, was wahrnehmbar wird, auch in besonderer Weise dramaturgisch disponibel ist. Der Rest bleibt ein „unaufgedeckter, abgesonderter (sekretierter) Rest“ (Rapp 1973: 183). Beispiele, die das illustrieren, reichen von den spontanen und oft weitgehend konsequenzlosen Ad-hoc-Aufführungen im Chat, innerhalb derer der Handelnde nur soweit in Erscheinung tritt, wie er sich selbst zu Aufführung bringt (vgl. Willems/Pranz 2008), bis hin zu aufwendig gestalteten „Wirklichkeitsspiele[-n]“ (Thiedeke 2008: 310) wie Second Life oder World of Warcraft, in denen die Gestaltung der eigenen Spielfigur und ihrer Umwelt eine tiefenscharfe und weitreichende soziale Realität hervorbringt. Der ‚Datenraum‘ ist also in vielerlei Hinsicht ein leerer Raum, der erst durch medienspezifische Performanzen – kommunikativ konstruierte Raum- und Körperdarstellungen, deiktische Bezüge in der Schriftsprache, hypertextuell verknüpfte Bilder, interaktive Oberflächen etc. – räumlich und körperlich interpretiert bzw. konstruiert wird. Oder um es 2 Vgl. Herbert Willems in der Einleitung zu Band 1 (2009). 3 Dafür stehen Begriffe wie „Web 2.0“ oder „Produser“ (vgl. Schmidt/Guenther 2008). 4 Im Bezug auf die verschiedenen Handlungsumgebungen der digitalen Medien, spricht man denn auch von „Benutzer-Oberflächen“ (bzw. Graphical User Interfaces). Es geht also um opake Topographien (vgl. Turkle 1995: 39), die sich über die technischen Strukturen legen und es ist anzunehmen, dass es maßgeblich von dieser Inszenierung der Handlungsumgebung abhängt, ob und inwiefern der Nutzer die programmeigenen Optionen erkennen und nutzen kann (vgl. Pranz 2008).
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mit Udo Thiedeke zu formulieren: „Im Cyberspace sind Daten Taten und Taten sind Daten“ (Thiedeke 2005: 75). Es liegt also nahe, die mit den neuen Medien entstandenen Handlungsumgebungen als maßgeblich theatralisierte Wirklichkeiten zu beschreiben, die systematisch neue Inszenierungstypen bzw. daran anschließende Deutungsmuster hervorbringen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass man das mit dem Begriffspaar ‚Theatralität und Theatralisierung‘ verbundene kulturwissenschaftliche Konzept für eine Auseinandersetzung mit diesem ‚Spezialfeld‘ von Kultur in besonderer Weise zuschneiden muss.5 Denn nicht zuletzt geht es hier um ‚Aufführungskontexte‘, die sich von der Interaktionsordnung einer unmittelbaren Aufführungssituation, also gewissermaßen dem empirischen Kern der Theatralitätstheorie (vgl. stellvertretend Fischer-Lichte 2004a: 7), drastisch unterscheiden. Es kommt im medialen Setting in den meisten Fällen6 gar nicht zu der theaterspezifischen Figuration aus wahrnehmbaren Handelnden und „Menschen in der ‚Publikums‘-Rolle“ (Goffman 1980: 143) und dementsprechend kommt es auch nicht zu jener besonderen „Magie des Dabeiseins“ (Rapp 1973: 183), durch die sich alle unmittelbaren Aufführungskontexte auszeichnen. Gleichzeitig sind die zentralen „Sinnfindungseinrichtung[-en]“ (Schneider 2002: 57)7 des Theaters außer Kraft gesetzt, was sich beispielhaft an der elementaren und sinnrelevanten Unterscheidung zwischen Zeigen und Verbergen8 betrachten lässt: Die Frage, was sichtbar wird und was unsichtbar bleiben muss, bestimmt die theatrale Aufführungspraxis sowohl in der Auswahl ihrer Materialien (Masken, Kostüme, Kulissen)9 und deren dramaturgischer Organisation, als auch im Bezug auf das ihr zugrunde liegende Setting, das durch die fixierte Perspektive auf eine Bühne gekennzeichnet ist (vgl. Rapp 1973: 62ff), die bestimmte „Wahrnehmungsschranken“ (Goffman 1976: 217) etabliert. Innerhalb der technischen Strukturen der digitalen Medien wird diese Unterscheidung insofern nivelliert, als dass hier nichts mehr zufällig an die Oberfläche dringen kann, oder: es ist nichts wahrnehmbar, das nicht für ein Publikum ausgewählt und sichtbar gemacht worden wäre. Aus dieser medienspezifischen Limitation der Wahrnehmungschancen resultiert eine, für alle Handlungskontexte der neuen Medien charakteristische Dialektik, die einerseits zu neuen (Selbst-)Darstellungsspielräumen führt, andererseits aber auch ein massives Ausdrucksdefizit erzeugt, das über medienspezifische Inszenierungspraxen kompensiert werden muss. Hier ist in erster Linie an unterschiedliche Formen der theatralen Repräsentation (vgl. Fischer-Lichte 2001) und des ‚Abbildens‘ (vgl. Soeffner 2001: 174) zu denken, die mit den verfügbaren Materialien arbeiten und an die besonderen Strukturbedingungen der Produktion angepasst sind. Aber auch darüber hinaus – und gewissermaßen auf einer sekundären Ebene – werden theatrale „Erzeugungsstrategie[-n]“ (Fischer-Lichte 2004a: 14) notwendig, die
5 In gleicher Weise hat es Herbert Willems bereits für die Massenmedien formuliert (vgl. Willems 2001: 386). 6 Eine Ausnahme stellt bspw. die Videotelefonie dar, die gewissermaßen ein Gespräch unter Anwesenden ‚moduliert‘ – allerdings nicht ohne medienspezifische Kontingenzen zu erzeugen (vgl. Ayaß 2005). 7 Vielleicht kann man Wolfgang Schneiders interaktionssoziologische Formulierung hier einmal für die besondere Interaktionsordnung des Theaters verwenden. 8 Vgl. Thomas Schwietring in diesem Band. 9 Masken, Kostüme und Kulissen illustrieren das Verhältnis von Verbergen und Zeigen, um das es hier geht, besonders gut: wer eine Maske trägt oder eine bemalte Kulissenwand vor der Hinterbühne herab lässt, der verbirgt, indem er zeigt.
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das Dargestellte plausibilisieren und authentifizieren. Man kann hier, ebenso wie es FischerLichte für die Massenmedien formuliert hat, von „komplexen Inszenierungsstrategien“ sprechen, die auf „die Produktion von Unmittelbarkeit abzielen“ (Fischer-Lichte 2005: 24), also gewissermaßen von Inszenierungen zweiter Ordnung, die die besonderen Effekte unmittelbarer Aufführungspraxen abzubilden versuchen und dabei medienspezifische Glaubwürdigkeitsgeneratoren, Bezeichnungs- und Einklammerungskonventionen aber auch weitgehend standardisierte Raum- und Körpersymboliken verwenden. Ich möchte einige Aspekte dieser medienspezifischen Darstellungspraxen im Folgenden am Beispiel des Cybersex-Chats untersuchen (vgl. Abschnitt 3). Bei diesen exemplarischen Überlegungen geht es mir jedoch weniger um eine ausführliche Analyse als vielmehr darum, einen medienspezifischen Theatralitätsbegriff zu diskutieren und empirisch zu exemplifizieren. Denn wie bereits erwähnt, stellt die Auseinandersetzung mit den digitalen Medien besondere Anforderungen an das Konzept der Theatralität, das sich hier in theoretischer wie in terminologischer Hinsicht auf eine prinzipiell theatrale Wirklichkeit (vgl. Fischer-Lichte 2004a: 7) einstellen muss, in der keine körperlich anwesenden Akteure und Betrachter existieren. Pointiert könnte man denn auch formulieren, dass man es im Bezug auf die digitalen Medien mit einer Theatralität der Abwesenheit10 zu tun hat, d.h.: es gibt keine Kanäle11, über die „Gegenwärtigkeit“ (Fischer-Lichte 2004a: 22) kommuniziert werden könnte. Die hier vorgestellte medienspezifische ‚Lesart‘ des Theatralitätsbegriffs verbindet daher das kulturwissenschaftliche Konzept der Theatralität mit dem Ansatz einer wissenssoziologischen Dramatologie, wie sie u. A. von Uri Rapp und Erving Goffman entwickelt worden ist.12 Das Theater soll dabei (mit Goffman) als Rahmungspraxis verstanden werden (vgl. Goffman 1980), also vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Haushaltes aus Zeichen und Deutungsmustern, die zur Interpretationsgrundlage des theatralen Geschehens werden bzw. dieses überhaupt erst hervorbringen und strukturieren (vgl. Willems 2001: 391). Ich werde mit diesen theoretischen Überlegungen beginnen, wobei ich zunächst auf das Theater als unmittelbare Aufführungspraxis eingehe und im Anschluss daran die digitalen Medien als Raum des Theatralen in den Blick nehme.
10 Vgl. dazu auch Helga Finter, die in diesem Zusammenhang von einer „Dramatisierung abwesender Körper“ gesprochen hat (Finter 2004). 11 Hier ist an Goffmans Kanalbegriff gedacht (1980: 224 ff), der in verschiedener Hinsicht geeignet ist, die besondere „Problemlage“ (Luckmann 1987: 198) der neuen Medien und ihre wissenssoziologischen Implikationen zu erfassen. So müssen bspw. im Chat alle Kanäle, auf denen direkte Interaktion für gewöhnlich verläuft, mit Hilfe der (digitalen) Schrift abgebildet werden (vgl. dazu ausführlicher Pranz 2009: 64ff) 12 Goffmans „dramaturgische Perspektive“ (Goffman 1976: 219) ist sicherlich der prominentere Ansatz, der im vorliegenden Text auch privilegiert wird. Dennoch verfügt Rapps noch kaum rezipierte „Theatersoziologie“, gerade im Bezug auf zentrale Begriffen wie etwa Perspektivität/Distanz, Rolle und Repräsentation etc. eine bemerkenswerte analytische Qualität. Für jüngere Arbeiten auf diesem Feld vgl. stellvertretend Willems (1997, 1998).
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1. Das Theater als ‚Spiel mit Rahmen‘ Wie oben bereits erwähnt, macht die Auseinandersetzung mit einer Theatralität der neuen Medien konzeptionelle Überlegungen erforderlich, die sich auf die strukturellen Besonderheiten dieses Medientyps beziehen. Dabei muss vor allem eine medienspezifische „Problemlage“ (Thomas Luckmann) berücksichtigt werden, von der nicht nur die verschiedensten „kommunikativen Gattungen“ der CMC13 berührt werden, sondern die auch und vor allem ein eigenes Umfeld für „Handeln und Zuschauen“ (Uri Rapp) generiert: Es geht um Präsentations- und Wahrnehmungskontexte mit „extrem beschränkter Inanspruchnahme menschlicher Sinne“ (Luhmann 1997: 304), in denen einem wechselseitigen „Spüren der Gegenwart des Wahrgenommenen“ (Fischer-Lichte 2004a: 23) keine Kommunikationskanäle bereitstehen. Die dramatologische Auseinandersetzung mit diesem Feld muss also Phänomene des Theatralen in den Blick nehmen, die sich von unmittelbaren Aufführungskontexten systematisch unterscheiden, aber dennoch durch theatrale Mentalitäten, Handlungspraxen und „Erkenntnisstile“ (Schütz/Luckmann) gekennzeichnet sind. Es liegt aus verschiedenen Gründen nahe, dass dies der im Rahmen des „DFG Schwerpunktprogrammes: Theatralität“ (vgl. „Theatralitätsprogramm“ 1995) entwickelte Theatralitätsbegriff nicht leisten kann, denn er privilegiert ein Verständnis von Theater, das Korporalität und Wahrnehmung als Momente unmittelbarer Aufführungspraxis entwirft14 und ist in diesem Sinne gewissermaßen auf Situationen körperlicher Kopräsenz spezialisiert: Seine „Reichweite bzw. (…) sachliche Beschränktheit“ entspricht der „Systemebene“ unmittelbarer Interaktionspraxis (Willems/Kautt 2003: 5). Am Ausgangspunkt meiner Überlegungen steht daher die konzeptionelle Entscheidung, von den anwesenheitsgebundenen Produktions- und Wirkungslogiken der Theatersituation abzusehen und stattdessen eine theatereigene Rahmungspraxis zu fokussieren: ein theatrales Spiel mit Rahmen, an das sich theaterspezifische Deutungsmuster anschließen. Die Wirklichkeit des Theaters stellt sich aus diesem Blickwinkel als eine äußerst vielschichtige Wirklichkeit dar, deren Sinn sich den Handelnden nicht voraussetzungslos, sondern vielmehr über höchst komplexe Interpretationsprozesse erschließt. Eng mit ihr verbunden ist ein besonderes ‚Wissen‘, das die Lesarten und Handlungspraxen der Beteiligten koordiniert bzw. überhaupt erst ermöglicht.15 Ich skizziere im Folgenden den theoretischen Rahmen meiner Überlegungen, wobei ich vor allem auf Erving Goffmans ‚Dramatologie‘ (1976) eingehe, die in einem engem Zusammenhang mit seinem Konzept der Rahmenanalyse (1980) zu verstehen ist. Im Zentrum steht Goffmans (rahmenanalytische) Lesart des Theaters, als eine besonders transformierte Wirklichkeit, die einerseits auf spezifische Einklammerungskonventionen rekurriert, andererseits aber auch im sozialen Anlass des Theaters verankert ist. Ebenso wie seinen Ausführungen zum Spiel-, Image- oder Ritualbegriff, liegt auch Goffmans interaktionssoziologischen Überlegungen in „The Presentation of Self in Everyday 13 Computer Mediated Communication. 14 Der Begriff der Inszenierung ist hier ausgenommen, denn er meint eine, dem theatralen Ereignis vorausgehende Planungsklugheit (Fischer-Lichte spricht von einer „Erzeugungsstrategie“. Vgl. Fischer-Lichte 2004a: 14) und bezieht sich damit nicht ausschließlich auf Aufführungen, sondern eben auch auf Artefakte wie z.B. architektonische Rauminszenierungen (vgl. Fischer-Lichte 2002: 291). 15 Vgl. für diesen Ansatz Willems (1998: 29 ff).
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Life“ ein Verständnis zugrunde, das die situative Wirklichkeit als ein im ‚SchnappschussModus‘ (vgl. Goffman 1971: 219) erschlossenes Set aus Zeichen auffasst, mit dem sich spezifische Deutungsmuster und Erwartungsstrukturen verbinden, die von „Klischeevorstellungen“ (Goffman 1976: 5) bis hin zu „Kosmologien“ (vgl. Willems 1997: 55f) reichen. Der von Goffman angenommene Akteur stellt sich die Frage, „What is it that‘s going on here?“ (Goffman 1986: 8) und richtet sich bei der Suche nach einer Antwort an seiner wahrnehmbaren Umwelt aus. Dabei sind die relevanten Informationen in der aktualen Situation jedoch meist stark limitiert, weshalb die Beteiligten bei der Beurteilung der Situation immer auch auf „Ersatzinformationen“ (Goffman 1976: 228) rekurrieren müssen: Kurz, da die Realität mit der es der Einzelne zu tun hat, im Augenblick nicht offensichtlich ist, muß er sich statt dessen auf den Anschein verlassen; und paradoxerweise muß er sich desto mehr auf diesen konzentrieren, je mehr er um die Realität besorgt ist, die der Wahrnehmung nicht zugänglich ist. (ebd.)
Es geht in Goffmans ‚Theaterbuch‘ also um einen „dramatischen Imperativ“ (Hettlage 2008: 256), der sich in einem besonderen und für alle beteiligten Akteure gültigen „Kundgabeund Interpretationszwang“ äußert (vgl. Willems 1997: 53). Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch ein prinzipieller ‚Theatralitätsverdacht‘, der die Goffmansche Interaktionssoziologie kennzeichnet.16 Denn im Zentrum dessen, was Goffman als ‚Wirklichkeit‘ versteht, stehen immer auch besonders gestaltete Oberflächen (Kulissen, Statussymbole etc.) und ein auf Publika bezogenes Eindruckshandeln, die den Sinnhorizont des Geschehens definieren und die Akteure in ihrer Sicht der Dinge maßgeblich beeinflussen (vgl. Goffman 1976: 221). Oder einfacher formuliert: Goffman versteht Wirklichkeit vor dem Hintergrund einer durch zahlreiche „Grenzen der Einsichtnahme“ (1980: 239. Vgl. außerdem 1976: 217) definierten und damit immer auch dramaturgisch disponiblen Situation. Die verschiedenen Implikationen dieser dramaturgischen ‚Ladung‘ alltäglicher Interaktion beschäftigen Goffman auch und vor allem in der Rahmenanalyse. Die theatrale Alltagsklugheit, deren Handlungs- und Deutungspraxen in „The Presentation of Self“ beschrieben werden, wird hier als „Rahmungswissen“ (Soeffner 1986: 76)17 vorgestellt und systematisiert. Dabei geht es einerseits um den Wissenshaushalt des Theaters18, der weitgehend standardisierte und institutionalisierte Einklammerungs- und „Transformationskonventionen“ (Goffman 1980: 165) beinhaltet, die dem Betrachter bekannt sind und es ihm ermöglichen, das Geschehen auf der Bühne angemessen zu kontextualisieren.19 Andererseits interessieren Goffman die, mit dem Theaterrahmen verwandten aber weniger offensichtlichen (alltäglichen) Transformationslogiken des Betrugs, der Geheimhaltung, des Schwindelmanövers etc. (vgl. ausführlicher Willems 1997:
16 Vgl. dazu auch Ralf Dahrendorf, der in der Einleitung zur deutschen Fassung von Goffmans „Presentation of Self“ von einem „totalen Rollenverdacht“ spricht (Goffman, 1976: XIII). 17 Zum Unterschied zwischen Rahmen (frame) und Rahmung (framing) vgl. auch Willems (1997: 46). 18 Neben dem Theater nennt Goffman vier weitere, weniger „reine“ aber strukturanaloge Aufführungstypen: dramatische Drehbücher, Wettkämpfe, Vorlesungen und Vorträge sowie Arbeits-Aufführungen und Proben. (vgl. ebd.:144f) 19 Die Semiotik bezeichnet diesen Prozess als „Ostension“. Es geht dabei um einen, gewissermaßen gesellschaftlich ‚vorgeprägten‘ Abstraktionsprozess, in dessen Rahmen der Zuschauer vom gezeigten Gegenstand auf etwas anderes schließt (vgl. Eco 2002: 267f).
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69 ff), die er unter dem Begriff der „Täuschung“ zusammenfasst20. Ebenso wie in Goffmans ‚Theaterbuch‘, geht es also auch in der Rahmenanalyse um ein gesellschaftliches Wissen, das gewissermaßen „doppelbödig“ (Knoblauch 2008: 138) ist: es reduziert die Komplexität alltäglicher Interaktionen, indem es Ankerpunkte für kommunikative Erwartungen bereitstellt, legt damit aber gleichzeitig den Verdacht nahe, dass die Welt auch eine ganz andere sein könnte: „Ganz sicher sind wir nie, was gerade geschieht.“ (ebd.: 138). Goffmans systematische Behandlung der „Organisation von Alltagserfahrungen“ beginnt mit dem Begriff des „primären Rahmens“, der eine situative Primärunterscheidung zwischen ‚Sinn‘ und ‚Nicht-Sinn‘ bezeichnet, die im weiteren Verlauf der Interaktion als „ursprüngliches Deutungsmuster“ fungiert (Willems 1997: 52)21 bzw. das ‚Material‘ für weitere Modulationen bereitstellt. Davon abgesehen zeigt sich die besondere Leistung des primären Rahmens aber vor allem im Hinblick auf kosmologische Grenzfälle (Goffman spricht von „Erstaunlichkeiten“, „Kunststücken“, „Schnitzern“ und „Zufällen“, vgl. 1980: 38 ff), also im Zusammenhang mit Ereignissen, die sonst ‚sinnlos‘ wären bzw. nicht verarbeitet werden könnten, ohne das zum Tragen kommende Analysesystem zu torpedieren (vgl. Goffman 1980: 46): Doch im allgemeinen erwarten die Menschen in unserer Gesellschaft beim Auftreten eines erstaunlichen Ereignisses, dass bald eine „einfache“ oder „natürliche“ Lösung gefunden wird, die das Geheimnis aufklärt, die Sache in den Bereich der gewohnten Kräfte und Wesen eingliedert und die übliche Unterscheidung zwischen Naturerscheinungen und orientierten Handlungen wieder zum Tragen bringt. (ebd.: 39)
Die Beispiele Goffmans legen es nahe, dass die mit den primären Rahmen verbundenen Verständnishintergründe zwar gesellschafts- bzw. kulturspezifisch variieren können (vgl. ebd.: 37)22, dabei aber immer einem grundlegenden menschlichen ‚Sinn-Bedürfnis‘ entsprechen, das alle stattfindenden Ereignisse mit einer kosmologischen Bedeutungsschicht überzieht und damit (gesellschaftliche, kulturelle etc.) ‚Normalität‘ konstruiert und sichert. Gleichzeitig zeigen sie, dass der von Goffman angenommene Handelnde in seiner Sicht der Dinge niemals frei von Voraussetzungen ist, sondern in allen Belangen auf rahmenabhängige Interpretationsgrundlagen rekurriert, „that answer all questions about what it is that shall be taken by participants as real, and how it is that they should be involved in this reality“ (Gonos 1976, zitiert nach Willems 1997: 48). Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum primären Rahmen lassen sich komplexer geschichtete Wirklichkeiten wie das Spiel oder eben auch das Theater betrachten, die „primä-
20 Goffman unterscheidet Täuschungen und Moduln als unterschiedliche Klassen von Rahmen (vgl. Goffman 1980: 98). Im Gegensatz zu Moduln, die eine „interindividuell“ geteilte Wirklichkeit (Willems 1997: 62) hervorbringen, erzeugen Täuschungen gewissermaßen parallel verlaufende Wirklichkeiten in denen das Wissen um die Situation unterschiedlich verteilt ist. Das Theater stellt als „eine Art freiwillig unterstützt[-e] freundlich[-e] Täuschung“ (vgl. Goffman 1980: 156) somit eine eigenartige ‚Sonderwirklichkeit‘ dar. 21 Der „primäre Rahmen“ stellt für die Rahmenanalyse also das dar, was der „erste Eindruck“ für die Goffmansche Theatersoziologie bedeutet (vgl. Willems 1997: 53). 22 Michel Foucaults Arbeiten zum Wahnsinn zeigen dies beispielhaft am (primären) Rahmen der Krankheit: „Im Mittelalter bis hin zur Renaissance war die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Irsinn eine dramatische Auseinandersetzung, die ihn mit den dumpfen Mächten der Welt konfrontierte; und die Erfahrung des Wahnsinns wurde damals in Bildern bezwungen, in denen es um Fall und Vollendung, das Tier, die Metamorphose und all die wunderbaren Geheimnisse des Wissens ging. In unserer Zeit erfolgt die Erfahrung des Wahnsinns in der Ruhe des Wissens, das ihn, da es ihn schon lange kennt, vergisst“ (Foucault 2005: 15)
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re“ Wirklichkeiten transformieren, also im Modus des ‚Als-Obs‘ aufführen und nachbilden. Dabei führen sie den jeweiligen primären Rahmen jedoch insofern mit, als sie ihn als „Sinnhintergrund“ (Willems 2002: 14) ansteuern und in allen Handlungselementen voraussetzen. So übernimmt z.B. der gespielte Kampf die Interaktionslogik des ernsthaften Kampfes, indem er auf Angriffe mit Gegenangriffen oder Unterwerfungen reagiert und strukturanaloge Handlungsmuster wie Finten, Flankenangriffe, Drohgesten etc, erlaubt. Gleichzeitig werden Fehlleistungen im Bezug auf die Einordnung der Ereignisse in das Rahmengefüge wahrscheinlich, die dann die Situation als Ganzes gefährden. Bei Bateson findet sich hierzu ein besonders drastisches Beispiel: Auf den Andamanen wird Friede geschlossen, nachdem jeder Seite die zeremonielle Freiheit gegeben wurde, die andere zu schlagen. (...) die rituellen Streiche des Friedensschlusses tendieren immer dazu, als reale Kamphiebe mißverstanden zu werden. In diesem Fall wird die Friedenszeremonie zu einer Schlacht. (Bateson 1985: 247)
Der primäre Rahmen des ernsthaften Kampfes und seine Modulation der zeremoniellen Unernsthaftigkeit sind also gewissermaßen nur durch eine sehr dünne „Membran“23 voneinander getrennt, woraus eine besondere Anfälligkeit der situativen Wirklichkeit resultiert. Das Beispiel illustriert die prinzipielle Sensibilität von Rahmengefügen gegenüber Ereignissen, die gewissermaßen an den Rahmengrenzen auftreten und so zu Interpretationsproblemen, Rahmungsunsicherheiten oder sogar „Gefährdungen der Erfahrung“ (Goffman 1980: 471 ff.) führen können. Und darüber hinaus zeigt es, dass die Kategorien der Zuordnung und Einordnung in verschiedener Hinsicht abgesichert – oder: „verankert“ (ebd.: 274) – werden müssen, wenn Rahmen stabile Erwartungsstrukturen hervorbringen sollen. Der Theaterrahmen nimmt in diesem Sinne eine zentrale Rolle in Goffmans Rahmenanalyse ein, denn er steht eben nicht nur für ein Set besonderer Transformationskonventionen, sondern ‚verortet‘ dieses Set gleichzeitig innerhalb eines besonderen „sozialen Anlasses“ (vgl. Goffman 1971, Eberle 1992: 183).24 Dabei steht im Kern des komplexen Rahmengefüges zunächst eine ähnlich ‚prekäre‘ Transformation, wie man sie auch für das Spiel oder das mit Bateson zitierte Zeremoniell feststellen kann: Ein menschlicher Körper mit seinen konventionell erkennbaren Eigenschaften, umgeben oder ausgestattet mit einer Menge von Gegenständen, eingefügt in einen physikalischen Raum, steht dem reagierenden Publikum für etwas anderes. Dazu wurde dieser Körper in eine Art performativer Situation eingerahmt, die festlegt, daß er als Zeichen zu nehmen ist. Nun hebt sich der Vorhang. Von diesem Moment an kann alles geschehen – Ödipus lauscht Krapps letztem Band, Godot trifft auf La Cantatrice Chauve, Tartuffe stirbt auf Juliettes Grab, el Cid Campeador bewirft die Kameliendame mit einer Sahnetorte. (Eco 2002: 277)
Die Theater-Welt konstituiert sich also innerhalb einer spezifischen Umwelt25, die durch eigene Raum- und Zeitgrenzen strukturiert ist. Die komplexen Zeichenhaushalte des Theaters 23 Goffman spricht in einem anderen Zusammenhang von der „Spielmembran“ (1973: 79). 24 Ähnlich verhält es sich auch mit dem Spiel (play), wenn es zum Wettkampf (game) kristallisiert (vgl. Goffman 1980: 69.). 25 Vgl. dazu die Formulierung von Herbert Willems und Daniela Eichholz, die im Bezug auf Goffmans Begriff des sozialen Anlasses feststellen, dass „die Funktion des Rahmens in der Konstitution und Strukturierung von Welten in bestimmten Verhältnissen und durch bestimmte Verhältnisse zu Umwelten besteht.“ (2008: 878)
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kristallisieren in diesem Kontext zu einem „Anlass-Wissen“ (Herbert Willems), das die Lesarten des Publikums in einer ‚spieldienlichen‘ Weise koordiniert und selegiert: Der Zuschauer weiß, dass Masken, Kostüme und Requisiten als Zeichen für Figuren und eine Bretterwand als Zeichen für eine dreidimensionale Umwelt zu verstehen sind; er weiß, dass Ferdinand und Luise Gift trinken, während die handelnden Schauspieler unversehrt bleiben, und er kann auch das höchst künstliche Bühnen-Arrangement einer „ökologisch aufgebrochen[-en]“ Gesprächssituation verstehen, durch das Zuschauen überhaupt erst möglich wird (Goffman 1980: 165f.). Und in allen diesen Fragen ist er insofern entlastet, als er sich an einem Kanon an „Rahmenklammern“ und „Transformationskonventionen“ ausrichten kann, die seinen Umgang mit den verschiedenen, gewissermaßen in der Natur der Situation liegenden Sinnüberschüssen kanalisieren, indem sie eine „Landschaftskarte der wählbaren Möglichkeiten vor[-zeichnen]“ (Rapp 1973: 197). Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellt sich die theaterspezifische Interaktion als ein höchst voraussetzungsvoller Kommunikationstyp dar, der ohne den sozialen Anlass des Theaters – oder eine seiner zahlreichen Modulationen – wahrscheinlich nicht stattfinden könnte: Das Theater, als übergreifender Sinnbereich, reguliert die kommunikative Struktur der Aufführung, die ohne diese – kulturhistorisch vorgegebene – Vordefinition keinen eigenen Sinnzusammenhang, der Verständigung über die Kommunikationszeichen ermöglichen würde, herstellen könnte. (ebd.: 78)
Wenn man davon ausgeht, dass die theatrale Kommunikation auf einer festen Erwartungsstruktur fußt, die sich in die Institution ‚Theater‘ eingeschrieben hat und ohne die ein Verstehen der Vorgänge auf der Bühne kaum möglich ist, dann interessiert vor allem die Frage, wie das Theater mit Ereignissen umgeht, die diese Struktur unterlaufen oder sie sogar bewusst torpedieren. Goffman geht dieser Frage im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur „Erzeugung negativer Erfahrung“ nach und bezieht sich dabei – ebenso wie die Theorie der Theatralität (vgl. im Besonderen Fischer-Lichte 2002; Fischer-Lichte 2004b) – auf zeitgenössische Aufführungstypen, in denen das experimentelle Spiel mit Rahmen zur reflektierten Theaterpraxis wird. So schreibt er über das absurde Theater: Untersucht man die Mittel, mit denen die Veranstalter von Aufführungen Klammern aus den Angeln heben, so wird deutlich, daß man sich einer Verletzung der herkömmlichen Einteilung zwischen dem sozialen Ereignis und dem Hauptvorgang bedient, dem inneren Reich, das in das Ereignis eingebaut sein kann. (…) Das sogenannte absurde Theater liefert viele Beispiele für diesen Frontalangriff – in der Tat so viele, daß es besser das Rahmentheater heißen sollte. (Goffman 1980: 430)
Die Analysekategorien der Zuschauer werden in diesen Vorstellungen insofern auf den Kopf gestellt, als dass eine klare Identifizierung der einzelnen Rahmenschichten nicht mehr möglich ist und das „innere Reich“ des dargestellten Stückes mit dem sozialen Anlass der Aufführungssituation, in der es verankert ist, konfligiert: Während die Bühne des zeitgenössischen Theaters stets einen fiktiven Raum bedeutete – Willy Lomans Wohnzimmer, die Landstraße auf der Didi und Gogo auf Godot warten etc. – bedeutete der Speisesaal des College keinen fiktiven Raum. Es war zunächst einmal ein Raum, in dem man alles mögliche tun konnte. (Fischer-Lichte 2002: 202)
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Ebenso wie der Aufführungsort, mit dem sich ein Set räumlicher Klammern verbindet, die jederzeit in einen anderen Rahmenkontext gestellt werden können, stellt auch der Körper der Akteure ein besonders disponibles Objekt von Rahmenspielen dar. Es geht dabei vor allem um eine spezifische Körperlichkeit der handelnden Akteure, die nie vollständig in der semiotischen Dimension des Theaters aufgeht, sondern immer Bedeutungsüberschüsse erzeugt26 – ‚ins Spiel‘ kommen dann Lesarten in (natürlichen) Primärrahmen, die sich nicht immer nahtlos mit dem Theaterrahmen verbinden, sondern eine eigenartige Spannung erzeugen. Dies illustriert ein von Goffman am Rande erwähnter Spezialfall: Übrigens scheint es einen diffizilen Rahmen-Unterschied zwischen dem Küssen und dem Kohabitieren zu geben. Ersteres kann man auf der Bühne spielen, ohne dass sich die Lippen berühren, oder auch in Form eines „wirklichen“ Kusses mit Lippenkontakt, doch in beiden Fällen wird auch der Kuß nicht als „wirklicher“ empfunden, also ein modulierter Kuß (...). Hier kann die Bühnensituation und der Rahmen des Spielens im Vordergrund stehen (und damit die Sache umstrukturieren). Das andere hingegen scheint sich der dramaturgischen Rahmung etwas zu entziehen: eine tatsächliche physische Kohabilition auf der Bühne scheint vom Zuschauer mehr als eigentlicher sexueller Akt denn als dramatisch modulierter aufgefasst zu werden. (Goffman 1980: 67, Fußnote 27)
Das theatereigene Spiel mit Rahmen verdichtet und intensiviert sich im Zusammenhang mit einem besonderen Typ von Theater, nämlich jenen Aufführungsformen, die im Rahmen einer „performativen Wende der ausgehenden sechziger/frühen siebziger Jahre“ (Fischer-Lichte 2004b: 317) entstanden sind. Die mit dem traditionellen Theater verbundenen Ordnungsrahmen werden dabei bewusst torpediert – etwa indem Körper ‚on-stage‘ schmerzhaften, erniedrigenden etc. Behandlungen ausgesetzt werden und an die Stelle von geplanten Dramaturgien „Versuchsanordnung[-en]“ (ebd.: 61) treten, deren Ergebnis für alle Beteiligten unvorhersehbar ist. Gleichzeitig eröffnen sich jedoch besondere Kontingenzen und (Be-)Deutungs-Spielräume, die innerhalb der Aufführungssituation kreativ weiterverarbeitet werden können und zu einer neuen Qualität des Theatralen führen. Das „Rahmentheater“ gewinnt damit gegenüber traditionellen Aufführungspraxen an Dichte, Atmosphäre, ‚Lifeness‘ und „Gegenwärtigkeit“ (Fischer-Lichte 2004a: 22), denn während wir die Menschen auf der Bühne für gewöhnlich „(…) sehen und erleben wie im täglichen Leben, und doch unsere dem täglichen Leben angemessenen Reaktionen von vornherein ausschalten“ (Rapp 1973: 57), erzeugen die oben beschrieben Rahmenbrüche beim Publikum systematisch Distanz-Verluste27: „So kann die Wahrnehmung eines fetten, konturlosen, übergewichtigen Leibes mit einem Gefühl des Ekels, der Scham oder der Angst einhergehen.“ (Fischer-Lichte 2004a: 22). Im Hinblick auf den hier diskutierten Theatralitätsbegriff stellen die verschiedenen Performance-Praxen einen instruktiven Beispielkontext dar, an dem sich das mit dem Theater verbundene Wissen in zweifacher Hinsicht besonders deutlich zeigt: Zum einen, und seitens 26 Die Theaterwissenschaften reflektieren diese Phänomene unter dem Begriff der „Verkörperung“ (vgl. FischerLichte 2000 und 2001b). 27 Rapp versteht und konzipiert „Distanz“ als Komplementärbegriff zur theatralen „Perspektive“ (vgl. ebd.) und sieht in ihr das Prinzip einer theaterspezifischen Wahrnehmung, „die unser Verhältnis zu den dramatischen Personen verändert, diese „fiktiv“ macht (…)“ (ebd.). Damit impliziert das Theater immer auch den Distanzverlust – die Identifikation mit der Rolle, den emotionalen Affekt, die Katharsis.
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der Performance-Akteure, fungiert es als eine eigene theatrale Klugheit – also gewissermaßen als ein „parasoziologisches“28 Wissen, das die Erwartungen des Zuschauers antizipiert und bewusst unterläuft, um dadurch besondere theatrale ‚Effekte‘ zu gewinnen. Zum anderen, und seitens des Zuschauers, erzeugt das Wissen um die Theater-Situation sozusagen einen ‚positiven‘ Verständnishintergrund, vor dem sich alle Erfahrungen – auch „negative“ – einordnen lassen. Auch wenn sich die Aufführungssituation der Performance also durch einen höchst kontingenten Ereignischarakter auszeichnen mag, wobei die Rahmengrenzen der Theater-Wirklichkeit mitunter erodieren und aus Zuschauern Beteiligte werden, die das Stück verlassen oder unterbrechen29, findet sie vor dem theaterspezifischen Erwartungshorizont statt – und nur vor diesem Hintergrund gewinnt sie den ihr eigenen Sinn und die ihr eigene Brisanz!
2. Mediale Rahmenspiele Die Ausführungen zum Theater als Rahmenspiel haben gezeigt, dass man die theatrale Wirkungslogik als Teil eines spezifisch gerahmten Interpretationsprozesses verstehen kann, der auf ein besonderes „Anlass-Wissen“ rekurriert. Dieses Wissen wird im Theater gleichermaßen vorausgesetzt und hervorgebracht – und zwar auch dann, wenn Aufführungen bewusst aus dem „Theater-Rahmen“ ausbrechen, um beim Zuschauer Distanzverluste und „negative Erfahrungen“ zu erzeugen. Es geht also um ein, mit dieser Institution verbundenes aber dennoch von ihr ablösbares Zeichensystem30, ohne das sich Theater nicht verstehen ließe. Betrachtet man die Theatralisierungsthese vor dem Hintergrund dieser rahmenanalytischen Lesart des Theaters, dann kann man sagen, dass das Theater-Wissen weit über den „abgegrenzten Sinnbereich“ (Rapp 1973: 20, in Anschluss an Berger/Luckmann 1977) des Theaters hinausreicht und in allen gesellschaftlichen Feldern eine zunehmende Bedeutung erhält. Gerade massenmediale Inszenierungen mögen als „kulturelle Foren“ (Newcomb/Hirsch 1986) bei der Vergesellschaftung dieses Wissens eine besondere Rolle spielen – nicht nur weil sie systematisch Akteure und Publika zusammenbringen sondern auch, weil sie ständig neue gesellschaftliche Bereiche erschließen und gewissermaßen theatral einklammern (vgl. für einen Überblick FischerLichte 2005: 25). Damit geht es nicht nur um die (intuitive oder auch weitgehend reflektierte) Darbietungsklugheit der ‚Medienprofis‘ (vgl. Willems 1998: 64) sondern auch und vor allem um den Zuschauer, der sich selbst in den unterschiedlichsten Zusammenhängen der inszenierten Alltags-Wirklichkeiten als Teil eines Publikums versteht 28 Herbert Willems benutzt diesen Begriff im Bezug auf das Wissen der Werbeprofis (vgl. 2001: 388). 29 Wie etwa bei der von Erika Fischer-Lichte beschriebenen Performance „Lips of Thomas“, die am 24. Oktober 1975 von Marina Abramovic in Innsbruck uraufgeführt wurde (vgl. 2004b: 9). 30 Ich verwende diese Terminologie hier in Anlehnung an Luckmanns Konzept der kommunikativen Gattung (1987: 199ff). Ebenso wie Goffman geht es Luckmann um die Beschreibung eines gesellschaftlichen Wissens, wobei er – im Unterschied zu Goffman – aber vor allem nach den kommunikativen Prozessen der Wissensvermittlung und -tradierung fragt (vgl. Knoblauch/Raab/Schnettler 2002).
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und für den die Deutungsmuster, um die es hier geht, eine zunehmende Alltagsrelevanz besitzen.31 In ähnlicher Weise lässt es sich auch für die digitalen Medien formulieren, die diese Transformationslogiken und Einklammerungskonventionen (z.T. auch: crossmedial) importieren und in einer medienspezifischen Art und Weise abbilden (oder: transformieren) – etwa um glaubhafte Körperdarstellungen zu erzeugen, Spielatmosphären zu kreieren oder weitgehend natürliche Handlungsräume in Szene zu setzen. Die beteiligten Akteure erkennen diese Zeichen und schließen schnappschussartig mit entsprechenden Wahrnehmungs- und Handlungstypen an: Aus Nutzern werden dann Zuschauer, aus strategisch agierenden Spielern werden erlebende Beteiligte und aus Gesprächsteilnehmern die Akteure eines „Ensembles“ (Goffman). Bevor ich einige empirische Belege für diese Annahme anführe, möchte ich nochmals genauer auf den besonderen Handlungskontext eingehen, mit dem man es im Bezug auf die neuen Medien zu tun hat. Damit soll gleichzeitig der Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen hier überhaupt von ‚Theatralität‘ gesprochen werden kann. Denn wie ich bereits ausgeführt habe, geht es um medienspezifische Ausprägungen, die einerseits durch die verschiedenen strukturellen Probleme dieses Kommunikationsraumes definiert werden, andererseits aber auch auf die spezifische ‚Problemlage‘ der neuen Medien reagieren und daran angepasste Lösungsmuster bereitstellen. Wie eingangs bereits erwähnt, verbindet sich mit der zunehmenden Verbreitung der neuen (oder: digitalen) Medien ein komplexer Prozess der „Mediatisierung“ (vgl. Krotz 2007: 38 ff), der weit über den Medienverbund hinaus reicht und gesellschaftsweite Konsequenzen hat: Das Internet ist mittlerweile ein komplex strukturierter und sich dynamisch strukturell entwickelnder Sinn-, Informations- und Kommunikationsraum, eine Welt von Sinn- und Sozialwelten, die – wie die Massenmedien, aber in anderer Weise – alle sozialen Felder (Subsysteme) und Daseinsaspekte in sich ‚aufführt‘, miteinander verbindet, mindestens berührt, wenn nicht prägt. (Willems 2008: 7)
Man kann sich diesen Entwicklungsprozess vielleicht als eine fortschreitende ‚Veralltäglichung‘ vorstellen, die sich einerseits darin äußert, dass (internet-)mediale Anwendungen in den Alltag Einzug halten und Alltagsrealitäten mitbestimmen bzw. prägen, die andererseits aber auch zu einer zunehmenden Verlagerung alltäglichen Handelns in den digitalen Raum führt – etwa im Bezug auf persönliche und professionelle Beziehungsanbahnung und -pflege, den Erwerb und die Weitergabe von Wissen etc. (vgl. ebd.: 11). Diese Veralltäglichung der neuen Medien – bzw. umgekehrt formuliert: die fortschreitende Medialisierung unseres Alltags – macht es zunehmend schwierig, den medialen Handlungsraum in seinen besonderen Voraussetzungen zu verstehen und die Probleme zu berücksichtigen, die das Medienhandeln prägen und bestimmen. Denn während im weltweit synchron operierenden „Netz-Medium“ (Neverla 1998) einerseits die „Erreichbarkeit“ (Luhmann 2001: 78) des Einzelnen drastisch gestiegen
31 Man denke etwa an Reality-Shows wie „Big-Brother“ oder „Ich bin ein Star -Holt mich hier raus“, in denen systematisch Privat- und Intimsphären ‚veröffentlicht‘ werden und die einerseits mit rituellen Verletzungen des Selbstes spielen, andererseits aber auch zeigen und aufführen, dass der Erfolg letztlich von gelungenen Selbstinszenierungen abhängt, die sich gegenüber den verschiedensten Image-Bedrohungen behaupten können.
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ist, erschweren andererseits zahlreiche Kontingenzen, die sozusagen in der Natur einer „Interaktion ohne Gegenüber“ (vgl. Ayaß 2005) liegen, die Annahme-Prozesse und Sinnselektionen von Kommunikation bzw. stehen dem Verstehen im Wege, dass überhaupt kommuniziert wird (vgl. Luhmann 2001: 78 ff). Damit sind Fragen aufgeworfen, die gerade eine wissenssoziologische Auseinandersetzung mit den neuen Medien anleiten und bestimmen sollten: Es geht um die Struktur und Organisation menschlicher Erfahrung im virtuellen Raum bzw. genauer: um die „Organisationsprinzipien“ (Goffman 1980: 19), die den Erfahrungen im medialen Alltagsraum ihre spezifische Kontur und Gestalt verleihen und es dem Nutzer möglich machen, die hier stattfindenden Operationen überhaupt als soziale Wirklichkeit zu begreifen. Bei der dramatologischen Auseinandersetzung mit den neuen Medien ist dieser Problemkontext gleich in unterschiedlicher Hinsicht von Bedeutung. Zum ersten liegt auf der Hand, dass „Handeln und Zuschauen“ (Uri Rapp) durch die medialen Strukturen beeinflusst und beeinträchtigt werden. Gerade die Wahrnehmungschancen des Handelnden – seine situative „Perspektivität“ (Rapp 1973: 62) – reduzieren/reduziert sich im Medienraum meist drastisch, denn die Akteure ‚begegnen‘ hier keinem körperlichen Gegenüber, das sie als Zeichenträger auslesen könnten. Noch beziehen sie sich auf materielle Räume, die sich atmosphärisch wahrnehmen oder erleben ließen, geschweige denn als Ressourcen theatralen Handelns zur Verfügung stünden. Es geht also um ein Umfeld, das zunächst einmal in jeglicher Hinsicht ‚anregungsarm‘ ist und keinerlei Kontextinformationen bietet, auf die sich Wahrnehmungsund Interpretationsprozesse beziehen könnten. Die ‚Situation‘, in der Handeln stattfindet, ist damit prinzipiell undefiniert – sofern man sie (mit Goffman) als das versteht, „dem sich ein Mensch in einem bestimmten Augenblick zuwenden kann“ (Goffman 1980: 16), sollte man vielleicht sogar besser von ‚Nicht-Situationen‘32 sprechen. Dennoch ist anzunehmen, dass sich menschliches Handeln diesem Umfeld angepasst und dabei auf den verschiedensten Ebenen Problemlösungen erarbeitet und intersubjektiv verfügbar gemacht hat. In diesem Zusammenhang geht es auch und vor allem um weitgehend standardisierte Darstellungspraxen, die die verfügbaren Materialien in einer kreativen Weise nutzen, um Kontexte zu erzeugen an denen sich weitere Handlungen ausrichten können: deskriptive Selbstbeschreibungen in der Chat oder MUD-Kommunikation (vgl. Turkle 1995), grafisch gestaltete Topografien, wie sie interaktive Benutzeroberflächen bieten (vgl. Pranz 2008), Avatare und Spielfiguren in Online Rollenspielen etc. In den kontextreduzierten Settings der computervermittelten Kommunikation treten diese Darstellungen – so ungenügend sie auch sein mögen – an die Stelle der, durch den Vermittlungsprozess ausgeblendeten Informationen. Damit stellen sie Ankerpunkte für primäre Rahmungen/erste Eindrücke dar, aus denen sich oftmals weitreichende soziale Realitäten ergeben: Geschlechtsidentitäten und Rollenzuteilungen, kommunikative Erwartungen und Klischeevorstellungen, Raumatmosphären usw. Ebenso wie man es mit Goffman für die Interaktion unter Anwesenden feststellen kann (vgl. Abschnitt 1), geht es hier also im weitesten Sinne um theatrale „Ersatzinformationen“, die umso größere Bedeutung erlangen, je mehr die Realität der Wahrnehmung entzogen ist. Die besondere Komplexität des medialen Handlungsraumes – in dem letztlich alles, was programmierbar ist, auch im Bereich des prinzipiell Möglichen liegt (vgl. Thiedeke 2005: 75) 32 So könnte man es vielleicht in Anlehnung an Augés Begriff des „Nicht-Ortes“ (1994) formulieren. Für eine, auf die neuen Medien bezogene Auslegung des Begriffs vgl. Stepnisky (2006).
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– wird damit insofern reduziert, als dass die verschiedenen Präsentationsformen jeweils spezifische Erwartungsmuster aufrufen und koordinieren bzw. Lesarten bereitstellen, mit denen sich das Dargestellte als Wirklichkeit verstehen und einordnen lässt. Anders gesagt: es geht um eine „Darstellung und Inszenierung im Dienste des Verstehens“ (Willems 1998: 27). Ich möchte die verschiedenen Implikationen des vorgestellten Theatralitätsbegriffs im Folgenden empirisch überprüfen und illustrieren. Mit dem Cybersex-Chat stelle ich einen, in diesem Sinne maßgeblich theatralisierten Kommunikationstyp vor. Die Handelnden setzen hier anhand besonderer Rahmenklammern und sprachlicher Markierungen eine gemeinsame Handlungsumgebung in Szene, die alle folgenden Ereignisse interpunktiert und strukturiert. Die von mir ausgewählten Beispiele beziehen sich dabei vor allem auf die Inszenierung des Körpers, der im ‚körperlosen‘ Datenraum zunächst einmal als Handlungsträger glaubhaft gemacht werden muss. In ähnlicher Weise, wie man es für das Theater formulieren kann, sind der Körpereindruck, sowie die daran orientierten Erwartungen der ‚Zuschauer‘, hier das Ergebnis einer spezifischen Performativität, die den Zeichenmodus des Geschehens festlegt und anzeigt (vgl. Eco 2002: 276). Die Interaktion des Cybersex kann also nur dann gelingen, wenn die Inszenierung des Sex-Körpers gelingt und von den Beteiligten eine intersubjektiv gültige Körperordnung etabliert wird, an der sich die kommunikativen Erwartungen erster und zweiter Ordnung ausrichten können. Darüber hinaus verdeutlicht dieses Beispiel, dass die wechselseitig entworfenen Körperinszenierungen seitens der Akteure immer auch mit sozialen Bedeutungen aufgeladen werden und damit mehr oder weniger weitreichende soziale Realitäten erzeugen. Der besondere Kommunikationsraum des Cybersex fungiert also durchaus als ein authentischer Erlebnisraum: But for others, roleplaying is an end unto itself, an art, another type of sex altogether. (…) They do it because of the unique experiences, and exploration that can happen in a virtual environment. (…) The only limits are the players‘ vocabulary and their imaginations.33
Damit steht der Cybersex exemplarisch für viele andere Spiel-Welten in den neuen Medien. Es geht hier um komplex gerahmte Wirklichkeiten, die sich alle durch eine besondere – dem Theater ähnliche – Unernsthaftigkeit auszeichnen und dabei einerseits genügend Bedeutungsüberschüsse und Kontingenzen erzeugen, um soziales Handeln tiefenscharf abbilden zu können, andererseits aber auch über spezifische Erwartungs- und Organisationsstrukturen verfügen, ohne die sinnvolles Handeln letztlich nicht möglich wäre.
33 So die Selbstbeschreibung einer Chatterin auf ihrem Blog. http://theroleplayer.blogspot.com/2004/12/what-this-is-about.html, 14.4.08.
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3. „Wanna play?“34 – Die Inszenierung des Körpers im Cybersex Wie oben ausgeführt, erzeugen die besonderen Vermittlungsbedingungen der neuen Medien ein komplex strukturiertes Feld der Theatralität, das sich trotz seiner eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht durch erweiterte Handlungs- und Darstellungsoptionen kennzeichnet. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Frage danach, was noch glaubhaft darstellbar ist. Denn wie bereits erwähnt, ist es in den meisten Interaktionskontexten kaum möglich, ‚Backstage-Informationen‘ zu erhalten – also einen Eindruck davon zu bekommen, was sich unter der Oberfläche und hinter den Masken befindet. Gerade für direkte Interaktionstypen die über das Medium der „Kommunikationsschrift“ (Luhmann 1997: 279)35 prozessieren gilt damit, dass sich die Fremdwahrnehmung auf ‚Daten‘ bezieht, über die der Akteur selbst gewissermaßen eine vollständige „Ausdruckskontrolle“ (Goffman) besitzt. Gleichzeitig entsteht aber auch eine gewisse Notwendigkeit, sich selbst darzustellen und damit etwas an die vermittlungsbedingte Leerstelle zu setzen. Diese Dialektik zwischen einem maßgeblich erweiterten Selbstdarstellungsspielraum auf der einen und einem dauerhaften performativen Zugzwang auf der anderen Seite kennzeichnet die kommunikative Gattung des Cybersex-Chats. Der Cybersex, so wie er hier verstanden wird, stellt eine mit der Chatkommunikation eng verwandte Spezialkultur36 dar, bei der die Beteiligten arbeitsteilig eine erotische Fiktion entfalten: eine „virtuelle(...) Inszenierung“ (Döring 2000: 26), die ausschließlich mit den Mitteln der Schriftsprache realisiert wird. Es geht also um ein Phänomen, das maßgeblich von den gattungsspezifischen Strukturen der Chatkommunikation geprägt ist. Hier seien nur kurz drei zentrale Aspekte genannt, die für meine Ausführungen von Bedeutung sind:37 (1) Auch wenn es im Chat möglich ist, nahezu synchron Mitteilungen auszutauschen, reduzieren sich die stattfindenden Interaktionen auf den einzigen verfügbaren Kanal der digitalen Kommunikationsschrift. Das macht einerseits besondere sprachliche Mittel erforderlich, anhand derer außersprachliche Informationen kompensiert werden können. Andererseits müssen die daraus resultierenden kommunikativen Bedeutungsebenen innerhalb der Schriftsprache markiert und abgegrenzt werden. Beide Bezugsprobleme haben das Sprachbild der kommunikativen Gattung des Chattens maßgeblich geprägt (vgl. Pranz 2009: 49 ff). (2) Die sequenzielle Ordnung ist durch die besonderen Vermittlungsstrukturen maßgeblich gestört und kann nicht nach dem Prinzip der „local relevance“ (Herring 1999) operieren. Entsprechend werden (meta-)kommunikative Abstimmungsprozesse notwendig bzw. muss sich die Kommunikation auf erhebliche Bedeutungsunschärfen und andere Kontingenzen einstellen.
34 So wörtlich die Gesprächsinitialisierung einer weiter unten ausschnittsweise zitierten Cybersex-Interaktion (vgl. Fußnote 43). 35 Für eine auf die neuen Medien bezogene Lesart dieses Begriffs vgl. (Willems/Pranz 2006: 87 ff). 36 Vielleicht könnte man hier auch von einem „Genre-Rahmen“ sprechen, der – ähnlich wie es Willems im Bezug auf die Pornografie feststellt –, „ein spezifisch strukturiertes Feld der Sinnvariation und Sinnstrukturierung“ etabliert, also z.B. „einen variablen Raum von Obszönität innerhalb von Grenzen, die die Identität des Rahmens setzt.“ (Willems 2001: 394). 37 Für einen Überlick vgl. Kardorff (2008: 23f.).
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(3) Die Beteiligten agieren prinzipiell unter einem Pseudonym, das innerhalb der Kommunikation Wiederidentifizierbarkeit und Adressierbarkeit garantiert aber darüber hinaus keinerlei Kontextinformationen bereitstellt. Es geht also um ein kommunikatives Klima, dem riskante Selbstdarstellungen sehr nahe liegen und das es erlaubt, devianten kommunikativen Bedürfnissen weitgehend konsequenzlos nachzugehen. Ebenso wie man es auch für den Chat im Allgemeinen formulieren kann, kennzeichnet sich der Cybersex durch gattungsspezifische Absicherungsroutinen (wie etwa Adressierungen, Reparaturen, Kennzeichnungen von Kanälen durch bestimmte sprachliche Marker etc.), die auf die skizzierten Strukturmerkmale reagieren und ohne die eine sinnvolle Interaktion schwierig wäre. Von besonderem Interesse ist dieser Interaktionstyp hier aber aufgrund einer Reihe von Spezial-Problemen, die gewissermaßen in der Natur des mit ihm verbundenen kommunikativen Sujets liegen. Denn im Unterschied zum informellen ‚Plaudern‘ (Chatten), das sich durch häufige Wechsel der Themen bzw. der beteiligten Gesprächspartner kennzeichnet, erfordert der intime Rahmen des Cybersex stabile Erwartungsstrukturen und „Handlungsausschnitte“ mit einer „sich länger hinziehende[-n] Organisationsidentität“ (Goffman 1980: 534).38 So werden bspw. eigene Gesprächs-Initialisierungen notwendig, die einerseits einen stabilen Erwartungshorizont etablieren, andererseits aber auch den situativen Kontext der Kommunikation abstecken müssen. Im folgenden Beispiel genügen dazu 5 turns: (Beispiel 1)39 A: A: B: A: B:
hi let‘s have sex asl?40 18/m/usa sure
Aber auch nach der erfolgreichen Gesprächsinitiation sind besondere Absicherungen und Abstimmungsprozesse nötig, mit denen sich die (delikaten) Erwartungen erster und zweiter Ordnung kommunizieren und koordinieren lassen. Dies geschieht, indem sich die sexuelle Interaktion im Folgenden in Form eines schriftlichen Rollenspiels entfaltet, in dessen Zentrum die Darstellung der handelnden Körper und des Settings bzw. die Inszenierung ganzer Handlungszüge steht: (Beispiel 2)41 A: A: B:
I‘ve got blond hair, blue eyes, I work out a lot. And I have a part time job delivering for Papa John‘s. You sound sexy. I bet you want me in the back of your car.
38 Diese Tatsache schließt ‚teilnehmende Beobachtungen‘ als Möglichkeit der Datenerhebung aus. Die hier verwendeten Logfiles verdanken sich der offenbar gängigen Praxis, besonders gelungene sexuelle Interaktionen auf der eigenen Homepage zu publizieren (siehe unten). 39 http://www.irc-junkie.org/content/l-cybersexnot.php, 16.3.08. 40 age, sex, location. 41 http://www.duke.edu/~dms6/jdogg.htm, 28.1.07.
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(Beispiel 3)42 A:
in der schublade rechts neben mir liegt ein dildo. jetzt habe ich nichts mehr an... (...) B: aha, weiß was du willst, hoffentlich hat der stuhl armlehnen, halte dich lieber daran fest bevor du mir schreiend die hände in den hals krallst. (...) B: was dagegen wenn ich dir die hände an den stuhl binde? A: mit vergnügen
(Beispiel 4)43 A: It‘s SO cold here... A: snow and wind and just nastiness B: I liked that environment, felt cosy A: Yes..very nice. B: well try to block it out and iimagine yourself in my big Victorian house, in my room, sofas by the fire, soft rugs, big bed, wine on the table etc
Wie die Beispiele zeigen, werden hier Kontextinformationen generiert, die ein Set an Rollen und Handlungsscripts ins Spiel bringen und damit die situativen Rahmenbedingungen der Interaktion sowie ihre spezifische Dramaturgie abstecken. Dabei wird eine besondere, dem Chat eigene Performativität deutlich: Die Akteure projizieren ihre Sicht der Dinge über wechselseitigen Selbst- und Fremdbeschreibungen und fügen so der kommunikativen Situation Schritt für Schritt weitere ‚Sinn-Bausteine‘ hinzu, die sich von keinem der Beteiligten zurücknehmen lassen. Das macht den Cybersex zu einem besonders prekären Interaktionstyp, in dem der Akteur die Kontrolle über die eigene Körperinszenierung immer auch ein Stück weit an seine Interaktionspartner abgeben muss: (Beispiel 5)44 A: I‘m gulping, I‘m beginning to sweat. B: I‘m pulling up your shirt and kissing your chest. A: Now I‘m unbuttoning your blouse. My hands are trembling. B: I‘m moaning softly. A: I‘m taking hold of your blouse and sliding it off slowly.
(Beispiel 6)45 A: and I tug the jumper off over your head A: and unclip your bra (if you’re wearing one) A: until you’re naked
42 43 44 45
http://www.lespress.de/1098/texte1098/hot.html, 18.3.06. http://theroleplayer.blogspot.com/2005/01/threesome-part-one.html, 28.1.07. http://www.nicola-doering.de/PESI/netsexlog.html, 22.3.2006. http://theroleplayer.blogspot.com/2004/12/alternate-cybering-part-1.html, 15.4.08.
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Das Sujet der sexuellen Interaktion fungiert in diesem Zusammenhang als ein effizienter Garant dafür, dass Bedeutungsüberschüsse auch im Sinne der Dramaturgie weiterverarbeitet werden: Sofern die Aufforderung zum Cybersex angenommen wird, liegt es gewissermaßen in der Natur der Situation, dass der fiktive Körper Schritt für Schritt enthüllt wird, die Atmosphäre sich Zug für Zug verdichtet und es schließlich zum (fiktiven) Koitus kommt. Wenn einer von beiden Partnern aus diesem Erwartungshorizont ausbricht, hat das denn nicht nur Konsequenzen für die gemeinsame Aufführung, sondern eben auch für den Rahmen der intimen Kommunikation und die damit aufrecht erhaltene Definition der Situation. Die Wirklichkeit der erotischen Interaktion ist in diesem Sinne eine maßgeblich theatralisierte Wirklichkeit: Die Chatter begreifen sich – hier mehr als anderswo – als ‚Spieler‘ und reflektieren ihre Praxis und die damit verbundenen Kompetenzen vor diesem Hintergrund. Ich zitiere im Folgenden etwas ausführlicher aus einem Rollenspiel, in dem sich diese theatrale ‚Sicht der Dinge‘ besonders deutlich zeigt: (Beispiel 7a)46: [1] A: (...) do you have the energy for roleplay, or shall we just slip into bed? [2] B: I‘d rather rp – I can‘t just slip into bed – I‘m not wired that way [3] A: that case, let‘s go with the one I emailed to you. [4] B: excellent – I LIKE it! [5] A: You‘re in your room upstairs, I‘m down here relaxing. [6] B: (ok – and very quickly – what do I wear?) [7] B: (so I know how to take it off....*grin) [8] B: (or at least get it out of the way) [9] A: today, a pretty maid‘s outfit, no panties, the rest I‘ll let you expand on [10] B: Ok... black with white collar and cuffs [11] B: short [12] B: black stockings with suspenders, and high heels [13] A: I‘m quite rich in this one, so maybe a cream linen suit, fashionable, cool and sexy [14] B: excellent
(Beispiel 7b) [1] A: Bend over the desk, please, B. [2] B: (would you like me to be „knowlegeable“ about this or not?) [3] A: (No, this is the first time this has ever happened to you – you don‘t know what to expect, though you have your suspicions, of course) [4] B: *My eyes snap wide, I don‘t really understand what your asking me to do [5] B: Sir? Excuse me, I don‘t understand... [6] A: I‘m asking you to bend over the desk, kate. I was very clear.
46 Hier und im Folgenden: http://theroleplayer.blogspot.com/2004/12/punishing-maid-roleplay-training-for.html 15.4.08
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(Beispiel 7c) [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8]
A: B: B: B: A: A: B: B:
Now I‘m going to have to spank you. *gasping...... Oh NO Sir! (how are you feeling about this? Is it getting you hot?) B, I‘ve told you already, if you keep arguing like this, it‘ll be all the worse for you. (yes it is – is it okay for you or too slow?) (no – it‘s lovely ) Please Sir....
Beispiel 7a zeigt, dass die Akteure zunächst einen situativen Rahmen abstecken müssen, wobei sie sich auf ein Set aus Rollen und Kulissen bzw. ein dramatisches Szenario einigen. Hier und im Folgenden (7a-c) lassen sich zwei Handlungsmodi feststellen, die jeweils auf verschiedenen Kanälen prozessiert werden: die Ebene des Spiels, auf der sich das Sujet ‚Hausherr bestraft unartiges Dienstmädchen‘ entfaltet, sowie eine sekundäre Interaktionsebene (durch Einklammerungen gekennzeichnet), auf der die sexuellen Erwartungen (und Erwartungserwartungen) vor dem Hintergrund des dramatischen Horizonts koordiniert werden. Dabei stellen die Handelnden unter Beweis, dass sie durchaus in der Lage sind, gleichzeitig als Spieler und Regisseure ihres Dramas, wie auch als dessen Konsumenten zu operieren. Es geht hier also um ein besonders klares „Rahmenbewußtsein“47 bzw. um die Fähigkeit, sich ernsthaft auf etwas einzulassen, das selbst unernst ist. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Cybersex-Chat in verschiedener Hinsicht einen Interaktionstyp darstellt, dessen besondere Theatralität den Akteuren nicht nur bewusst ist, sondern darüber hinaus auch immer wieder zum Gegenstand bewusster Reflexionen und Thematisierungen wird – etwa wenn die Chatter ihre intimen Interaktionen auf einschlägigen Weblogs zugänglich machen und dadurch gewissermaßen die eigene (theatrale) „Spielerkompetenz“ (Goffman 1981: 86) präsentieren und zertifizieren.48 Wie deutlich geworden sein sollte, geht es jedoch nicht nur um ein Spiel vor einem und für ein Publikum, sondern eben auch um eine tiefer greifende Notwendigkeit zum Spielen, die letztlich auf die oben angesprochenen Strukturmerkmale der computervermittelten Interaktion zurückzuführen ist. Ich habe in diesem Zusammenhang von einem performativen Zugzwang gesprochen, der letztlich alle Formen der CMC berührt: Der Handelnde tritt nur dann in Erscheinung, wenn er sich selbst zum Gegenstand von Kommunikation macht; er wird erst dann wahrnehmbar, wenn er sich selbst zur Aufführung bringt. Und dabei hat er es – unabhängig vom Vertrautheitsgrad der Beziehung – ausschließlich mit Interaktions47 So hat es Herbert Willems im Bezug auf den Rahmen der Pornographie formuliert (Willems 1997: 419). 48 Dazu ist anzumerken, dass sich mit einigen Spielarten des Cybersex eine regelrechte Publikumskultur verbindet – es also nicht nur ‚Akteure‘, sondern eben auch Rezipienten gibt, die diesen Typ von Erotik goutieren und nachfragen. Dies illustriert der folgende Textauszug aus einem Weblog, auf dem der Autor die Log-Files seiner erotischen Begegnungen publiziert und so gewissermaßen nachträglich „in anderen Zusammenhang stellt“ (Goffman 1980: 87 ff): „What follows is a cyber roleplay session between me and ‚Kate‘ (name changed) (…) I thought, consequently, that it might be an interesting one to start with. If you‘re at all familiar with my blog, you‘ll possibly have seen a version of this posted in there – this is a much fuller version, with Kate‘s ‚training‘ comments intact, which might help give a better insight into the process.“ http://theroleplayer.blogspot. com/2004/12/punishing-maid-roleplay-training-for.html 15.4.08.
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partnern zu tun, für die das Gleiche gilt, wobei es schwer bis unmöglich ist, einen Blick hinter diese Fassade zu werfen. Darüber hinaus habe ich versucht zu zeigen, dass die spezifische Theatralität des Cybersex-Chat auch unter interaktionssoziologischen Gesichtspunkten von Interesse ist. Wenn man bedenkt, dass ein derart virtualisierter Interaktionstyp nicht ohne spezifische kommunikative Absicherungen auskommen kann, mit denen sich die Erwartungen und Erwartungserwartungen der Handelnden stabilisieren lassen, dann ist es von besonderer Bedeutung, dass sich die Situation in Form eines Rollenspiels entfaltet und von den Akteuren auch als solches verstanden wird: Es geht hier um einen Rahmen, der nicht nur ein Set aus Rollenzuweisungen, Handlungsscripts und Raum-Beschreibungen ‚ins Spiel‘ bringt, sondern es zudem erlaubt, das besondere Sujet als Aufhänger einer Dramaturgie einzusetzen, anhand derer die spezifischen Lesarten und (Re-)Kontextualisierungen der Beteiligten ‚spieldienlich‘ und im Sinne der Situation koordiniert werden können.
4. Zusammenfassung und Schluss Ich skizziere im vorliegenden Text einen Theatralitätsbegriff, der die besonderen Kontextbedingungen der computervermittelten Kommunikation berücksichtigt und von einer Interaktion körperlich abwesender Akteure ausgeht. Im Zentrum meiner theoretischen Überlegungen steht dabei eine rahmenanalytische ‚Lesart‘ des Theaters, die weniger nach den theatralen Wirkungslogiken im Prozess unmittelbarer Aufführungen fragt, sondern Theatralität vor allem im Zusammenhang mit einer höchst voraussetzungsvollen Interpretationsleistung des Zuschauers versteht, der letztlich auf die Frage rekurriert, „was geht eigentlich vor?“. Es geht also um ein theatrales Rahmungswissen, das spezifische Transformationspraxen, Zeichenklassen und semiotische Konventionen (vgl. Eco 2002: 267f.) sowie Rollen und daraus resultierende Sinnzuschreibungen (vgl. Rapp 1973: 48) umfasst, ohne die das Geschehen auf der Bühne seitens der Akteure wohl nicht realisiert und seitens der Zuschauer nicht verstanden werden könnte. Ich habe hervorgehoben, dass dieses Wissen im sozialen Anlass des Theaters verankert ist, und damit gewissermaßen durch sekundäre Absicherungen stabilisiert wird, aber nicht auf dessen institutionelle Grenzen beschränkt bleibt – das zeigen beispielhaft meine Ausführungen zum Performance-Theater, das eben auch dann noch als Theater ‚funktioniert‘, wenn es die, mit der abendländischen Theatertradition verbundenen Rahmenklammern (vgl. Goffman 1980: 279f.) auflöst und die Aufführung in ein neues Setting einbindet. Vielmehr geht es um einen gesellschaftlichen Zeichenhaushalt, dessen Bedeutung in allen Feldern der Gegenwartsgesellschaft zunimmt und der auch und gerade im Hinblick auf die digitalen Medien eine eigene Relevanz besitzt. Vor diesem Hintergrund werden Strukturähnlichkeiten zwischen dem Theater und den digitalen Medien deutlich, die sich sonst nicht erfassen ließen. Anders gesagt, lässt sich die medienspezifische Strukturlogik aus der dramatologischen Perspektive als ein Problem der Repräsentation begreifen, dem besondere Inszenierungs- und Darstellungstypen bzw. daran anschließende Wahrnehmungsgewohnheiten und Deutungspraxen gegenüber stehen, die auf
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weitgehend standardisierte Zeichensysteme und Einklammerungskonventionen rekurrieren. Das gilt z.B. für den Cybersex-Chat (und alle damit vergleichbaren kommunikativen Gattungen), in dem Handeln und Verstehen im Rahmen einer besonders inszenierten Situation koordiniert werden. Ich habe exemplarisch gezeigt, dass körperliche Kopräsenz hier über wechselseitige Selbst- und Fremdbeschreibungen kompensiert wird, wobei die performative Ebene über die Verwendung spezifischer sprachlicher Marker von einer primären Informationsebene zu trennen ist. Der Handelnde muss also sowohl die Einklammerungskonventionen kennen, ohne die er nicht einmal zwischen ‚Tun‘ und ‚Sagen‘ unterscheiden könnte, als er auch im Allgemeinen über ein gattungsspezifisches Wissen verfügen muss, das es ihm ermöglicht, die höchst verdichtete und abstrahierte Schriftsprache überhaupt als Situation zu verstehen und angemessen zu ‚re-kontextualisieren‘. Dabei ist er insofern entlastet, als sein Handeln innerhalb einer Dramaturgie stattfindet, die eine spezifische Interaktionsordnung und einen stabilen Erwartungshorizont impliziert. Es geht somit um einen theatralen Rahmen, innerhalb dessen sich Sinn ein- und ausschließen lässt bzw. um eine theatrale Form der context creation49, die gleichermaßen Bedeutungsspielräume eröffnet, wie sie Kontingenzen und Irritationen reduziert. Ich habe mit den vorgestellten Überlegungen versucht zu zeigen, dass der Begriff der Theatralität geeignet ist, die Wirklichkeit der digitalen Medien zu beschreiben und zu erfassen. Das dabei zugrunde gelegte Verständnis richtet sich in erster Linie an der Dramatologie Erving Goffmans aus und erlaubt es so, die besonderen wissenssoziologischen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den neuen Medien als Raum von Alltagshandeln ergeben, in den Blick zu nehmen: Wie kann dieser Medientyp soziale ‚Wirklichkeiten‘ hervorbringen und strukturieren? Wie lassen sich diese Wirklichkeiten von den Handelnden erfahren und einordnen? Und schließlich: welche Wandlungsprozesse werden dadurch angestoßen, dass sich menschliche Kommunikation auf medialisierte Wirklichkeiten einstellt? Die medienspezifischen Probleme, die dem situativen ‚Verstehen‘ in den verschiedenen Kontexten der computervermittelten Kommunikation gegenüber stehen, liegen auf der Hand und reichen von fehlenden Bezugsräumen, gestörten interaktionalen Ordnungen und reduzierten Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zu drastisch veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmungen, aus denen spezifische kommunikative Absicherungen und Authentifizierungen resultieren bzw. neue Formen der Selbstinszenierung und daran anschließende Erwartungen und ‚Erwartungserwartungen‘. Ich habe einige der Ordnungssysteme beschrieben, auf die der Handelnde im virtuellen Alltagsraum rekurriert, und bin dabei von der Annahme ausgegangen, dass die besondere ‚Problemlage‘ der digitalen Medien prinzipiell mit der des Theaters vergleichbar ist. Denn ebenso, wie es im Theater der Fall ist, geht es in den digitalen Medien um eine Symbolisierung von Wirklichkeit (vielleicht könnte man mit Niklas Luhmann auch von einer „Realitätsverdopplung“ sprechen. Vgl. Luhmann 2002: 58.), wobei der Betrachter über ein spezifisches Wissen verfügen muss, um an dieser Realität teilhaben zu können.
49 Natascha Adamowsky spricht in diesem Zusammenhang auch vom „ludischen Rauschen“ (Adamowsky 2000: 40).
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Homepages und Videoclip-Portale als Schauplätze theatraler Imagearbeit und ritueller Kommunikation von jungen Menschen Klaus Neumann-Braun
In den 2000er Jahren war die Sendung „Big Brother“ in aller Munde: Im Fernsehen wurden junge Leute gezeigt, die sich rund um die Uhr selbst zu präsentieren hatten. Das audiovisuelle Real People-Format trat damit unwiderruflich seinen Siegeszug an. Ähnlich wie beim Medium Kino, wo der professionelle (Breitwand-)Kinofilm vom Laien-Heimkino (zunächst Super 8, heute Digicam-Technik) begleitet wird, versuchten sich innovationsfreudige Amateure auch an der Reality-TV-Idee und nutzten die sog. Homecam-Technik: Sie stellten sich und ihr Leben im Internet auf ihren privaten Homepages dar. Diese neue Webcam-Kommunikation bestimmte fortan die öffentliche Debatte mit und löste das bis dahin prominente Thema Chatten ab (vgl. Neumann-Braun 1999; Marotzki/Neumann-Braun 2001). Der erste Teil der vorliegenden Arbeit (I „Auftritt für jedermann“) entstand auf der Grundlage eigener Forschungen in den Jahren 1998 bis 2002. Mit ihnen wurde versucht, eine erste Einschätzung der Formensprache und Gründe für diese Art der Selbstpräsentation im WorldWideWeb zu geben. Insofern vermögen die folgenden nahezu unveränderten 2002 veröffentlichten Ausführungen aus heutiger Sicht auch einen Einblick in die damals gerade erst entstehende Debatte der beginnenden Übernahme des Netzes durch die Menschen selbst zu geben – eine Entwicklung, die später den Namen „Web 2.0“ erhalten sollte. Die Zeiten eines solchen Webcam-Einzelkämpfertums sind längst vorbei. Heute gibt es „Social NetworkSites“ wie bspw. „MySpace“, „Bebo“, „StudiVZ“. Einer der Global Player ist „Facebook“: Nummer sechs der meistbesuchten Websites der Welt mit einem geschätzten Marktwert von ca. 15 Milliarden Dollar. Facebook wurde 2004 vom 19-jährigen HarvardStudenten Mark Zuckerberg gegründet und war zunächst nur für die Studierenden der IvyLeague-Universitäten gedacht. Seit 2006 steht das Netzwerk jedermann offen. Die Mitgliederzahl explodiert: Im März 2008 gab es 67 Millionen aktive Nutzer. Täglich laden diese User 14 Millionen Fotos auf die Website, auf der bereits 2,7 Milliarden Fotos gespeichert sind/sein sollen. Der Gedanke, sich selbst zu präsentieren und sich mit Bildern, Texten und Tönen zu inszenieren, ist für viele selbstverständlich geworden. Der Reiz des Besonderen, der den ersten Webcam-Bildern zugesprochen wurde, ist vergangen, die Real People-Idee hat sich nicht nur im Fernsehen sondern auch im Netz veralltäglicht. Waren in den Pionierzeiten die Homecam-Bilder noch stehend und ohne Ton und wurden nur alle paar Minuten aktualisiert, haben sie heute längst laufen gelernt. Portale wie „Clipfish“ oder „YouTube“ zeigen in unendlichem Ausmaß Clips, die gleichermaßen von Profis wie von Laien
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Klaus Neumann-Braun
produziert und eingestellt werden. Interessant sind im hiesigen Zusammenhang der Prozesse der Selbst-Theatralisierung diejenigen Clips, in denen sich junge Menschen vor den Net-Peers präsentieren und eine Kommentierung durch Gleichaltrige resp. Gleichgesinnte erfahren. Man könnte diese Konstellation im Aufgriff des oben genannten Titels „Auftritt für Jedermann“ als ein „Auftritt mit Peer-Review“ bezeichnen: Teil II wird diesen Aspekt, das Netz als Schauplatz für sequenziell-ritualisierte identitäre Aushandlungsprozesse, aufgreifen und perspektivisch ausführen.
Teil I: Auftritt für jedermann (2001/2)1 1. Homecam-Kommunikation oder: Werbung in eigener Sache Wer Homecam-Adressen im WWW aufsucht, lässt sich auf die Normalität des Alltags ein: In der Regel sieht man (Stand-)Bilder aus einer gewöhnlichen Wohnung mit mehr oder minder unspektakulärem Mobiliar; mal ist eine Person zu sehen, wie sie in der Küche steht oder wie sie vor dem Computer sitzt und arbeitet, mal erscheint das Bild eines Haustiers, mal ist die Person im Gespräch mit einer anderen zu betrachten; oder aber die Wohnung ist leer – der Protagonist(In) ist vermutlich ausgegangen – oder sie ist dunkel, dann ist Nacht und alles schläft und der neugierige Zuschauer blickt ins Schwarze. Für einen außen stehenden Betrachter mutet das Präsentierte ob seiner Gewöhnlichkeit ungewöhnlich an: Was wird mit einem solchen Webcam-Angebot eigentlich präsentiert?2 Diese Frage stellt sich umso dringlicher, geht es bei diesen Wohnungs- und Familienbildern um keinen Kommerz und insbesondere auch nicht um Erotikangebote. Die Bilder sind vielmehr Teil der inzwischen ausufernden Praxis, in den Massen- und Individualmedien Privates öffentlich zu präsentieren. Für großes Aufsehen sorgte das Real-People-TV-Format ‚Big Brother‘/BB, aber die Geschichte der medialen Darstellung von Privatheit und Intimität ist bekanntermaßen länger: Vor BB wurde das ‚Reality-Fernsehen‘ gefeiert, davor gab es jedoch bereits lange den Dokumentarfilm sowie die z.B. radiophone Live-Reportage aus dem ‚richtigen Leben‘ von Leuten wie Du und ich – um nur einige Beispiele zu nennen. Den von professioneller Seite konzipierten Formaten sind – auch seit jeher – die von Amateuren adaptierten Spielarten zugeordnet: Zur Profi-Photographie gehört unweigerlich das ‚Knipserbild‘, zur Hollywood-Produktion das sog. Familienkino und zum Fernsehen der öffentlich-rechtlichen Anstalten und Sender das ‚Privatfernsehen‘ der Homecam-Kommunikatoren3.
1 Ich danke Dr. Axel Schmidt für Hinweise und Kommentare sowie Durchsicht des vorliegenden Gesamttextes. Teil I wurde wie erwähnt bereits 2002 veröffentlicht – siehe Neumann-Braun 2002. Entsprechend sind die aufgeführten Links in der Regel leider nicht mehr aktiv. 2 Die folgenden Ausführungen widmen sich dem Phänomen der Homecam-Kommunikation in produktanalytischer Perspektive. Zu rezeptionsanalytischen Fragen siehe Neumann-Braun/Schmidt 2000 sowie Reichertz 2001. 3 Inzwischen (Stand 2001) gibt es eine Reihe von Publikationen zum Big Brother-Format, siehe z.B. Bahlke et al. 2000, Haubl 2000, Mikos et al. 2000, Weber 2000. Zu Fragen der Nutzung von Medien- und Kommunikationstechnologien durch Amateure siehe bspw. Dahl 1983, Kuball 1980, Starl 1995.
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2. Das Spektakuläre der ersten Stunde veralltäglicht sich Die Homecam-Kommunikation4 umgab bis vor kurzem eine Aura des Innovativen, wenn nicht gar des Spektakulären: Die Multimedia-Technik war noch nicht so ausgereift wie heute, so dass die ersten, die aufbrachen, Bilder ihres Alltags ins Netz zu stellen, sich guten Gewissens als Trendsetter und Innovatoren verstehen konnten – das große öffentliche Interesse gab ihnen recht, keine Zeitung, kein Sender, der nicht ausführlich über die Anbieter der ersten Stunde (hier insbesondere über die Pionierin Jennifer Rigley (www.jennicam.org)5 berichtet hätte. Inzwischen hat ein Prozess der Veralltäglichung stattgefunden: Die Technik ist kostengünstiger geworden, nun auch leicht zu handhaben und es existieren viele Vorbilder resp. Ko-Kommunikatoren, die zur wechselseitigen Orientierung einladen. Einschlägige InternetExperten wollen im WWW entsprechend rund 30.000 solcher Adressen ausgemacht haben.6
3. Homecam als Medium der biographischen Kommunikation Häufig werden Webcam-Angebote mit anderen biographischen Materialien verschränkt: Neben den eigentlichen Live-Bildern aus der jeweiligen Wohnung sind bspw. noch Tagebuchaufzeichnungen, Traumprotokolle, Likes-and-Dislikes-Listen sowie ein Photoarchiv und gar nicht selten ein Chat und die fast schon obligatorische E-Mail-Adresse zu finden. Die intimen Bild-, Text- und Tondokumente protokollieren den Alltag umfänglich und reihen sich damit bestens in weitere Formen der Internet-öffentlichen Selbstdarstellung ein: Andere Zeitgenossen interessieren sich mehr für Bücher und schreiben auf den Homepages von Internetbuchhandlungen (z.B. www.amazon.de/Leserrezensionen) unter der Rubrik Rezensionen ihren eigenen ‚Lebensroman‘, ihre Biographie. Wieder andere führen als ‚Blogger‘ im Rahmen sog. Weblogs öffentlich Protokoll über ihr (Internet-)Leben: Die Grenzen zwischen Kom4 Die Homecam-Kommunikation basiert auf der Webcam-Technik: Es handelt sich bei den Webcams/InternetKameras um kleine bis kleinste digitale Kameras, die über einen Computer mit dem Internet verbunden sind. In frei festlegbaren Zeitabständen (z.B. alle zehn Minuten oder aber kürzer) produzieren die Kameras Bilder, die einem Computer übermittelt und auf einem Webserver abgespeichert werden. Über das Internet lassen sich die Bilder abrufen und betrachten. Findet eine häufige Bildaktualisierung statt, spricht man von Live-Stream-Cams. Sollen die Bilder auch vom Originalton begleitet werden, ist eine zusätzliche technische Voraussetzung notwendig, beim Anbieter in Form von Hardware und auf Anwenderseite durch spezielle Plugins oder ‚Mediaplayer‘ (für weitere Einzelheiten siehe Duhm 2000; Schmidt/Langmann 1999). Lassen sich die Kameras interaktiv über das Netz steuern, spricht man von Action-Cams oder Robot-Cams. Für den Einsatz von Internet-Kameras im häuslichen Rahmen hat sich der Begriff Homecam durchgesetzt. Weiterhin: Die meisten nicht kommerziellen Webcam-Angebote erinnern an alte Super 8-Zeiten, in denen Amateure ihren Alltag mit subjektiver Kamera aufgenommen haben (Kuball 1980). Das Wackeln der Bilder war Beweis für ihre Originalität. Heute werden solche Szenen mit Hightech-Kamera und PC eingefangen, dort erstarren sie und werden (meist) stumm, um dann oft genug in der alt bekannten Ästhetik einer Dia-Projektion veröffentlicht zu werden. In ihrer avancierten Form können Webcams hingegen als eine Art von Internet-TV bezeichnet werden. 5 Die Seite ist seit geraumer Zeit offline, findet sich aber komplett archiviert unter http://web.archive.org/web/*/ http://jennicam.org (Stand: 18.8.08). 6 Eine kommentierte Link-Liste zu einschlägigen Homecam-Adressen findet sich in Kitzmann 1999; siehe auch: www.allcam.com.
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mentierungen von selbst zusammengestellten Link-Listen, Tagebüchern und literarischen Experimenten sind mittlerweile fließend geworden (www.schockwellenreiter.de/directory/ weblogs/index).
4. Mediale Selbstpräsentation und Typisierungsformen des Biographischen Die angesprochenen medialen Techniken der Selbstpräsentation in der Massenkommunikation sind vielfältig und alltäglich zugleich geworden. Ganz offensichtlich folgen die Internetauftritte einer spezifischen Dramaturgie, die es im Weiteren zu entschlüsseln gilt. Hierfür erweist sich eine Bezugnahme auf die zentralen rollen- und theatersoziologischen Begriffe von Goffman als sinnvoll. In seiner Kommentierung soziologischer Handlungstheorien verortet Habermas (1981, Bd.1: 128) Goffmans Begriff der „Selbstpräsentation“ wie folgt: Der Begriff des dramaturgischen Handelns bezieht sich primär weder auf den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Gruppe, sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Aktor ruft in seinem Publikum ein bestimmtes Bild, einen Eindruck von sich selbst hervor, indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder Handelnde kann den öffentlichen Zugang zur Sphäre seiner eigenen Absichten, Gedanken, Einstellungen, Wünsche, Gefühle usw., zu der nur er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren. Im dramaturgischen Handeln machen sich die Beteiligten diesen Umstand zunutze und steuern ihre Interaktion über die Regulierung des gegenseitigen Zugangs zur jeweils eigenen Subjektivität. Der zentrale Begriff der Selbstpräsentation bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse.7
Bei der Webcam-Kommunikation kann entsprechend kein ‚bloß‘ registrierender, sondern nur ein re-konstruierender Modus der Alltagsdokumentation8 vorliegen: Das Leben wird nicht einfach so ‚wie es ist‘ von den eingerichteten Internet-Kameras abgebildet und protokolliert, sondern es erfolgt eine spezifische Darstellung von Leben, die sich an spezifischen Präsentationstypisierungen (Orientierung an gesellschaftlichen Deutungsmustern, ästhetischen Codes usf.) orientiert. Ohne solche sozial konstruierten Typisierungen wäre die gesellschaftliche Interaktion und Kommunikation gar nicht denkbar, ermöglichen diese überhaupt erst eine wechselseitige Orientierung und erfolgreiche Kooperation. Wer seine Identität aufbauen und wahren möchte (Ego), ist auf das gesellschaftliche Gegenüber (Alter) angewiesen. Soll Alter jedoch Ego überhaupt verstehen können, müssen gesellschaftlich bekannte und akzeptierte Darstellungsformen Verwendung finden, sonst reden und handeln die Akteure aneinander vorbei (Berger/Luckmann 1993).
7 Für eine weitere Kommentierung des Werkes von Erving Goffman siehe bspw. Hettlage/Lenz 1991 sowie Willems 1997. 8 Bergmann (1985) diskutiert diese instruktive Unterscheidung bei der Erörterung interpretativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren.
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In der dramatischen Gestaltung – so Goffman – ist nun die Methode zu erkennen, durch die eine Darstellung ‚sozialisiert‘, d.h. dem Verständnis der Interaktionsteilnehmer angepasst wird (vgl. Goffman 1991: 35). Akteure entwickeln dabei gerne die Tendenz, die Werte, die hinter den Erwartungen des Gegenübers, der Zuschauer, stehen, dramatisch zu steigern, was „Idealisierung“ genannt wird. Beispielhafte Erwähnung finden bei Goffman zeremonielle Darstellungen wie z.B. die „harmonische Familie“, die manche gerne vor ihrer Umwelt spielen (ebenda: 36). Eben solche ‚Paradefamilien‘ sind auch im Homecam-Angebot zu finden: Unter der Adresse www.teleport.com/~‘‘lakeoz ist in einem Wohnzimmer eine Familie samt Haustieren anzutreffen bzw. zu sehen, die sich als eine glückliche Familie inszeniert, der es möglich ist, in Zeiten bedrohlicher globaler Enttraditionalisierung und Deregulierung trotz allem zusammenzustehen. Die Idealisierung gelingt im Detail, da gängige Klischees aufgerufen werden: Eine ‚glückliche, harmonische Familie‘ kann sich sicher sein, als solche erkannt zu werden, wenn sie, wie es hier geschieht, in einem freundlichen Wohnzimmer eines adretten Einfamilienhauses sitzt, alle Familienmitglieder zusammengekommen sind und alle Beteiligten ‚ungekünstelt‘ lachen und guter Laune sind. Geradezu gegenläufig präsentieren sich andere, vornehmlich Singles: Ihre Präsentation lebt von einer konsequenten In-Szene-Setzung eben keiner biederen Familienidylle, sondern eines ‚echten‘ Lebens ohne Fassade und Stilisierung: Keine dramaturgischen Höhepunkte irgendwelcher Art – z.B. Streit oder Nacktbilder – sind zu sehen, sondern gezeigt und hervorgehoben werden die typischen und völlig unspektakulären alltäglichen Verrichtungen wie Aufstehen, Essen, Trinken, Lesen, Sitzen, PC-Arbeiten, Zu-Bett-Gehen, Schlafen u. ä.; alles Tätigkeiten, die gemeinhin mit der Privatsphäre verbunden werden – heimlich geschieht hier nichts. Das Credo scheint zu lauten: Stilisierung der Nicht-Stilisierung. Wieder andere setzen in Kontrast zur alltäglichen Normalität auf die Inszenierung einer künstlerisch gestalteten Welt: Bspw. offeriert die Medienkünstlerin Ana Voog unter ihrer Homecam-Adresse (www.anacam.com) künstlerisch-digitale Aktionen, die pointiert dem Prinzip der zumindest semi-professionellen Selbstinszenierung und -vermarktung folgen; entsprechend finden ihre Bilder Platz in einer von ihr sorgsam gestalteten Bilder- bzw. Fotogalerie. In Richtung einer Pornographisierung der Bilder agiert schließlich Natacha Merritt, die sich selbst beim Sexualverkehr digital filmt/fotografiert und die Bilder als ‚digitale Kunst‘ etikettiert ins Netz stellt (www.digital-diaries.com) (resp. in einer Print-Variante finanziell vermarktet (Merritt 2000)). Von diesem Punkt der forcierten Inszenierung von Alltagswelten als Medienwelten ist es nicht mehr weit, bis die Homecam zum Cam-Kult avanciert: Das ganze Leben als Inszenierung, als Performance, dargeboten von professionellen Lebenskünstlern, wie sie schon seit längerem – im übrigen vor den Zeiten von Big Brother – in sog. Online-Soaps zu sehen sind (z.B. www.hereandnow.net). TV- bzw. Internetformat konvergieren hier und auch die Grenze zwischen Schauspielern, die nicht schauspielern, und Nicht-Schauspielern, die schauspielern (siehe die beiden zuletzt genannten Homecam-Angebote), verschwimmt.
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5. Authentizität als Maxime medialer Selbstpräsentationen Was beide Seiten, Profi wie Amateur, in diesem Entgrenzungsprozess von Realität und Fiktion, von registrierender und konstruierender Protokollierung gemein haben, ist die Akzeptanz der Handlungsmaxime, im Angesicht der Webcam-Augen selbst so zu leben und sich zu zeigen, wie man ‚wirklich ist‘, d.h. auf Verstellungen und Maskierungen jeglicher Art tunlichst zu verzichten. Bewertungsmaßstab für die Faszination der Real-People-Formate ist zunächst, dass der Protagonist ‚aufrichtig‘ ist, d.h. sich nicht verstellt, heuchelt oder betrügt. Ursprünglich war die Bedeutung des Begriffs der Aufrichtigkeit mit dem Sinnhorizont von ‚Gradsinnigkeit‘ und ‚Offenherzig-Sein‘ verknüpft, beinhaltete also ein reflexives Verhältnis sich selbst wie auch nahe stehenden Personen und Freunden gegenüber: Man beobachtete sich genau und prüfte sich auf seine Aufrichtigkeit hin (Trilling 1980). Heute hingegen ist ‚Authentizität‘ zum Wort der Stunde geworden: Als ein vom Ursprung her juristischer Fachterminus bedeutet Authentizität, dass eine Abschrift eines Dokuments bspw. durch einen Bürgen als ‚echt‘ bezeugt wird – der Satz „Die Kopie stimmt mit dem Original überein“ ist noch heute auf den Amtsstempeln zu lesen. Auf den Rahmen sozialer Interaktion und Kommunikation übertragen meint ‚authentisch sein‘ nun, dass das Innere, d.h. die Gefühle und Gedanken, im Außen des Körpers, mit körperlichen Aktionen wie Gestik, Mimik und Sprache, adäquat zum Ausdruck gebracht wird. Wenn Innen und Außen auf diese Weise gleichsam ‚stimmig sind‘, lebt man, wie man ‚eigentlich‘ ist – eben unverstellt. Es ist aber zu bedenken, dass sich mit dieser Bevorzugung des Wortes ‚Authentizität‘ vor dem der ‚Aufrichtigkeit‘ eine bedeutsame inhaltliche Veränderung vollzogen hat (Reichertz 2001): Im Mittelpunkt steht die Glaubwürdigkeit der Darstellung mit dem wichtigen Akzent, dass diese nicht mehr länger als das Ergebnis einer beobachtenden Selbstzuwendung zu verstehen ist; vielmehr soll Authentizität – so der Anspruch der ‚Philosophie‘ der gegenwärtigen Erlebniskultur (Schulze 1992; Hartmann/Haubl 1996) – unmittelbar ‚verkörpert‘ werden. „Die innere Emotion soll sich ohne Umweg über die bewusste Reflexion am Körper des Akteurs entäußern – wenn man so will: scheinbar bewusstlose Verkörperung gilt in diesem Sprachspiel als aufrichtig“ (Reichertz, ebenda). Die Idee eines natürlichen Menschen als ein expressives Wesen ist freilich eine alt bekannte Idee der Romantik (von Sennett zutreffend „Schäferromantik“ genannt (1983: 102f.)), die in der gegenwärtigen Unterhaltungspraxis eine Renaissance erfährt.
6. Homecam und Techniken der Imagepflege Doch wie ‚echt‘, ‚unverstellt‘ und ‚natürlich‘ ist denn das in den Real-People-Formaten gezeigte Leben der Akteure? Bereits die oben angesprochene Typisierung der Bilder- und Lebenswelten der Homecam-Protagonisten – die glückliche Kernfamilie, das authentische Single-Leben, das Leben als Kunst – zeigt, dass die Akteure eine spezifische Ausdruckskontrolle betreiben: Sie versuchen durch den Aufgriff entsprechender Deutungsmuster und Codes einen ganz bestimmten Eindruck zu erwecken. Auch Spontaneität und ‚Natürlichkeit‘, die bei den Homecam-Interessenten so hoch im Kurs stehen, müssen entsprechend dargestellt werden.
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Auch sie bedürfen der Präsentation, auch sie werden gerahmt durch den Aufgriff einschlägiger Authentitätssymboliken: Die Single-Wohnungen sind noch nicht ‚fertig‘ eingerichtet wie bei den konkurrierenden ‚glücklichen Familien‘, jede Menge unaufgeräumt herumliegende Gegenstände wie Bücherstapel und Wäschehaufen sind zu finden, das Bett ist auch noch nicht gemacht und der Küchentisch immer noch nicht abgeräumt usf. Auch der Körper des jeweiligen Protagonisten signalisiert ein ‚Leben als Prozess‘, er findet in vielfältiger Art und Weise als Gestaltungsfläche und -medium Verwendung: Frisuren und Kleidung u. ä. verändern sich täglich; mit dem Körper wird sichtbar experimentiert – er wird mit Tattoos versehen und er wird – etwa beim Arbeiten am PC – für alle wahrnehmbar bis zur Erschöpfung belastet (Neumann-Braun 2000). Und nicht zu vergessen signalisiert die ‚Knipser‘-Ästhetik der Amateur-Webcam (der starre Bildausschnitt, die mangelnde Ausleuchtung, die unplanbare An- und Abwesenheit der Protagonisten usf.) ein Leben ohne Masken und Fassade. Richtig ‚echt‘ wird die Inszenierung schließlich jedoch dadurch, dass die Zulassung von Öffentlichkeit durch das Webcam-Auge als Indikator dafür genommen werden kann, dass nichts verborgen wird, dass nichts verborgen werden soll – im Gegenteil: Jeder soll sehen, in welcher Phase meines Lebens ich stecke, oder mit dem Worten von Kitzmann (1999) „Watch me as I’m happening“. Aber bleibt nicht doch – allemal nach der ‚Säkularisierung‘ der Homecam-Technik – ein Zweifel an der Authentizität des Dargestellten? Signalisiert nicht auch die Trennung von öffentlichen, dem Webcam-Auge zugänglichen Bereichen (z.B. Wohn- und Arbeitszimmer) und privaten, dem öffentlichen Interesse unzugänglichen Bereichen des Privaten (bei den meisten Homecams sind bspw. Badezimmer und Toilette tabu, bei einigen auch das Schlafzimmer), dass hier doch ein fassadenartiges Leben vorgeführt wird? In dem Element der „Mystifikation“ (Goffman 1991: 63) könnte eine funktional hilfreiche Copingstrategie gesehen werden: Mystifikation entsteht, wenn Akteure sich Geheimnisse zulegen (oder zugeschrieben bekommen) und sich damit gewissermaßen über die Zuschauer erheben, also etwas Besonderes werden. Ist es nicht etwas Besonderes, das öffentliche Wagnis einzugehen, ‚wirklich‘ authentisch leben zu wollen? Und selbst, wenn dies nicht (ganz?) gelingen sollte, bleibt nicht doch die Hoffnung, dass das Ziel durchaus erreichbar ist und sei es ‚nur‘ nach dem Motto: Nichts ist authentischer als die Suche nach Authentizität – welche die HomecamInternauten ja erwiesenermaßen intensiv betreiben? Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, an Goffmans Ausführungen zu den „Techniken der Imagepflege“ (1971) anzuknüpfen: Ein Akteur entwickelt (s)ein Selbstbild (Image), erhält es aufrecht und verteidigt es gegenüber anderen (ebenda: 10). Der angesprochene Einsatz typisierter, „ritueller Elemente“ in der Homecam-Kommunikation lässt die Überlegung entstehen, dass in ihr durchaus auch eine Form von ‚Dauerwerbesendung‘ zu sehen ist – gleichsam eine Werbung in eigener Sache: Ein Protagonist stellt sich und seine („modulierte“) Welt multimedial vor und leistet Image-Arbeit („Face-Work“), um nicht zuletzt in der Konkurrenz mit den vielen anderen Homecam-Anbietern, die inzwischen auch alle um die Gunst, sprich Aufmerksamkeit der Rezipienten buhlen, „Pluspunkte zu sammeln“ (ebenda, 30ff.). Der sich einstellende Erfolg kann für alle zugänglich am Zählwerk der Homepage abgelesen bzw. über den Tabellenplatz auf den entsprechenden Webcam-Link-Übersichten erschlossen werden. Bei Prozessen der Imagepflege haben seit jeher Massenmedien eine tragende Rolle gespielt, so wurde es bspw. mit einem Brief oder einem Foto, später einer Filmreportage, heute
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mit der digitalen Video-Technik möglich, Ereignisse und Erlebnisse aus dem privaten Raum in andere (halb-)öffentliche Handlungssituationen zu übertragen. Audiovisuelle Real PeopleMedienformate radikalisieren diese Form von Kommunikation, die die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit überschreitet. Und am Fall der Homecam-Kommunikation ist zu sehen, wie die Rezipienten das Produzieren von Bildern über ihr Leben selbst in die Hand nehmen und die neuen Informations- und Kommunikationstechniken (hier: Multimedia) in den Dienst ihrer biographischen Kommunikation stellen. Dem Zugzwang der Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit, der diesen Medien-Kommunikationen inhärent ist, begegnen die Homecam-Protagonisten nicht vorbehaltlos – im Gegenteil: Die meisten betonen, dass sie sehr wohl ihre eigenen Grenzen setzen, was sie der Allgemeinheit präsentieren und preisgeben möchten und was nicht (bspw. Orte und Zeiten bleiben privat; Bilder werden gesendet, aber kein Ton; siehe Neumann-Braun 2000). Sind solche Grenzen noch vergleichsweise leicht zu ziehen, bedeuten sie bspw. konkret die Entscheidung über das Ausmaß der technischen Ausstattung (d.h., werden alle Zimmer verkabelt, wird eine Audio-Software installiert usf.), stellt sich in anderer Hinsicht ein viel gravierenderes, tendenziell undurchschaubares und daher erheblich schwerer zu bewältigendes Kontrollproblem: Gemeint sind die latenten Selbstkommerzialisierungsprozesse, die mit der Imagearbeit vor laufender Privat-Kamera einhergehen. Wer wirbt – hier: für sich selbst – orientiert sich an den Werbestandards, die beim Publikum ankommen. Jennicam und Big Brother haben inzwischen Mediengeschichte schreiben können, sie haben Standards für Typisierungen und Masken der Authentizität (Paradoxon: glaubhaft darstellen, dass nicht dargestellt wird) entworfen, an denen sich die Amateure nun (zu) orientieren (haben).9 Wer sie zu nutzen weiß, kann sich des Erfolgs sicher sein. Doch zu welchem Preis? Wer für sich als Kommunikationsprodukt – und nichts anderes ist ein Homecam-Programm – wirbt, unterwirft sich dem Prozess, Identität und Kommunikation waren- resp. marktförmig zu gestalten. Homecams stellen eine inzwischen niederschwellige Technik zur Verfügung, mit deren Hilfe der einzelne sich so medial zu präsentieren in der Lage ist, dass er ‚konsumiert‘ werden kann, genauer: so konsumiert werden kann, wie man eine TV-Sendung oder einen Film rezipiert. Der zu erzielende materielle wie immaterielle Gewinn liegt auf der Hand: Geld (im besten Fall Abo-Gebühren und Werbeeinnahmen) und/oder Legitimität (Jemand sein heißt, in den Medien zu sein!). Die mit Multimedia annoncierten Innovations- und Autonomiepotentiale (Faßler 1999, Rheingold 1995) haben inzwischen offensichtlich eine ‚erfolgreiche‘ Integration in den Markt gefunden – ein Schicksal, das bekanntlich bislang jedes Kommunikationsmedium ereilt hat.
9 Ein weiteres Indiz für diese Sozialisierungsprozesse intendierter idiosynchratischer Kommunikation stellen Web-Beratungs- und Listingadressen wie www.opendiary.com oder www.livejournals.com dar, die HomecamKommunikatoren beim Positionieren ihres Homecam-Angebots nutzen.
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Teil II: Auftritt mit Peer-Review (2008)10 7. Nabelschau und Facework auf YouTube Im Falle der Internetkommunikation auf Portalen wie YouTube11 verschränken sich Funktionen der Massenkommunikation (‚Einer-an-Viele‘-Kommunikation; massenhafte Verbreitung; öffentliche Imagekonstruktion; eingeschränkte, verzögerte Rückmeldemöglichkeit, was v.a. die Möglichkeit eröffnet, sich einem Publikum zu präsentieren, ohne unterbrochen zu werden) mit solchen der interpersonalen Kommunikation (‚Sendeeinheit‘ entspricht einer Person; der Rückmeldekanal steht jedermann/-frau offen; keine Institutionalisierung im Sinne eines ‚dominanten Kanals‘). „Broadcast yourself“ (das YouTube-Motto) bedeutet im Kern daher zunächst, dass User kurze, selbst hergestellte Clips oder ‚persönliche‘ Medienfundstücke präsentieren (‚ins Netz stellen‘)12, welche durch andere User rezipiert und kommentiert werden können (für einen ersten Versuch einer YouTube-Clip-Klassifikation siehe Richard/Grünwald 2008). Dies geschieht unter der besonderen Bedingung, dass kein Moderator den Kommunikationsfluss kanalisiert und kontrolliert. Vielmehr ist ein freies Spiel der Kräfte und Interessen möglich. Innerhalb dessen ist es jedem User freigestellt, als primärer Kommunikator (Einstellen eines Clips als ‚Eröffnungsturn‘ für Folgekommunikationen), als reagierender Kommunikator in Form von schriftlichen Kommentaren oder in Form von Re(ply/-sponse)-Clips sowie bloß als Rezipient der Clips/Clipstrecken aufzutreten. Dieses freie Spiel der Interessen lässt ein (beobachtbares) kommunikatives Geschehen entstehen, dergestalt, dass ein Clip als Mitteilung behandelt wird, auf welchen mittels eines zweiten Clips reagiert wird. Das heißt: Die einzelnen Clips lassen sich (im Ggs. zu Sendungseinheiten im TV) als Turns innerhalb eines durch Privatpersonen aufrecht erhaltenen Kommunikationsgeschehens begreifen. Es entsteht im Gegensatz zum TV-Flow Kohärenz durch die systematische, wechselseitige Teilhabe an der (medial vermittelten) Symbolproduktion des Gegenübers, kurz: Es entsteht eine Form mittelbarer Interaktion. Nun geschieht dies nicht – und das ist der springende Punkt – wie in Face-to-Face-Kommunikation resp. deren Inszenierungen in Massenmedien (etwa Talks) in Form ‚tatsächlicher‘ Kopräsenz (gleichzeitiger Anwesenheit und damit kontinuierlicher Beobachtbarkeit im Hier und Jetzt) sondern kraft den eigenen Körper darstellender und/oder das Selbst entäußernder Kunstprodukte (hier: User-generierte Videos), welche durch Machart, Platzierung und metakommunikative Kommentierung miteinander in Interaktion gebracht werden. Mit anderen Worten: Es kommunizieren mediale Identitätsverlängerungen. Mit Blick auf die Selbstpräsentation 10 Textteil 2 zitiert Passagen aus Schmidt/Neumann-Braun 2008; darin sind auch alle Links aufgelistet. 11 YouTube ist ein im Februar 2005 gegründetes Videoportal, welches es Usern erlaubt, kostenlos Videoclips anzusehen und hochzuladen. Am 9. Oktober 2006 wurde YouTube durch Google übernommen. YouTube, wörtlich übersetzt ‚DuRöhre‘ (Tube bezieht sich auf den engl. Begriff Cathode Ray Tube, was der Kathodenstrahlröhre, dem traditionellen Bauelement des Fernsehapparates, entspricht), heißt so viel wie „Dein Fernsehen“. 12 Daneben existiert die weniger innovative Variante, dass Ausschnitte aus den traditionellen Massenmedien (vornehmlich des TVs) durch kommerzielle Anbieter bzw. Verlängerungen der traditionellen Massenmedien als Clipfundstücke inszeniert werden. Dies geschieht v.a. auf Seiten wie z.B. Clipfish (eine deutsche Video-Community, die im Juni 2006 von der RTL-Tochter RTL Interactive gestartet wurde), wo sich etwa Ausschnitte aus den TV-Sendungen Big Brother oder ‚Deutschland sucht den Superstar‘ finden, welche in den jeweiligen Sendungen beworben werden. Auf diese Weise haben sich TV und Videoportale (werbekommunikativ) kurzgeschlossen.
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resp. die Verhandlung und Konstitution von Image lässt sich damit konstatieren, dass nicht Personen und ihr körperliches Ausdrucksverhalten aufeinander treffen (Spontaneität), sondern mediale Konstruktionen, welche gleichsam als personale Stellvertreter fungieren resp. gelesen werden können (und häufig auch sollen). Es handelt sich in diesem Sinne um wohlgesetzte, absichtliche und ‚überhöhte‘ (qua Kunstform) Formen der Selbstinszenierung, welche dazu prädestiniert sind – gesetzt den Fall, sie nehmen Bezug aufeinander –, mediale, audiovisuelle (Schlagabtausch-)Prozesse identitärer Selbstdarstellung und -behauptung in Gang zu setzen.
8. Kontroverse (Anti-) Fankommunikation im Netz (YouTube) Am Beispiel des Clips „Lasst Tokio Hotel Fans in Ruhe“13 lässt sich eine solche sequenziell-ritualisierte Kommunikation im Detail rekonstruieren (Schmidt/Neumann-Braun 2008: 67ff.). Der Auftaktclip („Angie“) zeigt den Appell einer jungen Frau – selbst Tokio Hotel-Fan –, die Fans der Musikgruppe Tokio Hotel endlich in Ruhe zu lassen. Dieser Clip wird in der Folge über 700.000 Mal angeschaut und erfährt 600 Repliken. Die eingestellten Clips, die Angies Appell kommentieren, bieten u.a. Metakommentierungen des Geschehens, Persiflagen in Form von Imitationen des Originalmaterials oder ‚einfache‘ Kommentierungen des Originalmaterials. Der Gesamttenor ist ein feindlicher: Angie wird die Geister, die sie rief und die sie vor allem mundtot machen wollte, nicht mehr los. Am Ende widerruft die junge Frau ihre Vorliebe für die Gruppe Tokio Hotel mit dem Ergebnis, dass auch diese ‚Läuterung‘ wieder Gegenstand von Spott und Abwertung wird. Im aufgegriffenen Fall ‚Angie‘ bleibt die Auseinandersetzung auf einen Streitgegenstand beschränkt, welcher für solche Auseinandersetzungen prädestiniert zu sein scheint: (Populär-)Kultureller Geschmack resp. über kulturindustriell bereitgestellte Ästhetiken vermittelter (Lebens-)Stil, welchem – v.a. in der Adoleszenz – identitätsbildende Funktionen zugeschrieben wird. Mit anderen Worten: Das (symbolische) Feld der Jugend- und Fankulturen fungiert als Sphäre probehalber übernommener Identifizierungen („ich bin stolzer Fan“, „ich steh dazu“) sowie als Schauplatz identitärer Aushandlungsprozesse. Das (wechselseitige) ‚Hassen‘ der Fans resp. Anti-Fans wird im Genre des ‚Dissens‘14 unterhaltend (!) prozessiert und damit abgemildert und auf Distanz gebracht.
13 ‚Angie’-Clip-URL: http://www.YouTube.com/watch?v=coCA_mPKx5Y&mode=related&search= 14 ‚Dissen‘ wird i.d.R. durch die Protagonisten als unernster, spielerischer Face-Angriff gerahmt und zielt darauf ab, über die Fähigkeiten im verbalen Duell Positionen in der Gruppe auszuhandeln. Dies geschieht über die Präsentation eigener (kommunikativer, darstellender) Fertigkeiten im Vergleich zu anderen und vor dem Hintergrund spezifischer Gruppennormen. Entsprechend dominieren formal(-ästhetische) gegenüber inhaltlichen Kriterien. Eine funktionierende ‚Diss-Kultur‘ ist in vielen Peer-Gruppen die Grundlage der Verschränkung von Normierung, Positionierung und Intimisierung (Schmidt 2004). Probleme entstehen erst, wenn der Angegriffene den ‚Spaß‘ nicht versteht und ernsthaft reagiert (als normatives Problem in der Kleingruppe) bzw. wenn das ‚Dissen‘ aus der gemeinschaftlichen Nahwelt in die gesellschaftliche Fern(seh)welt transponiert wird.
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Eine wichtige Motivgrundlage für eine solche Imagearbeit in der Öffentlichkeit ist schließlich ein charakteristisches Tauschgeschäft: Alltagstranszendenz gegen Zur-Schau- und unter Umständen Bloß-Stellung der eigenen, intimen Lebenszusammenhänge. An diese Formen der Inszenierung und Überhöhung von (Alltags-)Wirklichkeit (vgl. Keppler 1994) scheinen die audiovisuellen (Selbst-)Präsentationen auf YouTube auf eigene Weise anzuschließen: Auch hier müssen offenbar Öffentlichkeit (für welche Zwecke zunächst auch immer) und positive Resonanz abgewogen werden gegen die Gefahr, verspottet und verlacht zu werden. Da allerdings die ordnende Rahmung des Fernsehens und seiner Sendeformate fehlt, sind mögliche Reaktionen sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht auf Grund der Gesamtanlage des Kommunikationsgeschehens kontingent. Denn: Web 2.0-Angebote wie YouTube sind kommunikationsstrukturell so angelegt, dass neben einem ‚inneren Kreis‘ immer auch ein ‚äußerer Kreis‘ existiert (wenn auch teilweise nur in der Fantasie), welcher die sich entspinnende Kommunikation beobachten und sich im Sinne eines (virtuellen) „Open State of Talk“ (Goffman 1981) in die Kommunikation einklinken kann. Wen man erreicht und wer wie reagiert, ist daher kaum abzuschätzen.
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Werbung online: Formen und Funktionen der Internetwerbung in Zeiten von Web 2.0 Caja Thimm
Einleitung Schon früh hatte die Werbebranche große Hoffnungen auf den Online-Markt gesetzt, wurde doch die Gruppe der Internetuser als finanziell potente, gebildete und technikinteressierte Zielgruppe angesehen, die sich für neue Trends und Produkte als ansprechbar erweisen sollte. Auch belegten Studien, dass die Internetnutzer eine positive Einstellung zur Werbung auszeichnete, so zeigten 68 % weitest gehendes Verständnis für Werbung in ARD/ZDF-online Angeboten (Ridder/Hofsümmer 2001). Nach dem Platzen der dot.com-Blase schienen diese Erwartungen jedoch nicht mehr erfüllbar, das Internet galt als unsicherer Marktplatz. Die rasante Ausbreitung des Internet in den 90er Jahren, vor allem ausgelöst durch die grafischen und multimedialen Möglichkeiten des World Wide Web (WWW), hat dessen Potential als Werbemedium längst zu einem Dauerthema in der Werbebranche werden lassen. (...) die Spezifika der Onlinemedien [bieten] neue Möglichkeiten der Zielgruppenansprache, die Fernsehen und Hörfunk verwehrt bleiben. (Gleich 1998: 367)
Heute jedoch hat das Netz eine bisher nicht erwartbare Dimension angenommen: das interaktive, durch user-generated content bestimmte partizipative Web2.0 hat die Onlinewelt radikal verändert – nicht nur junge Menschen, sondern auch alte sind inzwischen online (ARD/ZDF Onlinestudie, Gscheidle & Fisch 2007). Sie tauschen private Daten aller Varianten aus, ob Fotos, Filme oder Texte, und schließen sich in weltumspannenden Netzwerken wie Facebook, StudiVZ oder Xing zusammen. Diese rasante Entwicklung der letzten Jahre hat neue Werbeformen hervorgebracht, die sich nicht mehr nur der traditionellen Typen bedienen, sondern zunehmend auch Werbung als partizipativ konzipieren. Immer mehr verschwimmen zudem die Grenzen zwischen PR und Werbung – so bieten z.B. „business communities“ nicht nur ein „social network“ an, sondern dienen selbstverständlich auch der Werbung in eigener Sache. Zudem sind neue Werbeformen am Entstehen, die heute noch gar nicht absehbar sind, denn Übernahmen großer social networks wie StudiVZ oder Youtube sind natürlich nicht dem philanthropischen Interesse der Käufer, sondern klaren marktorientierten Motiven entsprungen. Nicht zuletzt
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_21, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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hat der technische Fortschritt auch die Personalisierung von Werbung ermöglicht – so bildet sich das Online-Profil des Users schon nach kurzer Zeit in der ihm angebotenen Werbung ab – sei es als Direktmail („sie haben das Buch x gekauft. Personen, die das Buch x gekauft haben, kaufen auch das gerade erschienene Buch y“) oder in Form von personalisierter Werbung auf den Google-Seiten. Herauszustellen ist, dass gerade bei der Internetwerbung der Verbundcharakter und der Media-Mix darauf verweisen, dass sich Werbung und PR im Internet nur schwer voneinander trennen lassen. Unterscheidet man nach technischen wie wirtschaftlichen Kriterien beispielsweise zwischen Mediawerbung (z.B. interaktive WWW-Banner, Push-Media), Verkaufsförderung (interaktive Gewinnspiele, Online-Bestellung von Produktproben) und Öffentlichkeitsarbeit (z.B. WWW-Seite mit Informationen zum Unternehmen) und Direktwerbung (z.B. Werbe-EMails, Mailinglisten) und versteht dies generalisierend als „Werbeformen“ (Walter 1999: 8f), so werden hier Kommunikationsbereiche der Wirtschaftskommunikation unter „Werbung“ zusammengefasst, die traditionellerweise einen eigenen Status neben Werbung besitzen (z.B. Verkaufsförderung und Öffentlichkeitsarbeit). Friedrichsen (1998) dagegen unterscheidet nach der Art der Rezeption zwischen Direktwerbung mittels E-Mail und Mailinglisten, Abrufwerbung im WWW (wie Websites, Sponsoring von attraktiven Angeboten im Netz, Infotainment durch Online-Magazine) und Werbung im Verbund (in Form von so genannten Werbeplacements auf den Webseiten von Suchmaschinen wie Google oder Yahoo oder Online-Magazinen). Zudem sind immer mehr Online-Werbeformen als „crossmedial“ zu bezeichnen. Sowohl zwischen TV und Internet als auch zwischen Radio und Internet (s. Franz 2008). Dazu kommt die völlig neue Strategie, die die Suchmaschinenbetreiber von Google entwickelt haben: Google ist auf dem Weg zum globalen Werbekonzern und entwickelt hier völlig neue Ansätze im Spannungsfeld zwischen Werbung und dem Umgang mit persönlichen Daten (Kaumann & Siegenheim 2008). Die Vielschichtigkeit dieser Entwicklung kann hier verständlicherweise nur angerissen werden. Daher sollen nun nachstehend einige wichtige Präsenzformen der Interwerbung in Auswahl vorgestellt werden.
1. Der Markt der Onlinewerbung in Zeiten von Web 2.0 Das Mitmachnetz – nach Tim O’Reilly auch als Web2.0 bezeichnet – hat neue Partizipationsformen, eine neues Engagement der User und neue Vernetzungen geschaffen. Auch ohne die gerade im Entstehen begriffenen virtuellen Welten wie „Second Life“, die nochmals eigenständige neue Formen der Werbung ermöglichen (s. Stillich 2007) hat diese neue Form der Teilhabe den Werbemarkt verändert. Betrachtet man die Werbeumsätze für das Jahr 2007 in Deutschland so zeigt sich dies auch an den Zahlen: Print erzielte insgesamt nur ein unterdurchschnittliches Wachstum von 1,4 %, der Werbeträger Fernsehen hatte eine Umsatzsteigerung von 5,3 %, auch das Radio konnte seine Bruttoumsätze um 6,8 % auf 1,3 Mrd Euro steigern. Das Internet aber hat sich nunmehr mit Bruttoumsätzen von inzwischen bereits 1,1 Mrd. Euro als Werbeträger fest etabliert.
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Diese deutschen Zahlen scheinen jedoch dem Trend in den USA noch weit hinterher zu hinken: hier haben die Umsätze im Onlinebereich inzwischen alle Erwartungen übertroffen: so lag der Werbeumsatz im Juli 2008 in den USA zum ersten Mal über den Ausgaben für die TV-Werbung (siehe: http://www.businesswire.com/portal/site/google/?ndmViewId=news_vi ew&newsId=20080714005699&newsLang=en). Bei der Betrachtung der Funktionen von Internetwerbung ist davon auszugehen, dass diese aus der Sicht der Unternehmen nur einen Baustein im Media-Mix von Werbeaktivitäten darstellt und somit Teil eines Konzeptes der „integrierten Unternehmenskommunikation“ (Bruhn 1997) ist. Damit ist die additive Funktion der Online-Werbung angesprochen: Sie soll traditionelle Offline-Formen (noch) nicht ersetzen, sondern sie auf eine eigene und spezifische Weise, insbesondere mit Blick auf die Beziehungspflege gegenüber dem Kunden, ergänzen (Walter 1999: 52). Aufgrund der zunehmenden Aktivität der Nutzer wird dieser jedoch auch zunehmend selbst zum Teil der Werbekette: als ein Element des „viralen Marketings“ ist die Nutzerin auch aktiv an der Weitergabe von Werbeinformationen beteiligt. Virales Marketing baut auf existierenden social networks auf, um Aufmerksamkeit auf Marken, Produkte oder Kampagnen zu lenken. Grundprinzip ist dabei die Mundpropaganda, die sich das Prinzip des „two-step flow“ zunutze macht: je bekannter und anerkannter ein empfehlender Nutzer einer bestimmten (Werbe)Information ist, desto eher wird man diese (werberelevanten) Informationen an weitere Personen weitergeben.
2. Werbeformen im Internet Nach Janich (2002) und Walter (2000) lassen sich folgende Formen der Werbung unterscheiden: Werbeformen nach Rezep- Online-Werbeformen tionsweisen Direktwerbung (unangeforderte) E-Mail (angeforderte) E-Mail, NewsletterService Werbung im Verbund Interaktive WWW-Banner, Buttons Micro-Sites Interstitials Abrufwerbung
Homepages
Öffentlichkeitsarbeit
WWW-Seiten mit Unternehmensinformationen, Gästebücher
Tab. 1: Werbeformen online – offline im Überblick
Klassische Medien Werbebriefe, Telefonanrufe Kundenzeitschriften Plakate, Anzeigen, Fernsehspots (kleinformatige) Anzeigen, evtl. Fernsehspots, Kino Fernsehspots, evtl. Anzeigen Kataloge, Prospekte, Imagebroschüren Preisausschreiben, (bedingt Anzeigen und Fernsehspots) u.a. Infobroschüren, Geschäftsbericht
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Diese Werbeformen müssen nunmehr jedoch ergänzt werden. Herauszustellen ist dabei besonders die Werbung durch Videos (Youtube), Fotos oder auch Podcasts. Diese erlangen zudem mittels neuer Onlineformen von Mund-zu-Mund Werbung durch das bereits erwähnte virale Marketing besonderen Stellenwert. Stellt man die angesprochenen Werbeformen gegenüber, so zeigt sich, dass besonders bei den Newsletter-Services, den Bannern und den Homepages der Unternehmen, d.h. bei den drei zentralen Präsentations- und Werbeformen des Internets, nur mit Mühe ein direkter Vergleich zu Offline-Werbung gezogen werden kann. Hier werden die Eigenständigkeit, aber auch die Problematik der kommunikativen Formen der Internetwerbung besonders deutlich (vgl. auch Briggs/Hollis 1997).
2.1 E-Mails und Spam-Mails Eine der gängigsten Methoden, Online-Werbung zu betreiben, stellt die Electronic-Mail, kurz E-Mail, dar. Im Zusammenhang mit diesen E-Mails, deren Inhalt nur aus Werbung besteht, wird auch oft der Begriff Spam oder Spam-Mail verwendet. Der Begriff Spam, eigentlich eine Art Frühstücksfleisch bezeichnend, geriet in die Computersprache durch einen Sketch von Monty Python, in dem eine Gruppe grölender Wikinger ein Lied singt: „We have spam spam spam, egg and spam spam spam spam spam spam spam, baked beans and spam spam spam spam spam spam“ (vgl. http://www.spam.com). Das Versenden sinnloser E-Mails wird in Anlehnung an diese Szene als „spamming“ bezeichnet. Anstelle von „Spam-Mail“ ist auch häufig von „Junk-Mail“ die Rede. Zur Tarnung werden diese Mails mit harmlosen oder sogar personenbezogenen Betreffzeilen versehen. Solche Betreffe können persönlich sein, z.B. „Hi“, „Hallo“ oder „Glückwunsch“. Sie können leer sein, damit z.B. fremdsprachige Betreffs nicht gleich auf Verdacht stoßen, oder informierend „Want to win a billion dollar?“ oder sie sind umgangssprachlich unverfänglich gehalten. So verschaffte sich z.B. der bekannte „I LOVE YOU“ Virus durch selbigen Betreff Einlass in viele Betriebssysteme, da zu dem Betreff „I LOVE YOU“ auch noch ein unverdächtiger Absender aus Kreisen des Empfängers kam. Inhalte dieser Spam-Mails variieren hauptsächlich zwischen: „Wie bekomme ich in kürzester Zeit 1 Million bis 1 Billion Dollar?“, Links zu Hardcoreporno Homepages bzw. Clubschaften, verlockenden Jobangeboten von zu Hause aus, bezahlten Online-Zeiten, kostenlosen Homepages mit dazugehörigem Webspace u.a.. Nicht zu vergessen natürlich Kettenbriefe und Aufforderungen, möglichst viel Geld an seriös wirkende Adressen zu überweisen. Im Folgenden ein Beispiel aus der ersten Generation der Werbe-Mails: Betreff: Datum: Wed, 2 Aug 2000 21:44:57 +0200 Von: „Schnaepchenmeister“ <[email protected]> An: <[email protected]> 3210 für 0,00 DM mit nur 9,90 DM Grundgebühr Hallo! Ich bin gerade im Internet gesurft und habe da ein Angebot gesehen, das sicher auch für Dich interessant ist. Das Nokia 3210 für 0,00 DM mit 9,90 DM Grundgebühr im
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Monat, und Du kannst wählen, ob der Vertrag mit D1 oder D2 ist. City-Gespräche unter 10 Sek. sind kostenlos, und man kann in der Freizeit für 15 Pfennig pro Minute telefonieren. Schau Dir sich das Angebot am besten mal unter http://www.get1.de/mobilfunk/index_super9.php3?PC=3251 an, da gibt’s auch mehr Infos.
Dass sich die Werbe-Mails durchaus an spezifische Adressatenkreise richten zeigt das folgende Beispiel, das nur an die studentischen Accounts der großen Universitäten gerichtet wurde: Betreff: Kredit statt BAFöG Hast Du eine Kreditkarte und bist finanziell flexibel? Wenn nicht, dann solltest Du überlegen, wie nützlich es Dir sein kann! Mit den BARCLAYCARD for Students Kreditkarten genießt Du finanziellen Freiheit, hast ein zinsfreies Zahlungsziel von bis zu 8 Wochen oder entscheidest Dich sogar für die flexible Rückzahlung. Auch Dein Geldbeutel wird es Dir danken, denn die besonders günstigen Konditionen lassen Dir eine Menge Spielraum. Dazu kommt ein anfänglicher Kreditrahmen von 1000 DM. Wenn das nicht für sich spricht! Schau mal rein unter http://www.kredit-karte.de/index-student.html?b=barc9000000_9900_70825 !
Neben diesen eher zweifelhaften Werbemails gibt es jedoch auch durchaus seriöse, so z.B. vom Shaker-Verlag und vom Westdeutschen Verlag, die mit den Mails vor allem auf ihre neuen Verlagsproduktionen aufmerksam machen.
2.2 Interstitials Interstitials („Unterbrecherwerbung“), öffnen sich dem User beim Surfen auf einer Homepage unabhängig von eigenen Handlungen. Es handelt sich hierbei um in Größe und Form unterschiedlichste Fenster die sich dem User ungewollt beim Betrachten einer neuen Homepage in den Vordergrund drängen. Ähnlich einer Werbepause im Fernsehen wird dem User auf seinem Bildschirm z.B. bei Aufruf einer bestimmten HTML-Seite zuerst ein Interstitial präsentiert, welches im Extremfall den gesamten Bildschirm ausfüllt. Diese Form der Präsentation kann jedoch vom Betrachter durchaus als störend empfunden werden: Die Einblendung erfolgt i.d.R. im Rahmen der Datenlieferung durch Push-Angebote oder als Zwischenseite vor einer Weiterleitung der Nutzer über einen angeklickten Hyperlink. (...) Den Vorteilen, die Interstitials etwa im Vergleich zu Werbebannern für die Darstellung von Werbeinhalten bieten, sind die möglichen Akzeptanzprobleme seitens der User gegenüberzustellen. Je nach Ausgestaltung können Interstitials von den Nutzern auch als störende Unterbrechung bei der Navigation im WWW empfunden werden. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, daß bisher nur wenige Werbeträger Interstitials als Werbeform anbieten. (Henn 1999: 73f.)
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Ein Beispiel einer Interstitial-Werbung, die eine große Zielgruppe erreichen dürfte, ist die dem Browserprogramm Netscape „angedockte“ Werbung, die sich wie folgt darstellen kann:
Abb.1: Interstitial-Werbung
Dieses Interstitial macht Werbung in eigener Sache, d.h. verweist auf einen speziellen Finanzdienst, der an Netscape gekoppelt ist. Auf der dann aufgerufenen Seite wiederum findet sich eine Vielzahl von Links zu kommerziellen Finanzdienstleistern, d.h. das Anklicken der Seite führt eine, durch das Interstitial bereits ausgefilterte Usergruppe der Netscape-User, zu einer thematisch geordneten Link-Seite. Da Netscape Nutzerinnen ohne persönlich definierte Voreinstellungen automatisch beim Aufrufen des Internetbrowsers auf dessen Eingangsseite gelangen, ist dies eine Kontaktstelle, die eine große Gruppe erreichen dürfte. Der generelle Vorteil dieser Werbeform ist, dass sich die angezeigte Werbung allein im aktiven Browserfenster des Nutzers befindet und nicht mit anderen Inhalten konkurriert. So ist die Nutzerin gezwungen, ihre Aufmerksamkeit der Werbung zu widmen. Zwar kann ein erfahrener Internetuser durch geschicktes Navigieren das Interstitial wegklicken bevor es komplett geladen wird, allerdings kann es jeder Zeit an anderer Stelle wieder aktiviert werden.
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2.3 Banner und Buttons Eine andere, etwas passivere Form der Online-Werbung sind Banner und Buttons. Hierbei handelt es sich um verschiedenformatige, anklickbare Flächen auf Homepages. Zur Zeit der ersten Banner konnten Browser lediglich statische, d.h. nicht animierte Grafikdateien anzeigen. Daraus resultierten einfache grafische Banner, die Ihre Aufmerksamkeitswirkung lediglich aus einem Bild generierten. Einzige Interaktionsmöglichkeit ist ein Klick, der auf eine verlinkte Seite des Werbetreibenden führt. Aber auch ohne Animation gibt es statische Banner mit sehr hohen Klickraten. Henn (1999) geht detaillierte den visuellen Erscheinungsformen nach und unterscheidet nach der Art der Präsentation und des Formats nach Bannern (meist rechteckig-langgezogene Textelemente im Kopf- und Fußzeilenbereich), Buttons (tendenziell kleine, oft runde Textelemente an den Seitenrändern), und Interstitials (Werbeeinblendungen in Push-Angeboten oder als Zwischenseiten zwischen zwei Hyperlinks). Banner selbst jedoch, wie Walter (1999) und Janich (2002) betonen, sind keine eigenständige Werbeform. Vergleicht man die Banner mit herkömmlichen Anzeigen (wenn sie statisch sind) bzw. Spots (wenn sie dynamisch sind), so fällt auf, dass sie aufgrund ihrer geringen Größe und besonders dann, wenn sie als Hyperlink auf die Homepage des betreffenden Unternehmens führen, in der Regel weniger selbst schon Werbung für ein Produkt sind als vielmehr als ein Wegweiser und Klickanreiz fungieren: Auch Banner machen oft keine Werbung für ein Produkt, sondern eher für eine Web-Seite, auf der dann letztendlich das Produkt beworben wird. (Walter 1999: 51)
Die Bannerwerbung ist inzwischen jedoch so vielfältig und omnipräsent, dass sie nicht mehr als etwas Besonderes wahrgenommen wird. Zudem sind sie den meisten Internetbenutzern inzwischen als interaktive Felder vertraut und wecken daher nur noch selten die Neugier des Surfers (vgl. Walter 1999: 65-67). Für die medienkritische Analyse bedeutet dies, mit Blick auf ihren Hyperlinkstatus und die Rezeptionssituation ganz besonders auf jene sprachlichen und visuellen Strategien zu achten, die der für die Bannerwerbung immer wichtigeren Aufmerksamkeitserregung und -steuerung dienen. So kann z.B. durch geschickte Tarnung eines Banners z.B. als Windows-Systemmeldungs-Fenster oder durch Integration von Scrollbars oder anderen typischen Bedienungselementen eine Funktion vorgetäuscht werden, die zum Anklicken des Bannerfeldes führt. Versucht nun der Betrachter eine vermeintlich unvollständige Grafik zu verschieben, so verursacht der Mausklick auf die vorgetäuschten Scrollbars einen Klick auf den Banner. Auch aus der Sicht der sprachlichen Gestaltung zeigt sich eine große Variationsbreite. Bannerinhalte können z.B. Anglizismen, Schalt- oder Klickflächen, Wortbildungen, BiKapitale, Iterationen, grobe Fehler, Internetspezifische Einheiten, Interaktionen u.ä. sein, um nur eine kleine Auswahl der vielen verschiedenen Bannerarten zu nennen. Im folgenden zwei Beispiele für Bannerwerbung der älteren, noch statischen Generation:1
1 Weitere Beispiele finden sich unter: http://websprache.uni-hannover.de
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Abb. 2: Interaktionsbanner
Abb. 3: Banner mit ‚Starten‘ -Button zum anklicken
Banner können auch, je nach Größe, in mehrere Bereiche aufgeteilt werden, von denen dann z.B. nur ein Teil animiert ist. Auch häufig anzutreffen ist die sogenannte Bannerrotation. Hierbei teilen sich zwei oder mehr Werbende einen Banner, der in regelmäßigen Abständen zwischen den Werbenden hin und her wechselt. So anzutreffen z.B. auf der Homepage www.bigsms.de. Befindet man sich häufiger auf dieser Homepage stellt man fest, dass sich mehrere verschiedene Anbieter den Bannerplatz teilen auf den man klicken muss, um die SMS zu verschicken. Für den Besucher dieser Seite hat das den Vorteil, dass sie aufgrund der wenigen Banner übersichtlicher bleibt. Und die Sponsoren können sich die Kosten des Banners teilen. Eine weitere Möglichkeit bietet das sogenannte „cash-flow system“. Hier werben zwei oder mehrere Unternehmen auf den jeweils anderen Homepages mit Bannern oder Buttons. So entstehen für die Unternehmen keine finanziellen Kosten, da sie sich dazu verpflichten, auch Banner oder Buttons der Partner auf ihrer Homepage zu integrieren. Hierzu ein Beispiel: Auf der Homepage http://www.racerx.de/intro.html findet sich ein Banner von Bike-Performance, mittels diesem man auf die Homepage http//:www.bike-szene.de/titel.htm gelangt. Im Gegenzug wiederum findet sich hier ein Banner von Hardcore Racer X Framesets, mittels diesem man zurück auf die ursprüngliche Homepage www.racerx.de/framestuff/index.html gelangt. Die Internet-Firma adbeamer (htp://adbeamer.de) bietet so kostenlose Werbung für jede Homepage an. Des Weiteren gibt es unterschiedliche Typen der idealen Platzierung eines Banners oder Buttons. Untersuchungen des Blickes des Betrachters zeigen auf, an welche Stelle Betrachter zuerst blicken, wenn sie eine neue Homepage betrachten. Leitende optische Merkmale sind u.a. auch Farbe, Schriftart, Schriftgröße (Stöckl 1998). Eine andere Version der Banner- und Buttonwerbung findet man bei den bekannten Internetportalen. Bei Yahoo z.B. wird der Suchbegriff gleich in den Werbebanner integriert. Bei dem Suchbegriff „Sport“ erscheinen auf der „Gefundene Kategorien“ Homepage drei Banner: Amazon.de, Bol.de und vitago. Amazon.de hat auf seinem Banner einen eigenen SPORT-Link. Bei Bol.de ist Sport als CD, Geschenk, DVD/Video & Buch erhältlich. Und von vitago bekommt man einen eigenen Link: „Alles für Schönheit und Gesundheit auch zu SPORT“.
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2.4 PopUp Aggressiver als die Buttons zeigen sich die PopUp Varianten. Beim Anklicken eines Links, Buttons oder Banners öffnen sich neben der neuen Homepage zum Teil noch mehrere andere Fenster. Aggressiver zum einen deshalb, weil sich dem Besucher ein oder mehrere Fenster ungewollt in den Vordergrund drängen. Kennt man die Homepage nicht, so können die langen Ladezeiten und der mangelnde inhaltliche Bezug die Besucherin verärgern. Der Inhalt dieser neuen Fenster bezieht sich nämlich meist ausschließlich auf Werbung und weicht inhaltlich zum Teil komplett von der ursprünglich aufgerufenen Homepage ab. So muss man z.B. auf der Hompage http://www.bigsms.de. um eine kostenlose SMS zu versenden auf einen Werbe-Banner klicken. Während im Ausgangsfenster steht: „Bitte warten, ihre SMS wird jetzt versendet.“, öffnet sich ein zweites Fenster mit der URL: http://www.west.de/fullflavor/index.html. Der Bannerinhalt wechselt in regelmäßigen Abständen den Sponsor, und mit ihm auch den Link bzw. das neue PopUp-Fenster. Hierbei scheinen die Werbebanner auf eine breiteres Publikum ausgerichtet zu sein. Der Vorteil bei PopUp-Werbung liegt darin, dass sie der User weniger als störend empfindet, da er beim surfen nicht direkt unterbrochen wird. Darin begründet liegt aber zugleich auch der Nachteil: das PopUp-Fenster wird gleich wieder geschlossen sobald festgestellt wurde, dass es nichts mit der gewünschten Site zu tun hat und noch bevor die Werbebotschaft dargestellt werden konnte. Oder das PopUp-Fenster wird einfach von einem anderen Fenster verdeckt und so überhaupt nicht wahrgenommen.
3. Die Unternehmenssites Neben den bis hierher beschriebenen Einzelformen ist bei der Internetwerbung jedoch vor allem das Zusammenspiel der gesamten Seite mit den einzelnen Werbebotschaften einzubeziehen. So lässt sich in vielen Fällen die gesamte Homepage eines Unternehmens als Werbebotschaft konzipieren. Im Folgenden sollen einige Aspekte der Nutzungsweisen von Unternehmenssites vorgestellt werden, die in sich unterschiedliche Strategien von Werbung und PR vereinen.
3.1 Die Communities Eine besondere Möglichkeit der Online-Werbung bietet sich Werbungstreibenden durch „Communities“. In Communities suchen Online-User gezielt Kontakt zu Gleichgesinnten. So entfallen oft lästig lange Online-Suchen, da man sich einfach an seine Community wenden kann. Werbungstreibende können hier genau ihre Interessentengruppe ausfindig machen und sich direkt an diese wenden, bzw. für ihr Produkt werben. Eine spezielle Community-Werbeform ist z.B. das „content placement“. Ein Werbungstreibender kann hierbei als Sponsor einer Community fungieren, indem er sich auf einer eige-
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nen Microsite für die Mitglieder der Gruppe sichtbar präsentiert und so redaktionelle Beiträge, Leistungen oder Veranstaltungen veröffentlichen kann. Zu den Aktivitäten können auch Aktionen, Gewinnspiele oder Verlosungen im Rahmen der Interessen der Community gehören. Der große Vorteil des „content placement“ liegt auf der Hand: Der Community-Teilnehmer wird nicht mit einfachen Banner, Buttons oder störenden PopUp Fenstern belästigt, sondern der Sponsor tritt als interaktives Mitglied der Community auf. Durch seine auf die Community zugeschnittenen Beiträge und Informationen kann er an Glaubwürdigkeit gewinnen und so in die Community eingebunden werden. Natürlich kann der Sponsor hier auch attraktive Angebote unterbreiten, da er ja genau weiß, was wem zu welchem Preis angeboten werden muss. Anders als Sponsoren in Communities versuchen Lebensmittel- und Spielzeugkonzerne derzeit das Konsumverhalten von Kindern zu erforschen. Dabei dienen Clubmitgliedschaften, Online-Spiele und Gewinnaktionen als Vorwand, Informationen über die Zielgruppe zu erfahren, wie dies beispielsweise bei Milka der Fall ist. Auf der Milka-Homepage (http:/www.milka.de) stehen dem User nicht nur Milka-Bildschirmschoner plus integriertem Spiel, Milka-Mauszeiger, Milka-Alpengrußkarten, der Milka-Chat, ein Milka-Online-Shop und ein Milka-Vergißmeinnicht-Service zur Verfügung. Der Höhepunkt der Homepage ist ein interaktives Online-Milka-Kuh Spiel, für das der User seine persönlichen Daten eingeben muss und so seine Informationen an Milka gelangen. Die Datenfelder sind hierbei so angelegt, dass eine Teilnahme am Online-Spiel nicht möglich ist, wenn nicht alle Angaben eingetragen wurden. Anschließend gelangt man auf eine Seite, auf der man sich einen Online-Charakter zulegen muss. Die Auswahl beschränkt sich auf acht verschiedene Zeichentrick-Köpfe. Danach folgt eine Auswahl von vorgegebenen Angaben über Alter, Geschlecht, Tierkreiszeichen, Schokoladentyp wie: „Ich bin der zarte Tender-Typ“, Urlaubsausfahrten: „Eine Radtour zu den Galloways in Schottland“, Schokoladen Vorlieben: „Ich liebe Schokoladentorte“, einem Spruch: „Über allen Wipfeln ist Muh“ und was man gerne machen würde: „Ich organisiere einen Jodel-Karaoke“, um nur die Ersteinstellungen zu nennen. Dank dieser vielen, sehr genauen und vor allem kostenlosen Angaben durch den User kann Milka neue Markenartikel für eine spezielle und entsprechend große Zielgruppe konzipieren. Diese Form der „Werbung“ befindet sich auf der Schnittstelle zwischen Produktwerbung und Konsum- bzw. Marktforschung und stellt damit eine der typischen internetbezogenen Entwicklungsformen dar.
3.2 Integrierte Werbung Die Abrufwerbung im Internet, d.h. die Werbung, die man selbst abrufen/aufrufen muss, indem man auf entsprechende Websites geht, wirft definitorisch wie analytisch neue Fragen auf und verweist, ähnlich wie die Frage nach der Abgrenzung zwischen Werbung und Konsumforschung, auf neue Möglichkeiten im Internet. Man denke sich die Homepage eines Unternehmens, z.B. aus der Automobilbranche. Dort finden sich Informationen zum Unternehmen (evtl. auch zur Unternehmensgeschichte), zu den einzelnen Modellen und ihrer technischen Ausstattung (mit zahlreichen „Klickmöglichkeiten“, evtl. mit interaktiver Möglichkeit, sich das Wunschauto hinsichtlich Farbe und Ausstattung zusammenzustellen), Bestellmöglichkeiten, möglicherweise ein Gästebuch (vgl.
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Diekmannshenke 2002), eine Seite zur Mitarbeiterakquisition, eine zur Werbegeschichte, ein interaktives Gewinnspiel, (evtl. interaktive) Hinweise auf Sponsortätigkeiten (z.B. Verweis auf Kultur und Sport bei Mercedes-Benz) etc. Manche Unternehmen bieten außerdem einen Bildschirmschoner zum Herunterladen an, so wie erwähnt bei Milka, aber auch bei www. freioel.de/home1.htm. Bei kosmetischen Produkten kann man zusätzlich häufig einen Hauttest machen, es werden Inhaltsstoffe angegeben, eine medizinische Beratung angeboten und eine FAQ-Seite (FAQ = frequently asked questions) steht zur Beantwortung häufig gestellter Fragen zur Verfügung (siehe z.B. www.eucerin.de; auch bei Versicherungen sind individuelle Beratungsangebote in der Regel fester Bestandteil der Homepage). Greift man sich nur die Seiten heraus, die sich unmittelbar mit den zu verkaufenden Produkten oder Dienstleistungen beschäftigen, zeigt sich eindeutig eine neuartige, medienspezifische Kombination von Anzeige, Fernsehspot und Prospekt/Katalog. So auch beim Bayer-Konzern, der z.B. seine Werbematerialien auch auf dem Netz ablegt, seien es die Printanzeigen, der Unternehmensfilm oder der Unternehmenssong:
Abb. 1: Startseite von Bayer (Juli 2008)
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Die Informationsmenge, die über Links zum Konzern und den einzelnen Produkten übermittelt wird, entspricht zunächst den Angeboten eines Prospekts oder Katalogs. Anders als bei Automobilkonzernen oder PC-Herstellern, die im Internet zusätzlich die dem Prospekt fremde Möglichkeit, dass sich der Interessent ein Modell (eines Autos oder oft auch eines Computers) nach seinen Wünschen zusammenstellen kann und dabei erfährt, welche Kombinationen möglich sind und wie viel das Modell dann tatsächlich kostet (statt der in Anzeigen und Spots üblichen unverbindlichen Preisempfehlung), stellt sich dieses interaktive Angebot für die Produktpalette von Bayer nicht als Möglichkeit dar. Dafür bietet Bayer zusätzlich zu den stärker an die klassischen Webeformen erinnernden Präsentationstypen auch ein „Podcast-Center“ an sowie ein sogenanntes „webzine“ an, ein online-Magazin, dass ein über die Printmaterialien hinausgehendes Angebot von Detailinformationen beinhaltet. Dieses reicht von Produktinformationen bis zu Analysen der internationalen Standorte des Konzerns: Anders als die sachlich-kühl gestalteten Seiten des Bayer Konzerns und dessen Webzine ist die Kampagne von „Jägermeister“ gestaltet, dies betrifft sowohl die Offline- als auch die Onlinepräsenz. Jägermeister hat es mit seiner Konzeption geschafft, eine als „kultig“ gefeierte Site zu kreieren, die nicht nur über „Rudi“ das Rentier eine Figur mit hohem Wiedererkennungswert und Witz präsentiert, sondern über die vielen originellen Angebote im Netz eine Gesamtkonzeption anbietet, die die verschiedensten Werbeformen integriert.
Abb. 4: Eingangsseite von „Jägermeister“ (2003)
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Auch auf der aktuellen Website aus dem Jahr 2008 wird deutlich, dass die verschiedenen Strategien der Selbstpräsentation als Angebot an die Nutzer zu verstehen sind und nicht- wie in der klassischen Werbung üblich – als zu konsumierendes, festgefügte Werbekonzept. So zeichnet sich Jägermeister durch ein großes Angebot an Veranstaltungen und Events aller Art aus. Es zeigt sich deutlich, dass die Funktion des Mediums Internet als „Pull-Technologie“ auch auf die Textformen Einfluss ausübt. Aktivität des Nutzers/der Nutzerin sind notwendige Voraussetzung für den Umgang mit den interaktiven Angeboten. Dies bedeutet, dass intentionales und absichtsvolles Handeln der Rezipienten notwendige Bedingung für die Wahrnehmung des Angebotes ist. Das in dieser Komplexität neue Phänomen der Abruf-„Werbung“ (Janich 2002, Friedrich 1999) bringt es allerdings mit sich, dass die Rezipienten jeweils dazu bewegt werden müssen, das Informations- und Werbeangebot aktiv zu nutzen. Dazu ist es wichtig, entweder über eine sehr bekannte Internetadresse zu verfügen oder über Suchbegriffe und Banner vielfach präsent und leicht auffindbar zu sein. In jedem Fall muss jedoch die Homepage dann so interessant und ergiebig gestaltet sein, dass die Rezipienten Zeit und Kosten nicht scheuen, auf die Seite zurückzukehren. Die ganz andere Nutzungssituation dieser Art von „Werbung“ – aktiv und selbstbestimmt statt beiläufig und als Unterbrechung, wie in der Fernsehwerbung– erfordert andere Gestaltungswege und eine neue Mischung von Information, Unterhaltung und Werbeappell, wie es Jägermeister vorführt. Die Konsequenz der veränderten technischen Möglichkeiten und der daraus resultierenden Präsentationsformen ist in erster Linie eine Auflösung bisheriger textueller Grenzen. Bei einer Homepage lässt sich eben nicht mehr klar zwischen Anzeige oder Fernsehspot auf der einen, technischer Produktbeschreibung und Geschäftsbericht auf der anderen Seite trennen. Hier ist wiederum die Abgrenzungsproblematik von Bereichen der Unternehmenskommunikation – Marketing vs. Werbung vs. Verkaufsförderung vs. Öffentlichkeitsarbeit – Thema. Zwar lassen sich einzelne Websites innerhalb der funktionalen Ganzen einer Homepage durchaus besser oder schlechter beispielsweise mit Printanzeigen vergleichen, doch trägt eine solche Abstrahierung dem Spezifikum des Mediums gerade nicht Rechnung, dass eine solche Seite normalerweise (und auch nach Intention des Produzenten) nicht für sich isoliert betrachtet wird, sondern immer nur eine Station auf einem weiter führenden Rezeptionsweg darstellt. Aufgrund der verschobenen Textfunktionen überwiegt – anders als in Print- und Rundfunkwerbung – auf Homepages ein sachlicherer und vor allem deutlicher auf die Sache bezogener, meist weniger lockerer oder schön redender Stil. Eine Ausnahme mögen hier die speziell auf ein junges Publikum zugeschnittenen Sites sein, so die von „Jägermeister“, die sich auch im Sprachgebrauch gezielt an die jeweilige Klientel richtet. Auf Sprachspiele und Sprachwitze, die sich gerade in der Anzeigenwerbung oft von der Schlagzeile ausgehend durch den ganzen Fließtext ziehen, wird allerdings ebenso wie auf plakative Werbeaussagen ohne informative Begleitung zumeist verzichtet.
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4. Ausblick Die Werbelandschaft im Internet hat sich in den letzten Jahren radikal verändert – neue Werbeformen, partizipatorische Funktionen und die spürbare Personalisierung sind hier wichtige Trends. Betrachtet man den US Markt als Trendsetter, so lassen sich weitere Entwicklungen und Tendenzen voraussagen. Nach einer Untersuchung von Outsell wird der U.S. Werbe- und Marketing Markt 2008 um 3.9 % wachsen und dann $412.4 Mrd. betragen, darunter nimmt Werbung $249.1 Mrd. ein. Auf der Basis der Befragung von 1088 U.S. Werbefirmen kam Outsell zu folgenden Ergebnissen: – Die am schnellsten wachsenden Werbeform ist die Onlineanzeige – mit einem erwarteten Plus von 12.3 % (auf $105.3 Mrd., davon jedoch $40.2 Mrd. der Werbung auf der eigene Seite). Damit ist dieser Markt zum ersten Mal größer als TV/Radio/Movies mit $98.5 Mrd.). – Firmen verwenden inzwischen 61.8 % ihrer Budgets für ihre eigenen Unternehmensseiten. Das bedeutet eine stärkere Inhouse Verortung der Werbeproduktion und geht von einer Kundenbindung an Marken und Namen (Websiten) aus, die entsprechend über Google zu finden sein müssen. – Befragt, welche Werbeform sie als effektiv einschätzen, schätzen die befragten Unternehmen von 26 zur Auswahl stehenden Kategorien die eigenen Websites als beste Werbeform für die Zielgruppe der „lead generation“ ein (75 %), gefolgt von Ausstellungen (66 %), Zielgruppen Publikationen (65 %) und Direktmarketing (64 %). Bisher war eine der leitenden Funktionen erfolgreicher Werbung mit verschiedenen Strategien der Aufmerksamkeitserregung die potentiellen Kunden/Käufer an das Produkt zu erinnern. Das schnelle und schnelllebige Medium Internet dürfte allerdings zu einer Veränderung der Grundsätze erfolgreicher Werbung führen, da die Funktion der Aufmerksamkeitserregung nur noch für einen kleinen Teilbereich der Internetpräsenz von Unternehmen, nämlich die Bannerwerbung, gilt. Für viele andere Formen bleibt zu vermerken, dass es vor allem um aktives, aber möglicherweise nur kurzfristiges Interesse der Rezipienten geht. Zentral wird dabei sein, ob das Involvement, bzw. Interesse beim Rezipienten groß genug ist. Hier kommt das virale Marketing ins Spiel, denn den Tipp einer Freundin oder eines Kollegen wird man mit anderer Aufmerksamkeit versehen als ungezielte Werbung. Ebenso relevant ist in diesem Zusammenhang die Personalisierung der Werbung, diese Zielgerichtetheit verspricht ebenfalls mehr Aufmerksamkeit. Erst durch diese weitere, eigenständige Aktivität wird Online-Werbung zum aktiven Informations- und Wissensanker und als mögliches Erfolgsrezept erkenntlich. Damit zeichnet sich auch ein neues Werbeziel ab, nämlich die Propagierung des Informationsangebotes im Internet durch andere, klassische Medien und ein Zusammenhang zwischen der Unternehmenskommunikation online und offline (Thimm 2002, Thimm & Wehmeier 2007). Die Zukunft der Internetwerbung erscheint also sowohl aus ökonomischer, wie auch aus konzeptionell-struktureller Sicht als eines der wichtigsten Entwicklungsfelder der Werbekommunikation. Sieht man sie zudem im Zusammenhang mit der Bedrohung ganzer Geschäftsmodelle wie z.B. der Printwerbung in den Tagszeitungen, so hat diese Form der Werbung auch gesellschafts- und kulturpolitisch noch viel Zündstoff zu bieten.
Werbung online: Formen und Funktionen der Internetwerbung in Zeiten von Web 2.0
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Les Liaisons dangereuses... Mimikry der Werbung im Fernsehen, in Zeitungen und im Internet Eva Lia Wyss
1. Die Identifikation von Werbung oder Werbetexten Obschon Werbetexte in ihrer Vielfalt und hinsichtlich der medialen und kulturellen Adaptierbarkeit ein durchaus heterogenes Bild entstehen lassen, glückt gemeinhin die Identifikation von Werbung – in Abgrenzung gegen andere Medientexttypen1 – als Genre, als kommunikative Gattung durch verschiedene Kulturtechniken, die mit dem Oberbegriff der Rezeption zusammengefasst werden können.2 Das Genre ist damit eine holistisch-theoretische Kategorie der Bündelung von Text-Wissen über eine Gruppe von zusammenfassbaren oder durch einen gesellschaftlichen Konsens zusammengefassten Texten, von welchen es typische und weniger typische Exemplare gibt. Dieses Wissen über Werbung wird in einschlägiger Literatur meist in einzelne Aspekte gegliedert dargestellt. Diese einzelnen Teilaspekte sind jedoch weder notwendige noch in ihrer Fülle hinreichende Kriterien für die Bestimmung und Identifikation des Genres. Vielmehr zeigt sich in einer am empirischen Beispiel geleiteten Begriffsbestimmung, wie beispielsweise Wittgenstein dies am Ausdruck „Spiel“ (1984: 66f.) vorführt, dass ein für alle Exemplare zutreffendes Merkmal oder Merkmalsbündel nicht gefunden werden kann, vielmehr würden sich einzelne Definitionsmerkmale auf einzelne oder Gruppen von Exemplaren beziehen, gewisse Merkmale würden aber ausschließlich für wiederum andere Exemplare Geltung haben. Einen begrifflichen Zusammenhalt würde man nur in der Verflechtung von Merkmalen oder Eigenschaften finden, die als Fasern eines Fadens vorgestellt werden. (Vgl. Wittgenstein 1984: 66f.)3 Auch für „Werbung“ finden sich in den verschiedenen Disziplinen derart miteinander verflochtene Begriffsbestimmungen: einerseits geschieht die Bestimmung als Produkte-, Dienstleistungs-, Unternehmens- oder Ideenwerbung. Werbung lässt sich oft auch funktional durch
1 Gemeint sind die journalistischen/redaktionellen Texte, Fiktion und die Rezipiententexte. 2 Rezeption soll hier als vager Oberbegriff zu den terminologischen Begriffen des Lesens, Interpretierens und Decodierens gesetzt werden. Vgl. zu Genre Willems (2000: 219), zur Identität der Textsorte TV-Spot Wyss (2000). 3 Gleich einer Metapher treten wohl auch vexierhafte „Hasen-Entenkopf“-Phänomene auf, Aspektwechsel, die jedoch die Kategorie des Genre selbst nicht ins Wanken bringen. Vgl. Wittgenstein (1984: 520).
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_22, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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die Kriterien der „versuchten Meinungsbeeinflussung“, der „massenmedialen4 Werbemittel“, der „bezahlten Medien“ und einer „Offenkundigkeit in der Darstellung dieser Vorhaben“ bestimmen.5 Das Wissen um diese Hintergründe leitet denn auch die Rezeption der Texte. In der Produktion von Werbetexten arbeitet – wie bei vielen Medientexten – nicht eine einzelne Person, sondern es wirken eine Vielzahl von Menschen aus verschiedenen Professionen mit unterschiedlichen Befugnissen an einem einzelnen Text oder öfter auch an einem über einzelne Medien hinausgehenden Textkorpus mit.6 In diesem Prozess entstehen textlinguistisch komplexe Texte. So sind einerseits medienspezifische Sprache-Bild-Texte7 zentral für die Werbung, jedoch sind auch Hörtexte, filmische oder televisive Texte und multimediale Hypertexte zu nennen. Aus semiotischer und funktionaler Perspektive nennt man Werbetexte appellativ oder operativ,8 eine unspezifische textuelle Adressatenbezogenheit.9 Weitere Typisierungen des Werbetextes lassen sich in der Komposition von Schlagzeilen und erläuternden Texten finden, in der Syntax und dem Rhythmus der Werbeslogans, im Wortschatz festhalten. Gerade im Fall der Lexik ist besonders das Hochwertvokabular, Neologismen, das Spiel mit Phraseologischem auffällig.10 Nicht minder wichtig ist, auch dies ein Kennzeichen für Werbung, das ausgewählte Personal11: Männer, Frauen, Kinder, Alte, Jugendliche, Fantasiefiguren sowie magische Helfer erscheinen in einem kleinen Repertoire an Rollen. Besonders wichtig ist dann auch die präzise Einpassung von ausgewählten Stimmen12 und Musik. Schließlich folgen Werbetexte in ihrer Gestaltung auch allgemeinen medienspezifischen kompositorischen Schemata13.
4 Der Begriff des Massenmediums wird durch die Abwendung von einer ausschließlich produktionsseitigen Textanalyse in den Medienwissenschaften obsolet. 5 Vgl. Schnierer (1999: 13ff.), Schweiger; Schrattenecker (1992: 9), Brosius; Fahr (1996: 12). Eine Zusammenfassung hinsichtlich der Rezeption, Wirkung und Neben-Wirkungen von Werbung bietet Schnierer (1999). 6 Die Wahl eines Textes oder Textkorpus für eine Kampagne beispielsweise geschieht in einer Verhandlung zwischen Werbetext-Professionellen und entscheidungsrelevanten Laien, vgl. Schmidt; Spiess (1994). 7 Zum Zusammenspiel von Text und Bild vgl. Kress; van Leeuwen (1996), Sandig (2000). 8 Vgl. Reiss (1976), Sowinski (1998). 9 Diese kann zwar in den empirisch vorliegenden Texten als von den Produzenten erwünscht betrachtet, jedoch nicht grundsätzlich als im Text gegeben behauptet werden. 10 Vgl. Römer (1968), Sowinski (1979), Janich (1998), Hemmi (1994). 11 Vgl. die Monographie von Jäckel (1998), einzelne Aspekte zum Personal in Schmidt; Spiess (1995) und in Merten; Schmidt; Weischenberg (1994). 12 Vgl. Tröhler (1995). 13 Für die Anzeige vgl. Vinken (1978), für Radiowerbung Burger (1993), für Fernsehspots Christen (1985), Grimm (1996) und Wyss (1998).
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2. Das neue Paradigma: der Werbetext ist medialer Metatext Durch die präzise Platzierung der Werbetexte in ausgewählten Medien – ihre Veröffentlichung oder Ausstrahlung in ganz bestimmten Publikationsräumen und zu präzise bestimmten Publikationszeiten – und mit der großen Anzahl von Wiederholungen entsteht ein Dilemma.14 Die Werbetexte werden zu einem kulturellen Nebengeräusch, welches nicht die gewollte Beachtung erhält.15 Die Texte gelangen daher in einen Wettstreit um Aufmerksamkeit. Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken entwickeln Fachleute textuelle Verfahren, von welchen sie sich Vorteile hinsichtlich der Rezeption erhoffen. So wurde lange Zeit mit farbigen Bildelementen, mit Erotisierung, mit der Verwendung von populärer Musik, mit der Serialisierung und schließlich auch mit der Ästhetisierung des Textes gearbeitet. Seit den 80er Jahren wird ein weiteres textuelles Verfahren, das auch schon früher Verwendung fand, auffällig, vielleicht häufiger, aber sicher auch deutlicher16: das postmoderne Zitieren von medienspezifischen Gestaltungsprinzipien. Der Werbetext variiert, ahmt nach, imitiert, parodiert mediale Texte, in deren Kontext er sich befindet. Gleichzeitig entsteht damit ein Spiel mit dem Prinzip der Wiederholung; identifikationsstiftende Wiederholungen stehen neben Abweichungen, Fragmenten und Collagen. Durch der Häufung dieser Phänomene und die Verbreitung dieser Prinzipien auch in anderen Texten wird die Tatsache der Abweichung undeutlich17, der gestalterische Rahmen hingegen, vorher noch Hintergrund, die mediale Einordnung tritt in den Vordergrund.18 Der chamäleonhafte Werbetext etabliert sich auf diese Weise, verstärkt durch die Stilisierung und Ästhetisierung19 der medialen Texte, zum Meta-Text. Der Werbetext ist der Text, der alle Register beherrscht, alle Genres imitiert, stilisiert, parodiert. Im Werbetext versammeln sich die textuellen Dimensionen des Mediums. (Wyss 1998) Der Werbetext wird auf diese Weise zum prototypischen Medientext.
14 Vgl. dazu auch Cook (1992). 15 Hier sind als die wichtigsten VertreterInnen einerseits die Kunstschaffenden zu nennen (Warhol etc.), die eine Annexion der Werbe-Bildwelten betreiben; dann die Gruppe, die sich später als Publivores (www.publivores. fr) formierte, welche dem Werbespot einen ästhetisch-unterhaltenden Status zukommen lässt und schließlich die jugendkulturelle Rezeption der unterschiedlichen städtischen Party-Tribes der späten 80er und 90er Jahre. 16 Dies ist ein Effekt der Professionalisierung der Werbe- und Medienschaffenden. 17 Auch die Trennung zwischen redaktionellem Text und Werbetext, zwischen Fiktion und Fakt wird weniger klar. 18 Jede Variation von Texten folgt aber auch einem grundlegenden ästhetischen Prinzip: Variation ist eine Funktion von Unterhaltung, im Sinne des rhetorischen delectare. Klein (1998: 101f.) führt dazu richtigerweise aus, dass die Komponente der Unterhaltung in Erinnerung an das rhetorische delectare nicht grundsätzlich negativ bewertet werden muss. 19 Vgl. Hickethier/Bleicher (1997).
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3. Les Liaisons dangereuses... ein Exkurs zur Methode „Qui pourrait ne pas frémir en songeant aux malheurs que peut causer une seule liaison dangereuse! et quelles peines ne s‘éviterait-on point en y réfléchissant davantage!“20 – Mit dem Ausdruck der „Liaisons dangereuses“ wird nicht etwa eine Anspielung an die negative gesellschaftliche Bewertung von Werbetexten insinuiert. Auch soll mit dem Zitat nicht ein nostalgischer, also zu einfacher, Bezug hergestellt werden zu einer – wohl stets vergangenen – Zeit. Mit dem Begriff der „Liaison“ soll ein theoretischer und methodischer Kontext angedeutet werden, der sich von der „Konstruktion“ oder der „Inszenierung“ entfernt, und die Beschreibung der Verhältnisse viel eher mit der Methode der intertextuellen Analyse – der Analyse von Beziehungen zwischen Texten – versucht.21 Dies ist deshalb empfehlenswert, weil mit dem Konzept der Intertextualität ein Kontext geschaffen wird, in welchem gute und griffige Beschreibungsinstrumente für Produktion, Text und Rezeption geliefert werden und weil die Aspekte von „Konstruktion“ und „Inszenierung“ damit geradezu gebündelt und methodisch präzisiert werden. (Vgl. Burger 2001, 15)22 Die intertextuelle Analyse hat als Methode der Medienanalyse durch Barthes bereits früh (1957 [dt. 1964]) mit exemplarischen Untersuchungen von Alltagstexten über literarische Texte hinaus erkenntnisreiche Anwendung gefunden. Berger (1972), Eco (1984) und Burger (1993) führen später auch intertextuelle Analysen an Werbetexten durch.23 Mit einer intertextuellen Analyse geschieht eine Fokussierung auf den Text. Damit wird das besonders im Medienalltag wenig realistische Konzept „Autor“ in einem ersten Schritt sekundär. Ein Blick auf die Texte, die in Produktionsprozessen stehen, zeigt außerdem eine Vielfalt von Texten mit einer Beteiligung von mehreren Autorinstanzen. Gleichzeitig entstehen durch diese Produktionssituation heterogene und brüchige Texte, in welchen Zitierungen unterschiedlichster Art vorkommen, aber vielfach nicht transparent gemacht werden. Die sogenannte Realität, auf welche das Medienprodukt referiert, ist denn oft auch ein Text. Die Texthaftigkeit der „Realität“ ist umso brisanter, als die Medien sich zunehmend selbstreferenziell verhalten. Eine weitere Ausrichtung der Intertextualität kann mit Fiske die vertikale Intertextualität genannt werden, diejenigen Bezüge, die entlang der Linie Produktion – Text – Rezeption hergestellt werden.24 Hierbei wird klar, dass der einzelne spezifische Text jeweils ein anderer ist, je nachdem von wem er gelesen, rezipiert und interpretiert wird. (Vgl. Burger 2001: 16f.) Die intertextuelle Analyse zeigt Beziehungen zwischen einem Text und anderen vorzeitigen, gleichzeitigen und nachzeitigen Texten auf, zwischen realem Textmaterial meist. Intertextualität bezieht sich aber auch auf textuelle Strukturen, beispielsweise die Sequenzierung des Textes oder die Zuordnung zu Textsorten und Genres. 20 Lettre CLXXV, Madame de Volanges à Madame de Rosemonde, vgl. Laclos (1782). 21 Zur Idee der Konstruktion vgl. Merten; Schmidt; Weischenberg (1994), zur Inszenierung vgl. Müller-Doohm; Neumann-Braun (1995). 22 Eine umfangreiche Studie zu Phänomenen der Intertextualität in Printmedien legen Luginbühl, Baumberger; Schwab; Burger (2001) vor. Die neuere linguistische Diskussion des Begriffs der Intertextualität findet sich in Antos; Tietz (1997) und Klein; Fix (1997). 23 Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts führt Aby Moritz Warburg kulturwissenschaftlichen Studien an, die weit über den kanonisierten High culture-Bereich hinausgehen, wie Motive oder Topoi, sogenannte Pathosformeln, die intertextuell anthropologisch verankert sind. (Vgl. Warburg 1998 [1932]). 24 Vgl. Fiske (1987), der für die Fernsehtexte eine horizontale und eine vertikale Intertextualtität unterscheidet.
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Mit dem Ziel einer medien- und handlungstheoretischen Einbettung der Analyse kann der Blick auf die Textbeziehungen, Intertextualitäten, nicht nur auf die Art und den Zweck der Verbindung zwischen Texten gelenkt werden, sondern sie sind durchaus und sinnvollerweise auf die Verhältnisse zwischen Textproduktion und Text beziehungsweise Text und Textrezeption auszuweiten.
4. Werbung im Fernsehen25 Seit einiger Zeit ist die Trennung von Programm und Werbung im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen nicht mehr gewährleistet.26 Deutlich wird dies nicht nur an der Vielzahl von werbenden Texten im redaktionellen Textteil, sondern auch am Verlust der Funktion der Werbesignete, an der zunehmenden und aktiv gestalteten Verflechtung der Textteile durch mündliche Überleitungen und schließlich an der Imitation, der Mimikry, von Fernsehgenres durch die Werbetexte und der Nachahmung der Werbung durch die redaktionellen Fernsehtexte. Gleichzeitig gestalten neue Rezeptionsmuster den Fernsehtext neu als Zapping-Collagen, die die Frage nach den medialen Typen oder Genres ebenfalls in den Hintergrund treten lassen. Hier werden nicht sämtliche Verfahren dieser Grenzüberschreitungen vorgeführt; drei zentrale Aspekte sollen fokussiert werden: einerseits werbende Texte des Fernsehens, andererseits die Frage nach den Textgrenzen und der Funktion von Moderationen und Ansagetexten und schließlich die Mimikry.
4.1 Werbespots, Werbung und werbende Texte Wer Werbetexte von anderen Fernsehtexttypen unterscheiden möchte, sieht neben den bekannten Werbespots eine Vielzahl an Spots und spotähnlicher Werbung, die – dies mag durch die teilweise gegebene Illegalität (Volpers 1998) erstaunen – auch außerhalb des Werbeblocks ausgestrahlt wird. Mit der Platzierung von TV-Spots außerhalb des Werbeblocks, das man als Spot Placement (Wyss 1998) bezeichnen kann, werden TV-Spots im traditionellen Fernseh-Programm-Text gestreut. Spots finden sich auf diese Weise in Kultursendungen, in Newssendungen oder in eigens zur Publikation von TV-Spots konzipierten Sendegefäßen. Damit werden TV-Spots im Fernsehen zu Kulturprodukten. Über diese Verbreitung von TV-Spots hinaus findet man im Fernsehen eine bunte Palette von Werbetechniken, die nicht dem gestalterischen Prinzip des Werbespots folgen. In redaktionellen Texten (und Fernsehfiktion) sind dies mehr oder minder auffällige Werbeme-
25 Aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichte ich hier auf eine Trennung von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern. 26 Für die formale und juristische Seite vgl. Volpers (1998), eine inhaltlich medienlinguistische Analyse bietet Wyss (1998).
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thoden: die Platzierungen von Markennamen, Herstellernamen oder Produkten, das Product Placement, das meist kaum von Schleichwerbung zu unterscheiden ist.27 Produktewerbung findet sich auch in eigens zu diesem Zweck eingerichteten Spielshows, in welchen Produkte ins Zentrum des Interesses gestellt werden. Etwas versteckter wirbt man in Quiz- und Gameshows mit Preisen; etwas offener wirbt man in Teleshoppingsendungen. Das Sponsoring erlaubt eine direkte und positive Verbindung mit hochwertigen Newssendungen, Sportübertragungen oder Spielfilmen. Und mit dem Angebot von Teletext-Seiten bildet sich einen leicht zugänglicher Werbe-Fernseh-Nebentext. Mit dem Bartering, dem Verkauf von Ausstrahlungsrechten an Fernsehsendungen – dies gilt besonders für Fernsehfiktion und Sportsendungen – gegen das Überlassen von Werbezeit bestimmen UnternehmerInnen unerkannt den Fernsehtext. Aber auch fernseheigene journalistische Texte wie dies beispielsweise die Ansagetexte (Bleicher 1997) sind oder Trailer für Fernsehfilme, aber auch Senderjingles oder die Anpreisung von Merchandisingprodukten des Senders sind in erster Linie werbende Texte, die außerhalb der Werbeblöcke gezeigt werden. Mit der Annäherung dieser Texte an fernsehspotspezifische Gestaltungsweisen wird dies umso deutlicher.28 Zum traditionellen TV-Spot gesellen sich demnach eine Vielzahl von werbenden Texten des Fernsehens.
4.2 Textgrenzen, trennend oder integrierend In vielen Sendeanstalten wird der Fernsehtext von Gesetzes wegen mit textuell-technischen Mitteln in Programm und Werbung geteilt. Dies geschieht durch Trenntafeln oder Werbesignete mit dem Ziel, Textzuordnungsmißverständnisse der ZuschauerInnen zu vermeiden.29 Damit inszeniert sich der Sender als paternalistischer Beschützer. Er schützt jedoch nicht nur publikumsfreundlich die vermeintlich dem Text ausgelieferten ZuschauerInnen, sondern gleichzeitig, und dies in ebenso bedeutendem Masse, sein eigenes Image: Der Sender gibt sich seriös. Die Signete erfüllen nun aber ihre Aufgabe nicht, beziehungsweise sie erfüllen ihre Aufgabe seit einiger Zeit nicht mehr: Mit dem Aufkommen der Fernbedienung in den 80er Jahren und der damit verbundenen zappenden oder switchenden Seh-Kultur werden Werbesignete Teil der individuellen Fernsehcollage und dort zu Fragmenten des Senders. Eine weitere Quelle der Verwischung von Textgrenzen, ist die Ästhetisierung der Signete, die Einbindung in das ästhetische Senderkonzept.30 Die Signete werden damit in ihrer Gestaltungsweise meist gleichzeitig der Werbung angepasst und verlieren so ihre Abgrenzungsfunktion. 27 Vgl. Volpers (1998: 78). 28 Vgl. Hickethier; Bleicher (1997). Die Fernsehspots imitieren ihrerseits auch die Genres des Fernsehens. Vgl. unten. 29 Die Einschätzung der ZuschauerInnen wird seit den 40er Jahren kritisch reflektiert, die Diskussion wurde jedoch in den Medienwissenschaften erst Jahrzehnte später rezipiert. Eine Aufarbeitung der Ausblendung dieses Forschungsbereichs gibt Ayass (1993). 30 Zur Ästhetisierung von Signeten vgl. Hickethier (1997).
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Durch Moderations- und Ansagetexte31 werden Werbung und Programm explizit kommunikativ verbunden. Mit einem Blick in die Kamera und der Floskel „...wir machen nun eine Pause“ oder „...es folgt nun Werbung, bleiben Sie dran“, „...wir sind gleich wieder da“ sagen ModeratorInnen explizit und implizit den Werbeblock an. Mit diesen Vertextungselementen wird der Werbetext noch stärker in den Fernsehtext integriert.
4.3 Mimikry Eine inhaltliche, strukturelle und auch topische Verbindung mit Fernsehtext gelingt den Werbespots durch Nachahmung, Mimikry von Fernsehsendungen.32 Werbespots imitieren Fernsehen als Fernsehnachrichten, als Wettervorhersagen, als Talkshows, Wissenschaftssendungen und Fernsehfiktion.33 Nach dem Ertönen der Trompete von Alamo, einem traditionsreichen Genremerkmal des Western, tritt ein als Katze verkleideter Hund durch eine Flügeltüre, und steht sogleich einer sozusagen echten Katze gegenüber. Der Hund verdeckt sein Fell unter einem hellblauen Badezimmerteppich und hat sich eine Katzenmaske angezogen, um zum Futternapf vorgelassen zu werden. Die Katze erkennt das Crossdressing des Hundes sofort und entlarvt ihn sichtlich belustigt. Sie lässt ihn dennoch nicht an ihren Futternapf. ‚Product Shot‘34 Der Spot nimmt zwar einige Momente des „Katzenfutter-Spot“ auf, dennoch prägen ihn Elemente des Western und des Italowestern: Die Musik erinnert an Kompositionen von Ennio Morricone, wie sie aus Sergio Leones Western bekannt sind. Zitiert wird die Filmmusik aus „Il buono, il brutto, il cattivo“, eine Reminiszenz an die Camel-Werbung, welche diese Musik auch schon verwendete. Die Trompete von Alamo, die beim Eintreten des verkleideten Hundes durch die Flügeltür ertönt, kennzeichnet die Pointe des Spots und ist als Zeichen des „last minute rescue“ in amerikanischen und italienischen Western Legende – ein Zitat des Belagerungs- und Befreiungsmoments. In der Flügeltüre etabliert sich ein weiteres stereotypes Moment vieler Western: Die wohlbekannte Saloon-Szene, in welcher Gut und Böse aufeinandertreffen. Katze und Hund geraten aber eher zu zwei rivalisierenden Protagonisten, wie man es im Stereotyp „der Schlaue“ und „der Tollpatsch“ kennt; eine Anspielung an das Dick- und- Doof-Motiv in Spaghettiwestern, wie es vielfach von Terence Hill und Bud Spencer verkörpert wurde. Der Werbespot imitiert, parodiert, zitiert unterschiedliche Aspekte des Fernseh- oder Kinowestern: Western-Mimikry. Der Werbetext ist somit ein Gefüge, welches durch vielfache Überlagerungen verschiedener Genres komplex wird. Die Frage nach Original und Kopie wird obsolet, weil auch die andere Seite – wie oben bereits ausgeführt – auch die Fernsehredaktion Werbetexte kopiert, imitiert und parodiert.
31 Zu Ansagetexten vgl. Bleicher (1997). 32 Zum biologischen Begriff der Mimikry vgl. Sitte (1999). Ausführlich zu Mimikry im Fernsehen vgl. Wyss (1998). 33 Mimikry-Effekte zeigen sich denn auch als Filmzitate in der Kinowerbung. 34 Xirah-Katzenfutter-Spot Schweiz (Migros, Oktober 1997).
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5. Anzeige und ‚Anzeige‘ – Werbung in Zeitungen Zeitungen und Zeitschriften liefern einen ebenso reichen Fundus an werblicher Intertextualität. Werbetexte gehen auch hier zahlreiche Verbindungen ein mit Texten aus verschiedensten nicht werblichen Bereichen, und auch die sogenannt redaktionellen Texte35 sind immer mehr und immer häufiger mit Werblichem vermischt. Aus diesem breiten Spektrum der offenen und heimlichen Zeitungswerbung sollen hier zwei Typen herausgegriffen werden: die Werbeanzeige und die als ‚Anzeige‘ deklarierte Publireportage.
5.1 Intertextualität in Werbeanzeigen Werbeanzeigen in Zeitungen und Zeitschriften sind verbunden mit Textstrukturen und -elementen der verschiedensten Medien. Im Aufbau folgt die Werbeanzeige einem altvertrauten Muster, derjenigen des Emblems oder Sinnbilds, einer Textsorte der frühen Neuzeit.36 Der dreiteilige Aufbau des Emblems verbindet Inscriptio, die kurze Überschrift, mit Pictura, einer bildlichen Darstellung der Aussage und mit Subscriptio, einer Erklärung der Darstellung durch einen erläuternden Text. Dies entspricht einem mnemotechnisch angelegten Muster, welches im Emblem Lehrinhalte mit einem anschaulichen Symbol verbindet.37 Das Bildmaterial der Werbeanzeigen entstammt nicht selten, dies beschreibt Berger (1972, 28f. und 129ff.), den populären Beständen der bildenden Kunst. Dabei werden nicht nur ganze Werke, sondern mitunter auch Bildkompositionen, einzelne Gesten oder Haltungen zitiert. Das Zitieren künstlerischer Auctoritas bringt Werbung in einen positiv bewerteten textuellen Zusammenhang. Durch die Funktionalisierung, die Werbefunktion des Textes, wird diese Aufwertung jedoch stets aufgehoben. Auf der Textebene werden populäre Kulturgüter wie beispielsweise Idiome, Sprichwörter und geflügelte Worte in den Werbetext integriert. Diese kulturellen Textbausteine werden selten in der originalen Form zitiert, sondern an den Werbezweck und an einen thematischen Kontext im Werbetext selbst angepasst; nicht selten geschieht diese Integration mit einer humorvollen Pointe. (So ist beispielsweise auf einem englischen Bierdeckel zu lesen: to beer or not to beer.) Intertextuelle Verbindungen gehen auch in die entgegengesetzte Richtung. Seit den Dadaisten sind Bilder, Slogans und Logos der Werbung ein Zitatenschatz für absurde, kulturkritische und humorvolle Adaptationen in Kunst und Alltag. Werbe-Bilder in moderner Kunst kennt man spätestens seit Pop Art; und jeder erinnert sich an die alltäglichen spielerischen Anverwandlungen von Werbeslogans. Nicht zuletzt hat sich das angewandte Kunstschaffen, das grafische Gewerbe, bei der Gestaltung von Party-Flyern Rang und Namen gemacht mit spielerischen Adaptationen von Werbe-Logos. So schließt sich der Kreis: Werbung zitiert Werbung.
35 Bachmann (1997) verdeutlicht in ihrer aktuellen medienlinguistischen Untersuchung, dass 60% aller Zeitungsartikel der regionalen und lokalen Berichterstattung auf Public Relations-Texte zurückgehen. 36 Vgl. Vinken (1978). 37 Einen Überblick zu den Sprache-Bild-Texten gibt Sandig (2000). Vgl. auch Kress; van Leeuwen (1996).
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5.2 Mimikry der Zeitungsartikel Offensichtlichere Täuschungsmanöver versuchen die Zeitungen mit der Publikation von Publireportagen, die – mit dem Ausdruck ‚Anzeige‘ – gekennzeichnet sind oder sehr häufig ohne Kennzeichnung abgedruckt werden, wie man es aus Modezeitschriften beispielsweise kennt. Diese Form der Zeitungsmimikry findet sich nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften, die als Werbeträger konzipiert sind. In diesen jedoch dient die Publireportage38 als angenehmes Werbeumfeld für Werbetreibende. Die Publireportage imitiert redaktionellen Text auf der Ebene des Inhalts und auf der Ebene der äußeren Gestaltung, des Layouts. Der Text der Publireportage folgt dem Prinzip der Reportage, man unterlässt jedoch Ausführungen über negative Punkte, kritische Aspekte und unvorteilhafte Perspektivierungen. Eine außerredaktionelle Variante dieser Publireportage findet sich in der als ‚Anzeige‘ explizit kenntlich gemachten Publireportage. Diese ist inhaltlich stärker positiv gehalten und versucht auf der formalen Ebene das Verbot der Angleichung an das Layout des Hefts mit Mimikry dieses Layouts zu umgehen. Das Täuschungsmanöver besteht in der Nachahmung der Form eines Zeitungsartikels der jeweiligen Zeitung mit nur leichten typografischen Abweichungen, so dass eine Verwechslung durchaus möglich wäre – würde der Text nicht mit einer Rubrizierung (‚Anzeige‘) ausgestattet. Hier zeigt sich ein Interessenkonflikt des Publikationsmediums: man lässt zwar die Nachahmung zu, schützt sich jedoch mit der Kennzeichnung vor dem Vorwurf des Täuschungsversuchs.
6. Intertextualität der Werbung im Internet Die Popularisierung des Internet durch das interaktive und multimediafähige World Wide Web (WWW) seit Mitte der 90er Jahre und der damit verbundenen Zuwachs an UserInnen39 bot neue Werbe-Möglichkeiten und neue WerberezipientInnen.
6.1 Werbung und Werbeformen im WWW Das WWW bietet durch die Integration bereits bekannter Medien bekannte Möglichkeiten der Intertextualität: kleine Anzeigen, kleine Filmsequenzen werden in das Medium integriert. Das WWW bietet außerdem in seiner Interaktivität und durch die teilweise quasi-synchrone Kommunikation ein großes Spektrum an interaktiven Werbeangeboten, in welchen Werbung an Informationsdienstleitungen (Newsserver) gekoppelt wird. Gleichzeitig verstehen viele Betriebe, Institutionen und Behörden das WWW generell als Werbemedium, so dass Werbung durch die Website, nicht bloß auf der Website-Seite realisiert wird. Dies ist ein Grund, weshalb es oft schwer fällt, eine eindeutige Unter38 Eine als Reportage verfasste, gefällige Präsentation eines Produkts erscheint als Zeitungstext. 39 Gleichzeitig wuchs auch die Zahl der Non und Ex-UserInnen. Vgl. Wyatt (1999).
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scheidung in kommerzielle und nicht-kommerzielle Web-Sites oder Home-Pages vorzunehmen40. Problematisch ist die Trennung von Werbung und Information im Fall der Koppelung von Werbung an Internet-Dienste, beispielsweise an Suchmaschinen. Hier sind ökonomisch-funktionale Verhältnisse zwar nicht versteckt, aber doch sehr komplex und daher nur schwer durchschaubar.41 Schließlich steht im Medienmix der Werbekampagne die WWW-Werbe-Site meist in enger intertextueller Verbindung zu den Werbekommunikationen in anderen Medien. Geworben wird, wenn nicht mit ganzen Seiten, so doch sehr oft mit kleinformatigen rechteckigen Werbeflächen, Banner und Buttons. 42 Diese entstanden mit der Bildfähigkeit des WWW, ihre Vorläufer kann man in der statischen und animierten Außenwerbung finden, man erkennt eine Analogie zu Schaufenstern, Lichttafeln oder Leuchtschriften; zweitens erinnern die Werbebanner an Bandenwerbung in Sportstadien und drittens folgen sie den Gestaltungsprinzipien von bereits bekannter kleinformatiger Werbung, beispielsweise den Werbeaufklebern und Werbestickern. Im WWW lassen sich außerdem selbstreferenzielle Ausprägungen, Formen von WWWMimikry, beobachten: Werbebanner integrieren beispielsweise Browserbedienungselemente, wie Pfeile, Buttons und Scrollbalken. 43 Solche HTML-Banner integrieren WWWBedienungselemente und erlauben durch die interaktiv angelegte Werbung Kommunikation mit den WWW-Usern. Die Werbung verweist damit auf bereits bekannte oder gar vertraute Kommunikationsformen des WWW. Eine Bannerform, welche die HTML-Banner imitiert, täuscht hingegen diese Browserbedienungselemente bloß vor. Diese sind nicht in derselben Weise interaktiv: beim Versuch die Bedienungselemente in gewohnter Weise anzuklicken oder zu bedienen, wird ein Link zur Werbe-Homepage ausgelöst und eine Werbe-Seite erscheint in einem neuen Browserfenster auf dem Monitor. WWW-Mimikry fungiert hier als Köder. Es ist aber fraglich, ob mit solchen Täuschungsmanövern die gewollte Wirkung erzielt wird.
6.2 E-Mail-Werbung oder E-Mail-Advertising Als Global Advertising44 zeigt sich die E-Mail-Werbung.45 Diese kommuniziert aber nun unter denkbar schlechten Vorzeichen: Sie verletzt die Kommunikationsregeln des Internet, die Netiquette. Werbung per E-Mail-Brief wird von der Net Community gemeinhin als Advertising Flame, als Belästigung, wahrgenommen. 46 Dieser Konflikt wird bis anhin nicht gelöst. 40 Vgl. Skrypek (2000). Storrer (1999) hingegen unterscheidet neben den kommerziellen, private, persönliche, institutionelle und themenbezogene Homepages. Vgl. zu Werbung auf dem WWW vgl. Zimmer (1998). 41 Dabei müssten neben sichtbaren Werbebannern auch die Eintragungen von Suchwörtern, das Metatagging von Webseiten und die Sponsoringverhältnisse, die sich beispielsweise als Links zeigen könnten, berücksichtigt werden. 42 Vgl. ausführlich http://www.werbeformen.de. 43 Zum Bedienungselement Pfeil vgl. Wyss (2003), Storrer. 44 Einen Überblick über die Formen und Probleme des globalen Marketing gibt de Moijj (1994). 45 Zur E-Mail vgl. Ruhnkehl (1998); Hess-Lüttich (1997); Wyss; Günther (1996). 46 In den Netiquettes wird Werbung explizit als nicht erwünscht aufgeführt. Vgl. die Netiquette-Homepage von Virginia Shea (http://www.albion.com/netiquette/book/)
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Eine Unzahl von scheinidentifizierten E-Mail-Werbebotschaften werden an Leute mit einer User-ID verschickt. Die E-Mails enthalten in ihrem Absender einen Vornamen der mit einer erfundenen Mail-Adresse verbunden ist. Hier wird mit dem Absender eine täuschende E-MailMimikry versucht. Die Mail erscheint in der Mailbox als privates Schreiben. Auch in den Subjects wird mit den Internet-Codes gespielt: so verwendet man Ausdrücke wie „Wichtig“ oder „Dringend“, wie sie auch in Geschäfts-E-Mails häufig verwendet werden. Die E-MailMimikry soll die User dazu bringen, die Mail zu öffnen, zu rezipieren anstatt sie ungeöffnet zu löschen. Ob damit wirksam geworben werden kann, kann auch hier bezweifelt werden. Eine auf eine komplexe Art und Weise verdeckte E-Mail-Werbung sind die Newsletter. Hier wird auf Wunsch der Abonnentin, der Empfängerin der Newsletter, individualisierte (oft von den Werbetreibenden als personalisiert bezeichnete) Information zugestellt. Bei dieser Information handelt es sich beispielsweise um preisgünstige Angebote sowie um branchenspezifische Dienstleistungen. Daher kann diese sogenannte Information ohne Skrupel auch als Werbung bezeichnet werden. Diese „kommerzielle Information“ wandelt sich nun jedoch mit dem Trick des Abonnements – mit dem Auftrag der Kundin – zu einer Dienstleistung. Diese Form der Werbung ist außerdem sehr bedeutend, da mit Hilfe der persönlichen Informationen, die der Abonnent dem Vertreiber liefert, zusätzlich weitere individualisierte Werbung – eine zusätzliche Werbe-Ebene entsteht. Ein Newsletter bedeutet daher eine vom Kunden, von der Kundin autorisierte Umkehrung der Verhältnisse.47
7. Dekonstruktion bei „The Blair Witch Project“48 Eine außergewöhnliche Form werblicher Kommunikation wurde für den Kinofilm „The Blair Witch Project“ gefunden. Das Thema des Films, das interessanterweise ja gleichzeitig auch Anlass und Grund des Films war, nämlich das Verschwinden der drei Studierenden der Filmschule, wurde auch Thema der Werbekommunikation. In vielen Medien inszenierte man die Verwunderung über das unerklärliche Verschwinden der drei Studierenden der Filmschule. So wurden nicht wenige neugierig auf deren einzige Hinterlassenschaft in dieser Welt, die anscheinend dokumentarisch-authentischen Videoaufzeichnungen der Studierenden, das gleichzeitig das einzige Indiz für die Existenz und skurrilerweise auch für das Verschwinden der Filmstudenten darstellte. Diese Videobänder wurden denn auch „als Film“ oder „mit dem Film“ gezeigt. Der Film handelte vom Verschwinden derjenigen Personen, die im Film oder durch den Film auch ein Stück Realität ihrer selbst zurückliessen, diesen Film „The Blair Witch Project“. Auf diese Weise verquickte man gekonnt Realität und Fiktion. Sowohl in der Werbung wie im Kinofilm wurden die verschwundenen Filmstudenten als (Co-)Autoren des Films dargestellt. Die Autorinstanz des Films, eine Figur die normalerweise der „Realität“ angehört, 47 Diese Werbeform wird auch für die Mobiltelefonie (per SMS) angeboten. 48 Ich danke Ursula Ganz-Blättler für den Hinweis auf die Web-Site und den strategisch interessanten Medienmix der Kampagne.
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wurde somit in die fiktionale Welt des Films integriert. So konnte sich eine Verschiebung der üblicherweise getrennten Sphären Film und „Realität“ etablieren. Die Personen, nach denen man suchte – mittlerweile war nicht mehr klar ob dies für den Film, im Film oder außerhalb des Filmes stattfand –, wurden aber nun gleichzeitig im Projekt als vermisste Filmstudenten (im Film, wie in der Werbung zum Film) zu Personen, die dieser Welt angehören mussten. Verwirrung stiftete denn auch ein Teil der Werbung, die als Suche nach den Autoren des Films, den Filmstudenten, fortgesetzt wurde. Auch im WWW führte man diese Verquickung fort und inszenierte die Website49 als Frage nach dem Verschwinden dieser Autoren. Ausserdem folgte man in der Gestaltung der Website – wie Telotte (2000) ausführt – nicht dem Genre der Horrorfilm-Websites. Die Werbekampagne setzte formal, strukturell und thematisch die Geschichte des Films als intertextuelle stark verflochtene Fortführung des Textes um. Werbliche Kommunikation wurde hier nicht – wie es bei Werbung der Fall ist – als Kommunikation zum Film, sondern zu Kommunikation zusätzlich zum und neben dem Film. Im Fall des „The Blair Witch Project“ wurden Film, WWW und die bei der Uraufführung verteilten Missing-Zettel50 zu einer einzigen Geschichte. Die Unterscheidung von Fiktion und Realität und damit auch die Trennung von Film und Werbung war aufgehoben.51 In der mit dem Projekt etablierten spezifischen (unheimlichen) Kommunikationssituation ließen sich reale Welt und Kinowelt verschmelzen. Werbung wurde auf diese Weise zu einem Teil der Story, der Geschichte, und – auf verschiedensten Ebenen wohl – auch Teil des Projekts.
8. Verstecken, Vertuschen, Verheimlichen Zwischen der Wiederholung und der Abweichung und mit dem Wissen um die Möglichkeit der Identifikation des Textes wird diesen identifikationsleitenden Prinzipen entgegengewirkt. Das Resultat sind Imitationen, Zitate, Parodien und offensichtliche Täuschungen, kurz: Mimikry. Mimikry wird eingesetzt, um den Text angenehm, intellektuell anregend, witzig, humorvoll zu gestalten. Mimikry bringt scheinbar die Möglichkeit, die kulturelle Abwertung, die Werbung immer schon bei sich hat, zu überwinden. Das Spiel mit Signifikanten bleibt aber immer durchschaubar, nachvollziehbar auch deshalb, weil das Verstecken des Werbens qua Werbefunktion des Textes immer aufgedeckt bleiben muss. So bleibt Mimikry ein am-
49 Erwähnung im US-Fernsehen (in John Piersons Split Screen Show) am 27. 8. 1997, wurde im Juni 1998 die Website (www.blairwitch.com) lanciert, Trailers auf der berühmten Website „Ain’t It Cool News“ von Harry Knowles, die innerhalb einer Woche 75 Mio. Mal angewählt wurde. Vgl. Time Magazine 9. August 1999 bzw. 27. September 1999. 50 Für die Uraufführung des Films am Sundance Festival in Park City am 23. Januar 1999 wurde mit MissingZetteln der drei verschollenen Filmemacher geworben. 51 Die Kinoauswertung begann schließlich erst nachdem doch fast alle das Gerücht in Erfahrung bringen konnten: Am 14. Juli 1999 im Zentrum der postmodernen Welt, in Manhattan. Bis zum 9. August 1999 hat der Film allein in den USA gegen 140 Mio. Dollar eingespielt. (Die Filmemacher erscheinen auf dem „Time“-Cover).
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bivalenter Weg, das Belästigende, das Werbende der Werbung zum Verschwinden zu bringen.52 Tatsächlich versteckte Werbestrategien gewinnen durch die kulturell immer schon gedachte Abwertung des Werbetextes an Bedeutung. Die Versuche, das Werbende der Werbung zu verstecken, vertuschen oder verheimlichen sind meist in komplexe Kommunikationssituationen integriert.53 Einen wohl nicht absichtlich erzeugten Nebeneffekt, den die Mimikry von Genres des medialen Kontextes mit sich bringt, ist die Integration von Genres in ein einziges und die Darstellung beziehungsweise Vorführung der Integrationsfähigkeit dieser Genres. Durch das Imitieren, die Mimikry, wird Werbung zum alles sich einverleibenden Metatext. Dieses Aufheben von Texten wird zudem noch verstärkt durch im Prozess der Ästhetisierung beispielsweise spezifisch aufgebaute Kon-Texte, in welchen im Gegenzug werbespezifische Textstrategien in ursprünglich nicht werbliche Genres übernommen werden. Mimikry fungiert auf diese Weise einerseits als Strategie der Textvariation, andererseits ist sie ein Mittel der Re-Konstruktion des Genres selbst.
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52 Auf dem europäischen Werbemarkt lässt sich dies (mit nationalen Unterschieden) seit den 80er Jahren beobachten. So verwendet man seit einigen Jahren beispielsweise meditativ-kommunikativen Szenarien, in welchen man quer durch die Produktepalette hinweg mit ätherisch-harmonischen Klängen und ruhigen Bildern die globale Kommunikation vorführt. Dabei entsteht jedoch genauso über die Ununterscheidbarkeit der Produkte hinweg ein Effekt der stilistisch-inhaltlichen Wiederholung. Einen Anfang nahm diese Praxis 1995 mit der global lancierten und globalisierten IBM-Werbung, die Menschen aus entlegensten Ländern in ihrer Landessprache einen authentischen Slogan sprechen ließ. 53 Eine Grauzone bilden der werbestrategische Einsatz von Suchmaschinen auf dem Web, die heimliche Zensur in Zeitungsartikeln und die Verwendung von Privatinformationen aus dem Bereich der Dataveillance. So sucht die Suchmaschine nicht – wie man meinen würde – nach einem bibliothekarischen Schlagwortprinzip, die Zeitung betrachtet ihre Leser wenig rücksichtsvoll als Kunden und Kaufhäuser sowie Mobiltelefonieanbieter verwenden bislang als privat gehandhabte Informationen ihrer Kunden.(Vgl. Fiske 2000, Clarke 1994.)
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4. Globale Diagnosen
Vernetzte Zivilisationsumbrüche und Assoziationsspiele Peter Ludes
1. Alte Ängste und neue Medien Menschliche Beziehungen involvieren Ängste: bei der Bildung, Aufrechterhaltung, Erweiterung von Gruppenverbänden, Staaten oder sozialen Netzwerken und bei der Regulierung und Regel-Durchbrechung in den Wettkämpfen zwischen ihnen, ebenso wie bei individuellen Entwicklungen als Embryos oder Kleinkinder bis hin zum Sterben. Kaum ein Tag, selten eine Nacht ohne diffuse Ängste oder konkrete Befürchtungen vor existenziellen Herausforderungen und extremen Gefährdungen. Die Hervorrufung von Ängsten ist Teil zahlreicher Erziehungsprozesse und war jahrzehntelang Grundelement der Strategie der Abschreckung zwischen den NATO-Staaten und dem Warschauer Pakt in Zeiten des Kalten Krieges. Terrorismus verbreitet Angst und Schrecken und wird massenhaft über Telekommunikationsmedien frei Haus geliefert. Mit der Schwergewichtsverlagerung (in den jeweiligen Staatsbudgets ablesbar) militärischer Kontrolle nach außen und polizeilicher Kontrolle nach innen hin zu sozialstaatlich kontrollierter Sicherheit der Ausbildungsansprüche, der Anrechte auf Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung, transformierten sich in Wohlfahrtsstaaten existentielle Ängste vor unmittelbarer physischer Bedrohung, vor Krankheit ohne ärztliche Versorgung, sich wiederholenden alltäglichen körperlichen Gewaltangriffen, Rechtlosigkeit als Folge von Arbeitslosigkeit hin zum Konsum medial inszenierter Game- und Talk Shows, Soap Operas und Telenovelas. Viele dieser Ängste dominieren in der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaften mit mittlerer oder niedriger Humanentwicklung (vgl. Human Development Report 2006), kehrten aber auch für immer mehr Menschen in den reicheren Ländern in den letzten Jahren zurück und gründen in konkreten Erfahrungen persönlicher Unsicherheiten und existentieller Bedrohungen. Die von Elias 1939 diagnostizierte langfristige Entwicklung einer „Verhöflichung der Krieger“ gehört zudem zu den Prozessen, die u.a. durch die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln und deren Miniaturisierung in eine neuartige Phase mündeten. Monopolisierungen militärischer Gewalt durch zentralstaatliche Institutionen verlieren an Bedeutung durch neue Kriegsmittel, die keiner größeren militärischen Ausbildung und Organisation mehr bedürfen und auch von kleineren terroristischen Netzen eingesetzt werden. (Vgl.
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_23, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Münkler 2002 und Kegley 2003. Zur Interdependenz der Institutionalisierung von stehenden Heeren mit der Staatenbildung s. auch Sheehan 2006.) Hierbei sind diese Gewaltakte immer auch auf massenmediale Sichtbarkeit angelegt. Altheide’s (2004a: 289) Untersuchung von Nachrichten und Werbung in den USA zum Beispiel „suggests that popular culture and mass media depictions of fear, patriotism, and victimization contributed to the emergence of a national identity and collective action that transformed the meaning of terrorism from a strategy to a condition: terrorism world.“ Im Internet erreichte dies neue Dimensionen, wie Altheide (2004b: 223) in einer weiteren Untersuchung erkannte, als „control narrative of the Internet“, „as fear and control are reflexively joined to virtual communication in surveillance, deception, and entrapment in ‚Internet stings‘ by formal agents of social control.“ (S. auch Neidhart 2006 und Tomlinson 2006: 73-75.) Viel tief greifender lassen sich Angststrategien aber in nicht-westlichen Kulturen verfolgen, zum Beispiel bei der „sozialen Konstruktion der Angst in Rio de Janeiro“: Nur vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen mit Sklaverei, Mord und extremer Armut wirken aktuelle Verängstigungen. So gehört es zum „gewöhnlichen Schrecken und zur Ästhetik der Sklaverei. Tote schwarze Körper auf den Müllkippen der Stadt Rio de Janeiro sind bis heute ein bisweilen mit Gelassenheit aufgenommener gewöhnlicher Anblick. Gespeist aus dem Angstdiskurs sind damals wie heute die immergleichen Reaktionsmuster zu beobachten: die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod von Schwarzen einerseits und die Empörung über den Tod von Weißen andererseits; selektive, rassistische Strategien in der Polizeiarbeit, der Ruf nach dem Einsatz des Militärs, Forderungen nach immer härteren Strafen.“ Diese Beobachtungen der brasilianischen Kriminologin Vera Malaguti Batista (2006: 12) werden durch die eklatanten Unterschiede zwischen den Lebens- und Sterbeverhältnissen der weißen und schwarzen Bevölkerung Brasiliens bestätigt, wie sie der Human Development Report 2005 der UNESCO und ein Spezialreport aus demselben Jahr zu Brasilien dokumentieren (http:// www.pnud.org.br/rdh/geprüft am 06.07.2006). „Heute geht es darum, permanent Grenzen zu ziehen und zu definieren: gegenüber den ‚neuen Fremden‘, den vom Konsum Ausgeschlossenen ... In der sich andeutenden Hypertrophie des strafenden Staates, die einhergeht mit einem gleichzeitigen Abbau des fürsorgenden Staates, bringt die unbeschränkte Macht des Kapitals eine Welt hervor, in der nichts mehr sicher ist. Armut ist inzwischen nicht mehr eine Reservearmee von Arbeitskräften, sondern Zeichen von Unordnung, die isoliert und unschädlich gemacht werden muss. Die neue Weltordnung stellt in ihrer Peripherie eine ‚sekundäre Barbarisierung‘ dar. Aus dieser Perspektive der Brutalisierung und Kriminalisierung der Armut ist der Politiker auf nationaler Ebene ohnmächtig angesichts des Konfliktpotentials, das Ausgrenzung und Zügellosigkeit der transnationalen Wirtschaftsordnung auslösen. Die zerfallende politische Macht verfügt nicht mehr über einen hegemonialen kriminologischen Diskurs. Der Kampf darum spielt sich nun im Bereich der Kommunikationsmittel ab ... produziert der Konzentrationsprozess des Medien- und Finanzkapitals eine Art Einheitsdiskurs. Die Medien, die früher parteiische Berichterstatter waren, sind heute selbst Protagonisten“. (Batista 2006: 13) Eine ähnliche These vertritt auch Appadurai (2006: 24, 31-33) für weltweite Entwicklungen: „Collective imaginings and imagined collectivities, in the era of cyber technologies, are no longer just two sides of the same coin. Rather, they frequently test and contest one another. (...) The actions of various terrorist networks and agents seek to infuse all of everyday civilian life with fear. (...) for it destabilizes our two most cherished assump-
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tions – that peace is the natural marker of social order and that the nation-state is natural guarantor and container of such order.“ In diesem Kontext ist im nächsten Abschnitt Ulrich Becks These einer „Brasilianisierung Europas“ weiterzuentwickeln.
2. Brasilianisierung Europas: Neue Gefahren und Ängste 1997 schlug Beck vor, eine der vielen „Horrorvisionen“ eines „Untergangs à la carte“ durch Projektionen bestimmter Merkmale der Entwicklung Brasiliens auf Europa zu illustrieren: „An die Stelle der Macht- und Rechtsgebäude nationalstaatlicher Akteure sind vielfältige, zwiespältige Herrschaftsverbände getreten, die sich abschotten und bekämpfen. Dazwischen existieren rechtliche und normative Niemandslandzonen. In gefährdeten Innenstädten leben und arbeiten beschlipste Angestellte in videobewachten, nach dem alten Schloß-Prinzip eng verschachtelten Hochhäusern – Trutzburgen, die von transnationalen Konzernen bestückt und regiert werden. (...) Wer sich in die noch verkehrenden U-Bahnen hineinbegibt, signalisiert, dass er sich selbst zum Überfall freigibt. (...) Der Reststaat erhebt auch Steuern, oder sollte man sagen: den Anspruch auf Steuern? – so gut es geht. Aber Steuerzahlungen sind längst, jedenfalls de facto, in freiwillige Leistungen, Spenden sozusagen, überführt worden. Im übrigen müssen sie abgeschöpft, abgeschröpft werden in Konkurrenz zu vielen anderen Schutzzahlungen und Tributen, die jene personalen Herrschaftsverbände mit Hilfe ihrer Waffen schwingenden Sicherheitsleistungen eindrohen. Denn das staatliche Gewaltmonopol wurde, wie alle anderen Monopole, abgeschafft.“ (Beck 1997: 266-268) In seinen späteren Publikationen griff Beck diese Vision nicht auf, machte aber wiederholt auf neue Risiken und ihre Inszenierung durch Massenmedien aufmerksam. (Beck 2004: 226, 230-232) Mit Edgar Grande skizziert er auch positive Chancen: „Gerade die Wahrnehmung zivilisatorischer Risiken – das Einmaleins der Weltrisikogesellschaft: drohender Atomkrieg, atomare Unfälle, Terrorgefahr, Massenvernichtungswaffen usw. – eignet sich bestens, um globale Interdependenzen zu schmieden.“ (Beck und Grande 2004: 135; vgl. 298-301) Der „politische Ort der Weltrisikogesellschaft ist nicht die Straße, sondern das Fern-Sehen (...) die kulturellen Symbole, die die latente Bedrohung ins Bewusstsein heben, massenmedial zu inszenieren wissen.“ (Ebd.: 316f.) Nimmt man die These einer „Brasilianisierung Europas“ ernster als in Becks Gedankenspiel, ist zu klären, was unter „Brasilien“ zu verstehen ist. Das ist keineswegs selbstverständlich: „‚Brazil‘ does not exist“, aber „Popular music, for instance, plays a significant role in the definition of Brazilian identities, as do television networks, which are the strongest bonding element in contemporary Brazilian society.“ (Castro Rocha 2001a: xvii und xxiiif.) „Indefiniteness“ und „passions“ charakterisieren BrasilianerInnen (Araujo 2001: 33); die Trennung zwischen „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ ist weniger klar als im „Westen“: „In a cordial society, universal principles cease to be right (...) the cordial man is unfamiliar with the moderation of general rules (...) he hates and loves with the same intensity (...) the originality of the Brazilian historical process is defined as the ability to develop a means of harmonious
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shared living in the cradle of differences.“ (Castro Rocha 2001b: 75 und 79) Dies gilt auch für mediale Re-/Präsentationen und – so ist zu vermuten – Imaginationen (Barbieri 2001). Noch stärker weicht der brasilianische Staatenbildungsprozess von den Merkmalen der Staatenbildung Frankreichs, Deutschlands oder Englands ab (wie sie Elias als konstitutiv für damit zusammenhängende Zivilisierungen des Verhaltens und von Persönlichkeitsstrukuren untersuchte). Staatliche Zentralinstanzen errangen bis heute weder ein funktionierendes Monopol der Kontrolle physischer Gewalt (in Rio de Janeiro sterben Jahr für Jahr etwa 10.000 Menschen an gewalttätigen Übergriffen), noch der Steuererhebung (vgl. z.B. Ventura 2001). Zu Schlüsselbegriffen der brasilianischen Kultur gehören Karneval, Sehnsucht, Inflation, Gewalt und Spiele (vgl. Sinder 2001). Aber – in Vorwegnahme der Beck’schen These – es muss auch an Stefan Zweigs Buch von 1941 erinnert werden: Brasilien sei ein Land der Zukunft: Wer das heutige Brasilien kenne, habe einen Blick in die Zukunft gemacht (Dines 1981: 78, hier zitiert nach Weyrauch 2001: 486). Dieser Satz erinnert wiederum an Karl Marx’ entsprechende Einschätzung für das England seiner Zeit – und an Elias’ Orientierung seines „Entwurfs zu einer Theorie der Zivilisation“ an Staatenbildungsprozessen in Frankreich und Verhaltensbeobachtungen und –entwicklungen in wenigen Ländern Westeuropas. Hier wird nun keineswegs angenommen, Brasilien oder irgendein Land würde uns „die Zukunft“ zeigen (s. grundlegend Hahn 2003, Teil II), vielmehr, dass allgemeine Gesellschaftstheorien immer in interkulturellen und historischen Vergleichen gründen müssen. In Umkehrung einer frühen Luhmannschen Theorie zu Vertrauen als „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“ (Luhmann 1973) lässt sich so z.B. in Brasilien (und bei einer Brasilianisierung Europas auch in Europa) ein zunehmender Aufbau von Komplexität und Widersprüchen durch Misstrauen erkennen (s. auch Luhmanns Verweis auf Elias’ Zivilisationstheorie 1973: 75, Anm. 8.).
3. Zivilisationsumbrüche So waren und sind Menschen gelegentlich durch „einen Prozess ambivalenter Bindung“ aneinander gekettet, „der zwei oder mehr Gruppen von Menschen in einem Zustand gegenseitiger Angst vor der Gewalt der jeweils anderen Gruppe aneinander band und der sich in einen Kompromisszustand ohne absolute Gewinner oder absolute Verlierer auflöste. (...) Die ‚Parlamentarisierung‘ der grundbesitzenden Klassen in England hatte ihr Gegenstück in der ‚Versportlichung‘ ihrer Freizeitbeschäftigungen.“ (Elias 2003a: 67f.) Im Sinne seiner Zivilisationstheorie erklärt Elias (2003b: 296) letztere als Teilprozess einer umfassenderen „Pazifizierung und Zivilisierung“. Die „wachsende Ernsthaftigkeit des modernen Sports“ (so Dunning 2003: 378) kann „zu einem großen Teil auf drei miteinander zusammenhängende Prozesse zurückgeführt werden (...): die Staatsbildung, die funktionale Demokratisierung und die Verbreitung des Sports durch das sich ausdehnende Netzwerk internationaler Interdependenzen.“ (S. auch Maguire 2005.) Gleichzeitig wurde „Vergnügen“ zu einem „wesentlichen Bestandteil des Sports“ (Dunning 2003: 381). Im Berufssport dominieren gegenüber dem Amateursport aber „eine hohe und dauerhafte Leistungsmotivation, langfristige Planung, strenge Selbstkontrolle und der Verzicht auf unmittelbare Befriedigung (...) ein
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erhebliches Maß an bürokratischer Kontrolle“. Damit werde es „klar, dass die aktive und/ oder passive Teilnahme an dem einen oder anderen Sport zu einem der wichtigsten Mittel kollektiver Identifikation in der modernen Gesellschaft und für viele Menschen zu einer der wichtigsten Sinnquellen in ihrem Leben geworden ist. Insgesamt gesehen ist es keineswegs unrealistisch, die These aufzustellen, dass der Sport mehr und mehr zur säkularen Religion unseres zunehmend säkularen Zeitalters wird. (...) Wettbewerbe wie die Olympischen Spiele bieten den Vertretern verschiedener Nationen eine Möglichkeit, miteinander zu konkurrieren, ohne einander zu töten“ (Dunning 2003: 391, 395f.). Elias und Dunning argumentieren also für die zivilisationsfördernde Bedeutung von Sport und Freizeit, deren zunehmende Medialisierung ihnen bewusst war. Stellt man letztere aber in den Mittelpunkt der Synopse und berücksichtigt hierbei Umbrüche der medialen Kommunikation, sind zumindest zwiespältige Interdependenzen der zunehmend vernetzten Medialisierung mit Verhaltensstandardisierungen und Persönlichkeitsentwicklungen zu erkennen. Verhaltensbeobachtungen erfolgen im 21. Jahrhundert in fast allen Medienkulturen professioneller, umfassender und schneller als in Gesellschaften, in denen es noch kein massenhaft verbreitetes und genutztes Fernsehen und WWW gab. Erreicht in Brasilien ein einziger Fernsehkanal (TV Globo) immer noch regelmäßig mehr als 50 Prozent der ZuschauerInnen (und damit auch, nur etwas weniger, der Bevölkerung), sind dies z.B. in Deutschland, seit Einführung des dualen Systems (nicht der Abfallentsorgung), immer weniger, so dass außer in Hoch-Zeiten einer Fußballweltmeisterschaft kaum eine Sendung auch nur ein Drittel der ZuschauerInnen erreicht. Die Fragmentierung von Zuschauermärkten oder (medienspezifischen) „Teilöffentlichkeiten“ wird aber noch gravierender, wenn wir das World Wide Web in Betracht ziehen. Dann geht meist sogar die zeitliche Koordination für alle FernsehzuschauerInnen verbindlicher Anfangs- und Endzeiten verloren; dieser Verlust an gemeinsamen Zeitbindungen begann zwar auch mit Zapping und Grazing, ist aber wesentlich weniger verbreitet in Brasilien bzw. bei Bevölkerungsgruppierungen, die sich kein Kabel- oder Satellitenfernsehen, geschweige denn Pay TV, leisten können. Die Wahrscheinlichkeit, dass hohe Anteile der Internet-Nutzergruppierungen gleichzeitig, gleich lange dieselben Web-Inhalte rezipieren und auch noch ähnlich mit ihnen und anderen NutzerInnen interagieren, ist gering. Ohne hier weitere Beispiele aufführen zu können, lassen sich doch die folgenden Umbrüche der Medieninformation erkennen: ihre Professionalisierung, Beschleunigung und zunehmende Audio-Visualisierung und in den ersten Jahrzehnten der Fernsehentwicklung eine stärkere Inklusion von immer mehr ZuschauerInnen für immer mehr Zeit der jeweiligen Bevölkerungen. Erst nach einigen Jahrzehnten wurden diese großen Medienöffentlichkeiten in Teilmärkte aufgebrochen. Und erst mit der zunehmenden Verbreitung des World Wide Web entstanden neuartige kommunikative Vernetzungen, die im Vergleich zu denen des „Fernseh-Zeitalters“ spezialisierter, interaktiver und internationaler sind. Gemeinsam ist aber beiden Massenmedien der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, Fernsehen und Web, dass sie audio-visuell sind (da bis heute die haptischen Genüsse einer ComputerMaus vernachlässigt werden können). Verglichen mit Druckmedien wurden die Erzählmuster oft (nicht immer: man denke an internationale Nachrichten- oder Wissenschaftskanäle) einfacher, kürzer und gemäß diesen gemischten Zeichensystemen anders. Die klassischen Erzählkomponenten „Wer, was, wann, wo, wie und warum“ verlagerten sich weg von dem
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„warum,“ da dies schwerer zu zeigen ist. Diese Medienumbrüche können nicht ohne Auswirkungen auf Entwürfe zu einer Theorie der Zivilisation bleiben, die sowohl interkulturelle Vergleiche z.B. des Grades der Staatenbildung berücksichtigen als auch Transformationen der Arten und Inhalte weit verbreiteter Verhaltensbeobachtungen und –standardisierungen. Orientieren wir uns hierfür an der klassischen Gliederung von Elias, ergeben sich die folgenden Zivilisationsumbrüche: – „Ungeordnete oder geordnete Monopole der physischen Gewaltausübung und der wirtschaftlichen Konsumtions- und Produktionsmittel“ (Elias 1977: 436f.) wurden bisher nur selten erreicht. Ebenso grundsätzlich müssen Spannungen und Komplementärprozesse verschiedener Monopolisierungsprozesse (oder besser: Konkurrenzen oder Ausscheidungswettkämpfe) beachtet werden. Hierbei gewinnen Kontrollen über allgemein zugängliche (und verbindliche) Orientierungs- und Kommunikationsmittel an Bedeutung. (Vgl. Elias 1984, Ludes 1989, 2. Buch.) – Der „gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang“ wird durch Infotainment aufgelockert. – Die „Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht“ wird durch Aktualisierungsdruck abgeschwächt. – Die „Verringerung der Kontraste, Vergrößerung der Spielarten“ ist rückläufig in multikulturellen, multimodernen und multimedialen Gesellschaften (vgl. Ludes 2001), in denen nationalstaatliche Regulierungen transnational und transkulturell ergänzt und umgebrochen werden (vgl. Beck 2004). Welterlebnisse und -anschauungen widersprechen sich oft fundamental. Diese Kontraste werden in den Massenmedien eher dramatisch zugespitzt als vereinheitlichend dargestellt. Transkulturelle ökonomische, ökologische, militärische, politische und terroristische, auch mediale Vernetzungen fördern oft die Vergrößerung der Kontraste, ja Gegensätze. – Die „Verhöflichung der Krieger“ verwickelt sich ebenfalls nach anderen Verlaufsmustern als in Zeiten vor der Technisierung und Medialisierung von Kriegen. So trägt die Vermischung/Verwischung von Unterschieden zwischen Spielen und Kriegen in professionellen Ausbildungen und Einsätzen von SoldatInnen zur Herabsetzung von Hemmschwellen bei Tötungen und Folter bei, die in demokratischen Gesellschaften seit dem 2. Weltkrieg zunehmend gesichert erschienen – und der weltweite Terrorismus führte zu „Republiken der Furcht“ vor überall möglichen Gewaltakten. – Eine „Dämpfung der Triebe. Psychologisierung und Rationalisierung“ lässt sich ebenfalls nur vermuten, wenn man sich auf „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ konzentriert (so der Untertitel von Band 1 von „Über den Prozeß der Zivilisation“ – zu generalisierend „übersetzt“ ins Englische als: „Changes in the Behaviour of the Secular Upper Classes in the West“). „Diese Rationalisierung“ (so Elias 1977: 444) „geht etwa Hand in Hand mit einer gewaltigen Differenzierung der Funktionsketten und der korrespondierenden Veränderung in der Organisation der physischen Gewalt.“ Und weiter: „Zum Verständnis der Verhaltensregelung, die eine Gesellschaft ihren Angehörigen vorschreibt und einprägt, genügt es nicht, die rationalen Ziele zu kennen, die zur Begründung der Gebote und Verbote angeführt werden, sondern man muß in Gedanken bis auf den Grund der Ängste zurückgehen, die die Angehörigen dieser Gesellschaft und vor allem die Wächter der Gebote selbst zu diesen Regelungen des
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Verhaltens bewegen.“ Angst ist ein wesentliches Element aller sozialen Interaktionen, jeglicher Sozialisation und aller gesamtgesellschaftlichen Interdependenzen. In „Zeiten des Terrors“ werden diese Ängste immer auch medial re-/präsentiert, verstärkt oder verwischt, jedenfalls nicht zunehmend psychologisiert und rationalisiert, sondern oft dämonisiert. – „Scham- und Peinlichkeitsempfindungen“ werden ebenfalls rekonfiguriert mit medialen (Selbst-) Entblößungen. – Eine „stärkere Bindung der Oberschicht“ und ein „stärkerer Auftrieb von unten“ können zwar als Merkmale der (parlamentarischen) Demokratisierung und eines entsprechenden Schubs der Humanentwicklung gelten (vgl. z.B. Inglehart und Welzel 2005), aber die zunehmende Verlagerung von Produktionsstätten aus demokratischen in Gesellschaften mit weniger demokratischen und zivilgesellschaftlichen (Selbst-) Kontrollinstitutionen entzieht zunächst Angehörige der ökonomischen Oberschichten nationalstaatlichen Interdependenzketten mit Angehörigen niedrigerer Schichten. Politische Eliten reagieren unter Zwängen der Standortvor- und –nachteile und machen damit Faktoren für ihr Verhalten verantwortlich, die jenseits nationalstaatlich organisierter Kontrolle lägen. Damit entfällt der „ständige Auftrieb von unten und die Angst, die er oben erzeugt“ als „eine der stärksten Triebkräfte jener spezifischen, zivilisatorischen Verfeinerung, die die Menschen dieser Oberschicht aus anderen heraushebt und die ihnen schließlich zur zweiten Natur wird.“ (Elias 1977: 415) Zudem argumentierte Elias ebenfalls bereits 1939 (1977: 422): „Schichten, die dauernd in der Gefahr des Verhungerns oder auch nur in äußerster Beschränkung, in Not und Elend leben, können sich nicht zivilisiert verhalten. Zur Züchtung und zur Instandhaltung einer stabileren Über-Ich-Apparatur bedurfte und bedarf es eines relativ gehobenen Lebensstandards und eines ziemlich hohen Maßes von Sekurität.“ Mit diesen Transformationen der Interdependenzketten, der über Generationen hinweg bindenden Figurationen, verändert sich auch der von Elias herauskristallisierte „Monopolmechanismus“, der die Zentralisierung staatlicher Kontrolle von Steuereintreibung und physischer Gewaltmittel förderte. Denn im Laufe der von Elias beobachteten Monopolisierung und erst recht in den letzten Jahrzehnten veränderten sich die Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensstandards der TeilnehmerInnen an zunehmend transkulturell vernetzten Aussscheidungswettkämpfen. Direkte Beobachtungen in überschaubaren Sozialbeziehungen, über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg, wurden ergänzt und ersetzt durch massenmedial vernetzte Beobachtungen und Interaktionen. Diese blieben aber weitgehend außerhalb gemeinsam verbindlicher Sanktionsinstitutionen. „Am größten ist die Kluft zwischen der Monopolisierung physischer Gewalt durch staatliche Zentralinstanzen einerseits und der Differenzierung, Art, Fernwirkung und Stärke menschlicher Selbstkontrolle andererseits“ (Ludes 1989: 336). Neu ist das zunehmende Entschwinden weltlicher Oberschichten aus direkt überschaubaren regionalen oder nationalen Figurationen mit entsprechenden Sanktionsmechanismen. Der Aufstieg von Netzwerkgesellschaften (Castells 1996, 2004 und 2006) impliziert das Entstehen neuer Löcher, in die diejenigen fallen, die für das Funktionieren transkultureller Netze „entbehrlich“ sind bzw. nicht genug Machtchancen haben. Hier kann nur eine Konsequenz aus den skizzierten Zivilisationsumbrüchen veranschaulicht werden: die Emergenz vernetzter Wirklichkeitssplitter und von Assoziationsspielen.
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4. Ausklang: Vernetzte Wirklichkeitssplitter und Assoziationsspiele Bereits in seinem Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation klärte Elias (1976, Bd. 2: 376) die wechselseitige Ergänzung von Vorstellungen und Beobachtungen: „Bücher (...) sind Teile und Fortsetzungen der Gespräche und geselligen Spiele, oder, wie die Mehrzahl der höfischen Memoiren, verhinderte Gespräche, Konversationen, zu denen aus diesem oder jenem Grunde der Partner fehlt.“ Die massenhafte Verbreitung professionell erstellter audiovisueller Berichte und Unterhaltungsangebote hat die Möglichkeiten von „Fortsetzungen der Gespräche und geselligen Spiele“ nicht nur ausgeweitet, sondern – in den interaktiven Angeboten – persönliche Kommunikation in vielen Gesellschaften für mehrere Stunden je Tag durch parasoziale Telekommunikation ersetzt. Dadurch entwickelten sich vernetzte Projektidentitäten (Castells 1997), die andere Koordinationsmuster erfordern und zunehmend audio-visuell erfolgen. Im Sinne einer Wissenssoziologie langfristiger Kommunikations- und Orientierungsmittel lassen sich hierfür die folgenden Entwicklungsmuster skizzieren (s. die zahlreichen Beispiele auf www.keyvisuals.org). Eine sich allmählich in einigen Medien etablierende „Weltsprache von Schlüsselbildern“ (Ludes 2005) ist – verglichen mit z.B. gemeinsam geteilten zeitlichen Koordinierungen – in einer frühen Phase ihrer Standardisierung. Ihre Entwicklung wird durch folgende Faktoren gefördert: – Audio-visuelle Wahrnehmung ist notwendig für alle Arten menschlicher Aktivitäten. Je mehr Interaktionstypen transkulturell oder gar global ähnlicher werden, desto verständlicher wird ihre audio-visuelle Präsentation, auch über verschiedene Bildschirmmedien. – Da derartige Visualisierungen soziokulturell so wichtig sind, werden sie immer wieder auf technischen Verbreitungsmedien präsentiert. Hierdurch ermöglichen sie Formate, die Medien und Genres übergreifen. Je stärker zudem die technischen Plattformen standardisiert werden oder konvergieren, desto schneller sind üblicherweise die Präsentationsmuster zu erkennen. – Da diese Präsentationsmuster weit verbreitet werden und wichtig für verschiedene Lebensbereiche sind, wird ihre Produktion und Präsentation immer professioneller, was entsprechende kulturelle Teilhabe fördert. Je mehr zudem die (massen- oder zielgruppenspezifische) Selbstdarstellung Ansehen steigert, desto mehr Zeit, Energie und Kreativität investieren Menschen in den Gebrauch Aufmerksamkeit erregender und allgemeiner verständlicher audio-visueller Präsentationsmuster. – Da medientechnisch verbreitete Schlüsselbilder aber immer in voll sinnliche Erfahrungen und Kulturen eingebunden sind, können sie nie von allen Angehörigen einer Kultur erlernt werden. Audio-visuelle Kommunikation erfordert deshalb ein überschaubares Repertoire an Bildern, die „Schlüssel“ zu umfassenderen Sinnzusammenhängen bieten. – Diese Hauptdimensionen der wechselseitigen Abhängigkeiten von Prozessen der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, der technischen Formatierung und Verbreitung von Bildern, der Professionalisierung ihrer Produktion und Präsentation plus einer weiteren Verbreitung visueller Kompetenz machen einige der Hauptmuster der Entwicklung von Schlüsselbildern aus. Diese entwickeln sich nie ganz harmonisch in exakt denselben Arten, Rhythmen und Geschwindigkeiten; Brüche und Widersprüche oder Gegenbilder sind immer wieder zu erwarten. So wird es immer mehr Medienprofessionals (vgl. z.B.
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Negrine et al. 2007) geben, die für die Ausbeutung visueller Inkompetenz bezahlt werden – oder die neue Präsentationsmuster entwickeln, die mehr Aufmerksamkeit bzw. auch neue Missverständnisse hervorrufen. Mit der steigenden Bedeutung technisch vermittelter audio-visueller Kommunikation wächst zudem deren Dimension als Machtfaktor. – Damit entwickeln sich insgesamt auch neue Inszenierungsmuster: Der Wechsel zwischen verschiedenen Kommunikationsformen – von persönlicher Kommunikation zu massenmedialer zu interaktiver zielgruppenspezifischer – erfolgt zunehmend routiniert für immer mehr Bevölkerungsgruppierungen in den technisch durchschnittlich gut ausgestatteten Gesellschaften oder urbanen Zentren. (So ist die Verbreitung von mobilen Kommunikationsgeräten z.B. in Hong Kong oder Shanghai höher als im Durchschnitt in Deutschland. Vgl. Castells et al. 2007.) – Diese neuartige Vernetzung von mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitsgraden verbundenen, aber insgesamt doch als real erlebten „Wirklichkeitssplittern“ erlaubt nicht mehr traditionelle Dramaturgien. Die extreme Verkürzung von Aufmerksamkeit erlaubt oft nur noch Assoziationen. Videoclips auf youtube, soap operas für Handys oder die Länge von Werbespots sind hierfür gute Indikatoren. In diesem Sinne ist nicht (mehr) von Ent-/ Theatralisierungsprozessen zu sprechen, sondern von fragmentierten Inszenierungsinseln in Strömen von persönlichen Erlebnissen und mediatisierten Selbstdarstellungen und Interaktionen. – Viel wichtiger aber wird, wie die in Abschnitt 3, oben, genannten Transformationen und Umbrüche von Zivilisationsprozessen hierdurch geprägt werden. Anfang des 21. Jahrhunderts läßt sich nämlich (s. Ludes 2007) eine weitere, einschneidende Transformation erkennen: die zunehmende Verbindung von militärischen Entwicklungen nicht nur mit Medien (hierzu bereits früh Virilio, Kittler oder Hörisch), sondern mit der Unterhaltungsindustrie. Computer Games sind ein wesentliches Trainingsfeld für militärische Einsätze, die dann wiederum wie Video Games präsentiert werden. „As part of a military/ entertainment complex, the corporate media can no longer be considered a legitimate source for objective information capable of nurturing a knowledgeable or humanitarian polity.“ (Andersen 2006: 363) „Factual information that undermines the patterns of wartime deception doesn’t get much ink or airtime.“ (Solomon 2006: 364) Vielmehr wird das Management der Berichterstattung durch die Programmierung des Kriegsprogramms kontrolliert, „a sequence of reports that blends imagery and language of the current conflict with previous wars, and incorporates critiques of war policy within the news frame about movement toward war. War Programming refers to the organization and structure of the discourse of recent reportage about wars, and not mere content. War Programming encompasses content as well as thematic emphases and dominant frames.“ (Altheide und Grime 2006: 367; s. auch Knieper und Müller 2005) Wir beobachten öfter systematisch verzerrtes Infotainment im Dienste strategischer Interessen (vgl. z.B. auch Bouhs, 2006). Die Beobachtung dieser Fiktionen, getarnt als „Bilder des Geschehens,“ verwickelt immer mehr Menschen in diesen Netzen der Desorientierung. Es gibt auch Gegenbewegungen (s. www.peacemakergame.com), neuere Computerspiele oder aktive Mitgestaltungen von Webinhalten im Web 2.0, die Kenntnisse älterer Medien voraus setzen und oft im Kontext der Nutzung anderer Medien gespielt werden (vgl. result 2007). Aber es emergieren auch neu-
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artige Konstitutionsmuster räumlicher und zeitlicher Abgrenzungen, die nicht mehr an einen klaren Beginn (der Vorhang geht auf: wir betreten eine andere Sinnprovinz) und ein klares Ende (der Vorhang fällt: wir kehren zurück in die Alltagswelt) gebunden sind. (Vgl. zur „Ästhetik des Performativen“ Fischer-Lichte 2004.) Das hier ausgewählte Spiel verbindet Kenntnisse realer Ereignisse, deren kurze Darstellungen in key visuals von je ca. 7 Sekunden nur Assoziationen bei denjenigen hervorrufen, die bereits Informationen über die jeweiligen Ereignisse und Darstellungsmuster haben. (S. verschiedene Publikationen zu documentary games auf der Website von Rune Klevjer, Universität Bergen: http://www.uib.no/people/ smkrk/) „Peacenmaker“ simuliert den Nahost-Konflikt, wurde von zwei Studenten in den USA entwickelt und von israelischen Generälen und palästinensischen Regierungsberatern getestet. Dieses Computerspiel liefert etwas, „wozu keine Zeitungskolumne, kein Roman, nicht einmal ein profounder, professioneller BBC-Dokumentarfilm in der Lage ist. ... Denn während diese Formen eine – und nur eine – Geschichte erzählen, schafft die Interaktivität des Computerspiels viele Möglichkeiten. Wie das reale Leben“ (Gavron 2007: 62) – aber in komprimierter Zeit und schematisch vereinfachten Optionen. Hierfür als ein Beispiel, selbst schematisch verkürzt, das Repertoire an Handlungen (vgl. im Anhang eine Auswahl entsprechender key visuals): Number or actions an actor Security action groups Political action groups Construction action can take (possibilities for securi- (possibilities for poli- groups (possibilities for reconstructical action) ty action) tion action) Israeli PM 8 (17) 8 (37) 7 (16) Palestinian President
6 (14)
7 (31)
6 (70)* * includes four options for founding each action – PA budget, Palestinian Allies, Israeli investment or foreign investment
Tab. 1: Handlungsoptionen in „Peacemaker“
Ähnlich wie bereits bei Berichterstattungen im Fernsehen, geht auch hier die Reduzierung des klassischen Erzählmusters (Wer, was, wann, wo, wie, warum) um das „Warum“ weiter: Es werden zwar schnell Konsequenzen jeweiliger Handlungen gezeigt, aber ohne historischen Hintergrund oder Deutungen von Motiven. In diesem Sinne vereinfacht, kommt „der Frieden“ in diesem Spiel unrealistisch schnell, für geübte Spieler (wie in unserem Test der graduate Student Maor Shani, Jacobs University Bremen) in 45 Minuten. Dieses Spiel verdeutlicht also, wie in einem Simulations-Gedankenexperiment, dass die Reduzierung sozialer Prozesse auf wenige Wochen oder Jahre, wenige Akteure (v. a. die Staatspräsidenten)
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und Handlungstypen zu immer wieder klar erkennbaren unrealistischen Schlussfolgerungen führt. Die „Geographie der Angst“, so Appadurai (2006: 100) besteht nicht aus Aktion und Reaktion oder klaren Abfolgen von Ursachen und Wirkungen, sondern aus Interdependenzen zwischen weit auseinander liegenden Ereignissen und aktuellen Ängsten, alten Geschichten und neuen Provokationen. Eine treibende Kraft sind Massenmedien, aber auch Unsicherheiten darüber, wer „der Feind“ ist, in einer zerbrechlichen Beziehung zwischen nationalen Staaten und globaler Politik. „The global flow of mass-mediated, sometimes commoditized, images of self and other create a growing archive of hybridities that unsettle the hard lines at the edges of large-scale identities.“ (Appadurai 2006: 83) Die Untersuchung langfristiger Prozesse und deutendes Verstehen erfordern deshalb kontinuierlich ein Zusammenwirken von Geistes- und Sozialwissenschaften, das in Zeiten der Spezialisierung bedroht ist. Langfristige Prozesssynopsen mit Deutungen subjektiv sinnvoller Zusammenhänge zu verbinden, bleibt eine Herausforderung, der hoffentlich noch lange ein Hahn nachkräht.
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Figure 1: The security action taken: order missile attack on militants’ headquarters. The result: “helicopter attack on headquarters”
Number or Security action groups (possibilities for actions an security action) actor can take Israeli PM 8 (17)
Construction action groups (possibilities for reconstruction action) 7 (16)
Figure 3: The construction action taken: build more fence along the green line. The result: “security fence to be built on green line”
Political action groups (possibilities for political action) 8 (37)
Figure 2: The political action taken: talk to the Palestinian president, ask for antimilitant support. The result: “your gesture I ignored”
446 Peter Ludes
Figure 4: The security action taken: increase police presence to patrol for militants. The result: “police patrols fail”
Number or Security action groups (possibilities for actions an security action) actor can take Palestinian 6 (14) President
Figure 5: The political action taken: negotiate with Israel, ask to stop aggression. The result: “Prime Minister will consider request”
6 (70)*
7 (31)
Figure 6: The construction action taken: financing health care with investments of the UN. The result: “international aid delayed”
* includes four options for founding each action – PA budget, Palestinian Allies, Israeli investment or foreign investment
Construction action groups (possibilities for reconstruction action)
Political action groups (possibilities for political action)
Vernetzte Zivilisationsumbrüche und Assoziationsspiele
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„GAPS“. Über alte und neue Polarisierungstendenzen in Kultur und Gesellschaft Cornelia Klinger
Hinter den spektakulären Gegensätzen verbirgt sich die Einheit des Elends. (Debord 1996)
In seinem opus magnum, „Der Mann ohne Eigenschaften“, schreibt Robert Musil mit feiner Ironie: „Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so dass Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen. Das scheint schon so natürlich zu sein, wie dass es Tag und Nacht, heiß und kalt, Liebe und Haß (...) gibt“ (Musil 1981: 373). Vom Gegensatz großer Ideen in größerer Anzahl, wie Musil ihn als charakteristisches Merkmal seiner Zeit betrachtet, kann heute wohl kaum mehr die Rede sein. Vielmehr sieht es so aus, als ob die merkwürdige Tendenz zur Polarisierung, die er konstatiert, seither vom Himmel der Ideen auf den Boden der Wirklichkeit herabgefallen sei. Jedenfalls ist das Auseinanderlaufen von Entwicklungen in diametral entgegengesetzte Richtungen in der Gegenwart zu einem Phänomen geworden, das sich in den verschiedensten Bereichen, an allen möglichen Themen beobachten lässt. Im Folgenden sollen – versuchsweise und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei Arten von Polarisierungstendenzen unterschieden werden; es handelt sich um Gegensatzkonstellationen, welche in ihrer leeren Mitte gleichsam Lücken, Löcher, Risse, Sprünge, Klüfte, Abgründe entstehen lassen oder um es etwas salopp auszudrücken: drei Varianten von gaps im gesellschaftlichen Gewebe und Gefüge.
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9_24, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Cornelia Klinger
I Zum einen sind da jene gaps, die als Differenzen zwischen verschiedenen „Klassen“ in der globalen Gesellschaft in Erscheinung treten. Die Schere, die sich gerade in den letzten Jahrzehnten wieder weiter öffnet zwischen Überfluss und Mangel, Übersättigung und Hunger hat ökonomische Ursachen und lässt sich letztendlich auf die prinzipielle „Schieflage“ zurückführen, die dem kapitalistischen Wirtschaftssystem unbeschadet aller Segnungen, die es sonst mit sich bringen mag, von Anfang an inhärent ist. Bereits Hegel hat feststellen müssen: „Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse (...) vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer (...) auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der (...) Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse“ (Hegel: 1970a) wächst. „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut zu steuern“ (Hegel: 1970b). Wie viele Tricks und Kniffe der Regierungs- und Regulierungskunst in der Zwischenzeit auch ersonnen und erprobt wurden, um die systemimmanente Asymmetrierungsdynamik auszubalancieren – so hat bislang noch nichts diesen Mechanismus definitiv außer Kraft zu setzen vermocht. Und wenig deutet darauf hin, dass sich daran in absehbarer Zukunft viel ändern möchte. Die anstößige, geradezu obszöne Diskrepanz zwischen Armut und Reichtum betrifft längst nicht allein ökonomische Verhältnisse im engeren Sinn, sondern wirkt sich auf den differenten Zugang zu Mitteln und Möglichkeiten aller Art aus: auf die extrem unterschiedliche Verteilung von Macht und Ohnmacht, von Wissen und Unwissen („the digital divide“), Schönheit und Hässlichkeit, Vermögen und Unvermögen1. Nun mag es zwar sein, dass die ökonomischen Gegebenheiten bei allen Polarisierungserscheinungen, wenn schon nicht in einem kausalen Sinn zugrunde liegen, so doch immerhin mit im Spiel sind. Dennoch beschränkt sich das Thema nicht auf das (zu) viel und (zu) wenig Haben, auf die ungleiche Distribution von Gütern und Chancen auf Menschen.
II Eine zweite Art von gaps tritt nicht als Kluft zwischen unterschiedlich positionierten Kollektiven und Individuen in Erscheinung, sondern betrifft den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen, die Empfindungen des Körpers ebenso wie das Gefühl, die Einbildungskraft der Seele, die konkrete Erfahrung des Hier und Jetzt, das unmittelbare Erleben – kurzum das Leben vieler, ja prinzipiell aller Menschen.
1 Das steht in Widerspruch zu Niklas Luhmann, der behauptet, dass extreme Ungleichgewichte in der Verteilung von Reichtum erträglich und akzeptabel würden, insofern als verschiedene Arten von Vermögen von einander getrennt bleiben würden. Reichtum darf – so Luhmann: „nicht bedeuten, dass sich damit quasi automatisch der politische Einfluss oder der Kunstverstand oder auch das Geliebtwerden der Reichen einstellen“ (Luhmann, Niklas 1994a: 29). Dieser etwas naive Beruhigungsversuch hat jede Evidenz gegen sich.
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In einer seltsamen coincidentia oppositorum stehen Trends zur Veranschaulichung und Verkörperung, zur Versinnlichung und Sexualisierung, zur Materialisierung und Vergegenwärtigung ganz und gar entgegengesetzten Tendenzen der Abstraktion, der Virtualisierung, der Artifizialisierung, der Entkörperlichung und Distanzierung gegenüber. Diese Entgegensetzungen liegen nicht primär im modernen kapitalistischen Wirtschaftssystem begründet, sondern gehen in erster Linie von den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien aus. Es stehen sich hier nicht Reichtum und Armut gegenüber, wohl aber analog dazu Fülle (Wärme) und Leere (Kälte). Dabei basiert die Kluft, der Riss zwischen beiden Seiten in diesem zweiten Fall paradoxerweise auf Verbindung statt auf Trennung. Während -grob gesagt- das Wirtschaftssystem Zusammengehöriges (nämlich Menschen) trennt, bringen diese neuen Technologien Disparates zusammen (nämlich Präsenz und Absenz). Während das kapitalistische Wirtschaftssystem beides, sowohl Reichtum als auch Armut erzeugt, scheint es sich bei diesem zweiten Typus von Gegensätzen so zu verhalten, als ob das eine Extrem das andere hervorbringt und zwar -nochmals paradoxerweise- so, dass die Fülle aus der Leere, die Sinnlichkeit aus der Abstraktion entsteht. Auf der Oberfläche erscheinen Bilder der Vielfalt, Buntheit, Üppigkeit, Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, des „hautnahen“ Erlebens, die durch Verfahren und Apparaturen produziert werden, die auf der Grundlage der genau entgegengesetzten Prinzipien funktionieren. Ungleich vollkommener als die herkömmlichen handwerklichen Techniken zur Aufbewahrung und Wiedergabe ermöglichen die elektronischen Medien die Annäherung an die Wirklichkeit bis zum Punkt vollkommener Ununterscheidbarkeit der Kopie vom Original. Der alte Wunsch nach dem Verweilen des Augenblicks, nach der Wiederholung der Wirklichkeit durch ihre Nachahmung findet seine Erfüllung im Simulacrum. Und doch besteht ein Unterschied um‘s Ganze. Nach gänzlich anderen Prinzipien funktionierend als das Leben, das sie ‚einfangen‘ sollen, sind die sogenannten Neuen Medien keine Medien im strengen Sinne des Wortes. Sie stehen nicht in der Mitte zwischen hier und da, jetzt und dann. Sie operieren quasi anti-mimetisch: Sie bilden nicht ab, sie geben nicht wieder; sie übertragen, verstärken oder vergrößern nicht, was ‚da‘ ist. Vielmehr vermitteln sie den realen, lebendigen und daher flüchtigen Moment auf dem Weg durch die ‚Dunkelkammer‘ seiner Auflösung in Bits und Bytes. Die Verwirklichung erfolgt in der Passage durch eine radikale Entwirklichung. Die Unmittelbarkeit des Da-Seins wird vernichtet, aber sie wird dadurch nicht etwa zum Verschwinden, sondern im Gegenteil zu einem gesteigerten Vorschein gebracht. Statt eine Realität zu reproduzieren, produzieren die elektronischen Technologien eine Hyper-Realität; statt die abwesende Wirklichkeit zu repräsentieren, verabsolutieren sie die flüchtige Präsenz zur Präsentation. In der live-Übertragung wird die Lebendigkeit gesteigert, an der Oberfläche zum Vibrieren, zum Strahlen und Funkeln gebracht, während sie ihre Vielschichtigkeit, ihre Ambivalenz, nämlich das Andere ihrer Präsenz, das heißt die Potentialität ihrer Absenz, ihre Flüchtigkeit und Vergänglichkeit – kurzum ihren Schatten verliert. Um es noch einmal anders auszudrücken: Die technischindustrielle Konservierung bewahrt nicht Bestand oder Erinnerung, sondern erzeugt eine Konserve: Einem lebendigen und eben deswegen leicht verderblichen, vergänglichen Stoff wird Haltbarkeit verliehen, indem er entkontextualisiert wird. In der Vakuum-Packung wird dem Objekt die Luft entzogen, so dass es unabhängig von dem Raum und der Zeit seiner Entstehung beliebig verfügbar, konsumierbar ist.
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Haltbarkeit ist freilich nicht gleichbedeutend mit Dauer. Die elektronischen Medien sichern nicht die Persistenz desselben, sondern lediglich seine serielle Wiederholbarkeit. In weiterer Folge löst die Omni-Präsenz von allem und jedem eine Art Furor des Verschwindens aus. Die in den Medien zeit- und ortlos präsenten Töne, Worte und Bilder treten in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit. Da ihre Abfolge sich nicht mehr in den ‚natürlichen‘ Grenzen von Raum und Zeit vollzieht, sondern im artifiziellen Wechsel von Moment-Aufnahmen, entsteht das charakteristische on and off von Thematisierung und Entthematisierung. Jedes Thema wird durch den medialen Scheinwerfer unabhängig von so etwas wie einer ihm jeweils inhärenten Bedeutung grell beleuchtet, um im nächsten Augenblick durch ein anderes Thema verdunkelt zu werden, das in keiner anderen Hinsicht wichtiger wäre als nur in der schierer Aktualität. Das Gesetz des ununterbrochenen Wechsels von Auf- und Abblendung, Dramatisierung und Entdramatisierung ruft Strategien der Inszenierung auf den Plan, die das Ziel verfolgen, dem einzelnen Phänomen jeweils mehr Aufmerksamkeit zu sichern; zusammen genommen laufen sie darauf hinaus, das Flackern erst recht zu beschleunigen. Dieses permanente Flimmern tritt aber in der Regel nicht einmal als störend oder dysfunktional in Erscheinung, sondern wird als Beweis von Lebendigkeit und Dynamik aufgefasst. Am Ende ist und bleibt es jedoch ein Nullsummenspiel: Die Elemente des Seins und des Nicht-Seins – dieses für das traditionelle westliche Denken vorrangigen Dualismus, in dessen gap sich das Leben abspielt, werden lediglich anders kombiniert.
III Zu einer dritten Art von gaps führen die gegenläufigen Tendenzen gleichzeitiger – Universalisierung vs. Partikularisierung – Uniformierung vs. Fragmentierung – Standardisierung vs. Differenzierung – Konformität vs. Individualität – Berechenbarkeit vs. Unübersichtlichkeit – Zukunftsorientierung, Fortschrittsoptimismus und Innovationsbesessenheit vs. „Alarmismus“, Dekadenzbewusstsein und Untergangsstimmung Analog zur Relation Armut/Reichtum und Leere (Abstraktion, Kälte)/Fülle (Sinnlichkeit, Wärme) stehen sich nun Einheit/Vielheit gegenüber. Bei diesem dritten Typus entsteht weder eine Kluft zwischen zwei widersprüchlichen Realitäten wie bei Armut/Reichtum unter dem Vorzeichen der kapitalistischen Ökonomie, noch liegt zwischen den beiden Polen eine ‚Dunkelkammer‘ wie zwischen Realität und Hyper-Realität unter dem Vorzeichen der modernen I-und K-Technologien. Der dritte gap zeigt sich zunächst in der Unterschiedlichkeit von Perspektiven auf den Prozess der Moderne, der hier nun nicht mehr im Hinblick auf eines seiner Teilsysteme – Wirtschaftssystem oder Mediensektor – sondern in seiner Gesamtheit vor den Blick kommt. Donna Haraway hat diese doppelte Perspektive in ihrem Manifesto for Cyborgs so formuliert: „From one perspective, a cyborg world is about the final imposition of a grid of
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control on the planet ... From another perspective, a cyborg world might be about lived social realities in which people are not afraid of (...) permanently partial identities and contradictory standpoints“ (Haraway 1989: 179). Diese „Opposition zweier Postmoderne-Konzepte – eines pluralistischen und eines monistischen“ (Welsch 1988: 60) für deren Feststellung Haraway ein Beispiel liefert, ist kein Novum, das erst in der Cyborg-Welt unserer unmittelbaren Gegenwart auftritt. Es setzen sich vielmehr die „umgekehrt symmetrischen Krisendiagnosen der Moderne“2 fort, die auf eine ebenso lange Tradition zurückblicken können wie die Moderne selbst: Seit jeher imponiert Moderne einer Fraktion von Beobachtern als fortschreitender Auflösungsprozess, in dessen Folge alles Feste und Stehende „verdampft“ (Marx/Engels 1847/48). Dagegen sehen andere Beobachter ein „stahlhartes Gehäuse“ (Max Weber) entstehen, eine immer mächtiger werdende Vereinheitlichungs- und Disziplinierungsmaschinerie. Auch der „Verlust der Mitte“ als solcher ist längst ausgiebig beklagt worden3. Angesichts so unterschiedlicher Diagnosen ist es wenig überraschend, dass sich ebenso weit aus einander gehende Therapievorschläge anschließen. Wer die Tendenzen der Öffnung und Erweiterung als Zerfall bedauert, möchte eine verlorene, verloren geglaubte Einheit wiederherstellen und zu den (vermeintlich) festen Fundamenten der Vergangenheit zurückkehren. Wer umgekehrt dieselben Tendenzen als Befreiung begrüßt, wird eben diesen Weg in Zukunft weiter fortsetzen wollen. Folglich ist das gleichzeitige Auftreten rückschrittlicher und fortschrittlicher Bewegungen kein Zufall. Es begleitet die Moderne von Anfang an – und noch bis hin zur Koinzidenz von Fundamentalismus und Postmodernismus. Beide Sehweisen sind zutreffend. Der Widerspruch zwischen ihnen löst sich nach Hinsichten: Wird die Entwicklung der Moderne in erster Linie im Hinblick auf Sinnzusammenhänge betrachtet, so ist ein Diversifikationsprozess unübersehbar. Werden dagegen die Funktionszusammenhänge fokussiert, dann stellt sich der Weg der Moderne als unerbittlicher Vereinheitlichungsprozess dar. Das Problem besteht darin, dass es sich ursprünglich genau umgekehrt verhalten sollte, dass aber die Dimensionen von Sinn und Funktion im Verlauf des Modernisierungsprozesses die Plätze getauscht haben. In seinen Anfängen war der Modernisierungsprozess durch eine Verselbständigung und Ausdifferenzierung verschiedener Sachbereiche charakterisiert. Die relative Autonomie der sich herausbildenden gesellschaftlichen Teilsysteme von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht usw. bestand darin, ihre jeweilige Eigenlogik ohne Rücksicht auf vorgegebene übergreifende Sinnzusammenhänge entfalten zu können. Damit ging eine Bewegung der Öffnung und Ausdehnung einher, in deren Folge die westliche Gesellschaft jene gewaltige Dynamisierung erfahren hat, die als Fortschritt bezeichnet wird. Zu dieser Differenzierung und Diversifizierung der Sachbereiche sollte das Subjekt den Ausgleich bilden. Subjekt im alten Sinn des hypokeimenon, des allem zugrunde Liegenden sollte der Mensch sein4. Der Mensch im Universalsingular, das heißt als Menschheit, sollte sich in den Mittelpunkt stellen, als „still point in a turning world“ (Hall 1997: 175). Daraus ergab sich eine klare Zweck-Mittel2 Welsch führt die „Duplizität konträrer Moderne-Diagnosen“ an einer Reihe von Exempeln vor, die von zu John Donne und Friedrich Schiller bis ins 20. Jahrhundert reichen. (Welsch 1988) 3 Sedlmayr beansprucht für seine These keine Originalität, sondern verweist, in den 1950er Jahren schreibend, auf die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammenden Analysen konservativer Autoren wie Berdjajew, Iwanow, Ortega y Gasset und Ernst Jünger. (Sedlmayr o.J.) 4 Subjekt ist „der anspruchsvollste Titel, den der Mensch sich jemals zugelegt hat“ (Luhmann, Niklas (1994b: 48).
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Relation. Die sich im Zuge des Modernisierungsprozesses rasch entwickelnden und enorm erweiternden instrumentellen Wissens- und Handlungsoptionen sollten der Emanzipation und dem Glück der Menschheit dienen. Es hat sich allerdings sehr bald herausgestellt, dass die Idee des Menschheitsglücks ein leerer Begriff ist und dass die Suche nach Sinn und Zweck die Menschen in differierende und immer weiter auseinander driftende Richtungen führt. In ihrer Flüchtigkeit und Endlichkeit, in ihrer Partikularität und Pluralität sind die menschlichen Akteure ungeeignet, die Zentrierungsleistung zu erbringen, die sie sich infolge des Modernisierungsprozesses selbst auferlegt haben. Im Gegenzug dazu finden die auf Ausdifferenzierung angelegten Sachbereiche in der Verfolgung von Effizienz und Rationalität bzw. Rationalisierung und Effizienzsteigerung auf der Grundlage von Form und Formel, Verfahren und Kalkül, ein einheitliches Prinzip, das sie zu einem Funktionssystem zusammenschließt. Auf der Basis der unter dem Vorzeichen instrumenteller Rationalität zum System integrierten Sachbereiche gewinnt die moderne Gesellschaft Stabilität, während sich die ziel- und zwecksetzende praktische Vernunft der Akteure als volatil erweist und einem unaufhaltsam fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozess unterliegt. In der Folge dreht sich das Verhältnis von Sinn und Funktion, Zweck und Mitteln um. Während das Funktionssystem in den Mittelpunkt tritt, wird das Subjekt Menschheit zum bzw. im Individuum vereinzelt und marginalisiert. Die menschlichen Akteure rücken aus dem Zentrum an die Peripherie des Gesellschaftssystems. In der Perspektive der Systemtheorie erscheinen sie aus den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft ausgegliedert, ja regelrecht exiliert: Die moderne Gesellschaft „bietet dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ‚gesellschaftliches Wesen‘ existieren kann. Er kann nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren (...)“ (Luhmann 1989: 158). „Die Gesellschaft gewinnt ihnen (den Individuen, C.K.) gegenüber eine Objektivität, die sich, weil sie auf Subjektivität gar nicht mehr bezogen ist, in einen intersubjektiven Lebenszusammenhang auch nicht mehr einbringen läßt“ (Habermas 1974: 60). Mit anderen Worten, die moderne Gesellschaft als System ist entgegen anfänglicher Hoffnungen „nicht nach dem Maße des Menschen gebaut“ (Luhmann 1989: 258). Eben das ist der dritte, der spezifisch moderne gap, der Riss zwischen System und Individuum, zwischen Objektivität und Subjektivität, Sachsphäre und Lebenswelten. Indessen bedeutet die Exilierung des Subjekts nicht seinen Tod. In der Transformation zum Individuum verliert der Mensch zwar den Status von Universalität im Sinne von Menschheit, aber in dem der westlichen Moderne eigentümlichen Konzept des Individuums, das alsbald an seine Stelle tritt, wird der Anspruch auf die Subjektstellung, auf die Position des still point in a turning world aufrecht erhalten. Nicht gemeinsam als Menschheit, wohl aber jede/r für sich in seinem/ihrem ‚Exil‘ soll ein autonomes und souveränes Subjekt seines Geschicks und seiner Geschichte sein. „Die Moderne bringt die Idee des Individuums hervor, das sich in den Mittelpunkt rückt (...) „ (Rucht 1994: 53). „Das Individuum wird als einmaliges, einzigartiges, am Ich bewußt werdendes, als Mensch realisiertes Weltverhältnis begriffen; und Welt (oder sozial gesehen: Menschheit) ist eben das, was im Individuum ‚selbsttätig‘ zur Darstellung gebracht wird“ (Luhmann 1989: 212). Mag die Idee, dass die Menschheit anstelle des toten Gottes zum allem zugrunde Subjekt werden könnte, aberwitzig gewesen sein, so ist es der Gedanke, dass in unendlicher Verkleinerung und Vervielfältigung jedes Individuum im Mittelpunkt seines jeweiligen, jemeinigen Mikrokosmos stehen könnte, nicht minder.
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Tatsächlich entsteht und besteht bis heute trotz oder gerade wegen des gaps eine Patt-Situation zwischen System und Individuum/Individuen. Einerseits gewinnt das Funktionssystem Macht über die Menschen, und zwar die verkehrte Macht der Mittel über den Zweck, der toten Sachlichkeit über die lebendige Menschlichkeit. Aber andererseits bleibt das System in -mindestens- zwei Hinsichten auf die menschlichen Akteure angewiesen: Erstens bedarf das moderne gesellschaftliche Funktionssystem bislang noch immer der Zweck- und Sinngebung durch die Individuen. Das Funktionssystem besitzt zwar ein einheitsbildendes Prinzip, aber dieses ist auf die Dimension der Mittel beschränkt; es bewirkt keine Sinneinheit, keinen sozialen Konsens, sondern technisch-instrumentelle Vereinheitlichung als Standardisierung, Normierung, Uniformierung und Globalisierung. Instrumentelle Rationalität sichert die Wahl der richtigen Mittel zu gegebenen Zwecken, nicht aber die Wahl dieser Zwecke selbst5. Wenigstens in der bislang erfolgreicheren liberalen Variante der modernen Gesellschaft bleibt die Wahl der Ziele daher den Individuen überlassen – allerdings ohne dass dies an den verkehrten Machtverhältnissen zwischen System und Individuum etwas zu ändern vermöchte. Zweitens kann sich das moderne gesellschaftliche Funktionssystem bisher immer noch nicht selbst reproduzieren. Es bleibt auf das kreatürliche Leben sowie auf die kreative Lebendigkeit der menschlichen Akteure angewiesen. Weder Leben noch Lebendigkeit kann das System aus sich selbst heraus schaffen; beides wird „in der Umwelt der Gesellschaft“ produziert und reproduziert. Der neuerdings besonders heisere Schrei des Systems nach Nachwuchs an Akteuren, deren Gesamtmenge der Planet kaum mehr zu tragen vermag, und nach ihrer Kreativität, die einen blind in sich leer laufenden Betrieb permanenter Innovation anheizen soll, stellt diesen Bedarf des Systems unter Beweis. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Entwicklung der Funktionszusammenhänge in Zukunft einmal einen Punkt erreichen könnte, an dem sich die Mittel vollends in Zwecke verwandelt haben und die Akteure im Inneren des Systems, industriell produziert werden, so dass die Abhängigkeit des Systems von der ‚Randständigkeit‘ der Menschen ein Ende hätte. Bis dieser Gipfel der Perfektion des Systems, von dem vermutet werden darf, dass er gleichzeitig seinen Untergang bedeuten würde, erreicht ist, bleibt es bei der Patt-Stellung zwischen beiden Seiten. Die Besonderheit des modernen Gesellschaftssystems in seiner gegenwärtigen Gestalt liegt in der Kompatibilität zwischen zunehmender Verhärtung des eisernen Käfigs auf der Systemseite und fortgesetzter Freisetzung und Pluralisierung auf der Subjektseite. Genauer gesagt: Das dominante System bringt selbst die unterlegene, aber bislang unverzichtbare Subjektposition hervor, es treibt einen Individualisierungsprozess an, in dem die Subjektivität des/der Einzelnen aufgrund ihrer Dezentrierung entfesselt wird, was zugleich auch bedeutet, dass die Differenzen zwischen den Individuen immer grösser werden oder wenigstens zu werden scheinen. Die Gleichzeitigkeit, in der die Prozesse der Globalisierung und Individualisierung, der Normierung und Pluralisierung ablaufen, ist weder zufällig noch widersprüchlich; beide bedingen und bedienen einander unter negativem Vorzeichen: weder heben sie sich wechselseitig auf noch ergänzen sie einander. 5 „(...) la rationalité instrumentale, la technique, considérées comme la recherche des moyens les plus efficaces pour atteindre des objectifs qui échappent eux-mêmes aux critères de la rationalité en ce qu‘ils relèvent de valeurs sociales ou culturelles (...)“ (Touraine (1992): 123).
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Cornelia Klinger
Eben daran scheitern übrigens die gegensätzlichen Intentionen der verschiedenen Vorwärtsund Rückwärtsbewegungen, von denen oben die Rede war, gleichermaßen. Auf der einen Seite erhält die als Zerfall aufgefasste fortschreitende Fragmentierung durch die performative Systemeinheit keinen ordnenden oder sinnstiftenden Rahmen – das enttäuscht die reaktionär-rückwärtsgerichteten Hoffnungen auf Überwindung der Zersplitterung der Moderne. Umgekehrt wird die fortschreitende Vereinheitlichung des Systems durch die gleichzeitige Freisetzung und Differenzierung der Individuen nicht unterbrochen oder in Frage gestellt – das enttäuscht die progressiven Hoffnungen auf Befreiung und Pluralisierung. Was als alternativ erscheint und zuweilen als Alternative mit gegensätzlich Wünschen und Hoffnungen besetzt wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als zwei Seiten derselben Medaille. Auf der Ebene der Repräsentation findet die fatale Verdrehung zwischen Funktion und Sinn, Mitteln und Zwecken, System und Subjekt ihren Niederschlag in einer Umkehrung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Während das mächtige System in seiner Anonymität hinter den grauen Gitterstäben seiner abstrakten Strukturen, den grids von StrichCodes nicht nur weitgehend unsichtbar ist, sondern auch zunehmend undurchschaubar wird, steht das entthronte, marginalisierte Subjekt im Blickpunkt: „(...) Welt (oder sozial gesehen: Menschheit) ist eben das, was im Individuum ‚selbsttätig‘ zur Darstellung gebracht wird“6. Während die Macht hinter den Kulissen verborgen steht, spielt das Individuum auf der Vorderbühne Welttheater. Es setzt die verpasste Subjektstellung der Menschheit in seiner ex-zentrischen Subjektivität in Szene. So wird die einzelne Person zum „impersonator“ des Prinzips Personalität: „The ‚person‘ as absolute value, with its indestructable features and specific force, forged by the whole of the Western tradition as the organizing myth of the Subject – the person (…) is absent, dead, swept out of our functional universe. And it is this absent person, this lost instance which is going to ‚personalize‘ itself“ (Baudrillard 1998: 88). An der vollständigen „Selbsttätigkeit“ der Darstellung sind indes Zweifel erlaubt. Es ist vielmehr evident, dass die Neuen Kommunikationstechnologien mit ihren spezifischen Eigenschaften und Merkmalen bestens dafür geeignet, ja geradezu wie dafür geschaffen sind, diese Aufführung im Großformat ins Bild zu rücken, wenn sie sie nicht überhaupt initiieren. Das Prinzip der Medientechnologien ist jedenfalls auch hier am Werk: Die Verwirklichung des Subjektideals erfolgt in der Passage durch seine radikale Entwirklichung im Individuum. In der Entwirklichung wird die Subjektposition freilich nicht zum Verschwinden, sondern zu einem gesteigerten Vorschein, zum Ausdruck gebracht, kurzum sie wird theatralisiert. Wenn sich am Ende die Tendenzen zur Enttheatralisierung der Macht des Systems und der Theatralisierung der Ohnmacht des menschlichen Subjekts gegenüber stehen, dann verweist diese Konstellation auf einen noch tiefer liegenden Wandel. Während traditionell Macht und Reichtum mit Fülle, Vielfalt und Sichtbarkeit assoziiert sind, steht die moderne Herrschaft des Funktionssystems unter einem negativen Vorzeichen. Es sind die Trends mit dem Präfix „Ent-“, zur Ent-wirklichung, Ent-sinnlichung, Ent-theatralisierung, der Abstraktion und der Ent-Leerung die die Oberhand gewinnen bzw. sich auf der Seite der Macht einschreiben. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass dieses Konzept gesellschaftlicher Ordnung mehr oder weniger rasch auf seinen Kältetod zusteuert. Eine Umkehr auf diesem Weg wäre nur dann
6 siehe oben, Hervorhebung von mir, C.K.
„GAPS“. Über alte und neue Polarisierungstendenzen in Kultur und Gesellschaft
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noch möglich, wenn die in ihrer Ohnmacht ausgestellten Individuen hinter den bunten, üppigen Fassaden des endlosen Divertissements und des Spektakels die Einheit ihres Elends zu erkennen vermöchten.
Literatur Baudrillard, Jean (1998): The Consumer Society: Myths and Structures. London: SAGE. Berman, Marshall (1988): All That Is Solid Melts Into Air: The Experience of Modernity. New York: Penguin Books. Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels. Aus dem Französischen von Wolfgang Kukulies. Berlin: Edition Tiamat. Habermas, Jürgen (1974): Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? Rede aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises. In: Habermas, Jürgen/Henrich, Dieter: Zwei Reden. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 23-75. Hall, Stuart (1997): The Local and the Global: Globalization and Ethnicity. In: McClintock, Anne/Mufti, Aamir/ Shohat, Ella (Hrsg.): Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives. Minneapolis: University of Minnesota Press. Haraway, Donna (1989): A Manifesto for Cyborgs. In: Weed, Elizabeth (Hrsg.), Coming to Terms: Feminsm, Theory, Politics. London/New York: Routledge. 173-204. Hegel, G.W.F. (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1989): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1994a): Inklusion und Exklusion. In: Berding, Helmut (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußseins in der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1994b): Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Fuchs, Peter/Göbel, Andreas (Hrsg.): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 40-56. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1847/48): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx-Engels-Werke 4. Musil, Robert (1981): Der Mann ohne Eigenschaften. (hrsgg.v. Adolf Frisé) Reinbek: Rowohlt. Rucht, Dieter (1994): Modernisierung und neue soziale Bewegungen: Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/M.: Campus. Sedlmayr, Hans (o.J.): Der Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit. Salzburg: Otto Müller Verlag. Touraine, Alain (1992): Critique de la modernité. Paris: Fayard. Welsch, Wolfgang (1988): Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: acta humaniora.
Band 2: Über die Autorinnen und Autoren
Bock, Hans Manfred (*1940), Dr. phil.; Professor emer. für Politikwissenschaften, Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie Frankreichs und Deutschlands, Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert. Mitherausgeber von Lendemains. Études comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung. Ausgewählte Publikationen: Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930. Paris: 1993 (hrsgg. mit R. Meyer-Kalkus/M. Trebitsch); Berlin-Paris (1900 – 1933): Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich. Bern: 2005 (hrsgg. mit I. Mieck); Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung: Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tübingen: 2005.
Derra, Julia Maria (* 1981), M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Soziologie (Konsum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Mitarbeiterin an dem Drittmittelprojekt „Männlich und Weiblich im Spiegel der Werbung“. Arbeitsgebiete: Medien- , Geschlechter- und Sozialisationsforschung.
Eck, Cornelia (*1981), M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Soziologie (Konsum- und Kommunikationsforschung) an der Universität Trier. Mitarbeiterin an dem Drittmittelprojekt „Männlich und Weiblich im Spiegel der Werbung“. Arbeitsgebiete: Kommunikations- und Geschlechterforschung.
Göttlich, Udo, PD Dr. phil., M.A., (*1961), Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg sowie Leiter der Forschungsgruppe „Politik und Kommunikation“ am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung der Universität Duisburg-Essen. Gastprofessur am Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im Sommersemester 2008 u. 2006. Vertretungsprofessur an der Universität Hildesheim im Wintersemester 2007/2008. Arbeits- und
H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-91586-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
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Über die Autorinnen und Autoren
Forschungsschwerpunkte: Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies Approach, Soziologische Theorien. Aktuelle Publikation: Die Kreativität des Handelns in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung, Konstanz: 2006; Red. eines Themenheftes der ÖZS, 4/2007: Die Soziologie der Cultural Studies. E-Mail: [email protected]
Henkel, Sven, Studium der Betriebswirtschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2004 Promotion bei Prof. Dr. Torsten Tomczak, Institut für Marketing und Handel der Universität St. Gallen. Arbeitsgebiete: Markenmanagement; Mitarbeiterführung; Werbewirkungsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Marke Mensch. Prominente als Marken der Medienindustrie. Wiesbaden: 2005 (mit F. Huber); verschiedene Aufsätze zum markenorientierten Mitarbeiterverhalten.
Hepp, Andreas (* 1970), Dr. habil.; Professor für Kommunikationswissenschaft am IMKI Institut für Medien, Kommunikation und Information der Universität Bremen. Arbeitsgebiete: Medien- und Kommunikationstheorie; Mediensoziologie; transkulturelle Kommunikation; Cultural Studies; Medienwandel; digitale Medien; Methoden der Medienkulturforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Transkulturelle Kommunikation. Konstanz: 2006; Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien- Kommunikations- und Kulturtheorie. Wiesbaden: 2006 (hrsgg. mit F. Krotz/S. Moores/C. Winter).
Jäckel, Michael, Dr. phil.; Professor für Soziologie, Universität Trier. Arbeitsgebiete: Medien- und Konsumsoziologie; Zeitbudgetforschung; Gesellschaftliche Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Einführung in die Konsumsoziologie. Fragestellungen, Kontroversen, Beispieltexte. Wiesbaden: 2006 (2. erw. Aufl.); Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation (Hrsg.). Wiesbaden: 2007; Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden: 2008. Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder (Hrsg.). Wiesbaden: 2005; Time is Money and Money needs Time? A Secondary Analysis of Time-Budget Data in Germany (mit S. Wollscheid). In: Journal of Leisure Research 39, Number 1, 86-108. 2007.
Keller, Katrin, Dr. phil. M.A.; Lehrbeauftragte am Institut für Kommunikationswissenschaft/ WWU Münster. Promotion im April 2006. Arbeitsgebiete: Kultur- und Popkultur-Theorien; Starkult- und Fan-Forschung; Identitäts-Theorien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Legitimation durch Verachtung. Identitätskonstruktionen von (Anti-)Fans in distinktionskritischen
Über die Autorinnen und Autoren
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Zeiten. In: Jacke, Chr./Zurstiege, G. (Hrsg.): Hinlenkung durch Ablenkung. Münster: 2003; Wiederverwertungen. Retro und die Reflexivität des Reloads. In: Jacke, Chr./Kimminich, E./ Schmidt, S. J. (Hrsg.): Kulturschutt. Bielefeld: 2006; Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft. Bielefeld: 2008.
Klinger, Cornelia, Prof. Dr.; ständiges wissenschaftliches Mitglied am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien; apl. Professur für Philosophie an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Arbeitsgebiete: Politische Philosophie; Ästhetik; Theoriegeschichte der Moderne; Gender Studies im Bereich Philosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Erfindung des Subjekts. Frankfurt; Das Jahrhundert der Avantgarden. München: 2004 (hrsgg. mit W. Müller-Funk); Continental Philosophy in Feminist Perspective: Re-Reading the Canon in German. Penn State University Press (hrsgg. mit H. Nagl-Docekal); Flucht – Trost – Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten. München: 1995.
Krönert, Veronika (* 1977), Dipl.-Medienwissenschaftlerin; Doktorandin am IMKI Institut für Medien, Kommunikation und Information der Universität Bremen. Mitarbeit bei dem Teilprojekt „Mediatisierungsperspektive“ des DFG-Projekts „Situative Vergemeinschaftung mittels religiöser Hybridevents: Der XX. Weltjugendtag 2005 in Köln“. Arbeitsgebiete: Individualisierungsprozesse im Zusammenhang mit mediatisierter Religiosität; Medienrezeption und –aneignung; Medienidentitäten; transkulturelle Kommunikation.
Langenohl, Andreas, PD Dr. rer. soc.; Leiter der Forschungsgruppe „Idiome der Gesellschaftsanalyse“, Cluster EXC16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Universität Konstanz; Leiter des Forschungsprojekts „Professionelle Erinnerung an der Börse“, SFB 434, „Erinnerungskulturen“, Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Epistemologie und performative Dimensionen von Gesellschaftsanalysen; Soziologie der Finanzmärkte; Modernisierungstheorie; Organisationssoziologie; kollektive Erinnerungspraktiken; Transformation staatssozialistischer Gesellschaften. Ausgewählte Publikationen: Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie, Frankfurt/M./New York: 2007; Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft, Stuttgart: 2007; Die Markt-Zeit der Finanzwirtschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen, Marburg: 2007 (hrsgg. mit K. Schmidt-Beck).
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Über die Autorinnen und Autoren
Ludes, Peter, Prof. Dr. Dr. (USA); Professor für Mass Communication, Jacobs University Bremen. Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft in Trier und Brandeis. 1987 Habilitation in Wissenssoziologie. Gastdozenturen in Amsterdam und an der Harvard University. 1995 bis 2000: 2. Sprecher des sfb Bildschirmmedien Siegen. 2001 bis 2004 Sprecher des Teams „Convergence – Fragmentation. Media Technology and the Information Society“ der ESF. Seit 2003 Sprecher eines internationalen Netzwerks: www.keyvisuals.org. Ausgewählte Veröffentlichungen: Multimedia und Multi-Moderne. Schlüsselbilder. Opladen: 2001; Einführung in die Medienwissenschaft. Berlin: 2003; Visual Hegemonies. Münster: 2005.
Mikos, Lothar (*1954), Dr. phil. habil., Dipl.-Soz.; Professor für Fernsehwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Inhaber der Mikos Media Cooperation für Medienberatung, Medienentwicklung, Medienforschung und Medienpädagogik. Arbeitsgebiete: Medien und Bildung; Publikumsforschung; Medien und Gewalt; Jugendschutz; Medien und Sport; Globalisierung und Fernsehen; Medien im Alltag. Ausgewählte Veröffentlichungen: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: 2003; Anpfiff. Erste Analysen zum DDR-Sportfernsehen. Leipzig: 2004 (hrsgg. mit H.J. Stiehler/J.A. Friedrich); Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz: 2005 (hrsgg. mit C. Wegener); Videoclips und Musikfernsehen. Eine problemorientierte Kommentierung der aktuellen Forschungsliteratur. Berlin: 2006 (mit K. Neumann-Braun); Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen. München: 2007 (hrsgg. mit D. Hoffmann/R. Winter); Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion. Wiesbaden: 2007 (hrsgg. mit D. Hoffmann).
Neumann-Braun, Klaus (*1952), Prof. Dr., ist nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Freiburg, Trier, Frankfurt/Main, Koblenz-Landau und Wien (Gastprofessur) seit 2005 Ordinarius für Medienwissenschaft an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel/Schweiz. Arbeitsgebiete: Medien- und Kommunikationssoziologie, Publikums- und Rezeptionsforschung, Populärkulturanalyse, Methodenentwicklung (Bildanalyse). Ausgewählte Veröffentlichungen: Videoclips und Musikfernsehen. Eine problemorientierte Kommentierung der aktuellen Forschungsliteratur. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien (LfM, NRW), Bd. 52. Berlin: 2006 (mit L. Mikos); Ich-Armeen. Täuschen. Tarnen. Drill. München: 2006 (mit B. Richard); Die Welt der Gothics. Spielräume düster konnotierter Transzendenz. Wiesbaden: 2004 (mit A. Schmidt); Popvisionen. Links in die Zukunft. Frankfurt/M.: 2003 (mit A. Schmidt und M. Mai); Viva MTV. Popmusik im deutschen Fernsehen: Frankfurt/M: 1999. Kontakt: [email protected] sowie www.mewi.unibas.ch
Über die Autorinnen und Autoren
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Nieland, Jörg-Uwe (*1965), Dr., Dipl. Soz.; Studium der Sozialwissenschaften (Fach: Politikwissenschaft), Geschichte, Philosophie und Sportwissenschaft in Duisburg, Bochum und Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied der „Forschungsgruppe Regieren“ darüber hinaus Lehrbeauftragter an den Universitäten Münster, Bonn und Düsseldorf. Arbeitsgebiete/Forschungsfelder: Analysen von politischer Kommunikation und Regierungstätigkeit, Politikfeldanalysen, Extremismusforschung, Populärkultur- und Jugendkulturanalysen, Medienpolitik, empirische Medienwissenschaft. Veröffentlichungen (Auswahl): Interaktives Fernsehen. Entwicklung, Dimensionen, Fragen, Thesen (mit G. Ruhrmann) Opladen 1997; Politik, Medien, Technik. Festschrift für Heribert Schatz (mit H. Abromeit und Th.Schierl) (Hrsg.) Wiesbaden 2001; Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik? (mit G. Hallenberger) (Hrsg.) Köln 2005; Regieren und Kommunikation. Meinungsbildung, Entscheidungsfindung und gouvernementales Kommunikationsmanagement (mit K. Kamps) (Hrsg.) Köln 2006; Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen (mit J. Mittag) (Hrsg.) Essen 2007. E-Mail: [email protected].
Pranz, Sebastian (*1979), Dr.; Institut für Soziologie, Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsgebiete: Computervermittelte Interaktionskontexte; Wandlungsprozesse der digitalen Medien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Vom Beichtstuhl zum Chatroom. Strukturwandlungen institutioneller Selbstthematisierung. In: G. Burkart (Hrsg.): Die Ausweitung der Bekenntniskultur – neue Formen der Selbstthematisierung? Wiesbaden: 73-103. (mit H. Willems); Die Präsentation des Raumes im Videospiel. In: Willems, H. (Hrsg.): Weltweite Welten. Internet-Figurationen aus wissenssoziologischer Perspektive. Wiesbaden: 2008. 319-339; Theatralität digitaler Medien. Eine wissenssoziologische Betrachtung medialisierten Alltagshandelns. Wiesbaden: 2009.
Reichertz, Jo (*1949), Prof. Dr. phil., Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Duisburg-Essen. 1970-1973 Studium der Germanistik und Mathematik in Bonn, anschließend Tätigkeit als Lehrer für Deutsch und Mathematik in Berlin. 1976-1978 Studium der Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Essen. Lehrtätigkeit in Essen, Hagen und Dortmund. 1986 Promotion in Hagen, 1991 Habilitation ebenda. 1980-2000 Geschäftsführer der Sektion Sprachsoziologie, seit 2000 Vorstandsmitglied der Sektion Wissenssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Gastprofessuren in Wien und Witten-Herdecke. Seit 1993 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Wissenssoziologie; Mediensoziologie; Werbung; Qualitative Bild- und Texthermeneutik; Kultursoziologie; Religionssoziologie; Empirische Polizeiforschung. Ausgewählte Publikationen: Probleme qualitativer Sozialforschung. New York, Frankfurt/Main: 1986; Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizisten und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart: 1991; Polizei vor Ort. Studien zur empirischen Polizeiforschung. Stuttgart: 1992 (hrsg. mit Norbert Schröer); (Hrsg.)
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Über die Autorinnen und Autoren
Die Wirklichkeit des Rechts. Rechts- und sozialwissenschaftliche Studien. Opladen: 1998; Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz: 1999 (hrsgg. mit Ronald Hitzler/Norbert Schröer); Die Frohe Botschaft des Fernsehens. Kultursoziologische Untersuchung medialer Diesseitsreligion. Konstanz: 2000; Liebe (wie) im Fernsehen. Eine wissenssoziologische Studie. Opladen: 2002 (mit Nathalie Ivanyi); Die Bedeutung der Abduktion in der Sozialforschung. Opladen: 2003; Hermeneutik der Kulturen – Kulturen der Hermeneutik. Konstanz: 2004 (hrsgg. mit Anne Honer/Werner Schneider); Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur. Wiesbaden: 2007 (hrsgg. mit Manfred Schneider); Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden: 2007.
Sandbothe, Mike, freier Autor, Kulturberater und Filmproduzent in Deutschland und den skandinavischen Ländern. Dozent für Medienphilosophie, Aalborg Universität/Dänemark. Ausgewählte Publikationen: Pragmatische Medienphilosophie (Weilerswist: Velbrück 2001); Systematische Medienphilosophie (Berlin: Akademie 2005); Pragmatismus als Kulturpolitik (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009).
Schicha, Christian, Prof. Dr. phil. habil.; Professor für Medienmanagement an der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf. Arbeitsgebiete: Politische Kommunikation; Medienethik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Politik im Spot-Format. Zur Semantik, Pragmatik und Ästhetik politischer Werbung in Deutschland. Wiesbaden: 2008 (hrsgg. mit A. Dörner); Legitimes Theater? Inszenierte Politikvermittlung für die Medienöffentlichkeit am Beispiel der „Zuwanderungsdebatte“. Münster: 2007; Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden: 2005 (hrsgg. mit A. Baum/W. Langenbucher/H. Pöttker); Die Theatralität der öffentlichen Kommunikation. Medieninszenierungen am Beispiel des Bundestagswahlkampfes 2002, Münster: 2003; Das Private in der öffentlichen Kommunikation. Big Brother und die Folgen. Köln: 2002 (hrsgg. mit M.K.W. Schweer/J.-U. Nieland)
Schmidt-Beck, Kerstin, M.A.; Institut für Soziologie, Justus-Liebig-Universität Gießen. Studium der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Teilprojekts „Professionelle Erinnerung an der Börse“ im Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ (JLU Gießen). Dissertationsprojekt „Berufliche Orientierungen am Finanzmarkt“. Arbeitsgebiete: Organisationsforschung; Arbeits- und Berufssoziologie; Finanzmarktsoziologie; Geschlechterforschung. Ausgewählte Veröffentlichung: Die Markt-Zeit der Finanzwirtschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen, Marburg: 2007 (hrsgg. mit A. Langenohl).
Über die Autorinnen und Autoren
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Schmidt, Axel (*1968), Dr.; nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Frankfurt/Main und Koblenz/Landau zurzeit Assistent am Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel. Arbeitsgebiete: Erziehungssoziologie; Populärkultur; Medien- und Kommunikationssoziologie; Jugendkultur- und Jugendkommunikationsforschung; Methoden der qualitativen Sozialforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Welt der Gothics. Spielräume düster konnotierter Transzendenz. Wiesbaden: 2004 (mit K. Neumann-Braun); Doing peer-group. Die interaktive Konstitution jugendlicher Gruppenpraxis. Frankfurt/M.: 2004; Popvisionen. Links in die Zukunft. Frankfurt/M.: 2003. (hrsgg. mit K. Neumann-Braun/M. Mai).
Schwanitz, Dietrich (*1940; Ü2004), Prof. Dr. phil., Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Hamburg. Studium der Anglistik, Geschichte und Philosophie in Münster, London, Philadelphia und Freiburg i. Br., ebenda 1971 Promotion zum Dr. phil.. 1978-1997 Professor für Englische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: sozialhistorisch und mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturgeschichte, Literaturtheorie, Verbindung von Dramentheorie, Theaterpraxis und Creative Writing. Ausgewählte Publikationen: George Bernard Shaw: Künstler, Konstruktion und unordentliche Welt, Frankfurt/M.: 1971; Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen: 1990; Englische Kulturgeschichte, Tübingen: 1995; Shakespeare und die Liebe: Ein Beispiel für die Applikation der Systemtheorie auf die Literatur. Hagen: 1996.
Teuscher, Andrea (*1975), Dipl.-Soziologin; wissenschaftliche Dokumentarin beim Hessischen Rundfunk.
Thimm, Caja (*1958), Prof. Dr. phil., Institut für Kommunikationswissenschaften, Universität Bonn. 1977-1984 Studium der Germanistik, Amerikanistik, Politologie und Kommunikationswissenschaften in München, Heidelberg und San Francisco. 1989 Promotion in Heidelberg. 1991-1997 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 245 „Sprache und Situation“ (Heidelberg/Mannheim). 1999 Habilitation in Heidelberg. Seit 2000 Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Sprache und Öffentlichkeit; Kommunikation im Alter; Geschlechterforschung; linguistische Medienforschung. Ausgewählte Publikationen: Dominanz und Sprache. Strategisches Handeln im Alltag. Wiesbaden: 2000; Alter – Sprache – Geschlecht. Sprach- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf das höhere Lebensalter. Frankfurt: 1998; (Hrsg.) Soziales im Netz. Sprache, soziale Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Opladen/Wiesbaden: 2000; (Hrsg.) Netz-Bildung. Lehren und Lernen mit Onlinemedien in Wissenschaft und Wirtschaft. Frankfurt: 2005.
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Über die Autorinnen und Autoren
Vogelgesang, Waldemar (* 1952), Dr. phil. habil.; Privatdozent im Fach Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsgebiete: Jugend-, Medien- und Kultursoziologie; Sozialindikatoren und Migrationsforschung; Mitbegründer der interdisziplinären Forschungsgruppe „Jugend- und Medienkultur“; Mitglied des Forschungsverbunds „Lebensqualität“. Ausgewählte Veröffentlichungen: ‚Meine Zukunft bin ich!‘ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher. Frankfurt/M.: 2001; Populäre Events. Opladen 2003 (hrsgg. mit A. Hepp); Jugend, Alltag und Kultur. Eine Forschungsbilanz. Wiesbaden: 2007.
Vollbrecht, Ralf, Prof. Dr.; Professor für Medienpädagogik an der Technischen Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften. Arbeitsgebiete: Medienpädagogik; Jugend- und Medienforschung; außerschulische Bildung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Abenteuer Cyberspace. Jugendliche in virtuellen Welten. Frankfurt: 2006 (hrsgg. mit A. Tillmann); Mediensozialisation. Pädagogische Perspektiven des Aufwachsens in Medienwelten. Opladen: 2003 (hrsgg. mit K. Fritz/S. Sting); Jugendmedien. Tübingen: 2002; Medienkompetenz im digitalen Zeitalter. Wie die neuen Medien das Leben und Lernen Erwachsener verändern. Opladen: 2002 (hrsgg. mit K. P. Treumann/D. Baacke/K. Haacke/K.-U. Hugger); Einführung in die Medienpädagogik. Weinheim/Basel: 2001.
Walter, Benjamin von, Dr.; Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien an der Universität Passau; Promotion an der Universität St. Gallen. Arbeitsgebiete: Markenmanagement und Alltagskultur.
Willems, Herbert, Dr. phil., M.A. Soziologie, Dipl. Päd.; Professor für Soziologie, JustusLiebig-Universität Gießen. Arbeitsgebiete: Modernisierung; Massenmedien; Werbung; Interaktion; Geschlechter; Allgemeine soziologische Theorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Psychotherapie und Gesellschaft. Voraussetzungen, Strukturen und Funktionen von Individual- und Gruppentherapien. Opladen: 1994; Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Frankfurt/M.: 1997; Identität und Moderne. A. Hahn/H. Willems (Hrsg.), Frankfurt/M.: 1999; Theatralität der Werbung. Berlin: 2003 (mit Y. Kautt); Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu. In: K.D. Altmeppen/T. Hanitzsch/C. Schlüter, (Hrsg.): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden: 2007, 5-2; Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge (Hrsg.). Wiesbaden: 2008; Weltweite Welten. Internet-Figurationen aus wissenssoziologischer Perspektive. Wiesbaden: 2008.
Über die Autorinnen und Autoren
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Wyss, Eva L., Sprach- und Medienwissenschaftlerin, Zürich. Lehrbeauftragte und Dozentin an Universitäten in der Schweiz und in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Kommunikation der Neuen Medien, Texte der Werbung und des Fernsehens. Sprache und Texte der privaten Kommunikation (intime Botschaften, Liebesbriefe, Liebeskorrespondenzen) seit dem 19. Jahrhundert. Soziologische und sozialhistorisch-anthropologische Fragen des medialen Kommunizierens. Ausgewählte Veröffentlichungen: Werbespot als Fernsehtext. Mimikry, Adaptation und kulturelle Variation. Tübingen: 1998; Leidenschaftlich eingeschrieben. Schweizer Liebesbriefe. Zürich: 2006 (Hrsg.).