Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft
Campus Verlag F...
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Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Inhalt
Vorwort 1. 2.
3.
4.
VII
Emergenz und Transformation Akteure und soziale Systeme
1 31
2.1 Soziale Systeme 2.2 Kollektive und Akteurskonstellationen 2.3 Das System der Gesellschaft
31 47 51
Soziale Differenzierung
63
3.1 Funktionale Differenzierung 3.2 Kulturelle Differenzierung 3.3 Normative Differenzierung
64 79 97
Soziale Ungleichheit
113
4.1 Gesellschaftliche Lagen 4.2 Klasse und Stand 4.3 Soziale Schichtung
118 132 143
Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist
163
4.4 Die neue soziale Ungleichheit 4.5 Statuszuweisung und Mobilität 4.6 Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
166 175 214
Inklusion und Exklusion
233
5.
VI
Inhalt
Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie
254
6.
261
Integration
Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft
285
7.
Sozialer Wandel
307
7.1 7.2 7.3 7.4
309 329 339 349
Strukturen als Prozesse „Gesetze“ des sozialen Wandels? Die Logik des sozialen Wandels Reproduktion und Evolution
Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wandels ziehen kann
8. 9.
371
7.5 Die Soziologie des sozialen Wandels
376
Soziologie und Geschichte Die Gesellschaft der Menschen
399 425
9.1 Die Strukturierung der Gesellschaft 9.2 Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
426 435
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden 9.3 Gemeinschaft und Gesellschaft
459 471
Exkurs über Entfremdung
477
Literatur Register
483 497
Vorwort
Die insgesamt sechs Bände der „Soziologie. Spezielle Grundlagen“ behandeln − immer in der Orientierung an den drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung − die wichtigsten Konzepte der Soziologie und die für eine angemessene soziologische Erklärung nötigen Einzelheiten aus ihren Nachbarwissenschaften, vor allem aus der Ökonomie und der Sozialpsychologie. In Band 1, „Situationslogik und Handeln“, wurden dabei die ersten beiden Schritte, die „Logik der Situation“ und die „Logik der Selektion“, ausführlich besprochen. Damit war es schon möglich, eine ganze Reihe von Konstellationen und Prozessen zu erfassen, die sich aus der besonderen „Situationslogik“ ergeben, der sich etwa Akteure schon mit nur ähnlichen Interessen und ähnlicher Kontrolle von Ressourcen − auch schon ohne jede weitere interaktive, strategische oder prozessuale Verbundenheit − gegenübersehen und die sich unter Begriffen wie Integration, Konflikt, sozialer Kontext oder soziale Klasse zusammenfassen lassen. Der dritte Schritt einer jeden soziologischen Erklärung, die Aggregation der Folgen des bloßen Handelns von individuellen Akteuren in − zuweilen oder sogar meist: unintendierte − kollektive Sachverhalte, war dabei − bis auf einige wenige Hinweise zum Schluß − noch nicht explizit und, vor allem, nicht systematisch behandelt worden. Daher waren auch jene Phänomene nicht unmittelbar angesprochen worden, auf die sich das Interesse der Soziologie seit jeher besonders richtet: sich gleichgewichtig und in Form von Prozessen reproduzierende und sich ggf. wandelnde soziale Gebilde, die inzwischen die allgemeine Bezeichnung „soziale Systeme“ gefunden haben. Solche sozialen Systeme sind der Gegenstand des hiermit vorgelegten Bandes 2 der „Speziellen Grundlagen“. Er hat den Titel „Die Konstruktion der Gesellschaft“: Die Gesellschaft ist das für die Soziologie wichtigste soziale System, und sie wird − wie alle anderen sozialen Systeme auch − im Modell der soziologischen Erklärung als ein „emergentes“ Resultat des Handelns von Akteuren verstanden, die durch die von ihnen selbst betriebene Vergesellschaftung ihrerseits wieder geprägt werden. Der Band beginnt daher auch mit dem Problem der Emergenz gesellschaftlicher Tatbestände als Resultate individueller Akte und mit der Logik der „Transformation“ der individuellen Effekte in kollektive Sachverhalte, sowie mit einer Klassifikation der verschie-
VIII
Vorwort
denen Arten sozialer Systeme und „Akteurskonstellationen“. Die dann folgenden Kapitel befassen sich mit den vier grundlegenden sozialen Prozessen und gesellschaftlichen Strukturen: soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit, soziale Ordnung und sozialer Wandel. Die Unterscheidung von individuellen Akteuren und sozialen Systemen als zwei jeweils gesondert zu beachtenden Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit erlaubt dabei eine einfache Sortierung dieser vier Prozesse: Die soziale Differenzierung beschreibt die Unterschiedlichkeit von Gesellschaften in Hinsicht auf die von ihnen umschlossenen sozialen Systeme, die soziale Ungleichheit die Unterschiedlichkeit in Hinsicht auf Kategorien oder Aggregate von Akteuren. Bei der sozialen Differenzierung werden − neben den üblicherweise damit gedanklich verbundenen sog. Funktionssystemen oder funktionalen Sphären der Gesellschaft − noch zwei andere Arten sozialer Systeme unterschieden: die hier so genannten kulturellen Milieus, etwa das einer alternativen oder einer rechten „Szene“, und gewisse Sphären der Abweichung von den gesellschaftlich etablierten Normen, wie etwa Subkulturen, Gegenkulturen oder die sog. sozialen Bewegungen. Im Zusammenhang mit dem Aspekt der sozialen Ungleichheit wird in einem umfangreicheren Kapitel auf alle hier wichtigen Konzepte der Soziologie eingegangen: Klasse, Stand, soziale Schichtung, die sog. neue soziale Ungleichheit und Prozesse der Mobilität, zum Beispiel. Als Bindeglied zwischen diesen beiden Aspekten der gesellschaftlichen Struktur können dann Prozesse der Statuszuweisung bzw. solche der „Inklusion“ und der „Exklusion“ von Akteuren in bzw. aus soziale(n) Systeme(n) verstanden werden. Die in diesem Zusammenhang neuerdings aufgekommenen Diskussionen über das Verhältnis von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit werden dann vor dem Hintergrund des Modells der soziologischen Erklärung systematisiert. Diese Debatten, wie sie besonders von der soziologischen Systemtheorie geführt werden, verlieren dadurch vieles an ihrer bislang noch reichlich vorhandenen Mystik. Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit bergen eine Reihe von intern angelegten und unvermeidlichen konfliktgenerierenden Logiken und „zentrifugalen“ Dynamiken, und jede Erklärung der Konstruktion funktionierender und sich reproduzierender Gesellschaften verlangt zwingend nach einer auch schon systematischen Behandlung des Problems der sozialen Ordnung. Dieses Problem wird in Band 2 der „Speziellen Grundlagen“ nur in einem relativ kurzen Kapitel über „Integration“ behandelt, da es in den Folgebänden, vor allem aber in Band 3 über „Soziales Handeln“ und in Band 5 über „Institutionen“, aber auch in Band 4 über „Opportunitäten und Restriktionen“, hier im Zusammenhang der ordnenden und integrierenden Kräfte des anonymen Marktes nämlich, noch ausführlich zur Sprache kommt. Sozialer Wandel ist dann nichts weiter als die Änderung der grundlegenden Strukturen sozialer
Vorwort
IX
Systeme − verstanden als nachhaltige und systematische Abweichung von einem einmal erreichten reproduktiven Gleichgewicht mit der − möglichen, aber keineswegs sicheren − Folge, daß ein neues Gleichgewicht gefunden wird. In diesem Zusammenhang wird ausführlich auf die Frage nach genuin „soziologischen“ Gesetzen des sozialen Wandels und auf die damit befaßten älteren soziologischen Theorien eingegangen. Die Antwort sei hier schon verraten: Solche Gesetze gibt es nicht und sie kann es auch nicht geben, und eine „Soziologie des sozialen Wandels“ wäre daher ein ganz und gar vergebliches Unterfangen − wie sich dann auch nicht erst heute nachhaltig gezeigt hat. Wie das Verhältnis der erklärenden Soziologie, die sich gleichwohl mit den Vorgängen des Wandels von Gesellschaften befaßt, zu den Geschichtswissenschaften (vice versa) aussehen könnte, wird dann in einem eigenen Kapitel abgehandelt. Den Schluß bildet ein Überblick über alle angesprochenen Einzelheiten und ein heuristisch gedachtes Modell der „Konstruktion“ der Gesellschaft, das auch als eine Art von Fahrplan durch die Einzelheiten aller Bände der „Soziologie“ (auch der „Allgemeinen Grundlagen“) dienen kann. Und ganz zum Schluß gibt es noch eine kurze Skizze der langfristigen historischen Entwicklung der Strukturen der menschlichen Gesellschaft und des Verhältnisses der anonymen „Systeme“ der Gesellschaft zu den personalisierten „Gemeinschaften“, aus denen die Lebenswelt der Menschen seit jeher besteht und auf die sie nie, auch nicht in der komplett globalisierten InternetWeltgesellschaft, werden verzichten können. Diesen Band 2 über die „Die Konstruktion der Gesellschaft“ der „Speziellen Grundlagen“ kann man getrost auch „für sich“ lesen, also auch ohne die Einzelheiten aus dem Band 1, „Situationslogik und Handeln“, genauer zu kennen. Gleichwohl empfiehlt sich die „sukzessive“ Lektüre der Bände, auch die der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ zuerst, denn das Konzept der „Grundlagen“ ist, anders als viele andere Beiträge der Soziologie heutzutage, systematisch und kumulativ aufgebaut, und viele Dinge erschließen sich erst so richtig, wenn man die Hintergründe kennt. Mit dem Band 2 der „Speziellen Grundlagen“ sind, wenn man so will, die Prolegomena der „Grundlagen“ insgesamt abgeschlossen, und es geht dann in den restlichen vier Bänden (3 bis 6 der „Speziellen Grundlagen“) um die vielen kleinen und großen Einzelheiten, ohne deren Verständnis die „großen“ Fragen der Soziologie immer nur große „Fragen“ bleiben müssen − und das oft genug bis heute geblieben sind. M. Rainer Lepsius, Walter Müller und Fritz W. Scharpf sei für einige spezielle Hinweise zu diesem Band 2 sehr gedankt. Hartmut Esser
Mannheim, im März 2000
Kapitel 1
Emergenz und Transformation
Eine Gesellschaft ist nicht einfach die Summe ihrer Teile, und soziale Prozesse lassen sich meist auch nicht schlicht nur über die Einstellungen und das Handeln der Akteure erklären. In Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ war ausführlich der Fall der studentischen Unruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren besprochen worden. Dabei gab es eine, auf den ersten Blick zunächst wenigstens, recht unverständliche Paradoxie: Die Unruhen gab es zuerst und am heftigsten an den Eliteuniversitäten, wie Berkeley oder Yale, und eben nicht dort, wo man hätte wirklich unzufrieden sein können – in der muffigen Provinz. Die naheliegende „idealistische“ Hypothese, wonach sich diese Paradoxie über das besondere kritische Bewußtsein der „Elite“-Studenten erklären ließe, erwies sich bald angesichts einer ganz anderen „Situationslogik“ als wenig plausibel: Die Studenten fühlten sich an den Eliteuniversitäten mit ihren horrenden Gebühren stark vernachlässigt, weil es hier zwar die Stars der Wissenschaft als ihre Hochschullehrer gab, die aber weniger auf dem Campus als in der Luft und auf weltweiten Kongreßreisen zu finden waren, was der „strukturelle“ Grund für die Unzufriedenheit der Studenten mit den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ war. Bis an diese Stelle der Analyse funktionierte die „situations-logische“ Rekonstruktion des Geschehens noch ganz gut, insbesondere weil es jetzt nur noch eine Annahme gab, um den Zusammenhang zwischen dem Ansehen der Universität und dem Entstehen der studentischen Proteste zu erklären – die Annahme nämlich, daß Frustrationen auch – mehr oder weniger unmittelbar – Widerstand und Revolten erzeugen. Das ist aber, wie wir spätestens seit Alexis de Toqueville mit seinem sog. Toqueville-Paradox wissen, eine viel zu einfache Annahme: Revolutionen und Unzufriedenheiten hängen keineswegs direkt miteinander zusammen, und oft sind es kleine, scheinbar unbedeutende Umstände, die das Faß zum Überlaufen bringen, oft genug sogar dann, wenn die Unzufriedenheiten gar nicht besonders stark sind. Und zum Schluß von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, wurden dann, etwa in den Abschnitten 10.4 und 12.3, einige Hinweise darauf gegeben, warum genau Revolten und Revolutionen nicht einfach bloß das Ergebnis der „Addition“ individueller Frustrationen sind, sondern von manchmal sehr speziellen Bedingungen abhängig sind.
Mit den Einstellungen und den daraus – eventuell – folgenden Handlungen der Akteure hat man also in der Tat nur einen Teil eines „gesellschaftlichen“ Phänomens erklärt – die sog. individuellen Effekte. Gelegentlich wird zwar angenommen, daß die individuellen Effekte in der Tat schon alles seien und daß das Ganze tatsächlich nichts weiter wäre, als die einfache Summation
2
Die Konstruktion der Gesellschaft
seiner Teile, wie das beim individualistischen Fehlschluß der Aggregatpsychologie geschieht, etwa in mancher Meinungsforschung und in vielen Anwendungen der sog. Variablensoziologie. Aber nicht nur unser Beispiel mit den Studentenprotesten an den amerikanischen Hochschulen, sondern auch der Fehlschlag der Marxschen Theorie des zwangsläufigen Untergangs des Kapitalismus waren deutliche Hinweise darauf, daß der direkte Schluß von bloßen „Summen“ oder „Mittelwerten“, etwa in bestimmten Interessen, Einstellungen oder Unzufriedenheiten, keineswegs ausreicht, um das kollektive Ereignis, etwa einen Protest oder gar eine veritable Revolution, wirklich zu erklären. Kurz: Es bedarf jetzt noch eines weiteren „logischen“ Schrittes, in dem die individuellen Effekte in das interessierende kollektive Explanandum überführt werden müssen: die Spezifikation der Logik der Aggregation durch die Anwendung gewisser Transformationsregeln.1 Emergenz Aus der Sicht einer rein aggregatpsychologischen Erklärung wären einige der Schwellenwerteffekte oder das Tocqueville-Paradox, von denen in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ berichtet worden war, eine Anomalie: Ein Kollektiv mit einem höheren durchschnittlichen Protestpotential sollte eigentlich für die Aktivierung des Protestes anfälliger sein als eines mit einem geringeren. Aber was geschah? Genau: Manchmal stimmte das, manchmal nicht, und je größer gar die „betroffenen“ Gruppen sind, um so unwahrscheinlicher wird, daß sie sich zu einem kollektiven Handeln zusammenschließen. Unglaublich, aber wohl wahr! Es ist, so könnte man meinen, etwas aufgetaucht, was eigentlich nicht zu erwarten war: Revolutionen brechen eben nicht unbedingt schon dann aus, wenn die Not am größten ist und wenn sehr viele ein Interesse an ihr haben. Der philosophische Fachausdruck für derartige Phänomene des Auftauchens neuer Vorgänge, die entstehen können, wenn sich Teile zu einem Ganzen zusammenfügen, ist der der Emergenz, abgeleitet von dem lateini1
Vgl. dazu insbesondere schon die frühen Vorschläge von Siegwart Lindenberg, Individuelle Effekte, kollektive Phänomene und das Problem der Transformation, in: Klaus Eichner und Werner Habermehl (Hrsg.), Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977, S. 46-84; Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler, Theorienvergleich. Elemente der Rekonstruktion, in: Karl Otto Hondrich und Joachim Matthes, Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 219-231.
Emergenz und Transformation
3
schen Wort „emergere“ für „auftauchen“.2 Gemeint ist dabei, daß das „Ganze“ eine Art von neuer Seinsqualität hat, die sich über die Eigenschaften der Teile allein nicht erfassen läßt. Ausgangspunkt für die These von der Emergenz sind im naturwissenschaftlichen Bereich Beobachtungen gewesen, wie etwa die, daß aus den Eigenschaften von Wasserstoff und Sauerstoff alleine nicht erklärt werden kann, daß daraus Wasser entsteht und daß, etwa, dieses Wasser Durst löschen und Leben erhalten kann. Jeweils müsse noch etwas „hinzu“ kommen, was in den „Teilen“ – Sauerstoff und Wasserstoff – nicht vorhanden ist. Im sozialen Bereich sind es Phänomene wie die Entstehung von sozialen Beziehungen, die Etablierung von Hierarchien, die Genese von Normen oder die soziale Geltung kollektiver Repräsentationen, von „sozialen Systemen“ also allgemein (vgl. dazu auch noch Kapitel 2 in diesem Band), die, so glaubt man, aus den Eigenschaften und dem Handeln „isolierter“ Akteure alleine nicht ableitbar seien.
Und so ist es ja wohl auch: Um erklären zu können, warum aus der Kombination der Elemente Wasserstoff und Sauerstoff das Phänomen „Wasser“ wird, benötigt man eine Theorie der chemischen Reaktionen und der Bildung von Molekülen aus Atomen. Und um erklären zu können, warum beispielsweise die soziale Beziehung einer Freundschaft entsteht, muß man zuerst definieren, was man unter einer „Freundschaft“ verstehen will, und dann zeigen, daß die Bedingungen erfüllt sind, einschließlich der über die Logik der Situation und die Logik der Selektion erklärten individuellen Effekte, wie etwa der Angleichung von Orientierungen zwischen zwei 2
Vgl. dazu vor allem: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Auflage, Tübingen 1974 (zuerst: 1960), insbesondere Kapitel 23: Kritik des Holismus. Vgl. zu den verschiedenen Positionen für und gegen die These von der Emergenz die Zusammenfassungen einer langen allgemeinen methodologischen Debatte bei: John O’Neill (Hrsg.), Modes of Individualism and Collectivism, London 1973, darunter insbesondere die Beiträge von Joseph Agassi, May Brodbeck, Arthur C. Danto, Ernest A. Gellner, Leon J. Goldstein und John W. Watkins. Vgl. für die Diskussion und Kritik der sozialwissenschaftlichen Varianten der Emergenzthese und zum Problem der „Reduktion“ speziell der Soziologie auf Aussagen der Psychologie: Hans J. Hummell und Karl-Dieter Opp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre theoretische Bedeutung, Braunschweig 1971, insbesondere Kapitel I und II; Alfred Bohnen, Individualismus und Gesellschaftstheorie. Eine Betrachtung zu zwei rivalisierenden soziologischen Erkenntnisprogrammen, Tübingen 1975, insbesondere Kapitel II: Das soziologische Erkenntnisprogramm Emile Durkheims; Alfred Bohnen, Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer Sozialerkenntnis, Tübingen 2000; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien, Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, insbesondere Kapitel 5: Die kollektivistische Tradition in der Sozialtheorie; Karl-Dieter Opp, Individualistische Sozialwissenschaft, Stuttgart 1979, S. 86ff., 136ff. Vgl. als neuere Übersicht über den Problembereich der Emergenz allgemein verschiedene Beiträge bei Ansgar Beckermann, Hans Flohr und Jaegwon Kim (Hrsg.), Emergence or Reduction? Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism, Berlin und New York 1992.
4
Die Konstruktion der Gesellschaft
Personen (vgl. dazu auch noch das Beispiel weiter unten). Zu den „individuellen“ Effekten der Veränderung bei Einzelpersonen tritt also in der Tat jeweils tatsächlich noch etwas hinzu, und sei es nur, wie bei der „Emergenz“ einer Freundschaft, eine Definition darüber, wann überhaupt von einem solchen kollektiven Ereignis gesprochen werden soll, und die Angabe des Sachverhalts, daß dazu empirisch die Bedingungen vorliegen oder nicht. Wir sehen daran mindestens aber schon: Ob etwas „emergent“ ist oder nicht, steht nicht ein für allemal, sozusagen ontologisch, fest, sondern ist von einigen Vorentscheidungen, etwa über die Definition des kollektiven Sachverhaltes, insbesondere aber von dem theoretischen Wissen abhängig, das zur Verfügung steht. Heute findet sich, etwa, die Erklärung, warum Wasser mit seinen Eigenschaften der Transparenz und der Flüssigkeit, sowie auch seiner nach Temperatur unterschiedlichen Aggregateigenschaften als Eis oder Wasserdampf zum Beispiel, aus den chemischen Elementen Wasserstoff und Sauerstoff entsteht und warum es für biologische Prozesse so wichtig ist, im Stoff der allgemeinen Schulausbildung, und niemand betrachtet die Sache mehr als rätselhaft oder sonderlich „emergent“. Sicher ist Wasser „mehr“ als die Summe seiner beiden Teile Wasserstoff und Sauerstoff. Aber mit den nun auch einem jeden Oberschüler bekannten chemischen Gesetzmäßigkeiten ist das Erklärungsproblem seiner Emergenz gelöst. Und in der Soziologie wissen wir inzwischen sehr genau, wann es, beispielsweise, zu sozialer Ordnung oder zur Bildung des sozialen Systems etwa einer Protestbewegung kommt und wann eben nicht (vgl. dazu u.a. noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Deskriptive und explanatorische Emergenz Die These von der Emergenz hat, wenn man genauer hinsieht, eine doppelte Bedeutung (vgl. dazu Hummell und Opp 1971, S. 11ff.). Sie besagt erstens, daß es kollektive Phänomene gibt, deren Begriffe sich nicht auf irgendwelche individuellen Effekte beziehen lassen und daher schon nicht über Begriffe zu definieren sind, die sich auf Eigenschaften von Individuen beziehen. Das ist die These von der deskriptiven Emergenz. Beispiele wären der Begriff eines Kollektivbewußtseins, der der Anomie einer Gesellschaft oder der Begriff der Gesellschaft als „totales soziales Phänomen“. Das seien, so die These, Sachverhalte, die mit den Individuen nichts zu tun hätten und daher nur über „Kollektiv“-Begriffe zu bezeichnen wären. Wie bei der Behauptung von der Emergenz ganz allgemein ist es auch hier: Ob ein Phänomen deskriptiv emergent ist oder nicht, liegt nicht schon von
Emergenz und Transformation
5
vornherein fest, sondern hängt davon ab, was man mit dem Sachverhalt genau meint und worauf man sich als Sprachregelung einigen kann. Und dabei hat sich ein interessantes Ergebnis eingestellt: Bisher ist es stets gelungen, die fraglichen Kollektivbegriffe „individualistisch“ zu deuten, aufzulösen und begrifflich zu „reduzieren“, wenn man es denn ernsthaft versucht hat. Versuchen Sie doch einmal selbst, einen reinen Kollektivbegriff zu finden! Bei der begrifflichen Reduktion der Kollektivbegriffe zeigt sich meist auch, daß selbst die strikt kollektivistisch argumentierenden Autoren und Verfechter der These von der deskriptiven Emergenz sich ihrerseits, wenigstens implizit, immer schon, wenigstens partiell, auf individuelle Effekte beziehen. So ist das, was etwa Emile Durkheim als Kollektivbewußtsein bezeichnet hat, nichts weiter als der Sachverhalt, daß die individuellen Akteure einer Gruppe eine bestimmte Einstellung miteinander teilen und daß diese Einstellung bestimmte kollektive Vorstellungen bei den individuellen Akteuren zum Inhalt hat, etwa die eines Wir-Gefühls oder einer großen gemeinsamen Vergangenheit. Die gesellschaftliche Anomie wäre, ebenfalls der Lesart von Durkheim folgend, definierbar als Auflösung der moralischen Bindungen bei den Individuen, freilich wiederum abhängig von bestimmten strukturellen Umständen, wie etwa die Verringerung der Kontaktdichte der Menschen oder ein Wirtschaftsaufschwung. Und ein „totales soziales Phänomen“ schließlich wäre eines, bei dem die verschiedenen Abläufe der Orientierung, des Handelns, der Produktion, der Verteilung und der gesamten Reproduktion des Alltags, allesamt also Vorgänge, die von Akteuren getragen werden, eng aufeinander bezogen sind und ineinandergreifen. Und immer stellt sich sofort auch die Gegenfrage: Wie sollten ein Kollektivbewußtsein, die Anomie oder ein „totales soziales Phänomen“ ganz ohne Bezug auf individuelles Handeln oder individuelle Eigenschaften konzipiert werden können? Als über den Häuptern schwebender „Gruppengeist“, als Verdünnung eines kollektiven „Milieus“ oder als eigenständiger kollektiver „Akteur“ ja wohl nicht.
Die zweite These ist die eigentliche Emergenzbehauptung. Es ist die These von der explanatorischen Emergenz. Sie besagt, daß es grundsätzlich unmöglich sei, bestimmte Phänomene mit „Ganzheits“-Charakter aus Theorien abzuleiten, die sich auf die Teile dieser Ganzheiten beziehen. Beispielsweise: Biologische Prozesse seien grundsätzlich nicht auf physikalische oder chemi-sche Theorien zurückführbar, oder psychologische Vorgänge nicht auf biologische, chemische oder physikalische Prozesse: Den Geist könne man auf phy-siologische Vorgänge nicht reduzieren, und Leib und Seele seien daher von ihrem Wesen her getrennte Einheiten. Erklären könne man, so die These von der explanatorischen Emergenz, die Ganzheitsphänomene nur durch Theorien, die auf der jeweiligen Emergenzstufe ihres Gegenstandsbereiches angesiedelt sind: biologische Vorgänge nur über Gesetze der Biologie, psychologische Phänomene nur über Gesetze der Psychologie und entsprechend soziale Prozesse nur über Gesetze, die sich auf die Ebene der sozialen Systeme selbst be-ziehen. Soziales nur über Soziales eben. Es ist die These von der (grundsätzlichen) Irreduzibilität von Theorien auf einer „Makro“-Ebene des Prozessierens von „Ganzheiten“
6
Die Konstruktion der Gesellschaft
auf Theorien, die sich auf die „Mikro“-Ebene der jeweiligen „Teile“ des jeweiligen „Ganzen“ beziehen (siehe dazu auch gleich unten). Die allgemeine Antwort auf die These von der explanatorischen Emergenz kennen wir im Grunde schon: Ob ein Phänomen „emergent“ ist oder nicht, ob es „irreduzibel“ ist oder nicht, steht nicht schon a priori und ontologisch fest, sondern ist eine Frage des Entwicklungsstandes der jeweils verfügbaren erklärenden Theorien, insbesondere der zur Auflösung der Emergenzen fast immer nötigen Mikro-Theorien, etwa die Theorie der chemischen Reaktionen von Wasserstoff und Sauerstoff, die eben keine Theorie des Wassers „an sich“ ist; oder die soziologische Erklärung von Protesten, die eben auf Akteure und deren Handeln Bezug nehmen muß, um die „emergenten“ Paradoxien auflösen zu können. Daher schreiben die „Erfinder“ des Erklärungsschemas, Carl G. Hempel und Paul Oppenheim, in ihrem epochemachenden Artikel zu dem Phänomen der Emergenz auch ganz richtig: „ ... emergence of a characteristic is not an ontological trait inherent in some phenomena; rather it is indicative of the scope of our knowledge at a given time; thus it has no absolute, but a relative character; and what is emergent with respect to the theories available today may lose its emergent status tomorrow.“3
Und das trifft natürlich auch für die sozialwissenschaftlichen Theorien und die Güte und Leistungsfähigkeit der jeweiligen soziologischen Erklärungen zu. Die Irreduzibilität des Sozialen, die Ganzheit der Gesellschaft und die soziologische Systemtheorie In der Soziologie wird die These von der explanatorischen Emergenz bzw. von der Irreduzibilität des Sozialen vor allem von der sog. soziologischen Systemtheorie vertreten, wie sie von Talcott Parsons im Anschluß an einige – durchaus nicht „irreduzible“! – Überlegungen von Emile Durkheim begonnen und zu einem imponierenden theoretischen System ausgearbeitet wurde und die dann von Niklas Luhmann in die heutige Form gebracht wurde.4 Die These von der explanatorischen Emergenz sozialer Prozesse und Gebilde besagt in ihrem Kern, formuliert von einem der klarsten Kritiker des soziologischen Ganzheitsdenkens, Alfred Bohnen: 3
Carl G. Hempel und Paul Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science, 15, 1948, S. 150f.; Hervorhebungen nicht im Original.
4
Vgl. dazu die „abschließende“ Darstellung der soziologischen Systemtheorie bei Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
Emergenz und Transformation
7
„Gesellschaftliche Gebilde, gleich welcher Art, besitzen charakteristische System- oder Ganzheitseigenschaften, die nicht aus Eigenschaften ihrer Komponenten, also aus Verhaltenseigenschaften von Individuen erklärbar sind, und zwar deshalb nicht, weil diese Ganzheitsmerkmale von Faktoren bestimmt werden, die in Besonderheiten des gesellschaftlichen Gebildes selbst begründet liegen und gerade nicht in irgendwelchen Besonderheiten von Individuen. Infolgedessen erfordert ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine eigenständige Theorie des Sozialen, also eine Theorie, mit der sich die Phänomene des gesellschaftlichen Lebens als Ausfluß dieser irreduziblen Faktoren erklären lassen. Nur auf diese Weise – so heißt es auch – kann dem Emergenzcharakter der sozialen Realität Rechnung getragen werden, d h. dem Charakter des Sozialen als einer gegenüber dem Charakter des Individuellen ‚neuen‘, eigenständigen Realitätsstufe.“5
Die soziologische Systemtheorie verwies in der Begründung dieser Behauptung früher auf gewisse „holistische“ Eigenschaften von Ganzheiten, etwa die Existenz eines Kollektivbewußtseins, die inhärente Neigung des Systems der Gesellschaft zur Erfüllung funktionaler Requisiten und zum systemischen Überleben oder die unverzichtbare Bedeutung übergreifender Werte und „kollektiver Repräsentationen“ für ihre Integration. Auch hat man lange angenommen, es gäbe gewisse soziologische Makro-Gesetze allgemeiner Art, wie beispielsweise das vom notwendigen Untergang des Kapitalismus oder das von der unvermeidlichen Entzauberung und Modernisierung der Welt. Diese Annahmen, etwa die von den funktionalen Erfordernissen und den inhärenten Tendenzen zur Selbstregulation, ließen sich nicht halten, und die Hoffnungen auf die Entdeckung allgemeiner MakroGesetze des Sozialen haben sich nachdrücklich als Irrtum erwiesen (vgl. auch dazu schon die Bemerkungen zum Problem der Unvollständigkeit in der Einleitung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und die vielen anderen Emergenz-Hypothesen, die sich die herkömmliche (Makro-)Soziologie hat einfallen lassen, etwa die diversen Theorien des sozialen Wandels, lassen sich relativ leicht über das Modell der soziologischen Erklärung „individua- listisch“ rekonstruieren (vgl. dazu auch noch Kapitel 7 und 8 in diesem Band). Konstitution von oben oder Emergenz von unten? Heute vertritt daher aus guten Gründen eigentlich niemand mehr ernsthaft irgendwelche holistischen Hypothesen. Schon Max Weber hat ihnen eigentlich den Garaus gemacht. Er schrieb kurz vor seinem Tod in einem 5
Alfred Bohnen, Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilität des Sozialen, in: Zeitschrift für Soziologie, 23, 1994, S. 292; Hervorhebung im Original.
8
Die Konstruktion der Gesellschaft
Brief an seinen Schüler Robert Liefmann vom 9. März 1920 sogar, daß er Soziologe geworden sei, „um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen“6. Die Soziologie müsse endlich „strikt individualistisch in der Methode“ betrieben werden – genauso wie es das Modell der soziologischen Erklärung ja auch tut. Nicht zuletzt Niklas Luhmann hat sich vom einfachen Holismus auch stets eindeutig distanziert.7 Immer aber wird von der soziologischen Systemtheorie noch etwas anderes vorgebracht: Daß die verschiedenen Systeme, die diversen sozialen und die psychischen Systeme, jeweils ganz unterschiedliche und „überschneidungsfreie“ Weisen ihres „Operierens“ hätten, daß sie daher als „operativ geschlossene Einheiten“ mit jeweils ganz spezifischem „Sinn“ zu gelten hätten und daß diesen Vorgängen mit einer individualistischen, handlungstheoretischen oder auf reale Akteure bezogenen Herangehensweise grundsätzlich nicht beizukommen wäre. Ein derartiges „individualistisches“ Vorgehen hätte vielmehr die Konsequenz, daß „ ... die Gesellschaft als ein riesiger Oktopus erscheinen (müßte; HE), als eine Einheit mit nicht nur 8 sondern mit 5 oder 6 Milliarden relativ unabhängig, jedenfalls gleichzeitig agierenden Organen, die mit einem Minimum an ‚Gehirn‘ auskommt und im übrigen auch gar nicht das Tempo der Koordinationsvorgänge erreichen könnte, das notwendig wäre, um die riesigen, der Umwelt ausgesetzten Flächen unter Kontrolle zu bringen.“ (Ebd.)
Also: Die (Welt-)Gesellschaft bildet (doch) eine übergreifende Einheit mit eigenen Gesetzen des Operierens, ohne deren Kenntnis es ausgeschlossen wäre, die Eigendynamik der sozialen Prozesse theoretisch zu erfassen. Die soziale Ordnung der (5 bis 6 Milliarden) Teile ergebe sich danach in einer, wie Luhmann das früher einmal ausgedrückt hat, „Konstitution von oben“, und eben nicht, wie das der Methodologische Individualismus und das Modell der soziologischen Erklärung annimmt, als, meist unintendierte und oft sehr komplexe, Form einer aggregierenden „Emergenz von unten“ aus den individuellen Effekten des Handelns der – in der Tat – zahlreichen Akteure der jeweils lebenden Bevölkerung der (Welt-)Gesellschaft. Der Hinweis auf das Phänomen eines eigenständigen Operierens sozialer Systeme, ihres „Eigensinns“ oder ihrer operativen Geschlossenheit ist dabei, so sei hier vorsorglich erwähnt, kein Hinweis darauf, daß ein „individualistisches“ Vorgehen mit der Erklärung dieser Sachverhalte als „Emergenz von unten“ scheitern müßte. Ganz im Gegenteil. Die soziologische Systemtheorie übernimmt die Idee der „operativen Geschlossenheit“ und der Selbstreproduk6
Max Weber, Brief an Robert Liefmann, 1920, Geheimes Staatsarchiv (GStA) Berlin, Rep. 92, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 8, S. 76-80.
7
Niklas Luhmann, Gesellschaft als Differenz. Zu den Beiträgen von Gerhard Wagner und Alfred Bohnen in der Zeitschrift für Soziologie Heft 4 (1994), in: Zeitschrift für Soziologie, 23, 1994, S. 480.
Emergenz und Transformation
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tion der sozialen Systeme zunächst einmal ohnehin nur als – schlechte, unvollständige, wohl auch unverstandene, bloß auf der Oberfläche des Makrogeschehens bleibende und nur beschreibende – Analogie aus der modernen Molekularbiologie und nur als etikettierenden Begriff, dem der „Autopoiesis“ nämlich, und eben nicht als reduktives und in die (chemischphysikalischen) Mikrobereiche hinein vertiefendes Erklärungsmodell, was es dort ist (vgl. dazu die detaillierten Erläuterungen und Hinweise bei Bohnen 1994, S. 298f.). Die soziale Konstitution und das „eigensinnige“ Prozessieren der sozialen Systeme lassen sich im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung leicht rekonstruieren und methodologisch angemessen erklären, etwa als Folge einer durch die Definition der sozialen Produktionsfunktionen gesteuerten und von den daran orientierten Akteuren immer wieder neu erzeugten Eigendynamik der funktionalen Sphären einer Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 2 allgemein, sowie speziell Abschnitt 3.1 über die funktionale Differenzierung in diesem Band und in vielen Beispielen – unter anderem – Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Aus der Sicht von Luhmann und der an ihn anschließenden soziologischen Systemtheorie ist das Bild von der (Welt-)Gesellschaft als Oktopus mit 6 Milliarden Krakenarmen natürlich absurd. Es ist aber für das, was der Methodologische Individualismus wirklich kann und tut und was es mit dem Modell der soziologischen Erklärung tatsächlich auf sich hat, selbst ein höchst absurder Vergleich: Es geht eben nicht darum, die sozialen Prozesse aus dem Handeln aller leibhaftigen lebenden Menschen zu erklären, sondern darum, unter Bezug auf Theorien auch – jedoch nicht nur! – des Handelns individueller Akteure, mehr oder weniger abstrakte und „anonyme“ Modelle sozialer Prozesse zu formulieren, aus denen sich die fraglichen sozialen Prozesse ableiten lassen. Das Bild vom Oktopus wird allenfalls dann verständlich, wenn man sich gegen (aggregat-)psychologistische Erklärungen wendet, die ja, wie man inzwischen auch in Bielefeld wissen sollte, mit dem Methodologischen Individualismus nichts gemein haben. Aber selbst die einfachste Aggregatpsychologie kennt und benutzt natürlich schon längst Methoden der aggregierenden Zusammenfassung der Eigenschaften selbst von 6 Milliarden Menschen zu kollektiven Effekten, wie etwa Mittelwerte, Raten und Korrelationen. Über den Marktmechanismus läßt sich, beispielsweise, auf eine sehr einfache Weise erklären, wie es zu einer Ordnung ganz ohne „Gehirn“ gerade unter unendlich vielen Anbietern und Nachfragern kommt (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und man fragt sich, warum das alles von der soziologischen Systemtheorie so notorisch übergangen wird. Reduktion, Tiefenerklärung und Reduktionismus Die These von der Emergenz ist gleichbedeutend mit der These der Irreduzibilität: Die Soziologie, so heißt es, lasse sich etwa auf die Psychologie
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nicht „reduzieren“. Die Geltung einer Norm, beispielsweise, oder das Entstehen einer Statusstruktur seien mehr als die bloße Summation von Einstellungen oder Handlungen „isolierter“ und „unabhängiger“ individueller Akteure. Zur Erklärung der Geltung einer Norm etwa müsse auch gezeigt werden, daß die Norm Bindungskraft habe und für ein Kollektiv insgesamt gelte; und eine Statusstruktur sei ein relationales Gebilde und gehe insofern weit über das isolierte Handeln von souveränen Akteuren hinaus. Da aber Verteilungen und Relationen „mehr“ seien als die bloße Koexistenz isolierter Akteure, ließe sich die Entstehung von Normen oder Statussystemen nicht auf irgendwelche „psychologischen“ Gesetze, etwa der Konformität oder des Wunsches nach Unterscheidung, „reduzieren“. Es fehle, kurz gesagt, etwas ganz wesentliches, das erst die „Soziologie“ ausmacht: der Einbezug der unhintergehbaren sozialen Komponente aller sozialen Prozesse – die soziale Einbettung der Menschen, etwa, oder die Strukturen der Macht und der gesellschaftlichen Zwänge. In den Begründungen für die These von der Irreduzibilität könnte der Eindruck entstehen, als bedeute „Reduktion“, wie in der Alltagssprache, irgendeine Art von „Schrumpfen“: Die „volle“ soziologische Analyse, etwa die einer Systemtheorie des Sozialen, berücksichtige Dinge, die der „reduktionistische“ Individualismus übersehe und sogar übersehen müsse. Unter Reduktion wird jedoch in der Logik etwas ganz anderes verstanden. Es ist die Erklärung einer speziellen Theorie durch eine allgemeinere Theorie. Dazu müssen, wie bei jeder Erklärung, die Randbedingungen angegeben werden, wann welche spezielle Theorie nach Maßgabe der Prämissen der allgemeinen Theorie Geltung beanspruchen kann. Ein Beispiel dafür war die Erklärung der Keplerschen Gesetze, der Newtonschen Mechanik und der Gravitationstheorie durch die Relativitätstheorie von Einstein. Dabei wurde gezeigt, daß die genannten speziellen Gesetze und Theorien jeweils Spezialfälle der Relativitätstheorie für besondere Konstellationen von Randbedingungen sind. Auf diese Weise wurde es auch möglich, gewisse Anomalien der speziellen Theorien, wie das Phänomen der Rotverschiebung, aufzufangen und in einer übergreifenden Theorie selbst wieder zu erklären: ein grandioser Sieg der Wissenschaft, auf den die Menschheit zu Recht bis heute stolz ist. Das Ziel und das Ergebnis der (erfolgreichen) Reduktion einer Theorie auf eine (übergreifende) andere ist also geradezu das Gegenteil des Schrumpfens: Es wird eine allgemeinere und damit informationshaltigere Theorie angestrebt, und wenn es die dann gibt, dann weiß man deutlich mehr als vorher. „Reduktion“ in diesem Sinne ist wohl das hehrste Ziel jeder Wissenschaft, und wer sie mit „Schrumpfen“ verwechselt, hat nicht verstanden, worum es in der Wissenschaft eigentlich geht.
Selbstverständlich gibt es auch im Bereich der Sozialwissenschaften die Reduktion spezieller Theorien auf allgemeinere Erklärungen. Wir wissen heute beispielsweise, daß die makrosoziologischen Erklärungen von Wanderungen, etwa die Distanztheorien oder die Opportunitätstheorien, nur Spezialfälle mikrosoziologischer Wanderungstheorien unter speziellen Annahmen und (Rand-)Bedingungen sind, wie etwa die push-pull-Theorien, und daß diese wiederum als Spezialfälle von Entscheidungstheorien, etwa in
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der Art der Wert-Erwartungstheorie, aufgefaßt werden können. Und in ähnlicher Weise gibt es inzwischen Mikro-Erklärungen etwa der Kriminalität und des abweichenden Verhaltens, die ganz verschiedene Phänomene und spezielle Theorien der Devianz von Normen, etwa die Theorie der differentiellen Kontakte, die Anomietheorie oder die Subkulturtheorie, für bestimmte (Rand-)Be-dingungen unter das Modell der WE-Theorie subsumieren können. Es gibt in der Soziologie mittlerweile zahllose Ergebnisse der theoretischen Integration spezieller Erklärungen unter einen allgemeineren Erklärungsrahmen, wie etwa auch die Erklärung der Entstehung sozialer Ungleichheiten oder städtischer Segregationen, von Revolutionen und sozialen Bewegungen in Abhängigkeit, etwa, von der Stärke der gesellschaftlichen Cleavages einerseits und der Verteilung der Schwellenwerte für die Protestbereitschaft andererseits.8 Die für die „Reduktion“ spezieller soziologischer Theorien auf das allgemeine Modell der soziologischen Erklärung wichtigen Randbedingungen ihrer „bedingten“ Geltung sind uns natürlich schon gut bekannt: Es sind die stets besonderen Brückenhypothesen, über die die Makro-Bedingungen der sozialen Situation mit den Mikro-Variablen der WE-Theorie verbunden werden. Und es sind die ebenfalls stets besonderen Transformationsregeln, über die die individuellen Effekte erst wieder von der Mikro- auf die Makroebene des zu erklärenden kollektiven Sachverhaltes überführt werden müssen. So bedarf es für eine erfolgreiche „Reduktion“, etwa der Theorie der Intervening Opportunities von Samuel Stouffer oder der Anomietheorie von Robert K. Merton auf die WE-Theorie, jeweils spezieller Annahmen, in denen die Intervening Opportunities bzw. die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel in die Variablen der WE-Theorie übersetzt werden (vgl. für die Anomietheorie schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und es sind selbstverständlich auch, wenngleich zuweilen sehr simple, spezielle Aggregationen nötig, über die die Wanderungsentscheidungen bzw. die devianten Akte der individuellen Akteure zu Wanderungssalden zwischen Regionen bzw. zu Ziffern der Kriminalitätsbelastung etwa gewisser sozialer Schichten „übersetzt“ werden. Aber alles das ist ja gerade im Konzept der soziologischen Erklärung systematisch vorgesehen.
In allgemeinster Form läßt sich die Reduktion einer speziellen Theorie Ti daher als logische Implikation dieser Theorie in der Konjunktion einer allgemeinen reduzierenden Theorie T und gewissen Randbedingungen Bi schreiben, die erfüllt sein müssen, „damit“ sich die spezielle Theorie Ti aus T logisch ableiten läßt: (T∧Bi) → Ti. Die Randbedingungen Bi enthalten dabei den gesamten Satz der jeweils für die Makro-Mikro-Makro-Übergänge 8
Vgl. etwa zur mikrosoziologischen „Erklärung“ der makrosoziologischen Wanderungstheorien Frank Kalter, Wohnortwechsel in Deutschland. Ein Beitrag zur Migrationstheorie und zur empirischen Anwendung von Rational-Choice-Modellen, Opladen 1997, insbesondere Kapitel 2; und vgl. etwa zur Integration der verschiedenen speziellen Theorien des abweichenden Verhaltens u.a. noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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nötigen Brückenhypothesen und Transformationsregeln. Bei allen diesen Erklärungen spezieller Theorien durch eine allgemeine Theorie handelt es sich um eine sog. Tiefenerklärung: Man weiß nach der erfolgreichen Reduktion der speziellen Theorien auf die allgemeine, „wann“ und „warum“ die eine spezielle Theorie manchmal gilt oder nicht, und wann und warum das ggf. für eine andere spezielle Theorie zutrifft. Mit der „Reduktion“ kennt man den Mikro-Mechanismus, der die Makro-Effekte erzeugt hat. Dazu muß man mehr wissen als nur die Tatsache, daß es eine „Eigendynamik“ des Sozialen oder die Autopoiesis der Systeme gibt. Und dazu muß man eben auch wissen, warum die Akteure den kollektiven Effekt durch ihr Tun hervorgebracht haben, auch wenn sie selbst über diesen MikroMechanismus keine besonderen Vorstellungen haben. Es ist ein wenig so, als ob man unter die Motorhaube eines Autos sieht und plötzlich „versteht“, warum das Auto manchmal anspringt und manchmal nicht, etwa weil das Zündkabel locker war. Um das Funktionieren eines Autos zu verstehen, muß man ja sehr viel mehr wissen als etwa nur die (Makro-)Regelmäßigkeit, daß normalerweise das Herumdrehen des Zündschlüssels zum Anspringen des Motors führt. Und so wie in diesem Falle erst beim Versagen des (Makro-)Gesetzes „Wenn der Zündschlüssel gedreht wird, dann springt der Motor an“ der Wunsch nach einem „tieferen“ Verständnis der Zusammenhänge auf der (Mikro-) Ebene der „wirklichen“ Abläufe unter der Motorhaube entsteht, so gibt es einen Bedarf auch in der Soziologie nach Reduktion besonders dann, wenn die Makrogesetze auf der Oberfläche des Strukturgeschehens versagen. Und genau das ist ja die Situation, vor der die Soziologie eigentlich immer schon gestanden hat und derzeit begreift, daß sie mit ihren alten Hoffnungen auf Strukturgesetze auf der Makroebene nicht weiterkommt.
Das Modell der soziologischen Erklärung bietet, wenn sie richtig gemacht ist, eine solche „reduktive“ Tiefenerklärung für die Zusammenhänge auf der Makro-Ebene – und es ist daher allein schon aus methodologischen Gründen jeder bloß „makro“-soziologisch bleibenden Analyse überlegen: Sie hat den höheren Allgemeinheitsgrad, die größere Tiefenschärfe und den höheren Informationsgehalt. Reduktionismus ist dann jene wissenschaftliche Programmatik, durch die „Reduktion“ spezieller Theorien auf allgemeinere das Wissen um die speziellen Bedingungen der Geltung der speziellen Theorien systematisch zu erweitern: Wenn wir wissen, warum es unter der Bedingung großer Gruppen nicht zu Revolutionen kommt, dann wissen wir mehr als vorher in der naiven speziellen Theorie, die da sagte, daß die Wahrscheinlichkeit einer Revolution mit der Gruppengröße „additiv“ zunehme. Nun kann die Anomalie des Tocqueville-Paradoxons aufgelöst werden: Die Inaktivität großer und deprivierter Gruppen wird jetzt theoretisch erwartet – und ist folglich nicht mehr geheimnisvoll und „emergent“. Es ist, in einem etwas bescheideneren Rahmen, die gleiche Art von Wissensfortschritt wie bei der Relativitätstheorie. In einem engeren Sinne wird dann Reduktionismus als das Bestreben verstanden, alle möglichen „molaren“ Ganzheitsphänomene auf die „molekulare“ Ebene der Mikro-Prozesse zu reduzieren, weil die molaren Phänomene stets die spezielleren Vorgänge sind. In seiner Extremform nimmt der Reduktionismus an, daß sich so – schrittweise und natürlich unter Angabe der je-
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weiligen „Brücken“-Übergänge der jeweiligen Mikro-Makro-Verbindungen – die Soziologie mit Hilfe psychologischer Theorien, die psychologischen Theorien über biologische und neurophysiologische Gesetze, und die wiederum über chemische und physikalische Theorien, aufbauend auf einem mathematischen Kern, reduzieren lasse. Das Ergebnis wäre, so hoffen immer noch einige Vertreter dieser Auffassung ganz unbeirrt, ein großes, integriertes Wissensgebäude, mit dem sich alle Phänomene dieser Welt auf allen ihren Aggregationsstufen durch die jeweils „darunter“ liegenden Theorien, einschließlich der nötigen Mikro-MakroVerbindungen, versteht sich, erklären lassen. Mindestens ein Argument haben die Verfechter dieser Hoffnung auf ihrer Seite: Es gibt bisher keinen empirischen Sachverhalt, der mit dem Programm des Reduktionismus unvereinbar wäre. Eine Implikation der Reduktion der speziellen Theorien auf allgemeinere ist nämlich, daß aus der allgemeineren Theorie kein Sachverhalt ableitbar sein darf, der einer der speziellen Theorien, die sie enthält, widerspricht. Und in der Tat: Keine der bisher erfolgten Reduktionen, wie etwa die der Gravitationstheorie auf die Relativitätstheorie, haben solche Widersprüche erbracht.
„Reduktion“ ist also alles andere als das Schrumpfen des Wissens, und „Reduktionismus“ ist daher auch keineswegs eine besonders engstirnige Form der monadischen Verbohrtheit, obwohl zahllose Soziologen nicht müde werden, sich das immer wieder einzureden. Oder, auf unseren Fall angewandt, noch einmal: Der Methodologische Individualismus und das Modell der soziologischen Erklärung sind eben kein „atomistischer“ Psychologismus, der das spezifisch „Soziale“ unter den Tisch fallen läßt. Ganz im Gegenteil! Transformationsregeln Daß das Modell der soziologischen Erklärung alles andere als Psychologismus und Atomismus ist, zeigt sich ja gerade daran, daß es mit der Erklärung der individuellen Effekte eben nicht getan ist. Nun muß es von der Mikro- wieder auf die Makroebene hinauf gehen. Erst damit ist eine soziologische Erklärung abgeschlossen. Genau deshalb werden zur „reduktiven“ soziologischen Er-klärung kollektiver Sachverhalte die Transformationsregeln benötigt – zur Transformation der einfachen Summe der Teile in das zu erklärende Makrophänomen. Und nur wenn man das übersieht, kann man auf Vorstellungen einer grundsätzlichen Emergenz und – dazu spiegelbildlich – solche von der grundlegenden Irreduzibilität sozialer Prozesse kommen. Erst wenn dieser Schritt trotz aller Bemühungen um die Formulierung geeigneter Transformationsregeln und der empirischen Begründung der zur Erklärung des „emergenten“ Phänomens nötigen individuellen Effekte (und sonstiger Randbedingungen) nicht gelingt, könnte man von „Emergenz“ sprechen – bis das Pro-blem behoben ist. Worum handelt es sich bei den Transformationsregeln nun aber genauer? Transformationsregeln sind, ganz allgemein gesagt, nichts weiter als im Prinzip logische Argumente, über die sich in Kombination mit gewissen formalen und
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empirischen Annahmen, individuelle Effekte in einen kollektiven Sach-verhalt überführen lassen. Es sind weder bloße Beschreibungen, noch gar „Gesetze“, wenngleich in ihnen Beschreibungen und Gesetze zur Anwendung kommen können. Ein Beispiel: Die Entstehung einer Freundschaft Das klingt noch sehr unanschaulich. Sehen wir uns daher zunächst einmal ein relativ einfaches Beispiel an: die Entstehung einer Freundschaft. Eine Freundschaft ist, ganz allgemein gesprochen, eine Relation zwischen zwei zuvor, in dieser Beziehung jedenfalls, „autonomen“ Akteuren. Die Entstehung von Relationen ist ein besonders wichtiger Fall eines „emergenten“ kollektiven Phänomens, eines Phänomens mit gewissen Ganzheitseigenschaften. Und daher ist eine Freundschaft, obwohl es sich immer um eine sehr private Angelegenheit zwischen zwei Personen handelt, auch kein „Mikro“-Phänomen, sondern ein kollektives MakroEreignis, das sich in dieser Hinsicht, seiner Emergenz aus individuellen Effekten, von wirklichen „Groß“-Ereignissen, wie etwa dem Wandel einer ganzen Gesellschaft, nicht unterscheidet. Oder anders gesagt: Ob ein soziologischer Sachverhalt „Makro“ oder „Mikro“ ist, hat mit dem Vorliegen eines Aggregationsproblems zu tun – und eben nicht damit, ob es sich um viele oder nur um wenige Akteure handelt. Genau das hatte Niklas Luhmann wohl nicht verstanden, als er vom individualistischen Oktopus mit seinen Milliarden von Organen sprach und meinte, daß der Methodologische Individualismus alles nur als atomistisch gedachtes „Mikro“-Phänomen betrachte oder gar betrachten müsse.
Eine Freundschaft ist ein Spezialfall einer sozialen Beziehung. Darunter wird in der Soziologie allgemein eine von mehreren Personen geteilte Einstellung eines speziellen „Sinngehaltes“ verstanden, über die sich die Akteure in bestimmten Situationen in ihrem „Sichverhalten“, wie Max Weber sagt, wechselseitig „orientieren“.9 In dieser Wechselseitigkeit der Orientierung besteht die „Ganzheits“-Eigenschaft einer Freundschaft als sozialem System. Für Freundschaften gehören zu dieser geteilten Einstellung in unserem Kulturkreis etwa eine gewisse Sympathie, die Kenntnis relativ intimer Details der Befindlichkeit des jeweils anderen, Vertrauen, Altruismus und Hilfsbereitschaft gerade in Notsituationen, eine gewisse Exklusivität des Umgangs miteinander, sowie bestimmte gemeinsame Überzeugungen und Werte, in denen sich jeder im anderen auch selbst bestätigt sehen kann, jedoch keine sexuell geprägte Liebesbeziehung und sicher auch kein „rational“-kalkulierender Umgang miteinander, wenngleich alles das in gewissen Situationen auch eine Rolle spielen mag oder ineinander übergeht, wie das etwa bei den so genannten sehr guten Freunden oder unter Geschäftsfreunden auch der Fall sein mag.
Eine Freundschaft ist, kurz gesagt, eine Koorientierung von Akteuren mit 9
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 13. Vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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einem speziellen Inhalt. Das ist das zu erklärende Phänomen. Es sei mit F bezeichnet. Wir wollen den Satz an inhaltlichen Besonderheiten, die die Beziehung einer Freundschaft als spezielle Koorientierung konstituieren, mit f abkürzen. Wie entsteht nun aber eine solche wunderbare Freundschaft? Die einfachste Kurzantwort der Soziologie der Freundschaftswahlen und der Bildung von Partnerschaften: durch meeting und mating.10 Dahinter steckt aber ein im Einzelfall durchaus komplizierter Vorgang. Der Beginn jeder möglichen Freundschaft ist danach zunächst immer das Zusammentreffen von Akteuren, das meeting. Daher sind für die Entstehung von Freundschaften die sog. Opportunitätsstrukturen wichtig: die nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Freizeitangeboten und Wohnort systematischen „Fokal“-Punkte, an denen sich Menschen mit bestimmten Eigenschaften, oft ganz unintendiert, treffen und darüber die Gelegenheit erhalten, Freundschaften schließen zu können: Kindergarten, Schule, Wochenmarkt, Vorlesung, Sekretariat, Gran Canaria, Tennisclub, Altersheim, Friedhof. Mit dem Treffen alleine ist es aber noch nicht getan. Jetzt muß es noch zur gemeinsamen, von den Akteuren geteilten Einstellung f kommen. Und das geht über den Prozeß des mating, für den es keinen griffigen deutschen Ausdruck gibt. Damit ist, etwas vereinfachend gesagt, die Entstehung von (Wert)Über-einstimmungen gemeint, insbesondere durch die Entdeckung gemeinsamer Interessen, und zwar als Folge fortgesetzter Kontakte und der dabei gemachten positiven Erfahrungen. Alle einzelnen Schritte dabei sind Vorgänge, die von den beiden Akteuren jeweils für sich erlebt und initiiert werden und bei denen sich die anfänglichen Einstellungen der beiden Akteure in einer bestimmten Weise ändern – bis schließlich die Einstellung f mit allen ihren Details der jeweiligen kulturellen Definition des Codes und des Programms einer Freundschaft bei beiden Akteuren entstanden ist und sie in ihren gemeinsamen Orientierungen und ihrem Handeln leitet.
Wie entsteht eine solche Koorientierung nun aber? Wir wollen diese Erklärung in die Erklärung eines weiteren Sachverhaltes einbetten, das Phänomen nämlich, daß Freundschaften meist von der Art des „gleich und gleich gesellt sich gern“ sind, also, wie die Soziologie sagt, die Eingenschaft der Homophilie haben. Zunächst müssen dazu natürlich die individuellen Effekte erklärt werden, die zu dem Phänomen der Freundschaft als Koorientierung führen. Es muß, wie üblich, die Logik der Situation bestimmt
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Vgl. zur Erklärung der Entstehung von Freundschaften u.a. die Beiträge von Scott L. Feld, The Focused Organization of Social Ties, in: American Journal of Sociology, 86, 1981, S. 1015-1035; Maureen T. Hallinan, The Process of Friendship Formation, in: Social Networks, 1, 1978, S. 193-210; Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton, Friendship as Social Process: A Substantive and Methodological Analysis, in: Morroe Berger, Theodore Abel und Charles H. Page, Freedom and Control in Modern Society, Toronto, New York und London 1954, S. 18-66; Lois M. Verbrugge, The Structure of Adult Friendship Choices, in: Social Forces, 56, 1977, S. 576-597; Christof Wolf, Gleich und gleich gesellt sich. Individuelle und strukturelle Einflüsse auf die Entstehung von Freundschaften, Hamburg 1996, insbesondere Kapitel 3: Theorien zur Entstehung von Freundschaften.
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und das daraus zu erwartende Handeln über eine Handlungstheorie erklärt werden. Die Logik der Situation für die Entstehung von (homophilen) Freundschaften ist durch die Gelegenheitsstrukturen und die dadurch gesteuerten Chancen bestimmt, daß zwei Akteure mit mehr oder weniger großen Ähnlichkeiten aufeinandertreffen. Die Brückenhypothesen bestehen dann insbesondere in der Annahme, daß bei einer hohen Ähnlichkeit der Akteure die Erwartung für weitere erfreuliche Kontakte ansteigt. Das ist eine in die Brückenhypothese als feste Annahme eingebaute Mini-Theorie, die besagt, daß es bei Kontakten unter ähnlichen Personen eher zu erfreulichen Erlebnissen kommt und daß sich darüber die Erwartungen für die Nutzenproduktion durch neue Kontakte erhöhen. Deshalb kann dann angenommen werden, daß das Strukturmerkmal der Ähnlichkeit der Akteure als Folge der Fokusstruktur beim meeting die Neigungen steigert, die Kontakte fortzusetzen. Damit wird, wieder natürlich unter Nutzung der Regeln der WE-Theorie, für jeden individuellen Akteur in Abhängigkeit der Strukturen des meeting erklärt, ob er die für das schließliche mating und die Entstehung der koorientierenden Einstellung f nötigen Kontakte fortsetzen will oder nicht.
Jetzt erst kann der dritte Schritt, derjenige von der Mikroebene wieder hinauf auf die Makroebene, beginnen. Weil hier Mikroereignisse mit Makrozuständen verbunden werden müssen, wird zunächst eine Regel benötigt, in der gewisse individuelle Effekte mit denkbaren Makrozuständen logisch verbunden werden – eine Transformationsregel eben. In unserem Fall ist sie nicht schwer zu finden. Die Transformationsregel TRf für das kollektive Phänomen einer Freundschaft laute, so wollen wir nun explizit festlegen: Das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B besteht genau dann, wenn bei beiden Akteuren die Einstellung f entstanden ist und sie in ihrem Handeln (ko-)orientiert.
Die genannte Transformationsregel ist hier eine durchaus trivial erscheinende, wenngleich logisch unverzichtbare Sache: Sie definiert das kollektive Phänomen als Kombination bestimmter individueller Effekte – gewisser Eigenschaften und Handlungen der Akteure A und B also. Diese Regel alleine reicht jedoch, wie man sieht, nicht aus, denn das Vorliegen der Koorientierung f ist ja die Folge erst einer gewissen Konstellation der Fortsetzung von Kontakten, die sich an das meeting angeschlossen haben müssen, des Prozesses des mating eben. Sie ist das Ergebnis des Prozesses der „friendship formation“, wie das Lazarsfeld und Merton ausdrücken. Diesen Prozeß könnte man natürlich umständlich als längere Sequenz der allmählichen Konvergenz der Einstellungen nach dem Beginn der Kontakte modellieren, so wie das Lazarsfeld und Merton in ihrem Beitrag auch tun. Den längeren Vorgang des mating wollen wir hier aus Gründen der Vereinfachung jedoch durch eine einfache Annahme abkürzen, in der eine Art von quasigesetzlicher Regelmäßigkeit für den Prozeß und das schließliche Ergebnis einer gelingenden Freundschaftsformation in
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Abhängigkeit der Situation nach dem ersten Treffen formuliert ist: Wenn zwei Akteure A und B nach einem ersten meeting jeweils für sich beschließen, die Kontakte fortzusetzen, dann entsteht daraus auch ein mating, die beide Akteure (ko-)orientierende Einstellung f.
Diese Annahme wollen wir als die Transformationsbedingung TBf bezeichnen. Sie könnte jederzeit geändert und den oft ja viel komplizierteren Umständen und Abläufen des mating angepaßt werden, etwa dahingehend, daß es bei der Entdeckung von Unverträglichkeiten in der Folge der zuerst fortgesetzten Kontakte zum Abbruch des Vorgangs kommt. Für unseren Zweck, der Demonstration des formalen Vorgehens bei der Transformation, reiche die angeführte einfache Annahme jedoch aus, daß ein fortgesetztes meeting zu einem erfolgreichen mating führe. Nun fehlt nur noch Eines: die Information, ob die in TBf formulierte „Randbedingung“ in Bezug auf die zuvor erklärten individuellen Effekte IEf auch tatsächlich gegeben sind und tatsächlich die Kontakte fortgesetzt wurden. Hier gibt es ja nach Lage der Dinge vier Möglichkeiten: Weder A noch B setzten nach dem ersten meeting den Kontakt fort; A setzte fort, aber B nicht; B setzte fort, aber A nicht; beide setzten den Kontakt fort. Und nur wenn die vierte Möglichkeit gegeben ist – A und B setzten nach dem ersten meeting den Kontakt fort – läßt sich über die Transformationsregel TRf und die Annahme TBf ableiten, daß eine Freundschaft entstanden ist. Das gesamte Argument der Transformation läßt sich dann als einfacher logischer Schluß zusammenfassen: (TRf∧TBf∧IEf) → F. Verbal und etwas umständlich klingend lautet die komplette Transformation der individuellen Effekte auf die Makroebene der Entstehung des sozialen Systems einer Freundschaft dann so: Wenn die Transformationsregel TRf „Das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B besteht genau dann, wenn bei beiden Akteuren die Einstellung f entstanden ist und sie in ihrem Handeln (ko-)orientiert“ lautet, und wenn die Transformationsbedingung TBf „Wenn zwei Akteure A und B nach einem ersten meeting jeweils für sich beschließen, die Kontakte fortzusetzen, dann entsteht daraus ein mating, die beide Akteure (ko-)orientierende Einstellung f“ tatsächlich gilt, und wenn der individuelle Effekt IEf „Akteur A und Akteur B haben nach einem ersten meeting die Kontakte zum jeweils anderen fortgesetzt“ vorliegt, dann liegt das kollektive Phänomen einer Freundschaft F als Koorientierung an der Einstellung f vor.
Und das Ergebnis: Jetzt hat die Erklärungskette von der sozialen Situation einer Treffgelegenheit bis zur (homophilen) Freundschaft als kollektivem Phänomen keine logische oder empirische Lücke mehr: Die individuellen Effekte IEf wurden zuvor wie üblich über die Logik der Situation und die Logik der Selektion erklärt und dann auf die Transformationsregel TRf und
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sind die Transformationsregeln einerseits und einige, meist unvermeidliche, zusätzliche Annahmen, etwa über gewisse Vereinfachungen und Idealisierungen, um das Modell nicht zu kompliziert werden zu lassen, andererseits. Diese Annahmen könnten natürlich jederzeit im Rahmen des Prinzips der abnehmenden Abstraktion gelockert werden.
Die Aggregation der individuellen Effekte zu dem kollektiven Phänomen geschieht daran anschließend über drei Arten von Aussagen: Die Transformationsregel(n) TR, gewisse zusätzliche Annahmen und Bedingungen TB und die zuvor „individuell“ erklärten individuellen Effekte IE – so wie wir das im Beispiel über die Emergenz einer Freundschaft gezeigt haben. Aus diesen drei Aussagen zusammen ergibt sich dann das kollektive Explanandum als logische Implikation. Die individuellen Effekte sind dabei ihrerseits Randbedingungen für die Anwendbarkeit der Transformationsregel, die bei dem Schritt der Aggregation also die Funktion eines „erklärenden“ Gesetzes übernimmt, obwohl sie kein solches Gesetz ist, sondern, etwa im obigen Beispiel, nur eine begriff-liche Definition. Das logische Argument der Transformation der individuellen Effekte in das kollektive Phänomen sieht formal also ganz ähnlich aus wie eine „übliche“ H-O-Erklärung: Es gibt ein „Gesetz“, die Transformationsregel TR nämlich, und gewisse „Randbedingungen“, TB und IE, und daraus wird der interessierende Effekt logisch abgeleitet. Dieser Eindruck ist auch nicht falsch, denn es handelt sich auch bei der Logik der Aggregation wie bei einer H-OErklärung um einen logischen Schluß. Der wichtigste Unterschied ist nur der: Die Transformationsregel ist kein empirisches „Gesetz“, sondern eine analytische Regel, hier eine Definition. Gleich unten werden wir noch andere Arten solcher analytischer Regeln kennenlernen, die als Transformationsregeln dienen können.
Die „Logik“ der Aggregation ist offensichtlich also ein formal-logischer Schritt, bei dem die empirischen Umstände aus den individuellen Effekten mit den analytischen Festlegungen der Transformationsregel(n) und der Annahme von weiteren (Rand-)Bedingungen kombiniert werden. An dem Schema sieht man jetzt auch ganz gut, was mit dem Begriff einer Tiefenerklärung gemeint ist: Statt auf der beschreibenden Oberfläche der „Emergenz“ eines „an sich“ unverständlichen und unerklärlichen korrelativen Zusammenhangs von sozialen Situationen und kollektiven Ereignissen zu bleiben, wird jetzt der genaue kausale (Mikro-)Mechanismus des Geschehens mit allen seinen riskanten Anschlüssen und Makro-Mikro-Makro-Übergängen empirischer wie analytischer Art erkennbar. Und mit der Notwendigkeit, in der Kette der Erklärungsschritte keine Lücke lassen zu dürfen, wird der Sozialwissenschaftler mit sanftem Zwang, aber nachhaltig dazu gebracht, vieles explizit auszusprechen und aufzuschreiben, was er vorher nur „elliptisch“ skizziert hatte oder woran er vorher oft genug nicht einmal denken konnte. Deshalb gerät schon das einfache Beispiel mit der Freundschaft und der Homophilie derselben so kompliziert. Erst darüber gelingt es, das Geheimnis der
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„Emergenz“ eines kollektiven Phänomens zu lüften: Zwar ist das Ganze sicher (meist) mehr als die bloße Summe seiner Teile, aber wir wissen mit der gelungenen Transformation, was es mit diesem „mehr“ auf sich hat. Arten von Transformationsregeln Neben der im Beispiel der Entstehung einer Freundschaft benutzten Art einer Definition als Transformationsregel gibt es noch einige andere Formen (vgl. dazu insbesondere Lindenberg 1977, S. 52-57, 64-78; Lindenberg und Wippler 1978, S. 223ff.). Wir wollen dabei nach einfachen und komplexen Transformationsregeln unterscheiden, und dann darin noch einmal nach verschiedenen Varianten. Einfache Transformationsregeln Zu den einfachen Transformationsregeln zählen zunächst die sog. partiellen Definitionen und dann die, so wollen wir sie nennen, einfachen statistischen Aggregationen. Transformationsregeln in der Form von partiellen Definitionen sind begriffliche Festlegungen, wann von einem bestimmten kollektiven Ereignis überhaupt gesprochen werden soll. Das war im Beispiel der Entstehung einer Freundschaft die begriffliche Festlegung, daß von einer Freundschaft dann gesprochen werden soll, wenn die Bedingung empirisch erfüllt ist, daß sowohl ein Akteur A wie ein Akteur B bestimmte Eigenschaften haben, nämlich die Einstellung f als Koorientierung. Die Festlegung erfolgte also im Hinblick auf bestimmte Konstellationen der individuellen Effekte – ganz einfach und zwingend, weil ansonsten das Erklärungsziel, die Erklärung der Emergenz einer Freundschaft als Folge des Handelns von Akteuren, nicht erreichbar wäre. In ähnlicher Weise könnte man festlegen, daß, beispielsweise, eine Statushierarchie, etwa zwischen zwei Akteuren A und B, genau dann entstanden ist, wenn der Akteur A von Akteur B mehr soziale Wertschätzung erhält als umgekehrt und wenn darüber bei diesen beiden Akteuren eine geteilte Orientierung besteht. Das könnte man leicht auf NPersonen-Systeme für die Asymmetrien sozialer Wertschätzung unter den Akteuren A, B, C, ... N übertragen und so zur Definition der Bedingungen für die Emergenz von Statussystemen beliebiger Größe kommen.
Bei den partiellen Definitionen besteht die Transformationsregel also aus einer logischen Äquivalenz, die über eine, im Prinzip natürlich auch anders mögliche, Konvention eingeführt wird. „Partiell“ heißen diese Definitionen deshalb, weil man etwa Freundschaften und Statushierarchien durchaus auch anders „definieren“ könnte.
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Partielle Definitionen sind im übrigen der erste Schritt bei jeder Transformation von der Mikro- zur Makroebene. Sie lösen das Problem der deskriptiven Emergenz: die Formulierung des kollektiven Phänomens in Bezug auf individuelles Handeln. Nun erst kann die (Tiefen-)Erklärung beginnen. Das heißt, daß für die Zwecke einer soziologischen Erklärung zunächst jedes kollektive Explanandum, zumindest „partiell“, als Ergebnis individueller Effekte begrifflich definiert werden muß. Erst daran können sich andere Regeln der Transformation anschließen. Statistische Aggregationen sind formale bzw. mathematische Operationen der Überführung individueller Effekte in zusammenfassende statistische Kennzahlen, wie etwa Mittelwerte, Raten und Proportionen, Varianzen, Korrelations- und Regressionskoeffizienten oder empirische Typologien. Die je-weiligen Algorithmen der Kennzahlen sind dabei die Transformationsregeln. Die dabei zu beachtenden Annahmen, etwa die der Nicht-Korrelation der Fehlerterme bei der Berechnung von Regressionskoeffizienten, gehören zu den weiteren (Rand-)Bedingungen der Anwendung der Transformationsregeln. Und die individuellen Effekte sind die empirischen „Daten“, mit denen dann die jeweiligen Kennzahlen berechnet werden. Algorithmus, Annahmen und Daten erzeugen zusammen die Kennzahl, aus der das kollektive Phäno-men „besteht“. „Einfach“ sind diese statistischen Transformationsregeln keineswegs immer: Wer beherrscht schon, gar auf Seiten derjenigen, die nicht müde werden, den Methodologischen Individualismus und das Modell der soziologischen Erklärung zu kritisieren und die statistischen Aggregationen als simplen Reduktionismus zu geißeln, alle Feinheiten etwa der Regressionsrechnung wirklich? Die „Einfachheit“ bezieht sich nur auf die Art der „Logik“ der damit möglichen Aggregationen: Es sind kollektive Sachverhalte, die sich in gewisser, wenngleich in oft durchaus kompliziert zu berechnender, Weise tatsächlich „nur“ als „Summe“ der Teile, der individuellen Effekte nämlich, ergeben. Und in jedem Fall handelt es sich bei der Ableitung der kollektiven Effekte um eine von empirischen Umständen geleitete, ansonsten aber rein analytische Prozedur, ebenfalls also um eine Art von logischem Schluß. Komplexe Transformationsregeln Zwei Arten komplexer Transformationsregeln seien unterschieden: Institutionelle Regeln und formale Modelle. Bei den institutionellen Regeln geht es um die Transformation von individuellen Effekten in ein kollektives Ereignis durch soziale Prozesse, von denen
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angenommen wird, daß sie normalerweise fraglos an gewisse Konstellationen individueller Effekte anschließen. Die „Regel“ besteht also in der Annahme der ansonsten in diesem Schritt nicht weiter problematisierten Regelmäßigkeit empirischer sozialer Abläufe, die sich an die individuellen Effekte erwartbar anschließen und daher „wie“ ein „logischer“ Schritt behandelt werden können, obwohl sie es – strenggenommen – natürlich nicht sind. Das hört sich komplizierter an, als es normalerweise ist. Das einfachste Beispiel für eine solche institutionelle oder soziale Transformation ist die Überführung des „rohen“ Wahlergebnisses der einzelnen Wählerstimmen, etwa bei einer Bundestagswahl, in die schließliche Sitzverteilung in einem Parlament. Die individuellen Effekte sind die auf die verschiedenen Parteien entfallenden Stimmen. Eine erste einfache Aggregation sind dann jeweils die Prozente, die auf die einzelnen Parteien entfallen. Die Sitzverteilung im Parlament, aus der sich ja dann erst alles weitere ergibt, wird aber nach gewissen institutionellen Regeln vorgenommen: Gibt es das Mehrheits- oder das Verhältniswahlsystem? Besteht eine Mindestklausel für die Zuteilung von Parlamentssitzen, etwa die 5%-Klausel, wie sie hierzulande üblich ist? Gibt es sonst noch spezielle Regeln, wie die, daß auch diejenige Partei in das Parlament einziehen darf, die mindestens drei Direktmandate gewonnen hat? Nach welchem System werden die Sitze im Verhältniswahlsystem verteilt, etwa nach d’Hondt? Gibt es dann noch so etwas wie Überhangmandate oder Minderheitenrechte? Und so weiter. Die Verteilung der Sitze ist normalerweise ein „automatischer“ Vorgang, den die Computer der Wahlforscher sofort immer mitberechnen, obwohl natürlich „hinter“ der Umsetzung Akteure stecken, die dafür sorgen, daß schließlich auch wirklich die „richtige“ Zahl an Parlamentariern die Abgeordnetensitze belegen.
Die einfache Botschaft aus allen diesen denkbaren Komplikationen ist dann jene hier: Die jeweiligen institutionellen Regeln bilden die Transformationsregeln, über die die individuellen Effekte der reinen Anzahlen bzw. der einfachen Proportionen in das gesuchte kollektive Ereignis überführt werden. Das ist, wie man sieht, schon anders als bei den partiellen Definitionen und den statistischen Aggregationen, keine bloße analytische Transformation mehr, sondern eine, die auf realen sozialen Prozessen und erwartbaren sozialen Regelmäßigkeiten beruht: Auf der Geltung der institutionellen Regeln in der betreffenden Gesellschaft. Und deshalb muß, wenn man ganz genau sein will, auch noch als zusätzliche (Rand-)Bedingung angenommen werden, daß im gegebenen Fall die Akteure sich an die institutionellen Regeln auch wirklich halten – und daß etwa nicht, wie in den sog. Bananenrepubliken dem Hörensagen nach, das Militär zu putschen beginnt, wenn ihm das Wahlergebnis nicht ins Konzept paßt. Es bleibt aber auch jetzt bei dem grundlegenden formalen Muster aus Abbildung 1.1: Transformationsregeln, angenommene (Rand-)Bedingungen und die individuellen Effekte überführen zusammen das Handeln der – in unserem Beispiel etwa 60,5 Millionen – individuellen Wahlberechtigten in ein Parlament. Von „Oktopus“ also keine Rede.
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Von da aus entsteht ein neues interessantes Erklärungs- bzw. Transformationsproblem, dem man jetzt nachgehen könnte: Welche Regierung wird nun gebildet? Im Fall der absoluten Mehrheit und einer geschlossenen Partei bzw. Fraktion ist dieser Schritt relativ einfach: Jetzt wird der Kanzlerkandidat mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich Kanzler, und keiner zuckt mehr mit irgendwelchen Augenbrauen. Bei unklaren Mehrheiten und internen Spaltungen der Parteien und Fraktionen ist die Sache natürlich schwieriger. Aber um auch diesen, manchmal sehr verzwickten, Schritt von den „individuellen“ Parlamentariern zu der einen Regierung und zu dem einen Bundeskanzler als emergenten Ereignissen auf der Grundlage einer Vielzahl individueller Effekte nach der Wahl des Wahlvolkes zu tun, gibt es (inzwischen) eine ganze Reihe von theoretischen Instrumenten, die hier als Transformationsregeln dienen können, Verhandlungs- und Koalitionstheorien zum Beispiel. Und das Ergebnis ist in jedem Fall: die Erklärung der Ordnung eines großen Kollektivs als Ergebnis des Agierens vieler individueller Akteure. Das auch noch einmal zu Luhmanns Vorstellung vom vielarmigen Oktopus des Methodologischen Individualismus!
Damit sind wir bei der zweiten Art von komplexen Transformationsregeln angelangt – bei den formalen Modellen. Das sind, ebenfalls: mehr oder weniger, komplizierte Algorithmen, über die sich die Aggregation individueller Akte zu typischen kollektiven Phänomenen ableiten lassen – unter jeweils anzu-nehmenden, oft stark idealisierenden, Bedingungen.11 Ein Beispiel dafür sind die Schwellenwertmodelle aus Abschnitt 10.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Je nach empirischer Verteilung der individuellen Eigenschaften der Akteure ergibt sich ein typisch anderer Prozeß der „Interaktion“ der individuellen Akteure mit einem typischen kollektiven Ergebnis. Zwei Arten solcher formaler Modelle können unterschieden werden: Situationsmodelle und Prozeßmodelle. Zu den Situationsmodellen zählen insbesondere die Modelle der sog. Spieltheorie. Darin werden typische Konstellationen sozialer Situationen modelliert und – unter der Annahme des „rationalen“ Handelns der Akteure – typische aggregierte, oftmals gegen die Interessen der Akteure gerichtete, Ergebnisse abgeleitet – die sog. Lösungen der Spiele, insbesondere im Aufspüren von sog. Gleichgewichten. Die Spieltheorie kann insofern als eine Ansammlung von formalen Transformationsregeln (und von Brückenhypothesen!) für bestimmte Typen sozialer Situationen angesehen werden. In Band 3 über „Soziales Handeln“ dieser „Speziellen Grundlagen“ werden wir darauf noch sehr ausführlich eingehen. Die o.a. Schwellenwertmodelle sind, als Spezialfall sog. Diffusionsmodelle, ein Beispiel für die Prozeßmodelle. Darin werden typische Sequenzen von aneinander anschließenden Situationen, individuellen Effekten und aggregierten Folgen modelliert, die dann wieder, zusammen mit bestimmten (Rand-) Bedingungen, der Ausgangspunkt für die nächste Sequenz sind – bis zu einem bestimmten Ergebnis, das u.U. auch wieder ein Gleichgewicht sein kann, oder aber auch eine Art von Oszillation, eine Amplifikation, ein Verfall – oder eine Geschichte der „Evolution“ des Prozesses ohne ersichtliches Ende (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.3 und 7.4 in diesem Band, so-
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Vgl. für eine aktuelle Übersicht über die wichtigsten Typen formaler Modelle für die Soziologie: Volker Müller-Benedict, Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erkennung, Modelle und Beispiele nichtlinearer sozialer Dynamik, Opladen 2000.
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wie vor allem Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Auch bei den formalen Modellen gibt es wieder die typische Kombination von (formaler) Transformationsregel in Form eines Algorithmus, etwa dem des logistischen Wachstums bei der Diffusion einer Neuerung, den zur Anwendung nötigen idealisierenden (Rand-)Bedingungen und den zuvor wieder jeweils „situationslogisch“ erklärten individuellen Effekten. Gerade in den formalen Modellen zeigt sich die Stärke des Vorgehens: Jetzt werden oft ganz unglaubliche „Emergenzen“ erkenn- und erklärbar, wie die, daß unter speziellen Umständen in der Tat ein Schmetterlingsschlag ausreicht, um einen massiven kollektiven Effekt auszulösen, während bei äußerlich scheinbar gleichen Umständen auch größte Anstrengungen nichts an Änderungen zu bewirken scheinen. Die formalen Modelle, zu denen auch solche der sog. Chaos- und Katastrophentheorie gehören, sind Instrumente zur kausalen Erklärung von ansonsten ganz unerklärlich, nicht-kausal und „nicht-linear“ erscheinenden kollektiven Effekten12. Um sie formal zu verstehen, muß man einiges an Mathematik beherrschen. Und um sie verständig auf ein inhaltliches Problem anzuwenden, muß man einiges von der Soziologie und den realen Gesellschaften wissen. Nur selten paaren sich die drei Begabungen und Kompetenzen. Die Flexibilität von Transformationsregeln und Transformationsbedingungen: Das Beispiel der Ehescheidung Die Transformationsregeln und die Transformationsbedingungen sind keine fixen Angelegenheiten, sondern fast immer Mischungen aus konventionellen Festlegungen, formalen Modellen und „gesellschaftlich“ bestimmten Regeln der sozialen Überführung individueller Zustände in einen kollektiven Sachverhalt. Deshalb sind sie, obwohl es sich formal um analytische Regeln handelt, nicht nur von gewissen, immer auch anders möglichen Entscheidungen und der Verfügbarkeit und Weiterentwicklung der formalen Modelle, sondern auch sehr von inhaltlichen und historischen Entwicklungen abhängig, wie das schon das Beispiel über die Logik der Aggregation von Wahlen in Regierungen und deren Abhängigkeit von der Stabilität des jeweiligen Wahlsystems gezeigt hat. Manchmal ändert sich sogar die „transformierende“ Definition des kollektiven Ereignisses als Folge 12
Siehe dazu auch u.a. Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
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gesellschaftlicher Vorgänge. Das hat sich etwa bei der Erklärung von Ehescheidungen gezeigt. Eine Scheidung ist ja zunächst nur ein juristischer Akt, und man könnte das „emergente“ Ergebnis „Scheidung“ als den vollzogenen juristischen Akt (partiell) definieren. Welche individuellen Effekte aber führen über gewisse Transformationsbedingungen zu dem juristischen Akt, der die Auflösung der Beziehung besiegelt? Der letzte Schritt ist sicher der Spruch des Richters. Jeder Ehescheidung geht aber, so wollen wir voraussetzen, der psychologische Tod der Ehe voraus: Mindestens einer der Partner sieht die Ehe in ihrer inhaltlichen Definition als nicht mehr existent an und möchte sie beenden. Zuvor muß viel geschehen sein, das auch vorher erklärt werden muß: die Feststellung von Unverträglichkeiten, der anschließende Verfall der Ehequalität, darüber dann die Zunahme von Unzufriedenheiten, die Suche nach einem neuen Partner und der Wechsel in der Orientierung, daß diese Ehe noch eine Zukunft habe. Das alles sind natürlich Dinge, die die Akteure in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Situationen durch ihr Handeln und ihre Interaktionen tragen, wenngleich oft genug in Form von unintendierten Eigendynamiken, Fallen, Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten.
Auf dem Weg vom psychischen Tod der Ehe zur letztlichen juristischen Scheidung gibt es nun aber unterschiedlich festgelegte Wege, die die Akteure selbst nicht alleine in der Hand haben, sondern von institutionellen Regeln bestimmt sind. Vor der Reform des Scheidungsrechtes im Jahre 1977 war es beispielsweise notwendig, daß beide Partner gleichzeitig die Scheidung wollten, danach reichte die Erklärung nur eines Partners und, bei Widerstreben, eine gewisse Wartefrist. Danach war kein Widerspruch mehr möglich, und die Ehe wurde geschieden, wenn nur einer der Partner dazu den Antrag stellte. Es gibt also, sozusagen, zwei verschiedene Transformationsbedingungen für eine Scheidung, eine für die Zeit vor und eine für die Zeit nach 1977. Die Transformationsbedingung für die Zeit vor 1977 sah so ähnlich aus wie unsere Transformationsbedingung für die Entstehung einer Freundschaft oben: „Wenn die verheirateten Akteure A und B erklären, die Ehe scheiden lassen zu wollen, dann entsteht das kollektive Ereignis einer Ehescheidung“. Für die Zeit nach 1977 ist die Sache etwas anders: „Wenn die verheirateten Akteure A und/oder B erklären, die Ehe scheiden zu lassen, dann entsteht das kollektive Ereignis einer Ehescheidung“.
Auch hier sind natürlich wieder weitere Randbedingungen der Transformation zu beachten, wie etwa die, daß die Wartefristen wirklich eingehalten wurden und daß es keine sonstigen Hindernisse für eine formale Scheidung gibt, wie etwa eine lange Verzögerung der Berechnung des Versorgungsausgleichs. Aber die Angelegenheit hat sich schon deutlich geändert. Aufgrund einer bestimmten historischen Entwicklung mußte die Transformationsbedingung für das kollektive Ereignis der Ehescheidung geändert werden.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Mehrfache Transformationen Scheidungen sind, wie die Freundschaftswahlen, theoretisch gesehen natürlich „Makro“-Phänomene, weil es zu ihrer Erklärung einer Logik der Aggregation und gewisser Transformationsregeln zwingend bedarf, auch wenn es im Einzelfall nur um zwei Personen geht. In den soziologischen Untersuchungen interessieren dann aber meist nur so etwas wie Scheidungsraten oder gewisse Kovariationen, wie etwa der Einfluß der Kinder oder der Zugehörigkeit zu einer gewissen Heiratskohorte auf das Scheidungsrisiko. Raten und Kovariationen sind ihrerseits natürlich auch wieder Aggregationen. Sie werden über „einfache“ statistische Aggregationen der jeweiligen „individuellen“ Schei-dungen berechnet. Für die Erklärung von bestimmten Scheidungsraten oder Kovariationen bedarf es also einer doppelten Transformation: Von den individuellen Effekten, besorgt durch die Handlungen der Akteure, die das Paar ausmach(t)en, zur Scheidung als erstem emergentem Phänomen des Zusammenbruchs einer Beziehung; und von der „individuellen“ Scheidung zum zweiten emergenten Sachverhalt, zur Scheidungsrate bzw. zur Kovariation mit der Scheidung als abhängiger Variable. Zwar muß man nicht immer alle diese Schritte im Einzelnen neu durchdeklinieren. Aber es ist manchmal ganz hilfreich, sich auch etwas genauer anzusehen, wie voraussetzungsvoll und von wievielen Dingen abhängig die Aggregation selbst so einer schlichten Größe wie der Scheidungsrate ist. Die Kombination der Transformationsregeln Selten gibt es ein soziologisches Erklärungsproblem, das sich schon mit einer Sorte von Transformationsregeln lösen ließe. Das Beispiel mit der Regierungsbildung und mit der Ableitung der Scheidungsraten hat das schon gezeigt. Deshalb ist es ratsam, sich vorsorglich mit allen denkbaren Formen und Varianten von Transformationsregeln zu wappnen oder sie sich anzueignen, wenn es dann soweit ist. Die Kunst der erklärenden Modellierung besteht dann vor allem darin, das jeweilige inhaltliche Problem so zu zerlegen, daß an den verschiedenen kritischen Stellen des Erklärungsargumentes jeweils das „passende“ Modell der Transformation steht. Und dazu muß man diese Modelle möglichst vorher schon einmal kennengelernt haben. Im Beispiel der Bundestagswahl im September 1998 kämen dafür also in Frage: die Berechnung der Proportionen aus den auf die Parteien entfallenden Stimmen, die Anwendung der
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Bestimmungen des Wahlsystems, insbesondere die der 5%-Klausel, auf dieses Ergebnis, ein Verhandlungsmodell und eine Koalitionstheorie, etwa, für die Erklärung der Entstehung der rot-grünen Koalition und der schließlichen Wahl von Bundeskanzler Schröder als – nicht überall intendierter – Effekt jener historischen Situation auf die einzelnen Wähler, die man grob wohl mit „Spätphase der Ära Kohl“ umschreiben könnte. In ähnlicher Weise ließen sich dann auch schon für mehr generalisierende inhaltliche Konstellationen und Sequenzen typische Anordnungen von Transformationsmodellen benennen, etwa für den typischen Verlauf eines ethnischen Konfliktes (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band): Am Beginn steht die strategische Situation eines sog. Konstantsummenspiels zwischen zwei Gruppen, etwa ein Sprachenstreit. Dann „muß“ das Problem des kollektiven Handelns für diese Gruppen gelöst werden, wobei die nach der Verteilung von Schwellenwerten zu erwartende Mobilisierung der nächste Schritt wäre. Ist der Konflikt einmal angelaufen, läßt sich mit Hilfe des Modells des sog. Gefangenendilemmas leicht zeigen, warum er „von alleine“ nicht aufhören kann – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich durch den Konflikt die Ressourcen in einem solchen Maß erschöpfen, daß sich das Gefangenendilemma in ein sogenanntes ChickenGame verwandelt, bei dem jetzt wenigstens so etwas möglich ist, wie auch einseitige Angebote für einen Waffenstillstand.
Einen Teil der in den beiden Beispielen verwendeten Konzepte werden Sie noch nicht verstehen können, wie etwa den Begriff des Chicken Game. Es sind Hinweise auf inzwischen gut etablierte Modelle von Transformationsregeln für typische Konstellationen von Situationen. Die noch folgenden Bände dieser „Speziellen Grundlagen“ sind, neben vielem anderen, auch Sammlungen von solchen Transformationsmodellen für typische Erklärungsprobleme. Sie kann man, sozusagen, als fertige Module aus der Werkzeugkiste des soziologischen Modellbaus herausnehmen und an der inhaltlich jeweils passenden Stelle einsetzen. Dazu muß man sie freilich erst einmal in ihrem Sinn und in ihrer Logik verstanden haben. Hat man sie aber so verstanden, dann bereitet es oft keine besondere Mühe mehr, in den bunten Daten der realen Welt auch die meist immer etwas verborgenen Grundstrukturen der Modelle (wieder) zu erkennen. Und jetzt erst kann die soziologische Phantasie so richtig ihre Flügel breiten und zum – analytisch gesteuerten und daher besonders eleganten – Fluge ansetzen. Strukturmodelle Für bestimmte Konstellationen von auch schon inhaltlich etwas mehr gefüllten Situationen gibt es dann bereits so etwas wie komplette typischer Kombinationen von Musterlösungen in Form Transformationsregeln. Solche Musterlösungen für typische inhaltliche Erklärungsprobleme werden auch als Strukturmodelle bezeichnet (vgl. auch dazu noch Kapitel 8 in diesem Band).
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Eines der besten Beispiele für ein solches Strukturmodell wäre dasjenige, das Albert O. Hirschman für den Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit, Protest und Loyalität entwickelt hat.13 Der Ausgangspunkt ist eine Situation, in der ein Akteur feststellen muß, daß sich die Leistungen der sozialen Umgebung, in der er sich befindet, verschlechtern, etwa daß die Qualität des Autos, das er bisher immer von einer bestimmten Marke gekauft hatte, plötzlich zu wünschen übrig läßt. Dabei wird angenommen, daß der Akteur von diesen Leistungen bisher viel hatte und daher in gewisser Weise daran hängt. Das ist die Loyalität des Akteurs, im Beispiel also die Markentreue. Unter dieser Bedingung wird der Akteur zunächst über Proteste versuchen, die soziale Umgebung wieder zur alten Leistung zurückzubringen. Und erst wenn das nach einigen Versuchen fehlschlägt, wird er sich eine andere Umgebung, einen „exit“ also, suchen. Und das heißt hier: Er wechselt die Automarke. In allen diesen Fällen tritt nach Hirschman dann auch das ein: Haben die Proteste schließlich keinen Erfolg, dann kommt es zum exit. Es wird dann schließlich doch, wie zuvor beim Auto, eine neue Frau bzw. ein neuer Mann gesucht, das Seminar geschwänzt oder schlicht ausgewandert. Und die Folge: Der Qualitätsverfall füttert die Unzufriedenheit und darüber den Protest. Abwanderung und Widerspruch stehen jedoch in einem einander begrenzenden Verhältnis: Wenn es leichte Möglichkeiten zur Abwanderung gibt, dann wird der Protest geringer und die Produktqualität kann auch dauerhaft absinken. Abwanderung unterminiert also nach dem Strukturmodell von Exit, Voice und Loyalty die Wahrscheinlichkeit für individuelle oder kollektive Bemühungen der „Reform“. Das gilt für Aktienbesitzer, für Ehepaare und für die Klasse der Arbeiter: Wenn andere Aktien leicht erwerbbar, andere Partner leicht verfügbar oder die Möglichkeiten unbegrenzt sind (oder wenigstens so erscheinen), dann schwindet der Protest – und das jeweilige System bricht eventuell wegen Auszehrung zusammen.
Bei Hirschman wird das hier nur verbal beschriebene Modell in seinen wichtigsten Einzelheiten ausführlich auch formal begründet – als eine analytisch ableitbare Folge von Effekten unter bestimmten, aneinander anschließenden Bedingungen. Es ist, sozusagen, eine nunmehr als ein Transformationsmodell fungierende Kombination verschiedener Teile einzelner Situationstypen und darauf passender Transformationsregeln, zugespitzt auf einen schon stark inhaltlich bestimmten Fall: Die Reaktion von Akteuren auf Leistungsabfall bei Loyalität. Dieses Strukturmodell kann man nun auf inhaltlich ähnliche Sachverhalte übertragen und als fertiges Erklärungsmodul anwenden, in denen es zu Leistungsabfall bei Loyalität kommt. Eine solche „analoge“ Übertragung des Strukturmodells wäre etwa die auf eheliche Konflikte als Reaktion auf den Verfall des sog. Ehegewinns unter sich einander im Grunde immer noch liebenden Gatten. Auch wäre eine Anwendung etwa auf Beschwerden von Studenten über die schlechte Vorbereitung des Dozenten in einem Seminar denkbar und sinnvoll, das sie an sich ganz interessant und wichtig finden. Und sicher wäre das Modell auch auf den Protest gegen die herrschende Regierung anwendbar, gerade dann, wenn die Bürger ihr Land lieben, aber mit ansehen müssen, wie es heruntergewirtschaftet wird. 13
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen 1974.
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Freilich müßte dabei immer wieder sehr sorgfältig geprüft werden, ob die (Rand-)Bedingungen für die Anwendung auch gegeben sind. Aber das ist ja für alle Transformationen und ihre immer auch vereinfachenden Annahmen erforderlich. Was wäre beispielsweise im Falle der sog. Protestwähler? Wäre auch hierauf das Strukturmodell von Hirschman anwendbar, da diese Wähler ja eine andere Partei wählen, um der Partei, an der sie hängen, einen Denkzettel zu verpassen? Oder wie war es in der DDR, als ein exit so gut wie unmöglich und auch dem Protest nur enge Grenzen gezogen waren und es trotzdem zum Schluß zu einer für das Regime desaströsen Interaktion von Abwanderung und Widerspruch kam?14 Strukturmodelle sind außerordentlich hilfreiche Instrumente, weil jetzt vieles von ansonsten mühseliger Modellierungsarbeit abgekürzt werden kann. Es ist wohl das, was Robert K. Merton einmal als „Theorien mittlerer Reichweite“ bezeichnet hat.15 Leider gibt es (noch) nicht viele davon in der Soziologie, und wenn die Soziologie eine spezielle Aufgabe hat, die sie – und nur sie – erfüllen kann, dann wäre es diese: die Formulierung und Weiterentwicklung von solchen Strukturmodellen oder „Theorien mittlerer Reichweite“ für die grundlegenden sozialen Prozesse – soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel. Immerhin sind die Anfänge dazu durchaus schon gemacht.
14
Vgl. dazu die Modifikation des Exit-Voice-Modells durch Hirschman selbst angesichts der Besonderheiten des Untergangs der DDR. Hier spielten, wenigstens in der letzten Phase des Bestands der DDR, der Protest gegen das Regime und die Abwanderung in der Erzeugung des Zusammenbruchs ineinander – und wechselten eben nicht ab, wie im ursprünglichen Modell. Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte, in: Leviathan, 20, 1992, S. 332ff.
15
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967, S. 9.
Kapitel 2
Akteure und soziale Systeme
Die Grundlage der alltäglichen Reproduktion der Menschen sind die Produktion von Ressourcen und deren Verteilung. Produktion und Verteilung sind die Basis der Nutzenproduktion, von der letztlich alles abhängt. Die Produktion des Nutzens ist nun aber keine Angelegenheit, die in Einsamkeit und Freiheit zu bewältigen wäre, sondern muß „organisiert“ werden. Und um die Organisation der Nutzenproduktion dreht sich daher alles, was in der Gesellschaft geschieht: Welche Institutionen, sozialen Gebilde und Strukturen entstehen, wie sie sich intern untergliedern, welche Unterschiede zwischen den Menschen bestehen, welche Werte gelten und welche Überzeugungen das Handeln leiten und ob es Bestrebungen gibt, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Die gesellschaftliche Nutzenproduktion geschieht an zahllosen Plätzen und über sehr unterschiedliche Arten der Organisation: in Familien und Verwandtschaften, in Haushalten, Betrieben und Behörden, auf Wochenmärkten oder bei Kaffeefahrten, in Kegelklubs oder in den vielen „Szenen“ der Jugendkultur, in dem „Milieu“ der Neuen Mitte oder in dem der grünen Hedonisten, in Kindergärten, Schulen und Universitäten, in Gerichtsverhandlungen, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und Polizeiwachen, in Dörfern, Städten und Ballungsräumen, in Clans, ethnischen Gruppen, Regionalbewegungen oder Nationalstaaten, beispielsweise.
2.1
Soziale Systeme
Die Träger und die „Motoren“ des gesellschaftlichen Geschehens sind natürlich nur die menschlichen Akteure und deren Handeln. Wer sonst? Was sonst? Das zentrale Motiv dabei ist die möglichst zuträgliche Reproduktion des eigenen Lebens – wenngleich meist nicht unter den Akteuren freigestellten Umständen und mit Folgen, die sie oft nicht wünschen. Bei diesem Handeln lassen sich zwei grundlegende Formen unterscheiden: das nicht-soziale und das
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Die Konstruktion der Gesellschaft
soziale Handeln (vgl. dazu ausführlich noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das nicht-soziale Handeln ist ein Tun, bei dem die Akteure nur auf eine ansonsten nicht weiter bedachte Umgebung achten, die als gegeben angenommen wird und von der selbst kein Agieren mit Bezug auf die Absichten des Akteurs erwartet wird. Es ist das Handeln in den sog. parametrischen Situationen. Das ist beim sozialen Handeln typischerweise anders. Hier wird – im Prinzip – in Rechnung gestellt, daß andere Akteure auf das eigene Handeln reagieren. Das soziale Handeln findet, wie es heißt, unter doppelter Kontingenz statt – der gegenseitigen Abhängigkeit der Ergebnisse des Tuns von den Absichten, Überlegungen und dem Handeln des jeweils anderen. Es ist ein Handeln in sozialen Situationen. Das soziale Handeln kommt in drei typischen Formen vor: als strategisches Handeln, bei dem nur die Interessen der Akteure zählen, als Interaktion, dem sozialen Handeln, bei dem die Akteure auch gedanklich, symbolisch und kommunikativ aufeinander Bezug nehmen, und als soziale Beziehung, als Orientierung der Akteure an gewissen „Einstellungen“, in der sie gemeinsam die Situation sehen. Die meisten interessanten Ressourcen lassen sich nun nur über irgendeine Form der Kooperation herstellen. Oft stellt sich dann aber heraus, daß nicht jeder das kontrolliert, was ihn besonders interessiert. Die Nutzenproduktion kann daher oft noch durch eine geschickte Transaktion, vor allem durch den Tausch der Ressourcen, durch Verhandlungen, durch das Schließen von Kompromissen, Vereinbarungen und Verträgen, aber auch durch eine übergreifende „Organisation“ der Verteilung, durch staatliche Verordnungen und Transfers, natürlich auch durch Mildtätigkeit beträchtlich gesteigert werden. Kooperation und Transaktion sind die für die Nutzenerzeugung und damit für die Reproduktion wichtigsten Formen des (sozialen) Handelns. Handeln und Kommunikation Kooperation, Produktion, Transaktion und Verteilung, Nutzenerzeugung und Reproduktion erfolgen in – mehr oder weniger – ununterbrochenen Ketten der Beeinflussung und des Interagierens von Akteuren und der dadurch bewirkten Veränderung der Randbedingungen in den jeweiligen (sozialen) Situationen. Sie stehen dabei jeweils auch unter einer ganz bestimmten Codierung, einem Oberziel also, das die Orientierung des Handelns und den jeweils spezifischen „sozialen Sinn“ des Tuns bestimmt, etwa das eines Polizisten, der durch Winken den Verkehr regelt, das eines Kassierers in einer Bank, der dem Kunden das Geld vorzählt, oder das einer Prostituierten, die den Freier mit „na, mein
Akteure und soziale Systeme
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Schatz“ anspricht, der natürlich genau weiß, was damit gemeint ist. Das Handeln im „Rahmen“ dieser Codierung fungiert, wie schon die drei Beispiele zeigen, auch wenn es nicht ausdrücklich so beabsichtigt ist, immer auch als Signal und Symbol für den Inhalt des Codes, für die soziale „Richtigkeit“ der jeweiligen Orientierung und für die Angemessenheit des Handelns, des aktuellen wie des darauf eventuell wieder folgenden. Das „materielle“ Handeln ist in diesem Sinne also immer gleichzeitig auch symbolische Kommunikation. Es verstärkt über seinen so stets mitlaufenden kommunikativen Gehalt damit immer auch den „Sinn“ des jeweiligen Tuns und die Strukturen der einmal angelaufen Sequenzen und eingespielten Routinen und Regeln. Was ist ein „soziales System“? Materielles Handeln und symbolisch gesteuerte Kommunikation greifen also bei der Reproduktion des alltäglichen Lebens immer ineinander über und bestärken sich gegenseitig – wenn die befriedigende Reproduktion gelingt, sonst keine bessere Alternative verfügbar ist oder es irgendein anderes, durchaus auch unbefriedigendes Gleichgewicht gibt, in das sich das „System“ verfangen hat. Diese Ketten des materiell und symbolisch wirksamen und aneinander anschließenden (sozialen) Handelns nehmen mit ihrer jeweils typischen materiellen Leistung und ihrem jeweils typischen Sinn dann oft eine ganz bestimmte Gestalt an und reproduzieren sich darin – als Familien, Haushalte, Betriebe, Behörden, Wochenmärkte, „events“, Kaffeefahrten, Kegelklubs, Szenen und Milieus, Dörfer und Städte, Regionen und Nationen, zum Beispiel. Solche immer wieder neu reproduzierten Prozeßketten des materiell voneinander abhängigen, aufeinander bezogenen, aneinander anschließenden und unter einem bestimmen sozialen „Sinn“ definierten, symbolisch markierten und damit auch als Kommunikation wirksamen Handelns von Akteuren werden allgemein als soziale Systeme bezeichnet. Und wenn die menschlichen Akteure die Träger und die Motoren der Nutzenproduktion sind, dann sind die sozialen Systeme der gesellschaftliche „Ort“, an dem die Nutzenproduktion stattfindet. Die „Unabhängigkeit“ der sozialen Systeme von den Akteuren Soziale Systeme sind somit Prozesse, deren Ergebnisse sich immer wieder selbst „füttern“, stabilisieren und verstärken – materiell wie symbolisch bzw. kommunikativ. Sie werden, wenn es sie denn gibt, von individuellen Akteuren
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Die Konstruktion der Gesellschaft
und deren Handlungen getragen, aber nicht von ganz bestimmten Individuen. Es müssen sich immer nur jeweils irgendwelche Akteure an der „Konstitution“ der jeweiligen sozialen Systeme beteiligen, „damit“ sie „bestehen“ – wie etwa bei der Techno-Szene oder dem Hedonisten-Milieu, die es auch dann als stabiles soziales System gäbe, wenn die darin involvierten Akteure jeweils nur einmal dabei wären (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Insofern sind die menschlichen Akteure und die sozialen Systeme, wie das Niklas Luhmann zur Verwunderung vieler immer wieder betont hat, in einer gewissen Weise in der Tat voneinander unabhängig. Und sie bilden, wieder ganz im Sinne der soziologischen Systemtheorie, jeweils auch eine ganz bestimmte „Umwelt“ füreinander, die sie einerseits begrenzt, manchmal sogar „irritiert“, die sie andererseits aber auch benötigen. Die sozialen Systeme „brauchen“ die Akteure und die Akteure „brauchen“ die sozialen Systeme – wenngleich nicht jedes alle und nicht alle jedes zur gleichen Zeit und im gleichen Maße. Psychische, soziale und kulturelle Systeme Die sozialen Systeme „bestehen“ also in der Tat nicht irgendwie für sich. An ihrem Prozessieren sind immer – irgendwelche, keine bestimmten! – lebendigen menschlichen Akteure beteiligt. Das geschieht aber immer nur in selektiven Ausschnitten, weil die Akteure bei der jeweiligen Nutzenproduktion immer nur in einem höchst selektiven Aspekt ihrer Identität, Befindlichkeit und Kompetenz wichtig werden: Als Vater, Mutter oder Kind in der Familie, als Kegelbruder oder -schwester im Kegelclub, als Drücker oder potentieller Heizdeckenkäufer bei der Kaffeefahrt oder als Wähler oder Kandidat bei einer Bundestagswahl, beispielsweise. Man spricht, um diese Selektivität auszudrücken, deshalb auch nicht von Akteuren als den „Trägern“ der sozialen Systeme, sondern von psychischen Systemen: Collagen von Mustern der Orientierung und des Agierens in typischen Situationen. Dafür war in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ der Begriff der Identität eingeführt worden. Lebendige Menschen sind also auch „Systeme“: Sie „bestehen“ nur als Prozeßgleichgewichte von biologischen und psycho-sozialen Abläufen. Vier Aspekte dieser Systemhaftigkeit müssen unterschieden werden, wenn von einem „Akteur“ als individuellem menschlichen Wesen die Rede ist. Das ist erstens der Aspekt des biologischen Organismus, der Körper, den jeder Akteur „benötigt“ und um dessen physisches und psycho-soziales Überleben sich letztlich jede Nutzenproduktion dreht. Der Aspekt des psychischen Systems ist der zweite Gesichtspunkt, nämlich der, daß die Akteure immer nur in Ausschnitten ihrer Identität am Prozessie-
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ren der verschiedenen sozialen Systeme beteiligt sind. Akteure „bestehen“ als psychische Systeme aus einer im Gedächtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen für die Orientierung und das Handeln in typischen Situationen, die über Symbole und Mustererkennung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Situationen herstellen (siehe dazu auch gleich noch die sog. kulturellen Modelle). Akteure sind drittens Personen in dem Sinne, daß sie „sozialisiert“ sind und mit einem – mehr oder weniger – abgestimmten und integrierten System von Wissen, Werten und Orientierungen, mit einer personalen „Verfassung“, vielleicht sogar mit einer veritablen Ich-Identität, ausgestattet sind. Und zu Subjekten werden die Akteure schließlich dadurch, daß sie Absichten entwickeln und danach reflektiert und intentional handeln, und daß ihnen das auch als von ihnen verantwortbares Handeln zugeschrieben wird.
Woher aber wissen die jeweiligen Akteure bzw. psychischen Systeme, welcher Ausschnitt ihrer Identität gerade „relevant“ ist und um welche Art von sozialem System es gerade geht? Die Lösung des Problems ist für die Nutzenproduktion wichtig, fällt den Akteuren meist aber auch nicht schwer. Wichtig ist die Lösung der Frage, weil die Nutzenproduktion gerade auf der Selektivität der Orientierungen und des Handelns, der Festlegung der sozialen Produktionsfunktionen und damit der Codierung des jeweiligen sozialen Sinns in dem jeweiligen sozialen System also, beruht. Und nicht schwer zu finden ist sie, weil die sozialen Systeme allesamt in einer typischen Weise markiert und mit einem, oft sogar deutlich, symbolisierten kulturellen Bezugsrahmen versehen sind. Den haben die Akteure als psychische Systeme mit den mentalen Modellen für typische Situationen in ihrem Gedächtnis gespeichert, den sie mit anderen Akteuren eines bestimmten Kulturkreises teilen und der ihnen über die Identifikation des Typs des jeweiligen sozialen Systems die „richtige“ Definition der Situation und das darin jeweils angemessene Handeln erlaubt, oft sogar nachhaltig aufdrängt, und über den sie, anders gesagt, miteinander im Code des jeweiligen sozialen Systems kommunizieren. Die im Gedächtnis der Akteure gespeicherten mentalen Modelle der sozial geteilten und mit Symbolen markierten kulturellen Bezugsrahmen seien als kulturelle Systeme bezeichnet. Es sind die Frames der Orientierung und die Skripte des Handelns, die Codes und die Programme der Nutzenproduktion, die für die jeweiligen sozialen Systeme gelten und über die der jeweilige soziale Sinn definiert ist (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die kulturellen Systeme vermitteln – sozusagen – zwischen den psychischen und den sozialen Systemen und helfen ganz beträchtlich dabei, daß die Akteure verläßlich den jeweils geltenden sozialen Sinn korrekt treffen – und deshalb auch relativ unaufwendig den angezielten Nutzen in Kooperation und Transaktion produzieren können.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Ko-Evolution und Ko-Konstitution Die psychischen, kulturellen und sozialen Systeme begrenzen und ermöglichen sich gegenseitig in einem fortlaufenden Prozeß der Ko-Konstitution und der Ko-Evolution. Es ist ein „Kreisprozeß“ der Definition der Situation, der Selektion des Handelns und der dadurch bewirkten Emergenz einer neuen Situation, die wiederum eine neue Definition der Situation nachsichzieht ... und so weiter. Wenn man nur etwas genauer hinsieht, wird leicht festzustellen sein, daß nahezu alles, was im sozialen Alltag geschieht, in der Tat so, als Ko-Konstitution und Ko-Evolution von psychischen, kulturellen und sozialen Systemen abläuft, beispielsweise ein Weihnachtskonzert mit kleinem Orchester und Publikum. Das Konzert ist das soziale System, und zwar in seiner Gesamtheit vom Klingeln, dem Platznehmen der Zuhörer und dem Erscheinen der Künstler, der Aufführung mit allen ihren kleineren und größeren Pannen, dem Zwischenapplaus, der Pause mit Sekt und Lachs und dem Austausch kleinerer Bosheiten, der Fortsetzung, dem Ende, dem Schlußapplaus, eventuell den Zugaben, dem Abebben und Wiederanschwellen, der Verneigungen, dem Absterben des Applauses und dem Verlassen des Saales. Die Virtuosen, der Dirigent und die Akteure im Publikum sind die dazu „nötigen“ psychischen Systeme, die geschriebene und gewußte musikalische Partitur und das ungeschriebene und mit allerlei Lücken versehene und keineswegs von jedermann gewußte soziale Drehbuch eines Konzertbesuchs das „erforderliche“ kulturelle System. Alles baut sich gegenseitig auf, kontrolliert und verstärkt sich gegenseitig. Nicht alle psychischen Systeme wußten zum Beispiel vorher genauer, was zu tun wäre, zum Beispiel diejenigen, die zum ersten Male in einem Konzert waren. Sie wissen aber für das nächste Mal schon eher, was sie erwartet und was von ihnen erwartet wird, beispielsweise, daß man zwischen den Sätzen nicht applaudiert. Es sei denn, es werden andere Stücke gespielt und es wäre wieder einmal nicht ganz klar, wann geklatscht werden darf und wann nicht.
Soziale Systeme unterscheiden sich unter anderem auch darin, wie stabil die Abläufe dabei jeweils sind, also: ob es sich bei dem Prozeß um eine nach vorne sehr offene Evolution handelt, wie bei einem flüchtigen Gespräch oder der offenen Fortentwicklung eines Musikstils, oder um einen sehr gleichgewichtigen, stark geregelten oder repetitiven Vorgang, wie das etwa ein Wochenmarkt, ein Finanzamt oder ein Stammtisch wären. Der Vorgang der „Konstruktion“ der Gesellschaft und ihrer Teile als Ko-Konstitution und KoEvolution von psychischen, kulturellen und sozialen Systemen ist ein Thema, das sich quer durch die „Speziellen Grundlagen“ in allen ihren sechs Bänden zieht. Arten sozialer Systeme Konkrete soziale Systeme, wie eine Familie, ein Betrieb, ein Kindergarten, eine Stadt, eine Regierung oder eine Gang von Glatzen werden auch als soziale
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Gebilde bezeichnet. Sie begrifflich zu ordnen, wäre nahezu aussichtslos. Es gibt aber einige Versuche, soziale Systeme bzw. soziale Gebilde nach gewissen theoretischen oder nach inhaltlichen Eigenschaften zu unterscheiden.1 Die Unterscheidung nach theoretischen Gesichtspunkten ergibt sich aus bestimmten Typen von sozialen Situationen, in denen sich die Akteure in ihrem Handeln jeweils befinden; die Unterscheidung nach inhaltlichen Kriterien ergibt sich aus der Definition der sozialen Produktionsfunktionen, denen die Nutzenproduktion in dem jeweiligen sozialen System folgt. Ordnungen und Interdependenzen Eine der Möglichkeiten zur theoretischen Klassifikation von sozialen Systemen ist die Unterscheidung nach der jeweils typischen Art der Ordnung, auf denen ihre Reproduktion beruht. Hinter jeder Art der Ordnung stehen wiederum typische Arten von Interdependenzen (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Interdependenzen sind dabei über typische Verteilungen von Interesse und Kontrolle an den Ressourcen erzeugte gegenseitige Abhängigkeiten der Akteure. Mit ihnen gehen jeweils typische Arten sozialer Situationen einher, die zusammenfassend auch als strategische Situationen bezeichnet werden. Das sind Konstellationen, bei denen das Ergebnis des Handelns jedes einzelnen Akteurs in typischer Weise davon abhängt, was die jeweils anderen Akteure tun, wie etwa beim Radfahren, bei dem es nur dann nicht zum Zusammenstoß kommt, wenn beide entweder links oder rechts aneinander vorbei wollen. Drei Arten der Interdependenz und der Ordnung Bei der Bestimmung der Art der Interdependenzen der Akteure kommt es insbesondere darauf an, ob die Interessen der Akteure übereinstimmen oder nicht. Hier gibt es drei typisch unterschiedliche Konstellationen: die Konvergenz der Interessen, die antagonistische Kooperation und die Divergenz der Interessen. Die Ordnungsbildung bei Konvergenz der Interessen ist meist bereits durch nicht-soziales, ja durch „egoistisches“ Handeln möglich oder dann oft sogar 1
Vgl. zu einem der wenigen systematischen Versuche zu einer solchen begrifflichen Ordnung Fritz W. Scharpf, Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research, Boulder, Col., und Oxford 1997, Kapitel 3 und 4.
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erst besonders effizient: Die Akteure tun nur das, was ihnen aus ihrer jeweiligen „privaten“ Sicht am vorteilhaftesten erscheint, und das ohne jede besondere Berücksichtigung der Motive der anderen Akteure. Die verschiedenen Handlungen fügen sich dennoch – meist unintendiert – zu einem gleichgewichtigen sozialen System, etwa zu einem Marktgleichgewicht. Einer besonderen Regelung bedarf es nicht, allenfalls, wenn es zu Koordinationsproblemen kommt, wie bei Radfahrern, die aber nur eine Absprache, eine Geste oder ein Schild brauchen, ob Rechts- oder Linksverkehr gilt, ansonsten aber „individuell“ darin vollkommen übereinstimmen, keinen Zusammenstoß riskieren zu wollen, und sich deshalb gerne an jede Absprache halten. Die Ordnung ergibt sich bei dieser Art der Interdependenz ganz und gar spontan – schon dadurch, daß die Akteure alleine ihren privaten Neigungen folgen. Oder aber sie entsteht, wie es heißt, „self-enforcing“ und ohne jede weitere äußere Zutat, weil die Beachtung der höchstens nötigen Koordinationsregeln, wie etwa die der StVO, auch schon im individuellen Interesse der Akteure liegt. Kurz: Es reichen entweder alleine schon die Interessen oder einfache konventionelle Regeln aus, damit die Ordnung entsteht und sich erhält. Im Fall der antagonistischen Kooperation – als Mischung von konvergierenden und divergierenden Interessen – gibt es aus den entstehenden Dilemma-Situationen keinen alleine auf den Interessen basierenden Ausweg: Einerseits sind die Akteure an der Kooperation interessiert, beispielsweise beim sportlichen Wettkampf oder in einer Koalition, andererseits aber fürchten sie, daß sie sich ohne weitere Absicherung den Winkelzügen, Tricks und Wortbrüchen der anderen ausliefern. Und weil alle so denken, unterbleibt womöglich die Kooperation, obwohl alle etwas von einer Einigung hätten und daran auch interessiert sind. Zur Lösung des Problems werden Bindungen oder Regeln erforderlich, die die egoistischen Versuchungen zugunsten eines im Grunde für alle günstigen Ergebnisses zu überspielen vermögen. Dazu gehören Absprachen, etwa über das Verhalten in Streitfällen oder über Abstimmungsregeln, oder Versprechungen. Ein besonderes Problem dabei ist die Bindewirkung solcher Absprachen und Versprechungen. Die muß wegen der „antagonistischen“ Kooperation über die individuellen Interessen und über einfache „konventionelle“ Einigungen hinausgehen und auf gewissen essentiellen, das heißt: wirksam bindenden, aber nicht erzwungenen Regeln beruhen. Diese Bindewirkung kann etwa aus einem besonderen Vertrauen bestehen oder der persönlichen Bekanntschaft oder aber auch der Bindewirkung einer „unbedingten“ Moral, wie etwa bei den Fairneßregeln im Sport. Die Voraussetzung für die Wirksamkeit solcher „essentieller“ Bindungen und Regeln ist freilich, daß sich die Interessen nicht vollkommen widersprechen, daß auch der „Unterlegene“ etwas von der Beachtung der getroffenen Festlegungen hat
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und daß die Interessen an der Kooperation im Vergleich zum Einigungsaufwand und zu den Risiken der Regelverletzung hoch genug sind. Fallen die Interessen jedoch völlig auseinander, gibt es folglich eine komplette Divergenz der Interessen und damit die strategische Situation eines Konfliktes, dann wird Herrschaft zur Ordnungsbildung erforderlich: die institutionell und durch einen Sanktionsapparat abgesicherte Fähigkeit, Absichten und Entscheidungen über Weisung oder Befehl auch gegen Widerspruch durchzusetzen. Es ist eine durchaus repressive Form der Ordnungsbildung, einfach deshalb, weil die Ordnung notwendigerweise auch gegen die Interessen wenigstens einer Gruppe und notfalls mit schierer Gewalt durchgesetzt werden muß. Dies ist etwa auf dem Kasernenhof beim Konflikt zwischen einfachen Soldaten der Fall, die unter Umständen ihr Leben riskieren, und ihren Vorgesetzten in den sicheren Kommandostäben, oder bei staatlichen Behörden, etwa in der Beziehung von Finanzamt und Steuerzahler. Hier hilft letztlich nur die Gewalt, etwa die der Feldjäger und des Kriegsgerichts oder die des Gerichtsvollziehers mit den Polizeibeamten im Gefolge. Märkte, Assoziationen und Organisationen Vor dem Hintergrund der drei genannten Arten von Interdependenzen und strategischen Situationen und den zur Ordnungsbildung jeweils „nötigen“ Formen der Vergesellschaftung lassen sich dann drei grundlegende Typen von sozialen Systemen theoretisch unterscheiden: Märkte, Assoziationen und Organisationen.1 Ein Markt ist ein System von bilateralen Transaktions- bzw. Tauschbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern, etwa von Schweinekoteletts, bei dem nur die Interessen der Akteure zählen und bei dem die Ordnung ungeplant und in der Tat ganz und gar spontan entsteht. Die wichtigsten Parameter, die das System eines Marktes bestimmen, sind das Gesetz der Nachfrage und das Gesetz des Angebotes: Wenn der Preis für ein Kotelett steigt, dann sinkt die Nachfrage, und es erhöht sich das Angebot – vice versa. Unter bestimmten Bedingungen stellt sich ein Gleichgewicht auf dem Markt ein – ein Preis, bei dem genau so viel nachgefragt wie angeboten wird. Die Beziehungen der Akteure sind dabei hoch-selektiv und anonym, denn die Grundlage der Ordnung ist allein die Konvergenz der privaten Interessen. 1
Vgl. zu den verschiedenen Formen sozialer Systeme zwischen den Polen von Markt und Organisation: Viktor Vanberg, Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie und das Problem korporativen Handelns, Tübingen 1982, insbesondere Kapitel 1, S. 8-36.
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Eine Assoziation ist ein soziales System, bei dem die Akteure sowohl konvergierende wie divergierende Interessen haben, sich in ihren Handlungen aber an gewissen übergreifenden Bindungen und Regeln orientieren, die eine Übereinkunft auch angesichts der Divergenz der Interessen erlauben. Assoziationen sind – mehr oder weniger – geregelte soziale Systeme, bei denen die Regelung jedoch gerade nicht alleine über „Interessen“ und Marktprozesse, aber auch nicht schlicht über „Befehl“ und formal sanktionierte Ordnung, sondern über informelle Einverständnisse, Routinen, „Haltungen“ und interaktiv immer wieder neu bestärkte „Einstellungen“ erfolgt – und dies zur Regelung auch schon ausreicht. Bei den Assoziationen können dann noch (mindestens) drei Untertypen danach unterschieden werden, auf welchen Grundlagen die für diese Assoziationen typischen, weil mindestens erforderlichen Bindungen und Regeln beruhen: Zusammenkünfte, Netzwerke und Gruppen.
Als Zusammenkunft sei eine Assoziation bezeichnet, bei der sich mehrere Akteure persönlich und unmittelbar begegnen und diese Unmittelbarkeit auch wahrnehmen und gegenseitig in Rechnung stellen, wie beispielsweise die Situation in einem Friseurladen, einer Fakultätssitzung oder bei einer Koalitionsverhandlung. Hier spielen ohne Zweifel die Interessen eine große Rolle, jedoch auch bestimmte Bindungen, etwa persönliche Bekanntschaften oder Verpflichtungen, und mehr oder weniger explizite Regeln des Umgangs aus früheren Zusammenkünften. Oft sind solche Zusammenkünfte aber auch noch nicht so recht geregelt, und ein Gleichgewicht stellt sich dann, besonders wenn die Interessen nicht deutlich konvergieren, nur mühsam ein. Daher sind in diesen Fällen gewisse „Themen“ – das Wetter, die Schuppenflechte oder der tragische Tod von Lady Di etwa – für die lockere, aber nicht unbestimmte Regelung der Zusammenkünfte von besonderer Wichtigkeit. Netzwerke sind Muster von Beziehungen zwischen Akteuren, wie etwa ein Geflecht von Bekanntschaften, bei dem zwar nicht jeder jeden unmittelbar kennen muß und auch nicht jeden kennt, gleichwohl aber über indirekte Wege von jedem erreichbar ist. Netzwerke binden, anders als die Zusammenkünfte, „identisch“ bleibende Akteure zusammen, wenngleich gelegentlich nur über sehr indirekte Pfade von „weak ties“. Daher sind sie schon deutlich dauerhafter, abgegrenzter und „organisierter“ als Zusammenkünfte. Und deshalb entstehen in ihrem Rahmen oft auch bald Beziehungen der Verpflichtung, des Vertrauens, ja der Sympathie, auf deren Grundlage sich dann auch weitere Bindungen bilden, die jede explizite Regelung überflüssig machen können und auch größere Interessendivergenzen zu überspielen vermögen. Gruppen beruhen ebenfalls auf persönlichen und unmittelbaren Begegnungen von benennbaren, identischen Personen, jedoch ist die Mitgliedschaft noch dauerhafter und unmittelbarer, bezieht sich auf eine Vielzahl von diffusen Beziehungen und Aspekten gleichzeitig und ist durch eine noch deutlichere Grenze nach außen erkennbar als bei den Netzwerken. Die Gruppenmitglieder haben ein gemeinsames Motiv oder Ziel, aber die Ziele und Motive sind, ebenso wie die Mitgliedschaft, nicht formell geregelt. In den Gruppen bilden sich alsbald gewisse Standardisierungen, Rollenmuster, Hierarchien, und Normen heraus, und mit der distanzierenden Abgrenzung nach außen auch eine solidarische Gruppenidentität nach innen. Insofern gibt es hier nicht nur Bindungen und Regeln, sondern auch ein vertikales System von nahezu „herrschaftlichen“ Weisungsbefugnissen, denen, wenngleich nicht formell geregelt, meist auch gefolgt wird.
Bei einer Organisation schließlich wird die Mitgliedschaft an bestimmte formelle Bedingungen geknüpft, und es gibt ein formell festgelegtes Ziel der Or-
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ganisation und eine daran orientierte formelle „Verfassung“. Darin ist festgelegt, welche Leistungen die Mitglieder typischerweise zu erbringen haben und was ihnen als Gegenleistung dafür formell zusteht. Die Besonderheit der Organisation ist die vorrangige Bedeutung der Weisungen und deren klaglose Akzeptanz. Die Grundlage ist die Institutionalisierung von (legitimer) Herrschaft. Organisationen sind, ganz anders als die Assoziationen, nicht an die „Identität“ der Akteure gebunden. Im Gegenteil: Es kommt hier ausschließlich auf die Festlegung gewisser Positionen an. Und diese Positionen können dann beliebige individuelle Akteure übernehmen. Insofern sind Organisationen auch wieder eine „anonyme“ Form der Ordnung, und sie gleichen in dieser Hinsicht den Märkten. Zwei Dimensionen Bei einem Markt regieren also nur die Interessen und das nicht-soziale Handeln, bei den Assoziationen treten gewisse Bindungen zu den Interessen hinzu, und bei einer Organisation kommt noch der herrschaftliche Befehl dazu. Die Organisation ist, so gesehen, offenbar der theoretische Gegenpol zu einem Markt: Die Ordnung einer Organisation entsteht geplant und beruht auf einer explizit eingeführten Verfassung, deren Regeln über Herrschaft und einen (im Prinzip: repressiven) Sanktionsapparat abgesichert sind. Die Ordnung auf einem Markt stellt sich dagegen ungeplant oder „konventionell“ und – bis auf Restgrößen einer Regulierung von kriminellen Akten – zuweilen auch ganz und gar anarchisch ein. Die Assoziationen enthalten dagegen sowohl spontanungeplante-konventionelle wie organisiert-geplante-repressive Elemente. Aus dieser Mischung besteht, so könnte man sagen, ihre eigenartige „essentielle“ Bindewirkung, die ja weder alleine auf Interessen, noch alleine auf Herrschaft gegründet sein kann oder darf. Die Bedingungen der Ordnungsbildung stehen erkennbar in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Jede Interessenkonvergenz ließe sich auch noch über essentielle Bindungen und jede Assoziation auch noch über Herrschaft steuern. Aber das wäre jeweils „überflüssig“ und würde der jeweiligen Ordnungsform ihre Besonderheit nehmen. Das Umgekehrte würde jedoch sicher nicht gehen: Assoziationen beruhen auf mehr als auf Interessenkonvergenzen und Organisationen auf mehr als auf selbst „essentiellen“ Bindungen. Daraus ergibt sich unmittelbar eine zweite Dimension der Ordnungsbildung: Markt und Organisation sind Formen der anonymen Ordnung, sei es über den bilateralen anonymen Tausch beim Markt, sei es über die Besetzung von Positionen durch ansonsten anonyme, austauschbare Akteure. Assoziatio-
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nen dagegen beruhen auf Begegnungen, Interaktionen und Beziehungen zwischen persönlich identifizierbaren Akteuren – mit unterschiedlichen Graden der „Identität“ der Akteure bei Zusammenkünften, Netzwerken und Gruppen. Damit bilden Markt und Organisation einerseits und die Assoziation andererseits wiederum theoretische Gegenpole in einer zweiten theoretischen Dimension – die anonyme oder die interaktiv-persönliche Art der Ordnungsstiftung. Markt und Organisation als soziale Systeme mit anonymen Formen der Ordnungsbildung sind die Typen von sozialen Systemen, wie sie in den komplexen Großgesellschaften der Moderne vorherrschen und, wie es scheint, immer mehr vordringen, und das auch deshalb, weil dort aufgrund der großen Anzahl von Akteuren die auf persönlicher Identifikation aufbauenden Ordnungsformen schon rein technisch nicht ausreichen. Die Ordnung über Märkte und die über Organisationen könnte auch als eine systemische Art der Ordnungsbildung bezeichnet werden: Die Ordnung entsteht alleine aufgrund der inneren Konstruktion und der Beziehungen der sozialen Systeme, ohne daß die Akteure diese Ordnung noch irgendwie selbst unterstützen müßten. Das geschieht bei den Märkten unmittelbar über die Konvergenz der Interessen der Akteure, bei den Organisationen über die Besetzung von formal definierten Positionen, oft genug über die Köpfe der Akteure hinweg. Assoziationen – Zusammenkünfte, Netzwerke und Gruppen – sind dagegen für kleinere, stammesmäßig oder ständisch gegliederte Gesellschaften typisch. Man könnte sie als eine lebensweltlich oder sozial gesicherte Art der Ordnungsbildung ansehen, mit starken Elementen der persönlichen Bekanntschaft, der persönlichen Kommunikation und des persönlichen Einverständnisses (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 über „Integration“ und die Abschnitte 9.1 und 9.2 in diesem Band).
Da aber auch in den komplexen Großgesellschaften der Moderne nicht alles über den Markt und schon gar nicht alles über Organisation und „Befehl“ zu regeln ist, bleiben auch hier die Assoziationen und die lebensweltlich verankerten Formen der Ordnungsbildung von erheblicher Bedeutung, insbesondere zur Vermittlung von Interessen und zur informellen Absicherung und Vorbereitung von Vereinbarungen und Verträgen, die es ohne die Assoziationen entweder nicht geben oder an die sich niemand halten würde (siehe dazu noch unten in Abschnitt 2.3 zu den sog. Vermittlungsnetzwerken). Eine Systematik Die Beziehungen zwischen den Umständen und der Art der Ordnungsbildung und dem Typ des sozialen Systems lassen sich vor diesem Hintergrund dann in zweierlei Weise zusammenfassen (vgl. Abbildung 2.1): erstens als Hierarchie von Markt, Assoziation und Organisation als sozialen Systemen mit immer größeren Anteilen von geplanter zu spontaner Ordnung; und zweitens als Unterscheidung von anonymer und nicht-anonymer Art der Ordnungsbildung bei Markt und Organisation einerseits und bei den Assoziationen andererseits.
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Interessenkonvergenz/ nicht-soziales Handeln/ spontane/konventionelle Ordnung
Markt
Assoziation
Organisation
x
x
x
x
x
antagonistische Kooperation/ Bindungen und Regeln/ essentielle Ordnung Interessendivergenz/ Herrschaft/ geplante/ repressive Ordnung Anonymität
x
+
-
+
Abb. 2.1: Arten der Ordnungsbildung und Typen von sozialen Systemen
Die verschiedenen Dimensionen und Formen der Ordnung, spontan und geplant, anonym und interaktiv-persönlich bzw. systemisch und lebensweltlich, kommen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie bei den frühzeitlichen Jägerund Sammlergesellschaften, die keine Märkte und keine Organisationen, sondern ganz überwiegend nur Gruppen kannten, in allen menschlichen Gesellschaften vor, wenngleich jeweils in unterschiedlicher Gewichtung und Zusammensetzung. Mischformen Die meisten konkreten sozialen Gebilde lassen sich als Mischformen der drei Typen der Ordnungsbildung rekonstruieren. Drei solcher „gemischter“ sozialer Systeme wollen wir gesondert benennen: Verhandlungen, situierte Aktivitätssysteme bzw. Handlungsfelder und Ensembles. Verhandlungen sind eine, meist als Zusammenkunft stattfindende, spezielle Art von Marktgeschehen, bei denen gegenseitig „Angebote“ gemacht und abgelehnt oder angenommen werden. Das Ergebnis erfolgreicher Verhandlungen ist meist ein „Kompromiß“, bei dem beide Seiten zwar jeweils etwas abgegeben haben, was sie gerne behalten hätten, mit dem Kompromiß aber insgesamt besser dastehen, als wären die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen worden. Hilfreich für erfolgreiche Verhandlungen ist, wenn sie in einen „assoziativen“
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Rahmen vorher entstandener Bindungen und Regeln eingebettet sind, etwa, wenn die Verhandlungspartner vernetzt sind oder sich aus früheren Zusammenkünften gut kennen. Oft geht es dabei zunächst um das „Aushandeln“ der „Definition“ der betreffenden Situation: Was soll als wichtig gelten und wie sieht die Agenda aus? Viele Alltagssituationen, die gar nicht wie Verhandlungen aussehen, bestehen gleichwohl aus diesem Kampf um die „richtige“ Sicht der Dinge. Ein besonders interessanter Mischtyp eines sozialen Systems sind die situierten Aktivitätssysteme oder Handlungsfelder. Das sind soziale Systeme, die sowohl Merkmale von Zusammenkünften wie von Organisationen, aber auch von Verhandlungen haben: Die Akteure begegnen sich unmittelbar in einem auch formell geregelten setting und unter bestimmten Interdependenzen ihres Tuns. Beispiele dafür wären eine Operation mit Chefarzt, Assistenzarzt und Schwestern, das Haareschneiden im Friseursalon, eine Fakultätssitzung oder ein Fußballspiel. Zwar gibt es klare Regeln und deutliche Vorgaben und Grenzen des Tuns, es gibt aber auch beträchtliche Spielräume für die strategische Nutzung oder Abwandlung der Regeln, wie für die nicht an die Regeln gebundene Macht, die etwa ein Assistenzarzt über den Chefarzt allein deshalb hat, weil die guten Nerven auch des Assistenzarztes zum Gelingen der Operation beitragen, für die der Chefarzt verantwortlich ist. Ein Spezialfall davon wiederum sind die sog. Ensembles. Das ist ein System von Akteuren, deren Leistung darin besteht, bei anderen Akteuren über eine bestimmte Rollenverteilung ein bestimmtes „Schauspiel“ zu liefern, wie etwa ein feierliches Abendessen, eine Arztpraxis, Restaurants oder eine Senatssitzung in der Universität. Auch hier gibt es formelle Regelungen, aber auch deutliche Interdependenzen der Akteure untereinander. Das wichtigste Merkmal der Ensembles ist die Unterteilung des settings in Darsteller und Publikum, oft in wechselnder „Rolle“. Und wie beim richtigen Theater gibt es auch im richtigen Leben Vorder- und Hinterbühnen, wie etwa das Rektoratszimmer, in dem die Schauspieler in den Rollen von Rektor, Kanzler und der grauen Eminenz, die jede Universität aufweisen kann, vor dem Theater der Senatssitzung noch rasch die letzten Intrigen und strategischen Rollenverteilungen absprechen.
Der Begriff der Figuration, ein Ausdruck, den Norbert Elias geprägt hat, faßt schließlich alle denkbaren Formen von sozialen Systemen unter dem Gesichtspunkt zusammen, daß letztlich jeder soziale Vorgang das Ergebnis von, wie es heißt, prozessualen Machtbalancen wäre. Damit ist gemeint, daß bei praktisch jedem sozialen Geschehen und jedem sozialen System drei Dinge zusammenspielen: die Interessen der Akteure und darüber ihre jeweiligen Ziele, die institutionellen Regeln und damit gewisse Rechte und Pflichten für ihr Tun und schließlich die schiere Macht, die die Akteure, auch in ihrer institutionellen Bändigung als Herrschaft, übereinander dadurch ausüben, daß sie in unterschiedlicher Weise die Kontrolle über die interessanten Ressourcen haben. Ein Fußballspiel, ein Fürstenhof oder ein Parteivorstand sind nur so zu verstehen: als prozessierende „Balance“ von Interessen, Regeln und Macht. Der Begriff der Figuration ist die Erinnerung daran, daß es die Strukturen und die Regeln alleine nicht sind, die das Prozessieren der sozialen Systeme ausmachen und erklären, sondern das an Regeln orientierte, in Interdependenzen verwickelte, von Interessen getriebene und in ungeplante Folgen einmündende Handeln von menschlichen Akteuren.
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Systeme der Nutzenproduktion Die Unterscheidung von Märkten, Assoziationen und Organisationen war eine eher formale Einteilung – nach der Art der Interdependenz der Akteure und der damit einhergehenden „nötigen“ Ordnungsform. Die vielen sozialen Systeme, mit denen es die Soziologie zu tun hat, lassen sich natürlich auch inhaltlich ordnen. Von den vielen Möglichkeiten dazu ist eine ganz besonders naheliegend – die nach dem Inhalt der Nutzenproduktion. Vor diesem Hintergrund seien drei inhaltlich definierte Arten sozialer Systeme unterschieden (vgl. dazu auch noch Kapitel 3 dieses Bandes insgesamt): funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche. Funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche Funktionale Sphären sind die verschiedenen in einer Gesellschaft vorhandenen Bereiche, in denen die unterschiedlichen „funktionalen“ Aufgaben erledigt werden, die für die Reproduktion der Gesellschaft als soziales System erforderlich sind, wie das etwa die Wirtschaft für die Bereitstellung der materiellen Güter, das Recht für die Sicherung der institutionellen Strukturen oder das Gesundheitssystem für die medizinische Versorgung der Bevölkerung sind. Die funktionalen Sphären gibt es – letztlich – wegen ihres unerläßlichen Beitrags zur Produktion und Verteilung jener Ressourcen und Leistungen, die für das gesellschaftliche Leben nötig sind oder von den Menschen sonstwie geschätzt werden, wie etwa der ansonsten wohl entbehrliche Sport und die eigentlich wirklich brotlose Kunst. Als kulturelle Milieus (oder Szenen) seien dann jene sozialen Systeme bezeichnet, aus denen, zunächst ganz unabhängig von ihrer funktionalen Bedeutung, die Reproduktion bestimmter Werte, Orientierungen, Praktiken, Habitualisierungen und Stilisierungen des Lebens „besteht“, wie etwa die typische Art, in der sich Betriebswirte kleiden, wie Seeleute ein Schiff steuern und sich auf Landgang begeben oder ein Arzt mit seinen Patienten umgeht. Es sind soziale Systeme, in denen gemeinsam einer ganz bestimmten Stilisierung des Lebens als Fokus der Nutzenproduktion nachgegangen wird, wie etwa die Raver-Szene der Jugendkultur oder die Szene der Schickeria, die sich im „Rossini“ trifft. Es gibt die kulturellen Milieus letztlich auch nur deshalb, weil sie den Akteuren in vielerlei Hinsicht wichtig sind, und sei es nur, um sich von anderen zu unterscheiden und darüber dann zu sozialer Wertschätzung zu gelangen oder die angestammte Nutzenproduktion durch „distinktive“ soziale Distanz vor unerwünschten Eindringlingen zu sichern.
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Szenen oder Milieus können natürlich auch solche sein, die in ihren Mitteln oder sogar in ihren Zielen illegitim oder wenigstens ungewohnt und neuartig sind. Zur Nutzenproduktion geschehen dann Dinge, die nicht mit den etablierten und anerkannten institutionellen Regeln vereinbar sind oder sogar auf deren grundlegende Änderung abzielen. Diese Bereiche bzw. sozialen Systeme sind die Devianz-Bereiche der Gesellschaft. In den devianten sozialen Systemen ist die Nutzenproduktion wenigstens im Vergleich zu den etablierten Regeln neuartig organisiert, wenn nicht schon so, wie es die Polizei nicht mehr erlaubt. Zu den den Milieus, die nur andere, neue und darunter dann auch illegitime Mittel pflegen, aber ansonsten mit den gesellschaftlichen Zielen übereinstimmen, zählen die diversen, mehr oder weniger: halbseidenen, Subkulturen, etwa die bestimmter sexueller Obsessionen, verpönter Arten der Lebensführung oder die der mehr oder weniger organisierten Kriminalität. Die inzwischen entstandenen ethnischen Gemeinden der Immigranten in vielen westeuropäischen Ländern können, wenn man sie als „neue“, aber in den übergreifenden Zielen durchaus konforme Elemente der jeweiligen Gesellschaft ansehen möchte, auch zu solchen Subkulturen gezählt werden. Milieus, die auch ganz andere als die gesellschaftlich etablierten Ziele anstreben, werden als Gegenkulturen bezeichnet. Ganz früher bildeten Häretiker und Eiferer solche Gegenkulturen, wie die Wiedertäufer in Münster. Sie wurden meist gnadenlos verfolgt. In der neueren Geschichte waren das einst die APO und später die RAF und einige „alternative“ oder „underground“-Milieus. Derzeit sind es etwa noch die Autonomen- oder die Glatzen-Szene, auf keinen Fall jedoch mehr die Grünen. Die Immigrantenmilieus hierzulande, die ethnischen Gemeinden und ethnischen Assoziationen, sind, bis auf kleine fundamentalistische Einsprengel, sicher auch keine Gegenkulturen, könnten es aber werden. Eine soziale Bewegung schließlich ist ein „dynamisches“ System des kollektiven Handelns von Akteuren, die ein bestimmtes „alternatives“ Interesse, eine bestimmte „alternative“ Zielsetzung, mindestens aber ein bestimmtes „alternatives“ Thema eint. Sie kommen in verschieden „radikalen“ Formen vor: als Initiative, als Protestbewegung, als Revolte oder als ausgewachsene Revolution, als Bewegung also, deren Ziel die Änderung der Grundverfassung der Gesellschaft ist. „Dynamisch“ sind die sozialen Systeme sozialer Bewegungen, weil sie darauf angelegt, ja darauf angewiesen sind, daß immer größere Teile der Bevölkerung davon erfaßt werden – bis das Ziel erreicht ist. Dann sterben sie sozusagen eines natürlichen Todes, wenn sie nicht schon vorher an Auszehrung eingegangen sind oder von der Gewalt des „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems abgewürgt wurden.
Gelegentlich wird über eine soziale Bewegung das, was zuerst Sub- oder gar Gegenkultur war, zu einem anerkannten und funktionalen, ja herrschenden Teil der Gesellschaft, wie das einst bei den „Protestanten“ und zuletzt bei den „alternativen“ Grünen der Fall gewesen ist. Dann hat sich die „Verfassung“ der Gesellschaft so geändert, daß die zuvor neuen, abweichenden oder gar illegitimen Mittel und Ziele zu etablierten kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln geworden sind. Die Unterteilung nach funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Devianz-Bereichen folgt der Art und der gesellschaftlichen Geltung der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen: In den funktionalen Sphären geht es um be-
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stimmte funktionale Oberziele oder funktionale Imperative, wie etwa die Güterversorgung oder die Sanktionierung von Normübertretungen, in den kulturellen Milieus um die Pflege gewisser Werte, Praktiken oder Lebensstile, um, wie wir sagen wollen, ganz spezifische kulturelle Fokalobjekte, und in den Devianz-Bereichen um die Etablierung entweder neuer institutionalisierter Mittel oder sogar neuer kultureller Ziele, um deviante Alternativen also. Die funktionalen Imperative, die kulturellen Fokalobjekte und die devianten Alternativen definieren die primären Zwischengüter der jeweiligen sozialen Systeme und damit die Codes der Orientierung und – indirekt – die Programme des Handelns dafür. Die Codes und Programme sind wiederum als Frames und Skripte in den kulturellen Systemen verankert, die die Akteure in ihrem Gedächtnis als mentale Modelle haben, die sie untereinander teilen, über die sie sich in ihren Orientierungen und in ihrem Handeln symbolisch und kommunikativ aufeinander beziehen – und darüber die sozialen Systeme „konstituieren“, sie von anderen sozialen Systemen in ihrem typischen „Sinn“ abgrenzen und von ihnen immer wieder neu selbst konstituiert werden.
2.2
Kollektive und Akteurskonstellationen
Aus der Art der Beteiligung der individuellen Akteure an der „Konstitution“ der sozialen Systeme lassen sich bestimmte Formen von Kollektiven oder von Akteurskonstellationen beschreiben, die teilweise wiederum soziale Systeme darstellen, teilweise aber auch nicht. Die wichtigsten Formen von Kollektiven bzw. Akteurskonstellationen sind soziale Kategorien, soziale Aggregate, kollektive Akteure und korporative Akteure. Unter sozialen Kategorien werden ansonsten unverbundene Mengen von Akteuren mit ähnlichen Eigenschaften, ähnlicher Ausstattung mit Ressourcen und ähnlichen Werten und Verhaltensweisen, kurz: mit einer ähnlichen gesellschaftlichen Lage verstanden (vgl. dazu noch Kapitel 4 dieses Bandes insbesondere). Alles, was geschieht, beruht allein auf den Eigenschaften oder den Entscheidungen der individuellen Akteure, ohne daß diese selbst irgendwie aufeinander Bezug nähmen. Wegen der Ähnlichkeit der Akteure in einer bestimmten Lage oder Kategorie kann man, wenn man einen „Typ“ von Akteur kennt, Aussagen über das Verhalten der Akteure in der gesamten restlichen Kategorie machen, wie etwa über das Wahlverhalten, wenn die Interessen und die Parteiidentifikation bekannt sind. Kategorial ähnliche Akteure werden daher auch als „anonyme Individuen“ bezeichnet und zu einem „Typ“, etwa dem einer bestimmten sozialen Klasse, zusammengefaßt.
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Soziale Aggregate sind demgegenüber Mengen von Akteuren, die miteinander durch gewisse äußerliche Beeinflussungen des Handelns oder der Eigenschaften der jeweils anderen Akteure verbunden sind, aber ansonsten nichts weiter miteinander zu tun haben, die sich also etwa nicht aneinander gedanklich orientieren oder miteinander kommunizieren. Beispiele für ein soziales Aggregat wären die oben beschriebenen Märkte, bei denen nur auf das „Angebot“ bzw. die „Nachfrage“ anderer anonymer Akteure reagiert wird, aber auch Systeme der Verbreitung von Informationen, Gerüchten, Neuerungen oder der Teilnahme an einer sozialen Bewegung einfach dadurch, daß die Akteure miteinander in Kontakt kommen und sich dabei „anstecken“. Für diesen Prozeß der Verbreitung durch Ansteckung sind vor allem die Verteilungen der „Anfälligkeiten“ bei den individuellen Akteuren – für die Annahme von Informationen, die Weitergabe von Gerüchten, die Übernahme von Neuerungen, die Beteiligung an einer Bewegung – wichtig. Daher ähneln die sozialen Aggregate noch stark den sozialen Kategorien. Es sind, sozusagen, durch einen dynamischen Anpassungs- oder Ansteckungsprozeß in Bewegung geratene soziale Kategorien. Kollektive Akteure sind dann Mengen von Akteuren, die in irgendeiner Weise schon „sozial“ koordiniert handeln und deshalb nach außen hin „wie ein Mann“ agieren. Die Besonderheit ist das Vorliegen irgendeiner Form des sozialen Handelns, sei es in Form eines strategischen Handelns, einer Interaktion oder einer sozialen Beziehung. Bei den kollektiven Akteuren lassen sich vier Unterformen unterscheiden: Koalitionen, Klubs, Bewegungen und Verbände (vgl. Scharpf 1997, S. 54 ff.). Das sind typische Konstellationen, die sich aus der Kreuzung von zwei Dimensionen ergeben: die Verschiedenheit oder Gemeinsamkeit der Interessen einerseits und die separate oder gemeinsame Kontrolle der Ressourcen andererseits. Koalitionen sind temporäre Verbindungen von Akteuren, die sich bei unterschiedlichen Interessen und separat kontrollierten Ressourcen zu einem gemeinsamen Tun verabredet haben. Die Handlungs- und Entscheidungsgrundlage sind bestimmte Abkommen oder (Koalitions-) Verträge. Und das Ziel ist die Verbesserung der jeweils eigenen Situation und die Durchsetzung bestimmter „privater“ Ziele mit Hilfe des Koalitionspartners, der diese Hilfe wiederum in seinem eigenen privaten Interesse anbietet. Bei Klubs haben die Mitglieder auch unterschiedliche Interessen, sie legen aber ihre Ressourcen zu einem gemeinsamen Tun mit einem spezifischen individuellen Ziel zusammen, weil dieses individuelle Ziel rein technisch nur in „Gemeinschaft“ erreicht werden kann – wie etwa Skat, Golf, Tennis oder Segelfliegen. Die Entscheidungen werden typischerweise über Abstimmungen bzw. Wahlen nach gewissen Regeln, etwa Mehrheitsentscheidung oder mit einem Vetorecht, getroffen. Und in den Genuß der Leistungen des Klubs kommen nur diejenigen, die Mitglied sind und ihren Beitrag erbracht haben. Bewegungen führen Akteure mit gemeinsamen Interessen und Zielen zusammen, aber ihre Ressourcen bleiben immer noch separat an die Individuen gebunden. Die Entscheidungsgrundlage ist der Konsensus, die Zustimmung zur Teilnahme. Daher ist das Hauptproblem bei Bewegungen, wie etwa bei Revolutionen, die Mobilisierung der Akteure mit einem zwar gleichen Interesse, aber unterschiedlichen Bereitschaften, sich zur Teilnahme zu entschließen. In Verbänden schließlich werden zur Beförderung eines
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übergreifenden kollektiven Interesses die Ressourcen zusammengelegt. Beispiele dafür wären Verbände, wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, oder die Parteien, die die Interessen eines Aggregates von Akteuren wahrnehmen sollen. Auch hier ist die Entscheidungsgrundlage die Wahl bzw. die Abstimmung. Der Unterschied zum Klub ist nicht nur der, daß beim Klub die Interessen separat, das meint: relativ „individuell“ und ideosynkratisch, sind, sondern daß das, was der Klub an „Gütern“ schafft, nur den Mitgliedern zugute kommt und vor allem, daß der Klub eine gewisse Größenordnung nicht überschreiten darf, soll das Klubziel nicht leiden: Ein zu großer Golfklub verliert seine Exklusivität, und man kann bei Überfüllung des Grüns nur noch schlecht Golf spielen. Man spricht bei solchen Gütern auch von Klubgütern. Bei einem Verband, aber auch bei einer sozialen Bewegung, ist das anders: Das Gut, das ein Verband oder eine Bewegung anstrebt, wie etwa Arbeitsplatzsicherung durch die Gewerkschaften, ein Preiskartell der Anbieter von Öl oder die Verhinderung einer neuen Landebahn durch eine Bürgerinitiative, gewinnt eher an Wert, wenn sich möglichst viele beteiligen; und gibt es das Gut, dann kann es niemandem vorenthalten werden, auch denen nicht, die sich an der Durchsetzung des gemeinsamen Interesses nicht beteiligt haben. Solche Güter werden auch als Kollektivgüter bezeichnet (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Korporative Akteure (oder: Korporationen) sind wiederum eine spezielle Art von kollektiven Akteuren bzw. einer Organisation. Die Besonderheit ist, daß sie ein Entscheidungszentrum, einen Prinzipal, und einen Sprecher, einen Agenten, haben. Dadurch wird es den korporativen Akteuren als „juristischen Personen“ möglich, sich exakt so wie eine „natürliche“ zurechnungsfähige Person, wie ein Subjekt also, zu verhalten. Die Entscheidungsgrundlage ist, wie in allen Organisationen, die Direktive „von oben“. Die kommt aufgrund von kollektiven Entscheidungen der Gesellschafter oder der privaten Entscheidungen des Besitzers zustande. Beispiele sind die großen Konzerne, bei denen das Entscheidungszentrum die Eigentümer bzw. die Aktionäre des Konzerns und das Sprachrohr der Sprecher des bestellten Vorstands sind, Klaus Esser für Mannesmann und seine Aktionäre also etwa. Auch die Bundesregierung ist in diesem Sinne ein korporativer Akteur mit dem Bundeskanzler und dem Regierungssprecher als Agenten und den Fraktionen der Regierungsparteien bzw., letztlich, der Wahlbevölkerung als Prinzipal. Korporative Akteure können folglich wie lebendige Menschen miteinander umgehen: Daimler-Benz warnt Bonn, die Steuerreform nicht länger hinauszuzögern, und Bonn antwortet, es lasse sich nicht von einem Global Player, aber auch nicht von der Straße, unter Druck setzen. Die korporativen Akteure können also handeln wie Menschen, sind aber gleichwohl sehr von ihnen verschieden: Sie sind unsterblich, und es gibt in ihrem Inneren zwingend einen Identitätskonflikt, den Menschen so nicht unbedingt haben müssen: der Interessengegensatz zwischen dem Prinzipal, der den Gewinn des Unternehmens und darüber seine Rendite maximieren möchte, und dem Agenten, der sein Gehalt mit möglichst wenig Aufwand verdienen möchte und an der Rendite des Prinzipals nur ein abgeleitetes Interesse hat.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine weitere Systematik Soziale Kategorien, soziale Aggregate, kollektive Akteure und korporative Akteure lassen sich, wie man leicht sieht, auf eine einfache Weise ordnen. Soziale Kategorien als unverbundene Mengen von Akteuren mit gleichen Eigenschaften bilden sich alleine schon aufgrund von gemeinsamen gesellschaftlichen Lagen, wie dies etwa das Geschlecht, die Zugehörigkeit zu einer Alterskategorie oder die Ausübung eines bestimmten Berufes wäre. Auch die Akteure in den sozialen Aggregaten befinden sich in typischen gesellschaftlichen Lagen, aber es kommen gewisse kausale Beeinflussungen durch das Agieren der Akteure hinzu. Bei den kollektiven Akteuren gibt es zusätzlich verschiedene Arten des sozialen Handelns: Die Akteure werden nicht nur von außen „angestoßen“, sondern nehmen – mehr oder weniger bewußt – aufeinander gedanklich Bezug und handeln in dem – mehr oder weniger ausgeprägten – Wissen, daß das Ergebnis des Handelns von dem Handeln der anderen Akteure abhängt. Die korporativen Akteure können zusätzlich sogar wie Subjekte agieren, wobei sie sich in ihrem Innern in verschiedene Kategorien – Prinzipal und Agent zum Beispiel – unterteilen, und alles mögliche an kausaler Beeinflussung und sozialem Handeln stattfindet. In Abbildung 2.2 ist diese Systematik zusammengefaßt.
Lage
Beeinflussung
soziales Handeln
Soziale Kategorie
x
Soziales Aggregat
x
x
Kollektiver Akteur
x
x
x
Korporativer Akteur
x
x
x
Subjekt
x
Abb. 2.2: Die Systematik von sozialen Kategorien, sozialen Aggregaten, kollektiven Akteuren und korporativen Akteuren.
Wenn soziale Systeme als Prozesse des – materiell und/oder symbolisch – aneinander anschließenden Handelns von Akteuren verstanden werden, dann sind die sozialen Kategorien keine sozialen Systeme: Alles, was geschieht, passiert ohne jede „soziale“ Koordination und ohne jeden weiteren kausalen,
Akteure und soziale Systeme
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sozialen oder kommunikativen „Anschluß“ an das Handeln anderer Akteure. Das Ganze ist hier exakt gleich der Summe der Eigenschaften oder Entscheidungen der Teile. Soziale Aggregate, kollektive Akteure und korporative Akteure sind dagegen soziale Systeme: Es gibt sie nur in einer – wie auch immer gearteten, sozialen oder auch nicht-sozialen – Einwirkung der Akteure aufeinander. Und nur diese Kollektive bzw. Akteurskonstellationen können daher als Märkte, Assoziationen oder Organisationen, als funktionale Sphären, kulturelle Milieus oder Devianz-Bereiche unterschieden werden. Soziale Kategorien sind bloße Mengen von Akteuren, deren „Verhalten“ alleine davon abhängt, was die Akteure jeweils ganz privat für sich tun.
2.3
Das System der Gesellschaft
Die Gesellschaft ist auch ein soziales System, ein ganz besonderes sogar (vgl. dazu schon Teil F der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ ausführlich). Sie bildet den weitesten materiellen, institutionellen und kulturellen Rahmen des Handelns und seines Sinns sowie des „Prozessierens“ der vielen von ihr umschlossenen sozialen Systeme. Sie gleicht einer Organisation dadurch, daß ihre Grenzen oft formell durch die Grenzen der Geltung ihrer jeweiligen staatlichen Verfassung festgelegt sind. Und sie hat Ähnlichkeit mit einem Markt insofern als die vielen sozialen Systeme, aus denen sie „besteht“, als ein gigantisches Geflecht von Angebot und Nachfrage für bestimmte Nutzenproduktionen verstanden werden können, die sich in einem umfassenden Gleichgewicht befinden. Die Organisation der Nutzenproduktion ist auch in den einfachsten Gesellschaften keine Angelegenheit, in der jeder das gleiche tut oder jeder das gleiche erhält. Arbeitsteilung, etwa, und unterschiedliche Haltungen, Praktiken und Stile des Handelns gibt es praktisch in jeder Gesellschaft, gewiß auch Devianz-Bereiche, wie etwa die Prostitution. Gesellschaften unterscheiden sich typischerweise darin, wie unterschiedlich die von ihr umschlossenen sozialen Systeme sind, nach welchen Prinzipien diese Unterschiedlichkeit aufgebaut ist und wie sich die Bevölkerung der Gesellschaft darin anordnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 9, insbesondere aber Abschnitt 9.2, dieses Bandes). Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit Zwei Aspekte der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften sind besonders wichtig: Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die soziale Diffe-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
renzierung einer Gesellschaft bezieht sich auf die Arten und die Unterschiedlichkeit der sozialen Systeme (vgl. dazu noch Kapitel 3 dieses Bandes ausführlich). Beispielsweise: Gibt es nur Dörfer oder auch schon Städte, die auf die umliegende Landwirtschaft angewiesen sind? Gibt es ein Gesundheits- und ein Bildungswesen, das allen offensteht, oder nicht? Finden Familienleben und Erwerbsarbeit an einem Ort statt oder sind sie als soziale Systeme getrennt? Gibt es nur eine kulturell einheitliche Form des Lebens oder handelt es sich um eine multikulturelle Gesellschaft mit vielen verschiedenen Werthaltungen und Lebensstilen? Existieren Subkulturen, in denen Verbotenes geschieht, oder gar Gegenkulturen, in denen der Umsturz der Gesellschaft geplant wird? Die soziale Ungleichheit verweist demgegenüber auf die Unterschiedlichkeiten in typischen gesellschaftlichen Lagen, in die die Akteure in der betreffenden Gesellschaft kommen können, und darüber dann auf die typischen sozialen Kategorien von Ähnlichkeiten in den gesellschaftlichen Lagen, in die sich die Bevölkerung einer Gesellschaft unterteilt: in Männer und Frauen, Arme und Reiche, Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, Ausländer und Einheimische, Katholiken und Protestanten, Materialisten und Postmaterialisten, Traditionalisten und Hedonisten – oder irgendeine beliebige Kombination davon, zum Beispiel. Die wichtigsten Formen der sozialen Ungleichheit sind die sozialen Klassen, die Stände und die Kasten, die verschiedenen sozialen Schichten und – neuerdings – die sog. Lebensstilgruppen (vgl. dazu noch Kapitel 4 dieses Bandes ausführlich). Die soziale Differenzierung ist also, wenn man so will, die Ungleichheit der sozialen Systeme, die soziale Ungleichheit die der Akteure einer Gesellschaft. Zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit bestehen indessen enge Beziehungen: Die soziale Ungleichheit bezeichnet das Muster typischer Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage von typischen Kategorien von Akteuren, wie sie sich vor allem aus den Mitgliedschaften und Beteiligungen der Akteure an den verschiedenen sozialen Systemen ergeben. Es geht um den Einbezug oder die Ausgrenzung, um die Inklusion bzw. die Exklusion der Akteure in bestimmte bzw. aus bestimmten sozialen Systemen (vgl. dazu noch Kapitel 5 in diesem Band): Ein hohes Einkommen hat jemand, weil er einen guten Job in einem Unternehmen ausübt, und den hat er nur bekommen, weil er vorher das soziale System der Bildungseinrichtungen erfolgreich durchlaufen hat. Und obdachlos wird jemand, der als Minderqualifizierter aus dem inzwischen sehr „schlanken“ sozialen System der Wirtschaft herausgeflogen ist, deshalb seine Miete nicht mehr bezahlen kann, und auch nicht mehr dem sozialen System einer unterstützenden Familie angehört, weil sich seine vermögende Gemahlin von ihm hat scheiden lassen. Und je
Akteure und soziale Systeme
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nach der empirischen Verteilung der Akteure einer Bevölkerung auf die verschiedenen gesellschaftlichen Lagen ergeben sich die sozialen Kategorien und daraus das Muster der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft – etwa die Verteilung nach reich und arm, nach der Vorliebe für Heino oder für Guildo, nach Gesetzestreue oder nach Subversion. Die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale Ungleichheit der Kategorien der Akteure sind die beiden wichtigsten Aspekte der sozialen Struktur des Systems einer Gesellschaft (siehe dazu dann noch die Übersicht in Abschnitt 9.1 in diesem Band). Systembeziehungen Die Akteure und die verschiedenen Kollektive der Gesellschaft, die sozialen Kategorien und die sozialen Systeme, „komponieren“ und aggregieren sich also auf unterschiedliche Weise zu einem „Ganzen“. Und natürlich gibt es auch Beziehungen der Akteure zueinander und zu den sozialen Systemen und der sozialen Systeme untereinander, wie etwa die des Tausches, die der Mitgliedschaft in einem Verein oder die der Abgrenzung etwa der Sphäre der Familie von der des Rotlichtmilieus. Fünf Arten der Bezugnahme der Systeme einer Gesellschaft aufeinander seien auseinandergehalten: die System-Abgrenzung, die System-Inklusion (bzw. komplementär dazu: die System-Exklusion), die System-Relation, die System-Durchdringung und die System-Aggregation. System-Abgrenzung Die System-Abgrenzung beschreibt die typischen inhaltlichen Besonderheiten der verschiedenen Systeme und damit ihren jeweils typischen, einzigartigen und unverwechselbaren „Sinn“ und inhaltlichen Beitrag bei der Konstitution des Gesamtsystems, etwa einer Gesellschaft. Diese Abgrenzung ist also auf eine ganz unspezifisch bleibende Umwelt bezogen. Die individuellen Akteure (bzw. die psychischen Systeme) grenzen sich von ihrer – wie auch immer gearteten – „Umwelt“ durch ihren motivationalen, kognitiven und auf das Handeln bezogenen Beitrag ab, durch Bewußtsein und Handeln also. Und die verschiedenen sozialen Systeme, sozusagen der „Rest der (Um-)Welt“, wenn wir hier einmal von den materiellen Umwelten absehen, gewinnen ihre Grenzziehung durch die jeweils geltende typische soziale Produktionsfunktion, durch die primären Zwischengüter, die kulturellen Ziele, den jeweils zentralen Code also, der das Handeln und die Kommunikationen im Geltungsbereich des jeweiligen sozialen Systems bestimmt: die Wirtschaft über den Code der Güterproduktion und der Verteilung, das Milieu der Guildo-Horn-Szene über das Kultobjekt Guildo Horn oder die Bewegung der militanten Tierschützer über die Radikalisierung der Tierliebe. Und genauso
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Die Konstruktion der Gesellschaft
grenzen sich auch die kulturellen Systeme ab: über die in den Gehirnen der Akteure gespeicherten und sozial geteilten mentalen Modelle des Bewußtseins und des Handelns für die verschiedenen Situationen mit ihren jeweils typischen Codes und Programmen, die mit den Codes der betreffenden sozialen Systeme korrespondieren.
Die System-Abgrenzung bezeichnet also das, was das betreffende System von allen anderen unterscheidet: Das Bewußtsein und das Handeln trennen die psychischen Systeme der Akteure von den sozialen Systemen, weil soziale Systeme nicht selbst fühlen, denken und handeln können. Und die Codes der sozialen Produktionsfunktionen trennen die sozialen und die kulturellen Systeme voneinander nach dem jeweils typischen sozialen „Sinn“, der in ihnen herrscht, der zur Nutzenproduktion verlangt wird und bestimmt, was jeweils von und im betreffenden System überhaupt als relevant oder auch nur sinnvoll „verstanden“ wird. System-Inklusion Die verschiedenen, jeweils durch ihren typischen „Sinn“ abgegrenzten Systeme stehen natürlich auch als zu ihrer „Umwelt“ abgegrenzte Systeme nicht isoliert da, sondern bilden füreinander gegenseitig sich ermöglichende, stützende und begrenzende Umgebungen. Sonst gäbe es keine Gesellschaften und keine Menschen. Die einfachste Art der Bezugnahme der Systeme aufeinander ist die System-Inklusion. Die System-Inklusion (oder einfach: Inklusion) ist mit der Mitgliedschaft des einen in dem anderen System definiert. Diese Mitgliedschaft wird gelegentlich auch als Status bezeichnet. Mitgliedschaften in sozialen Systemen sind leicht vorstellbar für Akteure, die etwa eine Position in einer Behörde bekleiden, ins Fitneßstudio gehen oder sich nächtens in einer zweifelhaften Rotlichtszene, etwa in Saarbrücken, herumtreiben. Aber natürlich können auch soziale Systeme wiederum Mitglieder anderer sozialer Systeme sein: Die Bundesländer sind „Teile“ der Bundesrepublik, und die ist wiederum Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Durch die Mitgliedschaft der Systeme in anderen Systemen entstehen bestimmte Konfigurationen, Muster oder gesellschaftliche Lagen, die ihrerseits wieder soziale Kategorien erzeugen: Ähnlichkeiten in Mitgliedschafts- bzw. Statuskonfigurationen. Formal können – mindestens – drei Arten der System-Inklusion unterschieden werden: die Konzentration, die Segmentation und die Kreuzung. System-Inklusion in der Form einer Konzentration liegt dann vor, wenn ein System komplett Teil eines anderen Systems ist und wenn die Vorgaben der Systemzugehörigkeiten alle in die gleiche Richtung weisen. Es ist die Inklusion der Systeme (einschließlich jener Systeme, die wir als menschliche Akteure bezeichnen) in Kollektive bzw. soziale Systeme, die wiederum Teile umfassenderer sozialer Systeme sein können. Es sind die „konzentrischen Kreise“ nach
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Georg Simmel. Ein Beispiel dafür wären Priester und Gläubige in einer katholischen Kirchengemeinde, die Teil eines Dekanates ist, das selbst einem Bistum zugehört ... bis zum allumfassenden Rahmen der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche mit dem Papst an der Spitze, der sozusagen der Repräsentant der konzentrischen System-Inklusion der Kirche in noch weitere, unfaßbare, Sphären ist. Alles, was von ganz oben kommt, wird ganz ungebrochen nach unten weitergereicht und dort klaglos akzeptiert, weil immer die gleiche „Systemlogik“ gilt: der Glaube an die Heilige Römisch-Katholische Kirche, an die Unfehlbarkeit des Papstes und an den Allmächtigen, der alles lenkt. Eine Segmentation der System-Inklusion gibt es, wenn sich die Mitgliedschaften der Untereinheiten auf genau ein System beschränken, wie das bei Klöstern, Eifeldörfern oder Stämmen der Fall ist: Jeder Akteur gehört immer nur dem betreffenden Kloster, Eifeldorf oder Stamm an – und sonst keinem anderen sozialen System (wenn man einmal davon absieht, daß in Klöstern, Eifeldörfern und Stämmen es sicher auch noch eine Reihe verschiedener sozialer Systeme gibt). Die Inklusion in ansonsten getrennte konzentrische Kreise wäre natürlich auch ein Fall einer solchen Segmentation. Christen segmentieren sich in dieser Weise von den Muslimen, das Dorf Kall in der Eifel von dem Dorf Much gleich nebenan und die Flamen von den Wallonen in Belgien – und die verschiedenen sozialen Systeme haben jeweils ihre Mitglieder ganz exklusiv für sich. Ein wichtiger Spezialfall der Segmentation von Systemen ist die Ko-Existenz von getrennt existierenden und selbstgenügsamen sozialen Systemen. Ein Beispiel dafür wäre die Koexistenz von Dörfern, Stämmen und Regionen im Rahmen eines Nationalstaates, wobei die Dörfer, Stämme und Regionen jeweils für sich als selbstgenügsame Systeme existieren. Auch hier wären die einzelnen Akteure Mitglieder in einem System konzentrischer Kreise: Jeder ist Bewohner nur eines Dorfes, das Teil nur eines bestimmten Stammes ist, der selbst wieder nur zu einer bestimmten Region gehört. Von einer Kreuzung der System-Inklusionen, von der „Kreuzung der sozialen Kreise“ mit Georg Simmel gesprochen, ist schließlich dann die Rede, wenn eine Untereinheit, wieder im einfachsten Fall ein individueller Akteur, Mitglied in mehreren sozialen Systemen, die nicht wiederum bloß (echte) Teilmengen bilden, gleichzeitig ist: Herr Schmitz ist etwa Familienvater, Angestellter in der Stadtverwaltung, Gewerkschaftsmitglied und Kassierer des CDU-Ortsverbandes in seinem Stadtteil und als solcher Mitglied und Teil der Systeme Familie, Stadtverwaltung und Partei – gleichzeitig. Wenn die Anforderungen aus den verschiedenen Mitgliedschaften von ihrer jeweiligen Systemlogik her in die gleiche Richtung weisen, sind sie in ihrer Wirkung auf die Orientierungen und das Handeln kongruent oder konsistent. Eine solche Kongruenz der Mitgliedschaften bzw. des Status gibt es beispielsweise bei dem Gewerkschaftler, der auch noch SPD-Mitglied ist, oder bei dem selbständigen Liberalen. Man spricht auch von Statuskongruenz, Statuskonsistenz oder Statuskristallisation. Die Konzentration wäre damit ein Spezialfall der Kreuzung der sozialen Kreise: die Zugehörigkeit zu mehreren, sich als Teilmengen kreuzenden Systemen bei Kongruenz der Anforderungen. Gehen die Systemlogiken in verschiedene Richtungen, dann liegt entsprechend eine Inkongruenz der Mitgliedschaften bzw. der System-Inklusion bzw. eine Statusinkonsistenz oder Statusinkongruenz vor. Bei Herrn Schmitz wäre das insofern der Fall, als er Gewerkschaftsmitglied und CDU-Aktivist gleichzeitig ist. Und das verträgt sich immer noch nicht so gut wie eine Kombination von SPD-Mitgliedschaft und Gewerkschaft. Über solche Kreuzungen der System-Inklusionen in soziale Kreise, deren Anforderungen sich widersprechen, geraten die Akteure u.U. in ganz spezielle gesellschaftliche Lagen mit glegentlich stark divergierenden und inkongruenten Orientierungen und Vorgaben für das Tun. Vielleicht ist der betreffende Akteur sogar der Einzige, der gerade diese Kombination von Mitgliedschaften aufweist und der diese besondere gesellschaftliche Lage mit ihren Widersprüchen und die damit verbundenen Spaltungen seiner Identität mit niemandem anderen teilt. Und dadurch glaubt er möglicherweise, daß er ein ganz einzigartiges „Individuum“ wäre, das alle Konflikte alleine in sich austrägt. Tatsächlich bezieht Herr Schmitz, zum Beispiel, jedoch diese Individualität alleine durch die besondere Kreuzung seiner Zugehörigkeiten zu sozialen
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Das gilt etwa für die Erklärung des Wahlverhaltens allein schon als Folge der politischen Interessenlage der Akteure, die sich beispielsweise daraus ergibt, daß sie selbständig oder Sozialhilfeempfänger sind, für die Erklärung der Unterbeteiligung von Frauen an Führungspositionen durch ihre in der Regel immer noch besondere familiäre Position oder für die Erklärung des Anstiegs der Scheidungsraten als einfache Aggregation des (zeitweisen) Ausstiegs aus dem sozialen System der Ehe, weil die individuellen Akteure mehr und mehr Alternativen zu einer schlechten Ehe haben.
Eine soziale Klasse ist, so gesehen, nur ein Spezialfall der System-Inklusion von Akteuren, einer dadurch erzeugten gesellschaftlichen „Stellung“ und sozialen Kategorie von Akteuren mit typischen Interessen und einer typischen Kontrolle von Ressourcen. Und die sog. Klassenanalyse ist nichts anderes als die Vorhersage eines an die gesellschaftliche Lage anknüpfenden typischen Handelns und dadurch bewirkter typischer kollektiver Folgen. Die VariablenSoziologie, gerade auch die in der Form der Kontext- und Mehrebenenanalyse, geht ebenfalls so vor (vgl. dazu bereits Kapitel 10 bis 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Sie beschreibt über die sog. sozial-demographischen Variablen und Kontexte typische Mitgliedschaften und Statuskonfigurationen, darüber typische gesellschaftliche Lagen der Akteure und versucht darüber dann möglichst viel an „Varianz“ in einem bestimmten Handeln zu erklären. System-Relationen System-Relationen bezeichnen dann die, neben der System-Inklusion möglichen, zahllosen anderen Arten von „Beziehungen“ zwischen Akteuren, Gruppen, Netzwerken, Organisationen, Gesellschaften und so weiter, von denen in der Soziologie überreichlich die Rede ist: Bekanntschaften, Informationsflüsse, Interdependenzen, strategisches Handeln, Interaktionen, KoOrientierungen und Kommunikationen, soziale Beziehungen, Rollenmuster, Transaktionen, Macht, Herrschaft und Beeinflussungen aller Art. System-Durchdringung Als System-Durchdringung (oder „Interpenetration“) wird – ganz allgemein – die gegenseitige „Durchdringung“ von Systemen bezeichnet. Das ist etwas anderes als eine System-Relation, bei der die Systeme sich nicht „durchdringen“, sondern als in ihrem „Sinn“ strikt abgegrenzte Einheiten in Beziehungen zueinander stehen, etwa die des Tausches. Drei Bedeutungen des Begriffs
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Die Konstruktion der Gesellschaft
der Interpenetration finden sich in der Soziologie: die Überschneidung der Systeme, ihre Ko-Konstitution und die Fusion der Handlungsvorschriften von im „Sinn“ an sich verschiedenen Systemen. Die wechselseitige Überschneidung der Systeme ist nur ein Spezialfall der o.a. SystemInklusion: Die Akteure bzw. Untersysteme gehören verschiedenen sozialen Systemen bzw. Obereinheiten an. Dadurch kommt es zu „Kreuzungen“ auch in den Orientierungen und den daran anschließenden Handlungen, was dann als Inter-„Penetration“ bezeichnet wird. Die KoKonstitution bezeichnet den allgemeinen, oben bereits angesprochenen und noch ausführlich zu behandelnden Vorgang, daß sich die Systeme gegenseitig anregen, irritieren, aufbauen und begrenzen und so in ihrer Existenz ermöglichen. Die Fusion schließlich bezieht sich auf die Inhalte der „Programme“ in den kulturellen Systemen, nach denen sich die Akteure in den jeweiligen sozialen Systemen bei ihrem Handeln richten. Denn: Zwar sind die sozialen und die kulturellen Systeme immer durch den Code der Orientierung getrennt, nicht aber unbedingt auch in den Programmen des Handelns. Ein Hausbesitzer kann, obwohl im sozialen System der Wirtschaft handelnd, aus Menschenfreundschaft durchaus einem armen Teufel die Miete erlassen – und damit, wennzwar immer noch im Code der Zweckrationalität, in seinem Handeln ein wenig Mildtätigkeit zeigen. Und der an sich mittellose und bedauernswerte Mieter tut gleichwohl alles, um seinen Zahlungen nachzukommen, um ja nicht das Mitleid des anderen zu bemühen. Wenn solche „Überschneidungen“ von „Fremd“-Sinn in den Programmen der kulturellen Systeme für die jeweils immer natürlich getrennten sozialen Systeme auch institutionell verankert sind, wenn sie also tatsächlich zum „Programm“ der sich „durchdringenden“ Systeme gehören, dann liegt die gemeinte Fusion vor. Es wird vermutet daß diese Art der Interpenetration als – institutionell abgesicherte oder kulturell verankerte – Fusion von Programminhalten an sich getrennter Codes von Systemen eine Bedingung der Integration funktional differenzierter Gesellschaften sei, in denen durch die Fusion der Programme die Radikalisierung des jeweiligen System-Sinns gebremst werde (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 unten in diesem Band).
Man sieht leicht: Überschneidung, Ko-Konstitution und Fusion bezeichnen jeweils etwas ganz anderes. Solange sich die Soziologie nicht einigen kann, was sie unter Interpenetration verstehen möchte, müssen wir für die offenbar unterschiedlichen Sachverhalte natürlich unterscheidbare Worte einführen. System-Aggregation System-Aggregationen beschreiben dann – ganz allgemein – die besondere Art, wie sich ein bestimmtes System durch das Zusammenspiel von SystemAbgrenzungen, System-Inklusionen, System-Relationen und SystemDurchdringungen, letztlich aber natürlich nur als Folge des, wie auch immer aufeinander bezogenen Handelns von Akteuren, „konstituiert“, etwa eine soziale Bewegung als Ansteckungsprozeß, ein Markt als Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage, eine Verhandlung als Interaktion zwischen Akteuren,
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die nach einem Kompromiß suchen, ein Mittagessen als eingespieltes Ritual von einander gut bekannten Personen oder das kulturelle System einer Gruppenidentität als Ergebnis eines Prozesses der Verfestigung von Erwartungen durch vorausgegangene Interaktionen, etwa bei Soldaten im Schützengraben, die sich gegenseitig nach einiger Zeit als „Kameraden“ sehen, obwohl sie vorher nichts miteinander zu tun hatten. System-Aggregationen sind meist weit mehr als jene einfache „Summe“ der Teile, die für die System-Inklusion kennzeichnend war. Wir können die verschiedenen System-Relationen und die daran anschließenden komplexeren System-Aggregationen der Teile zu einem Ganzen hier nicht alle aufführen. Das ganze Buch handelt davon in allen seinen sechs Bänden. Nur eines ist an dieser Stelle noch wichtig: Es können grundsätzlich alle Arten von sozialen Systemen untereinander und mit individuellen Akteuren in Beziehung kommen. Beispielsweise: Einzelpersonen können von VW ein Auto kaufen, das die Produktionsarbeiter angefertigt haben, und VW kann versuchen, sich der Besteuerung seiner Gewinne durch das Finanzamt zu entziehen, worüber dann der Ministerpräsident von Niedersachsen mit dem Vorstandssprecher von VW beim Opernball in Wien ein paar nette Worte wechselt und damit den Standort Deutschland im Rahmen der Globalisierung sichert. Und zum Opernball ist der Ministerpräsident gekommen, weil er und seine (zeitweilige) Gattin seit langem gut mit den Spitzen der Wirtschaft aus der Sauna bekannt waren und weil alle dachten, daß der gemeinsame Besuch des Opernballs mit dem Learjet der Firma eine gute Gelegenheit zur Erzeugung von physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung auch im Interesse des Wohlergehens der Gesellschaft sein könnte. In Köln nennt man diese Form der System-Aggregation Klüngel, im Ruhrgebiet Filz, im Süden Vetterleswirtschaft. Inzwischen hat es sogar einen Namen: das System Kohl. In den vornehmeren Versionen der Sozialwissenschaft kennt man kein knappes Wort dafür und hat deshalb den umständlichen Ausdruck „informal governance structure“ erfinden müssen.
Das aggregierte Ergebnis hängt auch in sehr weitreichenden Konsequenzen oft von nahezu unmerklich kleinen Umständen und sogar vom Zufall ab, etwa ob ein Attentat wirklich erfolgreich ist oder nicht und damit die gesamte Weltgeschichte einen anderen Verlauf nimmt, beispielsweise weil der Attentäter bei der Schärfung der Sprengsätze gestört wurde und nur einen Sprengsatz in Gang setzen konnte, der dann für das angestrebte Ziel nicht ausreichte. Oft ist das Ergebnis aber auch gegen deutliche Schwankungen der Umstände unempfindlich, wie etwa dann, wenn eine Revolution einmal in „Bewegung“ geraten ist und niemand, auch kein Kaiser Wilhelm, sie mehr aufzuhalten vermag. Die Gesellschaft als Mehrebenen-System Alle sozialen Systeme „bestehen“ letztlich nur über die Beiträge individueller Akteure zu ihrem Prozessieren. Insofern sind soziale Systeme notwendigerweise Mehrebenen-Systeme mit (mindestens) einer Mikro- und einer Makro-
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Ebene (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Akteure sind – als psychische Systeme – die immer beteiligten Mikro-Elemente, die ja erst durch ihren Beitrag das aggregierte Makro-Phänomen einer Zusammenkunft konstituieren. Alle sozialen Systeme sind in diesem Sinne also immer schon „Makro“-Systeme. Die sozialen Systeme selbst können nun wiederum in weitere MakroEbenen sozialer Systeme eingebettet, im einfachsten Fall also: inkludiert, sein. Zusammenkünfte, Gruppen und Organisationen gibt es zum Beispiel immer nur im „Kontext“ des sozialen Systems einer Gesellschaft. Solche Zwischenstufen zwischen der Mikroebene der Akteure (oder „kleiner“ Sozialsysteme wie Familien, Gruppen oder Dörfer) und einer weiter gezogenen Makroebene als „Kontext“ sind nicht selten, wie bei der Katholischen Kirche mit den Dekanaten und Bistümern als Ebenen zwischen den Gläubigen und den Priestern einerseits und der allumfassenden Kirche andererseits; oder wie bei der SPD mit den Ortsvereinen, Unterbezirken und Bezirken als Ebenen zwischen den einfachen Parteimitgliedern und der Bundespartei mit dem Bundesvorstand und Rudolf, Oskar oder Gerhard an der Spitze. Die Systeme, die diese Zwischenstufe zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und irgendeinem Makro-System ausmachen, bilden die sog. Meso-Ebene. Auch das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft oder eines anderen sozialen Gebildes kann ganz unterschiedlich und ganz verschieden komplex sein. Drei Formen von Mehrebenensystemen lassen sich vor diesem Hintergrund unterscheiden: Die Mehrebenen-Inklusion, die Mehrebenen-Organisation und die Vermittlungs-Netzwerke. Die Mehrebenen-Inklusion ist, ganz in Entsprechung zur oben behandelten System-Inklusion, die einfache Mitgliedschaft der „Mikro“-Einheiten in die weiter gezogenen Systeme einer Makroebene, ohne daß es außer der bloßen Bildung von größeren Einheiten noch eine weitere Organisation oder Aggregation der Systeme gäbe. Familien bilden auf diese Weise Verwandtschaften, die wiederum aggregieren sich zu Clans, und daraus setzt sich dann ein Stamm zusammen; Schüler sind Mitglieder von Schulklassen, die wiederum sind Teile von Schulen, die ihrerseits einem Schuldistrikt in einem bestimmten Bundesland zugehören; Dörfer und Städte sind Teile von Regionen, die wieder Teile von Nationen und die wiederum Teile von transnationalen Organisationen. Die Besonderheit ist, daß es sich nur um eine einfache Aggregation von Teilen zu einem Ganzen handelt, wobei jedoch die Mitgliedschaften der Teile in unterschiedlichen Obereinheiten durchaus Folgen für deren Handeln haben können. Die in Kapitel 11 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ besprochene Kontext- und Mehrebenenanalyse geht von diesem Konzept der Mehrebenen-Inklusion aus. Die Mehrebenen-Inklusion ist also, wie man sieht, nur ein Spezialfall der System-Inklusion: Das Ganze ist die Summe seiner Teile. Sonst nichts. Eine MehrebenenOrganisation ist „mehr“ als die bloße Summe ihrer Teile. Es sind Fälle von SystemRelationen. Dabei bilden die Untereinheiten im Rahmen und zusammen mit der Obereinheit ein neues und eigenständig operierendes soziales System, beispielsweise einen Betrieb mit seinen Unterabteilungen und informellen Gruppen, in denen die Personen agieren, einen Verband, der seine Mitglieder in der Bonner bzw. Berliner Lobby vertritt, oder die Europäische
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Union mit ihren Mitgliedstaaten und deren (jeweils wohl wechselnden) Koalitionen gegen „Brüssel“. Bei den Mehr-ebenen-Organisationen lassen sich drei Typen von SystemRelationen unterscheiden: die hierarchische Organisation, die genossenschaftliche Organisation und die Vermittlungs-Netzwerke. Bei der hierarchischen Mehrebenen-Organisation beruhen die Beziehungen der verschiedenen Ebenen auf vertikal bindenden Weisungsbefugnissen „von oben nach unten“, wie etwa bei einer Behörde oder bei einer militärischen Einheit. Die genossenschaftliche Mehrebenen-Organisation erfolgt dagegen über horizontale Koordinationen und über die Delegation von Befugnissen und deren Repräsentation „von unten nach oben“. Vermittlungs-Netzwerke sind eine Art von Kombination der hierarchischen und der genossenschaftlichen Mehrebenen-Organisation: mehr oder weniger lockere Verbünde, bei denen es über informelle Koalitionen, gute Bekanntschaften, eingeschliffene Praktiken, Verhandlungen, Kompromisse, Absprachen und zahlreiche Tauschgeschäfte zu einer Vermittlung der Interessen der jeweils vertretenen „unteren“ Ebene mit der „oberen“ Ebene kommt. Die Vertreter der Verbünde interagieren dabei häufig alsbald auch auf der ganz persönlichen und privaten Ebene. Und es stellen sich rasch auch jene Verhältnisse ein, die wir oben mit Filz, Klüngel oder informal governance structure bezeichnet haben. Man muß diese Verflechtungen, Koalitionen und, wie sie auch genannt werden, „Policy-Netzwerke“1 wegen ihrer integrativen Vermittlungsfunktionen keineswegs immer nur mit Besorgnis wahrnehmen. Anlaß zur Besorgnis gibt es erst dann, wenn die beteiligten Verbände und Korporationen nur noch als „Lobbyisten“ ihrer Sache auftreten, egoistisch ihren kurzfristigen Vorteil suchen und sich nur noch zu dem Zweck zusammenfinden, bei der Verteilung des andernorts produzierten gesellschaftlichen Reichtums selbst möglichst gut wegzukommen.
Die Verbände und korporativen Akteure auf der Meso-Ebene, die die Interessen der individuellen Akteure bündeln, nach außen vertreten und bei den gesellschaftlichen Entscheidungsinstanzen zu artikulieren und durchzusetzen versuchen, wie die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder die sog. gesellschaftlich relevanten Gruppen,wie die Kirchen oder der Deutsche Fußballbund, werden zusammenfassend auch als intermediäre Instanzen bezeichnet. Sie vermitteln zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und der Makro-Ebene etwa des politischen Systems. Eine solche (neo– )korporatistische Mehrebenen-Organisation der Gesellschaft leistet, wie vermutet wird, in den modernen Gesellschaften einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung und zum Ausgleich der Interessen und trägt so zu deren Integration bei. Die wichtigsten Voraussetzungen für diese Vermittlungsleistung sind die Eigenständigkeit, die Pluralität und die Kreuzung der sozialen Kreise bei den intermediären Instanzen. Nur so kommt es zu einer „wirklichen“ Interessenvermittlung, und nicht, wie in der guten alten DDR, bloß zu einem Abblo1
Vgl. Renate Mayntz, Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Renate Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen, Frankfurt/M. und New York 1997, S. 239-262; Renate Mayntz, Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank, Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 22f.
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cken der Wünsche von unten und einem Abnicken der Entscheidungen von oben. Daher sind für diese Funktion allenfalls die genossenschaftliche Mehrebenen-Organisation, besonders aber die Vermittlungs-Netzwerke geeignet, keinesfalls jedoch die der hierarchischen Mehrebenen-Organisation. Vielleicht spielt dabei auch die kulturell eingespielte Fusion in den Handlungsprogrammen eine Rolle, mit denen die Vertreter der intermediären Instanzen miteinander umgehen – und deshalb auch bei allen Interessengegensätzen, fernab von Frau und Kind, in Brüssel oder sonstwo gelegentlich die Sauna gemeinsam besuchen. Gesellschaft und Weltgesellschaft Gesellschaften sind allesamt als Mehrebenen-Systeme mit meist mehreren Ebenen auf der Meso-Ebene aufgebaut, oft auch wie ein korporativer Akteur – wie etwa die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mit dem Bundeskanzler als dem Agenten und dem Volk als Prinzipal und den Ländern, den Verbänden und den „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ als Teilen dieser Zwischenebene. Worin die Grenze des sozialen Systems der Gesellschaft liegt, läßt sich nun auch leicht bestimmen: Es ist die Reichweite der sozialen Bedingungen für die Nutzenproduktion und deren soziale Folgen, sei es bezogen auf die materiellen Möglichkeiten, die institutionellen Regeln oder die kulturellen Bezugsrahmen. Weil sich diese Grenze offenkundig im Zuge der sog. Globalisierung immer weiter ausbreitet, ist es nicht abwegig, inzwischen von der Weltgesellschaft als dem weitesten Rahmen der Nutzenproduktion und ihrer sozialen Folgen zu sprechen. Die Weltgesellschaft ist das umfassendste soziale System, das wir uns derzeit denken können. Die einzelnen Gesellschaften sind, meist in der Form von Nationalstaaten, in die Weltgesellschaft inkludiert und bilden – teilweise wieder im Rahmen von transnationalen Verbünden, wie die Europäische Gemeinschaft oder die OECD – insoweit inzwischen nur eine weitere Zwischenebene im Mehrebenen-System der Weltgesellschaft. Die Weltgesellschaft bindet alles zusammen, was wir an sozialen Gebilden und Prozessen in der Welt vorfinden und womit es die Soziologie zu tun hat.
Kapitel 3
Soziale Differenzierung
Die Nutzenproduktion in einer Gesellschaft findet so gut wie ausschließlich in sozialen Systemen statt, wenngleich natürlich nur individuelle Menschen ein Käsebrötchen essen oder ein Musikstück hören, sich daran delektieren und eine Nutzenstiftung empfinden können. Soziale Differenzierung bezeichnet dann – ganz allgemein – die Unterschiedlichkeit in der Art der Organisation der Nutzenproduktion in den sozialen Systemen einer Gesellschaft. Diese Unterschiede können natürlich ganz verschiedene Aspekte betreffen, formale wie inhaltliche. Wir unterscheiden drei inhaltliche Dimensionen von Unterschieden bei den sozialen Systemen nach der Art der Nutzenproduktion und der Definition der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen: Unterschiede in der funktionalen Aufteilung der verschiedenen Beiträge zur Nutzenproduktion auf verschiedene soziale Systeme, Unterschiede in den kulturellen Praktiken, die sich bei der Organisation der Nutzenproduktion oder auch als eigener Bereich der Nutzenproduktion entwickelt und verfestigt haben, und Unterschiede in Hinsicht auf die normative Konformität mit den zentralen Institutionen einer Gesellschaft der in den verschiedenen sozialen Systemen und Gebilden jeweils verfolgten Ziele und benutzten Mittel. Entsprechend kann auch von funktionaler, kultureller und normativer Differenzierung gesprochen werden. Diese Unterscheidung einer funktionalen, sozialen und normativen Differenzierung ist natürlich nur analytischer Art. Die konkreten sozialen Gebilde können in diesem dreidimensionalen Raum empirisch natürlich aus allen möglichen Kombinationen bestehen: Die sich ganz martialisch oder hedonistisch gebende Jugendkultur hat beispielsweise vielleicht auch eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion, und nicht alles, was in den staatstragenden kulturellen Milieus gedacht und getan wird, ist mit den Regeln der Verfassung vereinbar, auf deren Einhaltung die an diesen Milieus Beteiligten sonst so achten (vgl. dazu auch noch den Schluß dieses Kapitels).
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Die Konstruktion der Gesellschaft
3.1
Funktionale Differenzierung
Als funktionale Differenzierung wird – so sei noch einmal ganz allgemein wiederholt – die Unterteilung des sozialen Systems der Gesellschaft in arbeitsteilig spezialisierte, deshalb typisch unterschiedliche und in Austausch befindliche Systeme der Nutzenproduktion bezeichnet.1 Die funktional so unterscheidbaren sozialen Systeme seien funktionale Sphären genannt. In den funktionalen Sphären werden jeweils spezielle „funktionale“ Leistungen erbracht, die zusammen und im Austausch der Systeme die Versorgung mit interessanten Ressourcen und damit die Nutzenproduktion sichern. Diese speziellen funktionalen Leistungen definieren das Oberziel der Nutzenproduktion für die betreffende funktionale Sphäre und damit die jeweiligen primären Zwischengüter bzw., so könnte man sie nennen, die „funktionalen Ziele“ und darüber den Code der Orientierung, der in der jeweiligen funktionalen Sphäre alles beherrscht. Dieser Code ist der funktionale Imperativ, um den sich in der jeweiligen funktionalen Sphäre letztlich alles dreht. Wer sich an diesen Code, etwa als Positionsträger, nicht hält, wird wenig von seiner Beteiligung an der jeweiligen funktionalen Sphäre haben. Der Hintergrund: die Vorteile der Arbeitsteilung Die funktionale Differenzierung beruht also immer auf einer Spezialisierung von Leistungen. Der Hintergrund ist ein wohlbekannter, eher technischer Sachverhalt, auf den schon Adam Smith hingewiesen hat: Bei arbeitsteiliger Spezialisierung läßt sich mit dem gleichen Aufwand mehr produzieren. Für Betriebe und Organisationen ist die funktionale Differenzierung in der Form der Arbeitsteilung eine sehr handgreifliche Angelegenheit: Buchhaltung, Vertrieb, Produktion, Marketingabteilung und Geschäftsführung etwa haben jeweils ganz spezielle Aufgaben, deren simultane Erfüllung erst das Gesamtprodukt sichert. Die verschiedenen Bereiche sind deshalb aufeinander angewiesen und haben, wegen des möglichen Ertrags der arbeitsteiligen Zusam1
Vgl. zum Problembereich der funktionalen Differenzierung insbesondere die folgenden Übersichten: Hartmann Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie, 7, 1978, S. 175-193; Renate Mayntz, Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 11-44; Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, insbesondere Kapitel 1 bis 3; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 595-608.
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menarbeit, auch ein gemeinsames Interesse daran, daß das gesamte System der arbeitsteiligen Produktion auch funktioniert. Das ist die eine, die kooperative Seite der Arbeitsteilung und der funktionalen Differenzierung. Auf der anderen Seite haben jeder Einzelbereich, jede spezielle funktionale Sphäre, bzw. die darin agierenden Akteure (!) aber auch ein sehr spezielles egoistisches oder gar antagonistisches Interesse: den Wert und die Bedeutung des jeweiligen speziellen Beitrags möglichst zu erhöhen und bei der Verteilung des Ertrags der gemeinsamen Produktion möglichst günstig dazustehen. Daher entwickeln die verschiedenen funktionalen Sphären – über ihre Codierung und die daran orientierte Nutzenproduktion der Akteure in den funktionalen Sphären – nahezu unausweichlich Tendenzen, ihre jeweilige „Eigenlogik“ möglichst zuzuspitzen und in ihrer Geltung im Gesamtsystem durchzusetzen. Kurz: Der funktionalen Differenzierung wohnen immer zentripetale integrative Tendenzen inne, hier vor allem das gemeinsame Interesse der Akteure in den verschiedenen funktionalen Sphären an der arbeitsteiligen Kooperation, und zentrifugale desintegrative Tendenzen, die vor allem mit dem Interesse der Akteure in den funktionalen Sphären zur Ausweitung der Eigenlogik der Sphäre und dem Interesse daran zu tun haben, bei der Verteilung des gemeinsam erstellten Produktes möglichst günstig dazustehen. Kurz: Die funktionale Differenzierung ist ein besonders interessanter und wichtiger Fall der antagonistischen Kooperation und der Einrichtung einer sozialen Ordnung (vgl. dazu insbesondere auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Funktionale Spezifizität und funktionale Diffusität In Gesellschaften oder Gruppen mit einer nur gering ausgeprägten arbeitsteiligen Spezialisierung erbringen die verschiedenen sozialen Systeme alle notwendigen funktionalen Leistungen gleichzeitig. Soziale Systeme, die mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen, werden auch als funktional diffus bezeichnet, soziale Systeme, die eine ganz spezielle funktionale Aufgabe übernommen haben und nur diese ausüben, als funktional spezifisch. Ein Facharzt, der sich nur für die Computertomographie der Leber zuständig fühlt, unterhält beispielsweise zu seinen Patienten eine funktional ausgesprochen spezifische Beziehung, ein Hausarzt, der sich auch um das Seelenleben und den familiären Kummer seiner Patienten kümmert, dagegen eine funktional diffuse. Es ist nicht allgemein anzugeben, welche Art der Organisation der Nutzenproduktion besser ist – die funktional spezifische oder die funktional diffuse. Sehr viele Nutzenproduktionen sind zwar effizienter, wenn sie funktional spe-
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zifisch organisiert sind, wie wohl die über die Produktion von Autos oder die über die Entfernung eines Blinddarmes. Genau deshalb gibt es ja die Arbeitsteilung. Das gilt vor allem für die Bereitstellung der materiellen Zwischenprodukte für die Nutzenerzeugung. Die Bereitstellung von Wertschätzung, insbesondere die Vermittlung von Affekten, leidet jedoch eher unter der Zunahme von funktionaler Spezialisierung: Man will anerkannt und geliebt werden, so wie man insgesamt ist, und eben nicht bloß als Autokunde oder als Blinddarmpatient. Daher hätten die Menschen am liebsten den Hausarzt als Spezialisten. Aber den gibt es nicht. Und so entstehen neben den funktional spezifischen Angeboten der Fachärzte auch funktional spezifische Angebote für funktional diffuse Leistungen, wenn es einem allgemein schlecht geht: Naturheilverfahren, Heilpraktiker, Esoterik – in sorgfältiger Abgrenzung und Arbeitsteilung zur sog. Schulmedizin. Spezialisierung und Funktionsverlust Funktionale Differenzierung bedeutet in aller Regel, daß bestimmte soziale Systeme, die ehemals funktional diffus waren, alle anderen Funktionen abgeben – bis auf die eine, für die sie besonders geeignet sind. Es gibt also zwei Vorgänge gleichzeitig: einen Funktionsverlust einerseits und eine funktionale Spezialisierung andererseits. Das gilt beispielsweise für die Entwicklung der Familie. In den vormodernen Gesellschaften hatte sie eine ganze Reihe von verschiedenen Funktionen: die biologische Reproduktion, die Sozialisation, wirtschaftliche Versorgung und Alterssicherung, die Versicherung gegen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit und bestimmt auch die Versorgung mit Liebe und Affekt. Inzwischen hat die Familie bzw. die Partnerschaft (fast) nur noch eine Funktion: die Versorgung mit Affekten. Das hat eine interessante doppelte Folge: Als „individuelle“ Angelegenheit werden Familie und Partnerschaft immer gefährdeter, weil jetzt alles an der Affektversorgung hängt und weil, wenn die nicht mehr funktioniert, die Beziehung zerbricht. Die steigenden Scheidungszahlen sind ein Beleg dafür. Aber als spezielle „Institution“ steht die Familie bzw. die Partnerschaft unangefochtener da und ist unentbehrlicher als je zuvor: Sie ist zunehmend der „Ort“ geworden, an dem es nur noch die Erzeugung von Affekten gibt. Und deshalb suchen sich die Menschen, wenn die eine Liebe stirbt, so bald wie möglich eine neue – und stärken damit die Institution von Ehe und Partnerschaft in einem Meer der Trennungen.
Mit Funktionsverlust und Spezialisierung sind zwei strukturelle Veränderungen in den Beziehungen der sozialen Systeme verbunden: Sie werden voneinander unabhängiger und abhängiger – gleichzeitig. Sie werden interdependent. Die Spezialisierung bedeutet ja, daß sich die sozialen Systeme ganz auf die eine spezifische funktionale Aufgabe konzentrieren können und nicht noch Rücksicht auf andere Dinge nehmen müssen. Funktionsverlust heißt aber auch, daß die sozialen Systeme jetzt auf den Austausch mit den anderen Sys-
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temen in einem Maße angewiesen sind, wie das vorher nicht der Fall war. Man könnte fast meinen, daß sich das System in der Trennung der Bereiche selbst wieder bindet. Mit solchen Metaphern eines dialektischen Verhältnisses von „Differenzierung und Integration“ wollen wir uns nicht zufrieden geben. Denn oft genug unterbleibt die Spezialisierung auch oder wird wieder aufgegeben. Die Differenzierung einer Gesellschaft trägt ihre Integration eben nicht schon gewissermaßen logisch in sich (vgl. dazu auch noch unten mehr dazu, sowie Kapitel 6 diesen Bandes). Und spätestens dann wird erkennbar, daß alles, was soziale Systeme tun oder sind, ob sie sich in ihrer vorangetriebenen funktionalen Differenzierung auch immer wieder integrieren oder nicht, die im Ergebnis stets offene Folge des Handelns von menschlichen Akteuren ist. Funktionale Imperative Die zentrale Besonderheit der jeweiligen funktionalen Sphären ist also deren jeweilige Spezialisierung. Um diese spezielle Leistung dreht sich in der funktionalen Sphäre alles. Es ist das jeweilige kulturelle bzw. funktionale Ziel der Sphäre, das für sie geltende primäre Zwischengut. Das ist der funktionale Imperativ, um den herum alles andere in der jeweiligen Sphäre aufgebaut ist. In der Buchhaltung gilt, um das Beispiel von dem Betrieb noch einmal aufzugreifen, eben ein anderer funktionaler Imperativ als in der Marketingabteilung, und bei der Computertomographie ein anderer als bei der romantischen Liebe einer Zweierbeziehung. Und der Betrieb insgesamt unterliegt in seinen weiteren Verflechtungen wiederum einem anderen funktionalen Imperativ als, sagen wir einmal, ein Finanzamt, so wie das auch für die Facharztpraxis oder ein Liebespaar gilt. Und wehe, dieser Imperativ wird von einem Akteur nicht erkannt oder gar verwechselt! Arbeitsteilige Spezialisierungen, funktionale Sphären und damit: funktionale Imperative gibt es wie Sand am Meer. Wichtig für die Bestimmung einer typischen funktionalen Sphäre ist nur, daß es innerhalb jeder Sphäre eine besondere und typisch von anderen Sphären abgegrenzte Orientierung und jeweils ein Oberziel gibt, um das sich in dieser Sphäre alles dreht. Im Bereich der Wirtschaft geht es – beispielsweise – um das Oberziel der Gewinnmaximierung, in der Politik um die Gewinnung von Legitimation und Wählerstimmen, in Familien um Liebe, Expressivität und Affekterzeugung, im System des Rechts um formale Gerechtigkeit und Normbewahrung, in der Wissenschaft um die Wahrheit, im Sport um Rekorde, in den Massenmedien um Sensationen und möglichst üble Neuigkeiten, letztlich jedoch um Auflagen und Einschaltquoten, in einer Gärtnerei um schöne grüne Pflanzen, im Restaurant um ein gutes Essen und eine angenehme Atmosphäre – und so weiter.
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Dieses Oberziel beschreibt das in einer bestimmten funktionalen Sphäre als „primär“ wichtig definierte primäre Zwischengut. Und nur über dieses primäre Zwischengut können die Akteure, die sich in der betreffenden funktionalen Sphäre aufhalten, soziale Wertschätzung und die Mittel für das physische Wohlbefinden erlangen. Die funktionalen Imperative definieren damit den Code und somit den besonderen „Rahmen“, unter dem die Orientierung für das Handeln in der jeweiligen funktionalen Sphäre steht: In einem Bordell hat man, so meinte Tom Wolfe einmal, nur eine Chance: Die beste Hure des Hauses sein zu wollen. Und Hans Eichel war als Bundesfinanzminister strikt gegen die Vermögenssteuer, für die er sich als hessischer Ministerpräsident noch sehr stark gemacht hatte: In Berlin sitzt er hinter einem anderen Busch, da ändern sich die Perspektiven und die Interessen, schrieb damals die Süddeutsche. Die funktionalen Imperative bilden den Kern der Erwartungen an die Inhaber der Positionen in den funktionalen Sphären. An funktional definierte Positionen geknüpfte institutionalisierte Erwartungen werden in der Soziologie auch als soziale Rollen bezeichnet (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In den sozialen Rollen spiegeln sich die sozialen Produktionsfunktionen in den funktionalen Sphären, indem sie über die spezielle Funktion der Position festlegen, bei welchem Handeln soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden erlangt werden können – und insbesondere: wann nicht! Zu den funktionalen Imperativen gehört neben dem Code der Orientierung meist auch ein bestimmtes Programm des Handelns, nach dem in der jeweiligen funktionalen Sphäre agiert werden muß: Ein Begräbnisunternehmer muß mit seiner Kundschaft anders umgehen als eine Angestellte in einer Boutique für Brautkleider. Und beide wiederum anders als der Pfarrer oder der Versicherungsdetektiv, der die untröstliche, aber jetzt plötzlich über eine Lebensversicherung sehr reich gewordene junge Witwe am Grabe sehr aufmerksam beobachtet und damit sein Geld verdient. Funktionale Sphären und sozialer Sinn Die funktionalen Imperative bestimmen damit den sozialen Sinn des Handelns in der jeweiligen funktionalen Sphäre. Sie sind der Kern der jeweiligen „Eigenlogik“ des Handelns in den verschiedenen funktionalen Sphären einer Gesellschaft. Das konkrete Handeln ist dann nichts anderes als das sichtbare Ergebnis des Bestrebens, die funktional spezifischen primären Zwischengüter möglichst günstig unter Kontrolle zu bekommen. Und dies geschieht dann am
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ehesten und am effizientesten, wenn der Akteur den spezifischen sozialen Sinn der Situation korrekt identifiziert und sich – in diesem „Rahmen“ – geschickt und „produktiv“ verhält. Mit einer dumpfen „Konformität“ zu den Normen einer solchen Situation oder mit einer bloßen Furcht vor Sanktionen hat das alles nicht viel zu tun: Es ist für den Akteur von besonderem Interesse, die spezifische Eigenlogik der jeweiligen funktionalen Sphäre gut zu durchschauen und ihrem Code und Programm möglichst situationsgerecht zu folgen. Ein situationsgerechtes Handeln besteht somit insbesondere in der Beachtung der jeweiligen Eigenlogik – immer mit dem Ziel einer möglichst effizienten Nutzenproduktion. Denn die bleibt ja stets das eigentliche Ziel allen Tuns. Und wenn die Nutzenproduktion in einer funktionalen Sphäre sehr effizient ist, dann stellen sich auch leicht jene Phänomene der Begeisterung und Hingabe für einen funktionalen Imperativ ein, die Friedrich A. Tenbruck einst unserem guten Sir Ralf Dahrendorf und dessen „Homo Sociologicus“ so kräftig und zu Recht entgegenhielt (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Abkopplung der Motive Damit ein arbeitsteiliges System funktioniert, müssen die jeweiligen speziellen Leistungen ohne größere Reibungsverluste erbracht werden können. Insbesondere muß sichergestellt werden, daß die Akteure sich auch verläßlich dem jeweiligen funktionalen Imperativ beugen, auch dann, wenn sie sich, wie das durchaus vorkommt, in funktionalen Sphären bewegen, die von ihnen ganz unterschiedliche oder gar widersprüchliche Dinge verlangen. Die Wirkung der Zugehörigkeit von Akteuren auf deren Handeln ist jedoch leicht vorherzusagen: In den funktionalen Sphären müssen sich die Akteure den Vorgaben der funktionalen Oberziele beugen. Und sie tun das in nun wenig erstaunlicher Weise daher auch. Denn wenn nicht, dann verfehlen sie den jeweils geltenden sozialen Sinn, werden nicht „verstanden“, erhalten die dort angebotenen Gegenleistungen nicht, haben mit ihrem Tun keinerlei Erfolg und können deshalb nur sehr wenig an Nutzen für sich selbst produzieren. Das wissen die Akteure normalerweise auch ganz genau – oder bekommen es alsbald zu spüren. Das ist die eine Seite, die Seite des reibungslosen Funktionierens der Systeme durch die Kraft der funktionalen Imperative bei der Definition der Situation. Nun aber die andere Seite: die Akteure, die die Positionen in den funktionalen Sphären besetzen und in ihrem Handeln die geforderten Funktionen wahrnehmen sollen. Weil sich die Akteure im Prinzip in verschiedenen funk-
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tionalen Sphären gleichzeitig aufhalten (müssen!), entwickeln sie keine einheitlichen und gleichgerichteten, sondern immer nur situationsspezifische Interessen und Identitäten – so wie bei den Hotelbesitzern im Experiment von Richard T. LaPiere aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, die sich ihren privaten Rassismus im Interesse der Bettenauslastung ihres Unternehmens nicht leisten mochten, oder wie bei dem Autofahrer, der sich, einmal auf dem Rad, über die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer ärgert und den, wieder im Auto, der Leichtsinn der Radfahrer zur Weißglut bringt. Die Verbindung zwischen den funktionalen Sphären und den Akteuren ist ja eben nicht fixiert: Akteure können funktionale Positionen übernehmen und auch wieder verlassen und dabei ihre Sicht der Dinge und die Art ihres Tuns, ohne Zweifel auch ihre Identifikation und ihre Begeisterung, rasch wechseln. Der Diensteifer endet meist am Werkstor. Und dann fängt Schalke an. Einen solchen Wechsel vollziehen die Akteure mehrmals täglich und meist ganz mühelos: Morgenkaffee in trauter familiärer Umgebung, dann die Intrigen in der Teerunde, dann rasch ein Blockseminar in der Universität, dann kurz einmal zur heimlichen Lebensabschnittsgefährtin und schließlich wieder zu Heim, Frau, Kind und Kater. Und wie die Hotelbesitzer im Beispiel von Richard T. LaPiere wechselt der Akteur während dieser Runde durch die mannigfaltigen Wirklichkeiten seiner multiplen Lebenswelt seine situationsspezifische Identität, seinen Habitus, seine Moral und seine Emotionen wirklich – und oft auch das mehrmals täglich, hoffentlich ohne Schaden für seine Moral, für seine Identität und für seine Glaubwürdigkeit als „identische“ Person (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese Wechsel in Orientierung und Handeln erfolgen aber in keiner Weise beliebig. Sie sind vielmehr diktiert von den Vorgaben der funktionalen Imperative, wie sie u.a. auch in den Rollenerwartungen der jeweiligen Positionen enthalten sind. Der Wechsel von der einen funktionalen Sphäre zur anderen, von dem einen Typ des generalisierten Anderen zum anderen, von dem einen Me-Sektor der Identität zum anderen sind aber auch kein Diktat der Furcht vor Sanktionen oder des bloß opportunistischen Interesses an Belohnungen für die „Konformität“ mit den Vorgaben des funktionalen Imperativs. Sie sind vielmehr die Folge des eigentümlich zwanglosen Zwangs des situationsgerechten Handelns und der Befolgung von sozialen Regeln im ganz eigenen Interesse einer möglichst effizienten Nutzenproduktion. Genau deshalb entwickeln – auf nach außen ganz wundersame und oft unverständliche Weise – zum Beispiel neu eingestellte Datenschützer, Innenminister, Ausländerbeauftragte oder Dekane einer Fakultät rasch und enthusiastisch ein hohes Interesse an Datenschutz, an law and
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order, an Ausländerbelangen und an den Interna der Fakultät. Und sie verlieren diesen Enthusiasmus rasch wieder, sobald sie die Position nicht mehr innehaben. Dies sind alles weitere Antworten auf die Frage nach dem Enthusiasmus beim Rollenhandeln aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Jeder Bundesligaprofi wünscht sich nichts sehnlicher, als gerade dem Verein eine Niederlage zu bereiten, bei dem er just vorher war, um sich und den anderen zu zeigen, wie wichtig ihm die jetzt geltende soziale Produktionsfunktion ist, die ihm der neue Verein bietet. Das ist auch eine Antwort auf die stete Sorge vieler Sozialphilosophen und Sozialpädagogen um die in der Moderne angeblich besonders bedrohte „Identität“ der Menschen. Solange die Menschen den „Sinn“ ihres Tuns einigermaßen einsehen können, können die Sozialphilosophen und die Sozialpädagogen unbesorgt sein. Die meisten Menschen haben bei ihrem Wechsel zwischen den Sphären des Alltags ohnehin immer nur eines im Sinn: Geld und Ansehen. Und das reicht für eine stabile Identität in den allermeisten Fällen auch vollkommen aus (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9). Kurz: Gerade weil es in den funktionalen Sphären darum geht, sich die Mittel zu beschaffen, mit denen die ganz privaten primären Zwischengüter erst noch hergestellt werden müssen – aber auch können -, ist es nicht erforderlich, daß sich die Menschen mit der jeweiligen funktionalen Sphäre auch unmittelbar und persönlich identifizieren. Sie müssen nur begriffen haben, daß es in ihrem Interesse ist, die funktionalen Imperative zu beachten.
Auf diese Weise gewinnen arbeitsteilig organisierte, funktional differenzierte soziale Systeme ein enormes Potential: Sie werden von den ideosynkratischen privaten Motiven der Menschen nahezu vollkommen unabhängig. Es muß für das Funktionieren der Systeme nicht verlangt werden, daß die Akteure das Ziel des Systems selbst unterstützen, schon gar nicht: emphatisch. Die Erfüllung der funktionalen Aufgaben wird – wie dies Niklas Luhmann einmal ausgedrückt hat – von den Motiven der Menschen „abgekoppelt“. Aber gleichwohl bleiben es immer nur die Menschen, die das Funktionieren und den Zusammenhalt des sozialen Systems bewirken. Die Integration der funktionalen Sphären ist ein unintendiertes Ergebnis des situationsgerechten Handelns der Menschen unter den Bedingungen der funktionalen Komplexität und der Kreuzung der sozialen Kreise (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 über die „Integration“ in diesem Band). Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft So wie es Betriebe und Organisationen als arbeitsteilig differenzierte soziale Systeme gibt, kann man sich nun leicht auch für ganze Gesellschaften vorstellen, daß sie in voneinander abgegrenzte funktionale Sphären differenziert sind, die jeweils spezielle Aufgaben bei der Erstellung des „Gesamtprodukts“ übernehmen: In der Wirtschaft werden die materiellen Güter produziert, und die Politik sagt, wo es lang geht, beispielsweise. Daher gilt in der Wirtschaft auch ein ganz anderer funktionaler Imperativ als in der Politik: die ökonomische Rationalität hier und irgendeine „unbedingt“ geltende politische Zielset-
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zung dort. Und regelmäßig, ja zwangsläufig, kommen sich die verschiedenen Sphären mit ihren jeweiligen Eigenlogiken dann in die Quere, wie etwa bei der deutschen Wiedervereinigung, als die Politik die Währungsunion und die politische Vereinigung gegen jede ökonomische Vernunft durchzog. Ein wichtiges Beispiel für die Einteilung einer Gesellschaft in typische funktionale Sphären mit typischen funktionalen Imperativen stammt von Talcott Parsons (vgl. dazu bereits das Kapitel 23 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Parsons unterscheidet mit seinem AGIL-Schema bekanntlich vier grundlegende funktionale Requisiten, die für jede Gesellschaft bzw. für jedes soziale System erfüllt sein müssen: Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern Maintenance – abgekürzt: AGIL eben. Diese Requisiten beschreiben vier verschiedene funktionale Oberziele, die jeweils von einem speziellen gesellschaftlichen Sub-System erfüllt werden „müssen“. Das geschieht konkret in den Sub-Systemen der Wirtschaft, der Politik, der gesellschaftlichen Gemeinschaft und des Treuhandsystems, jeweils unter dem besonderen funktionalen Oberziel Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern Maintenance. In diesen Sub-Systemen gelten die jeweiligen Oberziele als die Codes der normativen Orientierung für das Handeln der Akteure.
Wieviele und welche funktionalen Teilsysteme die Gesellschaft hat und wie sie miteinander zusammenhängen ist der Hauptgegenstand der sog. soziologischen Systemtheorie. Die hat, so könnte man sagen, mit Emile Durkheim begonnen, mit Talcott Parsons einen gewissen Höhepunkt erreicht, ist von Niklas Luhmann „prozessual“ und evolutionstheoretisch umformuliert worden – und bewegt sich, ohne daß sie das so recht weiß, inzwischen kräftig auf eine Perspektive zu, die uns inzwischen nicht ganz ungeläufig ist: Die funktionale Differenzierung von Gesellschaften ist das – mehr oder weniger: unintendierte – Ergebnis des Handelns von Akteuren, die ihre Nutzenproduktion verbessern möchten und sich in arbeitsteiligen Interdependenzen verstricken, die die „Entwicklung“ der Gesellschaft eigendynamisch vorantreiben – in die immer stärkere funktionale Differenzierung hinein (vgl. dazu insbesondere auch Schimank 1996, Kapitel 5). Die Entstehung der funktionalen Differenzierung Die Entstehung von funktionaler Differenzierung ist ein Spezialfall des Prozesses der Institutionalisierung (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Drei Vorgänge lassen sich unterscheiden: Dekret, Vertrag und Evolution. Über Dekret entsteht eine arbeitsteilige funktionale Differenzierung durch einen Beschluß, der dann umgesetzt wird, etwa bei der Gründung einer Organisation: Es wird in der Verfassung der Organisation formell festgelegt, wel-
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che Abteilungen und Positionen mit welchen Aufgaben es geben soll. Zu den Positionen gibt es jeweils ganz bestimmte Erwartungen an das Verhalten desjenigen, der die betreffende Position einnimmt. Oft wird für jede Stelle sogar eine „Stellenbeschreibung“ angefertigt, in der genau steht, was in der jeweiligen Abteilung auf jeder Position zu tun ist. Viele der Erwartungen sind jedoch nicht formell festgelegt, dafür aber nicht weniger bedeutsam. Diese formell festgelegten oder informell institutionalisierten Erwartungen an die Positionsinhaber werden auch als soziale Rollen bezeichnet. Damit es zu dieser Art der Entstehung einer funktionalen Differenzierung kommt, muß es jedoch schon ein Herrschaftszentrum geben, das die Möglichkeiten hat, die beschlossene Organisationsstruktur durchzusetzen. Eine arbeitsteilige Spezialisierung können Akteure natürlich auch verabreden und über einen Vertrag regeln. So etwas geschieht, wenngleich meist mit nur sehr „impliziten“ Verträgen, in Haushalten und ehelichen Beziehungen, in denen der eine die Hausarbeit macht und die andere arbeiten geht (oder umgekehrt). Das Problem dabei ist etwas versteckt: Wenn der Vertrag nicht wirklich bindend ist, dann besteht die Gefahr, daß sich die Akteure nicht vollständig spezialisieren, einfach weil sie dann ja komplett vom anderen abhängig wären. Und schon allein aus Vorsicht heraus mag man sich nicht so einfach ganz spezialisieren. Deshalb bedarf es bei der vertraglichen Entstehung von arbeitsteiliger funktionaler Differenzierung immer noch gewisser „nichtvertraglicher“ bindender Elemente. Auf dieses Problem hat vor allem Emile Durkheim hingewiesen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Viele Systeme der arbeitsteiligen Spezialisierung sind aber weder durch Dekret, noch durch Vertrag, sondern durch eine Form der Evolution entstanden. Der einfachste Fall einer solchen evolutionären Entstehung arbeitsteiliger Spezialisierung ist die Herausbildung von Tauschmärkten: Akteure bieten, warum auch immer, bestimmte Produkte an und finden für sie relativ problemlos Nachfrager, die ihnen dafür etwas geben, was sie schätzen. Die Grundlage sind gegenseitig vorhandene Interessen, die sog. Interessenkonvergenz. Und wenn das zum allseitigen Vorteil einige Male geschehen ist, dann sinkt das (subjektive) Risiko des impliziten Vertrages, der bei jedem dieser einzelnen Tauschakte immer besteht – daß der Nachfrager den Anbieter auf seinem Angebot sitzen läßt, bzw. daß der Nachfrager keinen Anbieter findet. Auf diese Weise können nicht nur arbeitsteilig spezialisierte Warenmärkte entstehen, sondern im Prinzip alle Arten von funktionalen Sphären: die Funktionsbereiche der Bildung, der Wissenschaft, der Medizin, der Kirche, der Politik, des Sports, der Kunst und so weiter. Wir wollen die evolutionäre Entstehung von
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Funktionssystemen an zwei hübschen Beispielen erläutern: die Entstehung des Gesundheitswesens und die Sphäre des Sports. Ein erstes Beispiel: das Gesundheitswesen Die eher ungeplante Entstehung der Medizin als Funktionssystem hat Rudolf Stichweh beschrieben:2 Es gab an den Höfen der Könige und Fürsten natürlich schon Spezialisten, die für die Gesundheit des Königs oder Fürsten zu sorgen hatten, aber noch kein spezialisiertes Funktionssystem der Gesundheitsvorsorge für die Gesellschaft und deshalb auch keine Hospitäler. Die Ärzte entwickelten nun – aus vielerlei naheliegenden Gründen – allmählich ein ganz eigenes medizinisches Interesse: Sie wollten genauer wissen, wie der menschliche Körper ganz allgemein funktioniert, nicht zuletzt, um durch die Verbesserung ihrer medizinischen Kompetenz ihre Stellung bei Hof zu sichern, aber durchaus auch aus rein wissenschaftlichem Interesse. Aber dazu konnten sie immer nur den Körper des Fürsten studieren, der, nicht nur wenn er litt, den Wissensdrang der Ärzte durchaus begrenzen konnte. Die Ärzte entfalteten also eine Nachfrage nach anderen „Körpern“, nach möglichst vielen sogar und nach solchen, bei denen sie, ganz ähnlich wie heute immer noch bei den Tierversuchen, keine besonderen Rücksichten nehmen mußten, und die auch gefahrlos einmal an der „Behandlung“ leiden oder gar daran sterben konnten. Auf der anderen Seite gab es natürlich eine gewaltige Nachfrage in der restlichen Bevölkerung nach medizinischer Behandlung und folglich ein hohes Angebot an Körpern. Was lag da näher, als Hospitäler zu gründen, in denen die Nachfrage nach Körpern und das Angebot derselben zusammentreffen konnten, zumal das alles ganz gut mit den moralischen Postulaten der christlichen Nächstenliebe zu garnieren und zu begründen war? Interessanterweise entstand so auch die Sorgfalt um eine besondere Hygiene in den Hospitälern: Nur wenn die Körper nicht an der Behandlung selbst starben, konnte man feststellen, welche Maßnahme erfolgreich war und welche nicht.
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Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 263f. Vgl. auch noch Kapitel 5 in diesem Band dazu.
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Ein zweites Beispiel: der Sport Eine von den grundlegenden Prozessen her ganz ähnliche Erklärung schlägt Pierre Bourdieu für die Entstehung des modernen Sports als eigenständigem Funktionssystem vor:3 „Meiner Ansicht nach lassen sich Praxis und Konsum von Sport – von Rugby, Fußball, Schwimmen, Leichtathletik, Tennis, Golf usw. – in ihrer Gesamtheit und ohne damit der Realität allzusehr Gewalt anzutun, als eine Art Angebot verstehen, das auf eine gesellschaftliche Nachfrage stößt.“ (Ebd., S. 91; Hervorhebungen im Orginal)
Beides, das Angebot an Sport wie die Nachfrage danach habe sich allmählich und in gegenseitiger Steigerung entwickelt. Bourdieu nimmt sich zum Beleg für seine These die historische Entwicklung des Fußballs und des Rugby in England vor. Das „Angebot“ habe sich dabei als Übergang von eher spielerischen Betätigungen der Eliten in den ihnen vorbehaltenen public schools vollzogen. Die Elite machte sich bestimmte körperliche Bewegungen, auch in der Übernahme traditioneller und volkstümlicher Spiele, zu eigen und koppelte sie dabei von den dazu sonst üblichen Anlässen ab, wie etwa die Erntefeste. Damit werden sie, als erstem Schritt der „funktionalen Verselbständigung, von den anderen rituellen Zusammenhängen abgelöst, in die sie bis dahin eingebettet sind. In den Schulen werden die betreffenden körperlichen Betätigungen dann in Aktivitäten umgewandelt, die als l’art pour l’art ihren Zweck in sich selbst tragen. Sie werden damit zu einem wichtigen Bestandteil des Lebensstils der Eliten, deren Besonderheit ja gerade auch darauf beruht, von den alltäglichen Zwecktätigkeiten befreit zu sein und sich das Leben in gewählter Distanz zu irgendwelchen Pflichten einrichten zu können. Das war der Anfang. Die weiteren Schritte der Verselbständigung einer eigenen Sphäre des Sports sind dann leicht erzählt: Der Autonomisierung der Betätigungen folgt die Rationalisierung der sportlichen Praktiken, die Entstehung expliziter Regeln, für deren Entwicklung und Beachtung jetzt auch Experten benötigt werden. Damit sind die Weichen für eine Verbreitung des Sports über den Bereich der Schule hinaus gestellt – und so weiter, bis hin zur jetzt beobachtbaren Etablierung eines eigenen Funktionssystems mit einer eigenen Sportkultur und einem eigenen Institutionen- und Organisationssystem. Die Verbreitung und „reflexive“ Verfestigung des Sports wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn dieses „Angebot“ nicht von immer mehr Akteuren auch in anderen Schichten für attraktiv gefunden worden wäre und wenn es also keine weitere „Nachfrage“ danach gegeben hätte. Bourdieu schildert eine 3
Pierre Bourdieu, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Merkur, 39, 1985, S. 575-590.
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Reihe von Mechanismen und Besonderheiten des Sports, die ihn für weite Teile der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen und für sehr verschiedene Zwecke äußerst „funktional“ gemacht haben. Nur ein Beispiel: In den Schulen der Eliten, die als totale Institutionen mit einer Aufsichtspflicht rund um die Uhr organisiert waren, erschien der Sport als ein ideales Mittel zur „Charakterbildung“, vor allem aber als eine kostensparende Möglichkeit zur Überwachung und einer „gesunden“ Alternative der Aggressionsabfuhr. Diese Möglichkeiten der leichten Einbindung und Überwachung von Jugendlichen erkannten natürlich auch andere Organisationen mit anderen Zwecksetzungen: „Ein derart sparsames Mittel gleichzeitig zur Mobilisierung, Beschäftigung und Kontrolle der Jugendlichen war wie geschaffen als Instrument und Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen den zur politischen Mobilisierung und Bindung der Massen ganz oder partiell organisierten, damit gleicherweise um die symbolische Beherrschung der Jugendlichen konkurrierenden Institutionen – seien es Partein, Gewerkschaften, Kirchen oder auch paternalistisch eingestellte Unternehmer.“ (Ebd., S. 584; Hervorhebung im Original)
Kurz: Das Funktionssystem des Sports entsteht – unmerklich, allmählich, schrittweise und in gegenseitiger Steigerung von Verbreitung und Autonomisierung – als Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, im Prinzip nicht anders als das Gesundheitswesen, für das Stichweh einen ganz ähnlichen Vorgang der wechselseitigen Steigerung und allmählichen Institutionalisierung von funktionalem Angebot und einer spezifischen Nachfrage beobachtet hat. Der Grundprozess: Angebot und Nachfrage Die wie auch immer evolutionär entstandenen funktionalen Sphären und Tauschmärkte der arbeitsteiligen Spezialisierung werden, gibt es sie einmal, anschließend vielleicht mehr oder weniger „organisiert“ oder staatlich „reguliert“ – wie das beim Gesundheitswesen hierzulande ja bekanntlich geschehen ist. Aber das ändert nichts daran, daß es sich letztlich stets um Tauschmärkte handelt, die sich dadurch erhalten, daß Angebote und Nachfragen, oft sogar gesteigert als rechtlich gesicherte „Ansprüche“, auf Gesundheit, auf Bildung, auf Wohlfahrt, aufeinandertreffen. Bei diesen Tauschprozessen können gewisse „Medien“, wie das Geld, sehr dabei helfen, daß es zu einem ertragreichen Tausch kommt bzw. daß die Spezialisierungsleistungen auch wirklich erhalten bleiben. Der Hintergrund bleibt aber immer das als nützlich erlebte Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage. Funktionale Differenzierung ist in dieser Variante nur ein Spezialfall des Marktgeschehens (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 in diesem Band, sowie allgemein Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Reflexive Verselbständigung Bei jeder funktionalen Spezialisierung bleibt freilich immer die Gefahr bestehen, von der bei der vertraglichen Entstehung der Arbeitsteilung oben schon die Rede war: Allein schon aus Vorsicht möchte man sich nicht zu einseitig spezialisieren. Und wenn das jeder so sieht, dann unterbleibt das an sich so ertragreiche Unternehmen der funktionalen Differenzierung oder verfällt nach ihrem zaghaften Beginn bald wieder. Hier gibt es jedoch eine Gegentendenz, die in der funktionalen Differenzierung selbst angelegt ist: die reflexive Verselbständigung der funktionalen Sphären. Mit reflexiver Verselbständigung ist gemeint, daß der funktionale Imperativ, der den sozialen Sinn der jeweiligen funktionalen Sphäre definiert, sich immer mehr zuspitzt und schließlich zum alles beherrschenden Oberziel wird, das dann sogar nur noch als Eigenzweck erscheint. Es gibt, wie es auch heißt, keine natürliche Stopregel mehr, an der die Spezialisierung anhalten könnte. Das geschieht insbesondere durch die Anwendung des jeweiligen funktionalen Prinzips auf sich selbst: Geld etwa ist zunächst nur ein einfaches Mittel, um den Tausch auf Warenmärkten zu erleichtern. Es kann aber, worauf besonders Karl Marx hingewiesen hat, auch selbst zur Ware werden, für die es einen Preis gibt und deren Ertrag man maximieren kann. Und schließlich wird das Geld nicht mehr verdient, um davon die Mittel zum Leben zu kaufen, sondern, um damit noch mehr Geld zu verdienen ... und so weiter, bis man vielleicht darin baden kann und so wieder, wie man in Entenhausen glaubt, etwas von den „wirklichen“ Genüssen des Lebens hat. Auf diese Weise können sich alle funktionalen Oberziele reflexiv verselbständigen: Das Lehren wird gelehrt, und wie das geht, wird wiederum gelehrt. Für die Werbung wird geworben, und dafür werben die Werbeagenturen. Und die Sanktionierer werden sanktioniert, wenn sie nicht sanktionieren. Und schon haben wir die Funktionssysteme der Erziehung, der Werbung und der sozialen Kontrolle mit ihrem jeweils ganz eigenen funktionalen Imperativ, der sich durch die interne Wiederholung der Funktion immer weiter zuspitzt, und ihren jeweils ganz besonderen und immer deutlicher hervorgehobenen und getrennten „Wertsphären“, wie das Max Weber genannt hat. Niklas Luhmann hat diese einfachen „reflexiven“ Feedbackschleifen der funktionalen Selbstverstärkung, wie immer etwas hochtrabend, im Anschluß an einen ansonsten völlig unbekannten Mathematiker, George Spencer Brown, mit „re-entry“ bezeichnet.
Die reflexive Verselbständigung hat noch einen weiteren, in der funktionalen Differenzierung sozusagen eingebauten Grund: Mit der Spezialisierung auf eine Funktion werden einerseits die Leistungen der spezialisierten Sphären immer besser, etwa weil sich Wissen ansammelt und größere Produktmengen hergestellt werden können, andererseits aber schwinden die Chancen, die jeweils nicht mehr wahrgenommenen Funktionen wieder in den Funktionsbereich hineinzuholen, weil die Spezialisierung auf die eine Funktion die Pflege von Kompetenzen für die anderen Funktionen verhindert, ja ihr geradezu entgegensteht (vgl. dazu auch das Beispiel der Locals und der Cosmopolitans bei den Hochschullehrern in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Akteure
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als die Vertreter von Funktionsbereichen, deren „Funktion“ zu schwinden droht, alles daran setzen, den Bereich doch zu erhalten. Es ist ihr oberstes Interesse, weil ihre ganze Nutzenproduktion daran hängt. Und wenn es um die Existenz der funktionalen Sphäre insgesamt geht und wenn die Akteure nichts anderes haben, wovon sie leben könnten, dann tun sie vielleicht auch bald etwas, was verboten ist. Die immer weiter getriebene reflexive Verselbständigung der funktionalen Sphären ist ein Musterfall für das Prinzip einer nahezu unentrinnbaren Situationslogik, die sich schließlich auch gegen die Interessen der darin verwickelten Menschen richten kann. Differenzierung und Integration Leicht ist jetzt die Widersprüchlichkeit zu erkennen, die für jede funktionale Differenzierung so kennzeichnend ist: Einerseits sind die Akteure an der arbeitsteiligen Spezialisierung wegen deren Produktivität interessiert, andererseits fürchten sie aber auch die einseitige Abhängigkeit. Einerseits sorgt die Entkopplung der Motive für das reibungslose Funktionieren der Systeme, andererseits müssen sich die Akteure in eine Art von Charaktermasken aufspalten, damit es zu dem reibungslosen Funktionieren kommt. Einerseits bringt die funktionale Differenzierung die Akteure in eine übergreifende Abhängigkeit voneinander, von der sie letztlich auch wissen oder die sie wenigstens ab und an einmal verspüren, wie etwa bei einem Streik der Müllabfuhr, andererseits tendieren die funktionalen Sphären aufgrund der Eigendynamik der Spezialisierung und – insbesondere – wegen der reflexiven Verselbständigung zu ihrer Radikalisierung und Trennung, eventuell sogar so weit, daß daraus nachhaltige negative Folgen für die Menschen entstehen, wie bei dem wildgewordenen Turbokapitalismus unserer Tage, der nur noch eines kennt: Effizienz, Leistung und Profit, egal wofür. Diese Widersprüchlichkeiten der funktionalen Differenzierung erzeugen – sozusagen: uno actu – die Frage nach der Integration funktional differenzierter sozialer Systeme, genauer: die Frage nach der Systemintegration (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 in diesem Band). Es ist eine der zentralen Fragen der Soziologie überhaupt: die nach der sozialen Ordnung angesichts der funktionalen Widersprüche. Die Antwort darauf kreist um zwei sehr verschiedene Auffassungen: Bedarf es zur Integration von „komplexen“ Gesellschaften einer übergreifenden moralischen Ordnung? Oder geschieht die Integration so, wie die Ökonomie die Integration der wirtschaftlichen Spezialisierungen erklärt hat: als Markt, also als unintendierte Folge eines gigantischen Geflechts von Interdependenzen und ertragreichen Tauschakten, auch ganz ohne ein Motiv der Akteure, dieses Geflecht als „Ganzes“ zu wollen oder zu unterstützen? Die soziologische Systemtheo-
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rie sieht eine dritte Möglichkeit: die Integration durch die symbolisch generalisierten Medien, durch ihre symbolisch bindende Kraft zur Definition der Situation oder durch die „Interpenetration“ der Systeme über die Fusion der Inhalte ihrer Programme.
Um Moral, Markt und Medien drehen sich alle Vorschläge zur Erklärung jenes immer noch wundersamen Sachverhaltes, daß sich die modernen, hochgradig funktional differenzierten Gesellschaften gerade in ihrer inneren Unterschiedlichkeit als „System“ erhalten und sogar immer weiter entfalten, auch wenn die „Wertsphären“ immer stärker auseinandertreten (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 9.2 und 9.3 in diesem Band).
3.2
Kulturelle Differenzierung
Die funktionale Form der Nutzenproduktion ist meist sehr umständlich, entfremdend und von zahllosen, eigentlich ganz un-„interessanten“ Vorinvestitionen durchzogen: Die primären Zwischengüter sind, als gesellschaftlich definierte Vorgaben, oft weit entfernt von den Bedingungen des unmittelbar wichtigen Alltags und der nahen Lebenswelt, insbesondere aber von den personalen Ideosynkrasien und den innersten Wünschen der individuellen Akteure (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 in diesem Band). Viele der als „primär“ eingestuften primären Zwischengüter sind ja – bei näherem Hinsehen – alles andere als von „primärem“ Interesse: Ein Orden schmeckt nicht, ein Titel löscht keinen Durst, Geld allein macht nicht glücklich, die ehrenvolle Präsidentschaft ist lästig, und die lukrative Leitung eines Institutes nervt. Auch die Teilnahme an einem komplizierten Abendessen unter entfernten, aber möglicherweise wichtigen Bekannten, das Erlernen von Altgriechisch und Latein, ein Ehemann, ein van Gogh u.a. sind oft genug keineswegs schon das, was die Menschen unmittelbar wollen. Es sind meist Investitionen in materielles, soziales und kulturelles Kapital zur Erzeugung der gesellschaftlich festgelegten primären Zwischengüter oder deren symbolischer Anzeichen, ohne die es Anerkennung und Wohlbefinden nicht gibt, oft genug aber dann doch nicht das, was die Menschen persönlich interessiert und was ihnen in ihrem Alltag wichtig ist.
Von daher wird leicht vorstellbar, daß es neben den funktionalen Sphären mit ihren oft sehr „entfremdenden“ funktionalen Imperativen eine zweite wichtige Form der Organisation der Nutzenproduktion und der Definition primärer Zwischengüter gibt: die Pflege von spezifischen und ideosynkratischen primären Zwischengütern in speziellen Unterbereichen der Gesellschaft, auch jenseits der streng an der Logik der funktionalen Sphären angeschlossenen Definition der primären Zwischengüter. Zwei solcher Unterbereiche wollen wir unterscheiden: Erstens die sozialen Systeme bestimmter Lebensweisen als typischen Mustern des Handelns und Verhaltens einer alltäglichen Le-
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bensführung, die die individuellen Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten pflegen oder die sie aus ihrer Zugehörigkeit zu gewissen funktionalen Sphären übernehmen und die sie dann für verschiedene Zwecke sehr brauchbar finden, etwa zur Unterscheidung von anderen und zur „Definition“ ihres eigenen Platzes in der Gesellschaft. Und zweitens die sozialen Systeme und Orte einer Nutzenproduktion, in denen das Handeln dem individuellen Geschmack und der Nachfrage nach personal erwünschten „Erlebnissen“ schon eher nahekommt als in den entfremdenden Bereichen der funktionalen Sphären: die Milieus bestimmter Szenen der Erlebnisproduktion mit der Pflege eines gewissen Handelns und Verhaltens als Lebensstil der individuellen Akteure, etwa in Freizeitgruppen, „spontanen“ Vereinigungen oder bestimmten (legalen) „Subkulturen“ für das Ausleben gewisser ideosynkratischer Obsessionen, für die in den funktionalen Systemen kein Platz ist, von ihnen nicht in der gewünschten Weise angeboten werden oder aber auch sich, wie etwa die Ikea-Kultur oder der Laura-Ashley-Stil, irgendwie zufällig herausgebildet und dann institutionalisiert hat.
Die sozialen Systeme der Lebensweisen mit ihren typischen Mustern der Lebensführung einerseits und die Szenen der verschiedenen Lebensstile andererseits seien zusammenfassend als kulturelle Milieus bezeichnet. Die Beschreibung der – alten und der neuen – sozialen Systeme der kulturellen Milieus ist, verstärkt seit etwa Mitte der 80er-Jahre, das Thema insbesondere der sog. Lebensstilforschung und der Theorien der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit.4 Dort wird nicht immer sorgfältig zwischen dem Aspekt der sozialen Differenzierung einerseits und dem der sozialen Ungleichheit andererseits unterschieden. Um es noch einmal zu wiederholen (vgl. auch schon Kapitel 2 oben in diesem Band dazu): Die kulturellen Milieus sind unterschiedliche soziale Systeme – Lebensweisen als Systeme von Praktiken der Lebensführung oder Szenen als Systeme der Pflege von Lebensstilen. Die soziale Ungleichheit bezieht sich jedoch nicht auf die kulturellen Milieus als soziale Systeme, sondern auf die Eigenschaften der Akteure, die sich – unter anderem! – aus ihrer Teilnahme an bestimmten kulturellen Milieus ergeben, und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Lagen und sozialen Kategorien. Es gibt dann soziale Kategorien von Akteuren mit bestimmten Mustern der Lebensführung oder Lebensstilen. Und die können sich dann mit anderen Eigenschaften kombinieren: Alter, Geschlecht, Nationalität, Einkommen, Bildung und berufliche Stellung. Folglich ergibt sich, wenn man alles zusammen nimmt, theoretisch ein vieldimensionaler Merkmalsraum, in den sich die Bevölkerung einer Gesellschaft dann empirisch verteilt, meist in typischen Clustern, etwa einem Cluster von Unterschichten, die gerne Heino hören und nach Mallorca fahren, gegenüber einem Cluster von alternativen Bildungsbürgern, die eher klassische Musik lieben und die es eher in die Toscana zieht. Solche Cluster seien als Lebensführungs- bzw. als Lebensstilgruppen bezeichnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 4 in diesem Band insgesamt). Das ist aber etwas anderes als die Systeme der Lebensweisen und der Szenen, die es, ganz ähnlich wie die funktionalen Sphären, gewissermaßen unabhängig von der „Bevölkerung“ gibt.
4
Vgl. dazu u.a.: Hartmut Lüdtke, Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile, Opladen 1989; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; Werner Georg, Soziale Lage und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen 1998. Vgl. auch verschiedene Beiträge in Peter A. Berger und Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband 7 der Sozialen Welt, Göttingen 1990; Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen 1999. Siehe zum Konzept der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit auch noch Abschnitt 4.4 unten in diesem Band.
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In den kulturellen Milieus dreht sich – analog zu den funktionalen Imperativen – auch alles um gewisse Oberziele und spezielle primäre Zwischengüter und Objekte: die für die jeweilige Lebensweise bedeutsamen „kulturellen“ Ziele und Objekte einer bestimmten Lebensführung und die jeweils relevanten „kulturellen“ Ziele und Objekte in einem Milieu bzw. einer Szene für einen bestimmten Lebensstil. Das sind die Codes der Orientierung und die Programme des Handelns in dem jeweiligen kulturellen Milieu. Diese Codes bzw. diese Ziele, Objekte und Programme seien zusammenfassend als kulturelle Fokalobjekte bezeichnet. Die Unterteilung einer Gesellschaft in verschiedene kulturelle Milieus mit typisch unterschiedlichen kulturellen Fokalobjekten macht dann ihre kulturelle Differenzierung aus. 3.2.1 Lebensweise und Lebensführung Die Nutzenproduktion ist immer aufwendig. Daher verwundert es nicht, wenn die Menschen alle Möglichkeiten nutzen, um eine geltende soziale Produktionsfunktion möglichst effizient zu gestalten. Und das heißt vor allem: Produktionskosten zu sparen. Eine besonders effiziente Weise der Kostenersparnis ist die Wiederholung eines erfolgreichen Ablaufs, etwa die der zunächst komplizierten Schritte einer Verhandlung um einen Kredit in einer Bank oder die einer mühselig gefundenen optimalen Sequenz einer Trainingseinheit beim Schwimmen. Solche Wiederholungen verselbständigen sich, einmal entstanden, rasch in den Köpfen der Menschen und werden alsbald zu etablierten „Modellen“ des Handelns, zu schematisierten Vorstellungen über typisierte Abläufe, zu verankerten Einstellungen, zu sozialen Drehbüchern, zu symbolisierbaren „Handlungen“, die die wechselseitige Orientierung erleichtern. Wenn die Umstände einigermaßen stabil bleiben, bildet sich ein Gleichgewicht der stetigen Reproduktion der betreffenden Abläufe. Es entstehen typische Formen der alltäglichen Praxis und der gedanklichen Einstellung, verbunden mit der Zugehörigkeit zu typischen funktionalen Positionen und anderen Eigenschaften, die sich an diese Abläufe knüpfen. Erich Rothacker, ein früher „Pionier“ des Lebensführungskonzeptes, beschreibt die Entstehung einer typischen „Haltung“ als Folge einer bestimmten „Lage“ am Beispiel der Lebensweise von Seeleuten als „Antwort des Lebens auf eine Lage“ so: „Auch dieser Lebensstil ist eine Antwort des Lebens auf eine Lage. Ein Einfall des Lebens unter dem Druck bestimmter Umstände. Eine gute und sieghafte Antwort, wenn dieser Stil eine völlig zweckmäßige, allerseits ausgeglichene und zufallsüberlegene Form erreicht, eine gradweise weniger gute Antwort, solange er noch nicht völlig reif, noch nicht völlig harmonisiert und noch nicht allen Schwierigkeiten des Seemannslebens gewachsen ist. Auf seiner Höhe wird er dasselbe meistern. Ja wir können uns diesen Seemannsstil ausgebildet denken
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zu einer echten Lebensform, einer geschlossenen Seemannskultur mit ihren bestimmten Sitten, ihrem bestimmten Ethos, ihrer bestimmten Musikalität, ihrem besonderen Erzählstil, ihrem eigenartigen Weltbild usw.“5
Derartige Kombinationen von praktischer Habitualisierung, symbolischer Stilisierung und internalisierter Einstellung sind die Muster der Lebensführung, die sich Menschen im Laufe der Zeit als Ergebnis ihrer alltäglichen funktionalen Beziehungen zugelegt haben. Und die Lebensweise ist das von den konkreten Akteuren unabhängige soziale System der gleichgewichtigen Reproduktion dieser Muster der Lebensführung. Habitus und Distinktion Den Zusammenhang von Habitualisierung, Schematisierung, Klassifikation und Praxis, von Mustern der Lebensführung also, und deren Reproduktion als Lebensweise im Prozeß der Alltagsabläufe hat am deutlichsten wohl Pierre Bourdieu ausformuliert.6 Der von ihm so genannte Habitus ist ein das gesamte Handeln der Akteure durchziehendes „Erzeugungsprinzip“ und ein das Denken und das Wahrnehmen strukturierendes „Klassifikationssystem“. Ein Habitus entsteht vor dem Hintergrund der objektiven sozio-ökonomischen Position, die die Akteure besetzen. Also: im Rahmen der Zugehörigkeit vor allem zu bestimmten funktionalen Sphären und der Organisation der Abläufe darin. Es ist ein sich selbst erzeugendes und sich selbst verstärkendes zirkuläres System: „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur.“ (Bourdieu 1982, S. 279)
Und die Folge: Mit den verschiedenen funktionalen Positionen und den damit verbundenen Aktivitäten verbinden sich schließlich typische Muster der Lebensführung: „Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.“ (Ebd., S. 278)
5
Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, München und Berlin 1934, S. 46.
6
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982, Kapitel 3: Der Habitus und der Raum der Lebensstile.
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In den Habitus gehen schließlich auch Elemente ein, die „eigentlich“ mit der funktionalen Position und mit der bloßen Ökonomisierung der Nutzenproduktion nicht unmittelbar in Verbindung stehen. Es entstehen distinktive Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten – vor allem: begehrten und geehrten! – sozialen Kategorie oder funktionalen Position. Eines dieser Zeichen ist die Demonstration einer besonders zugespitzten Verfeinerung und Stilisierung der entsprechenden Lebensweise. Die Folge ist eine über die „objektiven“ Unterschiede deutlich hinausgehende und überpointierende, auch symbolisch verdeutlichte und weiter vertiefte Trennung zwischen den verschiedenen sozialen Kategorien und funktionalen Positionen. Der weiße Kittel des Arztes oder der strenge Blick der Oberschwester gehören ebenso dazu, wie die Zerstreutheit des Professors oder die aufdringliche Besserwisserei des Journalisten. Der typische „Geschmack“ und Stil einer Gruppe, einer sozialen Klasse oder einer funktionalen Position „ ... verwandelt objektiv klassifizierte Praxisformen ... in klassifizierende, d h. in einen symbolischen Ausdruck der Klassenstellung ... .“ (Ebd.; S. 285; Hervorhebung nicht im Original)
Und die „in den Grenzen des ökonomisch Möglichen und des Unmöglichen“ gepflegten Formen der Lebensführung „ ... bilden also systematische Produkte des Habitus, die in ihren Wechselbeziehungen entsprechend den Schemata des Habitus wahrgenommen, Systeme gesellschaftlich qualifizierter Merkmale (wie ‚distinguiert‘, ‚vulgär‘, etc.) konstituieren.“ (Ebd.; S. 281)
Die Muster der Lebensführung bekommen, wegen ihrer starken funktionalen Verankerung und distinktiven Bedeutung, also bald auch eine normative Bedeutung. Angehörige der betreffenden Kategorien oder Positionen haben keine besondere Wahl, den Mustern zu folgen oder nicht. Das wissen alle Ärzte, Oberschwestern, Professoren und Journalisten nur zu gut. Pierre Bourdieu hat diese quasi-normativen Elemente der Lebensführung in seiner Ethnographie Frankreichs besonders betont. Er meint, „ ... daß im Grunde kein Bereich der Praxis sich gegenüber der Intention einer Verfeinerung und Sublimierung der elementaren Triebe und Bedürfnisse verschließen kann ... .“ (Ebd. 1982; S. 25)
Die aus der Alltagspraxis entstandenen Arten der Lebensführung sind also nicht einfach bloß kostensparende und eingelebte Formen der Routine. Sie stellen nicht einfach nur Varianten der Alltagsgestaltung dar, die man auch lassen könnte. Sondern: Es sind schließlich in besonderer Art bewertete und mit unterschiedlichem Prestige versehene kulturelle Praktiken, die zum Symbol der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Gruppe, Klasse oder Position, wie insbesondere für den Rang eines Akteurs im Gesamtsystem der Positionen in
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einer Gesellschaft werden. Und die „Haltungen“ sind daher schließlich – ganz unabhängig von ihrer „funktionalen“ Bedeutung – etwas, mit denen die Akteure Gefühle von Stolz, Würde und Ehre verbinden und die sie daher oft genug auch „wollend und vorsätzlich“ und wohl auch „demonstrativ“ und mit einem besonderen „expressiven“ Gestus einsetzen, um Status, Anerkennung und Selbstachtung zu gewinnen oder zu behalten (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Ehre im Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Schließung und Statussymbole Die Muster der Lebensführung und die Besonderheiten eines distinktiven Geschmacks werden noch in einer weiteren Weise für die Menschen interessant: als Mittel zur Abschließung der eigenen Position gegen unliebsame Konkurrenz. Letztlich geht es dabei um die Absicherung des Wertes eines gut kontrollierten, aber von der Geltung des Prestigesystems in seinem Wert komplett abgängigen Kapitals, eines Kapitals, das seinen ganzen Wert daraus bezieht, daß es nicht zu viele andere Akteure besitzen – etwa: die Beherrschung bestimmter Tischsitten oder den Besitz eines Titels. Die Stilisierung der Lebensführung und die Verfeinerung eines bestimmten Geschmacks sind dann Teil der „ ... Strategien der Individuen und Familien mit dem Ziel der Wahrung und Verbesserung ihrer Position im Sozialraum ... .“ (Ebd; S. 227; Hervorhebungen nicht im Original)
Woran sich die Stilisierung im konkreten Fall kristallisiert, ist vorab sehr schwer vorherzusagen. Meist rankt sie sich um anders motivierte und zaghaft begonnene, anfangs bloß funktional gedachten Handlungen oder Konventionen. Beispielsweise: Ein leistungsfähiger PC wird von einem guten und fleißigen Wissenschaftler funktional dringend benötigt und auch zu den Zwecken der Wahrheitsfindung benutzt, wird dann aber rasch zu einem Statussymbol auch für diejenigen, die eigentlich nichts damit anfangen können. Englisch ist die Konferenzsprache der Wissenschaft. Und wer viel mit Amerikanern zu tun hat, gewöhnt sich deren Slang an. Und plötzlich wird das amerikanisierte Englisch zum wohlgepflegten Habitus und zum Instrument der Erzeugung von sozialer Wertschätzung und der Abgrenzung und Schließung – zunächst einmal unabhängig davon, was der Betreffende inhaltlich sagt. Viele Rituale des Alltags und manche, mittlerweile ganz selbständig gewordene Sphäre der Gesellschaft – wie der Sport – sind über solche Stilisierungen anfänglich funktionaler Abläufe einmal entstanden. „Rekorde“ – als die primären Zwischengüter eines jeden mittelmäßigen Sportfestes – sind nichts anderes als die eigenständig gewordene Stilisierung von ursprünglich einmal lediglich funktional wichtigen Leistungen: Wer schneller, weiter, höher konnte, war im Kampf und bei der Jagd wichtig – und deshalb angesehen. Und jetzt ist der Weltrekordler dies ohne jeden weiteren unmittelbaren funktionalen
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Hintergrund- außer im gesellschaftlichen Sub-System des Sports und der Medien, die beide über den Code der Außergewöhnlichkeit definiert sind.
Die Stilisierungen einer bestimmten Lebensführung bilden, wenn sie einmal als Anzeichen für Prestige, als Statussymbole, definiert sind, besonders effiziente Formen der Produktion sozialer Wertschätzung, insbesondere in kleinen Gruppen und für solche sozialen Kategorien, für die die Abgrenzung nach außen eine wichtige Angelegenheit ist. Wegen ihrer deutlichen sozialen Einbettung und wegen der oftmals langen Vorgeschichte der Entstehung und Ablösung von den funktionalen Grundlagen enthalten die Staussymbole meist wieder eine stark „entfremdende“ Komponente: Eine echte Rolexuhr ist sehr teuer und ausgesprochen häßlich. Doc Martin-Schuhe drücken und behindern bei mancher Grazilität. Und gefährliche Mutproben erzeugen auch nicht unmittelbar physisches Wohlbefinden, dafür aber um so mehr an sozialer Wertschätzung in der Gruppe und ein positives Selbstbild – wenn alles gut gegangen ist. Wegen ihrer hohen Effizienz, besonders dann, wenn es sich um kleine Gruppen einander gut kennender und kontrollierender Individuen handelt, oder wenn die Regeln des jeweiligen Comments fest institutionalisiert sind, wird diese Entfremdung aber oft genug komplett außer Kraft gesetzt: Bei Mutproben, beispielsweise, zählt daher auch die Höhe des Risikos nicht als „Kostenfaktor“ sondern als Einsatz für einen besonders hohen Gewinn an sozialer Wertschätzung. Dies ist auch ein Schlüssel zum Verständnis für den sog. demonstrativen Konsum, für die Tapferkeit im Kampf oder auch für manches Zeichen der selbstlosen Aufopferung und sogar des selbstmörderischen Altruismus. Es ist, so gesehen, nicht viel an „Irrationalität“ daran. Der Code der Distinktion Lebensweisen sind, so sei noch einmal zusammengefaßt, die als (soziales) System verselbständigten, als Norm oder Etikette teilweise institutionalisierten und durch das Handeln von im Prinzip auch immer wieder anderen Akteuren reproduzierten Muster bestimmter Lebensführungen. Das Oberziel bzw. der Code solcher Lebensweisen sind dann die Kultivierung dieser besonderen Form der Lebensführung und die damit beabsichtigten Folgen, insbesondere die der Expression und der Distinktion: die – mehr oder weniger – bewußte Demonstration einer besonderen gesellschaftlichen Lage mit der – mehr oder weniger – reflektierten Nebenfolge der Schließung und (neo-)feudalen Absetzung, sowohl nach oben wie nach unten. Die peinliche Beachtung der Regeln einer bestimmten Lebensführung, das sichere Beherrschen eines bestimmten Geschmacks oder das Mithalten beim Wettbewerb um die Symbole des Pres-
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tiges können daher durchaus eine Frage von Leben und Tod sein – und das besonders dann, wenn die betreffende Lebensweise der einzige Ort der sozialen und physischen Existenz der Akteure ist, wie das bei ethnischen oder religiösen Gruppen der Fall ist, die alles verlieren, wenn man ihnen das Ausleben ihrer angestammten Art der Lebensführung verwehren würde. 3.2.2 Szenen und Lebensstile In der vor-postmodernen Gesellschaft war das Handeln immer zuerst Problemlösung und eine Art von Mangelverwaltung. An unmittelbare „Erlebnisse“ der Erzeugung von Wohlbefinden mit dem Handeln „an sich“ konnte dort kaum gedacht werden: „Das Einwirken auf die Situation war (in den vor-postmodernen Gesellschaften; HE) darauf ausgerichtet, sich in ihr zu arrangieren oder ihre Grenzen zu erweitern, den Mangel zu verwalten oder zu lindern. Unter solchen Umständen kam es zur Entstehung geschichteter Gesellschaften mit einer fundamentalen ökonomischen Semantik. Erlebnisse blieben für den größten Teil der Bevölkerung Nebensache; die Rationalität des Handelns war typischerweise außenorientiert (situationsbezogen).“7
Von daher kann es nicht verwundern, daß die menschlichen Akteure, sobald das nur irgendwie möglich war, versucht haben, die Pfade der Nutzenproduktion zu verkürzen und die Zwischengüter, die sie ganz unmittelbar und persönlich interessieren, ohne jeden unnötigen „gesellschaftlichen“ Umweg herzustellen. Erlebnisse und Erlebnisproduktion Handeln ist dann eben nicht mehr um die bloß instrumentelle Sicherung aller möglichen Vorprodukte und indirekten Zwischengüter, sondern um das „konsumatorische“ Erleben der Bedürfnisbefriedigung unmittelbar herum organisiert. Es dient der Bedienung der speziellen individuellen Präferenzen, die es neben allen sozial geprägten Vorlieben und neben allen „allgemeinen“ Funktionserfordernissen des Organismus stets auch noch gibt. Die dazu geeigneten, sozusagen, „primär“-primären Zwischengüter sind die Erlebnisse der unmittelbaren Erzeugung von Nutzen. Das allerdings setzt einen gewissen Überfluß voraus: Die Produktion von Erlebnissen wird erst möglich, wenn nicht alles 7
Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 51.
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Handeln Problemlösung und Mangelverwaltung sein „muß“. Und diese Möglichkeit schien einmal die sog. Postmoderne zu bieten. Es war der kurze, inzwischen wohl zerstobene, Traum von der immerwährenden Erlebnisgesellschaft und vom Freizeitpark Deutschland. Unter den Bedingungen der Knappheit und der Umwegsproduktion des Nutzens mit ihren oft sehr langen Ketten bis hin zu den Bedürfnissen der Menschen, die die Grundlage für die Interessen der sozialen Gruppen und für die funktionalen Imperative in den Sphären der sozialen Differenzierung waren, gab es für solche personalen Erlebnisse also nicht viel Raum. Das ist auch der strukturelle Grund dafür, daß es in Gesellschaften, die sich die Erlebnisproduktion nicht leisten konnten oder können, typischerweise soziale Identitäten – sozial geprägte innere Welten der Akteure also – gibt – und nur wenig Raum für persönliche Ideosynkrasien, die davon abweichen. Genau das ist in der Erlebnisgesellschaft des Überflusses ganz anders: „Nun entwickelt sich eine innenorientierte Rationalität, bei der das Subjekt die Situation als Mittel betrachtet, um bei sich selbst bestimmte Prozesse zu provozieren.“ (Ebd., S. 51f.; Hervorhebung nicht im Original)
Das letzte Ziel aller Anstrengungen – die Bedienung der „inneren“ Bedürfnisse der Akteure „bei sich selbst“ – gerät mit dem Überfluß über alle möglichen Zwischengüter immer mehr in Reichweite, bis das Handeln jeden Rest an investiver Vorleistung verloren hat und nur noch dem einen dient – dem Erlebnis der inneren Nutzenproduktion ganz unmittelbar: „Erlebnisse werden dabei nicht bloß als Begleiterscheinung des Handelns angesehen, sondern als dessen hauptsächlicher Zweck.“ (Ebd., S. 41; Hervorhebung nicht im Original)
Erlebnisse der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung lassen sich also durchaus herstellen – wenn das Bafög oder die Rente reichen. Das weiß jeder, der seine Obsession, sagen wir: nach einem Geländewagen, tatsächlich auslebt und dafür sein Girokonto in der sicheren Gewißheit, daß bald geerbt wird, weit unter den Gefrierpunkt bringt. Dies geht durchaus unabhängig von den Kategorien der sozialen Ungleichheit und quer zu den Sphären der funktionalen Differenzierung – wenn es nur die Knappheiten der bürgerlichen Existenz zulassen, und wenn die Nutzenproduktion durch das Ausleben der Obsession nicht an anderer Stelle empfindlich leidet. Und die Folge: Die Menschen organisieren in der Überflußgesellschaft die Produktion von solchen Erlebnissen – auf der Grundlage freilich immer der Zwischengüter, die sie tagsüber in den funktionalen Sphären herstellen und für die sie mit einem Gehalt entlohnt werden.
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Lebensstile Lebensstile sind gewisse kulturelle Praktiken der Erlebniserzeugung bei den individuellen Akteuren in den jeweiligen Szenen bzw. in „einsamer“ Imitation dessen, was – meist: gerüchteweise und durch die Medien kolportiert – in den jeweiligen Szenen geschieht. Der Unterschied eines Lebensstils zur Lebensführung ist im wesentlichen der, daß bei der Lebensführung die Kostenersparnis der funktionalen Abläufe der Hintergrund ist, und daß die Muster der Lebensführung vor allem auch eine – mehr oder weniger ausgeprägte – normative und distinktive Komponente haben. Lebensstile sind demgegenüber – gewissermaßen – freischwebende Angelegenheiten. Sie sind das Ergebnis „individueller“ und „freiwilliger“, von der funktionalen Position her relativ unabhängiger „Entscheidungen“ oder des ungehemmten Auslebens irgendwelcher, wie auch immer erworbener Präferenzen – etwa nach klassischer Musik hier und nach Rockmusik da oder nach Karl Moik und Carolin Reiber dort. Gerade wegen ihrer Ablösung von funktionalen und normativen Erfordernissen kommen die Lebensstile den personalen Präferenzen der Akteure so sehr nahe. Lebensstile sind, wenn man so will, eine Art der Lebensführung, die nicht durch die funktionale Position, den Zwang zur Kostensenkung, durch ein damit verbundenes Prestige oder Schließungsbedürfnis oder durch normative Erwartungen erzwungen ist, sondern den ganz persönlichen Vorlieben der Akteure entsprechen, und die die Akteure auch lassen könnten, wenn sie es denn wollten. Die Übergänge zu den Zwängen der Lebensführung sind freilich fließend. Szenen Szenen sind dann die „Milieus“, die sozialen Systeme also, dieser unmittelbaren Produktion ganz spezieller Erlebnisse zur Bedienung von ideosynkratischen personalen Präferenzen, denen die Akteure im normalen Alltag nicht nachgehen können. Schachliebhaber tun sich – beispielsweise – zu einem Schachklub zusammen und enthusiasmieren sich gegenseitig über verwickelte Varianten der Sizilianischen Verteidigung – und wären sonst wohl lieber Feldherren geworden, wenn es die schönen Sandkastenkriege noch gäbe. Aber der Schachklub „besteht“ als Teil der Szene zur Pflege des Lebensstils des Schachs unabhängig von den konkreten Mitgliedern, wenngleich nicht ohne irgendwelche Mitglieder. Thekenfußballer finden sich in stets wechselnder Besetzung auf einem Rasenstück am Rhein zusammen, weil ihnen der bürokratische Betrieb des DFB auf die Nerven geht, und weil man so als FC Rote Socke so schön folgenlos ein bißchen proletarisch sein kann. Aber diese Gruppe gibt es nur solange, wie irgendjemand noch kommt. Danach eben nicht mehr. Sado-Masochisten bilden ihre bizarre Szene mit allem dazu erforderlichen E-
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quipment zur Bedienung ihrer geheimsten Bedürfnisse des physischen Wohlbefindens, für die die betreffende Gesellschaft leider keinen funktional verkleideten anderen Ort – etwa das Amt eines Inquisitors, Henkers oder Paukers – mehr anbietet. Rechtsradikale besaufen sich an den Symbolen einer vermeintlichen kollektiven Größe, der sie von Geburt an und unwiderruflich zuzugehören meinen, von der sie als arme Würstchen auch etwas abbekommen möchten und die sie mit keinem teilen wollen, weil es ja das einzige erbärmlich kleine kulturelle Kapital ist, das sie zu kontrollieren glauben. Besucher von Rockkonzerten, Fußballspielen und Demonstrationen suchen das Erlebnis der Gemeinsamkeit in der Menge und der Rauschzustände, die gewisse Inszenierungen von Großritualen offenbar herbeiführen können, und wozu es früher einmal Reichsparteitage gab. Und so weiter.
Die Szenen wechseln ihr Personal und ihre inhaltlichen Ausgestaltungen des speziellen Lebensstils rascher als die Lebensweisen ihr Personal und ihre Muster der Lebensführung. Sie sind von bestimmten funktionalen Positionen noch stärker abgekoppelt als die Lebensweisen – eben weil es hier ganz besonders um „Erlebnisse“ und um die „personale“ Nutzenproduktion geht. Ihre Mitglieder kommen, wie es dann heißt, aus „allen gesellschaftlichen Gruppen“. Und das ist auch leicht erklärbar: Schachliebhaber, Freizeitfußballer, Sado-Masochisten, arme Würstchen und Bedarf nach Massenritualen gibt es ja quer durch die Gesellschaft, jenseits aller funktionalen Sphären und daher auch in allen gesellschaftlichen Lagen. Personale Zwischengüter Wie aber wäre das Entstehen solcher personaler Präferenzen und Ideosynkrasien „soziologisch“ zu erklären? Hier hilft zunächst schon die Idee der sozialen Produktionsfunktionen weiter, die wir in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich besprochen haben. Danach streben alle Menschen im Grunde nur nach der Erfüllung zweier Grundbedürfnisse, soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Aber zur Befriedigung dieser Bedürfnisse gibt es gewisse Vorgaben in Form von „primären“ (und darüber hinaus auch von „indirekten“) Zwischengütern, über deren Kontrolle erst die Befriedigung der Bedürfnisse möglich ist, wie etwa eine Nobelvilla, die den Vorzug hat, sogar beide „allgemeinen“ Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen zu helfen. Die wichtige Besonderheit dabei ist nun, daß diese Zwischengüter gesellschaftlich festgelegt sind und daß sich damit das Interesse an ihnen mit der jeweils geltenden „Verfassung“ der Gesellschaft ändert: Ehre ist eine Sache der Feudalgesellschaft und materieller Wohlstand eine des Kapitalismus. Die Zwischengüter „vermitteln“ also zwischen dem biologischen Organismus des Menschen und den allgemeinen Bedürfnissen aller Exemplare des homo sapiens einerseits und den jeweils historischspezifischen und immer „konstruierten“ gesellschaftlichen Institutionen andererseits, in denen jeweils festgelegt ist, welche Ressourcen für die Akteure überhaupt von Interesse sind und welche nicht. Und so wie sich die „Verfassung“ der Gesellschaft ändert, so ändern sich auch die „Präferenzen“ der Menschen und ihre Interessen an den Dingen dieser Welt, obwohl die Bedürfnisse immer die gleichen sind. Revolutionen sind eben nicht nur Umwälzungen der ge-
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sellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch solche der Vorlieben, der Interessen und sogar des Geschmacks.
An dieser Stelle entsteht aber ein theoretisches Problem, das unsere bisher so saubere Abgrenzung zwischen organismischen Bedürfnissen und den primären Zwischengütern sowie den Verzicht auf das Reden von „persönlichen“ Präferenzen aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ etwas zu verwischen droht. Zunächst scheint die Sache noch einfach: Zwar haben alle Menschen die beiden Bedürfnisse nach einem positiven Selbstbild bzw. nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden, aber nicht alle Menschen benötigen dafür die gleichen primären Zwischengüter. Und wir waren davon ausgegangen, daß die „Definition“ der primären Zwischengüter ausschließlich eine Frage der sozialen Produktionsfunktionen sei, und daß alle Menschen einer spezifischen sozialen Konstellation darin gleich seien. Das erlaubte es ja, die Präferenzen als ausschließlich sozial konstruierte Variablen aufzufassen. Mit dem Verweis auf die Erlebnisse als unmittelbare Ziele des Handelns wird aber angesprochen, daß es auch „innere“, von den personalen Ideosynkrasien abhängige, „individuelle“ primäre Zwischengüter gibt. Etwa: der Spaß an Schach als Folge von vererbten Intelligenzunterschieden; oder genetisch bedingte Vorlieben für bestimmte Speisen oder sexuelle Obsessionen. Damit aber müssen wir eine Zusatzannahme machen, ohne die nicht erklärt werden kann, warum die Menschen jenseits ihrer Gruppeninteressen und über der funktionalen Imperative hinaus sofort personalisierte Zwischengüter und „Erlebnisse“ anstreben, wenn es nur eben geht und die „Gesellschaft“ das erlaubt. Die Grenze zwischen Organismus und sozialer Umwelt, die in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Funktionen SW=g1(Z) und PW=g2(Z) beschrieben worden war, müßte demnach also in Hinsicht auf personale Ideosynkrasien differenziert werden: Zwischen die primären Zwischengüter Z und die Bedürfnisse SW bzw. PW treten vermittelnd auch Zwischengüter, die mit den personalen Besonderheiten des individuellen Akteurs bzw. mit den subkulturellen Ideosynkrasien „seiner“ Lebenswelt – Familie, peer-group, informelle Gruppe im Betrieb, Spezialmilieu des Alltags – zu tun haben. Sie seien allesamt mit P abgekürzt. Diesen Fall könnte man dann als Spezialfall des Schemas aus Abbildung 3.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ so skizzieren (Abbildung 3.1):
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Die Konstruktion der Gesellschaft
schieden werden. Es ist ein Fall für das Problem der abnehmenden Abstraktion. Lebensstile und Erlebnisse als Code Die Pflege eines bestimmten Lebensstils, insbesondere aber die damit verbundene Erzeugung von Erlebnissen, sind damit die Oberziele des Handelns in den jeweiligen Szenen. Um sie dreht sich, wie bei den „einfachen“ primären Zwischengütern, alles. Sie bestimmen die Codierung der Orientierungen in den jeweiligen sozialen Systemen und steuern die Herausbildung und den Wandel der speziellen kulturellen Fokalobjekte in den jeweiligen Szenen. Abweichung als Erlebnis Manchmal bestehen die Erlebnisse, die personalen Zwischengüter bzw. die „primären“ Zwischengüter, bestimmter Szenen gerade darin, die Abweichung von den Normen der gesellschaftlichen Welt da draußen besonders herauszustellen. Dies gilt in besonderem Maße für die Szenen der Jugendkultur, bei denen es ja gerade darum geht, die Grenzen auszutesten, bis zu denen man gehen kann, um in der Phase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein festzustellen, „wer“ man denn wohl ist. Dann sind diese Abweichungen und die eventuellen Sanktionen auf die Normverletzungen aber keine „Kosten“, sondern ein Teil der Nutzenproduktion durch Erlebnisse. Und wenn man dies – etwa in einer ganz falsch verstandenen Nutzen-Kosten-Erklärung von nichtkonventionellem politischen Handeln bei Atomkraftgegnern zum Beispiel – übersieht, dann kommt man zu ganz abwegigen Schlüssen über die Beweggründe der Akteure und über die innere Dynamik dieser Milieus (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.3 gleich unten in diesem Band über die normative Differenzierung der Gesellschaft in Sub- und Gegenkulturen). Nichts erzeugt etwa in einem Milieu von Hooligans mehr an Anerkennung und Wertschätzung als das besonders brutale Verprügeln der jeweils anderen Fans. Und deshalb wird um die Wette geprügelt, gerade dann, wenn Berti Vogts höchstpersönlich zur Fairneß mahnt und Lothar Matthäus beim Okoberfest beim Bier auf seinem T-Shirt für „Keine Macht den Drogen“ wirbt – dabei aber auch einen Holländer übel beschimpft. Ähnliches läßt sich zur Erklärung der besonderen Brutalität der rechtsradikalen Szene annehmen: Besonders brutale Gewalt gegen Ausländer ist in dem Prestigesystem dieser Szene eben kein Makel oder ein Kostenfaktor, sondern ein höchst primäres Zwischengut mit um so
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höherer Effizienz, je mehr andere dabei zusehen. Genau aus dem gleichen strukturellen Grund der Effizienz einer bestimmten sozialen Produktionsfunktion gehen aber auch rot-lila oder schwarz gekleidete Atomkraftgegner gerade dann gern zu ihren Demonstrationen, wenn das Fernsehen und viel Polizei erwartet werden und wenn so besonders wirksam den eigenen Leuten gezeigt werden kann, daß man die Ziele der betreffenden Subkultur bedingungslos teilt.
So lassen sich schließlich auch die Extremfälle der Sekten erklären, in denen die Mitglieder offenbar das höchste Glück darin finden, sich kollektiv umzubringen – und zwar: immer nur in „Gemeinschaft“, nie still auf dem Zimmer jeder für sich allein, wie dies die normalen Selbstmörder zu tun pflegen. Nach außen sieht das alles wie eine unglaubliche Tollheit aus. Wer das Binnenmilieu und den Inhalt des Prestigesystems der Gruppe aber kennt, sieht gleich, daß dem aus der Sicht der Akteure heraus keineswegs so ist. Sie produzieren ein mitunter ganz extremes Maß an sozialer Wertschätzung unter Ihresgleichen, das alle „Kosten“ glatt in den Hintergrund drängt und sogar den Preis des eigenen Lebens aufzuwiegen scheint. Die Organisation der Erlebnisproduktion Erlebnisse sind ohne Zweifel eine sehr individuelle Angelegenheit. Aber ganz alleine kann man sie sich kaum besorgen, besonders dann, wenn es um Erlebnisse geht, die an die „Gemeinschaft“ mit anderen Akteuren gebunden sind. Kurz: Auch Erlebnisse müssen produziert, und diese Produktion muß sozial organisiert werden. Unter den Bedingungen hoher Knappheiten wäre die gesellschaftliche Organisation der Erlebnisproduktion ein Luxus, den sich kaum jemand leisten könnte. Sobald der gesellschaftlich erzeugte materielle Überfluß das aber möglich macht, entsteht sofort ein organisierbares Interesse an den „primär“-primären Zwischengütern der Erlebnisse. Die Orte einer solchen sozialen Organisation der Erlebnisproduktion sind uns wohlbekannt: Vereine, Freizeitgruppen, Cliquen, Treffs, Subkulturen und Milieus, die Szenen der Erlebnisproduktion eben. Die, mitunter nur kleinen, Variationen in den individuellen Ideosynkrasien erzeugen – sofern die Zahl der Akteure nur groß genug ist – eine kollektive Nachfrage nach ganz besonderen, oft höchst eigenartigen primären Zwischengütern, die dann der Hintergrund für das Entstehen auch ganz spezieller kultureller Milieus sind. Gibt es diese Milieus aber einmal, dann kann sich ihre Existenz von den ursprünglichen Ideosynkrasien ablösen, weil die eingespielten kulturellen Konventionen und Praktiken einen Ankerpunkt für ganz verschiedene Formen der Produktion sozialer Anerkennung bilden und – sehr rasch
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sogar – ein durchorganisiertes und kommerzialisiertes System einer Szene wird, von der viele Menschen ihr ganz stinknormales funktionales Auskommen haben – wie etwa die Hersteller von Fanartikeln für Borussia Dortmund, die Fabrikanten von Golfschlägern oder die Platzanweiser in den Pornokinos. Fokus-Wandel Die kulturellen Fokalobjekte der Muster einer Lebensführung bzw. einer eingespielten Lebensweise verändern sich kaum. Sie sind ja Teil der ganz normalen funktionalen Organisation des Alltags und eines daran anknüpfenden übergreifend geltenden Prestigesystems. Dagegen ändern sich die kulturellen Fokalobjekte der Lebensstile und Szenen fortwährend – ganz anders als die funktionalen Imperative der funktionalen Sphären. Das ist es ja gerade: Lebensstile werden wegen gewisser „Erlebnisse“ jenseits der funktionalen Zwänge gepflegt. Und gerade der Wandel, die immer weiter geführte Stilisierung und die Verfeinerung des kulturellen Fokalobjektes, macht die Besonderheit vieler Lebensstile und Szenen für die daran beteiligten Akteure aus. Dieser Wandel ist auch möglich, weil die kulturellen Fokalobjekte dort typischerweise extrafunktionale, eigentlich ganz überflüssige Bereiche der Gesellschaft berühren, deren kulturelle Ziele weder durch materielle Knappheiten eingegrenzt, noch durch funktionale Aufgaben durchkreuzt oder durch eingespielte Formen der Lebensführung verfestigt sind. Der rasche Wandel, die stets weiter getriebene Zuspitzung und Skurrilität des kulturellen Fokalobjektes ist für manche Szene sogar das eigentlich interessierende primäre Zwischenprodukt – wie in der Mode und in der Kunst, die ja im Wesentlichen nur von ihrem Wettlauf um etwas nie Dagewesenes leben. Das liegt daran, daß es eigentlich nicht um ein konkretes begehrtes oder als solches lebenswichtiges Zwischengut, sondern vielmehr darum geht, daß man möglichst der Erste und der Einzige ist, der das Gut besitzt. Stilisierungen sind eben Positionsgüter oder dienen der Absicherung anderer Positionsgüter (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und genau deshalb ist der Wettlauf um das Erlebnis der Distinktion so ganz besonders gnadenlos – obwohl es doch materiell und eigentlich, wie man glauben möchte, um buchstäblich nichts geht.
Alle Statussymbole und die meisten Fokalobjekte oder Insignien der Jugendkultur, des Musikstils, der Literatur oder der modernen Malerei unterliegen auch genau deshalb jener offenbar eingebauten Dynamik von zögerndem Beginn durch Pioniere, trendsetter oder opinion leader, wachsender Verbreitung und Erfassung auch der zurückhaltenderen Teile der Bevölkerung, Kulmination und der gerade dadurch bewirkten Entwertung des betreffenden Fokalobjektes, der alle Positionsgüter unterliegen: Wenn alle ihren Miró besitzen, dann wird er für die Avantgarde sehr bald zum Trivialkitsch – weil man einen
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echten imitierten Miró nun auch schon in der Galerie Mensing billig bekommen kann. Wenn jeder Geschäftsführer eines öffentlich finanzierten Instituts Professor – ordentlich, außerplanmäßig oder als Honorarprofessor – ist, dann ist der Titel selbst bald nichts mehr wert. Und wenn alle unverstandenen LehrerInnen – Du, irgendwie – zum Töpfern in die Toscana fahren oder über glühende Kohlen laufen, dann hilft das schließlich auch nicht mehr viel bei der Gewinnung von sozialer Wertschätzung im Milieu der Waldorfschulen, selbst wenn es zuvor eine ganz und gar ausgefallene Sache gewesen sein sollte, und das ganze Lehrerzimmer ganz ergriffen schwieg, wenn jemand darüber mit verträumtem Blick zu erzählen begann. Diese Entwertung ist der eingebaute Mechanismus für den schließlichen Verfall, dem die meisten Lebensstile und Szenen unterliegen. Sie leben ab da nur noch in gewissen Nischen weiter – oder werden zu einem neuen Teil der etablierten Kultur einer Gesellschaft, zu einer Lebensweise und oft genug zu einem neuen funktionalen System, wie das etwa beim Tourismus oder bei den lila Grünen der Fall gewesen ist. Die Selbstorganisation der Milieus Die Zugehörigkeit zu gewissen Szenen können sich die Akteure – in den „offenen“ Gesellschaften jedenfalls – meist relativ frei aussuchen. Wegen dieser Offenheit der Zuordnung zu konkreten Personen und wegen ihrer Unabhängigkeit von den funktionalen Sphären einer Gesellschaft sind die Produktionswege für den Nutzen ja gerade so kurz. Diese Offenheit hat aber einen strukturellen Preis: Die Produktionsfunktionen in den Szenen sind nicht durch besondere Funktionen institutionell gesichert, sondern von der immer wieder neu zu motivierenden Beteiligung wechselnder Akteure abhängig. Dies hat noch einen weiteren, sehr „strukturellen“ Grund: Die Menschen können sich ja auch nur recht punktuell in den Szenen aufhalten, weil das Leben bekanntlich auch in den wohlhabendsten Kreisen nicht nur mit Schachabenden, Freizeitfußball, Sado-Masochismus, rechtsradikalen Besäufnissen und Massenhysterien zu bestreiten ist. Kurz: Viele Milieus und Szenen ähneln eher den auf- und abschwellenden „sozialen Bewegungen“ als stabilen Institutionen. Gleichwohl können sich solche Szenen – wie die Lebensweisen – als kollektives Phänomen ganz dauerhaft einrichten – etwa als eine immer in Bewegung befindliche Jugendkultur, als eine Subkultur gewisser sexueller Praktiken oder als ein Milieu eines bestimmten Freizeitstils. Diese Milieus „bestehen“ dabei, es sei wiederholt, nur als ständig sich „selbst“ neu reproduzierendes und in seinem Inhalt sich wandelndes kulturelles System der jeweiligen Fokalobjekte und als soziales System der entsprechenden aneinander anschließenden Hand-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
lungen. Bei der immer wieder neu erfolgenden Konstitution der „Systeme“ der Szenen sind zwar immer Akteure beteiligt. Wie sollte das auch anders möglich sein? Es sind aber nicht immer die gleichen Akteure, die die Szenen tragen. Auch das ist eigentlich kaum anders vorstellbar. Kurz: Die Szenen leben von einem hohen – und meist sogar unvermeidlichen – Wechsel des Personals: Alle Jugendlichen werden älter – aber die Jugendkultur gibt es weiter. Alle Hedonisten übernehmen irgendwann einmal Verantwortung, wenn sie nicht als Drogentote geendet sind – aber Sinus und tausend weitere Lebensstilforscher finden immer noch das hedonistische Milieu. Und Ikea verkauft seine teuren Billigmöbel auch dann noch an die Nachfolgeszene des 68er-Milieus, wenn die Gründergeneration der Frankfurter Schule längst in den spätkapitalistischen Schrankwänden aus Brabanteiche eingerichtet sich hat. Die Erklärung für das Überdauern der Lebensstile und der Szenen als „Systeme“ bei allem Wechsel des Personals und des Wandels der konkreten Fokalobjekte ist leicht: Eine Szene wird mit ihrem Lebensstil zwar immer nur aktuell konstituiert, aber es müssen nicht die gleichen Personen sein, die den Prozeß tragen, und es müssen nicht immer die identischen Objekte sein, um die sie sich scharen. Szenen (und auch die Lebensweisen) sind ein besonders instruktives Beispiel für sich „selbstorganisierende“ und „evolutionäre“ soziale Systeme. Sie sind ein Spezialfall dessen, was allgemein als die „Konstitution“ der Gesellschaft bezeichnet wird (vgl. dazu auch noch Kapitel 9, insbesondere Abschnitt 9.1 unten in diesem Band). Die Kombination von Lebensweisen und Szenen In den Milieus bestimmter Weisen der Lebensführung und bei den Szenen der Erlebnisproduktion geht es, ähnlich wie bei den funktionalen Imperativen, immer um ganz spezielle Oberziele und Codes. Dies sind, wie schon gesagt, einmal die Inhalte der jeweiligen Stilisierungen der Lebensführung – der Habitus, der Geschmack, die Symbolik der Distinktion – und dann die Besonderheiten des Lebensstils und der Erlebnisse, um deren Produktion es in einer Lebensweise bzw. Szene „primär“ geht. Diese Oberziele und Codes sind die „fokalen“ Objekte der jeweiligen Lebensweise, des jeweiligen Lebensstils oder der jeweiligen Szene – die kulturellen Fokalobjekte. Um sie dreht sich jeweils alles. Sie sind der Rahmen der Situationsdefinition in den betreffenden kulturellen Milieus. Oft kombiniert sich in dem kulturellen Fokalobjekt die distinktive Stilisierung einer Lebensweise mit einer speziellen Erlebnisproduktion einer Szene. Zu dem Fokalobjekt gehört dann – zusammen mit dem Oberziel der Erzeugung eines speziellen Erlebnisses – auch ein bestimmter
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Habitus des Benehmens, des Aussehens und auch der sonstigen Lebensgestaltung bei der Erlebnisproduktion, dessen Einhaltung für die Nutzenproduktion in dem jeweiligen Milieu wichtig ist. Der Habitus ist dann gleichzeitig eine Stilisierung der wichtigsten Elemente des Erlebnis-Codes, Erkennungszeichen für die Anhänger der Szene, Statussymbol für die Gewinnung sozialer Anerkennung innerhalb des Milieus, gelegentlich gleichzeitig ein Stigma nach außen, das es zu verbergen gilt, und vor dessen outing man sich sehr fürchtet. Dieser Code muß von den Novizen der jeweiligen Subkultur oft erst noch richtig gelernt werden – auch wenn sie genau wissen, was das Oberziel ist und worum es geht. Und wer sich nicht daran hält oder zufälligerweise verläuft, erlebt – an einem FKK-Strand, in einer Schwulenkneipe oder in einer Punkerversammlung etwa – sein blaues Wunder. Die gesellschaftliche Basis der kulturellen Milieus Dies alles verweist darauf, daß letztlich auch die kulturellen Milieus der ganz und gar unkonventionellen Lebensstile und Szenen auf gesellschaftlich festgelegten Produktionsfunktionen beruhen; für die Muster der Lebensführung bei den Lebensweisen gilt das ja sowieso. Auch ganz ideosynkratische Erlebnisse bedürfen – zumal: wenn man sie wiederholt und kostengünstig genießen will – offenbar einer sozialen Organisation ihrer Produktion. Und oft genug mutiert – mit der Etablierung des jeweiligen kulturellen Milieus als Folge der verläßlicheren Einrichtung des Milieus – die Produktion von ursprünglich als sehr primär und spontan erlebten Ereignissen in einen ganz und gar entfremdenden Terror der Beachtung absurder Spielregeln und Distinktionspraktiken: Aufnahmeprüfungen, Mutproben, Kleidungsvorschriften, wie bei schlagenden Verbindungen zum Beispiel. Und oft weiß dann niemand mehr, wie das jeweilige kulturelle Fokalobjekt einmal entstanden ist, geschweige denn, daß es einmal um ganz persönliche „Erlebnisse“ ging – und eben nicht um ein dumpfes Ritual mit Vorsitzendem, Schriftführer und Kassenwart im Nudistenverein.
3.3
Normative Differenzierung
Nicht jede Organisation der Nutzenproduktion und nicht jedes funktionale oder kulturelle System entspricht den in einer Gesellschaft jeweils „herrschenden“ Regeln. Das hat einen einfachen und unvermeidlichen Grund: Die jeweils etablierten kulturellen Ziele sind nicht immer und schon gar nicht für al-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
le Akteure mit den jeweils als legitim definierten institutionalisierten Mitteln erreichbar. Und um dennoch ein erträgliches Auskommen zu haben, reagieren die Akteure: Einige suchen, wenn sie nicht gerade auswandern oder Selbstmord begehen, nach bis dahin unbekannten oder auch unerlaubten Wegen, und andere versuchen sogar, die übergreifenden kulturellen Ziele der Gesellschaft so zu ändern, daß sie dann mit den ihnen verfügbaren oder richtig erscheinenden Mitteln zurechtkommen. Auf diese Weise entstehen soziale Systeme, sei es der Nutzenproduktion unmittelbar, sei es der Vorbereitung einer Änderung der Verfassung einer Gesellschaft, die entweder in ihren Mitteln oder in ihren Zielen von den etablierten Mitteln und Zielen einer Gesellschaft abweichen. Solche von den etablierten und anerkannten Standards einer Gesellschaft „abweichenden“ sozialen Systeme seien als Devianz-Bereiche bezeichnet, wobei der Ausdruck „Devianz“ ganz neutral gemeint ist und nur bezeichnen soll, daß es bei diesen sozialen Systemen um andere Formen der Nutzenproduktion geht als bei denjenigen, die gerade gesellschaftlich etabliert und anerkannt sind. Die innere Differenzierung einer Gesellschaft in Hinsicht auf die Vielfalt und das Ausmaß solcher Devianz-Bereiche sei dann die normative Differenzierung der Gesellschaft genannt. Das Anomie-Schema Im Kern der Entstehung von Devianz-Bereichen stehen also Unterschiede der Akteure darin, wie gut sie mit den etablierten Systemen der Nutzenproduktion, den geltenden kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln also, zurechtkommen. Von Robert K. Merton stammt hierzu eine berühmt gewordene Typologie von Mustern der Anpassung an unterschiedliche Konstellationen von kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln, auf das wir schon in Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zu sprechen gekommen waren: das sog. Anomie-Schema.8 Ausgangspunkt ist der „funktionale“ Normalfall: Die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel bilden nach Merton im gesellschaftlichen „Gleichgewicht“ ein integriertes, abgestimmtes System, in dem die Akteure sowohl die Ziele unterstützen, wie sich an die institutionalisierten Mittel halten. Dieses Gleichgewicht ist aber davon abhängig, inwieweit die Akteure unter Beachtung der Vorgaben der kulturellen und institutionellen Verfassung der Gesellschaft zu einer hinreichenden Bedürfnisbefriedigung gelangen: 8
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967a, S. 131-160.
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„An effective equilibrium between these two phases of the social structure is maintained so long as satisfactions accrue to individuals conforming to both cultural constraints, viz., satisfactions from the achievement of goals and satisfactions emerging directly from the institutionally canalized modes of striving to attain them.“ (Ebd., S. 134)
Ein Gleichgewicht der Gesellschaft besteht also dann, wenn die Akteure sowohl alle die kulturellen Ziele verfolgen und sich dabei an die institutionalisierten Mittel halten. Das dazu gehörende Verhalten nennt Merton Konformität. Dieses Gleichgewicht der Konformität und der Unterstützung sowohl der kulturellen Ziele wie der institutionalisierten Mittel ist aber durch nichts garantiert. Merton geht vielmehr davon aus, daß beide Elemente der Verfassung einer Gesellschaft – kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel – auch unabhängig voneinander variieren können: Die Ziele, an denen sich die Akteure orientieren und deren Erfüllung für das Funktionieren der Gesellschaft wichtig sind, und die Mittel, mit denen die Akteure hantieren und die in unterschiedlicher Weise gesellschaftlich legitimiert sind, fallen unter Umständen auseinander. In Bezug auf dieses Auseinandertreten der Orientierungen an gesellschaftlich wichtige Ziele und Regelungen der Mittel unterscheidet Merton dann vier typische Formen des Ungleichgewichtes einer Gesellschaft. Die vier Typen der „Anpassung“ an diese Ungleichgewichte ergeben sich aus der systematischen Variation der beiden Variablen „kulturelle Ziele“ und „institutionalisierte Mittel“. Zur Erreichung der Ziele kann als Abweichung von der Konformität – erstens – auf Mittel zugegriffen werden, die nicht institutionalisiert, innerhalb der gegebenen Verfassung neuartig oder sogar verboten sind. Dieses Verhalten nennt Merton Innovation. In Abschnitt 12.2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ haben wir diesen Fall bereits behandelt – bei der Erklärung der Unterschichtenkriminalität als Reaktion auf die Blockade bei den institutionalisierten Mitteln zur Erreichung des in der amerikanischen Gesellschaft alles übergreifenden Zieles: materieller Wohlstand. Die Beachtung der Legitimität der Mittel kann sich aber auch – zweitens – von den kulturellen Zielen der Gesellschaft ablösen, verselbständigen und zum „Selbstzweck“ werden. Robert K. Merton spricht in diesem Fall von Ritualismus. Auch diesen Fall haben wir in Abschnitt 12.2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon näher als typische Reaktion der unteren Mittelschichten in der amerikanischen Gesellschaft besprochen. Weiter können – drittens – sowohl die kulturellen Ziele als unerreichbar oder als unwichtig angesehen und gleichzeitig auch die institutionalisierten Mittel als nicht verbindlich abgelehnt werden. Diese Reaktion bezeichnet Merton als Rückzug. Beispiele dafür sind Drogensüchtige, Clochards und Aussteiger aller Art, einschließlich der „inneren Emigranten“. Und schließlich ist es – viertens – auch möglich, daß Akteure an die Stelle einer abgelehnten gesellschaftlichen Verfassung eine komplett neue mit nun anders definierten kulturellen Zielen und anders geregelten institutionalisierten Mittel setzen wollen: die Rebellion als Reaktion auf eine in ihren Grundstrukturen abgelehnte Gesellschaft vor dem Hintergrund der Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung, deren kulturellen Ziele und institutionalisierten Mittel – in dann konformer Weise also – unterstützt werden.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Diese insgesamt fünf Muster der Anpassung an die Strukturen der kulturellen Ziele bzw. der institutionalisierten Mittel hat Merton in einer, wie er sagt, „Typology of Modes of Individual Adaptation“ zusammengefaßt (Abbildung 3.2). Diese Typologie der fünf Muster strukturierter Anpassungen ist das besag-
Abb. 3.2: Die Typologie der Anpassungsmuster an kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel (nach Merton 1967a, S. 140)
te Anomie-Schema. Anpassungsmuster
Kulturelle Ziele
Institut. Mittel
Anomie Devianz Konfund ormität + + Innovation + DenRitua Begriff „Anomie“ für das in der lismus - Typologie beschriebene + Problem hat Robert K. Merton gewählt, weil er in -dem Verfall der Verbindlichkeiten überRückzug greifender kultureller Ziele und in der Ablehnung der normativen Regelung Rebellion +/+/des Handelns durch die Akteure alle Merkmale jenes Zustandes zu erkennen glaubt, den Emile Durkheim als Anomie bezeichnet hatte (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Emile Durkheim hat den Begriff der Anomie in zwei Bedeutungen verwendet. Die eine stammt aus dem Zusammenhang der Untersuchung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Dort bezeichnet Emile Durkheim das Verschwinden der „Solidarität“, die Auflösung der sozialen Beziehungen und die Verdünnung des Gefühls der gegenseitigen Abhängigkeit mit Anomie. Die andere Bedeutung hat Emile Durkheim im „Selbstmord“ verwandt: Die Auflösung aller Schranken der Orientierung und der Begrenzung der Ansprüche, wie sie gerade in Zeiten des Wohlstands und der Expansion aufzutreten pflegen. Damit erklärt Emile Durkheim die eigenartige empirische Regelmäßigkeit, daß die Selbstmordraten in Phasen der wirtschaftlichen Expansion ansteigen und in Kriegen besonders niedrig liegen. Diese Art des Selbstmordes nennt Durkheim daher auch den „anomischen Selbstmord“ – in Abgrenzung vom „egoistischen“ Selbstmord, der beispielsweise die Selbstmordraten bei den „individualisierten“ Protestanten im Vergleich zu den Katholiken in die Höhe treibt; und in Abgrenzung zum „alt-
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ruistischen Selbstmord“ etwa eines Kamikaze-Fliegers oder eines Offiziers, der einen Ehrverlust nicht ertragen kann und daher gerade in Konformität zu einem bestimmten „esprit du corps“ Hand an sich legt.9
Das sind schon durchaus verschiedene Sachverhalte: die Auflösung von sozialen Beziehungen einerseits und die Auflösung von Anspruchsbegrenzungen. Sie sollten auch auseinandergehalten werden, weil das eine die Ursache für das andere sein kann: Die Auflösung sozialer Beziehungen kann auch zur Auflösung von Schranken in den Ansprüchen der Menschen und so zur Orientierungslosigkeit führen. Merton hat aber offenbar eine dritte Variante der Anomie im Sinn: die Mißachtung der institutionellen Begrenzungen, gerade um die ansonsten nicht einlösbaren Ansprüche doch noch zu verwirklichen – mit der schließlichen Folge des kompletten Zusammenbruchs des Systems der institutionellen Begrenzungen. Derartige anomische Tendenzen sieht Merton zunächst überall da, wo die kulturellen Ziele besonders wichtig und ausschließlich für Wertschätzung und Wohlbefinden der Menschen bedeutsam sind und wo es technisch sehr effiziente, aber unerlaubte Möglichkeiten gibt, diese Ziele zu erreichen. Nicht immer sind die Menschen dann gegen die Versuchung gefeit, die begrenzenden Regeln der institutionalisierten Mittel zu beachten. Als Beispiel nennt Merton den Wettkampfsport, in dem – auch damals wohl schon als Merton seinen Artikel schrieb – keineswegs die Teilnahme schon alles bedeutet: „Thus, in competitive athletics, when the aim of victory is shorn of its institutional trappings and success becomes construed as ‚winning the game‘ rather than ‚winning under the rules of the game‘, a premium is implicitly set upon the use of illegitimate but technically efficient means.“ (Merton 1967a, S. 135; Hervorhebung nicht im Original)
Bekommen die kulturellen Ziele der jeweiligen gesellschaftlichen Sphäre, hier: die des Wettkampfsports, allmählich die Oberhand über die institutionellen Schranken der Mittelwahl, dann drohe ein Zustand der „Verdünnung“ und die Auflösung der sozialen Ordnung insgesamt. Dies ist die Auflösung der Zielverfolgung „under the rules of the game“, eine der Varianten des Werteund Normverfalls, den Merton im frei interpretierenden Anschluß an Emile Durkheim mit dem Begriff der Anomie bezeichnet. Der Fall „Baumann“ war ein Anzeichen dafür im Langstreckenlauf. Und „Kohl“ für die ganze Politik.
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Vgl. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 410f.; Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied und Berlin 1973, S. 279ff., 290f.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Abweichendes Verhalten und Devianz-Bereiche Das Anomie-Schema beschreibt typische Konstellationen, unter denen typische Kategorien von Akteuren sich konform oder abweichend verhalten (vgl. zum Problemkomplex des „abweichenden Verhaltens“ auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Solche Kategorien von Akteuren mit „abweichendem Verhalten“ konstituieren aber noch keinen Devianz-Bereich. Erst wenn sich derartige Abweichungen auch zu sozialen Systemen verselbständigen und von „bestimmten“ Akteuren unabhängig werden, kann von einem Devianz-Bereich gesprochen werden (vgl. zu diesen Unterscheidungen, wenn nötig, noch einmal Kapitel 2 in diesem Band). Es ist der gleiche Unterschied wie der zwischen einer funktionalen Sphäre als System und den individuellen Akteuren, die darin eine Position besetzen, oder wie der zwischen einem kulturellen Milieu als sozialem System und den Individuen, die eine bestimmte Art der Lebensführung oder einen bestimmten Lebensstil pflegen. So sind das „organisierte Verbrechen“, die Mafia, die Drogenszene, die RAF oder die „Subkultur der Armut“, etwa in den favelas in Brasilien oder in den Ghettos der nordamerikanischen Städte, DevianzBereiche, nicht aber die sozialen Aggregate und sozialen Kategorien der Kriminellen, der Mafiosi, der Drogenfreaks, der RAF-Terroristen oder der Verdammten dieser Erde in Brasilien und anderswo. Subkulturen und Gegenkulturen Bei den Devianz-Bereichen können zwei verschiedene Arten von sozialen Systemen unterschieden werden: Subkulturen bzw. Gegenkulturen einerseits und soziale Bewegungen andererseits. Sub- bzw. Gegenkulturen sind – mehr oder weniger – stabile soziale Systeme, in denen „alternative“ Ziele gelten und/oder „alternative“ Mittel als erlaubt definiert sind. Subkulturen sind dann jene sozialen Systeme der Nutzenproduktion, bei denen die etablierten kulturellen Ziele einer Gesellschaft weiterhin gelten, aber die institutionalisierten Mittel nicht (mehr) angewandt werden oder sogar bewußt und mit Emphase abgelehnt werden.10 Kriminelle Subkulturen, speziell in der Form der organi10
Vgl. zum Konzept der Subkultur u.a. Albert K. Cohen und James F. Short, Jr., Research in Delinquent Subcultures, in: The Journal of Social Issues, 14, 1958, S. 20-37; Walter B. Miller, Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency, in: The Journal of Social Issues, 14, 1958, S. 5-19; Günter Albrecht, Die „Subkultur der Armut“ und die Entwicklungsproblematik, in: René König (Hrsg.), Aspekte der Entwicklungssoziologie, Sonderheft 13 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und Opladen 1969, S. 430-471. Vgl. insgesamt auch die Übersicht bei Siegfried Lamnek, The-
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sierten Kriminalität, sind das eingängigste Beispiel dafür: Die kulturellen Ziele der Gesellschaft – Wohlstand und Prestige zum Beispiel – werden darin durchaus akzeptiert und sogar unterstützt, aber es werden „alternative“ Mittel angewandt, um diese Ziele zu erreichen. Zu den „Mitteln“ gehören dann nicht unbedingt nur bestimmte „Taten“, sondern unter Umständen auch wieder besondere Bewertungen von Handlungsweisen oder Überzeugungen, die von der „dominanten“ Gesellschaft nicht geteilt werden. In gewissen Unterschichten oder Jugendgruppen werden beispielsweise Gewalt, Maskulinität und Härte als ein besonderer Wert angesehen. Und die Ausübung selbst von brutaler Gewalt ist dann auch kein Akt der „Abweichung“, der ein schlechtes Gewissen hervorrufen würde, sondern – geradezu im Gegenteil – ein Beweis für die Konformität mit der betreffenden (Bezugs-)Gruppe und ein höchst naheliegender Akt zur Gewinnung sozialer Wertschätzung darin. „Abweichend“ ist das Verhalten in einer devianten Subkultur also nur in Bezug auf die Standards der dominanten Gesellschaft. Subkulturen bilden sich zunächst exakt so, wie auch die „individuelle“ Abweichung entsteht: als „anpassende“ und schließlich als soziales System stabilisierte Reaktion der Nutzenproduktion auf die jeweiligen Gegebenheiten, die eine nicht-deviante Nutzenproduktion nicht erlauben würden. Voraussetzung für ihre Konstitution als soziales System ist stets eine gewisse Alternativlosigkeit und Abhängigkeit von der Gruppe, wie das etwa in Gefängnissen, auf Piratenschiffen, bei perspektivlosen Jugendlichen oder bei neu eingereisten Migranten der Fall zu sein pflegt. Es ist ein Spezialfall der Entstehung von sozialer Ordnung, einer „devianten“ Ordnung freilich. Besonders bei Jugendlichen ist es der Mangel an „legitimen“ Alternativen zur Gewinnung von sozialer Wertschätzung, der stets aufs Neue für Nachschub bei den diversen Subkulturen sorgt – zumal in der Phase der Gewinnung einer eigenen Identität die möglichst provokante „Abweichung“ von den Konventionen der Erwachsenenwelt die Devianz ein Erlebnis mit einem ganz besonderen thrill sein muß. Und was ist da geeigneter als besonders brutale Gewalt gegen wehrlose Ausländer oder ein Hakenkreuz, wenn ansonsten schon alle Tabus millionenfach gebrochen sind?
Subkulturen sind also eine „alternative“ Organisationsform der Nutzenproduktion. Die Codierung der Orientierungen in den verschiedenen Subkulturen ist die Pflege bestimmter alternativer Mittel, einschließlich der Symbolisierung gewisser Werthaltungen zu solchen Mitteln. Wenn man das und den Umstand verstanden hat, daß für manchen Jugendlichen die deviante Subkultur seiner Jugendbande der einzige Ort der Geborgenheit und der Anerkennung ist, dann muß man sich auch nicht wundern, daß es aus der Gruppe heraus zu den absonderlichsten Wettläufen um den jeweiligen Fokus eines alternativen Mittels kommt: Gewalt, exotisches Aussehen, Extase und Extasy, beispielsweise. Theorien abweichenden Verhaltens, 5. Aufl., München 1993, Abschnitt 2.3: Theorien der Subkultur und des Kulturkonflikts, S. 142-185.
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Subkulturen bewegen sich, bei aller Devianz in den Handlungen der Akteure, immer noch im Rahmen der kulturellen Ziele einer Gesellschaft. Das ist bei den Gegenkulturen typischerweise anders:11 Die Normen und Werte einer Gegenkultur werden in bewußter Ablehnung der kulturellen Ziele einer Gesellschaft entwickelt und verfolgt. Die Codierung der Orientierungen sind gewisse alternative Ziele, Ziele, die in einem – mehr oder weniger ausgeprägten und radikalen – Konflikt zu den kulturellen Zielen der betreffenden Gesellschaft stehen. Daher auch die Bezeichnung „Gegen“-Kultur. Beispiele für solche Gegenkulturen wären gewisse Sekten, die eine „andere“ Gesellschaft anstreben, die ehemalige Hippie-Bewegung, die RAF oder – aktueller – gewisse rechtsradikale Gruppierungen. Sie alle eint ein Gegen-Thema, eine GegenIdeologie oder gar eine Gegen-Moral, unter deren Imperativ dann auch gelegentlich heilige blutige Kriege geführt werden. Die Akteure, die die GegenKulturen tragen, wollen – letztlich – eine andere Verfassung der Gesellschaft, die in den Subkulturen wollen das nicht. Soziale Bewegungen Eine soziale Bewegung ist ein „dynamisches“ Prozeß-System, bei dem zunehmende Teile der Bevölkerung in ihrem Tun in der Unterstützung alternativer Ziele bzw. Mittel einer Gesellschaft erfaßt werden und das gerade aus dem Prozeß dieser zunehmenden „Erfassung“ besteht – und mit dem Ende der weiteren Erfassung als soziale „Bewegung“ auch wieder abstirbt. Soziale Bewegungen beinhalten immer auch ein gewisses Element der „kollektiven Identität“: Die in ihnen zusammengeschlossenen Akteure empfinden sich als an einer gemeinsamen Sache arbeitend.12
11
Vgl. zum Konzept der Gegenkultur insbesondere: J. Milton Yinger, Contraculture and Subculture, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 625-635.
12
Vgl. zu einem Überblick über die verschiedenen Spielarten sozialer Bewegungen u.a. Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt/M. und New York 1994, insbesondere Abschnitt 1.2 und Kapitel 3. Vgl. auch, insbesondere aber zu den sog. neuen sozialen Bewegungen: Heinrich W. Ahlemeyer, Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: Zeitschrift für Soziologie, 18, 1989, S. 175-191; Klaus P. Japp, Neue soziale Bewegungen und die Kontinuität der Moderne, in: Johannes Berger (Hrsg.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Sonderband 4 der Sozialen Welt, Göttingen 1986, S. 311-333; Werner Bergmann, Was bewegt die soziale Bewegung? Überlegungen zur Selbstkonstitution der „neuen“ sozialen Bewegungen, in: Dirk Baecker u.a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1987, S. 362-393.
Soziale Differenzierung
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Soziale Bewegungen, wie die Arbeiterbewegung oder die Umweltbewegung, sind sichtbar als sich verändernder „Prozeß“ existierender sozialer Systeme und sie „bestehen“ deshalb – wie die funktionalen Sphären, die kulturellen Milieus, die Sub- und die Gegenkulturen – auch unabhängig von „konkreten“ Akteuren. „Damit“ es sie als „Bewegung“ gibt, müssen freilich immer mehr Akteure immer größere Teile ihres Zeitbudgets mit den entsprechenden Aktivitäten verbringen. Aber es müssen keineswegs immer die gleichen Akteure sein – wie bei der Leipziger Montagsdemonstration im Spätherbst 1989, deren Anwachsen durchaus auch unter der Bedingung denkbar ist, daß bei jeder einzelnen Demonstration vor der Nikolaikirche immer neue Akteure anwesend waren. Soziale Bewegungen gibt oder gab es in zahllosen Formen, etwa solche zur Einklage der Beteiligung an den bestehenden Institutionen einer Gesellschaft, wie das die amerikanische Bürgerrechtsbewegung war, solche zur Modernisierung und Demokratisierung der bestehenden Institutionen, wie das, wenigstens in Teilen, die Studentenbewegung in den 60er Jahren war, die Verteidigung bestimmter Privilegien, wie das die vielen Bürgerinitiativen etwa der Anwohner von Flughäfen sind, solche zur Beseitigung von wirklichen oder angenommenen Mißständen, Benachteiligungen oder Gefährdungen, wie das etwa die Bewegung der militanten Tierschützer, die Arbeiter- und die Frauenbewegung, die Bewegung zum Ausstieg aus der Atomenergie oder die Friedensbewegung waren, sind oder sein werden, oder solche sogar zur kompletten Änderung der „Verfassung“ einer Gesellschaft, wie das bei der Französischen Revolution oder bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig der Fall war. Oft gehen soziale Bewegungen aus Subkulturen oder Gegenkulturen von „Dissidenten“ hervor, und manchmal versickert oder endet die Bewegung auch (wieder) in einer Subkultur oder gar einer „kleinen radikalen“ Gegenkultur, wie etwa bei der RAF als dem „Ausläufer“ der 68er-Bewegung. Es kommt natürlich auch vor, daß eine soziale Bewegung selbst zu einem etablierten funktionalen oder kulturellen Element einer Gesellschaft wird – wie das etwa im 19. Jahrhundert bei den Liberalen und den Sozialdemokraten und im 20. Jahrhundert bei den Grünen der Fall war (siehe dazu auch den Schluß dieses Kapitels unten). Soziale Bewegungen sind – wie die Subkulturen und Gegenkulturen – mehr oder weniger „radikal“. Am mildesten, weil an sich vollkommen im Einklang mit den etablierten Vorgaben, sind die sog. Initiativen. Das sind außerparlamentarische Versuche, gewisse partikulare Interessen im politischen Willensbildungsprozeß auch gegen die jeweilige Mehrheit doch noch durchzusetzen: Stoiber und Schäuble in ihrer Initiative gegen die von Rot-Grün beschlossene doppelte Staatsbürgerschaft etwa, oder die Initiative von CDU und Grünen gegen einen Beschluß der SPD-Mehrheitsfraktion in Essen, den letzten Rest von Grün im sog. Stadtgarten auch noch zuzubauen, zum Beispiel. Die Verfassung der Gesellschaft bleibt dabei
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Die Konstruktion der Gesellschaft
unangetastet. Und alles geschieht ganz und gar im Rahmen der Konventionen. Zu ihrem Erfolg als Massenbewegung wird es daher jeweils nötig, das enge partikulare Interesse als ein übergreifendes und moralisch gebotenes darzustellen und zu „rahmen“. Hierfür gibt es inzwischen regelrechte Framing-Unternehmer und Marketing-Virtuosen, wie etwa bei Greenpeace, einem letztlich knallharten kapitalistischen Unternehmen, das es geschafft hat, seine Geschäftsinteressen mit einem hochmoralischen Interesse zu verbinden – in heimlicher Kooperation mit den an Sensationen immer verlegenen Medien und unter Ausnutzung der Opferbereitschaft vieler guter sinnsuchender Menschen. Am radikalsten sind natürlich die Revolutionen. Hier geht es um die komplette „Umwälzung“ der Verfassung einer Gesellschaft. Dazwischen angesiedelt sind die Proteste und die Revolten. Proteste sind stärker emotionalisierte und „spontane“ Reaktionen auf als untragbar wahrgenommene Einzelereignisse durch spezielle Gruppen: Landwirte, die gegen die Kürzung ihrer Subventionen protestieren, Stahlarbeiter gegen die Schließung ihres Betriebs, Atomkraftgegner gegen die Castortransporte, etwa. Proteste gibt es in mehr konventionellen Formen, als behördlich angemeldete und genehmigte gewaltfreie Demonstration etwa, oder auch in unkonventionellen, ja unerlaubten Varianten, wie die Blockade von Schienen oder das Werfen von Steinen. Bei den Revolten geht es schon um mehr. Das sind Aufstände ganzer Gruppen von Akteuren, denen es – zunächst wenigstens – nur um die Beseitigung eines speziellen Mißstandes geht, wie etwa Gefängnisrevolten, Sklaven- und Bauernaufstände. Die Änderung der Verfassung einer Gesellschaft wird dabei – zunächst jedenfalls – nicht angestrebt. Wenn das dann noch dazu kommt, dann haben wir es mit einer veritablen Revolution zu tun.
Soziale Bewegungen sind Begleiterscheinungen, Folgen und sogar „konstitutiver“ Teil des Prozesses der Modernisierung von Gesellschaften. Die moderne Gesellschaft beginnt zum Beispiel mit der Reformation als religiöser Erneuerungsbewegung und als antifeudale Befreiungsbewegung gleichzeitig. Sie etabliert sich mit der Französischen Revolution und zieht – als Folge der mit der Industrialisierung und der Kapitalisierung der Wirtschaft aufkommenden Mißstände und den wachsenden Beteiligungsansprüchen – die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung nach sich. Derzeit beobachten wir eine Vielzahl von immer wieder neuen und thematisch ganz unterschiedlichen sozialen Bewegungen, etwa für den Frieden und gegen Milošević, für und gegen die Abtreibung, für den Umweltschutz, gegen die Atomkraft, für die Gleichstellung der Homosexuellen, gegen Tierversuche und Kinderpornographie, für den Erhalt des Asylrechtes oder gegen die Überfremdung und für und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Bei den sozialen Bewegungen wird inzwischen nach „alten“ und nach „neuen“ sozialen Bewegungen unterschieden. Unter den alten sozialen Bewegungen werden dabei jene „historischen“ sozialen Bewegungen verstanden, bei denen es jeweils um ein deutlich identifizierbares Ziel und um spezielle, an abgrenzbare und zu sozialen Kategorien eindeutig zuordenbare Interessen ging: die Sicherung der ökonomischen und politischen Freiheit etwa bei der Bewegung des bürgerlichen Liberalismus, oder die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit und der Demokratisierung der Gesellschaft bei der Arbeiterbewegung, jeweils im 19. Jahrhundert. Weil bei den alten sozialen Bewegungen die Ziele mit den Interessen der Akteure jeweils abgrenzbarer sozialer Kategorien übereinstimmten, war das Ziel der Bewegung mit dem Interesse von abgrenzbaren Akteuren identisch – und stand daher notwendigerweise in Konflikt mit anderen Kategorien von Akteuren: Liberale gegen Konservative, Arbeiter gegen Kapita-
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listen, Frauen gegen Männer. Es ist einer der – inzwischen seltenen – Fälle, in denen ein soziales System, sozusagen, sein festes Personal hat. Die neuen sozialen Bewegungen haben demgegenüber kein spezielles Ziel und sie lassen sich auch nicht eindeutig zu gewissen Interessen abgrenzbarer sozialer Kategorien zuordnen. Sie gehen, wie man so sagt, „durch alle gesellschaftlichen Schichten“, denn sie wenden sich gegen generelle Bedrohungen und Beschränkungen und treten für das ganz allgemeine Ziel der Entfaltung der Individualität und der Selbstverwirklichung ein: gegen die existentielle Bedrohung durch die Zerstörung der Umwelt, gegen die korporatistische Schließung einer nur noch formal demokratischen Gesellschaft, gegen das Eindringen der „Systeme“ in die „Lebenswelten“ der Menschen, gegen Globalisierung und Ellbogengesellschaft, gegen die zunehmende Perspektiv- und Sinnlosigkeit des Lebens und stets für die ungehinderte Verwirklichung des Selbst. Eindeutige Interessenzuordnungen gibt es nicht und deshalb auch keine Interessenkonflikte. Man ist gegen alles und gegen jeden, und einen greifbaren Adressaten des Protestes gibt es nicht. Und deshalb können sich die neuen sozialen Bewegungen auch relativ leicht an irgendwelche flüchtigen Ereignisse, Stimmungen und Werte anhängen. Die – inzwischen auch schon etwas älter gewordenen – neuen sozialen Bewegungen verstehen sich dabei meist als „progressiv“: emanzipatorisch, anti- bzw. wenigstens: postmaterialistisch und basisdemokratisch. Sie werden überwiegend von (jugendlichen) Angehörigen der gebildeten Mittelschichten und Akteuren aus wohlfahrtsstaatlichen Berufen getragen. Ihr Ziel ist eine Art von Kombination möglichst großer individueller Entfaltung und Partizipation mit der Sicherung sinnstiftender Lebenswelten bei gleichzeitigem Erhalt der materiellen Wohlversorgung (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, im Anschluß an Abschnitt 4.3 unten in diesem Band). Der politische Ausläufer der „progressiven“ neuen sozialen Bewegungen sind die Grünen. Die, wie Niklas Luhmann sie nennt, „neueste neue soziale Bewegung“ ist die „Bewegung der Ausländerfeinde“, deren von kriminellen Gewalttaten begleiteten Proteste, wie er meint, vor allem der „‚Selbstverwirklichung‘ im Modus von Unterschichtenverhalten“ dienten. Auch sie thematisieren ganz allgemeine Ängste und haben zeitweise durchaus Erfolg damit (Luhmann 1997, S. 849f.). Aber alle diese neuen und neuesten sozialen Bewegungen leben auch davon, inwieweit es ihnen gelingt, ihr jeweiliges spezielles Anliegen als ein tatsächlich allgemeines zu deklarieren und entsprechend zu „rahmen“. Und das geht auch ganz gut – gerade weil die jeweiligen „Themen“ der neuen sozialen Bewegungen nur selten unmittelbare spezielle Interessen berühren: Moral und Werte können sich dann besonders leicht durchsetzen, wenn sie nicht viel kosten und solange es keine greifbaren Interessen gibt, die dagegen sprechen könnten. Aber von großer Dauer oder Nachhaltigkeit sind die einzelnen neuen sozialen Bewegungen gerade deshalb dann auch wieder nicht: Wenn es ernst wird, geht ihnen das Personal aus, das immer auch noch andere Interessen und meist nicht viel Zeit hat.
Soziale Bewegungen sind, anders als die Sub- und die Gegenkulturen, keine sozialen Systeme der unmittelbaren „konsummatorischen“ Nutzenproduktion, wenngleich es bei den einzelnen Aktionen sicher auch viel zu „erleben“ gibt. Es sind eher so etwas wie Investitionen in die Verbesserung der Grundlagen der Nutzenproduktion über die Veränderung der sozialen Produktionsfunktionen. Daher unterliegen die sozialen Bewegungen auch in dieser Zielrichtung jeweils einem spezifischen Oberziel, um das herum sich alle Orientierungen und Aktivitäten gruppieren. Es ist das jeweilige spezielle Anliegen der sozialen Bewegung: die Beseitigung eines speziellen Mißstandes oder einer besonderen Benachteiligung bei den „alten“, irgendein ideosynkratisches Thema
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Die Konstruktion der Gesellschaft
vor dem Hintergrund der ganz unspezifischen „Betroffenheit“ des Leidens an der Moderne bei den „neuen“ sozialen Bewegungen. Wir wollen diese Codierung der sozialen Bewegungen allgemein als deviante Alternative bezeichnen. Bei den alten sozialen Bewegungen sind das spezielle Interessen, bei den neuen sozialen Bewegungen generelle Themen. Um sie dreht sich alles innerhalb des jeweiligen Bewegungssystems. Das zentrale Problem aller sozialen Bewegungen ist die Gewinnung von Anhängern, deren zunehmende Teilnahme eine soziale Bewegung erst zur „Bewegung“ macht. Dabei tritt ein Problem auf, das als das Problem des kollektiven Handelns bekannt ist: Das Interesse an den Zielen der Bewegung reicht zur Teilnahme alleine nicht aus (vgl. dazu noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und deshalb bedarf es zum Erfolg jeder sozialen Bewegung einer eigenen Organisation. Und die gibt es oft gerade bei denen nicht, die allen Anlaß zum Protest, zu einer Revolte oder gar zu einer Revolution hätten. Eine Zusammenfassung Die Anzahl und die Unterschiedlichkeit der funktionalen Sphären, der kulturellen Milieus und der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft, die funktionale, die kulturelle und die normative Differenzierung also, bestimmen zusammen die soziale Differenzierung – den Grad der Homogenität oder Heterogenität in arbeitsteiliger Spezialisierung, kultureller Verschiedenheit und der Existenz von devianten Systemen der Nutzenproduktion bzw. von Bewegungen zu deren Veränderung. Die verschiedenen sozialen Systeme, die die soziale Differenzierung einer Gesellschaft ausmachen, sind jeweils in besonderer Weise codiert – und zwar nach dem Inhalt der jeweiligen Umstände und Oberziele der Nutzenproduktion und der jeweils geltenden sozialen Produktionsfunktionen. In Abbildung 3.3 sind die verschiedenen Systeme der Nutzenproduktion mit ihren jeweiligen Oberzielen bzw. Codierungen noch einmal zur leichteren Übersicht zusammengefaßt. Die Unterteilung der sozialen Systeme einer Gesellschaft in funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche folgt den inhaltlichen Definitionen der jeweiligen Codierungen. Sie liegt damit „quer“ zu den eher formalen Unterscheidungen der sozialen Systeme, die in Kapitel 2 oben in diesem Band vorgenommen wurden und Märkte, Assoziationen und Organisationen bzw. kollektive und korporative Akteure als soziale Systeme unterschied. Funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche „bestehen“ ohne Frage aus den verschiedenen „Formen“ sozialer Systeme –
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Soziale Differenzierung
Märkte, Zusammenkünfte, Netzwerke, Gruppen, Organisationen, kollektive und korporative Akteure und deren Kombinationen und Varianten –, wenngleich in teilweise sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Die Unterteilung folgt dabei drei unterschiedlichen inhaltlichen Aspekten oder Dimensionen der Nutzenproduktion: der, oft auch nicht unmittelbar ersehbare, funktionale Beitrag im Rahmen einer arbeitsteiligen Spezialisierung, die kulturelle Gestaltung, Stilisierung, Sicherung, „Individualisierung“ und Verfeinerung der Nutzenproduktion und die Abweichung in der Organisation der Nutzenproduktion, wenn es anders in befriedigender Weise nicht geht.
Soziales System
Oberziel/Code
gesellschaftliche Struktur
Funktionale Sphären
funktionale Imperative
funktionale Differenzierung
Kulturelle Milieus
kulturelle Fokalobjekte
kulturelle Differenzierung
= Lebensweisen = Szenen
Distinktion/Expression Erlebnisse
Devianz-Bereiche
deviante Alternativen
normative Differenzierung
= Subkulturen = Gegenkulturen = soziale
- alt - neu
Bewegungen spezielle Interessen generelle Themen
Abb. 3.3: Die gesellschaftliche Organisation der Nutzenproduktion und die Dimensionen der sozialen Differenzierung
*** Die Unterscheidung von funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Devianz-Bereichen ist eine theoretische Angelegenheit. Empirisch bestehen zwischen ihnen alle denkbaren Mischungen und Querverbindungen, und oft sind eindeutige Zuordnungen bei konkreten sozialen Gebilden oder Prozessen, wie etwa bei einer Bürgerinitiative gegen die Atomkraft, auch nicht möglich, zu-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
mal es natürlich auch so etwas wie eine latente, unbeabsichtigte Funktionalität der Abweichung gibt, wie wir mit Emile Durkheim wissen (siehe dazu auch noch gleich unten). Beispielsweise tritt die kulturelle Differenzierung als strukturelles Merkmal einer Gesellschaft immer auch neben die Strukturen der funktionalen Differenzierung. Sie überlagert die funktionalen Orte der Nutzenproduktion: Nicht überall wird Golf gespielt, und es gibt auch eine Lebensweise des Großraumbüros und eine Szene der Erlebnisproduktion am Fließband. Die kulturellen Praktiken und Stilisierungen entstehen oft als Beiprodukte funktionaler Abläufe, wie die Schulterklappen am Mantel als Relikte der Epeauletten, der Schulterstücke einer Ritterrüstung, die dort bekanntlich noch einen ganz bestimmten funktionalen Zweck hatten. Kurz: Die funktionalen Abläufe und die kulturellen Stilisierungen spielen bei der Nutzenproduktion oft eng zusammen. Es gibt ferner typische Sub-„Kulturen“ der Devianz, Stilisierungen des Protestes und ganz unterschiedliche kulturelle Milieus der diversen sozialen Bewegungen. Und von Emile Durkheim wissen wir, daß das, was zunächst wie eine Abweichung, gar wie ein Verbrechen bewertet wird, später zu einem zentralen Bestandteil der etablierten Verfassung einer Gesellschaft werden kann: „Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem, was sein wird. Nach dem athenischen Rechte war Sokrates ein Verbrecher, und seine Verurteilung war gerecht. Und doch war sein Verbrechen, die Unabhängigkeit seines Denkens, nützlich, nicht nur für die Menschheit, sondern auch für seine Vaterstadt. Denn er trug dazu bei, eine neue Moral und einen neuen Glauben vorzubereiten, deren die Athener damals bedurften, weil die Traditionen, von denen sie bis dahin gelebt hatten, nicht mehr mit ihren Existenzbedingungen übereinstimmten. Und der Fall Sokrates ist nicht der einzige; er wiederholt sich in der Geschichte periodisch. Die Gedankenfreiheit, deren wir uns heute erfreuen, wäre niemals proklamiert worden, wenn die sie verbietenden Normen nicht verletzt worden wären, bevor sie noch feierlich außer Kraft gesetzt wurden. In jenem Zeitpunkt war ihre Verletzung jedoch ein Verbrechen, da sie eine Beleidigung von Gefühlen bedeutete, welche bei der Mehrheit noch sehr lebendig waren. Nichtsdestoweniger war dieses Verbrechen nützlich, da es das Vorspiel zu allmählich immer notwendiger werdenden Umwandlungen war. Die unabhängige Philosophie hat ihre Vorläufer bei den Häretikern jeder Art zu suchen, die während des ganzen Mittelalters bis an die Schwelle der Neuzeit vom weltlichen Arm mit Recht verfolgt wurden.“13
Manche ehemals höchst „deviante“ soziale Bewegung ist – gemeinsam mit den sie einst tragenden menschlichen Organismen – inzwischen ein gewichtiger Teil der etablierten und weithin anerkannten, ja staatstragenden, funktionalen Nutzenproduktion in der Bundesrepublik Deutschland geworden und – schon seit längerem – ein kaum wegzudenkendes Element ihrer Kultur. Man 13
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, 5. Auflage, Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895), S. 160f.
Soziale Differenzierung
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denke nur an Konrad Schily, Joschka Fischer oder auch Gerhard Schröder höchstselbst. Gesellschaften unterscheiden sich systematisch in der Kopplung der funktionalen Sphären und kulturellen Milieus und der Existenz von Devianz-Bereichen und daran anknüpfenden Formen der sozialen Ungleichheit (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). In den einfachen Stammesgesellschaften gibt es keine besondere ausgeprägte funktionale und kulturelle Differenzierung. Es kommt zwar abweichendes Verhalten vor, aber nur sehr punktuell, und eigenständige Devianz-Bereiche sind unbekannt. Die sozialen Systeme dort sind funktional diffus und kulturell homogen, und die Menschen bilden eine große soziale Kategorie, allenfalls unterschieden nach Alter und Geschlecht. Funktionale und kulturelle Differenzierungen gibt es dagegen sehr deutlich in den Feudal-Gesellschaften. Sie sind dort fest mit dem System der sozialen Ungleichheit, der Unterteilung in fest umrissene Stände, verbunden. Hier kombinieren sich die „gesellschaftlichen“ Funktionen mit den „ständischen“ Lebensweisen und die Übernahme fester gesellschaftlicher Positionen mit der Ausübung streng kontrollierter Formen der Lebensführung. Abweichungen gibt es nun zwar durchaus, sogar massenhaft und als dauerhafte oder wenigstens wiederkehrende Erscheinungen, etwa als Bauernrevolten oder Häresie-Bewegungen. Aber es gibt sie noch nicht als „reguläre“ soziale Systeme: Die Bestrafung von Normübertretungen und die Verfolgung der Häretiker war gnadenlos und auf die Eliminierung der Abweichler ausgerichtet. Eine besondere normative Differenzierung nach Devianz-Bereichen gibt es daher dort (noch) nicht. Nur das zeitweise durchaus sehr groß werdende Heer der sog. Entbehrlichen – Vagabunden, Bettler, Verfemte, Exkommunizierte – bildete schon so etwas wie einen eigenständigen Devianz-Bereich. Fluktuierende Lebensweisen, Szenen der Erlebniserzeugung und „offene“ Lebensstile sind, ebenso wie die Koexistenz aller möglichen Sub- und sogar Gegenkulturen und sozialen Bewegungen, dagegen ein typisches Produkt der Moderne – und des Überflusses. Die Partizipation an den verschiedenen Systemen der Nutzenproduktion steht – im Prinzip – jedem offen, sie ist – Gott sei Dank – freiwillig oder – allenfalls – durch spezielle Lebenslagen nahegelegt, aber eben nicht institutionell vorgeschrieben oder gar erzwungen. Daher löst sich auch im Verlauf der Modernisierung die feste Verbindung von funktionaler und kultureller Differenzierung mit der sozialen Ungleichheit mehr und mehr auf. Und „Abweichung“ und „Innovation“ und die Etablierung von Devianz-Bereichen sind inzwischen sogar fast zu „normalen“, ja nachgerade zu erwarteten Erscheinungen geworden.
Modernisierung ist, etwas vereinfachend gesagt, auch ein Prozeß der zunehmenden Entkopplung von funktionaler und kultureller Differenzierung, der Normalisierung des Unnormalen und des Unerwarteten und der „Individualisierung“ der Menschen in der Weise, daß sich die Muster des Einbezugs der Akteure in die funktionalen Sphären, die kulturellen Milieus und die DevianzBereiche zunehmend überkreuzen, vervielfältigen, „entstandardisieren“ und „entstrukturieren“. Mit einer Auflösung der Strukturen der sozialen Differenzierung hat das alles aber nichts zu tun. Soziale Systeme gibt es immer. Ohne sie wäre die Reproduktion von Mensch und Gesellschaft unmöglich. Das gilt ganz besonders für die sozialen Systeme der funktionalen Differenzierung, auf denen die gesellschaftliche Organisation der Nutzenproduktion in den modernen Gesellschaften immer stärker beruht. Ganz im Gegenteil: Die funktionalen Sphären werden in der modernen Gesellschaft in ihren Codierungen im-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
mer zugespitzter und immer verbindlicher, jedenfalls für die, die an diesen Systemen teilnehmen, die also nicht weitgehend aus allen funktionalen Sphären der Gesellschaft ausgeschlossen sind, wie die Langzeitarbeitslosen und die Obdachlosen, oder die es nicht vorziehen, ganz aus ihnen „auszusteigen“.
Kapitel 4
Soziale Ungleichheit
Die soziale Ungleichheit bezeichnet, ganz allgemein, das Ausmaß und die Art der Unterschiedlichkeiten in typischen gesellschaftlichen Lagen der Akteure der Bevölkerung einer Gesellschaft – im Unterschied zur sozialen Differenzierung, die die Unterschiedlichkeit einer Gesellschaft in Hinsicht auf ihre sozialen Systeme beschreibt (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 und 3 in diesem Band).1 Was dann mit sozialer Ungleichheit gemeint ist, läßt sich besonders anschaulich mit der Verteilung einer der wichtigsten Größen der sozialen Ungleichheit, dem Einkommen, über die Bevölkerung einer Gesellschaft zeigen. 1
Vgl. zu den verschiedenen theoretischen Begriffen, den empirischen Formen und der Entwicklung von Theorien zur sozialen Ungleichheit u.a. die folgenden Sammelbände: David V. Glass und René König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und Opladen 1961; Reinhard Bendix und Seymour M. Lipset (Hrsg.), Class, Status, and Power. Social Stratification in Comparative Perspective, 2. Aufl., New York und London 1966; Celia S. Heller (Hrsg.), Structured Social Inequality. A Reader in Comparative Social Stratification, New York und London 1969; David B. Grusky (Hrsg.), Social Stratification. Class, Race and Gender in Sociological Perspective, Boulder, San Francisco und Oxford 1994. Vgl. dazu ferner auch etwa: Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/M. und New York 1992; Harold R. Kerbo, Social Stratification and Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3. Aufl., New York u.a. 1996. Zur Struktur der sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland vgl. u.a. Wolfgang Glatzer und Wolfgang Zapf (Hrsg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt/M. und New York 1984; Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung, 2. Auflage, Opladen 1996; Bernhard Schäfers, Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 7. Aufl., Stuttgart 1998. Für den historischen und den internationalen Vergleich siehe: Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gøsta Esping-Andersen (Hrsg.), Changing Classes. Stratification and Mobility in Post-Industrial Societies, London, Newbury Park und New Delhi 1993; Yossi Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.), Persistent Inequality. Changing Educational Attainment in Thirteen Countries, Boulder, San Francisco und Oxford 1993. Und für einen knappen Überblick über den Problembereich siehe Anthony Giddens, Soziologie, Graz und Wien 1995, Kapitel 17: Schichtung und Klassenstruktur, S. 229-268.
115
Soziale Ungleichheit
Einkommen? Das sieht man nicht so leicht. Sehen wir uns nun aber einmal die Tabelle 4.1 an. Sie enthält drei verschiedene Arten der Verteilung des gesamten zur Verfügung stehenden Einkommens für eine – der Übersichtlichkeit halber – in Quintile eingeteilte Bevölkerung. Tabelle 4.1: Drei verschiedene Grade der sozialen Ungleichheit am Beispiel der Einkommensverteilung (dargestellt in Prozent des Gesamteinkommens)
Verteilung des Einkommens insgesamt Anteil der Bevölkerung 0 20 40 60 80 100
vollständige Gleichheit 0 20 40 60 80 100
vollständige Ungleichheit 0 0 0 0 0 100
empirische Verteilung 0 8 21 37 57 100
Drei Fälle der Ungleichheit können unterschieden werden: vollständige Gleichheit, vollständige Ungleichheit und die verschiedenen Zwischenstufen auf diesem Kontinuum. Wenn sich die Anteile des gesamten Einkommens in einer Gesellschaft genau nach den jeweiligen Anteilen der Bevölkerung verteilen, dann hat jeder das gleiche Einkommen, und es liegt der Extremfall der vollständigen Gleichheit vor. Der andere Extremfall ist die vollständige Ungleichheit: Nun erzielen 80% der Bevölkerung gar kein Einkommen, und alles konzentriert sich mindestens auf die restlichen 20 Prozent der Bevölkerung, im extremen Grenzfall sogar auf die eine Person, die gerade die 100% vollmacht. In der Regel finden sich aber in den empirischen Verteilungen alle möglichen Zwischenstufen der Ungleichheit, etwa so, wie sie in der rechten Spalte der Tabelle 4.1 aufgeführt ist: Die unteren 20% einer Bevölkerung beziehen 8% des gesamten Einkommens, die unteren 40% der Bevölkerung 21%, und so weiter. Die Zahlen für die rechte Spalte entsprechen im übrigen der Verteilung des Haushaltsnettoeinkommens in (West-)Deutschland für das Jahr 1988 (wieder nach Geißler 1996, S. 61).
Das Ausmaß der sozialen Ungleichheit läßt sich für eine kontinuierliche Variable, wie es das Einkommen eine ist, sehr anschaulich auch über die sog. Lorenzkurve darstellen (Abbildung 4.2).
Soziale Ungleichheit
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ser Linie gibt dann das Ausmaß der Ungleichheit an: Je größer die Ungleichheit, desto stärker ist die Abweichung von der Diagonalen.
Neben den tabellarischen und graphischen Darstellungen des Grades der sozialen Ungleichheit gibt es auch statistische Kennziffern. Die bekannteste davon ist der sog. Gini-Index. Der Gini-Index G mißt den Grad der Ungleichheit einer Verteilung als Anteil der Fläche zwischen der Lorenzkurve und der Diagonalen zu der gesamten Fläche unterhalb der Diagonalen im Diagramm. Wenn A die Fläche zwischen der Diagonalen und der Lorenzkurve ist, und B die restliche Fläche unterhalb der Lorenzkurve, dann gilt für den Gini-Index G=A/(A+B). Er nimmt Werte zwischen 0 für die vollkommene Gleichheit und 1 für die vollkommene Ungleichheit an (vgl. Lambert 1993, S. 35). Bei vollkommener Gleichheit gilt ja A=0 und daher G=0/(0+B)=0, und bei vollkommener Ungleichheit B=0 und somit G=A/(A+0)=1.
Harold H. Kerbo hat mit Hilfe des Gini-Index die Entwicklung der Einkommensungleichheit in den USA zwischen 1947 und 1992 beschrieben und eine interessante Entwicklung festgestellt (vgl. Abbildung 4.3). Das Diagramm zeigt, daß nach 1947 die Einkommensungleichheit der amerikanischen Familien zunächst, in der Tendenz wenigstens, abgenommen hat, und etwa Mitte der 60er Jahre, zu den Zeiten von Lassie und Fury und des sog. Baby-Booms, ihren Tiefstand erreichte, danach aber wieder anstieg. Und daß sie mit dem Beginn der „Reaganomics“ in den 80er Jahren ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß erreichte. Das Einkommen ist natürlich nicht die einzige Ressource oder Eigenschaft, die für die soziale Ungleichheit unter den Menschen von Bedeutung ist. Aber es ist schon ein sehr wichtiger Aspekt, und zu Recht befaßt sich die Soziologie der sozialen Ungleichheit stets auch mit dieser zunächst ja „nur“ ökonomischen Dimension der Situation der Akteure.
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fassend auch noch Abschnitt 9.1 in diesem Band). Die Gründe für diese Bedeutung der sozialen Ungleichheit haben wir schon kennengelernt: Die soziale Ungleichheit spiegelt die Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage bestimmter Untergruppen der Bevölkerung einer Gesellschaft und der (eventuellen) Spaltung der Gesellschaft in dann auch typisch unterschiedliche soziale Kategorien, Kollektive bzw. Aggregate.3 Die gesellschaftliche Lage bildet dabei für die Akteure in dem betreffenden Kollektiv eine typische und objektive Strukturierung ihrer Situation – mit den entsprechenden Folgen für das Handeln und die daran – mehr oder weniger: unmittelbar – anknüpfenden gesellschaftlichen Folgen – ganz so, wie sich das im Prinzip Karl Marx für die sozialen Klassen ausgedacht hat (vgl. dazu bereits Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Um bei dem Beispiel des Einkommens zu bleiben: Wer mehr als 25000 DM im Monat verdient, hat ganz andere Möglichkeiten und Interessen als derjenige, der sich mit weniger als 1000 DM begnügen muß. Und je nachdem wie sich die (Super-) Reichen und die Armen auch in der zahlenmäßigen Größenordnung in einer Gesellschaft verteilen, ist mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorgängen zu rechnen: In der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der 50er Jahre geht es anders zu als in der Zwei-Drittel-Gesellschaft der Neuen Mitte, und in einer in eindeutige soziale Klassen gespaltenen Gesellschaft anders als in einer, in der sich alle Zugehörigkeiten „überkreuzen“ und „individualisieren“, in der sich dadurch die verschiedenen Konfliktfronten sozusagen gegenseitig neutralisieren und sich die gesellschaftlichen Widersprüche, wie es hier und da so schön geschwollen und hochstaplerisch heißt, „polykontextural“ aufheben. Die „Relevanz“ der gesellschaftlichen Lage
Die gesellschaftliche Lage eines Akteurs bestimmt sich, ganz allgemein, zunächst einmal aus allen möglichen Eigenschaften. Insofern befinden sich Alte und Junge, Bayern und Niedersachsen, Einheimische und Ausländer, Ärzte und Aldi-VerkäuferInnen, Opernliebhaber und Anhänger der Volksmusik, Verdienstkreuzträger und Vorbestrafte in jeweils für sich gleichen und von 3
Vgl. dazu etwa die Einteilung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in typische „soziale Lagen“ bei Walter Müller, Klassenlagen und soziale Lagen in der Bundesrepublik, in: Johann Handl, Karl Ulrich Mayer und Walter Müller (Hrsg.), Klassenlagen und Sozialstruktur. Empirische Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. und New York 1977, 27ff. Vgl. dazu auch noch das Konzept des Klassenschemas in Abschnitt 4.2 unten.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
anderen unterschiedenen gesellschaftlichen Lagen und bilden – meist in irgendeiner Kombination dieser vielen möglichen Eigenschaften – entsprechende soziale Kategorien und Kollektive. Im Prinzip gehören aber auch die Nasenlänge, die Vorliebe für Cashmere-Pullover und der Besitz des JodelDiploms zu den Eigenschaften, die die gesellschaftliche Lage bestimmen. Aber sind das auch jeweils gesellschaftlich „relevante“ Unterschiede? Und wenn nein: warum nicht? Die Frage nach der „Relevanz“ bestimmter Eigenschaften und daran gebundener gesellschaftlicher Lagen ist nicht leicht, und schon gar nicht: abschließend, zu beantworten. Denn: Manchmal zählen die Hautfarbe, die Religion, die Herkunft, das Abitur – und manchmal eben nicht. Und es gibt kaum ein Merkmal, das nicht irgendwo einmal doch von einer bedeutungslosen und übersehenen Petitesse zu einem Unterscheidungskriterium geworden wäre, von dem vieles, und manchmal sogar: alles, abhing. Und wieder die theoretische Grundlage: Die WE-Theorie und die sozialen Produktionsfunktionen
Bei der Frage, welche Eigenschaften oder Merkmale wann und warum „relevant“ sind und wann und warum nicht, hilft uns jedoch – wieder einmal und trotz ihrer generalisierten „Leere“ – die theoretische Grundlage des Modells der soziologischen Erklärung: Die WE-Theorie und das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. Danach läßt sich – zunächst noch ganz allgemein – festhalten, daß die „Relevanz“ sich daran mißt, ob die betreffenden Eigenschaften die Erwartungen und Bewertungen der Akteure systematisch und typischerweise strukturieren – oder nicht. Ob das der Fall ist, ist dann durch die „Verfassung“ der Gesellschaft und die damit zusammenhängenden sozialen Produktionsfunktionen „definiert“: Um welche primären Zwischengüter bzw. kulturellen Ziele geht es jeweils? Welche indirekten Zwischengüter bzw. institutionalisierten Mittel sind geeignet und/oder erlaubt? Das variiert, wie wir wissen, freilich von Gesellschaft zu Gesellschaft und wandelt sich natürlich auch fortwährend. Immer jedoch ist das Kriterium die Bedeutung der Eigenschaft für die Nutzenproduktion: Solange die Nasenlänge nicht systematisch mit der Nutzenproduktion in einer Gesellschaft zusammenhängt, etwa derart, daß jene mit langen Nasen besonders geachtet sind oder das Wahlrecht haben und jene mit kurzen Nasen eben nicht, solange konstituiert die Nasenlänge keine gesellschaftlich „relevante“ gesellschaftliche Lage. Wenn doch, sieht die Sache natürlich anders aus. Und was gelegentlich für das biologische Merkmal „Hautfarbe“ gilt, könnte, wer wollte das auschließen?, irgendwann auch einmal für die Nasenlänge gelten. Es ist eine
Soziale Ungleichheit
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stets wieder neue Aufgabe der Soziologie, zu zeigen, welche „Verfassung“ der Relevanz von speziellen Eigenschaften jeweils gilt, warum sie derart entstanden ist und welche Auswirkungen das auf die Strukturierung der Gesellschaft und der Situationen hat, in denen sich die Akteure mit bestimmten Eigenschaften typischerweise befinden. Und wieder der Hintergrund: Kontrolle und Interesse
Die durch die gesellschaftliche Lage strukturierten Erwartungen und Bewertungen spiegeln, wie gesagt, jeweils typische Situationen. Der „objektive“ Hintergrund der Situationen sind, wie wir aus Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ auch schon wissen, jeweils typische Muster in der Kontrolle von Ressourcen und in den Handlungsmöglichkeiten, und auch jeweils typische Interessen und daran anknüpfende Intentionen: Frauen können Kinder bekommen, Männer nicht. Wer Abitur hat, kann studieren, wer nur den Hauptschulabschluß hat, in der Regel nicht. Wer Geld hat, dem gehört die Welt, wer nicht, dem nicht. Wer als von den Serben bedrängter Albaner im Kosovo lebt, strebt mindestens nach der Autonomie, wenn nicht nach der nationalen Selbständigkeit der Region, und die Serben sind dann entsprechend dagegen, weil sie mit der Unabhängigkeit des Kosovo etwas Interessantes verlieren würden. Und wer als IM der Stasi noch nicht enttarnt ist, plädiert, wenngleich nicht allzu laut, um nicht aufzufallen, für eine Amnestie. Und so weiter. Mit der gesellschaftlichen Lage sind also, je nach der Verteilung von Kontrolle und Interesse und je nach den danach entstandenen Interdependenzen schließlich auch jeweils typische und objektiv begründete Konstellationen von Kooperation und Konflikt verbunden (vgl. dazu schon Kapitel 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, Abschnitt 2.1 oben in diesem Band, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Es gibt manchmal gemeinsame Interessen von Akteuren in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen und die strukturelle Bereitschaft zur Kooperation, wie das Interesse der Hochschullehrer und der Lokomotivführer am Erhalt des Beamtenstatus oder das der Autoproduzenten und der Autofahrer am Tausch von gutem Geld gegen brauchbare Autos und entsprechende Erwartungen auf einen Gewinn. Es gibt aber auch manchmal, nein: oft oder sogar meist, divergierende Interessen und Konflikte zwischen den Akteuren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen, wie das Interesse der Autoverkäufer an einem möglichst hohen und das der Autokäufer an einem möglichst niedrigen Preis, oder das Interesse der Innenminister an einer möglichst geringen Erhöhung der Bezüge im öffentlichen Dienst im Unterschied zu den demgegenüber ganz anderen Interessen der Briefträger und der Bahnbeamten. Und je nach der Verteilung der „gesellschaftlich relevanten“ Eigenschaften und Ressour-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
cen ergeben sich ganz unterschiedliche Konstellationen von Kooperation und Konflikt zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und ganz unterschiedliche Muster der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt.
Genau darin aber liegt die Bedeutung der sozialen Ungleichheit für das Verständnis der sozialen Vorgänge in einer Gesellschaft: Die Akteure in den jeweiligen gemeinsamen gesellschaftlichen Lagen drängen – je nach Interesse und Möglichkeit – auf den Erhalt günstiger und auf die Verbesserung ungünstiger Aspekte ihrer gesellschaftlichen Lage. Und sie produzieren darüber jene Spannungen und jene Dynamik, von der die sozialen Systeme der Gesellschaft leben und über die sie sich fortwährend wandeln. Demographische Ungleichheit
Die Reproduktion der Bevölkerung einer Gesellschaft beruht auf drei grundlegenden Prozessen (vgl. dazu auch Teil E: „Die Bevölkerung der Gesellschaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“): Geburten, Sterbefälle und Migration. Aus den damit zusammenhängenden demographischen Vorgängen ergeben sich bereits einige grundlegende Eigenschaften und gesellschaftliche Lagen: die Ungleichheit nach Geschlecht und nach Alter zunächst, und dann auch nach regionaler Herkunft, nach ethnischer, rassischer oder nationaler Zugehörigkeit. Demographische Merkmale sind zunächst „soziologisch“ noch bedeutungslos, weil sie „an sich“ ja noch nicht mit der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Systemen verbunden sind. Empirisch sind sie jedoch oft mit gewissen Positionen, Zuschreibungen, Opportunitäten, Erwartungen, Vorlieben, Fertigkeiten, Gewohnheiten verbunden, wie über die Geschlechterrollen oder über die Zugehörigkeit zu ethnischen Subkulturen. Die Ungleichheit nach demographischen Merkmalen ist aber auch schon in ihrer „vor“-soziologischen Form durchaus von Bedeutung. Die zahlenmäßige Verteilung der Geschlechter ist zum Beispiel nicht immer und nicht für alle Altersgruppen gleich. Und daher gibt es manchmal Über- oder Unterschüsse, etwa auf dem Markt der Partnerschaften – mit den entsprechenden Folgen für die Chance, einen Partner zu finden, oder für das Risiko der Ehescheidung beim sog. marriage squeeze. Ähnliches gilt auch schon für die Wirkung der schieren Größenverhältnisse etwa zwischen ethnischen Gruppen und der Wahrscheinlichkeit für interethnische Beziehungen (vgl. dazu insgesamt auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Wenn die ethnischen Gruppen in etwa gleichverteilt sind, ist die Wahrscheinlichkeit für das Verbleiben in den Gruppen schon strukturell höher als in dem Fall, daß es Minderheiten und Mehrheiten gibt. Wer als einziger Eskimo in Deutschland einen Partner finden will, muß eine interethnische Beziehung aufnehmen. Diese, mit der Reproduktion der Bevölkerung einer Gesellschaft zusammenhängenden Formen der Ungleichheit, seien als demographische Ungleichheit bezeichnet.
Soziale Ungleichheit
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Funktionale, kulturelle und normative Ungleichheit
Die meisten für die gesellschaftliche Lage „relevanten“ Eigenschaften sind jedoch nicht allein demographischer Natur, sondern die Folge der – zeitweise oder dauernden – Zugehörigkeit zu den verschiedenen sozialen Systemen der Gesellschaft (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). In Kapitel 3 oben in diesem Band waren drei Arten von sozialen Systemen und entsprechend drei Arten von sozialer Differenzierung unterschieden worden: funktionale Sphären, kulturelle Milieus und DevianzBereiche sowie die funktionale, die kulturelle und die normative Differenzierung. Je nachdem, aus welcher Zugehörigkeit sich die betreffende Eigenschaft ergibt, kann entsprechend von funktionaler, kultureller oder normativer gesellschaftlicher Lage und darüber dann von funktionaler, kultureller und normativer Ungleichheit gesprochen werden. Funktionale Ungleichheit
Die funktionalen Sphären existieren als soziale Systeme nur über das an den jeweiligen funktionalen Imperativen orientierte Handeln von Akteuren, wenngleich natürlich nicht immer der gleichen Akteure. Die „Verbindung“ zwischen den funktionalen Sphären und den Akteuren sind die Positionen innerhalb der jeweiligen funktionalen Sphären, etwa die eines Bundeskanzlers in der Regierung, eines Realschülers im System der Realschulen, eines Müllwerkers bei der Müllabfuhr, eines Kranken im Krankenhaus, oder eines Kochs in einer Klosterküche. Die Inklusion der Akteure in die jeweiligen sozialen funktionalen Sphären erfolgt dann durch irgendeine Plazierung in die jeweiligen funktionalen Sphären, etwa durch die Wahl zum Bundeskanzler, durch den Besuch der Realschule, durch die Vermittlung zur Müllabfuhr, durch die Überweisung in ein Krankenhaus durch den Hausarzt oder durch die Entscheidung des Abts, daß der stets etwas grüblerische Bruder Johannes am besten wohl in der Klosterküche aufgehoben sei (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Das Handeln der über die Positionsübernahme in die funktionalen Sphären inkludierten individuellen Akteure ist dann typischerweise durch die mit der jeweiligen Position verbundenen sozialen Rollen und das damit verknüpfte Rollenhandeln bestimmt (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Das hat natürlich Folgen für die Eigenschaften der individuellen Akteure: Sie haben aktuell einen bestimmten Positions- und Rollensatz, und sie verfü-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
gen im Zeitverlauf über eine bestimmte funktionale Biographie. Daraus ergeben sich dann jeweils typische Muster der Kontrolle von Ressourcen: Die einen haben eine höhere, die anderen eine relativ geringe Bildung genossen, die einen ein üppiges, die anderen ein niedriges Einkommen, die einen ein hohes, die anderen ein niedriges Berufsprestige, manche haben viele, andere nur wenige Positionen inne (gehabt) – und so weiter. So konstituieren sich je nach dem aktuellen oder dem biographischen Muster der Inklusion der Akteure in die funktionalen Sphären wiederum jeweils typische funktionale Lagen: gesellschaftliche Lagen, die aus dem Muster der Inklusion in die funktionalen Sphären entstehen. Und daraus wiederum ergeben sich typische funktionale Kategorien: Mengen von Akteuren in typischen funktionalen Lagen und typischer Ausstattung mit bestimmten Eigenschaften und der Kontrolle von mehr oder weniger interessanten Ressourcen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.5 gleich unten in diesem Band über „Statuszuweisung und Mobilität“). Und das Ergebnis ist eine bestimmte Struktur der funktionalen Ungleichheit der Akteure in einer Gesellschaft. Kulturelle Ungleichheit
Auch die kulturellen Milieus gibt es als soziale Systeme nur über das Handeln von individuellen Akteuren, die dem jeweiligen Code des Handelns, dem jeweiligen kulturellen Fokalobjekt also, folgen, etwa einem bestimmten Stil des Malens im „Expressionismus“ oder der Kleidung und des Schminkens in der Kultur des Rokoko. Die strukturelle Verbindung zwischen den kulturellen Milieus als sozialen Systemen und den individuellen Akteuren erfolgt insbesondere durch den Prozeß der kulturellen Sozialisation, der sich im Verlaufe der Beteiligung an dem jeweiligen kulturellen Milieu ergibt (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): die Einübung in die zum jeweiligen kulturellen Milieu gehörenden Orientierungen, Stilisierungen und Handlungsweisen als Folge der Beteiligung an der jeweiligen Lebensweise bzw. Szene. Diese Sozialisation kann natürlich auch als Übernahme des jeweiligen Stils aus den Medien oder durch Beobachtung und Imitation erfolgen. Das Ergebnis der kulturellen Sozialisation sind für die individuellen Akteure eine ganz bestimmte kulturelle Biographie und der Erwerb von mehr oder weniger festen kulturellen Dispositionen eines bestimmten Habitus und Geschmacks und einer bestimmten Wertorientierung. Aus der Verteilung typischer kultureller Biographien und kultureller Dispositionen über die Bevölkerung einer Gesellschaft entstehen wiederum ganz typische kulturelle Lagen und typische kulturelle Kategorien von individuellen Akteuren mit typi-
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schen Mustern von Lebensführung und Lebensstil. Und die können sich natürlich mit den oben besprochenen funktionalen gesellschaftlichen Lagen bzw. Kategorien überkreuzen oder in typischer Weise kombinieren – wie bei dem muslimischen türkischen Müllwerker oder dem katholischen bayerischen CSU-Funktionär. Das Ergebnis ist diesmal eine bestimmte Struktur der kulturellen Ungleichheit. Normative Ungleichheit
Ganz analog zur Inklusion der Akteure in die funktionalen Sphären und kulturellen Milieus sieht die Verbindung zwischen den Devianz-Bereichen und den individuellen Akteuren aus. Die strukturelle Verbindung ist die – wie auch immer „frei“ entschiedene, nahegelegte, zugeschriebene, erzwungene oder wegen Mangels an Alternativen unvermeidliche – Zugehörigkeit zu einer Suboder Gegenkultur bzw. die Beteiligung an einer sozialen Bewegung mit ihren jeweiligen Oberzielen und Codierungen. Daran schließt sich ein ganz bestimmtes abweichendes Verhalten der individuellen Akteure an, ein damit verknüpftes Muster der aktuellen Devianz, eine bestimmte, von außen vorgenommene Zuschreibung, etwa der Beteiligung an einer Straftat oder der Etikettierung als „Drogenfreak“, und eine damit verbundene, oftmals durch die soziale Umgebung zunehmend aufgezwungene Devianz-Karriere im Lebenslauf. Und daraus wiederum ergeben sich ebenfalls wieder typische gesellschaftliche Lagen und Kategorien: Typische normative gesellschaftliche Lagen bzw. deviante Kategorien – etwa eine solche irgendeines Musters der Abweichung von der Konformität mit den kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln der Gesellschaft, wie bei den farbigen Ghettobewohnern in Harlem, im Unterschied zur überwiegenden Konformität damit, etwa bei den White-Anglo-Saxon-Protestants in den USA und ihrer doppelbödigen Entrüstung über Bill und Monica und die Zigarre im Weißen Haus. Und so ergibt sich, ganz ähnlich wie zuvor bei der funktionalen und der kulturellen Ungleichheit, ein typisches Muster der normativen Ungleichheit unter den Menschen einer Gesellschaft.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Zusammenfassung
Die Verbindung der verschiedenen Formen der sozialen Differenzierung mit den gesellschaftlichen Lagen der Akteure und darüber dann der sozialen Ungleichheit läßt sich dann so wie in Abbildung 4.4 zusammenfassen:
soziales System
strukturelle Verbindung
typisches Handeln
individuelle Folge
strukturelle Folge
funktionale Sphäre
Positionsübernahme
RollenHandeln
PositionsRollensatz/ funktionale gesellschaftliche Lage/ funktionale Biographie
funktionale Ungleichheit
kulturelles Milieu
kulturelle Sozialisation
Lebensführung/ Lebensstil
Habitus/ Geschmack/ Werte/ kulturelle gesellschaftliche Lage/ kulturelle Biographie
kulturelle Ungleichheit
DevianzBereich
Zugehörigkeit/ Beteiligung/ Zuschreibung/ deviante Karriere
abweichendes Verhalten
Devianz/ normative gesellschaftliche Lage/ normative Biographie
normative Ungleichheit
Abb. 4.4: Die Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme der sozialen Differenzierung und Formen der sozialen Ungleichheit
Soziale Ungleichheit
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Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ergibt sich also unmittelbar aus der Struktur der sozialen Differenzierung und den Mustern der Inklusion der Akteure der Bevölkerung einer Gesellschaft in die verschiedenen sozialen Systeme, die die soziale Differenzierung der Gesellschaft ausmachen (vgl. dazu vor allem Kapitel 5 in diesem Band noch näher). Biographische Ungleichheit
Nicht nur die aktuelle Mitgliedschaft in einem sozialen System bestimmt also die gesellschaftliche Lage, sondern das tun auch die Folgen der früheren Mitgliedschaften: Man erwirbt etwa als Generaldirektor oder Minister Vermögen und Pensionsansprüche und hat dann von der Mitgliedschaft auch nach dem Ausscheiden aus dem Amte etwas. Man internalisiert in der Familie bestimmte Werte und Gewohnheiten – und bleibt dabei, auch wenn man längst irgendwo anders lebt. Und eine Jugendsünde mit der entsprechenden Vorstrafe bleibt unter Umständen auch dann noch ein schlimmer Makel, wenn man längst ein anderes Leben führt. Kurz: Die Mitgliedschaften zu den Systemen der funktionalen, kulturellen und normativen Differenzierung bestimmen ganz allgemein und nachhaltig die Biographie der Akteure und erzeugen auf diese Weise auch Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage der Akteure. In der Zusammenfassung in Abbildung 4.4 war daher entsprechend auch von funktionalen, kulturellen und normativen Biographien die Rede. Die aus den Biographien der Akteure entstehende Art der sozialen Ungleichheit sei als biographische Ungleichheit bezeichnet. Es ist die Unterschiedlichkeit der Akteure in den Mustern ihrer Biographien. Denn auch über den Lebenslauf hinweg entstehen ja gesellschaftliche Lagen, und frühe Ereignisse haben oft eine lebenslange Auswirkung. Etwa: Man wird als Junge oder Mädchen geboren, wird katholisch oder evangelisch getauft, kommt in den Kindergarten und in die Schule, macht eine Lehre oder das Abitur oder beide nicht, ergreift einen Beruf oder nicht, heiratet oder nicht, bekommt Kinder oder nicht, wird geschieden oder nicht, wird arbeitslos oder wechselt den Beruf, steigt auf oder ab, wird straffällig oder nicht, wird krank oder bleibt gesund, wird frühverrentet oder scheidet erst mit 65 aus dem Berufsleben aus – und stirbt irgendwann und ist dann meist, ganz zuletzt, noch (oder wieder) Teil eines der wichtigsten Funktionssysteme der Gesellschaft: der Religion.
In relativ stabilen Gesellschaften mit deutlichen institutionellen Vorgaben über die typischen Stadien des Lebensverlaufs für die Akteure mit bestimmten demographischen Eigenschaften, verstärkt oft noch durch fest eingerichtete Übergangsriten, wie Konfirmation, Abiturfeier, Hochzeit, Kindtaufe, Habilitation, Antrittsvorlesung, Emeritierung und Festschrift, findet man entsprechend ganze Kollektive mit stark standardisierten Biographien, etwa in den ständi-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
schen Feudalgesellschaften oder in den Klassengesellschaften mit ihren deutlichen Grenzen zwischen den Klassen. Für die modernen Gesellschaften der Gegenwart gibt es Anzeichen, daß sich diese biographische Standardisierung – in der Tendenz wenigstens – auflöst, etwa durch die zunehmende Überkreuzung von Mitgliedschaften in den funktionalen Sphären, durch die Ablösung der Verbindung etwa zwischen beruflicher Stellung und gewissen Lebensweisen und Lebensstilen und durch die Möglichkeit, mehr und mehr auch den Zwang, sich für die einzelnen Schritte der Biographie selbst auszusuchen, welchen Weg man gehen möchte, wenn es an einer bestimmten biographischen Verzweigung – Schulversagen, Arbeitslosigkeit, Scheidung – nicht mehr programmgemäß weitergeht. Die Lebensweltsoziologen Ronald Hitzler und Anne Honer haben für diese Vorgänge der Entstandardisierung der Biographien und die damit verbundenen Zwänge, sich seine eigene biographische Identität zurechtzuschneidern, den hübschen Begriff der Bastelexistenz geprägt: Es ist „eine sozusagen reflexive Form des individualisierten Lebensvollzugs.“4 Horizontale und vertikale Ungleichheit
Die verschiedenen funktionalen, kulturellen und normativen sowie die demographischen und biographischen gesellschaftlichen Lagen beschreiben zunächst einmal nur unterschiedliche Situationen der Akteure und daher bloß eine horizontale Dimension der sozialen Ungleichheit. Mit dem Konzept der sozialen Ungleichheit ist aber vor allem anderen die Vorstellung einer Anordnung der verschiedenen gesellschaftlichen Lagen in einer vertikalen Dimension verbunden: Die verschiedenen gesellschaftlichen Lagen stehen in einer Rangordnung, die sich aus einer gesellschaftlich geteilten unterschiedlichen Bewertung der jeweiligen gesellschaftlichen Lagen ergibt. Die gesellschaftliche Bewertung ordnet dabei die verschiedenen Ressourcen, die in den sozialen Systemen einer Gesellschaft produziert, verteilt und von den Akteuren in unterschiedlicher Weise unter Kontrolle genommen werden, auf einer vertikalen Rangskala der Wünschbarkeit. Etwa: Bildungstitel oder Kleinwagen, Wissen über die Kernspaltung oder Ikea-Möbel, der Beruf des Heizdeckenverkäufers oder der eines Nervenarztes, Geldeinkommen oder Landbesitz, die Vorliebe für Karl Moik oder für Yehudi Menuhin, eine konservative oder eine hedo4
Ronald Hitzler und Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 311; Hervorhebung im Original.
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nistische Werthaltung, eine Stasi-Verdienstmedaille oder das Bundesverdienstkreuz, die Zugehörigkeit zu einer Subkultur oder gar zu einer Verschwörung zum Sturz der Regierung, aber auch die „natürlichen“ Eigenschaften der Akteure, wie das Geschlecht, das Alter oder eine sexuelle Veranlagung.
Ein höheres Einkommen und ein Abitur zählen eben mehr als ein niedrigeres Einkommen und der Hauptschulabschluß, ein Asylbewerber hat nur eingeschränkte Rechte und „zählt“ daher weniger, etwa wenn es um politische Entscheidungen geht, und ein Müllwerker hat ein geringeres Prestige als, sagen wir wieder, ein Filialleiter bei Edeka. Aus den derart unterschiedlich bewerteten gesellschaftlichen Lagen ergibt sich dann die vertikale Ungleichheit der Bevölkerung der Gesellschaft. Die Grundlage der Bewertung: Prestige, Privilegien und Macht
Die soziale Bewertung der Eigenschaften und Ressourcen erfolgt über drei Kriterien: Prestige, Privilegien und Macht. Prestige ist die gesellschaftlich geteilte Wertschätzung, die ein Akteur mit der Kontrolle der jeweiligen Ressource oder Eigenschaft unmittelbar erhält. Prestige kann nicht „verordnet“ werden. Es ist der kulturelle Reflex der Bewunderung oder der Anerkennung gewisser Leistungen von Personen oder Personengruppen mit gewissen Eigenschaften, etwa die Heldentaten eines Häuptlings, dessen Ruhm sich dann auf seine Familie und schließlich auf die soziale Kategorie aller Häuptlinge überträgt (vgl. dazu auch bereits den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Privilegien sind besondere Rechte (aller Art), über die ein Akteur verfügt, wenn er die jeweilige Ressource kontrolliert, sei es über Zuschreibungen oder über gewisse Leistungen, die als Bedingung für die Verleihung des Privilegs gelten. Die Vergabe von Privilegien beruht insbesondere auf den institutionellen Regeln einer Gesellschaft: Das Wahlrecht hat hierzulande nur jemand, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und wer seine Schwiegermutter ermordet und deshalb lebenslänglich ins Gefängnis geht, verliert meist auch seine bürgerlichen Ehrenrechte. Die Verleihung oder Verweigerung von Rechten ist eine „rechtlich“ geregelte Angelegenheit, die in erster Linie von der jeweils etablierten Herrschaft in einer Gesellschaft abhängt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Prestige und Privilegien sind, theoretisch und oft auch empirisch, unabhängig voneinander: Ein eingebürgerter türkischer Arzt hat zwar die deutsche Staatsangehörigkeit und genießt dar-
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darüber auch gewisse Privilegien, wie die Möglichkeit der Ernennung zum Beamten, rangiert als Türke aber nicht sehr hoch auf der Prestigeskala der ethnischen Gruppen, kann das jedoch durch sein Prestige als Arzt wieder wettmachen. Auf dieser Unabhängigkeit beruht der Sinn der Konstruktion der sog. Schicht-Indizes, in denen Aspekte von Prestige und Privilegien (und von Macht) buchstäblich addiert werden und sich gegenseitig „ausgleichen“ können (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.3 in diesem Band).
Prestige und Privilegien sind stets „abgeleitete“ Größen. Sie beruhen – letztlich – auf der Macht der Akteure mit den betreffenden Eigenschaften. Macht ist, wie wir aus Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon wissen, der Grad der Kontrolle von für andere interessante Ressourcen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie ist daher, anders als das Prestige und die Privilegien, keine Angelegenheit ausschließlich der kulturell verankerten „Werte“ und der herrschaftlich abgesicherten institutionellen Regeln, sondern zuerst eine Frage der Verteilung der materiellen Ressourcen, der Verteilung von Interesse und Kontrolle der Eigenschaften und Ressourcen eben. Und die Kontrolle der interessanten Eigenschaften und Ressourcen kann sich auch ganz unabhängig von kulturellen Bewertungen oder besonderen institutionellen Regeln verteilen: Das Know-How des dringend benötigten Klempners oder die begehrte Ware des an sich etwas windigen Händlers verschafft – jenseits von Prestige und Privilegien – stets Vorteile bei der Bewertung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Lage. Sie haben ihren Kunden ganz einfach in der Hand. Und der hofiert sie schließlich auch, obwohl er sie nicht sonderlich schätzt, und sie gesellschaftlich vielleicht sogar richtig marginalisiert sind. Die Ungleichheitsstruktur
Die Ungleichheit einer Gesellschaft besteht dann aus der Kombination der verschiedenen Dimensionen der horizontalen und der vertikalen sozialen Ungleichheit. Die verschiedenen Dimensionen der horizontalen Ungleichheit – die demographische, biographische, funktionale, kulturelle und normative Ungleichheit also – und die vertikale Dimension von Prestige, Privilegien und Macht können dabei in nahezu beliebiger Weise kovariieren. Es gibt zum Beispiel Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu den funktionalen Sphären fest mit gewissen Lebensweisen und darüber dann auch typischen Lebensstilen verbunden und in einer klaren Rangordnung angeordnet sind – wie beim Adel auf der einen und bei den Bauern auf der anderen Seite in den Feudalgesellschaften des Mittelalters. Ähnliches gilt für die Kastengesellschaft Indiens oder auch für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer türkischen Subnation. Es gibt aber auch Gesellschaften, in denen alle diese Dimensionen auseinanderfallen, etwa derart, daß auch die Bankdirektoren nach Mallorca fahren, und die Arbei-
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ter in die Oper gehen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Das Auseinanderfallen von horizontaler und vertikaler sozialer Ungleichheit und die Entstandardisierung bei der biographischen Ungleichheit wird manchmal auch als „Individualisierung“ bezeichnet: Im Prinzip könnte jeder einzelne Akteur eine ganz eigene Kombination von gesellschaftlichen Lagen aufweisen, bei der sich die vertikale Bewertung als ein Sammelindex der Bewertung der einzelnen Eigenschaften und Ressourcen ergibt – etwa ein Index von Einkommen, Bildung und Berufsprestige (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 4.3 und 4.5 unten).
Die – wie man sieht: vieldimensionale – Struktur der sozialen Ungleichheit sei dann zusammenfassend als die Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft bezeichnet. Sie ist ein zentraler Teil der sozialen Struktur einer Gesellschaft (vgl. dazu die Zusammenfassung in Abschnitt 9.1 und die Übersicht in Abbildung 9.1 in diesem Band). Theoretische Konzepte der sozialen Ungleichheit
Die Vieldimensionalität der sozialen Ungleichheit ist zunächst eine bloß theoretische Größe, die sich aus der Überkreuzung der verschiedenen Dimensionen in der Horizontalen und der Vertikalen als n-dimensionaler Merkmalsraum ergibt (vgl. dazu auch schon den Exkurs über Typenbildung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In den empirisch vorfindbaren Gesellschaften sind keineswegs alle Felder besetzt, und es kommt meist zu deutlichen Kovariationen und Clusterbildungen bei den gesellschaftlichen Lagen und darüber zu starken Vereinfachungen in der Ungleichheitsstruktur. Diese Strukturierung ist in den Feudal- und den Klassengesellschaften am stärksten, und sie schwächt sich – wenigstens in der Tendenz – in den funktional differenzierten, komplexen Gesellschaften der Moderne, teilweise bedeutend, ab. Vor diesem Hintergrund der Beobachtung unterschiedlicher Arten und Grade der Strukturierung der sozialen Ungleichheit, sind in der Soziologie verschiedene Konzepte der sozialen Ungleichheit entwickelt worden. Die wichtigsten Konzepte der sozialen Ungleichheit sind – nach wie vor – die der sozialen Klasse und des Standes (bzw. das der Kaste als einem Spezialfall des Standes). Klasse und Stand bilden die theoretische Begrifflichkeit der „klassischen“ Soziologie und sind insbesondere mit den Namen Karl Marx und Max Weber verbunden. Ergänzt und teilweise abgelöst wurden diese Konzepte bei der Beschreibung der Verhältnisse in den komplexen Gesellschaften der Gegenwart zunächst durch das Konzept der sozialen Schichtung und – daran anschließend und auf die „Individualisierung“ der Gesellschaft und auf die „Entstandardisierung“ der Ungleichheitsstruktur reagierend – durch verschiedene Konzepte der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit, wie etwa das der „sozialen Lagen“ oder das der diversen „sozialen Milieus“. In grober Weise lassen sich die verschiedenen Konzepte und die Entwicklungen von der „klassischen“ zur „neuen“ sozialen Ungleichheit mit der Antwort von Max Weber auf
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Karl Marx ordnen.5 Für Marx war die Vorstellung von der sozialen Ungleichheit als einem auf eine Grundgröße, dem Konzept der Klasse, reduzierbaren, allein materiellen bzw. ökonomischen und daher eindimensionalen und die Gesellschaftsentwicklung fest determinierenden Phänomen selbstverständlich. Weber hat dem die universale Wichtigkeit auch anderer Konzepte der sozialen Ungleichheit, besonders die des Konzeptes des Standes, die Bedeutung der Ehre und der kulturellen Dimensionen und damit die Mehrdimensionalität der sozialen Ungleichheit und den Gedanken gegenübergestellt, daß sich auch aus sehr deutlichen Verhältnissen der sozialen Ungleichheit nicht sicher ableiten läßt, was mit der Gesellschaft insgesamt geschieht.
Wir gehen die verschiedenen theoretischen Konzepte der sozialen Ungleichheit in den nächsten drei Abschnitten in dieser „Entwicklung“ durch.
4.2
Klasse und Stand
Klassen und Stände sind die „klassischen“ Konzepte der Soziologie der sozialen Ungleichheit. Heute sind sie etwas aus der Mode geraten, weil man vielfach meint, daß sich die damit verbundenen klaren Grenzen und Zugehörigkeiten mit den dafür jeweils typischen Dispositionen, Orientierungen und Handlungen aufgelöst hätten. Inwieweit das auch immer stimmt: Auch die „neuen“ sozialen Ungleichheiten beziehen sich auf Elemente der Klassen und der Stände. Und weil die Konzepte der Klasse und des Standes so einfach zu verstehen sind, kann man an ihnen nach wie vor am besten verdeutlichen, worum es bei der soziologischen Analyse der Ungleichheitsstrukturen eigentlich geht. Klassen Klassen sind, so wissen wir schon aus Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, Aggregate von Akteuren in einer gleichen „Klassenlage“, einer gemeinsamen gesellschaftlichen Lage, die in erster Linie durch die ökonomische Lage bzw. die Position in den funktionalen Sphären einer Gesellschaft und den dazugehörenden Märkten bestimmt ist, also über typische soziale Produktionsfunktionen in der Reproduktion des Alltags über materielle Ressourcen.
5
Vgl. dazu etwa: Kreckel 1992, Kapitel II, Absatz 1: Marx und Weber: Klasse und Stand, S. 52-66.
Soziale Ungleichheit
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Marx und Weber
Für Karl Marx bestimmen sich, soweit sei an das Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ erinnert, die sozialen Klassen über die „Dieselbigkeit der Revenuen“, und im Fall der kapitalistischen Gesellschaftsordnung über den Arbeitslohn und das Kapital. Hieraus ergeben sich eindeutige und einfache, letztlich stets sogar nur: dichotome, Spaltungen in der Gesellschaft – „gesellschaftliche Widersprüche“ –, die zwingend auf ihre Überwindung drängen. Max Weber versteht den Begriff nicht grundsätzlich anders, differenziert ihn aber in verschiedene Arten von „Klassenlagen“ und nimmt ihm vor allem die Ausschließlichkeit und die geschichtsprägende Kraft, die für das Konzept von Marx so kennzeichnend war.6 Eine „Klassenlage“ bedeutet für Weber daher auch nur eine „typische Chance“ (Weber 1972, S. 177; Hervorhebung nicht im Original) und kein festes Schicksal. Es die typische Chance von Akteuren „1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals ... .“ (Ebd.)
Und die ergibt sich „ ... aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung ... .“ (Ebd.)
Eine Klasse ist dann „jede in einer gleichen Klassenlage befindliche Gruppe von Menschen“ (ebd.) nach ähnlicher „Verfügungsgewalt“ und „Verwertbarkeit“ von „Gütern“, also: nach ähnlichen sozialen Produktionsfunktionen, so wie wir das schon in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ allgemein und auch für den Klassenbegriff von Marx festgehalten hatten. Weber unterscheidet daran anschließend zunächst zwei Arten von Klassen: Die Besitzklasse und die Erwerbsklasse. Also: „a) Besitzklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als Besitzunterschiede die Klassenlage primär bestimmen.
6
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 177ff., 531ff. Vgl. zu den beiden Klassenkonzepten u.a auch: M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, Interessenvermittlung und Wertorientierungen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 167ff., S. 192ff.
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b) Erwerbsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen.“ (Ebd; Hervorhebungen im Original)
Diese Unterscheidung berücksichtigt (mit Marx), daß es Besitzende und Nicht-Besitzende gibt, und daß letztere darauf angewiesen sind, ihre Ressourcen, insbesondere ihre Arbeitskraft, der „Marktverwertung“ zu unterziehen. An anderer Stelle wird Max Weber noch deutlicher: „Wir wollen da von einer ‚Klasse‘ reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-)Markts dargestellt wird (‚Klassenlage‘). Es ist die allerelementarste ökonomische Tatsache, daß die Art wie die Verfügung über sachlichen Besitz innerhalb einer sich auf dem Markt zum Zweck des Tauschs begegnenden und konkurrierenden Menschenvielheit verteilt ist, schon für sich allein spezifische Lebenschancen schafft. ... . ‚Besitz‘ und ‚Besitzlosigkeit‘ sind daher die Grundkategorien aller Klassenlagen ... .“ (Ebd., S. 531f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Daneben benennt Weber noch eine dritte Art der Klasse, die „soziale Klasse“: c) Soziale Klasse soll die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein Wechsel α. persönlich, β. in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt.“ (Ebd., S. 177; Hervorhebungen im Original)
Das ist eine ganz andere Sache. Hier wird nicht auf die Art der Reproduktion der Gruppen abgestellt, sondern auf die Offenheit der Klassengrenzen und die Möglichkeit der Mobilität. Weber nimmt mit dem Begriff der „sozialen Klasse“ ganz offensichtlich das Konzept der sozialen Schichtung vorweg (vgl. dazu noch Abschnitt 4.3 gleich unten, sowie Abschnitt 4.5). Insoweit sind die Vorstellungen von Marx und Weber also noch ganz ähnlich. Bei allem anderen aber unterscheiden sie sich sehr: Für Weber gibt es innerhalb gegebener Klassen immer auch – mehr oder weniger große – wirksame Varianzen. Das Klasseninteresse ist aus der Klassenlage nicht eindeutig ableitbar. Und ob es zu einer Vergemeinschaftung oder gar Politisierung der Klassen kommt, ist für ihn vollkommen offen und von einer Vielzahl spezieller Umstände abhängig: „Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen, und zwar an die Existenz des ‚Markts‘ gebundene, welche die ‚Klasse‘ schaffen. Gleichwohl aber ist der Begriff ‚Klasseninteresse‘ ein vieldeutiger und zwar nicht einmal eindeutig empirischer Begriff, sobald man darunter etwas anderes versteht als: die aus der Klassenlage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit folgende faktische Interessenrichtung eines gewissen ‚Durchschnitts‘ der ihr Unterworfenen. Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann nämlich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlich-
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keit verfolgen wird, höchst verschieden sein, je nachdem er z.B. für die betreffende Leistung nach seiner Veranlagung hoch, durchschnittlich oder schlecht qualifiziert ist. ... . Eine noch so starke Differenzierung der Lebenschancen an sich gebiert ein ‚Klassenhandeln‘ (Gemeinschaftshandeln der Klassenzugehörigen) nach allen Erfahrungen keineswegs. Es muß die Bedingtheit und Wirkung der Klassenlage deutlich erkennbar sein. .... . Jede Klasse kann also zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen ‚Klassenhandelns‘ sein, aber sie muß es nicht sein, und jedenfalls ist sie selbst keine Gemeinschaft, und es führt zu Schiefheiten, wenn man sie mit Gemeinschaften begrifflich gleichwertig behandelt.“ (Ebd., S. 532f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Wenn man die Unterschiede der Klassenkonzepte von Marx und Weber auf einen Punkt bringen will, dann ist es wohl der, daß für Weber, dem Ansatz seiner „verstehenden“ Soziologie folgend, die Klassenlage nur ein anderer Ausdruck für bestimmte Konstellationen von auch subjektiv erst noch zu deutenden Situationen ist, dann aber nichts weiter fest determiniert, geradeso, wie das ja auch das Modell der soziologischen Erklärung tut, das ja immer auch noch die Situationsdefinitionen, die Subjektivitäten und die Entscheidungen der Akteure und die aggregierten Folgen beachtet. Und daß Marx, den Weber offenbar meint, als er in diesem Zusammenhang von einem „begabten Schriftsteller“ spricht, diese Subjektivierungen nur als „falsches Bewußtsein“ hätte ansehen können, und damit – letztlich – eine ziemlich einfach gestrickte deterministische Situationslogik verbunden hätte. Stände
Unter Ständen werden Aggregate mit einer ähnlichen „ständischen Lage“ bezeichnet. Auch hierfür gibt es die „klassische“ Formulierung bei Max Weber: „Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung, begründet auf: a) Lebensführungsart, – daher b) formale Erziehungsweise, ... ; c) Abstammungsprestige oder Berufsprestige.“ (Ebd., S. 179; Hervorhebungen im Original)
Die ständische Lage drückt sich ferner noch vor allem in gewissen Formen der sozialen Beziehungen, – „connubium“ und „Kommensalität“, Binnengruppenheirat und nach innen gerichtete Interaktionen also – und der „monopolistischen Appropriation von privilegierten Erwerbschancen“ bzw. „Erwerbstätigkeiten“ (ebd.) aus. Die Grundlage der ständischen Ordnung bilden also vier Elemente: eine spezifische, gesellschaftlich geteilte, positive oder negative „soziale Einschätzung der Ehre“, also das typische Prestige eines bestimmten Standes, die „Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung“ (ebd., S. 535; Hervorhebung im Original), die Monopolisierung bestimmter
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Erwerbsarten und Tätigkeiten, einschließlich, wie beim Adel, der „Tätigkeit“ des Müßiggangs, und eine nach innen gerichtete Verdichtung der Verkehrskreise und Beziehungen, die Binnenheirat und die Beschränkung des alltäglichen Umgangs auf Angehörige des gleichen Standes vor allem. Stände haben, wie man sieht, große Ähnlichkeiten mit sozialen Gruppen, einschließlich der besonderen Art der kollektiven Identität und Identifikation, die in sozialen Gruppen oft entsteht (vgl. dazu auch die Klassifikationen sozialer Systeme und Gebilde in Kapitel 2 dieses Bandes). Es ist, wenn man so will, der gelungene Versuch, die Eigenschaften kleiner Gruppen auf große Aggregate von Menschen zu übertragen, die dann auf dieser Ebene der ständisch organisierten Großgruppen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung vollziehen – unter der Bedingung einer starken vertikalen Ungleichheit zwischen den Gruppen und deutlicher Gruppengrenzen. Es kann vermutet werden, daß es die ständischen Ordnungen waren, über die erst der Übergang von den kleinen segmentären Gesellschaften der Vorzeit zu den großen und schon arbeitsteilig organisierten Staatsgesellschaften des Mittelalters und der Übergang daraus schließlich zur nicht-ständischen funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaften möglich wurde (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 dieses Bandes). Kasten Kasten sind „gesteigerte“ Spezialfälle der Stände.7 Es gibt bei ihnen besonders deutlich und streng vorgeschriebene Formen der Lebensführung und des sozialen Verkehrs, bestimmter Arten der Erwerbstätigkeit und – erst recht – stark unterschiedlicher Grade der gesellschaftlich verteilten Ehre und des Prestiges. Die ständische Abschließung und Ordnung wird – zusätzlich zu der rechtlichen und konventionellen Absicherung der Stände – noch religiös legitimiert und auch dadurch rituell garantiert, daß jede physische Berührung mit einem Mitglied einer niedrigeren Kaste für die Angehörigen einer höheren Kaste als „Verunreinigung“ und als religiös zu sühnender Makel gilt. Die ständische „Steigerung“ bei den Kasten besteht dazu noch darin, daß es – an7
Vgl. zum Konzept der Kaste etwa: Gerald D. Berreman, Caste, in: David L. Sills (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 333ff.; Adrian C. Mayer, The Indian Caste System, in: David L. Sills (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 339ff.; Günter Endruweit, Kaste, in: Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Band 2, Stuttgart 1989, S. 325-327; Ursula Sharma, Caste, Buckingham and Philadelphia 1999. Siehe natürlich auch Weber 1972, S. 536f.
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ders als zwischen den Ständen durchaus und erst recht, wenngleich ohne Zweifel immer noch in begrenztem Umfang, zwischen den Klassen – für die Individuen keinerlei Möglichkeit der Mobilität oder eines sonstigen „exits“ aus dem System gibt. Kasten sind daher geradezu Extremfälle für die Kovariation von Prestige, Bildung, Beruf, kulturellen Normierungen und Gewohnheiten und der damit einhergehenden Statuskristallisation – wie sie in der Tendenz nach auch für die Stände und für die Klassen typisch ist. Der wohl typischste Fall: das indische Kastensystem
Das bekannteste und in seiner Struktur wohl typischste Kastensystem gibt es in Indien als Teil der hinduistischen Religion. Es unterscheidet vier hierarchisch angeordnete Kasten: die Brahmanen, die Kshatriya oder Rajanya, die Vaisha, die Shudra. Die Brahmanen bilden die Kaste der Priester und der religiösen Führer. Sie verwalten das heilige Schrifttum und haben Weisungs- und Deutungsbefugnis für alle religiösen Fragen. Sie sind die mächtigste Kase mit dem höchsten Rang. Die Kshatriya (oder Rajanya) stellen die Kaste der Krieger, aus der die weltlichen Herrscher abstammen. Bei ihnen liegt als Adelskaste die eigentliche weltliche Macht. Sie haben keine religiösen Rechte und dienen den Brahmanen. Die Vaisha bilden die Kaste der Händler, Handwerker und Bauern. Sie können zwar auch sehr reich sein, haben aber nur eingeschränkte religiöse und weltliche Rechte. Die Kaste der Shudra schließlich ist die Kaste der Dienerschaft. Die unfreien Arbeiter und Bauern stammen aus dieser Kaste. Sie haben nur noch ein Recht – das des Dienens, und sie sind in aller Regel arm und besitzlos. In der Einführung zu „Die Gesetze des Manu“, einer von Hindupriestern etwa 200 Jahre vor Christus verfaßten Sammlung von Hindu-Schriften, wird diese Einteilung wie folgt begründet: „Zum Wohle der Welt ließ Er [der Gott, das göttliche Selbst] die Brahmana, die Kshatriya, die Vaisya und die Sudra aus seinem Munde, seinen Armen, seinen Schenkeln und aus seinen Füßen hervorgehen. ... . Um dieses Universum nun aber zu schützen, wies Er, der Glanzvolle, den aus seinem Munde, seinen Armen, seinen Schenkeln und seinen Füßen Hervorgegangenen jeweils besondere Aufgaben zu. Den Brahmanen gab er auf, zu forschen und zu lehren [die Veda], zu opfern für sich selbst und für die anderen, zu geben und zu nehmen [Almosen]. Die Kshatriya sollten das Volk schützen ... die Vaisya mußten für das Vieh sorgen ... den Sudra wies der Herr nur die eine Pflicht zu, den übrigen drei Kasten bescheiden zu dienen.“ (Zitiert nach Lenski 1973, S. 21)
Daneben – genauer: darunter – gibt es dann noch, bekanntlich, die Parias, die „Unberührbaren“, als die Bevölkerungsgruppe mit der niedrigsten sozialen Position. Sie bilden keine Kaste und gelten damit als ganz außerhalb der Gesellschaft stehend. Sogar ihren Schatten dürfen Angehörige der Kasten nicht
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berühren. Und noch heute gehen in manchen südlichen Regionen Indiens die Leute nur Mittags aus, weil dann, wegen der kurzen Schatten, die Gefahr einer solchen Berührung mit dem Schatten der Unberührbaren noch am geringsten ist. Die Parias üben nach wie vor die verachtetsten Berufe aus, wie Totengräber oder Straßenfeger, und leben, immer noch, unter meist menschenunwürdigen Bedingungen. Das Wahlrecht haben sie erst im neuen Indien erhalten. Empirisch ist das indische Kastensystem wesentlich differenzierter als die Unterteilung in die geschilderten vier Kasten und die Unberührbaren. Es gibt zwischen 3000 und 6000, auch regional sehr unterschiedliche, Unterkasten mit z.T. noch wirksameren Grenzen als die zwischen den Hauptkasten. Innerhalb der Kasten gibt es spezifische, auf die Förderung der Interessen der Kastenmitglieder ausgerichtete Organisationen, teilweise eigene Bildungseinrichtungen und Massenmedien, Sparvereine, Krankenhäuser, Wohngemeinschaften und dergleichen. Auf diese Weise werden innerhalb des Gefüges der zahllosen Unterkasten kollektive Auf- und Abstiege und die Entstehung neuer Kastengliederungen möglich. Man vermutet, daß diese „kollektive“ Flexibilität des indischen Kastensystems einer der Gründe dafür ist, daß es sich bei aller, auch in Indien voranschreitenden, Modernisierung bis heute hat erhalten können. Ethnische Schichten und Quasi-Kasten
Kasten sind eine typische Folge der Vergesellschaftung von zunächst nebeneinander lebenden ethnischen Gruppen, die im Zuge dieser Vergesellschaftung nach und nach typisch verschiedene Positionen auf der vertikalen Dimension von Prestige, Privilegien und Macht und gleichzeitig auf der horizontalen Dimension der funktionalen, kulturellen und normativen Ungleichheit einnehmen, etwa in der Verteilung typischer, und zum Teil von den etablierten Normen abweichender Berufstätigkeiten und Erwerbsarten auf die kulturell unterschiedlichen ethnischen Gruppen: „Die ‚Kaste‘ ist geradezu die normale Form, in welcher ethnische, an Blutsverwandtschaft glaubende, das Konnubium und den sozialen Verkehr nach außen ausschließende Gemeinschaften miteinander ‚vergesellschaftet‘ zu leben pflegen. ... Die zur ‚Kaste‘ gesteigerte ‚ständische‘ und die bloß ‚ethnische‘ Scheidung differieren in ihrer Struktur darin, daß die erstere aus dem horizontalen unverbundenen Nebeneinander der letzteren ein vertikales soziales Uebereinander macht.“ (Weber 1972, S. 536; Hervorhebungen nicht im Original)
Es ist der Übergang von einem zunächst nur horizontalen Multikulturalismus zu einem System der ethnischen Schichtung, bei dem Dimensionen der funk-
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tionalen, der kulturellen und der normativen Ungleichheit systematisch miteinander kovariieren (siehe dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 in diesem Band). In der Kastenform finden ethnische Schichtungen zwar ihren extremsten Ausdruck, sie sind aber als sog. Quasi-Kasten-Systeme in zahllosen „modernen“ Ländern der Erde zu finden, etwa in den Vereinigten Staaten mit den Schwarzen, den Hispanics, den Asiaten und den Weißen, und inzwischen auch in den westeuropäischen Ländern mit ihrer ethnischen Unterschichtung durch (Arbeits-)Migranten aus Südosteuropa. Es scheint so zu sein, daß jeder Versuch zur Einrichtung einer multikulturellen Gesellschaft fast zwangsläufig in irgendeiner Form der ethnischen bzw. kulturellen Schichtung endet, die nicht selten dann auch gegen alle politischen Bemühungen und moralischen Einstellungen rasch (quasi-)kastenhafte Züge annimmt.8 Die Stabilität der Kastensysteme
Ein interessantes Rätsel ist die – nach wie vor zu beobachtende – Stabilität der Kastensysteme, einschließlich die der Systeme der ethnischen Schichtung. Für das indische Kastensystem ist die Antwort verhältnismäßig naheliegend: Zwar ist nach hinduistischem Glauben ein Aufstieg in eine höhere Kaste im Diesseits unmöglich, jedoch über den Umweg der Wiedergeburt – sofern im Diesseits alle religiösen Regeln befolgt wurden, wozu insbesondere die Fügung in das Kastenschicksal gehört. Für die Quasi-Kasten-Systeme gibt es auch eine naheliegende Antwort: Anders als der gesunde Menschenverstand glaubt, neigen unterprivilegierte Gruppen, wie wir etwa schon aus Abschnitt 10.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, gerade nicht zu Rebellion oder gar Revolution, einfach weil sie an einen Erfolg entsprechender Versuche vernünftigerweise nicht glauben können. Und so bleibt meist alles beim alten, auch wenn die Ungleichheit und die damit verbundene Ungerechtigkeit noch so schreiend sind (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 über die Integration der Gesellschaft in diesem Band). Und weil die Menschen in den unteren und untersten Kasten ihre Unterprivilegierung und die Aussichtslosigkeit einer Änderung zwar deutlich spüren, gleichwohl aber nicht auf ein positives Selbstbild verzichten können, greifen sie typischerweise zu einem naheliegenden Ausweg: Wenn schon ihr Reich nicht von dieser
8
Vgl. dazu auch Gerald D. Berreman, Caste in India and the United States, in: American Journal of Sociology, 66, 1960, S. 120-127; Donald L. Noel, A Theory of the Origin of Ethnic Stratification, in: Social Problems, 16, 1968, S. 157-172.
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Welt ist, dann gibt es wenigstens noch die glaubhafte Aussicht auf eine bessere Zukunft: „Das Würdegefühl der negativ privilegierten Schichten kann sich naturgemäß [nur] auf eine jenseits der Gegenwart liegende, diesseitige oder jenseitige Zukunft beziehen, es muß sich mit anderen Worten aus dem Glauben an eine providentielle ‚Mission‘, an eine spezifische Ehre vor Gott als ‚auserwähltes Volk‘, also daraus speisen, daß entweder in einem Jenseits ‚die letzten die ersten‘ sein werden oder daß im Diesseits ein Heiland erscheinen und die vor der Welt verborgene Ehre des von ihr verworfenen Pariavolkes (Juden) oder -standes an das Licht bringen werde.“ (Weber 1972, S. 536)
Am Beispiel der Kasten wird, wie wir sehen, jenes Problem am deutlichsten, das mit jeder vertikalen sozialen Ungleichheit verbunden ist: die Hinnahme einer einmal zugewiesenen und durch eigene Leistung oft kaum mehr zu verändernden sozialen Position der Unterprivilegierung. Es ist das Problem der Integration einer vertikal nach Prestige, Privilegien und Macht gegliederten Gesellschaft, und hier speziell das der Legitimation der (vertikalen) Ungleichheiten und der damit oft verbundenen – offenen wie versteckten – Ungerechtigkeiten. Markt und Ehre
Klassen sind wegen ihrer Verankerung in der Produktion und Verteilung von materiellen Gütern Angelegenheiten der einfachen Aggregation und des anonymen Marktes. Stände sind dagegen, wie wir oben schon festgehalten haben, eher so etwas wie sehr große soziale Gruppen mit einer hohen Interaktionsdichte nach innen, der teilweise extremen und gewollten Abgrenzung nach außen und einer eigenen Gruppenidentität, dem sog. Standesbewußtsein. Es sind, wie Max Weber feststellt, „ ... im Gegensatz zu den Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von amorpher Art.“ (Ebd., S. 534; Hervorhebungen nicht im Original)
Zwischen den Klassen als „anonymen“ Aggregationen und den Ständen als „Gemeinschaften“ gibt es fraglos zahllose Zwischen- und Mischformen. Max Weber hat etwa die folgende Beobachtung vermerkt: „In der sog. reinen, d h. jeder ausdrücklich geordneten ständischen Privilegierung Einzelner entbehrenden, modernen ‚Demokratie‘ kommt es z.B. vor, daß nur die Familien von annähernd gleicher Steuerklasse miteinander tanzen (wie dies z.B. für einzelne kleinere Schweizer Städte erzählt wird).“ (Ebd., S. 535)
Oder beim Rektorball in Mannheim. Gleichwohl vertragen sich die beiden Prinzipien nicht gut: Die anonymen Märkte, die die Klassenlagen erzeugen,
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sind Formen der Vergesellschaftung, und die exklusiven Grenzziehungen der Ehre, der Lebensführung, der Erwerbstätigkeit und der Beziehungen, auf denen die ständischen Lagen beruhen, solche der Vergemeinschaftung (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band). „Der Markt ... weiß nichts von ‚Ehre‘“ und für die ständische Ordnung gilt „gerade umgekehrt: Gliederung nach ‚Ehre‘.“ (Ebd., S. 538) Weil aber die ständische Lage mit der ständischen Ehre, ganz anders als jede Klassenlage, auf einem, wie wir im Anschluß an Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sagen wollen, höchst spezifischen Kapital beruht, ist sie „ ... als solche in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die bloße, nackte, ihren außerständischen Ursprung noch an der Stirn tragende, rein ökonomische Macht als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleiche oder ... sogar dem Erfolg nach höhere ‚Ehre‘ verleihen könnte, wie sie die ständischen Interessenten kraft ihrer Lebensführung für sich prätendieren. Die Interessenten jeder ständischen Gliederung reagieren daher mit spezifischer Schärfe gerade gegen die Prätentionen des rein ökonomischen Erwerbs als solchen und meist dann um so schärfer, je bedrohter sie sich fühlen .. .“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Und genau deshalb kommt es gerade für die oberen Stände, die immer auch viel mehr zu verlieren haben als nur ihre ständische Ehre, sehr darauf an, die Formen der Lebensführung und des Lebensstils so zu kultivieren, daß sie nicht so einfach mehr übernommen oder nachgeahmt werden können, wenn man nicht von Geburt an dem betreffenden Stand zugehört: Über deren virtuose Handhabung wird der „echte“ Adel leicht erkannt, ebenso wie der ungeschickte Parvenü, der zwar vielleicht das Talent, das Wissen und das Geld hat, aber, gottlob, nicht weiß, wie man sich benimmt (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und Abschnitt 3.2 in diesem Band über die Distinktion durch Stilisierungen der Lebensführung und über die Bedeutung des sog. kulturellen Kapitals für die Schließung der Gruppen gegen unerwünschte Eindringlinge). Aber hilft das auf die Dauer gegen die unwiderstehliche Macht der Märkte? Karl Marx war der festen Überzeugung, daß sich im Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung die ständischen Unterschiede bald ganz auflösen würden. Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu ganz unmißverständlich: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoiseposche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
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entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“9
Diese Sicht war aus der Zeit heraus, in der Karl Marx lebte, nicht unverständlich. Es war die Zeit des endgültigen Niedergangs und der Auflösung der mittelalterlichen Ständegesellschaft und des offenbar unaufhaltsamen Vordringens der „kalten Zweckrationalität kapitalistischen Wirtschaftens“ (Kreckel 1992, S. 64). Max Weber, der zu den Zeiten von Wilhelm Zwo im Deutschen Kaiserreich lebte, hatte demgegenüber wieder eine ganz andere Erfahrung: Der Kapitalismus hatte sich zwar durchgesetzt, aber es gab keine proletarische Revolution. Eher ganz im Gegenteil: Es verbreitete sich ein chauvinistischer Nationalismus gerade auch bei manchen Proletariern, die Zahl der Verwaltungsangestellten und der Beamten nahm zu, und es kam überall – beim Militär, im Bürgertum, ja selbst unter Wissenschaftlern – zu Erscheinungen, die sich alle um „Ehre“, „Status“ und „Comment“ drehten. Man denke nur an die Studentenverbindungen. Und was war der Hintergrund? Ganz offensichtlich eine lange Periode des Friedens und der allmählichen Etablierung von ständischen Verkehrskreisen mit den einträglichsten Querverbindungen hin und her und quer durch die dann gar nicht mehr so anonymen Märkte: Mer kenne uns, mer hellepe uns, wie man im Rheinland zu sagen pflegt. Kohl, also. Und wohl auch daher gelangte Weber zu der folgenden Hypothese: „Ueber die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des Vorherrschens ‚ständischer‘ Gliederung läßt sich ... allgemein nur sagen: daß eine gewisse (relative) Stabilität der Grundlagen von Gütererwerb und Güterverteilung sie begünstigt, während jede technisch-ökonomische Erschütterung und Umwälzung sie bedroht und die ‚Klassenlage‘ in den Vordergrund schiebt. Zeitalter und Länder vorwiegender Bedeutung der nackten Klassenlage sind in der Regel technisch-ökonomische Umwälzungszeiten, während jede Verlangsamung der ökonomischen Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen ‚ständischer‘ Bildungen führt und die soziale ‚Ehre‘ wieder in ihrer Bedeutung restituiert.“ (Weber 1972, S. 539)
Daß solche ständischen Vergemeinschaftungen in Perioden der Stabilität „alsbald“ aufzuwachsen beginnen, hat einen naheliegenden und mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen gut nachvollziehbaren Grund: Soziale Wertschätzung und die Verleihung von „Ehre“ bilden eines der grundlegenden Bedürfnisse der Menschen, und ihre Produktion ist technisch an stabile und personale Beziehungen gebunden. Außerdem sind gerade riskante Kooperationen dann leichter möglich, wenn man sich kennt, sich ständig wiedersieht und weiß, daß sich auch der andere einer gewissen „ständischen“ Moral – oder Ganovenehre! – bindend unterworfen fühlt. Insofern helfen ständische 9
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-EngelsWerke, Band 4, Berlin 1964, S. 465.
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Verkehrskreise mit ihrer sozialen „embeddedness“ der Marktbeziehungen manchmal auch der ökonomischen Produktivität. Andererseits lauert dahinter eine geradezu unvermeidliche Gefahr: Daß sich die so entstandenen ständischen Gruppen, etwa die Zünfte des Mittelalters oder die Lobbyisten der Gegenwart, zu Verteilungskoalitionen zusammenschließen, die die in einer effizienten Wirtschaft unablässig nötigen Anpassungen und Änderungen nachhaltig unterbinden können: „Die zunftähnliche institutionelle Integration und Regulierung ... verhindert eher einen Wandel (ebenso wie dies die mittelalterlichen Zünfte taten). Ohne Wandel gibt es kein Wachstum; somit ist eine berufsständische Ordnung des Wirtschaftslebens eine der sichersten Methoden zur Verhinderung wirtschaftlichen Fortschritts.“10
Und daraus ergibt sich ein Dilemma zwischen den beiden Prinzipien des Marktes und der Ehre bzw. des Standes und der Klasse, das wohl unauflöslich ist: „Die fortlaufenden Reallokationen und Reorganisationen, die zur höchstmöglichen Befriedigung aller unserer anderen individuellen Bedürfnisse (seien sie materieller Art oder nicht) nötig sind, sind für gewöhnlich nicht mit den stabilen oder dauerhaften persönlichen Beziehungen vereinbar, welche die meisten Menschen zu schätzen und zu brauchen scheinen.“ (Ebd.)
Und, so sei hinzugefügt, welche sie nur dann in einer Klasse finden, wenn die unversehens in einen Stand mutiert ist. Wenigstens eine Zeit lang war das so im Ruhrgebiet mit den katholischen polnischen Bergarbeitern, denen die Familie Krupp erfolgreich einreden konnte, daß ihre schlecht bezahlte Arbeit tatsächlich ein „Gebet“ sei.
4.3
Soziale Schichtung
Klassen, Stände – und besonders natürlich die Kasten – haben scharfe und nur schwer überwindbare Grenzen. Sie unterteilen eine Gesellschaft in deutlich unterschiedene Segmente, in eine klare vertikale Rangordnung des wirtschaftlichen Wohlstands, des Prestiges, der Privilegien, der Macht und der sozialen Chancen ganz allgemein, sowie in deutliche horizontale Unterschiede der Interessen, der Einstellungen und Mentalitäten, der alltäglichen Lebensführung, der kulturellen Praktiken und der sozialen Beziehungen, teilweise sogar der Devianz von den „herrschenden“ Normen einer Gesellschaft. Die sog. moder10
Mancur Olson, Umfassende Ökonomie, Tübingen 1991, S. 184; Hervorhebung nicht im Original.
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ne Gesellschaft mit der für sie typischen funktionalen Differenzierung, mit der damit möglichen und auch einhergehenden Mobilität und einer vielfältigen Kreuzung der sozialen Kreise hat – wenigstens in der Tendenz – diese Segmentierungen gemildert und die einfache vertikale Anordnung der Bevölkerung in ein vieldimensionales System unterschiedlicher Bewertungskriterien ohne scharfe Grenzen gebracht. Die Reaktion der Soziologie darauf war zunächst ein – nach Marx und Weber – neues theoretisches Konzept: das Konzept der sozialen Schichtung. Gesellschaftliche Entwicklungen
Die Einführung des Begriffs der sozialen Schichtung wurde durch gewisse gesellschaftliche Entwicklungen in den westlichen Industrieländern sozusagen erzwungen. Die Klassenstruktur dort wurde im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts, anders als Karl Marx gemeint hatte, nicht homogener und nicht einfacher, sondern differenzierter und komplexer, und die Klassengegensätze spitzten sich nicht zu, sondern flauten deutlich ab. Drei spezielle Vorgänge sind zu nennen. Das ist erstens die Beobachtung, daß die Varianzen in den Klassen (und den verbliebenen Ständen), anders als Karl Marx geglaubt hatte, eher zu- als abgenommen haben. Es gab bald Arbeitereliten und leitende Angestellte in den kapitalistischen Betrieben einerseits und Kleinunternehmer und „Tagewerker für eigene Rechnung“ andererseits, die jeweils nicht so recht in das dichotome Klassenschema von Marx paßten. Ebenfalls anders als Karl Marx das vermutet hatte, versanken zweitens auch die sog. Mittelklassen keineswegs in die Proletarisierung und/oder lösten sich gar auf. Es gab weiterhin ein Kleinbürgertum, selbständige Bauern und Handwerker, mehr und mehr traten Angestellte und Beamte in Erscheinung, und es erfolgte ein bis heute nicht beendeter Aufstieg der Manager, der technischen Intelligenz und der Personen in den Dienstleistungsberufen. Die dritte Entwicklung war die höhere Durchlässigkeit der Klassen- und Standesgrenzen und die damit einsetzende Mobilität. Das war die Folge der Umstellung der Positionszuweisung von askriptiven Kriterien auf solche der „Leistung“ in der Folge der steigenden funktionalen Differenzierung. Und die Folge davon waren die Zunahme von Statusinkonsistenzen und die tendenzielle Auflösung der Gemeinsamkeiten in Interessen, Bewußtsein, Mentalität, Habitus und Verkehrskreisen – weil die Menschen nun immer weniger nur in konzentrischen Kreisen ihrer sozialen Zugehörigkeit zu verkehren gezwungen waren.
Empirisch sind diese Vorgänge nicht zu bezweifeln. In den 50er und 60er Jahren entstand hierzulande zeitweise sogar die Illusion von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, und heute wird die komplette „Individualisierung“ der Menschen und die endgültige Auflösung der Klassen und der Stände beschworen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.4 und den Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, unten in diesem
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Band). Das war und ist zwar stark übertrieben, verweist aber auf eine nicht länger nur als „Anomalie“ zu betrachtende generelle und globale Entwicklung: die Modernisierung der Gesellschaften und der Welt insgesamt. Theodor Geiger
Als einer der ersten Soziologen hat Theodor Geiger mit seinem Buch über „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932 auf diese Vorgänge reagiert.11 Soziale Schichten werden von Theodor Geiger zunächst ebenfalls wieder als „klassifizierte Menschen“ bzw. als „‚Bevölkerungsteile‘“ verstanden, und sie bilden auch noch relativ fest umrissene „soziale Blocks“ gemeinsamer „Lagen“, „Interessen“ und „Mentalitäten“. Aber das Bild ist nun komplizierter geworden: „Auch hier wird es nicht bei einem einfachen Schichtungsbild bleiben; mannigfach wie die widerstreitenden Bestrebungen und Interessen sind die entsprechenden Schichtungen; sie überkreuzen, durchdringen und überdecken einander. ... . Die Zahl der möglichen Reihen solcher Schichten ist also grundsätzlich nicht begrenzt; soviel Antagonismen und Varianten ich im Wirtschaftsdenken der Bevölkerung beobachte, soviel verschiedene Schichtungen finde ich vor.“ (Ebd., S. 5; Hervorhebung im Original)
Mit den Varianzen, Überlappungen, Überkreuzungen und Durchlässigkeiten war für Geiger jedoch keineswegs die Aufhebung der vertikalen Ungleichheiten verbunden. Nach wie vor gab es Menschen mit deutlichen Unterschieden in wirtschaftlicher Macht und im Prestige, die sie nach wie vor vor allem aus ihrer beruflichen Tätigkeit bezogen. Aber neben die beiden Kriterien des Eigentums und der Ehre tritt nun zunehmend die Bildung und die Verfügungsmacht in den staatlichen wie nichtstaatlichen Organisationen. Und so wurde es plausibel, statt der einfachen dichotomen Klassenmodelle nunmehr komplexere Bilder der gesellschaftlichen „Lagerungen“ zu entwerfen. Theodor Geiger geht bei seinem Schichtungsmodell in der „Rohgliederung“, wie Karl Marx, von einer Einteilung der Bevölkerung „am Maßstab des Produktionsverhältnisses“ (ebd., S. 24; Hervorhebung im Original) aus. Zunächst unterscheidet er daher auch wieder die beiden Marxschen Hauptklassen einer „Kapitalistischen Lage“ und einer „Proletarischen Lage“. Nun fügt er aber eine „Mittlere Lage“ ein (vgl. Abbildung 4.5).
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Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932.
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die – weiterhin – am alten Konzept der Klasse bzw. des Standes. Und entsprechend wurden Schichtungsmodelle vorgeschlagen, ebenso wie sogenannte Klassenschemata. Das Modell von Theodor Geiger ist ein früher Vorschlag für ein Klassenschema gewesen: Es geht weiter von relativ fest umrissenen und durch qualitativ unterschiedliche Lebenslagen gekennzeichnete „Blocks“ aus. Und mit der Anordnung in der vertikalen Dimension ist immer auch eine Komponente der horizontalen und diskontinuierlichen Unterschiedlichkeit der Gruppen verbunden. Die Schichtungsmodelle sehen die Gesellschaft anders: Es gibt keine klaren Grenzen (mehr), die Unterschiede zwischen den Menschen sind eigentlich gar keine „Gruppen“-Unterschiede mehr, sie sind quantitativ und kontinuierlich und sie beschränken sich auf die vertikale Dimension eines aus verschiedenen Bewertungsdimensionen zusammengezogenen Index des sozio-ökonomischen „Status“. Die zu Beginn des Kapitels besprochene Verteilung des Einkommens ist das Modell, das der Idee der Schichtung zugrundeliegt: die Unterteilung in Einkommensgruppen, die man eher aus pragmatischen als aus inhaltlichen Gründen vornimmt.
Kurz: Es geht bei den Klassenschemata, anders als bei den Schichtungsmodellen, nicht bloß um einen eindimensionalen und kontinuierlichen „Status“, gemessen etwa an Einkommen, Berufsprestige und Bildung, sondern weiterhin um diskontinuierliche Strukturierungen der Situation auch inhaltlicher Art mit systematischer Bedeutung für die Interessen, die Vorlieben, das Wissen, die Einstellungen, die Gewohnheiten und das Handeln der Menschen – wenngleich nicht mehr nur für zwei „Klassen“. Schichtungsmodelle
Das Konzept der sozialen Schichtung ist am Bild der geologischen Formationen orientiert: Es gibt über- und untereinander gelagerte Formationen unterschiedlicher Gesteinsarten mit unterschiedlich scharfen Übergängen zwischen den verschiedenen „Schichten“. In Analogie dazu versuchen die Schichtungsmodelle, die Struktur und die „Breite“ der „Lagerungen“ der gesellschaftlichen Schichtung verschiedener Statusgruppen in der Vertikalen zu beschreiben. Dazu gibt es seit langem eine Reihe von Vorschlägen.12 Ein oft präsentiertes älteres Beispiel ist die manchmal so genannte Bolte-Zwiebel, und ein aktuelleres die, so wollen wir das Modell nennen, Geißler-Residenz. Alle diese Modelle kommen, so sei schon angemerkt, nicht ohne Anleihen an den Konzepten von Klasse und Stand aus.
12
Vgl. dazu etwa Karl Martin Bolte, Dieter Kappe und Friedhelm Neidhardt, Soziale Ungleichheit, 4. Aufl., Opladen 1975, S. 94-99; Karl Martin Bolte und Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., Opladen 1984, Kapitel 6.
Soziale Ungleichheit
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einen alten und einen neuen Mittelstand. Die Statuszonen sind – mehr oder weniger: willkürlich – unterteilte Ebenen auf der vertikalen Dimension, ein „Kontinuum von Schichtballungen mit unscharfen Grenzen“, wie Bolte, Kappe und Neidhardt (1975, S. 99) schreiben. Oberschicht und sozial Verachtete bilden jeweils eine eigene Statuszone, und die anderen drei Kategorien verteilen sich, teilweise überlappend, auf die restlichen fünf Statuszonen der oberen Mitte, der mittleren Mitte, der untersten Mitte bzw. des oberen Unten und des Unten.
Das Hauptproblem bei der Bolte-Zwiebel ist, wie bei den Schichtungsmodellen insgesamt, daß die Kategorisierungen theoretisch und auch empirisch nicht eindeutig begründet sind, und daß daher die Einteilungen in die Kategorien und „Statuszonen“ einer gewissen Willkür nicht entbehren. Es ist die Folge des durch die gesellschaftlichen Entwicklungen nahezu erzwungenen Verzichts auf ein deduktives Kriterium der Klasseneinteilung. Und das hat den Schichtungsmodellen alsbald den Vorwurf der „bürgerlichen“ Beliebigkeit, ja der ideologischen Verschleierung der wirklichen Ungleichheitsstrukturen eingebracht. Die Geißler-Residenz
Die Bolte-Zwiebel enthielt bei ihren undeutlichen Unterscheidungen von Schichten in der Tat nur noch schwache Anklänge an die alten Kategorien der Klasse und der objektiven und besonderen Produktionsverhältnisse, wie das etwa noch bei Theodor Geiger der Fall war. Und in ihm fand sich nur wenig, was auf neue Entwicklungen oder gar „Neue Soziale Ungleichheiten“ hindeutete. Das ist anders in dem Modell der Geißler-Residenz. Das Modell beruht auf einem älteren Vorschlag von Ralf Dahrendorf aus den 60er Jahren, das dieser in Anlehnung an die Überlegungen von Theodor Geiger konstruiert hatte. Wir wollen es, weil die Zeiten damals noch bescheidener waren, das Dahrendorf-Reihenhaus nennen. Die Geißler-Residenz ist, so ihr Erbauer Rainer Geißler, eine für die Verhältnisse in den 80er Jahren umgebaute, modernisierte und mit einigen Anbauten versehene Version des Dahrendorf-Reihenhauses (vgl. Abbildung 4.7). Die Geißler-Residenz weist, wie die Bolte-Zwiebel, ein vertikales Kontinuum der Bewertung und eine Abbildung der Häufigkeitsverteilungen auf. In seinen Kategorien geht es aber wieder näher an das theoretische Prinzip der Einteilung nach den „Produktionsverhältnissen“ heran, wenngleich nach Maßgabe der inzwischen veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Oben thronen nach wie vor die Machteliten. Wer sonst? Breiten Raum und eine hohe vertikale Varianz nehmen die Dienstleistungsschichten ein. Die Arbeiterschichten gibt es noch in großem Umfang, allerdings hierarchisch angeordnet nach Arbeitereliten, Facharbeitern und un- bzw. angelernten Arbeitern. Von etwas unterhalb der Mitte bis weit nach oben ragt der al-
Soziale Ungleichheit
151
und Wände“ sind (noch) durchlässiger geworden, weil sich die Schichten noch stärker überlappen und überkreuzen als früher und weil es vielerlei Änderungen und Lockerungen gibt: „Um im Bild des Hauses zu bleiben: die Stockwerke und Zimmer der Residenz sind nicht durch durchgehende Decken und Wände gegeneinander abgeschottet, sondern verstellbare Wände, Raumteiler und halboffene Etagen zeigen viele Durch- und Übergänge an. Die Binnenarchitektur des Hauses ermöglicht heute noch stärker als in den 60er Jahren ‚offenes Wohnen‘ in nicht deutlich voneinander getrennten Etagen und Räumen.“ (Geißler 1996, S. 87)
Das alles heißt aber nicht, daß nun alles im Fluß sei und jeder sich seinen Platz frei suchen könnte. Nach wie vor sind die Menschen genötigt, sich „vornehmlich in bestimmten Wohnbereichen aufzuhalten.“ (Ebd.) Und das liegt, so möchte man ergänzen, nach wie vor insbesondere an der Einnahme von Positionen im System der Produktionsverhältnisse und den dadurch eröffneten oder verschlossenen Möglichkeiten, sich im Haus der Gesellschaft zu bewegen. Denn die Mieten in den verschiedenen Zimmern der Residenz sind sicher nicht alle gleich hoch. Der sozio-ökonomische Status
Die Gemeinsamkeit aller Schichtungsmodelle ist die vertikale Anordnung der Schichten auf einer eindimensionalen „Skala“ der Bewertung. Es gibt, wie wir wissen, aber ganz verschiedene Komponenten der Bewertung: Prestige, Privilegien und – dahinter – die Macht der Akteure (vgl. dazu schon Abschnitt 4.1 oben). In den „alten“ Modellen von Klasse und Stand waren die verschiedenen Dimensionen jedoch nicht miteinander verrechenbar gewesen: Markt und Ehre vertrugen sich, wie wir wissen, nicht besonders. In den Schichtungsmodellen werden aber offenbar diese unterschiedlichen Dimensionen der Bewertung auf eine Münze zusammengezogen. Das war bei der Bolte-Zwiebel so und auch bei der Geißler-Residenz, wie letztlich schon bei dem Schichtungsmodell von Theodor Geiger. Die Schichtungsmodelle haben also noch einen weiteren gesellschaftlichen Hintergrund, und es hat sich – neben der Zunahme der Komplexität des Ungleichheitsgefüges – nach Marx und Weber noch etwas anderes verändert: Die verschiedenen, einst einander ganz sinnfremden „Kapitalien“ des Besitzes und der Ehre lassen sich, wohl auch als Folge der Entstrukturierung der Gesellschaft, plötzlich in Beziehung setzen und sind offenbar gegenseitig substituierbar, ohne daß dies gegen irgendwelche institutionellen Regeln verstieße. Und wenn das so ist, dann macht es auch Sinn, die verschiedenen Dimensionen der sozialen Ungleichheit auf einer Achse der vertikalen Bewertung abzubilden.
152
Die Konstruktion der Gesellschaft
Das ist die Logik der Bildung der sog. Schicht-Indizes. Sie bestimmen in einer – auf unterschiedliche Weise durchgeführten – Summation den Status der einzelnen Akteure in Hinsicht auf seine ökonomische und sonstige soziale Lage, wozu üblicherweise das Einkommen, das Berufsprestige und die Bildung gehört. Ein Schicht-Index ist nichts anderes als die Abbildung bestimmter Kombinationen der einzelnen Schichtungsdimensionen in das System der (natürlichen) Zahlen (vgl. dazu schon den Exkurs über Typenbildung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).14 Üblicherweise werden den verschiedenen Werten der Einzeldimensionen zunächst Ziffern zugeordnet, die dann für jeden Einzelfall über die betrachteten Dimensionen der Ungleichheit – Einkommen, Berufsprestige und Bildung – addiert werden. Personen mit gleichen Summen dieses Sammelindex wird dann ein gleicher „Rang“ oder „Status“ zugeordnet. Wenn es beispielsweise fünf Einkommensklassen gibt, fünf Grade des Berufsprestiges und fünf Stufen der Bildung, dann hätte die Skala die Extremwerte 3 und 15. Jede dazwischen liegende Kombination mit der gleichen Summe, etwa: acht, hätte den gleichen Statuswert. Dazu könnte es daher über ganz verschiedene Zusammensetzungen von Einkommen, Berufsprestige und Bildung kommen. Etwa: Rang 5 im Einkommen, Rang 2 im Prestige und Rang 1 in der Bildung bei einem Schrotthändler, gegenüber Rang 1 im Einkommen, Rang 2 im Prestige und Rang 5 in der Bildung bei einem arbeitslosen Doktor der Philosophie. Die Messung der einzelnen Dimensionen, die Zuweisung der Rangziffern und die schließliche Art der Summation sind alles andere als trivial. Insbesondere die Bestimmung des Berufsprestiges ist schwierig und umstritten, allein deshalb, weil das Berufsprestige in besonderem Maße gesellschaftlichen Wandlungen unterliegt und zwischen den Gesellschaften z.T. stark variiert.
Weil der Schicht-Index ökonomische und nichtökonomische Dimensionen der vertikalen Bewertung zusammenführt, wird das so gemessene Konstrukt auch sozio-ökonomischer Status genannt (oder kurz: SES, von „socio-economic status“). Der Index heißt daher manchmal auch nur kurz „SES-Index“. Er läßt sich aus jeder Standarddemographie, etwa des Allbus, bestimmen. Und man hofft immer, daß sich damit dann möglichst viel an Varianz erklären ließe. Wir wissen, warum diese Hoffnung manchmal trügt: Nicht immer spiegeln die in dem Index zusammengezogenen Kombinationen „relevante“ gesellschaftliche Lagen. Darüber hatte sich schon Theodor Geiger aufgeregt, und er hatte darauf gedrungen, daß das „statistische Bild“ ebenso „fein differenziert“ darzustellen sei „wie das soziographische“ (Geiger 1932, S. 16). Also: Daß eine gemeinsame Ziffer auch eine Gemeinsamkeit in den Chancen, Interessen, Einstellungen und kulturellen Gewohnheiten wiederspiegeln solle. Davon aber sind der Schrotthändler und der Doktor der Philosophie trotz ihres gleichen SES-Wertes meilenweit entfernt.
14
Die wichtigsten Vorschläge zur Messung des Berufsprestiges stammen von Otis D. Duncan und Donald J. Treiman. Vgl. Otis D. Duncan, A Socioeconomic Index for all Occupations, in: Albert J. Reiss, Jr., (Hrsg.), Occupations and Social Status, New York 1961, S. 109-138; Donald J. Treiman, Occupational Prestige in Comparative Perspective, New York, San Francisco und London 1977.
Soziale Ungleichheit
153
Gleichwohl gehört die Auswertung sozialwissenschaftlicher Studien nach dem „SES“ zum Standardrepertoire der empirischen Soziologie. Meist kommt sogar etwas dabei heraus. Der Grund dafür ist auch einsichtig: Einkommen, Beruf und Bildung sind nach wie vor zentrale Größen zur Bestimmung der objektiven Situation der Akteure. Nur: Mit der Variable SES alleine weiß man wenig, warum sie „wirkt“, etwa auf das Wahlverhalten oder die Einstellung zu Ausländern. Dazu müßte sie in die Erwartungen und Bewertungen der Akteure in den entsprechenden gesellschaftlichen Lagen übersetzt werden. Kurz: Aus der bloßen Erklärung von Varianz über den SES müßte eine richtige soziologische Erklärung werden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Klassenschemata
Die niemals ganz ausgeräumten Unzufriedenheiten mit den Einebnungen des Schichtungskonzeptes, am deutlichsten sichtbar im Konzept des sozioökonomischen Status, hat die Stimmen nicht verstummen lassen, die eine stärker theoretisch und „objektiv“ begründete Einteilung der sozialen Schichten verlangten. Und wir hatten ja gesehen, daß selbst in den neueren Modellen der sozialen Schichtung mehr als nur Reste der alten Klassen- und Standesgrenzen zu finden waren. Daher verwundert es nicht, daß es immer wieder und nach wie vor Versuche gibt, auf die veränderten Bedingungen und Entwicklungen hin auf eine „Schichtungs“-Gesellschaft gleichwohl mit den theoretischen Mitteln des Klassenkonzeptes zu reagieren. Zwei dieser Versuche zur Entwicklung einer Einteilung der Bevölkerung in den modernen westlichen Industriegesellschaften über ein Klassenschema sind besonders einflußreich gewesen: das von Erik O. Wright und das von John H. Goldthorpe. Erik O. Wright
Karl Marx schon mußte sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es „wirklich“ immer nur zwei Klassen sind, die eine Gesellschaft kennzeichnen und deren Antagonismus die Geschichte vorantreibt. Die oben geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere die fortdauernde Existenz und sogar das Aufblühen der „Mittelklassen“ hat daher die traditionelle Klassentheorie nach Marx bald in ernste Ungelegenheiten gebracht. In der Folge hat es eine Reihe von Versuchen gegeben, der empirisch unabweisbaren Existenz weiterer Klassenkategorien Genüge zu tun und das einfach-dichotome Klas-
154
Die Konstruktion der Gesellschaft
senschema einerseits zu erweitern, andererseits aber bei der Grundidee von Marx zu bleiben, daß die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen nach wie vor aus der Stellung im Produktionsprozeß hervorgehen. Hier hat Erik O. Wright ein, auch von nicht-marxistischen Autoren beachtetes, Konzept entwickelt, mit dem er, wie er sagt, die postkapitalistische Klassenstruktur erfassen will. In einem ersten Anlauf dazu erweitert er die beiden Hauptklassen von Marx, Bourgoisie und Proletariat, definiert jeweils über das Eigentum an den Produktionsmitteln, um eine weitere Klasse und unterscheidet dann drei „locations“, die zwischen diesen drei Polen „widersprüchliche“ Positionen einnehmen.15 Erik O. Wright unterscheidet zunächst drei Arten von Ressourcen, deren Kontrolle die Klassenlage jeweils typischerweise bestimme: Geld, physisches Kapital und Arbeit. Die beiden „klassischen“ Klassen des Marxismus, Bourgeoisie und Proletariat, unterscheiden sich nun darin, daß die Bourgoisie in allen drei Dimensionen das Proletariat dominiere. In der Begründung seines Klassenschemas geht er dann in zwei Schritten vor. Zunächst wird – erstens – angenommen, daß diese dichotome Klasseneinteilung in Bourgeoisie und Proletariat die immer noch gültige grundlegende Klassenspaltung auch in den fortgeschrittenen und den postkapitalistischen Gesellschaften sei. Das sei sie aber nur auf dem „highest level of abstraction“ der „reinen“ kapitalistischen Produktion. Gehe man in der Abstraktionsebene hinunter und lasse „empirische“ Verunreinigungen, etwa von Resten der vorkapitalistischen Produktionsweisen, zu, so kämen auch andere Klassen ins Blickfeld, insbesondere solche der einfachen Güterproduktion außerhalb großer Organisationen. Hier gebe es zwar, wie etwa bei den kleinen Selbständigen, Kontrolle von Geld und physischem Kapital, aber keine über die fremde Arbeitskraft. Das ist die „Klasse“ des Kleinbürgertums („petty bourgeoisie“). Weil in den „konkreten“ (post-)kapitalistischen Gesellschaften die drei Größen – Geld, physisches Kapital und Arbeit – außerdem nicht perfekt kovariieren, komme es – zweitens – zu weiteren „unpassenden“ und „widersprüchlichen“ Gruppierungen, und zwar drei an der Zahl: Manager und leitende Angestellte, kleine Selbständige und halb-autonome Lohnabhängige. Die Manager und leitenden Angestellten teilen Eigenschaften der Bourgoisie und des Proletariats, die kleinen Selbständigen solche der Bourgoisie und des Kleinbürgertums und die halbautonomen Lohnabhängigen solche des Proletariats und des Kleinbürgertums.
15
Erik O. Wright, Class Boundaries in Advanced Capitalist Societies, in: New Left Review, 98, 1976, S. 3-41; Eric O. Wright, Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure, in: Grusky (1994), S. 94-98. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei Johannes Berger, Was behauptet die Marxsche Klassentheorie – und was ist davon haltbar?, in: Hans-Joachim Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 30ff.
155
Soziale Ungleichheit
In Abbildung 4.8 ist das so begründete erweiterte Klassenschema von Erik O. Wright dargestellt.
kapitalistische Produktionsweise
einfache Warenproduktion
Bourgeoisie Kleinunternehmer Manager und leitende Angestellte
Kleinbürgertum halbautonome Lohnabhängige
Proletariat
Klassen widersprüchliche Klassenlagen Abb. 4.8: Die „Verunreinigung“ der Klassenbeziehungen in (post-)kapitalistischen Gesellschaften (nach Wright 1994, S. 96)
Die Grundlage der Überlegungen von Erik O. Wright war in diesem Schema die Annahme, daß Beziehungen der Dominanz in der Kontrolle von Geld, physischem Kapital und Arbeit die Klassenlagen bestimmen. Später hat Erik O. Wright, nach einer Auseinandersetzung mit John E. Roemer, seine alte Auffassung zugunsten der von Roemer revidiert und ein anderes Klassenschema entwickelt.16
16
Erik O. Wright, A General Framework for the Analysis of Class Structure, in: Erik O. Wright, The Debate on Classes, London und New York 1989, S. 3-43.
156
Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Auseinandersetzung von Wright mit Roemer17 ging um die Frage, ob man die Klasseneinteilung auf die Kategorie der Dominanz gründen dürfe oder ob nicht vielmehr dafür das Konzept der Ausbeutung das geeignetere sei. Wright gibt schließlich zu, daß das Konzept der Ausbeutung das angemessenere sei. Selten liest man von einem Wissenschaftler ein solch offenes Bekenntnis zu einem eingesehenen Irrtum. Aber der Grund für das Umdenken wird auch gleich klar: Wright hielt die Konzeption von Roemer schließlich für eine werksgetreuere Fortsetzung der Marxschen Gedanken. Und genau darauf kam es ihm immer an: Den Marxismus – mit allen seinen auch geschichtsphilosophischen Aussagen – gegen allen (spät-)kapitalistischen Augenschein zu retten. Also: doch wohl keine Einsicht, sondern ein besonders raffinierter Fall von Unbeugsamkeit?
Wichtiger als diese dogmengeschichtlichen Spitzfindigkeiten ist die inhaltliche Begründung für das neue Klassenschema: Es gibt nicht nur das Eigentum an Produktionsmitteln – Kapital und Arbeit –, über das sich die, für die Klassenlage so konstituierenden, Beziehungen der Ausbeutung bilden können, sondern auch andere Ressourcen – „assets“, wie Wright sie nennt: Talent, Bildung und Fertigkeiten einerseits und Verfügungsmacht in Organisationen andererseits. Er bezeichnet sie als skill assets und als organizational assets. Wie zuvor geht Wright dann von der grundlegenden Spaltung von Eigentümern und Nichteigentümern an den „klassischen“ Produktionsmitteln: Geld, physisches Kapital, Arbeit aus. Das ist das Relikt des „klassischen“ Klassenkonzepts nach Marx. Die Eigentümer unterteilen sich dann in drei Gruppen: die Bourgeoisie, die wieder alles unter Kontrolle hat, die Kleinunternehmer, die das physische Kapital und die Arbeit kontrollieren, und das Kleinbürgertum, das nur die Arbeit kontrolliert. Die skill assets und die organizational assets wirken sich bei den Eigentümern nicht weiter aus, sondern nur bei den Nichteigentümern. Aus einer trichotomen Kreuzung von Graden der Verfügung über skill assets und organizational assets (+, > 0 und -) ergeben sich bei den Nichteigentümern dann „logisch“ neun Unterklassen. Insgesamt enthält das Klassenschema also 3 plus 9 gleich 12 Unterkategorien.
Das so abgeleitete zweite Klassenschema ist in Abbildung 4.9 in der englischen Originalfassung wiedergegeben, weil manche Benennung denn doch etwas ungewöhnlich und nur schwer zu übersetzen ist.
17
Vgl. John E. Roemer, A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge, Mass., und London 1982; Erik O. Wright, The Status of the Political in the Concept of Class Structure, in: Politics and Society, 11, 1982, S. 321-341.
157
Soziale Ungleichheit
Assets in the means of Production Nonowners (wage laborers) (%)
Owners (%) 1
Bourgeoisie
4
Expert manager
7
Semicredentialed manager
10 Uncredentialed manager
USA
1.8
USA
3.9
USA
6.2
USA
2.3
Sweden
0.7
Sweden
4.4
Sweden
4.0
Sweden
2.5
2
Small employer
5
Expert supervisor
8
Semicredentialed supervisor
11 Uncredentialed supervisor
USA
6.0
USA
3.7
USA
6.8
USA
6.9
Sweden
4.8
Sweden
3.8
Sweden
3.2
Sweden
3.1
3
Petty bourgeoisie
6
Expert nonmanager
9
Semicredentialed worker
12 Proletarian
USA
6.9
USA
3.4
USA
12.2
USA
39.9
Sweden
5.4
Sweden
6.8
Sweden
17.8
Sweden
43.5
+ United States:
N = 1487
Sweden:
N = 1179
> 0 Skill assets
+
>0 organizational assets
-
-
Abb. 4.9: Das „Ausbeutungs“-Schema der Klassen in (post-)kapitalistischen Gesellschaften (nach Wright 1994, S. 108)
Mit seinem Klassenschema wollte Erik O. Wright, wie man vermuten darf, den Kern der Marxschen Gesellschaftstheorie retten. Deshalb interpretierte er die von ihm unterschiedenen Klassen auch ganz „realistisch“: Es handele sich bei aller Differenzierung nicht um bloße statistische Konstrukte, sondern um „wirkliche“ und für die Chancen, die Interessen und das Handeln „relevante“ gesellschaftliche Lagen. Den empirischen Analysen zufolge, die Wright selbst durchgeführt hat (vgl. die prozentualen Verteilungen der Klassen für die USA und Schweden in der Abbildung 4.8), scheint es, wenigstens vor dem Hintergrund des so revidierten Klassenkonzeptes, in den fortgeschrittenen, spät- oder postkapitalistischen Gesellschaften tatsächlich weiterhin „Klassen“ mit einiger Relevanz für die Interessen, die Einstellungen und das Handeln der Menschen zu geben (vgl. Berger 1998, S. 34ff.). Von einem, wie manche etwas vorschnell geglaubt haben, Ende der Klassengesellschaft kann also die Rede kaum sein.
158
Die Konstruktion der Gesellschaft
Aber, das sieht man gleich, das Klassenschema, das für die Abbildung dieser Strukturen nötig ist, entbehrt deutlich jener zuspitzenden Einfachheit, die für den spröden Charme der Marxschen Theorie so kennzeichnend war. Und es ist in seiner Differenzierung nicht weit entfernt von den „bürgerlichen“ Modellen der sozialen Schichtung, gegen die es doch eigentlich gerichtet war. Es hat den etwas naiven Modellen der Ober-Mittel-UnterschichtenUnterscheidungen jedoch – mit Marx – etwas Wichtiges voraus: das Bemühen um eine explizite theoretische Begründung. Und alleine das ist schon etwas, was Anerkennung verdient, auch wenn man den marxistisch-dogmatischen Geschmack der Beiträge von Wright nicht mögen sollte. John H. Goldthorpe
Eine ganz ähnlich „objektivierende“ und auf spezifische Inhalte der „Klassenlage“ abstellende Position wie Erik O. Wright bezieht John H. Goldthorpe in seiner Begründung für das von ihm entwickelte Klassenschema zur Analyse der Mobilität. Es müsse sich, so schreiben er und sein schwedischer Kollege Robert Erikson in ihrem Buch über die vergleichende Analyse der Mobilität in den wichtigsten Industriegesellschaften, bei den Einteilungen, zwischen denen die Mobilität der Akteure erfolgt, um weit mehr handeln als um die bloße Anordnung auf einer vertikalen Achse.18 Denn die Mobilität sei kein bloßer Auf- oder Abstieg auf einer eindimensionalen SES-Skala, sondern der Wechsel des „involvements“ der Akteure in typischen Beziehungen, die sie auf dem Arbeitsmarkt und in den Produktionseinheiten unterhalten. Im Unterschied zu den „social groupings found at similar levels of prestige or status“ in den eindimensionalen Schichtungsmodellen „ ... classes ... can be expected to show some degree of homogeneity not only in the kinds and levels of resources that their members command but further in their exposure to structural changes and, in turn, in the range of at least potential interests that they may seek to uphold.“ (Erikson und Goldthorpe 1992, S. 31; Hervorhebungen nicht im Original)
Über die einfachen Schichteinteilungen würden diese Besonderheiten jedoch verwischt. Und daher müsse ein Schema zur Analyse von Mobilitätsprozessen entwickelt werden, 18
Robert Erikson und John H. Goldthorpe, The Constant Flux. A Study of Class Mobility in Industrial Societies, Oxford 1992. Vgl. zu einigen wichtigen Vorüberlegungen John Goldthorpe, On the Service Class, its Formation and Future, in: Anthony Giddens und Gavin Mackenzie (Hrsg.), Social Class and the Division of Labour. Essays in Honour of Ilya Neustadt, Cambridge u.a. 1982, S. 162-185.
159
Soziale Ungleichheit
„ ... in terms of class categories – such as, say, those of industrial wage-workers, peasants or farmers, salaried employees, proprietors and self-employed workers, etc. – rather than in terms of categories which represent simply levels distinguished within a prestige or status continuum.“ (Ebd., S. 32; Hervorhebung nicht im Original)
Der Ausgangspunkt des Goldthorpe-Schemas ist die Bestimmung der gesellschaftlichen Lage über typische Positionen der Akteure auf Arbeitsmärkten und in Produktionseinheiten und der dadurch konstituierten typischen Arbeitsbeziehungen („employment relations“). Von Marx und Weber ausgehend ergeben sich daraus zunächst drei grundlegende Differenzierungen: Arbeitgeber, kleine Selbständige ohne abhängig Beschäftige und Arbeitnehmer (vgl. Abbildung 4.10).
Basic class positions
EMPLOYERS
EMPLOYEES
SELF-EMPLOYED WORKERS
Form of regulation of employment
Large
Small
Professional, higher technical, administrative, and managerial
Industry Agriculture
I
IVa
IVc
Industry Agriculture
IVb
IVc
LABOUR CONTRACT
INTERMEDIATE
SERVICE RELATIONSHIP
Routine, non-manual
Manual
lower technical, and manual, supervisory Industry
Higher grade
Lower grade
Higher grade
I
II
IIIa
Skilled
Lower grade IIIb
V
VI
Non-skilled Agriculture
VIIa
VIIb
Abb. 4.10: Die Ableitung des Klassenschemas nach Goldthorpe (nach Erikson und Goldthorpe 1992, S. 36)
Drei grundlegende Entwicklungen in den modernen Industriegesellschaften führen dann zu den weiteren Unterscheidungen bei dieser Dreier-Einteilung: erstens die Entstehung großer Organisationen, zweitens die Differenzierung von Industrie und Landwirtschaft und drittens die stärkere Differenzierung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aus den Organisationsänderungen folgt zunächst die Unterteilung in Klein- und Großarbeitgeber. Zusammen mit der Unterscheidung nach Landwirtschaft und Industrie für die kleinen Arbeitgeber und für die kleinen Selbständigen ergibt dies aus den beiden großen Gruppen der Arbeitgeber und der kleinen Selbständigen fünf
160
Die Konstruktion der Gesellschaft
Unterklassen (zu den römischen Ziffern siehe gleich unten). Besonders interessant ist dann die Begründung für die Differenzierung der Arbeitnehmerklassen nach den Arbeitsbeziehungen und der Form der Arbeitsverträge. John H. Goldthorpe unterscheidet dabei zwei Arten von Tätigkeiten und dazugehörigen Arbeitsverträgen: einen „short-term and specific exchange of money for effort“ und einen „longer-term and generally more diffuse exchange.“ (Ebd., S. 41f.) Die letztere Art von Tätigkeiten beruht typischerweise auf delegierter Weisungsbefugnis und auf spezialisiertem Wissen. Daher muß diesen Arbeitnehmern ein besonderes Vertrauen und eine gewisse Autonomie zugestanden werden, die das für diese, kaum kontrollierbaren, Tätigkeiten unerläßliche „moral commitment“ sichern. Das alles gilt für die erstere Art an Tätigkeiten nicht. Und aus dieser grundlegenden Unterscheidung von zwei typisch verschiedenen Arten von Arbeitsbeziehungen – spezifischer Tausch hier, generalisierter Tausch da zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) – entsteht eine grundlegende Differenzierung unter den Arbeitnehmern nach „labour contract“ und nach „service class“ – und einer Gruppe von „intermediate“ Tätigkeiten dazwischen. Im ersten Fall ist die Entlohnung unmittelbar auf die spezifische Leistung gerichtet, etwa nach Stundenlohn oder Akkord, im zweiten Fall auf angemessenen Unterhalt, Pensionsrechte oder Karriereaussichten. Es ist die Unterscheidung zwischen „arbeitenden“ Arbeitern einerseits und dienstleistenden Angestellten (und Beamten) andererseits (vgl. dazu auch Goldthorpe 1982, S. 167ff.).
Folglich werden zwei verschiedene Gruppen mit typisch verschiedenen Arbeitsverträgen unterschieden: „service relationship“ und „labour contract“. Dazwischen siedelt Goldthorpe noch eine Gruppe mit „intermediate“ Arbeitsverträgen an. Die weiteren Differenzierungen innerhalb der drei so unterschiedenen Untergruppen der Arbeitnehmer haben mit den erforderlichen Qualifikationen und mit der Art der Tätigkeit (etwa: manual versus nonmanual) zu tun. Sie müssen hier nicht im Detail weiter besprochen werden. Auf diese Weise werden, wie man aus dem Diagramm in Abbildung 4.10 sieht, insgesamt 13 „class positions“ abgeleitet. Sie spiegeln, folgt man John H. Goldthorpe, typische Positionen, definiert über typische Tätigkeiten und daraus ableitbaren(!) typischen Arbeitsbeziehungen mit systematischen Folgen auch für die Chancen oder Barrieren zur Mobilität in Abhängigkeit der gesellschaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern, auf die sich der Vergleich bezog. Die 13 „Ausgänge“ des Schemas werden dann mit römischen Ziffern von I bis VII versehen, damit (teilweise) zu Äquivalenzklassen zusammengefaßt und – vor allem – in eine vertikale Rangordnung des sozialen Status der Akteure gebracht, die die jeweilige Tätigkeit ausüben. Das „volle“ Schema enthält dann noch 11 Klassen (I bis VII mit weiteren Unterteilungen bei den Klassen III, IV und VII; vgl. Erikson und Goldthorpe 1992, S. 37f.). In der obersten Klasse I etwa befinden sich dabei „higher-grade professionals, administrators, and officials; managers in large industrial establishments; large proprietors“, und in der Klasse V „lower-grade technicians; supervisors of
Soziale Ungleichheit
161
manual workers“. Das dann auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema ist das in der empirischen Forschung wohl gebräuchlichste geworden. Es sieht so aus (Abbildung 4.11):
Klassen aus dem „vollen“ Schema
Bezeichnungen der Positionen und Tätigkeiten
I+II
Service class: professionals, administrators and managers; higher-grade technicians; supervisors of non-manual workers
III a+b
Routine non-manual workers: routine nonmanual employees in administration and commerce; sales personnel; other rank-and-file service workers
IVa+b
Petty bourgeoisie: small proprietors and artisans, etc., with and without employees
IVc
Farmers: farmers and smallholders and other selfemployed workers in primary production
V+VI
Skilled workers: low-grade technicians; supervisors of manual workers; skilled manual workers
VIIa
Non-skilled workers: semi- and unskilled manual workers (not in agriculture, etc.)
VIIb
Agricultural labourers: agricultural and other workers in primary produktion
Abb. 4.11: Das auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema (nach Erikson und Goldthorpe (1992, S. 37f.).
Deutlich wird erkennbar, daß es sich bei dem Klassenschema von John H. Goldthorpe um mehr als bloß eine vertikale Statushierarchie handelt. Es gibt – insbesondere mit der Berücksichtigung der beiden grundlegend verschiedenen Arten von Arbeitsverträgen bei den Arbeitnehmern – deutlich unterschiedli-
162
Die Konstruktion der Gesellschaft
che materielle und institutionelle Vorgaben wieder, die, so kann man annehmen, für das sonstige alltägliche Leben und für die Interessenlage der Akteure von hoher Bedeutung sind. *** Mit dem Klassenschema von Wright teilt das Schema von Goldthorpe den Anspruch, die objektive Lebenslage der Akteure zu treffen. Anders als bei Wright ist das Klassenschema für Goldthorpe jedoch keine realistische „‚map‘ of the class structure“, sondern ein, wie er ausdrücklich schreibt, bloßes „instrument du travail“ (ebd., S. 46), das seine Berechtigung erst aus seinem explanativen Erfolg bei der Analyse spezifischer Vorgänge, etwa von Mobilitätsprozessen, beziehen kann. Und allein deshalb ist es nicht „marxistisch“. Aber das macht ja auch nichts weiter aus. Die Rolle des Staates
Karl Marx kannte nur die beiden Pole „Arbeit“ und „Kapital“, und sowohl die Schichtungsmodelle wie die Klassenschemata halten im Prinzip daran fest, daß sich hierüber die Ungleichheitsstruktur auch einer sich wandelnden und offenen Gesellschaft vor allem bestimmt. Nach wie vor sind Eigentum und Erwerbsarbeit die wichtigsten Quellen des Einkommens, und davon hängt eigentlich immer mehr ab, in welcher „Lage“ sich die Menschen befinden. Die gesellschaftliche Entwicklung der modernen Industriegesellschaften ist aber noch durch eine andere Entwicklung gekennzeichnet: die zunehmende Bedeutung des Staates, sei es als Wohlfahrtsstaat mit allen seinen Zwangsabgaben und Transferleistungen, oder sei es als Arbeitgeber für die zahllosen Beamten und anderen Beschäftigten im sog. Öffentlichen Dienst. Manche Autoren haben daraus den Schluß gezogen, neben die Kategorien von Arbeit und Kapital den Staat als dritten Pol im Bunde bei der Konstituierung der sozialen Ungleichheit systematisch einzubeziehen.19 Und das ist auch nicht unplausibel: Die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, immerhin mehr als 20% aller abhängig Beschäftigten hierzulande, unterliegen eher politischen Vorgaben und bürokratischen Reglements als dem Verkauf ihrer Arbeitskraft an einen Kapitalisten. Und diejenigen, die – direkt oder indirekt – vom Funktionieren des Wohlfahrtsstaates abhängen, als Sozialhilfeempfänger, als Sozialarbeiter oder 19
So insbesondere Reinhard Kreckel, Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft, in: Peter A. Berger und Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichheiten - Neue Spaltungen, Opladen 1998, S. 39; vgl. dazu ausführlicher Kreckel 1992, S. 149-165.
Soziale Ungleichheit
163
als Lehrer zum Beispiel, entwickeln daher auch ganz typische Interessen, die durchaus quer zu den „alten“ Kategorien von Kapital und Arbeit verlaufen, auch das Interesse, daß die von ihnen betreuten Problemlagen – die von Jugendlichen, Drogensüchtigen, Behinderten, geschlagenen Frauen, Ausländern, Alten – nicht übersehen und nicht vergessen werden. Und sie sorgen, wie alle nur etwas dauerhaften „Klassen“, dafür, daß sich ihre speziellen Interessen auch im politischen Raum bemerkbar machen.
Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist Damit wird deutlich, daß sich die Konzepte der sozialen Ungleichheit als Beschreibungen typischer „Situationslogiken“ mit dem Wandel der Gesellschaften immer auch mitändern (müssen). Und das, was einst als richtig, angemessen und erklärungskräftig galt, muß es nicht für alle Zeiten sein. Die durch gewisse gesellschaftliche Wandlungen abgeschwächte „Relevanz“ bestimmter Einteilungen darf dabei jedoch keinesfalls mit der Vorstellung verwechselt werden, daß es jetzt plötzlich keine sozialen Strukturen mehr gäbe und die Menschen irgendwie „individueller“ geworden wären. Es gibt, so könnte die Gegenthese lauten, keine Abschwächung der Strukturen, sondern andere Strukturen, und die soziologischen Konzepte, Begriffe und Operationalisierungen haben dem Rechnung zu tragen. Was damit gemeint ist, wird durch einige Überlegungen von Walter Müller zur Modifikation des Goldthorpeschen Klassenschemas zur Erklärung des klassenbedingten Wahlverhaltens besonders deutlich.20 Es geht um die Frage, ob sich die Zusammenhänge zwischen einigen sozialstrukturellen Variablen und dem Wahlverhalten, insbesondere aber der Einfluß der Klassenzugehörigkeit, abgeschwächt haben, wie es einige Interpretationen und empirische Studien zu der These von der Individualisierung der Gesellschaft nahelegen (siehe dazu auch noch gleich unten Abschnitt 4.4)21. Es gebe, so heißt es dort beispielsweise, keine fest umrissenen Interessen bestimmter Gruppen mehr, sondern immer mehr nur noch „individuelle“ Nachfragen nach politischer Par20
Walter Müller, Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahlverhalten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 1998, S. 6ff. insbesondere.
21
Rainer Schnell und Ulrich Kohler, Empirische Untersuchung einer Individualisierungshypothese am Beispiel der Parteipräferenz 1953-1992, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 634-657.
164
Die Konstruktion der Gesellschaft
tizipation, und die Grünen seien jene Partei, die diesen geänderten Verhältnissen eine politische Artikulation habe verleihen können. Dieser Deutung widerspricht Müller ganz ausdrücklich und stellt ihr die These gegenüber, daß die empirischen Ergebnisse zur angeblich nachlassenden Erklärungskraft der Klassenzugehörigkeit (auf das Wahlverhalten) nur dadurch gefunden würden, daß „keine adäquaten Begriffe und Operationalisierungen verwendet wurden.“ (Ebd., S. 6) Das zentrale Argument setzt am Konzept der Dienstklasse des Goldthorpeschen Klassenschemas an (ebd., S. 7f.). Die Dienstklasse ist ja jene Klasse, deren Tätigkeit durch delegierte Autorität, spezialisiertes Wissen und Expertise gekennzeichnet ist und deren Angehörige deswegen besondere Arbeitsbeziehungen unterhalten, zu denen insbesondere Vertrauen und Loyalität von ihrer Seite und eine Bezahlung auf der Basis längerfristiger Leistungen sowie einige Vergünstigungen von der Arbeitgeberseite her gehören (vgl. dazu die Ausführungen gerade oben zum Goldthorpe-Schema). Daraus ergebe sich, so hatte Goldthorpe gemeint, eine im Kern konservative Einstellung und die Tendenz zur Wahl der entsprechenden Parteien. Müller schlägt nun eine Differenzierung der Dienstklasse vor, weil er diese Gruppe für nicht (mehr) so homogen hält, wie das Goldthorpe offenbar annimmt. Er unterscheidet zunächst Akteure, die tatsächlich vorwiegend delegierte Autorität ausüben, etwa in administrativen Hierarchien, die also eine Organisation leiten, Entscheidungen für die Organisation treffen und die Arbeit anderer in der Organisation anweisen und überwachen. Diese Gruppe ist also in der Tat an der Macht der betreffenden Organisation beteiligt und sollte daher auch ganz ähnliche politische Auffassungen wie die „principals“ haben, in deren Diensten sie stehen. Müller nennt diese Klasse die administrative Dienstklasse. Daneben werden nun diejenigen unterschieden, die in ihrer Tätigkeit spezialisiertes Wissen und Expertise anwenden. Für diese Gruppe werde nicht der Bezug auf „ihre“ Organisation allein wichtig, sondern die Orientierung an gewissen, für ihre Tätigkeit zentralen „professionellen“ Standards. Das aber durchbricht die einfache Loyalität zur Organisation und zum jeweiligen Prinzipal und legt eine gewisse Autonomie in der Interpretation und der Ausübung der jeweiligen Tätigkeit nahe. Dieser Zug der Unabhängigkeit und der „individuellen“ Gestaltung der Tätigkeit sei nun besonders hoch bei den sog. sozialen und kulturellen Diensten, etwa in der medizinischen Versorgung, im kulturellen Bereich, in der Kunst, in den Medien, in der Betreuung usw. Hier wirke sich zusätzlich aus, daß zum Erfolg der jeweiligen Tätigkeit oft die Kooperation mit den Klienten und ein besonderes Einfühlungsvermögen wichtig seien. Diese Gruppe nennt Müller zusammenfassend soziale Dienste. Daneben gebe es natürlich noch die Experten im Technik- und Ingenieurswesen, die auch professionelles Wissen anwenden und auf Autonomie dringen, aber nicht unbedingt für ihre Klienten Partei ergreifen (müssen), wenn sie Erfolg haben wollen. Das sind die Experten in dem (neuen) Schema von Müller.
Die Dienstklasse wird also in drei Untergruppen aufgespalten – administrative Dienstklasse, soziale Dienste und Experten. Und jeder dieser Untergruppen kann dann ein für sie, nach der jeweils typischen sozialen Produktionsfunktion und der darüber bestimmten Logik der Situation, würden wir sagen, typi-
Soziale Ungleichheit
165
sches politisches Interesse zugeschrieben werden: Die Angehörigen der administrativen Dienstklasse sollten über ihre Bindung an die Organisation eher Affinitäten zu den politischen Interessen der Prinzipals haben und in der Tendenz eher konservativ wählen, und die Angehörigen der Klasse der Experten und insbesondere die der sozialen Dienste sollten zu politischen Bewegungen neigen, in denen es um die Sicherung individueller Autonomie, Schutz vor bürokratischer Kontrolle, Gleichheitsrechte, individuelle Partizipation und dezentrale Entscheidungen gehe (ebd., S. 10ff.). Die empirischen Ergebnisse zum Zusammenhang der drei Unterfraktionen der Dienstklasse bestätigten dann diese Vermutungen weitgehend: Die Angehörigen der administrativen Dienstklasse stehen in ihren Orientierungen zwischen CDU und SPD und wählen wie das Kleinbürgertum, mal so und mal so, aber nicht grün; die Experten neigen zur SPD, und die Angehörigen der sozialen Dienste ganz eindeutig zur Politik der sog. Neuen Linken, wie sie vor allem bei den Grünen zum Ausdruck kommt (vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse bei Müller 1998, S. 37f.). Die Etablierung der Grünen war also offenbar alles andere als bloß die politische Organisation eines altruistischen freischwebenden Interesses an der „Umwelt“, einer anarchischen Spontibewegung oder therapiebeflissener guter Menschen, sondern der Reflex auf neu entstandene systematische Umstände der beruflichen Tätigkeit und damit verbundener typischer gesellschaftlicher Lagen und Interessen. Und weil aufgrund dieser strukturellen Entwicklungen die Anzahl der „interessierten“ Akteure stabil und groß genug war, traf das – irgendwie entstandene – „Angebot“ einer grünen Partei auf eine deutliche „Nachfrage“ nach politischer Artikulation und Interessenwahrnehmung. Und alles das zusammen wirkte schließlich bei der Konstitution jenes alternativen „Milieus“ zusammen, von dem heute die Grünen durchaus auch jenseits der bloßen Klasseninteressen der sozialen Dienste ihre gesellschaftliche Bedeutsamkeit beziehen. Die von Walter Müller vorgelegte Erklärung ist ein Musterstück einer situationslogischen Erklärung in der Form einer Klassenanalyse, ganz im Sinne des Modells der soziologischen Erklärung, wie das in Kapitel 12 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zusammengefaßt wurde. Es ist eine höchst bemerkenswerte und durch und durch „soziologische“ Reaktion auf die nachhaltige Veränderung der versteckten Brückenhypothesen, mit denen die „alte“ Sozialstrukturanalyse lange mit Erfolg gearbeitet hatte, nun aber an ihre Grenzen stieß, weil sich die stets nur implizit angenommenen Brückenhypothesen zur Konstitution der Dienstklasse und deren Interessen nachhaltig geändert hatten und weil deshalb die Erklärung nicht nur des Wahlverhaltens über das einfache Klassenschema von Goldthorpe immer weniger gelang.
166
Die Konstruktion der Gesellschaft
Nicht die Auflösung der Strukturen, sondern die Änderung ihrer Inhalte und ihre Differenzierung sind also das, was die „Modernisierung“ der Gesellschaft ausmacht. Mit einem bei irgendwie „autonomen“ Individuen stattfindenden Wertewandel, bloßer politischer Sozialisation und Individualisierung im Sinne von Vereinzelung hat das alles, so kann man jetzt annehmen, nicht viel zu tun. Auch bei den Grünen und Alternativen hat das Sein das Bewußtsein bestimmt, und die Werte und die Lebensstile, etwa die des Postmaterialismus und der reflexiven Selbstbestimmung, sind nur der ideologische Widerschein davon gewesen.
4.4
Die neue soziale Ungleichheit
Obwohl man also sehr vorsichtig sein muß mit allen Thesen von der zunehmenden Irrelevanz der gesellschaftlichen Strukturen, kann jedoch auch nicht bezweifelt werden, daß der strukturelle Wandel der Industriegesellschaften Elemente enthält, die einen solchen Gedanken nahelegen können. Die gesellschaftliche Entwicklung ist ja ohne Zweifel auch durch eine weitgehende Auflösung der hergebrachten ständischen Strukturen, eine starke Differenzierung der „alten“ Klassen und eine weitgehende Entschärfung der Klassengegensätze gekennzeichnet. Und diese Entwicklung ist auch nach dem Aufwachsen der – so gar nicht – „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der 50er und 60er Jahre und der Entdeckung des Schichtungskonzeptes nicht stehengeblieben. Die Individualisierungsthese
Diese Entwicklungen in den 70er und den darauf folgenden Jahren lassen sich unter dem Stichwort der Individualisierung zusammenfassen, mit dem Ulrich Beck im Jahre 1983 in einem dann nachhaltig beachteten Beitrag mit dem Titel „Jenseits von Stand und Klasse“ diese schon länger verspürten Tendenzen auf den Punkt brachte und seitdem in immer neuen Variationen essayistisch weiterspinnt. Unter dem Begriff der „Individualisierung“ werden – mindestens – sechs, teilweise sehr verschiedene, Vorgänge zusammengefaßt.22
22
Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 35-74. Vgl. dazu auch verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Die Individualisierungs-These, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit
167
Der erste Vorgang betrifft zunächst das, was man sich vom Wortlaut des Titels des Aufsatzes von Beck her sofort vorstellt: die weitere Entstrukturierung der sozialen Zugehörigkeiten der Menschen, speziell die weitere Differenzierung, Dimensionierung, ja „Auflösung“ der „alten“ Kategorien der sozialen Ungleichheit von Klasse und Stand. Hinzu tritt die Hypothese von der Entkopplung der Klassenlagen und der damit immer noch verbundenen Mentalitäten, kulturellen Vorlieben und Gewohnheiten, damit die von der Auflösung der klassen- und schichtspezifischen Subkulturen und der sogenannten „sozial-kulturellen Milieus“, etwa das sozialdemokratische und das katholische, wie sie noch die Weimarer Republik stark geprägt haben23, sowie die der Vereinzelung der Menschen durch die Auflösung der traditionellen Netzwerke, Verkehrskreise und Lebenswelten. Das alles umfaßt im wesentlichen das, was Georg Simmel mit der Kreuzung der sozialen Kreise bezeichnet hat, einschließlich der „Freisetzung“ der Menschen aus den lebensweltlichen Bindungen und dem damit einhergehenden Zwang, viele Entscheidungen plötzlich autonom treffen und sein Leben selbst als „Bastelexistenz“ zusammenstellen zu müssen. Damit eng verbunden, aber nicht identisch, ist zweitens die Pluralisierung, Neuentstehung und Verselbständigung bestimmter Formen der Lebensführung, die zuvor eng an die Klassen und Stände gebunden waren, zu einer Vielzahl eigener kultureller Milieus in Form von Lebensweisen und Lebensstilen, die letztlich immer mehr zum Selbstzweck der Erlebnisproduktion werden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in diesem Band). Das verweist auf den dritten Vorgang: die Subjektivierung der gesellschaftlichen Lagen. Weil sich die „objektiven“ Zugehörigkeiten immer mehr überkreuzen, sich immer rascher wandeln und sonstwie verdünnen, komme es mehr und mehr darauf an, wie die Menschen ihre Situation selbst erleben, interpretieren, verarbeiten und so einen eigenen Weg finden. Ein Korrelat dieses Vorgangs ist die Entstehung und Verbreitung der Einstellung des „Individualismus“, die Betonung des Wertes der einzelnen Person und deren „Individualität“ und das Zurücktreten von Kollektivgefühlen und auf das Ganze bezogener Solidaritäten. Vor dem Hintergrund aller dieser Entwicklungen treten viertens mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, wie die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, der Ehescheidungen oder der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration, „neue“ Formen der sozialen Ungleichheit in den Blick: Ungleichheiten nach Geschlecht, nach Alter und Generationenzugehörigkeit, nach Familienstand, nach Region und nach nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Gemeinsamkeit dieser „neuen“ Kategorien der sozialen Ungleichheit ist die, daß zuvor durch die groben Gußformen von Stand und Klasse alle anderen Unterschiede, etwa die der demographischen Ungleichheit, sozusagen überrollt wurden, obwohl es sie natürlich immer schon gab. Aber, etwa, mit dem Ende des bürgerlichen Patriarchismus wird aus der Familie und einem Haushaltsvorstand, der alles für die ganze Familie entschied, eine komplexe Organisation (mindestens) zweier selbständiger Individuen, die sich jeweils für sich in einer nun ganz eigenen „Klassenlage“ befinden: Männer und Frauen eben. Ähnliches gilt für die anderen Kategorien der demographischen Ungleichheit: Sie werden zunehmend wichtiger als nunmehr relevant gewordene Parameter der Situation. Die fünfte Entwicklung ist eine der Ursachen für alle diese Prozesse der Freisetzung und Pluralisierung: die allgemeine Wohlfahrtssteigerung durch die Ausweitung der ökonomischen Produktion und den dadurch möglichen „Fahrstuhleffekt“ eines kollektiven Aufstiegs. Dadurch erweitern sich die Optionen, etwa für einen Urlaub in der Karibik, für fast alle Schichten. Das läßt die unteren Schichten und die Eliten in durchaus „nivellierender“ Weise aneinanderrücken – und bei „denen da oben“ den Bedarf an Distinktion deutlich ansteigen. Das alles geschieht aber, man sollte es nicht vergessen, auf einem Sockel der „Unterschichtung“ der Gesellschaft durch inzwischen fast 10% an Ausländern und deren Familien, für die der Luxus der Erlebnisgesellschaft in keiner Weise gilt. Der 23
Vgl. dazu M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80.
168
Die Konstruktion der Gesellschaft
sechste Vorgang schließlich sieht wie das Gegenteil von „Individualisierung“ aus. Es ist die Entstehung eines gewissen, alle Gruppen erfassenden gemeinsamen Schicksals, teils im Guten, teils im Bösen. Eher im Guten ist das die Etablierung des Wohlfahrtsstaates gewesen, der die Ungleichheiten wenigstens etwas eingeebnet hat. Im Bösen sind es dagegen die inzwischen globalen Gefahren und Risiken der Umweltzerstörung, atomarer Unfälle und weltweiter kriegerischer Auseinandersetzungen. Davon werden die Akteure unterschiedslos getroffen: Jeder stirbt für sich allein. Dazu treten die Entwicklungen, die inzwischen als Globalisierung bezeichnet werden – das Entstehen von weltumspannenden, vor allem ökonomischen Interdependenzen, von denen man nicht so eindeutig sagen kann, ob sie eher gut oder böse sind.
Für die soziologische Befassung mit diesen neuen Entwicklungen hat das zwei Folgen gehabt. Das ist erstens eine enorme Konjunktur von theoretischen und empirischen Beiträgen zum Thema der sog. neuen sozialen Ungleichheit, bei denen es vor allem um die Fragen ging, ob die Thesen von der Entstrukturierung und Individualisierung wirklich stimmen, was wirklich neu wäre an der neuen sozialen Ungleichheit, und wer von den bekannteren Soziologen – Georg Simmel, Peter M. Blau oder Anthony Giddens etwa – sich damit vielleicht früher schon befaßt hätte.24 Und zweitens eine ebenso starke Konjunktur von empirischen Beiträgen zur weiteren Entstrukturierung der „alten“ Klassengesellschaft und vor allem zur sog. Milieu- oder Lebensstilforschung und der Entdeckung immer neuer Gruppen mit typischen Formen der Stilisierung von Geschmack und Kultur. Wir werfen hier nur einen kurzen Blick auf die empirischen Untersuchungen zu den „neuen“ Formen der sozialen Ungleichheit und zu den dabei vorgenommenen Änderungen der Schichtungsmodelle bzw. Klassenschemata, nicht zuletzt weil das Feld derzeit sehr im Fluß ist. Dabei sind zwei verschiedene Arten von Herangehensweisen sichtbar geworden (vgl. Geißler 1996, S. 79ff.): das Konzept der sog. sozialen Lagen und das der sog. sozialen Milieus.
24
Vgl. etwa Peter A. Berger, Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbildung und Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen 1986; Stefan Hradil, Individualisierung, Pluralisierung, Polarisierung: Was ist von den Schichten und Klassen geblieben?, in: Robert Hettlage (Hrsg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München 1990, S. 111-138; Peter A. Berger und Stefan Hradil, Die Modernisierung sozialer Ungleichheit – und die neuen Konturen ihrer Erforschung, in: Peter A. Berger und Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband 7 der Sozialen Welt, Göttingen 1990a, S. 3-24; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; sowie verschiedene Beiträge bei Peter A. Berger und Michael Vester, Alte Ungleichheiten – Neue Spaltungen, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit
169
Soziale Lagen
Das Konzept der sozialen Lagen strebt eine systematische Einbeziehung der inzwischen als relevant wahrgenommenen Dimensionen der „neuen“ sozialen Ungleichheit an. Es geht auf Überlegungen und lange Vorarbeiten von Wolfgang Zapf zurück.25 Neben den „klassischen“ Kategorien der Klassenschemata nach Berufsgruppen, werden jetzt auch nicht-erwerbstätige Personen, wie Arbeitslose, Studenten und Rentner, Männer und Frauen und Ausländer als eigene Kategorien aufgeführt (vgl. Tabelle 4.2). Weiterhin werden die Berufstätigkeiten in ihrer vertikalen Dimension betrachtet, sowie die damit verbundenen Einkommensflüsse, jeweils gesondert für die horizontalen Dimensionen der Geschlechter und der Ausländer. Eine wichtige Besonderheit ist dann noch der Einbezug der subjektiven Befindlichkeiten, der Lebenszufriedenheit und der Zukunftserwartungen, in die Beschreibung der verschiedenen sozialen Lagen. Das ist nur folgerichtig: Wenn die „objektiven“ gesellschaftlichen Lagen immer weniger verbindlich werden, dann kommt es zunehmend auf die subjektiven Einstellungen der Menschen an. Auffällig ist bei dieser Art der Beschreibung der sozialen Ungleichheit die Vielzahl der sozialen Lagen, die durch die Kreuzung der vertikalen mit mehreren horizontalen Dimensionen erzeugt wird. Was vorher bei den Schichtungsmodellen und den Klassenschemata noch implizit geblieben war, die horizontale Dimension der sozialen Ungleichheit, wird mit dem Modell der sozialen Lagen explizit gemacht. Ob diese Dimensionen dann auch „Relevanz“ haben, müßte sich an systematischen Unterschieden zeigen. Die gibt es ohne Zweifel beim Einkommen, dagegen sehr viel weniger für die Lebenszufriedenheit. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil sich die (Un-)Zufriedenheiten der Menschen an ihren Nahumwelten und Bezugsgruppen zu orientieren pflegen und weil nicht die absolute, sondern die relative Deprivation für die subjektive Befindlichkeit entscheidend ist (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
25
Vgl. Wolfgang Zapf, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann (Hrsg.), DeutschlandHandbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 99-124.
170
Die Konstruktion der Gesellschaft
Tabelle 4.2: Soziale Lagen in Westdeutschland (nach Zapf 1989, S. 113) Haushaltsnettoeinkommen, in DM Männer Frauen
Führende Angestellte Höhere Beamte Hochqualifizierte Angestellte Gehobene Beamte Qualifizierte Angestellte Einfache, mittlere Beamte Einfache Angestellte Vorarbeiter, Meister Facharbeiter Un-, angelernte Arbeiter Freie Berufe Sonstige Selbständige Landwirte Mithelfende Familienangehörige Azubis/Studenten/ Bundeswehr Nicht-Erwerbstätige 1 Nicht-Erwerbstätige Noch-Erwerbstätige Nicht-Erwerbstätige/ 2 Selbständige Nicht-Erwerbst./Beamte Nicht2 Erwerbst./Angestellte 2 Nicht-Erwerbst./Arbeiter 1 Sonstige
Lebenszufriedenheit (Skala 0 – 10)
Ausländeranteil in %
Männer
Frauen
Männer
Frauen
5765
5770
7,5
7,9
2,0
13,9
4867
4242
7,3
8,1
1,3
1,5
4353
3502
7,5
7,8
2,5
1,3
4332
4970
7,7
7,1
-
-
3662
4002
7,3
7,2
3,2
2,4
3391
3718
7,4
7,6
-
-
2889
3844
7,2
7,1
4,7
2,0
4000
4245
7,2
7,5
7,2
10,7
3184
4307
7,3
7,3
11,3
5,4
2821
3089
6,9
6,9
33,4
17,2
4234
6508
6,7
7,2
4,9
13,2
4490
3571
6,6
7,2
4,2
1,7
3659
5681
6,2
6,3
-
-
2828
3574
7,7
6,3
17,2
1,8
3589
3804
7,0
6,7
2,9
3,2
2089
3158
5,1
7,1
18,7
5,0
3501
2936
6,7
7,1
5,9
16,3
3820
2821
7,8
7,6
18,7
7,7
2343
2785
7,1
6,8
-
-
3289
3128
8,4
7,7
-
-
2742
2285
7,4
7,3
1,9
-
2128
1893
7,1
7,2
3,4
0,7
2693
2069
5,7
6,8
-
0,3
1 Niemals erwerbstätig 2 Bzw. frühere Stellung/ frühere Stellung des Ehemanns
Soziale Ungleichheit
171
Soziale Milieus
Sehr viel bunter sehen die – inzwischen fast zur lästigen Mode gewordenen – Untersuchungen zu den sozialen Milieus aus. Hier geht es, ganz anders als in der klassischen Ungleichheitsforschung, zuerst um die subjektiven Befindlichkeiten, Werte, Bewußtseinsformen und Lebensstile der Menschen. Und dann wird – unter Umständen – danach gesucht, ob sich die dann auch in irgendwelchen „objektiven“ Lagen wiederfinden lassen, etwa nach den sozialen Schichten der traditionellen Ungleichheitsforschung. Daraus ergeben sich dann Diagramme, in denen die vertikale Dimension der „alten“ sozialen Ungleichheiten mit diversen horizontalen Dimensionen der subjektiven Orientierungen und Werte gekreuzt werden. Eines der bekanntesten dieser Diagramme ist das der sog. SINUS-Studie, ein nach kaum nachvollziehbaren Methoden gewonnenes zweidimensionales Tableau von verschiedenen „Milieus“. Es ist, leicht vereinfacht, für die westdeutsche Bevölkerung (für die 90er) Jahre in Abbildung 4.12 wiedergegeben.26 Wir wollen die inhaltlichen (und die methodischen) Einzelheiten der Darstellung hier nicht weiter diskutieren. Es gibt inzwischen eine Unzahl von ähnlich vorgehenden Untersuchungen, reichlich auch aus dem Bereich der Freizeit- und Konsumforschung, mit teilweise ganz anderen Ergebnissen.27 Manche Ergebnisse, auch die der SINUS-Studie, sind allzu trivial, wie etwa das, daß sich das Arbeitermilieu unten befindet und die verschiedenen „gehobenen“ Milieus oben. Immerhin läßt sich, wenn man den Methoden der Autoren trauen darf, aber festhalten, daß es tatsächlich so etwas gibt wie die Entkopplung von objektiver gesellschaftlicher Lage und den subjektiven Befindlichkeiten. Jedoch findet man auch weiterhin recht starke Bindungen der Orientierungen an die „vertikale“ Dimension der Möglichkeiten. Hedonisten gibt es zwar, so können wir dem Diagramm entnehmen, in fast allen Schichten, aber es gibt ein auf die oberen Schichten begrenztes konservatives Milieu. Auch die postmaterialistischen Alternativen kommen geschlossen aus den besseren Kreisen. Und die untere rechte Ecke ist ganz frei. Postmoderne Un26
Vgl. die Beschreibung der Milieus bei Jörg Ueltzhöffer und Bodo Berthold Flaig, Spuren der Gemeinsamkeit? Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 61-81.
27
Vgl. dazu die kritische Übersicht bei Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen 1999. Siehe für eine theoretische Begründung vor dem Hintergrund der traditionellen Ungleichheitsforschung: Gunnar Otte, Auf der Suche nach „neuen sozialen Formationen und Identitäten“ – Soziale Integration durch Klassen oder Lebensstile?, in: Friedrichs 1998, S. 190ff.
Soziale Ungleichheit
173
Karl Marx müßte sich, so sollte man denken, im Grabe herumdrehen, wenn er erführe, daß nur 12% der Arbeiter traditionslos seien und die Kleinbürger mehr als ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ausmachen. Und das erst recht, wenn er mitbekäme, daß der Kapitalismus in seiner Entfaltung die objektiven Widersprüche nicht nur nicht zugespitzt und überwunden hat, sondern ganz offensichtlich mit seiner Wohlstandsproduktion die Freiräume bereitstellt, die es jedem, fast ganz egal aus welcher Schicht oder Klasse er kommt, erlaubt, seinen eigenen Stil zu pflegen und es ihm möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, wie er gerade Lust hat, und nur daran interessiert zu sein, möglichst viel zu erleben (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 in diesem Band). Aber nach dem ersten Schock müßte er sich eigentlich auch bestätigt fühlen können. Denn die Lebensstile und die Werte spiegeln ja offenbar nichts anderes als spezielle Bedingungen der materiellen Reproduktion der Menschen in den in der Tat etwas turbulenten Gesellschaften des entfalteten Kapitalismus, so wie das etwa Walter Müller für die unterschiedlichen Verhältnisse bei der sog. Dienstklasse beim Wahlverhalten gezeigt hat, je nachdem ob es sich um die administrative Dienstklasse, die Experten oder die sozialen Dienste gehandelt hat. Erneut wird für das systematische Verständnis der Zusammenhänge hier das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen wichtig. Zum Postmaterialisten wird man ja nicht aus gusto, sondern vielleicht auch dadurch, daß man auf seiner Position im Beruf erlebt und lernt, wie wichtig Einfühlungsvermögen und Sensibilität, etwa für den Verkaufserfolg oder für die Betreuung von Klienten sind, erst vielleicht nur als Mittel, dann aber auch bald als Teil der Codierung des jeweiligen sozialen Systems, etwa das einer Werbeagentur oder der Sozialarbeit. Kurz: Wenn das Sein der Codierungen der Systeme schließlich auch das Bewußtsein der Orientierungen bestimmt und wenn im Postkapitalismus das Sein wirklich differenzierter und „individueller“, „reflexiver“ und einfühlsamer geworden ist, dann muß es nicht verwundern, wenn das auch für die Formen des Bewußtseins und die Stilisierungen des Lebens gilt.
Außerdem ist es nach wie vor so, daß sich der Geschmack und das kulturelle Kapital, etwa des Kunstverstandes, deutlich nach den objektiven Lebenslagen und den darin möglichen Erfahrungen strukturiert. Wer zuhause keine Sonaten gehört hat, wird später klassische Musik kaum mögen, weil er sie nicht „versteht“ (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und das dort ausführlicher behandelte Konzept des kulturellen Kapitals). Daher verteilen sich die Lebensstile weiterhin vor allem nach der Bildung.28 Heino liebt man eben unter Akademikern immer noch nicht, es sei denn wieder als Kultobjekt mit der dazugehörigen iro28
Vgl. dazu Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. und New York 1992, Kapitel 3.
174
Die Konstruktion der Gesellschaft
nisierenden Distanz und dem Gestus der bildungsbürgerlichen Arroganz und Überheblichkeit gegen die da unten. Und innerhalb der jeweiligen Bildungsschichten gibt es auch oft gnadenlosen Druck, den betreffenden Stil mitzumachen: Wehe, wer unter den Professoren nicht sofort in die van GoghAusstellung eilt, wenn just eine da stattfindet, wo er gerade auf einer Tagung seine neuesten Forschungsergebnisse vorgetragen hat, alle begeistert waren und er danach eigentlich nur noch das Eine braucht: ein großes Bier. Man kann es auch so sagen: Auch wenn die Geschichtsphilosphie von Karl Marx nicht gestimmt hat, muß das nicht heißen, daß seine Idee von der prägenden Kraft der Produktionsverhältnisse auch falsch gewesen ist oder unter den komplexen Verhältnissen der modernen Gesellschaften unanwendbar geworden wäre. „Produktionsverhältnisse“ ist ja nur ein anderes Wort für „soziale Produktionsfunktionen“. Und wenn die sich wandeln und differenzieren, dann ändert und differenziert sich natürlich auch das Verhalten und das Bewußtsein der Menschen, nicht anders als das im klassischen Konzept der sozialen Klasse für zunächst noch recht einfache Verhältnisse angenommen wurde. *** Die Untersuchungen zu den neuen Formen der sozialen Ungleichheit verweisen auf eine weitere, bisher kaum wahrgenommene gesellschaftliche Entwicklung. Die Strukturen der sozialen Ungleichheit wurden bisher nahezu ausschließlich über die funktionale Differenzierung der Gesellschaften erzeugt. Noch die Klassenschemata halten daran strikt fest, die Schichtungsmodelle mit ihren „horizontalen“ Erweiterungen tun das schon weniger. Neuerdings wird aber deutlich, daß relevante, das Handeln bestimmende, Ungleichheiten auch aus den anderen Formen der sozialen Differenzierung entstehen können, aus der kulturellen wie aus der normativen Differenzierung also. Bei den neu entstandenen Subkulturen der Migranten und ethnischen Minderheiten ist das beispielsweise der Fall. Die kulturellen Milieus und die Devianz-Bereiche treten also mindestens neben die immer noch deutlich wirksamen Strukturierungen aus der Beteiligung der Akteure an den funktionalen Sphären der Gesellschaft. Ungeklärt ist aber weiter die Frage, ob das auch ein Wechsel in der Dominanz der funktionalen Sphären gegenüber den kulturellen und normativen Systemen ist. Das wäre kaum zu glauben.
Soziale Ungleichheit
4.5
175
Statuszuweisung und Mobilität
Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ist die Folge der Plazierung der Akteure auf bestimmten Positionen in den verschiedenen sozialen Systemen einer Gesellschaft, insbesondere in den Funktionssystemen und funktionalen Sphären (vgl. dazu schon Abschnitt 4.1 sowie noch ausführlich Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Diese Plazierung auf Positionen wird auch als Statuszuweisung oder als Statuseinnahme und in der englischsprachigen Literatur als status attainment bezeichnet. Da die Akteure eine berufliche Biographie durchlaufen und sterblich sind, muß es einen Austausch der Akteure auf den verschiedenen sozialen Positionen geben, etwa im Vergleich zwischen zwei Generationen. Dabei kann es dann natürlich auch zu Veränderungen in den Verteilungen über die verschiedenen Berufgsgruppen bzw. Klassenkategorien kommen. Derartige Änderungen in der Besetzung von Positionen durch Akteure werden ganz allgemein auch als soziale Mobilität bezeichnet. Untersuchungen zur Statuszuweisung und zur sozialen Mobilität bilden bis heute einen großen Teil der soziologischen Analyse der sozialen Ungleichheit, und sie sind einer der interessantesten Zweige der international vergleichenden Sozialforschung geworden.29
29
Vgl. zu diesen beiden Problembereichen u.a. die folgenden Übersichten und Zusammenstellungen etwa bei Heller 1969, Teil V: Social Mobility, S. 309-373; bei Grusky 1994, Teil IV: Generating Stratification, S. 245-393; oder bei Kerbo 1996, Kapitel 11: Social Mobility: Class Ascription and Achievement, S. 325- 366. Siehe zu einer Übersicht über die Forschungstradition zum Thema auch Karin Kurz und Walter Müller, Class Mobility in the Industrial World, in: Annual Review of Sociology, 13, 1987, S. 417-442. Eine einfache Einführung in den Problembereich bietet Thomas A. Herz, Klassen, Schichten, Mobilität, Stuttgart 1983, Kapitel 6: Soziale Mobilität, S. 152-225. Siehe für empirische Untersuchungen, insbesondere vergleichender Art, den frühen Beitrag von Seymour M. Lipset und Reinhard Bendix, Social Mobility in Industrial Society, London, Melbourne und Toronto 1959; sowie neuderdings u.a. Erikson und Goldthorpe 1992; EspingAndersen 1993 oder Shavit und Blossfeld 1993. Vgl. für die (west-)deutsche Situation: Walter Müller, Soziale Mobilität: Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, in: Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungsweise. Festschrift zum 65. Geburtstag von Rudolf Wildenmann, Opladen 1986, S. 339-354. Vgl. zur Modellierung des Prozesses der Statusübernahme und der Reproduktion sozialer Ungleichheit über Vorgänge der Statuseinnahme insbesondere noch Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality. Changing Prospects in Western Society, New York u.a. 1974, Kapitel 1; Aage B. Sørensen, The Structure of Inequality and the Process of Attainment, in: American Sociological Review, 42, 1977, S. 965-978; oder Hubert M. Blalock, Jr., Understanding Social Inequality. Modeling Allocation Processes, Newbury Park, London und New Delhi 1991. Siehe dazu auch noch Abschnitt 7.1 unten in diesem Band.
176
Die Konstruktion der Gesellschaft
4.5.1 Mobilität
Wir beginnen mit der Analyse von Prozessen der Mobilität. In einer der ersten soziologischen Arbeiten zu dem Problem heißt es: „By social mobility is understood any transition of an individual or social object or value – anything that has been created or modified by human activity – from one social position to another.“30
Es geht also um den Wechsel, den gewisse individuelle oder soziale „Objekte“ durchlaufen, indem sie bestimmte „Positionen“ ändern. Es gibt vor diesem allgemeinen Hintergrund eine Reihe ganz unterschiedlicher Prozesse der Mobilität (siehe dazu auch gleich unten mehr). Im Zusammenhang des Problems der sozialen Ungleichheit ist häufig jedoch der Wechsel von Akteuren in den beruflichen Positionen gemeint. Worum es dabei geht, läßt sich am anschaulichsten über die sog. Mobilitätstabellen beschreiben. David L. Featherman und Robert M. Hauser finden beispielsweise für die USA und für das Jahr 1973 in ihrer Stichprobe die folgenden Verteilungen im Beruf der Söhne von Vätern bestimmter Berufe:31 Die Tabelle läßt sich in ganz unterschiedlicher Weise lesen. Interessant sind zunächst schon die Randverteilungen, denn sie geben die jeweiligen „strukturellen“ Verhältnisse und die Änderungen zwischen den beiden Generationen an – eine soziologisch höchst bedeutsame Information über die Struktur der sozialen Ungleichheit auch schon unabhängig von dem Geschehen im „Innern“ der Tabelle. Man sieht allein bereits an den absoluten Zahlen deutlich die Veränderungen in der Ungleichheitsstruktur der beruflichen Sektoren: Die Anzahl der Landwirte ist drastisch gesunken (von 4650 bei den Vätern auf 2265 bei den Söhnen) und die der oberen Klassen hat zugenommen, etwa bei den upper-nonmanuals von 2920 auf 4101 (siehe dazu auch noch gleich unten zu den „strukturellen Begrenzungen“). Dann ist das „innere“ Geschehen natürlich auch äußerst bemerkenswert: Es beschreibt innerhalb des 30
Pitirim A. Sorokin, Social and Cultural Mobility, Glencoe, Ill., und London 1959 (zuerst: 1927), S. 133; Hervorhebungen nicht im Original.
31
Aus David L. Featherman und Robert M. Hauser, Opportunity and Change, New York, San Francisco und London 1978, S. 41ff; siehe ebd. S. 150. Die aufgeführten Kategorien fassen verschiedene Berufsgruppen zusammen, die in etwa den Klassen des GoldthorpeSchemas entsprechen, das wir in Abschnitt 4.3 oben besprochen haben, und zwar so: Die upper nonmanuals entsprechen den Klassen I und II, die lower nonmanuals den Klassen III, IVa und IVb, die upper manuals den Klassen V und VI, die lower manuals der Klasse VIIa und die Kategorie „farm“ den Klassen IVc und VIIb. Die Anordnung der Klassen läßt sich auch als eine ordinale Rangfolge ansehen, wenn man, was nicht ganz abwegig ist, die Bauern und die Landarbeiter ganz unten ansiedelt.
177
Soziale Ungleichheit
Rahmens der strukturellen Grenzen, die die Randverteilungen vorgeben, die Art der Plazierung der Kinder aus den Familien mit typischer sozialer Herkunft. Tabelle 4.3: Plazierung auf berufliche Positionen zwischen zwei Generationen für die USA im Jahre 1973 (nur Männer im Alter zwischen 20 und 64)
berufliche Position Sohn berufliche Position Vater upper nonmanual lower nonmanual upper manual lower manual farm alle
upper lower upper nonman. nonman. manual
lower manual
farm
alle
(1414) 724 798 756 409
521 (524) 648 914 357
302 254 (856) 771 441
643 703 1676 (3325) 1611
40 48 108 237 (1832)
2920 2253 4086 6003 4650
4101
2964
2624
7958
2265
19912
Statusvererbung, Aufstieg und Abstieg
Man kann die Tabelle in drei Sektoren unterteilen, in denen es jeweils ein ganz typisches Geschehen gibt. Das sind erstens die Werte in der Diagonalen. Sie sind zur besseren Übersicht mit Klammern versehen. Die Werte in der Diagonalen beschreiben die Statusvererbung bzw. die Selbstrekrutierung der jeweiligen Klassen. Beispielsweise stammen 3325 Söhne in der lower-manualKlasse selbst schon aus der lower-manual-Klasse, und 1414 der uppernonmanual-Klasse entsprechend ebenfalls. Die Region links unterhalb der Diagonalen beschreibt dann zweitens die sozialen Aufstiege: Die Söhne sind in eine höhere Klasse gekommen als ihre Väter. So sind 756 Söhne aus lowermanual-Familien in die upper-nonmanual-Klasse aufgestiegen, und 1611 Farmerskinder zu lower-manuals geworden, was natürlich kein besonderer „Aufstieg“ war. Aber immerhin. Entsprechend finden sich in der Region rechts oberhalb der Diagonalen drittens die sozialen Abstiege, wie etwa die 40 „Aussteiger“ aus der upper-nonmanual-Klasse, die Landwirt geworden sind, oder jene 254 Personen aus der lower-nonmanual-Gruppe, die in die upper-manualKlasse gewechselt sind und dabei einen Statusverlust haben hinnehmen müssen.
178
Die Konstruktion der Gesellschaft
Abstrom- und Zustrommobilität
Auf den ersten Blick werden so schon einige interessante Zusammenhänge erkennbar, wie die extrem wenigen Wechsel von nahezu allen Gruppen zur Landwirtschaft oder das starke Verbleiben der Oberschichten und der Unterschichten, besonders aber der Landwirte, in ihrer Gruppe über die Generationen hinweg. Aber die absoluten Zahlen sind doch recht unübersichtlich. Zu einem klareren Bild über die Muster von Aufstieg, Abstieg und Statusvererbung bzw. Selbstrekrutierung können die sog. Abstrom- bzw. Zustromtabelle führen. Die Abstromtabelle betrachtet dabei die soziale Herkunft der Söhne als Bezugspunkt und beschreibt in Anteilen der jeweiligen Herkunftsklasse der Väter die Besetzungen der Klasse, in der die Söhne angelangt sind. Die Abstromtabelle ist also zeilenweise prozentuiert. Bei der Zustromtabelle ist der Ort der sozialen Plazierung der Söhne der Bezugspunkt, und es werden die Anteile der Klassen beschrieben, aus denen die Väter der Söhne stammen, die in eine bestimmte Klasse gelangt sind. Die Zustromtabelle wird daher spaltenweise prozentuiert. Die jeweilige Art der Mobilität wird entsprechend als Abstrommobilität bzw. Zustrommobilität bezeichnet. In Tabelle 4.4 sind die entsprechenden Werte aufgeführt. Bei der Abstrommobilität fällt zunächst auf, daß in vielen, wenngleich nicht allen Fällen die stärksten Abströme wieder in die eigene Klasse führen; die Werte in der Diagonalen sind (meist) die höchsten. Am stärksten ist der Abstrom in die eigene Klasse bei den lower manuals und den uppernonmanuals. Und es wird auch deutlich, daß der Abstrom in benachbarte Klassen stärker ist als „Sprünge“ über mehrere Stufen hinweg: Der Apfel fällt offenbar tatsächlich nicht sehr weit vom Stamm, falls er denn überhaupt fällt, und die Beharrung ist an den „Ecken“ des Ungleichheitssystems durchweg, wenngleich nicht ausnahmslos, am stärksten (siehe dazu auch noch unten zu den sog. Mobilitätsregimes). Bei den Landwirten ist noch bemerkenswert, daß sie zu einem relativ großen Anteil in die lower-manual-Klasse wechseln – eine Folge des strukturellen Zwangs aus der Schrumpfung des Sektors der Landwirtschaft insgesamt und der für sie offenbar hohen Hürden für einen weitergehenden Aufstieg. Bei den Zuströmen sieht es nicht viel anders aus: Am stärksten sind sie meist wieder aus den eigenen Reihen, und auch nun wieder an den Ecken besonders. Diesmal sieht man außerdem mit 80.9% eigenem Zustrom eine ganz extreme Selbstrekrutierung der Landwirte. Auf den ersten Blick erscheint das als doch seltsam viel. Aber es ist leicht einzusehen: Offenbar war nach dem Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors das „Angebot“ an Landwirtssöhnen sehr viel höher als die verbliebene „Nachfrage“ danach, so daß sich
179
Soziale Ungleichheit
ohnehin erst einmal zahlreiche Söhne von Landwirten einen anderen Beruf suchen mußten (und in den lower-manual-Berufen auch fanden) und kaum jemand von außen hineingekonnt hätte, wenn es denn jemand überhaupt gewollt hätte. Und so bleibt der Rest der Bauern und Landarbeiter, der es nicht nach draußen schafft, unter sich. Tabelle 4.4: Abstrom- und Zustrommobilität für die Daten aus Tabelle 4.3
a. Abstrommobilität berufliche Position Sohn berufliche Position Vater
upper lower upper nonman. nonman. manual
lower manual
farm
Summe
upper nonmanual lower nonmanual upper manual lower manual farm alle
(48.4) 32.1 19.5 12.7 8.8
17.8 (23.2) 15.9 15.3 7.7
10.4 11.3 (20.9) 12.8 9.5
22.0 31.3 41.1 (55.3) 34.6
1.4 2.1 2.6 3.9 (39.4)
100.0 100.0 100.0 100.0 100.0
20.5
14.9
13.2
40.0
11.4
100.0
lower manual
farm
alle
b. Zustrommobilität berufliche Position Sohn berufliche Position Vater
upper lower upper nonman. nonman. manual
upper nonmanual lower nonmanual upper manual lower manual farm
(34.5) 17.7 19.4 18.4 10.0
17.6 (17.7) 21.9 30.8 12.0
11.5 9.7 (32.6) 29.4 16.8
8.1 8.8 21.1 (41.8) 20.2
1.8 2.1 4.8 10.5 (80.9)
14.7 11.3 20.5 30.1 23.3
Summe
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
Mover und Stayer
Faßt man die Absolutwerte auf der Diagonalen in Tabelle 4.3 zusammen, dann erhält man die Anzahl der Familien mit Statusvererbung. Das sind hier
180
Die Konstruktion der Gesellschaft
7951 Fälle, die auch als Stayers bezeichnet werden. Der Rest, insgesamt also 11961 der insgesamt 19912 Akteure, sind dann Movers. Von den Movers sind wiederum 7429 Aufsteiger (alle Fälle unterhalb der Diagonalen) und 4532 Absteiger (alle Fälle oberhalb der Diagonalen). Das ergibt in Anteilen der Gesamtpopulation von 19912 Fällen einen Wert von 39.9% an Statusvererbung und von 60.1% an „Bewegungs“-Mobilität, mit 37.3% Aufsteigern und 22.8% Absteigern. Offene Gesellschaft?
Für eine „offene“ Gesellschaft, wie es die USA, wenigstens im Vergleich und nach ihrem Selbstverständnis sind, sind die hohen Raten an Statusvererbung, gerade in den „Ecken“ des Systems, schon erstaunlich. Aber es ist auch ersichtlich, daß zwischen den beiden Generationen jeweils die Aufstiege aus einer Klasse in eine bestimmte andere häufiger waren als die entsprechenden Abstiege. Die jeweils vergleichbaren Werte im Dreieck unter der Diagonalen der Zustromtabelle in Tabelle 4.4b sind jedenfalls immer größer als im oberen Dreieck. Das „System“ der Gesellschaft hat sich also durchaus geöffnet und den Angehörigen der unteren Klassen den Weg nach oben geebnet, wenngleich nicht im Sinne völlig „unbegrenzter“ Möglichkeiten. Und es gibt trotz dieses „kollektiven“ Aufstiegs auch einen mit fast 23% nennenswerten Anteil von sozialem Abstieg, was ja sicher auch ein Merkmal einer wirklich „offenen“ Gesellschaft ist. Strukturelle Begrenzungen
Beachtet man die Randverteilungen nicht weiter, könnte es so aussehen, als wäre das Geschehen ausschließlich eine Folge des Bemühens der Individuen in der Konkurrenz um die Positionen. Das ist sicher auch zu einem großen Teil der Fall (siehe dazu auch noch unten in Abschnitt 4.5.2 näher zu den Prozessen und Bedingungen der Statuszuweisung und der individuellen Mobilität). Die Abströme und die Zuströme, die Aufstiege und die Abstiege sowie die Statusvererbung finden jedoch, wie wir oben bereits angedeutet hatten, in gewissen strukturellen Grenzen statt, die die individuellen Akteure, sozusagen als soziologische Tatbestände, vorfinden. Diese strukturellen Begrenzungen des „individuellen“ Geschehens sind aus den Randverteilungen der Abstrombzw. der Zustromtabelle ersichtlich, wobei die Zustromtabelle in der Spalte ganz rechts die prozentuale Verteilung der Klassen und Branchen für die Vä-
Soziale Ungleichheit
181
tergeneration wiedergibt, und die Abstromtabelle in der untersten Zeile die für die Söhnegeneration. Insofern könnte man über diese beiden Verteilungen gewisse sektorale Veränderungen in der Gesellschaft feststellen, die die strukturellen Grenzen für das Geschehen innerhalb dieser Grenzen festlegen. Und es hat, wie wir oben an den Tabellen 4.3 und 4.4 schon sehen konnten, tatsächlich einige Änderungen gegeben. So ist zwischen den Generationen der Anteil der Landwirte von 23.3% bei den Vätern auf 11.4% bei den Söhnen geschrumpft, es hat eine Verdoppelung der lower-nonmanual-Berufe gegeben, und auch der Anteil der obersten Positionen ist gestiegen, wenngleich nicht dramatisch, nämlich von 14.7% bei der Vätergeneration auf 20.5% bei der Söhnegeneration. Strukturelle und individuelle Mobilität
Entsprechend läßt sich eine strukturelle Mobilität, die sich aus der Änderung der Gesellschaft insgesamt und der damit einhergehenden Änderung in der Verteilung der Klassen zwischen zwei Zeitpunkten bzw. Generationen ergibt, von einer individuellen Mobilität (oder, wie es auch heißt, „Zirkulationsmobilität“) unterscheiden, bei der es um das Ausmaß der Bewegung der Individuen in den strukturellen gesellschaftlichen Grenzen und um die jeweiligen individuellen Aufstiege und Abstiege in den Familien geht. Das bloße Ausmaß der strukturellen gegenüber der individuellen Mobilität läßt sich leicht berechnen. Zunächst muß die Anzahl der Änderungen bestimmt werden, die sich aus der Änderung der Verteilung der Klassen schon rein rechnerisch ergibt. Das ist in Tabelle 4.3 für jede Klasse der Absolutwert der Differenz in der Häufigkeit ihrer Besetzung zwischen den beiden Zeitpunkten, also etwa |2920-4101| = 1181 für die upper-nonmanuals oder |4086-798| = 1462 für die upper-manuals. Diese Werte werden für alle Klassen aufaddiert, und im Beispiel ergibt das somit |2920-4101| + |2253-2964| + |4086-2624| + |6003-7958| + |4650-2265| = 1181 + 711 + 1462 + 1955 + 2385 = 7694 an Fällen mit Mobilität, die sich allein schon durch die Änderungen in der sektoralen Verteilung ergibt.
Die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität ist nun der Anteil an der Mobilität der Mover, der nicht schon durch diese strukturell erzwungenen Wechsel erklärt wird. Mover sind dabei, wie wir schon wissen, diejenigen, die überhaupt ihre Klasse gewechselt und ihren Status nicht einfach geerbt haben – die Aufsteiger und die Absteiger zusammen also. An solchen Movers gab es insgesamt 11961 Akteure, davon, wie wir oben auch schon gesehen haben, 7429 Aufsteiger und 4532 Absteiger. Das ergibt 11961-7694 = 4267 Akteure, die überhaupt mobil waren und nicht aus strukturellen Gründen ihre Position geändert haben. Diese 4267 Akteure sind die Anzahl derjenigen mit individueller Mobilität. Es gibt somit einen Anteil von 35.7% an individueller Mobili-
182
Die Konstruktion der Gesellschaft
tät und entsprechend einen Anteil von 64.3% an struktureller Mobilität – jeweils nur gemessen an der Gesamtmobilität der Movers, wohlgemerkt. Man sieht also, daß sehr viel, was zunächst wie das Ergebnis rein individueller Bemühungen aussieht, nichts weiter ist als die Folge von gesellschaftlichen Veränderungen, denen sich die Akteure fügen müssen – wobei, das sei dann jedoch doch noch hinzugefügt, die strukturellen Veränderungen natürlich auch nicht vom Himmel fallen, sondern ihrerseits das – oft genug so nicht beabsichtigte – Ergebnis des Handelns von Akteuren ist, etwa das von Unternehmern, die Arbeitsplätze schaffen, oder von Politikern, die das Bildungssystem ausbauen oder die Treuhandanstalt einrichten, um die marode Industrie der untergegangenen DDR abzuwickeln (vgl. dazu auch noch den Schluß dieses Kapitels und Abschnitt 7.1 in diesem Band). Arten der Mobilität
Es gibt also, wie wir gesehen haben, ganz verschiedene Aspekte und Arten von Mobilität und Maßzahlen, sie zu beschreiben. Es gibt die Statusvererbung bzw. die Selbstrekrutierung einerseits und Aufstiege und Abstiege andererseits, sowie die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität im Unterschied zur strukturellen Mobilität. Daneben werden noch einige weitere Dimensionen und Arten der Mobilität unterschieden, auf die sich die o.a. Konzepte dann wieder anwenden lassen. Im Beispiel hatten wir den Fall einer vertikalen Mobilität betrachtet, bei der die verschiedenen Positionen unterschiedlich bewertete Ränge haben. Man spricht dabei auch von Änderungen im Status, etwa wenn jemand vom Verkäufer zum Konzernchef aufsteigt. Daneben gibt es die horizontale Mobilität, bei der nur der Platz, der sog. Situs, aber nicht der Rang bzw. der Status gewechselt wird, wie etwa beim Wechsel vom Lager bei Aldi zu einem Reinigungsdienst als einem Wechsel innerhalb der Klasse der lower-manualPositionen. Zur horizontalen Mobilität gehören im Prinzip auch der Wechsel der Religion, einer politischen Partei oder der Familie, sei es durch Heirat, sei es durch Scheidung und das Finden eines neuen Partners mit dessen Anhang. Nicht dazu zählen würde ein Wechsel im Geschlecht oder der eher automatische Wechsel der gesellschaftlichen Lage mit dem Alter. Nicht eingeschlossen in die Mobilitätsanalyse werden üblicherweise auch die räumliche Mobilität, die Migration also, wohl aber deren Folgen für die Positionsbesetzung, etwa bei Arbeitsmigranten: Die sog. strukturelle Assimilation der Arbeitsmigranten ist ein Spezialfall der vertikalen Mobilität (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft unten in diesem Band).
Soziale Ungleichheit
183
Geschehen die Änderungen in Status oder Situs während der Biographie eines Akteurs, so spricht man von intragenerationaler Mobilität, geht es um Änderungen zwischen den Generationen, von intergenerationaler Mobilität. Wir hatten in dem Beispiel die intergenerationale Mobilität betrachtet, unten in Abschnitt 4.5.2 werden wir auch auf Prozesse der individuellen Karriere im Lebenslauf eingehen. Kollektive Mobilität
Ein oft übersehener, aber durchaus vorkommender und soziologisch wichtiger Aspekt der Mobilität ist die Auf- bzw. die Abwertung bestehender Positionen im Rahmen kollektiver Prozesse, von denen dann die Individuen betroffen sind, ohne daß sie etwas dagegen tun könnten. So werden bestimmte Berufe angesehener als zuvor, wie das bei den Medizinern der Fall war, andere verlieren an Prestige, wie bei den Professoren, die es inzwischen wie Sand am Meer gibt, oder bei der Klasse der Politiker, denen man inzwischen nicht mehr so recht trauen mag. Auch können ganze Nationen im System der globalen Ungleichheit aufsteigen oder absteigen, und mit ihnen die Menschen darin, wie das für die USA in den letzten 150 Jahren nach oben und für Rußland in den letzten 15 Jahren nach unten der Fall war. Und manchmal mutiert die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder einem Land über Nacht zu einem peinlichen Makel, wie das bei den Angehörigen der politischen Elite in der DDR der Fall war, als die Mauer fiel. Solche Vorgänge seien als kollektive Mobilität bezeichnet. Die Gründung von Parteien, Klassenkämpfe, soziale Bewegungen und Revolutionen können als Versuche zu einer solchen kollektiven Mobilität durch die Änderung der ganzen „Verfassung“ einer Gesellschaft verstanden werden. Pitirim A. Sorokin hat ein auch heute noch interessantes Schema von Arten der Mobilität entwickelt und 1927 veröffentlicht, das wir hier leicht verändert und übersetzt wiedergeben, in dem er diesen Aspekt der kollektiven Mobilität auch ganzer „sozialer Objekte“ systematisch vorsieht (vgl. Abbildung 4.13).
184
Die Konstruktion der Gesellschaft
individuell
horizontal
territorial, religiös, familiär, beruflich
Soziale Mobilität Aufstieg
kollektiv
individuelle Infiltration; Schaffung bzw. Aufwertung einer ganzen Gruppe
vertikal
Abstieg
individuelles Absinken; Absinken oder Desintegration einer ganzen Gruppe
Abb. 4.13: Arten der Mobilität nach Sorokin (1927, S. 136)
Bemerkenswert ist, daß Sorokin sich den sozialen Aufstieg von Personen offenbar nur als „Infiltration“ in fest umrissene Gruppierungen vorstellen konnte, für die dann ihrerseits Auf- oder Abstieg als Ganzes möglich war und die dabei die Individuen sozusagen mitnahmen. Als Sorokin das schrieb, hatte er offenbar noch den Aufstieg und den Abstieg ganzer Dynastien, Kulturen und Reiche vor Augen. Und es ist ja auch tatsächlich noch nicht sehr lange her, daß man sich über den Untergang des Abendlandes Gedanken machte und sich in gewissen Kreisen über den Aufstieg der Arbeiterklasse und der Sozialdemokratie sorgte. Heute werden in der Soziologie der Mobilität andere Dinge beachtet, insbesondere die Formen und Bestimmungsgründe der individuellen Mobilität und der Unterschiede zwischen den Ländern im Ausmaß und in den Formen darin. Aber so ganz verschwunden ist der Blick auf die kollektive Mobilität auch heute noch nicht. Denken Sie nur an die Sorgen, beim Wettrennen um das Wirtschaftswachstum im Zuge der Globalisierung nicht ins Hintertreffen zu geraten und in der Rangordnung der Nationen zurückzufallen. Und auch der „Fahrstuhleffekt“ der allgemeinen Wohlstandssteigerung bei Erhalt der Ungleichheitsstrukturen in
Soziale Ungleichheit
185
bei Erhalt der Ungleichheitsstrukturen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder die „Unterschichtung“ der westlichen Gesellschaften durch Arbeitsimmigranten wären nichts anderes als derartige Prozesse der kollektiven Mobilität. Gesellschaftliche Strukturen und Muster der Mobilität
Mobilitätstabellen beschreiben die Bewegung der Akteure auf den Positionen und die Veränderungen der Positionsstrukturen – etwa über die Zeit oder im internationalen Vergleich. Das ist schon interessant und aufschlußreich genug, wie wir gesehen haben. Aber erklären tun diese Tabellen noch nichts, beispielsweise: warum wer welche Position besetzt und wie es zu dem erkennbaren strukturellen Muster in der Verteilung der Positionen kommt. Dazu muß man, wir wissen es längst, gewisse (Mikro-)Mechanismen benennen, die – letztlich – etwas mit dem situationsorientierten Handeln der Akteure zu tun haben. Ein wichtiger Schritt zum auch erklärenden Verständnis von Prozessen der Mobilität ist die Frage danach, auf welchen grundlegenden Mustern des Mobilitätsgeschehens eine in den Randverteilungen erkennbare strukturelle Verteilung von Positionen beruht. Wir hatten oben schon die Statusvererbung, sowie Auf- und Abstiege als drei typische Muster der Mobilität kennengelernt. Interessant und wichtig ist nun zunächst, daß die gleiche strukturelle Verteilung von Positionen durch ganz unterschiedliche Muster der Mobilität „erklärt“ werden kann. Dazu wollen wir zunächst zwei einfache Extremfälle betrachten. Der erste ist die komplette Statusvererbung und der zweite die vollkommen „zufällige“ Verteilung der Akteure über die Positionen, also die vollständige Unabhängigkeit der Besetzung der Positionen von der sozialen Lage zuvor – jeweils für eine gegebene strukturelle Verteilung, versteht sich. Wir beginnen, auch der Einfachheit halber, mit drei Typen von Klassen bzw. Positionen, C1, C2 und C3, die auch einer vertikalen Bewertung unterliegen. C1 als die obere Klasse sei mit 100 Positionen ausgestattet, C2 als die mittlere Klasse mit 200 und C3, die untere Klasse, sei mit 300 am größten. Damit die Sache etwas anschaulicher wird, wollen wir den drei Klassen auch eine inhaltliche Deutung geben: Die Klasse C1 entspreche den upper und lower nonmanuals aus der Tabelle 4.3, die Klasse C2 den upper und lower manuals und die Klasse C3 den Bauern.
Es wird zunächst angenommen, daß sich zwischen den Generationen keine strukturellen Veränderungen ergeben haben. Die Kreuzung der beiden konstant gebliebenen Strukturen mit jeweils drei Klassen ergibt dann natürlich eine 3x3-Mobilitätstabelle mit gleichen Randverteilungen (vgl. Tabelle 4.5).
186
Die Konstruktion der Gesellschaft
Tabelle 4.5: Statusvererbung und Unabhängigkeit bei Stabilität der Positionsstruktur
a. Statusvererbung
b. Unabhängigkeit
Plazierung
Plazierung
soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
100 0 0
0 200 0
0 0 300
100 200 300
17 33 50
33 67 100
50 100 150
100 200 300
alle
100
200
300
600
100
200
300
600
Schon auf den ersten Blick löst die Tabelle ein Rätsel, mit dem sich mancher in der Soziologie immer noch herumschlägt: Die Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen kann über ganz unterschiedliche Formen des individuellen Verhaltens reproduziert werden, und auch eine extreme individuelle Mobilität ist vollauf mit der völligen Stabilität der sozialen Ungleichheiten vereinbar. Die Zellenbesetzungen in der Tabelle für den Fall der Statusvererbung ergeben sich unmittelbar aus der Annahme, daß es nur Zuströme aus der gleichen Klasse und keine Abströme daraus gibt. Die Besetzungen für die Annahme der Unabhängigkeit folgt der Definition der statistischen Unabhängigkeit. Danach ist die Häufigkeit in einer Zelle fij genau gleich dem Produkt der Häufigkeiten der jeweiligen Randkategorien von i, fi , und j, f⋅j, geteilt durch die Gesamtzahl der Fälle N, also fij=(fi ⋅f j)/N. Das ergibt beispielsweise für die Kombination C2, C3 einen Wert von f23=f2+⋅f+3= (200⋅300)/600=100, der sich auch empirisch ergeben müßte, wenn die Annahme der Unabhängigkeit zutrifft. Das Ganze entspricht der Berechnung der sog. Kontingenztabelle beim allseits bekannten χ2-Test: Es wird eine Verteilung der Häufigkeiten in den Zellen angenommen unter der Annahme, daß die Verteilungen in allen Untergruppen den Randverteilungen der gesamten Tabelle entsprechen und es damit keinen Zusammenhang zwischen den „Variablen“ gibt. Jede Abweichung von dieser Verteilung würde also eine Verletzung der Annahme von der „zufälligen“ Plazierung der Akteure auf die Positionen bedeuten. Die Annahme der Unabhängigkeit kann damit als eine Art von Bezugs- oder Nullmodell dienen, und der χ2-Test als der statistische Test für die Haltbarkeit dieser Annahme: Wäre beim Vergleich der Zellenbesetzungen unter der Annahme der Unabhängigkeit mit den empirischen Zellenbesetzungen das χ2 „signifikant“, dann wäre die Annahme der „Unabhängigkeit“ beim Prozeß der Statuszuweisung nicht haltbar, und man müßte sich Gedanken über andere Mechanismen machen, wie etwa den, daß es (auch) Statusvererbung gibt (siehe dazu auch gleich unten mehr).
Das Unabhängigkeitsmodell entspricht, wie man leicht sieht, der Konzeption einer kompletten gesellschaftlichen Offenheit, natürlich auch bei Existenz von sozialer Ungleichheit und deren Stabilität: Es gibt soziale Ungleichheit, aber die soziale Herkunft hat keinen systematischen Effekt auf die Plazierung. Und
187
Soziale Ungleichheit
es gibt Aufstiege auch der unteren Schichten und Abstiege der oberen Klassen, sowie auch eine gewisse Statusvererbung, aber die ist nur „zufällig“. Das Statusvererbungsmodell ist das andere Extrem – das Modell einer komplett „geschlossenen“ Gesellschaft, in der jede Gruppe unter sich bleibt. Hier ist die Determination des Status der Söhne durch den Status der Eltern perfekt und unausweichlich, und der statistische Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Statuseinnahme perfekt. So war es wohl im Mittelalter und ist es in Indien und im Sauerland noch, weitgehend jedenfalls. Nun ändere sich die Gesellschaft. Wir nehmen an, daß sich, ausgehend von der gleichen Verteilung wie oben, zwischen den Generationen die Gesellschaft „egalisiere“: Jede der drei Klassen ist nun für die Generation der Söhne gleich stark besetzt. Und wieder wollen wir uns ansehen, was geschieht, jeweils unter der Annahme einer maximalen Statusvererbung einerseits und einer kompletten Unabhängigkeit andererseits (vgl. Tabelle 4.6). Tabelle 4.6: Statusvererbung und Unabhängigkeit bei Änderung der Positionsstruktur
a. Statusvererbung
b. Unabhängigkeit
Plazierung
Plazierung
soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
100 0 100
0 200 0
0 0 200
100 200 300
33 67 100
33 67 100
33 67 100
100 200 300
alle
200
200
200
600
200
200
200
600
Einfach und einsichtig ist der Fall der Unabhängigkeit: Nun verteilen sich, weil die Randverteilung über die Klassen gleich geworden ist, die Söhne aus den drei Klassen in genau gleichen absoluten Ziffern und Anteilen auf die drei neu gebildeten Klassen. Etwas kontraintuitiv ist dagegen der Fall der strukturellen Mobilität unter dem Muster der Statusvererbung: Weil die obere Klasse an Positionen gewonnen hat, „muß“ es einen Zustrom dorthin gegeben haben. Der könnte natürlich im Prinzip aus allen anderen Klassen kommen, aber weil wir annehmen, daß die Akteure strikt an der Statusvererbung festhalten, wenn es denn eben geht (!), und weil die untere Klasse strukturell an Positionen verliert, „muß“ dieser Zustrom aus der unteren Klasse erfolgen. Denn andere
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Vorgänge, wie die Migration oder eine differentielle Fertilität, haben wir ja ausgeschlossen. Das erkennbare Muster – der Aufstieg von 100 Söhnen aus der unteren Klasse gleich in die obere – ist also das Ergebnis einer strikten Statusvererbung in allen Klassen einerseits und der angenommenen strukturellen Veränderungen in der Struktur der sozialen Ungleichheit. Mobilitätsregimes
Die reine Statusvererbung und die völlige Unabhängigkeit sind natürlich extreme Annahmen, die in der Wirklichkeit kaum einmal zutreffen. Empirisch gibt es eine bunte Vielfalt von Verteilungen über die ganze Mobilitätstabelle hinweg, die sich aber, interessanterweise, oft aus nur wenigen Mobilitätsmustern zu typischen „Mobilitätsregimes“ zusammenfügen lassen. Damit die Logik der Konstitution solcher Mobilitätsregimes möglichst deutlich wird, wollen wir die beiden o.a. Mobilitätsmuster – das Muster der Statusvererbung und das der Unabhängigkeit – in einer gewissen Weise kombinieren. Das wohl einfachste Modell einer solchen Kombination der beiden „reinen“ Muster wäre, daß es einerseits eine gewisse, aber über alle Klassen hinweg konstante Statusvererbung gebe, ansonsten aber wieder die reine Zufälligkeit der Plazierung. Dazu sei angenommen, daß jeweils 50% der Familien aus einer Herkunftsklasse der Statusvererbung unterliegen, und der Rest dann der zufälligen Plazierung. Die Population der Familien wird also in einen Teil aufgeteilt, der der reinen Statusvererbung unterliegt, und in einen der Plazierung nach dem Prinzip der Unabhängigkeit, und zwar jeweils zur Hälfte. Das ist, mindestens für die westlichen Gesellschaften, kein ganz unrealistischer Fall, denn auch in den „modernsten“ Gesellschaften gibt es, neben aller Offenheit und „Mobilität“, ohne Zweifel einen weiterhin gehörigen Anteil an Statusvererbung, wie wir ja in Tabelle 4.3 schon gesehen haben. Wieder wollen wir auch die beiden Fälle der gesellschaftlichen Stabilität und des gesellschaftlichen Wandels gesondert betrachten. Unter der Bedingung der Stabilität der Ungleichheitsstrukturen ergäben sich die folgenden beiden Mobilitätstabellen für jeweils die beiden „Hälften“ der betrachteten Population (Tabelle 4.7):
189
Soziale Ungleichheit
Tabelle 4.7: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlicher Stabilität
a. Statusvererbung
b. Unabhängigkeit
Plazierung
Plazierung
soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
50 0 0
0 100 0
0 0 150
50 100 150
8 17 25
17 33 50
25 50 75
50 100 150
alle
50
100
150
300
50
100
150
300
Die Überlagerung der beiden Muster in eine Mobilitätstabelle ergibt dann durch die simple Addition der Werte in den jeweiligen Zellen die folgende Verteilung (Tabelle 4.8): Tabelle 4.8: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit gemischte Mobilitätsregime bei gesellschaftlicher Stabilität
Soziale Bestimmung soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
58 17 25
17 133 50
25 50 225
100 200 300
alle
100
200
300
600
Diese Verteilung entspricht in ihren Grundstrukturen schon sehr viel eher derjenigen aus Tabelle 4.3, die ja aus dem wirklichen Leben gegriffen war. Aber es fallen auch noch einige Unterschiede dazu auf: Die Aufstiege und die Abstiege sind genau symmetrisch, und die oberen Klassen und die Bauern haben, wenn man die Zufallsplazierungen berücksichtigt, die gleiche Rate der Selbstrekrutierung wie die mittlere Klasse. Das alles könnte aber auch daran liegen, daß wir eine statische Gesellschaft angenommen haben und, etwa, nicht in Rechnung gestellt ist, daß in Wirk-
190
Die Konstruktion der Gesellschaft
lichkeit der Sektor der Landwirtschaft geschrumpft ist und der Anteil der Positionen in der oberen Klasse zugenommen hat. Für die Verhältnisse unter Bedingungen des sozialen Wandels ergeben sich in analoger Weise die folgenden getrennten Verteilungen für die beiden Mobilitätsmuster der Statusvererbung und der Unabhängigkeit, wobei, wohlgemerkt, es zwar die Annahme der Statusvererbung zu 50% bezogen auf die Herkunftsklasse gibt, gleichzeitig aber, ganz analog zu Tabelle 4.6, auch einen strukturell erzwungenen Wechsel von 50 Personen aus der unteren zu der oberen Klasse, und dieser strukturell erzwungene Wechsel ist dann natürlich weder Statusvererbung noch Zufall (vgl. Tabelle 4.9). Tabelle 4.9: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlichem Wandel
a. Statusvererbung
b. Unabhängigkeit
Plazierung
Plazierung
soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
50 0 50
0 100 0
0 0 100
50 100 150
17 33 50
17 33 50
17 33 75
50 100 150
alle
100
100
100
300
100
100
100
300
Und daraus ergibt sich wieder die folgende kombinierte Verteilung (Tabelle 4.10):
191
Soziale Ungleichheit
Tabelle 4.10: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit „gemischte“ Mobilitätsregime bei gesellschaftlichem Wandel
Soziale Bestimmung soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
67 33 100
17 133 50
17 33 150
100 200 300
alle
200
200
200
600
Nun sind die Auf- und die Abstiege nicht mehr symmetrisch, aber die starke Besetzung der Kombination C3,C1 fällt schon aus dem Rahmen. Man könnte diesen Fall aber auch anders modellieren, etwa so, daß man nur die „reine“ Statusvererbung der Herkunftsklasse (zu 50%) nimmt und die strukturell erzwungenen Aufstiege in die obere Klasse allesamt dem Zufall überläßt und damit also auch Aufstiege aus der mittleren Klasse zuläßt. Das ergibt die Zahlen in Tabelle 4.11: Tabelle 4.11: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlichem Wandel ohne „systematischen“ Aufstieg von der unteren in die obere Klasse
a. Statusvererbung
b. Unabhängigkeit
Plazierung
Plazierung
soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1
C2
C1 C2 C3
50 0 0
0 100 0
0 0 150
50 100 150
25 50 75
alle
50
100
150
300
150
17 33 50
C3 8 17 25
alle 50 100 150
100
50
300
192
Die Konstruktion der Gesellschaft
Nun sind die Randverteilungen für die Plazierungen der Söhne bei Statusvererbung und Unabhängigkeit natürlich nicht mehr gleich, wie in Tabelle 4.10. Und das ergibt zusammen: Tabelle 4.12: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit „gemischte“ Mobilitätsregime bei gesellschaftlichem Wandel ohne „systematischen“ Aufstieg von der unteren in die obere Klasse
Soziale Bestimmung soziale Herkunft
C1
C2
C3
alle
C1 C2 C3
75 50 75
17 133 50
8 17 175
100 200 300
alle
200
200
200
600
So entsprechen die Besetzungen der Felder noch einmal etwas mehr den empirischen Mustern aus Tabelle 4.3. Und man könnte fast denken, daß die empirischen Zahlen in der Tabelle 4.3 tatsächlich schon weitgehend über das angenommene Mobilitätsregime einer Mischung von 50% Statusvererbung und 50% Unabhängigkeit (für alle Klassen gleichermaßen) erklärbar wären. Nur die immer noch relativ zahlreichen Aufstiege aus den unteren Klassen gleich in die obere stören noch etwas, und auch, daß es bei den mittleren Klassen die gleich hohe Statusvererbung geben soll wie bei den oberen und den unteren. Und es sei auch nicht vergessen, daß der strukturelle Wandel in unserer fiktiven Gesellschaft schon enorm war, deutlich größer jedenfalls als in der Tabelle 4.3 für die USA im Jahre 1973, und eine Aufwärtsmobilität erzeugt hat, die es empirisch kaum gibt. Die unter den angenommenen Bedingungen theoretisch erwarteten Ziffern könnte man natürlich wiederum mit den „wirklichen“ empirischen Zahlen in Beziehung setzen und – ganz analog wie mit der Kontingenztabelle als Referenzmodell – über die Berechnung der χ2-Werte in ihrem „Fit“ mit den empirischen Besetzungen testen. Die sog. log-lineare Analyse ist das statistische Instrument zur Modellierung bestimmter Hypothesen über Mobilitätsmuster und Mobilitätsregimes und zum Test dieser Annahmen über empirische Daten (siehe dazu gleich unten mehr zur formalen Modellierung der Mobilität).
Das alles wollen wir hier nicht mehr weiter verfolgen, weil es erst einmal auf das Verständnis des Vorgehens ankam: Es werden – in zunächst möglichst
Soziale Ungleichheit
193
einfacher und abstrakter Weise – bestimmte typische Mobilitätsmuster angenommen, die sich u.U. zu typischen Mobilitätsregimes überlagern und somit ein bei gegebenen Randverteilungen theoretisch zu erwartendes Mobilitätsmuster ergeben, das dann mit den empirischen Verhältnissen verglichen werden kann. „Paßt“ das theoretische Modell mit den empirischen Daten, dann kann man das als einen Hinweis werten, daß das erkennbare Muster durch das angenommene Mobiltitätsregimne erzeugt wurde. Hier war das eine Mischung von Statusvererbung und Unabängigkeit, und zwar zu gleichen Teilen. Paßt das Modell dagegen nur schlecht, dann müssen weitere Annahmen gemacht werden, etwa die, daß die Statusvererbung nicht überall gleich ist, sondern – zum Beispiel – bei den Bauern und den oberen Schichten höher als bei den mittleren Schichten. Theoretische Begründungen
Es versteht sich von selbst, daß solche Änderungen in den Annahmen nicht nur ad hoc eingeführt und auch nicht bloß den empirischen Daten zum Zwecke des besseren Fit des Modells angepaßt werden dürfen: Es muß dafür möglichst zwingende theoretische Gründe geben und dann möglichst auch solche, die etwas mit der „Logik“ der speziellen Situation zu tun haben, denen die Akteure in den diversen sozialen Klassen unterliegen. Eine derartige theoretische Begründung haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe in ihrem Buch über den „Constant Flux“ bei der sozialen Ungleichheit in den westlichen Industriegesellschaften gegeben. Der Hintergrund ist die Annahme, daß es in den Industriegesellschaften letztlich nur ein einheitliches Mobilitätsregime gebe, und daß alle beobachtbaren Unterschiede in der Mobilität zwischen den Berufsgruppen und Klassen, etwa zwischen Schweden, England oder Ungarn, über Unterschiede in den sektoralen Verteilungen und auf den (noch) unterschiedlichen „Entwicklungsstand“ der betreffenden Länder erklärt werden können. Das Mobilitätsregime der Industriegesellschaften sehe dann im Groben etwa so aus:32 Es gebe erstens Hierarchieeffekte im Sinne eines Soges von den unteren Klassen zu den attraktiveren oberen; zweitens gewisse, aber nach den Klassen unterschiedliche Effekte der Statusvererbung, die sich vor allem durch die Verwiesenheit auf spezifische Kapitalien in den jeweiligen Klassen zurückführen lassen; drittens Effekte der Sektorabgrenzung vor allem derart, daß es 32
Vgl. Robert Erikson und John H. Goldthorpe, Commonality and Variation in Social Fluidity in Industrial Nations. Part I: A Model for Evaluating the ‚FJH Hypothesis‘, in: European Sociological Review, 3, 1987, S. 65ff.; siehe auch Erikson und Goldthorpe 1992, Kapitel 4, S. 114-140.
194
Die Konstruktion der Gesellschaft
zwischen der Landwirtschaft und allen anderen Sektoren deutliche Barrieren gebe, die sich aus den besonderen, auch durchaus „vormodernen“ Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft ergäben; und schließlich existierten bestimmte Affinitäten (oder auch Disaffinitäten) zwischen „benachbarten“ Sektoren und Klassen, wie etwa zwischen der Dienstleistungsklasse und den nonmanual-Routinebeschäftigten, die einen Wechsel zwischen den Klassen relativ erleichtern (oder erschweren), je nachdem, ob die Tätigkeiten und Lebensweisen gewisse „Wahlverwandtschaften“ aufweisen oder nicht.
Eine noch etwas stärker abstrahierende und schon deutlich erkennbar an eine WE-Erklärung heranreichende Begründung für diese Annahmen geben die Autoren auch. Sie fassen sie in drei Punkten zusammen. Die Mobilität folge „(i) the relative desirability of different class positions, considered as destinations; (ii) the relative advantages afforded to individuals by different class origins – in the form of economic, cultural and social resources; and (iii) the relative barriers that face individuals in gaining access to different class positions – which may be thought of in terms of requirements corresponding to the resources indicated under (ii): for example, requirements for capital, qualifications, ‚knowing people‘etc.“ (Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist, leicht erkennbar, wieder ein Entscheidungsmodell mit Nutzen- und Kostenerwartungen für ein gewisses eigeninteressiertes und situationsorientiertes Tun von Akteuren – und zwar auf den beiden Seiten, die über die Mobilität bestimmen: die „Nachfrager“ nach Personen für gewisse Positionen und die „Anbieter“ in Gestalt von Bewerbern auf diese Positionen (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 in diesem Band über „Inklusion und Exklusion“). Die Nachfrager in den verschiedenen Sektoren achten, aufgrund der für sie in dem jeweiligen Funktionssystem wichtigen sozialen Produktionsfunktion, auf die Eignung der Bewerber und besetzen die Stellen im Durchschnitt selektiv mit Bewerbern aus bestimmten Herkunftsklassen, weil die sich zwar vielleicht aus allen Klassen „anbieten“, sich aber nicht alle als geeignet erweisen, etwa aufgrund der nach den Klassen unterschiedlich häufigen Bildungsabschlüsse. Und schon die Bewerbungen fallen nach den Herkunftsklassen selektiv aus, weil sich die Bewerber bereits in ihren Mobilitätsbemühungen unterscheiden und in den jeweils vorgefundenen Möglichkeiten, die jeweils wichtigen Qualifikationen auch nur anzustreben, geschweige denn zu erwerben (vgl. dazu auch noch gleich anschließend Abschnitt 4.5.2 über das Problem der Statuszuweisung, sowie Abschnitt 7.1 in diesem Band mit einem Beispiel für die Reproduktion der sozialen Ungleichheit auch bei Öffnung des Bildungssystems).
Die Existenz eines bestimmten Mobilitätsregimes wird also mit einer speziellen „Situationslogik“ begründet, der die Akteure in den verschiedenen Sektoren und Klassen unterliegen – als „Nachfrager“ nach Personen für die Besetzung von Positionen einerseits und als „Anbieter“ ihrer Person für die Besetzung von Positionen andererseits. Es ist eine Art von Marktmodell mit gewissen über die sozialen Klassen und Sektoren unterschiedlichen Segmentierungen von Beharrungen, Barrieren und Affinitäten und dem allgemeinen Grundzug des menschlichen Handelns, daß, wenn es denn die Möglichkeiten gibt
Soziale Ungleichheit
195
und die Kosten nicht zu hoch sind, die attraktiveren Positionen angestrebt und die besseren Bewerber bevorzugt werden. Die formale Modellierung der Mobilität
Die theoretischen Begründungen für gewisse Prozesse und Bedingungen müssen dann freilich wieder in ein statistisches Modell übersetzt werden, mit dessen Hilfe man die Haltbarkeit der Annahmen an empirischen Daten überprüfen kann. Eine wichtige Form einer solchen statistischen Modellierung von Mobilitätsregimes ist die sog. log-lineare Analyse.33 Die Grundüberlegung bei solchen Modellen ist, daß sich die theoretisch zu erwartende Häufigkeit in einer (Mobilitäts-)Tabelle aus unterschiedlichen inhaltlichen „Effekten“ ergibt, aus typischen Mobilitätsmustern oder gar ganzen Mobilitätsregimes also, die sich als theoretische Modelle formalisieren und in ein statistisches Modell, etwa eines der log-linearen Analyse, übersetzen lassen. Die allgemeine Basisgleichung der log-linearen Modellierung für die geschätzten Häufigkeiten E(Fij) in der Besetzung einer beliebigen Zelle ij aus einer zweidimensionalen (Mobilitäts-)Tabelle lautet: E(Fij) = ϑ⋅τi⋅τj⋅τij. Die erwarteten Häufigkeiten werden also als Produkt einer Reihe von Parametern berechnet: ϑ,τi,τj und τij (siehe dazu gleich unten mehr). Deshalb wird das Modell auch als multiplikatives Modell bezeichnet. Es ist, sozusagen, die Erweiterung der Berechnung einer „Kontingenztabelle“ für einen χ2-Test, nun aber nicht nur für die Annahme der Unabhängigkeit, sondern für alle theoretisch denkbaren Konstellationen von Mobilitätsmustern und Mobilitätsregimes. Durch die Logarithmierung der Ausdrücke läßt sich die multiplikative Gleichung für die geschätzten Häufigkeiten in eine additive Gleichung von dann linear verknüpften Werten umformen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars und Kühnel 1998, S. 147f.). Der (natürliche) Logarithmus von E(Fij), der Ausdruck ln(E(Fij)) also, heiße E(Gij), und dafür gilt dann im „vollen“ Modell, in dem alle Parameter empirisch geschätzt werden: E(Gij) = ln(E(Fij)) = ln(ϑ)+ln(τi)+ln(τj)+ln(τij).
33
Vgl. zur formalen Modellierung von Prozessen der Mobilität allgemein Michael Hout, Mobility Tables, Beverly Hills, London und New Delhi 1983. Siehe zur Einführung in die Technik der log-linearen Analyse u.a. Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagenaars und Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Modelle, latente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997, Kapitel 3: Log-lineare Analyse kategorialer Daten, S. 137-207.
196
Die Konstruktion der Gesellschaft
Damit wird das Modell vergleichbar zu der bekannten linearen Regression, obwohl die Logik und die Art der Schätzung eine ganz andere sind. Daher auch die Bezeichnung „log-lineare“Modelle.
Die verschiedenen theoretischen Annahmen über gewisse Muster der Mobilität oder bestimmte Mobilitätsregime lassen sich nun als spezielle Spezifikationen dieser allgemeinen Basisgleichung modellieren. Das einfachste Basismodell ist dann noch „weniger“ als das der o.a. Unabhängigkeit. Es ist die Annahme, daß alle Zellen die gleiche Häufigkeit aufweisen und daß somit in jeder Zelle nur der Durchschnitt der Gesamtpopulation bezogen auf die m⋅n Zellen der (Mobilitäts-)Tabelle steht. Bei den Zahlen der Tabelle 4.5 wäre das die Häufigkeit 600/9=66.7. Die Gleichung bestünde dann nur aus der „Konstanten“ ϑ. Also in der nicht-logarithmierten Form der Gleichung: E(Xij) = ϑ. Inhaltlich besagt das, daß es noch nicht einmal „strukturelle“ Effekte der Randverteilungen auf die Mobilität gibt. Diese Annahme könnte man dann, ganz analog zum χ2-Test, an den Daten überprüfen. In unserem Fall wäre dieses Modell, wie so gut wie immer, ganz sicher falsch. Der nächste Schritt wäre die Einfügung der strukturellen Begrenzungen über die Berücksichtigung der Randverteilungen. Das geht über die Schätzung der Effekte τi für die Zeilenverteilungen und τj für die Spaltenverteilungen. Die, wiederum nichtlogarithmierte, multiplikative Gleichung dafür würde dann so lauten: E(Xij) = ϑ⋅τi⋅τj. Das aber ist genau das Modell der Unabhängigkeit: Die Mobilität folgt, auf der Grundlage der Konstanten ϑ ausschließlich den strukturellen Bedingungen und ist ansonsten eine „zufällige“ Angelegenheit. Auch dieses Modell ist empirisch meist unzutreffend, vor allem weil es in der Tat auch in den offensten Gesellschaften nicht unbeträchtliche Anteile von „überzufälliger“ Statusvererbung und sektoralen Barrieren gibt. Solche Effekte der „Abhängigkeit“ der Mobilität von der jeweiligen Klassenlage werden über die Einbeziehung auch des dritten Effektes modelliert, über den τij-Effekt also, sozusagen angehängt an die beiden anderen Effekte. Er beschreibt die statistische „Interaktion“ von Herkunfts- und Bestimmungsklasse und bezieht damit die Statusvererbung mit ein. Also: E(Fij) = ϑ⋅τi⋅τj⋅τij. Das ist, wie man sieht, für eine 2⋅2-Tabelle das oben schon beschriebene „volle“ multiplikative Modell mit einer Konstanten, den beiden Randverteilungseffekten und dem Interaktionsterm. Mehr ist hier nicht möglich.
Soziale Ungleichheit
197
Wichtig ist noch, daß die verschiedenen Effekte bei Tabellen, die größer sind als eine 2⋅2Tabelle, wiederum variieren können. Man kann sich das leicht veranschaulichen: Die 3⋅3Tabelle, etwa aus Tabelle 4.5, läßt sich ja in vier 2⋅2-Untertabellen zerlegen, in so viele nämlich, wie die Tabelle Freiheitsgrade hat, hier also (3-1)(3-1)=4. Und für jede dieser Untertabellen ließe sich dann wieder eine Modellierung und Schätzung vornehmen. Leicht werden dann wieder Variationen vorstellbar, wie etwa die, daß die Parameter in den Untermodellen alle gleich sind oder sich in bestimmter Weise unterscheiden. Auf diese Weise lassen sich folglich ganz spezifische Mobilitätsregimes statistisch modellieren, und zwar über Annahmen bei den diversen Interaktionseffekten, die in größeren Tabellen als 2⋅2 stets möglich sind (siehe dazu gleich unten mehr).
Die Modellierung solcher speziellen Effekte für größere Tabellen geht über die Erstellung von sog. Designmatrizen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars und Kühnel 1997, S. 167ff.). Wir wollen an dieser Stelle darauf nicht weiter eingehen und auch nicht auf die statistischen Einzelheiten, etwa die der Schätzung der Koeffizienten, der „Anpassung“ und des Vergleichs der Modelle, weil dazu der Platz hier nun wirklich nicht reicht und die Grundlogik des Vorgehens auch so zu verstehen ist. Aber es sei noch soviel gesagt: Das „volle“ Modell mit der Schätzung auch aller denkbarer Interaktionseffekte „muß“ mit den empirischen Daten übereinstimmen, weil es soviele Parameter bestimmt, wie Daten vorhanden sind und deshalb nichts schief gehen kann. Das Modell ist dann, wie man auch sagt, „saturiert“. Es „paßt“ immer. Das ist aber auch das Problem: Es ist nur eine Beschreibung des Geschehens und kein Test gewisser riskanter theoretischer Annahmen mehr. Es ist, wie man sieht, wieder ein Fall des Problems der abnehmenden Abstraktion: Je einfacher das Modell, um so informationshaltiger ist es, daher aber auch um so riskanter, und jede „Anpassung“ an die stets bunte Wirklichkeit wird mit einem Verlust an Informationsgehalt erkauft. Die Modellierung von Mobilitätsregimes
Über die geschilderte Logik lassen sich nun leicht spezifische Hypothesen über gewisse Mobilitätsregimes formal und statistisch modellieren und dann auch empirisch testen – wenn sie nicht gleich „saturiert“ sind. In unserem fiktiven Beispiel oben waren wir für eine 3⋅3-Tabelle zunächst von der „reinen“ Unabhängigkeit ausgegangen. In diesem Modell werden also nur strukturelle Effekte angenommen: Alle Zellen sind nach dem gleichen Prinzip besetzt, nämlich der statistischen Zufälligkeit im Rahmen der Randverteilungen, und es gibt für alle Zellen die gleiche Parametrisierung in der Schätzung der Häufigkeiten, nämlich E(Xij) = ϑ⋅τi⋅τj. Diese Annahme ließe sich dadurch veranschaulichen, daß man in die Zellen der betreffenden Tabelle überall die gleiche Kennziffer hineinschreibt, etwa eine 1, die anzeigen soll, daß unter allen
198
Die Konstruktion der Gesellschaft
Umständen nur dieses eine Mobilitätsmuster gelten soll (vgl. dazu Abbildung 4.14a).34
a. Unabhängigkeit
c. „Corner“-Effekte
1
1
1
1
3
3
1
1
1
3
2
3
1
1
1
3
3
1
b. einheitliche Statusvererbung
d. quasi-perfekte Mobilität
1
2
2
2
4
4
2
1
2
4
3
4
2
2
1
4
4
1
Abb. 4.14: Die Parametrisierung verschiedener Modelle von Mobilitätsregimes
In einem zweiten Schritt hatten wir dann auch Effekte der Statusvererbung hinzugefügt. Nun gibt es also auch einen Interaktionseffekt. Weil es eine 3⋅3Tabelle ist, kann dieser Interaktionseffekt in den vier möglichen 2⋅2Untertabellen variieren. Die nun wiederum einfachste – und daher informationshaltigste – Annahme ist die, daß es bei allen Gruppen die gleiche Statusvererbung gebe. Es gilt also E(Xij) = ϑ⋅τi⋅τj⋅τij mit τij = τji für alle Untergruppen. Dieses Modell könnte man das Modell der einheitlichen Statusvererbung nennen. Es steht in Abbildung 4.14b. Es gibt jetzt also zwei Mobilitätsmuster, die sich zu einem schon etwas komplexeren Mobilitätsregime kombinieren. Aber das sind auch noch relativ einfache Verhältnisse. Gründe für die Statusvererbung sind leicht vorstellbar und sie sind letztlich in den theoretischen Überlegungen von Erikson und Goldthorpe schon benannt. Die Klassen haben zunächst – fast: logo – eine hohe Affinität „für sich“. Die oberen Klassen können außerdem, vor allem auch mit ihrem besonderen sozialen und kulturellen Kapital, relativ leicht dafür sorgen, daß der eigene Abstieg und das Eindringen von Aufsteigern vermieden wird. Und den unteren Klassen fehlen viele Möglichkeiten zur Investition in einen Aufstieg, sie resignieren daher, 34
Wir folgen dabei der Darstellung bei David B. Grusky und Robert M. Hauser, Comparative Social Mobility Revisited: Models of Convergence and Divergence in 16 Countries, in: American Sociological Review, 49, 1984, S. 23ff.
Soziale Ungleichheit
199
etwa bei den Bildungsanstrengungen, relativ rasch und müssen auch stets die weiteren Distanzen auf dem Weg nach ganz oben zurücklegen. Das ist etwas anders für die mittleren Klassen: Hier sind die Distanzen nach oben und unten gleich weit, und es wird weder besonders viel an spezifischem Aufstiegs-Kapital kontrolliert, noch gibt es besondere, klassenbedingte Hemmnisse zur Mobilität.
Daher liegt in einem nächsten Schritt ein drittes Modell nahe: Die Statusvererbung ist über die drei Klassen nicht mehr gleich, sondern es gibt „Corner“Effekte derart, daß sich die oberen und die unteren Klassen stärker reproduzieren als die mittleren, daß sie darin dann aber wieder gleich sind. Daraus ergibt sich das Modell in Abbildung 4.14c. Es wird als Corner-Modell bezeichnet und besagt, daß es zwar überall Statusvererbungen gibt, daß die aber in den mittleren Klassen deutlich geringer sind als ganz oben und ganz unten. Eine ganz besondere Situation besteht für die Landwirte, worauf Erikson und Goldthorpe ausdrücklich hinweisen und wie wir schon in den Daten der Tabelle von Featherman und Hauser gleich zu Beginn dieses Abschnitts gesehen haben. Sie sind besonders immobil, und die Positionen in dieser Gruppe wenig attraktiv. Das liegt einerseits natürlich am geringen Status dieser Gruppe und an der doch immer noch recht unangenehmen Art der Arbeit, andererseits aber auch daran, daß die besonderen Reproduktionsbedingungen bei der Landwirtschaft ja tatsächlich und sogar in einem wörtlichen Sinne an die „Immobilien“ des Landbesitzes gebunden sind. Es wäre daher sinnvoll, wenngleich wieder ein weiteres Stückchen hinein in eine nicht mehr so gehaltvolle abnehmende Abstraktion der Modellierung, zwischen den beiden „Ecken“ ganz oben und ganz unten einen weiteren Unterschied in den Interaktionseffekten vorzusehen, so daß es jetzt für alle drei Klassen jeweils ein eigenes Muster der Statusvererbung gibt. Sie wäre dann am stärksten bei den Landwirten, am geringsten bei den mittleren Klassen, und dazwischen liegen im Grad der Statusvererbung die oberen Klassen.
Das ergibt die Parametrisierung für das Modell d in Abbildung 4.14. Das betreffende Modell wird auch als quasi-perfekte Mobilität bezeichnet (vgl. dazu und zu weiteren Modellen Hout 1983, S. 19ff.; Grusky und Hauser 1984, S. 23). Ein inhaltliches Beispiel: Die Erklärung des Mobilitätsregimes der westlichen Industriegesellschaften
Auf diese Weise haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe ihre theoretischen Überlegungen des Zusammenspiels von Hierarchieeffekten, Statusvererbung, Sektoreneffekten und (Dis-)Affinitäten auf die Erklärung der Unterschiede in den Mobilitätsmustern einiger wichtiger westlicher Industriegesellschaften und ihr doch schon recht komplexes 7-er Klassenschema angewandt (vgl. Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64ff.; Erikson und Goldthorpe 1992, S. 121ff.).
200
Die Konstruktion der Gesellschaft
Gegenüber dem einfachen Unabhängigkeitsmodell ergaben sich mit dem Modell für die einzelnen betrachteten Länder (England, Frankreich, West-Deutschland, Ungarn, Irland, NordIrland, Polen, Schottland und Schweden) Verminderungen des Misfits zwischen theoretisch vorhergesagten und empirischen Werten zwischen 98 und 99% (!) und „Fehlern“ in der Vorhersage der empirischen Besetzungen über das theoretische Modell nicht größer als 2% (wieder: !). Verschwiegen sollte aber auch nicht werden, daß schon ein wesentlich einfacheres Modell, nämlich eines, das nur Randverteilungs- und konstante Interaktionseffekte enthielt, gegenüber dem Modell der Unabhängigkeit zu einer Reduktion von fast 95% im Misfit führte und Fehlklassifikationen nicht größer als 6% aufwies. Das war eigentlich auch schon etwas.
Erikson und Goldthorpe werteten ihr Ergebnis als eine Bestätigung der sog. FJH-Hypothese, wonach das Mobilitätsregime in allen westlichen Industriegesellschaften letztlich das gleiche wäre. Die Bezeichnung „FJH“-Hypothese stammt von einem Aufsatz von David L. Featherman, F. Lancaster Jones und Robert M. Hauser, die diese These 1975 aufgestellt bzw. bekräftigt hatten.35 Sie war von Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg in einem von Lipset und Reinhard Bendix 1959 herausgegebenen Buch über die soziale Mobilität in den westlichen Industriegesellschaften als Leitlinie für die dann folgenden Untersuchungen so formuliert worden: „ ... it will be useful to start at the outset, that the overall pattern of social mobility appears to be much the same in the industrial societies of various Western countries.“36
Alle Unterschiede, so nun Erikson und Goldthorpe, zwischen den Ländern seien lediglich Kompositionseffekte der unterschiedlichen Branchenentwicklungen in den verschiedenen Ländern einerseits und der ansonsten in allen Ländern gleichermaßen zutreffenden Besonderheiten in der Reproduktion der jeweiligen Klassen andererseits, statistisch modelliert jeweils über typische Interaktionseffekte. Theoretisch begründet wurde diese Modellierung über die oben geschilderten Annahmen von der Hierarchie der Klassen, der Statusvererbung, den Sektorenbesonderheiten und den (Dis-)Affinitäten. Und das Ganze war dann eingebettet in eine Erklärung des Geschehens als Zusammenspiel des Handelns von Akteuren, die versuchen, aus ihrer Situation das in den vorgefundenen Begrenzungen und Möglichkeiten jeweils Beste zu machen.
35
David L. Featherman, F. Lancaster Jones und Robert M. Hauser, Assumptions of Social Mobility Research in the United States: The Case of Occupational Status, in: Social Science Research, 4, 1975, S. 329-360.
36
Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg, Social Mobility in Industrial Societies, in: Lipset und Bendix 1959, S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original. Vgl. dazu aber auch schon Sorokin 1959, Kapitel XVII: Vertical Mobility within Western Societies, S. 414ff.
Soziale Ungleichheit
201
Wenn man die Mobilitätsmuster für die verschiedenen Klassen richtig spezifiziere und statistisch angemessen modelliere, dann dürfte es besondere nationale „Kontexteffekte“ oder besondere unerklärte Reste an Interaktionseffekten nicht mehr geben. Das kam dann ja auch heraus. Das Ergebnis ist ganz erheblich mehr als die bloße Feststellung einer makrosozialen Regelmäßigkeit, eine bloß induktive Verallgemeinerung oder eine makrosoziologische Generalisierung von Ähnlichkeiten. Weil Erikson und Goldthorpe diese Modellierungen vor dem Hintergrund einer – überzeugenden – situationslogischen Erklärung der statistischen Modellierung vorgenommen haben, haben sie die Zusammenhänge und Effekte – und die „Ausnahmen“(!) – nicht nur statistisch, sondern auch theoretisch „erklärt“, und wir „verstehen“ jetzt auch ganz „sinnhaft“, warum es dieses „Gesetz“ des einheitlichen Mobilitätsregimes der westlichen Industriegesellschaften gibt und warum es sich scheinbar(!) nicht überall zeigt. Es ist ein wirklicher Musterfall für eine soziologische (Tiefen)Erklärung und deren empirische Überprüfung über die Anwendung der dazu geeigneten statistischen Instrumente. Man könnte neidisch werden oder vor Bewunderung niedersinken. Erikson und Goldthorpe haben das Letztere verdient. 4.5.2 Statuszuweisung
In der „Süddeutschen“ fand sich in der Ausgabe vom 6. November 1999 auf der Seite 2 ein Bericht der Journalistin Jeanne Rubner über einen gewissen Gregor Markl, der kurz zuvor auf eine Hochschullehrerstelle für Gesteinskunde an die Universität Tübingen berufen worden war. Die Außergewöhnlichkeit der Sache bestand in dem Alter des Herrn Professors: 28 Jahre. Das ist, zumal für deutsche Verhältnisse, sensationell gering. Und daher war der junge Herr Professor auch ganz mächtig stolz und erzählte bereitwillig über die Stadien seiner atemberaubenden Karriere. Nur auf eines war er, wie Jeanne Rubner auch noch zu vermelden wußte, nicht gut zu sprechen: auf seine soziale Herkunft. Unangenehm war ihm dabei wohl weniger, daß seine Mutter Studienrätin für Biologie und Chemie war. Das geht inzwischen nicht wenigen, die oben stehen, auch so ähnlich. Wohl aber war ihm offenbar besonders peinlich, wenn die Sprache auf seinen Vater, Prof. Dr. Dr. Hubert Markl, kam. Der war ehemals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und danach (und 1999 immer noch) der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der wohl bedeutendsten, reichsten und auch, von ihrem Gehabe her wenigstens, elitärsten außeruniversitären Forschungseinrichtung hierzulande, in der selbst die
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Die Konstruktion der Gesellschaft
mittelmäßigsten Direktoren, die es auch dort ohne Zweifel gibt, noch dicke Dienstwagen fahren. Vater Markl war damit einer der wichtigsten und mächtigsten Männer in der wissenschaftspolitischen Landschaft in Deutschland, und sein Einfluß reichte dabei sicher bis weit in die Universitäten hinein. Jeanne Rubner schreibt dazu: „Nun dürfte man bei Markls am Mittagstisch mehr über Forschungspolitik und Mineralogie geredet haben als über Fußball; der erfahrene Vater hat dem Sohn sicher manch guten Ratschlag in Sachen Karriere geben können. Protektion weist Markl junior aber weit von sich. Spaß an der Arbeit und die Förderung durch einen unbürokratischen Doktorvater sind für ihn die Geheimnisse seines Erfolgs.“
Und daß das so war, kann man ihm sicher auch glauben. Die Status-attainment-Forschung
Die individuellen Umstände und Bedingungen des sozialen Auf- oder Abstiegs und der Vererbung eines Status, etwa auch die eines Professorentitels durch ein bildungsnahes Klima in der Familie oder das durch einen prominenten Namen angeregte vorauseilende Wohlwollen einer Berufungskommission, sieht man in den Mobilitätstabellen nicht. In der sog. Status-attainmentForschung geht es darum, genau das herauszufinden:37 Wer steigt unter welchen Umständen warum auf oder ab? Bei diesen Untersuchungen stand stets auch die Frage im Hintergrund, ob sich in den Umständen, die die Statuszuweisung der Akteure bestimmen, auch solche Bedingungen befinden, die mit der „Offenheit“ von Gesellschaften weniger zu vereinbaren sind, also etwa familiär vermittelte Vorteile oder Nachteile, auch schon für den wohl wichtigsten Zwischenschritt für den Statuserwerb im Berufsleben – die Bildung. In offenen Gesellschaften sollte es ja ein hohes Ausmaß an horizontaler und vertikaler individueller Mobilität innerhalb und zwischen den Generationen geben, ganz einfach, weil hier nicht mehr die Geburt und die Familie, sondern nur noch die Leistung zählen sollten, ganz so wie bei Bayern München, wo ja auch ein Methusalem namens Lothar Matthäus die Position des Libero solange besetzen konnte, wie der die „Leistung“ dazu brachte. Und Statusvererbungen und der Bonus eines besonderen Elternhauses hätten darin daher eigentlich keinen legitimen Platz. 37
Vgl. dazu die Übersicht über die verschiedenen Stadien der Status-attainment-Forschung bei Harry B. G. Ganzeboom, Donald J. Treiman und Wout C. Ultee, Comparative Intergenerational Stratification Research: Three Generations and Beyond, in: Annual Review of Sociology, 17, 1991, S. 277-302. Siehe auch die knappe Übersicht bei Kerbo 1996, S. 349ff.
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Berechnung dieser Koeffizienten.39 Pfadkoeffizienten sind im Prinzip nichts anderes als die standardisierten partiellen Regressionskoeffizienten der jeweils betrachteten abhängigen auf die jeweilige unabhängige Variable, die die Pfeile direkt miteinander verbinden. Sie beziffern daher den direkten kausalen Einfluß der jeweiligen unabhängigen Variablen auf die abhängige, weil die anderen Einflüsse ja statistisch kontrolliert werden. Ein solcher direkter Effekt liegt in dem Diagramm etwa in der Beziehung zwischen dem Beruf des Vaters zur Bildung des Befragten mit einem Wert von 0.28 vor. Nicht vorkommende Pfeile zeigen an, daß es an dieser Stelle keinen direkten kausalen Effekt gibt. Indirekte kausale Beziehungen lassen sich dann als Produkt der Kette von Pfadkoeffizienten berechnen, die zwischen den beiden betrachteten Variablen vermitteln, etwa die indirekte kausale Beziehung zwischen dem Beruf des Vaters und dem späteren Beruf des Befragten mit den Werten 0.22⋅0.28=0.06. Der gesamte kausale Effekt wäre dann die Summe aller direkten und indirekten kausalen Effekte, hier also etwa zwischen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten der direkte kausale Effekt 0.44 plus dem indirekten Effekt in Höhe von 0.28⋅0.44=0.12. Das macht als totalen kausalen Effekt einen Wert von 0.44+0.12=0.66. Außerdem gibt es unter Umständen noch „korrelierte“ Effekte zwischen den Variablen. Das sind alle weiteren, nicht direkt oder indirekt kausalen Beziehungen, solche also, die irgendwie noch über Korrelationen ohne ausdrückliche Kausalrichtung verlaufen. Das wäre, wieder in dem Beispiel der Beziehung zwischen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten, die Korrelation zwischen dem Beruf und der Bildung des Vaters mit 0.52, nun aber noch multipliziert mit dem indirekten kausalen Effekt 0.31⋅0.44=0.14, weil der korrelative „Pfad“ zwischen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten ja noch über alle diese kausalen Zwischenstationen verläuft. Die von außen kommenden Pfeile sind ein Maß für die durch die aufgeführten Variablen nicht erklärten sonstigen Einflüsse. Je geringer diese Werte sind, um so besser ist die Varianz in der jeweiligen Variable erklärt.
Man erkennt in dem Diagramm gut, wovon der zuletzt erreichte berufliche Status abhängig ist. Mit einer Stärke von 0.39 ist er direkt von der Bildung des Befragten abhängig und mit 0.28 direkt vom Status seines ersten Berufs. Der Status des ersten Berufs ist, nicht unerwartet, mit 0.44 direkt deutlich von der Bildung abhängig. Wir finden also einen starken direkten Effekt der schon etwas zurückliegenden Bildungskarriere des Befragten auf den schließlich erreichten beruflichen Status, aber auch eine durchaus merkliche indirekte Wirkung, vermittelt über den ersten Beruf (in Höhe von 0.44⋅0.28=0.12). Von sehr großer Bedeutung ist dann aber insbesondere noch der familiäre Hintergrund des Befragten, gemessen über die Bildung und den beruflichen Status des Vaters. Die Bildung des Vaters wirkt sich mit 0.31 direkt auf die Bildung des Befragten aus – und darüber dann natürlich auch indirekt (etwa mit 0.31⋅0.39=0.12) über die Bildung auf den letzten Beruf. Der Beruf des Vaters schließlich hat direkte Auswir39
Vgl. zur Pfadanalyse und deren Anwendung gerade auch im Bereich der Analyse von Prozessen der Statuszuweisung und der Reproduktion von sozialer Ungleichheit die frühen Beiträge bei Hans J. Hummell und Rolf Ziegler (Hrsg.), Korrelation und Kausalität, 3 Bände, Stuttgart 1976. Siehe zu den neueren Entwicklungen der statistischen Schätzung sog. linearer Strukturgleichungsmodelle, den Weiterentwicklungen der Pfadanalyse u.a., John C. Loehlin, Latent Variable Models. An Introduction to Factor, Path, and Strucural Analysis, 2. Aufl., Hillsdale, N.J., und London 1992; oder Kenneth A. Bollen, Structural Equations with Latent Variables, New York u.a. 1989. Für eine kurze Skizze des Vorgehens siehe Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 6. Auflage, München und Wien 1999, S. 425ff.
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direkte Auswirkungen auf alle drei Variablen der Karriere des Befragten: Mit 0.28 wirkt er direkt auf die Bildung, mit 0.22 direkt auf den ersten und mit 0.12 sogar noch direkt auf den letzten beruflichen Status.
Die relativ starken direkten Wirkungen des Elternhauses des Befragten auch auf die späteren Stadien seiner beruflichen Karriere sind sehr bemerkenswert. Eigentlich sollte man für eine offene Leistungsgesellschaft erwarten, daß sich die Einflüsse des Elternhauses, wenn überhaupt, nur auf den Erwerb erster Qualifikationen beziehen, vielleicht auch noch für die ersten Schritte ins Berufsleben wichtig sind. Aber dann sollten nur noch die „individuellen“ Verdienste zählen – und eben nicht mehr irgendwelche über das Elternhaus vererbten Vorteile oder Nachteile. Die USA sind doch nicht Indien, sollte man meinen. Aber eine solche Statusvererbung ist hier erkennbar der Fall: Wer schon im Elternhaus etwas hat, dem wird auch sehr viel später mehr gegeben.40 In den Vereinigten Staaten von Amerika! Unglaublich. Das Wisconsin-Modell: die Bedeutung von Aspirationen und Bezugsgruppen
Die Studie von Blau und Duncan beschreibt den „Pfad“ der Übernahme von Statuspositionen im Lebenslauf einzelner Personen und der Bedingungen für ihren sozialen Aufstieg – und damit die „individuellen“ Prozesse, die dem Geschehen im Innern der Mobilitätstabellen zugrundeliegen und die „strukturellen“ Verhältnisse der Verteilung von Positionen letztlich erzeugen. Sie ist für die sog. Status-attainment-Forschung richtungsweisend gewesen und hat eine ganze Forschungstradition angestoßen. Sie hat insgesamt zum Ergebnis gehabt, daß trotz allen Wirtschaftswachstums und entgegen den Erwartungen vieler Bemühungen um die Öffnung des Bildungswesens das Ausmaß der Statusvererbung in den modernen Industriegesellschaften sehr groß geblieben ist. Das nach sozialen Schichten bzw. Klassen nach wie vor unterschiedliche Bil-
40
In einer ähnlich angelegten Studie hat Walter Müller im Jahre 1975 für die Bundesrepublik Deutschland ähnliche – indirekte und auch direkte – Vererbungseffekte der Bildung und des Status des Vaters auf die berufliche Karriere der Kinder, sowie deutliche weitere direkte Einflüsse aus der Familie festgestellt, die über die Bildungs- und Statusvariablen hinaus die berufliche Karriere der Kinder bestimmen. Walter Müller, Bildung und Mobilitätsprozeß. Eine Anwendung der Pfadanalyse, in: Zeitschrift für Soziologie, 1, 1972, S. 73ff.; Walter Müller, Familie, Schule, Beruf. Analysen zur sozialen Mobilität und Statuszuweisung in der Bundesrepublik, Opladen 1975, S. 129ff. insbesondere. Vgl. auch die Übersicht über die Entwicklung und die wichtigsten Ergebnisse der Status-attainmentForschung bei Kerbo 1996, S. 350ff. oder bei Grusky 1994, S. 317-358.
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dungsverhalten scheint hier eine entscheidende Rolle zu spielen.41 Das Bildungsverhalten ist offenbar von einigen sozialen und sogar kulturellen Umständen abhängig, die in besonderem Maße mit der familiären Situation in den verschiedenen Schichten bzw. Klassen zusammenhängen. Das jedenfalls haben die Studien der sog. Wisconsin-Schule gezeigt, die, anknüpfend an Blau und Duncan, eine Reihe von derartigen Zwischenvariablen in das Modell der Statuseinnahme einfügen. Das bekannteste Modell hierfür ist das von Sewell, Haller und Ohlendorf (vgl. Abbildung 4.16).42 Das Hauptergebnis ist die mit 0.46 überragende Bedeutung der Bildungsaspirationen (x4) auf das Bildungsverhalten (x2), das seinerseits mit 0.52 eine starke direkte Wirkung auf die berufliche Plazierung (x1) hat. Von erheblicher Wichtigkeit sind ferner die Einflüsse der unmittelbaren Bezugsumgebung auf die Bildungsaspirationen, sowie, nicht zu vergessen, auch die individuellen Fähigkeiten. Die soziale Situation im Elternhaus wirkt dagegen erkennbar nur indirekt auf das Bildungsverhalten und die Statuseinnahme und dann, wenngleich nicht so stark, nur über die Bezugsumgebung (vgl. dazu auch schon Abschnitt 11.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das zentrale Ergebnis dieser Erweiterungen des Blau-DuncanModells ist die Erkenntnis gewesen, daß es bei der Statuseinnahme neben den „Leistungs“-Variablen, wie Intelligenz, schulische Leistungen und das Bildungsverhalten insgesamt, deutliche Einflüsse sozialer und kultureller Art gibt, insbesondere aus dem Bereich der Familie und der daran gebundenen alltäglichen Beziehungsnetzwerke, die einen ganz gehörigen Schuß von „Ascription“ in das Geschehen hineinbringen. Dazu gehören vor allem die Bildungsaspirationen.
41
Vgl. dazu u.a. die schon erwähnten Studien von Erikson und Goldthorpe (1992); Shavit und Blossfeld 1993, sowie verschiedene Beiträge bei Robert Erikson und Jan O. Jonsson (Hrsg.), Can Education Be Equalized? The Swedish Case in Comparative Perspective, Boulder, Col., und Oxford 1996. Siehe dazu auch das Beispiel zu den Bildungsentscheidungen in Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie auch noch Abschnitt 7.1 in diesem Band und das dort vorgestellte Modell von Raymond Boudon zur Erklärung der Stabilität der Ungleichheit auch bei Öffnung des Bildungssystems.
42
William H. Sewell, Archibald O. Haller und George W. Ohlendorf, The Educational and Early Occupational Status Attainment Process: Replication and Revision, in: American Sociological Review, 35, 1970, S. 1014-1027.
Soziale Ungleichheit
Abb. 4.16:
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Bedingungen der Statuszuweisung mit den Variablen der WisconsinSchule (nach Sewell, Haller und Ohlendorf 1970, S. 1023)
Aspirationen können als eine Art von „unbedingter“ Neigung, als ein „Wert“ also betrachtet werden, an dem die Akteure auch gegen alle Schwierigkeiten festhalten. Aspirationen „framen“ wie Werte das Denken und das Handeln so, daß über Alternativen gar nicht nachgedacht wird (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aber sie stehen nicht isoliert da, sondern sind in Gemeinschaften als Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens kollektiv verbreitet und werden über alltägliche Interaktionen immer wieder bestärkt – ansonsten zerfallen sie rasch. Sie sind ein Teil der Kultur der betreffenden Gruppierung und in das ganze System der Alltagsgestaltung und der Produktion vor allem der sozialen Wertschätzung eingebettet (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Besonders in den mittleren und oberen Schichten hat die Bildung einen solchen Eigenwert, neben ihrer Bedeutung als äußerst nützlichem distinktivem kulturellem Kapital, versteht sich, und, nicht zu vergessen, ihrem Wert für die Sicherung der ökonomischen Position, besonders in den oberen Schichten. Auch heute noch sind ein Abitur oder ein Diplom in, sagen wir, Mineralogie für ein Arbeiterkind nicht so viel wert wie, sagen wir noch einmal, für den Sohn des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft.
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Hinzu kommen ohne Zweifel gewisse „Zuschreibungen“, die auf der Seite der Akteure geschehen, die für die Plazierung auf den diversen Positionen sorgen. Das sind zunächst die Lehrer in den Schulen, dann aber auch die Arbeitgeber oder Personalchefs in den Betrieben und Behörden, die die Positionen zuweisen. Und sicher gibt es so etwas auch bei Berufungskommissionen. Im Zweifel werden sie sich – auf mehr oder weniger subtile Weise – an gewissen Merkmalen des kulturellen Kapitals der Kandidaten und Bewerber orientieren und darüber – über die ohnehin bestehenden unterschiedlichen Affinitäten des Schulsystems etwa zu den Mittel- und Oberschichten hinaus – für eine Bevorzugung der mittleren und der oberen Schichten sorgen. An dieser Stelle wird erneut deutlich, daß es sich bei den Prozessen der Statuszuweisung um eine „Transaktion“ handelt, bei der ein Angebot auf eine Nachfrage trifft. Der Statuserwerb und alle damit zusammenhängenden Prozesse der Mobilität und der dadurch erzeugten Schichtung der Bevölkerung einer Gesellschaft sind eine Angelegenheit der Entscheidungen von mehreren Akteuren und der Verfügbarkeit über gewisse Opportunitäten, etwa freie Stellen, die zu besetzen sind – oder auch nicht. Es ist eine Entscheidung über die Plazierung von Personen auf bestimmten Positionen im institutionellen Gefüge der Gesellschaft, insbesondere im System der funktionalen Sphären, etwa über die Versetzung in die 12. Klasse oder über die Zuteilung eines Studienplatzes in Medizin im Bildungssystem, die Vergabe einer Stelle als Verkäuferin bei Aldi im System der Wirtschaft, die Ernennung zum Finanzbeamten im System der staatlichen Verwaltung oder die Einweisung als Patient in ein Krankenhaus. In den üblichen Statuszuweisungsmodellen wird dagegen nur das Geschehen auf der Seite der „Anbieter“ für die Besetzung von Positionen betrachtet und – sozusagen – die Nachfrageseite als konstante oder nicht-soziale Umgebung angenommen. Der Statuserwerb ist aber, wie man leicht sehen kann, keine Sache bloß der, familiär wie auch immer begünstigten oder benachteiligten, individuellen Bemühungen, etwa des Erwerbs von Qualifikationen, die dann, sozusagen automatisch und ungefragt, zur nächsten Karrierestufe führen. Es ist auch eine Angelegenheit von Entscheidungen anderer Akteure, etwa eines Lehrers, der Noten vergibt und Versetzungen ausspricht oder auch nicht, oder eines Arbeitgebers, der Einstellungen vornimmt oder Entlassungen verfügt. Und die sind allemal nicht frei in ihren Entscheidungen und können eben nicht jeden nehmen, der sich für eine Position interessiert – nicht zuletzt, weil die Zahl der begehrten Positionen meist strukturell schon knapp und kaum vermehrbar ist. Vollständige Erklärungen der Statuszuweisung hätten natürlich beide Seiten einzubeziehen und das Geschehen in der Tat als Transaktion und als Markt von Angeboten und Nachfragen zu modellieren (siehe dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band).
Auch in den modernsten Gesellschaften spielen also „ständische“ und kulturell-spezifische Elemente eine wichtige Rolle bei der Statuszuweisung und bei den Prozessen der Mobilität – und eben nicht nur die „Leistung“ und das generalisierte Kapital, wie das etwa die Intelligenz ist. Und das geht wohl kaum anders, weil die Familie, an der so vieles hängt, von ihrer Konstruktion und Funktion her immer eine spezifische, partikulare und askriptive Angelegenheit ist, die schon früh viel an Chancen und Bestrebungen vorentscheidet, was
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dann in den „meritokratischen“ Institutionen, wie es die Schule eine sein soll, nicht auszugleichen ist. Und auch die Sesamstraße hilft da nicht viel. Modernisierung und die Öffnung der Statuszuweisung
Gleichwohl kann man vermuten, daß es in der Mischung von Ascription und Achievement bei der Statuszuweisung Änderungen gibt, wenn sich die Gesellschaften modernisieren. „Modernisierung“ heißt ja, wenn man einmal den wohl wichtigsten Grundzug nimmt, die Zunahme in der funktionalen Differenzierung. Das hat mindestens zwei Folgen: Mit der Entfaltung der Eigenlogik der Funktionssysteme können es sich die Akteure in den Funktionssystemen immer weniger leisten, funktionswidrige Plazierungen vorzunehmen, und es gibt gleichzeitig eine Angleichung der funktionalen Bedeutsamkeit der verschiedenen funktionalen Teilsysteme mit der Folge, daß dann – wenigstens in der Tendenz – auch das Ausmaß der Ungleichheit unter den Menschen abnehmen müßte (siehe dazu schon Abschnitt 3.1, sowie noch Kapitel 5 und Abschnitt 9.2 in diesem Band). Man sollte also erwarten, daß in den stärker modernisierten Gesellschaften die Determination der Plazierung durch die familiären Umstände abnimmt, wenngleich sie wohl nicht vollkommen verschwinden dürfte. Genau zu dieser Frage haben Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip im Jahr 1989 eine interessante Studie vorgelegt.43 Untersucht wurden die Verhältnisse in insgesamt 21 Gesellschaften, davon 15 sog. kapitalistisch-industrialisierte Gesellschaften, wie Australien, England, Japan, Deutschland, Schweden oder die USA, zwei der damals sog. „socialist-bloc“-Gesellschaften, nämlich Ungarn und Polen, und vier sog. kapitalistische Entwicklungsländer – Brasilien, Indien, die Philippinen und Taiwan. Der Grad der Modernisierung dieser Länder wurde über den Stand der Industrialisierung einerseits und über das Ausmaß der Statusgleichheit in der jeweiligen Gesellschaft andererseits (partiell) definiert und entsprechend operationalisiert. Die Autoren gingen von zwei deutlichen Hypothesen aus: „Industrialized societies will tend to be more open than nonindustrialized societies.“ „Societies in which the degree of status inequality is high will tend to be less open than societies in which the degree of status inequality is low.“ (Ebd.; S. 375; Hervorhebungen so nicht im Original)
43
Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip, Educational and Occupational Attainment in 21 Countries, in: Melvin L. Kohn (Hrsg.), Cross-National Research in Sociology, Newbury Park, London und New Delhi 1989, S. 373-394.
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Die Offenheit bei der Statuszuweisung wurde dann als Grad der (Nicht-)Determination des Bildungsstandes der Personen und ihrer Berufsposition durch den sozialen Hintergund der Befragten, durch die Bildung und den Beruf des Vaters nämlich, gemessen. Das war für die Bildung einfacherweise der Anteil der durch die Bildung und die Berufsposition des jeweiligen Vaters erklärten Varianz, und für die Berufsposition die Höhe des partiellen Regressionskoeffizienten für die Wirkung des Berufs des Vaters auf die Berufsposition des Befragten unter Kontrolle der Bildung des Befragten. Je geringer die erklärte Varianz bzw. der partielle Regressionskoeffizient waren, um so offener sei das jeweilige gesellschaftliche System in Bezug auf die Muster der Statuseinnahme. Klingt eigentlich ganz plausibel, und ist es wohl auch.
Die Ergebnisse lassen sich leicht zusammenfassen: In den meisten Ländern ist die Bildung für die Statuseinnahme weit wichtiger als der Beruf des Vaters, und die Bildung ist auch nicht sonderlich vom familiären Hintergrund bestimmt (!). Soweit die Bildung mit den Verhältnissen im Elternhaus zusammenhängt, ist die Bildung des Vaters deutlich wichtiger als dessen Berufsstatus. Vor allem aber gibt es in der Tat deutliche Unterschiede zwischen den Ländern in der Offenheit, wobei dafür sowohl der Grad der Industrialisierung wie die Status(un)gleichheit bedeutsam sind: „Industrialized societies tend to be more open than developing societies, but this is mainly because there tends to be less status inequality, particularly inequality in father‘s education, in industrialzed societies. And both industrialization and status equality promote achievement at the expense of ascription, as measured by the increased effect of education and the decreased effect of father‘s occupation on occupational status attainment.“ (Ebd., S. 392f.; Hervorhebung nicht im Original)
Es ist also etwas dran an der „offenen“ Gesellschaft in der Folge von funktionaler Differenzierung, Industrialisierung und Statusangleichung (siehe dazu auch noch Abschnitt 4.6, Kapitel 5, Abschnitt 7.1 und Abschnitt 9.2 dieses Bandes). Gleichwohl gibt es auch in den offensten Gesellschaften weiterhin Askriptionen und Statusvererbungen und eine hohe Bedeutung der Familie bei der Statuseinnahme. Und gelegentlich hat man das Gefühl, daß die feinen Unterschiede des familiär vermittelten kulturellen und sozialen Kapitals neuerdings in der immer weiter getriebenen funktionalen Differenzierung der endgültig entfesselten Moderne eher wieder wichtiger werden. Strukturelle Begrenzungen und individuelle Bemühungen
Die Analysen der Mobilitätsmuster und Mobilitätsregimes anhand der Mobilitätstabellen hatten den Nachteil, daß dahinter die individuellen Prozesse der
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Statuseinnahme und -zuweisung verschwanden, aber sie hatten den Vorzug, daß in ihnen die strukturellen Begrenzungen der Mobilität systematisch berücksichtigt wurden. Die Untersuchungen zum Status-attainment enthielten zwar wichtige Informationen zu den individuellen Vorgängen, sie gingen aber (fast) immer von der Fiktion aus, daß es nur eine Art von „Wahl“ oder nur die Frage von Bemühungen und eines „Matches“ zwischen Angebot und Nachfrage wäre, was das Geschehen antreibt. Und damit wurde, wenigstens implizit, angenommen, daß es eine strukturelle Begrenzung bei der Statuseinnahme nicht gebe. Das aber ist eine ganz und gar unrealistische und – vor allem auch – unsoziologische Sichtweise. Daher liegt es nahe, die Stärken der beiden Zugangsweisen, der Mobilitätsanalyse und der Status-attainment-Forschung, zu kombinieren. Wie soll das aber gehen? Im Prinzip ist die Sache recht einfach: Man müßte in die Status-attainment-Modelle neben die (üblichen) individuellen Variablen, wie Bildung und Beruf des Vaters, Aspirationen und Bezugsgruppen oder die eigene Bildung, auch kontextuelle Variablen einfügen, die die strukturellen Begrenzungen der Statuseinnahme wiedergeben. Beispielsweise: die strukturellen Veränderungen in den beruflichen Sektoren zwischen den Generationen oder die Unterschiede darin zwischen den verschiedenen Ländern. Die individuellen Prozesse könnten ja nichts weiter sein als Scheineffekte der strukturellen Veränderungen, so wie sich das bei vielen Kontextanalysen auch immer wieder zeigt (vgl. dazu schon Abschnitt 11.5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Was wie eine große „Offenheit“ des Systems aussieht, könnte dann u.U. nichts weiter sein als die „logische“ Folge der Erweiterung des Statussystems nach oben über den Ausbau von Sektoren und Branchen, in denen die höheren Positionen zu vergeben sind. Und was als eine individuelle Mobilität erscheint, könnte auch bloß die Folge einer Schrumpfung von Branchen sein, denen der Markt oder die Politik das Leben ausgeblasen hat. Wie eine solche Untersuchung aussehen kann, hat Per B. Kropp in seiner Doktorarbeit gezeigt, die er am ICS (Interuniversity Centre for Social Science Theory and Methodology der Universitäten Groningen, Utrecht und Nimwegen) geschrieben hat.44 Es ging dabei u.a. um einen Spezialfall der Statuszuweisung bzw. des sozialen „Aufstiegs“: das Wiederfinden eines Arbeitsplatzes nach einer Periode der Arbeitslosigkeit. Interessant ist die Studie auch deshalb, weil sie diese Vorgänge für die Umbruchszeit in der ehemaligen DDR nach der Wende untersucht, die durch einen massiven Umbau des ge44
Per B. Kropp, Berufserfolg im Transformationsprozess. Eine theoretisch-empirische Studie über die Gewinner und Verlierer der Wende in Ostdeutschland, Amsterdam 1998.
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samten sektoralen Systems und den Fortfall ganzer Branchen und Berufszweige gekennzeichnet war. Die hier wichtige Besonderheit der Untersuchung war, daß nicht nur gewisse individuelle Eigenschaften, wie die Bildung, die Berufserfahrung oder die politische „Belastung“ zur Erklärung eines Endes der Arbeitslosigkeit berücksichtigt wurden, sondern die Veränderungen in der Beschäftigung in der jeweiligen Branche und Berufsgruppe insgesamt. Damit wurden also sowohl die strukturellen Begrenzungen wie die individuellen Eignungen oder Bemühungen zur Erklärung der individuellen Statuszuweisung berücksichtigt. In einem später verfaßten Artikel findet sich eine Tabelle, die die in der Doktorarbeit etwas komplizierter dargestellten Ergebnisse anschaulich wiedergibt (vgl. Tabelle 4.13).45
Tabelle 4.13:Bestimmungsgründe des Erwerbsstatus unter Kontrolle struktureller Veränderungen in Form der Branchen- und Berufsgruppenentwicklung
45
Die Tabelle entstammt leicht gekürzt und verändert aus: Per B. Kropp, Strukturveränderungen und Humankapital. Eine Erklärung der Veränderungen von Berufserfolg in Ostdeutschland. Vortrag zum Abschlußkolloquium des Schwerpunktprogramms „Sozialer und politischer Wandel der DDR-Gesellschaft“ der DFG, Bonn 1999, S. 18. Vgl. zu weiteren Einzelheiten auch Kropp 1998, S. 130ff. Zur Bedeutung und Interpretation der Koeffizienten, sog. Logit-Koeffizienten, siehe Fußnote 6 in Abschnitt 7.1 dieses Bandes.
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Variablen
Modell 1
Branchenentwicklung Berufsgruppenentwicklung Ausbildung Berufserfahrung geringe Branchenspezifik geringe familiäre Belastung politische Funktion
0.277 -.511 -.299 0.138 0.212
Konstante Pseudo-R2 N
0.665 0.040 439
Modell 2
Modell 3
0.149 0.259
0.161 0.229
0.089 -.508 -.255 0.129 -.019 1.859 0.084 460
1.548 0.104 436
fett: Irrtumswahrscheinlichkeit p<0.05 kursiv: Irrtumswahrscheinlichkeit p<0.10
Die Variablen „Branchenentwicklung“ und „Berufsgruppenentwicklung“ geben die strukturellen Begrenzungen und Opportunitäten wieder, die anderen bestimmte individuelle Qualifikationen und Voraussetzungen, die das Wiederfinden eines Arbeitsplatzes begünstigen oder erschweren könnten. Und man sieht sofort: Zuerst (Modell 1) scheinen sich die individuellen Variablen, wie die Ausbildung, die Berufserfahrung, die Abkömmlichkeit durch die Familie und auch die frühere politische Funktion in der DDR, tatsächlich auszuwirken, und auch die strukturellen Variablen haben alleine einen deutlichen Einfluß (Modell 2). Aber fast alle individuellen Einflüsse verschwinden, wenn die strukturellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt einbezogen werden, auch die Effekte der Ausbildung (Modell 3). Nur die familiäre Belastung, die aber ja auch als eine Art von Restriktion anzusehen ist, hat weiterhin einen gewissen, schwach signifikanten Effekt. Oder anders gesagt: Die Positionen werden von den Akteuren nicht so sehr „gewählt“ als die Akteure mit Gelegenheiten konfrontiert sind, die dann einige von ihnen nutzen können, die gerade die „passenden“ Eigenschaften haben. Wenn dagegen eine Branche ganz abgewickelt worden ist, dann nutzen alle Netzwerke, alle Eignungen, alle Erfahrungen und Qualifikationen nicht mehr viel.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Wer war das Volk?
So ist es, und es ist anders auch wohl kaum denkbar: Die materiellen und institutionellen Strukturen sind immer der weiteste Rahmen für alle weiteren Prozesse der individuellen Statuseinnahme und Mobilität. Vor diesem Hintergrund darf jedoch erneut nicht vergessen werden, daß selbst solche ehernen Makroentwicklungen wie die der Veränderung ganzer Branchen letztlich nie etwas anderes sind als die – beabsichtigten wie unbeabsichtigten – Folgen des Handelns von Akteuren. Denn wer hat den drastischen Umbau der DDRGesellschaft verfügt, und wer hat die DDR-Wirtschaft, teilweise ganz rigoros, einfach „abgewickelt“? Natürlich: Die damalige Bundesregierung unter Helmut dem Großen, und zwar gegen den Rat aller Fachleute aus der Wirtschaft und der Wissenschaft. Und dann die Treuhand und, für das Wissenschaftssystem in der DDR, der Wissenschaftsrat, die beide wiederum auch nicht vom Himmel gefallen sind und durchaus mit Personen bestückt waren, die ihre Interessen hatten und auch verfolgten, wie wir nicht erst heute wissen. Aber wer hat Kohl zuvor gewählt und ihn sozusagen mit einer Blankovollmacht beauftragt, die DDR abzuwickeln? Das Volk. Und wer hat die Wende herbeigeführt, die das alles erst möglich machte? Sicher auch der etwas unkonzentrierte Günter Schabowski bei der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989, mehr aber noch wieder das inzwischen nach 40 Jahren des Wartens auf das sozialistische Paradies unwirsch gewordene Volk, das dann am gleichen Abend noch, nachdem Hajo Friedrichs in der Tagesschau die ersten jubelnden Ossis auf dem Kudamm gezeigt hatte, einfach über die Mauer ging – und nicht ahnte, daß es dabei zu einem erheblichen Teil geradewegs in die eigene Arbeitslosigkeit hineinfeierte.
4.6
Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
Die Ungleichheit unter den Menschen scheint eine Universalie zu sein: Es gibt keine bekannte Gesellschaft, die nicht – über die angeborenen Ungleichheiten nach Geschlecht, Alter, Körperkraft und Talenten und die „horizontalen“ Ungleichheiten in Geschmack und Gewohnheiten hinaus – mehr oder weniger deutliche Unterschiede in der vertikalen Rangordnung der Akteure kennen würde, die bestimmte Eigenschaften haben und bestimmte Arten von Ressourcen kontrollieren. Das gilt, wenngleich nur in sehr geringem Maße, selbst für die ganz einfachen Stammesgesellschaften, in denen es kaum etwas zu beherrschen, wenig zu verteilen und daher auch nicht viel zu bewerten und in eine Rangordnung zu bringen gab (oder gibt). Und die beiden wich-
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tigsten historischen Experimente zur Durchsetzung von Gleichheit (und Freiheit und Brüderlichkeit) sind, wie wir wissen, ganz eklatant gescheitert und schon sehr bald in Systeme mit ganz deutlichen Hierarchien mutiert: die Französische Revolution mit Napoleon und einer neuen absoluten Monarchie und die Oktoberrevolution mit Stalin und dem Staatssozialimus des Sowjetreiches als Ergebnis. Es gibt, wie berichtet wird, nur eine wirklich anarchische, basisdemokratische, konsensgebundene „Gesellschaft“ ohne institutionalisierte Ungleichheit: die Piratenschiffe in der Karibik – allerdings nur solange die See ruhig und/oder keine Beute am Horizont zu sehen waren. Bei einem aufziehenden Sturm oder bei einer fetten Kogge am Horizont hatte sofort alles auf seinem Platz zu sein und auf das Kommando des Käpt‘ns zu hören, damit das Unternehmen Erfolg haben konnte.46
Kaum eine Frage hat die Soziologie mehr bewegt als diejenige, woher die Ungleichheit unter den Menschen kommt und ob sich eine Gesellschaft ohne soziale Ungleichheit überhaupt denken läßt. Es war, wie Ralf Dahrendorf in seinem immer noch wichtigen und lesenswerten Überblick über das Thema feststellt, „die erste Frage der soziologischen Wissenschaft“ überhaupt.47 Und Niklas Luhmann war nicht der erste, der – bisher immer: voreilig – verkündet hat, daß es eine Frage sei, die sich die Soziologie nicht mehr zu stellen brauche. Zwei frühe unsoziologische Antworten: Gott und Natur
Die sozialphilosophischen Vorläufer der Soziologie hatten für die Frage nach dem Ursprung der sozialen Ungleichheit insbesondere zwei Antworten gefunden (vgl. dazu Lenski 1973, S. 19ff.): den Willen Gottes und/oder die Gegebenheiten der Natur. So meinte beispielsweise Aristoteles, daß es Freie und Sklaven „von Natur“ aus gebe, ebenso wie die Rangunterschiede der Geschlechter, und die soziale Ungleichheit wäre nur eine direkte Folge jener von der Natur vorgegebenen Ungleichheiten, sei es die in Körperkraft, in Mut, in Intelligenz, in Wissen oder Pflichtgefühl (vgl. dazu auch Dahrendorf 1974a, S. 356f.). Und, wie wir aus der Geschichte des Christentums wissen, gab es keineswegs nur im Hinduismus die Auffassung, daß die Ungleichheit unter den Menschen von Gott verfügt und der Gehorsam gegenüber den Mächtigen gottgefällig wäre. Das waren Auffassungen, die die bestehenden Ungleichheiten als gottgegeben oder „natürlich“, damit als unausweichlich und gut und daher auch als 46
Vgl. dazu Heiner Treinen, Parasitäre Anarchie. Die Karibische Piraterie im 17. Jahrhundert, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33, 1981, S. 84ff.
47
Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974a, S. 353.
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rechtmäßig und gerecht legitimierten. Aus rein wissenschaftlicher Sicht wäre das, wenn es denn stimmte, nicht weiter schlimm. Aber, und das ist schon bedenklicher, es waren durch und durch unsoziologische Erklärungen für ein ohne Zweifel soziales Phänomen: Die soziale Ungleichheit wurde als die direkte Folge nicht-sozial begründeter Unterschiede unter den Menschen „erklärt“: hier die Unterschiede aus dem Ratschluß Gottes, dort aus den Launen und Vorgaben der Natur. Beide Auffassungen kamen daher auch sehr ins Gerede, als im Verlaufe der Aufklärung, der Erstarkung des Bürgertums und der Schwächung des Adels ein anderes Postulat über das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft Plausibilität gewann und auch mit dem Willen Gottes und mit der Natur begründet wurde: das Postulat von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen. Und sofort erhebt sich dann die Frage, wie es angesichts der gottgegebenen und/oder natürlichen Gleichheit aller Menschen zur Ungleichheit kommt – und wie die oberen Schichten ihre privilegierte Stellung länger rechtfertigen konnten, zumal nicht mehr zu verbergen war, daß sich dort keineswegs allesamt Menschen mit den besseren Talenten, dem ausgeprägteren Fleiß und dem größeren Mut aufhielten. Es war die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen der Ungleichheit – und wohl in der Tat einer der vielen Anlässe, die Soziologie als Wissenschaft zu erfinden. Zwei frühe soziologische Antworten: Privateigentum und Arbeitsteilung
Die ersten soziologischen Antworten auf die Frage nach der sozialen Ungleichheit knüpfen an zwei zentrale gesellschaftliche Einrichtungen an: das Privateigentum und die Arbeitsteilung. Das Privateigentum wurde vor allem von Jean Jacques Rousseau als Grund für die soziale Ungleichheit benannt. Die Einrichtung des Privateigentums ist für ihn eine Art von Sündenfall gewesen, mit dem die Vertreibung aus dem Paradies des Naturzustandes der Gleichheit begann: Der erste Mensch, der sein Gebiet einzäunte und es für sich privat beanspruchte, gab den Grund für eine privilegierte Kontrolle von interessanten Ressourcen und für die spaltende Einteilung in Besitzende und Nichtbesitzende. Die Arbeitsteilung, die Unterteilung einer Produktion in unterschiedliche spezielle „Funktionen“, erzwingt ebenfalls Unterschiede bei den Menschen – die nach unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten und den damit verbundenen Unterschieden in Entlohnung und Prestige, woher diese bewertenden Unterschiede auch immer kommen mögen. Hierauf haben – nach Adam Smith natürlich – insbesondere Friedrich Engels und Gustav Schmoller hingewiesen (vgl. die Zusammenfassung bei Dahrendorf 1974a, S. 361ff.).
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Klassenbildung
Arbeitsteilung und Privateigentum bedingen danach zusammen die soziale Ungleichheit: Die zunächst bloß horizontale Ungleichheit nach beruflichen Positionen wird über die Möglichkeit des Besitzes vs. des Nichtbesitzes in eine vertikale Rangordnung übersetzbar, wenngleich nicht allein schon aus „logischen“ Gründen darin auch wirklich übersetzt. Aber eine Reihe von naheliegenden Mechanismen sorgt allzubald dafür, daß es dazu kommt. In den frühen soziologischen Beiträgen zu dem Problem gab es hierfür fast nur nichtsoziologische Begründungen, wie das Bedürfnis nach wertender Unterscheidung, das Gustav Schmoller bemühte. Es war dann insbesondere Karl Marx, der die „Klassenbildung“ systematisch über die Kombination von Privateigentum und Arbeitsteilung zu erklären versucht hat. Für ihn war beides sogar identisch. Nach seiner Auffassung bildeten sich die „Klassen“ ja nur aufgrund der jeweiligen Eigentumsordnungen. Und die waren innerhalb der jeweiligen Gesellschaften bestimmten arbeitsteiligen Funktionen zugeordnet: Sklavenhalter und Sklaven, Feudalherren und Leibeigene, Proletarier und Kapitalisten, zum Beispiel. Und daraus folgt, wie Karl Marx und Friedrich Engels in der „Deutschen Ideologie“ schreiben: „Mit der Teilung der Arbeit ... ist zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben, also das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat.“48
Und dann sogar noch weiter: „Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke – in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Wir sehen gleich schon das Problem in dieser Gleichsetzung: Die Arbeitsteilung ist ein Merkmal der sozialen Differenzierung in unterschiedliche funktionale Systeme, das Privateigentum dagegen regelt die Bedingungen der Kontrolle über die Ressourcen, die die Akteure, etwa aus der Inklusion in diese Teilsysteme, erhalten mögen. Aber soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit sind, wie wir inzwischen wissen, nicht dasselbe. Solange man – mit dem Klassenbegriff von Marx und Engels – meint, daß die Zuordnung der Akteure zu den beruflichen Positionen alleine schon über das Privateigentum (an Produktionsmitteln) geregelt ist und es keine zusätzlichen interessanten Res48
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-EngelsWerke, Band 3, Berlin 1962, S. 32; Hervorhebungen im Original.
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sourcen gebe, verschließt sich der Blick für diese Unterscheidung von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit, ganz ähnlich wie in den Feudalgesellschaften ja die „Stände“ auch als „Klassen“ von Akteuren mit typischen gesellschaftlichen Funktionen verknüpft und damit sogar personen-identisch waren. Der Klassenbegriff von Marx und Engels war, wenn man so will, die – irreführende – Übertragung der „ständischen“ Kategorien der Feudalgesellschaft auf die jetzt nur noch in „Positionen“ funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft. Das erste und das zweite Gesetz der Verteilung von Lenski
Daß viele Beobachter im 18. und 19. Jahrhundert nach dem Verfall der „natürlichen“ Erklärungen der sozialen Ungleichheit auf das Privateigentum und die Arbeitsteilung als deren wichtigste Ursachen gekommen sind, ist so unverständlich nicht: Die soziale Ungleichheit hat ja erstens etwas mit der Kontrolle interessanter Ressourcen durch individuelle Akteure zu tun, und damit etwas mit gewissen Rechten, darüber zu verfügen. Und das Privateigentum ist die reinste Form eines individuellen Verfügungsrechtes (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Zweitens kommt die soziale Ungleichheit als merkliches soziales Phänomen nur in größeren und tatsächlich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung organisierten Gesellschaften vor, sei das in der Form der großen Staatsgesellschaften mit ihren ausgebauten Verwaltungen und stehenden Heeren, in der Form der Feudalgesellschaften mit ihrer typischen Hierarchie der gesellschaftlichen Funktionen oder in der Form der (früh)kapitalistischen Gesellschaften mit ihrer Aufteilung der Funktionen zwischen den gesellschaftlichen Klassen. In den einfachen „urkommunistischen“ Stammesgesellschaften gibt es – in nennenswertem Umfang – weder Privateigentum, noch Arbeitsteilung und auch keine soziale Ungleichheit. Das gerade hatte ja Rousseau – und mit ihm viele andere – so am „Naturzustand“ fasziniert. Es gibt dort aber auch – was Rousseau und wieder viele andere mit ihm übersehen haben – nichts, was sich „ungleich“ verteilen ließe. Dort herrscht, oft genug, die blanke Not, und gerade deshalb gibt es dort auch den Kommunismus, den Kommunismus der Notgemeinschaft nämlich (vgl. dazu auch Damit nochaber Abschnitt 9 3bei in diesem sind wir einem Band) interessanten Zusammenhang, auf den insbesondere Gerhard Lenski hingewiesen hat. Zunächst formuliert er in dem sog. „ersten Verteilungsgesetz“ eine allgemeine Hypothese darüber, wie die Menschen die Produkte ihrer gemeinsamen Arbeit verteilen. Es besagt
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„ ... daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit insoweit teilen, als dies zur Sicherung ihres Überlebens und der kontinuierlichen Produktion jener notwendig ist, deren Handlungen für sie selbst notwendig und nützlich sind.“ (Lenski 1973, S. 71)
In den Urgesellschaften ist die Gleichheit unter den Menschen also schlicht die Folge des Mangels an Ressourcen, die in nennenswertem Umfang „ungleich“ zu verteilen wären. Erst wenn es gesellschaftlichen Reichtum – „Surplus“ wie Lenski wohl im Anschluß an Marx sagt – gibt, kann es auch soziale Ungleichheit geben. Und es gibt sie dann in aller Regel auch (vgl. dazu noch Abbildung 5.2 in Kapitel 5 dieses Bandes). Das ist das „zweite Verteilungsgesetz“ nach Gerhard Lenski: „Wenn wir davon ausgehen, daß viele Dinge, welche die Menschen erstreben, knapp sind, dann muß es dieses Surplus wegen unweigerlich zu Konflikten und Kämpfen zwischen ihnen kommen. Wenn wir Weber folgend Macht als die Chance definieren, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen das Widerstreben der anderen durchzusetzen, dann folgt daraus, daß Macht weitgehend darüber bestimmt, wie der Surplus einer Gesellschaft verteilt wird.“ (Lenski 1973, S. 71; Hervorhebung so im Original)
Die soziale Ungleichheit ist laut Lenski also eine Folge erstens der Produktion von gesellschaftlichem Reichtum, der über das Existenzminimum hinausgeht, und zweitens der Verteilung des verfügbaren Surplus nach dem Prinzip der Macht. Die Voraussetzungen zur Produktion des Surplus: Arbeitsteilung und Privateigentum
Wie aber kommt es zur Produktion des gesellschaftlichen Reichtums? Die beiden gesellschaftlichen Erfindungen, die dazu maßgeblich, ja offenkundig unerläßlich sind, kennen wir schon: Arbeitsteilung und Privateigentum. Auf die produktiven Vorteile einer geschickten Teilung von Funktionen muß nicht weiter hingewiesen werden. Dazu hat Adam Smith eigentlich schon alles Nötige gesagt (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.1 in diesem Band, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Vorteile liegen in den technischen Produktionsfunktionen der meisten Produktionen begründet, wie Kostendegressionen und effizienzsteigernde Spezialisierungen. Das Privateigentum greift an einer anderen Stelle an: Viele wirtschaftlich effiziente Aktivitäten beruhen auf Innovationen, die, wenn sie frei verfügbar wären, dem Erfinder nicht zugute kommen, wie etwa ein SoftwareProgramm, das andere flugs kopieren. Daneben gibt es bei „freier“ Nutzung von an sich knappen Ressourcen, etwa bei der Jagd nach Pelztieren oder der Weide von Rindern auf Gemeineigentum, die Versuchung für jeden Einzelnen, das möglichst exzessiv zu tun, alleine schon weil er befürchten muß, daß andere ihm zuvorkommen könnten und er dann ganz ohne jeden Ertrag dasteht. Die „Lösung“ für beide Probleme ist jeweils die Einrichtung von Eigentumsrechten, von Privateigentum also. So sind die Zäune entstanden, und auch die Patentrechte (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
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Kurz: Arbeitsteilung und Privateigentum haben – wenn nicht ausschließlich, so doch zu einem ganz erheblichen Teil – höchst produktive Folgen. Sie sind damit zuerst die Ursache für den gesellschaftlichen Reichtum gewesen – und darüber dann auch die für die Entstehung der sozialen Ungleichheit. Letzteres aber eher so, wie man die Heirat als die Ursache für eine Scheidung ansehen kann: Ohne sie hätte es dazu gar nicht kommen können. Herrschaft, Macht und soziale Ungleichheit
Weder die Einrichtung der Arbeitsteilung, noch gar die des Privateigentums sind unproblematische Angelegenheiten – obwohl jeder eigentlich daran, allein schon wegen der produktiven Folgen, ein großes Interesse haben müßte. Bei der Arbeitsteilung müssen die Akteure nämlich gegenseitig befürchten, daß der andere sich klammheimlich nicht richtig spezialisiert – und der dann die Preise für das Gut diktieren kann, das der eine deshalb nicht selbst hat, weil er sich ganz auf „sein“ Produkt spezialisiert hatte. Und zur Einrichtung des Privateigentums bedürfte es eines verpflichtenden Konsenses darüber, daß man die Rechte des anderen auch wirklich respektiert. Aber das kann so ohne weiteres, wie wir aus den Wildwestfilmen wissen, nicht garantiert werden: Allein schon die Möglichkeit, daß sich irgendjemand nicht an die Vereinbarung hält, bringt alle dazu, der Verpflichtung erst gar nicht zuzustimmen.
Die Lösung aus den beiden Sackgassen ist im Prinzip auch schon aus den Wildwestfilmen bekannt: Ein Peacemaker in Gestalt einer dritten Instanz, die als unumstrittener Souverän dafür sorgt, daß die mit den ökonomischen Spezialisierungen einhergehenden Vorleistungen nicht ausgebeutet werden, und daß das Privateigentum als Recht wirksam eingerichtet und dann auch wirklich nicht angetastet wird. Der Souverän kann verschiedene Gestalten annehmen: ein Feudalherr oder eine staatliche Bürokratie, etwa. Er muß Züge einer durch Regeln gebändigten, unumstrittenen, als legitim angesehenen Macht aufweisen. Der allgemeine soziologische Begriff dafür ist der der Herrschaft (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 5, „Institutionen“,dieser „Speziellen Grundlagen“).Wir sehen gleich: Die Herrschaft kann ohne weiteres auch als eine Art von Produktivkraft angesehen werden. Sie sorgt dafür, daß die Voraussetzungen einer effizienten gesellschaftlichen Produktion, Arbeitsteilung und Privateigentum vor allem, geschaffen werden und daß die Erzeugung des Surplus nicht an den kleinlichen Befürchtungen und/oder den massiveren Konflikten zwischen den Menschen scheitert. Das Dumme ist nur: Herrschaft wird, auch wenn sie als eine eigene Institution, wie bei der Monarchie, oder gar als spezielles funktionales System organisiert ist, wie in den parlamenta-
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rischen Demokratien, stets von konkreten Personen ausgeübt, wenngleich u.U. nicht immer sehr lange. Sie bedeutet, wie gesagt: schon von ihrem Prinzip her, die überlegene Kontrolle gewisser Machtmittel. Damit aber ist die Herrschaft, sozusagen: logischerweise, unmittelbar mit der Entstehung sozialer Ungleichheit verknüpft: Es gibt mit jeder Institution der Herrschaft gleich immer auch Akteure, die „mehr“ Macht haben als andere und diese dann, wie die Menschen nun einmal sind, zu ihren Zwecken zu nutzen wissen. Die mit jeder Herrschaft notwendig verbundene Macht erlaubt es ja zunächst schon ganz schlicht, sich den größeren Teil des, auch mit Hilfe der Herrschaft erzeugten, gesellschaftlichen Reichtums zu sichern, dann aber auch, sich dauerhaftere Privilegien zu den eigenen Gunsten einzurichten. Und aus der jedermann erkennbaren Attraktivität der Herrschafts-Positionen leitet sich schließlich auch oft genug ein gesellschaftliches Prestige ab, das den Innehabern der Positionen schließlich sogar auch noch Ehre und Ansehen als Personen bringt.
Kurz: Die Herrschaft ist sowohl die Bedingung für die Erzeugung des verteilbaren Surplus, wie dann auch – über die mit ihr verbundene Macht – die Grundlage für die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Privilegien und Prestige. Arbeitsteilung und Privateigentum, Herrschaft und Macht, Surpluserzeugung und soziale Ungleichheit bilden also eine Art von „System“, in dem alle Teile, auch in ihrer historischen Entwicklung, ineinander greifen und offenkundig wechselseitig so voneinander abhängig sind, daß man sich eine größere reiche Gesellschaft ohne Herrschaft und ohne soziale Ungleichheit kaum denken kann. Und man erkennt leicht wieder jenen Grundzug der gesellschaftlichen Existenz der Menschen, den man als antagonistische Kooperation bezeichnet: Jeder ist zwar an der Produktion von Surplus interessiert, möchte sich aber möglichst wenig den dazu nötigen unangenehmen Einschränkungen unterwerfen und möglichst viel vom Kuchen des gesellschaftlichen Reichtums abbekommen. Die Doppelnatur der sozialen Ungleichheit
Die soziale Ungleichheit hat, wie man sieht, eine Art von Doppelnatur: Sie ist, über die Bedingung der Organisation der Surplusproduktion durch Herrschaft und über die fast immer sofort einsetzende Nutzung der Macht zur ungleichen Verteilung des Surplus und zur Sicherung der einmal gewonnenen Herrschaftspositionen, einerseits durchaus repressiv und beruht zu einem guten Teil schließlich tatsächlich auf Unterdrückung und Ausbeutung. Sie ist aber auch nicht nur eine Folge, sondern – in Gestalt der nötigen Herrschaft insbesondere – sogar eine Bedingung für die Produktion des Surplus und daher auch in hohem Maße für wenigstens den materiellen Wohlstand der Menschen funktional. Diese Doppelnatur der sozialen Ungleichheit hat die Soziologie bis heute sehr beschäftigt. Und lange Zeit hat es entsprechend auch zwei, sich teilweise
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heftig bekämpfende, Schulen der Erklärung der sozialen Ungleichheit gegeben. Die eine, die „repressive“ Auffassung, die konflikttheoretische (oder „radikale“) Schule, ist wohl am deutlichsten von Karl Marx vertreten worden: Die soziale Ungleichheit sei die Folge der Unterdrückung und der Ausbeutung durch die jeweils „herrschenden“ Klassen, und die Arbeitsteilung und das Privateigentum wären die gesellschaftlichen Bedingungen dafür. Die soziale Ungleichheit vergeht, so glaubte Marx deshalb, mit der Abschaffung des Privateigentums und der – entfremdenden – Arbeitsteilung (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 unten in diesem Band). Die andere, die funktionale (oder konservative) Auffassung betont demgegenüber die „produktiven“ Folgen von Arbeitsteilung, Privateigentum und Herrschaft und – daran anschließend – der sozialen Ungleichheit selbst. Funktionen und Dysfunktionen der sozialen Ungleichheit
Die konservative Auffassung von der Funktionalität der sozialen Ungleichheit ist am deutlichsten in der sog. funktionalistischen Schichtungstheorie formuliert worden. Sie hat eine jahrelange Debatte provoziert. Die Auseinandersetzung nahm ihren Ausgang mit einem eher unscheinbar-kurzen Artikel von Kingsley Davis und Wilbert E. Moore aus dem Jahre 1945.49 Die Autoren gehen von der – nicht zu bestreitenden – Universalität der sozialen Ungleichheit aus und schließen daraus, daß sie für das Funktionieren der Gesellschaften eine unentbehrliche Funktion haben müßte. Und warum? Die Argumentation ist recht einfach: Es gibt in jeder Gesellschaft soziale Positionen zur Erfüllung gewisser notwendiger Funktionen, wobei einige der Funktionen bzw. Positionen funktional „wichtiger“ seien als andere. Gerade für die funktional besonders wichtigen Positionen komme es aber darauf an, jene Akteure zu finden, die dafür besonders talentiert seien und die erforderliche Ausbildung mitbrächten. Talente sind aber knapp, und der oftmals mühseligen Ausbildung für die betreffenden Positionen würde sich normalerweise kaum jemand unterziehen. Daher „müßten“ die knappen Talente motiviert werden, sich der Mühen der nötigen Ausbildung zu unterziehen. Materielle und immaterielle Entlohnungen wären die Anreize dafür. Die ungleiche Belohnung der Besetzung der funktional wichtigen gegenüber den funktional eher unwichtigen Positionen sei aber genau das, was die soziale Ungleichheit bzw. die soziale Schichtung ausmache. Und daher sei es folgendermaßen: 49
Kingsley Davis und Wilbert E. Moore, Some Principles of Stratification, in: American Sociological Review, 10, 1945, S. 242-249.
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„Social inequality is thus an unconsciously evolved device by which societies insure that the most important positions are conscientiously filled by the most qualified persons. Hence every society, no matter how simple or complex, must differentiate persons in terms of both prestige and esteem, and must therefore possess a certain amount of institutionalized inequality.“ (Davis und Moore 1945, S. 243; Hervorhebungen nicht im Origianl)
Die soziale Ungleichheit ist somit ein eigentlich unintendiertes, ja sogar zufälliges Produkt, das den Gesellschaften einen Reproduktionsvorteil sichert, die sie irgendwie eingerichtet haben. Und – so muß man Davis und Moore wohl lesen – alle jene Gesellschaften, die die Besten nicht mit besonderen Anreizen motivieren konnten, die Schlüsselstellungen zu übernehmen, oder es gar bewußt mit der Abschaffung der sozialen Ungleichheit versucht haben, gibt es nicht mehr, weil sie evolutionär nicht mithalten konnten. Nicht nur auf den ersten Blick ist wohl etwas Wahres daran. Das fehlgeschlagene sozialistische Großexperiment ist noch in guter Erinnerung. Aber die Thesen sind schon sehr provozierend und, wie sich dann gezeigt hat, ohne zahllose Einschränkungen nicht haltbar. Es ist daher kaum verwunderlich, daß die These von der Funktionalität und Unentbehrlichkeit der sozialen Ungleichheit bald hart unter Beschuß kam, insbesondere angesichts der empirisch ebenso unabweisbaren Beobachtung, daß es zwar überall soziale Ungleichheit zu geben scheint, daß aber die obersten Positionen keineswegs immer von den talentiertesten, am besten ausgebildeten und motiviertesten Akteuren besetzt sind. Am deutlichsten hat – acht Jahre später – Melvin Tumin in einem fast ebenso bekannt gewordenen Artikel widersprochen.50 Er faßt die verschiedenen Argumente in 7 Thesen zusammen und geht sie einzeln durch. Die ersten vier der Thesen enthalten dabei die wesentlichen Punkte der Kritik (Tumin 1953, S. 388ff.). Die erste Behauptung, wonach es Unterschiede in der funktionalen Bedeutung von Positionen gebe, sei, so Tumin, nicht haltbar, weil, insbesondere in den funktional differenzierten Gesellschaften, im Prinzip jede Position gleich wichtig wäre. Talente seien zweitens auch keineswegs knapp, vielmehr habe hier die soziale Ungleichheit gerade eine umgekehrte dysfunktionale Auswirkung: Sie verhindere die Entdeckung und Entfaltung der Talente geradezu. Die zur Ausfüllung der höheren Positionen nötige Ausbildung bedeute drittens in keiner Weise ein „Opfer“, wie Davis und Moore suggerierten, sondern gehe mit einer Reihe von Annehmlichkeiten einher, die jede Mühe überkompensierten, und sie lohne sich – last not least – leicht mit dem damit erzielbaren Lebenseinkommen. Und die Besetzung der höheren Positionen müsse viertens nicht noch mit zusätzlichen Anreizen versehen werden, weil die Arbeiten dort, siehe unseren Strahlekanzler Schröder, ohnehin schon erheblich mehr „intrinsische“ Freude bereiteten als, sagen wir einmal, ein Job als Bergmann unter Tage, einer bei der Müllabfuhr, oder als Soziologieprofessor an einer sog. Reformuniversität, der immer nur so dicke Bücher zu schreiben hat. 50
Melvin Tumin, Some Principles of Stratification: A Critical Analysis, in: American Sociological Review, 18, 1953a, S. 387-394.
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Und daraus folge keineswegs die funktionale Notwendigkeit der sozialen Ungleichheit. Im Gegenteil: Man müsse sogar von einer Reihe von Dysfunktionen ausgehen, zu denen insbesondere die Blockierung von Talenten, die Fehlallokation produktiver Ressourcen, die Verfestigung konservativer Ideologien, die Verbreitung von Unzufriedenheiten und Mißtrauen in der Bevölkerung und die Spaltung der Gesellschaft nach ihren Loyalitäten gehöre (vgl. Tumin 1953, S. 392f.). Wer hat recht?
Melvin Tumin bringt damit die konfliktorientierte Sicht der sozialen Ungleichheit gegen die funktionalistische Schichtungstheorie wieder ins Spiel. Der Streit drehte sich dann auch jahrelang um die Frage, welche der beiden Sichtweisen die richtige sei.51 Inzwischen ist er mit den oben skizzierten engen Verbindungen zwischen Arbeitsteilung, Privateigentum, Herrschaft und Surpluserzeugung, die dann erst ungleiche Verteilungen und darüber auch unproduktive Verfestigungen der Ungleichheit zuläßt, aufgelöst: Die soziale Ungleichheit hat sowohl repressive und unproduktive wie gleichzeitig immer auch funktionale und produktive Seiten. Und welche davon jeweils dominiert, hängt von einigen Strukturmerkmalen der Gesellschaft ab. Die wohl wichtigste strukturelle Besonderheit von Gesellschaften für die Dominanz der einen oder anderen Seite ist ihre Offenheit und die Möglichkeit zur freien Mobilität: Die vorhandenen Talente können sich tatsächlich nur dann entfalten und sich auf die „wichtigen“ Positionen verteilen, wenn die Positionen nach „Leistung“ und nach „Abgebot und Nachfrage“ besetzt werden – und nach sonst nichts. Das aber nützt sicher auch der „Gesellschaft“ insgesamt: Leistungs- und wettbewerbsorientierte Systeme der sozialen Ungleichheit, wie, trotz aller nötigen Abstriche, etwa in den USA oder auch (West-)Deutschland, lösen das Allokationsproblem der talentierten Personen zu den wichtigen Positionen wohl tatsächlich effizienter
51
Vgl. die Entgegnung auf Tumin durch Kingsley Davis, Reply, in: American Sociological Review, 18, 1953, S. 394-397; Wilbert E. Moore, Comment, in: American Sociological Review, 18, 1953, S. 397; Melvin Tumin, Reply to Kingsley Davis, in: American Sociological Review, 18, 1953b, S. 672-673. Siehe auch die folgenden Beiträge noch: Walter Buckley, Social Stratification and the Functional Theory of Social Differentiation, in: American Sociological Review, 23, 1958, S. 369-375; Dennis H. Wrong, The Functional Theory of Stratification: Some Neglected Considerations, in: American Sociological Review, 24, 1959, S. 772-782; Wlodzimierz Wesolowski, Some Notes on the Functional Theory of Stratification, in: The Polish Sociological Bulletin, 3, 1962, S. 28-38; Renate Mayntz, Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie, in: Glass und König (1961), S. 10-28. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Erich Weede, Mensch und Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tübingen 1992, Kapitel 17: Ungleichheit und Umverteilung, S. 206ff.
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als solche, die auf Zuschreibung beruhen, wie etwa in Indien oder in der schlechten alten DDR.
Aber das wissen wir auch: Wer einmal oben ist, hat auch die Mittel, die Position nach außen zu verteidigen und gegen die freie Zirkulation der Talente abzuschirmen. Und so gibt es stets Tendenzen, daß sich die funktionalen Seiten der sozialen Ungleichheit immer wieder in dysfunktionale Verknöcherungen verwandeln. Der Markt der Positionen und die Ungleichheit der Menschen
Am gründlichsten scheinen Davis und Moore in ihrem Kernargument danebengegriffen zu haben, wonach sich die gesellschaftlichen Positionen nach ihrer funktionalen Bedeutung unterscheiden: Es gibt kein Verfahren, über das man die funktionale Wichtigkeit von Positionen für das „Überleben“ der Gesellschaft feststellen könnte. Es ist vielmehr zu vermuten, daß in arbeitsteilig organisierten Systemen jede Funktion und damit jede Position „funktional“ gleich wichtig und damit gleich „unentbehrlich“ sind: die der Müllarbeiter wie die der Hals-, Nasen-, Ohrenärzte, beispielsweise. Gleichwohl haben Davis und Moore eine richtige Intuition gehabt. Die für alle Positionen stets gleiche funktionale Unentbehrlichkeit der Positionen bedeutet nämlich, daß die „Nachfrage“ nach den Leistungen sehr „starr“ ist (vgl. dazu Weede 1992, S. 209): Der Preis für die Besetzung der Position, das Einkommen des Akteurs darauf also, steigt stark an, wenn es dafür kaum Bewerber gibt, aber er fällt auch sofort sehr, wenn die Bewerberzahl größer wird. Diesen Zusammenhang kann man als eine Funktion zwischen dem Preis P für die Besetzung der Position und der Menge X der Bewerber auf dem (Arbeits-) Markt darstellen (vgl. die Linie D, von „demand“, in Abbildung 4.17a und b).
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allgemein ansteigt, etwa weil die Wirtschaft wächst und die Bevölkerung höhere Ansprüche an Funktionserfüllung, etwa an die Müllabfuhr oder die ärztliche Versorgung, stellen kann – und das, wie zu erwarten, auch tut. Das läßt sich nun aber einfacherweise durch eine Rechtsverschiebung der Nachfragekurve nach funktionalen Leistungen von der Linie D auf die neue Linie D' darstellen: Zum jeweils gleichen Preis werden jetzt mehr an Müllabfuhr und eine bessere ärztliche Versorgung nachgefragt, und die Wirtschaft bzw. der Staat sorgt auch für die nötige Erweiterung der Positionen. Aber, und das ist das Problem, es gibt die Bewerber auf die zahlreicher gewordenen Positionen (noch) nicht. Nun werden die Unterschiede in den für die Positionen nötigen Qualifikationen bedeutsam: Der Mehrbedarf an Müllwerkern, etwa, läßt sich wegen der kurzen Anlernzeiten leicht von x* auf x-' steigern, und das Einkommen der Müllwerker wächst ganz wenig – von p* auf p-' Anders ist das bei den Ärzten. Hier dauert die Bereitstellung des Angebotes länger, die Bewerber sind knapp, und die wenigen, die es noch gibt, lassen sich das gut bezahlen. Die Menge steigt daher auch nur wenig, von x* auf x+' an, der Preis dagegen sehr stark, von p* auf p+'. Und was sehen wir? Nun gibt es eine soziale Ungleichheit: Die Ärzte haben (als Kategorie von Absteigern) ein höheres Einkommen als die Müllarbeiter, obwohl die Medizin funktional nicht wichtiger ist als die Müllabfuhr (jeweils als funktionale Sphären, wohlgemerkt). Die soziale Ungleichheit liegt also nicht an irgendwelchen Unterschieden in der funktionalen Bedeutung der Positionen, sondern an den Unterschieden in den – teilweise auch technisch und organisatorisch begrenzten – Möglichkeiten, rasch das Angebot an Bewerbern auszuweiten, wenn die Nachfrage steigt. In the long run können sich die Entlohnungen natürlich wieder angleichen: Nach einiger Zeit sind die (Medizin-)-Studenten mit ihrer Ausbildung fertig und drängen alle auf den Markt. Dann verliert die Angebotsfunktion wieder ihre Starre, und der Preis beginnt zu sinken. Und so kann es kommen, daß mit einem Male die Müllarbeiter gar nicht so sehr viel weniger verdienen als die Hals-, Nasen-, Ohrenärzte oder andere Akademiker. Die Ko-Evolution von Herrschaft, gesellschaftlichem Reichtum und sozialer Ungleichheit
In theoretischer Hinsicht sind damit die Fragen nach den Ursprüngen der Ungleichheit unter den Menschen eigentlich beantwortet: Herrschaft ist nötig zur Einrichtung und Sicherung von Arbeitsteilung und Privateigentum, aus denen sich erst der zu verteilende Surplus ergibt. Und die Herrschaft selbst wird von
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den Akteuren genutzt, um ihre Vorstellungen von der „richtigen“ Verteilung durchzusetzen. Man könnte also meinen, daß alles an der Einrichtung der Institution der Herrschaft läge, daß es dazu, allein aus „endogenen“ Gründen, aber möglicherweise gar nicht komme, weil es über die Frage, „wer“ denn herrschen soll, einen nicht zu beruhigenden Konflikt geben müsse, der verhindert, daß es ohne externe Eingriffe und Entwicklungen zur Herrschaft kommt (vgl. dazu schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Frage nach dem Ursprung der sozialen Ungleichheit ist also letztlich: Wie kommt „Herschaft“ zustande? Es ist die Frage nach der Institutionalisierung von Regeln ganz allgemein, und die wird, wieder ganz allgemein, über drei mögliche Mechanismen beantwortet: Dekret, Vertrag oder Evolution (vgl. auch dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich, sowie schon Abschnitt 3.1 oben in diesem Band). Dekrete zur Einrichtung der Herrschaft fallen als „endogener“ Mechanismus aus, weil sie die Herrschaft schon voraussetzen. Und Verträge zur Einrichtung von Herrschaft sind, ohne daß es eine die Verträge schon absichernde Herrschaft gäbe, für die Akteure so riskant, daß sie kaum geschlossen werden.
Historisch ist daher, kaum verwunderlich, die Sache wohl in den meisten Fällen anders gelaufen. Herrschaft ist zwar – oft genug – über brutale Gewalt von außen, etwa durch Eroberungen, oktroyiert worden, und die darauf folgende soziale Ungleichheit spiegelte dann die jeweiligen, von außen durchgesetzten Machtverhältnisse. Sie ist aber auch vielfach über eine Art von ungeplanter Ko-Evolution entstanden: als allmähliche, spontane, fast simultane Entstehung von Herrschaft, Surplus-Erzeugung, ungleicher Verteilung über die Nutzung der mit der Herrschaft verbundenen Macht und der daran anschließenden institutionellen Verfestigung der einmal entstandenen sozialen Ungleichheit durch Privilegien und schließlich auch durch Prestige. Wie bei jeder Evolution hat sich der Vorgang der Entstehung von im Prinzip ja repressiver Herrschaft wohl auch so unmerklich und nicht-repressiv vollzogen, daß anfangs auch die „Beherrschten“, oder gerade die!, sichtbar erleben konnten, daß ihnen ein Souverän sehr nützlich war, etwa indem er die unproduktiven internen Streitigkeiten unterband und/oder die externen Bedrohungen fernhielt. Oft genug verfielen sie ihm sogar als einem charismatisch verehrten Führer. Anfangs! Die – ungeplante und nahezu unmerkliche – Emergenz von Herrschaftszentren, etwa in Form größerer Höfe oder dörflicher Agglomerationen zu einer Art von regionalem Koordinationszentrum, waren dann historisch wohl die Vorraussetzung für den Übergang von den Notgemeinschaften der Stammesgesellschaften zu den größeren gesellschaftlichen Verbänden, in denen es dann erst Arbeitsteilung und Surpluserzeugung in größerem Maße geben konnte, zuerst die großen Staats- und Feudalgesellschaften und später die funktional differenzierten Gesellschaften der Moderne mit der demokrati-
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schen Organisation der Herrschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Die Reproduktion der sozialen Ungleichheit
Systeme der sozialen Ungleichheit neigen, wenn es sie einmal gibt, dazu, sich zu verfestigen, und das, wenn es keine externen Störungen gibt, alsbald sogar in der Form einer verfilzten Ständegesellschaft (vgl. dazu schon Abschnitt 4.2 oben). Das hat einige naheliegende Gründe. Den ersten kennen wir schon: Die jeweils „herrschende“ Klasse hat alle Möglichkeiten, die zunächst rein „funktional“ begründete Herrschaftsposition zur auch institutionellen Absicherung ihrer „privilegierten“ Positionen zu nutzen. Und das tut sie auch. Dabei helfen, gerade auch in Demokratien mit ihren verfassungsmäßig vorgesehenen Möglichkeiten einer Zirkulation der Eliten, die während der Zeit der Herrschaft aufgebauten Netzwerke und Beziehungen sehr. Eliten bilden – über alle sonstigen Interessen- und Ideologieunterschiede hinweg – gerne sog. Verteilungskoalitionen, weil sie ein übergreifendes Interesse eint: das Interesse am Erhalt der Herrschaft. Und genau deshalb gibt es die Rotarier, die Golfklubs, die Festkomitees und die heimlichen Saunen in Ludwigshafen-Oggersheim, sowie die dazugehörigen Underkonten. Das ist die eine, die, wenn man so will, repressive und korruptive Seite der Stabilisierung und Feudalisierung jeder einmal eingerichteten Herrschaft und der dadurch erzeugten sozialen Ungleichheit. Es gibt aber auch die andere Seite: die „freiwillige“ Hinnahme der unteren Positionen und der nicht erzwungene Verzicht auf Investitionen, entweder zum sozialen Aufstieg oder aber zur Änderung des jeweils „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems. Die Etablierung einer Herrschaft hat dabei einen, sozusagen, eingebauten Mechanismus der Selbststabilisierung: Mit der jeweiligen Herrschaft werden ja die nun alles „beherrschenden“ primären Zwischengüter und die erlaubten indirekten Zwischengüter festgelegt. Wer jetzt etwas erreichen will, muß sich nach den jetzt geltenden sozialen Produktionsfunktionen richten und den jeweils herrschenden „Normen“ fügen. Auf diese Weise wird in der Tat die Konformität zu den Normen der Gesellschaft zu einem Allokationsmechanismus der interessanten Ressourcen und darüber zu einer „Ursache“ der sozialen Ungleichheit, so wie das Ralf Dahrendorf seinerzeit vorgeschlagen hat (vgl. Dahrendorf 1974a, S. 368ff.). Mit einem Male werden, sagen wir einmal, wieder die roten Parteibücher interessant, während es vorher die schwarzen waren. Und plötzlich wedeln, mit dem Wahlsieg der SPD und der Grünen im Herbst 1998, die Kinkel-gewohnten Beamten des Außenministeriums um Joschka Fischer herum, den sie vorher, und vielleicht insgeheim immer noch, eigentlich für einen windigen Turnschuh und gefährlichen Chaoten halten. Es ist das Phänomen der Wendehälse, der Märzgefallenen, der „Opportunisten“, der Karrieristen, das jede einmal zur Herrschaft gekommene Herrschaft wie von selbst stabilisiert.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Warum darüberhinaus alle Versuche der unteren Schichten, selbst entweder in die herrschende Klassen einzudringen oder das gesamte System zu ändern, so unwahrscheinlich sind, läßt sich mit dem Modell, das wir im Zusammenhang der Bildungsentscheidungen in Abschnitt 7.2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits kennengelernt haben, leicht verstehen: Die Beibehaltung des Status quo bringt einen sicheren Ertrag, jeder Versuch, den Aufstieg oder gar eine Revolution zu wagen, sind dagegen höchst unsicher und obendrein mit ganz erheblichen Kosten verbunden. Und so bleibt es dabei, was sich so oft beobachten läßt: Die beherrschten Massen fügen sich, und das, wie es scheint, ganz ohne besondere Gefühle der Benachteiligung oder gar der Unterdrückung. In diesem Zusammenhang ist das von Norbert Wiley entwickelte Konzept der Mobilitätsfalle wichtig und interessant.52 Dabei wird davon ausgegangen, daß es bestimmte Kernbereiche in einer Gesellschaft gibt, in die man hineinkommen muß, um im Statussystem ganz nach oben zu kommen. Um diesen Kernbereich des „Stammes“ der Gesellschaft herum sind „Zweige“ von Neben- oder Randbereichen angeordnet, innerhalb derer es zwar auch Aufstiegsmöglichkeiten gibt, die aber rasch an ihre Grenze stoßen. Beispiele dafür sind insbesondere die ethnischen Gruppen in einer Gesellschaft mit einem „herrschenden“ sozio-kulturellen Zentrum, etwa die Farbigen bzw. die Hispanics gegenüber den White-Anglo-Saxon-Protestants in den USA oder die Türken gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung. Für die „Rand“-Gruppen gibt es nun, etwa wenn sie eine institutionell ausgebaute ethnische Gemeinde bilden, immer zwei Möglichkeiten der Investition in einen sozialen Aufstieg: die relativ sichere Investition zum Aufstieg in der jeweils eigenen Gruppe und die relativ unsichere Investition zum Aufstieg in der Kerngesellschaft. Über das o.a. „Status-quo“-Modell ist es nicht schwer vorherzusagen, was geschieht: Die Mitglieder der „Rand“-Gruppen verzichten, weil der Erfolg meist sehr ungewiß ist, auf die zum „richtigen“ Aufstieg nötigen Investitionen – und das auch dann, wenn sie genau wissen, daß sie das bald in eine Sackgasse führen wird. Neben den ethnischen Gruppen nennt Norbert Wiley noch andere Beispiele für solche Fallen: Mütter, die sich zu ausschließlich auf ihre Kinder konzentrieren und dann plötzlich vor dem „empty nest“ stehen; die Überspezialisierung in einem Beruf – etwa auch in einem soziologischen Paradigma oder einer speziellen methodischen Fertigkeit; die Konzentration auf die lokalen Angelegenheiten; und – ganz allgemein – die „minority group trap“, wozu nicht nur die ethnischen Gruppen, sondern alle anderen „religious, female, radical political und other relatively powerless groups“ gehören, die ein gewisses „advancement within their ghettos“ versprechen, aber ansonsten in das Abseits der Kerngesellschaft führen. Der Posten einer Frauenbeauftragten wird, wie man sich jetzt leicht vorstellen kann, von den wirklich auf ihre Karriere bedachten Frauen in der Tat nicht gerne übernommen.
Sozialer Aufstieg setzt also die konsequente Orientierung an der jeweils herrschenden Kernkultur einer Gesellschaft und die nachhaltige Entfremdung von der eigenen Gruppe voraus. Und deshalb gibt es wohl auch keine wirklich multikulturellen Gesellschaften, sondern stets – mehr oder weniger ausgeprägte – ethnische Schichtungen: Die „Rand“-Gruppen verzichten 52
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose (Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto 1970, S. 397-408.
Soziale Ungleichheit
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prägte – ethnische Schichtungen: Die „Rand“-Gruppen verzichten zumeist ganz „freiwillig“ auf die für die „strukturelle Assimilation“ nötigen Investitionen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 dieses Bandes). Und deshalb bedarf es in aller Regel auch keiner repressiven Maßnahmen, „damit“ sich die einmal etablierte (Feudal-)Ordnung der sozialen Ungleichheit nicht ändert. Es ist, wenn man so will, ein Fall der unmerklichen, unintendierten, aber nichtsdestoweniger höchst wirksamen „strukturellen Gewalt“, vermittelt über die „Lebenswelten“ der jeweiligen „Rand“Gruppen und der darin immer auch vorhandenen Möglichkeiten, sich sein – vergleichsweise bescheidenes – Leben einzurichten. Soziale Ungleichheit und das Problem der Gerechtigkeit
Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, daß die Menschen alle Formen der sozialen Ungleichheit unterschiedslos als „gerecht“ empfinden: Hinnahme ist etwas anderes als Anerkennung. Selbst die Mitglieder der (unteren) Kasten in Indien hadern, wie man hört, gelegentlich mit ihrem Schicksal. Und nicht alle Soziologen hat der Versuch von Davis und Moore überzeugt, daß es die soziale Ungleichheit überall, also auch in den modernen Gesellschaften, geben müsse, damit die Gesellschaft funktionieren könne und es den Menschen gut gehe. Erich Weede stellt zu Recht fest: „In keiner existierenden Gesellschaft können ... die beobachtbaren Ungleichheiten des Einkommens und sonstiger Privilegierung mit dem Verweis auf funktionale Notwendigkeiten erklärt oder gerechtfertigt werden.“ (Weede 1992, S. 209; Hervorhebungen so nicht im Original)
Aber natürlich wechselt das Ausmaß der Einsicht in die Richtigkeit und die Gerechtigkeit eines einmal herrschenden Systems der sozialen Ungleichheit. Es ist ein Spezialfall der Frage nach der Legitimität einer sozialen Ordnung und der Integration der Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 6 dieses Bandes ausführlich, sowie Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In stark geschichteten und auf Zuschreibung beruhenden Gesellschaften sorgt, wie wir eben gesehen haben, die Aussichtslosigkeit einer Änderung in gewisser Weise für eine spezielle Art der Legitimation der sozialen Ungleichheit: die resignative Hinnahme des unausweichlichen Schicksals. In den – formal und rechtlich – offenen Gesellschaften ist die Rechtmäßigkeit der sozialen Ungleichheit dagegen programmatisch umstritten: Alle Menschen sind vor Gott oder der Natur gleich, und nur die „Leistung“ zählt. Statusvererbungen und Diskriminierungen dürfen nicht vorkommen, wohl aber, auch sehr ausge-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
prägte, soziale Ungleichheiten als Ergebnis unterschiedlicher Leistungen und des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage auf einem offenen (Arbeits-)Markt. Aber auch in den offensten Gesellschaften sind die „Leistungen“ nicht voraussetzungslos: Es gibt immer Startvorteile und Startnachteile, und die werden in der Familie verteilt, über auch durch Familien und Verwandtschaften abgesicherte Netzwerke und Verteilungskoalitionen und durch die „primäre“ Zugehörigkeit zu gewissen Milieus und Bezugsgruppen gelenkt. Die Familie, die Verwandtschaft und die primären Milieus und Bezugsgruppen kann sich aber wiederum niemand selbst aussuchen. Und sofort stellt sich dann die Frage, wie sich diese Unterschiede in den über die Familie und die Milieus vermittelten Startungleichheiten rechtfertigen lassen. Und so werden, etwas unvermutet, die Familie, die Sozialisation, die Gruppenzugehörigkeit und das kulturelle Kapital ganz allgemein zum Ankerpunkt der Frage nach der Rechtfertigung der sozialen Ungleichheiten – gerade wieder in den modernen Gesellschaften. Weil nun aber niemand die Familie abschaffen kann (und will) und jeder in ein primäres Milieu des Alltagslebens hineingeboren wird, das ganz zu Anfang schon die Startvorteile oder -nachteile verteilt, gibt es keine abschließende Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung der sozialen Ungleichheit. Es ist das Problem der Integration von Gesellschaften angesichts der Frage, wie sich die offenbar unvermeidlichen sozialen Ungleichheiten rechtfertigen und die damit verbundenen Spannungen regulieren lassen.
Kapitel 5
Inklusion und Exklusion
Wenn man den Statuserwerb als Plazierung von Akteuren in sozialen Systemen ansieht, wird deutlich, daß die soziale Ungleichheit der Bevölkerung einer Gesellschaft eng mit der sozialen Differenzierung dieser Gesellschaft in soziale Systeme zusammenhängt: Die verschiedenen Ressourcen und Eigenschaften, aus denen sich die gesellschaftliche Lage der individuellen Akteure ergibt, sind die – direkte oder indirekte – Folge der durch die Plazierungen bewirkten Mitgliedschaft der Akteure in den verschiedenen sozialen Systemen, insbesondere in den funktionalen Sphären, wie dem Bildungssystem oder den verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes, sei es in der Wirtschaft oder in der staatlichen Verwaltung, sei diese Mitgliedschaft nun dauernd oder nur zeitweise. Der Eintritt bzw. die vollzogene Mitgliedschaft von Akteuren in sozialen Systemen wird auch als die Inklusion der Akteure in die „Gesellschaft“ bzw. ihre Teilsysteme bezeichnet. Statuserwerb ist so gut wie immer Inklusion. Und wo es Inklusion gibt, da hat man auch das Gegenteil: die Exklusion. Das ist schlicht die Nicht-Mitgliedschaft in einem bestimmten sozialen System, sei es, daß man nicht hineingekommen ist, etwa in die Oberstufe oder in das Kabinett des Kanzlers Schröder, oder wieder ausscheidet. Freiwillig oder nicht. Nicht wahr, Oskar! Auf diese Weise werden auch die vielen anderen, gesellschaftlich „relevanten“ Eigenschaften erzeugt, aus denen sich die gesellschaftlichen Lagen und Strukturen der Ungleichheit ergeben: Verheiratet wird man durch die „Inklusion“ in das System einer Ehe, und geschieden durch die „Exklusion“ daraus mit dem formellen Akt der Scheidung. Deutscher wird man durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft, die aber auch wieder aberkannt werden kann. Oder zum Patienten wird man durch die Einweisung in ein Krankenhaus, und mit dem Tag der Entlassung ist man die Rolle des Patienten wieder los – auch wenn man sich noch ganz schlapp fühlt.
Inklusion und Exklusion gibt es für alle sozialen Systeme, nicht nur für die funktionalen Sphären der Gesellschaft. Entsprechend werden auch die kulturellen und die normativen Dimensionen der gesellschaftlichen Lagen erworben oder wieder abgelegt: Zum Lebensstil etwa des „Selbstverwirklichungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen
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Die Konstruktion der Gesellschaft
chungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen Milieus der sog. Hochkultur und der freiwilligen und hochnäsigen Exklusion aus den proletarischen Kreisen des (Massen-)Sports – wenn sie nicht versuchen, diesen Stil von außen nachzuahmen, ohne sich direkt an den betreffenden Milieus oder Szenen zu beteiligen. Wozu gibt es denn die Szene-Zeitschriften? Und zum, meist mißtrauisch beäugten, „Fremden“ wird man, etwa, durch Auswanderung und den schwierigen Versuch der „Integration“ in die neue Gesellschaft, oft genug mit der Folge einer Exklusion aus fast allen sozialen Systemen und damit, daß sich die Fremden in einer Gesellschaft alsbald zu einem neuen sozialen System zusammenschließen, das – mehr oder weniger – außerhalb der Normen der Gesellschaft steht, dem Devianz-System einer ethnischen Gemeinde zum Beispiel. Und plötzlich haben auch die an sich höchst traditionalen law-and-order-Migranten aus Ostanatolien den Status der kulturellen und normativen Devianz, weil sie nur diese eine Möglichkeit der Inklusion hatten: die in die von ihnen gebildete Sub-Gesellschaft. Und wer jetzt noch versucht, in die besseren Kreise der Aufnahmegesellschaft aufzusteigen, wird bald merken, daß er auf Widerstände und „exklusive“ Distinktionen stößt, die durch individuelle Bemühungen kaum zu überwinden sind.
Nahezu alles, was die Menschen „sind“, werden sie durch die Muster von Inklusion und Exklusion in Bezug auf die verschiedenen sozialen Systeme der Gesellschaft. Darüber entstehen dann typisch unterschiedliche soziale Aggregate bzw. Kategorien, etwa nach Alter und Geschlecht, nach Familienstand, nach Rasse und Klasse, nach Einkommen, Beruf und Bildung, oder nach nationaler oder regionaler Zugehörigkeit. Natürlich gibt es noch andere, durchaus auch gesellschaftlich relevante Unterschiede zwischen Akteuren, die sie nicht unbedingt aus der Inklusion in bestimmte soziale Systeme beziehen müssen, wie eine überlegene Intelligenz, eine große Körperkraft oder eine atemberaubende Schönheit. Aber auch diese, zunächst sehr „individuellen“ und „absoluten“ Eigenschaften (vgl. auch Abschnitt 11.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) werden oft erst dann für die Nutzenproduktion wichtig und wirksam, wenn sie in bestimmten sozialen Systemen zum Tragen kommen, wie etwa die Intelligenz in der Wissenschaft, die Kraft bei der Schwerathletik oder die Schönheit in einem Nachtklub. Und so kann man festhalten (vgl. auch schon Abschnitt 4.1 und Abbildung 4.4 in diesem Band): Über die Prozesse der Inklusion und Exklusion treten die individuellen Akteure der Bevölkerung mit den sozialen Systemen der Gesellschaft systematisch in Beziehung. Die Akteure werden in durchaus vorhersagbarer Weise in bestimmte soziale Systeme inkludiert – und in andere eben nicht. Sie durchlaufen dabei jeweils bestimmte Karrieren von Inklusion und Exklusion, die sich dann als typische biographische Muster bei den Akteuren niederschlagen: Kindergarten, Grundschule, Abitur, Studium, erster Beruf, Heirat, zweiter Beruf – und so weiter, evtl. bis zum Altersheim. Und über die dabei erworbenen Eigenschaften und Ressourcen bestimmen sich die jeweiligen sozialen Lagen und darüber dann das Muster der sozialen Ungleichheit
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Inklusion und Exklusion
der Bevölkerung einer Gesellschaft. Die soziale Ungleichheit ist, kurz gesagt, die Folge typischer Muster von Inklusion und Exklusion der Akteure in die sozialen Systeme einer Gesellschaft. Prozesse der Inklusion Es gibt zahllose, teilweise äußerst komplizierte, Vorgänge wie es zu Inklusion und Exklusion kommt. Mindestens zwei verschiedene Dimensionen des Problems können unterschieden werden. Die erste Dimension ist der Mechanismus der Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme. Hier sind zwei Formen zu unterscheiden: die Inklusion über die bloßen Interessen der Akteure und in der Form von Märkten einerseits und über die Anwendung institutionalisierter Regeln andererseits. Geschieht die Inklusion über Interessen und Märkte, wollen wir von Marktinklusion sprechen, erfolgt sie nach Regeln, von Regelinklusion. Die zweite Dimension bezieht sich auf das Verhältnis der Akteure zu den sozialen Systemen. Auch hier sind zwei Varianten zu unterscheiden: die Plazierung von „externen“ Akteuren auf vakante Positionen in bereits bestehende soziale Systeme einerseits und die mit der Inklusion erst entstehende, simultan erfolgende Konstitution der sozialen Systeme andererseits. Im ersten Fall sei von Plazierungsinklusion, im zweiten von Konstitutionsinklusion gesprochen. Mit der Kreuzung der beiden Dimensionen ergeben sich folglich vier Typen von Prozessen der Inklusion von Akteuren in soziale Systeme (Abbildung 5.1).
Markt
Regel
Plazierung
Berufsposition
Staatsbürgerschaft
Konstitution
Partnerschaft
Staatenbildung
Abb. 5.1: Typen von Prozessen der Inklusion (mit Beispielsfällen)
In den Zellen des Diagramms ist jeweils ein typisches Beispiel für die betreffende Typenkombination aufgeführt. Wir gehen die Kombinationen der Reihe nach durch.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Fall 1: Plazierung auf Positionsmärkten Die Inklusion über Interessen kann man sich am einfachsten für die Plazierung über einen Markt der Besetzung von Positionen vorstellen, etwa bei der Übernahme einer beruflichen Position (siehe dazu auch schon Abschnitt 4.5 in diesem Band zur Statuszuweisung). Plazierungen gibt es nur in den, etwa als Organisation schon bestehenden, sozialen Systemen einer Gesellschaft. Dort existieren bestimmte, zeitweise vakante Positionen, die mit konkreten Akteuren zu besetzen sind, etwa Arbeitsplätze in Betrieben, Lehrstühle an Fakultäten oder Mandate in einem Parlament. Für diese Positionen interessieren sich nun die Akteure der Gesellschaft, wenngleich nicht alle in der gleichen Weise und nicht zu allen Gelegenheiten. Wir wollen die interessierten Akteure „außerhalb“ der sozialen Systeme als die Bewerber bezeichnen. Ob eine Position zu besetzen ist und wer sie bekommt, entscheiden ebenfalls wieder Akteure, nämlich diejenigen in den sozialen Systemen, die dort für die Besetzung der Positionen zuständig sind, davon ihren Lebensunterhalt beziehen und deshalb ein besonderes Interesse an der möglichst angemessenen Plazierung von Akteuren von „draußen“ haben: Unternehmer bzw. Personalchefs, Berufungskommissionen oder der „Wähler“ bzw. vorher die Delegiertenversammlungen der Parteien, etwa. Wir wollen diese – teilweise: kollektiven oder korporativen – Akteure, die über die Plazierungen zu entscheiden haben, als Positionierer bezeichnen.
Die Bewerber entwickeln somit eine Nachfrage nach Positionen und bieten sich den Positionierern zur Besetzung an, und die Positionierer bieten die Positionen an; und entwickeln eine Nachfrage nach ihnen geeignet erscheinenden Bewerbern. Zur Inklusion eines speziellen Bewerbers in ein soziales System kommt es dann, wenn sich Angebot und Nachfrage treffen. Und das heißt: Wenn der Positionierer überhaupt eine Position anbieten kann und den Bewerber annehmen will und wenn der Bewerber dem Angebot zu den gegebenen Bedingungen, etwa dem für seine Leistungen angebotenen Einkommen, zustimmt. Das aber ist genau ein Markt, auf dem sich ja auch Anbieter und Nachfrager mit ihren Möglichkeiten und Interessen und zu einem gemeinsamen Preis von Leistung und Gegenleistung treffen (vgl. dazu ausführlich noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Modellfall für diesen Vorgang der (nur) nach Interessen verlaufenden Marktinklusion in bereits bestehende soziale Systeme als Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage ist wohl der Arbeitsmarkt, wiewohl gerade auch dieser Markt oft von allerlei Regeln und marktfremden Verzerrungen durchzogen ist. Hier gibt es in der Bevölkerung der Gesellschaft – mehr oder weniger zahlreiche – Bewerber, die potentiellen „Arbeitnehmer“. Und es gibt die „Arbeitgeber“, bzw. die Personalchefs, als die Positionierer in den Betrieben. Wenn die Bewerber auf die Arbeitsplätze aus der Sicht der Arbeitgeber hinreichend geeignet erscheinen, und wenn die angebotenen Gegenleistungen dem Bewerber ebenfalls zusagen, dann kommt es zur Einstellung, zur „Inklusion“ in die funktionale Sphäre der Wirtschaft – bis zur Kündigung oder Pensionierung.
Inklusion und Exklusion
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Diese Form der Inklusion gibt es überall da, wo es Märkte gibt, vor allem aber – natürlich – in der funktionalen Sphäre der Wirtschaft, aber auch, wenngleich in komplizierterer Weise der Aggregation der vielen Entscheidungen, in der Politik oder in vielen anderen Sphären des öffentlichen Lebens, in denen es „Bewerbungen“ auf „Positionen“ gibt. Freilich sind das, meist mehr noch als die Arbeitsmärkte, alles andere als „perfekte“ Märkte, sondern solche, die allen möglichen Beschränkungen und Regulierungen unterliegen. Das ist etwa bei der Bildung der Fall, wo sich die Studenten ihre Universitäten und die Universitäten ihre Studenten eben nicht frei aussuchen können, und wo es deshalb zwar auch zu Bildungsangeboten (in Form von Studienplätzen) und Bildungsnachfrage (in Form von Bewerbungen auf Studienplätze) kommt, wo aber der jeweils entstehende „Markt“, etwa, durch die künstliche Öffnung der Universitäten für alle (mit Abitur) bzw. durch den numerus clausus für einige Fächer deutlich verzerrt ist (vgl. dazu auch noch das Beispiel zur Auswirkung von Studiengebühren auf den Bildungs-„Markt“ in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Besonderheit hier ist jedoch stets die, daß sich die Akteure „draußen“ auf die Positionen in sozialen Systemen bewerben, die auch ohne sie bestehen würden und für die es eine – mehr oder weniger große – Zahl von Mitbewerbern, von Konkurrenten gibt, von der u.a. abhängt, wie hoch der Preis ist, den jemand verlangen kann, wenn er eine bestimmte Position besetzen würde. Gibt es viele konkurrierende Bewerber auf wenige Positionen, sinkt der Preis, etwa für die Arbeit, und die Arbeitnehmer haben ein vergleichsweise niedriges Einkommen. Und umgekehrt. Die Plazierung in bestehende funktionale Systeme über den Mechanismus des Marktes entspricht den Prinzipien der Entstehung von sozialer Ungleichheit in der Form von sozialen Klassen. Im einfachsten Fall also: Die Akteure treffen mit ihren, unter anderem durch die Eigentumsordnung verteilten, Ressourcen „frei“ aufeinander, und diejenigen, die sich „außerhalb“, etwa des Besitzes von Produktionsmitteln, befinden, müssen, um in das System der Gesellschaft inkludiert zu werden, das anbieten, was sie haben – ihre Arbeitskraft. Die wird auch – immer noch – gerne genommen, weil sie die wichtigste Produktivkraft ist. Aber wenn es mehr Bewerber als Plätze gibt, dann müssen einige draußen bleiben. Und die senken das Einkommen bzw. die Qualität der Gegenleistungen für alle diejenigen, die drinnen sind oder hinein möchten. Karl Marx sprach angesichts der großen Massen an Arbeit suchenden Menschen vor den Toren der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft ganz treffend auch von einer industriellen Reservearmee. Es gibt solche „Reservearmeen“ natürlich auch für die vielen anderen, bereits fest organisierten sozialen Systeme der Gesellschaft, insbesondere die der funktionalen Sphären. Und in der sog. Dritten Welt sammeln sie sich in den trostlosen Elendsvierteln der Metropolen, so wie das früher vor den Toren der Städte Europas schon einmal
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Die Konstruktion der Gesellschaft
und inzwischen mit den Immigrantenvierteln hier auch wieder, der Fall (gewesen) ist. Fall 2: Konstitution als Marktgeschehen Bei der Inklusion als Konstitution entsteht das betreffende soziale System im Akt der Inklusion selbst. Ein besonders interessanter Fall einer solchen Konstitutionsinklusion über den Mechanismus des Marktes ist jener der Bildung von Partnerschaften, wie wir wissen. Auf dem Partnerschafts- oder Heiratsmarkt gibt es „Bewerber“ und „Positionierer“ und sogar als „vakant“ empfundene Plätze (an der jeweiligen „Seite“ nämlich). Aber es gibt, anders als bei einem Betrieb und einer Behörde, das soziale System der Partnerschaft noch nicht, in das hinein „plaziert“ werden könnte. Das dazu „nötige“ soziale System entsteht ja erst in dem Moment, in dem sich die (beiden) Akteure einigen, die Beziehung einzugehen. Es handelt sich bei der Konstitution von Partnerschaften überdies um den Sonderfall einer dyadischen, symmetrischen und reziproken Inklusion: Jeder der beiden Akteure ist stets gleichzeitig Bewerber und Positionierer, und erst mit der beiderseitigen Übereinkunft als Bewerber und Positionierer entsteht das soziale System einer Partnerschaft (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in diesem Band zur „Emergenz“ einer Freundschaft). Partnerschaften wären damit besondere Fälle der Konstitutionsinklusion: Der Konsens der Akteure schafft das soziale System und besorgt gleichzeitig – uno actu – deren Inklusion darin. Und die Exklusion auch nur eines Akteurs, etwa über das Verlassen des Partners oder den Tod, beendet es unmittelbar wieder. Es besteht weder „vorher“, noch „nachher“. Und weil es auch hier, wenn man nur etwas genauer hinsieht, um ein Zusammentreffen von Interessen, von Angebot und Nachfrage geht, auch natürlich um unterschiedliche „Preise, wenn es mehr oder weniger attraktive Mitbewerber gibt, ist es – in der oben eingeführten Terminologie – ein Fall der Konstitutionsinklusion, der sich als Markt-inklusion vollzieht. Über diesen Vorgang der Konstitutionsinklusion nach dem Marktprinzip entstehen, bestehen und wandeln sich zahllose andere Assoziationen, also nicht-organisierte soziale Gebilde, auch solche mit einer Vielzahl von Akteuren, wie etwa spontane Freizeitgruppen. Die nicht-organisierten kulturellen Milieus und Szenen, etwa die der neuen sozialen Ungleichheit, entstehen und „bestehen“ auch so – durch die fortwährende Beteiligung von Akteuren an den diese sozialen Systeme „definierenden“ Aktivitäten und Stilisierungen. Und ebenfalls ent- und bestehen und wandeln sich so die diversen Sub- und Gegenkulturen der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft. Sie gibt es nur über
Inklusion und Exklusion
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die sie aktuell tragenden Akteure. Und sie variieren daher je nach der Anzahl der so inkludierten Akteure unmittelbar in ihrem Umfang. Wenn die Sub- und Gegenkulturen immer mehr Akteure mit bestimmten Interessen an sich ziehen, dann haben wir es sogar mit einer sozialen Bewegung zu tun. Auch die konstituieren sich, etwa in der Form einer Demonstration, nur im Moment der Inklusion der daran teilnehmenden Akteure – und verlaufen sich dann ggf. wieder. Und weil die Partizipation an diesen sozialen Systemen im Prinzip nicht geregelt ist, sondern sich (nur) über die Interessen der Akteure entwickelt, sind das auch alles Fälle der Inklusion über Interessen, und daher ebenfalls eine spezielle Form des Marktgeschehens. Fall 3: Plazierung nach Regeln Keineswegs alle Inklusionen erfolgen nur nach Interessen und nur nach dem Prinzip des Marktes. Viele, womöglich die meisten, geschehen über Regeln, insbesondere über Rechte und darauf gründende Ansprüche, oft dann aber auch mit unabweisbaren Pflichten verbunden. Wieder kann danach unterschieden werden, ob es über die Anwendung von Regeln zu einer Plazierung in bereits bestehende soziale Systeme kommt oder ob sich durch die Inklusion nach Regeln ein soziales System erst konstituiert. Zu einer Plazierung nach Regeln kommt es beispielsweise bei der Inklusion von Akteuren in einen Nationalstaat durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach den Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsrechtes des jeweiligen Landes. Den jeweiligen Staat gibt es schon, und in ihm die „Positionen“ der Staatsbürger. Die Neugeborenen werden in ihn nach gewissen Regeln des Staatsbürgerschaftsrechtes inkludiert, etwa nach dem jus soli, das besagt, daß jeder zum Staatsbürger wird, der auf dem Boden des Staates geboren wird, oder nach dem jus sanguinis, das über die ethnische Abstammung bestimmt, wer per Geburt Staatsbürger ist oder nicht. Wer – wie auch immer – eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, ist folglich auch gleich in zwei Staaten inkludiert. Und wer keine hat, ist staatenlos und exkludiert. Die Plazierungsinklusion nach Regeln gilt für alle möglichen Rechte und deren Wahrnehmung durch die Akteure. Die Reichweite der Regeln ist dabei durchaus unterschiedlich. Es gibt allgemeine und nicht ablegbare Rechte, wie die Grundrechte, über die alle Menschen in die „Gesellschaft“ inkludiert sind und zu „Bürgern“ werden, und vor denen es beispielsweise keine nicht als „Menschen“ angesehene Sklaven gibt. Andere Rechte waren oder sind beschränkt oder gelten nur unter bestimmten Bedingungen, wie etwa das Wahlrecht, das zunächst nur wenige hatten und dann erst allmählich zum „allge-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
meinen“ Recht wurde, oder die Anrechte auf die diversen Leistungen des Wohlfahrtsstaates, wie das Recht auf Bildung, auf Gesundheitsversorgung und auf Sozialhilfe, wenn alle Stricke reißen. Ein weiterer Fall der Plazierungsinklusion nach Regeln wäre die Mitgliedschaft in – mehr oder weniger: „exklusiven“ – Klubs, wie das etwa die Rotarier oder der ETUF, der Essener Tennis- und Fechtverein, sind. Meist gibt es hier sogar sehr strenge Regeln, gerade weil man nicht jeden, der Interesse hat, hineinlassen möchte, selbst wenn das einzelne Mitglied das gerne sähe. Das oberste Gut solcher Klubs ist die Exklusivität, und der freie Markt wäre nur etwas für den Pöbel. Fall 4: Konstitution über Regeln Fälle der Inklusion durch Konstitution nach sozialen Regeln sind nicht leicht zu finden. Die Staatenbildung könnte man wohl als einen Fall der Konstitutionsinklusion nach Regeln ansehen. Mit dem verfassungsgebenden Akt der Staatsgründung konstituiert sich der (National-)Staat als politische Gemeinschaft aller derjenigen, die ihm nach einer bestimmten Regel formell zugehören, ob sie das wollen oder nicht. In ähnlicher Weise könnte man sich die Bildung einer Organisation vorstellen, bei der Akteure beschließen, sich gegenseitig nach gewissen Regeln in eine solche Organisation zu inkludieren, etwa indem sie einen Verein oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung gründen. *** Die wichtigste Besonderheit der Inklusion nach Regeln, insbesondere die in bestehende Systeme, ist, daß sie – im Prinzip – auch unabhängig von (bloßen) Interessen und Marktgesichtspunkten oder sogar dagegen erfolgt oder gar erfolgen soll. Es ist eine Plazierung eher nach den Prinzipien des Standes und der mit gewissen Merkmalen verbundenen Privilegien. Die exklusive Selbstinklusion des Adels nach dem Kriterium der Geburt ist eines der markantesten Beispiele dafür. Beim Adel ist nämlich, wie bei spontanen Gruppen, Ehen und Familien, das Aggregat der „adligen“ Akteure deckungsgleich mit dem Adel als einem sozialen System im Rahmen einer Feudalgesellschaft. Die diversen Rechte, etwa die des Wohlfahrtsstaates, bringen somit ein durchaus ständisches Element in die Gesellschaft, auch wenn sich ansonsten ihre Mitglieder ganz allein nach Interessen und nach Marktgesichtspunkten auf die verschiedenen sozialen Systeme verteilen.
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Die Entstehung der Regeln und der Rechte Die Regeln und Rechte auf Inklusion fallen natürlich nicht vom Himmel. Sie werden, wenn man sich nicht konsensuell darauf verständigt, meist mühsam den Herrschenden abgerungen und schließlich als Gegenleistung für die Erfüllung bestimmter Erwartungen zugestanden. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen Privilegien für die unteren Stände war beispielsweise auch als Korrektur der durch den Markt entstandenen Ungleichheiten und der, so wurde das empfunden, damit verbundenen Ungerechtigkeiten und Loyalitätsprobleme gedacht. Aber das war kein leichter Weg dahin. Denn letztlich ist jedes Zugeständnis der Herrschenden ein Tausch, und ein Recht wird nur zugestanden, wenn es dafür eine Gegenleistung gibt (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Was sollte das aber für eine Gegenleistung der „Massen“ gewesen sein? Die Antwort ist nicht schwer: Anders noch als Karl Marx geglaubt hatte, besaßen die Massen im sich entfaltenden Kapitalismus und den sich ändernden Produktionsstrukturen durchaus mehr als nur ihre Arbeitskraft, ihre Nachkommen und ihre Ketten. Der Staat und die Wirtschaft brauchten zunehmend ihre Loyalität und ihre Qualifikation und, nicht zuletzt, das Militär auch ihre Gesundheit. So wurden, beispielsweise, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und die Kinderarbeit verboten – und das ganze mit allerlei Moral und Soziallehre verziert. Die Rechte wurden den Positionsträgern in der „Gesellschaft“ dabei geradezu abgerungen, und stets die relativ „billigsten“ zuerst: am Anfang die noch verhältnismäßig kostenfreien Bürgerrechte, dann die für die Herrschenden nicht ungefährlichen politischen und dann erst die auch materiell teuren sozialen Rechte des Wohlfahrtsstaates.1 Und auch dann noch ging es immer streng nach Leistung und Gegenleistung: Das Wahlrecht bekamen beispielsweise zuerst nur die Vermögenden, dann gab es das Dreiklassenwahlrecht und schließlich doch das heute übliche allgemeine Wahlrecht nach dem Prinzip „one man, one vote“. Und in der Schweiz durften bis vor kurzem tatsächlich nur die Männer wählen. Märkte versus Regeln Das aber zeigt, daß bei der Etablierung von Regeln – letztlich(!) – doch wieder die Interessen und der Markt das Geschehen bestimmen, und damit die mit der Kontrolle über Ressourcen verbundene Macht der Akteure in gewissen 1
Vgl. dazu Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 40-52 insbesondere.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
gesellschaftlichen Lagen. Sind die Regeln jedoch einmal eingerichtet, gibt es – teilweise in Konkurrenz zu Macht und Markt – eine Fülle von Pfadabhängigkeiten der weiteren institutionellen Entwicklung und oft irreversiblen strukturellen Folgen. Der Sozialstaat, beispielsweise, hat längst seine ganz eigene Eigendynamik entwickelt. Aber auch bei vollzogener Etablierung von Regeln der Inklusion und eigentlich zweifelsfreien „Ansprüchen“ sind die Knappheiten und die Interessen nicht ausgeschaltet: Nicht alle, die eine neue Niere brauchen und darauf einen „Anspruch“ hätten, können eine bekommen, und nicht für alle, die die Universität besuchen wollen und das Recht dazu haben, gibt es einen Studienplatz. Und dann kommt es zu zusätzlichen Vorgängen, die die Inklusion bzw. die Exklusion dann doch wieder über einen, wenngleich versteckten, Markt regeln: Wartelisten für Nierenpatienten mit der Folge, daß einige vor der Transplantation sterben, oder ein numerus clausus, der dazu führt, daß die Professoren höhere Leistungen verlangen können als in dem Fall, daß jeder Zutritt hätte. Letztlich treibt der Marktmechanismus also auch die Veränderung von Regeln der Inklusion und die Entstehung und Änderung der sozialen Systeme: Sozialrechte, etwa, werden eingeschränkt, wenn das Ausmaß der rechtlich einklagbaren Ansprüche die materiellen Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates übersteigen, und wenn die Universitäten die Massen an Studenten, die Abitur machen und die Studierberechtigung erhalten, nicht mehr bewältigen können, dann gibt es Bestrebungen, die „wahren“ Knappheitsverhältnisse, wenigstens teilweise, etwa über Studiengebühren, zu regeln. Funktionale Ausdifferenzierung und Inklusion: das Beispiel der Medizin und des Gesundheitswesens (noch einmal) Die Konstitution der sozialen Systeme und die Inklusion der Akteure ist, auch in seiner gleichgewichtigen Reproduktion, kein statischer Vorgang, sondern ein immerwährender Prozeß. Die Systeme können sich erweitern und immer mehr Akteure einbeziehen, wie bei einer Modeströmung etwa, sie können aber auch in ihrer Reichweite verfallen, weil die Akteure sich nicht mehr beteiligen mögen, wie das bei den großen Kirchen derzeit der Fall ist. Ein wichtiger Spezialfall der Systembildung gerade durch die zunehmende Inklusion von zuvor „exkludierten“ Akteuren ist die „evolutionäre“ Entstehung einer funktionalen Sphäre. Wir haben ihn bereits in Abschnitt 3.1 in diesem Band am Beispiel der Ausdifferenzierung der modernen Medizin über die Einrich-
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tung von Hospitälern im Mittelalter kennengelernt.2 Dieser Fall ist hier auch deshalb interessant, weil sich an ihm zeigt, daß bei der Entstehung sozialer Systeme ganz verschiedene Typen von Prozessen der Inklusion – gleichzeitig oder nacheinander – beteiligt sein können. Die fachlich-neugierige „Nachfrage“ der Ärzte nach möglichst vielen und bei Komplikationen während der medizinischen Experimente möglichst wenig widerspenstigen menschlichen Körpern erzeugte einen Bedarf an, wie es auch heißt, „Publikumsrollen“. Das sind in der Sprache der älteren Soziologie die den Ärzten mit ihren „Leistungsrollen“ zugeordneten „Positionen“ von Patienten. Bis dahin wußte das gemeine Volk außerhalb des fürstlichen Hofes gar nicht, daß es für die Ärzte am Hof interessant sein könnte, und die Ärzte kamen zunächst auch ganz gut ohne irgendein weiteres „Publikum“ aus. Daher gab es zunächst auch nur die „Leistungsrollen“ der Ärzte bei Hof. Das gemeine Volk ließ sich natürlich nicht zweimal bitten, und war auch zufrieden damit, nur als anonymer Körper in der formalen „Position“ eines Patienten behandelt zu werden: Es hatte ein großes Interesse an der Inklusion in die sich entwickelnde Medizin und stand bereitwillig zur „Ausweitung“ der Medizin auf die Publikumsrolle zu Verfügung. Das aber führte – schrittweise – wiederum zu einer Homogenisierung der Ärzte als medizinische Praktiker und gleichzeitig zu ihrer Spezialisierung, etwa als Chirurgen, Pharmazeuten oder Heilkundige, und zu einem Aufstieg der Krankenhausärzte vom Armenmediziner zur professionellen Elite. Die zunehmende Inklusion der Massen aber, als Folge eines beiderseitigen Bedarfs danach, gibt dem so entstehenden sozialen System der Medizin erste funktionsspezifische Konturen und verleiht ihm in den Hospitälern eine organisatorische Grundlage, mit schließlich sorgfältig verwalteten Positionen und Vakanzen – Betten, Ärzte, Pflegepersonal – und allerlei Regeln der „Einweisung“ und der „Entlassung“.
Die Entwicklung der funktionalen Sphäre des Gesundheitswesens und der Prozeß der „Ausweitung der Publikumsrollen“ verliefen also offenbar zunächst mehr über die Markt- und die Konstitutionsinklusion, und erst später mehr und mehr über die Plazierungs- und die Regelinklusion. Die schließlich auch sozialstaatliche Institutionalisierung des „Gesundheitssystems“ mit Krankenkassen, Bundesärztekammer und Gesundheitsministerium sowie dem einklagbaren Anspruch von jedermann auf medizinische Versorgung bedeutete die endgültige Etablierung eines funktionalen Systems, das zunächst als eine Art von Hobby einiger Virtuosen der Heilkunst an den fürstlichen Höfen begonnen hatte, Virtuosen, die für ihre Experimente die Körper des Volkes brauchten, weil sich der Fürst das Experimentieren am Körper Seiner Durchlaucht ganz schön verbeten hätte. Und die Folge des Geschehens nach einigen hundert Jahren: Vor der Krankenkasse und der Gesundheitsreform sind alle, wenigstens: grosso modo, gleich.
2
Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 263f.
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Inklusion und Konstitution: die Ko-Evolution von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit Die soziale Differenzierung einer Gesellschaft und die soziale Ungleichheit der Akteure hängen, wie man sieht, auf das Engste zusammen, bedingen und erzeugen sich gegenseitig. Sie sind beide eine emergente Folge des Handelns der Akteure und dessen Folgen: Die soziale Ungleichheit folgt aus der Aggregation der gesellschaftlichen Lagen, die sich aus der Inklusion der Akteure in die verschiedenen soziale Systeme einer Gesellschaft ergeben. So entstehen soziale Klassen, Stände, Schichten und – neuerdings – die NSU-Milieus, die Gruppierungen der „neuen sozialen Ungleichheit“. Aus diesen Aggregaten der Ungleichheit bilden sich dann – unter Umständen und auf oft verwickelte, meist ungeplante Weise – wieder soziale Systeme, zum Beispiel Interessenverbände und Parteien, etwa Gewerkschaften und Arbeitergeberverbände, SPD und CDU, verschiedene alternative Szenen, etwa jene „grünen“ Szenen der Innehaber von Positionen in kulturellen und sozialen Berufen, auch die eine oder andere ethnische Gemeinde oder Subkultur der Armut, mitunter soziale Bewegungen, etwa die Proteste der gelangweilten postmodernen Bürgerskinder, oder eine Revolution, etwa die der entrechteten Massen, die dann aber doch nie stattfindet. So entstehen funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche, aus denen sich dann wieder über die Inklusion typische gesellschaftliche Lagen und Strukturen der sozialen Ungleichheit bilden. Und so weiter, und so weiter. Die Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme ist der Mechanismus für die Erzeugung der sozialen Ungleichheit aus der sozialen Differenzierung, und die Konstitution der sozialen Systeme der Vorgang, der aus der bloßen Ungleichheit der Akteure wiederum soziale Systeme und die sozialen Differenzierungen entstehen läßt. Die Gleichrangigkeit der Systeme und die Ungleichheit der Menschen Die moderne Gesellschaft ist, wie wir schon mehrmals festgestellt haben, durch einen speziellen Typ der sozialen Differenzierung geradezu definiert: die funktionale Differenzierung. Das heißt: Die Gesellschaft ist unterteilt in deutlich abgegrenzte Sub-Systeme mit jeweils ganz spezifischen funktionalen Aufgaben und lebt fast ganz vom arbeitsteiligen Funktionieren der funktionalen Sphären. Die moderne Gesellschaft ist, wenn man so will, ein gigantischer „Markt“ von unzähligen speziellen Angeboten und speziellen Nachfragen und einer weit ausgebauten Arbeitsteilung und Interdependenz der verschiedenen funktionalen Sphären. Wie bei jeder „funktionierenden“ Arbeitsteilung ist da-
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bei kein Bereich „wichtiger“ oder „unwichtiger“ als ein anderer. Jede Funktion ist, wenn das „System“ einmal so „besteht“, gleich bedeutsam und damit auch gleichermaßen unentbehrlich. Diese funktionale Gleichheit der Systeme ergibt sich dabei gerade aus ihrer funktionalen Unterschiedlichkeit und Ungleichartigkeit: Die Müllabfuhr, der Fluglotsendienst und die Finanzämter sind jeweils etwas ganz anderes. Die Müllabfuhr ist aber genau deshalb funktional ebenso wichtig wie, sagen wir, die Fluglotsen oder die Finanzbeamten, weil außer der Müllabfuhr niemand den Müll wegräumen würde. Und wenn ein Bereich einmal ausfällt, etwa weil die Müllarbeiter oder die Fluglotsen streiken oder die Finanzbeamten wegen Überlastung nicht mehr mitkommen, dann hat das gleich ernste Konsequenzen für alle. Aus der Gleichheit der funktionalen Bedeutung der funktionalen Sphären in den modernen Gesellschaften könnte man einen, wenn man nicht aufpaßt, einfachen Schluß ziehen: Daß sich mit der zunehmenden funktionalen Gleichheit der funktionalen Systeme auch die vertikale Ungleichheit unter den Akteuren verringern müsse oder, wenn nicht, daß dies ein unbeachtliches Nebenprodukt oder ein Relikt alter vormoderner Zeiten wäre. Was spricht, so fragt Niklas Luhmann etwas spöttisch, dagegen, „daß Nobelpreisträger sich selbst die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf ihrem Sofa schlafen lassen?“. Die Antwort: „Das Prinzip funktionaler Differenzierung spricht dafür.“3 So ist es. Und so wird das Konzept der sozialen Klassen zu einer längst überholten Form der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, für die es nun keine strukturelle Grundlage (mehr) gebe:4 Die funktionale Ungleichartigkeit der Systeme erzwinge ihre funktionale Gleichrangigkeit und damit – wenigstens in der Tendenz – die gesellschaftliche wie soziologische(!) Bedeutungslosigkeit der vertikalen (und auch der horizontalen) sozialen Ungleichheit – der Menschen, natürlich (siehe dazu auch noch den Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie gleich unten). Und in der Tat: Nach einer langen Geschichte der stetigen Zunahme der sozialen Ungleichheit von der Urzeit der menschlichen Gesellschaften über die großen Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters hat es in den modernen Gesellschaften einen Umschwung des Trends zur zuerst immer größer werdenden vertikalen Ungleichheit gegeben (vgl. Abbildung 5.2).
3
Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 145.
4
Ebd., S. 143ff.; vgl auch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, Kapitel 5, Abschnitt XVI.: Klassengesellschaft, S. 1055-1060.
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mender funktionaler Differenzierung liegen auf der Hand. Zwei Prozesse sind vor allem zu nennen: die sog. Vollinklusion der Akteure in die Gesellschaft und die Kreuzung der sozialen Kreise. Hinzu kommt ein normativer Zug der Modernisierung: die – auch politisch artikulierte – Forderung nach der Aufhebung von Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten und nicht durch „Leistung“ erzeugter Ungleichheit. Freiheit und Gleichheit sind die Imperative der modernen Gesellschaft, aber, das sei vorsichtshalber gleich hinzugefügt, nicht zwingend auch noch die Brüderlichkeit. Das meinten zuletzt nur noch Oskar Lafontaine und sein Staatssekretär Flassbeck, sowie der Papst aus Rom. Vollinklusion Mit Vollinklusion ist gemeint, daß im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft immer mehr und schließlich ausnahmslos alle Akteure in die verschiedenen funktionalen Sphären und Rechte einbezogen werden – ob die das wollen oder nicht. Die Geschichte der Modernisierung über funktionale Differenzierung kann geradezu als Geschichte dieses Prozesses beschrieben werden: Die zunächst auf wenige „Leistungsrollen“ beschränkten Funktionssysteme breiten sich – als Teil ihrer weiteren Konstitution und Etablierung als funktionale Sphäre(!) – auf ein zunächst draußen stehendes „Publikum“ aus und beziehen dabei die Massen der Bevölkerung über gewisse „Publikumsrollen“ in das Funktionieren ein. Dieser Prozeß geschieht schrittweise – bis alle Akteure, die zur Gesellschaft gezählt werden, erfaßt sind, etwa über das Wahlrecht in das politische System, über die Verbreitung von Kaufkraft in das wirtschaftliche System, über das Recht auf Bildung in das Erziehungswesen oder über die Pflichtversicherung in das Gesundheitswesen. Die in Abschnitt 3.1 dieses Bandes und gerade eben wieder beschriebene Entwicklung des Funktionssystems der Medizin ist ein anschauliches Beispiel dafür: Mit der funktionalen Zuspitzung auf ganz spezifische „exklusive“ Leistungen geht „die Universalität der Einbeziehung von jedermann“ (Stichweh 1988, S. 262; Hervorhebungen so nicht im Original) einher. Die Vollinklusion, etwa über die Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates, sorgt dann natürlich dafür, daß soziale Ungleichheiten verringert werden und daß sich mancher soziale Konflikt dadurch entschärft. Das war ja gerade der Sinn der Sozialgesetzgebung für Bismarck und die damaligen Stände, die begannen, die Arbeiterbewegung zu fürchten und sich auch deshalb daran machten, durch das Zugeständnis politischer und sozialer Rechte die ständische gesellschaftliche Ordnung ihrer Zeit zu retten.
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Multiple Partialinklusion: die Kreuzung der sozialen Kreise Die Kreuzung der sozialen Kreise ist, wie wir aus Kapitel 2 dieses Bandes und mit Georg Simmel wissen, die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren sozialen Systemen mit verschiedenen „Systemlogiken“. Man könnte auch von einer multiplen Partialinklusion der Akteure sprechen. Ein schönes soziologisches Kunstwort haben wir damit erfunden. Mal sehen, ob es sich durchsetzt in jenen Zweigen der Soziologie, die sich mit komplizierten Ausdrücken aufzublähen pflegen. Gemeint ist, daß die Akteure einerseits keinem der sozialen Systeme „ganz“ angehören, sondern immer nur ausschnittsweise mit einem Teil ihrer Identität, daß sie auf diese Weise dann aber andererseits gleich in mehrere soziale Systeme inkludiert sind, womöglich mit drastisch unterschiedlichen funktionalen Aufgaben und Codes. Die wichtigste Folge davon sind hohe Statusinkonsistenzen und die „Individualisierung“ der Akteure insofern, daß sie immer „exklusivere“ Kombinationen von Zugehörigkeiten haben, die sie mit immer weniger anderen Akteuren teilen. Auf diese Weise verringert sich erstens die schiere Zahl der Akteure in gleichen gesellschaftlichen Lagen. Wegen der nurmehr partiellen Beteiligung ist zweitens auch die Identifikation mit dem System jeweils nur partiell. Und es überkreuzen sich drittens wegen der unterschiedlichen Systemlogiken auch die Interessen und die Möglichkeiten und damit die Konfliktlinien. Das hat eine weitere Folge: Die „Identität“ der Akteure zerfällt ebenfalls in lauter verschiedene, in multiple Teilidentitäten, und die Menschen wissen bald kaum mehr, wer oder was sie eigentlich „sind“ (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Kreuzung der sozialen Kreise ist eine unmittelbare Folge der Logik der funktionalen Differenzierung: Gerade weil es keine Inklusion mehr nach Vererbung oder Zuschreibung, sondern nur noch nach „Leistung“ geben soll, verteilen sich die Akteure mehr und mehr nach den Zufällen ihrer Rekrutierung in die Funktionssysteme. Und daher wird die soziale Ungleichheit, das Muster der durch die Inklusion erzeugten gesellschaftlichen Lagen, auch „zufällig“. Meinte die soziologische Systemtheorie früher und erklärte die soziale Ungleichheit und die sozialen Klassen für ein Relikt der Vormoderne. Die Verinnerlichung der Cleavages Die grundsätzliche Vollinklusion in den Geltungsbereich aller Funktionssysteme der Gesellschaft und die Partialinklusion in nur bestimmte Kombinationen von konkreten Funktionssystemen, insbesondere in Familie, Beruf und
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Freizeitbereiche, mit der Folge ganz „individueller“, „exklusiver“ sich in den Interessen und Möglichkeiten kreuzenden gesellschaftlichen Lagen, sind die Folge eines Prozesses. Dieser Prozeß stützt selbst wieder das Funktionieren und die Zuspitzung der funktionalen Differenzierung: Jeder Akteur konzentriert sich ganz auf seinen funktionalen Bereich, und die „Spaltungen“ seiner Interessen und seiner Identität verhindern, daß sich eventuell ansammelnde Unzufriedenheiten zu einem gesellschaftlich bedeutsamen Konfliktpotential aufbauen können. Außerdem sorgt die mit der funktionalen Differenzierung mögliche Wohlstandssteigerung für genügend Ressourcen, die für vieles entschädigen (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und das Konzept der „Legitimation durch Verfahren“). Der Wohlstand ist auch die Grundlage für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der sorgt für die zivile, politische und soziale Vollinklusion der Akteure, im Prinzip auch derjenigen, die – wider Erwartung – keinen „Platz“ in der Gesellschaft gefunden haben. Und so ziehen sich die durchaus weiter bestehenden, ja sogar verstärkenden, Interessen- und Kontrollkonflikte und Cleavages aus abgrenzbaren Aggregaten der Bevölkerung zurück und verlagern sich – sozusagen – in das Innere der Psychen der Menschen. Die Klassenkämpfe finden jetzt, so könnte man sagen, nicht mehr zwischen den Kollektiven von innerlich ganz homogenen Akteuren, sondern in den in ihrer Identität sehr heterogen gewordenen Akteuren selbst statt – als steter Kampf widerstreitender Interessen und Seelen „ach in meiner Brust“, ausgetragen mit viel Maalox und Valium oder entschärft durch ein „moralisches Bewußtsein“, das die Differenzen der inneren Spaltungen zu einer neuen, übergreifenden Identität zusammenfügen soll (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 in diesem Band über die Integration der Gesellschaft und der Menschen, sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Totalexklusion In die „Gesellschaft“ ganz allgemein waren die Menschen – bis auf wenige Ausnahmen – eigentlich immer einbezogen. In den Stammesgesellschaften der Urzeit gab es keine „Außenseiter“, weil sie keine Überlebenschance hatten. Und auch in den Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters blieb es im Prinzip dabei, daß jeder dazugehörte und in seinem jeweiligen „Stand“ seinen Platz und seine Heimat fand. Und wenn nicht, dann waren er oder sie wenigstens noch Kinder Gottes. Aber es gab sie in den Feudalgesellschaften durchaus schon, die Exklusion aus der Gesellschaft. Niklas Luhmann beschreibt das sehr anschaulich so:
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„Man findet seinen sozialen Status (in den Feudalgesellschaften; HE) in der Schicht, der man angehört. ... . Sie (die Inklusion; HE) obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den Familienhaushalten. Irgendwo war man danach durch Geburt oder Aufnahme zu Hause. Exklusion war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen Not oder mangelnder Heiratschancen, möglich. Es gab zahlreiche Bettler. Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster, die ‚unehrlichen‘ Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal rekrutieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen Inselwelt. Es wird sich, schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne, um eine beträchtliche Personenzahl gehandelt haben.“ (Luhmann 1997, S. 622; Hervorhebung nicht im Original)
Um ihre „Plätze“ in der Gesellschaft einnehmen zu können, wird bis dahin von den Akteuren nicht viel verlangt. Sie müssen sich im Grunde nur den „herrschenden Verhältnissen“ fügen. Die Moderne mit ihrem Übergang zur funktionalen Differenzierung als Prinzip der Vergesellschaftung ändert das. Jetzt gibt es keine „natürliche“ Inklusion mehr, etwa per Stammesmitgliedschaft oder per Geburt in einen Stand, sondern die Akteure müssen an den verschiedenen Funktionssystemen teilnehmen und mehr und mehr etwas selbst investieren, um ihren „Status“ zu finden. Das ist, sozusagen, der Preis für das Aufbrechen der Stammes- und der Standesgrenzen und für die Vollinklusion in die Funktionssysteme als Recht zur Teilnahme daran. Ein Recht auf Inklusion heißt aber noch lange nicht, daß es dazu auch wirklich kommt. Verheiraten darf sich jeder, aber viele bleiben allein. Meist sind an das prinzipielle Recht auf Inklusion auch festumrissene Bedingungen geknüpft, ohne die es nicht zur Inklusion kommt, wie beispielsweise das Abitur als Bedingung für einen Studienplatz. Und schon ob das Abitur überhaupt angestrebt wurde, hängt mit vielen Zufällen der Biographie zusammen, etwa vom Einreisealter bei den Migrantenkindern, die als Halbwüchsige in die Sonderschulen gesteckt werden – und das war es dann mit der Inklusion in die zentralen Bereiche der (Aufnahme-)Gesellschaft. Kurz: Jeder muß sich im Lande der formellen Vollinklusion aktiv und selbst um die Wahrung seiner Chancen kümmern. Und wenn er es nicht tut oder Pech dabei hat, dann mißlingt die faktische Inklusion, manchmal schon frühzeitig und dann ganz nachhaltig. Die Logik der Funktionssysteme und die Maschinerie der Exklusionsverstärkung Daß das Mißlingen von Inklusionskarrieren und die Erzeugung von ganzen sozialen Klassen an „Zaungästen“ der Multifunktionsgesellschaft mit dem weiteren Vordringen der funktionalen Differenzierung eher wahrscheinlicher wird, liegt an der Logik der funktionalen Differenzierung selbst. Die Inklusionen in die verschiedenen funktionalen Systeme hängen nämlich oft eng mit-
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einander zusammen und verstärken einmal begonnene kleinere Abweichungen: Nur wer in einem bestimmten funktionalen System schon vorher inkludiert war, hat Chancen, in ein anderes einzutreten. Und das ist deshalb so, weil sich die verschiedenen funktionalen Systeme, wollen sie ihre spezifische Leistung erbringen, nur noch wirklich „qualifizierte“ Bewerber leisten können, die diese Qualifikation vorher in einem anderen Funktionssystem erworben haben müssen. Und in den Funktionssystemen sitzen die „Positionierer“, die ihr Einkommen und ihren Arbeitsplatz gerade dadurch sichern, daß sie schließlich nur die nehmen, die perfekt „passen“ und alles mitbringen, was das System braucht. Zum Professor ist ein Akteur beispielsweise erst durch die Berufung auf eine Professorenstelle geworden, nachdem er sich an einer anderen Fakultät habilitiert hatte, bei der er zuvor treu gedient haben mußte. Bei der Berufung achtet die Kommission sehr darauf, keinen Fehlgriff zu tun, und schon die kleinste Lücke in der wissenschaftlichen Biographie kann das Aus bedeuten. Und so kommen die bekannten Zirkel zustande: Ein hohes Einkommen hat jemand, weil er einen guten Job in einem Unternehmen ausübt, und den hat er nur bekommen, weil er vorher das soziale System der Bildungseinrichtungen erfolgreich durchlaufen hat. Obdachlos wird jemand, der als Minderqualifizierter aus dem inzwischen sehr „schlanken“ sozialen System der Wirtschaft herausgeflogen ist, deshalb seine Miete nicht mehr bezahlen kann und auch nicht mehr dem sozialen System einer unterstützenden Familie angehört, weil sich seine Gemahlin hat von ihm scheiden lassen. Es ist das Problem des Hauptmanns von Köpenik oder das des Asylbewerbers: ohne Arbeit kein Einkommen, ohne Einkommen keine Wohnung, ohne Arbeit und Wohnung keine Aufenthaltserlaubnis und ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit.
So kann es leicht dazu kommen, daß es schließlich mehr und mehr Menschen gibt, die aus ganz unmerklichen Zufällen heraus in diese Exklusionsdynamik hineingeraten, dann u.U. auch keinem einzigen funktionalen System mehr angehören und zwischen allen Stühlen sitzen – inmitten einer reichen Gesellschaft. Dieser Vorgang wird auch als Marginalisierung bezeichnet: Die Schnittmenge der Zugehörigkeiten ist gleich null. Und das einzige soziale System, dem man dann noch angehört, ist die Szene der Obdachlosen am Bahnhof oder die favelas draußen vor den Toren der großen Stadt. Totalexklusionen und Marginalisierungen werden über solche Abweichungsverstärkungen und über die Mehrfachabhängigkeiten der Funktionssysteme zur direkten Folge der funktionalen Differenzierung: „Wer keine Adresse hat, kann nicht zur Schule angemeldet werden (Indien). Wer nicht lesen und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und man kann ernsthaft diskutieren (Brasilien), ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen. Wer keine andere Möglichkeit findet unterzukommen, als auf dem illegal besetzten Land der favelas, genießt im Ernstfall keinen Rechtsschutz; aber auch der Eigentümer kann seine Rechte nicht durchsetzen, wenn die Zwangsräumung solcher Gebiete politisch zu viel Unruhe erzeugen würde. Die Beispiele ließen sich vermehren ... .“ (Luhmann 1997, S. 631)
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Warum die Inklusionsbedingungen immer abhängiger voneinander werden, ist auch leicht verständlich: Die verschiedenen funktionalen Systeme spezialisieren sich im Zuge der funktionalen Differenzierung immer mehr auf ihr spezifisches Oberziel. Und dann muß von den Positionsträgern in den funktionalen Systemen immer stärker darauf geachtet werden, daß die „Bewerber“ auf die „offenen Stellen“ in den sozialen Systemen auch genau die Anforderungen des jeweiligen sozialen Systems erfüllen. Es ist die Bedingung dafür, daß sie ihre Position im Funktionssystem nicht verlieren und nicht unversehens bald selbst draußen stehen. Daran sieht man leicht, daß es – wieder einmal – eben nicht die Logik der „Systeme“ ist, die den Prozeß so zuspitzt, sondern – wieder einmal – die Interessen der Akteure, hier gesteuert über ihre Position in den funktionalen Systemen der Gesellschaft und den situationslogischen Zwängen zur konsequenten Orientierung an deren Codes und Programmen. Heute ist deshalb ein Abitur schon keine hinreichende Bedingung mehr, um einen guten Job zu bekommen, während es früher fast die Eintrittskarte zu Wohlstand und Ansehen war. Aus dieser Eigendynamik der funktionalen Differenzierung als zunehmende Zuspitzung der „Funktionslogik“ der funktionalen Sphären und der damit einhergehenden Kopplung der Inklusionsbedingungen läßt sich gut erklären, warum es in den 60er Jahren hierzulande kaum Langzeitarbeitslose, kaum Obdachlose und kaum Heimatlose gab, heute aber offenkundig immer mehr. Es ist die Totalexklusion von Menschen aus allen Funktionssystemen in Gestalt von Obdachlosen, Drogensüchtigen, Bettlern. Ausgestoßene und Unberührbare gab es freilich schon immer. Das Problem der Totalexklusion als Massenschicksal ist aber historisch ganz neu. Anders als noch in der Vormoderne fühlt sich nämlich – obendrein – in den funktional differenzierten Gesellschaften kein Funktionssystem dafür zuständig – und die einzelnen Menschen schon gar nicht. Sie haben mit sich selbst genug zu tun. Und die Kirchen, die es eigentlich angehen sollte, sind meist auch mit anderen Dingen beschäftigt, wie dem verbissenen Kampf gegen die Abtreibung, und besorgen höchstens hier und da einmal einem armen Teufel ein Kirchenasyl. Und so verlagert sich die Szene der Ausgeschlossenen, wenn man sie mit Razzien am Bahnhof belästigt, einige hundert Meter weiter zur Hauptpost. Und alles ist wie vorher. Funktionale Gleichheit und vertikale Ungleichheit Spätestens mit dem Phänomen der Totalexklusion sind wir wieder bei der Frage angelangt, wie es kommen mag, daß es in den modernen Gesellschaften zwar deutliche Egalisierungstendenzen gibt, aber auch weiterhin starke verti-
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kale Ungleichheiten. Die Erklärung für diese Ko-Existenz der Gleichrangigkeit der funktionalen Systeme und der vertikalen Ungleichheit der Menschen ist jetzt leicht: Die Inklusion der Menschen in die funktionalen Systeme ist – mehr und mehr – ein Marktgeschehen, und hier gelten die Gesetze von Angebot und Nachfrage. So kann es kommen, daß zwar, sagen wir, die Müllabfuhr als funktionales System genauso wichtig ist wie ein Entwicklungsbüro für Software, daß aber die Müllwerker als Akteure deutlich weniger an Einkommen (und Ansehen) erhalten als die Computerspezialisten. Es hängt, wie gesagt, nämlich auch von der Größe der jeweiligen „funktionalen“ Reservearmee ab, welche Angebote zu machen sind, damit ein Bewerber eine Stelle annimmt. Und es gibt, trotz aller Gleichrangigkeit der funktionalen Bedeutung nach wie vor funktionale Systeme mit großen und kleinen Anzahlen von Bewerbern da draußen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.6 in diesem Band). Und entsprechend variieren auch die Preise und die Gegenleistungen für die Positionseinnahme. Die aber ist die Grundlage der sozialen Ungleichheit, hier: im Einkommen und im Prestige. Klassen? Revolution? Sieht man sich die Logik der funktionalen Differenzierung einmal auf diese Weise an, dann wird schon verständlich, warum in der gegenwärtigen Soziologie Begriffe wie „soziale Klasse“ nicht mehr so gerne verwendet werden. Es gibt zwar soziale Ungleichheiten nach wie vor, ganz massive sogar, aber die „Klassen“ im Sinne großer Aggregate mit ähnlichen Interessen gibt es anscheinend nicht mehr oder nur noch in immer feineren Differenzierungen, wie die Weiterentwicklungen der Klassenschemata gezeigt haben (vgl. Abschnitt 4.3 in diesem Band). Es gibt, wenn man von den neueren Entwicklungen der Totalexklusionen einmal absieht, offenbar nur noch partialinkludierte Akteure mit einigen Rechten auf Vollinklusion, überkreuzten Zugehörigkeiten und zersplitterten Identitäten. Gerade wegen dieser „Individualisierung“ der funktionalen Inklusionen können sich jetzt auch die kulturellen Gewohnheiten von den „Klassenlagen“ ablösen, und es können sich – quer zu den funktionalen Sphären und sozialen Schichten – kulturelle Milieus als eigene Dimension der sozialen Differenzierung herausbilden (vgl. dazu schon Abschnitt 4.4 in diesem Band). Genau aus dem gleichen Grunde bedürfen die funktional differenzierten Gesellschaften auch keiner übergreifenden Werte mehr: Sie „bestehen“ alleine durch das Ineinandergreifen der Systeme. Und es gibt auch keine kollektiven „Subjekte“ mehr, die ein Interesse oder die Möglichkeit hätten, daran etwas zu ändern.
In den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften finden sich daher zwar auch zahllose deviante Subkulturen und auch Gegenkulturen und eine
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Fülle von sozialen Bewegungen, aber keine systematischen InteressenKonflikte zwischen größeren Kollektiven von Akteuren (mehr). Und allein deshalb wird dort auch keine Revolution gemacht, allenfalls auf Schalke, wenn der Schiedsrichter beim Stande von 1:1 in der 92. Minute für Dortmund einen unberechtigten Elfmeter pfeift, weil Andy Möller wieder einmal so wunderbar dahingesunken ist. Das wird vielleicht wieder anders angesichts des wieder wachsenden Elends der Welt und der größer werdenden Zahl von Zaungästen und Verdammten dieser Erde, die durch die Maschinerie der Totalexklusion erzeugt werden.5 Es gibt in der Tat Anzeichen für eine neue Zwei-Klassengesellschaft, die sog. Zweidrittelgesellschaften des Westens, etwa mit der Klasse der wohlversorgten postmodern Partialinkludierten hier und der chancenlosen Totalexkludierten dort. In den Ländern der Dritten Welt und zwischen den Gesellschaften dieser Erde scheinen sich ähnliche Klassengrenzen des Habens und des Nichthabens, der Inklusion und der Exklusion zu bilden oder zu verstärken. Revolutionen sind, wenigstens hierzulande, jedoch kaum zu erwarten. Den Grund dafür kennen wir schon. Er liegt am sog. Tocqueville-Paradox, wonach das Elend der Totalexklusion eher apathisch macht als daß es die nötige revolutionäre Aufbruchsstimmung erzeugt.
Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie Die Soziologie ist gewiß nicht arm an seltsamen Debatten, und ein steter Quell für immer neue, wenngleich oft nicht unfruchtbare, Verwirrungen ist die soziologische Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann in mehr als drei Jahrzehnten einer gigantischen Bemühung entwickelt und kurz vor seinem Tode mit dem opus maximum „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ in gewisser Weise abgeschlossen hat. Darin kamen und kommen viele neue, höchst wichtige und richtungsweisende Einsichten und Perspektiven vor, aber auch zahllose sonderbare Vorstellungen, etwa die, daß es beim Prozessieren der sozialen Systeme keine „Sinnlosigkeit“ geben könne, weil alles, was ein soziales System sei, auch Sinn habe, denn wenn es den Sinn nicht hätte, dann gäbe es das System als „soziales“ System nicht, weil die ja immer „sinnprozessierende“ Systeme seien. Es ist ein wenig so wie bei den ohne Zweifel zutreffenden Wahrheiten, daß Hypochonder nicht krank werden und Tautologien nicht 5
Vgl. verschiedene Beiträge bei Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997.
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falsch sein könnten, weil Hypochonder und Tautologien ja just so definiert sind. Von Beginn an gehörte zu den grundlegenden Postulaten der soziologischen Systemtheorie auch die Ansicht, daß die Bevölkerung und die lebendigen Menschen für die Gesellschaft eigentlich nur eine Art unerheblicher Besatzung darstellten und nur unbeachtliches Spielmaterial des Prozessierens der sozialen Systeme wären. Der folgende, oft zitierte, Satz faßt das programmatisch zusammen: „Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen bestehen.“6
Und deshalb wäre, wenn man die leibhaftigen Menschen und deren Handeln in die soziologische Theoriebildung miteinbeziehe, von der (Welt-)Gesellschaft als einem entschieden zu unhandlichen Oktopus mit den 5 bis 6 Milliarden Krakenarmen auszugehen. Davon geht, wörtlich gesprochen, natürlich ohnehin niemand aus, auch der Methodologische Individualismus selbstverständlich nicht, weil soziale Systeme ja auch in dieser Perspektive stets ein emergentes Produkt des Handelns der Menschen sind und deshalb sicher nicht (allein) aus Menschen „bestehen“ (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in diesem Band). Aber auch das wird dementiert: Soziale Systeme bestünden nicht aus Handlungen, sondern aus „Kommunikation“, und der Einwand, daß jede Kommunikation auch nichts als ein emergentes Phänomen kommunikativer Akte von menschlichen Akteuren sei, ist bis heute nicht beantwortet worden. Kurz: Ein Methodologischer Individualismus und der systematische Einbezug der Existenz und des Handelns der menschlichen Akteure in die Theoriebildung, wie sie für das Modell der soziologischen Erklärung so grundlegend sind, kommt für die soziologische Systemtheorie grundsätzlich nicht in Frage. Menschen sind allenfalls als „psychische Systeme“ am sozialen Geschehen beteiligt und ansonsten bloße „Umwelt“ der sozialen Systeme – und nicht Träger, Motoren und Objekte des Geschehens. Für den Methodologischen Individualismus und die Idee, daß Gesellschaften auch von leibhaftigen Menschen „bevölkert“ sind, die die Vergesellschaftung über ihr Bemühen um Reproduktion und Nutzenproduktion antreiben, und es leibhaftige Menschen auch „außerhalb“ jeder (guten) Gesellschaft geben könne, hatte Luhmann daher auch nie eine Spur von Verständnis. Seit einiger Zeit gibt es nun, daran unmittelbar anschließend, die gerade oben erwähnte These, wonach es die soziale Ungleichheit zwar immer noch, 6
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 346.
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auch deutlich und wahrnehmbar, gebe, daß sie aber soziologisch keine besondere Bedeutung mehr habe. Sie wissen schon: Selbst Nobelpreisträger müssen sich ihre Schuhe putzen. Und warum? Ganz einfach: War früher die Schichtung der Gesellschaft, etwa in Stände, in der Tat noch ein gesellschaftskonstitutives Prinzip, so ist sie das heute unter dem Primat der funktionalen Differenzierung eben nicht mehr. Die Verteilung der Güter und Ressourcen ist nur noch „dem Zufall überlassen“ (Luhmann 1985, S. 145), dem Zufall der Inklusionskarrieren der Menschen, die aber ja – bis dahin wenigstens – ganz unerheblich sind für die soziologische Systemtheorie. Zählen tut nur das Prozessieren und die – angeblich – akteursfreie Eigendynamik der funktionalen Systeme. Dann kam der favelas-Schock. Luhmann besuchte Anfang der 90er Jahre Brasilien, erlebte – wie man hört: eher unfreiwillig – die favelas dort und stellte erschrocken fest, daß es an den Rändern der modernen Gesellschaften – unglaublich! – Bereiche gibt, in denen unsägliches Elend herrscht, wo die Menschen nur noch als „Körper“ zählen, in bedrohlichen Massen ganz real vorkommen und sich dort auch bemerkbar machen. Das aber ganz außerhalb der „Gesellschaft“, so wie früher das gemeine Volk, die „Barbaren“ oder die „Idioten“, der lange Zeit sehr große Rest der Bevölkerung eben, den es neben der „guten Gesellschaft“ etwa des Adels auch noch gab, aber noch nicht in Publikumsrollen einbezogen war. Was nun? Aufgearbeitet hat Luhmann den Schock in einem Aufsatz, mit dem das Begriffspaar „Inklusion und Exklusion“ seinen endgültigen Einzug in die soziologische Begrifflichkeit hielt.7 Das Fazit: Offenbar gibt es doch außerhalb der sozialen Systeme leibhaftige Menschen, und inmitten einer sich modernisierenden Gesellschaft auch massive und systematische soziale Ungleichheiten, in der Form des schreiendsten Elends sogar. Die Erkenntnis muß für Luhmann und für die ihm stets brav folgenden Systemtheoretiker auch ein unfaßbarer theoretischer Schock gewesen sein, zumal sie der Meister selbst aufgeschrieben hat. Müßte man jetzt nicht eigentlich einige der zentralen Postulate ändern und vor allem endlich zugestehen, daß es die lebendigen Menschen und ihre Versuche zur Reproduktion sind, von denen alle gesellschaftlichen Prozesse alle ihre Dynamik beziehen? Und wäre das jetzt nicht auch eine Gelegenheit, die soziale Ungleichheit der Akteure neben der sozialen Differenzierung der Systeme auch als Teil der wirklichen gesellschaftlichen Strukturen wieder anzuerkennen? Und in der Tat. Seit einiger Zeit gibt es eine Reihe von Anläufen, die soziologische Systemtheorie 7
Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237-264.
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dahin zu bringen, sich um das Problem der sozialen Ungleichheit systematischer zu kümmern als bisher und die – systemtheoretisch gut ausgebaute – Theorie der sozialen Differenzierung mit der – in der Soziologie ebenfalls gut etablierten – Theorie und Empirie der sozialen Ungleichheit zu verbinden.8 Die soziologische Systemtheorie freilich wäre nicht sie selbst, wenn sie damit nicht auf ihre Weise umgegangen wäre: Das Problem wird terminologisch neu etikettiert, und die faktisch vollzogene Aufgabe der Grundpostulate begrifflich möglichst unsichtbar gemacht. Und das ging diesmal so. Zunächst wird an den schon etwas älteren Begriff und an das Problem der „Sozialintegration“ erinnert, an das zuvor niemand von den Systemtheoretikern auch nur gedacht hatte, etwa am Beispiel des Einbezugs von Menschen in soziale Systeme, wie er etwa im Zusammenhang der „Integration“ von Migranten in die Aufnahmegesellschaft seit langem diskutiert und untersucht wird (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 dieses Bandes). Natürlich kann man den Ausschluß von Akteuren aus gesellschaftlichen Sphären jetzt nicht einfach „(Sozial-)Integration“ nennen, weil sonst sichtbar würde, daß man mit den eigenen Mitteln nicht mehr weiterkommt und immer etwas Wichtiges übersehen hatte. Und so wird das Wort „Inklusion“ erfunden: „Gemeint ist (mit Inklusion; HE) vielmehr, daß das Gesellschaftssystem Personen vorsieht und ihnen Plätze zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können; etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch fühlen können.“ (Luhmann 1997, S. 621)
Genau das war aber immer schon in der sog. Rollentheorie gesagt worden und stimmt, wenigstens teilweise, mit dem Konzept der „(Sozial-)Integration“ überein, so wie David Lockwood diesen Begriff im Jahre 1964 eingeführt hat.9 Und die Folge: Während es zuvor nur psychische und soziale Systeme gab, die sich wechselseitig konstituieren und nicht unabhängig voneinander denkbar sind, gibt es nun tatsächlich auch Menschen, die in bereits bestehende funktionale Systeme eingegliedert sind, und andere eben nicht. Und manche 8
Vgl. etwa Armin Nassehi, Inklusion oder Integration? Zeitdiagnostische Konsequenzen einer Theorie von Exklusions- und Desintegrationsphänomenen, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften, Opladen 1997, S. 621; Uwe Schimank, Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit: die zwei Gesellschaftstheorien und ihre konflikttheoretische Verknüpfung, in: Hans-Joachim Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 62ff.; Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 4ff.
9
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 244-257.
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Menschen gehören sogar keinem funktionalen System an – und wären deshalb eigentlich theoretisch undenkbar. Damit das Unmögliche aber wieder in die Systemtheorie hineinpaßt, kommt es zur Verkündung einer neuen „Leitdifferenz“ – die des Begriffspaares von „Inklusion und Exklusion“ als Beschreibung des Verhältnisses „von psychischen Systemen (Individuen) und sozialen Systemen“ (Luhmann 1997, S. 618). Psychische Systeme als „Individuen“! Man denke! Unglaublich. Mit dem Begriff der Inklusion ist das theoretische Leck im Schiff der Systemtheorie also erst einmal terminologisch abgedichtet. Aber es ist schon viel Wasser aus dem Meer des Methodologischen Individualismus eingedrungen, und es gibt erste Anzeichen einer bedenklichen Schlagseite: Wenn Luhmann und andere von Inklusion und Exklusion sprechen, wird, wie wir gerade schon gesehen haben, auffälligerweise nicht mehr nur von psychischen Systemen, sondern jetzt nahezu bruchlos auch von „Individuen“, ja von „konkreten Individuen“, von „Personen“, von „Menschen“ und sogar von der „Bevölkerung“ gesprochen. Beispielsweise: „Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden.“ (Ebd., S. 630f.; Hervorhebung nicht im Original)
Die Gesellschaft wird doch tatsächlich von Menschen „bevölkert“, die irgendwo leibhaftig wohnen, wenngleich für die gute Gesellschaft unsichtbar! Unglaublich! Zwar wird auch weiterhin von allerlei gesellschaftlichen Semantiken der Inklusion und der Exklusion der vielen menschlichen „Körper“ berichtet, so als ob erst die Semantiken irgendwelcher „Beobachter“ die Wirklichkeit der Existenz von lebenden Menschen und ihrer Reproduktion herstellten oder außer Kraft setzten. Menschen leben und vergesellschaften sich auch unabhängig von bestimmten Semantiken ihrer Beschreibung oder Etikettierung. Die Benennungen und Semantiken der Menschen da draußen machen sie nicht unsichtbar und reduzieren sie auch nicht wieder auf bloße „psychische Systeme“. Sie sind ganz einfach da – als psycho-biologische Organismen mit Bedürfnissen in einer sozialen Umgebung, die sie zu einer ganz eigenen Form der Vergesellschaftung zwingt. Es sind zwar keine sechs Milliarden an der Zahl, aber es gibt sie in durchaus beachtlicher Größenordnung. Und sie beginnen, gerade weil die Zahl steigt, mit ihrer ganz eigenen Vergesellschaftung, und zwar außerhalb der etablierten Funktionssysteme, in Brasilien und wo immer sonst. Die Menschen in den favelas bilden, wenn man so will, ei-
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nen Devianz-Bereich, um in aller Not ihre Reproduktion dennoch zu sichern, und auch neue, bis dahin nicht gekannte kulturelle Milieus. Und wer weiß, was daraus noch alles wird. Es ist jedenfalls jener Typus an Vergesellschaftung, den Luhmann stets als unerheblich abgetan hat: Die Entstehung sozialer Systeme und deren Erklärung als „Emergenz von unten“. Und so zeigt sich: Nicht alles, was in der sozialen Welt geschieht, ist „Konstitution von oben“, etwa als semantische Konstitution von Personen aus Körpern von irgendeiner höheren Warte einer irgendwie schon „außerhalb“ der Menschen etablierten und von Interessen und Akteuren unabhängigen „Gesellschaft“ her. Jetzt wird auch sofort verständlich, warum die soziologische Systemtheorie mit der sozialen Ungleichheit nicht viel anzufangen wußte: Die soziale Ungleichheit bezieht sich ja auf Aggregate von Akteuren, aber eigentlich sind ja nur die sozialen Systeme und die soziale Differenzierung von Belang. Also ist auch die soziale Ungleichheit nicht weiter wichtig. Und es wird auch verständlich, warum Niklas Luhmann ganz zum Schluß seiner Arbeiten noch die sozialen Bewegungen entdeckt hat, die ja nichts anderes sind, als „Bewegungen“ von lebendigen Akteuren, die gewisse Interessen, etwa ein Recht auf Inklusion, durchsetzen wollen. Theoretisch ist er damit überhaupt nicht zurandegekommen. Der Abschnitt über „Protestbewegungen“ in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ wird einfach, wie er selbst etwas ratlos schreibt, „angehängt“, und zwar „ohne Rücksicht auf Theorieästhetik“ (Ebd., S. 847). Die Menschen und die von ihnen mit gewissen Interessen veranstalteten sozialen Bewegungen passen ja auch wirklich nicht in die Systemtheorie hinein. Aber es gibt sie, und eine Theorie, die sie jetzt einfach „anhängen“ muß, zeigt, daß ihr etwas Wichtiges fehlt. Mit der – unvermuteten und nur schwer zugestandenen – Entdeckung der lebendigen Menschen durch die Systemtheorie wäre nun aber auch der Weg zur Anerkennung der sozialen Ungleichheit als relevantem Merkmal der gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr weit. Denn die Bewohner der favelas sind Kollektive von Akteuren in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Lage. Und sie sind als solche Kollektive ebenso real, wie es ehemals die sozialen Klassen und die Stände, dann die Schichten und inzwischen die zunehmend kleiner werdenden Grüppchen der neuen sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik ja auch wirklich gab oder gibt. Alle diese Kollektive bilden sich durch jeweils typische Muster der Mitgliedschaft und der Inklusion (bzw. Exklusion) in die sozialen Systeme, und die sozialen Systeme entstehen, bestehen und wandeln sich auch in Reaktion auf diese kollektiven gesellschaftlichen Lagen und immer wieder neu entstehenden gesellschaftlichen Spannungen. Es gibt, wie wir in den Abschnitten oben gesehen haben, daher keinerlei Grund, die soziale Ungleichheit für irgendwie unwichtiger oder wichtiger zu halten als die soziale Differenzierung. Gesellschaften „bestehen“ und reproduzieren sich eben aus dem Zusammenspiel von beidem: von sozialen Systemen und von Akteuren. Und so wie man deshalb nicht sagen kann, daß das
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men und von Akteuren. Und so wie man deshalb nicht sagen kann, daß das eine beachtlicher oder wirklicher sei als das andere, kann man die funktionale Differenzierung auch nicht gegen die soziale Ungleichheit ausspielen – und umgekehrt. Die Instrumente der soziologischen Erklärung zeigen, wie sich das Zusammenspiel theoretisch erfassen läßt. Um dieses Wechselspiel von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit anzugehen, wird daher auch keine, wie das zum Beispiel Uwe Schimank (1998, S. 76) vorschlägt, „Komplementarität“ einer „Differenzierungstheorie“ mit einer „Ungleichheitstheorie“ benötigt, weil es jeweils wechselseitige „blinde Flecke“ gäbe. Man kann mit den Mitteln des Modells der soziologischen Erklärung, wie wir gesehen haben, beide Phänomene in einem Akt und gleich sozusagen mit stereoskopischer Tiefenschärfe behandeln – weil das Modell der soziologischen Erklärung die wechselseitige Konstitution von Mensch und Gesellschaft in seinem Zentrum hat und die leibhaftigen Menschen nicht zur belanglosen Umwelt der sozialen Systeme erklärt, sie aber auch nicht, wie das der Psychologismus und manche Variablensoziologie tun, zur einzigen oder autonomen Größe des sozialen Geschehens hinaufstilisiert.
Soziale Ungleichheit und soziale Differenzierung sind beides strukturelle Folgen der wechselseitigen Konstitution von Mensch und Gesellschaft. Und die Menschen sind nicht nur „Umwelt“ der Gesellschaft, sondern auch ihre „leibhaftigen“ Konstrukteure und Träger. Sie schaffen sich, wenn es nicht anders geht, „ihre“ Gesellschaft sofort wieder auch draußen, in den favelas, auf den Piratenschiffen oder auf den Strafinseln, sofern es dort genug zu essen, etwa Schafe, gibt, auch wenn manche das jeweils für keine richtige „Gesellschaft“ halten mögen.
Kapitel 6
Integration
Die soziale Differenzierung bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit der sozialen Systeme einer Gesellschaft, die soziale Ungleichheit auf die der gesellschaftlichen Lagen der Akteure. Mit der Zunahme der funktionalen Differenzierung wachsen die Widersprüchlichkeiten und die Eigensinnigkeiten in den SinnCodierungen der sozialen Systeme. Und es nehmen darüber, nicht zuletzt über den so möglichen gesellschaftlichen Surplus, auch die Chancen für vertikale soziale Ungleichheiten und für Interessenunterschiede, für systematische Konfliktlinien und für Gefühle der ungerechtfertigten Benachteiligung zu. Und sofort stellen sich die beiden Fragen: Wie gelingt es, die zentrifugalen Tendenzen der sozialen Differenzierung wieder aufzufangen, „damit“ das System der Gesellschaft nicht, sozusagen, „explodiert“? Und wie kann es zu einer Überbrückung oder Neutralisierung der Spannungen aus der Zunahme der sozialen Ungleichheit kommen, „damit“ die Gesellschaft nicht in unüberwindbare Spaltungen zerfällt? Es ist die Frage nach der Integration der Gesellschaft und die nach der sozialen Ordnung ganz allgemein. Der Begriff der Integration Unter Integration wird generell der Zusammenhalt von Teilen in einem „systemischen“ Ganzen und die dadurch erzeugte Abgrenzung von einer unstrukturierten Umgebung verstanden, gleichgültig zunächst worauf dieser Zusammenhalt beruht.1 Die Teile müssen, wie man auch sagen könnte, ein „integraler“, also ein
1
Vgl. zu einem Überblick über die wichtigsten soziologischen Überlegungen und Konzepte zum Problemkreis der Integration: Richard Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2, Frankfurt/M. 1997, S. 66-109. Siehe auch verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs und Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale In-
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nicht wegzudenkender, Bestandteil des Ganzen sein. Der Gegenbegriff ist der der Segmentation oder des Zerfalls eines Systems und der Auflösung seiner Grenzen zur Umgebung. Die Integration eines Systems ist somit über die Existenz von bestimmten Relationen zwischen den Einheiten und zur jeweiligen Umwelt definiert. Und je nach Struktur dieser Relationen kann ein System auch „mehr“ oder „weniger“ integriert sein. Der eine Extremfall ist die komplette Abhängigkeit des „Verhaltens“ der Teile voneinander und die strikte Abgrenzung zur Umwelt, der andere die komplette Unabhängigkeit der Teile und das „antropische“ Aufgehen in die Umgebung. Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Teile voneinander und Abgrenzungen kann es jeweils natürlich auf ganz verschiedene Weise und für sehr unterschiedliche Arten von Systemen geben. Integriert wäre beispielsweise eine Nachbarschaft als soziales System, wenn sich die Familien kennen und gegenseitig besuchen, sogar, wenn sie Krach miteinander haben, und wenn man gut vorhersagen könnte, was die Familie X tut, wenn in der Familie Y, sagen wir, die Großmutter stirbt. Nicht-integriert bzw. segmentiert wäre die Nachbarschaft, wenn die Familien zwar räumlich beieinander wohnen, aber sonst nichts miteinander zu tun haben, isoliert nebeneinander her existieren und voneinander keinerlei Notiz nehmen – so, wie das weitgehend noch für die Einzelnationen in Europa oder für Ost- und Westdeutschland der Fall ist, die jeweils auch alle weit von einer wirklichen, nicht nur formalen „Integration“ entfernt sind. Kulturelle Systeme sind, so hatten wir in Kapitel 2 festgehalten, mentale Modelle der Orientierung und des Verhaltens in Form von Frames und Skripten. Auch die können, als „belief systems“, mehr oder weniger integriert sein, beispielsweise in der Weise, daß es zu einer rahmenden Orientierung genau ein festliegendes Skript gibt, gegenüber dem Fall, daß alles offen bleibt und vom Akteur immer wieder neu „entschieden“ werden muß, was zu tun ist. Schließlich können auch psychische Systeme unterschiedlich integriert sein: Entweder stehen die verschiedenen Teile der „Identität“ des Akteurs zusammenhanglos nebeneinander, oder sie bilden eine abgestimmte, übergreifende Einheit, etwa über das moralische Bewußtsein einer ausgebauten Ich-Identität (vgl. dazu schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wir betrachten im folgenden nur noch die Integration der sozialen Systeme.
Das Problem der „Einheit in der Vielfalt“ ist eine der Ausgangsfragen der Soziologie überhaupt. Es wird meist mit der These von Herbert Spencer in Verbindung gebracht, der gemeint hatte, daß eine evolutionär sich vollziehende arbeitsteilige Differenzierung von Gesellschaften stets von der Entwicklung neuer Formen der Integration der dann ganz andersartig gewordenen Teile zu einem dennoch kohärenten Ganzen begleitet sei. Spencer meinte ferner, daß sich die Integration in den modernen, „industriellen“ Gesellschaften über die anonyme Bindekraft bilateraler Verträge vollziehe, über die Kräfte des Marktes also, und daß dort deshalb die traditionalen Formen der Integration, etwa eine despotische Oberaufsicht, gesamtgesellschaftlich übergreifende Verträge oder kollektive Gemeinschaftsgefühle, wie sie die „kriegerischen“ Geselltegration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1999.
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schaften zusammenbinden, zurücktreten und sich ganz auflösen würden, ja müßten. Dem war bekanntlich Emile Durkheim kräftig entgegengetreten, der die Gegenthese zu begründen versucht hatte, daß es die bilateralen Verträge, von denen Spencer ausging, nicht geben könne, wenn es keinen übergreifenden „nichtkontraktuellen“ bindenden Rahmen, keine „organische“ Solidarität beispielsweise, gebe (vgl. dazu schon die Kapitel 22 und 24 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das war, so kann man es sehen, das soziologische und „kollektivistische“ Gegenprogramm zu den eher ökonomischen und „individualistischen“ Vorstellungen über die Mechanismen der Integration von Gesellschaften, die Herbert Spencer, nicht zuletzt im Anschluß an Adam Smith, vertreten hatte, wonach schon die Konvergenz der Interessen der Menschen alleine ausreiche, um soziale Ordnung und gesellschaftliche Integration entstehen zu lassen. Die Grundlage dieses Gegenprogramms war ganz allgemein die Annahme, daß für die Integration der Gesellschaft die Interessen alleine nicht ausreichen, daß dazu aber auch keine Herrschaft und kein Staat benötigt würden, wovon ja Thomas Hobbes ausgegangen war, sondern daß es, nicht zuletzt auch zur „Legitimation“ einer staatlichen Ordnung, immer irgendeiner übergreifenden und kollektiv geteilten „moralischen“ Orientierung und Bindung der Akteure bedürfe, einer Orientierung die sich auch inhaltlich auf den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzheit beziehen müsse. Ein „Kollektiv“-Bewußtsein eben. Integration als funktionales Erfordernis Diese Idee hat dann, wie wir wissen, Talcott Parsons aufgegriffen und zu der bekannten struktur-funktionalen Theorie der Soziologie weiterentwickelt, deren Grundlage das sog. AGIL-Schema war. Das Kernstück der Überlegungen war die These, daß die gleichgewichtige Existenz eines jeden sozialen Systems von der beständigen Erfüllung von genau vier funktionalen Erfordernissen abhinge: Anpassung, Zielverwirklichung, Mustererhaltung und – eben – die Integration des Systems. Für diese Funktion der Integration im Rahmen des Gesellschaftssystems hatte Parsons dann – folgerichtig – ein eigenes gesellschaftliches Sub-System angenommen: die gesellschaftliche Gemeinschaft. Das war die gesellschaftliche Verortung der Gefühle der Solidarität und der sozialen Mechanismen zu deren Erhalt und Stärkung im arbeitsteilig gedachten Funktionszusammenhang des interaktiven Austausches mit den drei anderen Sub-Systemen: Wirtschaft, Politik und Treuhandsystem. Die „Integration“ der Gesellschaft bestand in dieser Sicht also aus einer doppelten Vorkehrung: Aus der beständigen Erfüllung des funktionalen Erfordernisses
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kehrung: Aus der beständigen Erfüllung des funktionalen Erfordernisses der Integration in der Stärkung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und aus dem Austausch der (vier) gesellschaftlichen Sub-Systeme untereinander mit Hilfe der symbolisch generalisierten Medien und der dadurch möglichen „Interpenetration“ der vier Sub-Systeme. Der oberste steuernde Rahmen für alle diese Prozesse waren dann die kollektiv geteilten „letzten“ Werte der Orientierung für das Handeln der Akteure, die Parsons in dem sog. kulturellen System verankert sah, das für den ganzen Zusammenhang des sozialen Seins, für das, wie er es nennt, Handlungssystem, die Funktion der Mustererhaltung innehat (vgl. zu alledem bereits ausführlich die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, Kapitel 23, sowie auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Dieses Modell sollte für alle Typen von Gesellschaften gelten, natürlich auch für die modernen funktional differenzierten Gesellschaften. Auch für die wurde also angenommen, daß die Akteure gewisse kollektiv geteilte Gemeinsamkeiten in ihren kulturellen Überzeugungen, moralischen Vorstellungen und „Werten“ hätten, und sie auch in der modernsten „Gesellschaft“ immer noch eine Art von solidarischer und konsensueller „Gemeinschaft“ bilden. Nicht zuletzt Niklas Luhmann ist dem entgegengetreten – und hat, so kann man wohl sagen, dieser, wie er es nennt, „alteuropäischen“ Idee das Lebenslicht ausgeblasen. Wir werden gleich sehen, warum. Dazu aber müssen wir erst noch etwas weiter ausholen und uns die Frage stellen, wie man sich die „Integration“ der Gesellschaft überhaupt als – mehr oder weniger oder auch gar nicht: intendierte – Folge des Handelns von menschlichen Akteuren denken kann. Die Grundlage: Interdependenzen Soziale Systeme, und damit die Gesellschaften, konstituieren sich über soziale Relationen. Das sind wechselseitig aufeinander bezogene Orientierungen und Akte, soziale Kontakte, Interaktionen, Kommunikationen, soziale Beziehungen oder Transaktionen aller Art, die man zusammenfassend auch als soziales Handeln bezeichnet (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Aber das ist nur die empirische Oberfläche. Hinter dem sozialen Handeln und, insbesondere, hinter jeder Kommunikation, die die Relationen und damit die Integration der sozialen Systeme tragen, stehen stets objektive Strukturen: die materiellen Interdependenzen, in die die Akteure über typische Muster der Verteilung der Kontrolle über interessante Ressourcen eingebunden sind, die institutionellen Regeln der „Verfassung“ der jeweiligen Ge-
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sellschaft, die die Beziehungen zwischen den „Positionen“ in den sozialen Systemen regeln, und die kulturellen Bezugsrahmen der Orientierungen in typischen (sozialen) Situationen. Das wissen wir alles schon aus Kapitel 2 in diesem Band, wenn nicht bereits aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“. Drei Probleme und drei Mechanismen der Integration: Markt, Orientierung und Organisation Die Integration sozialer Systeme ist keine Sache der „Subjekte“ allein. Sie ist vielmehr ein „Problem“ allein deshalb, weil die Menschen nicht immer ein unmittelbares Interesse daran haben oder gelegentlich sogar dagegen sind: Manchmal haben die Menschen übereinstimmende Interessen und bilden deshalb ohne weiteres ein intern abgestimmtes und zusammenhängendes und nach außen abgegrenztes soziales System, wie eine Dorfgemeinschaft oder einen Stammtisch, manchmal aber eben nicht, wie eine Fakultät mit lauter Unikaten an Professoren, die nur sich selbst kennen und wichtig nehmen. Und meist gibt es sowohl Konvergenzen wie Divergenzen in den Interessen an bestimmten Relationen. Auch die Integration ist also ein Problem der antagonistischen Kooperation. Drei Fälle und drei dazugehörende Mechanismen der Integration lassen sich wieder unterscheiden (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie auch wieder Kapitel 2 in diesem Band). Bei der „reinen“ Konvergenz der Interessen ist das Problem der Integration eigentlich gar keines: Die Akteure finden sich „spontan“ zusammen, weil sie sich gegenseitig in ihren Interessen ergänzen und sie von der Systembildung individuell einen hohen Nutzen haben. Der Markt ist das dieser Konstellation entsprechende soziale System. Die Integration erfolgt spontan und nur auf der Grundlage der Interessen und der damit verbundenen Interdependenzen, wenngleich mit Konsequenzen, die die Akteure meist so nicht vorhersehen können und auch oft nicht wünschen, obwohl sie – und nur sie – diese Konsequenzen herbeiführen, wie beispielsweise den steigenden Eierpreis zu Ostern aus dem gemeinsamen Interesse an der Eiersuche am Ostermorgen. Bei der „reinen“ Divergenz der Interessen scheint zunächst eine Integration schwierig oder gar ausgeschlossen, weil jede denkbare Anordnung zwingend eine Gruppe schlechter stellen würde als die andere, mindestens relativ gesehen. Gleichwohl kann es Interessen an einer Systembildung geben, weil die „Anarchie“ unter Umständen für alle die noch schlechtere Lösung wäre als die Unterwerfung unter die jeweils andere Gruppe. Die „Lösung“ des Problems ist die Organisation des sozialen Systems, notfalls unter Ausübung von politischer, administrativer oder gar militärischer Herrschaft. Es ist zwingend eine „repressive“ Lösung. Wenn sich die Konvergenzen und die Divergenzen der Interessen mischen, sind die Akteure im Prinzip an einer Integration interessiert und könnten auch alle davon profitieren. Aber es gibt entweder hohe Unsicherheiten, wie es dazu kommen könnte, oder auch Versuchungen, die Vorleistungen der anderen abzuwarten und ggf. auszubeuten bzw. die Befürchtungen, daß die jeweils anderen das tun könnten. Es ist, wie man sieht, ein Spezialfall
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des Problems der antagonistischen Kooperation. Hier entsteht die Integration nicht spontan, sie muß aber auch nicht „repressiv“ erzwungen werden. Es reichen einige – mehr oder weniger – milde Einstellungen, die wir zusammenfassend als Orientierungen bezeichnen möchten: Werte, Loyalitäten, moralische Verpflichtungen, die Orientierung an den Codes und Programmen typischer Situationen vor allem (vgl. dazu unten mehr, aber auch schon Kapitel 3, insbesondere Abschnitt 3.1 oben in diesem Band).
Damit lassen sich drei grundlegende Mechanismen der Integration unterscheiden, die je nach Konstellation der Interessen unter den Akteuren bedeutsam werden: Integration über den Mechanismus des Marktes, über gewisse Orientierungen der Akteure und über die geplante Organisation eines sozialen Gebildes bzw. über die Ausübung von Herrschaft. Empirisch sind freilich die Übergänge zwischen diesen Mechanismen fließend, sie bedingen sich teilweise auch gegenseitig, und bei den meisten sozialen Systemen gibt es daher alle drei Mechanismen der Integration auch gleichzeitig. Die europäische Integration ist, beispielsweise, zunächst eine des „gemeinsamen Marktes“ gewesen, immer mehr unterstützt durch hoheitliche politische Vorgaben und institutionelle Regelungen – mit „Brüssel“ und der EUKommission als dem mißtrauisch beäugten Zentrum der Herrschaft der Europäischen Union. Was noch fehlt, und was offenbar nur schwer hoheitlich zu „organisieren“ ist, ist die Entstehung einer Orientierung der europäischen Identität und Identifikation mit dem Kunstgebilde der „Europäischen Gemeinschaft“. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, daß die Integration der sozialen Systeme keineswegs mit „Harmonie“ und „Zustimmung“ verbunden sein muß: Es gibt eine Integration auch im Konflikt, gelegentlich sogar durch den Konflikt. Ehepaare, die sich streiten, haben (noch) vieles gemeinsam. Erst wenn auch der Streit aufhört, ist das soziale System der Ehe zerfallen, wahrscheinlich weil die Interessenkonvergenzen zu gering geworden sind und darüber dann auch die rahmende Orientierung auf die Beziehung als „Ehe“ oder „Paar“ verfallen ist.
Die Fälle und Mechanismen sind, wie gesagt, auch nicht unverbunden miteinander: Ohne jedes Interesse der Akteure am „Funktionieren“ des Systems läßt sich auf die Dauer keine Organisation und keine Herrschaft halten, und die die Herrschaft evtl. legitimierenden und unterstützenden Orientierungen verfallen bald, wenn die das Interesse stützenden Leistungen ausbleiben. Andererseits erzeugen jede Organisation und Herrschaft auch wiederum bestimmte Möglichkeiten, Interessen und Interdependenzen, die vorher nicht da waren, und darüber dann auch wieder die entsprechenden Orientierungen, Loyalitäten und Solidaritäten. Ob sich das gesamte „System“ von Interessen, Orientierungen und Organisation dann stabilisiert und erhält, hängt also – letztlich – davon ab, ob eine relativ spannungsfreie und stabile Nutzenproduktion gelingt, freilich auch oft genug so, daß einige der beteiligten Akteure und Gruppen deutlich mehr davon haben als andere.
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Horizontale und vertikale Integration Die Integration über den Markt wird auch als horizontale Integration bezeichnet: Die Akteure (bzw. die „Teile“) des Systems haben übereinander keinerlei Weisungsbefugnis und sind nur über ihre Interessen und die Kontrolle der Ressourcen miteinander verbunden. Von vertikaler Integration wird gesprochen, wenn das Handeln der Akteure (bzw. der Teile) über eine formale Organisation koordiniert ist. Hier gibt es Weisungsbefugnisse, und die Interessen der Akteure sind von normativen und ggf. sanktionierten Erwartungen überlagert, die meist an bestimmte Positionen als „Rollen“-Erwartungen geknüpft sind (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Unterscheidung von horizontaler und vertikaler Integration korrespondiert mit zwei Formen der „governance“, die Oliver Williamson als „Markets“ einerseits und „Hierarchies“ andererseits bezeichnet hat.2 Williamson beschäftigt sich dabei insbesondere mit der Frage, wann es die eine oder die andere Form der Integration eines sozialen Systems gibt. Drei Faktoren sind hier entscheidend. Das ist erstens die sog. asset specificity der Güter, um die es in den Beziehungen jeweils geht. Die asset specificity nimmt in dem Maße zu, wie die Güter ihren Wert nur in der betreffenden speziellen Beziehung haben, wie das beispielsweise bei einem Zulieferer von Mercedessternen an Daimler-Chrysler oder bei Kindern in einer Partnerschaft der Fall ist. Es ist nichts anderes als der Grad der Spezifizität des Kapitals der Akteure (vgl. dazu schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der zweite Faktor ist der (nie auszuschließende) Opportunismus der Akteure, den anderen jeweils auszubeuten, wenn es sich lohnt. Und der dritte ist die Unsicherheit der Akteure, ob sie einander trauen können. Zur vertikalen Integration in Form der „Hierarchie“ einer Organisation kommt es nach Williamson dann, wenn es eine hohe asset specificity gibt und wenn das Potential an Opportunismus und die Unsicherheit der Akteure hoch sind. Dann kaufen etwa Firmen ihre Zulieferer auf, um sich von der Abhängigkeit von ihnen zu befreien, die auf dem freien Markt den Preis für das spezielle Produkt immer höher getrieben hätte. Und wenn ein Kind kommt, bringen plötzlich auch die Paare ihre Beziehung in die Form einer vertikalen Integration und heiraten, die zuvor an nichts anderes dachten als an die horizontale Integration einer freien Partnerschaft, aus der jeder verschwinden könnte, wenn es ihm oder ihr so paßt.
Zwischen der horizontalen Integration auf Märkten und der vertikalen Integration in Organisationen gibt es zahllose „hybride“ Formen. Eine davon haben wir oben bereits besprochen: die Integration über gewisse „integrierende“ Einstellungen und Orientierungen, die die Akteure u. U. auch dann teilen, wenn sie nicht „organisiert“ sind. Andere Mischformen bestehen insbesondere aus Vernetzungen der (noch) nicht-hierarchisierten Teile über persönliche o2
Oliver Williamson E., Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New York 1975. Vgl. auch speziell dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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der soziale Beziehungen, wie das etwa bei den internationalen Eliten, zwischen den Firmen einer Branche, deren Chefs sich schon seit jeher im Karnevalsverein treffen, oder bei den sog. Policy-Netzwerken der Fall ist, die wir in Kapitel 2 dieses Bandes erwähnt hatten, als von der Mehrebenen-Organisation von Gesellschaften und davon die Rede war, daß die sog. Meso-Ebene gerne auch aus solchen „Vermittlungsnetzwerken“ besteht. Systemintegration und soziale Integration Beim Problem der Integration wird die Spannung zwischen dem Systemaspekt gesellschaftlicher Prozesse und dem „konstitutiven“ Beitrag der handelnden Akteure besonders deutlich: Das integrierte Ganze besteht aus Relationen zwischen seinen Teilen und zur Umgebung, aber diese Relationen sind, wie wir spätestens aus Kapitel 1 und 2 diesen Bandes wissen, stets das meist so nicht intendierte Produkt des Handelns der Akteure. Von dem britischen Soziologen David Lockwood stammt eine Unterscheidung, auf die wir schon im Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie im Anschluß an Kapitel 5 diesen Bandes und im Zusammenhang mit der „Inklusion“ der Akteure in die Gesellschaft gestoßen sind: die Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration. Als Systemintegration bezeichnet David Lockwood dabei „the orderly or conflictful relationships between the parts“, als soziale Integration dagegen „the orderly or conflictful relationships between the actors“ eines sozialen Systems.3 Integration und Netzwerkstrukturen Am einsichtigsten wird die Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration an einem Spezialfall eines sozialen Systems, einem Netzwerk von Akteuren, die über persönliche Beziehungen miteinander verbunden sind (vgl. Abbildung 6.1).4
3
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 245; Hervorhebungen im Original.
4
Nach Vincent Buskens, Social Networks and Trust, Amsterdam 1999, S. 29. Siehe insgesamt zum Konzept des sozialen Netzwerks noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Wie man leicht auch noch sieht, können bei solchen Netzwerken Systemintegration und soziale Integration - in gewissen Grenzen - unabhängig voneinander variieren: Es gibt Akteure mit einer hohen und einer niedrigen Sozialintegration sowohl in stärker wie schwächer systemintegrierten Netzwerken bzw. sozialen Systemen. Die systemische und die soziale Integration sind in sozialen Netzwerken gleichwohl immer in gewisser Weise schon logisch verbunden, weil es bei extrem geringer Systemintegration auch nur eine geringe Sozialintegration bei den Akteuren geben kann, und eine hohe Systemintegration bei einer gewissen Mindestzahl von Akteuren eine hohe Sozialintegration bedeuten muß. In anderen sozialen Systemen als Netzwerken gibt es eine solche „logische“ Beziehung zwischen systemischer und sozialer Integration nicht unbedingt, weil ihre Integration nicht unbedingt von der Anzahl der persönlichen (oder sonstigen) Beziehungen abhängt. Das gilt etwa für Märkte, die ja nur auf bilateralen Beziehungen beruhen und die auch – oder gerade dann! – besonders gut funktionieren, wenn die Akteure alle als Monaden agieren. Systemintegration
Die Systemintegration ist, ganz allgemein gesagt, dann jene Form der Relationierung der Teile eines sozialen Systems, die sich unabhängig von den speziellen Motiven und Beziehungen der individuellen Akteure und oft genug sogar auch gegen ihre Absichten und Interessen, sozusagen anonym und hinter ihrem Rücken, ergibt und durchsetzt, während die soziale Integration unmittelbar mit den Motiven, Orientierungen, Absichten und – insbesondere – den Beziehungen der Akteure zu tun hat. Es ist die Integration eines sozialen Systems „über die Köpfe“ der Akteure hinweg, die etwa durch den Weltmarkt, den Staat oder die großen korporativen Akteure besorgte, spezielle Art der „Integration“ der (Welt)Gesellschaft, bei der die „natürlichen“ Personen oft nur ohnmächtig zusehen können, was die Marktkräfte oder die „juristischen“ Personen, wie die Telekom oder Daimler-Chrysler oder Vodafone und Mannesmann oder die Regierungen der NATO-Staaten, so alles im Zuge der Systemintegration der Weltgesellschaft mit ihnen anrichten. Markt und Organisation sind die beiden grundlegenden Mechanismen der „anonymen“ Systemintegration. Hinzu treten zwei weitere Vorgänge, die zwar über die Orientierungen der Akteure verlaufen, aber gleichwohl unabhängig oder sogar gegen die Motive und Absichten der Akteure integrativ „wirken“: Interpenetration und symbolisch generalisierte Medien.
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Bei der systemischen Integration durch Interpenetration sind in den kulturellen Systemen bzw. den mentalen Modellen, an denen sich die Akteure in ihrem Handeln in den jeweiligen funktionalen Teilsystemen orientieren, jeweils auch Elemente der Logik, der Codes und der Programme anderer Teilsysteme enthalten (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 über die „SystemDurchdringung“ in diesem Band). Dadurch wird die „Radikalität“ der Eigenlogik der Systeme gebremst: In das wirtschaftliche Handeln, beispielsweise, gehen auch immer sofort solidarische Verantwortlichkeiten ein, und in das politische Entscheiden auch immer Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Wissens zu einem Problem, etwa das Wissen der Nationalökonomen bei der politisch thematisierten Frage, ob man heute noch eine keynesianische Geldpolitik betreiben könne. Es ist eine spezielle Art der Orientierung der Akteure in den jeweiligen sozialen Systemen und Teil der Programme des Handelns darin. Die symbolisch generalisierten Medien sind dagegen „Spezialsprachen“ der jeweiligen Systeme, mit denen bewirkt wird, daß die Akteure sofort den Codierungen der Systeme folgen und, unabhängig von ihren sonstigen Motiven, wie selbstverständlich ganz spezifische Handlungen ausführen, die dann das „Prozessieren“ der Systeme und damit systemintegrativ ihren Zusammenhalt sichern (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 in diesem Band). Insofern beruhen auch die symbolisch generalisierten Medien auf Orientierungen der Akteure, aber diese Orientierungen werden, stärker noch als bei der Interpenetration, ganz automatisch ausgelöst (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Geld ist das anschaulichste Beispiel dafür: Wenn es angeboten wird, wird es, egal welche speziellen Wünsche und Motive die Menschen jeweils haben, so gut wie immer und sofort genommen. Und jeder weiß dabei, daß es um „wirtschaftliches“ Tun geht und nicht um, sagen wir, ein wissenschaftliches Argument, das man ja, ebensowenig wie die Liebe, mit Geld nicht kaufen kann.
An der systemintegrativen Wirkung der Interpenetration und der symbolisch generalisierten Medien wird deutlich, daß alle Prozesse der Integration, auch die der Systemintegration also, etwas mit den Akteuren zu tun haben: Es sind Orientierungen, die die Akteure in bestimmten Situationen leiten und sie zu einem Handeln bringen, dessen – meist unintendiertes – Ergebnis die Integration des jeweiligen sozialen Systems ist. Soziale Integration
Nicht immer nehmen, wie wir aus den Bemühungen zur Integration der Europäischen Gemeinschaft wissen, die Akteure eine durchaus gelingende Systemintegration klaglos hin, und keineswegs immer identifizieren sie sich auch mit dem, wie auch immer, etwa wirtschaftlich oder administrativ, integrierten sozialen Gebilde. Die soziale Integration bezeichnet demgegenüber daher auch die Beziehungen der Akteure zueinander und – über gewisse „soziale“ Einstellungen – zum „Gesamt“-System. Es geht also bei der Sozialintegration um den Einbezug der Akteure in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, nicht bloß um das äußerliche „Funktionieren“ der Gesellschaft als System. Mindestens vier Varianten der Sozialintegration als sozialem Einbezug der Akteure in eine Gesellschaft können unterschieden werden: Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Kulturation
Mit Kulturation ist gemeint, daß die Akteure das für ein sinnhaftes, verständiges und erfolgreiches Agieren und Interagieren nötige Wissen besitzen und bestimmte Kompetenzen haben. Das Wissen und die Kompetenzen beziehen sich auf die Kenntnis der wichtigsten Codierungen von typischen Situationen und die Beherrschung der daran anknüpfenden Programme des sozialen Handelns darin, vor allem auf die Normen und sozialen Drehbücher also. Wissen und Kompetenzen sind dabei eine Art von (Human-)Kapital, in das die Akteure auch investieren können oder müssen, wenn sie für andere Akteure interessant sein wollen und, etwa, an der Besetzung gesellschaftlich angesehener Positionen interessiert sind oder an für sie selbst interessanten Interaktionen und Transaktionen teilnehmen möchten. Die Sozialintegration als Kulturation ist insbesondere ein Prozeß des Erwerbs des jeweiligen Wissens bzw. der jeweiligen Kompetenzen. Es ist ein Teil der Sozialisation des Menschen in die jeweilige Gesellschaft, genauer: ein Teil der kognitiven Sozialisation. Die Kulturation der Menschen zu Beginn ihres Lebens wird auch als Enkulturation bezeichnet, spätere Kulturationen an dann auch andere und neue gesellschaftliche Kontexte als Akkulturation (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Plazierung
Unter Plazierung wird, ganz allgemein, die Besetzung einer bestimmten gesellschaftlichen Position durch einen Akteur verstanden. Auch das ist eine Form des „Einbezugs“ der Akteure in eine Gesellschaft, die wichtigste wahrscheinlich sogar. Die Plazierung ist ein Spezialfall der Inklusion, jener der Plazierungsinklusion nämlich (vgl. dazu schon Kapitel 5 in diesem Band): Akteure werden in ein bereits bestehendes und mit Positionen versehenes soziales System eingegliedert. Die wichtigsten Formen der sozialen Integration durch (Plazierungs-)Inklusion sind die Verleihung bestimmter Rechte, wie etwa das Staatsbürgerschaftsrecht oder, meist damit zusammenhängend, das Wahlrecht, die Übernahme beruflicher und anderer Positionen, meist abhängig vom Durchlaufen einer gewissen Bildungskarriere, und die Eröffnung von sozialen Gelegenheiten zur Anknüpfung und zum Unterhalt sozialer Beziehungen zu den anderen Mitgliedern des sozialen Systems. Dabei ist die soziale Akzeptanz, das Fehlen von „Vorurteilen“, Diskriminierungen und Schließungen also, eine wichtige Bedingung der Plazierung.
Integration
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Die soziale Integration durch Inklusion bzw. Plazierung ist eng mit dem Mechanismus der Kulturation verbunden. Einerseits erwerben Akteure über die Plazierung auf bestimmte Positionen bestimmte Kompetenzen – oder aber auch nicht. Es ist für die Kulturation der Akteure eben nicht gleichgültig, ob man in eine reiche oder eine arme Familie hineingeboren wird, den Kindergarten besucht hat oder nicht, auf dem Lande lebt oder in der Stadt, eine gute berufliche Position innehat oder arbeitslos ist. Andererseits ist die Kulturation oft ein wichtiger Filter für die Plazierung der Akteure: Nur wer über eine gute Schulbildung verfügt, kann auf einen akzeptablen Posten hoffen, und wer als kleiner Bub nur Bayerisch kann, muß aufpassen, daß er auf dem Gymnasium in der Kreisstadt nicht sitzen bleibt. Wer bestimmte Kompetenzen hat, verfügt daran anschließend über die Kontrolle von gesellschaftlich interessanten Ressourcen und wird daher auch als „Person“ (oder „Gruppe“, wenn es sich um Aggregate von Personen handelt) für andere Akteure im System interessant. Er verfügt damit – ganz allgemein – über eine gewisse Macht und wird darüber schließlich auch akzeptiert und sozial anerkannt, wenn nicht sogar mit Ehren überhäuft.
Die soziale Integration über die Plazierung ist die wohl wichtigste Bedingung zur Erlangung von gesellschaftlich generell verwendbaren Kapitalien, insbesondere in der Form des ökonomischen Kapitals und des sog. Humankapitals (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie noch den Exkurs über die Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft gleich anschließend). Mit der erfolgreichen Plazierung werden aber auch andere Arten von Kapital erreichbar: institutionelles Kapital an noch weitergehenden Rechten und politisches Kapital an einer Vertretung der eigenen Interessen. Interaktion
Interaktionen sind jener Spezialfall des sozialen Handelns, bei dem die Akteure sich wechselseitig über Wissen und Symbole aneinander orientieren und so, und über ihr Handeln, Relationen bilden. Es gibt drei Spezialfälle der Interaktion: die gedankliche Koorientierung, die sog. symbolische Interaktion und die Kommunikation. Außerdem gibt es als wichtige Formen des sozialen Handelns noch die sog. sozialen Beziehungen und die sog. Transaktionen. Bei sozialen Beziehungen geschieht die Abstimmung der Akteure über mehr oder weniger feste und verbindliche Regeln und orientierende mentale Modelle „normaler“ Abläufe des sozialen Handelns, und Transaktionen sind Akte des „Tausches“ von Gütern aller Art (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie alle, Interaktionen, soziale Beziehungen und Transaktionen, sind wichtige Arten der sozialen Integration, die hier einfacherweise allesamt als „Interaktion“ bezeichnet werden sollen. Über Interaktionen bilden sozial integrierte Akteure untereinander meist ganze „Netze“ von Relationen, etwa solche des Kennens, der verschiedenen Formen der Kommunikation und der
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Die Konstruktion der Gesellschaft
sozialen Beziehungen, etwa der von Freunden oder Ehepartnern, und solche der Transaktionen aller Art. Man spricht daher auch von sozialen Netzwerken.5 Die sog. Netzwerkanalyse ist ein Instrument zur formalen Bestimmung des Grades der Integration ganzer Netzwerke und der einzelnen Akteure darin. So gibt es dicht geknüpfte Netzwerke, in denen jeder jeden kennt, Cliquen mit lauter strong ties also. Und es gibt Netzwerke, in denen nicht mehr jeder jeden kennt und in denen bestimmte Personen als Liaison-Personen die Cliquen mit ihren strong ties indirekt verbinden. Solche indirekten Verbindungen über „Brückenbeziehungen“ werden auch als weak ties bezeichnet. Über weak ties wird dann auch die Integration größerer Verbände von ansonsten isolierten Cliquen möglich.6 Daher könnte man die Sozialintegration über weak ties durchaus auch als einen Mechanismus der Systemintegration ansehen. Je nachdem wie dicht die Beziehungen einer bestimmten Person zu anderen Personen ist, lassen sich auch Akteure mit unterschiedlichen Graden der (sozialen) Integration unterscheiden. Der soziometrische Star, zum Beispiel, wird von allen geliebt, und es gibt die Marginalen, die mit (fast) niemandem Beziehungen unterhalten.
Interaktionen sind ihrerseits Spezialfälle eines weiteren Spezialfalls der Inklusion, der Konstitutionsinklusion nämlich (vgl. dazu wieder Kapitel 5 in diesem Band). Die wichtigsten Bedingungen für die Sozialintegration über die Interaktion sind die o.a. Folgen der Kulturation und der Plazierung: die Kontrolle über allgemein interessierende Ressourcen, Kompetenzen, soziale Akzeptanz und die Verfügung über Gelegenheiten der Anknüpfung und Verfestigung von Kontakten. Die wichtigsten Folgen der Sozialintegration durch Interaktion sind der Erwerb von sog. kulturellem Kapital als bestimmten, nur in Interaktionen erwerbbaren und nutzbaren Fertigkeiten, Vorlieben und Distinktionen, und von sog. sozialem Kapital, die Aktivierbarkeit von interessanten Ressourcen, die sich aus der Einbettung in soziale Netzwerke ergibt (vgl. auch dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Identifikation
Die Identifikation eines Akteurs mit einem sozialen System ist dann jene besondere Einstellung eines Akteurs, in der er sich und das soziale Gebilde als 5
Vgl. dazu verschiedene Beiträge in Franz Urban Pappi, (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987, oder den Überblick bei David Knoke und James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982. Vgl. ferner Ronald S. Burt, Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass., und London 1992, insbesondere Kapitel 1: The Social Structure of Competition, S. 8-49; John Scott, Social Network Analysis. A Handbook, London, Newbury Park und New Delhi 1991; Buskens 1999, S. 34-44. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
6
Vgl. dazu insbesondere Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380.
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eine Einheit sieht und mit ihm „identisch“ wird. Es ist eine gedankliche und emotionale Beziehung zwischen dem einzelnen Akteur und dem sozialen System als „Ganzheit“ bzw. als „Kollektiv“, die bei dem einzelnen Akteur als Orientierung mit einem kollektiven Inhalt besteht, etwa als Nationalstolz oder als Wir-Gefühl zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft oder Gruppe (vgl. dazu auch noch insgesamt Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Drei Formen
Es gibt die soziale Integration über Identifikation in ganz unterschiedlichen Stufen der Unterstützung des Systems. Wir wollen drei unterschiedlich intensive Formen der Sozialintegration durch Identifikation unterscheiden: die emphatische Wertintegration und die Hinnahme des Systems über die beiden Mechanismen der Verkettungsintegration und der Deferenzintegration. Wertintegration
Der wohl deutlichste Fall der Sozialintegration als Identifikation ist die bewußte Loyalität zur „Gesellschaft“ und ihren herrschenden Institutionen, etwa in Form der mit Werten begründeten Zustimmung zu den politischen Instanzen und deren Entscheidungen. Es ist die Integration der Gesellschaft über ausgeprägte Gefühle der Solidarität, über unbedingte Werte und über die, mehr oder weniger bewußte, sicher aber auch emotionale Identifikation der Akteure mit dem System der Gesellschaft insgesamt. Die Wertintegration ist die Art der ideologisch untermauerten und in den alltäglichen Interaktionen immer wieder neu bekräftigten Unterstützung des „Systems“, wie sie – zeitweise – in Feudal- oder Nationalgesellschaften vorgekommen sein mag und wie sie sich manche hierzulande auch für die Bundesrepublik Deutschland und für Europa wünschen – und andere fürchten. Emile Durkheim und Talcott Parsons meinten, daß es in allen Arten von Gesellschaften der solidarischen Werte zu ihrer Integration bedürfe. Talcott Parsons hat, wie wir oben noch einmal gezeigt haben, für die Funktion der Integration – der Logik des AGILSchemas folgend – bekanntlich ein eigenes Sub-System der Gesellschaft, die „gesellschaftliche Gemeinschaft“, vorgesehen. Und Jürgen Habermas hat den „Ort“ dieser sozialintegrierenden Wissensformen, Motive, Orientierungen und Interaktionen in der sog. Lebenswelt des alltäglichen Umgangs gesehen, die aber, leider, durch die bloß systemintegrierenden Mechanismen der Märkte
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Die Konstruktion der Gesellschaft
und der Herrschaft der korporativen Akteure immer mehr unter die Räder komme (vgl. dazu weiter unten mehr, sowie insgesamt noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Hinnahme des Systems: Verkettungsintegration und Deferenzintegration
Die Zustimmung zur gesellschaftlichen Ordnung ist nicht die einzige Form der sozialintegrativen Unterstützung. Es gibt auch Arten der unterstützenden Sozialintegration, in denen jeder Rest an „integrierender“ Orientierung fehlt und die nur noch auf besonderen Konstellationen der Interessen und der Möglichkeiten der Akteure beruhen. Wir wollen diese Formen der „identifikativen“ Sozialintegration als Integration durch Hinnahme – von Zumutungen unterschiedlicher Art – bezeichnen. Zwei Arten der sozialen Integration durch Hinnahme können dabei unterschieden werden. Das ist erstens die Hinnahme des „Systems“ durch die Akteure wegen der vielfachen Überkreuzung von inneren Konfliktfronten in ihrer Identität aus der – inkonsistenten – Kreuzung ihrer sozialen Kreise. Wegen dieser Überkreuzungen und Inkonsistenzen der Orientierungen lassen sich die Akteure nicht zu größeren Aggregaten gleicher Interessen und damit erst recht nicht zu einem systemdesintegrierenden Tun, etwa einer Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, zusammenschließen. Und alles bleibt – äußerlich – ruhig. Der Kampf findet im Innern der Akteure statt, und statt einer Revolution gibt es nun Millionen von Magengeschwüren. Diese Form der Sozialintegration sei als Verkettungsintegration bezeichnet. Sie ist typisch für die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Bei der Verkettungsintegration tun die Akteure auch deshalb nichts gegen die Integration des Systems, weil sie selbst – bei allen inneren Konflikten – viel davon haben: Eigenheim, Landrover, Urlaub in der Karibik, auch für den Gewerkschaftler. Es gibt in den reichen funktional differenzierten Gesellschaften aber auch stets, und neuerdings wieder vermehrt, die Verdammten der Erde, die Ausgegrenzten aller Art und die Angehörigen der unteren und der untersten Schichten. Auch die nehmen die „Gesellschaft“ meist hin, und zwar aus der erlebten oder wahrgenommenen Aussichtslosigkeit irgendeines Versuchs zur Änderung. Diese Form der hinnehmenden Sozialintegration sei als Deferenzintegration bezeichnet. Es ist die schwächste Form der sozialen „Integration“. Für die „Gesellschaft“ ist das aber nur selten eine gefährliche Angelegenheit. Elend und Aussichtslosigkeit machen bekanntlich apathisch. Diese verschiedenen Formen der Identifikation und der Hinnahme können natürlich auch zusammenspielen. Die Kastengesellschaften erhalten sich beispielsweise bei allen Spaltungen
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und Spannungen über eine Mischung von Wert- und Deferenzintegration als Einheit: Die hinduistische Religion bildet den übergreifenden Wertrahmen der Legitimation des gesamten Systems, und die unteren Kasten und erst recht die Unberührbaren tun auch aus Deferenz selbst dann nichts gegen die herrschende Ordnung, wenn sie nicht so recht glauben mögen, daß ihnen die Fügung im jetzigen Leben etwas bringt in einem späteren (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.2 oben in diesem Band).
Die zentrale Bedingung für den Aufbau einer emphatischen Unterstützung des Systems ist eine zufriedenstellende Plazierung bzw. erfolgreiche Statuszuweisung und die Einbettung in Interaktionen und soziale Beziehungen im betreffenden sozialen System, die ihrerseits an eine entsprechende Kulturation gebunden sind. Die Verkettungsintegration hängt sogar ganz alleine von der Zuweisung attraktiver Positionen und den damit verbundenen Belohnungen zusammen, möglichst in einer komplizierten Kreuzung der Inklusionen. Nur die Deferenzintegration kommt ohne „materielle“ Unterstützung aus. Sie speist sich aus der Hoffnungslosigkeit der Lage und der Machtlosigkeit der Akteure. Deshalb ist sie für die soziale Integration moderner Gesellschaften kaum geeignet, weil hier die Akteure über sehr viel an Macht und Kompetenz verfügen, um eine ihnen unerträglich erscheinende Lage zu ändern – und sei es auch bloß die Macht der Wählerstimme. Die Folge der Sozialintegration über die Identifikation ist die Unterstützung des Systems, entweder direkt durch die emphatische Loyalität oder indirekt über den Verzicht auf „des“-integrative Aktionen: Die systemintegrativen Mechanismen von Markt und Organisation müssen die ihr eigensinniges Prozessieren stets gefährdenden Akteure dann nicht fürchten. Die Akteure sind dann – in der Tat – so etwas wie eine mehr oder weniger freundliche, mindestens aber unschädliche „Umwelt“ der sozialen Systeme, die sich nun erst in ihrer Eigenlogik richtig breitmachen können. Marginalität
Wenn die soziale Integration den Einbezug von Akteuren in ein gesellschaftliches System bezeichnet, dann ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß es Akteure gibt, die keinem gesellschaftlichen System zugehören. Das ist der Fall der Exklusion, wie wir ihn in Kapitel 5 diesen Bandes diskutiert haben. Die damit verbundene Situation für den einzelnen Akteur wird auch als Marginalität bezeichnet: Er befindet sich zwischen allen Stühlen und fühlt sich nirgendwo zu Hause (siehe dazu auch gleich unten den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft gleich im Anschluß an dieses Kapitel). Er ist ein Fremder, wohin auch immer er geht. Georg Simmel, Alfred Schütz, Robert E. Park und Everett V. Stonequist haben diesem Typ von Menschenschicksal jeweils ein nachhaltiges
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ben diesem Typ von Menschenschicksal jeweils ein nachhaltiges soziologisches Denkmal gesetzt, wobei Simmel die eigenartige Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne und die unbestechliche Objektivität des Fremden, Schütz seine fundamentale Desorientierung wie seine, wie er es nennt, „zweifelhafte Loyalität“, Park die besondere Empfindsamkeit und Einfühlungsfähigkeit und Stonequist den „Kulturkonflikt“, den der „Marginal Man“ auszuhalten hat, jeweils besonders betont haben.7 Es sieht so aus, als würden wir im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden Kreuzung aller sozialen Kreise allesamt mehr und mehr zu solchen Fremden. Besonders darunter leiden muß man nicht – wenn es einem ansonsten gut geht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band und den Exkurs über Entfremdung im Anschluß daran). Eine Übersicht...
Wir wollen, bevor es weitergeht, die verschiedenen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge zur systemischen und sozialen Integration von Gesellschaften und Akteuren in einem Diagramm zusammenfassen (Abbildung 6.2). In das Diagramm sind auch jeweils die verschiedenen Mechanismen und die wichtigsten Bedingungen der systemischen bzw. der sozialen Integration eingetragen. Die Folgen und Wirkungen können dann so zusammengefaßt werden: Die Mechanismen der Systemintegration, insbesondere die Märkte und die Organisationen, steuern die Plazierung der Akteure auf Positionen, ihre Inklusion in das System also, und darüber die Kulturation und die Interaktion und so die Ausstattung der Akteure mit Kompetenzen und allen Arten von Kapitalien. Und das alles bildet die Grundlage für die systemunterstützenden Orientierungen, im Extremfall sogar die einer emphatischen Loyalität und Solidarität. Diese – mehr oder weniger moralische – Unterstützung des Systems insgesamt erleichtert wiederum das relativ reibungslose Funktionieren der Mechanismen der Systemintegration, der Märkte, der Interpenetration, der Medien und der Organisation der gesellschaftlichen Herrschaft. Nötig sind sie aber, wenigstens in den modernen Gesellschaften, nicht.
7
Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968 (zuerst: 1908), S. 509-512; Alfred Schütz, Der Fremde, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 53-69; Robert E. Park, Human Migration and the Marginal Man, in: American Journal of Sociology, 33, 1928, S. 881-893; Everett V. Stonequist, The Marginal Man. A Study in Personality and Culture Conflict, New York u.a. 1937, insbesondere Kapitel XI: The Sociological Significance of the Marginal Man.
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Integration
Integration Systemintegration
* Markt * Interpenetration/Medien * Organisation
Sozialintegration Kulturation
Plazierung
Interaktion
Identifikation
* Wissen * Kompetenz * Humankapital
* Rechte * Positionen * Gelegenheiten/ Akzeptanz * ökonomisches/ institutionelles/ politisches Kapital
* NetzwerkPosition * kulturelles Kapital * soziales Kapital/
* Werte * Hinnahme
Abb. 6.2: Systemintegration und die vier Dimensionen der Sozialintegration
... und eine Zwischenbemerkung
Mit der Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration wird der Anschein erweckt, als ob es sich um zwei gänzlich verschiedene Typen der Integration und der Bildung sozialer Systeme handele. Das ist aber, wie die geschilderten Zusammenhänge zwischen den Mechanismen der Systemund der Sozialintegration zeigen, nicht der Fall: Jede Form der systemischen Integration sozialer Systeme ist ein aggregiertes Ergebnis des – wie auch immer motivierten – Handelns von Akteuren. Auch die Märkte und die Organisationen, die Vorgänge der Interpenetration und das „Zirkulieren“ von symbolisch generalisierten Medien sind nichts anderes als kollektive Vorgänge, die stets in sozialintegrative Prozesse eingebettet sind, von diesen hervorgebracht werden und sie selbst wieder steuern. Davon gehen, wie sich zeigt, inzwischen auch weite Teile der neueren Diskussionen in der Soziologie im Zusammenhang der Entdeckung der „Individualisierung“ und des Beitrages der „Subjekte“ bei der Konstitution der Gesellschaften aus. Diese Debatten sind daher immer etwas verwirrt und deshalb oft selbst auch wieder verwirrend, weil die Anwendung einfacher Grundregeln, wie die der Unterscheidung von sozialen Systemen und Akteuren, von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit oder von Absichten bzw. Handlungen und unbeabsichtigten kollektiven Folgen, wohl etwas ungewohnt ist und daher vieles durcheinander geht. Ein – insgesamt gesehen: nicht einmal schlechtes – Beispiel dafür ist der Beitrag von Nina
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Degele, die, ganz offenbar ohne das Modell der soziologischen Erklärung auch nur zu kennen, für das Problem der Integration differenzierter Gesellschaften meint, daß hierbei keineswegs nur die „systemischen“ und „organisatorischen“ Prozesse eine Rolle spielen. Sondern: „Einen immer bedeutenderen Beitrag liefern Individuen. Sie sind ... angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Umbrüche mit neuartigen Integrationszumutungen konfrontiert, und nur weil sie in der Lage sind, spezifische Integrationsleistungen zu erbringen, kann sich Gesellschaft weiter differenzieren.“8 Und: „Vielmehr übernehmen Personen entscheidende gesellschaftliche Integrationsleistungen und stellen diese wiederum gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen als Differenzierungsressource zur Verfügung: Individuen sind integrale Bestandteile gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse.“ (Ebd., S. 361; Hervorhebung nicht im Original) Das ist ohne Zweifel nicht falsch. Es ist aber auch schon nahe an einer wiederum irreleitenden psychologistischen Übertreibung der Bedeutung der „Subjekte“, vor der wir mit Karl R. Poppers Idee der Situationslogik dann doch noch einmal eindringlich warnen möchten (vgl. dazu schon Abschnitt 10.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die „Individualisierung“ der Gesellschaft heißt ja noch lange nicht, daß es dann keine strukturierten Situationen mehr gäbe oder, erst recht, keine unintendierten Effekte und alles nur noch soziale Integration wäre. Die Alternative zu Durkheim oder Parsons sind nicht das freie Subjekt und das Ende der Systemintegration. Im Gegenteil: Niemand ist fester aneinander gebunden als die „freien“ Akteure auf den diversen Märkten der Funktionssysteme. Und es ist mit dem Modell der soziologischen Erklärung nicht nötig, zwischen Differenzierung und Ungleichheit, Systemlogiken und Akteursbeiträgen, systemischer und sozialer Integration theoretisch zu unterscheiden, wenngleich begrifflich durchaus, weil mit den drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung alle diese Aspekte uno actu erfaßt werden – und es daher nicht mehr nötig ist, sie „komplementär“ wieder zusammenzufügen. Aber immerhin: Auch dort, wo man es kaum vermuten dürfte, gewinnt die Idee des Methodologischen Individualismus offenbar an Boden, und der Rest ist dann ja rasch gelernt, nicht zuletzt mit Hilfe dieser „Grundlagen“ der Soziologie. Hoffentlich.
Kurz: Wenn man verstanden hat, daß jedes Systemereignis mit den Orientierungen und dem Handeln von Akteuren – wie auch immer – verknüpft ist, und daß jede Orientierung und jedes Handeln wieder vom „System“ strukturiert wird, dann entfällt die säuberliche Unterscheidung von System- und Sozialintegration wieder. Die Integration der Gesellschaft ist in jedem Fall ein emergentes Merkmal der Interdependenzen und des Zusammenwirkens der Akteure. Die Integration der Gesellschaft ist, kurz gesagt, ein kollektives Phänomen wie alle anderen gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse auch. Desintegration
Selbstverständlich gibt es auch das Gegenteil von Integration – die Desintegration. Zwei Formen davon seien unterschieden: die Segmentation und der Zerfall eines sozialen Systems. 8
Nina Degele, Soziale Differenzierung: Eine subjektorientierte Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, 28, 1999, S. 345 -364; Hervorhebungen im Original.
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Segmentation und Zerfall
Die Segmentation ist die Spaltung eines zuvor einheitlichen sozialen Systems in voneinander getrennte, nun eigenständig operierende Teile. Das kann auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Erstens durch die Entstehung von eigenständigen Sub-Gesellschaften innerhalb einer bereits existierenden und weiter bestehenden „dominanten“ Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung ausgebauter ethnischer Gemeinden in der Folge der Einwanderung größerer, kulturell sehr unterschiedlicher Gruppen, wie das etwa für die Türken in Deutschland oder die Algerier in Frankreich gilt (siehe dazu auch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an dieses Kapitel). Solche Sub-Gesellschaften entstehen sowohl spontan, insbesondere über den Prozeß der Segregation, etwa so, wie ihn Thomas C. Schelling beschreibt und modellierend erklärt (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“), als auch – mehr oder weniger – absichtsvoll oder gar geplant, wie beispielsweise bei der politisch gewollten Ausgrenzung und „Ghettoisierung“ ganzer Bevölkerungsgruppen, etwa (früher) in Südafrika und in Nazi-Deutschland. Gesellschaften können sich zweitens durch Abspaltung desintegrieren und jeweils neue, eigenständige, „unabhängige“ Gesellschaften bilden, wie das bei der Trennung von Slowakei und Tschechien in der ehemaligen Tschechoslowakei oder bei der Abspaltung von Slowenien und Kroatien von Serbien in dem ehemaligen Jugoslawien der Fall war (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band). Abspaltungen einer weiterhin durchaus als „Einheit“ bestehenden Gesellschaft in sich eigenständig fühlende religiöse und ethnische Gruppen, Regionen oder Sprachgemeinschaften sind natürlich allesamt ebenfalls Formen der „Des“-Integration. Die Tendenzen zum Separatismus und zur Autonomie kommen aus dem – naheliegenden – Bestreben, der jeweils spezifischen eigenen Kultur und Lebensweise eine jeweils auf sie zugeschnittene staatliche und gesellschaftliche „Verfassung“ zu geben, bei der das betreffende, und zuvor meist unterbewertete, kulturelle Kapital deutlich aufgewertet wird. Oft bedarf es in derart religiös, ethnisch, regional oder sprachlich gespaltenen Gesellschaften schon einer recht repressiven Herrschaft oder ganz massiver sonstiger Interessenkonvergenzen und Interdependenzen, damit die Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Unter Tito war das im ehemaligen Jugoslawien der Fall, und unter dem Sowjetregime in der UdSSR. Der Zerfall eines zuvor integrierten Systems findet – trivialerweise – dann statt, wenn sich die für das System charakteristischen Relationen auflösen, seien das Tauschbeziehungen, unterstützende Orientierungen oder die das Ganze organisierende Herrschaft. Diese Auflösung beginnt oft ganz unmerklich und vollzieht sich nur zum Schluß manchmal mit einem Paukenschlag. Wann es dazu
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kommt, läßt sich mit den o.a. Bedingungen der Integration gut sagen: Wenn die Interessen der Menschen nicht mehr bedient werden, wenn dadurch die Plausibilität der unterstützenden Orientierungen leidet und wenn dann schließlich die Herrschaft immer „repressiver“ werden muß, damit das Ganze noch zu organisieren ist. Das Nazi-Reich ist zwar von den Alliierten zerfegt worden, aber die DDR ist an innerer Anämie gestorben. Re-Integration
Ein soziales System kann natürlich auch in seinen Relationen deshalb zerfallen, weil die beteiligten Akteure ganz einfach wegbleiben, sei es durch die innere oder durch eine wirkliche Emigration. Das gilt beispielsweise für Ehen, für Seminare und für ganze Gesellschaften, etwa die untergegangene DDR. Hier gibt es eine interessante Verbindung zwischen den Orientierungen der Akteure und der Unmittelbarkeit, in der sich dieser Zerfall ereignet. Das Modell von Albert O. Hirschman über den Zusammenhang von „Exit, Voice and Loyalty“ ist ein Beispiel für Prozesse der Re-Integration von sozialen Systemen, die vom Zerfall durch Abwanderung bedroht sind:9 Wenn die Loyalität mit dem jeweiligen System sehr hoch ist, dann versuchen die Akteure, wenn sie Anlaß zur Klage über Leistungsverluste des Systems haben, zunächst das System wieder zu retten. Und erst wenn sich das schließlich als aussichtslos erweist, gehen sie – manchmal in der Tat mit der Folge, daß das System als integrierte Einheit zerfällt. Das Gefühl der Loyalität ist natürlich nichts anderes als der sozialintegrative Mechanismus der Identifikation in dem Modell von Hirschman. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, daß die Systemintegration gewissen sozialintegrativen Bedingungen unterliegt: Nutzen schließlich alle Versuche der Wiederherstellung der ursprünglichen Leistungen nichts mehr, dann verläßt der Akteur das System – und das zerfällt dann, weil es die Akteure nicht mehr gibt, die die Relationen ausfüllen, aus denen das soziale System besteht. Und das heißt dann auch wieder: Die ein System unterstützenden Akte und Werte sind nicht unabhängig von den Leistungen, die das System den Akteuren bringt, wie vermittelt das auch immer geschehen mag. Sozialintegration und Systemintegration bedingen, unterstützen und unterminieren sich ggf. gegenseitig.
9
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen 1974; vgl. auch schon Kapitel 1 oben in diesem Band, sowie noch Kapitel 8, ebenfalls in diesem Band, zu dem Modell von Hirschman.
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Die Integration funktional differenzierter Gesellschaften: drei Ansichten
Über die Art, wie sich Gesellschaften integrieren, gibt es in der Soziologie verschiedene Ansichten (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Abschnitt 9.2 in diesem Band). Relativ einig ist man sich noch über die vormodernen Gesellschaften: Die sog. segmentär differenzierten Gesellschaften, einfache Stammesgesellschaften also zum Beispiel, integrieren sich danach so gut wie ausschließlich über Mechanismen der Sozialintegration, über das Wissen um die Gruppenzugehörigkeit, über dichte Interaktionen und die damit verbundene „mechanische“ Solidarität der Mitglieder. Bei den sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften gibt es dagegen schon eine ausgebaute Form der Systemintegration: die Ausübung von organisatorischer Herrschaft. Jedoch beruht hier der Zusammenhalt immer auch noch auf deutlichen und in den Alltagsinteraktionen streng beachteten und stets neu bestätigten, meist religiös untermauerten Orientierungen der Akteure über die Rechtmäßigkeit der gegebenen Ordnung. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften sei dagegen die Integration primär auf die Systemintegration umgestellt: Märkte, Organisationen, Interpenetration der Systeme und die Zirkulation der symbolisch generalisierten Medien beherrschen das Geschehen. Das ist für die modernen Gesellschaften auch nicht zu bestreiten. Die Ansichten gehen über die Frage auseinander, ob es darüber hinaus überhaupt noch unterstützender sozialintegrativer Orientierungen bei den Akteuren bedarf. Oder etwas anders gefragt: Können Märkte ohne Moral, Organisationen ohne Loyalität, Interpenetration und Medien ohne Zustimmung und ohne kulturell geteiltes Wissen funktionieren? Und muß es in den arbeitsteiligen, funktional differenzierten Gesellschaften auch noch eine Solidarität geben, etwa die „organische“ Solidarität des Wissens um die latenten Verbundenheiten, und eine moralische Verpflichtung, Verträge nicht zu brechen? Die Ansichten lassen sich auf der Achse von einer rein systemintegrativen Antwort zu einer, die bei aller Systemintegration immer auch eine inhaltlich bestimmte Sozialintegration für unerläßlich hält, anordnen. Die strikt systemintegrative Sicht ist wohl am deutlichsten von Niklas Luhmann formuliert worden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.1 in diesem Band): Die Eigensinnigkeit und die Eigendynamik der funktionalen Differenzierung erzeugt ihre eigene Integration immer wieder mit. Die Teilsysteme sind so in die Maschinerie des funktionalen Austauschs verwickelt, daß es ein Ausscheren nicht geben kann. Und die Menschen sind dabei nur noch das Material des Prozessierens der Funktionssysteme, ihre zwar unerläßliche, aber in ihren speziellen Befindlichkeiten ganz unerhebliche bio-psychische „Um-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
welt“. Auf der Unverzichtbarkeit einer „moralischen“ Sozialintegration bei aller Systemintegration hat am nachhaltigsten Jürgen Habermas bestanden: Jede Gesellschaft, auch die funktional differenzierte Gesellschaft, bedürfe eines Kerns gemeinsamer, „kommunitärer“ sozial-moralischer Orientierungen, und die müßten beständig neu in den alltäglichen Interaktionen der sog. Lebenswelten kommunikativ bekräftigt werden. Zwischen diesen beiden Extremauffassungen gibt es zahllose Zwischenschattierungen, von denen wir nur eine herausgreifen möchten: das hier einmal so genannte ARD-ZDF-RTLModell, das sich an Ideen des Politologen David Easton anlehnt.10 Es ist eine Art von Tauschmodell: Das politische System erbringt für die Öffentlichkeit bestimmte Leistungen und erhält dafür Legitimität und Loyalität als Gegenleistung. Die Öffentlichkeit entwickelt dabei gewisse Ansprüche, die erfüllt werden müssen, damit der Transfer von Legitimität und Loyalität weitergeführt wird. Kommt es nun aber zu einer Anspruchs-Realitäts-Diskrepanz (ARD) und zur Zuschreibung des Fehlbetrags (ZDF) auf das politische System, dann erfolgt eine Reduktion des Transfers von Legitimität und Loyalität (RTL) von den Akteuren auf das politische System. Die sozialintegrierenden Orientierungen sind dabei also von systemischen Leistungen, vom Funktionieren der Märkte und Organisationen, von der gelingenden Systemintegration insgesamt also, abhängig – und unterstützen diese dann wiederum durch den Transfer von Legitimität und Loyalität.
Was soll man davon halten? Auffällig ist bei Habermas schon der etwas romantisch-altmodische Anklang an relativ überschaubare und harmonische Verhältnisse und an die Vorstellung, daß es zur Integration der Gesellschaft sozusagen paralleler moralischer Vorstellungen der Menschen bedarf und daß die Menschen die Gesellschaft immer auch als Gemeinschaft im Sinn haben und intendieren müßten. Easton berücksichtigt schon viel deutlicher das, was die Integration der moderen Gesellschaft ganz besonders ausmacht: den „Tausch“ von Leistungen zwischen den interdependenten funktionalen Sphären, hier die der Politik und der Öffentlichkeit. Und eine dieser Leistungen ist der Transfer von moralisch getönter Legitimität und Loyalität gegen die auch merkbare Versorgung mit wichtigen Ressourcen. Luhmann geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt letztlich etwas vor, was man auch als Systemintegration durch den anonymen Markt bezeichnen könnte: Das „System“ hat sich in seinem arbeitsteiligen autopoietischen Prozessieren ganz von den Akteuren und ihren Orientierungen und Mikrobeziehungen verselbständigt, und daher bedarf es auch keinerlei „Repräsentation“ der Gesellschaft in den Köpfen der Menschen und keiner Gemeinschaftsvorstellung oder inhaltlich bestimmter Legitimität oder Loyalität. Die Integration wird über eine Legitimation durch formale „Verfahren“, und eben nicht über inhaltlich bestimmte moralische Werte, besorgt. 10
David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York, London und Sydney 1965. Siehe dazu auch die Zusammenfassung bei Bettina Westle, Politische Legitimität – Theorien, Konzepte, empirische Befunde, Baden-Baden 1989, Kapitel 2 insbesondere.
Integration
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Luhmann hat die Auffassung von der Notwendigkeit der moralischen Wertintegration auch der modernen Gesellschaften manchmal spöttisch als „alteuropäisch“ bezeichnet, weil er, wohl zu Recht, etwa gegenüber den Auffassungen von Habermas, meinte, daß in den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften eine (soziale) Integration über Werte gar nicht mehr möglich sei, sondern sich sozusagen von selbst aus dem eigenständigen Prozessieren der (funktionalen) Systeme ergebe – auch ganz ohne die Unterstützung der Akteure. Natürlich geht diese Art der Systemintegration ohne Sozialintegration nicht ohne Akteure. Aber die müssen die Integration der Gesellschaft nicht „wollen“, sondern besorgen sie als oft genug ganz unintendierten Effekt ihrer Verkettung in die Maschinerie des Prozessierens der Funktionssysteme und als Folge ihres kurzfristig und kurzsichtig an der gegebenen Situation orientierten Handelns. Integration und das Problem der sozialen Ordnung
Integration bedeutet, so sei noch einmal zusammengefaßt, den relativ gleichgewichtigen Zusammenhalt der Teile eines Ganzen und dessen Abgrenzung gegen eine unspezifische Umgebung, bei sozialen Systemen durchaus auch gegen die Absichten und Interessen der sie tragenden Akteure und gegen die gelegentlichen zentrifugalen Tendenzen der Eigendynamik der Systeme. Die Frage nach ihren Bedingungen, nach ihrer Entstehung und Stabilisierung ist die allgemeine Frage nach der sozialen Ordnung. Alle sechs Bände dieser „Speziellen Grundlagen“, wie schon die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ in ihrem ganzen Teil F über die „Gesellschaft“, haben dieses Problem zum Thema, mal mehr, mal weniger. Und das ist kein Zufall. Das Problem der sozialen Ordnung und das der Integration von Gesellschaften sind der zentrale Gegenstand des Nachdenkens über die Gesellschaft immer gewesen. Es ist die Frage, wie die Gesellschaft als eine Einheit in der Verschiedenheit ihrer Systeme und Akteure möglich ist, einer Verschiedenheit, die sie so spannungsreich und gerade darüber dann so leistungsfähig und damit wieder zusammenhängend macht.
Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft Der Begriff der Integration wird in der Öffentlichkeit nicht erst in letzter Zeit besonders häufig im Zusammenhang mit der Situation der Ausländer in der Bundesrepublik diskutiert, etwa bei der Frage, ob die Erleichterung der Einbürgerung die Integration der Ausländer fördere oder nicht oder ob ihre Integ-
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ration nicht die Voraussetzung für die Gewährung der Staatsbürgerschaft sein müsse. Meist bleibt sehr unklar, was damit gemeint ist. Und dann taucht rasch auch der Begriff der Assimilation auf, die Vorstellung also, daß sich die Ausländer an die Bedingungen des Aufnahmelandes irgendwie schon anpassen müßten und daß das eine Voraussetzung für ihre Integration wäre. Wir wollen die oben entwickelte Begrifflichkeit nutzen, um etwas deutlicher zu machen, worum es geht. Zwei Bedeutungen
Üblicherweise werden mit dem Begriff der „Integration“ von Migranten und ethnischen Minderheiten zwei sehr verschiedene Vorstellungen angesprochen: erstens der Zusammenhalt und das relativ gleichgewichtige Funktionieren eines gesellschaftlichen Verbandes, wobei zunächst gleichgültig ist, ob es sich um einen ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Verband handelt; und zweitens die Eingliederung der individuellen Mitglieder der ethnischen Gruppen in die verschiedenen Sphären der Aufnahmegesellschaft, sei es in der Form der Gewährung von Rechten und der Einnahme von Positionen, sei es als Aufnahme interethnischer Kontakte und Beziehungen oder die emotionale Identifikation mit dem Aufnahmeland. Die erste Bedeutung korrespondiert, wie man sieht, mit dem Konzept der Systemintegration der gesamten Gesellschaft einschließlich der von ihr umschlossenen ethnischen Gruppen, die zweite mit dem der Sozialintegration, sei es als Kulturation, als Plazierung, als Interaktion oder als Identifikation. Typen der Sozialintegration von Migranten und ethnischen Minderheiten
Sehen wir uns zunächst die Sozialintegration an. Die Sozialintegration kann sich bei fremdethnischen Migranten und anderen ethnischen Minderheiten auf (mindestens) drei gesellschaftliche „Systeme“ beziehen: das Herkunftsland, das Aufnahmeland und die ethnische Gemeinde im Aufnahmeland. Da sich die soziale Integration eines Akteurs zunächst nur auf irgendeinen gesellschaftlichen Kontext beziehen muß, ist die Frage seiner (sozialen) „Integration“ ganz unabhängig davon, ob das in Bezug auf das Herkunftsland, das Aufnahmeland oder die ethnische Gemeinde geschieht. Wenn man die ethnische Gemeinde und die Herkunftsgesellschaft einerseits sowie die Aufnahmegesellschaft andererseits und danach unterscheidet, ob die Akteure darin jeweils sozial integriert sind oder nicht, lassen sich sofort bestimmte Typen der Sozi-
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Integration
alintegration von Migranten unterscheiden, wobei hier einstweilen die inhaltlichen Dimensionen der Kulturation, der Plazierung, der Interaktion und der Identifikation, die wir gerade oben in diesem Kapitel noch auseinander gehalten haben, nicht weiter beachtet werden sollen (vgl. Abbildung 6.3).
Sozialintegration in Aufnahmegesellschaft
Sozialintegration in Herkunftsgesellschaft/ethnische Gemeinde
ja
nein
ja
nein
Mehrfachintegration
Segmentation
Assimilation
Marginalität
Abb. 6.3: Typen der (Sozial-)Integration von Migranten
Es ergeben sich so logischerweise vier Typen der Sozialintegration von Migranten: erstens die hier so genannte Mehrfachintegration als die Sozialinte-gration eines Akteurs in beide Typen von Gesellschaften oder Milieus, zweitens die ethnische Segmentation als die Sozialintegration in ein binnenethnisches Milieu und die gleichzeitige Exklusion aus den Sphären und den Milieus der Aufnahmegesellschaft und drittens die Assimilation als die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft unter Aufgabe der Sozialintegration in die ethnischen Bezüge. Der vierte Typ ist schließlich die Marginalität als der sozialintegrative Ausschluß aus allen Bereichen. Das ist der für die Migrationssituation gerade der ersten Generation oft so typische Fall. Es ist die nicht-vollzogene Sozialintegration von Akteuren in irgendwelche gesellschaftliche Zusammenhänge: Die alte Heimat ist verlassen und eine neue gibt es (noch) nicht. Und entsprechend den genannten vier Dimensionen der Sozialintegration kann es eine solche Marginalität in Bezug auf Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation geben, beispielsweise derart, daß keine Sprache richtig beherrscht wird, nirgendwo eine akzeptable Position besetzt wird, keine sozialen Beziehungen unterhalten werden und man sich mit keiner Gesellschaft identifiziert. Der marginale Akteur ist ein ausgestoßener, einsamer und heimatloser Fremder, wohin auch immer er geht.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Assimilation
Wie wäre dann aber eine „Integration“ der Migranten in die Aufnahmegesellschaft möglich? Es gibt nach dem Diagramm nur zwei Varianten: die Mehrfachintegration und die Assimilation. Die Mehrfachintegration ist ein logisch zwar möglicher, faktisch jedoch kaum wahrscheinlicher Fall. Sie erfordert ein Ausmaß an Lernaktivitäten und Gelegenheiten dazu, das den meisten Menschen verschlossen ist – und das erst recht bei den üblichen (Arbeits-) Migranten. Dieser Typ der „multikulturellen“ Sozialintegration käme allenfalls für Diplomatenkinder oder für Akademiker in Frage, in deren Familien sich etwa die Eltern mit ihren Kindern in beiden Sprachen unterhalten. Und er ist empirisch in der Tat außerordentlich selten. In den meisten Fällen gibt es ein Übergewicht der (Sozial-)Integration der Migranten in den einen oder den anderen Kontext. Die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft ist also, wie man dann sofort sieht, eigentlich nur in der Form der Assimilation möglich: die Akkulturation an die Aufnahmegesellschaft in Hinsicht auf Wissen und Kompetenzen, die Plazierung und Inklusion in die funktionalen Sphären der Aufnahmegesellschaft, die Aufnahme von interethnischen Kontakten, sozialen Beziehungen und Tauschakten mit den Einheimischen und die emotionale Unterstützung nicht der Herkunfts-, sondern der Aufnahmegesellschaft. Assimilation und Ungleichheit
Zum Begriff der Assimilation sind noch einige Präzisierungen nötig. Unter Assimilation wird zunächst – ganz allgemein – die „Angleichung“ der verschiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften verstanden, etwa im Sprachverhalten oder in der Einnahme beruflicher Positionen. Dabei ist immer von einer Angleichung in gewissen Verteilungen der verschiedenen Gruppen auszugehen, weil ja auch die einheimische Bevölkerung nicht homogen ist. „Assimilation“ auf dem Arbeitsmarkt läge dann etwa vor, wenn die verschiedenen Gruppen das gleiche Muster der Inklusion aufwiesen und folglich alle die gleichen Anteile etwa an der Verteilung auf die Branchen der Wirtschaft hätten. Das heißt: Es kann selbstverständlich soziale Ungleichheiten auch bei Assimilation geben, aber diese Ungleichheiten dürfen sich zwischen den ethnischen Gruppen nicht unterscheiden.
Integration
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Vier Dimensionen
Üblicherweise werden vier inhaltliche Dimensionen der Assimilation auseinander gehalten: die kulturelle Assimilation der Angleichung im Wissen und in den Fertigkeiten, etwa die der Sprache; die strukturelle Assimilation der Besetzung von Positionen in den verschiedenen Funktionssystemen, etwa im Bildungsbereich und vor allem auf dem Arbeitsmarkt; die soziale Assimilation als die Angleichung in der sozialen Akzeptanz und in den Beziehungsmustern, etwa im Heiratsverhalten; und die emotionale Assimilation, die Angleichung in der gefühlsmäßigen Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft. Das entspricht, wie man sieht, den vier inhaltlichen Dimensionen der Sozialintegration, die wir oben unterschieden haben: Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation. Assimilation und „Anpassung“
Die enge Beziehung zwischen der Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft und der Assimilation an die Verhältnisse dort ist eine Selbstverständlichkeit, von der die frühere Migrationssoziologie stets ausgegangen ist. Sie ist angesichts von Vorstellungen der Möglichkeit „multikultureller“ Gesellschaften etwas in Vergessenheit geraten, gelegentlich wird sie sogar verpönt. Aber es ist unabweisbar: Die Sozialintegration etwa nur in die ethnische Gemeinde, die Beibehaltung der Sozialintegration in das Herkunftsland oder gar die Marginalisierung der Personen und Gruppen zwischen allen Stühlen kann mit der sozialen „Integration“ der Migranten ja sicher nicht gemeint sein. Daher kann man die vollzogene Sozialintegration von Migranten in die Aufnahmegesellschaft realistischerweise, bis auf die wenigen Ausnahmen von Diplomaten, Akademikern oder sonstigen Kosmopoliten, wohl kaum anders denn als „Assimilation“ verstehen. Assimilation bedeutet dabei von ihrem Konzept her, wie wir gesehen haben, ja auch keineswegs die einseitige „Anpassung“ an die Aufnahmegesellschaft. Die nötige „Angleichung“ kann auch dadurch erfolgen, daß alle Teile der Bevölkerung sich derart verändern, daß die Verteilungen der verschiedenen Merkmale über die verschiedenen Gruppen hinweg gleich sind. Empirisch wird indessen auch beobachtet, daß solche allseitigen Angleichungen nur selten sind, und wenn sie geschehen, dann in eher peripheren Bereichen, wie bei den Eßgewohnheiten oder beim Freizeitverhalten. Die für die „Inklusion“ in die Gesellschaft wichtigen Eigenschaften bleiben als Bezug der „Angleichung“ nahezu unverändert, wie etwa die Beherrschnung der Sprache oder die kulturellen Kompetenzen.
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Ethnische Differenzierung
Neben der Frage nach der sozialen Integration der Migranten, nach deren (Ak-)Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation also, stellt sich natürlich sofort auch die nach der Systemintegration der gesamten Gesellschaft. Diese Frage stellt sich speziell in der Hinsicht, ob die Systemintegration einer Aufnahmegesellschaft auch ohne eine assimilative Sozialintegration der Migranten und ethnischen Minderheiten in diese Gesellschaft, und das heißt: bei ethnischer Differenzierung der betreffenden Gesellschaft, auch nur denkbar ist. Beide Konzepte – die (System-)Integration der Aufnahmegesellschaft und die (sozialintegrative) Assimilation der Akteure und Gruppen bzw. das der ethnischen Differenzierung und die mit ihnen verbundenen Prozesse – sind dabei zunächst logisch jedenfalls voneinander unabhängig. Eine Systemintegration der ganzen Gesellschaft mit ihren Untergruppen allgemein läge danach dann vor, wenn sich die verschiedenen Gruppen, Einheimische untereinander und Ausländer der unterschiedlichen Herkunftsländer und Kulturen, in gleichgewichtigen, relativ spannungsfreien, wenngleich nicht unbedingt „harmonischen“, Relationen zueinander befinden, worauf diese Beziehungen auch immer beruhen. Bei der Systemintegration unter Einschluß von Migranten und anderen fremdkulturellen Gruppen sind das vor allem Beziehungen über die verschiedenen Märkte, die Waren- und die Arbeitsmärkte vor allem, die Orientierung an symbolisch generalisierten Medien, insbesondere die Systemintegration über das Medium des Geldes oder über die Ausübung staatlicher Herrschaft, etwa über die Gewährung von einigen Mindestrechten (und -pflichten), wie das Recht zum Aufenthalt und die Pflicht, Steuern zu zahlen. Zu dieser Systemintegration wird also nicht die Loyalität zum Aufnahmeland verlangt, und auch nicht unmittelbar irgendeine kulturelle Gemeinsamkeit oder die Aufnahme interethnischer Kontakte. Arbeiten und Steuern zahlen kann auch jeder, der die Sprache des Aufnahmelandes nicht versteht, nur unter Landsleuten in der ethnischen Gemeinde verkehrt oder emotional noch in der Türkei oder in Marokko lebt.
Damit wird aber vollends deutlich, daß die Systemintegration der Aufnahmegesellschaft mit der einer assimilativen Sozialintegration der Migranten und ethnischen Gruppen nicht zwingend und mindestens nicht in jeder inhaltlichen Hinsicht verbunden ist. Integration und Assimilation bzw. ethnische Differenzierung sind demnach begrifflich und logisch voneinander unabhängig, wenngleich, wie wir noch sehen werden, keineswegs auch empirisch. Aus den beiden Dimensionen der Systemintegration einerseits und der Assimilation bzw. der ethnischen Differenzierung andererseits ergibt sich nun eine einfache Typologie von Gesellschaften mit unterschiedlichen strukturellen Eigenschaften (vgl. Abbildung 6.4):
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Integration
(System-)Integration ja
ja
ehnisch homogene und integrierte Gesellschaft
Klassen- oder regionale Konflikte im ethnisch homogenen Milieu
(z.B. Italien, Portugal, Griechenland, BRD vor 1967)
(z.B. England im 19. Jhdt., amerikanischer Bürgerkrieg, Frankreich, Spanien, Großbritannien, BRD nach der Wende)
multiethnische Gesellschaft
ethnische oder religiöse Konflikte
(z.B. Schweiz, USA, Südafrika heute, Indien, BRD nach 1967)
(z.B. Nordirland, Südafrika früher, Jugoslawien, RuandaBurundi, GUS)
Assimilation
nein
nein
Abb. 6.4: (System-)Integration, Assimilation und unterschiedliche Typen des Verhältnisses von Migranten und ethnischen Minderheiten
Die linke Spalte beschreibt (system-)integrierte Gesellschaften. Sie „funktionieren“ relativ reibungslos und es gibt keine größeren oder systematischen Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen. Im Alltag mag es durchaus Spannungen und Konflikte geben. Aber die sind vorübergehend und finden in wechselnden Konstellationen statt. Eine ausdrückliche Unterstützung des „Systems“ der Gesellschaft in Form einer auch expressiven Loyalität durch die Akteure ist nicht notwendig, es reicht die „Hinnahme“. Dennoch halten die Gesellschaften zusammen, insbesondere über die ökonomischen und politischen Interdependenzen und über das systemintegrative Wirken der verschiedenen Märkte. Die rechte Spalte der Typologie gibt dagegen den Fall des dau-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
erhaften und offenen Zwischengruppenkonfliktes wieder. Der Hintergrund sind meist latente Interessenkonflikte über die grundlegende „Verfassung“ der jeweiligen Gesellschaft. Die Systemintegration einer Gesellschaft ist, wie ihr Gegenteil, der systematische Zwischengruppenkonflikt innerhalb einer Gesellschaft, nun entweder im ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Milieu denkbar. Die Bundesrepublik Deutschland war nach dem 2. Weltkrieg bis etwa 1967 ein Beispielsfall für eine systemintegrierte ethnisch homogene Gesellschaft, ebenso wie etwa, grosso modo wenigstens, Italien, Portugal oder Spanien. Nach 1967 setzte in der BRD die erste große Welle der Arbeitsmigration mit der Folge einer ethnischen Differenzierung der weiterhin durchaus systemintegrierten BRD ein. Andere Fälle ethnisch heterogener und (system-)integrierter Gesellschaften sind die Schweiz, die USA, das jetzige Südafrika und auch Indien mit seinem Kastensystem, das ja die (mindestens: deferente) Unterstützung aller Kasten findet. Der Fall der systemintegrierten ethnisch heterogenen Gesellschaft ohne Assimilation der verschiedenen Gruppen sei dann als multiethnische Gesellschaft bezeichnet. Wegen ihrer Bedeutung für die weitere Argumentation haben wir sie auch im Diagramm herausgehoben. Nun zur fehlenden Systemintegration. Die sog. Klassenkonflikte sind das wohl wichtigste Beispiel für systematische Konflikte und das Fehlen einer Systemintegration im ethnisch homogenen Milieu. Es gehören jedoch auch die neuerdings wieder zunehmenden Regionalkonflikte dazu, wie etwa auch der zwischen Ost- und Westdeutschland nach der sog. Wende oder die Regionalkonflikte in Frankreich, Spanien oder Großbritannien. Ethnische (und religiöse) Konflikte, wie sie etwa in Nordirland, früher in Südafrika, jetzt wieder in Jugoslawien oder in Ruanda-Burundi oder zwischen Rußland und Tschetschenien stattfanden oder stattfinden, beschreiben die Kombination von fehlender Systemintegration und ethnischer Differenzierung einer Gesellschaft. Die multiethnische Gesellschaft Wenn man systematische und dauerhafte Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft ausschließen will, kommt für ein, auch politisch vertretbares, Konzept der Entwicklung der Beziehungen zwischen Migranten und Einheimischen wohl nur die Systemintegration in Frage. Und dann stellt sich die Frage, ob dies unter ethnische Heterogenität oder Homogenität geschehen soll oder wird. Es ist die Frage nach einer Integrationspolitik, die entweder am Konzept der Assimilation oder an dem einer multiethnischen Gesellschaft orientiert ist. In den „klassischen“ Einwanderungsländern,
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wie die USA, Australien oder Israel, zunächst auch Kanada, war lange Zeit das Assimilationskonzept selbstverständlich, und Vorstellungen eines multikulturellen Nebeneinanders der Gruppen waren allenfalls als Übergangsstadien gedacht. Die Konzeptualisierung der Gestaltung der interethnischen Beziehungen im Zuge von Migrationen hat sich inzwischen vielerorts, wenngleich nicht überall, geändert. In vielen Ländern wird, angesichts der anscheinend festen Etablierung nennenswerter Anteile fremdethnischer und anderssprachiger Minderheiten, mittlerweile vom Konzept der multiethnischen Gesellschaft ausgegangen, und diese Vorstellung wird auch offiziell politisch und teilweise wirtschaftlich unterstützt. Die multiethnische oder multikulturelle Gesellschaft als friedliches Nebeneinander der ethnischen Gruppen ist eine Vorstellung, die, so scheint es, sowohl den Interessen der Migranten entgegenkommt wie auch, wie es heißt, zu einer kulturellen Bereicherung der Aufnahmegesellschaft ohne nennenswerte negative Folgen führe – zumal es in diesem Rahmen jedem freisteht, auch den oft mühsamen Weg der „Assimilation“ dennoch zu gehen. Ethnische Schichtung Nicht ohne Grund also genießt das Konzept der multiethnischen Gesellschaft eine gewisse Attraktivität. Aber ist es ganz ohne Probleme oder auch nur realistisch? Das Assimilationskonzept jedenfalls ist nach wie vor durchaus keine unrealistische oder den Migranten irgendwie als Zumutung aufgezwungene Vorstellung. Empirisch sehen die Prozesse der (Sozial-)Integration der Migranten, für viele Vertreter eines Konzeptes der multiethnischen Gesellschaft wohl überraschenderweise und entgegen auch manchem aktuellen Augenschein, immer noch sogar eher so aus, wie das der alte amerikanische Traum vom melting pot vorsah: Nach einigen Generationen „assimilieren“ sich die Gruppen, wenngleich unterschiedlich rasch und unterschiedlich nachhaltig, fast allesamt.11 Der Augenschein der nachhaltigen ethnischen Differenzierung der westlichen Einwanderungsländer hat offenbar weniger damit zu tun, daß es keine Assimilation (mehr) gäbe oder daß eine nachhaltige ethnische Differenzierung der jeweiligen Nationalstaaten begonnen hätte, als damit, daß im Zuge der weltweiten Mobilisierung immer neue Gruppen als Erstgeneration mit dem mitunter durchaus langen Prozeß der assimilativen „Inklusion“ in die Aufnahmegesellschaft beginnen. Und der Prozeß der assimilativen Eingliederung hat auch in den klassischen Einwanderungsländern drei bis vier Generationen und damit durchaus recht lange Zeiträume beansprucht.
11
Vgl. dazu auch die neuesten Ergebnisse zur Situation in den USA bei Richard Alba, Immigration and the American Realities of Assimilation and Multiculturalism, in: Sociological Forum, 14, 1999, S. 3-25.
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Das Hauptproblem mit dem Konzept der multiethnischen Gesellschaft ist die bisher nicht weiter betrachtete dritte Dimension der gesellschaftlichen Strukturierung interethnischer Beziehungen: das Vorliegen systematischer vertikaler sozialer Ungleichheiten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen oder deren Gleichheit in sozialstruktureller Hinsicht, etwa nach der durchschnittlichen Bildung, den ausgeübten Berufen, dem Einkommen, der Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere auch in Hinsicht auf die politische Partizipation und Repräsentation, oder aber die systematische Gleichheit aller Gruppen untereinander. Damit ist nicht der Aspekt gemeint, ob es in der betreffenden Gesellschaft überhaupt vertikale soziale Ungleichheit gebe oder nicht; vertikale soziale Ungleichheiten gibt es in jeder Gesellschaft. Mit „Gleichheit“ ist vielmehr gemeint, daß sich die jeweils vorliegenden vertikalen sozialen Ungleichheiten schließlich auf die Individuen beziehen und daß daher die verschiedenen (ethnischen) Gruppen in Bezug auf die o.a. Indikatoren der vertikalen sozialen Ungleichheit grosso modo ähnlich sind. Im Fall der Assimilation aber ist diese Gleichheit der ethnischen Gruppen in der sozialstrukturellen Hierarchie sozusagen vom Begriff her schon vorgesehen. Es ist die strukturelle Assimilation der Akteure als ihre ähnliche Verteilung auf den o.a. Variablen der vertikalen sozialen Ungleichheit. Hier kann es zwar durchaus soziale Ungleichheiten geben, diese kovariieren aber nicht systematisch mit irgendwelchen ethnischen oder kulturellen Eigenschaften oder Gruppenzugehörigkeiten. Wir müssen bei der Konstellation der systemintegrierten Gesellschaften und der Unterscheidung nach ethnischer Homogenität und ethnischer Heterogenität also noch danach unterscheiden, ob es nach gesellschaftlichen Gruppen systematische vertikale soziale Ungleichheiten gibt oder nicht. Daraus ergibt sich das folgende Diagramm (Abbildung 6.5): Für das ethnisch homogene Milieu einer Gesellschaft bezeichnet die Unterscheidung nach Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Gruppen zwei geläufige Fälle: im einen Fall die Existenz von sozialen Schichten, Klassen oder gar Ständen, wobei nicht verkannt werden darf, daß mit Schichten, Klassen und Ständen stets auch kulturelle Unterschiede einhergehen, jedoch keine, die irgendwie „ethnisch“ definiert wären. Der andere Fall beschreibt die Auflösung der Gruppenunterschiede, der „Klassen“ und der „Stände“ im ethnisch homogenen Milieu, wie sie unter der Etikettierung der „Individualisierung“ der modernen Gesellschaften populär gemacht wurde. Damit geht auch die Angleichung der Akteure und der immer noch bestehenden Gruppen in Hinsicht auf die mit den Klassen und Ständen gegebenen kulturellen Unterschiede einher. Die Individualisierung als Auflösung der Klassen und der Stände ist stets auch eine Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen im anonsten ethnisch homogenen Milieu.
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Integration
vertikale soziale Ungleichheit ja
nein
ja
Soziale Ungleichheit im ethnisch homogenen Milieu („Klassen“, „Stände“, „Schichten“)
Soziale Gleichheit im ethnisch homogenen Milieu („Individualisierung“)
nein
Ethnische Schichtung („ethclasses“)
ethnische Pluralisierung („multikulturelle Gesellschaft“)
Assimilation
Abb. 6.5: Assimilation und vertikale soziale Ungleichheit
Die untere Zeile des Diagramms zeigt dann zwei Fälle der ethnischen Differenzierung einer Gesellschaft und damit eine Differenzierung des Begriffs der multiethnischen Gesellschaft. Rechts unten steht die wohl mit dem Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ immer gemeinte Vorstellung: das gleichberechtigte Nebeneinander ethnisch, religiös und kulturell ganz unterschiedlicher und als eigene „Lebenswelten“ etablierter Gruppen – bei gleicher Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen. Und links unten finden wir die Konstellation der ethnischen Schichtung: die systematische Kovariation von ethnischen Gruppen mit typischen Positionen im System der vertikalen sozialen Ungleichheit. Milton Gordon hat dafür vor langer Zeit einmal den treffenden Ausdruck der „ethclasses“ geprägt.12 Ethnische Schichtungen sind demnach gesellschaftliche Systeme der systematischen Überund Unterordnung ethnischer Gruppen in einer ethnisch differenzierten Gesellschaft.13 Es gibt mildere und schärfere Formen der ethnischen Schichtung. Bei den milderen Formen bezieht sich die Hierarchie immer nur auf ein bestimmtes Merkmal, die Einordnung der Personen ist nicht exklusiv in dem Sinne, daß die Zugehörigkeit zu der Gruppe auch abgelegt werden 12
Milton M. Gordon, Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and National Origins, New York 1964, S. 52.
13
Vgl. dazu: Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S 121ff.; Hartmut Esser, Die multi-kulturelle Gesellschaft. Ethnische Konflikte, in: Funkkolleg Humanökologie. Studienbrief 3, Weinheim und Basel 1991, S. 29ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
kann, und die Ordnung ist nicht institutionalisiert. Bei den schärferen Formen bezieht sich die Ordnung auf mehrere, im Extremfall auf alle Merkmale der Personen, die Zugehörigkeit kann nicht abgelegt werden und es gelten auch formell sanktionierte institutionelle Regeln sowie eine gesellschaftlich verbreitete Legitimation, zumindest bei den dominanten Gruppen. Oft geht diese vertikale Anordnung mit einer gesellschaftlichen Funktionenteilung einher: Die verschiedenen ethnischen Gruppen übernehmen typische berufliche Tätigkeiten und gesellschaftliche Funktionen, wobei eine ethnische Gruppe oft auch die politische, militärische, geistliche, intellektuelle und wirtschaftliche Elite gleichzeitig bildet. Es ist das Strukturierungsprinzip der sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften, bei denen typisch umrissene Gruppen der Bevölkerung typische gesellschaftliche Funktionen innehaben und in typischer Weise vertikal angeordnet sind. Für ethnisch homogene Verhältnisse waren die mitteleuropäischen Feudalsysteme derart strukturiert. Die Kastensysteme sind ein Fall der „feudalen“ ethnischen Stratifikation, wobei, wie bei den Feudalsystemen geläufig, eine übergreifende, auch stark religiös verankerte Legitimation dieses Systems gilt – auch bei den unteren „Kasten“. Insofern kann die Entstehung ethnischer Schichtungen in der Folge von (Arbeits-)Migrationen in den modernen Gesellschaften als eine Art von Kastenbildung und von Re-Feudalisierung durch systematische Unterschichtung der einheimischen Bevölkerung verstanden werden. Weil jedoch dabei jede irgendwie geartete Legitimation fehlt, sollte besser von Quasi-Kasten und von Quasi-Feudalismus gesprochen werden.
Bei der Beurteilung der beiden theoretisch ohne weiteres denkbaren Varianten „ethnische Differenzierung vs. Assimilation“ als Konzept für die interethnischen Beziehungen in systemintegrierten Gesellschaften muß nun eine wichtige empirische Besonderheit beachtet werden: Alle dauerhaft ethnisch differenzierten Gesellschaften sind, mehr oder weniger ausgeprägte, ethnische Schichtungen. Es gibt praktisch keine ethnisch differenzierte Gesellschaft, die nicht gleichzeitig eine ethnisch geschichtete Gesellschaft wäre. Indien ist mit seinem nach ethnischen Gruppen aufgeteilten Kastensystem das wohl prägnanteste Beispiel dafür, die USA sind, mindestens in Hinsicht auf die Farbigen, ebenfalls nicht ohne. Aber selbst in der Schweiz oder in Kanada ist das „Nebeneinander“ der ethnischen Gruppen ein „Übereinander“, von den Verhältnissen der Migrantengruppen etwa in Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik ganz zu schweigen. Und es sieht so aus, als ließe sich die Etablierung ethnischer Schichtungen nicht vermeiden – wenn es nicht zur Assimilation der ethnischen Gruppen und damit zur Auflösung der ethnischen Differenzierungen in der Aufnahmegesellschaft kommt (siehe dazu auch noch gleich unten).
Die multiethnische Gesellschaft in der Form einer „multikulturellen Gesellschaft“ als dauerhaftes gleichberechtigtes Nebeneinander ethnischer Gruppen in einer (system-)integrierten Gesellschaft ist allem Anschein nach also nichts als ein schöner Traum, an dem auch alle Bemühungen um eine Durchsetzung des „Multikulturalismus“ kaum etwas ändern werden.
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Die Entstehung und Etablierung ethnischer Schichtungen Die empirischen Beobachtungen, daß ethnische Differenzierungen so gut wie immer in der Form ethnischer Schichtungen vorkommen oder rasch dahin mutieren, lassen sich theoretisch unschwer erklären. Eigentlich ist kaum etwas anderes zu erwarten. Wir wollen einige strukturelle Hintergründe und einige Prozesse der Entstehung ethnischer Schichtungen, die dafür sorgen, daß ethnische Differenzierungen fast immer gleich zu ethnischen Schichtungen mutieren, kurz skizzieren. Strukturelle Hintergründe Ethnische Schichtungen haben stets „objektive“ bzw. strukturelle Hintergründe. Es gibt sie nicht nur als Folge von Migrationen. Die auch symbolisch hervorgehobene „Ethnisierung“ der Gruppen ist eine kulturell gesteuerte und sozial definierte Folge insbesondere von ökonomischen und politischen Benachteiligungen oder Bevorzugungen. Es lassen sich im Wesentlichen zwei strukturelle Hintergründe der Entstehung und Verfestigung ethnischer Schichtungen benennen: regionale Disparitäten und Differenzierungen des Arbeitsmarktes. Bei den regionalen Disparitäten handelt es sich um systematische Benachteiligungen bestimmter Regionen eines Landes, sei es aus einem unterschiedlichen Tempo der internen Entwicklung, sei es als Folge einer politischen Benachteiligung der Region gegenüber dem Zentrum des Landes. Regionale Disparitäten sind vor allem in der Folge der Entkolonialisierung und der Bildung neuer Nationalstaaten, insbesondere in der sog. Dritten Welt, aber auch früher in Europa, entstanden und haben teilweise zur Entstehung eines Systems geschichteter Sub-Nationen geführt. Es gibt sie aber auch in der Form eines Systems des „internen Kolonialismus“ und der „kulturellen Arbeitsteilung“ zwischen den Regionen, bei dem ein ausgeprägtes politisches, administratives und wirtschaftliches Zentrum die peripheren Regionen dominiert und sogar ausbeutet. Es gibt solche Varianten regionaler ethnischer Schichtungen in Großbritannien, Frankreich und, insbesondere auch im heutigen Rußland im Anschluß an die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion.
Unter der Differenzierung des Arbeitsmarktes wird die systematische Verteilung bestimmter Gruppen auf bestimmte Branchen und die Einteilung in unterschiedliche Lohngruppen (bei gleicher Tätigkeit) verstanden. Es gibt solche Differenzierungen nach Geschlecht, nach Alter, aber auch nach ethnischen Kriterien. Bei den ethnischen Differenzierungen des Arbeitsmarktes sind wiederum zwei Fälle zu unterscheiden: die Spaltung und die Segmentation von Arbeitsmärkten.
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Von der Spaltung eines Arbeitsmarktes ist dann die Rede, wenn es bei den Arbeitnehmern Unterschiede in der Entlohnung der gleichen Tätigkeit, beispielsweise in Form von Leichtlohngruppen, gibt. Eine ethnische Spaltung liegt dann vor, wenn die Aufteilung in „Normal“-Arbeitsverhältnisse und Leichtlohngruppen systematisch nach ethnischer Zugehörigkeit geschieht. Das aber tritt, in nicht zu stark reglementierten Arbeitsmärkten, häufig als Folge von Immigrationen auf, bei denen die Einwanderer bereitwillig zunächst auch erkennbar schlechter bezahlte Arbeitsverträge akzeptieren. Eine Segmentation des Arbeitsmarktes gibt es, wenn sich die ethnischen Gruppen systematisch auf bestimmte Branchen und Tätigkeiten verteilen. Bei Migranten und anderen ethnischen Minderheiten geschieht dies oft unintendiert durch die Besetzung bestimmter, von den Einheimischen bzw. der dominanten Bevölkerung nicht (mehr) besetzten ökonomischen Nischen, beispielsweise in Form von Kleingewerbe, durch die Immigranten, dann teilweise auch für die speziellen Nachfragen der Migrantenbevölkerung selbst.
Dauerhafte regionale Disparitäten und Differenzierungen des Arbeitsmarktes sind eine wichtige Ursache nicht nur der Entstehung ethnischer Schichtungen, sondern damit zusammenhängend auch von ethnischen Konflikten (siehe dazu auch noch unten mehr). Sie sind, sozusagen, die „Basis“ eines objektiven gemeinsamen Schicksals, auf der sich die Stilisierung ethnischer, kultureller und religiöser Unterschiede als schließlich sich auch verselbständigender und radikalisierender „Überbau“ erheben kann. Mechanismen und Prozesse Ethnische Differenzierungen und ethnische Schichtungen sind keine irgendwie „stabilen“ Strukturen, sondern werden durch alltägliche Handlungen und Interaktionen im Alltag immer wieder neu „konstituiert“. In einer groben Einteilung lassen sich zwei Mechanismen und Prozesse der Konstitution ethnischer Schichtungen benennen, die im Einzelfall auch zusammenspielen und sich wechselseitig verstärken können: soziale Distanzierungen der Gruppen untereinander und ihre Segmentation voneinander. Soziale Distanzierungen sind Prozesse der externen Grenzziehung. Es gibt sie in der Form distanzierender Einstellungen, als „Vorurteile“, und als diskriminierende Handlungen (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Vorurteile sind dabei als mit anderen Einstellungen abgestimmte und in Konsonanz befindliche „belief systems“ anzusehen, die von den Akteuren in ihren jeweiligen Lebenswelten und primären Bezugsgruppen geteilt und durch Interaktionen immer wieder neu bekräftigt werden. Deshalb allein sind sie durch externe „Aufklärung“ und Kampagnen der Toleranz kaum zu beeinflussen, zumal dann nicht, wenn sie ein fester Bestandteil der jeweiligen alltäglichen Lebensweise sind. Es hat sich, damit gut übereinstimmend, außerdem gezeigt, daß Vorurteile auch durch Kontakte zwischen den Gruppen alleine kaum zu ändern sind. Nur wenn es Kontakte von Personen mit gleichem Status in für beide Seiten problematischen Situationen gibt und wenn diese das nachhaltige Erlebnis einer gemeinsamen Problemlösung sind, ändern sich
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die (negativen) Stereotype und machen sympathischen Gefühlen Platz. Meist sind diese Sympathien dann jedoch an bestimmte Personen oder spezielle Situationen gebunden, etwa an Arbeitskollegen und die Situation im Betrieb. Diskriminierungen sind demgegenüber nichtgerechtfertigte Ungleichbehandlungen von Personen unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit. Nicht jede Ungleichbehandlung ist freilich eine Diskriminierung. Stets müssen die Hintergründe mitbedacht werden, etwa der Grad der Schulbildung bei der Vergabe beruflicher Positionen. Distanzierende Einstellungen und diskriminierende Handlungen müssen keineswegs miteinander kovariieren. Es ist ein Spezialfall des Problems der weitgehenden Unabhängigkeit von „Einstellung“ und „Verhalten“. Der Hauptgrund dafür ist, daß Handlungen in der Regel, zum Teil sehr teure, Konsequenzen mit sich bringen, während das Äußern von Vorurteilen in einer Bezugsgruppe meist ohne weitere Folgen bleibt und dort oft sogar erwartet und belohnt wird. Auf diese Weise wird auch verständlich, daß es durchaus zu Diskriminierungen kommen kann, selbst wenn die betreffenden Akteure für die jeweiligen Gruppen oder Personen Sympathien hegen. Dies ist z.B. für den Wohnungsmarkt bekannt, auf dem sich neutrale Hausbesitzer oft deshalb weigern, Migranten als Mieter zu akzeptieren, weil sie dadurch einen Verlust des Wohnwertes ihres Hauses bei den Mitmietern befürchten müssen.
Die Segmentation ethnischer Gruppen ist ein Prozeß der „freiwilligen“ Abschließung von der umgebenden Gesellschaft durch den Zusammenschluß nach innen. Sie gibt es in drei, in den segmentierenden Wirkungen jeweils gesteigerten Formen: als räumliche Segregation, als kulturelle Segmentation und als die Institutionalisierung einer ethnischen Gemeinde. Die räumliche Segregation ist die Konzentration bestimmter ethnischer Gruppen auf bestimmte Regionen oder Stadtteile, wobei für Migranten insbesondere die innerstädtische Segregation, für ethnische und sub-nationale Minderheiten vor allem die regionale Konzentration typisch ist. Die räumliche Segregation in städtischen Quartieren kann natürlich die Folge von Diskriminierungen, etwa auf dem Wohnungsmarkt, sein. Mindestens ebenso wichtig sind indirekte Prozesse. Einer davon ist die durch Hintergrundmerkmale erzeugte systematische räumliche Verteilung, etwa dadurch, daß die Migranten nur bestimmte Mieten zu zahlen in der Lage sind und sich allein schon über die Einkommensunterschiede zu den Einheimischen auf indirekte Weise auf typische Quartiere mit niedrigen Mieten und schlechter Wohnqualität konzentrieren. Ein zweiter Vorgang ist der sog. Invasions-Sukzessions-Zyklus: Mit dem Einzug einer ausländischen Familie in ein bestimmtes Haus einer bis dahin rein einheimischen Gegend kann ein auf negativen Distanzierungen beruhender kumulativer Prozeß ausgelöst werden, bei dem im Anschluß daran einheimische Familien ausziehen, deren leerstehende Wohnung den Anlaß für den Einzug weiterer ausländischer Familien gibt usw. Allerdings kann es zu solchen Prozessen der Segregation auch ohne negative Distanzen, sondern schon allein auf der Grundlage von Vorlieben für eine gewisse Mindestanzahl von Angehörigen der eigenen Gruppe in einer Nachbarschaft kommen. Thomas C. Schelling hat in einem Modell der Segregationsdynamik gezeigt, daß unter nahezu beliebigen Umständen schon aus minimalen binnenethnischen Präferenzen starke Segregationen entstehen und daß es dazu „negativer“ Abgrenzungen nicht bedarf.14
14
Thomas C. Schelling, Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Sociology, 1, 1971, S. 143-186. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Mit kultureller Segmentation ist das Gegenteil der kulturellen, der sozialen und emotionalen „Assimilation“ gemeint: Die Migranten verbleiben – bewußt oder nicht – der Kultur ihrer Herkunftsgesellschaft verhaftet, insbesondere in bezug auf das Sprachverhalten, die alltäglichen Gewohnheiten und Interaktionen und die emotionale Identifikation. Dazu neigen typischerweise Migranten der ersten Generation, solche aus unterentwickelten Herkunftsregionen, mit einem hohen Einreisealter, mit geringer Bildung, geringen beruflichen Qualifikationen und mit einer hohen kulturellen Distanz zur Aufnahmegesellschaft. Das sind allesamt Umstände, die insbesondere eine strukturelle Assimilation und die Besetzung von Positionen in zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaft erschweren. Die Folgen der kulturellen Segmentation sind eine weitere Behinderung der strukturellen Assimilation und das Entstehen einer wechselseitigen Verstärkung von kultureller und struktureller Segmentation. Räumliche Segregationen und kulturelle Segmentationen verstärken sich gegenseitig: Segregationen fördern über die strukturell erzeugte Kontaktdichte der Akteure kulturelle Segmentationen, und die kulturellen Segmentationen verstärken wiederum die räumlichen Segregationen. Besonders bei zahlenmäßig großen Gruppen von Migranten wird es auf dieser Grundlage dann auch wahrscheinlich, daß sich eine mehr oder weniger ausgebaute und vollständige ethnische Gemeinde (bzw. ethnische Kolonie) institutionalisiert. Der kanadische Soziologe Raymond Breton spricht in diesem Zusammenhang auch von der „institutionellen Vollständigkeit“ der ethnischen Gemeinden.15 Oft werden solche ethnischen Gemeinden oder Kolonien zu ethnischen SubGesellschaften mit eigenen funktionalen Bereichen und einem eigenen Schichtungssystem ausgebaut. Zur Aufnahme sozialer Kontakte, zur Abwicklung der alltäglichen Angelegenheiten und sogar für einen gewissen sozialen Aufstieg kann der individuelle Migrant damit gänzlich innerhalb der ethnischen Sphäre verbleiben. Im Extremfall entwickelt sich so eine komplette Segmentation von zwei oder mehr eigenständig bestehenden Gesellschaften innerhalb eines (National-)Staates, wobei die ethnische Gemeinde als SubGesellschaft der Immigranten die Gesellschaft der Einheimischen unterschichtet und sich auf diese Weise ein System der ethnischen Schichtung etabliert.
15
Raymond Breton, Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Relations of Immigrants, in: American Journal of Sociology, 70, 1964, S. 193-205.
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Binnenintegration und Mobilitätsfallen Ethnische Gemeinden entstehen zunächst meist als eine Art von Notgemeinschaft von Personen mit einem gemeinsamen Schicksal und zur Bewältigung der gravierendsten Probleme in der Phase des ersten Aufenthalts. Ethnische Gemeinden und Kolonien haben damit durchaus eine Art von Schutzfunktion und könnten dadurch auch den weiteren Prozeß der Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft fördern. Georg Elwert hat diese Funktion als Binnenintegration bezeichnet.16 Nach dieser Konzeption verlassen die Migranten die ethnische Gemeinde jedoch, sobald der erste (Kultur-)Schock überwunden ist und sich assimilative Alternativen der Lebensführung aufgetan haben. Empirisch findet dies jedoch kaum statt. Es ist eher so, daß mit der Etablierung einer ethnischen Gemeinde oder Kolonie die Tendenzen zur kulturellen und strukturellen Assimilation auch bei solchen Akteuren deutlich absinken, die alle Voraussetzungen dazu hätten, insbesondere weil der Verbleib in der ethnischen Gemeinde einen, wenngleich nicht sonderlich hohen, aber sicheren „Gewinn“ verspricht, während das Verlassen der ethnischen Gemeinde und der Versuch einer assimilativen Mobilität mit hohen (subjektiven) Risiken und einem höchst ungewissen Ausgang verbunden werden. In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das Konzept der Mobilitätsfalle von Norbert F. Wiley erinnert, mit dem er den „freiwilligen“ Verzicht auf sozialen Aufstieg auch bei Migranten und ethnischen Minderheiten erklären kann (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.6 in diesem Band).17 Die Überlegung von Wiley: Ein Mitglied einer ethnischen Gruppe muß sich entscheiden, ob es einen Aufstieg innerhalb des Schichtungssystems seiner eigenen Gruppe oder außerhalb der eigenen Gruppe in der dominanten Gesellschaft anstreben soll. Da man annehmen kann, daß (subjektiv wie objektiv) die Chancen für eine Binnen-Karriere deutlich höher sind als für den beschwerlichen Weg hinein in die fremde Kultur des Aufnahmelandes, fällt diese Entscheidung – und mit dem institutionellen Ausbau einer ethnischen Gemeinde erst recht – in der Regel für die Binnen-Karriere aus. Weil aber die ethnischen Gemeinden bzw. Kolonien im Vergleich zur dominanten Gesellschaft die wesentlich schlechteren Positionen auch an ihrer Spitze zu vergeben haben, findet sich der Migrant gerade nach einer „erfolgreichen“ Karriere in seiner ethnischen Gemeinde in einer Position wieder, die deutlich schlechter ist als die vergleichbare Position in der dominanten Gesellschaft – obwohl er durchaus einen sozialen „Aufstieg“ vollzogen hat.
Weil die Entscheidung der Akteure nicht auf einem Irrtum beruht, sondern auf einem u.U. durchaus „rationalen“ Abwägen von Risiken und möglichen Er16
Georg Elwert, Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 1982, S. 717-731.
17
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose (Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto 1970, S. 397-408.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
trägen, kann von irgendeiner „Diskriminierung“ also nicht gesprochen werden. Es ist eine „freiwillig“ betretene Sackgasse, in die die Akteure sogar mit sehenden Augen gehen. Für eine Revision der Entscheidung ist es dann jedoch auch meist zu spät: Bildungs- oder Karriereprozesse benötigen eine gewisse Zeit, und ein Neubeginn ist nur selten möglich. Daher spricht Wiley auch zutreffend von einer Mobilitätsfalle. Es gibt sie nicht nur im Bereich der interethnischen Beziehungen und der strukturellen Assimilation von Migranten, sondern überall da, wo es sichere, aber im Ertrag beschränkte, spezielle Karrieremöglichkeiten gibt gegenüber riskanten, jedoch weit attraktiveren Alternativen. Segmentation und Stratifikation Regionale und räumliche Segregationen, Arbeitsmarktspaltungen und Arbeitsmarktsegmentationen, kulturelle, soziale und emotionale Segmentationen und die Ausbildung ethnischer Gemeinden und Kolonien spielen alle selbstverstärkend in einer Hinsicht zusammen: Sie erschweren oder verhindern die strukturelle Assimilation der Migranten. Dieses Zusammenspiel aber hat die Etablierung fester ethnischer Schichtungssysteme zur Folge, oft wieder verstärkt und sichtbar gemacht durch die räumlichen, kulturellen, sozialen und emotionalen Segmentationen. Die gegenseitige Verstärkung kultureller und struktureller Segmentationen ist, nur scheinbar paradoxerweise, gerade für moderne, funktional stark differenzierte Gesellschaften zu erwarten. Der Grund liegt in der immer stärker werdenden Interdependenz der Funktionssysteme und der damit zunehmenden Zuspitzung ihrer funktionalen Imperative (siehe dazu auch schon Kapitel 5 oben in diesem Band). Und weil sich daher die verschiedenen Teilsysteme der modernen Gesellschaften mit ihrer voranschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung immer weniger funktional diffuse Ungenauigkeiten in der Positionsbesetzung leisten können, wird der Erwerb der speziellen funktionalen Voraussetzungen zur Plazierung auf den zentralen Positionen immer dringlicher. Wer hier nur ein wenig zu kurz oder zu spät kommt, den bestrafen die Eigengesetzlichkeiten der Systeme nachhaltig, oft genug mit Totalexklusionen und Marginalisierung, wie Dauerarbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit. Das gilt insbesondere für die Bildung, die mehr und mehr zu einer nur noch „notwendigen“ und immer weniger zu einer auch schon „hinreichenden“ Bedingung der Positionsübernahme etwa auf dem Arbeitsmarkt wird. Die zentralen institutionellen Positionen sind aber, insbesondere auch im Bildungsbereich, eng mit den kulturellen Vorgaben der Aufnahmegesellschaft verbunden. Das ist einer der Gründe für die so enorme und offenbar wachsende Bedeutung des sog. kulturellen Kapitals bei den Plazierungen auf die Positionen in der Aufnahmegesellschaft. Und solange die zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaften, und dabei erneut der Bildungsbereich, um die nationalen Kulturen herum organisiert sind, ist das zur Plazierung erforderliche oder hilfreiche kulturelle Kapital stets nur dasjenige der jeweiligen Nationalkultur – und eben nicht das der ethnischen Gruppe.
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Mit dem Verbleiben in ihren ethnischen Nischen kommen die Migranten und ethnischen Minderheiten gerade also bei voranschreitender funktionaler Differenzierung der Aufnahmegesellschaften immer unausweichlicher zu spät und zu kurz. Dieser Mechanismus wirkt um so nachhaltiger und reibungsloser bei der Etablierung ethnischer Schichtungen, je größer die ethnische Gruppe und je ausgebauter und daher je selbstgenügsamer jeweils die ethnische Gemeinde ist. Daher wundert es nicht, daß etwa in der BRD die türkische Bevölkerung inzwischen eine Art von „Sub“-Nation bildet, durchaus in der wörtlichen Bedeutung des Präfixes „sub“. Ethnische Schichtungen und ethnische Konflikte Ethnische Schichtungen können ohne Zweifel auch einen strukturellen Grund für Spaltungen und Konflikte zwischen den Gruppen abgeben und damit eine Gefährdung der (System-)Integration der jeweiligen Gesellschaft bilden: Die Akteure befinden sich in einer gesellschaftlichen Lage der Benachteiligung und haben, auch deshalb, ohne weiteres keine besondere Loyalität zur Gesellschaft, in der sie leben.18 Gleichwohl geschieht aber meistens nichts: Die Systemintegration vollzieht sich vor dem Hintergrund der besonderen Situation gerade der untersten „Kasten“ in den geschichteten multiethnischen Gesellschaften über die sozialintegrative Form insbesondere der Deferenzintegration, von der die Wileysche Mobilitätsfalle ja nur ein Spezialfall ist. Die Farbigen in den USA sind das wohl eindringlichste Beispiel dafür. Die wichtigste Bedingung des Ausbrechens ethnischer Konflikte ist – neben dem Vorliegen struktureller Spannungen – die Gleichheit der Gruppen. Aber die gibt es ja in ethnisch geschichteten Gesellschaften gerade nicht. Auf die Apathie der benachteiligten Gruppen kann jedoch nicht unbedingt Verlaß sein. Manchmal können die über Deferenz abgepufferten Spannungen doch virulent werden, und das geschieht auch gelegentlich, etwa in den spontanen Rassenkrawallen oder den verschiedenen fundamentalistischen Bewegungen. Und mit der etwa politisch geförderten „Emanzipation“ und Gleichheit der Gruppen steigt ja sogar die Wahrscheinlichkeit des Ausbrechens ethnischer Konflikte. Eine „wirkliche“ Integration habe, so hört man daher auch, damit zu tun, daß sich die Migranten und Minderheiten in der Gesellschaft irgendwie auch „heimisch“ fühlen und darüber dann eventuell auch wertintegrative, emotional ge18
Vgl. dazu die Übersicht über verschiedene ethnische Konflikte in der (vor allem: Dritten) Welt bei Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley, Los Angeles und London 1985.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
tönte Loyalitäten zur Gesellschaft als ganzer entwickeln können. Loyalitäten sind eine besondere Form der Orientierung und der Bewertung. Sie entstehen nur, wenn die übrige Situation als belohnend erlebt wird, wenn das der Situation auch „ursächlich“ zugeschrieben werden kann und wenn es keine bessere Alternative gibt. Die Unverzichtbarkeit der strukturellen Assimilation Damit es zu einer Wertintegration (oder wenigstens zu einer Verkettungsintegration) der ethnischen Gruppen kommen kann, müssen aber, wie wir oben gesehen haben, auch die Migranten und Angehörigen der ethnischen Minderheiten die in der Gesellschaft als zentral bewerteten Ressourcen kontrollieren können. Und das heißt: Sie müssen auch diejenigen „Plätze“ besetzen, die es erlauben, die Leiter der vertikalen Ungleichheit nach oben zu klettern. Die „Integration“ der Migranten und ethnischen Minderheiten bedeutet damit, neben der bloßen Systemintegration der Gesellschaft insgesamt, stets die „Inklusion“ der Migranten und Minderheiten als Akteure in die Gesellschaft und deren Plazierung auf zentralen Positionen in den funktionalen Sphären. Und das sind jene Positionen, bei denen es unmittelbar um die primären Zwischengüter und um die kulturellen Ziele der jeweiligen Kerngesellschaft geht. Die „Integration“ durch Statuseinnahme geschieht daher zunächst natürlich über die allen Staatsbürgern zustehenden Rechte, insbesondere die politischen Rechte, hier vor allem das Wahlrecht und die sozialen Rechte des Wohlfahrtsstaates. Insofern ist die Verleihung der Staatsbürgerschaft ganz ohne Zweifel ein Schritt zur (sozialen) „Integration“ der Migranten und ethnischen Minderheiten, und zwar über die Inklusion der Akteure in die besonderen Privilegien der Staatsbürger. Das ist aber nur die eine Seite. Die politische Inklusion erzeugt zwar sicher auch einige Tendenzen zur (System-)„Integration“, weil etwa die Wählerstimmen der Ausländer ein gewisses Gewicht bekommen und die einheimischen politischen Parteien dies nun berücksichtigen müssen. Sie garantiert aber noch in keiner Weise eine Plazierung auf den zentralen Positionen der Funktionssysteme. In den funktional differenzierten Einwanderungsgesellschaften der Gegenwart sind das in der Regel ja gehobene berufliche Positionen, vor allem in der Dienstleistungsklasse. Und um da hineinzukommen, muß – ebenfalls in der Regel – das Bildungssystem durchlaufen werden, das, wie alle Bildungssysteme, stark von der Kultur der Kernbereiche der jeweiligen Gesellschaft geprägt und durchdrungen ist. Und um hier zu bestehen, bedarf es ganz besonders nachhaltiger Anstrengungen – vor allem auch auf seiten der Migranten selbst!
Damit aber ergibt sich eine systematische Verbindung zwischen der Inklusion als Plazierung in die Kernbereiche Aufnahmegesellschaft und den anderen Arten der sozialen Integration: Nur über die Plazierung in die zentralen Funktionsbereiche werden die Migranten und ethnischen Gruppen für die Einheimischen so interessant, daß es auch für sie zu interessanten interethnischen
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Kontakten kommen kann und sich schließlich sogar eine emotionale Identifikation mit der neuen Heimat einstellt. Weil diese Plazierung aber an den vorherigen Erwerb gewisser Qualifikationen, Fertigkeiten und auch funktional eigentlich „peripherer“, symbolisch jedoch höchst bedeutsamer „assimilativer“ Eigenschaften gebunden ist, werden auch die anderen Dimensionen der Assimilation bzw. der sozialen Integration in die Aufnahmegesellschaft wichtig: Die Akkulturation an das Wissen und der Erwerb von Kompetenzen des Aufnahmelandes und die Aufnahme interethnischer Beziehungen, mindestens. Eine gewisse Akkulturation und der Unterhalt gewisser interethnischer Beziehungen gehören also, wie die strukturelle Assimilation, unverzichtbar zur sozialen Integration der Migranten und zur Stabilisierung auch der Systemintegration der Aufnahmegesellschaft. Etwas anders ist es dagegen mit der emotionalen Assimilation bzw. mit der sozialen Integration als Identifikation mit dem Aufnahmeland. Auch das hat mit den Besonderheiten der modernen Gesellschaften zu tun: Die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften kommen immer mehr ohne irgendwelche wertgeladenen Loyalitäten und Identifikationen mit der „Gesellschaft“ als ganzer aus. Sie „funktionieren“ mehr und mehr nur noch als Märkte bzw. als anonyme Organisationen und korporative Akteure und insbesondere aus der ökonomischen und politischen Interdependenz ihrer Teile. Kurz: Moderne Gesellschaften sind so stark systemintegriert, daß sie der Identifikation ihrer Mitglieder als sozialer Integration nicht bedürfen. Das wäre zunächst durchaus ein Argument für die sog. multikulturelle Gesellschaft: Die Gruppen leben unter dem organisatorischen Dach einer staatlichen Verwaltung zusammen, mit dem sie sich nicht sonderlich identifizieren müssen, und alles andere besorgen der Markt und das Prozessieren der Funktionssysteme. Die Beobachtung von der zunehmenden Bedeutung systemintegrativer Prozesse in modernen Gesellschaften unterstützt jedoch dann wieder das Argument von der Unumgänglichkeit der strukturellen Assimilation der Migranten für deren Sozialintegration, diesmal nicht nur zur Verhinderung von ethnischen Schichtungen, sondern zur Stärkung der Systemintegration gerade von solchen Gesellschaften, die sich von besonderen – nationalen oder politischen – Loyalitäten losgelöst haben und nur noch auf dem reibungslosen „Prozessieren“ ihrer Funktionssysteme beruhen. Der Grund dafür ist nach den oben dargestellten Zusammenhängen von systemischer und sozialer Integration nicht schwer zu verstehen: Die Systemintegration alleine über Interdependenzen setzt die wechselseitige Kontrolle von interessanten Ressourcen voraus. In jeder Gesellschaft gibt es nun aber zentrale Ressourcen, deren Kontrolle erst Akteure oder Gruppen für andere Akteure oder Gruppen interessant macht. Erst mit der Kontrolle dieser zentralen Ressourcen werden Machtgewinn und „Inter“-Dependenzen möglich. Diese Ressourcen wiederum werden nur über die Besetzung von Positionen in den zentralen Institutionen verteilt,
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Die Konstruktion der Gesellschaft
und ihre Kontrolle setzt Bemühungen um einen sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesellschaft voraus. Dazu aber ist der Erwerb von Humankapital, kulturellem und sozialem Kapital aus der Aufnahmegesellschaft nötig, wie Sprachkenntnisse, Gewohnheiten, Bekanntschaften, Geschmack, Ambitionen und alle weiteren Eigenschaften und Fertigkeiten, die abgrenzende Distinktionen erlauben oder Diskriminierungen nachsichziehen.
Die erfolgreiche Plazierung auf den wichtigen Positionen der Aufnahmegesellschaft hat also systematische Auswirkungen auch für die Systemintegration gerade der modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Ohne die Inklusion in die Kernbereiche der Aufnahmegesellschaft kontrollieren die Migranten und ethnischen Minderheiten nur wenig, was ihnen Marktmacht oder „organizational assets“ bringt. Und erst darüber integrieren sich die Akteure und Gruppen ja auch „systemisch“ zu einer zusammenhängenden gesellschaftlichen Einheit. Kurz: Die strukturelle Assimilation, die Inklusion in der Form der Plazierung auf den zentralen Positionen der Aufnahmegesellschaft also, ist die Bedingung für alle anderen Formen der sozialen Integration von Migranten und ethnischen Minderheiten in die Aufnahmegesellschaft. Und sie ist gleichzeitig ein wichtiger und längerfristig unverzichtbarer Teil der Systemintegration dieser Gesellschaft. Und alles das gilt gerade für die Verhältnisse in den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Entgegen den immer etwas naiven Auffassungen von den Möglichkeiten eines bloß horizontalen Nebeneinanders der Gruppen in multiethnischen Gesellschaften und des Verzichts auf kulturelle Angleichungen, gibt es, wenn ethnische Schichtungen vermieden werden sollen, also keine Alternative zur (strukturellen) Assimilation. Sie ist die Bedingung der sozialen Integration der Migranten und Minderheiten in die Aufnahmegesellschaft und einer Systemintegration, die auf mehr beruhen soll als auf der deferenten Hinnahme des Schicksals der Unterschichtung.
Kapitel 7
Sozialer Wandel
Soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und soziale Ordnung sind die drei grundlegenden Formen der Strukturierung einer Gesellschaft (vgl. dazu auch noch die Systematisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse in Abschnitt 9.1 unten in diesem Band). Diese Strukturierungen können, wie etwa in einer Feudalgesellschaft, fest und unverrückbar, sie können aber auch sehr flüchtig sein, wie die in den sog. postmodernen Gesellschaften, in denen ja anscheinend nichts so überholt zu sein scheint wie die Selbstverständlichkeiten von voriger Woche. Selbst die kompaktesten sozialen Gebilde und Strukturen aber ändern sich, manchmal freilich erst nach langen Zeiträumen oder nur unmerklich und allmählich. Gelegentlich tun sie das aber auch rasch, mit einem großen Knall und unter Umwälzung von allem bisher Dagewesenen. Systematische und nachhaltige Änderungen der gesellschaftlichen Strukturen werden, einem von William F. Ogburn in die Soziologie eingeführten Ausdruck folgend, als sozialer Wandel bezeichnet. Darunter verstand er im Wesentlichen einen Prozeß der Evolution.1 Mit dem Ausdruck „Social Change“ wollte er die zu seiner Zeit mit dem Wort „Evolution“ meist assoziierten Bedeutungen wie „sozialer Fortschritt“ oder „Höherentwicklung“ und die damit auch oft verbundenen positiven Wertungen und teleologischen Annahmen vermeiden. Und so, als ganz neutral bewertete und nach vorne immer offene Evolution, die auch Rückschritte und Abwege einbezieht, wird der Begriff des sozialen Wandels auch heute verwendet. Es ist eigentlich die einzige seriöse Art, über den Wandel von Gesellschaften zu sprechen. Der soziale Wandel ist, neben der sozialen Differenzierung, der sozialen Ungleichheit und der sozialen Ordnung, der vierte grundlegende soziale Prozeß, der allen gesellschaftlichen Vorgängen zugrunde liegt. Und gerade in der 1
Vgl. William F. Ogburn, Social Change: With Respect to Cultural and Original Nature, New York 1922, S. 56ff. insbesondere. Vgl. auch die späteren Notizen von Ogburn dazu: William F. Ogburn, Social Evolution Reconsidered, in: William F. Ogburn, On Culture and Social Change. Selected Papers, Chicago und London 1964, S. 18ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Suche nach gewissen Regelmäßigkeiten oder gar nach „Gesetzen“ des sozialen Wandels hat die Soziologie lange Zeit eine ihrer zentralen Aufgaben gesehen. Es hat sogar einmal so ausgesehen, als ob die Suche nach den „Entwicklungsgesetzen“ der Gesellschaft(en) das wichtigste Thema der Soziologie überhaupt gewesen sei oder immer noch wäre. Als Beispiele seien genannt: Auguste Comte mit seinem berühmten Dreistadiengesetz, wonach auf die theologische und militärische Epoche die metaphysische und juridische Epoche folge, und darauf dann, als Krönung sozusagen, die „positive“ wissenschaftliche und industrielle Epoche; Karl Marx mit seiner Hypothese von der Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe und der Prognose von der unvermeidlichen Überwindung des Kapitalismus und des historisch letzen Klassengegensatzes in der kommunistischen Gesellschaft; Oswald Spengler mit seiner These vom Untergang des Abendlandes; Pitirim A. Sorokin mit der Behauptung von der ständigen Oszillation zwischen Vernunft und Mystik; Albert O. Hirschman mit seinem Modell vom stetigen Hin und Her zwischen dem Engagement mit öffentlichen Angelegenheiten und dem Rückzug in die Privatheit und in die Individualisierung; Daniel Lerner mit seiner These vom Übergang der traditionalen Gesellschaften in die Moderne über die Stadien der Alphabetisierung, der Urbanisierung, der Medienbeteiligung und der Verbreitung einer Einstellung der Empathie; oder schließlich Talcott Parsons mit seiner Hypothese von der immer weiter getriebenen evolutionären Ausdifferenzierung der Gesellschaften und ihrem stetigen „upgrading“ bis hin zur kompletten Durchmodernisierung der ganzen Welt, die in der gegenwärtigen Soziologie in der soziologischen Systemtheorie unter der These von der immer weiter sich zuspitzenden funktionalen Differenzierung und einer als unvermeidlich angesehenen Globalisierung mit der Heraufkunft einer Weltgesellschaft fortlebt.2
Warum in der Soziologie solche Vorstellungen nur noch selten ernsthaft vertreten werden und warum man vor allem nach gesellschaftlichen Entwick2
Vgl. zu einer Übersicht über die wichtigsten soziologischen Ansätze zum sozialen Wandel und einige einschlägige „klassische“ Beiträge u.a. die Textsammlung bei Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln und Berlin 1971 und den Überblick über die verschiedenen Richtungen, auch in ihrer soziologiegeschichtlichen Entwicklung bei Stephen K. Sanderson, Social Evolutionism. A Critical History, Cambridge, Mass, 1990. Siehe auch die knappen Übersichten bei Susan C. Randall und Hermann Strasser, Zur Konzeptualisierung des sozialen Wandels: Probleme der Definition, des empirischen Bezugs und der Erklärung, in: Hermann Strasser und Susan C. Randall (Hrsg.), Einführung in die Theorien des sozialen Wandels, Darmstadt und Neuwied 1979a, S. 23-50; Susan C. Randall und Hermann Strasser, Theoretische Ansätze zur Erklärung des sozialen Wandels, in: Strasser und Randall 1979b, S. 51-107. Vgl. auch die kurze Darstellung des „Verfalls“ des Themas und die aktuelle Diskussion darüber in der aktuellen Soziologie bei: Hans-Peter Müller und Michael Schmid, Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wandels zur Theorie dynamischer Systeme, in: Hans-Peter Müller und Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt/M. 1995, S. 9-55; sowie auch: Michael Schmid, Theorie des sozialen Wandels, Opladen 1982. Siehe zu den wichtigsten Ansätzen von genuin soziologischen Theorien des sozialen Wandels noch Abschnitt 7.5 in diesem Band unten; und zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Soziologie des sozialen Wandels allgemein: Raymond Boudon, Theories of Social Change. A Critical Appraisal, Cambridge 1986.
Sozialer Wandel
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lungsgesetzen schon lange nicht mehr sucht, soll in dem nun folgenden Kapitel auch deutlich werden. Im Grunde können wir die Antwort jetzt schon geben: Solche übergreifenden Entwicklungsgesetze des Wandels ganzer Gesellschaften „an sich“ könnten ja eigentlich nur makrosoziologischer Art sein. Die aber leiden, wie wir in der Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ja noch einmal festgehalten haben, unvermeidlicherweise an dem Problem der Unvollständigkeit, ganz zu schweigen von dem der „Sinnlosigkeit“, wonach ein sozialer Wandel, der auf gewissen übergreifenden „Gesetzen“ beruhen soll, die mit dem Denken, Fühlen und Handeln der Menschen nichts zu tun haben, immer „unverständlich“ bleiben muß – worauf nicht zuletzt Max Weber stets deutlich hingewiesen hat. Und so muß man davon ausgehen, daß es zwar ohne Frage sozialen Wandel und oft sogar eine gewisse „Richtung“ desselben gibt, der dann wie ein „Gesetz“ aussehen kann, daß dessen Richtung aber nicht aus eigenständigen „Gesetzen“ des Wandels entsteht und darüber dann auch nicht „erklärt“ werden kann, sondern, wie auch die soziale Differenzierung, die soziale Ungleichheit und die soziale Ordnung, als das meist unintendierte kollektive Ergebnis des situationsbezogenen Handelns menschlicher Akteure zu interpretieren und angemessen nur über das Modell der soziologischen Erklärung zu erfassen ist. Und das wollen wir jetzt auch (wieder) tun.
7.1
Strukturen als Prozesse
Gelegentlich findet man in der Soziologie die Vorstellung, als ob der soziale Wandel irgendwie zu den Strukturen der sozialen Differenzierung, der sozialen Ungleichheit und der sozialen Ordnung hinzutreten müsse, damit sich etwas ändert, und daß es daher einen solchen Wandel nur aufgrund von äußeren Anstößen geben könne, die die bis dahin eigentlich „stabilen“ Strukturen aus der Bahn bringen. Diese Vorstellung war insbesondere durch den soziologischen Strukturfunktionalismus nahegelegt worden: Alle sozialen Gebilde, einschließlich kompletter Gesellschaften, neigen, so die Annahme, aus sich heraus zu einem funktionalen Gleichgewicht und zur inneren Abstimmung der Strukturen, das, wenn es gestört wird, über gewisse Mechanismen der Selbstregulation bald wieder hergestellt ist (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.4 und das Konzept der funktionalen Reproduktion gleich unten in diesem Band). Die gesellschaftlichen Strukturen – soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit, soziale Ordnung – stehen in dieser Sicht fest und kompakt und in einem sich gegenseitig stützenden und selbsterhaltenden System da. Und dann käme – unter Umständen – der soziale Wandel dazu, der alles ändert.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Das ist schon eine sehr statische, eine „petrifizierende“ und „substanzielle“ Vorstellung von der Gesellschaft der Menschen. Sie ist, wie wir aus der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, Teil F, wissen, bald und nachhaltig kritisiert worden, etwa von George C. Homans oder von seiten des sog. Symbolischen Interaktionismus (siehe auch die Einleitung zu diesen „Speziellen Grundlagen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“). Nicht zuletzt hat auch die sog. soziologische Systemtheorie mit ihrer konsequenten „Temporalisierung“ aller sozialen Vorgänge daraus einen Teil ihrer Anziehungskraft gewonnen. Und noch vor relativ kurzer Zeit konnte etwa Norbert Elias mit seiner von ihm so genannten Prozeß- und Figurationssoziologie große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als er gegen diese statische Sicht der Gesellschaft – zu Recht – zu Felde zog.3 Das Argument ist naheliegend und folgt unmittelbar auch aus den Vorgaben der erklärenden Soziologie: Die „Strukturen“ der Gesellschaft (oder der sozialen Systeme und Gebilde ganz allgemein) bestehen nicht irgendwie „unabhängig“ von den Handlungen der individuellen Akteure, sondern sind deren immer wieder neu konstituiertes und konstruiertes, oft genug natürlich auch unintendiertes, Ergebnis. Sie haben auch keine irgendwie geartete kompakte „Substanz“, sondern werden in jedem Augenblick als punktuelle Ereignisse immer wieder neu geschaffen. Und nur die auf der sichtbaren Oberfläche erscheinende regelmäßige Reproduktion erzeugt den Anschein der Stabilität und Unverrückbarkeit ihrer „Strukturen“.
Kurz: Die gesellschaftlichen Strukturen beruhen stets nur auf Prozessen, und diese Prozesse haben – unter Umständen, natürlich nicht unbedingt – eine gewisse „strukturierte“ Regelhaftigkeit. Insofern gibt es keine sozialen Strukturen ohne soziale Prozesse. Mehr noch: Alle Strukturen sind nichts als Prozesse, einschließlich natürlich solche einer „funktionalen“ Reproduktion von Gleichgewichten und Stabilität und des gerichteten sozialen Wandels. Das ist der – über alle sonstigen Unterschiede hinweg bestehende – gemeinsame Kern aller neueren theoretischen Konzepte in der Soziologie, etwa von Norbert Elias mit seiner Prozeß- und Figurationssoziologie, von Anthony Giddens mit seiner Idee der „structuration“ der Strukturen durch das Handeln der Menschen oder von Niklas Luhmann mit seinem Konzept der wechselseitigen Konstitution und prozessualen Autopoiese der sozialen und der psychischen Systeme. Ein Beispiel: Der Wandel des Bildungssystems und die Reproduktion der sozialen Ungleichheit Was man sich konkret unter „sozialem Wandel“ vorzustellen hat, wollen wir uns an einem übersichtlichen empirischen Beispiel einmal genauer ansehen. Eine der nachhaltigsten Änderungen der institutionellen Strukturen der west3
Vgl. etwa Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970, Einleitung, S. 9-31; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt/M. 1976, Einleitung, S. XXIIIff. insbesondere.
Sozialer Wandel
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lichen Industriegesellschaften war die sog. Bildungsreform in den 60er und 70er Jahren. Das war eine bewußte politische Entscheidung, motiviert u.a. durch den sog. Sputnik-Schock von 1958, als es so schien als sei der sog. Ostblock in der Lage, dem Westen technologisch und wirtschaftlich den Rang abzulaufen. Man könnte die Bildungsreform daher als einen exogen angeregten sozialen Wandel dieser Gesellschaften ansehen (siehe zu den verschiedenen Arten von Prozessen und des sozialen Wandels noch die Abschnitte 7.3 und 7.4 unten in diesem Band). Daß diese politische Entscheidung auch auf andere gesellschaftliche Strukturen gewirkt hat, darüber kann es keinen Zweifel geben. In einer empirischen Analyse der Bildungsbeteiligung verschiedener Geburtsjahrgänge der (west-)deutschen Bevölkerung durch Peter Blossfeld mit den Daten des sog. Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigt sich das ganz deutlich (vgl. Tabelle 7.1).4 Zwei Trends werden sichtbar (vgl. dazu insgesamt auch schon Abschnitt 4.5 in diesem Band über „Statuszuweisung und Mobilität“): Die jüngeren Jahrgänge haben im Durchschnitt die deutlich besseren Schulabschlüsse, und es ist auch zu erkennen, daß dies wohl eine Folge des Ausbaus des Bildungssystems in den 60er und 70er Jahren war. Interessant ist auch die Angleichung der Geschlechter im Bildungsverhalten. Die niedrigsten Schulabschlüsse sind bei der jüngsten Kohorte inzwischen sogar schon mehr von den Männern besetzt als von den Frauen. Insofern hat es durchaus einen erkennbaren sozialen Wandel im funktionalen System der Bildung gegeben, und auch das Muster der „Inklusion“ der Akteure darin hat sich geändert. Und so war es ja auch gedacht: Eines der wichtigsten Ziele bei der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre war die Ausschöpfung der sog. Bildungsreserven. Man hatte dabei offenbar angenommen, daß in den unteren Schichten der Bevölkerung noch viele Talente schlummerten, und daß man es sich im Wettkampf der Systeme zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht länger leisten könne, die ungenutzt zu lassen. Das war dann auch die Zeit, in der die sog. funktionalistische Schichtungstheorie, die ja schon viel früher formuliert worden war, innerhalb der soziologischen Diskussion sehr unter Beschuß kam (vgl. dazu schon Abschnitt 4.6 oben in diesem Band): Die soziale Ungleichheit sei eben keine Voraussetzung zur Mobilisierung der Talente, sondern, geradezu im Gegenteil, ein Mechanismus, sie zu verknappen. Offenbar wurde angenommen, daß es Talente überall gibt, vielleicht weil Talente, etwa die Intelligenz, genetisch vererbt werden und sich daher zufällig über die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, obere und untere Schichten, Schwarze und Weiße, Männer und Frauen, etwa, verteilen, daß aber die bis dahin bestehenden Klassen- und Rassenschranken und die Diskriminierung der Geschlechter die Ausschöpfung der Talente verhindert hätte. Eine solche Ausschöpfung der Talente aber würde bedeuten, daß die Klas4
Vgl. Hans-Peter Blossfeld, Changes in Educational Opportunities in the Federal Republic of Germany. A Longitudinal Study of Cohorts Born Between 1916 and 1965, in: Yossi Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.), Persistent Inequality. Changing Educational Attainment in Thirteen Countries, Boulder, San Francisco und Oxford 1993, S. 51-74.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
sen- und Rassenbarrieren und die Unterschiede der Geschlechter im Zugang zum Bildungssystem fallen müßten und daß sich deshalb auch die soziale Ungleichheit, wenigstens was die Statusvererbung angeht, insgesamt verringern müßte.
Tabelle 7.1: Die Änderung der Bildungsbeteiligung verschiedener Geburtskohorten in (West-)Deutschland, getrennt nach Geschlecht: Anteil höchster erreichter Bildungsabschluß (Auszug aus: Blossfeld 1993, S. 60f.)
Frauen Kohorten 1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965 Pflichtschule Realschule/ Fachhochschulreife Abitur
79.0
77.3
68.8
57.3
40.0
18.0
17.0
25.3
29.0
41.8
3.0
5.7
5.9
13.7
18.2
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
Männer Kohorten 1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965 Pflichtschule Realschule/ Fachhochschulreife Abitur
70.0
73.3
59.3
54.5
47.7
17.7
18.4
24.9
26.3
28.5
12.3
8.3
19.8
19.2
23.8
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind, was die Bildungsbeteiligung angeht, mit der Bildungsreform in der Tat, wie auch die Tabelle 7.1 zeigt, geschwunden. Derzeit kann man eher schon davon ausgehen, daß die Mädchen, die besseren Schulabschlüsse machen. Wie sieht es aber mit den
Sozialer Wandel
313
Klassenunterschieden und mit der Vererbung des Bildungsstatus aus? In Abschnitt 4.5 oben in diesem Band hatten wir dazu ja schon die frühe Untersuchung von Peter M. Blau und Otis D. Duncan von 1961 kennengelernt.5 Damals schien es so zu sein, daß es immer noch starke Effekte der Vererbung des sozialen Status gebe und daß dabei vor allem die Beziehung zwischen der Bildung und dem Beruf des Vaters und der Bildung der Söhne stark war. Auch dazu gibt es in der Untersuchung von Blossfeld eine aufschlußreiche Tabelle (vgl. Tabelle 7.2). Und was sehen wir? Bei den Männern hat, wenn man die Höhe der LogitKoeffizienten über die Kohorten vergleicht, zunächst in der Tat der Einfluß der sozialen Herkunft abgenommen, ist aber in der jüngsten Kohorte wieder deutlich angestiegen. Bei den Frauen sieht es ganz ähnlich aus. Auch hier ist die Bildungsvererbung nicht gesunken, sondern neuerdings eher wieder gestiegen. Kurz: „Thus, the conclusion is that the impact of social origin on the transition from lower secondary school qualification to intermediate school qualification has not changed substantively. We find, however, a declining disadvantage for women across the younger birth cohorts“. (Blossfeld 1994, S. 65f.; Hervorhebung nicht im Original)
Nebenbei bestätigt Blossfeld im übrigen dann auch einige andere geläufige Ergebnisse der Forschungen zur Bildungsungleichheit, wie das, wonach sich die Bildungsungleichheit mit der Bildungskarriere selbst verringert: Wer es aus den unteren Schichten in der Schule einmal geschafft hat, hat wieder bessere Chancen, durch- und weiterzukommen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es ist schon so: Immer noch fällt der Apfel nicht sehr weit vom Stamm, auch wenn die Bäume allesamt inzwischen etwas höher geworden sind.
Tabelle 7.2: Die Auswirkung von Bildung und Beruf des Vaters auf den Übergang von der Grundschule zur mittleren Bildung (Realschule, Fachoberschule) für verschiedene Geburtsjahrgänge (Logit-Koeffizienten; Auszug aus Blossfeld 1994, S. 68f.)6
5
Peter M. Blau und Otis D. Duncan, The American Occupational Structure, New York, London und Sydney 1967, S. 169ff.
6
Die in der Tabelle aufgeführten Koeffizienten sind sog. Logit-Koeffizienten. Sie geben das Gewicht der jeweiligen unabhängigen Variable auf die Wahrscheinlichkeit des Über-
314
Die Konstruktion der Gesellschaft
Männer
Frauen
Jahrgang
Konstante
Bildung Beruf Vater Vater
Konstante
Bildung Beruf Vater Vater
1921-1925
-9.92
0.596
0.045
-5.41
0.226
0.030
1931-1935
-6.92
0.456
0.025
-5.62
0.351
0.011°°
1941-1945
-3.92
0.149°
0.026
-4.07
0.194
0.020
1951-1955
-3.95
0.144°
0.027
-4.68
0.319
0.020
1961-1965
-7.46
0.452
0.043
-4.69
0.530
0.005
Sozialer Wandel und die Stabilität der Strukturen: das Modell von Raymond Boudon Zwei Dinge lassen sich also festhalten: Erstens hat es beim Bildungssystem und bei der Bildungsbeteiligung ganz allgemein in der Tat einen erkennbaren sozialen Wandel gegeben, was sich u.a. in der Angleichung der Geschlechter in den Bildungsabschlüssen zeigt. Zweitens aber sind die Ungleichheitsstrukturen in der Vererbung der Bildung nach dem sozialen Status nahezu unverändert geblieben und sie haben sich neuerdings eher wieder verstärkt. Es ist also tatsächlich schon so etwas zu erkennen wie ein „Fahrstuhleffekt“: Das ganze „System“ ist nach oben geschoben worden, aber die Unterschiede zwischen den Klassen und Schichten sind, wenigstens was die Vererbung der Bildung angeht, geblieben. Insofern beobachten wir mit dem Wandel des Bildungssystems gleichzeitig eine Stabilität des Systems der sozialen Ungleichheit. Und sofort stellt sich wieder die Frage: Wie kann man sich das alles erklären. Es ist die Frage nach der Erklärung eines offensichtlichen sozialen gangs von einer unteren zur mittleren Bildungsstufe an. Etwas vereinfachend gesagt: Höhere Ziffern der Logit-Koeffizienten zeigen, ganz ähnlich wie die üblichen Regressionskoeffizienten, ein höheres Gewicht an als niedrigere. Alle Effekte sind signifikant mit mindestens p<0.05, bis auf die mit o und oo gekennzeichneten Koeffizienten: Die beiden Koeffizienten mit dem Zeichen o haben eine Signifikanz von p<0.10, der mit dem Zeichen oo ist nicht signifikant. Vgl. zu näheren Einzelheiten der sog. logistischen Regression und zur Interpretation der Logit-Koeffizienten etwa Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagenaars und Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Modelle, latente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997, Kapitel 5: Logistische Modelle für Individualdaten, S. 267ff. insbesondere.
Sozialer Wandel
315
Wandels und der Prozesse, die in einem solchen Wandel gleichzeitig wieder stabile Strukturen reproduzieren. Die Erklärung des Wandels des Bildungssystems der Gesellschaft und des Bildungsverhaltens der Bevölkerung war in unserem Falle relativ naheliegend und einfach: Er war die Folge einer „exogen“ angestoßenen politischen Entscheidung zur Erleichterung des Bildungszugangs, der die Bevölkerung auch in allen ihren Untergruppen, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, gefolgt ist, ja folgen mußte (vgl. dazu auch noch die Bemerkungen zur Bildung als sog. Positionsgut am Schluß dieses Abschnitts). Wie aber ist die Stabilität der Bildungsungleichheit nach sozialen Schichten zu erklären? Denn eigentlich sollte man doch erwarten, daß bei Öffnung des Bildungssystems die Klassengrenzen durchlässiger werden müßten!
Für den Fall der Vererbung von Statusunterschieden auch bei Ausweitung der Bildungsbeteiligung hat nun Raymond Boudon schon vor einiger Zeit ein im Grunde einfaches, einsichtiges und in seiner grundlegenden Logik überzeugendes Modell entwickelt.7 Es besagt in einem Satz: Wenn sich die Positionen auf dem Arbeitsmarkt nicht in ähnlicher Weise vermehren wie die Bildungsabschlüsse, dann bleibt die Struktur der sozialen Ungleichheit auch bei Ausbau des Bildungssystems unverändert. Seine Überlegungen sind auch für viele ähnliche Prozesse gültig, bei denen sich die Anrechte auf eine „Inklusion“ zwar mehren und diese Anrechte auch wahrgenommen werden, bei denen jedoch die faktische Zahl der mit den Anrechten „eigentlich“ zu besetzenden Positionen konstant bleibt. Und immer gibt es die gleiche Folge: Die Konkurrenz der Bewerber auf die Positionen wird größer, und an den Ungleichheiten im Zugang zu den Positionen ändert sich kaum etwas. Es ist also ein sog. Strukturmodell, ein Modell, das sich auf inhaltlich und historisch ganz unterschiedliche Situationen der gleichen grundlegenden Struktur anwenden läßt (siehe dazu auch noch Kapitel 8, sowie schon Kapitel 1 in diesem Band)
Zunächst wird von Boudon – der Einfachheit halber – angenommen, daß die Gesellschaft nur aus drei sozialen Klassen bestehe: K1, K2 und K3, wobei K1 die obere und die K3 die untere Klasse bezeichne. Es gebe außerdem sechs Bildungsstufen mit S1 als der höchsten und S6 als der niedrigsten. In einem Ausgangszeitpunkt t1 gebe es eine bestimmte Verteilung der Bildungsbeteili7
Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality. Changing Prospects in Western Society, New York u.a. 1974. Das Modell ist hier in seiner Kurzform übernommen aus Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 93ff. Es entspricht – unter teilweise merklichen – Rundungsfehlern den Perioden t1 und t3 in der ursprünglichen Version bei Boudon 1974, S. 146ff. Vgl. für eine Erweiterung und Verallgemeinerung des Modells von Boudon neuerdings Volker Müller-Benedict, Strukturelle Grenzen sozialer Mobilität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51, 1999, S. 313-338. Eine analytische Fassung des Modells der Statuszuweisung auf vakante Positionen und der dadurch erzeugten strukturellen Effekte findet sich bei Aage B. Sørensen, The Structure of Inequality and the Process of Attainment, in: American Sociological Review, 42, 1977, S. 965-978.
316
Die Konstruktion der Gesellschaft
gung auf die drei Klassen, etwa derart, daß 23% der Mitglieder der oberen Klasse den höchsten Bildungsgrad, einen Hochschulabschluß nämlich, erreichen, 5% der mittleren und nur 1% der unteren Klasse. Nun öffnet sich das System, und zu einem Zeitpunkt t2 habe sich entsprechend das Bildungsverhalten der Bevölkerung aller Klassen geändert, etwa derart, daß nun 31% der oberen Klasse, 9% der mittleren und 2% der unteren Klasse einen Hochschulabschluß machen. In Tabelle 7.3 sind diese Verhältnisse und die Veränderungen zwischen den Perioden t1 und t2 für die drei Klassen und in Bezug auf die angenommenen sechs möglichen Bildungsabschlüsse zusammengefaßt. Sie sind als Wahrscheinlichkeiten dargestellt, als Kind einer bestimmten Klasse einen bestimmten Schulabschluß zu erreichen, wobei wir auf die inhaltliche Benennung der mittleren Schulabschlüsse verzichtet haben. Tabelle 7.3: Die Veränderung der Bildungsbeteiligung zwischen den Perioden t1 und t2 im Modell von Boudon (jeweils in Anteilen des erreichten Abschlusses nach sozialer Klasse; nach Boudon 1980, S. 94, bzw. Boudon 1974, S. 146)
Zeitpunkt t1 Schulabschluß Hochschule
Hauptschule
Soziale Herkunft
S1
S2
S3
S4
S5
S6
K1 K2 K3
.23 .05 .01
.10 .05 .02
.06 .04 .02
.17 .15 .08
.26 .36 .33
.18 .35 .54
1.00 1.00 1.00
Zeitpunkt t2 Schulabschluß Hochschule
Hauptschule
Soziale Herkunft
S1
S2
S3
S4
S5
S6
K1 K2 K3
.31 .09 .02
.10 .07 .03
.06 .05 .03
.16 .17 .12
.22 .34 .36
.15 .28 .44
1.00 1.00 1.00
Sozialer Wandel
319
eine Art von Berechtigungsschein darstellen, mit dem die Jugendlichen mit einer gewissen Chance bestimmte soziale Positionen bekleiden können. Die Anzahl der Positionen ist dabei jeweils begrenzt, und die begehrtesten werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorrangig an jene mit den höchsten Bildungsabschlüssen vergeben. Das geschieht so lange, bis der Bestand an Positionen oder Jugendlichen ausgeschöpft ist. Diese Wahrscheinlichkeit wird als Erfolgsquote bezeichnet. Sie wird in dem Modell von Boudon mit 70% angenommen. Dann geht es mit einem evtl. Überschuß an qualifizierten Bewerbern an die nächst niedrigeren Positionen bzw. Abschlüsse. Und so weiter. Mit der Erfolgsquote soll einerseits ausgedrückt werden, daß nicht alle, die den formalen Abschluß haben, auch ihre Chance wirklich wahrnehmen, und andererseits, daß nicht alle Bewerber mit dem betreffenden, formal berechtigenden Abschluß auch tatsächlich genommen werden. Es gibt also einen gewissen Spielraum bei der Besetzung der Positionen nach Bildung. Der Wert von 70% ist hier durchaus willkürlich angenommen. Die Ziffer ist eine Art von „meritokratischem“ Knappheitskoeffizient, und sie drückt auch aus, daß ein gewisser Bildungsabschluß für die Einnahme einer oberen Position zwar notwendig, aber leider nicht hinreichend ist. Es könnten ohne weiteres auch andere Werte angenommen werden. Je niedriger der Koeffizient ist, um so höher wäre die Zurückhaltung der Bewerber oder, was viel wahrscheinlicher ist, die Konkurrenz um die begehrten Positionen – und um so weniger „hinreichend“ wäre der jeweilige Abschluß für die Einnahme der oberen Positionen. Bei 100% Erfolgsquote gäbe es nur Interessenten und keine Konkurrenz, und der Bildungsabschluß wäre, wie das früher einmal für das Abitur hierzulande grosso modo tatsächlich der Fall war, ein gern genommener Freifahrtschein für die Reise ins gelobte Land der beruflichen Karriere.8
Insgesamt bestehe nun die Bevölkerung der fiktiven Gesellschaft des Modells aus 10000 Personen, und die verteile sich zu 1000 auf die Klasse K1, zu 3000 auf die Klasse K2 und zu 6000 auf die Klasse K3. Es seien dann auch wieder genau 10000 Positionen zu besetzen, und zwar wieder 1000 auf der Ebene der oberen Klasse, 3000 auf der der mittleren und 6000 auf der der unteren. Das heißt: Die soziale Struktur als die zahlenmäßige Verteilung der Bevölkerung auf die drei Klassen wird über den Vorgang der Vermittlung des Status von den Eltern auf die Kinder hinweg und für die beiden Perioden als konstant angenommen. Der erste Schritt der Simulation des Prozesses der Statuszuweisung über die Bildungsbeteiligung besteht nun in der Berechnung der „absoluten“ Verteilung der 10000 Kinder auf die sechs Bildungsabschlüsse. Die ergibt sich unmittelbar aus den Daten der Tabelle 7.3, die ja die Proportionen der Verteilung der Klassen auf die sechs Bildungsstufen enthielt. Das Ergebnis dieser Umrechnung steht in der rechten Spalte der Tabelle 7.4.
8
Vgl. dazu auch die Änderungen der Ergebnisse bei Variation der Erfolgsquote, wie sie Müller-Benedict (1999, S. 324ff.) in einer verallgemeinernden Simulation findet.
320
Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Ziffern für die absolute Besetzung der 6 Bildungsebenen berechnen sich dabei ganz einfach. Beispielsweise verteilten sich in Tabelle 7.3 ja zum Zeitpunkt t1 23% der oberen Klasse, 5% der mittleren und 1% der unteren Klasse auf den Hochschulabschluß. 23% der 1000 Jugendlichen aus der oberen Klasse sind nun aber in absoluten Zahlen 0.23⋅1000=230, 5% der 3000 Jugendlichen der mittleren Klasse ergeben 0.05⋅3000=150 und 1% der 6000 Jugendlichen der unteren Klasse 0.01⋅6000=60. Zusammen gibt es also 230+150+60=440 Jugendliche, die zum Zeitpunkt t1 einen Hochschulabschluß machen. Das ergibt die erste Ziffer in der rechten Spalte der Tabelle 7.4. Und so weiter.
Nun erfolgt der zweite Schritt: die Verteilung der Absolventen der verschiedenen Schulabschlüsse auf die sozialen Positionen, die die drei Klassen dann wieder ausmachen. Auch das ist eine einfache Rechnung. Sie folgt (zunächst) der Regel der Zuweisung gemäß der Erfolgsquote der Bildung. Insgesamt stehen beispielsweise zum Zeitpunkt t1 440 Kandidaten mit Hochschulabschluß zur Verteilung auf die sozialen Positionen der Klassen zur Verfügung (siehe Tabelle 7.4a, rechte Spalte oben). Nach der oben beschriebenen Logik der Verteilung auf die Positionen gemäß der Erfolgsquote von 70% übernehmen zum Zeitpunkt t1 von den 440 Kandidaten mit Hochschulabschluß 308 die oberen Positionen K1. Übrig bleiben 132 Bewerber mit Hochschulabschluß. Von denen werden wiederum 70% in die mittleren Positionen K2 eingewiesen, das sind 92. Übrig bleiben also noch 40, die sich mit den unteren Positionen K3 begnügen müssen. Das ergibt die erste Zeile der Zellenbesetzungen in Tabelle 7.4, die sich zu den 440 Kandidaten aufaddiert, die die Hochschule besucht hatten. Und so weiter.
Wenn man diese Regel immer weiter anwendet, können indessen an einer bestimmten Stelle nicht alle Kandidaten, die „eigentlich“ dran wären, in die oberen (und dann auch nicht in die mittleren) Positionen hinein, weil es von denen ja nur 1000 (bzw. 3000) gibt. Beispielsweise „passen“ zwar noch alle 70% der Bildungsgruppen 2 und 3 in K1 (0.70⋅370=259 bzw. 0.70⋅300=210). Aber 70% von 1100 wären ja alleine schon 770, und es stehen bis dahin nur noch 1000-(308+259+210)=223 freie Plätze in K1 zur Verfügung. Nun greift eine weitere Regel: Von den nun noch freien Plätzen werden auf die jeweilige Bildungsgruppe, die gerade am Zuge ist, wiederum nur 70% verteilt, hier also: 0.70⋅223=156. Danach bleiben noch 67 Plätze übrig, weil 223-156=67 ausmachen. Davon gehen nun wiederum 70% an die nächst niedrige Bildungsgruppe. Das sind hier 0.70⋅67=47. Und übrig bleiben zuletzt noch 20 Plätze, die allesamt an die Hauptschüler, die unterste Bildungsgruppe also, gehen. Mit den beiden Zuteilungsregeln wird, wie man sieht, eine gewisse Offenheit in das System eingebaut: Auch Hauptschüler können in die obere Klasse hinein, und auch Hochschulabsolventen müssen damit rechnen, unten zu landen. Gleichzeitig wird systematisch berücksichtigt, daß es strukturelle Begrenzungen gibt: Zwar gibt es soviel Positionen wie Akteure, und zu einer „Exklusion“ muß es nicht kommen. Aber die Anzahl insbesondere der begehrten Positionen ist limitiert, und nicht alle, die ein Interesse hätten oder geeignet wären, können daher bedient werden.
Wenn man die beschriebenen beiden „meritokratischen“ Regeln für alle sozialen Klassen, Abschlüsse und Positionen zum Zeitpunkt t1 anwendet, ergeben
321
Sozialer Wandel
sich die Ziffern in Tabelle 7.4a, und für den Zeitpunkt t2 entsprechend die in Tabelle 7.4b. Tabelle 7.4: Bildungsabschlüsse und die Verteilung auf die sozialen Positionen in dem Modell von Boudon (nach Boudon 1980, S. 95, bzw. Boudon 1974, S. 147)
a. Zeitpunkt t1 soziale Position Bildungsabschluß zu t1 1 Hochschule 2 3 4 5 6 Hauptschule insgesamt
K1
K2
K3
insgesamt
308 259 210 156 47 20
92 77 63 661 1475 632
40 34 27 283 1798 3818
440 370 300 1100 3320 4470
1000
3000
6000
10000
b. Zeitpunkt t2 soziale Position Bildungsabschluß zu t2 1 Hochschule 2 3 4 5 6 Hauptschule insgesamt
K1
K2
K3
insgesamt
490 343 117 35 11 4
147 103 191 949 1127 483
63 44 82 407 2262 3142
700 490 390 1390 3400 3630
1000
3000
6000
10000
Aus diesen Verteilungen lassen sich nun leicht wiederum die Wahrscheinlichkeiten berechnen, daß jemand mit einem bestimmten Schulabschluß, eine bestimmte soziale Position einnimmt. Das ist der dritte Schritt der Modellierung. So ist beispielsweise für jemanden in der Periode t1 die Chance, mit dem Abschluß S2 in die obere Klasse K1 zu gelangen, genau gleich 259/370=0.70, und
322
Die Konstruktion der Gesellschaft
und für jemanden in Periode t2, mit dem Abschluß S6 in die mittlere Klasse K2 zu kommen, ist sie entsprechend 483/3630=0.13. Auf diese Weise erhält man die Übergangswahrscheinlichkeiten von den sechs Schulabschlüssen in die drei Arten von sozialen Positionen, die dann wieder die sozialen Klassen K1, K2 und K3 ausmachen, für die beiden Perioden t1 und t2 (Tabelle 7.5): Tabelle 7.5: Übergangswahrscheinlichkeit von den Schulabschlüssen auf die sozialen Positionen nach dem Boudon-Modell (vgl. auch Boudon 1974, S. 147)
a. Zeitpunkt t1 soziale Position Bildungsabschluß zu t1 1 Hochschule 2 3 4 5 6 Hauptschule
K1
K2
K3
.70 .70 .70 .16 .02 .00
.21 .21 .21 .59 .44 .15
.09 .09 .09 .25 .54 .85
insgesamt 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
b. Zeitpunkt t2 soziale Position Bildungsabschluß zu t2 1 Hochschule 2 3 4 5 6 Hauptschule
K1
K2
K3
.70 .70 .30 .02 .00 .00
.21 .21 .49 .68 .33 .13
.09 .09 .21 .30 .67 .87
1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
Nun kommt der vierte und abschließende Schritt, bei dem es um die Verbindung zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und ihre soziale „Bestimmung“ in die drei sozialen Klassen über die Mechanismen von Bildungsbetei-
Sozialer Wandel
323
ligung und Statuszuweisung geht, also um Aufstieg, Abstieg oder Statusvererbung. In Tabelle 7.3 standen die Chancen der IEO-Übergänge von den sozialen Klassen in das Bildungssystem, und in Tabelle 7.5 finden sich die Wahrscheinlichkeiten für die ISO-Übergänge vom Bildungssystem wieder in die sozialen Klassen, jeweils für t1 vor und für t2 nach der Bildungsreform. Aus diesen beiden Übergangsmatrizen lassen sich die Wahrscheinlichkeiten leicht berechnen, daß jemand aus einer bestimmten sozialen Klasse über die Bildungsbeteiligung und die Positionszuweisung in eine bestimmte soziale Klasse hineinkommt. Diese Berechnung geschieht als Matrix-Multiplikation der beiden Tabellen 7.3 und 7.5, jeweils für die beiden Perioden. Dabei werden die Werte aus einer Zeile i aus der Tabelle 7.3 für eine bestimmte Periode mit einer Spalte k aus der Tabelle 7.5 schrittweise multipliziert und aufaddiert. Das ergibt dann die Wahrscheinlichkeit des Übergangs von der Klasse Ki in die Klasse Kk, vermittelt über die Wahrscheinlichkeit, von der Klasse Ki aus den Schulabschluß Sj zu erhalten und mit einem Schulabschluß Sj eine Position in der Klasse Kk zu übernehmen. Beispielsweise errechnet sich die Übergangswahrscheinlichkeit für die Periode t1 von der Klasse K2 in die Klasse K2 über die sechs Schulabschlüsse auf diese Weise dann so: (0.05⋅0.21)+(0.05⋅0.21)+(0.04⋅0.21)+(0.15⋅0.60)+(0.36⋅0.44)+(0.35⋅0.14)= 0.0105+0.0105+0.008+0.090+0.158+0.049= 0.326.
So entsteht eine Matrix mit den drei Herkunftsklassen in den Zeilen und den drei Bestimmungsklassen in den Spalten, sowie den Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Klasse i in die Klasse k in den jeweiligen Zellen ik. Der Übergang von einer Klasse Ki wieder in die Klasse Ki beschreibt dann also die Wahrscheinlichkeit einer Statusvererbung. Diese Wahrscheinlichkeiten stehen folglich in der Hauptdiagonale der neuen Matrix in Tabelle 7.6.
324
Die Konstruktion der Gesellschaft
Tabelle 7.6: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen als Folge von klassenspezifischer Bildungsbeteiligung und „meritokratischer“ Statuszuweisung zu zwei Perioden nach dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1974, S. 152)
a. Zeitpunkt t1 soziale Bestimmung
soziale Herkunft
K1 K2 K3
K1
K2
K3
.305 .131 .050
.323 .326 .283
.372 .543 .667
insgesamt 1.00 1.00 1.00
b. Zeitpunkt t2 soziale Bestimmung
soziale Herkunft
K1 K2 K3
K1
K2
K3
.308 .132 .049
.319 .324 .285
.373 .544 .666
1.00 1.00 1.00
Über die absoluten Größen der sozialen Klassen – 1000 bei K1, 3000 bei K2 und 6000 bei K3 – lassen sich dann die Übergänge bzw. die Statusvererbungen auch wieder in „absoluten“ Anzahlen von „Personen“ ausdrücken, die aufsteigen, absteigen oder den Status ihrer Eltern wieder erben. Dazu müssen nur die Übergangswahrscheinlichkeiten zeilenweise mit den Klassengrößen der sozialen Herkunft multipliziert werden. Das Ergebnis steht in Tabelle 7.7.
325
Sozialer Wandel
Tabelle 7.7: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen in absoluten Zahlen nach dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1980, S. 97)
a. Zeitpunkt t1 soziale Bestimmung
soziale Herkunft
K1 K2 K3
K1
K2
K3
305 382 313
323 989 1688
372 1629 3999
insgesamt 1000 3000 6000
b. Zeitpunkt t2 soziale Bestimmung
soziale Herkunft
K1 K2 K3
K1
K2
K3
308 396 296
319 972 1709
373 1632 3995
1000 3000 6000
Und was sieht man? Genau: Obwohl sich das Bildungssystem nachhaltig gewandelt und für alle Schichten nach oben geöffnet hat, hat sich an der Statusvererbung zwischen den sozialen Klassen im Vergleich der beiden Perioden t1 und t2 kaum etwas geändert: „In sum, the model indicates that a drastic change in school attendance as well as in overall educational attainment, even when combined with a nonnegligible decrease in IEO, has but a small impact on the structure of intergenerational mobility.“ (Boudon 1974, S. 153; Hervorhebungen nicht im Original)
Also: Die Bildungschancen haben sich vermehrt, aber die soziale Ungleichheit ist geblieben, genauso wie das Blossfeld empirisch gefunden hat (siehe oben). Und warum das so ist, ist nun auch leicht zu verstehen: Weil sich die Zahl der besseren Positionen eben nicht mit den Bildungschancen gleichzeitig erhöht hat, gibt es jetzt eine – strukturell bedingte – schärfere Konkurrenz unter den Bewerbern mit den höheren Bildungsabschlüssen. Und der Grund dafür:
326
Die Konstruktion der Gesellschaft
„Die Stabilität der Struktur hinsichtlich der Mobilitätsströme ergibt sich aus der Interdependenz zwischen den Agenten: Parallel zu dem Rückgang der Disparitäten bei den Bildungschancen vollzieht sich ein Anwachsen der Warteschlange, was wiederum einen komplexen Abwertungseffekt der Berechtigungsscheine hervorruft.“ (Boudon 1980, S. 97)
Alle müssen sich also jetzt auf die Zehen stellen, und keiner sieht besser als vorher. Das Bildungsniveau ist ohne Zweifel insgesamt gestiegen, und insofern hat sich etwas geändert. Aber die Schichtungsstruktur ist geblieben: Bei dem Wettlauf um die besseren Positionen haben weiterhin die oberen Schichten die besseren Karten, weil sie, ausgestattet mit kulturellem und sozialem Kapital und einem familial vermittelten Erbe der Bildungsvorteile, immer wieder mit deutlich höheren Anteilen an Kandidaten mit den höheren Abschlüssen an den Start gehen. Und wenn man, was Boudon dann realistischerweise auch noch tut, auch unmittelbare Vorteile der oberen Klassen bei der Positionsvergabe berücksichtigt, dann stabilisiert sich die Statusvererbung mit der Öffnung des Bildungssystems noch weiter.9 Und die Folge: „Das Verhalten der Individuen hat sich zwischen t1 und t2 (zwar; HE) geändert: Unter sonst gleichen Bedingungen strebt ein Individuum der Kohorte t2 gegenüber einem vergleichbaren Individuum der Kohorte t1 nach einem höheren Bildungsniveau. Das durchschnittliche Bildungsniveau jeder Kategorie ist demnach angestiegen; außerdem machte sich der Wandel bei den niedrigen Kategorien stärker bemerkbar. Dessen ungeachtet und trotz der Tatsache, daß dem Bildungsniveau ein großer Anteil bei der Festsetzung des sozialen Status zukommt, bleibt (jedoch; HE) die Struktur der sozialen Mobilität stabil.“ (Boudon 1980, S. 97f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Boudon nennt den Vorgang der strukturellen Abbremsung der Mobilität bei verstärkten Bildungsanstrengungen aller Schichten einen „Neutralisierungseffekt“: Der Wandel der individuellen Verhaltensweisen, ausgelöst durch einen „externen“ politischen Anstoß, löst Folgen aus, die sich gegenseitig aufheben: Der Erhöhung der Qualifikationen folgt in gleichem Maße eine Verstärkung
9
Vgl. die Einführung des sog. Dominanzeffekts in das Modell, wonach Kinder aus den oberen Klassen bei der Zuteilung der Absolventen der verschiedenen Schulabschlüsse der Reihe nach bevorzugt werden, wenn es um die Auffüllung der evtl. noch offenen Positionen geht; vgl. Boudon 1974, S. 155ff. Solche Dominanzeffekte lassen sich soziologisch gut belegen: Die Kinder oberer Klassen haben eine Reihe von Vorteilen, in der Konkurrenz mit den Kindern unterer Klassen auch bei gleicher Qualifikation die besseren Posten zu erhalten, wie etwa das kulturelle Kapital des „guten“ Geschmacks aus dem bildungsbürgerlichen Elternhaus oder gewisse „Beziehungen“ unter den oberen 3 Millionen, was man inzwischen als soziales Kapital bezeichnet. Vgl. dazu auch Müller-Benedict 1999, S. 319f. Vgl. zu den Konzepten des sozialen und des kulturellen Kapitals auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Sozialer Wandel
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der Konkurrenz. Außerdem zeigt Boudon noch, daß die stabilisierenden Effekte auch unter Bedingungen einer noch stärkeren Öffnung des Bildungssystems erhalten bleiben.10 Wichtig ist dabei vor allem, daß sich diese Verhältnisse der Statusvererbung zwar gleich einstellen, daß aber gleichwohl das Bildungsniveau einen Einfluß auf die Statuseinnahme der Individuen hat. Insofern handelt es sich eben nicht um die Perpetuierung der sozialen Ungleichheit aufgrund irgendwelcher Diskriminierungen oder um ein Kastensystem der askriptiv fixierten Zuweisung von Positionen und ohne jede Bewegung zwischen den Schichten: Eine gute Bildung verschafft durchaus einen Vorteil für die Individuen an der Warteschlange vor der Einweisung in die höheren Positionen. Aber an der Struktur der sozialen Ungleichheit ändert sich dadurch kaum etwas.
Hinzu tritt im übrigen ein weiterer, schier unaufhaltsamer Prozeß der sozusagen „kumulativen“ Entwertung der höheren Bildungsabschlüsse. Raymond Boudon hat diesen Vorgang zum Schluß seines wirklich richtungsweisenden Buches so beschrieben: „ ... every individual has a definite advantage in trying to obtain as much education as possible – the higher the educational level, the more favorable the status expectations. But as soon as all individuals want more education, the expectations associated with most educational levels tend to degenerate, and this has the effect of inciting people to demand still more education in the next period.“ (Boudon 1974, S. 198)
Die Bildung ist mit der Öffnung des Bildungssystems also offenbar eine Art von Positionsgut geworden. Das sind Güter, die nur dem nutzen, der sie als erster besitzt (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das hat die leicht einsehbare Folge eines gnadenlosen runs auf ein solches Gut, wenn es denn überhaupt erreichbar erscheint. Einmal durch die Bildungsreform in Gang gesetzt beginnt also so etwas wie ein „eigendynamischer“, sich selbst verstärkender und nicht aufzuhaltender Prozeß eines Wettlaufs um die höhere Bildung (siehe dazu auch noch Abschnitt 7.4 unten in diesem Band). Es ist die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs der großen Systeme in der Weltraumfahrt in den 60er Jahren im Innern der Gesellschaften seitdem. Und an dem „müssen“ alle teilnehmen, weil sie sonst sofort schon das Rennen um die guten Plätze verloren hätten. Und das tun sie dann auch, selbst wenn sie dafür gar nicht geeignet sind und – statt ein mühseliges Abitur und ein mittelmäßiges Magisterexamen in Politik und Germanistik zu machen und einer ungesicherten akademischen Zukunft entgegenzusehen – 10
Vgl. dazu aber auch die davon abweichenden Ergebnisse bei Müller-Benedict (1999, S. 325ff.), der in einer verallgemeinernden Simulation des Modells von Boudon feststellt, daß sich die Statusvererbung doch verringern kann, wenn die Bildungsungleichheit weiter sinkt und sich die Erfolgsquoten der Bildung erhöhen. Vgl. dazu auch noch den Schluß von Abschnitt 7.4 unten in diesem Band.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
besser eine wohlhabende Metzgerin geheiratet hätten, jetzt zufrieden in Bad Wörishofen an der Kasse lehnten und sich in der Seele zufrieden anhören dürften, daß die feine ungeräucherte Kalbsleberwurst von letztens wirklich ganz ausgezeichnet gewesen wäre und daß das, was der Sauter über den Herrn Ministerpräsidenten sage, nichts als ein übler Schafskäs’ wär.
7.2
„Gesetze“ des sozialen Wandels?
Jeder soziale Wandel ist ein Prozeß – ein Prozeß der Genese bestimmter Sequenzen der Änderung der gesellschaftlichen Strukturen. Und auch vollkommen stabile Strukturen sind, wie wir gesehen haben, nichts als die Folge von solchen „genetischen“ Prozessen der Abfolge von aneinander anschließenden Sequenzen einer soziologischen Erklärung: Eltern aus bestimmten sozialen Klassen schicken ihre Kinder systematisch auf bestimmte Schulen, und die Arbeitgeber verteilen die Positionen wiederum systematisch nach den Schulabschlüssen. Und daraus ergibt sich dann die Reproduktion der sozialen Ungleichheit oder ggf. auch ihr Wandel. Die „Logik“ des sozialen Wandels besteht also nicht aus irgendwelchen übergreifenden „Gesetzen“ des sozialen Wandels, sondern aus der „Situationslogik“ des immer wieder neu zu erklärenden „Anschlusses“ von einzelnen Sequenzen der soziologischen (Tiefen-) Erklärung an die vorhergehende. Das hatte die Soziologie eine lange Zeit anders gesehen (vgl. auch die Anmerkungen zu Beginn dieses Kapitels). Sie wollte inhaltlich definierte übergreifende Abläufe und Zusammenhänge benennen und begründen, wie die der Ko-Evolution von Industriegesellschaft und Kernfamilie bei Emile Durkheim oder die Sequenz von Alphabetisierung, Urbanisierung, Medienverbreitung und Empathie bei Daniel Lerner. Und sie ging dabei von der festen Überzeugung aus, daß es unverrückbare und „allgemeine“ soziologische „Gesetze“ des Wandels auf der Makroebene gesellschaftlicher Prozesse gäbe. Sie hat daher auch immer strikt daran festgehalten, daß es ganz und gar unnötig, ja irreführend sei, die Vertiefungen auf die Mikroebene, die möglichen Variationen in der Definition der Situation etwa, die komplexen Interdependenzen der Akteure oder die Komplikationen bei der Aggregation der individuellen Effekte in kollektive Folgen, systematisch zu beachten: Die Individuen interessian mi überhaapt net, brummt Peter Plora unentwegt als Begründung für das Programm „seiner“ institutionalistischen Makrosoziologie der Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa, und zeigt damit, daß er, wie so mancher andere, wohl nie verstehen will oder kann, worum es beim Methodologischen Individualismus und beim Modell der soziologischen Erklärung geht. Denn: Die „Individuen“ sind ja auch im Modell der soziologischen Erklärung ganz und gar uninteressant, und es interessieren auch hier nur die, wie das etwa Alexis Toqueville im Zusammenhang mit dem „Baumfalken“ so nachdrücklich betont hat, sozialen Klassen (vgl. dazu auch schon die Kapitel 10 und 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Daß die Annahme fester soziologischer Gesetze eine äußerst waghalsige Angelegenheit ist, und daß es dafür stets mehr Ausnahmen als Regeln gab, ist nicht zuletzt auch einer der Startpunkte für das Modell der soziologischen Erklärung gewesen: Es gibt, wie sich inzwischen nachhaltig gezeigt hat, solche „Gesetze“ auf der Makroebene nicht, und mit den zahllosen Ausnahmen von diesen Gesetzen des sozialen Wandels ist die bloß makrosoziologisch argumentierende Soziologie nicht ohne Grund nie zu Rande gekommen. Gleichwohl kann nicht bestritten werden, daß es gewisse Regelmäßigkeiten des Wandels gibt und sogar bestimmte „Stadien“ von Abläufen der „Entwicklung“. Diese Regelmäßigkeiten aber, so festgefügt auch immer sie sein mögen, „erklären“ den Wandel nicht, sie beschreiben ihn nur. Daher sind sie auch kein Explanans für eine Theorie des sozialen Wandels, wie das die herkömmliche Soziologie immer meinte, sondern nun ihr Explanandum: Die beobachteten Regelmäßigkeiten müssen, einschließlich ihrer evtl. auch vorliegenden Anomalien, immer erst noch erklärt werden – und zwar über eine regelgerechte soziologische Erklärung, natürlich, und damit über die Angabe der Umstände, wie die Akteure dazu kommen, die Prozesse des Wandels so voranzutreiben, wie es die soziologischen Gesetze des sozialen Wandels postulieren. An Hand eines eher harmlos erscheinenden Beispiels wollen wir nun etwas ausführlicher zeigen, was mit der soziologischen Erklärung von „Gesetzen“ des sozialen Wandels und ihrer Ausnahmen und mit der „Ko-Evolution“ von Akteuren, sozialen Systemen und Strukturen – gemeint ist. Die „Erklärung“ eines „Gesetzes“ des sozialen Wandels: das Beispiel des Race Relation Cycle
Das „Gesetz“, um das es bei der folgenden Rekonstruktion bzw. soziologischen Tiefenerklärung geht, ist die Behauptung von Robert E. Park, daß sich die Beziehungen zwischen neu eingewanderten ethnischen Minderheiten und der einheimischen Bevölkerung stets nach einer typischen Stufenfolge vollziehen: Kontakt, Konflikt, Akkomodation und Assimilation.11 Er nannte dieses „Gesetz“ den Race Relations Cycle (RRC). Die Phase des Kontaktes ist die Situation unmittelbar nach der Immigration der ersten „Pionier“Wanderer einer fremdethnischen Gruppe in ein Aufnahmeland. Hier herrschen freundliche Neugier und friedliche Kontaktnahme vor. In der zweiten Phase beginnt, vor allem aufgrund der verstärkten Nachwanderung weiterer Angehöriger der Minderheitengruppe, der Konflikt um die be-
11
Robert E. Park, Our Racial Frontier on the Pacific, in: Robert E. Park, Race and Culture, Glencoe, Ill., 1950, S. 149ff.
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gehrten, aber knappen Ressourcen – um Arbeitsplätze und Wohnungen insbesondere. Dieser Konflikt ist meist nur latent, mündet aber unter Umständen auch in offene Auseinandersetzungen, wie Rassenunruhen oder Diskriminierungen. Danach aber entwickelt sich nach und nach die Etablierung der ethnischen Minderheit und ein modus vivendi unter Aufgabe einseitiger Ansprüche. Das ist die Phase der Akkomodation. Sie ist bestimmt durch die Verfestigung typischer ethnischer Arbeitsteilungen, räumlicher Segregationen und beruflicher Insulationen, so gut wie immer auch begleitet von der Entstehung eines Systems der ethnischen Schichtung. Die vierte Phase, die Assimilation, ergibt sich schließlich als Folge der in der Zeit als unvermeidlich angesehenen zunehmenden Vermischung der Gruppen über alle spaltenden Linien der ethnischen Differenzierung hinweg – bis hin zum Verschwinden der ethnischen Dimension als Strukturmerkmal der betreffenden Gesellschaft, wobei sich dieser Prozeß der Assimilation meist über mehrere Generationen erstreckt (vgl. dazu auch schon die Ausführungen zur „Integration“ von Migranten im Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 dieses Bandes).
Park stellt zu dieser Abfolge von Kontakt-Konflikt-AkkomodationAssimilation ganz unmißverständlich fest, daß es sich dabei seiner Meinung nach nicht bloß um eine empirische Regularität handele, sondern um einen allgemeinen, eigendynamischen, unwiderstehlichen und irreversiblen, gar um einen „kosmischen“ Prozeß, fast von der Art eines Gesetzes der Astronomie also: „The impression that emerges from this review of international and race relations is that the forces which have brought about the existing interpenetration of peoples are so vast and irresistible that the resulting changes assume the character of a cosmic process ... . In the relations of races there is a cycle of events, which tends everywhere to repeat itself ... . The race relations cycle ... is apparently progressive and irreversible. Customs regulations, immigration restrictions and racial barriers may slacken the tempo of the movement; may perhaps halt it altogether for a time; but cannot change its direction; cannot at any rate, reverse it.“ (Park 1950, S. 149f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Dieses Modell und insbesondere die Behauptung seiner Allgemeinheit und Unwiderstehlichkeit ist, wie andere, ähnliche Zyklus-Modelle der Entwicklung interethnischer Beziehungen, bald kritisiert worden: Alles kann auch dauerhaft in ein System ethnischer Schichtung einmünden, und es kann auch wieder zu „Regressionen“ von der Assimilation zur Akkomodation und zum Konflikt, gar auch zur Sympathie kommen, etwa wenn es um gemeinsame Gegner geht.12 Vor allem aber: Der RRC ist ersichtlich keine Erklärung der „Entwicklung“ der interethnischen Beziehungen, es ist allenfalls deren induktive Beschreibung aus der Zusammenfassung vieler Beobachtungen. Denn 12
Vgl. zur Kritik an den Modellen des RRC allgemein u.a. Tamotsu Shibutani und Kian Kwan, Ethnic Stratification. A Comparative Approach, New York und London 1965, S. 131f.; Stanford M. Lyman, The Race Relations Cycle of Robert E. Park, in: The Pacific Sociological Review, 11, 1968, S. 17ff.; Charles A. Price, The Study of Assimilation, in: John A. Jackson (Hrsg.), Migration, Cambridge 1969, S. 213ff.
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beispielsweise: Was soll dabei der alles treibende Mechanismus sein? Und wie hat man sich genau vorzustellen, warum und unter welchen Bedingungen die einzelnen Phasen sich einander ablösen? Wir wollen daher nun ein Modell skizzieren, das die Entstehung eines solchen RRC tatsächlich erklärt – und gleichzeitig zeigen kann, wann und warum es zu Abweichungen von dem „kosmischen“ Gesetz kommt. Die Annahmen des Modells
Das Modell beginnt mit der Unterscheidung von drei Typen von Akteuren:13 Die Einheimischen, die Migranten und die im Herkunftsland verbliebenen Personen, die sog. Verbliebenen. Sie sind über drei typische Interdependenzen miteinander verbunden und bilden insofern ein „Interdependenz“-System (siehe dazu gleich unten mehr). Diese drei Gruppen von Akteuren haben jeweils typische Alternativen des Handelns bzw. der Orientierung: Die Einheimischen die der Akzeptanz (A) gegenüber der Distanz (D) zu den Migranten, die Migranten die der Assimilation (S) oder die der Segmentation (G) in eine ethnische Gemeinde, und die Verbliebenen die des weiteren Verbleibens (V) im Herkunftsland gegenüber der Nachwanderung (M) dorthin, wo die Migranten schon sind. Für den mit den jeweiligen Alternativen zu erwartenden (Netto-)Nutzen, von dem die jeweiligen Entscheidungen der Akteure abhängen, sei nun einfacherweise angenommen, daß es nur materiellen Nutzen Um bzw. materielle Kosten Cm und sozialen Nutzen Us bzw. soziale Kosten Cs gebe. Die materiellen Komponenten beziehen sich dabei etwa auf das zu erwartende Einkommen und das Prestige der jeweiligen beruflichen Tätigkeit, die sozialen Komponenten auf den Erhalt sozialer Anerkennung oder der Wahrung einer Identität über die Einbettung in soziale Netzwerke. Es geht also wieder um die Nutzenproduktion über die Bedienung der beiden allgemeinen Bedürfnisse nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung.
Ganz allgemein und für alle Typen von Akteuren und Alternativen gilt somit das folgende, durchaus triviale, weil inhaltlich noch nicht ausgefüllte Entscheidungsmodell für eine Alternative i der sechs genannten Möglichkeiten: EU(i) = (pimUm + pisUs) - (qimCm + qisCs)
13
Die folgende Modellierung orientiert sich an dem Beitrag von Hartmut Esser, Soziale Differenzierung als ungeplante Folge absichtsvollen Handelns: Der Fall der ethnischen Segmentation, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985, S. 438ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Der Rest der Modellierung besteht aus der Strukturierung der Einzelgewichte der verschiedenen Alternativen und aus der Änderung der Einzelgewichte als Folge eines („eigendynamisch“) ablaufenden Prozesses, der sich aus drei typischen Interdependenzen der Akteure ergibt. Die erste Interdependenz: soziale Distanz und die Anzahl der Migranten
Wir wollen annehmen, daß das Geschehen mit der Einwanderung einiger weniger Pioniere beginnt und daß diese Migration von den Einheimischen sogar gewünscht wird, etwa zur Entlastung eines überhitzten Arbeitsmarktes oder für bestimmte Tätigkeiten, die die Einheimischen selbst nicht (mehr) ausüben mögen. Ansonsten gebe es bei den Einheimischen nur neutrale Gefühle gegenüber den Immigranten. Es läßt sich also zunächst für die Einheimischen die folgende EU-Gewichtung der Alternativen Akzeptanz versus Distanz annehmen: EU(A) = pamUm EU(D) = 0.
Also: freundliche Akzeptanz aus naheliegenden materiellen Gründen und weil es für die Distanzierung keinen Anlaß gibt. Die EU-Gewichte müssen aber natürlich nicht so bleiben. Der wirtschaftliche Nutzen der Migranten für die Einheimischen, etwa, hängt vor allem von der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ab und damit (auch) von der schieren Anzahl weiterer Immigranten und der Arbeitsmarktsituation der Einheimischen. Es ist dann zu erwarten, daß die zunächst freundliche Einschätzung mit der Zunahme einer Konkurrenz in eine ethnozentristisch begründete, schließende Abwehr umschlägt, zumal dann, wenn die Migranten damit beginnen, sich in ihrer Lebensgestaltung in die ethnischen Gemeinden zurückzuziehen und ihre eigene Kultur auch demonstrativ gegen die Kultur des Aufnahmelandes zu pflegen. Diese Beziehungen verbinden das Akzeptanzverhalten der Einheimischen mit dem weiteren Migrationsgeschehen und dem Verhalten der Migranten. Es ist eine erste Interdependenz im „System“ der drei Typen von Akteuren. Die zweite Interdependenz: ethnische Segmentation und Gruppengröße
Für das Verhalten der Migranten seien dann, wiederum vereinfachend, zunächst nur die materiellen Chancen im Aufnahmeland wichtig, insbesondere
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weil es wegen des Fehlens einer ethnischen Gemeinde in der Phase der Pionierwanderung keinerlei Möglichkeiten für irgendeinen materiellen oder sozialen Nutzengewinn durch die ethnische Segmentation gibt. Also läßt sich für die Alternativen Assimilation versus Segmentation bei den Migranten zunächst annehmen: EU(S) = psmUm EU(G) = 0.
Das heißt inhaltlich: Die Segmentation ist als Alternative nicht verfügbar, und nur über die Assimilation ist das Leben zu fristen. Genau das ist auch der Grund für die gut belegte Beobachtung, daß sich die Pionierwanderer meist relativ rasch in die Aufnahmegesellschaft hinein integrieren: Sie haben eigentlich keine Alternative. Auch das kann sich selbstverständlich ändern. Der wohl wichtigste Grund ist – ebenfalls – die Zunahme der reinen Anzahl weiterer Migranten. Sie senken über die nun einsetzende Konkurrenz die materielle Nutzenerwartung für die (strukturelle) Assimilation, und sie eröffnen jetzt Chancen für ein vor allem in kultureller und sozialer Hinsicht erträgliches Leben in einer ethnischen Gemeinde. Das ist die Verbindung zwischen dem weiteren Migrationsgeschehen und dem Verhalten der Migranten, das seinerseits über die mit der Gruppengröße variierenden sozialen Distanzierungen mit dem Verhalten der Einheimischen verknüpft ist. Es ist die zweite Interdependenz der Akteure. Die dritte Interdependenz: Kettenwanderungen
Vieles hängt also davon ab, ob es bei den wenigen Pionierwanderern bleibt oder nicht. Nun kommen die Verbliebenen ins Spiel. Sie sind im Herkunftsland geblieben, weil für sie die Bilanz einer Migration gegenüber dem Verbleiben negativ war. Das lag, so sei angenommen, daran, daß es eine besondere materielle Nutzenerwartung der Migration bei ihnen (einstweilen) nicht gab, wie wohl bei den Älteren oder bei den Frauen, und daß die Aufgabe der sozialen Bindungen an den Herkunftskontext einen deutlichen Nutzenverlust nach sich ziehen würde. Die EU-Gewichte für die Entscheidung zum Verbleiben oder zur Wanderung lassen sich für die Verbliebenen dann so modellieren: EU(V) = pvsUs EU(M) = -qmsCs.
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Also: Die Migration würde einen hohen (Trennungs-)Schmerz erzeugen, und beim Verbleiben werden die sozialen Bindungen erhalten. Weil hier die Bilanz für eine Migration eindeutig negativ ist, sind die Verbliebenen zunächst auch nicht gewandert. Aber auch das kann sich ändern, und zwar ebenfalls durch den Prozeß der Migration selbst: Mit der vollzogenen Abwanderung der Pionierwanderer, etwa von jungen Familienvätern, Verlobten oder Freunden, verlagert sich für die Verbliebenen ein Teil des sozialen Nutzens von der Alternative „Verbleiben“ auf die Alternative „Migration“. Und im Herkunftsland verringert sich, wegen des Trennungsschmerzes und der nun auch einsetzenden Verdünnung der sozialen Netzwerke am Ort ganz allgemein, auch der soziale Nutzen alsbald. Damit verändert sich die zuerst negative Bilanz bei den Verbliebenen zugunsten der Alternative der Migration – mit der evtl. Folge, daß sich nun einige zur Migration entscheiden, die das ohne die Pionierwanderungen nicht getan hätten – die jungen Ehefrauen ohne kleine Kinder oder die etwas entfernteren Bekannten zum Beispiel. Das aber kann dann wiederum für weitere Gruppen, die einen noch höheren Schwellenwert bei der Entscheidung zur Migration haben, wie bei den älteren Personen oder den Ehefrauen mit kleinen Kindern, der Grund sein, daß sie jetzt auch abwandern. Und wenn die Verteilung der Schwellenwerte für die Migration über die Population der Verbliebenen hinweg keine allzu großen Lücken aufweist, gibt es den DominoProzeß einer kaum noch aufzuhaltenden „Kettenwanderung“ – im Extremfall mit der Folge, daß nun alle ehemaligen „Verbliebenen“, etwa aus einem Dorf in Süditalien, ihren Verwandten und Bekannten in das Aufnahmeland nachgewandert sind (vgl. zu den Schwellenwertmodellen von solchen DominoProzessen auch schon Abschnitt 10.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch ausführlich Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist die dritte Interdependenz im System der Akteure. Das Zusammenspiel der Interdependenzen
Insgesamt läuft mit diesen drei Interdependenzen, wenn die nötigen Annahmen zutreffen, also ein eigendynamischer Prozeß ab, der deshalb in der Tat nicht aufzuhalten ist, weil sich nach und nach die verschiedenen Terme der EU-Gleichungen und damit auch die EU-Gewichte der Alternativen bei allen drei Gruppen verschieben und sich gegenseitig immer wieder mit neuen Änderungen anstecken und so den Prozeß weitertreiben.
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Wiederum für den einfachsten Fall sieht dieser mehrfach verbundene Prozeß so aus: Die Abwanderung der Pionierwanderer verändert die EU-Gewichte bei einem Teil der Verbliebenen so, daß die sich nun zur Wanderung entschließen. Dadurch steigt im Aufnahmeland sukzessiv die Gruppengröße der Migranten. Das hat zwei Folgen: Erstens nimmt nun die Konkurrenz um die knappen Ressourcen, auch mit den Einheimischen, zu. Und zweitens wird mit der Vergrößerung der Gruppe die ethnische Segmentation der Migranten möglich und auch attraktiv. Es sinkt daher nach und nach die Neigung der Migranten zur Assimilation ebenfalls. Beides zusammen sorgt allmählich für die Veränderung der Orientierungen bei den Einheimischen, die, so sei angenommen, soziale Distanzen in dem Maße aufbauen, wie die Gruppengröße der Migranten zunimmt und sich die ethnischen Gemeinden etablieren.
Die drei Prozesse – Nachwanderung und Erhöhung der Gruppengröße, Konkurrenz zu den Einheimischen und Entstehung sozialer Distanzen, Aufbau einer ethnischen Gemeinde und verstärkte ethnische Segmentation – sind dabei also allesamt miteinander verbunden, beeinflussen und steigern sich gegenseitig und bilden ein System der „Ko-Evolution“ einer typischen Sequenz des sozialen Wandels (siehe dazu noch Abschnitt 7.4 unten in diesem Band). Nun aber kann, anders als bei der bloßen Beschreibung der Sequenz, leicht erklärt werden, warum es den RRC in der Tat in der Abfolge von Kontakt-KonfliktAkkommodation-Assimilation als feste Sequenz durchaus gibt. Zuerst muß jedoch noch festgelegt werden, worin die verschiedenen Stadien des RRC als kollektive Sachverhalte in der Logik des beschriebenen Modells bestehen sollen. Es geht also um die Transformationsregeln für die Ableitung der „emergenten“ kollektiven Zustände, die jeweils die Stadien des RRC bedeuten sollen (vgl. dazu Kapitel 1 dieses Bandes). Es liegt nahe, die Gruppengröße und das Verhalten der Gruppen gemäß dem Verlauf der EU-Gewichte für die Alternativen „Assimilation“ versus „Segmentation“ als Definitionskriterium für das Vorliegen der Stadien des RRC zu nehmen: Die Phase des Kontaktes liege dann vor, wenn die Gruppengröße klein ist und (daher) die EU-Gewichte der Alternative „Assimilation“ deutlich höher sind als die für die Alternative „Segmentation“ – und damit über die beschriebene Verbindung zum Verhalten der Einheimischen die sozialen Distanzen ebenfalls geringe Werte haben. Dann erhöht sich über den beschriebenen Mechanismus der Kettenmigration die Größe der ethnischen Gruppe, und es verstärken sich darüber die sozialen Distanzen wie die segmentären Tendenzen. Das ist die Phase des Konfliktes zwischen den Gruppen. Die gleichzeitig beginnende ethnische Segmentation forciert nun die Nachwanderung von zunächst eher zurückhaltenden Verbliebenen mit vorwiegend sozialen Motiven noch weiter, so daß jetzt auch die ethnischen Gemeinden mit allen Elementen der verwandtschaftlichen Vernetzung und primärer Umwelten ausgebaut werden können. Nun beginnt die dritte Phase – der letztendliche Umschlag der assimilativen Orientierung in die Segmentation und der Rückzug in die ethnische Kolonie, auch durch Migranten, die dies eigentlich zuvor nicht geplant hatten. Zwar steigen nach dem Modell auch die sozialen Distanzen der Einheimischen mit der Segmentation der Minderheiten weiter. Aber wegen des Rückzugs der ethnischen Minderheiten aus den umkämpften Märkten in die binnenethnischen Nischen wird dieser Konflikt gleichzeitig wieder entschärft. Das ist die Phase der Akkomodation, in der zwar die Konflikte zwischen den Gruppen latent als Animositäten durchaus weiterleben und sich sogar als kulturell verankerte und offensiv symbolisierte Selbstverständlichkeiten etablieren können, aber eben nicht mehr offen ausgetragen werden und einer Stimmung des eher neutralen „leben-und-leben-lassen“ Platz machen.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Phasen des RRC werden also über das Verhältnis der EU-Gewichte für die Assimilation bzw. die Segmentation der Migranten (partiell) definiert. Es ist, wie man leicht sieht, ein Fall der Festlegung gewisser Regeln der „Transformation“ individueller Effekte in kollektive Sachverhalte (vgl. dazu bereits Kapitel 1 dieses Bandes). Zu den emergenten Effekten des Vorgangs können, auch unabhängig von weiteren empirischen Zugaben, schon einige konkretere Dinge gesagt werden. Weil die beiden entscheidenden, von der Gruppengröße abhängigen Funktionen, die EU-Gewichte für die Assimilation und für die Segmentation, gegenläufig variieren, muß es, wenn die Gruppengröße aufgrund der Kettenmigration hinreichend anwächst, zu einem Schnittpunkt der beiden Funktionen und damit zu einem Umschlag der Orientierungen bei den Migranten und darüber auch bei den Einheimischen kommen. Außerdem können für den speziellen Verlauf der beiden Funktionen zwei Annahmen gemacht werden: Das EU-Gewicht für die Assimilation verläuft, wenn man sie als reziproke Funktion der Gruppengröße N, etwa mit 1/N, annimmt, als eine gegen null gehende asymptotische Funktion. Und das EU-Gewicht für die Segmentation nimmt mit der Variation der Gruppengröße die Form einer logistischen Funktion an, ganz wie die eines Prozesses des Bevölkerungswachstums, weil über die Kettenmigration zunächst immer weitere Teile der verbliebenen Population erfaßt werden, die dann aber wegen der Nachwanderung ja immer kleiner wird (vgl. dazu schon das Modell in Kapitel 19 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
In Abbildung 7.3 sind diese Beziehungen und Verläufe zusammengefaßt.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
auch nicht unmittelbar „endogen“ aus den beschriebenen Zusammenhängen erfolgt. Das Modell muß also erweitert werden. Etwa so: Die späteren Generationen haben unvermeidlicherweise eine höhere Chance zur Aufnahme interethnischer Kontakte als die erste Generation, wobei diese Chancen durchaus stark variieren mögen, etwa nach dem Grad der ethnischen Segmentation der ersten Generation oder nach den sozialen Distanzen gegen eine bestimmte ethnische Gruppe. Damit aber verändert sich „automatisch“ für die späteren Generationen der Verlauf der EU(S)-Funktion, weil mit der Zunahme der interethnischen Kontakte auch der Erwerb von gewissen „assimilativen“ Kompetenzen verbunden ist, etwa von Sprachkenntnissen. Wenn diese Verschiebung groß genug ist und über den Verlauf der Alternativen EU(G) hinausgeht, wie bei der in Abbildung 7.3 eingezeichneten Funktion EU(S’), dann tritt die Phase der Assimilation ein: Die Nachfolgegenerationen der Migranten verlassen die ethnische Gemeinde, weil für sie die assimilative Orientierung die höhere – materielle wie soziale – Nutzenerwartung hat, auch wenn es die ethnischen Gemeinden immer noch geben mag, in denen die Eltern von der Sonne Kretas und einer guten Rente aus Deutschland träumen.
Das „Gesetz“ des RRC und die Erklärung seiner Ausnahmen
Unmittelbar wird nachvollziehbar, worin die zwingende „Logik“ des RRC besteht. Es ist die Logik der sich ändernden Gelegenheiten und der dadurch veränderten Gewichte für die verschiedenen Alternativen. Man kann sich nun auch leicht Konstellationen vorstellen, in denen die Logik des RRC unterbrochen ist. Alles hängt ja an den Annahmen, etwa über die Verteilung der Schwellenwerte für das Anlaufen und für die Fortsetzung der Kettenmigration, und an vielen anderen empirischen Gegebenheiten, die den Prozeß sonst noch stoppen können. Wenn beispielsweise die Schwellenwerte zur Nachwanderung in der Herkunftsregion nicht so verteilt sind, daß eine Kettenwanderung zu erwarten ist, dann endet der Prozeß auch bald – und es bleibt bei der Phase des Kontaktes mit der anschließenden Assimilation der (wenigen) Migranten, auch schon in der ersten Generation und ohne alle die Zwischenschritte des RRC. Auch können selbstverständlich jederzeit exogene Ereignisse den Prozeß ändern. Beispielsweise hat der drohende Anwerbestop für Gastarbeiter im Jahre 1973 die Nachwanderung der Familien und eine auch darüber weit hinausgehende Kettenmigration ganz drastisch in Gang gebracht – und dadurch erst manches Problem geschaffen, das er gerade verhindern sollte. Und sicher „muß“ es die vierte Phase des RRC, die der Assimilation der Folgegenerationen, auch in keiner Weise zwingend wirklich geben. Wenn sich beispielsweise ein ethnisches
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Schichtungssystem einmal etabliert hat, wird es auch für eine dritte oder vierte Generation sehr schwer, aus der ethnischen Mobilitätsfalle herauszufinden.
Alles in allem wird aber auch deutlich, daß die Behauptungen von Robert E. Park über die Zwangsläufigkeit des Prozesses des RRC keineswegs unbegründet waren: Unter einer Vielzahl von variierenden Bedingungen dürfte der Vorgang tatsächlich so ablaufen, wie ihn Park – aufgrund einer Unzahl von sorgfältigen Einzelbeobachtungen – beschrieben hat. Wir wissen mit dem Modell der Erklärung des RRC jetzt aber, anders als Park, schon eher, warum das so ist und, vor allem, wann und warum es den Prozeß so eben nicht gibt.
7.3
Die Logik des sozialen Wandels
Prozesse des Wandels gibt es inhaltlich, wie es scheint, unendlich viele, und auch die Formen scheinen schier unzählbar zu sein. Es gibt die stetige Reproduktion des Immergleichen, die Oszillation zwischen verschiedenen Zuständen, die sukzessive Verstärkung von einmal begonnenen Abweichungen wie deren Abschwächung und die Wiederherstellung eines Gleichgewichts nach einer Störung, sowie den Übergang von einem Systemzustand in den anderen, die Transformation. Es gibt den rein endogen angelegten, „eigendynamischen“ Wandel wie den durch exogene Ereignisse ausgelösten. Und es gibt die allmähliche und schrittweise (Ko-)Evolution wie die plötzliche und radikale Revolution. Mit dem auf soziale Prozesse angewandten Modell der soziologischen Erklärung lassen sich diese verschiedenen Formen des Wandels auf eine einfache Weise systematisieren. Von dem norwegischen Soziologen und Demographen Gudmund Hernes stammt dazu ein Vorschlag, der es erlaubt, die verschiedenen Arten von Prozessen über gewisse formale Grundstrukturen zu ordnen. Und Raymond Boudon hat, daran anknüpfend, ein soziologisches Modell der Logik des sozialen Wandels vorgeschlagen, das als Grundinstrument für die Analyse von Prozessen des sozialen Wandels unentbehrlich geworden ist.14
14
Vgl. Gudmund Hernes, Structural Change in Social Processes, in: American Journal of Sociology, 82, 1976, S. 513-547; Raymond Boudon, Soziologie und sozialer Wandel: reproduktive Prozesse, in: Boudon (1980a), S. 120ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Output, Prozeß und Parameter
Soziale Prozesse sind für Hernes zunächst nichts anderes als Sequenzen von aufeinander folgenden Strukturen. Der Ausgangspunkt jeder Sequenz eines Prozesses ist ein gewisser Input xt zu einem Zeitpunkt t, und das Resultat die von Hernes so genannte Outputstruktur Yt+1 zu einem Zeitpunkt t+1 danach. Die Outputstruktur besteht dabei aus den (kollektiven) Ergebnissen des Handelns der Akteure zu dem Zeitpunkt t+1, beispielsweise die Verteilung von Schulabschlüssen oder eines Index der sozialen Ungleichheit, ein Migrationssaldo, eine Bevölkerungspyramide, ein Wahlergebnis, eine politische Entscheidung oder eine Revolte. Erklärt wird diese Outputstruktur über einen bestimmten generierenden Prozeß T in Abhängigkeit des Input xt. Mit T faßt Hernes alle kausalen, logischen und mit der ablaufenden „Zeit“ verbundenen Beziehungen zwischen den Variablen zusammen, die den Output erklären sollen, im Idealfall in Form eines mathematischen Modells. Die dazu nötigen kausalen und logischen Funktionen zwischen den Variablen bilden die sog. Prozeßstruktur f. Die Funktionen enthalten, wie alle Funktionen, bestimmte Parameter, etwa Regressionsgewichte oder Konstante, die Hernes auch als Operatoren bezeichnet. Daraus setzt sich die sog. Parameterstruktur a zusammen. Die Grundidee ist nun, daß sich die Outputstruktur im Zeitpunkt t+1 sowohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameterstruktur für einen danach folgenden Zeitpunkt t+2 auswirken kann. Damit werden in den Vorgang gewisse Rückkopplungen systematisch eingebaut, die dem Prozeß seinen, auf den jeweiligen endogenen Zusammenhängen beruhenden, „eigendynamischen“ Charakter verleihen. Zusätzlich gibt es, natürlich, noch gewisse exogene Einflüsse, die sich sowohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameterstruktur auswirken können, und das wieder in bestimmter funktionaler Form. Insgesamt sind damit – in noch sehr abstrakter Weise – vier mögliche Beziehungsmuster zu beachten. Der Input zum Zeitpunkt t ist mit der Outputstruktur zum Zeitpunkt t+1 durch den Prozeß T über die Funktion f verbunden. Es gilt also erstens: Yt+1 = T(f; xt). Zweitens gilt, daß der Input xt+2 zu dem danach folgenden Zeitpunkt t+2 über eine Funktion q von dem Output bei t+1 abhängt: xt+2 = q(Yt+1).
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Das ist eigentlich selbstverständlich, weil der Output jeder Vorperiode natürlich der Input an Randbedingungen für die jeweils nächste Sequenz ist. Die Outputstruktur Yt+1 wirkt nun aber zum Zeitpunkt t+1 – möglicherweise, nicht unbedingt immer – drittens auch auf die Parameterstruktur a der Funktion f, und zwar nach der Funktion g: at+2 = g(Yt+1) Schließlich kann viertens auch die Prozeßstruktur f selbst in der danach folgenden Periode t+2 eine Funktion des Outputs zu t+1 sein, und zwar nach der Funktion h: ft+2 = h(Yt+1). Und so weiter.
Die Beziehungen zwischen den vier zentralen Größen des Modells lassen sich dann wie in Abbildung 7.4 zusammenfassen, wobei die Ereignisse D+ wieder gewisse exogene Einflüsse darstellen, die sich auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameterstruktur auswirken und darüber dann den Output verändern können.
342
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Abb. 7.4: Die Beziehungen zwischen Input, Prozeß und Output im Modell von Hernes (modifiziert nach Hernes 1976, S. 523)
Leicht ist zu erkennen, daß das Modell von Hernes nichts weiter ist als eine etwas abstraktere Form des als Sequenz verstandenen Modells der soziologischen Erklärung, die aber, und das ist das besondere Verdienst des Modells von Hernes, systematische Hinweise darauf enthält, an welchen zentralen Stellen solcher Prozesse sich der Wandel von „Strukturen“ ereignen kann. Es sind genau drei Ebenen, auf denen das passieren kann: Die Outputstruktur Y, die Parameterstruktur a oder aber die Prozeßstruktur f insgesamt. Eine Änderung der Outputstruktur liegt beispielsweise bei dem in Abschnitt 7.2 beschriebenen Prozeß der Kettenmigration vor, bei dem sich sukzessive die Anzahl der Migranten in einer Aufnahmegesellschaft erhöht. Andere Beispiele wären die Zunahme der Scheidungsraten oder die ebenfalls oben angesprochene Bildungsreform und die Änderung des Bildungsverhaltens der Bevölkerung. Bei der Rekonstruktion des Race Relation Cycle von Robert E. Park oben in Abschnitt 7.2 war, etwa für die Zunahme der Konkurrenz auf den Märkten, eine einfache Funktion angenommen worden, nämlich die, daß sich die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Nutzenproduktion über eine Assimilation proportional mit der Gruppengröße ändere, am einfachsten also etwa über die Funktion psm=1/N, wenn N die Gruppengröße ist. Darüber verringert sich dann das EUGewicht für die Alternative S, die Assimilation, mit der Zunahme der Gruppengröße kontinuierlich, aber mit einer abnehmenden Rate. Wenn sich die Parameter dieser Funktion aufgrund des Outputs ändern, liegt nun ein Wandel der Parameterstruktur vor – und der Prozeß nimmt, natür-
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lich: ceteris paribus, einen anderen Verlauf. Beispielsweise könnte man davon ausgehen, daß sich psm ab einer gewissen Gruppengröße nicht mehr weiter verringert und daher auch bei einem großen N nicht gegen null geht. Ändert sich nun aber die ganze Funktion, etwa derart, daß psm nicht nur von der Gruppengröße, sondern auch von anderen Variablen, etwa vom Grad der sozialen Distanzen der Einheimischen, bestimmt wird, dann läge ein Wandel der ganzen Prozeßstruktur vor.
Der soziale Wandel kann nun in beliebigen Kombinationen der Änderung oder der Konstanz der drei Ebenen geschehen, etwa gleichzeitig auf allen dreien, nur auf einer Ebene, etwa der der Parameterstruktur, auf zweien, welchen auch immer – oder aber auch überhaupt nicht. Einfache Reproduktion, erweiterte Reproduktion, Transition und Transformation
Es lassen sich aus diesen Möglichkeiten an Änderungen auf den drei Ebenen der Output-, Parameter- und Prozeßstruktur vier typische Prozeßarten unterscheiden: die einfache und die erweiterte Reproduktion, die Transition und die Transformation des Systems. Bei der Stabilität aller drei Ebenen liegt die einfache Reproduktion vor: Ein Output erzeugt immer wieder den gleichen Output – über einen in seinen Funktionen und Parametern unveränderten inneren Prozeß. Das war etwa bei dem Modell der Reproduktion der sozialen Ungleichheit von Boudon der Fall, das wir oben in Abschnitt 7.1 besprochen haben. Verändert sich die Outputstruktur, ohne daß sich die Parameter- und die Prozeßstrukturen wandeln, gibt es den Fall der erweiterten Reproduktion: Das System bleibt in seinen „inneren“ Beziehungen konstant, ändert sich aber auf der Oberfläche des sichtbaren Outputs. Die Veränderung der Gruppengröße der Migranten im RRC-Modell oben aufgrund einer Kettenmigration wäre dafür ein Beispiel. Die Transition ist dann ein Wandel sowohl der Outputstruktur wie auch der Parameter der Funktionen. Nur die Struktur der Funktionen des Prozesses selbst bleibt dabei erhalten. Der sog. demographische Übergang wäre ein besonders typisches Beispiel dafür: Die Größe einer Bevölkerung ist stets das „additive“ Resultat von Geburten und Sterbefällen. Fertilität und Mortalität sind die beiden grundlegenden Prozesse dabei, und die Geburtenneigung wie die Mortalitätsrate die dabei entscheidenden Parameter. Noch bis zur frühen Neuzeit war die Bevölkerung relativ stabil, weil zwar die Fertilität recht hoch war, aber auch die Mortalität, besonders die der kleinen Kinder. Sowohl die Mortalität wie die Fertilität veränderten sich nun mit der allmählichen Zunahme des wirtschaftlichen Wohlstandes, und damit die wichtigsten Parameter der demographischen Reproduktion über Geburten und Sterbefälle. Als Folge veränderte sich auch der Output deutlich – von einem „reproduktiven“ Gleichgewicht zahlreicher Geburten und Todesfälle über ein massives Ansteigen der Bevölkerung zu einem neuen reproduktiven Gleichgewicht mit gerin-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
gen Geburtenzahlen und einer deutlich gesunkenen Mortalität (von Kindern) und einer wieder konstanten (bzw. sogar leicht schrumpfenden) Bevölkerung (vgl. dazu bereits Abschnitt 18.3 in „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Die Veränderung aller drei Ebenen bedeutet schließlich die komplette Transformation des Systems in ein ganz anderes, einschließlich der funktionalen Beziehungen und deren Parameter, die den Prozeß tragen. Der säkulare Wandel der menschlichen Gesellschaft von den einfachen, segmentär differenzierten Stammesgesellschaften der Vorzeit über die geschichteten Feudal- und Staatsgesellschaften der Antike und des Mittelalters zu den modernen, funktional differenzierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften der Gegenwart sind ein wichtiges Beispiel für derartige komplette „Transformationen“ von Gesellschaften – auch in den grundlegenden inneren Prozessen ihres „Funktionierens“ (siehe dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). In Abbildung 7.5 ist diese Systematik zusammengefaßt.
Ebene der Änderung
einfache erweiterte Reproduktion Reproduktion
Transition
Transformation
Output
-
+
+
+
Parameter
-
-
+
+
Prozeß
-
-
-
+
Abb. 7.5: Typen von Prozessen des sozialen Wandels (nach Hernes 1976, S. 524)
Auch hier wird wieder deutlich, daß, wie bei der einfachen Reproduktion, auch die Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen, als Stabilität des Outputs, stets auf „Prozessen“ beruht, aber auch, daß es Änderungen geben kann, wenn die inneren Strukturen des Systems unverändert bleiben, wie bei der erweiterten Reproduktion. Ausgänge, Interaktionssystem und Umwelt
Auch auf der Grundlage der Systematik von Hernes hat Raymond Boudon ein „soziologisches“ Modell der Logik des sozialen Wandels entwickelt, über das sich eine „soziologische“ Systematik von Typen sozialer Prozesse und des sozialen Wandels ableiten läßt. Boudon betrachtet dabei nicht so sehr die eher formalen Aspekte der Prozeßfunktionen und -parameter als vielmehr die ge-
Sozialer Wandel
345
sellschaftlichen Ebenen, auf denen sich der soziale Wandel, auch in der gegenseitigen Beeinflussung der drei Ebenen, abspielt. Er unterscheidet drei solcher Ebenen: die Ausgänge des Systems, das Interaktionssystem der Akteure und die Umwelt. Die Ausgänge des Systems entsprechen der Outputstruktur bei Hernes und umfassen damit alle möglichen gesellschaftlichen Ereignisse, Verteilungen und sonstigen kollektiven Phänomene und Strukturen, die sich aus gewissen individuellen Effekten und deren Aggregation ergeben. Das von Boudon so genannte Interaktionssystem besteht aus den, wie auch immer gearteten, Beziehungen zwischen typischen Kategorien und „Gruppen“ von Akteuren untereinander, die in diesem Rahmen handeln. Eigentlich müßte es „Interdependenzsystem“ heißen, weil „Interaktionen“ nur eine bestimmte Art von Beziehungen unter Akteuren umfassen, wie die gedankliche Einfühlung oder symbolisch gesteuertes gemeinsames Handeln bzw. Kommunikation, hier aber alle, auch indirekte Formen der Verbundenheit gemeint sind, wie, insbesondere, die Abhängigkeit der eigenen Situation vom Tun der anderen Akteure (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Umwelt bezeichnet schließlich alle sonstigen, dem Interaktionssystem „externen“, Gegebenheiten, die vorliegenden materiellen Opportunitäten, die geltenden institutionellen Regeln, die kulturellen und symbolischen Orientierungen, die „Gesellschaft“ insgesamt, in die das Interaktionssystem eingebettet ist, und alle übrigen, auch historisch ganz spezifischen Konstellationen.
Die Umwelt bildet, sozusagen, den weitesten Rahmen des Geschehens. Sie hat in dem Modell einen direkten Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure, und zwar in der Form von „strukturellen Effekten“, wie sie aus der sog. Kontext- und Mehrebenenanalyse bekannt sind (vgl. dazu Kapitel 11 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Ausgänge sind dann das unmittelbare – emergente und aggregierte – Ergebnis des Handelns der im Interaktionssystem zusammengeschlossenen Kategorien von Akteuren. Die Umwelt wirkt sich auf die Ausgänge also nur indirekt aus – über ihren „strukturellen“ Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure. Am Beispiel des Modells für die Erklärung des RRC lassen sich die drei Ebenen des Modells von Boudon leicht illustrieren. Die Ausgänge sind die aggregierten Ergebnisse der Vorgänge, also etwa die jeweilige Gruppengröße der Migranten, die Verteilung von freundlichen und distanzierten Einstellungen bei den Einheimischen oder das Ausmaß der Assimilation der Migranten bzw. die Entstehung von ethnischen Gemeinden. Das Interaktionssystem wird von drei großen Kategorien von Akteuren gebildet: Einheimische, Migranten und Verbliebene. Ihre „Interaktion“ besteht aus den im Modell skizzierten Beziehungen zwischen den Parametern der EU-Gewichte für die verschiedenen Alternativen und dem jeweiligen Output des Prozesses, wie beispielsweise die Verstärkung der sozialen Nutzenerwartung für eine Migration bei den Verbliebenen, wenn es schon Pionierwanderer gibt. Die Umwelt schließlich wird durch das gesamte setting gebildet, in dem der Prozeß abläuft: das Lohngefälle zwischen den Regionen, die bestehenden institutionellen Regelungen, insbesondere die für Einreise, den Aufenthalt oder ggf. für die Einbürgerung, oder auch gewisse historische Traditionen der Migration, wie etwa bei den Italienern, die vorwiegend aus dem armen Süden ihres Landes kommen, die Freizügigkeit des Wohnortes als EU-Mitglieder genießen und sich seit alters her vorzugsweise im Südwesten Deutschlands niederlassen, wo der
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Wein wächst, es etwas zu verdienen gibt und der Hauptbahnhof mit dem Zug nach Palermo nicht so weit ist.
Neben den beiden „linearen“ Beziehungen von der Umwelt auf das Interdependenzsystem einerseits und vom Interaktionssystem auf die Ausgänge andererseits sieht Boudon drei Mechanismen der Rückkopplung vor. Erstens die Rückwirkung von den Ausgängen auf das Interaktionssystem, zweitens die Rückwirkung von den Ausgängen auf die Umwelt und drittens die Rückwirkung vom Interaktionssystem auf die Umwelt. Auch diese drei feedback-Beziehungen lassen sich mit dem Beispiel des RRC-Modells gut verdeutlichen. Die Rückwirkungen der Ausgänge auf das Interaktionssystem sind unmittelbar ersichtlich: Die Veränderung der Gruppengröße verändert die Gewichte für die Handlungsalternativen aller Beteiligten im Interaktionssystem, die darauf wieder handeln ... und so weiter. Darin liegt gerade der Kern dieses Modells und seiner inneren Dynamik. Das Modell des RRC kommt, so wie es, bewußt vereinfachend, formuliert war, ohne Rückwirkungseffekte auf die Umwelt aus. Leicht lassen sich aber Vorgänge einfügen, die solche Rückwirkungen betreffen. Beispielsweise wäre der sog. Anwerbestopp von 1973 als eine Rückwirkung von den Ausgängen des Migrationsgeschehens auf den politischen Kontext und damit als ein feedback zurück zur Umwelt des Interaktionssystems zu verstehen: Die Zunahme der Gruppengröße der Migranten veranlaßte die politische Entscheidung, die weitere Steigerung der Migration zu verhindern. Insofern dabei Teile der Mitglieder des Interaktionssystems auf die politische „Umwelt“ Einfluß genommen haben, wäre das ein Vorgang der Rückwirkung vom Interaktionssystem auf die Umwelt, beispielsweise als „schließende“ Reaktion der Einheimischen auf die zunehmende Konkurrenz oder die mit der Familienzusammenführung neu entstandenen sozialen Probleme in den Wohnvierteln und Schulen, die es zuvor, bei der reinen „Gastarbeiter“-Migration der Pionierwanderer nicht gegeben hat.
In Abbildung 7.6 sind die drei Ebenen, die beiden direkten Beziehungen und die drei feedback-Schleifen zusammenfassend skizziert. Exogene Einflüsse sieht Boudon nicht weiter vor. Sie könnten, ähnlich wie bei Hernes, auf das Interaktionssystem und auf die Umwelt einwirken und über die Beziehungen a bis d die Ausgänge beeinflussen. Insofern ist in dem Modell von Boudon die „Umwelt“ ein Teil des ganzen „Systems“ selbst und gehört eben nicht zu dessen „Umwelt“. Das nur noch als Erläuterung, damit die Luhmann-Enthusiasten nicht ganz durcheinanderkommen (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 dieses Bandes).
Sozialer Wandel
7.4
349
Reproduktion und Evolution
Der soziale Wandel besteht oft also, wie die Beispiele und die Modelle von Hernes und Boudon zeigen, nicht einfach nur aus aneinander anschließenden Sequenzen, sondern oft aus Abläufen, die, obwohl stets nur vom Agieren der Menschen getragen, einer unentrinnbaren „Logik“ folgen. Das ist ohne Zweifel nicht immer nur eine „lineare“ Logik, bei der einfach ein Zustand auf den anderen folgt, sondern häufig auch eine, bei der die zuvor „abhängige“ Variable wieder zur „unabhängigen“ für den nächsten Schritt wird. Aus solchen „nicht-linearen“ Rückkopplungen ergeben sich oft ganz eigenartige und interessante Muster von Abläufen, wie etwa die sog. Selbstregulation von Systemen, zyklische Schwankungen, „deterministisches Chaos“ und sogar „Katastrophen“, der plötzliche Wechsel des Systemzustandes also. Kaum etwas hat gerade jene Soziologen, die nicht viel von anderen analytisch und erklärend vorgehenden Wissenschaften wissen oder auch wissen wollen, wie die Demographie, die Ökonomie oder auch die Physik, die sich gerade mit derartigen „nicht-linearen“ Beziehungen immer schon befassen, mehr zu großartigen Wortschöpfungen und geheimnisvollen Begrifflichkeiten gebracht, als diese Vorgänge der nichtlinearen Rückbezüglichkeiten. „Selbstreferentialität“ und „Autokatalyse“, „Chaostheorie“, „Katastrophentheorie“ und Systeme nicht-linearer Gleichungen müssen es dann gerade bei den Soziologen sein, die von Mathematik nicht die geringste Ahnung haben und nicht müde werden, an anderer Stelle, etwa wenn es um die Modelle der soziologischen Erklärung oder um die Statistik und die empirische Sozialforschung geht, dagegen zu polemisieren und sie angesichts der flexiblen Wortschöpfungen der „Systemtheorie“ für gänzlich unzureichend zu halten. Die soziologische Systemtheorie um Niklas Luhmann lebt geradezu davon, daß sie zwar richtigerweise derartige Nichtlinearitäten bemerkt und berücksichtigt, aber ansonsten nicht die Spur einer Ahnung davon hat, was sie damit anfangen soll. Und dann ist es wie immer, wenn man über die nötigen theoretischen Mittel nicht verfügt: Man erfindet neue beeindruckende Worte – Eigendynamik, Figuration, Konstitution, Selbstorganisation, Reflexivität, Autopoiesis, zum Beispiel. Und weil in dieser (hegelianischen) Tradition ein Begriff schon die Sache ist, scheint dann auch alles in Butter zu sein, und gelehrte Worte, sprachlich erzeugte Paradoxien und „Leitreferenzen“ sollen, wieder einmal, die nötigen Erklärungen ersetzen.15
Anhand der in Abschnitt 7.3 dargestellten Modelle und Typen der Logik des sozialen Wandels lassen sich die wichtigsten Arten sozialer Prozesse und innerer Mechanismen von Systemen (formal und abstrakt) leicht rekonstruieren. Insbesondere zwei grundlegende Vorgänge sind bei Vorgängen des sozialen Wandels zu beachten: die (funktionale) Reproduktion sozialer Systeme und ihre Evolution. Sie beruhen auf speziellen Konstellationen von Mechanismen des inneren Prozesses der jeweiligen Systeme. Und es sind allesamt, 15
Vgl. dazu besonders lautstark und wolkig seit längerem: Helmut Willke, Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, 4. Aufl., Stuttgart und Jena 1993. Vgl. als jüngstes Beispiel auch, noch einmal, Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, Kapitel 3: Evolution, S. 413ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
wie wir noch sehen werden, Spezialfälle der Logik der soziologischen Erklärung. Kumulation, Dämpfung und Oszillation
Änderungen im Output bzw. in den Ausgängen eines Prozesses sind auf sehr verschiedene Weise denkbar. Davon sind drei spezielle Muster besonders wichtig: Kumulation, Dämpfung und Oszillation. Bei Kumulationen verstärken sich einmal begonnene Änderungen des Outputs, bei Dämpfungen werden sie kleiner. Oszillationen sind demgegenüber eine Art von „zyklischem“ Gleichgewicht: Der „konstante“ Output bezieht sich auf ein ganzes Muster von Ergebnissen, die über mehrere Perioden hinweg beobachtet werden. Sie können damit als eine spezielle Art der einfachen Reproduktion als Folge einer bestimmten Kombination von Kumulation und Dämpfung angesehen werden, wie beim sog. Schweinezyklus, bei dem es in zyklischen Abständen zu Über- und Unterproduktionen von Schweinen und einem entsprechenden Preisverfall bzw. Preisanstieg für die Koteletts kommt. Boudon hat mit seinem Typ der „Kumulation“, die Rückwirkung also von den Ausgängen auf das Interaktionssystem, offenkundig etwas anderes gemeint. Diese Rückwirkung könnte sicher kumulativ sein, aber natürlich auch dämpfend oder in der Form von Oszillationen vorkommen. Boudon selbst bemerkt das auch und fügt den Vorgang der Oszillation als „Teilkategorie innerhalb der kumulativen Prozesse“ (Boudon 1980, S. 149) ein.
Oft gibt es Mischungen dieser Vorgänge. Unter Umständen findet etwa ein System bei einer Mischung von Kumulation und der Dämpfung auch wieder zu einem neuen Gleichgewicht der einfachen Reproduktion zurück – so wie das auch bei dem System der Kettenmigration der Fall ist, das sich erst kumulativ verstärkt und dann wieder abebbt, weil es mit dem Voranschreiten des Prozesses immer weniger „Verbliebene“ gibt, die noch erfaßt werden könnten. Und es gibt auch Mixturen aller drei Formen, etwa Oszillationen, die auf einer Kombination von Kumulation und Dämpfung beruhen. Das ist beispielsweise bei den sog. Räuber-Beute-Modellen der Fall, in denen, etwa, eine Population von Hasen rasch wächst, damit Nahrung für eine zunächst kleine Population von Füchsen liefert, worauf die Population der Hasen „aufgezehrt“ wird, was dann den Füchsen wieder zu schaffen macht, die nichts mehr zu fressen haben und an Hunger sterben, worauf sich die Hasen wieder vermehren können – und so weiter in einer stetigen Oszillation von Schrumpfung und Wachstum der beiden Populationen (vgl. dazu insgesamt und zu ein-
Sozialer Wandel
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zelnen Modellen solcher Prozesse auch noch ausführlich Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Feedback und Selbstregulation
Kumulationen und Dämpfungen beruhen auf den im System eingebauten feedbacks. Bei Hernes waren das die Rückwirkungen des Output auf die Parameter- bzw. die Prozeßstruktur, bei Boudon, die von den Ausgängen auf das Interaktionssystem und die Umwelt und vom Interaktionssystem auf die Umwelt. Kumulationen entstehen bei einem positiven feedback. Hierbei verstärken sich die Abweichungen über den internen Prozeß des Systems von der einfachen Reproduktion jeweils im nächsten Schritt. Dämpfungen sind die Folge eines negativen feedback, bei dem sich die Abweichungen gegenüber der Vorperiode verringern. Prozesse des negativen feedback sind für die sog. Selbstregulation von Systemen entscheidend: Sie sorgen dafür, daß das System bei evtl. Abweichungen oder „Störungen“ seiner einfachen Reproduktion alsbald wieder zu ihrem Gleichgewicht findet. Die sog. funktionale Reproduktion von Systemen beruht auf solchen Mechanismen der Selbstregulation (siehe dazu gleich unten mehr). Endogener und exogener Wandel
Die sozialen Prozesse, denen ein System unterliegt, können rein endogen angelegt sein und einer allein durch die innere „Konstruktion“ des Systems folgenden Logik unterliegen. Es ist ein Spezialfall der „Situationslogik“. So war das Modell von Boudon angelegt. Es kann aber auch – beständige oder punktuelle – exogene Einflüsse auf die jeweiligen Prozeßstrukturen und Ebenen geben. Das hatte Hernes mit seinen Einflüssen von außen auf die Parameterund die Prozeßstruktur in seinem Modell vorgesehen, aber dann nicht weiter beachtet. Besonders wichtig sind dann endogene oder exogene Vorgänge, die ein System der (einfachen) Reproduktion aus einem „Gleichgewicht“ seiner (einfachen) Reproduktion bringen und dafür sorgen, daß aus der Wiederholung des immer Gleichen ein Prozeß der Änderung wird – in welche Richtung auch immer. Bei endogenen Abweichungen gerät das System aufgrund seiner besonderen inneren Entwicklungsdynamik und seiner speziellen „Pfadabhängigkeit“ (siehe dazu auch noch unten) durch den angelegten Prozeß von selbst aus dem Gleichgewicht, wie etwa bei der als unvermeidlich gedachten Zuspitzung der
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Klassenwidersprüche im (Spät-)Kapitalismus oder bei der immer weiter beschleunigten deflationären Abwärtsbewegung des Sparens eines Staates, der auch dadurch sinkenden Einkommen seiner Bürger, der dadurch weiter verringerten Steuereinnahmen des Staates, der daraufhin das Sparen weiter verschärft – und so weiter. Das war der Fall der Kumulation wie er aufgrund von Prozessen des positiven feedback zu erwarten ist. Wenn nichts weiter geschieht, was das System wieder zu (s)einem Gleichgewicht zurückbringt, drohen eine „Explosion“ oder eine „Implosion“ des Systems, je nachdem, und schließlich eine nachhaltige Änderung des ganzen Systemzustandes, schlimmstenfalls sogar der Zerfall des Systems (vgl. dazu gleich unten noch zum Prozeß der funktionalen Reproduktion). Das wäre dann ein Prozeß der Transformation des Systems – einer grundlegenden Änderung seiner „Verfassung“, wozu man auch sein Ende zählen könnte: die Transformation eines Typs von Gesellschaft in den exit des Universums der Geschichte, wie der DDR und der UdSSR seligen Angedenkens. Exogene Störungen sind dann, na klar, dem System externe Ereignisse, die es ggf. aus der Bahn werfen, während es ohne diese externen Ereignisse auf dem Pfad seiner endogenen Dynamik bzw. seiner Reproduktion geblieben wäre. Beispiele für solche exogenen Störungen der an sich endogen stabilen gesellschaftlichen Reproduktion wären die Eroberung eines Landes durch eine Kolonialmacht, die Einwanderung fremdethnischer Gruppen in ein Land oder aber auch die durch den Sputnikschock exogen angeregte politische Entscheidung für die Bildungsreform in den 60er Jahren. Auch solche exogen eingeleiteten Ablenkungen vom Gleichgewicht können natürlich dann endogene Prozesse der Kumulation oder der Transformation auslösen, und wenn das System nicht „adaptiv“ genug ist, kann es daraufhin auch plötzlich zerfallen, nachdem es vorher lange Zeit ganz fest und unverrückbar erschienen war. Man denke wieder nur an die gute alte DDR oder an die große Sowjetunion und den in seiner Persönlichkeitsstruktur durchaus auch etwas „exogenen“ Gorbatschow, der wohl vieles von dem ganz „persönlich“ zu verantworten hat, was dann gelaufen ist. Funktionale Reproduktion
Gesellschaften und die zahllosen sozialen Gebilde, sind, wie alle sozialen Systeme, Prozesse, und zwar Prozesse der wechselseitigen Konstitution der Bedingungen des Handelns und des Handelns von Akteuren, einschließlich der symbolisch gesteuerten Orientierungen und Kommunikationen. Das wissen wir jetzt. Zur Genüge. Hoffentlich. Im Regelfall bilden die Gesellschaften und
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sozialen Gebilde dabei aber den Spezialfall von Prozessen, der oben als Reproduktion, genauer: als einfache Reproduktion, bezeichnet wurde: Mit jeder Sequenz wiederholen sich die kollektiven Ereignisse, die die betreffende Struktur bzw. das betreffende System „definieren“ und konstituieren. Weil sich bei diesem fortwährenden Prozeß auf der sichtbaren makrosozialen Oberfläche in der Tat nichts tut, kann man auch davon sprechen, daß sich das System in einem Gleichgewicht befindet, unter Umständen freilich auch einem Gleichgewicht, in dem es allen schlechter geht als es eigentlich möglich wäre. Wenn sich, wie hier zunächst angenommen, mit jeder Sequenz in der Tat genau die gleichen Eigenschaften wieder reproduzieren, sei von repetitiver Reproduktion gesprochen. Die bloß repetitive einfache Reproduktion aber ist ein empirisch kaum vorfindbarer Spezialfall der Reproduktion sozialer Systeme, erst recht nicht der Reproduktion von „dynamischen“ Gesellschaften, zu denen die modernen Gesellschaften ohne Zweifel gehören. Wichtiger und empirisch häufiger ist für das „Prozessieren“ sozialer Systeme ein anderer Spezialfall: die hier jetzt so genannte funktionale Reproduktion. Dabei wird nicht immer alles genau wieder reproduziert. Es kommen vielmehr durchaus Abweichungen vom Gleichgewicht vor. Aber bei irgendwelchen Abweichungen vom „normalen“ Gleichgewichtszustand findet das „System“ über gewisse Mechanismen und Zwischenstadien immer wieder zu seinem alten Zustand der gleichgewichtigen Reproduktion und der Stabilität zurück. Viele soziale Systeme „funktionieren“ nur so: Märkte, Freundschaften und Organisationen beispielsweise. Es ist eine Art eingebauter „sozialer Kontrolle“, die dafür sorgt, daß es zwar Abweichungen geben kann, daß aber bald auch wieder – aufgrund der internen Struktur des Systems selbst – das alte Gleichgewicht erreicht wird. „Sozialer Wandel“ im Sinne einer grundlegenden und nicht-reversiblen Änderung der Strukturen findet also nicht statt, wohl aber Abweichungen und Übergänge immer wieder zurück zum alten Gleichgewicht. Die repetitive wie die funktionale Reproduktion sind Spezialfälle der endogenen Dynamik eines Systems, wobei insbesondere bei der funktionalen „Selbstregulation“ eines Systems nach einer Störung Vorgänge des negativen feedback wichtig werden: In der nächsten Sequenz werden aufgrund der inneren Mechanismen Abweichungen erzeugt, die wieder kleiner sind als die vorhergehenden (vgl. dazu auch noch insgesamt die diversen Marktmodelle in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Bei einer „funktionierenden“ funktionalen Reproduktion ändert das System daher zwar zunächst seinen, wie auch immer ausgelenkten, Zustand, findet dann aber, meist über einige Zwischenstadien, wieder zum Gleichgewicht zurück.
Wichtig ist dabei insbesondere, daß die Gegenbewegung durch die Auslenkung selbst ausgelöst wird. Man spricht daher auch zu Recht von einer Selbstregulation bzw. von der Homöostase des Systems.
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Für biologische Systeme wäre etwa die Aktivierung des Immunsystems und die dadurch mögliche Erholung nach einer Infektion ein Beispiel dafür, oder der Entschluß des Bewußtseins eines Akteurs, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem sein Körper gemerkt hat, daß ihn die (Pfad-) Abhängigkeit der Nikotinsucht endogen und kumulativ immer stärker runterzieht und eine gewisse Transformation, die in den Lungenkrebs nämlich, droht, aus der es kein frohes funktionales Zurück mehr gibt. Für Gesellschaften und andere soziale Gebilde, wie Regierungskoalitionen, Firmen, Ehen oder Freundschaften, wäre die erfolgreiche Bewältigung von „Krisen“ durch bestimmte, darauf eingeleitete oder eintretende Gegenmaßnahmen ein solcher Fall der funktionalen Reproduktion, so wie etwa der Ständestaat des Bismarck-Reiches sich über die Einführung der Sozialgesetzgebung als Reaktion auf die „soziale Frage“ konsolidierte, oder wie der „Kulturschock“ der Anwesenheit fremdethnischer Gruppen meist allmählich über die Assimilation bzw. die Absorption der Gruppen verarbeitet wird. Im Fall der exogen eingeführten Bildungsexpansion sorgte die Knappheit der Positionen und die Verschärfung der Konkurrenz auf dem Markt der Positionen für die „Neutralisierung“ der an sich durchaus systemverändernden Effekte der Bildungsreform.
Bei der repetitiven Reproduktion gibt es also keine externen Einflüsse, aber auch keine erkennbare endogene Selbstregulation: Alles wiederholt sich, wie bei der Reproduktion einer stationären Bevölkerung, in der immer genauso viele Menschen sterben wie geboren werden. Systeme mit der Fähigkeit zur adaptiven funktionalen Reproduktion sehen oft auf der Oberfläche genauso aus. Daß sie sich „funktional“ reproduzieren, merkt man erst bei einer Störung – bei einer latent endogen angelegten, jetzt erst bemerkbar gewordenen oder aber bei einer exogenen Störung. In Abbildung 7.8 sind die beiden Fälle der repetitiven und der funktionalen Reproduktion in jeweils denkbaren Sequenzen ihres Prozessierens schematisiert. Wir betrachten der Einfachheit halber das Geschehen nur auf seiner „emergenten“ Oberfläche und beachten die Makro-Mikro-Makro-„Konstitution“ der Prozesse durch das situationsorientierte Agieren der Akteure und die nötigen Transformationen hier einmal nicht weiter. Weil sich bei der repetitiven Reproduktion der einmal eingespielte Zustand S1 immer wieder neu einstellt, könnte man die gleichgewichtige Reproduktion auch über eine „selbstreferentielle“ oder „reflexive“ Rückkopplungsschleife symbolisieren, wie das in Abbildung 7.3a am Ende der Sequenz auch geschehen ist. Störungen treten hier, so die Annahme, nicht weiter auf, und alles bleibt wie es ist – in einem beständigen Prozeß, bei dem eins am andern anschließt, und zwar immer und immer wieder. Es ist die ewige und ungestörte Wiederkehr des Gleichen, etwa in einem Eifeldorf oder in einer langweilig-kommoden Ehe.
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Abb. 7.8: Repetitive und funktionale Reproduktion
Bei der funktionalen Reproduktion werden das zunächst auch bloß repetitive Geschehen und die stetige Reproduktion von S1 entweder durch die innere Entwicklungsdynamik des Systems selbst oder durch einen exogenen Einfluß von ihrer reproduktiven Bahn abgelenkt. In Abbildung 7.3b haben wir eine exogene Störung angenommen (siehe den Pfeil von D+ als irgendeinem externen störenden Ereignis). Dadurch entstehe – wegen der Änderung der Randbedingungen bei S1 – die Systemablenkung S2. Über die mit S3 zusammengefaßten, im Einzelfall u.U. komplizierten und mehr oder weniger langen, Zwischenschritte findet das System dann aber wieder „selbstregulativ“ zum alten reproduktiven Gleichgewicht S1 zurück – und verbleibt dort, so wollen wir annehmen, wieder für längere Zeit in einem Gleichgewicht der repetitiven Reproduktion – bis zur nächsten Störung von außen. Funktionale Gleichgewichte und Funktionalismus
Jedes einigermaßen gegenüber gewissen Variationen in der Umgebung widerständige, „adaptive“ und „prozeßstabile“ soziale System muß wohl solche selbstregulativen funktionalen Mechanismen aufweisen. Es wäre sonst viel zu anfällig gegenüber externen Störungen oder gegen endogene Fehlentwicklungen. Das war der Grundgedanke der guten alten funktionalistischen Soziologie: Empirisch existierende soziale Systeme „müssen“ Prozesse der funktionalen Reproduktion
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aufweisen – denn sonst gäbe es sie ja nicht (vgl. dazu auch noch einmal Kapitel 22 und 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Dieser Gedanke war nicht grundsätzlich falsch, denn Gesellschaften (und andere „bestehende“ soziale Gebilde) bilden in der Tat ja stets (auch) Gleichgewichte der funktionalen Reproduktion. Auf diese Weise „konstituieren“ sie sich ja. Nur: Es gibt keine den sozialen Systemen irgendwie „innewohnende“ Tendenz zu einem solchen Gleichgewicht und für eine gelingende funktionale Reproduktion. Es gibt nur – mehr oder weniger geschickte, wenngleich meist ungeplante und auch unbekannte – Arrangements und kausale Beziehungen innerhalb des Systems, die dafür sorgen, daß es immer wieder zur Reproduktion und zur Bewältigung von Krisen kommt. Und daher ist der soziologische Funktionalismus mit seinem Postulat einer vorgegebenen Neigung der sozialen Systeme zum Gleichgewicht auch zu Recht vergangen. Aber viele haben darüber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und vergessen, daß es, auch ohne eine den Systemen innewohnende apriorische Tendenz zum Gleichgewicht, trotzdem so etwas geben kann wie eine rein kausal und „blind“ ablaufende funktionale Reproduktion. Ohne sie gäbe es weder die Menschen als psycho-biologische Systeme, noch die Gesellschaften und ihre vielen Untersysteme und sozialen Gebilde. Und mit dem Modell der soziologischen Erklärung läßt sich auch ohne jede apriorische Annahme zeigen, wann und warum es zu einer solchen funktionalen Reproduktion und zur (prozessualen) Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen kommt. Evolution
Ein ganz besonderer Vorgang des sozialen Wandels ist der der gesellschaftlichen Evolution. Evolutionen sind, ganz allgemein gesagt, Prozesse, bei denen sich ein gleichgewichtig reproduzierendes System zufällig in seinem Zustand ändert, ein neues Gleichgewicht in einer bestimmten Umwelt findet und dabei Systeme, die sich nicht geändert haben, allmählich verdrängt und sich in der jeweiligen Umgebung stabilisiert. Es ist eine spezielle Art der Transformation eines Systems in einen neuen Typ, der die anderen verdrängt. Der Grund für die Verdrängung ist die bessere „differentielle Reproduktion“ des „neuen“ Systems: Es ist in der jeweiligen Umwelt erfolgreicher in der Herstellung von „Kopien“ seiner grundlegenden Bestandteile und der Exemplare, aus denen seine „Population“ besteht. Der Musterfall dafür ist natürlich die sog. biogenetische Evolution (vgl. dazu die Einzelheiten in Teil C, „Biologische und anthropologische Grundlagen“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Der Bezugspunkt der biogenetischen Evolution ist dabei ein bestimmter Gen-Pool. Er ist als Genotyp in den individuellen Exemplaren der Population einer bestimmten Art oder Spezies verankert. Der Genotyp sorgt für das empirische Auftreten der konkreten Organismen, der Population als Phänotypen in einer bestimmten Umgebung anderer Spezies und natürlicher Ressour-
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cen. Genotypen sind Muster von Erbinformationen, die im Akt der Fortpflanzung der Art normalerweise „reproduktiv“ weitergegeben werden und so zur Reproduktion der betreffenden Spezies und zur Erzeugung des jeweiligen Gen-Pools führt. Die Weitergabe erfolgt durch die Erzeugung von Kopien und die Rekombination der Gene der dabei beteiligten Organismen. Dabei treten manchmal zufällige Abweichungen, die sog. Mutationen auf. Die meisten dieser Mutationen führen zu Phänotypen von Organismen, die in der betreffenden Umwelt nicht überlebens- oder relativ weniger reproduktionsfähig sind. Bei einigen wenigen aber haben die Änderungen gewisse reproduktive Vorteile zur Folge – in der betreffenden Umgebung! Wegen dieser Vorteile gegenüber der „alten“ Spezies verdrängt der neue Genotyp allmählich den alten. Das ist der Mechanismus der sog. differentiellen Reproduktion. Er sorgt, nicht, wie es oft heißt, über einen Kampf zwischen den Arten, bei dem eine obsiegt, sondern über die erfolgreichere Reproduktion der eigenen Art für die allmähliche Selektion eines neuen Genotyps und damit auch einer neuen Spezies mit einem neuen Phänotyp. Die Durchsetzung des neuen Geno- bzw. Phänotyps und die endgültige Stabilisierung eines neuen reproduktiven Gleichgewichts wird auch als Retention bezeichnet.
Mutation, Selektion über differentielle Reproduktion und die Retention, als die „strukturelle“ Stabilisierung des neuen Typus, sind also die drei grundlegenden Prozesse der Evolution. Solche evolutionären Vorgänge lassen sich auch für soziale Systeme beobachten, und sicher auch für Gesellschaften:16 Es gibt gelegentlich „Mutationen“ in den gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa mit der Erfindung des Telefons oder der Entdeckung Amerikas, und daraufhin erfolgen differentielle Reproduktionen und die Selektion und Stabilisierung „neuer“ Arten sozialer Systeme, die dann, unter Umständen, die alten verdrängen. Das wird auch als soziokulturelle Evolution bezeichnet.17 In Analogie zur funktionalen Reproduktion kann man dabei auch danach unterscheiden, ob sich die „Mutationen“ aufgrund der endogenen Dynamik des Systems oder aufgrund exogener Ereignisse einstellen. Meist ist das nicht leicht auseinander zu halten. War die Entdeckung Amerikas ein exogener Zufall, abhängig vom individuellen und einmaligen Wagemut eines Kolumbus, oder war das eine letztlich zwangsläufige Konsequenz allgemeiner Entwicklungen, wie die Zunahme des Handels und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik am Ende des sog. Mittelalters? Und was war mit Hitler? Mit Gorbatschow? Mit Kohl? Es ist die Frage nach dem Einfluß gewisser „Persönlichkeiten“ auf den Lauf der Geschichte (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.5 unten): Erzeugen die evolutionären Prozesse die Persönlichkeiten gleich mit, oder haben die Persönlichkeiten einen eigenen Einfluß, etwa auch derart, daß sie endogen angelegte Entwicklungen stoppen oder gar ändern können? Bei Hitler ist man sich inzwischen einig: Einige Dinge wären auch ohne ihn geschehen, wie die Diskriminierung der Juden und wahrscheinlich sogar der Zweite Weltkrieg, andere Dinge ohne ihn sicher nicht, wie die Massenvernichtung der Juden.
16
Vgl. dazu insbesondere Donald T. Campbell, Variation and Selective Retention in SocioCultural Evolution, in: General Systems, 14, 1969, S. 69-85.
17
Vgl. zur Kritik an der herkömmlichen soziologischen Soziologie des sozialen Wandels und zum aktuellen Stand der analytisch orientierten soziologischen Evolutionstheorie insbesondere Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Soziales Handeln und strukturelle Selektion, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 264ff. Dort wird eine Konzeption vorgestellt, die in ihren Grundzügen vollauf dem Modell der soziologischen Erklärung entspricht.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Evolution heißt dabei, genau wie bei der funktionalen Reproduktion, in keiner Weise, daß sich die „Entwicklung“ auf ein bestimmtes vorgegebenes Ziel, auf eine gewisse „Bestimmung“ also, hinbewege, daß die neu entstehenden Systeme irgendwie „besser“ oder „überlegen“ wären oder daß es nicht doch ganz plötzlich auch zu einem Untergang kommen könnte. Keine Evolution hat ein irgendwie „apriori“ bestehendes Ziel, auf das sie hinsteuert. Die Evolution ist blind, und niemand kann wissen, wann alles zu Ende ist oder wieder in einen Zustand regrediert, der schon längst überwunden schien. Auch bedeutet sie nicht, daß die „alten“ Systeme nicht bestehen bleiben könnten. Stammes- und Kastengesellschaften gibt es auch heute noch. Alles hängt davon ab, ob die Systeme zu ihrer jeweiligen Umwelt „passen“ oder nicht. Und was heute eine überlegene Fitness bedeutet, mag morgen das entscheidende Handicap für die erfolgreichere differentielle Reproduktion sein – etwa die Verwertung ausschließlich fossiler Brennstoffe und der Verzicht auf die Pflege einer Kultur der Zurückhaltung. Empirisch ist – bisher! – allerdings sowohl für die biogenetische wie für die soziokulturelle oder soziogenetische Evolution von Gesellschaften doch eine Art von „Richtung“ festzustellen: Die „neuen“ Systeme sind intern immer differenzierter, immer aktiver und gegenüber ihrer Umwelt immer unabhängiger geworden, und sie verbreiten sich auch immer mehr und verdrängen schließlich doch die „alten“. Sie verbrauchen aber auch immer mehr an Energie. Die derzeit zu beobachtende „Globalisierung“ der Gesellschaften ist nur noch ein weiterer Schritt auf diesem Wege (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Der letzte vielleicht? Bei der Evolution „transformieren“ sich also die Systeme allmählich. Sie hangeln sich, sozusagen, von einem Gleichgewicht der funktionalen Reproduktion in einer bestimmten Umwelt zum nächsten und stabilisieren sich dort eine Zeit lang – bis zur nächsten Mutation, womöglich bei einem anderen System in der jeweiligen Umgebung. In Abbildung 7.9 ist dieser Vorgang skizziert, wobei wir im zweiten Schritt wieder einen exogenen Anstoß D+ angenommen haben. Der Rest läuft auf einem endogen vorgeschriebenen Weg der evolutionären „Pfadabhängigkeit“ des Systems. Ganz zum Schluß mündet, so wollen wir noch annehmen, alles doch wieder in ein Gleichgewicht der repetitiven oder der funktionalen Reproduktion. Vielleicht steht das System dort ja auch schon kurz vor seinem Untergang. Wir wissen es aber noch nicht und müßten die ganze „Geschichte“ erst einmal abwarten.
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Abb. 7.9: Der Prozeß der Evolution
Weil Prozesse der Evolution grundsätzlich jeweils „neue“ Verhältnisse nach sich ziehen, liegt jedem evolutionären Prozeß eine historische Dimension zugrunde: Das, was jetzt vorliegt, ist so noch nie dagewesen. Aber es gibt stets auch eine funktionale Dimension: Das System reproduziert sich wenigstens in Teilen auch während der Veränderungen, und manchmal mündet es, wie in der Abbildung angedeutet, auch wieder in ein länger andauerndes stabiles Gleichgewicht. Ko-Evolution
Die Evolution allgemein, ganz bestimmt aber die soziokulturelle Evolution, bringt stets typische Kombinationen von Merkmalen auf den verschiedenen Ebenen der jeweiligen Systeme hervor, und sie geschieht auch nur in der gleichzeitigen und sich gegenseitig ebenso unterstützenden wie begrenzenden Veränderung und Stabilisierung ihrer verschiedenen Eigenschaften und Ebenen. In Kapitel 2 dieses Bandes war bereits auf die gleichzeitige „Konstitution“ von psychischen, kulturellen und sozialen Systemen hingewiesen und das dann als KoKonstitution bezeichnet worden. Die gleichzeitige evolutionäre Veränderung in der Ko-Konstitution ist entsprechend eine Ko-Evolution. Das gilt insbesondere für die gemeinsame und simultane „Entwicklung“ von strukturellen Merkmalen der sozialen Gebilde und den psychischen Dispositionen der Individuen. Und dann kann man auch nicht sagen, daß das eine die „Ursache“ und das andere die „Folge“ sei. Das ist ein in der Soziologie allgemein seit langem ganz geläufiger Gedanke. Daniel Lerner beispielsweise, von dem die, inzwischen längst abgelegte, Hypothese stammt, daß sich die Gesellschaften über die Abfolge der Alphabetisie-
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Die Konstruktion der Gesellschaft
rung, der Urbanisierung, der Verbreitung von Massenmedien und der psychischen Disposition der Empathie bei den Menschen modernisierten, hat das als allgemeine Richtschnur für seine Analyse so beschrieben: „To wit: social change operates through persons and places. Either individuals and their environments modernize together or modernization leads elsewhere than intended. If new institutions of political, economic, cultural behavior are to change in compatible ways, then inner coherence must be provided by the personality matrix which governs individual behavior. We conceive modernity as a participant style of life; we identify its distinctive personality mechanism as empathy. Modernizing individuals and institutions, like chicken and egg, reproduce these traits in each other.“18
Gesellschaften hat man sich geradezu als Typen von „Wahlverwandtschaften“ ganz bestimmter und „einmaliger“ Eigenschaftskonstellationen vorzustellen, die sich nur in dieser Konstellation haben gemeinsam entwickeln und stabilisieren können und daher auch in den Phasen ihrer funktionalen Reproduktion jeweils typische Muster der Kompatibilität und der Kohärenz ihrer Eigenschaften und inneren Mechanismen aufweisen. Genau deshalb sind Gesellschaften „totale“ soziale Phänomene, wie das Marcel Mauss einmal so treffend ausgedrückt hat: Sie „bestehen“ in der simultanen Konstitution typischer Muster der demographischen Reproduktion und „Bevölkerungsweise“, von Opportunitäten, Institutionen und kulturellen Vorstellungen, von Funktionssystemen, Lebensweisen und Milieus und von Strukturen der sozialen Ungleichheit, und sie ändern sich auch darin, über mehr oder weniger drastische „transitorische“ Übergänge wiederum simultan und gemeinsam. Wir werden im Anschluß an diesen Abschnitt gleich ein wichtiges und berühmt gewordenes Beispiel für eine solche Ko-Evolution besprechen, die Beziehungen zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, zwischen bestimmten Ideen einerseits und bestimmten Institutionen und Interessen andererseits also. Und in Abschnitt 9.2 unten werden wir die Ko-Evolution der menschlichen Gesellschaft über drei ganz verschiedene Typen mit ganz unterschiedlichen Systemmechanismen beschreiben: der Übergang von den segmentär differenzierten Stammesgesellschaften über die stratifikatorisch differenzierten Staatsgesellschaften zu den funktional differenzierten Gesellschaften der (Post-)Moderne.
18
Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, Glencoe, Ill., 1958, S. 78; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Revolution
Ein Spezialfall der Evolution ist die Revolution. Das sind plötzliche, abrupte, grundlegende und wenigstens teilweise geplante Änderungen von Systemzuständen der Gesellschaft, insbesondere verbunden mit Änderungen ihrer „Verfassung“, der politischen, der wirtschaftlichen, der rechtlichen wie auch der kulturellen Verfassung, unter Umständen. Diese Änderungen können auch wieder exogen erzeugt sein, wie bei der Eroberung eines Landes durch eine Kolonialmacht oder bei einem Militärputsch. Oder aber sie können als explosiver Schlußpunkt auf eine endogene Entwicklungsdynamik folgen, wie bei der kommunistischen Revolution als vorletzter Stufe in dem endogen angelegten historischen Prozeß der Überwindung der Klassengegensätze, wie sich das Karl Marx gedacht hatte, oder wie bei den revolutionären Bewegungen in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs, die sicher auch mit der Not zu tun hatten, die der Krieg erzeugt hatte, der seinerseits aus einer besonders verwickelten endogenen Dynamik entstanden war, in die sich die Mächte Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstrickt hatten. Eigendynamik und Pfadabhängigkeit
Sowohl die (funktionale) Reproduktion wie die Evolution folgen, wenn sie nicht weiter „exogen“ beeinflußt werden, gewissen, durch den inneren Aufbau der Systeme selbst angelegten und daher endogenen kausalen Sequenzen. Diese kausale, endogen angelegte Folgerichtigkeit der Prozesse wird auch als die Eigendynamik eines Systems bezeichnet. Man spricht manchmal auch von der Pfadabhängigkeit der Abläufe, die, wenn sie einmal in eine bestimmte Richtung gelenkt sind, von alleine weiterlaufen und sich, wie man auch sagt, dann selbst tragen (siehe dazu auch schon oben über den endogenen Wandel)19. Wir werden in den folgenden Bänden zahlreiche Beispiele dafür kennenlernen, wie etwa die unaufhaltsame Mobilisierung von sozialen Bewegungen, die oft unvermeidliche Entstehung von räumlichen Segregationen oder eine unter bestimmten Umständen durch nichts zu vermeidende gegenseitige Schädigung von Akteuren, obwohl sie wissen, daß es für sie alle besser wäre, es nicht zu tun.
19
Vgl. auch die Übersicht bei Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Eigendynamische Prozesse der (funktionalen) Reproduktion sind dann solche der „selbstregulativen“ und endogen angelegten Erzeugung funktionaler Gleichgewichte. Sie sind insofern „ahistorisch“, weil nichts neues geschieht. Die „Geschichte“ käme nur als Geschichte exogener Einflüsse ins Spiel, etwa die der Launen der Herrscher oder der Irrtümer ihrer Ratgeber. Eigendynamische Evolutionen folgen entsprechend einem festliegenden „Entwicklungspfad“ und haben, weil sich die Systemzustände unentwegt ändern, natürlich auch eine „historische“ Dimension. Der norwegische Soziologe Stein Rokkan hat beispielsweise in einer gigantischen Bemühung versucht, die Pfadabhängigkeit der Entwicklung der Nationalstaaten Westeuropas aus einigen grundlegenden Spaltungslinien zu erklären: nach Besitz vs. Arbeit, nach Staat vs. Kirche, nach Stadt vs. Land und nach ethnischen bzw. sprachlichen Spaltungen.20 Leider war das keine wirkliche „Erklärung“, sondern, wie Rokkan selbst zugibt, nur eine „konzeptuelle Karte“ bzw. eine „Typologie“. Seltsamerweise hält Rokkan das gleichwohl schon für das gewünschte Ergebnis: ein (erklärendes) Verstehen der Eigendynamik der Entwicklungen in Westeuropa über die Jahrhunderte. Eine radikalisierte Form der Annahme einer eigendynamischen Pfadabhängigkeit ist dann die Vorstellung, daß es anders als bei den „exogenen“ gesellschaftlichen Mutationen, eine sozusagen vorhersehbare und deterministisch festliegende „Geschichte“ gebe, deren Gesetze bekannt sind und für die man jetzt schon, wie für den Lauf der Gestirne aufgrund der Gesetze der Astronomie, für alle denkbaren Zukünfte jeweils exakt vorhersagen kann, was wann der Fall sein wird – und wo ggf. alles endet. Das hatten viele Soziologen einmal im Auge als sie davon träumten, die mehr oder weniger ehernen „Gesetze“ der Gesellschaft oder der Geschichte aufzuspüren. Warum dieser Traum von den soziologischen Gesetzen des sozialen Wandels vergeblich war – und warum es auch eher ein Alptraum wäre – hat einen leicht einsehbaren Grund. Der wichtigste kann hier schon genannt werden: Es müssen immer alle Randbedingungen bekannt sein und dann auch konstant bleiben. Und selbst wenn man, was kaum denkbar ist, alle wichtigen Randbedingungen im Griff hätte: Exogene Einflüsse können von der Natur ihrer „Zufälligkeit“ her niemals ausgeschlossen oder gar vorhergesagt werden, und wir können niemals wissen, was morgen geschieht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.5 unten u.a. über das „Elend des Historizismus“). Außerdem müßten die Modelle, erst recht für komplexere Systeme, wie es Gesellschaften ohne Zweifel sind, in ihren vielen Annahmen und Funktionen auch stimmen. Das haben selbst die Meteorologen nicht geschafft, deren „Prognosen“ nicht ohne Grund nur darin bestehen, für ein, zwei Tage zu extrapolieren, was ihnen die Wettersatelliten gemeldet haben. Und über Gesellschaftssatelliten verfügen die Soziologen leider nicht, wenn man nicht schon den ALLBUS oder das SOEP dazu zählen möchte.
20
Vgl. z.B. die Zusammenfassung der Grundideen bei Stein Rokkan, Eine Familie von Modellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Soziologie, 9, 1980, S. 118-128; sowie neuerdings: Peter Flora (Hrsg.), State Formation, Nation-Building, and Mass Politics in Europe. The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999.
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Allerdings sind solche Modelle der endogenen soziogenetischen Evolution für die soziologische Analyse keineswegs wertlos. Sie können als begrenzte und für ganz bestimmte Konstellationen von Randbedingungen formulierte Gedankenexperimente dienen und so klären helfen, wie bestimmte Prozesse ablaufen „würden“, wenn die Bedingungen alle vorhanden wären. Die – das Modell von Raymond Boudon aus Abschnitt 7.1 oben erweiternde – Simulation des Neutralisierungseffektes der Bildungsreform durch Volker Müller-Benedict, etwa, ist ein vorzügliches Beispiel für eine derartige „Modellierung sozialer Prozesse“, und es hat mit Geschichtsprophetie oder „Teleologie“ nichts zu tun. Solche Modelle der Eigendynamik sozialer Systeme eignen sich daher besonders gut auch zur „ahistorischen“ Analyse von anscheinend historisch ganz spezifischen Vorgängen – wie beispielsweise von Revolutionen oder dem Verlauf interethnischer Beziehungen, die es zwar immer nur als historische Einzelereignisse gibt, deren Abläufe aber auf eine verblüffende Weise den gleichen Voraussetzungen und den gleichen Dynamiken zu folgen scheinen (vgl. dazu insbesondere noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ein historisches Beispiel der Pfadabhängigkeit: die Rheinlandbesetzung und die Appeasement-Politik der Alliierten
Wir wollen die „Eigendynamik“ und die besondere Logik der Pfadabhängigkeit eines Prozesses am Beispiel eines historisch wohlbekannten Falles und mit Hilfe der Logik des sozialen Wandels nach Boudon demonstrieren (vgl. dazu Boudon 1980, S. 140ff.; das Beispiel wurde dazu leicht modifiziert). Es geht darum, wie es kam, daß Frankreich und Großbritannien sich gegen die zunehmende Aggressivität Hitlers nach der Besetzung des Rheinlandes immer weniger zur Wehr setzten und dann auch noch den Anschluß Österreichs, die Abtretung des Sudentenlandes und schließlich sogar die Besetzung der Tschechoslowakei hinnahmen, ein Vorgang, der schließlich in den Zweiten Weltkrieg einmündete. Das Modell beginnt mit einer vereinfachenden Skizze der strategischen Situation der beiden Parteien, die das Interaktionssystem bilden: Großbritannien und Frankreich auf der einen Seite und das Deutsche Reich auf der anderen. Weil die „Umwelt“ hier einstweilen als konstant angenommen werden kann, geht es also (zunächst) nur um die „eigendynamische“ Rückwirkung von den „Ausgängen“ wieder zum Interaktionssystem (siehe aber auch noch weiter unten). Der Ausgangspunkt ist die Überlegung, wie die beiden Parteien gewisse Ergebnisse ihres Tuns bewerten. Jede der Parteien hat zwei Alternativen: die Aggressivität A oder die Zurückhaltung Z. Die Besetzung des Rheinlandes durch das Deutsche Reich wäre beispielsweise ei-
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ne aggressive Reaktion, ebenso wie die Intervention der Alliierten Großbritannien und Frankreich. Wenn sich beide zurückhalten (Kombination ZZ), gebe es den mit jeweils 0 bewerteten Status quo. Bei einem Erfolg der Aggression ohne Eingreifen der Alliierten (AZ) gewinne das Deutsche Reich eine Einheit, während Großbritannien und Frankreich einen Prestigeverlust von -1 hinnehmen müßten. Greifen die Alliierten dagegen – sozusagen: präventiv – ein und das Deutsche Reich verhält sich zurückhaltend (ZA), dann müssen die Alliierten wieder Aufwendungen in Höhe von -1 tragen, und es gibt für das Deutsche Reich einen Schaden von -2. Deutlicher zum Status quo sind die Unterschiede, wenn das Deutsche Reich angreift und die Alliierten daraufhin intervenieren (AA): Der Schaden für das Deutsche Reich betrage dann -20 und für Großbritannien und Frankreich -2. Das ist nicht unrealistisch: Das Deutsche Reich hätte nach einer erneuten Besetzung des Rheinlandes alle inzwischen, etwa durch Stresemann ausgehandelten, Lockerungen des Versailler Vertrages wieder verloren, während Großbritannien und Frankreich etwas mehr als bei einer „einseitigen“ Aktion hätten hinnehmen oder aufbringen müssen, aber gleichwohl wesentlich besser davon gekommen wären als das Deutsche Reich.
Dieses „Interaktionssystem“, bestehend aus den Alliierten Großbritannien und Frankreich einerseits und dem deutschen Reich andererseits, läßt sich dann in einer einfachen Tabelle so wie in Abbildung 7.10 zusammenfassen. Die jeweils erste Ziffer in den Zellen der Tabelle gibt die Auszahlung an das Deutsche Reich, die zweite die an Großbritannien bzw. Frankreich wieder.
Großbritannien/Frankreich
Deutsches Reich
Zurückhaltung
Angriff
Zurückhaltung
0, 0
-2, -1
Angriff
1, -1
-20, -2
Abb. 7.10: Die Ausgangssituation bei der Rheinlandkrise
Für beide (kollektiven bzw. korporativen) Akteure wäre demnach die Kombination AA am schlimmsten, und man sollte denken, es käme nicht dazu. Das ist im Grunde auch so: Jeder versucht schon, die beiderseitige Aggression zu vermeiden. Gleichwohl gibt es immer die Versuchung, abzuwarten, was der jeweils andere tut und ob der vielleicht doch die Nerven verliert und rechtzeitig einen Rückzieher macht. Wenn zum Beispiel das Deutsche Reich davon ausgehen müßte, daß die Alliierten auf jeden Fall eingreifen würden, etwa, weil sie sich das gegenseitig vertraglich zugesichert haben, dann wäre es für das Deutsche Reich klüger, nachzugeben. Ebenso, wie das für die Alliierten zuträfe, wenn es
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unzweifelhafte Hinweise darauf gäbe, daß das Deutsche Reich unter allen Umständen aggressiv sein würde, etwa weil sein „Führer“ ein verrückter tough guy ist. Es ist die Situation von James Dean in dem Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und dem Autorennen auf den Abgrund zu: Wer zuerst aussteigt, hat verloren, aber wer weiterfährt, ist tot. Es ist ein spezieller Fall eines sog. strategischen Spieles. Es wird auch als Chicken Game bezeichnet (vgl. dazu noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Struktur dieses Spiels legt nicht „a priori“ fest, was geschieht. Zwei Ergebnisse sind wahrscheinlich: AZ oder ZA, kaum jedoch ZZ oder AA. Welche der beiden wahrscheinlichen Kombinationen - AZ oder ZA - eintritt, kann ohne weiteres nicht gesagt werden. Nur eines ist klar: Wenn der andere offenkundig nicht anders kann, als aggressiv zu sein, dann ist es in der Tat klüger, nachzugeben.
Wir wollen die oben beschriebene Situation als S1 bezeichnen. Sie schließt – von der strategischen Struktur des Spieles her – die Kombination AA so gut wie aus, weil jeder letztlich doch vor dem Äußersten zurückschreckt. Damit geht es nur noch darum, ob sich AZ oder ZA ereignet, also – ob die Alliierten oder das Deutsche Reich von der gemeinsamen Fahrt in den Abgrund zuerst „aussteigen“. Historisch hat sich, wie wir wissen, die Kombination AZ ereignet: Hitler hat das Rheinland besetzt, und Großbritannien und Frankreich haben nicht reagiert. Warum die Alliierten nicht eingegriffen haben, ist bis heute nicht ganz geklärt. Einer der Gründe war wohl, daß sie aufgrund vieler erkennbarer Umstände davon ausgehen mußten, daß Hitler bedingungslos angreifen würde, obwohl er, wie man heute weiß, durchaus die Hosen voll hatte. Außerdem sind Demokratien gegenüber Diktaturen immer im Nachteil, wenn es um eine rasche Mobilisierung zu einem Krieg geht. Und wenn sich einmal die Überzeugung durchgesetzt hat, daß der andere auf jeden Fall (eher) angreifen wird, dann bleibt aus „rationalen“ Erwägungen erst recht keine Wahl mehr: Dann ist es besser, sich zurückzuhalten, um die noch größeren Kosten eines Konfliktes zu vermeiden.
Die erfolgreiche und unbehinderte Besetzung des Rheinlandes veränderte aber die Situation. Der Einfachheit halber wollen wir alles andere gleich lassen und uns nur ansehen, wie jetzt die Konstellation AA für eine nächste Aggressionsdrohung des Deutschen Reiches ausgesehen haben könnte. Beide Auszahlungen dürften sich verändert haben: Die Kosten des nächsten aggressiven Aktes dürften für das Deutsche Reich nun gesunken sein und für Großbritannien und Frankreich gestiegen. Es sind einerseits Hemmschwellen gefallen, es wurden militärische Erfahrungen gesammelt und die Stärke des Reiches hat insgesamt zugenommen. Und allein deshalb wäre andererseits eine Intervention jetzt für die Alliierten teurer geworden. Für die nächste Gelegenheit, die Drohung mit dem Anschluß Österreichs also, könnte man daher die Auszahlungen für die Konstellation AA mit -10,-5 annehmen. Ansonsten bleibt die Tabelle gleich.
Das sei die Situation S2, wie sie sich als Folge des Ergebnisses der Situation S1 eingestellt hat. Im Grunde gibt es jetzt zwar das gleiche Problem wie zuvor, daß eigentlich jede der Parteien vor der Konstellation AA zurückschrecken müßte.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Aber die Neigung der Alliierten zur Zurückhaltung und die des Deutschen Reiches zum Angriff sind jetzt beide gestiegen, so daß das Ergebnis, das wir alle kennen, nämlich der „Anschluß“ Österreichs, schon weit weniger verwundert als das Vabanquespiel Hitlers bei der Rheinlandbesetzung. Das hatte dann auch wieder Folgen, nämlich eine weitere Senkung der Aggressionskosten für das Deutsche Reich und deren weitere Erhöhung für die Alliierten – die Situation S3. Dadurch wird noch einmal unwahrscheinlicher, daß sich Hitler jetzt zufriedengeben würde, wenn sich eine neue Gelegenheit böte. Und so wurde auch die Besetzung der Tschechoslowakei hingenommen. Das Ganze bekam dann auch einen Namen: Appeasement-Politik, die Politik der Beschwichtigung und des Gewährenlassens. Sie entsprang ein wenig wohl auch aus dem schlechten Gewissen über den Versailler Vertrag, beruhte insbesondere aber auf der Hoffnung, daß der Hunger des Diktators bald gestillt wäre, zumal der ja auch nicht müde wurde, zu verkünden, daß er jetzt bald keine territorialen Forderungen mehr haben würde.
Kurz: Einmal begonnen, gewinnt der Prozeß durch die sukzessive Änderung der Auszahlungsstrukturen (als Folge des Prozesses selbst) eine Eigendynamik, die sich aus der immer größer werdenden Schere der Anreize für die einseitige Aggression des Deutschen Reiches gegenüber jedem anderen Ausgang ergibt. Das meint das Wort von der „Pfadabhängigkeit“: Ist einmal der erste Schritt in die falsche Richtung getan, führen alle weiteren schrittweise, aber unweigerlich ins Verderben, weil sich nur noch diese eine Alternative bietet, solange nichts von außen geschieht, was die Sache grundlegend ändern würde. Solche Pfadabhängigkeiten gibt es natürlich auch in die andere Richtung, nämlich ins Glück, etwa bei zunächst zögerlichen Liebespaaren, die sich dann doch „trauen“ und merken, daß sie zueinander passen, und durch ihr daran orientiertes Tun ihr Glück immer weiter vervollkommnen. Und so hätte die Sache auch für die Alliierten in eine andere Richtung gehen können: Wenn sie gleich eingegriffen hätten, wäre der Schaden für das Deutsche Reich unabsehbar gewesen, und die Kosten eines neuerlichen Angriffs wären für die Alliierten gesunken (etwa auf die Auszahlungen 30,-1 für die Kombination AA). Das sei die Situation S0. Diese Konstellation hätte für die nächste Gelegenheit die Wahrscheinlichkeit eines aggressiven Aktes des Deutschen Reiches deutlich gesenkt – und alles wäre noch einmal gut gegangen. So wie beim Kosovo-Krieg, der wohl auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen gegen einen ähnlich aggressiv gesonnenen Diktator geführt wurde, um Schlimmeres zu verhindern. Die Struktur dieses Prozesses läßt sich dann im Rahmen des Boudon-Schemas wie in Abbildung 7.11 skizzieren (vgl. Boudon 1980, S. 144):
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Die Konstruktion der Gesellschaft
mehr oder weniger – wieder der Status quo herausgekommen – die „Reproduktion“ der Situation also. Das Eingreifen der Alliierten bei der Rheinlandbesetzung hätte die neue, für das Deutsche Reich sehr unerfreuliche, Situation S0 erzeugt, und dabei wäre es – vorläufig – geblieben. Erst die hingenommene Besetzung des Rheinlandes bedeutete das Beschreiten eines Pfades, der die folgenden Ereignisse immer zwangsläufiger werden ließ. Bei Boudon steht am Schluß ein Pfeil vom Ausgang AZ zu der Abkürzung „usw.“. Dahinter hätte er auch schreiben können: Überfall auf Polen. Diesen Überfall wagte Hitler ja durchaus auf der Grundlage der geschilderten Vorgeschichte (sowie des Paktes mit Stalin). Nicht ohne weiteres hätte er dagegen hinschreiben können: „Zweiter Weltkrieg“. Denn nach der Logik des Vorgangs wäre auch Polen von den Alliierten hingenommen worden. Aber dann geschah bekanntlich etwas, was auch Hitler nicht mehr erwartet hatte: Derselbe Chamberlain, der noch „München“ mitgemacht und Hitler seinen Friedenswillen abgenommen hatte, änderte jetzt seine Einstellung, seine subjektive „Definition“ der Situation also: Er gab die Appeasement-Politik auf und schwenkte auf die (bedingungslose) Gegenaggression um, deren Ausführung dann freilich Churchill vollzog. Es war, in der Sprache des Modells von Boudon, ein Wandel vom Typ der „Transformation“: Der letzte Ausgang, die Besetzung der Tschechoslowakei, war nicht nur ein „materieller“ Akt, sondern auch das letzte Zeichen, daß die bis dahin unterstellte Annahme der grundsätzlichen Friedensliebe Hitlers nicht stimme. Das änderte die Einstellung der Alliierten (in der Person Chamberlains vertreten), die zuvor zur unveränderten „Umwelt“ des ganzen Geschehens gezählt hatte. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten das ging, kann man nur ahnen. Wir vermuten, daß es den Gesetzen folgte, die ganz allgemein das (Re-)„Framing“ einer Situation erklären (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser „Speziellen Grundlagen“): Irgendwann ändert sich, wenn sich die Anreize und die Anzeichen mehren, daß eine andere Sicht der Dinge „angesagt“ wäre, die komplette Sichtweise auf die Situation und das ganze „Programm“ des Handelns mit ihr. Und so gab es nun ein ganz anderes „Spiel“. Hitler überfiel Polen am 1. September 1939, und Großbritannien und Frankreich erklärten ihm am 3. September 1939 nach einem Ultimatum den Krieg. Sie konnten gar nicht mehr anders. Und Hitler fragte Göring ganz fassungslos: Was nun? „Wirklicher“ sozialer Wandel
Die Analyse des „wirklichen“ sozialen Wandels ist nicht immer in so einfacher Weise möglich wie in dem Beispiel vorhin (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band). „Wirkliche“ Gesellschaften bestehen und wandeln sich über al-
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le möglichen Formen, Konzepte, Typen und Modelle von Prozessen. Es gibt einfache und funktionale Reproduktion, Transition und Transformation, Kumulation, Dämpfung und Oszillation, endogene Eigendynamik und Pfadabhängigkeiten, wie exogene Ereignisse, die alles in eine ganz andere Richtung lenken können, Evolution und manchmal sogar auch eine Revolution. Auch schon an dem noch recht übersichtlichen Beispiel der Bildungs-„Revolution“, der Expansion des Bildungssystems und der Stabilität der sozialen Ungleichheit, das wir oben in Abschnitt 7.1 besprochen haben, lassen sich etwa für die Verhältnisse in Deutschland, alle möglichen Arten von Vorgängen sozialer Prozesse und des sozialen Wandels beobachten. Das Geschehen beginne, weil man immer irgendwo anfangen muß, mit der deutlichen (repetitiven) Reproduktion der Strukturen der sozialen Ungleichheit zu Beginn dieses Jahrhunderts. Das Bildungsverhalten der sozialen Klassen ist im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Republik ebenso festgefügt wie die Statusvererbung, und beides reproduziert sich gegenseitig zu einem System nahezu ständischer oder gar kastenähnlicher Verhältnisse, unterstützt nicht zuletzt über die damals sehr lebendigen sog. sozialmoralischen Milieus, etwa das der sozialdemokratischen Arbeiterschaft oder das der Katholiken. Viele Entwicklungen der besonderen Eigendynamik der funktionalen Differenzierung sorgen jedoch auch schon endogen allmählich dafür, daß sich die Verhältnisse langsam, aber stetig verändern (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 4.3 und 4.4 in diesem Band). Und, das muß man wohl auch sagen, die Verhältnisse und Ereignisse im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg haben ihren ganz besonderen – exogenen? endogenen? – Einfluß auf die soziale Ungleichheit und deren Reproduktion und die weitere Eigendynamik der funktionalen Differenzierung gehabt. Gerade aber die endogen immer weiter beschleunigte funktionale Differenzierung erzeugt mit der Bildungsreform einen weiteren Schub der Öffnung des Bildungssystems, wobei man wieder nicht sagen kann, ob der Sputnik, der mit seinem Schock alles ausgelöst oder mindestens beschleunigt hat, ein exogenes Ereignis war – oder die Folge einer im kalten Krieg der Systeme damals endogen angelegten Entwicklung des Gesamtsystems der Weltgesellschaft.
In seiner Erweiterung des Boudon-Modells der Reproduktion der sozialen Ungleichheit hat sich Volker Müller-Benedict an Hand des kumulierten Datensatzes des ALLBUS auch einmal angesehen, was mit der sozialen Mobilität in Deutschland für die Geburtsjahrgänge noch aus der Weimarer Zeit bis nach der Bildungsreform empirisch geschehen ist. In Abbildung 7.12 sind die Ergebnisse für das Chancenverhältnis eines Auf- oder Abstiegs zwischen der sog. Dienstklasse, als einer oberen Schicht, und allen anderen Schichten bzw. den Arbeitern aufgeführt. Anders als das Boudon mit seinem Modell angenommen hatte, haben sich also die Verhältnisse, wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet, durchaus geändert. Anfangs gab es die Mobilitätsschranken zwar noch, sie bauen sich aber schon für die Kriegsgeneration deutlich ab. Die Bildungsreform hat dann – interessanterweise – in der Tat kaum noch eine nennenswerte eigene Wirkung. Es sieht eher so aus, als hätten die Umwälzungen im Zuge des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs einen Schub der Öffnung und der Auflösung von Klas-
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sen- und Standesgrenzen bewirkt, den die Bildungsreform dann nur noch institutionell begleitet hat. Und insgesamt gesehen erkennt man schon einen durchgehenden Trend: den Abbau der Klassengrenzen und die Modernisierung der deutschen Gesellschaft. Der ALLBUS enthält, darauf sollte man auch noch hinweisen, nur Daten über die deutsche Bevölkerung. Wenn man die rund 8% Ausländer hinzufügt, ergibt sich ein anderes Bild: Es hat sich, inmitten der Mobilität der Neuen Mitte und der (post-)modernen Individualisierung, eine Art von neofeudaler Unterschichtung entwickelt, bei der die vertikale soziale Ungleichheit mit bestimmten kulturellen Lebensweisen eng kovariiert und die Lebenswelten und Verkehrskreise sorgfältig getrennt sind. Es ist fast so wie in Indien – aber als Folge der eher sich noch weiter verstärkenden internationalen Migration wahrscheinlich nur ein weiterer Schritt auf dem Wege der Universalisierung und der Modernisierung der Weltgesellschaft insgesamt.
Abb. 7.12: Die Entwicklung der Mobilität für verschiedene Geburtskohorten (Männer, Westdeutschland; nach Müller-Benedict 1999, S. 334)
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Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wandels ziehen kann Eine der berühmtesten Studien in der Soziologie insgesamt ist der Versuch von Max Weber gewesen, einen inneren Zusammenhang zwischen der – wie Max Weber sich ausdrückt – protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus nachzuweisen.21 Beide Erscheinungen haben – unter anderem – zwei Gemeinsamkeiten: einerseits die unablässige innere Unruhe, die das Leben sowohl der Protestanten wie der Kapitalisten durchzieht, und die nicht stillzustellende Suche nach Hinweisen, ob denn alles seine Ordnung habe, andererseits die Verselbständigung der jeweiligen „Sphären“ zu eigenständigen Funktionssystemen mit ihrer jeweils ganz eigenen Logik, die der Religion hier, die der Wirtschaft dort, und ihrer Verkettung in einem sich gegenseitig stützenden und begrenzenden „System“. Der Ausgangspunkt war für Max Weber eine interessante und bis heute noch rätselhafte, manchen damaligen Kirchentag sehr beschäftigende Korrelation, betreffend nämlich den „ ... ganz protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kaufmännisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen.“ (Ebd., S. 18; Hervorhebung im Original)
Es geht Max Weber um die Erklärung dieses Zusammenhangs – ganz so also, wie man das immer als Soziologe möchte, der auf eine soziale Regelmäßigkeit stößt, die zunächst unverständlich ist und der soziologischen Aufklärung durch eine soziologische Erklärung bedarf. Unter der protestantischen Ethik verstand Max Weber dabei eine spezielle Form der „Beziehung zwischen religiösem Leben und irdischem Handeln“: die „puritanische Weltzugewendetheit, das heißt: Wertung des innerweltlichen Lebens als Aufgabe.“ (Ebd., S. 80; Hervorhebungen so nicht im Original) – im Unterschied zur typischen Weltabgewandtheit anderer religiöser Vorstellungen etwa des Katholizismus. Der „‚Geist‘ des Kapitalismus“ bestand für Max Weber in jener besonderen Art der Orientierung am Gelderwerb an sich, „ ... so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet“. Gelderwerb als Selbstzweck also:
21
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl., Tübingen 1978a (zuerst: 1920), S. 17-206.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
„Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.“ (Ebd., S. 35f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das zentrale Argument für die Begründung des Zusammenhangs zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus liegt in der beiden Orientierungen gemeinsamen Kombination von Weltzugewandtheit und Askese: die sog. innerweltliche Askese. Wie ist diese aber in die Welt gekommen? Zunächst ist der Protestantismus – als religiöse Doktrin – immer schon eine stärker weltzugewandte Angelegenheit als etwa der Katholizismus gewesen, wenngleich nicht in allen seinen Varianten gleichermaßen. Max Weber berichtet ausführlich über das Konzept des „Berufes“ bei Luther. Eine besondere Zuspitzung und Richtung erhielt diese Orientierung an einer innerweltlichen Askese jedoch erst im Calvinismus – und zwar: durch ein zunächst ganz und gar religiös definiertes Detail. Der Calvinismus nahm nämlich in einem wichtigen Kernteil seines Glaubens, der Prädestinationslehre bzw. der „Lehre von der Gnadenwahl“, an, daß die Menschen bereits von Geburt an in ihrem jenseitigen Schicksal vorherbestimmt seien: ewige Verdammnis oder ewiges Heil. Durch irdische Werke war daran – ganz anders als für die Katholiken – auch nichts mehr zu ändern: Gott ist der Allmächtige und läßt sich durch bestimmte Formen der Werksfrömmigkeit nicht ins Handwerk und in seinen ganz und gar unergründlichen „heimlichen Ratschluß“ (ebd., S. 90ff.) pfuschen. Wer an diese Lehre glaubte, auf dem lastete natürlich eine tiefe und das ganze Leben durchziehende, wohl auch zu Fatalismus verführende, irritierende Ungewißheit: Bin ich denn nun erwählt oder bin ich verdammt? (Ebd., S. 102ff.) Wie wichtig wäre es dann aber, wenn es ein – noch so undeutliches – Zeichen für die Erwählung, für die certitudo salutatis, gäbe! Nicht zuletzt aus der Sicht der Seelsorger: Um einem zunächst naheliegenden, aus ihrer Sicht aber sehr schädlichen Fatalismus der Schicksalsergebenheit in die Vorherbestimmung des Heils vorzubeugen! Der würde ja drohen, wenn sich ein jeder sagte: Es ist ja ohnehin egal, was ich tue – alles ist vorherbestimmt. Jetzt mußten sich also die Seelsorger etwas einfallen lassen. Und siehe, sie fanden eine Lösung: Es gibt ein Zeichen, das die Ungewißheit zwar nicht auflöst, aber in einer bestimmten Weise beeinflussen und die Last der Furcht vor der Verdammnis etwas mildern kann. (Ebd., S. 104ff.) Es ist das Zeichen des irdischen Erfolgs im Berufsleben. Wichtig ist dabei, daß nicht das Bemühen bereits ausreicht, etwa eine bestimmte (gute) Absicht oder ein bestimmtes „Handeln“, sondern nur das Ergebnis dieses Bemühens: „Aber da schon nach Calvins Ansicht alle bloßen Gefühle und Stimmungen, mögen sie noch so erhaben zu sein scheinen, trügerisch sind, muß der Glaube sich in seinen objektiven Wirkungen bewähren, um der certitudo salutis als sichere Unterlage dienen zu können.“ (Ebd., S. 108; Hervorhebung im Original)
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Dieses Zeichen des irdischen Erfolgs ist – wenn man es so sagen will – ein notwendiges, aber – leider – kein hinreichendes Zeichen für die Erwählung zum ewigen Heil. Diese verbleibende Unsicherheit hat eine weitreichende Folge: Nur ein einziger Moment des Versagens ist der sichere Hinweis auf die Verdammnis: „Jede einzelne Sünde vernichtet alles, was im Lauf eines ganzen Lebens an ‚Verdienst‘ durch ‚gute Werke‘ aufgehäuft sein könnte ... . Es findet eben nicht, wie im Katholizismus, eine Art Kontokorrent mit Saldo-Abrechnung statt ... , sondern für das ganze Leben gilt das schroffe Entweder-Oder: Gnadenstand oder Verwerfung.“ (Ebd., S. 115, Fn. 2; Hervorhebungen im Original)
Daher darf es keinen einzigen schwachen Augenblick geben. Und die Folge: Das Leben wird systematisiert und durch und durch „berechnet“. Die Askese wendet sich dadurch nicht wie im katholischen Mönchstum von dem weltlichen Alltagsleben ab, sondern in die Welt hinein. Und die Folge dieser Ausrichtung der Lebensführung auf eine innerweltliche Askese: „Der Calvinismus fügte aber im Verlauf seiner Entwicklung etwas Positives: den Gedanken der Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben hinzu. Er gab damit den breiteren Schichten der religiös orientierten Naturen den positiven Antrieb zur Askese ... .“ (Ebd., S. 120; Hervorhebungen im Original)
Die Ansammlung von Reichtum, der nicht dem Genuß, sondern der produktiven Wiederverwendung dient, ist somit kein Nadelöhr auf dem Weg ins Himmelreich, sondern ein – mögliches, aber nie: sicheres! – Zeichen der Erwählung. Und genau dies, die durch den Zwang zur lückenlosen Dokumentation einer möglichen Erwählung erzwungene Systematisierung der Lebensführung, ist es, die die protestantische Ethik durchdringt und den Geist des Kapitalismus ausmacht. Max Weber faßt diese „Zusammenhänge der religiösen Grundvorstellungen des asketischen Protestantismus mit den Maximen des ökonomischen Alltagslebens“ (Ebd., S. 163) noch einmal so zusammen: „Entscheidend aber für unsere Betrachtung war immer wieder, um es zu rekapitulieren, die bei allen Denominationen wiederkehrende Auffassung des religiösen ‚Gnadenstandes‘ eben als eines Standes (status), welcher den Menschen von der Verworfenheit des Kreatürlichen, von der ‚Welt‘, abscheidet, dessen Besitz aber – wie immer er nach der Dogmatik der betreffenden Denomination erlangt wurde – nicht durch irgendwelche magisch-sakramentalen Mittel oder durch Entlastung in der Beichte oder durch einzelne fromme Leistungen garantiert werden konnte, sondern nur durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten von dem Lebensstil des ‚natürlichen‘ Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel. Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung. Dieser asketische Lebensstil aber bedeutete eben, wie wir sahen, eine an Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.“ (Ebd., S. 162f.; Hervorhebungen im Original)
So konnten aus Calvinisten bzw. aus Puritanern religiös motivierte Kapitalisten werden. Wie aber die Ansammlung von irdischem Reichtum als Frucht einer in-
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nerweltlich gerichteten Askese dem Calvinisten das Leben mit der Ungewißheit der Prädestination etwas erleichtert, so kommt die religiöse Doktrin des Calvinismus bzw. des Puritanismus auch dem – vielleicht zunächst noch sehr katholischen, an das Gleichnis von dem Kamel und dem Nadelöhr fest glaubenden und deshalb mit einem sehr schlechten Gewissen versehenen – Kapitalisten entgegen, dessen Schicksal es ja ist, hienieden irdischen Reichtum zu akkumulieren und zu reinvestieren – oder in der gnadenlosen Konkurrenz am Markte unterzugehen. Eine Lehre der Weltabgewandtheit oder gar der Gegnerschaft zu irdischem Erfolg wäre eine allzu schwere psychische Hypothek für jemanden, dessen Geschäft tagtäglich davon abhängt, daß er sich eben nicht dem Genusse oder einer Ethik der Brüderlichkeit ohne Rücksicht auf eventuelle objektive Folgen unkontrolliert hingibt. Und was ist wohl schlimmer: Verdammnis im Jenseits oder der Untergang auf dem Markte? Dann ist es sogar als Glaubensüberzeugung optimal: Erfolg auf dem Markte als Zeichen, daß die Erwählung wenigstens nicht ausgeschlossen ist. Die protestantische Ethik stellte somit einen gedanklichen Ausweg aus dem Dilemma zwischen jenseitsorientierter Religiosität und diesseitsbezogenem Erfolg dar. Sie bildete nicht nur einen von diesem psychischen Druck entlastenden, sondern sogar einen legitimierenden Ideenhorizont für das kapitalistischberechnende Handeln und für die damit verbundenen Vorgaben und Interessen. Auf diese Weise konnten Kapitalisten zu Puritanern werden – wenn sie nach ihrem Ableben in den Himmel kommen, aber in dem Leben vor dem Tode auch nicht schon weltlich untergehen wollten. Und die Folge: Weltliches Interesse und religiöse Idee ergänzen und stützen einander. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus stehen also – so der Ausdruck von Max Weber, einem Stück von Goethe folgend – in einem Verhältnis der Wahlverwandtschaft. Der Hintergrund dieser Wahlverwandtschaft ist die mit der modernen Gesellschaft endgültig in die Welt gekommene und nicht zu beseitigende, grundlegende Unsicherheit und Unruhe der Menschen einerseits und die sagenhaften Beträge von möglichen Gewinnen und Verlusten dort andererseits. Wo alles gesellschaftlich seinen Platz hat, wie in den Feudalgesellschaften, oder wo es nicht viel zu verteilen gibt, wie in den Stammesgesellschaften, da gibt es, bei aller existentiellen Unsicherheit, gleichwohl keinen – vernünftigen! – Grund zur Unruhe, zur Reduktion von Unsicherheit und zur ständigen Suche nach neuen Informationen. In modernen Gesellschaften aber treffen alle Bedingungen für die Erzeugung von Unruhe zu: Kein Platz ist mehr sicher, und die unbedachte Hingabe an Stimmungen und Beschaulichkeit kann dort sehr teuer werden. Und das bleibt auch einstweilen so, wahrscheinlich bis – wie Max Weber bekanntlich etwas düster vermutet hat – „ ... der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (Ebd., S. 203) Es fällt nicht schwer, hinter den Beschreibungen und Erläuterungen von Weber
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über die inneren Zusammenhänge und Wahlverwandtschaften und über die einzelnen Prozesse der Ko-Evolution des Protestantismus und des Kapitalismus das Muster der soziologischen Erklärung wiederzuerkennen. Aber das ist ja auch weiter kein Wunder: Max Weber kann geradezu als der Erfinder des Grundsatzes des Methodologischen Individualismus und der „verstehenden“ soziologischen Erklärung gelten. Die Analyse von Weber ist später oft als eine Antwort auf die These von Karl Marx gelesen worden, wonach die materielle Basis alleine den institutionellen und kulturellen Überbau bestimme, ebenso aber auch als eine Kritik am Idealismus, der den Ideen oder den „Werten“ die alles bewegende Kraft zuschreibt. Weber ist bald, vor allem natürlich von den immer alles besser wissenden Historikern und den nicht zu Unrecht schockierten Theologen, aber auch von Soziologen heftig kritisiert worden, und auch für diesen Zusammenhang hat man, wie für fast alles, wovon man glaubte, daß es ein „soziologisches Gesetz“ wäre, zahllose Ausnahmen gefunden.22 Das alles ist hier aber in seinen Details ganz und gar uninteressant. Wichtig ist etwas anderes: Die Studie ist ein Muster für die soziologisch-„verstehende“ Rekonstruktion des Prozesses einer gesellschaftlichen Ko-Evolution geworden – und wie dabei die institutionell und materiell geprägten Interessen der Menschen ihre kulturellen Vorstellungen und Ideen beeinflussen und diese wiederum die Institutionen und Ideen und wie das alles in ein Gleichgewicht und schließlich in eine sich verselbständigende Eigendynamik geraten kann. Insofern ist es auch eine – nur allzu verständliche – Korrektur „unilinearer“ Hypothesen, wonach entweder die materiellen Interessen, die institutionellen Regeln oder die kulturellen Ideen jeweils das alleinige oder letzte „movens“ der Geschichte oder der Gesellschaft wären. Sie alle gehören zusammen und ko-evoluieren nur gemeinsam – zu jeweils historisch ganz einmaligen Typen von Gesellschaften, aber auf der Grundlage von allgemeinen und ganz und gar „ahistorischen“ Mechanismen, wie die der Rückkopplung oder der funktionalen Reproduktion (vgl. dazu auch noch Kapitel 9 insgesamt).
22
Das Hauptmerkmal der erfolgreichen Unternehmer im Frühkapitalismus scheint nicht so sehr die spezielle Religion, sondern die Tatsache ihrer Emigration gewesen zu sein: Die von Weber so besonders betrachteten Genfer Calvinisten waren fast alle Emigranten und niemand war schweizer Abstammung. Sie kamen vielmehr aus dem katholischen Flandern, ebenso wie die Mehrzahl der Geschäftsleute in Holland, in Hamburg und in Deutschland ganz allgemein. Auch in Köln und in Holland waren die (erfolgreichen) Unternehmer überwiegend katholisch und stammten vornehmlich aus Antwerpen und aus Lüttich. Die Übernahme der calvinistischen Lehre war eher die Folge als die Ursache ihrer Lebenswelt und Betätigung. Vgl. dazu die Anmerkungen bei Boudon (1986, S. 147ff.).
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7.5
Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Soziologie des sozialen Wandels
Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir erwähnt, daß der soziale Wandel lange Zeit das Thema der Soziologie gewesen ist, inzwischen aber nicht mehr. Nun dürfte verständlich geworden sein, warum die Soziologie einen ihrer ehemaligen Hauptgegenstände verloren hat: Makrosoziologische „Gesetze“ des Wandels gibt es nicht, und wenn Regelmäßigkeiten der Veränderung angetroffen werden, dann beruhen sie auf – mehr oder weniger komplexen – Makro-Mikro-MakroSequenzen, die es über die Logik der soziologischen Erklärung zu dekomponieren gilt. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf die wichtigsten, wenngleich inzwischen meist etwas bleich gewordenen „Ansätze“ der sog. Soziologie des sozialen Wandels. Es hat eine ganze Reihe von Vorschlägen für Gesetze des sozialen Wandels gegeben. Einige davon werden schon lange kaum noch beachtet, wie die Zyklustheorien etwa bei Oswald Spengler oder Pitirim A. Sorokin, oder die Theorie des cultural lag von William F. Ogburn. Auch an die Stadientheorien, etwa in der Art wie sie Auguste Comte vorgeschlagen hat, glaubt so gut wie niemand mehr. Dabei kann sicher nicht bestritten werden, daß es so etwas wie Zyklen und Kreisläufe, die zeitverzögerte Änderung der Kultur durch technische Innovationen oder gewisse typische Sequenzen von Abläufen empirisch tatsächlich gibt. Es gibt ja „Konjunkturen“ und Oszillationen, kulturellen Wandel der Werte nach Änderungen in der materiellen „Basis“ oder gewisse Phasen der Entwicklung, etwa die der interethnischen Beziehungen, wie sie Robert E. Park beschrieben hat. Aber es gibt diese Dinge eben nicht als feste „Gesetze“, sondern als von vielen (Rand-)Bedingungen („pfad“-)abhängige Sequenzen von Makro-Mikro-Makro-Übergängen.
Übrig geblieben ist von allen diesen Versuchen und Ansätzen eigentlich nur noch eine Variante der Theorie des sozialen Wandels: die evolutionäre Erklärung des Wandels von Gesellschaften und des gesamten Systems der Weltgesellschaft. Und es sieht fast so aus, als gäbe es hierfür in der Tat sogar eine gewisse Richtung – die der durchgreifenden funktionalen Differenzierung und „Modernisierung“ der Welt insgesamt. Unter dem Schlagwort der Globalisierung wird diese Idee derzeit diskutiert und geglaubt. Die Evolutionstheorie des sozialen Wandels gibt es in drei Varianten, von denen die ersten beiden inzwischen wohl als widerlegt oder mindestens als „unvollständig“ gelten können: erstens die auf Karl Marx zurückgehende konflikttheoretische Vorstellung, daß sich die Gesellschaften über Konflikte weiterbewegten und daß es schließlich zur Überwindung der alles bewegenden Gegensätze der Klassen kommen werde, nein: müsse (vgl. Abschnitt 7.5.1 unten). Zweitens die funktionalistischen Hypothesen einer eher allmählichen Entwicklung der Gesellschaften auf einem Pfad der immer stärkeren funktionalen Differenzierung – mit dem „Ziel“ der vollständigen Durchuniversalisierung der Welt (siehe Abschnitt 7.5.2 unten), und drittens schließlich die Idee der multilinearen Evolution, wonach der soziale Wandel zwar gewisse Pfade einschlägt, daß es aber immer wieder zu Verzweigungen kommen kann, von denen ab ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad eine gänzlich neue Richtung nimmt (siehe Abschnitt 7.5.3 unten).
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Der Grundgedanke ist bei allen diesen Varianten der gleiche (siehe auch Abschnitt 7.4 schon zum Konzept der Evolution): Gesellschaften bilden zeitweise einigermaßen stabile (Prozeß-)Gleichgewichte der funktionalen Reproduktion, geraten dann aber, warum auch immer, in einen Prozeß der Wandlung ihrer inneren Strukturen und sind in der damit sich verändernden Konstellation und in den jeweiligen natürlichen wie sozialen Umgebungen unterschiedlich reproduktionsfähig. Die drei Richtungen lassen sich vor diesem gemeinsamen Hintergrund über drei verschiedene inhaltliche Dimensionen einigermaßen unterscheidbar sortieren: die jeweils das Geschehen bewegende typische Kraft, die Zielgerichtetheit des Prozesses und die Endogenität bzw. Exogenität des Wandels. 7.5.1 Der konflikttheoretische Ansatz
Der Hauptvertreter der konflikttheoretisch begründeten Evolutionstheorie des sozialen Wandels ist ohne Zweifel Karl Marx gewesen. Den Grundgedanken seiner Gesellschaftstheorie haben wir bereits mehrfach angesprochen (vgl. etwa die Abschnitte 4.3 und 12.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Abschnitt 4.2 in diesem Band). Er läßt sich mit drei Zitaten aus dem Kommunistischen Manifest noch einmal prägnant zusammenfassen.23 Erstens also: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (Ebd., S. 462)
Zweitens dann: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (Ebd., S. 472)
Und schließlich drittens: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (482)
Danach ist der Konflikt zwischen typischen gesellschaftlichen Gruppen das Kennzeichen einer jeden gesellschaftlich-historischen Epoche, der innere Keim ihres Untergangs und des geradezu zwangsläufigen Übergangs zur nächsten gesellschaftlich-historischen Epoche: Auf die Sklaverei in den antiken Staaten folgte der Feudalismus des Mittelalters und darauf der Kapitalismus mit der Herr23
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-EngelsWerke, Band 4, Berlin 1964, S. 459-493.
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schaft des Bürgertums und des Geldes, jeweils nach mehr oder weniger langen Epochen der „Transformation“ und des Übergangs. Stets standen Unterdrücker und Unterdrückte gegeneinander. Ihr Kampf führte schließlich zum gemeinsamen Untergang beider Gruppen, und herauf kam jeweils eine völlig neue Art von Gesellschaft, in der der „alte“ Gegensatz zwar „aufgehoben“ war, an dessen Stelle aber sofort ein neuer trat. Und so weiter. Unschwer ist bei dieser Skizze der hegelianische Hintergrund eines „dialektischen“ Prozesses zu erkennen: These steht gegen Antithese, und beide werden in einer neuen Synthese aufgehoben, die dann den Beginn für den nächsten Schritt bildet. Die ganze „Geschichte“ hat dabei für Marx eine zwingende „dialektische“ Logik, bei der sich eine Epoche zwangsläufig aus der endogen angelegten Überwindung der Klassengegensätze in der folgenden Epoche ergibt. Und buchstäblich am Ende der Geschichte stehen dann der Kapitalismus mit dem historisch letzten Antagonismus, dem von Arbeit und Kapital, die proletarische Revolution und die Heraufkunft der Kommunistischen Gesellschaft, in der es erstmals keine Klassengegensätze mehr gibt, weil die historisch letzte Klasse, die überhaupt noch beherrscht werden konnte, die des Proletariats, in den sich entwickelnden Industriegesellschaften, nunmehr die Herrschaft übernommen hat, die „Volks“Herrschaft eben. Daher gibt es jetzt erst- und letztmals den einen zentralen Grund für alle gesellschaftliche „Bewegung“ nicht mehr – den Konflikt zwischen irgendwelchen Gruppen eben. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist nach Marx die Abschaffung der Arbeitsteilung und des Privateigentums, die für die Entfremdung und die Ausbeutung der Menschen und für die Konflikte in den Interessen ja erst sorgen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung ganz am Ende dieses Bandes). Und alles wird schließlich gut: In der kommunistischen Gesellschaft werden „ ... die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis“ sein, die „Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“, alle trennenden Schranken zwischen den Menschen fallen, und eine Welt der Solidarität im Überfluß kann endlich errichtet werden. Und dann kann endlich „ ... die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“24
Kurz also: Es kommt das Paradies auf Erden. Es blieben dann nur noch zwei Fragen: Wie kommen die Proletarier dahin? Und stimmt es wirklich, daß mit der Abschaffung des Privateigentums und der Arbeitsteilung die Konflikte zwischen den Menschen verschwinden und – last not least – auch wirklich und nachhaltig 24
Alle Zitate aus Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 21.
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und bald im irdischen Leben die „Springquellen“ des gesellschaftlichen Wohlstands fließen. Am Ende des Kommunistischen Manifestes steht zwar die berühmte Aufforderung: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ (Marx 1974, S. 493). Aber genau das haben die Proletarier keineswegs getan. Und der Probelauf für die Kommunistische Gesellschaft, der sog. real existierende Sozialismus, ist, bis auf einige Restbestände, im Jahre 1989 vor allem deshalb beendet worden, weil die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums unter den institutionellen Bedingungen des Fehlens von Privateigentum und marktwirtschaftlich operierender Arbeitsteilung eben nicht geflossen ist. Die Besonderheiten des konflikttheoretischen Ansatzes
Die von Marx entwickelte „Dialektik“ des sozialen Wandels aus der immerwährenden Zuspitzung, Überwindung und Neubildung gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte ist ohne Zweifel eine Hypothese, die der Logik der Idee von – endogen erzeugter! – Variation und struktureller Selektion folgt und daher ohne weiteres als eine Variante der Evolutionstheorie interpretiert werden kann. Karl Marx hat das auch selbst so gesehen: Jede neue Epoche ist gegenüber der vorausgehenden ein „Fortschritt“, und am Ende steht ein Gebilde mit einer ganz überlegenen Reproduktionskraft. Der zentrale Motor der „Entwicklung“ sind, wie gesagt, die unvermeidlichen Konflikte, die sich aus der bislang stets nötigen Herrschaft als Ordnungsmechanismus ergeben, und die Geschichte dieser Entwicklung ist ein durch und durch endogen und damit auch „zwangsläufig“ angelegter Vorgang. Daher ist das Ende der Entwicklung für Marx auch nicht offen, sondern wird schließlich mit nahezu naturgesetzlicher Notwendigkeit erreicht. Gegen dieses Gesetz mögen sich die Menschen unter Umständen zwar sträuben, aber letztlich gibt es kein Mittel und kein Entrinnen aus dem „objektiven“ Lauf der Geschichte: „Den Sossialissmus in seijnem Lauouwff, halten nicht Ochs noch Esel auouwff“ stammelte Erich Honecker nur wenige Stunden, bevor alles zu Ende war – mit dem Sozialismus und mit ihm persönlich. Die sozialistische Revolution ist dabei nicht das Entscheidende. Sie ist nur der beiläufige Abschluß einer zwangsläufigen Entwicklung und „ ... sie kommt nur, um den Schlußsatz unter eine vollständige Reihe von Prämissen zu schreiben. ... . Sie ist ihrem Wesen nach Revolution in der Fülle der Zeit.“25
25
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen und Basel 1993 (zuerst: 1942), S. 100; Hervorhebungen nicht im Original.
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Kurz: Die Marxsche Theorie des sozialen Wandels ist teleologisch angelegt, und nicht wenige haben, wohl nicht zu Unrecht, sie als eine Fortsetzung der christlichen Erlösungslehre mit den Mitteln der Soziologie angesehen – was der Soziologie in ihrem öffentlichen Bild nicht gut getan hat. In unseren drei Dimensionen wird die Marxsche Variante einer Soziologie des sozialen Wandels also als konflikttheoretisch, endogen und teleologisch zu bezeichnen sein. Konflikte sind dabei ohne Zweifel wichtige endogene Anlässe für die Entstehung sozialer Dynamiken, etwa solcher eines Rüstungswettlaufs. Und sie können durchaus auch empirisch in der Form der dialektischen Triade auftreten und sich „entwickeln“. Unhaltbar ist, neben den vielen inhaltlichen Problemen der Marxschen Theorie, jedoch vor allem ihr teleologischer Charakter und die Annahme gewesen, daß die beschriebene Sequenz sozusagen naturnotwenig wäre. Entkleidet man das Modell von Marx indessen von seinem teleologischen und geschichtsdeterministischen Korsett, dann enthält seine Theorie einen außerordentlich wichtigen und richtigen Kern: Jede gesellschaftliche Ordnung beruht letztlich, wenigstens: auch, auf repressiven Elementen der Herrschaft und zieht daher in nahezu „logischer“ Weise gesellschaftliche Konflikte nach sich (vgl. dazu schon Kapitel 12 über „Soziale Klassen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ insgesamt). Diese, aus der Ordnung der Gesellschaft selbst entstehenden Konflikte sind – unter anderem freilich – in der Tat auch wichtige Kräfte der Dynamik der Gesellschaft und der fortwährenden Änderung der Verhältnisse, durchaus auch in gewissen Eigendynamiken einer auch längere Sequenzen umfassenden Situationslogik, wie das etwa bei den ethnischen Konflikten der Fall ist (vgl. dazu noch das Beispiel in Kapitel 8 gleich unten in diesem Band). Aber das Geschehen unterliegt eben keiner übergreifenden „makro“-soziologischen Gesetzmäßigkeit, sondern kann an vielen Verzweigungspunkten einen ganz anderen Weg nehmen (siehe dazu gleich auch unten noch zur sog. multilinearen Evolution). Und ein „Ziel“ hat die Geschichte ohne Zweifel nicht, schon gar keines, auf das sie auf einem jetzt schon fest stehenden Pfad der Entwicklung sozusagen a priori einsehbar hinstrebte. Korrekturen
Von Ralf Dahrendorf stammen die wichtigsten Korrekturen der Marxschen Theorie und die Grundelemente einer dann durchaus akzeptablen Konflikttheorie des
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sozialen Wandels.26 Sie mündet in eine Art von Theorie der Oszillation der Herrschaft, wie sie unter anderem zuvor von Gaetano Mosca und von Vilfredo Pareto mit ihren Theorien von der Zirkulation der Eliten vertreten wurde, und insbesondere in die These von der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft und deren kumulativer Eigendynamik, wie sie etwa Robert Michels mit seinem Ehernen Gesetz der Oligarchie formuliert hatte. In jedem Fall aber enthält sie die wohl richtige Annahme, daß es gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaft nicht geben kann, und daß daher jede einmal etablierte Ordnung durchaus schon den Keim ihrer Überwindung in sich trägt, mindestens aber, daß es mit der Tatsache der Herrschaft gesellschaftliche Gruppen geben muß, die sich in ihren Interessen widersprechen. In einer gewissen Weise hat Karl Marx dann aber wieder sogar Recht gehabt: In den modernen Gesellschaften gibt es keine scharfen und eindeutigen Klassengegensätze mehr, wenngleich ohne weiteres weiterhin Konflikte. Die Akteure befinden sich vielmehr in einer vielfachen Überkreuzung ihrer gesellschaftlichen Lagen, und die damit verbundenen Interessen- oder Kontrollkonflikte heben sich, sozusagen, in der Regel gegenseitig auf. Deshalb klingt heute auch das Konzept von Dahrendorf schon etwas sehr veraltet und wie von gestern. Ohne Zweifel gibt es weiter „Herrschaft“ und Konflikte und die sorgen auch für viel „Bewegung“. Aber die (politische) Herrschaft wird nicht mehr zwischen bestimmten, deutlich abgrenzbaren Teilgruppen der Bevölkerung ausgefochten, sondern ist mehr und mehr zu einem eigenen Teil-System der Gesellschaft geworden, und es ist ziemlich egal, wer sie gerade ausübt. Schröder machte 1999 die Politik, die eigentlich die CDU hätte machen sollen, und Norbert Blüm tat ganz scheinheilig so, als hätte er statt Lafontaine und Riester Finanz- bzw. Arbeitsminister sein müssen. Und das ist kein Zufall: Es gibt in den modernen Gesellschaften keine konsistenten Konfliktlinien und daher auch keine eindeutigen Bewegungen mehr in eine bestimmte Richtung, sondern nur noch eine Art von mehrfach gekreuzter Dauermobilisierung der Gesellschaft, die gerade dadurch „besteht“ und sich reproduziert, daß alles in Bewegung ist, und für die der beständige soziale Wandel fast das Einzige ist, was Bestand hat.
26
Vgl. insbesondere Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974, insbesondere Kapitel 10: Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, S. 242263, Kapitel 12: Karl Marx und die Theorie des sozialen Wandels, S. 277-293, und Kapitel 14: Amba, Amerikaner und Kommunisten. Zur These der Universalität der Herrschaft, S. 315-336.
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7.5.2 Der funktionalistische Ansatz
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist, wie der gesamte Funktionalismus in der Soziologie, mit Emile Durkheim und daran anschließend natürlich mit Talcott Parsons verbunden (vgl. dazu auch schon die Kapitel 22 bis 24 in der „Soziologie. Allgemeinen Grundlagen“). Die grundlegende Idee besteht in der Annahme, daß sich der soziale Wandel als fortschreitende funktionale Differenzierung der Gesellschaften vollzieht und daß sich dabei die Mechanismen der funktional-gleichgewichtigen Reproduktion und der dadurch gewährleisteten Integration und Ordnung simultan und in einem Prozeß der Ko-Evolution mitentwickeln würden. Der Ausgangspunkt jedes einzelnen Schrittes ist dabei ein bestimmtes funktionales Gleichgewicht, das jedoch unter Umständen – aufgrund endogener Vorgänge wie exogener Anstöße – an seine Leistungsgrenzen stößt. Unter bestimmten Bedingungen, die Parsons als evolutionäre Universalien bezeichnet hat (siehe dazu gleich unten mehr), löst die „Gesellschaft“ das so entstandene Problem, und zwar durch einen weiteren Schub der funktionalen Differenzierung und einen Ausbau der für die funktionale Reproduktion nun nötigen Integration des komplexer und widersprüchlicher gewordenen sozialen Gebildes. Durkheim
Die Erklärung der Arbeitsteilung bei Emile Durkheim und des Übergangs von einfach strukturierten zu komplexeren Gesellschaften ist das „Paradigma“ für den Gedanken des funktionalistischen Ansatzes der Soziologie des sozialen Wandels.27 Ein Hintergrund war die Bewunderung der genialen Erklärung der Entwicklung der Arten durch Charles Darwin und der Versuch, diese Art der Erklärung auf die „organische“ Entwicklung von Gesellschaften zu übertragen. Beispielsweise hatte der britische Soziologe Herbert Spencer (1820-1903) im Anschluß an die Überlegungen von Adam Smith über die wohlstandsfördernden Wirkungen der egoistischen Interessen und der Arbeitsteilung in seinen „Principien der Soziologie“ eine damals einflußreiche Theorie der gesellschaftlichen Evolution entwickelt, in der er davon ausging, daß sich aus den vorwiegend „militärisch“ organisierten Gesellschaften durch die gleichzeitige Steigerung von Differenzierung und Integration schließlich die „industriellen“ Gesellschaften durchsetzen würden.28
27
Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
28
Herbert Spencer, Die Principien der Soziologie, III. Band, Stuttgart 1889.
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Emile Durkheim nahm Herbert Spencer zum kritischen Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Er folgte Spencer in einer fundamentalen Annahme nicht: daß allein schon die Einsicht in die Vorteile der Arbeitsteilung die Menschen dazu bringe, sie auch wirklich einzuführen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Durkheim sind die segmentär differenzierten Stammesgesellschaften ohne besondere gesellschaftliche Arbeitsteilung und mit einer sehr geringen Bevölkerungszahl. Der integrative Mechanismus ist dabei, so Durkheim, die sog. mechanische Solidarität, ein einheitliches Kollektivbewußtsein bei allen individuellen Mitgliedern der (Stammes-)Gesellschaft (vgl. Durkheim 1977, 2. Kapitel: Mechanische Solidarität oder Solidarität der Ähnlichkeiten). Nun geschieht etwas, was dieses System aus dem Gleichgewicht bringt: Die Bevölkerung wächst, ausgelöst etwa durch exogene Faktoren, wie bessere medizinische oder hygienische Kenntnisse, oder durch eine technische Erfindung, die die Ernährungslage bessert, und davon ausgehend auch endogen getragen von Prozessen der Bevölkerungsdynamik (vgl. auch dazu schon Teil E, „Die Bevölkerung der Gesellschaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Dies führt, wieder in der Sprache von Durkheim, nicht nur zu einer Vergrößerung des „Volumens“ der Bevölkerung einer Gesellschaft, sondern auch zu einer höheren „Dichte“: Es entstehen Konkurrenzen, wo es vorher keine gab, und die gesellschaftliche Integration ist in Gefahr, weil die mechanische Solidarität für diesen Fall der Konkurrenz nicht ausreicht. Und dann die (funktionalistische) Lösung des Problems: die Entschärfung der Konkurrenz durch die Übernahme spezieller Tätigkeiten in gewissen Nischen, deren Produkte dann getauscht werden. Das ist die Arbeitsteilung. Darüber entsteht dann – wieder simultan und ko-evolutiv – eine neue Form der Integration, die sich gerade aus der Unterschiedlichkeit der Akteure durch ihre Spezialisierung ergibt: die organische Solidarität. Das ist das – mehr oder weniger reflektierte – Bewußtsein der Menschen einer gegenseitigen Abhängigkeit in diesem neuen System der arbeitsteiligen „funktionalen“ Differenzierung (vgl. Durkheim 1977, 3. Kapitel: Die Solidarität, die von der Arbeitsteilung abhängt, oder die organische Solidarität; vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 dieses Bandes ausführlich).
Die Gesellschaft ändert also ihre „materielle“ und institutionelle Struktur und gleichzeitig aber auch den kulturellen Rahmen, unter dem die Integration geschieht: Die organische Solidarität ersetzt die mechanische Solidarität. Ein wichtiger Grundsatz der funktionalistischen Ansätze nicht nur des sozialen Wandels wird hier auch sehr deutlich (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Alle Gesellschaften, wie differenziert und „komplex“ auch immer sie sein mögen, können als integrierte soziale Gebilde nur bestehen, wenn die Mitglieder sich an irgendeinem Rahmen der Solidarität, der Zustimmung, der Loyalität, der normativen Orientierung, der Werte, der Identifikation orientieren (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 über das Problem der „Integration“ in diesem Band). Dieser Rahmen ändert sich zwar im Inhalt, etwa von der mechanischen zur organischen Solidarität, aber es bleibt, auch in den allermodernsten Gesellschaften, immer bei einem solchen Rahmen wenigstens von Resten eines „Kollektiv“-Bewußtseins und des Gefühls der Zusammengehörigkeit. Glaubte Durkheim.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Der Übergang von der segmentär zur funktional differenzierten Gesellschaft vollzieht sich demnach über zwei grundlegende und miteinander verwobene Prozesse (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 über die „Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“ unten in diesem Band): die Umstellung von der funktionalen Diffusität auf die arbeitsteilige funktionale Spezialisierung und Differenzierung und der Übergang des Integrationsmodus von der mechanischen auf die organische Solidarität. Es gibt dabei eine erkennbare Richtung: eine Zunahme der „Komplexität“ des sozialen Systems „Gesellschaft“ über die Entstehung eigenständiger funktionaler Sphären einerseits sowie die Abstraktion und Generalisierung der Wertinhalte der „Solidarität“, über die sich das komplexer gewordene soziale Gebilde dann wieder integriert. Parsons
Der Beitrag von Talcott Parsons kann dann als eine Erweiterung und Systematisierung dieser Grundideen von Durkheim verstanden werden. Parsons kommt auf das Problem des sozialen Wandels erst relativ spät in seinen Arbeiten zu sprechen, dann aber sehr deutlich und mit dezidierten Hypothesen.29 Die Erweiterung bezieht sich auf die konsequente Anwendung des AGIL-Schemas auf die Betrachtung der „Entwicklung“ der Gesellschaften (vgl. zum AGIL-Schema und zum gesamten „System“ der Theorie von Parsons schon Kapitel 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser „Speziellen Grundlagen“). Die arbeitsteilige Spezialisierung betrifft ja eigentlich nur ein Teil-System der Gesellschaft, das A-System der Adaption bzw. der Organisation der Wirtschaft nämlich. Die Umstellung in der Solidarität von der mechanischen auf die organische verweist schon auf ein zweites Teil-System, das L-System der Mustererhaltung und der alle Normen, sozialen Beziehungen und Handlungen steuernden kulturellen Werte. Folgerichtig „müssen“ sich mit dem Prozeß der „evolutionären“ sozialen Differenzierung auch die anderen TeilSysteme ändern: Das G-System der Zielerreichung bzw. das der Politik muß immer stärker auch spezifische politische Ziele angehen können und im Gesamtzusammenhang des ganzen Systems durchzusetzen versuchen. Und beim ISystem der Integration bzw. der gesellschaftlichen Gemeinschaft kommt es auf die immer weiter gezogene „Inklusion“ von zuvor „exkludierten“ Gruppen und 29
Vgl. dazu insbesondere Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt/M. 1975 (zuerst: 1966); Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972. Vgl. für eine Zusammenfassung der Theorie des sozialen Wandels von Parsons: Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, Abschnitt 3.4.
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Personen an. Die „soziale Differenzierung“ der Gesellschaft ist demnach nicht nur ein Prozeß der arbeitsteiligen Spezialisierung und der damit verbesserten „Anpassung“, sondern einer der Ko-Evolution mit allen drei weiteren TeilSystemen: Steigerung der Fähigkeit zum „goal attainment“ in der Politik, Steigerung der Inklusionsfähigkeit in die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ und fortschreitende Abstrahierung und Generalisierung der kulturellen Leitideen bei der „latent pattern maintenance“. Das klingt etwas abstrakt, und ist es durchaus auch. Vor allem Neil J. Smelser hat jedoch in inhaltlich interessanten Studien zum Prozeß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gezeigt, wie man sich in dem funktionalistischen Paradigma diese Ko-Evolution der Separierung gewisser funktionaler Sphären gedacht hat. Eines seiner Beispiele ist die Analyse des Wandels der Familienstrukturen im Zuge der industriellen Revolution mit ihren vielen Einzelheiten, wie etwa die gleichzeitige Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht und des Verbotes der Kinderarbeit.30 Im Zuge der Industrialisierung und der dadurch erzwungenen Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz wird die traditionelle landwirtschaftliche Haushaltsökonomie beseitigt, bei der die Kinder als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Hierdurch entsteht ein Freiraum für eine arbeitsunabhängige familiale Sozialisation und für die Einrichtung einer von der Familie wiederum unabhängigen schulischen Sozialisation, die es dann wiederum erlaubt, die von der industriellen Produktion her benötigten speziellen Qualifikationen zu vermitteln, die sich in der Familie selbst kaum beibringen lassen.
Der Kern des Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung ist also die Trennung der Funktionen, stets, auch etwa von Smelser und den anderen ParsonsSchülern, entlang den Vorgaben des AGIL-Schemas und als „Reaktionen“ eines kompletten „sozialen Systems“ und seiner Unter-Systeme gedacht. Für Parsons kam dann noch eine Besonderheit hinzu, die ganz dem ihm eigenen theoretischen System entsprungen ist: Der „Fortschritt“ der Gesellschaften bestehe auch darin, daß sie sich in ihren Strukturen immer mehr der Logik des AGIL-Schema annähern und daß sie die vier funktionalen Erfordernisse immer deutlicher als eigene Teil-Systeme ausdifferenzieren. Und je näher eine Gesellschaft dem Schema kommt, um so größer wäre seine evolutionäre Überlegenheit. Die nach diesem Schema konsequent durchdifferenzierte „moderne“ Gesellschaft wäre im Grunde nicht mehr gefährdet. Sie wäre ultra-stabil, und das gerade wegen ihrer Komplexität.
30
Vgl. Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1770-1840, London und Beccles 1959, S. 237ff., 286ff. Siehe auch Neil J. Smelser, Essays in Sociological Explanation, Englewood Cliffs, N.J., 1968, Kapitel 4: Sociological History: The Industrial Revolution and the BritishWorking Class Family, S. 76-91.
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Konkrete Analysen
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß das AGIL-Schema in den „funktionalistischen“ empirischen Studien zum sozialen Wandel immer nur als eine Art begrifflicher Folie für die Sortierung der historischen Beschreibungen verwendet wurde. Das Hauptinstrument ihrer „Theorie“ waren Vierfeldertafeln, die nach der „Logik“ des AGIL-Schemas mit konkreten Sachverhalten, Umständen oder Vorgängen gefüllt wurden, meist so, wie das Neil J. Smelser in seiner Auffüllung der zunächst leeren „theoretical boxes“ bei seiner Analyse der zunehmenden strukturellen Differenzierung der britischen Baumwollindustrie getan hat. Er schreibt zu Beginn der inhaltlichen Ausfüllung der Parsons-Kategorien: „This chapter parallels the preceding in outline. Instead of dealing with abstract units, relationships, and functions, however, we shall clothe the anonymous Social System S in empirical dress by applying it to an Industry C – specifically the cotton-textile industry. The empty analytical propositions ... will thereby become empirical propositons concerning the industry, which will serve in turn as framework for analysing its historical development.“ (Smelser 1959, S. 21)
Ein Beispiel? Bitte: Das Erfordernis der A-Funktion ist in der Baumwollindustrie die Bereitstellung von Kapital und innerhalb dieses Systems wird die I-Funktion von den „structural arrangements of capital“ wahrgenommen (ebd., S. 18 und 43). Und das in vier-mal-vier-gleich-sechszehn Feldern. Smelser sagt selbst, worum es sich bei dieser Art der funktionalen Analyse handelt: um ein begriffliches „framework“ der verschiedenen Bereiche und Vorgänge, die jetzt empirisch und „historisch“ durchgegangen werden. Viele, durchaus nicht gehaltlose, soziologische Studien nicht nur des sozialen Wandels, sind nach dieser Art entstanden, und auch heute gibt es noch manche Soziologen, wie Richard Münch aus Bamberg, früher Düsseldorf, die die Welt nur durch die Brille von Vierfeldertafeln sehen können – und sich wundern, daß das im Jahre 1999 für eine zufriedenstellende soziologische Erklärung nicht ausreicht. Warum das so ist, hat seinerzeit George C. Homans in einer beißenden Kritik am Funktionalismus klar gemacht, bei der er sich Smelser als einen von vielen besonders vorgeknöpft hat.31 Der Hauptpunkt bei Homans ist, daß die Funktionalisten immer dann, wenn sie wirklich etwas „erklären“ wollen, ihre kollektivistisch-systemtheoretische Rhetorik sofort aufgeben und, wie das auch jede richtige soziologische Erklärung tut, auf die situationsbezogenen 31
George C. Homans, Wider den Soziologismus, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen 1972, S. 53ff.
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Motive und Handlungen von Akteuren und die davon erzeugten kollektiven Folgen sieht. Beispielsweise „erklärt“ Smelser den sozialen Wandel der voranschreitenden strukturellen Differenzierung der Baumwollindustrie als eine Sequenz von sieben Schritten, deren erste so lautet: „(1) Dissatisfaction with the productive achievements of the industry or its relevant subsectors and a sense of opportunity in terms of the potential availability of adequate facilities to reach a higher level of productivity.“ (Smelser 1959, S. 29; siehe auch Smelser 1968, S. 79f.)
Was ist denn das? Sehr richtig: Es gibt Unzufriedenheiten und die Wahrnehmung von Opportunitäten für eine bessere Nutzenproduktion über einen höheren „level of productivity“ der jeweiligen Fabrik. Und wo gibt es diese Unzufriedenheiten und den „sense of opportunity“. Dreimal dürfen sie raten! Der zweite Schritt sind die mit den Änderungen ausgelösten „symptoms of disturbance“ bei der betroffenen Belegschaft und Bevölkerung – als unintendierter Effekt der Umstellungen in der Produktion. Und die wiederum lösen Bemühungen aus, die entstandenen Spannungen zu lösen – bis es schließlich im siebten Schritt zur Akzeptanz der Änderungen „as part of the standard of living and their incorporation into the routine functions of production“ kommt (ebd.). Also doch: Akteure sind unzufrieden, tun etwas dagegen, schaffen (unintendierte und intendierte) Folgen, die die Situation für andere Akteure und für sie selbst wieder verändern, die daraufhin etwas tun, was wieder Folgen hat ... und so weiter. Der einzige „funktionalistische“ Zug dieser Sequenz ist der stete Blick auf eine Erfolgsstory: Zum Schluß hat sich das System geändert und zu einem neuen Gleichgewicht gefunden, und alle Schritte waren – irgendwie – darauf ausgerichtet. In Köln sagt man „et hätt noch emmer jot jejange“. Es ist der Leitspruch des Funktionalismus (gewesen), der davon ausging, daß die sozialen Systeme, gibt es sie einmal, von selbst zu einem reproduktiven Gleichgewicht neigen. Wir wissen, daß das ohne Zweifel vorkommt. Wir wissen aber auch, daß es keine a-priori-Tendenz dazu gibt. Und so hat der Funktionalismus oft einfach übersehen, daß es Sequenzen auch in das definitive Ende eines sozialen Systems geben kann und keineswegs alles immer wieder einen „Anschluß“ findet. Manche waren über diese Blindheit für die vielen Kontingenzen gerade auch der funktionalen Reproduktion von sozialen Systemen, vor allem aber über die Chuzpe, mit der die Funktionalisten einerseits so taten als hätten sie mit ihrer System-„Theorie“ die soziologische Methode gefunden und andererseits aber unverhohlen „individualistisch“ argumentierten, wenn es ernst wurde, sehr empört. Und das, wie wir gesehen haben, nicht zu Unrecht. Zum Schluß seines Aufsatzes „Wider den Soziologismus“ läßt Homans dann auch
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Die Konstruktion der Gesellschaft
seinem Ärger darüber freien Lauf: Die Funktionalisten verstecken, wie auch alle anderen Makrosoziologen und Systemtheoretiker, so sollte man noch hinzufügen, ihre handlungstheoretischen Erklärungen unter dem Tisch und ziehen den Methodologischen Individualismus „verstohlen wie eine Flasche Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen“. (Homans 1972, S. 57). Und die brauchen sie so gut wie immer. Nicht nur Smelser. Evolutionäre Universalien und der Prozeß der Modernisierung
Wie kommt es zu der empirisch kaum zu bestreitenden Eigendynamik der funktionalen Durchdifferenzierung? Und warum ist dieser Prozeß empirisch offenbar in der Tat so stark, daß man fast von einem Ehernen Gesetz sprechen könnte, aus dem es kein Entrinnen gibt? Diese Frage hatte sich Max Weber schon gestellt. In der Vorbemerkung zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ lautet sie so: „ ... : welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“32
Talcott Parsons war mit Max Weber der Ansicht, daß der Prozeß der evolutionären Ausdifferenzierung von Gesellschaften ganz bestimmten und einzigartigen historischen Quellen und Konstellationen entsprungen ist und von dort aus – in einer Art unaufhaltsamer Eigendynamik – nach und nach die ganze Welt erfaßt (hat). Diese historische Quelle ist der „okzidentale Rationalismus“, die Welt des Westens also.33 Dafür gab es seiner Meinung nach einige davor liegende gesellschaftliche Ursprünge: das antike Israel und das antike Griechenland. Er nannte sie die „Saatbeet“-Gesellschaften (Parsons 1975, Kapitel VI). In ihnen seien die wichtigsten Voraussetzungen institutionalisiert gewesen, von denen letztlich jede evolutionäre Differenzierung ausgehe. Diese Voraussetzungen nannte Parsons evolutionäre Universalien.34 32
Max Weber, Vorbemerkung, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Auflage, Tübingen 1978b, S. 1; Hervorhebung so nicht im Original.
33
Vgl. dazu auch die Übereinstimmungen in so verschiedenen Beiträgen zu dieser These wie bei Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981a, Abschnitt II: Max Webers Theorie der Rationalisierung; oder bei Erich Weede, Der Sonderweg des Westens, in: Zeitschrift für Soziologie, 17, 1988, S. 172-186.
34
Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review, 29, 1964, S. 339-357; eine deutsche Übersetzung findet sich in Zapf 1971, S. 55-74.
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Für den Übergang von den einfachen Stammesgesellschaften zur ersten Zwischenstufe, den später von Niklas Luhmann so genannten stratifikatorisch differenzierten Staats- und Feudalgesellschaften (vgl. auch dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band ausführlich), sind zwei solcher evolutionärer Universalien nötig: die soziale Schichtung und die explizite kulturelle Legitimation der gesellschaftlichen Verhältnisse. Für die Entstehung der vormodernen großen Staats- und Feudalgesellschaften waren dann weiter die bürokratische Herrschaft und die Einführung von Märkten mit dem Tauschmedium Geld erforderlich. Beim Übergang von den strikt hierarchisch gegliederten stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften auf die funktional differenzierten „modernen“ Gesellschaften treten dann zwei weitere evolutionäre Universalien dazu: das universalistische Recht, das, im Anschluß an das Römische Recht, die staatliche und die kulturelle Sphäre von der eigentlich „rechtlichen“ der Mustererhaltung trennt; und die demokratische Assoziation, bei der die politische Herrschaft an die Zustimmung der Bevölkerung gebunden wird.
Die moderne Gesellschaft ist danach von einer doppelten Bewegung erfaßt: die Steigerung der weiteren Ausdifferenzierung und die damit einsetzende Erhöhung der Reproduktionsfähigkeit gegenüber allen anderen Gesellschaftstypen einerseits; und die wechselseitige Begrenzung der verschiedenen Vorgänge der Differenzierung derart, daß sich das System in seiner Dynamik sozusagen selbst immer wieder einfängt und sich selbst durch die gegenseitigen Beschränkungen immer wieder integriert. Niklas Luhmann hat diese Besonderheit später mit dem eigentlich etwas hilflosen, weil weiter nichts sagenden, Begriff der „Autopoiesis“ belegt. Die Voraussetzung für alles ist die Auflösung auch der letzten Reste an „Askription“ und an „Fundamentalismus“ und an einer Vorstellung, daß die Gesellschaft irgendwie von einem Zentrum, gemeinsam geteilten, inhaltlich spezifischen Werten oder bestimmten Grundstrukturen abhängig wäre, etwa einer guten Regierung, einer florierenden Wirtschaft, der Orientierung an einer politischen Utopie oder auch daran, daß die Juden, die Kapitalisten oder Gerhard Schröder an allem schuld wären. Insofern müßte man alle Gegenbewegungen zu dem geschilderten universalen Prozeß der evolutionären Ausdifferenzierung als mittelfristig nicht überlebensfähige Atavismen ansehen. In der Tat hat Parsons schon relativ früh vermutet, daß es die (stalinistische) Sowjetunion nicht mehr lange machen würde, und auch, daß der Nationalsozialismus eine Gesellschaftsform mit nur geringer evolutionärer Reproduktionskraft wäre (vgl. Parsons 1972, S. 158ff., 165ff.). In ähnlicher Weise müßte man von der Position des funktionalistischen Ansatzes des sozialen Wandels die derzeitigen fundamentalistischen Bewegungen und ethno-religiösen Konflikte in der Welt beurteilen: Es sind Gegenreaktionen gegen den weiter um sich greifenden universalen Prozeß der funktionalen Differenzierung, halten aber auf die Dauer der überlegenen differentiellen funktionalen Reproduktion der „Modernisierung“ nicht stand.
Das allgemeinste Kennzeichen der funktionalen Ausdifferenzierung als evolutionärer Prozeß ist, daß es keine spezifischen Leistungen, Ideen oder Strukturen mehr sind, auf die sich die Gesellschaft oder die Menschen stützen könnten. Die Teile werden einerseits immer spezifischer und individueller, der Zusammenhalt dagegen andererseits immer stärker auf universalistische, generalisie-
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rende und abstrakte, zunehmend „eigendynamische“ Mechanismen und Prozesse umgestellt. Und diesen Prozeß kann, so die Leitidee, niemand mehr aufhalten. Luhmann
Niklas Luhmann hat später daraus ganz konsequent die Konsequenz gezogen und gemeint, daß sich die moderne Gesellschaft sozusagen von ganz alleine weiterentwickelt, keinerlei besonderer Unterstützung durch die Menschen mehr bedürfe und daß es auch kein Teil-System mehr gebe, das irgendwie noch eine Leitfunktion innehaben könnte, wie das Parsons noch für das sog. kulturelle System vorgesehen hatte. Das alles war bei dem (späten) Parsons allerdings schon deutlich angelegt, und Luhmann hat Parsons sozusagen nur weitergeschrieben, wo dieser nicht mehr weiter wollte. Und er hat dabei auch noch den letzten Rest von „Durkheim“ aus „Parsons“ ausgeschieden: die Vorstellung nämlich, daß es zur Integration auch in den komplexen Gesellschaften noch der „Solidarität“ bedürfe. Die funktionieren, so Luhmann, ohne jede kulturellen Werte und ohne jede kollektive Orientierung. Die modernen Gesellschaften haben endgültig keine „gesellschaftliche Gemeinschaft“ mehr nötig, sondern sind, etwas anders ausgedrückt, zu Märkten geworden und nur noch „Gesellschaft“ im Sinne von Ferdinand Tönnies (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band). Modernisierung
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels hat, wie wir auch am Beispiel der Analyse von Smelser gesehen haben, stets einen – mehr oder weniger offenen – teleologischen Zungenschlag gehabt, obwohl wohl niemand seiner Vertreter an ein wirklich apriorisches Ziel oder an irgendeine „Vorsehung“ dachte. Aber man hielt (und hält weiterhin hier und da) offenbar die selbsttragenden Eigendynamiken des Vorgangs für so stark, daß die Hypothese von einer gewissen Unvermeidlichkeit und Unumkehrbarkeit nicht allzu waghalsig erschien. Als der wohl vorläufig letzte Vertreter der These von der Unvermeidlichkeit und Unumkehrbarkeit der funktionalen Differenzierung der ganzen Welt kann auch wiederum Niklas Luhmann gelten. Er hat sie in seinem theoretischen Testament, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ von 1997, noch einmal bekräftigt, wenngleich mit gewissen Vorbehalten der möglichen Heraufkunft einer neuen „Leitdifferenz“, der von „Inklusion und Exklusion“ nämlich (vgl. dazu auch schon Kapitel 5 in diesem Band).
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Die These von der Unvermeidlichkeit der weiteren funktionalen Differenzierung, der Durchrationalisierung und der unumkehrbaren Entzauberung der Welt ist vor allem in den 60er Jahren und im Kontext der Hochblüte des soziologischen Funktionalismus einmal sehr populär gewesen. Sie hat ihren deutlichsten Niederschlag in einer speziellen Variante der funktionalistischen Theorie des sozialen Wandels gefunden – in den sog. Modernisierungstheorien (vgl. dazu u.a. die Beiträge von Gabriel A. Almond, Joan Robinson, Walt W. Rostow, Shmuel N. Eisenstadt, Karl W. Deutsch, Daniel Lerner oder Reinhard Bendix in dem Sammelband von Wolfgang Zapf 1971). Die Modernisierung wird in diesen Ansätzen als die Ko-Evolution von mindestens zwei Prozessen verstanden: der Industrialisierung der ökonomischen Produktion und der Differenzierung der sozialen Struktur der Gesellschaften, einschließlich der kulturellen und der normativen, neben der ohnehin zentralen funktionalen, Differenzierung also. Das Vorbild war der „take off“ der europäischen Staaten im 19. Jahrhundert, der jetzt auf die „Entwicklung“ der dann auch so genannten Entwicklungsländer übertragen wurde. Ganze Listen von als notwendig, teilweise sogar als hinreichend gedachten Bedingungen wurden dafür zusammengestellt: die Bereitstellung einer gewissen materiellen Infrastruktur, wie Eisenbahn- und Straßennetze und das nötige Humankapital bei der Bevölkerung, die Demokratisierung der Politik als wichtigste institutionale Voraussetzung und die Diffusion gewisser kultureller Wertvorstellungen, wie etwa die protestantische Ethik oder ein funktionales Äquivalent dazu. Typischerweise werden dabei dann drei (bzw. vier) Phasen unterschieden: die vorindustrielle, die frühindustrielle, die spätindustrielle und die postindustrielle (oder postmoderne) Phase einer „reflexiven Modernisierung“, wie es auch manchmal heißt. Die verschiedenen Phasen lassen sich durch das Übergewicht bestimmter Sektoren der Beschäftigung kennzeichnen: die frühindustrielle Phase durch das Übergewicht des primären Sektors der landwirtschaftlichen Produktion, die frühindustrielle über das Aufkommen des sekundären Sektors der industriellen Produktion, die spätindustrielle Phase über den Übergang zum tertiären Sektor der Dienstleistungen und schließlich die postindustrielle Phase durch das Vordringen des quartären Sektors der Verarbeitung und Verbreitung von Wissen und Informationen.
Inzwischen hat sich zwar gezeigt, daß die „Entwicklung“ hin zur Modernisierung ein sehr viel verschlungenerer Weg ist, als damals in den 60er Jahren mancher geglaubt hat. Und viele Schwellenländer sind wieder auf einen Stand abgerutscht, der ihre weitere Entwicklung kaum denkbar erscheinen läßt. Aber empirisch findet ein solcher Prozeß ohne Zweifel statt, und es gibt viele theoretische Gründe, warum das auch kaum anders zu erwarten ist. Nahezu überall haben sich beispielsweise die Gewichte in den Sektoren der Beschäftigung in der Tat in der beschriebenen Sequenz verlagert – und sie tun das auch weiter. Und manches, was wie ein „Rückschritt“ bei der Modernisierung aussieht, wie die nationalistischen, ethnischen und religiösen Partikularbewegungen in der Folge der Transformation nach 1989, ist vielleicht nur ein kleiner Schlenker auf dem breiten Pfad der Globalisierung, auf dem die ganze Welt sich inzwischen offenbar befindet.35
35
Vgl. dazu Hartmut Esser, Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, 17, 1988, S. 246f.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Besonderheiten des funktionalistischen Ansatzes
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels läßt sich über die drei o.a. Dimensionen dann so beschreiben: Er geht nicht von den Konflikten als bewegendem Mechanismus aus, sondern von der differentiellen funktionalen Reproduktion von Gesellschaften in evolutionärer „Konkurrenz“ zu den jeweils anderen. Im Grunde ist der Weg weitgehend auch schon – von den Anfängen in den Saatbeet-Gesellschaften ausgehend – endogen angelegt. Die Überwindung der verschiedenen Schwellen des Übergangs von der segmentären zur stratifikatorischen und von dort zur funktionalen Differenzierung ist dann allerdings wieder von gewissen „exogenen“ Umständen, gelegentlich sogar zufälligen Konstellationen abhängig, wie etwa die Entstehung erster Formen der sozialen Schichtung in den Gartenbaugesellschaften oder die „Demokratisierung“ der Adelsgesellschaften durch den ökonomisch erzwungenen Verkauf von Privilegien an Nicht-Adlige, wovon dann der ganze Prozeß einen neuen Schub erhalten konnte (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). Sicher ist die funktionalistische Theorie des sozialen Wandels nicht teleologisch in dem Sinne, wie das Karl Marx für seine Theorie angenommen hatte. Aber es ist, wie wir vor allem an den sog. Modernisierungstheorien gesehen haben, schon eine Art von Quasi-Teleologie gewesen: Alle Gesellschaften werden schließlich von dem Prozeß der funktionalen Differenzierung erfaßt, und die endgültige Modernisierung der Welt ist nur eine Frage der Zeit. 7.5.3 Sozialer Wandel als multilineare Evolution
Dem funktionalistischen Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist schon während seiner Blüte in den 60er Jahren viel vorgehalten worden: Er sei zu sehr an den Gleichgewichten orientiert gewesen, er habe die Bedeutung von Konflikten und endogener Prozesse der Spannungserzeugung unterschätzt und er sei im Grunde gar nicht explanativ, weil man mit „Leitformeln“ wie dies das AGILSchema eine ist, nicht wirklich erklären könne. Vor allem aber wurde ihm vorgehalten, nur eine „unilineare“ Entwicklung zu kennen, und daß dies weder allgemein auf den sozialen Wandel noch gar auf jenen speziellen Fall des Wandels, den der Modernisierung, zutreffe. Und in der Tat. Die Modernisierung war und ist alles andere als ein froher Weg in eine differenzierte Zukunft.36 Die Ausdifferenzierung funktionaler Sphären ist ein zunächst ganz und gar un-
36
Vgl. zu dieser Korrektur der unilinearen Konzepte der Modernisierung insbesondere Dietrich Rüschemeyer, Reflections on Structural Differentiation, in: Zeitschrift für Soziologie,
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wahrscheinlicher Prozeß und an viele einzelne Bedingungen gebunden. Es „muß“ einen gewissen nachhaltigen „Druck“ zur Einrichtung von arbeitsteiliger Spezialisierung geben, wie etwa die Zunahme der Bevölkerung. Weil es sich bei der Spezialisierung um ein soziales Dilemma handelt, bei dem normalerweise zu erwarten ist, daß sich niemand daran beteiligt, weil er sich zunächst einseitig von allen anderen abhängig macht, muß es selektive Anreize geben und/oder gewisse Versicherungen, daß die Spezialisierung nicht ausgenutzt wird (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Allein deshalb dürfen auch bei jedem einzelnen „Schub“ an funktionaler Differenzierung die unvermeidlichen Kosten, wie Anomie, Entfremdung, ohne Zweifel auch für gewisse Teile der Bevölkerung materielle Not und Ausbeutung, nicht zu hoch sein. Die „evolutionäre“ Ausdifferenzierung verläuft allein daher nicht ohne Gegenbewegungen, nicht ohne Stagnationen oder auch Regredierungen auf „vormoderne“ Verhältnisse, wie etwa im Iran, in Rußland oder im ehemaligen Jugoslawien. Die soziale Differenzierung kann auch dauerhaft gestoppt werden, wenn die Folgeprobleme keine institutionelle Lösung finden oder die Machteliten andere Verhältnisse auch gegen den mainstream durchzusetzen vermögen, wie etwa derzeit in China oder in Kuba. Es kann auch zu enormen Schüben einer partiellen Modernisierung und gleichzeitig zu grausigen Formen des Rückfalls in die Barbarei kommen, wie im sog. Dritten Reich, zur Persistenz kastenähnlicher Verhältnisse inmitten einer weit getriebenen Modernität, wie in den USA mit der Quasi-Kaste der Farbigen, oder zu ReFeudalisierungen bereits moderner Gesellschaften, wie in den westeuropäischen Gesellschaften in der Folge der Arbeitsmigration.
Die allgemeine theoretische Lehre aus allen diesen Beobachtungen liegt auf der Hand, und sie ist mit dem neueren Konzept der Evolution eigentlich ganz selbstverständlich: Es gibt vielleicht zwar empirische „Richtungen“ des Wandels, aber es gibt keine Unvermeidlichkeit, keine Unumkehrbarkeit und kein festes Ziel der „Entwicklung“. Kurz: Es gibt kein „Gesetz“ des sozialen Wandels und auch keines einer unilinearen Evolution. In Abschnitt 7.2 haben wir gesehen, wie man sich das vorzustellen hat: Die Beobachtung einer unilinearen Sequenz muß theoretisch in verschiedene Schritte zerlegt werden, und dann wird klar, daß an jedem Übergang ein neues Erklärungsproblem beginnt und daß jeweils auch ganz neue externe Ereignisse eintreten können, die den „endogenen“ Pfad der Entwicklung stoppen, umkehren oder auf eine ganz andere Bahn mit einer evtl. neuen eigenen Entwicklungsdynamik zu bringen vermögen. Das ist das Konzept der multilinearen Evolution (vgl. dazu die Zusammenfassung bei Randall und Strasser 1979, S. 82ff.). Es besagt, daß sich die Gesellschaften der Menschen entlang von unterschiedlichen Pfaden entfalten und ganz verschiedene Typen von Gesellschaften mit ihrer jeweils eigenen Entwicklungsdynamik hervorbringen können, wobei sich die verschiedenen koexistierenden Pfade und Typen wiederum gegenseitig zu beeinflussen vermögen. 3, 1974, S. 279-294; Dietrich Rüschemeyer, Structural Differentiation, Efficiency, and Power, in: American Journal of Sociology, 83, 1977, S. 1-25; Dietrich Rüschemeyer, Power and the Division of Labour, Stanford 1986. Siehe auch: Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 239ff.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Es ist eigentlich nichts weiter als die konsequente Anwendung der Grundgedanken der (neueren) Evolutionstheorie der differentiellen Reproduktion der Arten auf die Gesellschaften der Menschen. Wichtige frühe Vertreter dieser Konzeption waren die Anthropologen Marshall D. Sahlins und Elman R. Service. Neuere Beiträge sind die von Marvin Harris, Stephen K. Sanderson und Gerhard bzw. Jean Lenski.37 Die Grundregeln des Konzeptes
Von Michael Schmid stammt eine programmatische aktuelle Zusammenfassung der theoretischen Grundannahmen dieser Konzeption.38 Es ist letztlich nichts anderes als die Anmahnung, bei der „evolutionären“ Erklärung des sozialen Wandels die Regeln und die inzwischen vorhandenen Möglichkeiten des Modells der soziologischen Erklärung auch wirklich anzuwenden und von jeder Vorstellung übergreifender makrosoziologischer „Gesetze“ abzurücken. Und das heißt: Es muß eine Mikrofundierung der Prozesse und Mechanismen geben. Dazu bedarf es einer expliziten handlungstheoretischen Grundlage, aus der sich die Folgen der situationsbezogenen Reaktionen der Akteure auf die sich ändernden Umstände ableiten lassen. Und die Folgen müssen wieder zu den situationalen Umständen „rekursiv“ rückverbunden werden, möglichst unter Angabe bestimmter Mechanismen und Regelmäßigkeiten der „strukturellen Selektion“. Die Grundphilosophie dieser „Theorie der strukturellen Selektion“ faßt Schmid dann so zusammen: „Will man das Kernmodell der revidierten soziologischen Evolutionstheorie in einem Satz beschreiben, dann wird man sich auf den Hinweis beschränken können, daß Akteure auf der Suche nach einer Lösung ihrer unausrottbaren Abstimmungsprobleme Regulierungsvorschläge machen, über deren differenzielle Reproduktionschancen ihrerseits regelbasierte, ressourcenabhängige Selektionsmechanismen entscheiden, deren kaum vorhersagbare Evolution nach demselben Muster von Regelvariation und Regelselektion verläuft, wobei veränderte Interessenslagen, unerwartete bzw. aversive Handlungsfolgen sowie die Erschöpfung von Ressourcenausstattungen und Kom37
Siehe Marshall D. Sahlins und Elman R. Service (Hrsg.), Evolution and Culture, Ann Arbor 1960; Stephen K. Sanderson, Macrosociology. An Introduction to Human Societies, 2. Aufl., New York 1991; Sanderson 1990, Kapitel 10; Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gerhard Lenski und Jean Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl., New York u.a. 1987; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York 1989. Vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band.
38
Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Soziales Handeln und strukturelle Selektion. Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 264ff.
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petenzen jenen Veränderungsdruck hervorrufen, auf den die Akteure mit gleichbleibend unsicheren Erfolgsaussichten reagieren oder aber die soziale Bühne verlassen müssen.“ (Schmid 1998, S. 278f.)
Das war in der Tat ein Satz, wennzwar ein langer, aber auch ein eindeutiger. Stephen K. Sanderson faßt die gleiche Grundidee sehr viel ausführlicher in neun Regeln einer seiner Ansicht nach angemessenen Erklärung des evolutionären sozialen Wandels zusammen. Sie lauten: „1. recognize general directional trends in world history, while at the same time acknowledging the importance of many forms of historical uniqueness and divergence; 2. eschew any sort of developmentalist explanatory principle, i.e., refuse to explain directional trends in world history as the result of some sort of unfolding of a predetermined pattern from beginning to end; a good evolutionary theory is antidevelopmentalist and antiteleological; 3. adopt a multidimensional materialist conception of explanation emphasizing the causal priority of demographic, ecological, technological, and economic factors (while at the same time allowing for a certain amount of ‚superstructural feedback‘); moreover, it would explicitly recognize that which of these factors (or which combination of factors) is most causally significant varies from one historical period and type of social transformation to another; 4. start with the assumption that evolutionary events are adaptations, while at the same time recognizing that these adaptations may not lead to any absolute improvement in adaptedness (and in fact may be associated with decreases in overall absolute adaptedness); it therefore eschews any identification of evolutionary transformation with social progress; 5. make the individual, rather than some abstract social system, the unit of adaptation and thus assume that evolutionary events are somehow rooted in the cost-benefit calculations of individuals caught up in particular circumstances; 6. see evolutionary events as the product of human agency, while recognizing that much of what happens in these events is different from, or even contradictory to, human intentions; in other words, a good evolutionary theory takes seriously Giddens’s notion of the duality of structure in social life; 7. eschew any strict endogenism with respect to the ‚location‘ of evolutionary events; sociocultural evolution occurs not only within societies, but also within whole networks or ‚world-systems‘ of societies, and it is often impossible to understand evolution within a single society without situating that society within its larger ‚world-systemic‘context; this is especially true in the modern capitalist world, but it is also true to a considerable extent in many precapitalist social systems; 8. assume that both ‚gradualist‘ and ‚punctuationalist‘ forms of change characterize the social evolutionary record; the pace of change varies from one historical situation to another, and it is a matter for empirical study; 9. eschew any overly close identification of sociocultural evolution with biological evolution; while the two forms of evolution have much in common, and thus while social evolutionists can learn from biological evolutionists, theories of social evolution must be formulated and evaluated largely on their own terms“. (Sanderson 1990, S. 223f.)
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Die Konstruktion der Gesellschaft
Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Es ist der letzte Stand der Dinge. Nicht ohne Grund gehen nahezu alle aktuellen soziologischen Beiträge zum sozialen Wandel davon aus, daß es zwar unter Umständen Richtungen des sozialen Wandels gibt, daß es sich dabei aber um ein Geschehen handelt, das nur noch als Resultat komplexer „polykontextoraler“ Prozesse von in „Figurationen“ verflochtenen Akteuren verstanden werden kann, die den sozialen Wandel, etwa die KoEvolution der abendländischen Zivilisation und der Affektkontrolle der Menschen, wie sie Norbert Elias so eindringlich beschrieben hat, unabhängig und auch gegen ihre Absichten hervorbringen.39 Die Besonderheiten des Konzeptes der multilinearen Evolution
Das Konzept der multilinearen Evolution entspricht, bis in die Einzelheiten, wie man an den allgemeinen Äußerungen von Schmid und an den neun speziellen Regeln von Sanderson leicht sieht, vollauf dem Konzept einer richtigen soziologischen Erklärung. Die sich in funktionalen Gleichgewichten der Reproduktion vollziehende Nutzenproduktion und deren materiellen und institutionellen Grundlagen und kulturellen Rahmungen sind der Kern des Geschehens, und – exogene wie endogene – Änderungen an einzelnen Stellen ziehen Änderungen an anderen Stellen und im ganzen „System“ der Nutzenproduktion nach sich. Bei der Analyse des Geschehens werden daher sowohl die funktionalen Gleichgewichte wie die inneren und äußeren Spannungen, die endogenen Verkettungen wie die exogenen „Störungen“, wie auch die „kausale“ Eigendynamik und die evolutionäre Offenheit als jeweils gleichermaßen mögliche Varianten der Vorgänge beachtet. Und es führt, weil es die übergreifenden und vereinfachenden „Gesetze“ des sozialen Wandels nicht gibt, auch kein Weg an der oft mühevollen Rekonstruktion des sozialen Wandels als Sequenz von Makro-Mikro-MakroÜbergängen vorbei. Das Modell der soziologischen Erklärung wäre daher die Methode der Wahl für jede Analyse des sozialen Wandels, auch wenn viele, die intuitiv den gleichen Grundgedanken haben, nicht viel davon wissen (wollen) und meinen, daß es ausreiche, die nicht selten komplizierten Zusammenhänge, etwa der Aggregation und der Transformation der individuellen Effekte in die emergenten evolutionären Prozesse und Strukturen, bloß verbal zu beschreiben, in Kästchen aus dem verstaubten Fond des AGIL- Funktionalismus einzusortieren oder mit neumodischen systemtheoretischen oder postmodernistischen Vokabeln nur noch einmal zu wiederholen, was man gerade sieht. 39
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band 1 und 2, Frankfurt/M. 1976a,b.
Sozialer Wandel
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Vor allem aber ist jetzt jeder Rest an Teleologie und an der Vorstellung aufgegeben, als gäbe es so etwas wie übergreifende „Gesetze“ der Evolution und des sozialen Wandels und als hätten die Menschen mit allen diesen Vorgängen nichts zu tun. Natürlich haben sie damit zu tun. Wer denn sonst? Und das gilt auch dann, wenn die einzelnen Akteure und Beobachter des Geschehens oft den Eindruck haben, daß die „Geschichte“ über ihre Köpfe hinwegfegt und sich niemand dagegen sträuben kann.
Kapitel 8
Soziologie und Geschichte
Mit dem Ende des Traumes von den soziologischen Bewegungsgesetzen der Gesellschaft und mit dem Konzept der nach vorne offenen multilinearen Evolution sind wir bei einem uralten und bis heute nicht gelösten Problem angelangt – dem Verhältnis von Soziologie und Geschichte. Denn: Wenn es keine besonderen soziologischen „Gesetze“ des sozialen Wandels gibt und wenn alles ohnehin auf die situationslogische Rekonstruktion der sozialen Prozesse und auf die Beschreibung der Randbedingungen einschließlich gewisser „exogener“ Ereignisse hinausläuft – was tun denn die Historiker dann anderes als das, was eine gute soziologische Erklärung verlangt? Und müssen dann nicht die Soziologen, wenn sie an die Rekonstruktion der Situationslogiken gehen, denen die Akteure unterworfen sind, eigentlich genauso vorgehen wie die Historiker? Und was ist dann mit den altehrwürdigen Abgrenzungen, etwa zwischen Einmaligkeit und Allgemeinheit, Verstehen und Erklären, Sinn und Kausalität, Freiheit und Notwendigkeit und dergleichen, an die sich die Soziologen und die Historiker so sehr gewöhnt haben und aus denen sich eine lange Zeit die gegenseitigen Abgrenzungen, Vorhaltungen, Überlegenheitsansprüche – und Einseitigkeiten – speisten? Ein Beispiel: der Zerfall von Jugoslawien Wir wollen das etwas sperrige Thema des Verhältnisses von Soziologie und Geschichte mit einer „Geschichte“ beginnen – dem traurigen Kapitel des blutigen Zerfalls von Jugoslawien zu Beginn der 90er Jahre mit seinen teilweise unglaublichen Einzelereignissen und vor allem mit dem Ausbruch ethnoreligiöser Feindseligkeiten, die man am Ende des 20. Jahrhunderts eigentlich nicht für möglich hätte halten sollen.1 Ohne Zweifel handelt es sich dabei um 1
Vgl. für Zusammenfassungen der Abläufe und Hintergründe u.a. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/M. 1996; George Schöpflin, The
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einen „sozialen Wandel“ und auch um ein historisch „einmaliges“ Ereignis: Es gibt auch andere Fälle regionaler Konflikte, des Zusammenbruchs von Nationalstaaten und der Aufteilung eines zuvor integrierten Staates in autonome Teilgebiete, wie etwa der amerikanische Bürgerkrieg, die Auflösung des österreichischen Kaiserreiches nach dem Ersten Weltkrieg oder die Teilung der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei in den 90er Jahren. Und ebenso ohne Zweifel gab und gibt es den Fall Jugoslawien und die historischen Figuren eines Tito oder eines Milošević so nicht noch einmal, und alles, was jetzt noch geschehen mag, kann schon logischerweise keine Wiederholung der Vergangenheit sein, weil dann die Vorgeschichte der Geschichte ja schon wieder eine andere ist als zuvor. Alles in der Welt, auch das, was in der unbelebten Natur vor sich geht, ist strenggenommen „historisch“ und „einmalig“. Jedesmal aber dreht es sich im Grunde um die gleiche Frage, egal ob Historiker oder Soziologen sie stellen: Wie konnte geschehen, was passiert ist? Und um hierauf eine Antwort zu finden, muß man natürlich erst einmal aufschreiben, was sich tatsächlich ereignet hat. Jede Erklärung historischer Vorgänge beginnt also mit einer Beschreibung – mit der Beschreibung des Explanandums nämlich und den vielen Ereignissen, die für die Erklärung als Randbedingungen wichtig sein könnten. Diese „historische“ Beschreibung muß irgendwo beginnen und sie kann auch nicht alle Einzelheiten nennen. Jeder Beschreibung liegen also schon Zusammenfassungen und Abstraktionen zugrunde, und es gibt zunächst auch wenig Anhaltspunkte, wie genau man sein muß. Meist geht das nicht ohne irgendeine – und sei es eine noch so vage – vorgängige Vorstellung von einer Erklärung des Geschehens, und sei es auch nur als Abfolge einer bestimmten Sequenz typischer Phasen. Wir wollen die folgende Skizze der Abläufe daher auch schon in vier Teile untergliedern, die durch jeweils ganz einschneidende historische Daten gekennzeichnet sind: die Vorgeschichte des Konfliktes bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die Phase der staatlichen Einheit unter Tito, die Erosion des Systems nach dem Tod von Tito und der endgültige Ausbruch des Bürgerkrieges im Sommer 1991 im Zuge des Zusammenbruchs des sog. Ostblocks insgesamt. Auf die danach einsetzenden Ereignisse, wie auf den Konflikt in Bosnien-Hercegowina 1995 oder den Krieg im Kosovo 1999, werden wir nicht weiter eingehen.
Zuerst also in aller Kürze die Vorgeschichte. Jugoslawien entstand als staatliches Gebilde am 1. Dezember 1918 als Zusammenfassung der Völker der Serben, Rise and Fall of Yugoslavia, in: John McGarry und Brendan O’Leary (Hrsg.), The Politics of Ethnic Conflict Regulation. Case Studies of Protracted Ethnic Conflicts, London und New York 1993, S. 172-203; Barry R. Weingast, Constructing Trust: The Political and Economic Roots of Ethnic and Regional Conflict, in: Karol Soltan, Eric M. Uslaner und Virginia Haufler (Hrsg.), Institutions and Social Order, Ann Arbor 1998, S. 176-180; Russell Hardin, One For All. The Logic of Group Conflict, Princeton, N.J., 1995, S. 156163; sowie verschiedene Einzelbeiträge bei Josip Furkes und Karl-Heinz Schlarp (Hrsg.), Jugoslawien: Ein Staat zerfällt. Der Balkan – Europas Pulverfaß, Reinbek 1991; oder neuerdings in Dunja Melčić (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Opladen und Wiesbaden 1999.
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Kroaten und Slowenen unter einer Nation. Es erhielt seinen Namen jedoch erst im Jahre 1929. Seine Gründung war die Folge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere des Zusammenbruchs des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn. Sie folgte den schon im 19. Jahrhundert, wie auch anderswo in Europa, aufkommenden Ideen der übergreifenden nationalen Einigung von bis dahin unterschiedlichen Gruppierungen, „Stämmen“ und „Völkern“ unter einem staatlichen Dach. Hier war das die Idee des „Illyrismus“, die Annahme einer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Verwandtschaft der in dem Gebiet des Balkan lebenden Slawen. Einer der Hintergründe dieser Vorstellung war dabei die gemeinsame Gegnerschaft gegen die österreichische Herrschaft, die alle damals bestehenden Unterschiede überlagerte, so wie es etwa die deutsche Nationalstaatsbewegung kaum ohne die napoleonischen Eroberungen gegeben hätte. Von Beginn an litt der neue Staat jedoch, bei allen Interessengemeinsamkeiten der Gruppen und Völker, unter enormen Integrationsproblemen, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Unterschieden auf sehr verschiedenen Dimensionen ergaben: massive Unterschiede in den Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen, separierte Arbeits- und Warenmärkte und – vor allem – ein deutliches Gefälle in der ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen den von den Slowenen und Kroaten mehrheitlich bewohnten Regionen im Norden einerseits und den von den Serben im Süden andererseits. Erst nach längerem Tauziehen wurde 1921 eine zentralistische Verfassung für den ganzen Staat erlassen, die jedoch der Gegenstand dauerhafter Auseinandersetzungen blieb. Der Grund dafür war auch leicht einzusehen: eine deutliche „Statusinkonsistenz“ zwischen den Serben einerseits und den Kroaten bzw. Slowenen andererseits sowie ein daran anknüpfender „konstitutioneller“ Konflikt: Die Serben hatten die politische Vorrrangstellung inne, die Kroaten und die Slowenen die ökonomische. Das speiste die Auseinandersetzungen um die grundlegende Frage einer stärkeren Zentralisierung des Staates oder einer stärkeren Föderalisierung – wobei Sie dreimal raten dürfen, wer für die Zentralisierung und wer für die Föderalisierung war. Das Problem wurde dann noch einmal durch den Sachverhalt verschärft, daß es sowohl Serben gab, die auf kroatischem (und slowenischem) Gebiet lebten, wie Kroaten (und Slowenen), die in Serbien wohnten.
Alles aber hielt zusammen, weil es dafür eine Reihe, wenngleich verschiedener guter Gründe für jede der Gruppen gab und weil jede Gruppe von der Einheit immer noch mehr hatte als von der Selbständigkeit. Aber das Gleichgewicht war nur labil und von einer Reihe von blutigen Ereignissen durchzogen. Und daher war es kein Wunder, daß der Staat mit dem Überfall durch die Nazis im Jahre 1941 sofort kollabierte. Die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg verschärften dann die zuvor, trotz aller auch blutigen Einzelvorfälle, eher nur latenten Gegensätze auf eine dramatische Weise: Kroatien begann unter dem nazitreuen UstasaRegime ab 1941 mit Unterstützung durch die deutsche Besatzung mit grausamen
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„ethnischen Säuberungen“ in den serbischen Siedlungsgebieten, und in Serbien verfolgten die nationalistisch und monarchistisch gesonnenen Cetnics den Traum eines großserbischen Reiches mit nicht minder gewalttätigen Mitteln. Nach dem Krieg hatte jede Gruppe über die andere einen anderen, für sie jeweils gleichermaßen einsichtigen Grund zur Empörung: Die Kroaten waren für die Serben allesamt Vertreter des Ustasa-Staates, der mit den Nazis kollaboriert und mit ihnen den Krieg verloren hatte, und die Serben waren für die Kroaten allesamt monarchistisch gesonnene Zentralisten, die von einem Jugoslawien unter serbischer Vorherrschaft träumten – und rückständige Nutznießer der Befreiung durch die Partisanen und des nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten kommunistischen Tito-Staates. So weit die Vorgeschichte. Nun die zweite Phase: die Zeit der staatlichen Einheit und der ethnischen Koexistenz unter Tito. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die Führer der kommunistischen Partisanenbewegung die Macht im zuvor zerschlagenen jugoslawischen Staat, der nun unter dem vormaligen Partisanengeneral Tito als sozialistische Bundesrepublik wieder eingerichtet wurde. Ihre uneingeschränkte Vorrangstellung verdankten die Partisanen und Tito dem militärischen Sieg über die deutsche Besatzung und der Annahme der breiteren Bevölkerung in Jugoslawien insgesamt, daß es nur mit ihrer Hilfe einen Ausweg aus den für unüberbrückbar gehaltenen Gegensätzen zwischen den (Ustasa-)Kroaten und den (Cetnic-)Serben geben könne: „In 1945, they (die Partisanen; HE) were definitely the masters“. (Schöpflin 1993, S. 179) Bald aber lebte auch unter dem kommunistischen Regime der alte Streit zwischen den serbischen Zentralisten und den kroatisch-slowenischen Föderalisten wieder auf. Der Hintergrund für diesen Streit war der gleiche wie zuvor: deutliche Unterschiede in den wirtschaftlichen Ressourcen hier und in der politischen Macht dort. Dabei spielten durchaus auch die mit der politischen Zentralisierung verbundenen Ansprüche auf Transferzahlungen von den wirtschaftlich entwickelten, aber politisch peripheren kroatisch-slowenischen Regionen des Nordens an die wirtschaftlich rückständigen, aber politisch zentralen serbischen Regionen des Südens eine wichtige Rolle – und der Widerstand des kroatisch-slowenischen Nordens dagegen. Hinzu traten die fast „perfekten“ Übereinstimmungen der regionalökonomisch-politischen Konfliktlinien mit ethnischen, kulturellen und auch sprachlichen Grenzen und – insbesondere – mit der religiösen Zugehörigkeit: als Träger des kulturellen und politischen Lebens spielte bei den Serben die orthodoxe Kirche und bei den Kroaten (bzw. bei den Slowenen) die katholische Kirche eine zentrale Rolle. Als dritte ethno-religiöse Gruppe traten nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Dach des Titoismus dann auch noch die bosnischen Muslime auf. Daß diese Gruppe jetzt auch bemerkt wurde und sich bemerkbar machte, war die Folge der noch einmal besonderen ethno-religiösen Verhältnisse in Bosnien-Hercegowina, das sich sozusagen zwischen den beiden Blöcken der Kroaten und Slowenen einerseits und der Serben andererseits wiederfand. Alles das trug später zu einer nicht unbeträchtlichen weiteren Verkomplizierung der Situation im Balkan bei.
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Unter Tito verschwinden also die ethno-regionalen Konflikte nicht, sie sind aber deutlich entschärft, wenngleich die strukturellen Hintergründe geblieben sind. Es folgt nun eine längere Zeit der friedlichen Koexistenz, nicht zuletzt auch der Bevölkerung in den ethnisch gemischten Gebieten. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, und nicht der geringste davon ist die charismatische Gestalt Titos selbst. Wichtiger als seine „Persönlichkeit“ sind aber die von ihm getroffenen institutionellen Maßnahmen zur Integration des Landes und zur Erhaltung des Gleichgewichts zwischen den Gruppen und Regionen gewesen. Drei Dinge sind es insbesondere, die dazu beitragen. Erstens wurden nun viele Entscheidungen dezentralisiert, so daß die serbisch kontrollierte Zentrale an Macht verlor und – insbesondere – ihr politisches und militätisches Potential nicht einfach gegen die anderen Gruppen einsetzen konnte. Tito verbot zweitens jede Möglichkeit der politischen Beschwerde der Gruppen gegeneinander. Und drittens wurde für die Entscheidungen, die den Gesamtstaat betrafen, das Veto-Recht eingeführt. Alles das hatte zur Folge, daß keine der Gruppen einen Alleingang der jeweils anderen befürchten mußte und daß sich – bei allen Interessengegensätzen – ein gewisses Klima des gegenseitigen Vertrauens herausbilden und stabilisieren konnte.
Mit dieser aus der bestehenden latenten Konfliktkonstellation nahezu unvermeidlichen und besonders in den 70er Jahren vorangetriebenen Föderalisierung Jugoslawiens aber war der Keim für die folgenden offenen Konflikte schon gelegt: Die Republiken wurden zu (Teil-)Zentren auch der politischen Macht oder sahen sich zumindest als solche. Alles ging noch leidlich gut, solange die Wirtschaft florierte und es im Rahmen der inzwischen verfestigten Ost-West-Ordnung keine Alternative zur Einheit Jugoslawiens gab, ja man sich zeitweise sogar im Prestige der erstarkenden Sowjetunion sonnen und an die Einheit der Arbeiterklasse glauben konnte, mit deren Sieg alle ethnischen und religiösen Gegensätze, wie es schien, überwunden waren. Aber die latenten Probleme und Konflikte zwischen den Gruppen und Regionen waren natürlich nicht verschwunden. Und diese Konflikte traten daher auch sofort wieder in den Vordergrund als gegen Ende der 70er Jahre Titos Macht und Charisma, nicht nur seines voranschreitenden Alters wegen, zu schwinden begannen und als auch die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte und es zu ernsten ökonomischen Problemen kam. Mit Titos Tod am 4. Mai 1980 endet die zweite Phase. Nun erwachen überall nationalistische Bewegungen, und 1981 kommt es beispielsweise im Kosovo zu schon blutigen Unruhen, als die dort lebenden Albaner die Anerkennung des Kosovo als siebte Teilrepublik fordern, und die Serben die Gewalttaten der Albaner anprangern und vergelten. Es wird überdeutlich, daß der jugoslawische Staat dringend einer politischen und ökonomischen Reform bedarf. Hier tritt nun eine zweite zentrale Figur auf: Slobodan Milošević. Als Alt-Kommunist ist er im Grunde kein Reformer, und zunächst scheint es auch so, als seien seine Tage gezählt und Jugoslawien auf dem Wege zu einer Demokratisierung. In dieser
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Atmosphäre der Unsicherheit über den weiteren Weg startet Milošević eine ethnizistische Kampagne mit der Propagierung der Idee eines großserbischen Reiches. Das Ziel von Milošević ist klar: Er will mit dieser Kampagne seine Stellung in Serbien festigen, deren Basis die politische Macht und die Kontrolle über die jugoslawische Armee ist. Das hat aber zunächst nur geringe Auswirkungen: Die Menschen selbst in Serbien unmittelbar haben keinen Sinn für die nationalistischen Tiraden und Provokationen von Milošević. Dies leitet zur dritten Phase über: die „Ethnisierung“ der jugoslawischen Situation. Viele einzelne, sich teilweise gegenseitig bedingende und verstärkende Ereignisse gab es auf diesem Pfad in den, wie sich schließlich zeigte, gnadenlosen Krieg aller ethnischen und religiösen Gruppen gegen alle. Milsovic brach zunächst das unter Tito eingehaltene Verdikt feindseliger Äußerungen über die anderen Gruppen und er begann gleichzeitig damit, die serbisch kontrollierte Armee aufzurüsten, was den Beschwörungen eines großserbischen Reiches und den verbalen Attacken auf die anderen Gruppen einen auch objektiv bedrohlichen Hintergrund gab. Als Reaktion darauf verstärkten die Kroaten (und die Slowenen) ihrerseits Maßnahmen zu ihrer Sicherung, zumal Milošević beispielsweise im Konflikt mit den Albanern im Kosovo sichtbar jede Zurückhaltung aufgegeben hatte und sich offenkundig an keinerlei Abmachungen hielt. Die kroatischen Reaktionen ihrerseits verstärkten die Attacken von Milošević nur weiter. Kroatien startete daraufhin schließlich unter Franco Tudjman, ebenfalls einem Alt-Kommunisten, mit Unabhängigkeitsbestrebungen und übernahm in diesem Zusammenhang auch die Symbole und die Flagge des Ustasa-Regimes – seinerseits eine Provokation an Serbien ohnegleichen. Der wohl wichtigste Schritt in die blutige Ethnisierung der Konflikte war aber die Aufnahme eines Guerillakrieges zwischen Kroaten und Serben auf dem Gebiet Kroatiens. Es begann mit der Ausgliederung der Serben aus der kroatischen Polizei, weil man sich – angeblich – der Loyalität der in Kroatien lebenden Serben nicht mehr gewiß war. Die kroatischen Serben interpretierten diesen Schritt natürlich nicht nur als Beschneidung von Gleichheitsrechten, sondern als unmittelbaren feindseligen Akt. Und wie kaum anders zu erwarten war, kam es dann auch tatsächlich zu Grausamkeiten – und zwar: auf beiden Seiten. Und die mußte jede Seite dann wiederum als Beweis für die grundsätzliche Feindseligkeit der jeweils anderen Seite interpretieren. Alles fand überdies im Fernsehen, das die blutigen Bilder in jedes Wohnzimmer übermittelte, und somit vor den Augen einer weltweiten Öffentlichkeit statt, und jede der Parteien versuchte sich in den Bezichtigungen der jeweils anderen Seite durch das Herzeigen grausamster Bilder von Untaten der jeweiligen Gegenseite zu überbieten.
Vorangegangen war eine immer mehr beschleunigte Auflösung der zentralstaatlichen Strukturen, die aufgrund des weit vorangetriebenen Föderalismus rasch um sich greifen konnte, als der Anfang einmal gemacht war. Ein wichtiges Ereignis dabei war die Auflösung auch der letzten einheitsstiftenden Bastion: die kommunistische Partei als Einheit. Während die slowenischen und kroatischen Reformkommunisten auf die Einführung einer Demokratie nach westlichem Muster drängten, beharrte die serbische Parteiführung auf dem Konzept der Einheitspartei – wiederum aus den alten, oben bereits beschriebenen, naheliegenden Gründen, die die Serben einerseits und die Slowenen (und Kroaten) andererseits stets in den gleichen Dissens über
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die „Verfassung“ des Staates gebracht hatten. Die Spaltung der Einheitspartei zog die Auflösung des jugoslawischen Rechtssystems nach sich. Mit der auch aufgrund der politischen Ereignisse sich weiter verschlechternden wirtschaftlichen Situation verschärften sich die mit den Transferleistungen des Nordens an den Süden bestehenden Spannungen noch weiter. Im März 1990 erklärte Slowenien schließlich seine wirtschaftliche Unabhängigkeit und stellte alle Zahlungen an den Bund ein. Nach und nach gingen nun alle Teilrepubliken zu einer Art von Wirtschaftskrieg gegeneinander über und zu einer jeweils eigenständigen Poltik. Diese dritte Phase der Ethnisierung und der „Balkanisierung“ des Balkans endet mit Souveränitätserklärungen der meisten jugoslawischen Teilrepubliken um die Jahreswende 1990/1. Diese Ereignisse leiten unmittelbar zur vierten Phase, zum endgültigen Zerfall des jugoslawischen Staates und zum anschließenden Krieg zwischen Kroatien und Serbien über, bei dem die deutsche Bundesregierung über die relativ rasche völkerrechtliche Anerkennung von Kroatien und Slowenien eine beschleunigende und den Konflikt wohl auch intensivierende Rolle spielte, weil gerade dadurch auch die alten Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg wieder neue Nahrung finden konnten. Der Außenminister Genscher und schließlich auch die EG insgesamt fungierten dabei aber, so kann man es durchaus sehen, eher nur als Hebammen, die die Geburt der neuen Staaten erleichterten (und den Tod des alten Staates besiegelten), letztlich aber daran ursächlich nicht weiter beteiligt waren. Mit der auch formell anerkannten Selbständigkeit von Slowenien und Kroatien beginnt schließlich eine Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen ist, deren Grundstrukturen aber aufgrund der voraufgegangenen Ereignisse und Basislinien unschwer zu erkennen sind: die Koninzidenz von materiellen und institutionellen Grenzziehungen und dadurch strukturierten Interessenkonflikten, die auf tief eingelagerte ethnische, kulturelle und religöse Unterschiede treffen, die durch historische Erfahrungen verfestigt sind und durch aktuelle Ereignisse immer wieder neu bestätigt und bestärkt werden: eine Tragödie vor unseren Augen, die offenkundig auch nicht dadurch beendet werden kann, daß man inzwischen ziemlich genau weiß, was geschah und warum sich alles so ereignete, wie es denn passiert ist. Historische Erklärungen So wie oben sehen viele Beiträge zur Erklärung des Geschehens in Jugoslawien aus: Die groben Züge der Abläufe werden erkennbar, man „versteht“ auch irgendwie die Zusammenhänge, wenigstens besser als vorher, und man bekommt
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auch schon eine Vorstellung über die eigenartige „Logik“, die das Ganze erzeugt und vorangetrieben hat. Letztlich zufrieden ist aber kaum jemand: Für die Historiker dürfte die Darstellung, wenngleich vielleicht nicht grob falsch, so doch an vielen Stellen viel zu ungenau und unvollständig sein, und für die Soziologen ist wohl viel zu wenig an „richtiger“ Erklärung und viel zu viel an bloßer historischer „Narration“ darin, der besonders die Seniorenstudenten so gerne lauschen. Und beide haben jeweils auch nicht Unrecht. Hinter diesem Unbehagen steckt ein alter Streit, der sich besonders im deutschsprachigen Bereich kultiviert hat: Eigentlich könne es, so meinen die Historiker oft, bei historischen Abläufen gar keine „Erklärung“ geben, jedenfalls keine, die den Regeln der Hempel-Oppenheim-Erklärung (oder kurz: H-O-Erklärung) zu folgen versuche – sofern sie überhaupt wissen, was das ist (vgl. dazu schon Kapitel 4, „Die Logik der Erklärung“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Denn: Es gebe keine „allgemeinen“ Gesetze, deren sich eine solche „historische“ Erklärung bedienen könne, sondern nur historische Einmaligkeiten. Und die Menschen handelten ja auch nicht von irgendwelchen „kausalen“ Ursachen getrieben, sondern hätten – mehr oder weniger – „gute Gründe“, denen sie in ihrem Tun folgten, und dafür gäbe es nur ein nachvollziehendes „Verstehen“ und eben keine „kausale“ Erklärung, wie das in den Naturwissenschaften vielleicht möglich wäre. Alles was ein Historiker angesichts dieser Sachlage tun könne, wäre die möglichst korrekte Beschreibung des Geschehens – „wie es denn wirklich gewesen ist“ – die Rekonstruktion der (subjektiven) guten Gründe der diversen Akteure und der von deren Handeln, meist unbeabsichtigt, produzierten Folgen und die möglichst griffige konzeptionelle Bezeichnung ganzer Komplexe des Geschehens, wie etwa als die „Französische Revolution“, als der „Zweite Weltkrieg“, als die „Wende“ oder eben auch als der „jugoslwische Bürgerkrieg“.
Diese grundlegenden Einwände gegen jede „analytische“ oder gar „kausale“ Betrachtung historischer Prozesse und gegen die Möglichkeit „allgemeiner“ Erklärungen in der Geschichte sind unter der Bezeichnung des Historismus zusammengefaßt worden und am deutlichsten wohl im sog. Älteren Methodenstreit gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Gustav Schmoller auf der einen und Carl Menger auf der anderen ausgetragen worden (vgl. dazu auch schon Kapitel 28 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die Geschichte könne danach nur ideographisch-beschreibend und „verstehend“ und eben nicht nomothetisch-erklärend vorgehen, sie habe es immer mit „einmaligen“ Einzelfällen und eben nicht nicht mit leeren Verallgemeinerungen zu tun, bei ihr seien quantitative Methoden und Experimente nicht anwendbar, die gesellschaftlichen Prozesse könnten nicht als das bloße Ergebnis des Handelns von individuellen Akteuren und einer „Emergenz von unten“ aufgefaßt werden, sondern müßten als Resultat einer „Konstitution von oben“ durch eigenständig operierende „Ganzheiten“ aufgefaßt werden und alle „allgemeinen“ Gesetze, die eine erklärende Soziologie unterstellen oder finden könne, seien ohnehin immer nur historisch bedingte Gesetze, deren Geltung sich mit der Änderung der historischen Situation ebenfalls ändere, wie beispielsweise das Gesetz des rationalen Handelns, das, so wird gesagt, nur in den „rationalen“ Gesellschaften des Kapitalismus gelte.
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Der Streit ist bis heute nicht beigelegt, und ein Teil der Argumente von Schmoller gegen eine analytisch-nomologisch betriebene Sozialwissenschaft lebt heute weiter, etwa in der sog. qualitativen Sozialforschung, in weiten Teilen der Politikwissenschaft und der sog. Zeitgeschichte oder in der soziologischen Systemtheorie. Die (erklärenden) Soziologen ihrerseits verweisen darauf, daß keine noch so genaue Beschreibung und keine noch so bezeichnende begriffliche Abstraktion und Etikettierung irgendetwas zu „erklären“ vermöge und daß, wenn die Historiker nichts weiter täten als das aufzuschreiben, was geschehen ist, alle Fragen nach dem „warum“ unbeantwortet blieben. Insbesondere aber haben sie schon bald eingewandt, daß die Historiker sehr wohl auch „allgemeine“ und „kausale“ Erklärungen wenigstens beabsichtigen und sich daran auch versuchen, und daß dies auch gar nicht anders ginge, weil jede Beschreibung notwendigerweise in übergreifende theoretische Überlegungen eingebettet sei: „Reine“ Beschreibungen sind unmöglich, und schon jede Selektion aus den Myriaden von Einzelereignissen erfordere ein theoretisches Kriterium. Den Historikern wird also vorgehalten, daß sie, ohne es freilich meist zu wissen, sehr wohl auch „allgemeine“ Gesetze annehmen, wie etwa das, daß die Menschen absichtsvoll, subjektiv nachvollziehbar und „verständlich“ handeln, was ja nur ein anderer Ausdruck für ein „rationales“ Handeln ist (siehe dazu schon Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Kurz: Die Besonderheiten der geschichtlichen Analyse gäben keinerlei Anlaß, auf die Möglichkeiten einer regelrechten Erklärung nach dem Schema der H-OErklärung zu verzichten. Die methodologischen Argumente sind in einer längeren Debatte ausgetauscht worden, und es ist inzwischen ganz gut geklärt, worin die besonderen Probleme bei historischen Erklärungen liegen und worauf man zu achten hat.2
2
Vgl. zu diesem Streit und zur schließlichen Auflösung des Problems u.a. Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin, Heidelberg und New York 1969, insbesondere Kapitel VI. Historische, psychologische und rationale Erklärung; Viktor Kraft, Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 8. Aufl., Köln 1972, S. 72-82; Seymour M. Lipset, A Sociologist Looks at History, in: The Pacific Sociological Review, 1, 1958, S. 13-17; Hartmut Esser, Klaus Klenovits und Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie, Band 2: Funktionalanalyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977, S. 104 - 121: Soziologie und Geschichte. Siehe auch verschiedene Beiträge bei Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972; sowie Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 9-59. Siehe für eine neuere Zusammenfassung des Standes der Diskussion Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln,Weimar und Wien 1997.
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Das wichtigste Ergebnis war, daß es historische Erklärungen im Anschluß an das H-OSchema sehr wohl geben kann, daß es dabei aber ohne Zweifel zu besonderen Schwierigkeiten kommt, die nicht einfach übergangen werden können. Die Annäherungen sind von beiden Seiten ausgegangen: Einerseits wird – bis auf wenige Ausnahmen – inzwischen auch von der Soziologie anerkannt, daß es zwar vielleicht empirische Trends, aber sicher keine „allgemeinen“ Gesetze historischer Entwicklungen gibt und daß jede historische Erklärung die besondere Situation der Akteure, ihre „guten Gründe“, ihr Handeln und die dadurch bewirkten Folgen systematisch zu berücksichtigen hat. Andererseits weiß man inzwischen auch, daß die Rekonstruktion der „guten Gründe“ der Akteure und ihr „Verstehen“ nichts anderes ist als die „rationale“ Erklärung des Handelns der Akteure, etwa mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie. Und das ist eine H-O-Erklärung. Vor diesem Hintergrund ist inzwischen auch klar, daß es sich bei historischen Erklärungen um einen Spezialfall der sog. genetischen Erklärung handelt, allerdings in der Sonderversion von Sequenzen des elementaren Modells einer soziologischen Erklärung mit ihren Übergängen von der Makro- zur Mikroebene und von dort wieder auf die Makroebene hinauf (vgl. dazu schon ausführlich Teil B der „Soziologie. Allgemeinen Grundlagen“, die Einleitung und Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie das vorige Kapitel 7 über den sozialen Wandel in diesem Band).
Gleichwohl würde man die Sachlage verkennen, wenn man nicht beachtete, daß es sich bei der Erklärung der allermeisten historischen Vorgänge um Dinge handelt, die sich nicht immer der Methodologie einer „reinen“ und vollständigen Erklärung nach dem H-O-Schema fügen. Der Hauptgrund liegt darin, daß die Einzelereignisse meist nur über die Zusammenführung einer Vielzahl einzelner „Gesetze“ und „Randbedingungen“ erklärbar sind, daß manchmal ganz unscheinbare Details dem Ganzen eine andere Wendung geben können und – insbesondere – daß das Geschehen von einer Vielzahl externer Umstände und Einflüsse umgeben ist, die nicht aus dem „endogenen“ Geschehen selbst folgen, sondern „narrativ“ eingefügt werden müssen und nicht alle gleichzeitig erklärt werden können. Das liegt einfacherweise daran, daß es eben in der Tat keine übergreifenden Sukzessions- oder Entwicklungsgesetze gibt, sondern „nur“ Einzelereignisse, die zwar „kausal“, aber immer auch nur höchst „kontingent“, also an gewisse exogene Bedingungen gebunden, miteinander verknüpft sind. Für einen vergleichsweise noch sehr einfachen Fall eines bloß naturwissenschaftlichen Geschehens hat Karl R. Popper das Problem einmal so beschrieben: „Wenn der Wind einen Baum schüttelt und Newtons Apfel zu Boden fällt, dann wird niemand leugnen, daß diese Ereignisse mit Hilfe von Kausalgesetzen beschrieben werden können. Es gibt jedoch nicht ein Gesetz wie das der Schwerkraft, nicht einmal ein bestimmtes System von Gesetzen, das die tatsächliche, konkrete Sukzession kausal verknüpfter Ereignisse beschreiben würde. Außer der Schwerkraft müßten wir die Gesetze des Winddrucks berücksichtigen, dazu noch die Schüttelbewegungen des Zweiges, die Spannung im Stengel des
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Apfels, die Quetschung des Apfels beim Aufprall, die chemischen Prozesse, die aus der Quetschung des Apfels resultieren usw.“3
Und daraus folgert Popper: „Die Vorstellung, daß (außer in Fällen wie dem der Pendelbewegung oder eines Sonnensystems) irgendeine konkrete Abfolge von Ereignissen durch ein Gesetz oder ein bestimmtes System von Gesetzen beschrieben oder erklärt werden könnte, ist einfach falsch. Es gibt weder Sukzessions- noch Entwicklungsgesetze.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Darauf sind wir schon in Kapitel 7 bei der Besprechung des Verfalls der Makrosoziologie des sozialen Wandels ausführlich eingegangen. Die Annahme von übergreifenden Sukzessions- und Entwicklungsgesetzen war dann auch gerade der grundlegende Fehler des von Popper so genannten Historizismus, einer speziellen Variante der (Makro-)Soziologie des sozialen Wandels: die Annahme, daß sich die verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte zwar „qualitativ“ unterschieden und miteinander letztlich nicht vergleichbar und jede für sich „unmittelbar zu Gott“ wäre(n), daß sie dann aber nach einem einzigen übergreifenden Entwicklungsgesetz aufeinander folgten. Mit dieser Vorstellung war auch die Idee verbunden, die Geschichts- und die Gesellschaftswissenschaften wie die Naturwissenschaften zu betreiben und den Lauf der historischen Prozesse wie den der Gestirne anzusehen. Karl Marx war der wohl exponierteste Vertreter dieser Auffassung, und im Vorwort zum „Kapital“ schreibt er auch den ebenso beeindruckenden wie aus heutiger Sicht schon sehr naiven Satz: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“4
Wenn es nun auch sicher keine übergreifenden Entwicklungsgesetze gibt, muß man allerdings auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und meinen, daß (H-O-)Erklärungen geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen unmöglich wären und daß es nicht sehr wohl Sinn machen könnte, empirische Beobachtungen langfristiger Trends im Nachhinein zu erklären, wie das etwa die moderne Theorie der soziokulturellen Evolution tut.
3
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), S. 92.
4
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Berlin 1969, Vorwort zur ersten Auflage, S. 15f.
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In diesem Zusammenhang ist eine schon etwas ältere und heftige Auseinandersetzung zwischen Gerhard Lenski und Robert A. Nisbet immer noch erwähnenswert.5 Nisbet hatte behauptet, daß es eine sinnvolle Soziologie des evolutionären sozialen Wandels grundsätzlich nicht geben könne, weil dabei eine Reihe unhaltbarer Annahmen gemacht werden müßten: Der gesellschaftliche Wandel sei der Normalfall, er sei gerichtet, immanent, kontinuierlich und kumulativ, notwendig und beruhe auf einigen wenigen treibenden „Ursachen“. Tatsächlich sei es aber so, daß der gesellschaftliche Wandel alles andere als der Normalfall wäre, er sei nicht gerichtet, von exogenen Faktoren bestimmt, nicht kumulativ und nicht auf wenige „Konstanten“ zurückführbar. Nisbet hatte daraus gefolgert, daß es eigentlich nur „historische“ Beschreibungen des sozialen Wandels geben könne, aber keine soziologische „Theorie“ desselben. Dem hatte Lenski, nicht zuletzt auf der Grundlage seiner eigenen intensiven Untersuchungen zur Evolution der menschlichen Gesellschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 dieses Bandes), entgegengehalten, daß man zwar sicher nicht von übergreifenden oder gar auf ein Ziel gerichteten Prozessen der Entwicklung ausgehen könne, daß es aber dennoch auch im sozio-kulturellen Bereich sehr wohl „gerichtete“ Entwicklungen gäbe, deren erkennbare Dynamik sich ohne weiteres mit den Mitteln der modernen, kausal-erklärenden Evolutionstheorie verständlich machen lasse.
Die Lehre aus diesen Streitigkeiten war dann, daß historische Erklärungen keineswegs unmöglich, aber sicher schwierig sind und daß sie auch beim besten Willen nicht immer „vollständig“ sein können. Warum es diese Schwierigkeiten gibt, ist leicht gesagt: Anders als bei den „reinen“ kausal-genetischen Erklärungen, die alleine auf endogenen Kausalsequenzen beruhen, müssen bei den historischen Erklärungen meist Dinge eingefügt werden, die nicht sofort auch schon selbst wieder erklärt werden können (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.4 dieses Bandes). Wolfgang Stegmüller nennt solche Erklärungen daher auch historisch-genetische Erklärungen. Er erläutert, was gemeint ist, an einem interessanten Beispiel der dabei nötigen, stets aber auch etwas unbefriedigenden Bemühungen: die Entstehung des Ablasses. Dabei folgt er einer These des Historikers Gottlob, der versucht hatte, den Ablaß über gewisse Motive der Päpste und Bischöfe zu erklären und der dabei darauf stieß, daß es sich um ein Nebenprodukt der Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und dem Christentum zur Zeit der Kreuzzüge gehandelt habe: „Den Ursprung bilden danach die Glaubenskriege zwischen Christen und Mohammedanern. Während die gläubigen Moslems, gestützt auf die Lehre Mohammeds, mit der festen Überzeugung in den Heiligen Krieg zogen, daß ihnen im Fall des Getötetwerdens in der Schlacht der Himmel sicher sei, mußten sich die christlichen Glaubensstreiter die bange Frage stellen, ob sich ihnen die Tore des Paradieses auch öffnen würden, wenn sie keine Zeit gefunden hätten, rechtzeitig Buße für ihre Sünden zu tun. Solche Zweifel konnten sie dazu bewegen, lieber
5
Robert A. Nisbet, Social Change and History. Aspects of the Western Theory of Development, London 1969; Gerhard Lenski, History and Social Change, in: American Journal of Sociology, 82, 1976, S. 548-564. Vgl. dazu auch Raymond Boudon, Individual Action and Social Change: A No-Theory of Social Change, in: The British Journal of Sociology, 34, 1983, S. 1-18.
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zu Hause zu bleiben. Die Päpste versuchten daher, diese Zweifel zu zerstreuen. So stellte bereits 853 Papst Leo IV. den in der Schlacht getöteten Glaubenskämpfern mit großer Zuversicht den himmlischen Lohn in Aussicht. Sein Nachfolger, Papst Johannes VIII., gewährte 877 den Glaubenskriegern Absolution von ihren kirchlichen Vergehen. Diese Heilsversprechen stellten zwar keine Ablässe dar, da sie sich auf tote Glaubenskämpfer und nicht auf lebende Büßer bezogen. Aber in einer Zeit, die so hoch vom Glaubenskrieg dachte, lag es nahe, die Teilnahme an diesem Kampf als Äquivalent für die Bußleistungen zu betrachten. Vermutlich im 11. Jhd. wurde so der Erlaß der Bußstrafe erstmals als Truppenwerbemittel verwendet. Damit war der sogenannte Kreuzablaß geschaffen, der Erlaß der Bußstrafen als Belohnung für die Teilnahme an einem Religionskrieg: ‚Erinnert man sich, welche Unbequemlichkeiten, welche kirchlichen und bürgerlichen Nachteile die kirchlichen Bußstrafen mit sich brachten, dann begreift man, daß die Büßer ganz eifrig zu diesem Ablasse drängten‘. Da die kirchlichen Bußstrafen als Ersatzstrafen für die Reinigungsstrafen im Fegefeuer galten, erhielt der Ablaß zugleich eine transzendente Bedeutung: Wer ihn erwarb, wurde nicht nur von den diesseitigen kirchlichen Bußstrafen, sondern auch von den entsprechenden jenseitigen Strafen im Fegefeuer befreit. Dies bildete ein weiteres starkes Motiv, Ablaß zu begehren. Beim Ablaß als Truppenwerbemittel blieb es aber nicht. Die Wohltaten des Ablasses wurden zunächst auf alte und gebrechliche Personen ausgedehnt, sofern sie die Geldmittel bereitstellten, um einen Ersatzmann in den Kreuzzug zu schicken. 1199 wurde von Papst Innozenz III. allgemein die Spendung eines ausreichenden Geldalmosens als adäquates Äquivalent anerkannt, um an den Gnaden der Kreuzablässe teilzunehmen. Damit war der Almosenablaß geschaffen: der Ablaß verwandelte sich von einem Truppenwerbemittel zu einem Mittel des Gelderwerbs, zu einer immer häufiger geübten Form der Besteuerung der Gläubigen. In dem Maße, als die Begeisterung für Glaubenskriege in der Bevölkerung abnahm, mußten, um sich diese Einnahmequelle offenzuhalten, neue Wege zur Erzeugung zugkräftiger Motive für den Erwerb von Ablässen gesucht werden. Papst Bonifaz VIII. schuf im Jahr 1300 den sogenannten Jubiläumsablaß, der alle hundert Jahre wiederholt werden sollte. Vom Ablaßerwerber war ursprünglich eine Wallfahrt nach Rom gefordert worden. Wie beim Kreuzablaß wurde aber auch hier die persönliche Leistung durch eine dingliche Leistung: eine Geldabgabe, ersetzt. Die große Geldsumme, die dieser Jubiläumsablaß einbrachte, führte dazu, daß das Zeitintervall zwischen zwei Jubiläumsjahren sukzessive verringert wurde: zunächst auf 50, dann auf 33, schließlich auf 25 Jahre. Von 1393 an war der Ablaß nicht nur in Rom, sondern überall in Europa über Priester erhältlich, die mit den ausgedehntesten Beichtvollmachten ausgestattet waren. Der Gläubige konnte sich von einem Ablaßpriester zunächst durch Beichte Erlaß der Höllenstrafen und darauf durch den Erwerb des Ablasses den Erlaß der Strafe des Fegefeuers und weltlicher Kirchenstrafen verschaffen. Der Erwerb dieser ‚heiligen Ware‘ Ablaß wurde durch ein eigenes Wertpapier, den Ablaßbrief, bescheinigt. Im Jahre 1477 erließ Papst Sixtus IV. eine dogmatische Erklärung, durch die der sogenannte Totenablaß eingeführt wurde. Danach war es möglich, Ablaß auch für bereits Verstorbene, für die armen Seelen im Fegefeuer, zu erhalten.“ (Stegmüller 1969, S. 355f., Hervorhebungen im Original)
Ob die vorgeführte Theorie zur Erklärung der Entstehung des Ablasses (oder auch die Eingangs geschilderte „Erklärung“ des Zusammenbruchs des jugoslawischen Staates) richtig ist oder nicht und selbst ob die Einzelfakten stimmen oder nicht, ist (diesmal) unerheblich. Wichtig ist hier nur das formale Vorgehen: Der Historiker versucht in der „Erzählung“ der „Geschichte“ zu zeigen, wie ein Zustand zum nächsten führt und wie man vom Anfang bis zum Ende möglichst ohne „logische“ Lücke gelangt.
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„Lücken“ in der kausalen Sequenz noch etwas deutlicher gemacht worden und damit die in fast allen Fällen gegebene Notwendigkeit, sie durch „historische“ Erzählungen über zusätzliche exogene Randbedingungen zu füllen. Die mindestens praktische Unmöglichkeit, alle diese exogenen Lücken in ein einziges Sequenzmodell hineinzunehmen und erklärend zu „endogenisieren“ ist es dann vor allem, was den alten, durchaus auch bedrohlichen Traum von dem übergreifenden Gesetz der Geschichte zur unhaltbaren Utopie werden läßt. Außerdem muß immer mit „Zufällen“ gerechnet werden, die, an der historisch jeweils „richtigen“ Stelle, einen gerichteten Prozeß in eine ganz andere Bahn lenken können. Was wäre beispielsweise geschehen, wenn Stauffenberg Hitler wirklich getötet hätte? Oder was, wenn die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 gleich nach den 40-Jahresfeiern zur Gründung der DDR aufgrund einer anderen Stimmung im Politbüro der SED zusammengeschossen worden wäre? Und was, wenn Tito im Partisanenkrieg gefallen wäre? Bei manchen dieser Beispiele ahnen wir, daß die Geschichte sehr wohl hätte anders verlaufen können, wie etwa beim Attentat auf Hitler, bei anderen wohl weniger, wie beim Zerfall der DDR, die ja schon strukturell auf nur sehr schwachen Füßen stand. Die eigenständige „Wirkung“ von Tito auf die Entstehung des jugoslawischen Einheitsstaates nach 1945 ist schwer einzuschätzen. Aber weil die Verhältnisse dort letztlich immer schon recht indifferent waren, kann man schon von einem großen Einfluß einer einzelnen charismatischen Person ausgehen. Die Historiker könnten uns sicher mehr dazu erzählen, aber klären kann man solche Fragen letztlich wohl nie: In der Geschichte gibt es weder Wiederholungen noch Experimente.
Solche Einzelzufälle, die einer ganzen Geschichte eine andere Richtung geben können, werden auch als Cournot-Effekte bezeichnet. Dazu gehört auch das mehr oder weniger akzidentelle Zusammentreffen verschiedener nicht-zufälliger Entwicklungen an einem bestimmten „historischen“ Punkt.6 Alles kommt zusammen, wie der Eisberg und die Titanic, und wirklich nicht viel hätte gefehlt, daß alles auch hätte anders kommen können. Solche Cournot-Effekte können, weil sie eben auf dem „Zufall“ beruhen, grundsätzlich nur als exogene Einflüsse narrativ eingefügt werden. Leider weiß man nicht immer, ob es wirklich ein Zufall war oder irgendeine unerkannte „logische“ Konsequenz des vorhergehenden Geschehens. Und weil ein Wissenschaftler eigentlich nie so recht mit der Erklärung zufrieden ist, daß es eben der Zufall war, der alles bewirkte, sucht er unverdrossen weiter nach Hinweisen, die entweder den Zufall als unwichtig erscheinen lassen, wie etwa starke „strukturelle“ Kräfte, die den Zufall letztlich überspielen, oder aber ihn als endogenen Faktor des Geschehens erkennbar werden lassen, wie etwa Hitler oder Tito als Figuren der Geschichte, die sich auch in anderen Personen manifestiert hätten, weil die Zeit einfach „reif“ für sie war. 6
Vgl. Raymond Boudon, Theories of Social Change. A Critical Appraisal, Cambridge 1986, S. 173ff. Vgl. zu diesem Problem allgemein auch Fritz W. Scharpf, Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research, Boulder, Col., und Oxford 1997, Kapitel 1: Policy Research in the Face of Complexity, S. 22ff. insbesondere.
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Die Aufgabe der Soziologie
Insgesamt aber wird jetzt vollends klar, daß eine „historische“ Erklärung von der grundlegenden Logik her nichts anderes ist als das, was auch in einer soziologischen Erklärung geschieht, die ja auch nicht immer „vollständig“ sein kann und stets auch immer mit „exogenen“ Annahmen „narrativ“ gefüllt werden muß: Es müssen immer die jeweiligen Randbedingungen korrekt beschrieben und es muß daran anschließend das Handeln der Akteure „verstehend“ erklärt werden, dessen Folgen dann wieder wenigstens einen Teil der Randbedingungen für die nächste Sequenz bilden. Aber es können nicht alle wichtigen Randbedingungen wiederum in derselben Analyse ihrerseits erklärt werden. Beschreiben und „verstehen“ müssen also auch die Soziologen, und „erklären“ wollen ja auch die meisten Historiker. Und beide müßten eigentlich der gleichen Methodologie folgen – dem Modell der soziologischen Erklärung. Warum dann also überhaupt noch zwei verschiedene Disziplinen? Das ist eine gute Frage, die allein deshalb meist nur verlegene Antworten nach sich zieht, weil es in der Tat kaum einen wirklich stichhaltigen Grund für die Trennung von Soziologie und Geschichte gibt. Eigentlich sollte es, wie das im übrigen auch schon Karl Marx gemeint hatte, nur eine Wissenschaft von der Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung geben. Wir wollen hier aber einen Gedanken von Raymond Boudon und François Bourricaud aufgreifen, die eine interessante und wohl auch fruchtbare Form der Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Geschichte vorgeschlagen haben.7 Danach sollte die Soziologie sich auf die Ausarbeitung von abstrakteren Zusammenhängen insbesondere in der Form der sog. Strukturmodelle spezialisieren, und die Historiker sollten sich mehr ihrer besonderen Stärke zuwenden, der detailgenauen Untersuchung und Beschreibung historischer Einzelereignisse und dem Aufspüren, der Überprüfung und der Einordnung der geschichtlichen Quellen. Strukturmodelle
Was Strukturmodelle sind, haben wir bereits in Kapitel 1, „Emergenz und Transformation“, dieses Bandes erläutert. Es sind Musterlösungen für formal ähnliche Konstellationen, die auf ganz unterschiedliche inhaltliche Problemfelder angewandt werden können – sofern die situativen und „historischen“ Bedingungen eine Anwendung tatsächlich zulassen. 7
Raymond Boudon und François Bourricaud: Geschichte und Soziologie, in: Raymond Boudon und François Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992a, S. 165-173.
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In Kapitel 1 war, im Anschluß an den Vorschlag von Boudon, das exit-voice-and-loyaltyModell von Albert O. Hirschman als ein Musterbeispiel für ein solches Strukturmodell genannt worden. Es ist zunächst nichts weiter als ein vereinfachendes Modell einer sozialen Konstellation mit typischen Folgen, jeweils auf der Grundlage einiger typischer Annahmen über die Konstellation. In diesem Fall sind dies die Annahmen, daß sich Akteure einem gewissen „Angebot“ gegenübersehen, auf das sie sich einlassen können oder auch nicht, daß sie für den Fall, daß sich das Angebot verschlechtert, nur zwei Alternativen haben – der Übergang zu einem anderen „Anbieter“ oder der Versuch, den bisherigen Anbieter zu einer Wiederherstellung der ursprünglichen Qualität zu bewegen, exit oder voice also in der Sprache von Hirschman, daß die Wahl einer Alternative von ihrem jeweils erwarteten Nutzen abhängt, daß es bei Vorliegen einer gewissen „loyalty“ auch dann nicht sofort zu einem exit kommt, wenn die Alternative „exit“ die höhere Nutzenerwartung hat, und – vor allem – daß bei leichten exit-Möglichkeiten – ceteris paribus – gegen die Leistungsverschlechterungen weniger protestiert wird als bei schwierigen exit-Bedinmgungen und daß damit auch die Produktqualitäten im jeweiligen „System“ sinken.
Mit diesem Modell lassen sich, sozusagen auf einen Schlag, so unterschiedliche Phänomene wie das Fehlen sozialer Bewegungen in Nord-Ost-Brasilien, das niedrige Niveau der öffentlichen Bildungsanstalten der amerikanischen Ostküste oder die Lethargie vieler französischer Universitäten allesamt über das gleiche abstrakte Strukturmuster erklären – ein enormer Gewinn im PreisLeistungsverhältnis der Analyse, die nun eben nicht immer wieder das (exitvoice-)Rad von Hirschman neu erfinden muß. Andere Strukturmodelle mit ähnlichen Vereinfachungsleistungen wären etwa das Modell von Boudon zur Erklärung der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten auch bei einer Expansion der Berechtigungen zur Besetzung von Positionen, das wir oben in Abschnitt 7.1 dargestellt haben, oder auch das sog. habit-Modell, das wir in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ in verschiedenen Zusammenhängen, etwa in Kapitel 8, benutzt haben (und in den folgenden Bänden immer wieder und in ganz verschiedenen Zusammenhängen nutzen werden), um die bemerkenswerte Trägheit zu erklären, mit der Menschen an eingelebten Verhältnissen hängen.
Die Besonderheit solcher Strukturmodelle ist, daß sie einerseits auf einer Reihe allgemeiner Annahmen beruhen und andererseits auf eine große Vielzahl von inhaltlich ganz unterschiedlichen und historisch durchaus einmaligen Vorgängen angewandt werden können: „Es geht hier (bei der Formulierung von Strukturmodellen; HE) nicht um die Ermittlung empirischer Regelmäßigkeiten, sondern um die Konstruktion von Schemata, die sich bei entsprechender Spezifikation auf Wirklichkeiten anwenden lassen, die ihrem Erscheinungsbild nach sehr verschiedenartig sein können.“ (Boudon und Bourricaud 1992a, S. 173)
Mit Hilfe solcher „allgemeiner“ Strukturmodelle lassen sich dann also sowohl ganze Klassen inhaltlich spezifischer Phänomene, wie auch ganz einzigartige historische Vorgänge (er)klären – wie erneut durch das Modell von Hirschman Ehescheidungen einerseits oder die Frage, warum es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus gibt.
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Strukturmodelle sind dabei „mehr“ als bloß formale Modelle, etwa solche von gewissen Situationskonstellationen, wie sie in der Spieltheorie entwickelt worden sind, oder solche bestimmter dynamischer Prozesse, wie etwa in den Wachstums- oder Diffusionsmodellen (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in diesem Band). Die Strukturmodelle können solche formalen Modelle als „Module“ durchaus enthalten. Allein daraus ergeben sich ja schon weitere beträchtliche Vereinfachungen der Analyse: Wenn man etwa erkannt hat, daß eine gewisse historische Situation dem Typ eines Gefangenendilemmas oder dem eines Chicken Game entspricht, dann wäre eine ganz bestimmte Folge davon mit dem Hinweis auf das Modell des Gefangenendilemmas „erklärt“ (vgl. dazu auch schon das Beispiel der Appeasement-Politik gegen Hitler in Abschnitt 7.4 oben in diesem Band). Und man müßte nicht wieder mühevoll auch dieses Rad neu erfinden – was viele tun, die von den formalen Modellen nichts wissen. Anders als die formalen Modelle verweisen die Strukturmodelle jedoch immer auch schon auf gewisse inhaltliche Elemente, wie etwa die Alternativen exit oder voice oder den verzögernden Sachverhalt der Loyalität im Modell von Hirschman.
Mit der Suche nach und der Ausarbeitung von Strukturmodellen tun die Soziologen also ohne Zweifel etwas, das für die Soziologie typisch ist und von manchem Historiker mit einer Mischung aus Argwohn und Überheblichkeit betrachtet wird – sie verallgemeinern. Aber sie verallgemeinern nicht wie ein Historiker, der einen ganzen Komplex von Ereignissen begrifflich zusammenfaßt und etwa vom „Bürgertum“ oder von den „Kreuzzügen“ spricht und dabei jeweils auch ganze Muster von auch „kausalen“ Zusammenhängen und Abläufen meint, ohne die kausalen Muster genauer zu benennen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden im Anschluß an Abschnitt 9.2 dieses Bandes). Und sie verallgemeinern auch nicht in der in der Weise, wie das etwa die alte Soziologie des sozialen Wandels versucht hat: Es wird bei den Strukturmodellen eben nicht nach übergreifenden Gesetzen des Wandels oder der Evolution gesucht. Aber es geschieht auch deutlich mehr, als bloß das Geschehen noch einmal abstrakt zu beschreiben. Man geht, sozusagen ausgerüstet mit einem Werkzeugkasten von Mustermodellen und mit wenigen systematischen Hypothesen vorbereitet, gezielt an die Sache, und die Kunst besteht dann darin, hinter den bunten Beschreibungen und der Unzahl von Einzelinformationen das Muster eines (oder mehrerer) Strukturmodelle wiederzuerkennen. Es empfiehlt sich dabei selbstverständlich jeweils, noch einmal sorgfältig hinzusehen und immer noch einmal genauer zu überprüfen, ob die jeweiligen Anwendungsbedingungen auch tatsächlich gegeben sind. Dabei wären die kritischen Analysen der Historiker besonders wichtig. Wenn aber die Anwendbarkeit gegeben ist, vereinfacht sich die Analyse sofort ganz beträchtlich: Man „weiß“ jetzt für ganze Komplexe von Abläufen, die den Bedingungen eines bestimmten Strukturmodells genügen, warum alles so geschah, weil das zuvor einmal bei der Konstruktion des Strukturmodells geklärt worden war. Und das reicht nun.
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Strukturtheorien als „Theorien mittlerer Reichweite“
Verschiedene Strukturmodelle können dann ihrerseits wieder nach Belieben aneinandergereiht werden – wenn das die historischen Umstände nahelegen. Die Übergänge zwischen den Stadien werden also mit ganzen Bausteinen fertiger Strukturmodelle gefüllt, und es muß „nur“ narrativ begründet werden, daß die nötigen Randbedingungen für die Anwendbarkeit der jeweiligen Strukturmodelle auch tatsächlich gegeben sind. Für ganze Komplexe von inhaltlichen Problemfeldern können dann wiederum typische Kombinationen von Strukturmodellen bzw. von formalen Modellen zu einer übergreifenden, wie wir sie nennen wollen, Strukturtheorie dieses Gegenstandsbereichs zusammengefaßt werden, etwa die Strukturtheorie von Revolutionen oder die der Entstehung von Institutionen. Die „soziologische Theorie“ bestünde dann letztlich aus nichts anderem als aus einem Arsenal von Strukturtheorien für die verschiedenen inhaltlichen Bereiche, einschließlich des Hauptgegenstandes der Soziologie – dem der Gesellschaft als soziales System ganz allgemein. Robert K. Merton hat solche Theorien für gewisse Problembereiche einmal als Theorien mittlerer Reichweite bezeichnet: Es sind deutlich mehr als bloße Beschreibungen, etwas anderes als leere Generalisierungen, aber auch keine übergreifenden „Gesetze“, die „alles“ aus einem generellen Prinzip oder einer allgemeinen Entwicklungslogik erklären könnten.8 Die Entwicklung von Strukturmodellen und von Strukturtheorien (mittlerer Reichweite) wäre damit die erste Aufgabe der Soziologie. Sie sind erkennbar mehr als bloße Hilfen bei der aggregierenden Transformation individueller Effekte in kollektive Sachverhalte. Es sind zu einheitlichen Modellen zusammengefaßte und inhaltlich wenigstens teilweise schon spezifizierte Komplexe von soziologischen Erklärungen. Wenn es sie gibt und wenn sie unter den Sozialwissenschaftlern bekannt sind, geht es bei der „Erklärung“ der konkreten Abläufe fast so zu wie an einem Stammtisch von langjährigen Saufbrüdern: Man muß sich die Witze nicht mehr umständlich erzählen, sondern ruft sich gegenseitig die inzwischen etablierten Nummern der Witze bzw. die Bezeichnungen der Modelle zu. Am Stammtisch schüttelt sich alles vor Lachen, wenn jemand etwa die Nummer 43 ruft. Auf einem Vortrag zur Erklärung des Zerfalls des jugoslawischen Staates würde etwa jemand nur sagen müssen: Nullsummenkonflikt, „trust game“ und „soziales Framing“ – und schon würden alle stumm nicken, wissen, was gemeint ist und verstehen, warum sich die Menschen, die zuvor friedlich nebeneinander gelebt hatten, plötzlich mit 8
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967, S. 9.
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blutigem Haß verfolgen, weil es durch die jeweiligen Strukturmodelle „erklärt“ ist. Die anwesenden Historiker würden, falls sie ebenfalls mit den Strukturmodellen vertraut wären, sicher ebenso beifällig nicken und noch das eine oder andere Detail beisteuern können. Und der Streit würde dann wohl allenfalls darüber beginnen, ob die Anwendbarkeit des Strukturmodells oder der jeweiligen Theorie mittlerer Reichweite gegeben ist oder nicht, aber nicht darum, ob die Geschichte nur ideographisch-deskriptiv und die Soziologie nur nomothetisch-explanativ vorgehen könne und ob das jeweils andere Fach den Gegenstand komplett verfehle. Ein Beispiel für eine Strukturtheorie: die Situationslogik ethnischer Konflikte
Damit die Konzeption der speziellen Aufgaben der Soziologie – im Unterschied zu dem, was die Historiker so gerne und so trefflich tun, aber auch im Unterschied zu dem, was manche Soziologen unter soziologischer „Theorie“ verstehen – und insbesondere damit die Idee von den Strukturmodellen und den Struktutheorien noch etwas deutlicher wird, seien abschließend die Umrisse einer Strukturtheorie (mittlerer Reichweite) der Entstehung und der Dynamik von ethnischen Konflikten skizziert. Es handelt sich um ein Modell, das so möglicherweise auf keinen der empirisch vorfindbaren Einzelfälle ethnischer, religiöser und regionaler Konflikte anwendbar ist, aber Elemente enthält, die auf die eine oder andere Weise überall vorkommen: beim Konflikt etwa in Nordirland, in Somalia, in Burundi und Ruanda, beim amerikanischen Bürgerkrieg, in Kanada, in Spanien mit dem Baskenkonflikt oder im heutigen Rußland und seinem Konflikt in Tschetschenien. Die Grundlage ist, wie könnte es anders sein, das Modell der soziologischen Erklärung, und die Grundidee ist, daß sich die verschiedenen Stadien und Zusammenhänge aus einer gewissen inneren Situationslogik der Abläufe und jeweils gesondert zu erklärender „Anschlüsse“ ergeben. Das strukturtheoretische Modell der Situationslogik ethnischer Konflikte enthält sechs typische Phasen bzw. Erklärungsprobleme. Das erste Problem ist die Frage nach dem strukturellen Grund für den Konflikt zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Daran schließt sich zweitens das Problem der Mobilisierung der Gruppen und drittens die Frage an, warum es mit der Mobilisierung zu einer affektuellen und kulturellen Aufladung des Konfliktes kommt. Das ist das Problem des ethnischen, religiösen, emotionalen oder allgemein des kulturellen Framings des Konfliktes. Unter bestimmten Umständen gewinnen die Mobilisierung und das (ethnische) Framing eine eigene Dynamik der gegenseitigen Steigerung, die hier als Eskalation des Konfliktes bezeichnet werden soll. Das fünfte Problem ist dann die Verbreitung des
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Konfliktes über die meist engen Grenzen der zunächst nur beteiligten Gruppen hinaus, und das sechste schließlich die Frage nach den Umständen der Auflösung des Konfliktes, möglichst wieder aus mit dem Prozeß selbst gegebenen endogenen Vorgängen.9
Die Strukturtheorie ethnischer Konflikte besteht also aus der Verknüpfung von sechs Problembereichen und damit befaßten „Modulen“: die Konstitution eines strukturellen Konfliktes, die Mobilisierung der Konfliktparteien, die kulturelle Rahmung der Orientierungen und der Handlungen der Akteure, die Eskalation des Konfliktes, die Verbreitung in der weiteren Population und schließlich der „endogene“ Verfall des Konfliktes. Jedem dieser sechs Problemfelder wäre nun mindestens ein formales Modell oder ein spezielles Strukturmodell zuzuordnen. Und in der empirischen Analyse käme es darauf an, die Bedingungen für die Anwendbarkeit der jeweiligen Modelle narrativ zu belegen bzw. zu zeigen, worin die Abweichung bestand. Das erste Problem ist die Frage nach dem strukturellen Hintergrund aller ethnischen Konflikte. Nach dem hier vorgeschlagenen Modell liegt dieser Hintergrund stets in einem „konstitutionellen“ Interessen-Konflikt, so wie er in Abschnitt 4.3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ konzipiert worden war: Zwei Gruppen von Akteuren kontrollieren unterschiedliche Arten von Ressourcen, deren Wert davon abhängt, welche „Verfassung“ jeweils gilt, wobei jeweils immer nur eine Gruppe von einer Verfassung profitiert. Hinzu muß kommen, daß die beiden Gruppen nur wenig an generalisiertem Kapital kontrollieren, das seinen Wert auch auch unabhängig von irgendeiner spezifischen Verfassung hat. Formal beschreibt diese Situation ein sog. Konstant- oder Nullsummenspiel, eventuell sogar in der Art eines Negativsummenspiels, bei dem die eine Partei auf Kosten der anderen Partei nur weniger zu verlieren hat. Das ist insbesondere bei Gruppen der Fall, deren Lebensweisen sich sehr unterscheiden und denen es jeweils kaum möglich ist, dafür eine Alternative zu finden. Der strukturelle Hintergrund ist also ein „konstitutionelles“ Interesse an der Bewahrung oder Durchsetzung einer hohen Bewertung eines spezifischen Kapitals, das umso höher ist, je mehr die jeweilige Gruppe zu verlieren hat, wenn die jeweils andere Gruppe obsiegt und je geringer die gemeinsamen Interessen der beiden Gruppen sind. Das wäre das erste Modul der Strukturtheorie ethnischer Konflikte (vgl. dazu Abschnitt 4.3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ohne diese Konstellation würde es zu den nächsten Phasen erst gar nicht kommen. Kein noch so starkes „konstitutionelles“ Interesse aber bringt ein Aggregat von Akteuren dazu, dieses Interesse auch kollektiv wahrzunehmen. Das ist die nächste Phase und das zweite Problem, das es jeweils zu klären gilt: die Mobilisierung der Gruppe. Den Grund für dieses Problem hat Mancur Olson schon vor einiger Zeit in einer Kritik an der Revolutionstheorie von Karl Marx aufgezeigt: Die erfolgreiche Mobilisierung einer Gruppe ist ein sog. Kollektivgut, das auch denen zugute kommt, die nichts dafür getan haben. Weil aber der Erfolg ungewiß ist, die Risiken und Kosten einzelner Aktionen für die betreffenden Akteure aber sicher und hoch sind, unterbleiben kollektive Mobilisierungen meist – wenn nicht zusätzliche Anreize hinzutreten, wie etwa ein Heilsversprechen oder die soziale Kontrolle in der Nahum9
Vgl. ausführlicher dazu Hartmut Esser, Die Situationslogik ethnischer Konflikte. Auch eine Anmerkung zum Beitrag „Ethnische Mobilisierung und die Logik von Identitätskämpfen“ von Klaus Eder und Oliver Schmidtke (ZfS 6/98), in: Zeitschrift für Soziologie, 28, 1999, S. 245-262.
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gebung. Das wäre das zweite Modul: die Theorie des kollektiven Handelns nach Olson mit den Bedingungen, unter denen kollektive Mobilisierungen dennoch gelingen (vgl. dazu noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). An dieser Stelle wird der dritte Aspekt, das soziale Framing des Konfliktes, wichtig. Das soziale Framing von Situationen ist ein Vorgang, bei dem die Akteure die Perspektive ihrer Orientierung und ihres Handelns aufgrund gewisser Ereignisse von einer eher individualistisch-rationalen Orientierung auf eine kollektiv-emotionale Orientierung umstellen, etwa in Form einer ethnischen Identifikation, aber auch einer religiösen oder einer sonstigen „gemeinschaftlichen“ Rahmung mit solidarischen kollektiven Affekten. Hier werden Prozesse der kollektiven Definition der Situation bedeutsam, ausgelöst meist von „signifikanten“ Symbolen, die die Erinnerung an ganze „kulturelle Systeme“ und „mentale Modelle“ der Grenzziehung und Abwertung nach außen und der bedingungslosen Solidarität nach innen aktivieren und verstärken. Möglich und erleichtert werden solche kulturellen und emotionalen Rahmungen durch bis dahin eher latente, aber in den Gedächtnissen der Akteure vorhandene Erinnerungen an ähnliche Grenzziehungen und frühere Auseinandersetzungen – und durch den Gewinn, den eine kollektive Mobilisierung insgesamt erbringen würde. Ohne solche latenten Erinnerungen und ohne irgendwelche „Gewinne“ aus dem kollektiven Framing bleiben alle Rahmungsversuche, die etwa auch die jeweiligen Eliten beginnen würden, folgenlos. Bei den beschriebenen konstitutionellen Interessenkonflikten sind solche Versuche jedoch sehr plausibel und gelingen dann auch sozusagen aus dem Nichts heraus (vgl. zum sozialen Framing insbesondere noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hinzuzufügen wäre noch, daß sich das soziale Framing und die kollektive Mobilisierung gegenseitig verstärken können: Mit erkennbaren Akten der Mobilisierung der einen Seite muß die jeweils andere Seite damit rechnen, daß sich die Definition der Situation geändert hat, und das wiederum gibt Anlaß zur eigenen Mobilisierung und kollektiven Rahmung der Situation. Mit dem einmal begonnenen Framing des Konfliktes als „Gruppen“-Prozeß sind alle Akteure der jeweiligen Gruppen gezwungen, die Situation nur noch als antagonistisch wahrzunehmen, selbst wenn sie selbst nicht aggressiv oder gruppenbezogen gesonnen sind: Da mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, daß der jeweils andere Akteur die eigene Zurückhaltung ausnutzen würde, bleibt niemandem etwas anderes übrig als die eigene präventive Aggression. So entsteht nahezu automatisch das vierte Stadium – die Eskalation des Konfliktes. Das Ergebnis ist der gnadenlose Krieg aller gegen alle. Die formale Grundstruktur der Situation ist die eines Gefangenendilemmas und des Prozesses eines Rüstungswettlaufs, aus dem es bekanntlich endogen keinen einfachen Ausweg gibt (vgl. dazu insbesondere noch Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist das vierte Modul der Strukturtheorie ethnischer Konflikte. Sind in den Konflikt, wie oft, die Eliten der jeweiligen Gruppen verwickelt oder tragen ihn gar im wesentlichen allein, dann tritt das fünfte Problem, die Verbreitung über die gesamte Gesellschaft oder Region, nicht gesondert auf. Jetzt werden ja über herrschaftliche Akte ohnehin alle Ressourcen der jeweiligen Gruppen „mobilisiert“. Ist das jedoch nicht der Fall, könnte der Konflikt bald versanden. Nun kommt es darauf an, ob andere Gruppen mit dem Anlaufen des Konfliktes gewisse Chancen zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen sehen. Auf diese Weise kann sich ein eskalierender, aber zunächst nur auf wenige Gruppen begrenzter Konflikt auch eigendynamisch verbreiten und die ganze Region bzw. Gesellschaft nach und nach erfassen – je nach Verteilung der Bereitschaften über die verschiedenen Gruppen, sich der „Bewegung“ anzuschließen. Hier werden die in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits angesprochenen Schwellenwert- und Diffusionsmodelle bedeutsam, um verschiedene Verläufe der Mobilisierung und der Verbreitung von Protesten verständlich zu machen (vgl. zu anderen Modellen dieser Art noch Band 4,
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„Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Das wäre das fünfte Modul. Ein einmal angelaufener und nachhaltig ethnisierter Konflikt ist von sich aus kaum noch zu beenden. Das ist der sechste Problembereich des Modells. Der Grund für diese Eigendynamik ist der gleiche, der für die Eskalation verantwortlich ist. Nun ist die Beendigung des Konfliktes ist ein Gefangendilemma: Jeder, der zuerst aufhören würde, verlöre alles, und deshalb wird bis zum bitteren Ende weitergemacht, falls nicht ein externer Leviathan auftaucht, der, etwa in Gestalt der UNO oder der NATO, dem Treiben ein Ende macht. Allerdings gibt es auch einen endogenen Grund dafür, daß der Konflikt nicht endlos so weitergeht. Das ist die Aufzehrung der Reserven und die zunehmende Drohung eines gemeinsamen Untergangs bei Fortsetzung des Konflikts. Dadurch wandelt sich – aufgrund alleine der Fortsetzung des Konfliktes! – das Gefangenendilemma der Konfliktbeendigung nach und nach in ein sog. Chicken Game, und dabei kommt es nur darauf an, wer als erster die Nerven verliert und einseitig aufhört. Allerdings sind solche Verhältnisse nicht stabil, und es beginnen nach den diversen „Waffenstillständen“ die Auseinandersetzungen immer wieder bald aufs Neue. Diesmal sind aber die Chancen für ein freundliches Ende schon deutlich besser: Wenn jetzt „nur“ noch ein gewisses gemeinsames Interesse hinzutritt, etwa ein gemeinsamer Gegner oder die Aussicht auf gemeinsame ökonomische Vorteile, dann gibt es bald auch Grund, dem anderen nicht mehr nur zu mißtrauen. Und so kann sich, unter gewissen Bedingungen, auch wieder eine Situation einer Evolution einer Kooperation ergeben, bei der, wenn sie anhält, die Akteure später nicht mehr wissen wollen, was einmal an schrecklichen Dingen geschehen ist. Für dieses sechste und letzte Modul gibt es, wie man sieht, also ein ganzes Arsenal von formalen Modellen der Spieltheorie – Gefangenendilemma, Chicken Game, Assurance Game u.a., auf die wir insbesondere noch in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zu sprechen kommen werden.
Die grobe Skizze einer Strukturtheorie der ethnischen Konflikte könnte dann so aussehen wie in Abbildung 8.2. Mit Hilfe dieses Modells wäre es nun beispielsweise möglich, den Fall Jugoslawiens, der zu Beginn dieses Kapitels eher historisch beschreibend dargestellt worden war, noch einmal systematisch zu rekonstruieren und in seinem Ablauf über die „narrative“ Begündung für die Einsetzbarkeit der jeweiligen Module zu erklären. Der strukturelle Hintergrund des Konfliktes ist nach den Beschreibungen der Lage Jugoslawiens überdeutlich: Die katholischen Kroaten und Slowenen im Norden kontrollierten seit je her das ökonomische, die orthodoxen Serben im Süden das politische Kapital – und sonst jeweils nichts. Das alleine erklärt schon den durchgehenden Verfassungskonflikt mit den kroatischen und slowenischen Föderalisten im Norden und den serbischen Zentralisten im Süden. Für die Mobilisierung der Gruppen sorgten jeweils am Erhalt ihrer Positionen interessierte Eliten, bei den Serben nicht zuletzt auch mit Unterstützung durch die von ihnen kontrollierte Armee. Die Koinzidenz der kulturellen, ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten und einige ältere, sowie gewiß auch die jüngeren Erinnerungen an die Vorgänge im Zweiten Weltkrieg erleichterten dann das ethnische Framing dieses massiven Interessen-Konfliktes ganz beträchtlich. Das jedoch erst nach der Verdünnung der gemeinsamen Interessen der verschiedenen Gruppen, dem Verfall der charismatischen Kraft von Tito und dem zunächst schleichenden, dann aber immer mehr beschleunigten Zusammenbruch der institutionellen Grundlagen des zuvor durchaus vorhandenen Vertrauens unter den Gruppen. Mit der einmal begonnenen Erosion des Vertrauens und dem Anlaufen der Ethnisierung begann dann ein sich gegenseitig verstärkender Wettlauf von Präventivmaßnahmen, Provokationen und Reaktionen darauf, der schließlich das ganze Land und auch jene erfaßte, die sich dagegen gestemmt ha-
Soziologie und Geschichte
423
Noch einmal: die Aufgaben der Soziologen und die der Historiker
Die von Boudon und Bourricaud vorgeschlagene Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Geschichte wäre aber wohl eine für alle akzeptable Lösung der nun einmal vorhandenen Unterschiede, nicht nur im Vorgehen, sondern auch in den Talenten und Fachkulturen hier und dort. Allein deshalb müßten auch Historiker sich für die Strukturmodelle und Strukturtheorien der Soziologen interessieren können, wie sie in den folgenden Bänden der „Speziellen Grundlagen“ noch ausführlich zur Sprache kommen werden. Und auch die Soziologen sollten sich ein Beispiel an der Detailverliebtheit und analytischen Schärfe historischer Rekonstruktionen nehmen, wie etwa die der Einordnung des kürzlich erst gefundenen Dienstkalenders Himmlers und des Versuchs der Beantwortung der Frage, wie es im Laufe des Jahres 1941 zu dem unglaublichen Beschluß zur Vernichtung der Juden durch die Nazi-Führung kam, auch wenn dadurch kaum erklärt werden kann, warum es zum Faschismus in Deutschland (und anderswo) mitten im 20. Jahrhundert überhaupt kommen konnte.
Kapitel 9
Die Gesellschaft der Menschen
Die Gesellschaft ist jenes besondere soziale System, das keine soziale Umgebung mehr hat. Sie zieht die weiteste Grenze der sozial nutzbaren materiellen und technischen Möglichkeiten, der Geltung der institutionellen Regeln, des Sinns der kulturellen Bezugsrahmen und der Bedeutung der damit verbundenen Symbole, und sie umfaßt dabei alle anderen sozialen Systeme und konkreten sozialen Gebilde. Darüber herrscht eine in der Soziologie ansonsten unübliche Einigkeit – bis hinein in die neuesten und auch die wunderlichsten Varianten der sog. Gesellschaftstheorie.1 Die Gesellschaft ist dabei, wie das mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann in der Einleitung ganz zu Beginn von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und in Kapitel 2 dieses Bandes der „Speziellen Grundlagen“ noch einmal systematisch festgehalten wurde, das Ergebnis einer „gesellschaftlichen Konstruktion“: Sie konstituiert und wandelt sich als soziales System in der wechselseitigen Begrenzung und Ermöglichung der psychischen Systeme in Gestalt der menschlichen Akteure und der kulturellen Systeme der sozial geteilten und symbolisierten mentalen Modelle der Orientierung und des Handelns. Diese Konstruktion der Gesellschaft als Ko-Konstitution und Ko-Evolution von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen läßt sich im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln auch schon gesehen haben, als fortlaufende situationslogische Sequenz des Dreierschrittes der Logik der Situation, der Logik der Selektion und der Logik der Aggregation rekonstruieren. Die Grundlage des Geschehens ist die von den Akteuren zu ihrem Überleben angestrebte Reproduktion des Alltags und die Produktion und Verteilung der dazu nötigen Ressourcen.
Diese, von den menschlichen Akteuren getragene, auf sie selbst wieder zurückwirkende und sie als vergesellschaftete Subjekte jeweils wieder konstituierende Konstruktion geht stets von typischen Strukturen aus – und mündet stets wieder darin. Die Strukturen der Gesellschaft entstehen und „bestehen“ 1
Vgl. so auch zuletzt noch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 78f. Vgl. auch die Übersicht bei Ansgar Weymann, Gesellschaft/Gesellschaftstheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 1, Hamburg 1999, S. 470-480. Siehe auch Kapitel 20: „Der Begriff der Gesellschaft“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
426
Die Konstruktion der Gesellschaft
dabei aber nur als Ergebnis von ununterbrochenen Prozessen der beständigen „Hervorbringung“, von Prozessen, die sich manchmal verfestigen und in ein übergreifendes, wenngleich im Prinzip stets nur temporäres, Gleichgewicht eines bestimmten „Typs“ von Gesellschaft münden, etwa den antiken Stadtstaat oder die großen Reiche in China oder in Indien. In diesem Prozeß der gleichgewichtigen Reproduktion ändern sich die Strukturen aber immer auch fortfährend, meist langsam, graduell und unmerklich, gelegentlich aber auch abrupt, komplett und mit einem Donnerschlag.
9.1
Die Strukturierung der Gesellschaft
Das (soziale) Handeln, das die „Konstruktion“ der Gesellschaft durch die menschlichen Akteure trägt, folgt, so wissen wir inzwischen auch, den Vorgaben der subjektiven Definition der Situation und den Regeln der WETheorie. Es war, nach Karl R. Popper mit seinem Konzept der Situationslogik, vor allem Robert K. Merton, der diese im Prinzip richtige Annahme von der stets subjektiven Definition der Situation vor einem allzu leichtfertigen Subjektivismus und Psychologismus zu bewahren versucht hat: Auch die nach psychologischen Gesetzen ablaufende subjektive Definition der Situation unterliegt objektiven Vorgaben, ebenso wie das darauf folgende Handeln (dann) objektiv strukturiert ist und die Aggregation der kollektiven Folgen selbstverständlich auch.2 Diese Objektivierung bezieht sich insbesondere schon auf die Logik der Situation, der sich die Akteure immer wieder gegenübersehen: Die überhaupt nur möglichen Alternativen des Handelns, die Erwartungen und die Bewertungen und darüber dann die Orientierungen der Akteure sind deutlich vorstrukturiert. Der allgemeine Hintergrund dieser Strukturierung der Logik der Situation und der möglichen Alternativen sind die Strukturen der Gesellschaft insgesamt: die Infrastruktur, die soziale Struktur und die Superstruktur (siehe dazu gleich unten mehr), insbesondere aber die institutionelle „Verfassung“ der Gesellschaft – die Festlegung der primären und der indirekten Zwischengüter, der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel über die jeweils geltenden sozialen Produktionsfunktionen.
2
Vgl. zur Rekonstruktion der Art der soziologischen Analyse und des Gesellschaftskonzepts von Robert K. Merton: Arthur L. Stinchcombe, Merton’s Theory of Social Structure, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 11-33. Siehe auch schon Kapitel 3 und 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen
427
Darüber bestimmen sich die drei grundlegenden äußeren Bedingungen der Situation der Akteure: die materiellen und technischen Opportunitäten, die institutionellen Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen des Sinns des Handelns in den Situationen. Sie steuern die objektive Definition der Situation und legen insbesondere die Alternativen für die Akteure in strukturierter Weise fest. Die äußeren Bedingungen der Situation, die materiellen Opportunitäten, die institutionellen Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen also, „bestehen“ dabei als Strukturen nur in ihrer beständigen und gleichgewichtigen gesellschaftlichen Reproduktion: Die aggregrierten Ergebnisse des strukturierten Handelns der Akteure wirken derart wieder auf das soziale System der Gesellschaft zurück, daß es sie als relativ stabile Gegebenheiten und als „Strukturen“ der Gesellschaft gibt. Der Vorgang der Aggregation des Handelns der Akteure zu – oft unintendierten – strukturellen Folgen sei als systemische Konstitution bezeichnet, weil die Konstitution des sozialen Systems der Gesellschaft zwar nur über das Handeln von Akteuren, aber weitgehend unabhängig von ihren speziellen individuellen psychischen Verfassungen und Motiven abläuft. Die inneren Bedingungen der Situation sind ebenso vorstrukturiert. Es ist die – durch Willensakte allein nicht zu beeinflussende und in Prozesse der Interaktion und der Sozialisation eingelagerte – Identität der Akteure. Erst im Zusammentreffen der äußeren und der inneren Strukturen der Situation ergeben sich die das Handeln leitenden Orientierungen und deren Struktur wiederum, und zwar als deutlich strukturierte subjektive Definition der Situation, aus der sich, vor dem Hintergrund der objektiven Definition der Situation, eine strukturierte Sicht auf die Situation ergibt. Auch die inneren Bedingungen der Situation werden beständig neu reproduziert und systematisch strukturiert. Das geht, wie wir aus der bio-psychologischen und der soziologischen Anthropologie gut wissen, nur über die Einbettung der Akteure in „primäre“ Nahumwelten, in relativ kleine und „insulierte“, selbst wieder stabile und sich über Interaktionen mit „identisch“ bleibenden Akteuren reproduzierende Gruppen, genauer in sog. Primär-Gruppen, in Lebenswelten, aber auch über die Einflüsse und Orientierungen aus den sog. Bezugsgruppen.3 Die Nahumwelten der (Primär-)Gruppen, Lebenswelten und Bezugsgruppen besorgen dabei die Vermittlung der äußeren objektiven Bedingungen in die inneren subjektiven Befindlichkeiten der Menschen. Diese (Mikro-)Vermittlung der (Makro-)Strukturen verläuft typischerweise über Prozesse der Interaktion, speziell aber der Kommunikation, und der damit zusammenhängenden Vorgänge des 3
Vgl. dazu besonders eindringlich: Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M. 1980, insbesondere Kapitel 2 und 3.
428
Die Konstruktion der Gesellschaft
gänge des sozialen Vergleichs, des sozialen Einflusses und der Identifikation mit der Gruppe und – allgemein – der Sozialisation der Menschen (vgl. dazu insgesamt noch Band 3, „Soziales Handeln“, sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). In ihrem Bestand und ihren jeweils eigenen Strukturen sind die Nahumwelten und die Prozesse der interaktiven Vermittlung selbst wiederum von dem Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktion und den Strukturen der Gesellschaft insgesamt abhängig, und sie tragen diesen Rahmen und diese Strukturen indirekt über die Strukturierung der Orientierungen der Akteure, wie das etwa in dem Konzept der lebensweltlich unterstützten Wertintegration der Gesellschaft angenommen wird. Sie selbst werden aber nur über das unmittelbare Handeln von in persönlicher Beziehung stehenden Akteuren konstituiert. Dieser Vorgang sei daher als soziale Konstitution bezeichnet. Mit der Strukturierung der Logik der Situation ist auch das Handeln der Menschen schon deutlich vorstrukturiert. Die Strukturierung des Handelns ist aber keine Frage der „gesellschaftlichen“ Strukturierung oder der „subjektiven“ Definition der Situation allein, sondern auch eine der Gültigkeit der nun eingesetzten Handlungstheorie und der psychologischen Annahmen über die Logik der Selektion des Handelns. Mit der WE-Theorie gibt es für diese „Logik“ eine einfache, theoretisch fruchtbare und empirisch erfolgreiche Lösung (vgl. dazu schon die Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie gilt, so wird angenommen, ganz allgemein und ist von räumlichen, sachlichen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen unabhängig. Deshalb muß darüber jetzt nicht mehr viel gesagt werden: Die Logik des Handelns nach der WE-Theorie ist bio-psychisch strukturiert und in der Hardware des menschlichen Organismus verankert. Sie unterliegt deshalb keinem gesellschaftlichen Wandel, höchstens einem der biologischen Evolution. Und das dauert. Die Logik der Aggregation folgt schließlich der Anwendung bestimmter Transformationsregeln auf die durch das Handeln der Akteure erzeugten individuellen Effekte unter gewissen Annahmen der sog. Transformationsbedingungen (vgl. dazu ausführlich Kapitel 1 in diesem Band). Es gibt auch dafür strukturierte „Typen“ von Aggregationen, wie etwa die Modelle der Spieltheorie, die von Marktprozessen und von Verhandlungen oder die Modelle der Diffusion und der Ansteckung, sowie die sog. Strukturmodelle (vgl. dazu auch schon Kapitel 8 in diesem Band). Über solche Aggregationen sind die Prozesse der systemischen Konstitution der gesellschaftlichen Strukturen und die der sozialen Konstitution der Nahumwelten und der Identitäten der Akteure erklärbar. Und ist das geschehen, kann alles von vorne beginnen.
Die Gesellschaft der Menschen
429
Auf diese Weise einer sequentiellen situationslogischen Erklärung lassen sich – im Prinzip – die Entstehung, die Etablierung und der Wandel der gesellschaftlichen Strukturen und aller ihrer Gebilde und die der „Identitäten“ der daran beteiligten Akteure simultan erklären: als strukturiertes und selbst wieder strukturierendes Geschehen der wechselseitigen Konstitution von Mensch und Gesellschaft. Die „Strukturen“ bestehen dabei aus der – relativ – gleichgewichtigen Reproduktion der äußeren und der inneren Bedingungen der Situation. Diese gleichgewichtige Reproduktion bildet den funktionalen Aspekt der Konstruktion der Gesellschaft. Die in ihrer gleichgewichtigen Reproduktion äußerlich stabilen Strukturen der Gesellschaft lassen sich im Prinzip als drei verschiedene Ebenen differenzieren, die der Unterscheidung der materiellen Opportunitäten, der institutionellen Regeln und der kulturellen Bezugsrahmen folgen (siehe dazu auch schon oben): die Infrastruktur, die soziale Struktur und die Superstruktur der Gesellschaft (vgl. dazu auch schon Kapitel 25: „Die Strukturen der Gesellschaft“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die „Basis“ der Gesellschaft bildet dabei die Infrastruktur der technischen, der geographischen, der sonstigen materiellen und, nicht zu vergessen, auch der demographischen Verhältnisse, Möglichkeiten und Begrenzungen. Sie ist der weiteste Rahmen für alles, was geschehen kann. Die soziale Struktur beschreibt dann, ganz allgemein, die „gesellschaftlichen Verhältnisse“, die sich die Akteure zur Organisation ihrer alltäglichen Reproduktion zugelegt haben. Sie wiederum umfaßt verschiedene Aspekte der Ordnung, Differenzierung und Strukturierung. Zur sozialen Struktur einer Gesellschaft gehört zu allererst die institutionelle Struktur, im weitesten Sinn also die „Verfassung“ der Gesellschaft und damit die sozialen Produktionsfunktionen. Die damit gegebene Definition der kulturellen Ziele und der institutionellen Mittel liefert dreierlei: erstens die Strukturierung der (latenten) Machtverhältnisse und Interdependenzen aus der Verteilung von Interesse und Kontrolle bei den Ressourcen. Das erzeugt die Interdependenzstruktur, der die Menschen in der Gesellschaft unterliegen. Zweitens wird mit den sozialen Produktionsfunktionen die Sinnstruktur der Orientierungen in Form der Codes und der Programme für die diversen sozialen Systeme definiert, aus denen die Gesellschaft „besteht“. Daran schließt sich die Bewertungsstruktur an, die Rangordnung des Wertes der Ressourcen und Eigenschaften, die die Akteure unter Kontrolle haben oder anstreben könnten, einschließlich der Regeln für die Vergabe bestimmter Privilegien und für das Prestige der Eigenschaften und Ressourcen. Daraus ergeben sich die Differenzierungstruktur und die Ungleichheitsstruktur. Die Differenzierungsstruktur beschreibt die Unterschiedlichkeit der Gesellschaft in Hinsicht auf ihre sozialen Systeme, die funktionalen Sphären, die kulturellen Milieus und die Devianz-Bereiche also. Die Ungleichheitsstruktur bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit in den gesellschaftlichen Lagen der Akteure der Gesellschaft, sei das in horizontaler Hinsicht aus der Aggregation von Akteuren mit ähnlichen Eigenschaften, sei das, über die Bewertungsstruktur geordnet, in vertikaler Hinsicht. In der horizontalen Dimension lassen sich dann, entsprechend den Systemen der Differenzierungsstruktur, eine funktionale, eine kulturelle und eine normative Ungleichheit unterscheiden, und in der vertikalen Dimension die verschiedenen typischen Formen der sozialen Ungleichheit der Klassen und Stände
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Die Konstruktion der Gesellschaft
(und des Sonderfalls der Kasten) und der sozialen Schichten. In den diversen Gruppierungen und Milieus der sog. neuen sozialen Ungleichheit kombinieren sich typische Aspekte der horizontalen mit Aspekten der vertikalen Ungleichheit. Die Akteure aggregieren sich vor diesem Hintergrund in ganz unterschiedliche Typen sozialer Systeme: in soziale Kategorien, auf denen die soziale Ungleichheit beruht, in soziale Aggregate, kollektive und korporative Akteure (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in diesem Band näher). Diese Formen sozialer Systeme und Gebilde seien zusammenfassend als die korporative Struktur der Gesellschaft bezeichnet. Aus alledem ergeben sich dann die Beziehungen der Menschen und der verschiedenen „kollektiven“ Gebilde der korporativen Strukur untereinander, gleichgültig wie sie geregelt sind, sei es als strategisches Handeln, sei es als über Wissen und Symbole gesteuerte Interaktionen, sei es als auch normativ geregelte soziale Beziehungen oder in der Form von Transaktionen, etwa des „Tausches“ der Arbeitskraft gegen Einkommen. Das sei insgesamt die Beziehungsstruktur unter den Akteuren und sozialen Gebilden (aller Art) einer Gesellschaft.
Über die Infrastruktur und über die soziale Struktur wölbt sich, wie Karl Marx das ausgedrückt hat, dann, wenngleich nicht unbedingt in allen Gesellschaften gleichermaßen verbindlich und steuernd, der „Überbau“ einer Superstruktur: die von den Akteuren geteilten, auf die Gesellschaft als „Ganzes“ gerichteten und sie trotz aller inneren Spannungen integrierenden „Ideen“ und „kollektiven Repräsentationen“, insbesondere in der Form von Werten, Solidaritäten und Ideologien, wie etwa die hinduistische Religion in Indien, der Glaube an die Grande Nation in Frankreich oder der American Dream in den USA. In Abbildung 9.1 sind die verschiedenen Ebenen und Dimensionen der Strukturen der Gesellschaft zusammengefaßt. Jede einigermaßen strukturierte Gesellschaft bildet eine reproduktive Einheit der wechselseitigen Konstitution aller dieser Strukturen. Die materiellen und technischen Möglichkeiten und die damit verknüpften Interessen, Institutionen und Ideen bilden im funktionalen Gleichgewicht ihrer Reproduktion eine strukturierte Einheit – mit unterschiedlichen Graden der inneren Differenzierung und Ungleichheit. Und sie bilden in dieser Einheit unverwechselbare „Typen“ der funktionalen Abstimmung und des Gleichgewichts aller ihrer Elemente (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden, gleich unten im Anschluß an Abschnitt 9.2). Aber auch die gleichgewichtige funktionale Reproduktion der Gesellschaft findet, wie wir oben bereits festgehalten haben, nur als fortlaufender Prozeß statt. Die gesellschaftlichen Strukturen wandeln sich, selbst in der äußerlich unverrückbarsten Stabilität, fortwährend, wenngleich meist nur unmerklich.
Die Gesellschaft der Menschen
431
Superstruktur soziale Struktur * institutionelle Struktur * Interdependenz-Struktur * Sinnstruktur * Bewertungsstruktur * Differenzierungsstruktur – funktionale Sphären – kulturelle Milieus – Devianz-Bereiche * Ungleichheitsstruktur – horizontal: funktionale Ungleichheit kulturelle Ungleichheit normative Ungleichheit – vertikal:
Klassen und Stände soziale Schichten neue soziale Ungleichheit
* korporative Struktur * Beziehungsstruktur Infrastruktur Abb. 9.1: Die Strukturen der Gesellschaft Oft ist dieser Wandel endogen als eine innere Eigendynamik oder als eine Pfadabhängigkeit eines einmal eingeschlagenen und kaum noch zu revidierenden Weges angelegt. Es kann aber auch jederzeit exogene Ereignisse geben, die ein bestehendes Gleichgewicht oder einen vorgezeichneten Prozeßablauf unabhängig von der endogenen Eigendynamik stören können (vgl. dazu schon Abschnitt 7.4 in diesem Band). Von einer endogenen Abweichung oder einer exogenen Störung kann die Gesellschaft dann – unter Umständen – wieder zu dem alten funktionalen Gleichgewicht zurückfinden. Sie kann aber auch einen ganz anderen Pfad der durch die Störung eingeleiteten weiteren endogenen Entwicklung einschlagen und zu einem neuen Gleichgewicht und zu einer neuen Struktur gelangen – oder im Nichts der Geschichte verschwinden, wie das u.a. dem Römischen Imperium oder der guten alten DDR passiert ist.
432
Die Konstruktion der Gesellschaft
Auch im Prozeß der gleichgewichtigen Reproduktion werden daher immer wieder im Prinzip neue gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht. Das geschieht dann, wenn sich der evolutionäre Prozeß wieder in ein funktionales Gleichgewicht der Reproduktion einfindet, wobei zur Bildung solcher Gleichgewichte der Vorgang der sog. strukturellen Selektion entscheidend ist: Jeder Wandel von Strukturen beschreibt unvermeidlicherweise eine Sequenz von definitiv ausgeschlossenen Alternativen und nun erst möglicher, wahrscheinlicher oder gar zwingender nächster Schritte.4 Die fortwährende, mehr oder weniger rasche und gravierende, prozessuale Änderung der Reproduktion auf einem nach vorne offenen Pfad der strukturellen Selektion und der, sozusagen, von hinten kausal getriebenen und dadurch auch nach vorne gerichteten Entwicklung ist der evolutionäre oder historische Aspekt der sozialen Konstitution der Gesellschaft. Dieser Pfad bewegt sich meist nicht linear, sondern in einem Wechsel von, mehr oder weniger abrupten, Übergängen von einem funktionalen Gleichgewicht zu einem anderen. Er ist in seiner vergangenen Entwicklung oft gut zu rekonstruieren, in die Zukunft hinein jedoch grundsätzlich nicht vorherzusagen: Es gibt keine „Gesetze“ der Entwicklung von Gesellschaften oder gar der Geschichte insgesamt, und damit sind auch Prognosen über längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen grundsätzlich nicht möglich.5 Zur Verdeutlichung der beschriebenen Zusammenhänge sei das Konzept der prozessualen Strukturierung der Strukturen der Gesellschaft und ihres evolutionär-historischen Wandels in einem vereinfachenden Schema zusammengefaßt. Es lehnt sich an die Rekonstruktion der theoretischen Überlegungen Mertons durch Arthur Stinchcombe an und erweitert und integriert es in das Modell der soziologischen Erklärung (Abbildung 9.2; vgl. Stinchcombe 1975, S. 13). Die systemische Konstitution der obersten Makroebene der Gesellschaft ist in dem Diagramm über die beiden Prozesse der funktionalen Reproduktion und des – mehr oder weniger raschen – evolutionären Wandels der Strukturen der Gesellschaft, der Superstruktur, der sozialen Struktur und der Infrastruktur, beschrieben. Diese Strukturen strukturieren die materiellen Opportunitäten, die institutionellen Regeln, damit insbesondere die sozialen Produktionsfunktionen, und darüber die kulturellen Bezugsrahmen der „kollektiven Repräsentationen“. Das alles sind, es sei wiederholt, objektive Vorgaben 4
Vgl. dazu programmatisch: Michael Schmid, Soziales Handeln und strukturelle Selektion. Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1998, S. 264ff.
5
Vgl. dazu besonders nachdrücklich: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), Kapitel 27: Gibt es ein Entwicklungsgesetz? Gesetze und Trends, S. 83-94; vgl. dazu auch schon die Abschnitte 7.2 und 7.4, sowie Kapitel 8 in diesem Band.
Die Gesellschaft der Menschen
433
für die Orientierungen und das Handeln der Akteure, wenngleich nur sie – und nur sie – die Strukturierung der gesellschaftlichen Strukturen tragen. Die Pfeile „hinein“ in das Diagramm und die wieder „hinaus“ sollen andeuten, daß es sich um einen Ausschnitt aus einem fortlaufenden Geschehen handelt, das sowohl eine erklärend-rekonstruierbare Vorgeschichte wie eine – in Grenzen und mit vielen Vorbehalten freilich – auch prognostizierbare Zukunft hat. Das Diagramm enthält in geraffter Form (fast) alles, was in den „Allgemeinen“ und den „Speziellen Grundlagen“, teilweise in recht vertiefender Weise, zur Sprache kommt und zum Verständnis und zur Erklärung der Konstruktion der Gesellschaft nötig ist. Es kann auch zur Lokalisierung der vielen Einzelheiten im Gesamtzusammenhang des Konzeptes der soziologischen Erklärung und der Konstruktion der Gesellschaft benutzt werden, die dabei behandelt und verstanden werden müssen.
Die Gesellschaft der Menschen
9.2
435
Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
Die Gesellschaft der Menschen hat sich geschichtlich in einer Abfolge der Bildung, der Auflösung und der Neukonstitution von funktionalen Gleichgewichten entwickelt, ausgehend von den weitgehend unbekannten Anfängen aus den Horden der Hominiden über die Urgesellschaften der Jäger und der Sammler, die Gartenbau- und Agrargesellschaften, die antiken Stadtstaaten und Imperien, die asiatischen Reiche und die europäischen Feudalgesellschaften des Mittelalters bis zu den heutigen Formen der „modernen“ industriellen Großgesellschaften. Es war ein stetiger Wechsel der gleichgewichtigen funktionalen Reproduktion und des evolutionären, manchmal auch des abruptrevolutionären Übergangs auf einen jeweils historisch ganz neuen „Typ“ des Gleichgewichtes, meist eingeleitet durch gewisse „revolutionäre“ Erfindungen, wie die Kultivierung von Pflanzen, die Einführung des Pfluges, der Dampfmaschine, des Telephons und des Fernsehens, zum Beispiel. In einer groben Einteilung läßt sich diese Entwicklung als die Abfolge von drei Typen der gesellschaftlichen Reproduktion mit zwei Übergängen zusammenfassen: als Übergang vom Typ der sog. segmentär differenzierten Gesellschaften zu den sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften und von dort zu den sog. funktional differenzierten Gesellschaften. Die drei Typen der segmentär, der stratifikatorisch und der funktional differenzierten Gesellschaften unterscheiden sich insbesondere in der jeweils ganz speziellen Kombination von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit. In den segmentär differenzierten Gesellschaften gibt es, natürlich nur typisierend-vereinfachend gesehen, weder eine besondere soziale Differenzierung noch eine nennenswerte soziale Ungleichheit. Die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften weisen sowohl eine ausgeprägte soziale Differenzierung, vor allem die einer gesellschaftlichen Funktionsaufteilung, wie eine deutliche soziale Ungleichheit auf. In den funktional differenzierten Gesellschaften schließlich gibt es eine starke soziale Differenzierung und extreme Formen der funktionalen Arbeitsteilung, und gleichzeitig die Auflösung der systematischen Zuordnung der Akteure zu den funktionalen Positionen. Dadurch entkoppeln sich dort die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale Ungleichheit der Akteure. Und als Folge sinkt das Ausmaß der sozialen Ungleichheit unter den Menschen, wenngleich in keiner Weise wieder auf den Egalitarismus der segmentären Gesellschaften.
In diesem Abschnitt werden wir den Vorgang der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft über die drei Typen der gesellschaftlichen Differenzierung kurz skizzieren.6 Es ist, sozusagen, eine auch historisch ausgreifende Über6
Wir stützen diese Skizze insbesondere auf die Übersichten bei Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973, Kapitel 5-13; Gerhard Lenski und Jean Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl., New York u.a. 1987, insbesondere die kurze Übersicht in Kapitel 4: Types of Human Societies; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York
436
Die Konstruktion der Gesellschaft
sicht über die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, um die es in den „Speziellen Grundlagen“ geht: die Entstehung von sozialer Ordnung und sozialem Wandel und alle damit zusammenhängenden Einzelvorgänge, vor allem die des sozialen Handelns und der damit zusammenhängenden Prozesse der Konstitution und des Wandels der Infrastruktur, der sozialen Strukturen und der Superstruktur von Gesellschaften. 9.2.1 Segmentär differenzierte Gesellschaften Ursprünglich haben die Menschen in kleinen insulierten Gruppen zusammengelebt.7 Von „Gesellschaft“ konnte man dabei noch nicht reden, weil die (Lebens-)Welt der kleinen Gruppe mit der „Gesellschaft“ zusammenfiel. Erst in der Zusammenfassung solcher kleiner Gruppen zu größeren Verbänden, etwa einer Horde, entsteht „Gesellschaft“, wahrscheinlich durch bloße Bevölkerungsvermehrung und Teilung der Gruppen. Horden sind dabei nichts weiter als die „Addition“ der kleinen Gruppen, die man nun auch als Familien bezeichnen könnte, weil sie ab jetzt schon eine besondere „Funktion“ haben: die demographische Reproduktion. Größere Einheiten sind schon dreistufig aufgebaut, etwa über Familien, Dörfer und Stämme. Die Besonderheit ist die gegenseitige Unabhängigkeit, die dadurch mögliche Autonomie und die Ähnlichkeit der Gruppen untereinander, die die „Gesellschaft“ der Horden bzw. der Stämme ausmachen: Wenn eine Gruppe ausfällt, stört das den Gesamtverband so gut wie nicht, und eine Gesellschaft kann durch eine einfache „Zellteilung“ wachsen, ohne daß sich irgendetwas ändert. Dieses Muster der Unterteilung einer Gesellschaft in prinzipiell gleich strukturierte und autonom und unabhängig operierende Untereinheiten wird
1989, insbesondere die Kapitel 4 bis 12 und 16; Stephen K. Sanderson, Macrosociology. An Introduction to Human Societies, 2. Aufl., New York 1991; Harold R. Kerbo, Social Stratification and Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3. Aufl., New York u.a. 1996, Kapitel 3: Social Stratification in Human Societies: The History of Inequality; Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 317; Luhmann 1997, Kapitel 4: Differenzierung. Vgl. insgesamt zur Unterscheidung von segmentärer und funktionaler (arbeitsteiliger) Differenzierung natürlich: Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977. 7
Claessens 1980, Kapitel 2. Siehe auch Kapitel 12 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen
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als segmentäre Differenzierung bezeichnet.8 Die frühen Jäger- und Sammlergesellschaften, aber auch einige heute oder bis vor kurzem noch existierende Gesellschaften, etwa die der Ureinwohner Australiens, die Pygmäen und Buschmenschen in Afrika oder einige Indianerstämme in Nordamerika gehören dazu. Es sind, wie Emile Durkheim das ausgedrückt hat, Gesellschaften, die „aus einer einfachen Wiederholung von Grundsubstanzen“, den „Horden“, bestehen, und „deren Teile sich untereinander nicht unterscheiden“ (Durkheim 1977, S. 215). Strukturen Die Infrastruktur der segmentär differenzierten Gesellschaften besteht aus sehr einfachen Mitteln der Reproduktion, insbesondere der Nahrungsmittelproduktion, der Behausung, der Herstellung von Werkzeugen und Waffen und des Transports. Die Technik der Metallverarbeitung ist unbekannt. Die Gruppen sind zahlenmäßig sehr klein, so daß sich beispielsweise eine über die Geschlechterrollen hinausgehende Arbeitsteilung nicht einrichten läßt. Die Effizienz der Produktion ist sehr gering, mit der Folge, daß die Gruppen beständig am Rande des Existenzminimums leben. Und deswegen gibt es auch keinen Überschuß an Ressourcen, den es zu verteilen gäbe. Das zentrale Kennzeichen der sozialen Struktur der segmentär differenzierten Gesellschaften ist die Existenz einer einzigen, übergreifenden sozialen Produktionsfunktion mit einem einzigen Imperativ: Nahrungssicherung. Eine irgendwie geartete funktionale Differenzierung gibt es so gut wie nicht, wenngleich gewisse „Funktionen“, wie die der politischen Herrschaft durch einen Häuptling oder die der Spannungsbewältigung durch einen Schamanen, durchaus schon an dazu auserkorene Personen übertragen werden. Das sind aber keine institutionalisierten Funktionen, sondern sie unterliegen sehr stark den jeweiligen „Leistungen“ der Personen. Wegen des Fehlens der funktionalen Differenzierung gibt es – im Prinzip – auch nur einen Code und ein Programm des Handelns. Das Kennzeichen der segmentär differenzierten Gesellschaften ist, kurz gesagt, die funktionale Diffusität. Es fehlen – daher – auch die anderen Formen der sozialen Differenzierung: Es gibt nur ein kulturelles Milieu, und Devianz-Bereiche sind unbekannt. Abweichungen werden unverzüglich und „repressiv“ geahndet, meist mit der Eliminierung des Missetäters. 8
Vgl. dazu näher Durkheim 1977, S. 215ff.; Lenski 1973, Kapitel 5: Jäger- und Sammlergesellschaften; Harris 1989 passim; Kerbo 1996, S. 57ff.; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt IV: Segmentäre Gesellschaften, S. 634ff.
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Besondere Privilegien und ein besonderes Prestige gibt es ebenfalls kaum, und wenn, dann ausschließlich (wieder) auf personalisierter Basis, vor allem aufgrund besonderer Leistungen, etwa als erfolgreicher Jäger, mutiger Krieger oder weiser Alter. Allein schon wegen der fehlenden Ressourcen gibt es auch keine soziale Ungleichheit. In den Jäger- und Sammlergesellschaften herrscht der Urkommunismus der Notgemeinschaften. Und schon wegen der geringen Größe und aufgrund der fehlenden Interessengegensätze zwischen irgendwelchen Untergruppen ist auch an irgendeine Form der korporativen Strukturierung nicht zu denken. Die Beziehungen der Menschen finden als unmittelbare Zusammenkunft und als Interaktion statt, meist als eine Art von symbolischer Interaktion und Gestenkonversation und – vor allem – über die mündliche Sprache. Die Superstruktur der geteilten Ideen und Ideologien spiegelt die extreme Abhängigkeit der Gruppen von der äußeren Natur und deren Zufälligkeiten wider. „Zufall“ kann als „Erklärung“ für unerklärliche Ereignisse nicht akzeptiert werden. Das wäre unerträglich. Für alles sind Geister und magische Mächte verantwortlich, auf die man in allerlei ritueller Weise Einfluß zu nehmen versucht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das sog. prälogische Denken der sog. Primitiven). Animismus und der Glaube an eine Ordnung des Kosmos, jedenfalls nicht an einen personalisierten „Schöpfer“ Gott, sind die typischen Kennzeichen der gedanklichen Konstruktionen, um mit dem Unfaßbaren fertig zu werden, das immer sehr nah ist. Konstitution und Integration Die Reproduktion der segmentär differenzierten Gesellschaften erfolgt ausschließlich über Formen der sozialen Konstitution: Die „Gesellschaft“ ist die „Lebenswelt“, und jede Systemintegration geschieht über die soziale Integration. Jeder sieht beständig jeden, und alles ist von allem und jeder von jedem abhängig. Für individuelle Abweichungen von den grundlegenden Imperativen ist wenig Platz, und es herrschen eine ausgeprägte kollektive Identität und Identifikation mit der Gruppe insgesamt. Segmentäre Gesellschaften sind, wie das Marcel Mauss einmal ausgedrückt hat, totale soziale Phänomene, in denen alles seine funktionale Bedeutung und Unentbehrlichkeit hat. Das gilt auch in einer anderen Hinsicht: Der „Totalität“ der Stammesgesellschaft können sich die Akteure nicht entziehen. Sie sind voll inkludiert – oder ganz draußen. Wegen der persönlichen Begegnungen entwickelt sich gleichwohl eine hohe „Personalität“ in den Beziehungen, in denen die – im Rahmen der Gruppe
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bleibende – individuelle Eigenart der Menschen in hohem Maße respektiert wird. Wegen des Fehlens jeder Alternative und wegen der extremen Abhängigkeit der Akteure voneinander ist der Zusammenhalt der Gruppen keinerlei „Problem“. Er erfolgt nahezu automatisch. Emile Durkheim sprach daher ganz treffend auch von der „mechanischen“ Solidarität der Menschen aus der Ähnlichkeit ihrer Befindlichkeiten und der Stärke der kollektiven Identifikationen heraus (Durkheim 1977, S. 111ff.). Die Wege zur Nutzenproduktion, zu sozialer Wertschätzung vor allem, sind in den segmentären Gesellschaften extrem kurz. Und dies erleben die Menschen – bei aller sonstigen Begrenzung – als durchaus angenehm: Sie fühlen sich in ihrer Lebenswelt geborgen und hätten für „individuelle“ Selbstverwirklichung wenig Sinn. Die wäre auch gar nicht möglich, weil das Netz der sozialen Kontrolle allein wegen der Übersichtlichkeit der Gesellschaft so dicht ist. Wegen der in segmentären Gesellschaften immer großen Ressourcenknappheit und starken Abhängigkeit von den Bedrohungen aus der Umgebung der Gruppe besteht gleichzeitig eine gewisse Unterversorgung mit den Lebensmitteln für das physische Wohlbefinden. Darum vor allem empfinden die Menschen das Leben in der solidarischen Enge der einfachen Stammesgesellschaften nicht immer nur als angenehm. Und darum haben sie immer auch nach Wegen gesucht, den derart „geschlossenen“ Gesellschaften zu entkommen (vgl. dazu auch noch die Anmerkungen zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ in Abschnitt 9.3 sowie den Exkurs über Entfremdung gleich im Anschluß daran in diesem Band). Der Typus der segmentär differenzierten Gesellschaften hat die Geschichte der Menschheit bei weitem am längsten bestimmt (vgl. Lenski und Lenski 1987, S. 83ff.; Kerbo 1996, S. 57f.). Man schätzt, daß es die segmentären Gesellschaften der Jäger und Sammler seit mehr als 14000 Jahren gibt. Sie wandelten sich extrem langsam, wenn überhaupt. Zuerst traten vor etwa 12000 Jahren Fischergesellschaften an ihre Seite, dann vor etwa 8000 Jahren die Gartenbau- und Hirtengesellschaften. Anfangs waren sie praktisch der einzige Typ von Gesellschaft. Mit dem Aufkommen der anderen Formen der Gesellschaft nahmen sie in absoluten und relativen Anteilen immer mehr ab. Heute gibt es sie praktisch nicht mehr. Außer in der Eifel, in der Pfalz und in KölnZollstock. Übergänge Die Entwicklung von den segmentären hin zu den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften kommt u.a. durch die Entdeckung in Gang, daß einige
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der Pflanzen, von denen die Ernährung abhing, angebaut und kultiviert werden konnten. Hinzu kommen erste Geräte, wie der Grabstock, die Hacke und später der Holzpflug. Schließlich werden die künstliche Bewässerung entdeckt, die Düngung des Bodens, erst durch Brandrodung, dann durch Überfluten, später auch durch den Fruchtwechsel. Und alles beschleunigt sich endgültig mit dem Gebrauch von Metall und der Erfindung von Metallwerkzeugen (vgl. Lenski 1973, S. 164ff.; Kerbo 1996, S. 61f.). Die wohl wichtigste Folge ist die Erzeugung eines merklichen Surplus. Nun werden Mittel frei, die das Bevölkerungswachstum beschleunigen und eine bereits ausgebautere Arbeitsteilung erlauben. Jetzt gibt es auch etwas zu verteilen, und nennenswerte Grade der sozialen Ungleichheit werden möglich. Hierdurch kann es – erstmals – eine Oberschicht geben, die sich auf die Organisation größerer gesellschaftlicher Einheiten durch „Herrschaft“, sozusagen, spezialisieren kann. Es ist der Beginn der stratifikatorischen Differenzierung, wie sie vor allem in den sog. Agrargesellschaften des Mittelalters vorherrschend war. Den ersten Übergang dazu dürften gewisse Ansammlungen von Ansiedlungen gebildet haben, an denen sich erste Zentralfunktionen, wie ein Markt oder eine Schiedsstelle, ankristallisierten und den Vorgang der Zentralisierung verstärkten: „Der Differenzierungsvorgang kann also irgendwo und irgendwie beginnen und dann die eingetretene Abweichung verstärken. Unter vielen Siedlungen bildet sich ein bevorzugter Ort, an dem Zentralisierungsvorteile sich wechselseitig stützen, so daß schließlich eine neue Differenz von Stadt und Land entsteht. Erst dadurch werden die übrigen Siedlungen zu ‚Dörfern‘ im Unterschied zur Stadt und richten sich allmählich darauf ein, daß es auch eine Stadt gibt, in der ein anderes Leben gelebt werden kann als im Dorf und die als Umwelt des Dorfes dessen Möglichkeiten verändert.“ (Luhmann 1997, S. 598f.)
Kurz: Es bildet sich eine Differenz zwischen einem Zentrum und einer Peripherie heraus. Und an dieser Differenz wird eine ganz neue Art der gesellschaftlichen Reproduktion möglich: die über „Herrschaft“ und soziale Ungleichheit organisierte „Arbeitsteilung“ zwischen Gruppen von Akteuren in relativ großen und untereinander zusammenhängenden gesellschaftlichen Verbänden. 9.2.2 Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften Unter stratifikatorischer Differenzierung wird jener Typus von Gesellschaften gefaßt, bei dem die soziale Differenzierung nach sozialen Systemen mit der sozialen Ungleichheit der Akteure koinzidieren und – so muß man es schon sagen – festumrissene Gruppen von Akteuren die sozialen Systeme bilden. Es
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ist ein System einer stark nach Rechten und Prestige geschichteten Aufgabenund Machtverteilung zwischen typisch verschiedenen und scharf voneinander abgegrenzten Gruppen, und eine Kreuzung der sozialen Kreise ist so gut wie unbekannt. Anders als bei den segmentär differenzierten Gesellschaften wird dadurch eine ausgeprägte gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Organisation auch großer Bevölkerungen zu integrierten Gesellschaften möglich. Zu den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften in diesem Sinne sind schon die Stadtstaaten in Griechenland und die großen Staatsgesellschaften der Antike zu zählen, dann aber insbesondere die großen Reiche in Asien und die Feudalgesellschaften des europäischen Mittelalters (vgl. dazu Lenski 1973, Kapitel 8 und 9; Kerbo 1996, S. 64-72; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VI). Die antiken, die asiatischen und vor allem die europäisch-mittelalterlichen Staatsgesellschaften dieses Typs der stratifikatorischen Differenzierung waren alle nach einem ähnlichen Prinzip aufgebaut: ein System des Tausches von Organisation und Schutz durch die Herrschaft einer Oberschicht bzw. einer staatlichen Zentralgewalt gegen gewisse Gegenleistungen und die Abtretung von Rechten von seiten des (gemeinen) Volkes, das freilich oft genug nicht wußte, worin die „Gegenleistung“ der Oberschicht eigentlich bestand. Eine solche Organisation von Funktionen über eindeutig zugeordnete Aggregate von Akteuren geht natürlich nur, wenn die sozialen Systeme dieser Organisation fest mit der Zuordnung der Akteure verkoppelt sind, am sichersten und daher am besten über die Geburt. Daher sind stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften in aller Regel auch Adelsgesellschaften, und das selbst dann, wenn, wie in Rom oder China, der „Adel“ aus hohen Beamten, Militärs oder anderen Experten bestand, und wenn es auch andere Wege der Rekrutierung als über die Geburt, und hier und da auch Mobilität gab. Immer bleibt es jedoch bei deutlichen Unterschieden im Zugang und Einfluß zwischen einer (sehr) kleinen Oberschicht und dem breiten „Rest“ der Gesellschaft. Diese Oberschicht eines Adels besteht daher auch eben nicht (nur) als Aggregat von „Individuen“, sondern als soziales System, und es ist, wie Niklas Luhmann treffend schreibt, „eine Ordnung von Familien, nicht von Individuen.“ (Luhmann 1997, S. 679; Hervorhebung nicht im Original) Strukturen Die Infrastruktur der Feudalgesellschaften, an denen wir uns bei der Beschreibung der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften insbesondere orientieren wollen, beruht vor allem auf den technischen Grundlagen der entwickelten Agrargesellschaften: Metallpflüge, die Nutzung tierischer Energie,
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neue Formen der Architektur, des Bauens und des Verkehrs, sowie – nicht zuletzt – eine gänzlich veränderte Militärtechnik, in deren Mittelpunkt die Bewegung großer Heere stand. Damit verbunden waren ein (weiteres) deutliches Wachstum der Bevölkerung und die Ausweitung beherrschbarer Territorien. Feudalgesellschaften waren Kriegsgesellschaften. Die grundlegende Subsistenzbasis ist weiterhin die Landwirtschaft, und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bestand aus Bauern. Es gibt, ausgehend von „zentralen“ Agglomerationen von Siedlungen, eine Vielzahl von Städten, oft mit einer Hauptstadt als dem Zentrum einer weiten Peripherie, wobei jedoch weite Teile in der Peripherie der „Reiche“ lange Zeit nicht einmal wußten, daß sie einem Reiche angehörten – bis der Inspektor des Zentralherrschers damit begann, den Tribut zu fordern, Steuern einzutreiben und zum Waffendienst zu rekrutieren. Die Städte dominierten, obwohl die städtische Bevölkerung nur eine sehr kleine Minderheit war, das Umland in nahezu jeder Hinsicht: politisch, ökonomisch, kulturell und religiös. Die soziale Struktur der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist durch eine überaus interessante Form der Definition der sozialen Produktionsfunktionen bestimmt: Feudalgesellschaften beruhen schon auf einer Art von ausgeprägter arbeitsteiliger „Organisation“ der Gesellschaft mit der Zuweisung fester, funktional definierter, aber sehr unterschiedlich bewerteter Positionen zu bestimmten Gruppen der Bevölkerung: Adel, Priester, Ritter, Handwerker, Händler, Bauern bilden soziale Kategorien und funktionale Systeme gleichzeitig. Über dieser, sozusagen: ständisch-funktionalen, Differenzierung der Gruppen und Funktionen herrscht eine alle Gruppen übergreifende soziale Produktionsfunktion: Die mit den herrschenden Oberschichten verbundene Ehre und deren Insignien sind der allgemeine Imperativ der Gesellschaft, und der Adel ist das politische und kulturelle Zentrum der Gesellschaft. Daran anknüpfend gibt es deutliche Unterschiede in Privilegien und im Prestige zwischen den Gruppen, die mit der Nähe der Gruppen zur Oberschicht variiert. Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften beruhen insofern auf einer übergreifend geteilten Bewertungsstruktur von Prestige und Privilegien, unterstützt durch die Kontrolle staatlich organisierter Macht, insbesondere von Verwaltungen und militärischen Einheiten: „Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft (überall!; HE) als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Alles dreht sich in den stratifikatorisch differenzierten (Feudal)Gesellschaften also um die ständische Ehre, um den Herrscher und um den Adel als dem Zentrum der Herrschaft und der Kultur der gesamten Gesellschaft: Der Staat, das bin ich, kann der absolute Herrscher mit Recht sagen.
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Neben der großen Anzahl an Bauern auf dem Lande gab es, vor allem in den Städten, dann jedoch schon eine enorme Vielfalt an Berufen und funktionalen Spezialisierungen: Beamte, Priester, Gelehrte, Schreiber, Kaufleute, Diener, Soldaten, Handwerker, Arbeiter und sogar auch den „Beruf“ der Bettler. Alle hatten ihren wohldefinierten Platz im Gefüge der Gesellschaft – horizontal nach ihren Funktionen und den kulturellen Stilisierungen, und vertikal nach Prestige, Privilegien und Macht. Selbst die sog. unehrenhaften Tätigkeiten waren, wennzwar verachtet, so doch gesellschaftlich als unentbehrlich anerkannt, wie die der Prostituierten, der Henker oder der Rikscha-Kulis. Nur wenige Personen waren ausgeschlossen und „entbehrlich“. Und um die kümmerten sich die Einrichtungen der Mildtätigkeit, mit denen sich die Staatsreligionen auch umgaben, nicht zuletzt wohl, um nicht vollends ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Nur mit den Abweichlern, vor allem denjenigen, die es wagten, die feudale Gesellschaftsordnung insgesamt in Frage zu stellen und so verwegene Gedanken wie den der Gleichheit der Menschen zu predigen, ging man erbarmungslos um. Nennenswerte Devianz-Bereiche gab es daher, wenn überhaupt, nur in Gestalt der Gruppe der „Entbehrlichen“, der entlaufenen Strafgefangenen, der Deserteure, der Vogelfreien und der Vagabunden etwa. Ohne Zweifel gab es auch Varianzen innerhalb der verschiedenen Gruppen, wie reiche und arme Kaufleute oder einen unteren und einen oberen Adel. Am „ständischen“ Aufbau der Gesellschaft und an der festen Inklusion der Menschen unter dem Dach des Herrschers und der herrschenden Oberschicht ändert das nichts. In stilisierter Weise läßt sich der Aufbau einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft wie in Abbildung 9.3 darstellen (nach Lenski 1973, S. 377). Da die ständisch voneinander differenzierten Gruppen selbst wiederum jeweils spezifische funktionale Zuordnungen haben, gelten in ihnen jeweils wieder spezifische soziale Produktionsfunktionen und damit jeweils spezifische kulturelle Ziele bzw. Codes der Orientierung und Programme des Handelns – immer freilich im „Rahmen“ des übergreifenden Ober-Frames der ständischen Ehre und der Feudalordnung insgesamt. Am deutlichsten ist das bei den Zünften und Gilden sichtbar. Durch die funktionale Untergliederung hängen die Gruppen, wenigstens latent, stark voneinander ab, wenngleich mit deutlichen Unterschieden in der Macht, die sie übereinander ausüben. Und daher sind auch die Oberschichten alles andere als allmächtig, und in den funktionierenden Adelsgesellschaften galt das noblesse oblige nicht ohne Grund: Feudalgesellschaften sind Systeme des Tausches funktionaler Leistungen zwischen kompletten Gruppen von Akteuren.
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„Zur regierenden Klasse zu gehören, war gleichbedeutend mit dem verbrieften und durch die höchste Macht im Land garantierten Recht darauf, am wirtschaftlichen Surplus, den die Bauernmassen und die Handwerker in den Städten produzierten, zu partizipieren. Dies war der Lohn dafür, daß die Angehörigen dieser Klasse für die Aufrechterhaltung der Autorität des bestehenden Regimes im allgemeinen und des Herrschers im besonderen sorgten und ihr die nötige Geltung verschafften.“ (Lenski 1973, S. 296)
Feudalgesellschaften sind daher, nun eigentlich leicht verständlich, die Gesellschaften mit den höchsten Graden der (relativen) Ungleichheit in der Geschichte der Menschheit. Und auch die anderen Unterschiede in den sozialen Produktionsfunktionen und den Handlungsmöglichkeiten zwischen den Mitgliedern verschiedener Gruppen könnten größer nicht sein als in den derart nach Ständen oder gar nach Kasten geschichteten Feudalgesellschaften. Das liegt allein schon daran, daß es dort „allgemeine“ und „gleiche“ Rechte – „Bürgerrechte“ zum Beispiel oder politische und soziale Rechte – eben nicht gibt. Ganz im Gegenteil: Gerade die Ungleichbehandlung, etwa bei den gleichen Straftaten, ist der Normalfall, und sie wird geradezu erwartet, auch von denen, für die es beim gleichen Delikt die härtere Sanktion gibt. Die Unterschiede zwischen den Gruppen folgen auch daraus, daß es – anders als in den Stammesgesellschaften mit ihrer ganz „diffusen“ Verteilung von Interessen und funktionalen Imperativen – eine sehr spezifische Verteilung und Kombination von Interessen, funktionalen Aufgaben und kulturellen Stilen gibt: Die gesamte gesellschaftliche Varianz ist eine solche, die zwischen den Gruppen besteht. Innerhalb der Gruppen sind die Menschen einander sehr ähnlich. Und sie können sich kaum etwas anderes vorstellen als ihr von Geburt an zugeteiltes und vorbestimmtes Leben. Mit der funktionalen Zuordnung der Gruppen gibt es jedoch auch schon deutliche Interessenkonstellationen, sowohl nach innen wie nach außen. Daher entstehen auch bald korporative Strukturen der verschiedenen Gruppen, am ausgeprägtesten noch da, wo die Positionen nicht durch feste Privilegien abgesichert sind, wie bei den Zünften und Gilden der Handwerker und der Kaufleute. Dort gibt es auch strenge Regeln des Umgangs miteinander und mit den Angehörigen der anderen Gruppen. In stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften sind daher die funktionalen Sphären mit den kulturellen Milieus deckungsgleich. Und weil hier die sozialen Systeme aus den zu „Ständen“ aggregierten Menschen „bestehen“, ist auch die funktionale Ungleichheit der Menschen mit ihrer kulturellen Ungleichheit fest verbunden. Am ausgeprägtesten sind diese Verhältnisse in den Kastengesellschaften zu finden. Auf diese Weise entstehen deutliche kulturelle Differenzierungen und typische Lebensweisen der funktional verschiedenen Gruppen, wobei der beson-
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dere „Lebensstil“ der adligen Oberschichten, insbesondere mit der sorgfältig gepflegten Attitüde des Müßiggangs, als ein für (fast) alle erstrebenswertes Ideal erscheint, den man sich jedoch nicht leisten kann oder darf: „Die Oberschicht ist nach Existenz, Stil und Geschmack selektiv. Die Unterschicht hat es mit Notwendigkeiten zu tun. Die Oberschicht führt Jagdhunde, die Unterschicht Maultiere; die Oberschicht schläft lange, die Unterschicht muß vor dem Sonnenaufgang aufstehen.“ (Luhmann 1997, S. 686)
Typisch für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist schließlich die peinlich eingehaltene Beschränkung der Interaktionen auf Angehörige der jeweils eigenen Gruppe, insbesondere auch bei der Heirat. Der Verkehr zwischen den Gruppen ist auf das stärkste mit allerlei Regeln der Etikette versehen. Die Akteure begegnen sich gerade hierbei nicht als „individuelle“ Personen, sondern als Vertreter ihres jeweiligen Standes, und sie haben daher auch eine ganz bestimmte kollektive Orientierung auf ihre jeweilige Gruppe, ein Standesbewußtsein, wie wir noch heute sagen. Mit der allgemeinen Lebenslage der Akteure in den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist dann schließlich nur eine ideologische Superstruktur vereinbar, die das weltliche Herrschaftssystem auch kosmologisch legitimieren kann. Daher verwundert es kaum, daß nun die animistischen Vorstellungen zurücktreten und solche eines personalisierten Gottes plausibler werden, der die Welt schafft und sie lenkt und mit der Geistlichkeit eine machtvolle und unumstrittene Vertretung auf Erden hat. Und die Geistlichkeit tut, weil sie damit von der staatlichen Herrschaft profitieren kann, alles, damit aus den überkommenen lokalen und lokal variierenden Kulten und Magien des Geisterglaubens ein zentralisiertes und wohlorganisiertes Gebilde zur kosmologischen Legitimation des weltlichen Ordnungsgefüges wird. Staat und Kirche gehen so eine für beide Seiten profitable, wenngleich oftmals sehr unheilige, Allianz ein. Und die Masse der Bevölkerung, gerade auf dem Lande, folgt den geistlichen Legitimatoren der weltlichen Macht. Der Grund für diese Gefolgschaft war dann auch naheliegend: Wer nicht sichtbar an eine Entlohnung im Jenseits glaubte, hatte schon hienieden von den weltlichen Mächten, mit denen sich die Geistlichkeit verbündet hatte, nicht viel zu erwarten.
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Konstitution und Integration In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften gibt es – ganz anders als vorher bei den Horden der Urgesellschaften – mit einem Male ein Problem der gesellschaftlichen Legitimation: Warum gibt es eigentlich Herrschaft und Ungleichheit und eine Oberschicht, deren Mitglieder sich oft genug aufführen wie die Parasiten? Und deshalb gibt es jetzt erstmals auch ein Problem der Integration: Was hält eine derart vertikal geschichtete und funktional zutiefst gespaltene Gesellschaft zusammen, zumal sich jetzt in der Tat schon nicht mehr alle miteinander persönlich kennen können? Die funktionale Einheit der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft beruht auf auf zwei Grundlagen: auf der Geltung eines übergreifenden Werterahmens, der insbesondere religiös fundiert ist, und dessen Inhalt zu einer übergreifenden Einstellung führt, die man als „ideologische“ Solidarität bezeichnen könnte, einerseits. Und auf der fortwährenden „Konstitution“ des gesamten Systems durch den arbeitsteiligen Tausch zwischen den ständischen Gruppen und der intensiven Interaktion innerhalb der Gruppen andererseits. Die Reproduktion der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften beruht also sowohl auf Prozessen der sozialen wie der systemischen Konstitution, und die Integration der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist sowohl eine systemische wie eine soziale Integration. Der „Ort“, an dem die soziale und die systemische Konstitution der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften und deren systemische und soziale Integration sozusagen gleichzeitig stattfindet, ist der Haushalt. Haushalte sind die grundlegenden Produktions- wie Beschaffungsgemeinschaften und damit gleichzeitig die Orte der persönlichen Begegnung der Vertreter verschiedener „Stände“. Hier kann zwanglos und in erkennbar „funktionalen“ und daher auch sehr plausiblen Bezügen die Einhaltung der Rangunterschiede praktiziert und ritualisiert werden, und die gesamte gesellschaftliche Rangstruktur kann auf diese Weise immer wieder aufs Neue eine „lebensweltliche“ Bekräftigung erhalten. Eine wichtige Bedingung für die über die Gruppengrenzen und damit über die Funktionssysteme hinweg stattfindende systemische Konstitution ist dann die Erfindung der Schriftsprache und ihre massenhafte Verbreitung über den Buchdruck gewesen. Hierüber wird es möglich, gewisse Informationen von ihrem „interaktiven“ Kontext der mündlichen Überlieferung zu befreien, die Inhalte zu „objektivieren“ und der Kritik auszusetzen, und – vor allem – Akten anzulegen und damit eine effiziente und auch schon sehr „unpersönliche“ Verwaltung der Herrschaft aufzubauen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In ähnlich „generalisierender“
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Weise wirkt das Geld, das mehr und mehr den Naturaltausch ablöst und damit auch eine flexiblere Handhabung der „Gegenleistungen“ der unteren Schichten durch die herrschende Schicht erlaubt: Steuerzahlungen treten an die Stelle von Handdiensten, und das so eingenommene Geld kann ganz anders und zu anderen Zeitpunkten verwendet werden, etwa zur Rekrutierung von Söldnern oder für den Konsum von Luxusgütern, die findige Händler von weit her holen und sich dafür teuer bezahlen lassen. Diese „Generalisierung“ der Medien, besonders der Übergang zur Geldwirtschaft, war aber auch schon einer der Gründe für den späteren Verfall der Feudalgesellschaften (siehe dazu gleich unten). Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften verbinden offenkundig in gewisser Weise die Verhältnisse der segmentär differenzierten Gesellschaften mit denen einer funktionalen Differenzierung: Die arbeitsteilige Verbundenheit und die Medien der Schrift und des Geldes erzeugen bereits eine Art von systemischer Konstitution und Integration, teilweise auch schon deutlich gegen die Vorstellungen der Menschen, besonders natürlich denen aus den niedrigen Ständen. Die personale Interaktion innerhalb der Gruppen und die rituelle Interaktion zwischen den Gruppen, ausgetragen und verankert in den Produktionsgemeinschaften der Haushalte, sorgen für die als fraglos geltende soziale Konstitution der gruppenspezifischen Identitäten der Menschen und für die Vermittlung der (religiösen und anderen) Legitimationen, die das ganze „System“ in Form einer übergreifenden Wertorientierung tragen und so auch sozial integrieren. Ebenso wie in den segmentär differenzierten Gesellschaften finden – im Prinzip – alle Menschen ihren Platz, diesmal in dem ihnen vorgegebenen Stand. Hier kommt es – in der Tat – zu einer Integration des Systems der ganzen Gesellschaft über die Interaktionen in den „Lebenswelten“ der Haushalte, in denen die allen gemeinsame Wertorientierung, daß die „herrschende“ Ordnung gut und gerecht sei, immer wieder neu bestärkt wird. Dies alles, die Einbindung überschaubarer Lebenswelten in ein arbeitsteiliges, hierarchisch aufgebautes System, machte die Feudalgesellschaften so – vergleichsweise – leistungsfähig, immer noch recht übersichtlich, aber auch latent spannungsreich und davon abhängig, daß der Nutzen produzierende feudale Austausch – übergreifende Organisation und Sicherheit gegen Dienste und Abgaben – weiter funktioniert, und daß der das alles legitimierende und sichernde Werterahmen nicht schwindet. Verfällt die Organisation der wechselseitigen Nutzenproduktion, dann verfällt auch die Überzeugungskraft der diese Gesellschaftsform legitimierenden Weltbilder und religiösen Symbolwelten. Und unter bestimmten, gerade unter stratifikatorischer Differenzierung keineswegs immer auch vorhandenen, Bedingungen bricht das Gebäude
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dann mit einem großen Krach zusammen – wie das beispielsweise die Französische Revolution gezeigt hat. Übergänge Die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften begannen ihren Aufstieg und die – partielle – Verdrängung der anderen Gesellschaftstypen vor etwa 5000 Jahren, und sie hatten ihren Höhepunkt vor 700 bis 500 Jahren. Angesichts der enormen Ungleichheiten und Unterschiede in den Privilegien ist ihre Stabilität schon erstaunlich, aber auch nicht unverständlich: Gerhard Lenski faßt den Grund für das Funktionieren des Systems von Agrargesellschaften, wie er die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften auch nannte, so zusammen: „Kurz, obwohl Herrscher und regierende Klassen in Agrargesellschaften weit mehr für ihre Dienste forderten, als das Volk freiwillig zu zahlen bereit war, leisteten sie gewisse wertvolle Dienste (man könnte hinzufügen, wertvoll für sie selbst und für die anderen). Obschon ihr Verhältnis zum Volk also ein höchst ausbeuterisches und parasitäres war, waren sie nicht nur ausbeuterisch und parasitär. In dieser Tatsache dürfte einer der Hauptgründe für die Langlebigkeit des Agrarstaates als Institution liegen. Es gab einfach keine Alternative.“ (Lenski 1973, S. 392)
An die Stelle der stratifikatorisch differenzierten Agrargesellschaften sind inzwischen als Form der Organisation großer Gesellschaften die funktional differenzierten Industriegesellschaften getreten, in denen die politische, die militärische und die religiöse Herrschaft eben nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft bilden, und es, mehr noch, überhaupt kein „Zentrum“ mehr zu geben scheint (vgl. dazu noch Abschnitt 9.2.3 gleich unten). Eine Reihe von Umständen, die teilweise schon in der Konstruktion der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft angelegt waren, haben diesen Übergang besorgt (vgl. dazu Lenski 1973, S. 413ff.; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VII; vgl. auch die kurze Zusammenfassung bei Kerbo 1996, S. 72ff.). Der wohl wichtigste Umstand war die Zunahme an Macht bei den nicht zum Adel und nicht zur politischen Führungsschicht gehörenden Gruppen, die aber für den Adel und die politische Führungsschicht immer wichtigere und interessantere Leistungen erbrachten: die Produzenten und die Händler. Das hatte zum Teil ganz banale Gründe: Was nützt der schönste, durch das Adelsprivileg gesicherte Müßiggang, wenn man sich die verlockenden Genüsse der Welt, auch die aus der Welt ganz weit draußen, nicht leisten kann? Und natürlich sind die neuen Güter und Leistungen – aller Art: ökonomisch, militärisch, kulturell – auch für die Ausübung und die Absicherung der eigenen Herrschaft von größtem
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Wert (vgl. dazu Lenski 1973, S. 331ff. näher). Außerdem kommt es jetzt auch schon mehr und mehr darauf an, die vielen Talente in der breiten Bevölkerung besser zu nutzen und ihnen wenigstens hier und da den Aufstieg in die höheren Positionen zu gestatten. Das hat zwei Folgen. Der Zuwachs an Interesse an Ressourcen, die ein anderer kontrolliert, bedeutet erstens gleichzeitig immer die latente Abnahme der eigenen Macht. Das aber wiederum zieht nach sich, daß die Leistungen der nicht-adligen Gruppen im Preis steigen. Die beginnende Auflösung der festen, über Geburt geregelten Zuordnung von Personen zu Positionen bedeutet zweitens schon eine gewisse Trennung der sozialen „Systeme“ von den Akteuren und die Ausdifferenzierung von nun eigenständig operierenden Funktionssystemen. Beides führt dazu, daß die Grundlage des Feudalsystems ausgehöhlt wird: die „Exklusivität“ des Adels und die Übereinstimmung der Funktionssysteme mit eng umrissenen sozialen Kategorien von Akteuren. Die die unteren Schichten brennend interessierende Gegenleistung für (fast) alles war im Rahmen der Werteordnung der Feudalgesellschaften aber gerade das Gut, auf dem die ganze Ordnung beruhte: die ständische Ehre und der Eintritt in den Adelsstand. Das aber war auch das einzige für andere interessante Gut, das der Adel wirklich, neben der Schutzfunktion und der herrschenden Koordination, zu vergeben hatte. Und dieses Gut wurde schließlich auch angeboten, wenngleich der Adel hätte wissen müssen, daß er sich damit selbst abschaffte. Der Übergang zu eigenständig operierenden Funktionssystemen – der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst zum Beispiel – hieß schließlich, sie aus der Kontrolle der Oberschicht und damit aus der Kontrolle konkreter, leibhaftiger Menschen und fest umrissener Gruppen zu entlassen. Wenn man also die Gründe für die – weitgehend endogen angelegte! – Unterminierung der Feudalgesellschaften zusammenfassen will, dann sind es diese beiden: die – schleichende – Abtretung von zuvor exklusiven Rechten an nicht-adlige Gruppierungen und die Gestattung von Mobilität der Akteure auf gewisse „Positionen“ in den nun nicht mehr allein über die Geburt mit Personen besetzten Funktionssystemen und die dadurch ermöglichte und beschleunigte Entstehung von eigenständig operierenden Funktionssystemen, die nicht mehr fest mit bestimmten Personen aus bestimmten Schichten besetzt werden. Diese Prozesse der inneren De-Stabilisierung des Adels und der Autonomisierung der Funktionssysteme sind eingelagert in „exogene“ Vorgänge eines ersten Schubes an „Globalisierung“: die Entdeckung neuer Bereiche der Welt und der Beginn eines Systems der Weltwirtschaft und einer DeZentralisierung der Feudalreiche. Einen ganz eigenen, wenngleich mit den geschilderten Entwicklungen eng verbundenen, Beitrag lieferte die „Generalisierung“ der Interaktionen mit der
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Schrift und mit dem Geld. Die Integration der Gesellschaft wird nicht mehr (alleine) über die in lebensweltlichen Interaktionen bestärkte Orientierung an einer geteilten Wertordnung gesichert, sondern mehr und mehr über „anonyme“ Medien. Die Schrift ist aber zur Verwaltung der großen Reiche unerläßlich, und das Geld zur Erhöhung der Flexibilität der für das System immer wichtiger werdenden Leistungen der „produktiven“ nicht-bäuerlichen Schichten. Überall kommt es nach und nach zu solchen „Trennungen“: der sozialen Systeme von den Akteuren, der Positionen von den Personen und der sozialen Systeme voneinander. Haushalt und Produktion trennen sich, politische und militärische Herrschaft, Kapital und Arbeit, funktionale Sphären und kulturelle Milieus. Und überall „ ... findet man die Umstellung auf Eigendynamik und die Ablösung von Prämissen, die durch Stratifikation gesichert gewesen waren.“ (Luhmann 1997, S. 731)
Es ist die Auflösung der festen Kopplung der sozialen Differenzierung der Gesellschaft in soziale Systeme von der sozialen Ungleichheit der Menschen in ihren gesellschaftlichen Lagen und damit – sozusagen – die endgültige Vertreibung aus dem Paradies, als die Menschen und die Gesellschaft noch deckungsgleich waren. Und es ist der Abschied von der Vorstellung, daß die Gesellschaft, sozusagen, auch als „Ganzes“ in den Köpfen der Menschen repräsentiert sein könnte und ihre Grundlage in den Erfahrungen und Interaktionen der Lebenswelten haben müsse. Es ist, wie das Niklas Luhmann so oft ausgedrückt hat, der Abschied von „Alteuropa“. 9.2.3 Funktional differenzierte Gesellschaften Die segmentär differenzierten Gesellschaften kannten weder Arbeitsteilung, noch soziale Ungleichheit, die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften hatten beides. Die modernen funktional differenzierten Gesellschaften sind durch eine stark ausgebaute gesellschaftliche Arbeitsteilung unter Abwesenheit von sozialer Ungleichheit als „Prinzip“ des Gesellschaftsaufbaus gekennzeichnet, wenngleich es Ungleichheit ohne Zweifel, auch in starkem Ausmaß, weiter gibt (vgl. dazu insgesamt Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VIII; siehe auch schon die Abschnitte 3.1, 4.2, 4.6, sowie Kapitel 5 in diesem Band). Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird jetzt nicht mehr in der Form einer „Hierarchie“ von Gruppierungen von Menschen organisiert, sondern über die Aufteilung der Funktionen auf eigenständige soziale Systeme. Die sozialen Systeme „bestehen“ zwar weiterhin – wie könnte es anders sein? – aus
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den Aktivitäten von Menschen, aber eben nicht mehr dem Tun von „konkreten“ Individuen fester Herkunft und sozialer Verortung, sondern aus ersetzbaren Akteuren auf den „Positionen“ der Systeme. Dadurch werden einerseits die funktionalen Beiträge der Systeme sehr ungleich: Jedes System hat seine ganz spezifische und unverzichtbare funktionale Aufgabe. Aber gerade dadurch zerfällt andererseits die „feudale“ Hierarchie der Systeme: Die Müllabfuhr wird nun genauso wichtig wie, sagen wir, der Fluglotsendienst, und ein Bundeskanzler hat fast weniger Einfluß als der Vize-Präsident von Bayern München. Es zerfällt damit auch die enge Kopplung der funktionalen Arbeitsteilung mit der sozialen Ungleichheit: Auch die Nobelpreisträger müssen sich ihre Schuhe selber putzen. Damit ist freilich nicht gesagt, daß es die soziale Ungleichheit empirisch nicht mehr gäbe. Aber es gibt sie nicht mehr als die institutionelle Grundlage der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft, wie das für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften so typisch war. Und alles, was geschieht, entzieht sich, wie es scheint, zunehmend der Steuerung durch irgendein Zentrum und erst recht den Absichten bestimmter Personen oder Gruppen. Die funktional differenzierte moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ganz der ihr eigenen Funktionslogik und Eigendynamik unterliegt – und in diesem Prozeß ihre Stabilität und Integration gewinnt (vgl. dazu insgesamt auch schon Abschnitt 3.1, sowie Kapitel 6 in diesem Band). Strukturen Die Infrastruktur der funktional differenzierten Gesellschaften besteht im wesentlichen aus den Bedingungen der industriellen Produktion (vgl. dazu insbesondere Lenski 1973, Kapitel 10 bis 12; Harris 1987, Kapitel 16: Die Ethnologie einer Industriegesellschaft). Technische Erfindungen, maschinelle Produktion und Automation, die extensive Nutzung der natürlichen Ressourcen, insbesondere die der Energiegewinnung, sind die wichtigste Grundlage. Dazu kommt die Verfügung über große Bevölkerungen, der Ausbau des Bildungswesens, die Ausschöpfung der kreativen Talente aus allen Schichten und darüber die Verfügung über ein zuvor nicht gekanntes Potential an Humankapital. Es gibt nun große Metropolen, teilweise riesige Agglomerationen von Städten und Industriezonen und inzwischen weltweit ausgebaute Kommunikations-techniken und Verkehrs- und Transportwege zu Lande, zu Wasser und in der Luft, über die sich der nötige Austausch schon technisch sehr beschleunigen und intensivieren kann. Viele institutionelle Erfindungen ermöglichen und erleichtern eine enorme Vielfalt und Menge an Ressourcenproduktion, beschleunigen die dazu nötigen Transaktionen und begrenzen deren Risiken,
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wie etwa ein funktionierendes Bankensystem, staatlich abgestützte Versicherungen oder auch ein Wohlfahrtsstaat mit seinen integrativen und damit produktiven und standortsfördernden Wirkungen. Und eine breit ausgebaute wissenschaftliche Forschung sorgt dafür, daß, droht die eine Quelle des Reichtums zu verknappen, wie etwa die der fossilen Energieträger, alsbald tausend andere zur Verfügung zu stehen scheinen, und sich – wundersamerweise – die begrenzten Ressourcen der Welt immer weiter verbilligen, obwohl sich der Verbrauch beschleunigt. Die soziale Struktur der funktional differenzierten Gesellschaften ist durch einen einzigen Imperativ ihrer sozialen Produktionsfunktion bestimmt: die Produktion von wirtschaftlichem Wachstum und von materiellem Wohlstand, jeweils geronnen und symbolisiert im Medium des Geldes. In den segmentär differenzierten Gesellschaften war der übergreifende Imperativ das bloße Überleben, in den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften war es die Ehre. Jetzt dreht sich alles um den Mammon. Und allenfalls die politischen Verfassungen der verschiedenen Nationalstaaten, in deren Rahmen sich die funktionale Differenzierung immer noch vollzieht, sorgen hier für gewisse ideologische oder kulturelle Variationen. Aufgrund der immer enger werdenden funktionalen Verflechtung der Funktionssysteme sind die Interdependenzen der Systeme so stark wie nie zuvor, und gleichzeitig deren spezifische soziale Produktionsfunktionen, ihre Codes und Programme also, so unterschiedlich und „radikal“ wie nie. Es gibt nun kein Zentrum und keine Peripherie und kein Oben und kein Unten mehr. Und es kann sich, so scheint es, auch niemand mehr dem Zugriff der Inklusionen der Systeme entziehen, sei es durch Rechte, sei es durch Pflichten: Jeder hat nun das Wahlrecht und Anspruch auf Sozialhilfe, wenn das Leben schief läuft, jeder muß aber auch zur Schule und unterliegt der Steuer- und der Meldepflicht. Das bringt eine strukturelle Tendenz zur Gleichheit, und erstmals in der Geschichte der Menschheit nimmt das Ausmaß der sozialen Ungleichheit, trotz des enorm wachsenden Surplus, nicht mehr zu, sondern eher etwas ab (vgl. dazu Lenski 1973, S. 575). Mit der Auflösung der ständischen Verhältnisse entkoppeln sich die funktionalen Sphären auch von den kulturellen Sphären, und jeder kann sich ganz „individuell“ seinen eigenen Lebensstil suchen. Nun ist auch Platz – und Anlaß! – zur Entstehung ausgebauter Devianzbereiche: Wer nicht über die institutionell vorgeschriebenen Mittel zur Wohlstandsmehrung verfügt, ist auf „innovative“ Wege angewiesen, und die sind manchmal nicht legal. Und weil es keine festen Plätze mehr gibt und vieles möglich erscheint, kann es nun auch soziale Bewegungen für sehr partikulare und ephemere Interessen geben, während ausgewachsene Revolutionen kaum eine Chance haben und auch kaum jemanden interessieren. Die Akteure nehmen – mehr oder weniger vollständig
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und mehr oder weniger dauerhaft – ihre Plätze in den funktionalen Systemen ein. Und weil das sehr verschiedene Systeme sein können, überkreuzen sich die Mitgliedschaften und die Interessen der Akteure mehr und mehr. Über die gleichwohl vorhandenen und mit – letztlich: unbegrenzten – Ansprüchen versehenen Interessenlagen entstehen in einem großen Umfang korporative Interessenvertretungen – Gewerkschaften und Arbeitgeberbände, Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen, Radfahrerverband und ADAC, etwa. Das hat zwei Folgen: Einerseits treten diese Korporationen und Verbände als intermediäre Instanzen vermittelnd zwischen die Individuen und die verschiedenen funktionalen Systeme, insbesondere dem des politischen Systems, dem ja immer noch die Gesetzgebung mit seinen durchschlagenden Folgen unterliegt. Andererseits entstehen nun sehr asymmetrische Beziehungen: Die korporativen Akteure der Verbände sind mächtig, unsterblich und anonym, die einzelnen Menschen, die mit ihnen zu tun haben, jedoch ohnmächtig, sterblich und einzigartig. Allein schon aufgrund der immensen Größe der Bevölkerung sind enge und persönliche Kontakte mit allen Mitgliedern einer Gesellschaft unmöglich, und finden weiterhin auch nun nur in kleinen Verkehrskreisen statt. Es nehmen jedoch die sog. weak ties immer mehr zu: die sporadischen und nur partiellen, oft lediglich funktional begründeten Gelegenheitskontakte. Und die sorgen auf eine indirekte Weise für die Verknüpfung der Verkehrskreise und Lebenswelten – und ungewollt zur (systemischen) Integration des gesamten Systems. Es kommt ferner zu einer verbreiteten Kreuzung der sozialen Kreise und damit unvermeidlicherweise zu einer „Spaltung“ der Identitäten der Menschen, darüber zu ihrer „Individualisierung“ und zum Gefühl eines „Selbst“-Bewußtseins. Und insgesamt nimmt, so scheint es, das Ausmaß der Wählbarkeit von Lebenslagen, Beziehungen und Biographien und die „Rationalität“ der dazu nötigen Entscheidungen zu. Nicht alle empfinden das als einen Vorteil, und genau genommen stimmt dieser subjektive Eindruck objektiv auch nicht. Über die Superstruktur der funktional differenzierten Gesellschaften läßt sich nur schwer etwas sagen. Legitimierende Werte mit spezifischem Inhalt kann es kaum noch geben, weil jeder spezifische Inhalt sich unweigerlich gegen den funktionalen Imperativ irgendeines der vielen Funktionssysteme richten müßte, die aber ja alle gleichermaßen unentbehrlich sind. Und abstrakte Werte, wie der Kategorische Imperativ, die Norm der Fairneß, irgendeine „organische Solidarität“ des Gefühls der arbeitsteiligen Verbundenheit, eine universale Moral des herrschaftsfreien Konsenses oder die Berufung auf so etwas wie die freiheitlich demokratische Grundordnung oder soziale Gerechtigkeit sind viel zu wenig handlungsrelevant und mindestens zu interpretationsbedürftig, als daß sie etwas auszurichten vermögen. Jetzt ist eben das „Ganze“
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der Gesellschaft nicht mehr in den Köpfen der Menschen präsent, und das kann es auch gar nicht sein. Nicht ohne Grund mutiert die Religion in den modernen Gesellschaften entweder in den Kirchen zu einem Funktionssystem unter vielen oder sie wird in den zahllosen Sekten und neuen esoterischen Kulten zur Privatangelegenheit, sofern nicht ohnehin die Menschen nicht mehr an einen Gott zu glauben vermögen, der für alles verantwortlich wäre und die Welt, den Herrscher und die Gesellschaft lenkt. Es scheint vielmehr so zu sein: Mit dem eigenständigen Operieren der Systeme und mit der Überkreuzung der sozialen Kreise und Interessen bei den Akteuren stabilisiert und integriert sich das System der funktional differenzierten Gesellschaften sozusagen von selbst – und das unter Umständen auch gegen die Absichten der Akteure, die in dieses Funktionieren eingebunden sind, darunter ächzen, sich aber auch nichts Besseres vorstellen können und alles tun, um darin zu bleiben, wenn beispielsweise die Arbeitslosigkeit oder die Frühverrentung drohen (vgl. dazu auch schon das Konzept der Verkettungsintegration in Kapitel 6 oben in diesem Band). Konstitution und Integration Damit ist auch schon die Antwort auf die Art der Konstitution der funktional differenzierten Gesellschaften gegeben: Es ist ganz vorwiegend eine systemische Konstitution. Hierbei spielen die Mechanismen der systemischen Integration eine zentrale Rolle: die Märkte, die Interpenetration der Systeme, die symbolisch generalisierten Medien und die Organisationen. Weil die Transaktionen zwar vor dem Hintergrund institutioneller Regeln stattfinden, aber sonst mehr und mehr dereguliert und von „ständischen“ und „solidarischen“ Vorgaben befreit werden, regieren schließlich nur noch die Möglichkeiten und die relativen Knappheiten (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und weil die strikte Orientierung an den Codes und den Programmen der Funktionssysteme für die Nutzenproduktion der Akteure immer wichtiger wird, können die Systeme ihre Eigendynamik ganz entfalten. Auf diese Weise überziehen die relativen Knappheiten der Märkte und die Imperative der Funktionssysteme die Situa-tion der Menschen mit einer zwingenden Kraft wie nie zuvor in der Geschichte und in keinem anderen Typ der gesellschaftlichen Organisation der Nutzenproduktion. Die Akteure sind gezwungen, sich den Gesetzen der Märkte und den Imperativen der Funktionssysteme zu beugen – nicht zuletzt, um sich darüber die Mittel zu beschaffen, mit denen sie die Erlebnisse ihres ideosynkratischen Lebensstils weitab von den Verpflichtungen und Entfremdungen der funktionalen
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gen der funktionalen Sphären erzeugen und sich so die Illusion einer „Multioptionsgesellschaft“ schaffen können. In den funktional differenzierten Gesellschaften wird aber gleichzeitig, gerade wegen der Effizienz der Arbeitsteilung, wegen des freien Spiels der Märkte, der koordinierenden Kraft der generalisierten Medien und der Durchsetzungsmacht der Organisationen ein unglaubliches Ausmaß an Surplus und Reichtum produziert – mit der Folge, daß sich jeder in der Tat nun ganz private „Erlebnisse“ leisten kann und von der unmittelbaren Kooperation mit anderen „individuellen“ Menschen immer unabhängiger wird. Und gerade wegen dieses ungeheuren Surplus lassen die Menschen von der modernen Gesellschaft auch nicht, obwohl sie in einem fort darüber jammern, wie unübersichtlich, einsam und entfremdet das Leben inzwischen geworden sei (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 unten und den Exkurs über Entfremdung im Anschluß daran). In die funktional differenzierten Gesellschaften sind die Menschen zunächst ebenfalls voll inkludiert – über die verschiedenen allgemeinen Rechte, die zivilen, die politischen und die sozialen Rechte vor allem. Aber das ist, ganz anders als in allen Gesellschaftsformen zuvor, nur noch eine formale und eine partielle Inklusion. Faktisch gehören die Akteure in den funktional differenzierten Gesellschaften meist nur ausschnittsweise und temporär den verschiedenen sozialen Systemen an und bilden daraus u.U. ganz individuelle Kombinationen der Mitgliedschaft zu bestimmten funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und ggf. einem Devianz-Bereich, und darüber dann auch ganz individuelle Biographien des Wechsels von einem System zum anderen. Erstmals gibt es jetzt auch die Möglichkeit der Totalexklusion in der Gesellschaft: Jeder kann durchaus auch aus allen Funktionssystemen herausfallen, und dann wären nur noch das Diakonische Werk, die Caritas oder die Bahnhofsszene da, wenn überhaupt. In den segmentären und in den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften hätte die Totalexklusion stets auch die Exklusion aus der ganzen Gesellschaft bedeutet. Übergänge? Die Industriegesellschaften gibt es noch nicht sehr lange, etwa seit 150 Jahren, und der Typus der funktional differenzierten Gesellschaft hat sich, wenn überhaupt, erst in den letzten 60 bis 40 Jahren und dann auch nur in wenigen Teilen der Welt entwickelt. Bisher waren die Industriegesellschaften voll von Resten der ständischen Verhältnisse, und sie beruhten, etwa mit den Milieus ihrer Berufsgruppen und konfessionellen Gemeinschaften, in ihrem Zusam-
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menhalt zu einem großen Teil darauf. Erst seit ganz kurzer Zeit scheinen sich die Dinge in die Richtung einer „wirklich“ modernen Moderne hin zu bewegen – einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und einer Individualisierung der Akteure ganz „jenseits von Klasse und Stand“. Aber selbst daran gibt es Zweifel: Was sich aufgelöst hat, sind vielleicht nur einige alte Strukturen, etwa die der Kovariation von funktionaler und kultureller sozialer Ungleichheit. Aber gleichzeitig haben sich neue gesellschaftliche Lagen, neue Gruppierungen und neue „Milieus“ gebildet, mit nicht minder das Leben bestimmenden Vorgaben und Selbstverständlichkeiten. Gleichwohl scheint es in der Tendenz jedenfalls nicht drastisch falsch zu sein, von einer Zunahme der funktionalen Differenzierung und der Individualisierung zu sprechen. Und schon seit einiger Zeit ist ja auch von der postmodernen, gar von der postpostmodernen Gesellschaft und einer „reflexiven Modernisierung“ die Rede – whatever it is. Wohin geht die Reise also? Entfaltet sich die Moderne erst noch weiter? Deutet sich ein Übergang auf ein neues Prinzip der Vergesellschaftung der Menschen an? Stehen wir vielleicht kurz vor einem Zusammenbruch eines in die Überhitzung getriebenen Prozesses der Modernisierung und Mobilisierung? Das kann, natürlich, niemand sagen. Eine mögliche Perspektive wäre in der Tat die komplette Durchmodernisierung der Welt, wie sie ja im Zuge der sog. Globalisierung bereits erste Züge anzunehmen beginnt. Die vielen Transformationen der Gegenwart, in der Dritten Welt, in den Schwellenländern, im Gefolge der Auflösung des Ost-West-Konfliktes u.a. könnten als ein Schritt auf diesem Wege angesehen werden. Und die jetzt beobachtbaren Begleiterscheinungen, etwa die ethnischen und religiösen Konflikte und die Totalexklusionen großer Gruppen Entbehrlicher, etwa in Gestalt der Langzeitarbeitslosen hierzulande oder der Bewohner der Slums in den Metropolen nicht nur der Dritten Welt, müssen auch keineswegs als Zeichen für eine Umkehr des Prozesses der Modernisierung oder für eine neue „Leitdifferenz“, die von „Inklusion und Exklusion“ etwa, angesehen werden. Das alles sind vielleicht nichts weiter als auch früher in „Alteuropa“ übliche, den Prozeß vielleicht verzögernde, aber letztlich nicht verhindernde, Reaktionen und Folgen, die nur anzeigen, daß die funktionalen Systeme ihre Eigendynamik jetzt auch weltweit entfalten. Und mit der globalen funktionalen Differenzierung und Wohlfahrtssteigerung (!) müßten diese Reaktionen und Folgen auch ein Ende haben. Kann das aber wirklich geschehen? Kaum. Denn was ist die infrastrukturelle Grundlage von alledem? Genau: die Ausbeutung der Rohstoffe und Energiereserven der Welt, und die sind begrenzt und ihre volle Nutzung führt zu existentiellen Grenzen, vor allem die der Umweltbelastung durch Emissio-
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nen oder Folgelasten. Und so gewinnt die zunächst etwas fernliegende apokalyptische Vision von Max Weber schließlich doch einiges an Realitätsnähe, als er davon sprach, daß der einmal entfesselte Vorgang der Entzauberung der Welt, was ja nur ein anderer Ausdruck für ihre Durchmodernisierung und für die globale funktionale Differenzierung ist, solange weitergehe, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht sei. Das wäre dann schon ganz bald der Fall. *** Die Entwicklung von der segmentären über die stratifikatorische zur funktionalen Differenzierung scheint für den Prozeß der Vergesellschaftung jenen Vorgang zu wiederholen, wie er für die Evolution des Lebens – bisher – allgemein zugetroffen hat: die stetige und sogar exponentiell zunehmende Steigerung des Aktivitätsniveaus und der Autonomie von der Umwelt, stets begleitet von einer Erhöhung des Energieverbrauchs (siehe dazu auch Kapitel 11 über „Evolution“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Das läßt eigentlich nur jene düsteren Prognosen zu, wie wir sie eben mit Max Weber wiederholt haben. Niemand weiß beispielsweise bisher, wie dem weltweiten Bevölkerungszuwachs zu begegnen ist, zumal das einzige wirklich nachhaltig wirksame Mittel dagegen die deutliche Steigerung des Wohlstandes ist, die technisch und institutionell wohl nur mit den Mitteln der energieintensiven funktionalen Differenzierung möglich ist. Immer aber haben die Menschen geglaubt, mit ihrer Zeit sei alles zu Ende. Und immer ist es bisher, trotz einer Reihe von Unterbrechungen oder gar Katastrophen und „Untergängen“, weitergegangen: Et hätt noch immer jot jejange.9 So auch wohl diesmal. Einem Schamanen aus dem Neolithicum oder einem absoluten Herrscher aus der Feudalzeit müßte der Reichtum des Durchschnittsbürgers hierzulande märchenhaft vorkommen, und manche Dinge hätte er für unmöglich halten müssen, wie das Farbfernsehen, das schmerzlose Ziehen eines Zahnes, die politische Herrschaft des gemeinen Volkes oder die Institution der Rentenversicherung. Wir können eben nicht wissen, welchen Weg die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft morgen einschlagen wird, allein schon deshalb nicht, weil niemand absehen kann, mit welchen Erfindungen die Menschen mit all ihrer Kreativität und Raffinesse noch aufwarten werden. Dazu gehören 9
Siehe auch Hartmut Esser, Kleines Lexikon der Kölner Schule, 3., wesentlich erweiterte Aufl., Ratingen und Bergisch Gladbach 2000 (zuerst: 1990), Stichwort „Funktionalismus“.
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sicher zuerst technische, aber auch soziale Erfindungen, wie solche zur Verhinderung jener Totalexklusionen, die den Weg der funktionalen Differenzierung zu säumen und zu gefährden beginnen. Die Wissenschaft ist jene funktionale Sphäre, die zur Vorbereitung solcher Erfindungen besonders berufen, und eine Produktivkraft, die dazu auch in der Lage ist. Und die Soziologie ist dabei jene Wissenschaft, die hier auch ihre ganz spezielle und unverzichtbare Aufgabe hat. Sie hätte die Frage zu beantworten, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse aussehen müßten, damit die Welt für alle, die darin leben, auch in Zukunft ein wohnlicher Platz sein kann. Bisher wissen wir mehr darüber, was nicht geht, welche Maßnahme unwirksam und welche Hoffnung trügerisch ist, wie beispielsweise die Herstellung des herrschaftsfreien kommunistischen Paradieses über die Abschaffung des Privateigentums. Wir wissen aber auch, was für diese Aufgabe mindestens nötig ist: eine gute und erklärungskräftige theoretische Grundlage. Allgemeine und spezielle Grundlagen.
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden Die Besonderheiten der segmentären, der stratifikatorischen und der funktionalen Differenzierung beschreiben, wenngleich in teilweise extrem abstrahierender Weise, jeweils Grundaspekte von Gesellschaften, die es historisch „wirklich“ gegeben hat oder noch gibt: Stammesgesellschaften, Feudalgesellschaften, Industriegesellschaften. Es waren, wie wir gesehen haben, typische Kovariationen von Strukturmerkmalen und Konstitutionsprozessen für gesellschaftliche Verhältnisse, die sich eine Zeit lang funktional reproduzierten, intern, meist unmerklich, wandelten und schließlich evolutionär in einen Pfad einmündeten, der, nach einigen Übergängen und Turbulenzen, zum nächsten Gleichgewicht und zu einem neuen Typ führte. Im „Exkurs über die KoEvolution von Basis und Überbau am Beispiel der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wandels ziehen kann“ im Anschluß an Kapitel 7 in diesem Band ist ein besonders berühmtes Beispiel einer solchen Kovariation der sozialen Konstitution und gesellschaftlichen Konstruktion beschrieben worden: die gegenseitige Erzeugung des Kapitalismus, der protestantischen Ethik und der damit zusammenhängenden Glaubensvorstellungen, Orientierungen, Haltungen und Verhaltensweisen der Menschen. Es war ein, wie wir jetzt sagen können, funktionales Prozeßgleichgewicht, bei dem sich die materiellen Verhältnisse und Interessen, die gesellschaftlichen Institutionen und die religiösen Ideen gegenseitig ermöglichten, ergänzten und stützten.
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Die Grundidee Bei der Beschreibung und, vor allem, bei der Begründung der „Wahlverwandtschaft“ von protestantischer Ethik und kapitalistischer Gesellschaftsordnung hat Max Weber die Sache, wie das für die Soziologie im Unterschied zur Geschichtswissenschaft üblich und richtig ist, sehr stilisiert, nicht zuletzt durch den Trick, eine besonders extreme Variante des Protestantismus, den Calvinismus, für seine Argumente heranzuziehen. Andere Versionen des Protestantismus wären viel weniger geeignet gewesen. So aber hatte alles eine ganz besondere „situationslogische“ Reinheit, die dem Verständnis der Grundprozesse sehr zustatten gekommen ist. Sowohl die dabei geschilderte innere Einstellung der protestantischen Ethik wie die des Geistes des Kapitalismus waren aber – so hat das Max Weber selbst immer gesehen – empirisch zu keiner Zeit in ihrer stilisierten Reinheit so vorhanden wie er dies formuliert und zugespitzt hat. Und auch der Zusammenhang zwischen den drei Elementen – die wechselseitige Konstitution von protestantischem Glauben, der Wirtschaftsordnung des Kapitalismus und der innerweltlichen Askese der Menschen – ist keineswegs eine historisch vollkommen zutreffende Konstellation gewesen. Auch dies war eine stilisierende Übertreibung. Denn: Die Calvinisten waren in den Ländern und Epochen, in denen sie eine strikte sektiererische Intoleranz zu begründen vermochten, keineswegs innovativer als die Katholiken in den katholischen Ländern. Den Geist des Kapitalismus trugen vielmehr vor allem Emigranten und Ausgestoßene aller Art: Juden, Katholiken und freilich auch Calvinisten, die wegen ihres Glaubens auswandern mußten. Sie – die Ausgestoßenen und zu einem marginalen Dasein Gezwungenen – waren es, denen der klösterliche Müßiggang und die kirchliche Verschwendungssucht auf die Nerven gingen und damit ihrem Daseinsentwurf, der sich auch aus ihrer aktuellen Lebenslage und den dadurch erzeugten Interessen ergab, zutiefst widersprachen.
Gleichwohl hat die These von der Wahlverwandtschaft der calvinistischen Ethik mit den Daseinsinteressen des kapitalistischen Geschäftslebens eine wichtige theoretische Funktion gehabt, die sich, so glaubte Max Weber, für die soziologische Analyse bestimmter historischer gesellschaftlicher Konstellationen ganz allgemein anzubieten schien. Es handelt sich, wie es Max Weber ausgedrückt hat, um die Konstruktion eines Idealtypus – um eine zuspitzende und gleichzeitig ganz verschiedene inhaltliche und historische besondere Gesichtspunkte zusammenfassende und zu einem Gesamtkomplex vereinheitlichende gedankliche Konstruktion. Sie dient der Verdeutlichung eines Zusammenhangs von inhaltlichen Sachverhalten eines bestimmten sozial oder historisch ganz spezifischen gesellschaftlichen Phänomens (vgl. zur Technik der Typenbildung bereits den „Exkurs über Typenbildung“ im Anschluß an Abschnitt 12.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Die wichtigsten Einzelheiten zum Konzept des Idealtypus hat Max Weber in einem seiner berühmtesten Aufsätze zur Wissenschaftslehre, dem über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904, zusammengefaßt.10 Ihm geht es dabei um eine Art von Ausweg aus dem Trilemma der ganz auf den Einzelfall bezogenen Betrachtungsweise der Historiker, der nicht nur für ihn recht leeren ökonomischen Generalisierungen etwa im Grenznutzengesetz und der wissenschaftlich nicht begründbaren Wertungen der Sozialpolitiker seiner Zeit. Kurz: Weber sucht nach einer Methode, die es erlaubt, gleichzeitig historisch spezifisch und beschreibend, modellierend allgemein und erklärend (und wertneutral) zu sein – so wie dies die moderne erklärende Soziologie ja auch zu tun beabsichtigt.
Was ist nun ein Idealtypus? Für Max Weber vereinigt ein Idealtypus „ ... bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge.“ (Weber 1982, S. 190; Hervorhebungen so nicht im Original)
Gewonnen wird er „ ... durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ (Ebd., S. 191; Hervorhebungen so nicht im Original)
Auf den ersten Blick könnte man also meinen, Idealtypen wären so etwas wie abstrahierende Modelle sozialer Prozesse oder Gleichgewichte, von denen wir ja in diesem Buch schon reichlich Gebrauch gemacht haben und in den folgenden Bänden noch werden. Das wäre aber ein Trugschluß: Idealtypen sind keine abstrakten formalen Modelle, es sind auch keine allgemeinen und auf andere inhaltliche Konstellationen anwendbaren Strukturmodelle (vgl. dazu schon die Kapitel 1 und 8 in diesem Band). Deren Besonderheit ist ja, daß sie eben keine inhaltlichen „Wahlverwandtschaften“, sondern ausschließlich formale oder strukturelle Muster und Zusammenhänge enthalten, die dann auf ganz verschiedene inhaltliche Vorgänge angewandt werden können. Idealtypen sind vielmehr vereinfachende, „bereinigende“ und auf ausgewählte Gesichtspunkte zuspitzende Beschreibungen von inhaltlichen und historischspezifischen Zusammenhängen. Dabei geht es auch nicht um die Darstellung der „wirklichen“ Verhältnisse, sondern darum, 10
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., Tübingen 1982 (zuerst: 1904), S. 190. Vgl. zur methodologischen Rekonstruktion des Konzeptes des Idealtypus bei Weber auch: Michael Schmid, Idealisierung und Idealtyp. Zur Logik der Typenbildung bei Max Weber, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, S. 422ff.
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„ ... die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen (zu) können.“ (Ebd., S. 190; Hervorhebungen so nicht im Original)
Da Idealtypen die bloße gedanklich vereinfachte Kovariation von typischen Variablen eines sozialen Gebildes wiedergeben, sind sie – anders als die formalen Modelle und als die Strukturmodelle – also ein ausschließlich heuristisches Hilfsmittel – und eben kein Erklärungsargument. Sie besagen nur: Es gibt die Kovariation der calvinistischen Prädestinationslehre und der frühkapitalistischen Systematisierung der Lebensführung, etwa. Mehr nicht. Man kann sich zwar auch in etwa zusammenreimen, wie diese Kovariation zustandekommt – über die Wahlverwandtschaft der religiös motivierten Affektkontrolle mit dem ökonomisch erzwungenen Motiv zur Reinvestition jedes Gewinnes, etwa. Aber eine Erklärung ist der Hinweis auf eine idealtypische Wahlverwandtschaft noch lange nicht. Idealtypus und Realtypus Idealtypen hatten für Max Weber zunächst genau auch diese Funktion: Sie sind ein Hilfsmittel der stilisierenden und vereinfachenden Darstellung und dienen der weiteren Hypothesengewinnung: „Diese Möglichkeit (der Veranschaulichung durch den Idealtypus; HE) kann sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ‚Hypothese‘, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“ (Ebd., S. 190)
Und wegen dieser heuristischen Funktion gilt auch das, was wir oben schon der historischen Genauigkeit wegen für den Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus haben sagen müssen: „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht ... .“ (Ebd., S. 191)
Ein Idealtypus ist also eine „Idee“ – eine Idee, die der Wissenschaftler hat, nicht unbedingt aber auch die Menschen, von denen er spricht. Die Kovariationen der Variablen werden dabei gedacht. Sie sind keine empirischen Kovariationen. Ein Idealtypus „ ... ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit ist, ... sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an
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welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Ebd., S. 194)
Die Merkmale des Idealtypus kommen also in der Wirklichkeit in ihrer ganzen aseptischen Reinlichkeit nicht vor – selbst innerhalb der engen Grenzen nicht, in denen er dann doch wenigstens einmal dem Gedankenmodell auch historisch nahekam: Auch die Calvinisten hatten alle ihre schwachen Momente, und natürlich ließen es sich auch die Frükapitalisten schon einmal kräftig gut gehen. Aber immerhin kommt auch die etwas schmutzige Wirklichkeit nicht vollkommen regellos daher, sondern oft genug in Mustern und Clustern – in realen Mustern und Clustern. Die empirischen Kovariationen bestimmter Variablen in sozialen Gebilden werden auch als Realtypus bezeichnet. Mit ihm wird der Idealtypus verglichen. Und dann kann – bei systematischen Abweichungen im Einzelfall – unter anderem gefragt werden, woran denn wohl die Abweichung vom Idealtypus gelegen haben mag. Der Idealtypus als Referenzmodell In der Aufklärung solcher Abweichungen realer Abläufe von einem Idealtypus sah Max Weber dann auch die Hauptaufgabe der Soziologie. Beispielsweise: Der Idealtypus eines streng „zweckrationalen“ Ablaufes einer Börsenpanik oder einer politischen oder militärischen Aktion: „Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ‚Ablenkungen‘von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt. Z.B. wird bei einer Erklärung einer ‚Börsenpanik‘ zweckmäßigerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als ‚Störungen‘ eingetragen. Ebenso wird bei einer politischen oder militärischen Aktion zunächst zweckmäßigerweise festgestellt: wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbeteiligten und bei streng zweckrationaler, an der uns gültig scheinenden Erfahrung orientierter, Wahl der Mittel verlaufen wäre. Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Abweichungen davon zu den sie bedingenden Irrationalitäten möglich.“11
Der Spezialfall der Zweckrationalität dient – Max Weber jedenfalls – also als eine Art von Referenzmodell der Hypothesenbildung: „Solche idealtypische Konstruktionen ... stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, ... wäre.“ (Ebd., S. 4; Hervorhebungen im Original) 11
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 2f.; Hervorhebungen im Original.
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Die Annahme der Zweckrationalität bietet sich nach Weber insbesondere deshalb an, weil sie, wie wir aus Abschnitt 6.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, für ihn das „Höchstmaß an ‚Evidenz‘“, an „Verständlichkeit“ und „Sinn“ eines Handelns oder eines Handlungszusammenhangs liefert. Aber: „Das reale Handeln verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungsweise so, wie im Idealtypus konstruiert.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Die Funktion der Konstruktion eines Idealtypus ist also nicht die „Abbildung“ der wirklichen Vorgänge. Sondern: „Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient in diesen Fällen der Soziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Eindeutigkeit wegen, als Typus (‚Idealtypus‘), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ‚Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.“ (Ebd., S. 3; Hervorhebung im Original)
Mit der Verwendung von Idealtypen ist – darauf besteht Max Weber ganz nachdrücklich – also in keiner Weise auch bereits behauptet, daß die Welt tatsächlich so aussehe. Idealtypen sind auch, anders als die formalen Modelle und anders als die Strukturmodelle, keine Versuche einer modellierenden soziologischen Erklärung, sondern ausschließlich ein heuristischer Ausgangspunkt dafür. Historische Individuen Weil Idealtypen eben keine formalen Modelle sind, sondern stilisierende Beschreibungen inhaltlich-spezifischer Zusammenhänge, stehen sie in einem jeweils besonderen historischen Kontext und sind auch nur in diesem speziellen Kontext „sinnhaft“ und „verständlich“. Es sind, wie Max Weber sagt, „historische Individuen“. Das sind Konstellationen von Zusammenhängen von Institutionen, Ideen, Interessen und Handlungsweisen, die eine ganz besondere, unverwechselbare und nur an diesen Typus und an die betreffende Gesellschaft oder Epoche gebundene „Kulturbedeutung“ tragen: Die protestantische Ethik, speziell den Calvinismus, gab es nur einmal, ebenso wie die besondere Form der kapitalistischen Lebensführung in der Art einer innerweltlichen Askese – nicht vorher und in dieser Form auch nicht nachher. Und dies ist ja der Kern der immer wieder neuen Geschichte der Menschen: Der „Sinn“ muß immer ein neuer sein, da er ja stets auf den bereits versunkenen Entwicklungen aufbaut.
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Neben Idealtypen von historischen Individuen unterscheidet Max Weber auch solche von sog. „Gattungsbegriffen“. Damit meint er offenbar bestimmte „ahistorische“ Gesetze – etwa das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, das des abnehmenden Grenzertrags bei den meisten Produktionsfunktionen oder die „reinen“ Gesetze des Tausches und der Nachfrage, von denen Carl Menger sprach, als er sich gegen den Historismus eines Gustav Schmoller absetzen wollte und meinte, daß es irgendwann genug sei mit der historischen Beschreibung von Zusammenhängen, etwa zwischen Preis und Nachfrage nach einem Gut: „Man denke nur an die Fleischpreise von Elberfeld! von Pforzheim! von Mülheim! von Hildesheim! von Germersheim! von Zwickau! u.s f.“12, spottete er gegen Schmoller und die detailverliebten Historiker ganz allgemein. Idealtypen von Gattungsbegriffen sind also ganz abstrakte, von jedem „historischen“ Inhalt bereinigte und gegen störende Einflüsse gedanklich isolierte Zusammenhänge – wie die erwähnte Gesetzmäßigkeit, daß allgemein und immer die Nachfrage nach einem beliebigen Gut mit steigendem Preis sinkt – nicht nur in Elberfeld, Pforzheim, Mühlheim, Hildesheim, Germersheim und Zwickau. Die theoretischen Gesetze der Nationalökonomie beruhen darauf. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um formale Modelle der Situationslogik. Und die „gelten“, wie man glaubt, ja als Modelle ganz ohne jeden „Sinn“, kontextfrei und ohne jede besondere „Kulturbedeutung“.
Dagegen enthalten die historischen Individuen als zentrale Merkmale immer auch inhaltliche Angaben über ihre Kulturbedeutung. Es sind Idealtypen bestimmter Konstellationen des historisch-spezifischen subjektiven Sinns einer Epoche oder einer bestimmten Gesellschaft. Max Weber kannte die Unterscheidung von formalen Modellen und Idealtypen noch nicht. Daraus ergaben sich eine Reihe von Ungereimtheiten bei der Beurteilung dessen, was er als „Idealtypus“ insgesamt bezeichnet hat. Zur Vermeidung von Mißverständnissen wird im folgenden immer nur von Idealtypen im Sinne historischer Individuen die Rede sein. Idealtypen als situationslogische Gleichgewichte Wenn man so will, stellen Idealtypen als Stilisierungen historischer Individuen gewisse Kombinationen der Kovarianz bestimmter inhaltlicher Variablen dar, die zu einem temporären Gleichgewicht gekommen sind – ein Gleichgewicht, das das Ergebnis einer situationslogischen Entwicklung, einer gleichgewichtigen Reproduktion also, angesehen werden kann. Für solche Gleichgewichte kann man dann auch griffige Namen finden: für eine Epoche, wie Altertum oder Neuzeit, für ein soziales Gebilde, wie das Christentum oder eine Bürokratie, oder für einen sozialen Zusammenhang, wie der von Protestantismus und Kapitalismus. Das „Gleichgewicht“ – und die Etikettierung – kann sich dann auch auf – temporär (!) gleichförmig und nach „Gesetzen“ regelmä12
Carl Menger, Die Irrthümer des Historismus in der Deutschen Nationalökonomie, Wien 1884, S. 38.
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ßig verlaufende – Entwicklungen beziehen, etwa: einen Prozeß der „Modernisierung“ oder den der „Individualisierung“. In allen diesen Fällen – Epochen, Gebilde, Zusammenhänge, Entwicklungen – handelt es sich nicht um „allgemeine“ oder verallgemeinerbare Zusammenhänge, sondern immer um historisch spezifische Abläufe, die ein Sukzessionsgleichgewicht einer wechselseitigen kausalen Verflechtung bestimmter Bestandteile gefunden haben. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise auch vom Versuch, „ ... historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen.“ (Weber 1982, S. 194; Hervorhebung im Original)
Damit meint er die Betrachtung bestimmter Merkmale als „ ... wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung zu jenen Wirkungen stehen.“ (Ebd., Hervorhebungen so nicht im Original)
Idealtypen sind somit für Max Weber eine Art von, wie er selbst sagt, „Begriffsstenographie“ (Ebd.; S. 195) über einen, wie wir sagen könnten, von Störgrößen befreiten situationslogischen Prozeß, der zu einer stabilen Kovariation bestimmter inhaltlicher, historisch spezifischer Merkmale geführt hat, sich für eine Zeit lang reproduziert, vom Wissenschaftler mit einem griffigen Kürzel versehen werden kann – Kapitalismus, Stadt, Handwerk, Sekte, Landwirtschaft, Bürokratie und so weiter – und ihm als gedanklicher Referenzpunkt für seine Hypothesenbildung im Vergleich zu den realen Verhältnissen dienen kann. Gänzlich neu sind diese Gedanken ohne Zweifel nicht. In der – uns inzwischen etwas gewohnteren – Sprache der erklärenden Soziologie lassen sie sich so umschreiben: Idealtypen sind Bündel von stilisierten Situationsbeschreibungen bzw. von Brückenhypothesen und typischen stabilisierten aggregierten Effekten für einen besonderen, historisch eventuell einmaligen, Fall – wie beispielsweise der Idealtypus des Locals und der des Cosmopolitans in unserem Beispiel der Studentenunruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren (vgl. dazu u.a. Kapitel 1, 3 und 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) oder die Unterscheidung der drei Typen von segmentär, stratifikatorisch und funktional differenzierten Gesellschaften in Abschnitt 9.2 gerade oben.
Idealtypen sind damit ohne Zweifel wichtige und höchst nützliche Vorstufen für die „eigentliche“ Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und funktionaler Gleichgewichte. Sie informieren über die grundlegenden Alternativen, Motivund Wissensstrukturen der Akteure, über deren typisches Tun und über typische Folgen ihres Tuns in einem historisch spezifischen Kontext. Es sind gedankliche Abstraktionen für die wichtigen Randbedingungen und für typische kollektive Folgen bei der gesuchten Erklärung. In sie geht – meist in undeutli-
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chen Umschreibungen verpackt – immer sehr viel an Hintergrundwissen und an Annahmen ein, beispielsweise auch in den Idealtypus des Zusammenhangs von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus: „Die von Weber behauptete Wahlverwandtschaft zwischen der protestantischen Ethik, und dem Geist des Kapitalismus stellt sich keineswegs als ein unmittelbar verständlicher Zusammenhang gleichsinniger Denkweisen dar. Sie ergibt sich vielmehr aus einem komplexen historischen Prozeß, in den nicht nur mehr oder weniger stabile Zustände des Kollektivbewußtseins eingehen, sondern auch Strategien der Indoktrinierung, der Dissidenz und der (an wirtschaftliche Interessen, die Bürger und Kaufleute in Gegensatz zu den privilegierten Klassen bringen, gebundenen) Vertreibung, die durch historische Kontingenzen bedingt sind (wie den der Entdeckung Amerikas folgenden Zufluß von Wertmetallen nach Europa).“13
Oft fehlt für die eigentliche Erklärung des als Hypothese im Idealtypus behaupteten und im Realtypus hoffentlich auch gefundenen Zusammenhangs aber noch viel. Bei gut – das heißt immer: mit viel Hintergrundwissen – konstruierten Idealtypen ist es bis zu einer korrekten soziologischen Erklärung allerdings meist kein besonders weiter Weg mehr, weil die wichtigste Arbeit schon begonnen wurde: die typisierende Beschreibung der Logik der Situation und der wichtigsten materiellen, institutionellen und kulturellen Umstände zur korrekten Ableitung der aggregierten Wirkungen des Handelns der Menschen. Historische Entwicklungen Idealtypen haben ihre Stärke in der typisierenden Beschreibung historischeinmaliger Konstellationen – der sog. historischen Individuen, Altertum, Mittelalter, Industriezeitalter etwa. Historische Individuen folgen in typischer und historisch ebenfalls individueller Weise aufeinander: Den antiken Sklavenhaltergesellschaften folgten historisch-„genetisch“ die feudalen und diesen die kapitalistischen Gesellschaften. Auch derartige Sukzessionen von Idealtypen lassen sich dann wieder in idealtypischer Weise darstellen: als Idealtypus einer historischen Entwicklung. Wieder Max Weber: „Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren, und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben.“ (Weber 1982, S. 203; Hervorhebung im Original)
So weit, so harmlos und so nützlich – wenn man die Soziologie nicht als eine Wissenschaft mißversteht, die zwar kausale Erklärungen anstrebt, jedoch glaubt, daß diese kausalen Erklärungen – womöglich: nur – über „Gesetze“ 13
Raymond Boudon und François Bourricaud, Religion, in: Raymond Boudon und François Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992b, S. 421.
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der gesellschaftlichen Entwicklung möglich sei, und daß die Idealtypen von Entwicklungen auch empirische Gesetze von makrosozialen Entwicklungen wiedergeben würden. Dazu ein etwas anderes Beispiel. So lassen sich etwa die typischen Bevölkerungsweisen des Mittelalters und des Industriezeitalters als einfache Formen von Idealtypen verstehen. Die mittelalterliche Bevölkerungsweise ist in idealtypischer Weise durch hohe Geburtenzahlen und eine enorme Sterblichkeit besonders der Kinder und der Mütter gekennzeichnet. Die Bevölkerungsweise des Industriezeitalters ist dem genau entgegengesetzt: eine niedrige Sterblichkeit und eine ebenfalls niedrige Geburtenrate. Historisch sind in Europa beide Bevölkerungsweisen aufeinandergefolgt: von einer stagnierenden bzw. nur langsam wachsenden Bevölkerung mit einem hohen „Umsatz“ an Geburten und Sterbefällen zu einer stagnierenden bzw. leicht schrumpfenden Bevölkerung bei geringen Geburtenraten und niedriger Sterbeziffer. Die Entwicklung von der einen zur anderen Bevölkerungsweise – jeweils Idealtypen – wurde ihrerseits in einem idealtypischen Modell zusammengefaßt: der sog. „Theorie vom demographischen Übergang“. Es ist eine Stilisierung des historischen Verlaufs des Wechsels der einen auf die andere Bevölkerungsweise. Und hier wird das von Weber angesprochene Problem unmittelbar und handgreiflich deutlich: Der „demographische Übergang“ ist nicht das „Gesetz“, das die Entwicklung vorantrieb, sondern nur eine begriffliche Stilisierung und typisierende Beschreibung des Ablaufs. Die „realen“ Prozesse hatten vielmehr mit einem durchaus komplexen Zusammenspiel von medizinischen Fortschritten, Bevölkerungswachstum, Wohlstandsmehrung und einem dadurch erzeugten Nachlassen der „Nachfrage“ nach Kindern zu tun.14
Nicht also die begriffliche Zuspitzung der besonderen Bevölkerungsweisen von Mittelalter und neuerer Zeit, auch nicht die Stilisierung der Entwicklung als „Theorie“ des „demographischen Übergangs“ sind das Problem, vor dem Max Weber warnt. Wohl aber: die Annahme, daß der Prozeß „wirklich“ so abgelaufen wäre und – viel folgenschwerer und unverzeihlicher – die Vorstellung, daß der „demographische Übergang“ es gewesen wäre, der die Geburtenrate gesenkt hätte. Genauso könnte man einen Temperatursturz im Juli als kausale Wirkung der Schafskälte erklären. Erklärungen über „Begriffe“ gibt es aber nicht. Und Idealtypen sind nichts anderes als solche stenographischen Begriffe. Max Weber nennt auch dieses Problem in der ihm eigenen Weise deutlich beim Namen: „Nun aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische Vorurteil, daß das Ziel der Sozialwissenschaften die Reduktion der Wirklichkeit auf ‚Gesetze‘ sein müsse, mit Hilfe des Begriffes des ‚Typischen‘ außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert. ... Aber es entsteht dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander geschoben werden.“ (Weber 1982, S. 203; Hervorhebung im Original)
14
Vgl. dazu die anschauliche Darstellung bei Bernhard Felderer und Michael Sauga, Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, Frankfurt/M. und New York 1988, Teil I und III, sowie Teil E der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
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Für die gedankliche „Erprobung einer Hypothese“ ist dies nach Weber alles ganz unproblematisch: „Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, so lange man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige Zurechnung eines historischen Vorgangs zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.“ (Ebd., S. 203f.; Hervorhebungen im Original)
Das Problem entsteht aber sofort dann, wenn die aus heuristischen Zwecken vorgenommene Vereinfachung der Abfolge „von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde“ zu einer „genetischen Klassifikation“ mit dem wirklichen geschichtlichen Ablauf eins gesetzt und „ineinander gearbeitet“ wird: „Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ordnung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen in Raum, Zeit und ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Versuchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.“ (Ebd., S. 204; Hervorhebungen nicht im Original)
Namentlich erwähnt Max Weber in diesem Zusammenhang dann den, wie er ihn jetzt nennt, „großen Denker“ Karl Marx, dessen „‚Gesetze‘“ und „Entwicklungskonstruktionen“ in ganz besonderem Maße der Gefahr einer Verwechslung von gedanklichem Konstrukt und wirklichem Ablauf ausgesetzt wären. Und daß diese Gefahr einen realen Hintergrund hatte, wissen wir inzwischen. Idealtypen und Werturteile Aus heutiger Sicht mag ein dritter Aspekt der idealtypischen Konstruktionen, mit dem sich Max Weber in dem Objektivitätsaufsatz noch beschäftigt, zunächst etwas überholt klingen. Wir fügen ihn gleichwohl an dieser Stelle nicht nur der Vollständigkeit halber kurz ein, weil nicht oft genug an das Problem erinnert werden kann: die möglichst deutliche Scheidung der beschreibenden und der wertenden Aspekte von „Ideal“-Typen und die Trennung von soziologischer Erklärung der Gesellschaft und der eventuellen Folgen solcher Erklärungen wieder für die Konstruktion der Gesellschaft. Idealtypen sollen – nach Max Weber – in ihrer Konstruktion nur den logischen und methodischen Kriterien folgen, die wir oben besprochen haben. Sie haben nichts damit zu tun, daß sie selbst als „im praktischen Sinne: vorbildliche Typen“ (Ebd., S.
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199; Hervorhebungen im Original) sein könnten oder gelten sollen. Es ist vielmehr „ ... eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur Verhütung von Erschleichungen, die logisch vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf Idealtypen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus scharf zu scheiden.“ (Ebd., S. 200; Hervorhebungen im Original)
Ein logisch „vollkommener“ Idealtypus hat mit einer „wertenden Beurteilung“ nichts zu tun: „Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen.“ (Ebd.) So ist es. In der Tat. Und sie haben ihre theoretischen Vorzüge und Schwächen – ganz unabhängig davon, ob man Bordelle oder den Katholizismus, den Calvinismus oder den Islam mag oder nicht. Idealtypen als Selbstbeschreibungen Die idealtypische Vereinfachung ist ein nach wie vor beliebtes Stilmittel der Soziologie – vor allem zur griffigen und überzeichnenden Etikettierung eines zentralen Gesichtspunktes, unter den die Analyse gestellt werden soll, insbesondere um einen bestimmten Gedanken einer weiteren Öffentlichkeit einfach und griffig zu verkaufen. Dies geschieht besonders gerne bei den sog. Gesellschaftsanalysen. Sie stehen oft unter einem Etikett, das die gesamte Untersuchung leitet und die Aufmerksamkeit auf einen Gesichtspunkt lenken soll. Meist sind diese Etikettierungen sehr übertrieben. Ulrich Beck übertrieb – beispielsweise – in diesem Sinne zweifellos mit seinem Buch von der „Risikogesellschaft“, ebenso wie Gerhard Schulze oder Peter Gross, die beide mit der „Erlebnisgesellschaft“ und der „Multioptionsgesellschaft“ nicht nachstehen wollten. Alle hatten durchaus nachvollziehbare Gründe für ihre Übertreibungen, auch dann, wenn die sorgfältigere soziologische Forschung manche der Annahmen hinterher als fragwürdig erwiesen hat: In der modernen Gesellschaft ist für die Menschen vieles tatsächlich riskanter geworden, als sie mehr und mehr selbst entscheiden müssen, was vorher Schicksal war – ihre Biographie und die Ausgesetztheit gegenüber selbst erzeugten Risiken vor allem. Und mit dem wachsenden Wohlstand tritt wohl tatsächlich das Motiv zu dem unmittelbaren Konsum-Erlebnis gegenüber einem eigenen Motiv zur asketischen Investition in den Hintergrund – auch weil wir alle im Alltag ohnehin etwas sein müssen, was der Puritaner sein wollte, und wodurch der materielle Hintergrund der Erlebnisgesellschaft erst geschaffen wird: Berufsmensch. In der Richtung, nicht in den „wirklichen“ Verhältnissen, haben Ulrich Beck und Gerhard Schulze bzw. Peter Gross durchaus eine wichtige Aufklärungsarbeit über bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge geleistet. Aber festgeschriebene Biographien, Zwänge und Restriktionen und nicht-„konstruierte“ Naturkatastrophen gibt es nach wie vor. Und allzu viele Menschen können sich einen Landrover für die Produktion des Erlebnisses einer Geländefahrt durch die Fußgängerzone weder heute noch in Zukunft leisten.
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Manchmal wirken solche idealtypischen Vereinfachungen als von den Soziologen angefertigte Konstruktionen der Gesellschaft, etwa als „Werte“, als Utopien, als Selbstbeschreibungen oder als Selbstvergewisserungen, wieder in Gesellschaft hinein. Aber ihre Gültigkeit und Brauchbarkeit für die Erklärung des sozialen Geschehens ist von solchen denkbaren Wirkungen oder Bewertungen – wenigstens: zunächst einmal und für den Moment, in dem sie angefertigt werden – ganz und gar unabhängig. Was denn auch sonst? Denn: Ob die Rede von der Risikogesellschaft, etwa im dem Sinne einer, sagen wir, seit den 50er Jahren einsetzenden Individualisierung, triftig ist oder nicht, hat nichts, aber gar nichts, damit zu tun, ob der Begriff der Risikogesellschaft oder der der Individualisierung dann später in aller Munde ist oder nicht. Oder etwa doch? Im Epilog ganz zum Schluß der sechs Bände dieser „Speziellen Grundlagen“ geht die Geschichte noch ein wenig weiter.
9.3
Gemeinschaft und Gesellschaft
Die segmentäre, die stratifikatorische und die funktionale Differenzierung sind äußerst verschiedene Formen der gesellschaftlichen Organisation der Nutzenproduktion. Schwer ist jedoch zu sagen, welche der drei Formen dabei für die Nutzenproduktion insgesamt leistungsfähiger ist. Einfach wäre die Geschichte dann, wenn es strukturell erzeugte Defizite gäbe, die bei einem anderen Typus beseitigt sind. Aus der Sicht der Akteure gibt es aber offenbar immer Defizite bei der Nutzenproduktion. Wohlstand sei, so hört man gelegentlich, nur der Übergang von der Armut zur Unzufriedenheit. Und dann suchen die Menschen verständlicherweise nach Auswegen – manchmal unter dem Preis, daß die Aufhebung des einen die Ursache für ein neues Defizit ist, eines, das möglicherweise zuvor unbekannt war. Dies führt zu Überlegungen darüber, daß es möglicherweise Formen der gesellschaftlichen Organisation der sozialen Produktionsfunktionen gibt, die jeweils aus ihrer strukturellen Form her solche Unterversorgungen systematisch und unvermeidlich nach sich ziehen und darüber dann typische Tendenzen auslösen, die Unterversorgung auszugleichen. In diesem Zusammenhang gerät die Unterscheidung zweier Arten der sozialen Organisation wieder in den Blick, die Ferdinand Tönnies in einem berühmt gewordenen Buchtitel als „Gemeinschaft und Gesellschaft“ bezeichnet hat.15
15
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887.
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Die Konstruktion der Gesellschaft
„Gemeinschaft“ Unter „Gemeinschaft“ faßte Tönnies jene Art der Organisation der sozialen Beziehungen, die auf Gefühlen der unbefragten Solidarität und Zusammengehörigkeit beruht: Blutsverwandtschaft, enge Nachbarschaften, Freundschaften und als prototypisches Beispiel die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Davon unterschied er die „Gesellschaft“, deren wesentliches Merkmal die rationalen Abwägungen von Vorteil und Nachteil und die egoistischen Interessen als Grundlage der Beziehungen der Menschen sei. Nicht notwendigerweise, aber empirisch häufig und theoretisch leicht erklärbar, sind Gemeinschaften in aller Regel zahlenmäßig recht kleine und in ihrer personalen Zusammensetzung auch stabile Gruppierungen: Affektuell geprägte Solidarität kann man schon aus Gründen zeitlicher Restriktionen mit nur wenigen konkreten „signifikanten“ Anderen und aus psycho-physischen Gründen nur mit „identisch“ bleibenden Personen entwickeln. Gemeinschaften sind als eigenständige soziale Gebilde nicht ohne Grund so gut wie nur in der Form von kleinen und dauerhaft organisierten Lebenswelten, etwa von Familien und Verwandtschaftssystemen sowie – auf der Ebene kompletter Gesellschaften – in der Art von Stammesgesellschaften vorfindbar. Ethnische und nationale Zusammengehörigkeiten sind weiter gezogene und daher grundsätzlich schon weniger effiziente Quellen der Produktion von Wertschätzung über gemeinschaftliche Solidarität als die kleinen Lebenswelten des Alltags. Sie beruhen aber auch immer darauf, daß es stabile Verhältnisse und Nahumwelten gibt, die die abstrakten Gruppensolidaritäten in den Alltag hineintragen. Gibt es diese Stabilität und insbesondere die Nahumwelten nicht, dann verfallen die übergreifenden Solidaritäten rasch – wie in Nazi-Deutschland zum Ende des 2. Weltkrieges oder in Jugoslawien mit dem Zerfall des Sozialismus. Wie voraussetzungsreich die Entstehung affektueller Gemeinsamkeiten ist, sieht man leicht bei den Schwierigkeiten für den Aufbau eines Gefühls der europäischen Identität (vgl. dazu insgesamt auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
In den kleinen Lebenswelten einer personalen Verbundenheit läßt sich aus „technischen“ Gründen die soziale Wertschätzung in höchst effizienter Weise produzieren. Und das geschieht auch. Sharing Groups Aber die soziale Wertschätzung ist ja nicht alles, und sie macht auch nur begrenzt satt. Typisch ist in den funktional diffus organisierten kleinen Stammesgesellschaften dann auch die Knappheit und die Unterversorgung mit den Mitteln für die Erzeugung von physischem Wohlbefinden, jenem zweiten allgemeinen Bedürfnis, von dem in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und
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Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bei der Besprechung des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen die Rede war: Isolierte und stabilstagnierende Lebenswelten und Stammesgesellschaften sind zu klein und zu ineffizient, als daß darin viel an Wohlstand und Lebensmitteln erzeugt werden könnte. Arbeitsteilung und Wohlstandssteigerung setzen größere Bevölkerungen voraus. Mit der Größe der Gruppe sinkt aber gleichzeitig auch die Möglichkeit, mit allen Mitgliedern solidarische Beziehungen zu unterhalten. Interessanterweise verstärken nun aber die materiellen Knappheiten sogar die Versorgung der Menschen mit Wertschätzung und psychischer Sicherheit. Bei Knappheit der Mittel und mit dem Fehlen von Alternativen werden Kooperationen ja erst recht lebenswichtig (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Wenn drei Bauern sich nur einen Mähdrescher anschaffen können, dann müssen sie sich auf eine Regel einigen, wer den Mähdrescher wann benutzen kann. Solche Gruppen, in denen sich die Akteure gewisse Ressourcen zu ihrem Überleben teilen müssen, werden auch als Sharing Groups bezeichnet.16 Sie entstehen aus Not und erzeugen Abstimmungs- und Normbedarf. Und dies wiederum zieht – zumal am Abend nach der gemeinsam eingebrachten Ernte – viel an Orientierungssicherheit und sozialer Wertschätzung nach sich. Siegwart Lindenberg hat diesen Gedanken der aus dem Zwang zum Teilen und zur Absprache entstehenden unintendierten Erzeugung von sozialer Wertschätzung so zusammengefaßt: „Sharinggruppen sind nicht nur Quellen von Normen, sondern auch Quellen von kontinuierlicher informeller Interaktion und von Homogenisierung der Gruppe. Je mehr Güter geteilt werden, desto größer die gegenseitige Abhängigkeit ... und Kommunikation. Sharinggruppen schaffen daher auch Affekt, gestützt durch Normen, und relative Konsistenz der Erwartungen. Je mehr Güter geteilt werden, desto höher also das Versorgungsniveau mit Affekt und Bestätigung, ceteris paribus.“ (Lindenberg 1984, S. 179)
Und aus alledem ergibt sich eine interessante Korrelation: Gemeinschaften neigen aus strukturellen Gründen zu einer Unterversorgung bei den materiellen Mitteln für die Erzeugung von physischem Wohlbefinden und – gerade: daher! – zu einer recht guten Versorgung mit Orientierung, sozialer Wertschätzung und einem positiven Selbstbild – wenn man sich an deren Regeln hält! Nicht immer ist den Menschen in den Gemeinschaften diese Asymmetrie in der Versorgung mit sozialer Wertschätzung gegenüber der im physischen Wohlbefinden aber auch bewußt. Ihr Streben ist eher auf einen Ausgleich in 16
Vgl. Siegwart Lindenberg, Sharing Groups: Theory and Suggested Applications, in: Journal of Mathematical Sociology, 9, 1982, S. 33ff.; Siegwart Lindenberg, Normen und die Allokation sozialer Wertschätzung, in: Horst Todt (Hrsg.), Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften, Berlin 1984, S. 178ff.
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dem jeweils unterversorgten Bereich gerichtet. Und deshalb gibt es meist auch kein Halten mehr, wenn sich die Chance bietet, aus der Enge der zwar solidarischen, aber meist nur der Not gehorchenden Gemeinschaften auszubrechen. Max Weber hat dieses Drängen so beschrieben: „Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen, steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Gemeinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen.“ (Weber 1972, S. 226)
Dies alles zeigt die Unwiderstehlichkeit des Weges hin zu einer effizienteren Produktion der Mittel für das physische Wohlbefinden, hin zu mehr an Arbeitsteilung und damit hin zur funktionalen Differenzierung und zur Entwicklung von Formen der Organisation der Nutzenproduktion vom Typ der „Gesellschaft“. „Gesellschaft“ „Gesellschaften“ sind in der Begrifflichkeit von Ferdinand Tönnies komplexe, arbeitsteilig organisierte, große und dynamisch-instabile soziale Gebilde. Aus ihrer schieren Größe heraus und von ihrer inneren Dynamik und Leistungsfähigkeit her erlauben sie die vergleichsweise üppige Produktion der Zwischenprodukte für das physische Wohlbefinden: materiellen Wohlstand und wohlfahrtsstaatliche Vorsorge gegen vielerlei Gefährdungen. Hier gibt es eine andere Asymmetrie: Die funktionale Form der Nutzenproduktion und die dafür schon technisch erforderliche Größe der beteiligten Population führt – gerade als Folge ihrer so effizienten Organisation der materiellen Produktion – gleichzeitig zu einer „Rationalisierung“ der sozialen Beziehungen, zu einer Umstellung der Alltagsinteraktionen auf ausschließlich funktional definierte Kontakte und generalisierte Medien und auf das egoistische Interesse, sowie zu einer strukturell angelegten Gefährdung des Vertrauens in die Verläßlichkeit anderer Akteure. Dies sind sämtlich bereits aus „technischen“ Gründen keine guten Bedingungen für die Bedienung jenes zweiten Grundbedürfnisses der Menschen: soziale Wertschätzung. Die Produktion sozialer Wertschätzung ist nämlich nur begrenzt über „generalisierte“ Symbole und über Ersatzgüter wie Geld oder Status möglich. Sie ist insbesondere von der Versorgung mit Verhaltensbestätigung und Affekten abhängig. Und das geht nur, wenn die Menschen sich gut und lange kennen und sich immer wieder im Laufe ihres Lebens in möglichst
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vielen Situationen persönlich und nicht in bloß funktional-spezifischen Kontakten begegnen (vgl. dazu schon Abschnitt 9.4 über „Soziabilität und Sozialität“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Affekte werden allein deshalb in den funktionalen Sphären und in den kulturellen Milieus nur sehr schwer erzeugt. Und das erleben die Menschen als psychisches und soziales Elend inmitten des materiellen Wohlstands – und oft genug auch inmitten der Szene eines kulturellen Milieus, das sie aufgesucht haben, um wieder etwas Wertschätzung und Emotionalität abzubekommen.
Unter den strukturellen Bedingungen der funktionalen Differenzierung ist die Produktion von sozialer Wertschätzung also wesentlich schwerer als bei segmentärer Differenzierung: Die Akteure wechseln ständig, sie ändern auch ihre „Identität“ je nach dem funktionalen Bereich, in dem man sie antrifft, sie handeln immer nur „funktional spezifisch“ und anderes mehr. Wegen der sehr effizienten Produktion der materiellen Ressourcen verfällt auch der in den Stammesgesellschaften aus der Not geborene Zwang zur Abstimmung und zur Normierung des Handelns: Nun kann sich jeder Bauer einen Mähdrescher leisten, drischt ganz allein, einsam und ohne jeden Abstimmungszwang vor sich hin – und singt von den guten alten Zeiten der Not und der Solidarität. Und die – so nicht intendierte – Folge aus alledem: eine relativ gute Versorgung mit den Mitteln für das physische Wohlbefinden und – aus den gleichen strukturellen Gründen! – eine chronische Unterversorgung mit Orientierung und sozialer Wertschätzung in den funktional differenzierten „Gesellschaften“ der Moderne. Strukturelle Unterversorgung und Utopie Das haben die Menschen sicher nicht bedacht, als sie der Enge des Hauskommunismus entfliehen wollten. Aber: Das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung ist ganz allgemein und verschwindet in der Entzauberung der Welt in der Moderne in keiner Weise. Mit der über die funktionale Differenzierung strukturell erzeugten Unterversorgung in Orientierung und sozialer Wertschätzung entsteht dort eher ein ganz besonders artikulierter Bedarf danach. Nun „ ... klagt man über den Egoismus des Menschen und seine materialistische Neigung, die physisches Wohlbefinden weit höher als geistige Werte und Sorge um seine Mitmenschen stellt. Man wird auch das System kritisieren, das jeden dazu antreibt, in einem Wettrennen um höheren Status gegen alle anderen anzutreten. Dagegen träumt man von einer Gesellschaft, in der man sich um den anderen sorgt, in der gemeinsame Werte wieder zwischenmenschliche Beziehungen bestimmen, in der die nur scheinbar altmodische Unterscheidung von ‚richtig und falsch‘ dem Individuum wieder einen Halt gibt.“ (Lindenberg 1984, S. 190)
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Daraus allein erklärt sich leicht das stete Neuentstehen solcher lebensweltlichen Gemeinschaften – oder wenigstens: der Nachfrage danach – gerade beim Voranschreiten der Modernisierung und der funktionalen Differenzierung. Die Familie, nicht unbedingt die Verwandtschaft oder die Nachbarschaft, eher schon ein Freundeskreis, noch weniger der Nationalstaat und schon gar nicht die „Menschheit“, werden daher als „Gemeinschaft“ eher wichtiger mit der funktionalen Differenzierung und mit der Entstehung von „Gesellschaft“. Und wo sie als „Gemeinschaft“ ausfallen, da suchen sich die Menschen ihre Substitute, wo immer es sie dann noch zu geben scheint: Jugendsekten, rechtswie linksradikale Milieus und Wohn-„Gemeinschaften“ zum Beispiel. Auch die Wiederentdeckung der ethnischen Gemeinschaften gerade in den sich rasch modernisierenden Gesellschaften ist ein Zeichen dafür, daß es mit der Bedienung des Bedürfnisses nach physischem Wohlbefinden alleine bei weitem nicht getan ist. Alles hängt aber dann davon ab, ob es in diesem Rahmen wieder die kleinen und stabilen Lebenswelten gibt, die die Voraussetzung für eine effiziente Produktion von sozialer Wertschätzung bilden. Und gerade die sind ja durch die anonymen „Systeme“ der modernen „Gesellschaft“ in hohem Grade gefährdet. Es tut sich also ein gesellschaftlich ohne Zweifel folgenschweres Dilemma auf: Es gibt – vor die Wahl von „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“ gestellt – offenbar eine unvermeidliche Unterversorgung bei jeweils einem der beiden allgemeinen Bedürfnisse. Die jeweilige Art der Unterversorgung hat – darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden – jeweils unhintergehbare technische Gründe der speziellen gesellschaftlichen Organisation der sozialen Produktionsfunktionen. Sie sind allein deshalb strukturell angelegt und – zunächst jedenfalls – ganz und gar unvermeidlich: Was den Wohlstand erzeugt, unterminiert notwendigerweise die Versorgung mit Affekt und Wertschätzung. Und was Affekt und Wertschätzung bereitstellen kann, gefährdet unvermeidlich die effiziente Produktion der materiellen Lebensmittel.
Nicht ohne Grund lebt die Soziologie besonders in ihren sozialphilosophischen Varianten bis in die jüngste Gegenwart hinein von immer wiederkehrenden Utopien, die aus diesem Dilemma der strukturellen Unterversorgung bei jeweils einem der beiden anthropologischen Grundbedürfnisse einen Ausweg verheißen. Auch Karl Marx hat von einer solchen Utopie geträumt: In der kommunistischen Gesellschaft sollte eine Welt der Solidarität im Überfluß errichtet werden. Mit dem Fehlschlagen des dazu angelaufenen historischen Großexperiments müssen sich die Menschen erst einmal wieder mit – im Vergleich dazu – deutlich kleiner gefaßten Notlösungen zufriedengeben: Die Lebenswelten und die „Gemeinschaften“ der Familie, der Teerunden, der Wohngemeinschaften, der Anarcho-Szene, der Jugendsekten, der Rockerban-
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den und der Rockkonzerte, wohl auch so manche rechtsradikale GlatzkopfClique, für die Produktion von sozialer Wertschätzung – inmitten der Systeme einer durchrationalisierten modernen „Gesellschaft“ und ihrer, auch wohlfahrtsstaatlich untermauerten, Grundversorgung mit den materiellen Gütern für das physische Wohlbefinden.
Exkurs über Entfremdung Funktionale Sphären sind eine Form der Organisation sozialer Produktionsfunktionen, die den Akteuren grundsätzlich fremd vorkommen muß: Sie müssen sich den funktionalen Imperativen beugen, weil sie erst dann überhaupt eine Möglichkeit haben, an die sie eigentlich auch persönlich interessierenden primären Zwischengüter heranzukommen. Das ist der Preis für die Abkopplung der Funktionserfüllung von den unmittelbaren privaten Motiven der Menschen. Wer interessiert sich in der Politik denn eigentlich wirklich für die lieben Wählerinnen und Wähler da draußen in diesem unserem Lande? Wahrscheinlich niemand. Warum tun die Politiker dann aber immer so beflissen, als ob? Die Antwort ist leicht zu geben: Erst müssen einmal Wählerstimmen gewonnen werden, weil sonst nichts geht in der Politik – und in der Lösung der privaten sozialen Frage unseres Politikers. Die Maximierung der Wählerstimmen ist das primäre Zwischengut bzw. der funktionale Imperativ in der demokratischen Organisation der Politik. Und darum dreht sich dort letztlich alles – und eben nicht vordergründig um die private Nutzenmaximierung der Politiker. Gerade das Gegenteil ist ja der Fall: Er ist verloren, wenn herauskommt, daß ihn im Grunde nur sein eigenes Wohl interessiert. Und wenn die Politik für einen sog. Berufspolitiker die einzige soziale Produktionsfunktion auch seiner privaten Existenz abgibt, dann geht der auch schon einmal zu einem lächerlichen Krabbenpulen, obwohl er auch das nicht richtig kann und wohl selbst etwas lachhaft findet. Und er lügt – wenn‘s denn sein muß – seine lieben Wählerinnen und Wähler mit treuestem Softieblick an, daß sich die Balken biegen.
Aber seien wir nicht allzu pharisäerhaft. Denn erst mit einer gewonnenen Wahl kann unser Berufspolitiker ja an die Produktion der ihn wirklich interessierenden personalen Zwischengüter denken: Ansehen draußen im Lande, eine Villa und eine Geliebte im Tessin oder ein Platz im Buche der Geschichte, vielleicht ja sogar die Durchsetzung der politischen Idee, wegen der er angetreten ist und gewählt wurde. Auch Politiker zählen ja zur Spezies des homo sapiens und teilen mit allen anderen Exemplaren dieser Gattung das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Und deshalb tut auch ein Politiker – wie jeder normale „Rollenträger“ – alles, was das Amt und die Funktion von ihm verlangen, obwohl es ihn oft genug „eigent-
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lich“ nicht die Bohne interessiert. Und wenn er seine Sache gut, also nach den Vorgaben der Imperative der funktionalen Sphäre der Politik, macht, dann sollten uns seine Motive auch ganz egal sein. Durch die funktionale Art der Nutzenproduktion wird also auf strukturelle und damit: unvermeidliche, Weise eine gewisse „Entfremdung“ der Menschen von dem erzeugt, was sie „eigentlich“ wollen. Sie wünschen sich immer nur soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Sie können diese Wünsche aber nur über Zwischengüter erfüllen. Bei arbeitsteiliger, funktionaler Organisation der primären Zwischengüter sind diese Zwischenprodukte schon strukturell relativ weit weg von dem, was die Menschen tatsächlich umtreibt – weil sie Interessen entwickeln müssen für Dinge, die zwar funktional „primär“ sind, aber für sie selber oft alles andere als von primärer Bedeutung und unmittelbarer Nähe zu ihren Bedürfnissen. Deshalb sind moderne Gesellschaften stets – und von ihrer Konstruktion her: unvermeidlicherweise – von einem starken Hauch der Entfremdung durchzogen. Entfremdung ist die unmittelbare und unvermeidliche Folge der Arbeitsteilung, der Entstehung spezifischer funktionaler Sphären und der generalisierten Medien ohne jeden weiteren „konsummatorischen“ Gehalt – und der Preis dafür, daß die Mittel für das physische Wohlbefinden drastisch reichhaltiger zur Verfügung stehen als – etwa – in den geschlossenen Anstalten der einfachen Stammesgesellschaften. Der Begriff der Entfremdung hat eine lange philosophische Tradition und spielte in der Soziologie bis vor kurzem eine durchaus beachtliche Rolle. Unter Entfremdung wird – ganz allgemein – eine bestimmte Beziehung der Akteure zu ihrer Umwelt verstanden: Die Umwelt erscheint den Akteuren als eine fremde und unkontrollierbare Macht, und das Handeln wird in dieser Umwelt als eine inhalts-, sinn- und beziehungslose Tätigkeit gesehen. Der Begriff kann auf die Sozialphilosophen Jean Jacques Rousseau (1712-1778) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) zurückgeführt werden. Rousseau meinte, daß mit dem Privateigentum und mit der Arbeitsteilung der eigentlich ganz zufriedenstellende Naturzustand beendet worden sei und daß die damit verbundene Unterwerfung des Menschen unter einen Gesellschaftsvertrag zur „Entäußerung“ von der ursprünglichen Freiheit und zur Entfremdung von seinem natürlichen Wesen geführt habe. Hegel sieht in einer besonderen Form der Organisation der gesellschaftlichen „Arbeit“ das Problem. Einerseits sei die Arbeit das entscheidende Mittel zur Aneignung der Welt, zur Überwindung der Fremdheit mit der objektiven Welt und zur Vergrößerung der Kontrolle darüber: Arbeit sei Teil der „Selbsterzeugung“ des Menschen. Entfremdung entstehe dann, wenn durch die Arbeit eine solche „Selbst“Erzeugung nicht mehr erfolge. Dies sei besonders dann der Fall, wenn die Produktion und die Aneignung der Produkte auseinanderfallen – wie bei der Arbeitsteilung und unter den Regeln des Privateigentums. Kurz: Wenn es ein Allokationsproblem bei der Arbeit als sog. Kooperationsgut gebe (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die soziologische Diskussion des Begriffs der Entfremdung ist eng mit Karl Marx verbunden. Mit Hegel interpretiert er die Arbeit als Selbsterzeugung des Menschen, und von Rousseau und von Hegel übernimmt er die Überzeugung,
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daß das Privateigentum und die Arbeitsteilung diesen Prozeß der Selbsterzeugung unterbreche. Anders als Rousseau glaubt Marx aber, daß der Mensch immer ein vergesellschaftetes Wesen sei und daß es jedenfalls die Vergesellschaftung des Menschen selbst nicht wäre, die zwingend zur Entfremdung führt. Es ist – so Karl Marx – vielmehr der mit dem Privateigentum und mit der Arbeitsteilung in den kapitalistischen Gesellschaften zum Höhepunkt gekommene „Warencharakter“ der Arbeit, der zur Entfremdung des Menschen von seiner Tätigkeit führt, nicht aber die Arbeit an sich oder das Ende des Naturzustandes (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 3.1 und 4.6 in diesem Band). Das ist – wie Karl Marx in seiner Jugend vor allem noch träumte – in der kommunistischen Gesellschaft ganz anders. Dort gibt es das Privateigentum nicht mehr, sind folglich die sozialen Klassen und die Klassenkonflikte aufgehoben, und alle Menschen haben nur noch gemeinsame Interessen (siehe dazu auch schon Abschnitt 12.3 in Band 1, „Siutationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Entfremdung herrscht solange wie die „ ... Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will ... .“17
Anders gesagt: Die primären Zwischengüter – und erst recht: die Mittel zu deren Erzeugung – sind bei der „naturwüchsigen“, von den Menschen nicht kontrollierten, Arbeitsteilung sehr weit weg von den „eigentlichen“ Bedürfnissen, von der Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden also: „Die soziale Macht, ... die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“ (Ebd., S. 34; Hervorhebung nicht im Original)
Das ist in der kommunistischen Gesellschaft ganz anders,
17
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-EngelsWerke Band 3, Berlin 1962, S. 33.
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„ ... wo Jeder nicht einen ausschließlichen Teil der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger oder Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Ebd.; S. 33)
Die kommunistische Gesellschaft ist, trotz nachhaltiger Bemühungen zu ihrer Einrichtung, nicht heraufgekommen. Im Gegenteil. Karl Marx hat wohl übersehen, daß der materielle Überfluß, der erst die von ihm geschilderte kommunistische Erlebnisgesellschaft ermöglicht, in der jeder das tun kann, wozu er gerade Lust hat, auch wirklich und verläßlich produziert werden muß. Die „Gesellschaft“ tut das aber nicht, sondern immer nur die Menschen. Und für diese Produktion ist eine – in einem gewissen Maß auch entfremdende – Arbeitsteilung ganz unvermeidlich, bei der eben – wenigstens zeitweise – nun wirklich nicht jeder „heute dies, morgen jenes tun“ kann. Und sie ist wohl auch nicht möglich ohne die Institution des Privateigentums (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Woher soll denn jemand motiviert sein, eine Arbeit zu tun, deren Früchte er nicht behalten kann? Kurz: Ohne Arbeitsteilung und ohne Privateigentum sähe es bald überall so aus wie in den Häusern an der Hafenstraße, wie in einer WG in Kreuzberg oder wie in der DDR zum Ende ihrer Tage – und zum großen Teil auch heute noch. Aber die Sache ist so hoffnungslos nicht: Die Menschen müssen nur hinreichend motiviert sein, die gesellschaftlichen Funktionen zu übernehmen, die für eine weitläufig organisierte arbeitsteilige Produktion erforderlich sind. Die Motivation über eine bloß „gesellschaftlich“ – und nicht auch „lebensweltlich“ – vermittelte soziale Wertschätzung stößt aber rasch an Grenzen, weil – beispielsweise – auf die Dauer der Titel eines Helden der Arbeiterklasse etwas wenig ist, wenn die Mittel für das physische Wohlbefinden fehlen und die Menschen in ihrem Alltag nur noch mitleidig und resigniert auf „die da oben“ im Politbüro blicken können. Letztlich muß auch etwas herauskommen, was die Akteure unmittelbar interessiert, oder was sie ganz nach ihrem Belieben für die Nutzenproduktion einsetzen können. Ein anderer Weg der Aufhebung der Entfremdung wäre die Internalisierung der funktionalen Pflichten als ein Bedürfnis der Akteure. Und in der Tat hat die Soziologie – vor allem mit Emile Durkheim und Talcott Parsons – auf diese moralische Karte gesetzt: Das personale System müsse mit dem sozialen und mit dem kulturellen System über die „Sozialisation“ der Menschen in Deckung gebracht werden. Aber: Das wird dann immer schwieriger, je heterogener die funktionalen Felder sind, in denen die Menschen sich aufhalten. Und für „komplexe“ Gesellschaften kann es auch immer nur eine sehr allgemeine und abstrakte Moral sein, auf die hin sozialisiert wird. Und die Folge: Auch die Internalisierung ist keine Lösung des Entfremdungsproblems – jedenfalls um so weniger, je komplexer und je stärker funktional differenziert die Gesellschaften werden.
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In diesem Zusammenhang – dem Problem der Motivation der Menschen für die Übernahme von Funktionen, die sie „eigentlich“ gar nicht interessieren – spielt die Erfindung der generalisierten Medien, insbesondere die des Geldes eine interessante und wichtige, ja eigentlich unersetzliche Rolle. Weil Geld in seiner Wirkung schon fast ein Verfügungsrecht über unspezifizierte Gegenleistungen – fast – aller Art darstellt, fungiert es als ein indirektes Zwischengut mit einer sehr hohen Effizienz für – fast – alle Akteure mit – fast – beliebigen Motiven in – fast – allen Situationen: Es ist ein generalisiertes primäres Zwischengut, ein ganz allgemeines und hochwirksames Medium der Nutzenproduktion und der Situationsdefinition, das die Menschen mit ganz unterschiedlichen privaten Motiven dazu bringt, ohne Klagen und ohne Fragen eine ihnen im Grunde immer recht fremd vorkommende Arbeit zu tun. Wegen dieser enormen Effizienz als praktisch beliebig einsetzbares – und deshalb so ungemein interessantes – „Medium“ ist Geld so begehrt. Geld stinkt genau deshalb nicht. Und deshalb ist es auch – mit der Liebe und der Ehre – einer der wichtigsten und häufigsten Anlässe für Mord und Totschlag. Durch Geld können also – ganz anders als dies das Gejammer vor allem dann der großbürgerlichen Anhänger der Kritischen Theorie über die Entfremdung der Menschen in der Warengesellschaft einst gemeint hat – die Entfremdung der Menschen von seiner Tätigkeit in den funktionalen Sphären durchaus verringert und die Effizienz der Wohlstandsproduktion in der Folge der Arbeitsteilung deutlich erhöht werden. Man muß nur genug davon haben oder als Entlohnung für seine entfremdete Tätigkeit bekommen. Dann kann man sich auch die unter Umständen teuren personalen primären Zwischengüter für die ganz privaten Motive wirklich leisten, an die man eigentlich immer – als Datenschützer, als Ausländerbeauftragte oder als Bundeskanzler – nur insgeheim denkt, aber immer so tun muß, als interessierte das alles nicht. Geld allein, so wußte Arthur Schopenhauer, sei das „absolut Gute“. Wer davon genügend habe, werde immun gegen Bedürftigkeit und Plage und sei ein wahrhaftig freier Mensch. Nur er dürfe jeden Morgen sagen: „Der Tag ist mein!“. Jetzt fehlt nur noch eines: die Zeit, es für die ganz persönlichen primären Zwischengüter auszugeben. Aber auch die kann man sich für Geld kaufen. Es ist alles nur eine Frage des Preises, der Höhe des Budgets oder der Erbschaft. Frag nach bei Jan Philipp Reemtsma. „Entfremdung“ heißt in dieser Hinsicht also nur „Unterbezahlung“. Mit Geld kann man sich aber vermutlich nicht die Solidarität und jene affektuell geprägte Wertschätzung kaufen, die sich aus der gemeinsam gewollten Produktion von sehr primären Zwischengütern ergibt. Und für diese Produktion sind die funktionalen Sphären und die Bezahlung mit Geld in der Tat meist nicht sehr geeignet. Deshalb – und nicht so sehr wegen der Entfremdung von
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der Selbsterzeugung durch die Arbeit – bilden sich in den – unvermeidlich: entfremdenden – funktionalen Sphären unweigerlich bald die bekannten kleinen Lebenswelten der Teerunden und der Bürofreundschaften aus. Sie sind ein Ergebnis der immer auch vorhandenen Nachfrage zur Erzeugung sozialer Wertschätzung – gerade inmitten eines Überflusses an Geld und materiellem Wohlstand. Jürgen Habermas hat die Felder der Erzeugung fragloser Verständigung und nichtentfremdeter Solidarität im Alltag als „Lebenswelt“, die gesellschaftlichen Orte der auf anonymen Beziehungen und entfremdeter Tätigkeit beruhenden funktionalen Sphären – Märkte, Großorganisationen, Bürokratien und staatliche Organe – als „Systeme“ bezeichnet.18 Seine grundlegende Hypothese ist, daß in diesen Systemen nicht genügend an kommunikativer Verständigung und an fragloser Solidarität erzeugt werden kann, daß diese Systeme die Lebenswelten der fraglosen Solidaritätserzeugung bedrohen und in ihren Imperativen in sie hinein „durchgreifen“ und daß daher Gesellschaften, die vorwiegend über „Systeme“ organisiert sind, ein strukturell erzeugtes Defizit an Solidarität und legitimierender Unterstützung haben (vgl. dazu schon Kapitel 6 in diesem Band und noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aus diesem Defizit ergebe sich eine strukturelle Grenze für die immer weiter getriebene funktionale Differenzierung und „Entzauberung“ der Gesellschaft und eine strukturelle Tendenz zur Entwicklung von moralisch hochstehenden Lebenswelten – zum Beispiel in den neuen sozialen Bewegungen des alternativen Milieus.
Die Lebenswelten der Teerunden und Kaffeekränzchen inmitten der Systeme der funktionalen Sphären sind also durchaus nichts Verwunderliches oder etwas Anachronistisches: Weil die Produktion der sozialen Wertschätzung ein allgemeines Bedürfnis der Menschen als Gattung ist, bleibt auch in der komplexesten Gesellschaft und bei aller Versorgung mit materiellem Reichtum und mit Geld immer das Bestreben, auch die dafür nötigen primären Zwischengüter herzustellen. Und wenn die Lebenswelten, die das bisher geleistet haben, verfallen, dann organisieren die so vermißten Erlebnisse einer „authentischen“ Gemeinschaft eben Unternehmer, die dafür viel Geld nehmen. Aber das Geld dafür haben die Menschen. Und gerade wegen ihres Wohlstandes sind sie so entfremdet und bedürfen der kostspieligen Organisation von Gemeinschaften, die ihnen die Entfremdung wieder nehmen, wenigstens für ein paar Stunden.
18
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Register
Abweichung, abweichendes Verhalten 92f., 101ff. Aggregate 48ff. Aggregatpsychologie 2 AGIL-Schema 72, 384ff. Akteure kollektive 48f. korporative 48f. Akteurskonstellation 47ff. Aktivitätssysteme, situierte 44 Anomie 100f. Anomie-Schema 98ff. Arbeitsteilung 64f. Aspirationen 205ff. Assimilation 285ff., 287ff., 338, 294f., 304ff. Assoziation 40 Bedürfnisse 89ff., 479 Bewegung 48 alte soziale 106 neue soziale 106f. Protest- 46 soziale 46, 104ff. Beziehung, soziale 14, 32 Bezugsgruppen 206f., 427 Bezugsrahmen 427 Biographie 127 Chaos, deterministisches 349 Cournot-Effekte 413 Dämpfung 350 Definition der Situation objektive 427, 434 subjektive 427, 434 Definition, partielle 20f. Dekret 72 Desintegration 280f. deviante Alternativen 47 Devianz 100f.
Devianz-Bereich(e) 46, 97f., 101ff. Differenzierung ethnische 290ff. funktionale 64ff., 71ff., 242f., 246f., 385f. kulturelle 79ff. normative 97ff. soziale 51ff., 63ff., 109, 244ff. und Integration 78 Diskriminierung 299 Distanzierung, soziale 298f. Distinktion 82ff. Effekte, individuelle 1ff., 16ff. Ehre 140f. Eigendynamik 361ff., 431 Emergenz 2ff., 18 deskriptive 4ff explanatorische 4ff. von unten 7ff. Ensembles 44 Entfremdung 477ff. Entwicklungsgesetze 308 Erklärung genetische 408f. H-O- 19, 406ff. historische 405ff. historisch-genetische 410ff. Tiefen- 9ff., 19 Erlebnisse 86f. Evolution 73ff., 307, 349ff., 356ff., 458f. biogenetische 356f. Ko- 36, 359f., 371ff., 425 multilineare 393f. soziokulturelle 357f. unilineare 393 evolutionäre Universalien 388f.
498 Exklusion 52f., 233ff. Total- 249f. -sverstärkung 250ff. Expression 85 Feedback negatives 351 positives 351 Fehlschluß, individualistischer 1 Figuration 44 FJH-Hypothese 200f. funktionale Imperative 47, 67f. funktionale Sphäre(n) 45, 68f. Funktionalismus 355f. funktionalistische Schichtungstheorie 221ff. Funktionsverlust 66f. Ganzheit 6f. Gebilde, soziale 36f. Gegenkultur(en) 46, 103f. Geld 481f. Gemeinschaft und Gesellschaft 471ff. Gerechtigkeit 230 Geschichte (und Soziologie) 399ff. Gesellschaft 1, 51, 425ff. Entwicklung der menschlichen 435ff. Entwicklungsgesetze der 308 funktional differenzierte 283ff., 451ff. multiethnische 291ff. multikulturelle 285ff. segmentär differenzierte 436ff. stratifikatorisch differenzierte 440ff. Sub- 281 Gini-Index 117f. Gleichgewicht 353ff. funktionales 355f. situationslogisches 465ff. Globalisierung 391 Gruppe(n) 40ff., 427 Bezugs- 206f., 427 Primär- 427 Habitus 82ff. Handeln nicht-soziales 32 soziales 32 strategisches 32 Handlungsfelder 44 Herrschaft 39, 219f.
Register Historismus 406f. Historizismus 409 Homöostase 354 Idealtypus 460ff. Identifikation 274f., 427 Identität 427 Individualisierung 163ff., 166ff. Individualismus, Methodologischer 3f., 8, 13 Industrialisierung 209f. Initiative 46, 105 Inklusion 52f., 233ff., 257f. Konstitutions- 235ff. Markt- 235ff. multiple Partial- 248 Plazierungs- 235ff. Regel- 235ff. Voll- 247 Integration 78f., 257, 261ff., 285ff. als funktionales Erfordernis 263f. Begriff der 261ff. Binnen- 301f. Deferenz- 276f. Des- 280f. horizontale 267f. Mehrfach- 287 Re- 282 Sozial- 257f., 268, 271ff., 286f. System- 78f., 268, 270ff., 290ff. und Netzwerkstrukturen 268ff. Verkettungs- 276f. vertikale 267f. Wert- 275f. Interaktion 32, 273f., 427 Interaktionssystem 344ff. Interdependenz(en) 37, 121, 264f. intermediäre Instanzen 61f. Internalisierung 480 Interpenetration 270f. Irreduzibilität 5ff. Kapital, kulturelles 327 Kaste(n) 131, 136ff. in Indien 137f. Quasi- 138f. Katastrophe 349 Kategorien 47ff. Klasse 131ff., 317ff. Klassenschema(ta) 153ff. nach Goldthorpe 158ff., 164
Register nach Müller 164f. nach Wright 153ff. Klubs 48 Koalitionen 48 Kollektivbegriff(e) 5 Kollektivbewußtsein 7 Kollektive 47ff. Kollektivismus, Methodologischer 3f. Kommunikation 32f., 427 Konflikte 39, 121 ethnische 291, 303f., 418ff. Klassen- 291 regionale 291 religiöse 291 Konstitution Ko- 36, 425, 430 soziale 428 systemische 427 von oben 7ff. Kooperation 32, 121 antagonistische 38 Koorientierung 14ff. Kulturation 272 kulturelle Fokalobjekte 47, 81 kulturelle Milieu(s) 45, 80ff. Kumulation 347f., 350 Lage gesellschaftliche 47ff., 118ff. soziale 169f. Lebensführung 81ff. Lebensstil 80, 86ff., 171ff. Lebensstilgruppen 80, 172 Lebensweise 79ff. Lebenswelt 427, 482 Leistungsrollen 243 Log-lineare Analyse 195 Logik des sozialen Wandels 339ff. nach Boudon 344ff. nach Hernes 340ff. Logik der Aggregation 13ff., 19ff., 428f. der Selektion 428 der Situation 426f. Logistische Regression 314 Lorenzkurve 115f. Macht 44, 130 Machtbalance 44 Marginalisierung 251 Marginalität 277f., 287
499 Markt 39, 140f., 224f., 265f., 270f. Medien, symbolisch generalisierte 270f. Mehrebenen -Inklusion 60 -Organisation 60f. -System 59 Meso-Ebene 60ff. Milieus, soziale 171ff. Minderheiten, ethnische 286ff. Mobilität Abstrom- 178f. horizontale 182 individuelle 181f. intergenerationale 183 intragenerationale 183 kollektive 183f. soziale 175ff., 311ff. strukturelle 181f. vertikale 182 Zirkulations- 181 Zustrom- 178f. Mobilitätsfalle 229f., 301f. Mobilitätsregime(s) 188ff. Modelle formale 23f. Prozeß- 23f. Situations- 23f. Struktur- 27ff., 315 Modernisierung 209f., 388ff., 392f. Nahumwelt 427 Narration 406 Netzwerk(e) 40ff. Policy- 61f. Vermittlungs- 61f. operative Geschlossenheit 8 Opportunitäten 427 Ordnung, soziale 37ff., 285 Organisation 40ff., 265f., 270f. Orientierung 265f., 426 Oszillation 350 Pfadabhängigkeit 361ff., 431 Pfadanalyse 203f. Plazierung 272f. Positionsgut 328 Prestige 83ff., 129f. Privilegien 129f. Protest 105 Psychologismus 13 Publikumsrollen 243
500 Race Relation Cycle 330ff. Realtypus 462f. Rechte 241 Reduktion 5ff., 9ff., 13 Reduktionismus 9ff., 12ff. Regeln 241f., 427 Reintegration 282 Repräsentationen, kollektive 7 Reproduktion 347ff. einfache 343f. erweiterte 343f. funktionale 349f., 352ff. gleichgewichtige 429 repetitive 353f. Requisiten, funktionale 7 Revolte 46, 106 Revolution 46, 105, 361 Schichtindex 152f. Schichtung ethnische 138f., 293ff., 303f. soziale 131, 143 ff. Schichtungsmodell nach Bolte 148f. nach Dahrendorf 149f. nach Geiger 145f. nach Geißler 149ff. Schließung 84f. Segmentation 281f., 287, 299ff. Segregation 299f. Selbstorganisation 95 Selbstregulation 349, 351, 353ff. Selektion, strukturelle 394ff., 432 Sharing-Groups 472ff. Situation parametrische 32 soziale 32 Situationslogik 1, 418ff. Situs 182 Sozialisation 272, 428 Staat 162f. Stand 131ff., 135f. Status 182 sozio-ökonomischer 151ff. Statussymbol(e) 84f. Statusvererbung 177, 185ff., 327ff. Statuszuweisung 175ff., 201ff. Modelle der 203ff. Struktur(en) 425ff. Bewertungs- 429
Register Beziehungs- 430 Differenzierungs- 429 Infra- 426, 429 institutionelle 429 Interdependenz- 429 korporative 430 Sinn- 429 soziale 309ff., 426, 429 Super- 426, 429 Ungleichheits- 429 Strukturierung, gesellschaftliche 426ff. Strukturmodelle 27ff., 315, 414 Strukturtheorien 417ff. Subkultur(en) 46, 102f. System -Abgrenzung 53f. -Aggregation 58f. -beziehungen 53ff. -Durchdringung 57f. -Inklusion 54f. kulturelles 34f. psychisches 34f. -Relationen 57 soziales 14ff., 31ff., 34f., 234f. Systemtheorie, soziologische 6ff., 254ff. Szene(n) 45, 79f., 86ff. Theorien mittlerer Reichweite 29, 417ff. Transaktion 32 Transformation 343f., 347f., 356ff. Transformationsbedingung 16ff., 24f. Transformationsregeln 2ff., 13ff., 16ff., 20ff., 24f., 336f. als institutionelle Regeln 21f. als formale Modelle 23f. als partielle Definitionen 20f. als statistische Aggregationen 21 einfache 20f. Kombination der 26f. komplexe 21ff. Transition 343f. Ungleichheit Bildungs- 317ff. biographische 127f. Chancen- 317ff. demographische 122 Erklärung nach Lenski 217f. funktionale 123f., 429ff. Funktionen der 221ff. horizontale 128f., 431
Register kulturelle 123ff., 429ff. neue soziale 132, 166ff. normative 123ff., 429ff. Reproduktion der sozialen 228ff., 318ff. soziale 51ff., 113ff., 244ff. -sstruktur 130f. theoretische Konzepte der sozialen 131ff. Ursachen der 214ff. vertikale 128f., 431 Utopie 475f. Variablensoziologie 2 Verbände 48f. Verfassung 72 Verhandlungen 43f. Vertrag 73 Vorurteile 298 Wandel als multilineare Evolution 392ff. endogener 351f., 431 exogener 351f., 431 funktionalistischer Ansatz des 382ff. Gesetze des sozialen 329f. konflikttheoretischer Ansatz des sozialen 377ff. Logik des sozialen 339ff. sozialer 307ff. Soziologie des sozialen 376ff. Theorien des sozialen 308 „wirklicher“ sozialer 368ff. Werturteile 469ff. Zusammenkunft 40ff. Zwischengüter indirekte 89 personale 89f. primäre 89f.
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