Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Supplement-Reihe Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 3
Vandenhoeck & Ruprecht
Reinhart Herzog
Spätantike Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur Mit einem Beitrag von Manfred Fuhrmann
Herausgegeben von
Peter Habermehl Mit zwei Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spätantike : Studien zur römischen und lateinischchristlichen Literatur / Reinhart Herzog. Mit einem Beitr. von Manfred Fuhrmann. Hrsg. von Peter Habermehl. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Hypomnemata : Supplement-Reihe ; Bd. 3) ISBN 3-525-25270-6
© 2002. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co.. Göttingen Einbandkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Statt eines Vorworts
VII
Reinhart Herzog. Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen Von Manfred Fuhrmann
XI
Bibliographie Reinhart Herzog
XXm
Zur römischen Literatur Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine Retraktation der politischen Lyrik des Horaz
1
Aeneas' episches Vergessen. Zur Poetik der memoria
27
Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica
75
Zur lateinisch-christlichen Literatur Metapher - Exegese - Mythos. Interpretationen zur Entstehung eines biblischen Mythos in der Literatur der Spätantike
115
Exegese - Erbauung - delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spätantike
155
Rom und Altes Testament. Ein Problem in der Dichtung des Prudentius
179
Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des Paulinus von Nola
203
Non in sua voce. Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones - Voraussetzungen und Folgen
235 V
Partikulare Prädestination. Anfang und Ende einer Ich-Figuration Thesen zu den Folgen eines augustinischen Theologoumenon
287
Orosius oder Die Formulierung eines Fortschrittskonzepts aus der Erfahrung des Niedergangs
293
»Wir leben in der Spätantike«. Eine Zeiterfahrung und ihre Impulse für die Forschung
321
Vom Aufhören. Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende
349
Register
407
VI
Statt eines Vorworts Es war der besondere Ton, der mich von Anfang einnahm, wann immer ich eine Arbeit Herzogs aufschlug. Die Faszination seiner Lektüren (im doppelten Sinne) begleitete mich vom Studium an; sie hat bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Persönlich bin ich Reinhart Herzog nie begegnet, doch sein Name war stets eine feste Größe in meiner »Gelehrtenrepublik«. Seit 1995 die Nachricht von seinem Tod bekannt wurde, ging mir der Gedanke an eine Sammlung seiner >Kleinen Schriften< nicht mehr aus dem Kopf; Ende der Neunziger Jahre nahmen die Pläne konkrete Gestalt an. Daß Herzog im Grunde bis heute ein >Geheimtip< geblieben ist,1 liegt nicht nur an der Wahl seiner Themen, die er eher am Wegesrand als auf den ausgetretenen Pfaden fand; es liegt nicht nur an den untypischen Publikationsorten, für die er sich entschieden hat (nicht ein einziger seiner Aufsätze ist in einer der >klassischen< Zeitschriften erschienen). Sein abstrakter Stil, seine hoch verdichtete, stets theoretisch fundierte Argumentation - ein beredtes Zeugnis vom >Goldenen Zeitalter< der Konstanzer »Literaturwissenschaft« - sperren sich der flüchtigen Lektüre und lassen nur selten auf den ersten Blick ahnen, welche Einsichten sich unter der spröden Schale verbergen. Wenn diese Sammlung ihr Teil dazu beiträgt, das GEuvre Herzogs ein wenig bekannter zu machen, sehen sich die Hoffnungen des Herausgebers mehr als belohnt. Um einen verträglichen Umfang des Bandes zu gewährleisten, stand von vornherein fest, daß er nur eine Auswahl der Aufsätze Herzogs enthalten könne. Es war keine leichte, aber eine - wie ich denke - vertretbare Entscheidung, den Schwerpunkt auf Herzogs großes Thema zu setzen: die christliche Spätantike. Auf solche Weise war es möglich, alle relevanten Texte aus diesem Bereich (ausgenommen die eher lexikalischen Artikel im gut zugänglichen »Handbuch der lateinischen Literatur der Antike«) 1 Um es an einem Beispiel festzuhalten: Sein Aufsatz zu den Satyrica (in diesem Band: S. 75ff.) ist in der internationalen Petronliteratur bis heute schlechterdings nicht rezipiert worden; deutschsprachige Arbeiten zitieren ihn ganz vereinzelt.
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zu vereinen und dem Band eine willkommene thematische Geschlossenheit zu verleihen. Dankenswerter Weise gewährte der Verlag genug Raum, um der spätantiken >Basilika< noch eine kleine >Aula< voranzustellen, nämlich die drei Essays zu den römischen Klassikern Horaz, Vergil und Petron. Damit finden sich in diesem Band - in einer an die antike Chronologie angelehnten Abfolge - alle maßgeblichen Aufsätze Herzogs zur lateinischsprachigen Antike versammelt.2 Verzichtet habe ich ausnahmslos und schweren Herzens auf seine Untersuchungen zur griechischen Literatur, auf seine überwiegend theoretischen Arbeiten, sowie auf Herzogs Studien zur >Antikerezeption< im weitesten Sinne, die einen Bogen schlagen von der Poetik der Frührenaissance bis zu den Antike-»Identifizierungen« eines Arno Schmidt. Eine photomechanische Wiedergabe der Aufsätze verbot sich schon aus ästhetischen Gründen (zur Orientierung sind die Seitenzahlen der Erstpublikation dem Text in eckigen Klammern beigefügt). Die Präsentation in einheitüchem Gewand erlaubte es, Formalien wie die Zitierweise weitgehend (wenn auch nicht mit letzter Konsequenz) zu systematisieren. Druckfehler und Versehen der Vorlagen wurden bei dieser Gelegenheit stillschweigend korrigiert, >herrenlose< Zitate nach Möglichkeit lokalisiert.3 Nach dem Vorbild neuerer Arbeiten wurden den griechischen Zitaten Übersetzungen beigefügt; einige längere Zitate, bei denen es allein auf die inhaltliche Aussage ankommt, sind ganz durch eine Eindeutschung ersetzt. Das Register am Ende des Bandes ist bewußt knapp gehalten. Es soll rasche Orientierung bieten vor allem zu Personen und Textpassagen; die Lektüre des Bandes kann und will es nicht ersetzen. 2 Von Herzogs Konstanzer Antrittsvorlesung zu Ovid - >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der Illusion< (29. Juni 1992) - existiert ein umfangreiches Arbeitsmanuskript, das sich mit dem vor allem im letzten Drittel frei gehaltenen Vortrag freilich nur bedingt deckt. Die geplante Veröffentlichung in den »Konstanzer Universitätsreden« scheiterte an der Einstellung dieser Reihe in eben jenem Jahr; daraufhin sah Herzog von einer Ausarbeitung seines Textes ab. Da der mündliche Vortrag m.W. weder auf Tonband noch in Mitschriften hinreichend dokumentiert ist, und Herzog eine Publikation des Arbeitsmanuskripts untersagt hat - ein Votum, an das die Familie sich gebunden fühlt -, war es leider nicht möglich, diese exemplarische Klassikerlektüre der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im vorliegenden Band endlich zugänglich zu machen. 3 Ein offenkundiger Textausfall in Herzogs letztem Aufsatz (unten S. 370) wurde in spitzen Klammern ergänzt.
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Die Vorbereitimg dieses Bandes wäre kaum möglich gewesen ohne die Unterstützung, die mir von vielerlei Seite zuteil geworden ist. Die Familie Reinhart Herzogs hat den Plänen zu einer solchen Aufsatzsammlung ohne Vorbehalte ihre Zustimmung erteilt. Die Verlage und Institutionen, bei denen die abgedruckten Aufsätze zuerst erschienen - C. C. Buchners (Bamberg), Klett-Cotta (Stuttgart), J. B. Metzler (Stuttgart und Weimar), die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) und insbesondere Wilhelm Fink (München), des weiteren die Fondation Hardt (Vandceuvres-Gen£ve), die Fritz ThyssenStiftung (Köln) und das Institut dlitudes Augustiniennes (Paris) -, haben ausnahmslos und aufs Freundlichste den Wiederabdruck der Arbeiten genehmigt. Vandenhoeck & Ruprecht hat das Projekt - auch dank der engagierten Fürsprache von Siegmar Döpp - rasch entschlossen unter seine bewährten Fittiche genommen. Für die Geduld, mit der man in Göttingen auf das Manuskript wartete, weiß ich mich insbesondere Ulrike Blech verpflichtet. Bei der Eingabe der Texte leistete Arnd Rattmann tatkräftige Hilfe. Bei der Suche nach kryptischen Zitaten gaben Rene Braun, Josef Ernst und Heinz Gerd Ingenkamp entscheidende Fingerzeige. Die beiden ehemaligen Konstanzer collegae von Reinhart Herzog, Manfred Fuhrmann und Peter Lebrecht Schmidt, standen mir ebenso entgegenkommend mit Rat zur Seite wie Karl-Heinz Schulz, der frühere Sekretär Herzogs in Bielefeld und am Bodensee. Daß Manfred Fuhrmann, einst Lehrer und Mentor Reinhart Herzogs, sich zudem bereit erklärte, diese Publikation mit einigen persönlichen Worten einzuleiten, ist mir eine besondere Freude. Die Drucklegung des Bandes schließlich haben frühere Kollegen, Weggefährten und Freunde Reinhart Herzogs ermöglicht. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle herzlich bedanken bei Martin Klöckener, Odo Marquard, Alfred Schindler, Wolf-Dieter Stempel, Antonie Wlosok, dem Research Fund der Faculty of Ans and Humanities, University College London (vermittelt von Gerard OT)aly), und jenen Spendern, die ungenannt bleiben wollten. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Berlin, im März 2002
Peter Habermehl
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Reinhart Herzog Biographische Notizen und Hinweise zu den in diesem Bande vereinigten Aufsätzen Von Manfred Fuhrmann
I* Reinhart Herzog kam am 12. Juli 1941 in Landsberg an der Warthe zur Welt. Die Familie wurde gegen Ende des Krieges ins nördliche Niedersachsen verschlagen; der Vater unterrichtete am Gymnasium des kleinen Marktfleckens Hagen im Bremischen. Der Heranwachsende absolvierte einen erheblichen Teil seiner Schulzeit in den trutzigen Backsteinmauern des Gymnasiums zu Verden (Aller); er lebte dort mitsamt seinem älteren Bruder in Pension. Das Abitur fand indes im Frühjahr 1959 in Bremerhaven statt. Herzog wuchs in einem kargen mittelständisch-akademischen Milieu der Nachkriegszeit auf. Darüber hinaus scheinen ihn Elternhaus und Schule nicht augenfällig geprägt zu haben, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Doch darüber Bestimmtes auszusagen, ist auch für ihm Nahestehende nicht leicht. Die herbe, schwermütige Landschaft, in der er aufwuchs, hat ihn an Einsamkeit und Verschwiegenheit gewöhnt. Im Herbst 1959 begann er in Kiel zu studieren. Er beschäftigte sich mit Philosophie und Geschichte, daneben mit Romanistik und Latinistik, zunächst noch ohne festes Ziel; er wußte nicht, wo er geistig vor Anker gehen würde, und als Beruf schwebte ihm vage der diplomatische Dienst vor. Ein Seminar über die Psychomachie des Prudentius, das im Wintersemester 1962/63 stattfand, hat ihn offenbar tief beeindruckt. Die allegorische Dichtung, die inkonsistente Bildebene und die ebenso mannigfaltige Sinnebene mit ihren einander durchdringenden und sich ablösenden * Gekürzte Fassung des Nachrufs, den der Gnomon im Jahre 1996 auf den Seiten 472-476 veröffentlicht hat.
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Bedeutungssphären übten eine starke Faszination auf ihn aus. So ging aus seinem Referat in jenem Seminar seine Dissertation hervor, »Die allegorische Dichtkunst des Prudentius« (München 1966), und der Erfolg die Promotion wurde im Juli 1964 mit dem Prädikat summa cum laude abgeschlossen - ermutigte ihn, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die Begegnung mit Prudentius und überhaupt mit der altchristlichen Literatur hat keine emotionale Wende bewirkt, jedenfalls nicht in erkennbarer Weise. Die Psychomachie war für Herzog ein intellektuelles Erlebnis; sie weckte seine spezifische Begabung, seinen Spürsinn für verborgene Zusammenhänge, seine Fähigkeit, zu kombinieren und ganze Netze von Beziehungen bloßzulegen. Er las sich in kurzer Zeit tief in die Bibel und deren spätantike Exegese hinein; er vermochte die leisesten Anspielungen auf Schriftworte ausfindig zu machen und blieb doch in Distanz zu den Inhalten. Die Faszination, welche von dem allegorischen Beziehungsdenken der christlichen Spätantike auf ihn ausging, war und blieb im wesentlichen von formaler Art: das Zwischenreich von Bildlichkeit und Abstraktion, das ihm hier begegnete, setzte, wie seine späteren Schriften zeigen, frei, was er in verknüpfendem Denken zu leisten imstande war. Die Dissertation befaßt sich vornehmlich mit drei Werken des Prudentius: mit den Gedichtsammlungen Peristephanon und Cathemerinon sowie mit dem allegorischen Epos Psychomachie. Sie sucht die scheinbar disparate Vielfalt dieser Dichtungen als in sich stimmiges, einheitliches Gefüge zu erweisen. Das diese Einheit stiftende Moment ist nach Herzog die christliche Heilslehre; das Vehikel wiederum, das die Fülle der Bilder und Sinnbilder auf diese Einheit hin deutbar macht, ist die christliche, die der patristischen Bibelexegese entstammende Allegorese. Herzogs Arbeit fand nicht nur hierzulande, sondern auch in Frankreich anerkennende Resonanz; die Kritik monierte zwar, daß die pagane Tradition zu kurz gekommen sei, machte sich jedoch die Hauptthese des Autors zu eigen und lobte vor allem die differenzierende Betrachtung der allegorischen Technik in den Märtyrerhymnen und in der Sammlung Cathemerinon. Der Dreiundzwanzigjährige setzte seine Studien noch eine Zeitlang fort, hauptsächlich in den Rechtswissenschaften, zunächst in Kiel, dann an der Sorbonne. Im Herbst 1966 wurde ihm an der soeben gegründeten Universität Konstanz eine Assistentenstelle angeboten. Er akzeptierte und bekam ein Jahr Urlaub, sich in München, vor allem bei Bischoff, in die Mittellateinische Literatur und in die Handschriftenkunde einzuarbeiten. Es folgten jene idyllischen Jahre an der jungen Universität Konstanz, da das eigentliche Gebäude erst im Entstehen begriffen war und die
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Lehre in pavillonartigen künftigen Studentenhäusern, je eines für jedes Fach, stattfand. Herzog beteiligte sich mit Energie an dem damals besonders experimentierfreudigen, nicht selten interdisziplinären Seminarbetrieb, verlor jedoch darüber die Habilitationsschrift nicht aus den Augen, für die er sich die Bibelepik als ein von der Forschung in ungewöhnlichem Maße vernachlässigtes Kapitel der spätlateinischen Literatur vornahm. Im Herbst 1971 war diese Arbeit im wesentlichen zu dem Stadium gediehen, in dem sie bald darauf an die Öffentlichkeit gelangt ist und das - entgegen der Ankündigung - keine Fortsetzung mehr fand: »Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung. Band 1« (München 1975). Die Schrift über die Bibelepik hat wie die Dissertation das Ziel, einer einst, bis zum Barock, bedeutenden, dann aber im Schatten klassizistisch-humanistischer Dogmen mißachteten und mißdeuteten Dichtungsart zu besserem Verständnis zu verhelfen. Der Untertitel gibt Hinweise auf das Programm: die Ausdrücke >Formgeschichte< und >erbaulich< deuten einerseits auf die theologischen Vorbilder der Untersuchung, andererseits auf die religiösen Antriebe, die den untersuchten Gegenstand hervorbrachten. Herzog hat mit diesem Buch ein Musterbeispiel angewandter Rezeptionstheorie geschaffen. Statt mit vorgegebenen ästhetischen Normen an die Paraphrasen biblischer Stoffe heranzutreten, sucht er deren Beschaffenheit aus den jeweiligen Bedürfnissen und Wünschen des Publikums abzuleiten. Eine lange Einführung überblickt das Ganze der spätlateinischen Bibelepik von Juvencus bis Dracontius, vom 4. bis zum 6. Jahrhundert; hier sind mit Umsicht und Scharfsinn die äußeren Indizien für die Rezeptionsgeschichte zusammengestellt: Literaturkataloge, Selbstaussagen der Dichter sowie vor allem die Befunde der handschriftlichen Überlieferung lassen erkennen, nach welchen Kriterien sich die Gattung konstituierte und ein Kanon maßgeblicher Werke entstand. Die eigentliche Darstellung widmet sich sodann den Bibeldichtungen selbst, mit dem Ziel, die dort vorausgesetzten Lesererwartungen zu ermitteln. Herzog zeigt, daß die Epen teils stoffliche, teils formale, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen suchten: dem Publikum sollte einerseits zu einem leichteren Verständnis von Bibeltext und dessen Exegese, andererseits aber auch zur Erbauung, zur Andacht und in späterer Zeit noch zum Genuß einer effektvollen Präsentation verholfen werden. Diese Darlegungen beschränken sich allerdings im wesentlichen auf die Anfänge der Gattungsgeschichte, auf den Cento der Proba und auf die Paraphrasen des Juvencus und des Heptateuchdichters.
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Die Arbeit über die Bibelepik erzielte breiten, fast ausnahmslos zustimmenden Widerhall. Unmittelbar nach der Habilitation wurde dem gerade Dreißigjährigen an der Universität Bielefeld ein neu eingerichteter Lehrstuhl für Latinistik anvertraut; dort hat er nahezu zwei Jahrzehnte, bis zu seiner Berufung nach Konstanz im Herbst 1990, gewirkt. Nach der »Bibelepik« hat Herzog keine Monographie mehr veröffentlicht. Die ihm gemäße Darstellungsform war offensichtlich der breit angelegte Problemaufsatz; die Zahl der von ihm in dichter Folge verfaßten Studien dieser Art beläuft sich auf etwa zwei Dutzend. Der Problemaufsatz erlaubte Flexibilität und häufigen Wechsel der Gegenstandsbereiche: zu Herzogs besonderen Fähigkeiten zählte auch die Gabe, in kurzer Zeit auf neuem Terrain einen eigenen Standort zu gewinnen, und so wurde die Vielfalt der Themen, die Verschiedenheit der jeweils befragten Quellen und der jeweils benutzten wissenschaftlichen Literatur zu einem auffälligen Merkmal seiner Produktion. Die rastlose Expansion war offensichtlich von einem staunenswerten Lektürepensum begleitet: der in chronologischer Folge von Aufsatz zu Aufsatz fortschreitende Leser trifft immer wieder auf gänzlich neue Corpora von Primär- und Sekundärtexten, von teils naheliegenden, teils unerwartbaren Zitaten und Hinweisen. Vielseitigkeit und die Fähigkeit, in überaus verschiedenen Bereichen der geistigen Überlieferung Quartier zu nehmen, qualifizieren für interdisziplinäre Vorhaben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß ein gut Teil der Abhandlungen Herzogs durch fächerübergreifende Kolloquien und ähnliche thematisch gebundene Veranstaltungen angeregt wurde. Eine beherrschende Rolle hat hierbei die Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« gespielt. Diese Vereinigung von Geistesgelehrten (mit wechselndem Personal um einen festen Kern) hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts insgesamt sechzehn Kolloquien durchgeführt, die jeweils ein Generalthema aus der Sicht verschiedener Epochen und Disziplinen zu erfassen suchten; aus jedem Kolloquium ging ein umfänglicher Band mit Abhandlungen hervor. Vor allem in den achtziger Jahren hat sich Herzog nahezu regelmäßig an den Tagungen der Gruppe beteiligt. Bei zwei Bänden wirkte er als Herausgeber mit (bei Band 12: »Epochenschwelle und Epochenbewußtsein«, München 1987, mit Reinhart Koselleck, und bei Band 15: »Memoria. Vergessen und Erinnern«, München 1993, neben Anselm Haverkamp und Renate Lachmann), und für insgesamt sechs Bände hat er Beiträge verfaßt. Die Hälfte der Untersuchungen, die hier gebündelt präsentiert werden, ist im Zusammenhang mit Projekten von »Poetik und Hermeneutik« entstanden: Der zweite XIV
und dritte Aufsatz, »Aeneas' episches Vergessen« (1993) und »Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica« (1989), sowie das 4., 8., 9. und 12. Stück entstammen den Arbeitsberichten der genannten Gruppe. Im letzten Dezennium seines Lebens hat Herzog viel Zeit und Mühe auf ein Großunternehmen gewandt: auf eine zeitgemäße Erneuerung der römischen Literaturgeschichte von Schanz-Hosius-Krüger. Beabsichtigt ist ein achtbändiges Kompendium, dessen Gesamtherausgeberschaft Herzog und Peter Lebrecht Schmidt übernommen hatten. Die ersten vier Bände sollen die römische Literatur (von den Anfängen bis zur Mitte des 3. Jh. n.Chr.) behandeln; die Bände 5-8 sind der lateinischen Literatur der Spätantike vorbehalten. Die zweite Werkhälfte ist als Produkt französisch-deutscher Zusammenarbeit konzipiert: Gelehrte aus beiden Ländern wirken als Autoren mit, und die fertigen Bände sollen in beiden Sprachen veröffentlicht werden. Herzog war die Haupttriebkraft des Unternehmens; zumal ihm oblag die nicht leichte Aufgabe, Bandherausgeber und Autoren zu gewinnen, und seiner Geduld, seinem Verhandlungsgeschick gelang es, mancherlei innere und äußere Widerstände zu überwinden. Im Jahr 1989 erschien als erste Probe Band 5, mit den Anfängen der spätantiken Literatur: »Restauration und Erneuerung. 284-374 n.Chr.«, von Herzog selbst herausgegeben und mit einer weit ausholenden Einführung versehen. Der Band wurde von der Kritik alsbald mit großem Beifall aufgenommen: als ein Arbeitsinstrument, das in jeder Hinsicht würdig sei, die Stelle des veralteten Vorgängers einzunehmen. Im Jahre 1997 folgte Band 4: »Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117284 n.Chr.«; die Herstellung weiterer Bände ist inzwischen weit gediehen. Im Frühjahr 1994 ist Herzog freiwillig aus dem Leben geschieden. Nichts hatte das Ereignis angekündigt. Bis zuletzt zeigte sich Herzog ausgeglichen und gelassen; auch wer ihn sehr gut kannte, ahnte nichts von der Krise, die ihn heimgesucht haben muß, und von der Absicht, mit der er sich schließlich trug. Der vorzeitige Tod des Zweiundfünfzigjährigen ist auch jetzt noch für alle, die ihm nahe standen, ein schwer faßbares Ereignis - hieran hat auch die Distanz von sieben Jahren wenig geändert. Der Universität Konstanz und der Wissenschaft hat er durch den Vollzug, der ihn mitten aus einer Fülle von Aufgaben und Plänen riß, einen schweren Verlust zugefügt. Seinem Werk haftet, gerade weil es in weite Zeiträume ausgreift und mannigfachen Quellgründen geistiger Zusammenhänge nachgeht, etwas Unabgeschlossenes an: zu einer die Vielfalt bändigenden Selbstreflexion, zu Versuchen, den eigenen, offensichtlich XV
außerhalb von überlieferten Größen wie Kirche oder Humanismus liegenden Standort zu bestimmen» ist es nicht gekommen. Am ehesten könnte man wohl seine Haltung als szientistisch bezeichnen, als eine moderner Wissenschaftlichkeit verpflichtete, zu Distanz und Abstraktion neigende Einstellung. Der Forschung hat er vielfältige Impulse gegeben, vor allem auf dem Gebiet der Spätantike, die bei aller Zurückhaltung doch so etwas wie seine geistige Heimat gewesen ist - eine Gegebenheit, die auch für das Verständnis der vorliegenden Sammlung von Bedeutung ist: die Auswahl, die etwa die Hälfte der von Herzog hinterlassenen Aufsätze enthält, besteht im wesentlichen aus seinen Untersuchungen zur christlichen Spätantike. Dem Herausgeber der Sammlung gebührt nicht geringer Dank dafür, daß er die Mühe und das Wagnis auf sich genommen hat, diesen herausragenden Teil von Herzogs Aufsätzen für einen breiteren Leserkreis zu erschließen. Es bleibt zu hoffen, daß den bisweilen schwierigen, zugleich aber stets bedeutsamen Arbeiten hierdurch zu stärkerer Resonanz verholfen wird. Die folgende Wegweisung zu den in diesem Bande vereinigten Schriften möge ihr Teil dazu beitragen.
n 1. Die beiden ersten Aufsätze handeln von Zeitstrukturen bei Horaz und Vergil; es geht dort einerseits um bestimmte Verwendungsweisen der grammatischen Tempora, andererseits um die zwiefache memoria des Titelhelden in der Aeneis. Die Horaz-Studie, »Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft«, benutzt die Schwierigkeiten der Regulus-Ode (IE 5) als Beispiel für ein wiederkehrendes temporales Schema der politischen Gedichte: Das Präsens wird ausgespart; Futura und Präterita beherrschen den Text. Horaz hat dieses Schema schrittweise entwickelt: Die Oden HI 5 und HI 6 zeigen die reife Form. Dort stehen einer positiven Zukunft zwei Schichten der Vergangenheit gegenüber: eine jüngst vergangene schlechte und eine weiter zurückliegende gute Phase. Herzog hat mit dieser Entdeckung einen wichtigen Beitrag zur politischen Einstellung des Dichters geleistet. Das ausgesparte Präsens läßt auf Zurückhaltung hinsichtlich der Gegenwart schließen. Im übrigen aber deutet sich ein Drei-Phasen-Schema der römischen Geschichte an: Auf die heile frühere XVI
Zeit folgte eine Epoche des Unheils (der Bürgerkriege, des Sittenverfalls); doch bald wird das Heil dank Augustus nach Rom zurückkehren. 2. »Aeneas' episches Vergessen«. Die Aeneis ist zweidimensional: Sie verbindet den griechischen Mythos mit der römischen Geschichte. Herzogs Aufsatz verfolgt im Durchgang durch das Epos, wie sich diese beiden Bereiche im Gedächtnis des Aeneas spiegeln: Erinnerung und Vergessen stehen dort in einem dialektischen Verhältnis zueinander; Erinnerung an die mythische Vergangenheit impliziert Vergessen der römischen Zukunft und vice versa. Die Dido-Episode allerdings zeigt einmalige Offenheit: Die römische Dimension ist dort ebenso abwesend wie die mythische, die trojanische. In der zweiten Werkhälfte spielt die Wechselbeziehung von Erinnern und Vergessen keine Rolle mehr - Aeneas geht auf in der Erfüllung seiner Mission. Herzogs zupackende Analyse läßt die vielbeklagte Gefühlskälte des Helden in einem weniger ungünstigen Licht erscheinen. Sie provoziert aber auch die Frage, wie es kommt, daß Vergil dem Schwanken seiner Figur die Form einer bald rückwärts, bald vorwärts gerichteten memoria gegeben, warum er nicht die >Erinnerung< an die Zukunft als Glauben oder Zweifel daran geschildert hat. 3. Der Beitrag »Fest, Terror und Tod in Petrons Salyrica« besteht aus analysierenden Abschnitten und einem Versuch, die Ergebnisse der Analyse zu den Kategorien des Imaginären, Fiktionalen und Realen in Beziehung zu setzen. Petrons Cena Trimalchionis changiert ständig zwischen Tod und Leben; sie ist ein kunstvoll arrangiertes Fest ohne Ende, ein Fest, das zwanghafte Elemente enthält. Um dieser Merkmale willen läßt sie sich mit den >realen< Festen despotischer Kaiser, eines Caligula, Nero usw., vergleichen; dort wurden nicht selten ausgesuchte Grausamkeiten als Belustigungen der Teilnehmer in das Programm einbezogen. Herzog deutet diese Affinität von Literatur und Leben als Öffnung der literarischen Fiktion zur Realität - Nero feiert den von ihm gelegten Brand Roms mit dem Vortrag einer »Troiae Halosis«. 4. Mit der Abhandlung, die die programmatische Trias »Metapher - Exegese - Mythos« im Titel führt, wendet sich die Sammlung dem Hauptschauplatz der Forschungen Herzogs zu, der Spätantike. Eine Partie in Dantes Purgatorio parallelisiert mythische und biblische Gestalten: Herzog rekonstruiert, wie es zu dieser wechselseitigen Durchdringung von Antike und Christentum gekommen war, zur Theologisierung des My-
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thos und zur Rhetorisierung der Bibel. Für den erstgenannten Vorgang enthält der Protreptikos des Clemens von Alexandrien das Paradebeispiel: Der zur Metapher depotenzierte Mythos dient dort wie das Alte Testament als Repertoire für christliche Typologien. Der zweite Vorgang läßt sich vor allem in der christlichen Panegyrik dingfest machen: Wie zwei Totenreden auf Basilios (von Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa) zeigen, nehmen darin biblische Figuren die Stelle ein, die im heidnischen Enkomion den Heroen des Mythos zugekommen war; sie fungieren als Exempel, die der Gepriesene überboten hat. 5. Der schon durch den Titel als Seitenstück zum vorigen Beitrag erkennbare Essay »Exegese - Erbauung - delectatio« gilt ebenfalls der Verschmelzung von Literatur und Bibel, sowohl in der Praxis, im lateinischen Bibelepos, als auch in der theoretischen Reflexion. Zumal wegen des zweiten Aspekts ist die kleine Abhandlung von Gewicht: Sie beginnt mit einem Fulgentius-Zitat, das eine perfekte Durchmischung von Kategorien der antiken Poetik und der Bibel-Hermeneutik vor Augen führt, und endet mit einem überraschenden Fund bei Johannes Chrysostomos: Dessen Schrift De inani gloria (irspx K€vo5o#as, »Über Hoffart und Kindererziehung«) macht sich die aristotelische Katharsis (mitsamt 96^05 und SAeos) für eine christliche Poetik zunutze, die die Erbauung fugenlos mit der delectatio verbindet. 6. Die Studie »Rom und Altes Testament« rückt die Partie Vers 409ff. der Hamartigenia des Prudenz in den Mittelpunkt. Die Interpretation geht scharfsinnig den einander überlagernden Bedeutungsebenen des Textes nach. Feinde Roms erscheinen als Belagerer >Jerusalems< (496f.); Anspielungen auf Vergil und Horaz machen Troja, den Ursprung Roms, zur Parallele von Babylon und Jericho (455ff., 480f.), und der tyrannus am Ende des Abschnitts (500) wird als gegenwärtiger Bedroher Roms gedeutet. Von der Wane dieser differenzierten Romtheologie aus wirft Herzog einen Blick auf das Gesamtwerk des Prudenz, das er - in Anknüpfung an eine Abhandlung Walther Ludwigs - als innere Einheit, als planmäßig entfaltete Abfolge spiritueller Dimensionen verstanden wissen möchte. 7. Die Abhandlung »Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität« zielt auf eine neue Bestimmung des Verhältnisses der beiden im Thema genannten Literaturen. Die herkömmlichen Kategorien wie >Er-
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satz<, >Kontrast<, >heidnische Form - christlicher Inhalts >Verschmelzung<, >Rhetorisierung< usw. scheinen zu kurz zu greifen: Sie beschreiben nicht genau genug, wie allerorten biblische Motive und deren Exegese auf die Darstellungs- und Kompositionsweise Einfluß nehmen. Mit Hilfe dreier Gedichte des Paulinus von Nola (carm. 25, 17 und 26) erläutert Herzog seine Auffassung vom Wesen der christlichen als »exegetischer« Poesie: Diese strebt nach Spiritualisierung, wobei sie sich sowohl die christliche Typologie als auch das rhetorische Exempel zu eigen macht. Mit der Feststellung, daß Paulinus die biblischen figurae nicht nur im Sinne des konventionellen Bibelverständnisses auf Christus, sondern - in frei gewählter Transposition - auch auf zeitgenössische Personen bezieht, knüpft Herzog an seinen Beitrag »Metapher - Exegese - Mythos« an: Dort hatte er dasselbe Phänomen in zwei griechischen Totenreden auf Basilios nachgewiesen. 8. Er ruft »non in sua voce«, »nicht mehr in seiner Sprache«, sondern in der Gottes, der biblischen »der Wasserfälle«: so Augustin im 13. Buch der Confessiones von Paulus, und so Herzog von Augustin, dessen Absicht, mit Gott ein Gespräch zu führen, mit den biblischen Texten am Ende des Werkes ihr Ziel erreiche. Denn dies ist die Hauptthese des großangelegten Deutungsversuchs: der >autobiographische< Bericht der Bücher 1-9 ziele auf nichts anderes als auf die »allmähliche Konstituierung eines Gesprächs«; das Gespräch selber beginne erst mit der Genesis-Exegese der letzten Bücher. Ein Vorteil dieser Annahme leuchtet unmittelbar ein: Die Kluft zwischen den beiden Werkteilen, der >Autobiographie< und der Auslegung der Genesis, verringert sich, ja wird zum Verschwinden gebracht. August in begreift im Lebensbericht Gottes Handeln an seiner Person: Die dieses Begreifen vollziehende Bezeugung von Gottes Providenz wird von Herzog als »hermeneutischer Dialog« bezeichnet - insofern zu Recht (obwohl das eigentliche Gespräch erst danach einsetzt), als aus Gottes Annäherung an Augustin und dessen im Rückblick sich konstituierender Einsicht eine Interaktion resultiert. Die Abhandlung beschreibt den Weg zum zunächst unmöglich scheinenden Gespräch als Rollentausch, als Wechsel der ursprünglichen Sprecherpositionen: Gott wendet sich schließlich in natürlicher Rede an Augustin (8,12,29: »tolle, lege«), und Augustin kleidet seine Worte in die der biblischen Offenbarung. Der Lebensbericht endet mit der Bekehrung und dem Tode der Mutter. Herzogs Deutung hält hierfür zwei einander bestätigende Gründe beXDC
reit. Die verstehende Sinnstiftung Augustins hat mit den genannten Ereignissen ihr Ziel erreicht; es gibt jetzt keine zeitliche Diskrepanz zwischen Gottes Fürsorge und Augustins Einsicht mehr - der Stoff für die Erzählung ist verbraucht. Dies gilt nun aber auch mit Rücksicht auf den zweiten Adressaten des Werkes, den menschlichen Leser, den Mitchristen. Er soll, wie es in Anlehnung an konventionelle ästhetische Kategorien zu Beginn des 10. Buches heißt, durch Augustins Beispiel ermutigt werden und sich daran erfreuen, daß Gott ihm zur Überwindung seiner Irrtümer verholfen hat. Herzog schließt mit der Feststellung, daß der Besonderheit der Confessiones mit den hermeneutischen Theorien Ricoeurs oder Gadamers nicht beizukommen ist. Augustin zielt nicht wie diese auf die Auslegung fertiger Texte, sondern auf die seines Lebens vor der Konversion, als auf die eines >Textes<, der sich durch die sinngebende Auslegung überhaupt erst konstituiert. Und während für die hermeneutischen Theorien der auslegende Text in einem dienenden Verhältnis zum ausgelegten steht (so daß er, wenn er sein Ziel erreicht hat, >verbraucht< ist), verhält es sich in den Confessiones umgekehrt: Der ausgelegte >Text<, der Lebensbericht, ist verbraucht, nachdem ihn der auslegende Text, die Bibel, entschlüsselt hat. 9. »Partikulare Prädestination«. Die der Prädestinationslehre Augustins geltende Skizze sucht etwas anzudeuten, was in der theologischen Diskussion dieses schwierigen Gegenstandes ausgespart zu werden pflegt: die Wirkungen, welche die lebenslange Heilsungewißheit auf das hierüber reflektierende Subjekt ausübte. Herzog nimmt an, daß der Druck des Erwähltheitsproblems sowohl der Auslotung des Ich als auch der Welterschließung förderlich war. 10. Die Historiae adversum paganos des Orosius, ein Werk voller Risse und Sprünge, werden textnah und zugleich konzis dem im Titel formulierten Paradox gemäß - »Fortschrittskonzept« versus »Erfahrung des Niedergangs« - gedeutet. Die Studie bringt zunächst einen Überblick über die historiographischen Positionen, die der Autor vorfand, mit dem vorherrschenden Deutungsmuster des Niedergangs. Dem suchen die Historiae eine auf den Fortschritt der Menschheit hin konzipierte Universalgeschichte entgegenzusetzen; als >Fortschritt< erscheint hierbei das angebliche Verebben der Übel, bis hin zur nahezu erreichten Ereignislosigkeit. Herzog beschreibt die Phase um Phase wechselnden Mittel, mit deren Hilfe Orosius den historischen Fakten diese >Entwicklung< abXX
trotzt. Sie laufen - grob vereinfacht - darauf hinaus, daß die Vergangenheit nach Art der Invektive zum Schlechteren, die Gegenwart jedoch nach An der Panegyrik zum Besseren hin umgeformt wird. 11. Der Vortrag »Wir leben in der Spätantike« macht zur Hauptsache, was in allen Detailuntersuchungen Herzogs als begleitende Stimme gegenwärtig ist: die Reflexion über die - vor- und innerwissenschaftlichen Voraussetzungen der Befassung mit historischen Objekten. Hierbei steht ein Rahmenbegriff par excellence zur Debatte, die Epochenbezeichnung >Spätantike<. Herzog lokalisiert ihren Nährboden im Frankreich des 19. Jahrhunderts: Dort dienten die Phänomene des Untergangs der Antike zur Illustration aktueller Probleme, wobei man das historische Gegenbild teils als Epoche der Krise, teils als ausweglose Endzeit deutete. Als Epoche der Krise aber wurde es von der künstlerischen Avantgarde der Decadence aus seinen bisherigen politisch-sozialen Zusammenhängen gelöst und zum durchaus positiven Projektionsfeld ästhetischer Bestrebungen erhoben. Während der souveräne Überblick über das vor- und außerwissenschaftliche Interesse, über den »wilden Historismus« weithin Neuland beschreitet, können sich die Abschnitte, die der Erschließung der Spätantike durch die Wissenschaft gelten, auf einige Vorarbeiten stützen. Auch das Resümee Herzogs geht von dem Kunsthistoriker Alois Riegl als dem Entdecker der eigenständigen historischen Größe >Spätantike< aus; es folgt die Reihe der weiteren Disziplinen, die sich früher oder später des bis dahin durch klassizistische oder sonstige Dogmen verdunkelten Zeitalters anzunehmen begannen - bis schließlich, nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, auch die Altphilologie das fruchtbare Terrain allgemein als lohnenden Forschungsgegenstand anerkannte. 12. Die Abhandlung »Vom Aufhören« begibt sich, ausgehend von Kants Schrift Das Ende aller Dinge, im Krebsgang zur christlichen Eschatologie, zu Ovids Metamorphosen und schließlich zum lydischen Logos Herodots. Die kritische Rezeption christlicher Denkformen, die bei Kant begegnet, wird als »Schutz vor der Geschichtsphilosophie«, also als Ausweichen vor dem Glauben an ein innerweltliches Telos, gedeutet. Sie ist sodann Sprungbrett für eine Analyse christlicher Endzeitvorstellungen; hierbei dient Augustins Lehre als Fluchtpunkt. Die Schwierigkeiten, die das Dogma von der Dauer nach dem Tode, der Auferstehung und dem Jüngsten Gericht mit sich bringt, werden detailliert geschildert; Herzog erblickt in dem Lösungsversuch Augustins, »figura praeterit, non naXXI
tura« (»die Gestalt vergeht, nicht das Wesen«), d.h. in der Annahme, daß sich die Auferstehung nicht ohne eine Verwandlung vollziehe, ein Element der Remythisierung. Hiermit hat er die Brücke zu Ovid geschlagen: Schon die Geschichte des Lycaon ist nach der Formel konstruiert, die Augustin für die christliche Lehre vom ewigen Leben gefunden hat. Herzog möchte in diesem Beispiel geradezu das Baugesetz der Metamorphosen erblickt wissen: Ovids Mythen seien ästhetische Vergegenwärtigungen des fortdauernden Endes (wobei nicht verschwiegen wird, daß der unmittelbar nach der Verwandlung von Hunden zerrissene Aaaeon nicht in dieses Schema paßt). Die Herodot-Erzählung von Kroisos und Solon hat die Funktion eines Kontrastes: Sie beruht auf dem Axiom des Endes ohne Dauer. Mit einer kurzen Erörterung der Etymologie des deutschen Wortes >aufhören< schließt die ungewöhnliche Abhandlung - Herzogs cycnea voxy die man zurückblickend kaum anders lesen kann denn als Abschied.
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Bibliographie Reinhart Herzog (mit einem Asteriskos markierte Artikel sind in diesem Band aufgenommen)
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1989 Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Hrsg. von R. Herzog und P. L. Schmidt. Bd. 5: Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n.Chr. Hrsg. von R. Herzog (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,5), München 1989. XXDC, 559 S. [Französ. Ausg.: Restauration et renouveau. La litterature latine de 284 a 374 apres/.-C, Turnhout 1993.] Darin von R. Herzog: $ 500 (S. 1-44): Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike; § 501 (S. 44-51): Einleitung zu Band 5: Restauration und Erneuerung (284-374 n.Chr.); $ 542 (S. 218-224): IX. Poesie. Einleitung; $$ 559-562 (S. 328-340): DC. Poesie, d) Christliche Formen (u.a. zu Iuvencus und Proba). * Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica, in: Das Fest, hrsg. von W. Haug und R. Warning (Poetik und Hermeneutik 14), München 1989, S. 120-150.
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1993 Zur Genealogie der Memoria, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann, unter Mitwirkung von R. Herzog (Poetik und Hermeneutik 15), München 1993, S. 3-8.
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1997 Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Hrsg. von R. Herzog (t) und P. L. Schmidt. Bd. 4: Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117 bis 284 n.Chr. Hrsg. von Klaus Sallmann (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,4), München 1997. XXXII, 651 S. [Französ. Ausg.: Vcige de transition. De la littirature romaine a la littirature chritienne, de 117 ä 284 apres/.-G, Turnhout 2000] Darin von R. Herzog: $ 497 (S. 626-628): XVI. Christliche Dichtung. Einleitung.
in Vorbereitung Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Hrsg. von R. Herzog (t) und P. L. Schmidt. Bd. 6: Das Zeitalter des Theodosius. 374 bis 430 n.Chr. Hrsg.
XXVffl
von Jacques Fontaine (Handbuch der Altertumswissenschaft 8,6), München: C. H. Beck. Darin von R. Herzog: $ 625: Antonius, Carmen ad quendam senatorem; $ 626.1: Severus Sanctus idem Endelechius, De mortibus boum; $ 626.2: Paulinus, Epigramma; § 627: Meropius Pontius Paulinus (von Nola): Biographie. Briefdichtung. Dichtung; § 628.1: De obitu Baebiani (Paul. Nol. carm. 33).
* * *
Die Konstanzer Antrittsvorlesung vom 29. Juni 1992 zu Ovid, >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der Illusion<, liegt nur im Manuskript vor (vgl. oben S. VIII Anm. 2).
XXDC
Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft Eine Retraktation der politischen Lyrik des Horaz
»nil oriturum alias, nil ortum tale fatentes« Horaz, epist. 2,1,17
I Die vielbesprochene Regulusode des Horaz (c. HI 5) bleibt rätselhaft und widersprüchlich,1 wie so manches in dieser Lyrik, das - nach Fraenkels treffendem Wort - die angestrengten Verständnisbemühungen eher überkrustet haben.2 Die Schwierigkeiten liegen in der ersten Gedichthälfte: »Caelo tonantem credidimus Iovem regnare: praesens divus habebitur Augustus adiectis Britannis imperio gravibusque Penis. milesne Crassi coniuge barbara 5 turpis maritus vixit et hostium - pro curia inversique mores! consenuit socerorum in armis,
Aus: Saeculum Augustum. Hrsg. von Gerbard Binder. Bd. 2: Religion und Literatur (Wege der Forschung 512), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 314-341. 1 Die Ode enthalte »una netta e clamorosa contradizione«, heißt es in der letzten Untersuchung (G. Marconi, in: Rivista di cultura classica e medioevale 9, 1967, S. 39). 2 E. Fraenkel, Horaz, Darmstadt 1963 (zuerst engl.: Oxford 1957), S. xm.
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG sub rege Medo Marsus et Apulus, anciliorum et nominis et togae 10 oblitus aeternaeque Vestae, incolumi Iove et urbe Roma? [315] hoc caverat mens provida Reguli dissentientis condicionibus foedis — « (es folgen die Rede 15 und das Schicksal des Regulus) Das richtige Verständnis kreist hier um drei Fragen: 1) »What have the soldiers of Crassus to do with the expectation that Augustus will undertake the conquest of Parthia?«3 Man kann ergänzen: Was verbindet den geforderten und sicher erwarteten4 Parthersieg des Augustus5 mit der emphatischen Ablehnung eines Gefangenenloskaufs durch Regulus? - Diese Fragen zielen auf die Verbindung zwischen Strophe 1 und 2/3 sowie zwischen 1 und dem Regulusteil. 2) In Strophe 2/3 ist nicht von der Erwägung eines Loskaufs die Rede, vielmehr von der schimpflichen Assimilation der Gefangenen an die Parther. Dieser Kontrast verschärft sich dadurch, daß Horaz die ihm vorliegende Regulustradition noch eigens mit der Überlieferung von den Verhandlungen zum Loskauf der Gefangenen nach Cannae kontaminiert hat (vgl. zuletzt H. Kornhardt, in: Hermes 82, 1954, S. 106f.). Was verbindet die Strophen 2/3 mit dem Ziel der Regulusrede? 3) Wenn Regulus mit seiner Rede und seinem Tod ein Präjudiz (»exemplum«, v. 15) verhindert haben soll - und zwar erfolgreich -, wenn er damit Unheil von der Nachwelt abwendete (v. 15ff.), so führt das vor eine weitere Verständnisschwierigkeit. Diese Voraussicht hat ja gerade nicht gefruchtet (Strophe 2/3). Genauer: Was bedeutet »hoc caverat mens provida Reguli«} - Diese Fragen zielen auf die Verbindung des Regulusteils mit Strophe 1/3 insgesamt. Es muß zugestanden werden, solche Fragen wirken seit den letzten De3 R. Saeger, in: Athenaeum (Pavia) 58,1980, S. 112. 4 »Habebitur«richtiginterpretiert bei H. P. Syndikus, Die Lyrik des Horaz, Bd. 2, Darmstadt 1973, S. 75, und G. Williams, Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968, S. 440 (»he can and will«). Zur >Bedingung< in der Partizipialkonstruktion (v. 3f.) überzeugend W. Wimmel, in: Glotta 40, 1962, S. 132, und E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.3, Berlin 1981, S. 1958. 5 Richtige Interpretation des »praesens divus« bei H. Haffter, in: Philologus 93, 1938, S. 96ff. 2
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG
zennien der Horazphilologie nicht ganz zeitgemäß. Sie [316] erinnern an jenen verpönten >Naturalismus<,6 welcher die Lyrik zwischen Wirklichkeit und Logik verrechnet; widersprechen sie nicht gar dem weithin akzeptierten Grundsatz, »daß sich Horaz in seinem ganzen Werk sowohl entschlossen als auch befähigt zeigt, all das auszudrücken, was für das Verständnis und die Würdigung eines Gedichts von Bedeutung ist«?7 Indessen: mögen wirklich andere methodische Fragen gegenwärtig die Interpreten horazischer Lyrik beschäftigen8 - für seine politische Lyrik hat jene Wende zur Werkimmanenz in der Philologie die fatale Folge gehabt, daß die Althistoriker zumeist diesen Weg nicht mitgehen konnten, daß ihr Verständnis vielfach nach wie vor in wichtige Oden9 »einen Gesichtspunkt von außen hereintrug«,10 daß wir also vor einem doppelgleisigen Horazverständnis stehen. Das könnte andeuten, daß methodisch nicht vorangeschritten wurde, sondern ein Dogma das andere ablöste. Eben dies zeigt sich an den Versuchen, die oben formulierten Probleme der Regulusode zu lösen. [317] Zur ersten Frage: Der Anstoß führte im 19. Jahrhundert natürlich zur Statuierung einer Lücke;11 dann bauten Periphrasen logische Eselsbrücken: 6 Sein Manifest bei A. Kießling, Philologische Untersuchungen, Bd. 2, Berlin 1881, S. 48ff.; zu seiner Denkform führt aber häufig auch noch das in Heinzes Odentheorie beschlossene Prinzip der (realen wie fiktiven) Situationsgenauigkeit. Zum >Naturalismus< abschließend V. Pöschl, Horazische Lyrik, Heidelberg 1970, S.U. 7 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 31 - also ein Manifest der Werkimmanenz, dem sich aufs beste die humanistische Hochschätzung des Klassikers einfügte und dann zuweilen bemerkenswerte hermeneutische Bindungen verfocht. Beispiel: Das nicht Verständliche ist horazischer Humor (vgl. bereits die treffenden Bemerkungen R. Reitzensteins, Aufsätze zu Horaz, Darmstadt 1963 [zuerst 1921], S. 55). Oden »Horaz ist so lange nicht verstanden ..., solange etwas menschlich Schiefes herauskommt«; der »Adel seiner Menschlichkeit muß höchstes philologisches Kriterium sein« (K. Büchner, Studien zur römischen Literatur 3: Horaz, Wiesbaden 1962, S. 171). Das Postulat Werkimmanenz konnte ferner anschließen an die alte Tradition der Horaz-Apologetik und ihr Argument des >ästhetischem (gegenüber dem >unsittlichem sowie dem >adulatorischen<) Horaz; vgl. z.B. Ch. H. Schmid, Apologie des Horatius gegen einige neuere Schriftsteller, in: Neue Litteratur und Völkerkunde 1,1789, S. 33ff. 8 Nämlich jene der symbolischen Deutung sowie der Fiktion; ich komme darauf zurück. 9 So - neben c. DI 5 - bekanntlich c. 12; 17; I14; 115; m 2; m 14; HI 27. 10 H.Haffter[Anm.5],S. 132. 11 Zuletzt im Odenkommentar Lucian Müllers (St. Petersburg 1900), ad loc. 3
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG »Ist's möglich, daß, während Juppiter ...«;12 noch für Heinze war Strophe 1 lediglich als Folie für die Empörung ab v. 5 »vorangeschoben«.13 Haffter suchte das Problem zu lösen, indem er die imperiale erste Strophe aus ihrer Rolle als >Präambel< löste14 und v. 5ff. dem Regulusteil zuordnete: Der schmähliche Zustand kontrastiert dem altrömischen Exempel. Der Zusammenhang von Strophe 1 und 2/3 kann aber dann nur noch sehr allgemein umschrieben werden.15 In der Folge mündet die Interpretation auch hier in die Feier des >Gleitens<, der >Balance< und des >Schwebens<ein.16[3J£] 12 A. Kießling (Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, Berlin 1884 u.ö.), ad loc. Vgl. ähnlich H. Th. Plüß, Horazstudien, Leipzig 1882, S. 248 (»da frag ich mich ...«). 13 Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden. Erklärt von A. Kießling. 7. Auflage besorgt von R. Heinze, Berlin 1930, S. 282, ad loc. - Die Sprunghaftigkeit nach v. 4 führte bei N. O. Nilsson (in: Eranos 45, 1947, S. 40ff.) gar zu dem Versuch, Horaz jeden möglichen Krieg mit den Parthern als Bürgerkrieg empfmden zu lassen, solange die Gefangenen nicht befreit seien. 14 Wobei allerdings der Eindruck schwer abzuweisen ist, »als verschwinde der Princeps im folgenden ganz aus dem Gedicht« (E. Doblhofer, Die Augustuspanegyrik des Horaz in formalhistorischer Sicht, Heidelberg 1966, S. 148). Es wirkt daher gezwungen, wenn H. Haffter ([Anm. 5], S. 154; ihm folgen E. Fraenkel [Anm. 2], S. 267ff. und Doblhofer, Augustuspanegyrik S. 150ff., sowie in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1957) Regulus direkt und quasi-typologisch auf Augustus beziehen will, das Gedicht also eher als Augustus- denn als Römerode interpretiert. Hier wirkte seit Heinze die Vorstellung von den beiden c. HI 4 >rahmenden< Oden als Systemzwang. 15 »>Neu sinas Medos equitare inultos / te duce, Caesan [c. I 2,51f.]. Dies ist der Gedanke der drei ersten Strophen« (H. Haffter [Anm. 5], S. 149). In diesem Zusammenhang J. Krokowski, in: Eos 56, 1966, S. 152: »Wer würde aber vom Dichter einerigoroseLogik erwarten?« 16 Vgl. T. Oksala, Religion und Mythologie bei Horaz, Helsinki 1973, S. 111 (»der Gedanke wandert«); ähnlich metaphorisch, unter Verschleifung des Futurs in v. 2, W. Wili, Horaz und die augusteische Kultur, Basel 1948, S. 144. Solche bildlichen Überbrückungen sind auch im Falle von c. HI 5 eine Folge der Klingnerschen Interpretationsmetaphorik gewesen. Die »Sinnbezüge«, die Klingner zwischen den Teilen der Ode statt eines »eingeteilten Oberbegriffs« »aufblitzen« sah (F. Klingner, Horazens Römeroden (1952), in: ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich 1964, S. 351), senden schon bei Büchner die in Brechungen funkelnden >Diamanten< der Römeroden aus (Studien zur römischen Literatur 3, Wiesbaden 1962, S. 126); dieser >Diamant< ist seit Rudolf Borchardt im Umlauf (Brief vom 17.8.1907, in: Neue Rundschau 1957, S. 567). - Die Bemerkung erscheint nicht überflüssig, daß diese Hinweise von keiner Ironie veranlaßt sind: Wie die >naturalistischen< Gerüste zu den Horazoden (oder die >Liebesromane< bei den 4
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Zur zweiten Frage: Gegen die herkömmliche Antwort, Horaz müsse einen tagespolitischen Anlaß für seine Akzentuierung der Regulusgeschichte (Loskauf) gesehen haben, wendet sich (nach anderen) ausführUch Haffter: »zu straff« würden hier die Gedichtteile aufeinander bezogen; »nur vom Mythus« (sc. dem Regulusteil) »und seinen selbständigen Bedürfnissen her« sei die Kontamination mit der Cannae-Tradition recht zu verstehen.17 Fraenkel folgt ihm;18 bei Syndikus sind die Strophen 2/3 bereits »Durchgangsstadium«, das die pindarische Form (sie soll, wie häufig, auch hier die Sprünge und Anstöße erklären) vorbereitet.19 Hier ist eine denkbar große Distanz zum Lösungsversuch Mommsens erreicht, der als erster20 aus textexternen Hinweisen (einer Überlieferung über zeitgenössische Tendenzen [319] zum Gefangenenloskauf) zu einer konsistenten Lösung der ersten und zweiten Frage gelangte: Strophe 1 gebe die auf Revanche drängende öffentliche Meinung wieder, der Horaz nach »schroffem Übergang« (dieser sollte Augustus' Absichten »nicht offenbaren, sondern verdecken«) mit dem Hinweis begegne, »der gefangene Römer sei kein Römer mehr«.21 Hiernach wären also in der Tat die drei Elegikern) ein beachtenswertes Zeugnis des historistischen Paradigmas in den Geisteswissenschaften vor Augen führen, so die Interpretationsmetaphorik der >inneren Form< ein Zeugnis des nachhistoristischen Interpretationsstils humanistischer Inständigkeit. Daß manchem unbehaglich wird, wenn hier »die eigentliche Durchschlagskraft den Dingen ihr Gesicht gibt« (K. Büchner, Römische Literaturgeschichte, Stuttgart 1957, S. 262), steht auf einem anderen Blatt. 17 H. Haffter [Anm. 5], S. 144 und 152. Ähnlich L. Amundsen, Die Römeroden des Horaz (1942), in: Wege zu Horaz, hrsg. von H. Oppermann (Wege der Forschung 99), Darmstadt 1972, S. 136f. 18 [Anm. 2], S. 322f. 19 [Anm. 4], Bd. 2, S. 75 und 79. Der Rekurs auf >Pindarisches< dient zur Eliminierung von Verständnisschwierigkeiten wie die Berufung auf gleitende Gedankenführung. Hier hätte indes der Detailvergleich, wie er intensiv seit Theiler angestellt wurde (W. Theiler, Das Musengedicht des Horaz (1935), in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, S. 394ff.; hierzu die wichtige Rezension von F. Klingner, in: Gnomon 13, 1937, S. 36ff.), für die Römeroden ausführlich von H. Kempter (Die römische Geschichte bei Horaz, München 1938, S. 103ff.), erweisen können, daß gerade der Übergang von v. 13 sich aus pindarischer Tradition nicht vollständig erklären läßt. - Für die Wertung der Ode ergibt die Rückführung auf pindarische Form die auch sonst bekannte Beliebigkeit: hie >Meisterwerk< (so der Odenkommentar A. Arnaldis, Mailand 51959), dort Frostigkeit< (so E. Castorina, La poesia d'Orazio, Rom 1965, S. 279ff.). 20 Zu gleicher Zeit mit ähnlichem Ergebnis: A. Teuber, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 139, 1889, S. 417ff. 21 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin 1905 (1889), S. 168ff. 5
A UGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Teile der ersten Gedichthälfte aufeinander zu komponiert: Die Überblendung der Cannae- und Regulustradition soll zwar einer bestehenden und damit hinter dem Text von Strophe 2/3 zu statuierenden Tendenz zum Gefangenenloskauf begegnen, vor allem aber einen starken, ebenfalls impliziten Kontrast zum Expansionsprogramm der ersten Strophe setzen. Dieser Lösungsversuch ist dadurch bemerkenswert, daß seine historische Deutung variabel ist: Dem verhüllten >opinion-leader< Horaz trat alsbald (bei gleicher Struktur der Interpretation) Horaz als mehr oder weniger offener Kritiker der zögernden Ostpolitik des princeps gegenüber.22 Trotz des anhaltenden Widerspruchs seitens der Philologen ist noch nach Heinze eine - wie auch immer geartete - aktuelle Tendenz der Ode akzeptiert worden;23 und noch die letzten althistorischen Arbeiten zum Prinzipat des Augustus und seiner Partherpolitik weisen zwar vorsichtig auf die philologischen Interpretationen seit Haffter hin, verzichten aber nicht auf c. HI 5 als >Quelle< aktueller Politik.24 Die dritte Frage ist merkwürdigerweise bisher nicht gestellt worden; sie fordert aber bei jeder Übersetzung von v. 13 implizit eine Antwort. Hier ist bisher keine befriedigende Lösung ohne Färbungen oder gar Umbiegungen des Wortlauts gelungen, a) Das naheliegendste Verständnis wäre: »Für einen solchen Fall hatte Regulus, vorausschauenden Sinns, Vorsorge getroffen.« Dann aber geht die Verhinderung eines exemplum, das - ausdrücklich - die »perniciem veniens in aevum« (v. 16) nach sich ziehen würde, ins Leere; b) »had foreseen« (Williams, ad loc): offenbar das Desaster von Carrhae - wiederum stimmt die erfolgreiche Verhinderung eines exemplum nicht (zudem wird [320] »mens provida« redundant); c) »haue verhüten wollen« (also Plusquamperfekt de conatu)25 - hier wird der 22 So z.B. H. D. Meyer, Die Außenpolitik des Augustus und die augusteische Dichtung, Graz 1961, und R. Saeger [Anm. 3]. Anders z.B. G. De Plinval, Horace et le son des prisonniers d'Orient, in: Melanges de philologie, de litterature et d'histoire anciennes, offerts i J. Marouzeau (...), Paris 1948, S. 491ff. (Horaz als Sprachrohr der Politik des Augustus, auch ihrer Wandlungen); ähnlich A. Oltramare, in: Revue des £tudes Latines 16,1938, S. 121 ff. 23 So neben Heinze auch G. Pasquali (Orazio lirico, Florenz 1920, S. 701 f.) und G. Williams (Tradition [Anm. 41 S. 441f.). 24 Vgl. D. Kienast, Augustus, Darmstadt 1982, S. 283, und D. Timpe, Zur augusteischen Partherpolitik zwischen 30 und 20 v.Chr., in: Würzhurger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 1,1975, S. 167. 25 So z.B. H. Th. Plüß [Anm. 121 S. 249; H. Haffter [Anm. 51 S. 152; der Oden- und Epodenkommentar von K. Nürnberger, Münster 1972, ad loc; D. Gall, Die Bilder der horazischen Lyrik, Königstein/Ts. 1981, S. 79; H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 80: »dem hätte [!] Regulus vorbeugen wollen«. 6
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Widerspruch zwischen zweitem und drittem Gedichtteil wenigstens berührt;26 er bleibt allerdings bestehen. Man mag, nicht ohne Resignation, in diesem Spektrum das auf ein eng umschriebenes Problem verkleinerte, aber getreue Abbild der divergierenden, in ihrer Divergenz seit langem konstanten Auffassungen von der politischen Lyrik des Horaz erkennen, wie sie zuletzt Doblhofer zusammen mit ihrer Forschungsgeschichte vorgeführt hat.27 Ein erneuter Lösungsvorschlag erscheint bei dieser Sachlage kaum möglich. Aber vielleicht scheinen die Wege nur ausgeschritten zu sein, weil die genannten Methoden des Horazverständnisses nicht zureichen; vielleicht muß der Philologe sich dann nicht vom Historiker trennen, wenn er sein Geschäft an bescheidene Beobachtungen knüpft, Beobachtungen so unscheinbarer, äußerlicher Art, daß sie bisher nicht systematisch verfolgt wurden. Es fällt ja auf, daß in den drei genannten Teilen der Regulusode das Verhältnis der Tempora eine Rolle spielt - und daß das Präsens geradezu >fehlt<.M Folgendes Zeitgefüge ist erkennbar: Augustus wird »praesens divus« sein (I); was ihm diese Geltung verschaffen wird, steht von der Gegenwärtigkeit des lyrischen Sprechens her gesehen noch aus (Ia; das Partizip in v. 3 ist also durchaus als - im Sinne des Aspekts - präsensorientiertes Futur erkennbar). Aber diesen Tempora korrespondiert nur das ebenfalls präsensorientierte Perfekt, die >anstehende< (schlechte) Vergangenheit der Strophe 2/3 (Ha), sowie schließlich die abgeschlossene (Signal: »caverat«, v. 13) Vergangenheit [321] (ü). Wer sich auf diese Beobachtung einläßt, wird alsbald merken, daß (1) eine vergleichbare Zeitstruktur in den meisten politischen Oden anzutreffen ist, (2) daß sich diese Zeitstruktur entwickelt, und zwar von der direkten präsentischen Darstellung fortentwickelt und erst im Spätwerk zu ihr zurückkehrt, (3) daß diese Entfaltung der Zeitstruktur eine formgeschichtliche Chronologie erlaubt und (4) daß das Element, aus dem diese Reihe entwickelt wird, inhaltlich identisch bleibt (Bürgerkrieg und Partherbedrohung). Dieser Befund nötigt dazu, die Reihe zunächst einmal nachzuzeichnen, 26 Am deutlichsten bei Heinze [Anm. 13], ad loc: »haue vorbeugen wollen, indem er das exemplum für die Zukunft verhinderte - freilich vergebens.« 17 In: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1922ff. Doblhofer eröffnet den Überblick mit der Bemerkung, es scheine »an den dichterischen Äußerungen des Horaz selbst zu liegen, daß sein Verhältnis zu Augustus von jeher Raum für weit auseinandergehende Deutungen bot« (S. 1923). 28 Und in dieses >Fehlen< stieß gerade die Tendenzdeutung Mommsens [Anm. 21] hinein. 7
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG und zwar - dies ist zu beachten - nur unter dem partiellen Aspekt der Zeitstruktur, das heißt ohne Hinblick auf eine sonst akzeptierte Chronologie, ohne Hinblick auf die Deutimgskontroversen zu den einzelnen Gedichten, freilich auch ohne den Anspruch auf eine Deutimg der einzelnen Oden.
n Nur in zwei politischen Gedichten spricht Horaz durchgehend im Präsens: in der gestischen Erregtheit der jambischen Szene in epod. 7 und in der Ruhe der panegyrischen Bildfolge in c. IV 5. In beiden ist, wie in c. HI 5, von der lebensbedrohenden oder endgültig bewältigten Parthergefahr die Rede; der Kontrast der Regulusode zwischen Punier- und Partherkrieg bildet sogar den Kern der Epode.29 Aber man kann das frühe Präsens nicht allein dem bekannten Gattungsgesetz30 der horazischen Jambik, der erregten, sprachlich prägnanten und kühnen metaphorischen Dramatik,31 zurechnen. Denn es ist überzeitlich; es wird durch die fortdauernde Gegenwärtigkeit des Brudermord-Fluchs (epod. 7,17-20) gestiftet. Trotz der Nachweise von Vorläufern dieses >Geschichtsmythos<32 scheint [322] die hier ausgedrückte horazische Konzeption ohne Beispiel:33 »daß der Fluch ein ganzes Volk betrifft und über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten auf ihm lastet, und daß er sich ferner ausschließlich in inne29 V. 5-10 (Schluß der ersten Gedichthälfte). 30 Vgl. (mit Nachweisen) D. Ableitinger-Grünberger, Der junge Horaz und die Politik, Heidelberg 1971, S. 29. 31 Sein Fortwirken in den Oden ist im Zusammenhang mit den noch weitaus stärker in die Lyrik hineinragenden Formen der Diatribe (vgl. z.B. c. I 7; II 15; IQ 24) darzustellen. 32 Es handelt sich um die Gewißheit einer Geschichtsunterworfenheit, die noch elementarer ist als die von A. Wlosok (in: Antike und Abendland 16, 1970, S. 44) am Werk Vergils gekennzeichnete spezifisch römische Geschichtstheologie; sie wird sich später mit ihr verbinden. 33 Dies lehren die wiederholt angestellten Vergleiche gerade mit den frühen vergilischen Parallelen (die Rettung vor der Vernichtung in der 4. Ekloge; die Rückführung des Fluchs auf Laomedon sowie die positive Konzeption von Romulus schon in den Georgica und dann im 1. Buch der Aeneis); vgl. zuletzt V. Pöschl, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.2, Berlin 1981, S. 716 Anm. 18. - Ahnlich urteilt E. A. Schmidt, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56, 1982, S. 534: die »gleichzeitige Bewältigungsarbeit« Vergils stelle »schwächeres Betroffensein« dar.
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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG rer Selbstzerstörung äußert.«34 Man sollte hier nicht von >Wiederholung< des Fluchs, gar von typologischem Denken35 sprechen; es handelt sich, jenseits der gewählten Situation des Jambus, beim negativen Präsens der 7. Epode um das Aussprechen des hier und immer gültigen Gesamtsinnes der römischen Geschichte, die aber noch nicht entfaltet wird. Die eine, präsentische Zeitdimension der 7. Epode drückt die Verzweiflung vor der Vernichtimg durch die eigene Geschichte aus. Diese Zeitdimension wird in epod. 16 entfaltet.36 Die vernichtende Gegenwart der Bürgerkriege schrumpft zum Einsatz v. lf. und wird von der dramatischen Fiktion der Volksversammlung in der Gedichtmitte stark abgerückt: dazwischen schiebt sich die erste [323] temporale Öffnung der bedrückenden cura in Präteritum (v. 3-8: positive Vergangenheit) und (negatives) Futur37 (v. 9-14) - und damit eine erste Aufzehrung des Präsens.38 Den präsentischen >Rest< von v. lf. suchte Horaz in epod. 16 durch die
34 H. J. Krämer, Die Sage von Romulus und Remus in der lateinischen Literatur, in: Synusia. Festgabe für W. Schadewaldt (... ),hrsg. von H. Flashar, Pfullingen 1965, S. 364. 35 H. J. Kramer, S. 363: »Archetyp«. Es liegt aber nicht ein »Zusammenfallen von Frevel und Sühne« (E. A. Schmidt [Anm. 33], S. 534) vor; diese sind vielmehr noch gar nicht auseinandergetreten (»fata Romanos agunt«), 36 Bei näherem Zusehen kündigt sich diese Entfaltimg schon in epod. 7 an; mit den beiden Gliedern »non ut...« (v. 5ff.) und »sed ut...« (v. 9ff.) werden die siegreichen Punierkriege dem Untergang der Stadt durch die Parther konfrontiert: die positive Vergangenheit der negativen Zukunft. Dies ist bereits die genaue Konstellation der temporalen Entfaltung in epod. 16 (daher verkennt die Isolierung der Aussage auf die >aktuellen< Parther das Gedicht: M. Wissemann, Die Parther in der augusteischen Dichtung, Frankfurt/M. 1982, S. 49, und H. D. Meyer [Anm. 22], S. 33). 37 Diese Verzeitlichung bedeutet noch keine Lösung vom Fluchgedanken: er erfahrt vielmehr durch seine Berührung mit dem kosmischen Modell der 4. Ekloge (in der zweiten Gedichthälfte) eine apokalyptische Zuspitzung schon für das Futur v. 9-14: Rom wird in v. lOf. ja nicht etwa von den >Barbaren< zerstört, sondern zerfällt und verödet durch sich selbst (richtig W. Wimmel, in: Hermes 81, 1953, S. 317ff.; zur Verbindung des futurischen mit dem zweiten Gedichtteil vgl. auch E. Fraenkel [Anm. 2], S. 61 Anm. 3). 38 Es ist bezeichnend, daß die zahlreichen Interpretationen von epod. 16 den Tempuswechsel zum Futur bisher nicht erklärt haben (ein Ansatz bei AbleiringerGrünberger [Anm. 30], S. 27). Aber ihn betont die Gliederung des ersten Gedichtteils: v. 1, 3 und 9 korrespondieren, wie E. Fraenkel ([Anm. 2], S. 66 Anm. 2), H. Kempter ([Anm. 19], S. 18) und schon die genaue Analyse von H. Drexler (in: Studi Italiani di Filologia Classica 12,1935, S. U9ff.) gezeigt haben, syntaktisch und inhaltlich; verfehlt wäre die Gliederung von v. 1-8 als >Einleiumg< (AbleitingerGrünberger, S. 24). 9
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Evasion in die vergilisierenden »arva beata«* zu balancieren - in das ebenfalls präsentische Märchen. Diese Gegenwelt kann in der formgeschichtlich nächsten Stufe (sie bezeichnet zugleich den Übergang der politischen Lyrik in die Odendichtung) bei der Bewältigung der Gegenwart die Allegorie ablösen: in c. I 14. Die Ode beginnt zwar mit dem unveränderten >negativen< Futur (»O navis, referent in mare te novi fluctus/«)*0 von epod. 16,9ff. Aber die Ode bringt solche Beschwörung des gegenwärtigen Verderbens erstmals in die paränetische Adressatensituation der äolischen Lyrik (wobei die drängenden Fragen und Aufforderungen v. 2f. und 15ff. stilistisch [324] durchaus noch die jambische Herkunft verraten). Und hierbei wird eine fortgesetzte Eliminierung des direkten präsentischen Sprechens - inhaltlich: eine Umformung des alkäischen Seesturms - erreicht, und zwar mittels der >Einklammerung< der aktuellen Situation durch vorangestelltes, adressatenbezogenes »nonne vides ut«. Diese >Klammer<41 ist zum einen deiktisch,42 leserbezogen, indem sie die Fiktion der Anrede Horazens an das Schiff sowohl stabilisiert wie distanziert (der Dichter steht im Unterschied zu Alkaios nicht zufällig an Land und bezieht den Leser in das Sprechen ein). Zum anderen aber kann sie - eben durch ihre Distanzierung - das Zerstörung bringende Präsens der Odenmitte zulassen, als ein nunmehr allegorisches Präsens erträglich machen. 39 Die Formgeschichte spricht also für eine Priorität von epod. 7 vor epod. 16 (sowie der 4. Ekloge vor letzterer); so - z.B. - auch Ableitinger-Grünberger [Anm. 30], S. 66 Anm. 1 (mit Literatur), anders - z.B. - R. Rieks, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.2, Berlin 1981, S. 771. 40 Ich interpungiere mit Orelli-Baiter (Q. Horatius Flaccus. Rec. atque interpretatus est J. K. Orelli, post J. G. Baker. Bd. 1, Berlin 1886) ad loc> Heinze [Anm. \y\ad loc. und F. Klingner (Q. Horati Flacci Carmina, Leipzig 1939 u.ö.) mit dem Ausrufungszeichen; Fragezeichen: Bendey (Q. Horatius Flaccus. Ex recensione ... Richardi Bentleii, Cambridge 1711 u.ö.) und Nauck (Des Q. Horatius Flaccus sämmtliche Werke, ... erklärt von C. W. Nauck. Bd. 1, Leipzig 1854 u.ö.) ad loc; gründliche Diskussion bei H. Drexler [Anm. 38], S. 152. Die logische Schwierigkeit beim emphatisch konstatierenden Futur entsprang dem (in der politischen Lyrik des Horaz hier erstmaligen) Nebeneinander von Futur und Paränese; inhaltlich widersprechen sich die Tatbestände von v. lf. und v. 4 nicht. 41 Die häufige horazische Junktur »(nonne) vides (vel)ut* hat durchweg diese distanzierende Funktion (man vergleiche vor allem den >Winter< der Soracte-Ode); sie bleibt wie die ähnlich häufige Junktur »finstra, nam« (beim Tempusübergang zum Futur; häufig ein >verfehltes< Präsens eingrenzend) im Zusammenhang zu untersuchen. 42 Vgl. die für Horaz ertragreichen Bemerkungen W. Röslers, Über Deixis und einige Aspekte mündlichen und schriftlichen Stils in antiker Lyrik, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 9, 1983, S. 7-28.
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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Es kann in keinem seiner zahlreichen Details mehr direkt politisch aufgelöst werden,43 stellt im ganzen aber das Gemeinte, Bedrohliche vor Augen und sucht es damit zu bewältigen. Die Umformung des Gegenwartsausdrucks in Evasion und Allegorie wird erst die Verbindimg der horazischen politischen Dichtung mit einer weiteren lyrischen Tradition, der sympotischen Situation,44 hinter sich lassen; sie geschieht noch in einem der spätesten Jamben, epod. 9. Das negative Futur kann sich nun zur erwartungsvoll drängenden futurischen Frage (v. 1-6) wandeln - denn es beschränkt sich jetzt auf die Realisierung des Gelages: freilich als Besiegelimg der politischen Rettung; und der bereits mögliche [325] Verweis auf das schon Erreichte des letzten Sieges Oktavians (v. 7ff. »ut nuper«) konstituiert eine noch drängende,45 angstvolle, 46 aber schon hoffnungsvolle Spannung zwischen möglicherweise besserer Zukunft und bereits gelungener Vergangenheit. Dieses neue, aber noch fragile temporale Gefüge kann nun (ohne daß noch eine präsentische Gegenwelt aufgesucht werden müßte!) die negative Gegenwart, die in epod. 9 zum letzten Mal im direkten Präsens jambischer Empörung erscheint (v. 11-16), umrahmen. Diese bricht freilich hier noch unvermittelt, durch das sympotische Gefüge noch kaum gebändigt, hervor: v. 10/11 und 16/17 stellen schon vor die gleichen Verständnisprobleme wie die Strophen 2/3 der Regulusode.47 Aber sie kann bereits in der Aktiumepode nicht mehr nur allegorisch, sondern temporal >eingeklammert< werden, und zwar mittels des futurischen Rückblicks, einer von Horaz fortan häufig geübten Fügung: »posteri negabitis« (v. 11) kann die Unglaublichkeit des schlechten Gegenwärtigen hervortreten lassen (und damit seine präsentische Darstellung erträglich machen), aber es zugleich in die Distanz rücken. In diesem kunstvollen Gefüge umzingelt und bewältigt, ist das negative Präsens seit c. I 37, der Antwort auf epod. 9, aus der politischen Lyrik des 43 Daher noch die moderne Deutungsvielfalt von politischen Situationen vor Aktium über erotisches Verständnis bis zum Symbol menschlichen Reifwerdens (letzter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff.). 44 Vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 89, und J. Buchmann, Untersuchungen zur Rezeption hellenistischer Epigrammatik in der Lyrik des Horaz, Diss. Konstanz 1974, S. 167f. 45 Vgl. v. 21: »io Triumphe, tu moraris... ?« 46 Vgl.v.37f. 47 Daher bei Heinze [Anm. 13], ad loc, innerhalb dieser Reihe das erste Beispiel der glättenden Periphrase (»die Erinnerung lenkt den Blick ...«).
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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Horaz verschwunden. Noch kein positives (panegyrisches) Präsens kann es hier ablösen» aber wenigstens das Symposion ist in der ersten Strophe dieses »Jubelliedes« (Fraenkel) Gegenwart geworden; eine Gegenwart freilich besonderer lyrischer Art: Die Emphase des dreimaligen »nunc« statuiert sie, kontrastiert sie einer nunmehr negativ gewordenen Vergangenheit (v. 5ff. »antehac«) - aber in ihr zittert das Überwundene noch so nach, sie ist so drängend, daß sie sich selbst schon fast wieder versäumt hat:41 Das nahezu überpräzise »tempus erat*49 - zwischen »nunc« und »antehac«\ - [326] legt Zeugnis ab für die komplizierte temporale Entwicklung, an deren Ende es steht,50 Die erste das Präsens aussparende politische Ode, der gewaltige Bau von c. I 2, krönt die Entwicklung des temporalen Darstellungsarsenals. Das geschieht wieder durch die Rezeption einer lyrischen Form, des Päans;51 er erlaubt durch seine mythischen Kompositionen die Integration - und zugleich poetische Nutzung - des noch verbliebenen Aspekts der anhaltenden, zerstörerischen Gegenwart in die politische Dichtung: des Fluchgedankens. Wieder ist im perspektivischen Zentrum, der sechsten Strophe,52 das Leitmotiv des Verderbens benannt: »(audiet) cives aeuisse ferrum / quo graves Persae melius perirent« (v. 21f.). Aber es ist bereits indirekt geworden, ist in der seit der Kleopatraode erreichten Sperrung zwischen Vergangenheit und Futur verschwunden: Die Vergangenheit der Zukunft ist 48 E. Fraenkel [Anm. 2], S. 188f., hat gezeigt, daß diesem Befund der Wechsel zwischen dem Alkaioszitat v. 1 und dem >horazischen< Rest der Strophe entspricht. 49 Da •tempus erat« so zum Indiz des lyrischen Zeitgefühls selbst wird, ist es schwer logisch auflösbar und eröffnet wiederum ein Feld >naturalistisch< nachzurechnender Kontroversen; vgl. Orelli-Baiter [Anm. 40], ad loc; R. Heinze [Anm. 13], ad loc.; G. Pasquali [Anm. 23], S. 46ff.; R. G. M. Nisbet und M. Hubbard, A commentary on Horace. Ödes book I, Oxford 1980, ad loc, sowie H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 1, S. 333. Sorgsame und wohl zutreffende Deutung bei V. Pöschl, Horazische Lyrik [Anm. 6], S. 75ff. 50 Der eigentliche Wendepunkt, was die Zeitstruktur angeht, liegt zwischen c. I 14 und epod. 9; und auch inhaltlich weist das »sollicitum taedium« (c. I 14,17) auf die frühen Epoden zurück, »desiderium« und »cura« (c. I 14,18) auf die Aktiumgedichte voraus; vgl. E. Fraenkel [Anm. 2], S. 296ff.; H. St. Commager, The Ödes of Horace. A critical study, New Haven 1962, S. 163; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 51 Vgl. vor allem F. Cairns, in: Eranos 69,1971, S. 68ff. 52 Zutreffend als >stilles Auge< des ganzen Gedichts gekennzeichnet von H. L. Tracy, Thought sequence in the Ode, in: Studies in honour of G. Norwood, hrsg. von M. E. White, Toronto 1952, S. 209, und N. E. Collinge, The strueture of Horace's Ödes, London 1961, S. 103.
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AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG die Gegenwart.53 Aber in dieser Form ist sie anwesend, ja sie beherrscht das Gedicht nun durch die Gegenwart des lyrischm Sprechens, welches sie in temporalen Bögen umkreist, gleichsam Ringe um sie legt:54 Dem von der >Klammer< »atidiet« in die Vergangenheit transportierten Geschehen entspricht in seinem Pendant55 »vidimus« ein zeitlich vorrangiges Ereignis, das seinerseits das [327] letzte Glied einer von »iam satis« (v. 1) an erinnerten Kette ist. Und erst diese Stufungen vermögen die Zeitlosigkeit des Fluchs in die Zeitlichkeit eines gedeuteten Mythos zu überführen. Die vergilischen und ennianischen Vorlagen zu v. 1-20 erlauben es, diese Leistung genau zu verfolgen. Vergil haue von den Prodigien nach Caesars Tod den Blick sogleich auf den rettenden »iuvenis« gelenkt. Die scheinbare Prodigienkette ab c. I 2,1 * öffnet bereits mit dem »ne« von v. 5 eine erste Mythennutzung: Die schon erlebten Prodigien hätten gedeutet werden müssen, damit nicht die apokalyptische Zukunft (Wiederkehr des »saeculum Pyrrhae«) eintritt57 - technisch ein Widerspiel zum negativen futurischen Rückblick der Aktiumepode, inhaltlich ein dem »audiet« von v. 21 (23) korrespondierender Hinweis auf die zu bewältigende Gegenwart. Sodann gibt das letzte >Prodigium<, mit dem die Flut bereits einzutreten droht,59 die Tiberüberschwemmung, sich in v. 16-20 als applizierter Mythos zu erkennen, der die volle zeitliche Ausdehnung des Fluchs umgreift und deutet: Die versuchte Rache der Üia gilt auch dem Mord an dem neuen Romulus (Caesar).59 Sie darf nicht eintreten; die äußerste Not der Gegenwart kann nun, da sie im Mythos dargestellt wurde, auch nach dem zum Gott überhöhten, am Ende einer Gebetsreihe60 stehenden poli53 Vgl. H. St. Commager [Anm. 50], S. 175ff. 54 Begleitphänomen ist die Folge asyndetischer Brüche (so schon Porphyrie») zwischen den Strophen 3/4, 5/6 und 6/7. 55 Vgl. E. Fraenkel [Anm. 2\ S. 296, der auch auf die futurische Rückschau der Aktiumepode verweist. 56 Zur symbolischen Deutung vgl. bereits Heinze [Anm. 13], ad loc; vgl. auch L. A. MacKay, in: American Journal of Philology 83,1962, S. 168. 57 Horaz nimmt hier die apokalyptischen Bilder der 16. Epode auf. 58 Richtig F. Cairns [Anm. 51J.S. 80f. 59 Generell zu dieser mythischen Adapution und zu möglichen horazischen Parallelen (c. I 15) V. Cremona, La poesia civile di Orazio, Mailand 1982, S. 128; zum strukturellen Vergleich mit Vergils Georgica: G. Williams« Tradition [Anm. 4], S. 92ff.; H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 1, S. 41f.; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1646. 60 Vgl. jetzt die Diskussion des religionsgeschichtlichen Hintergrundes bei D. Pietrusinski, in: Eos 65, 1977, S. 103ff.; zu den politischen Voraussetzungen: H. J. Krämer [Anm. 34], S.362ff.
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A UGUSTEISCHE ERFÜLLUNG tischen Soter rufen, dem die Zukunft der Fluchentsühnung (»cui dabit partes scelus expiandi / luppiter«, v. 29f.) gehören wird.61 Mit dem Zeitgefüge von c. I 2 ist erstmals eine Ambivalenz [328] der künftigen politischen Lyrik des Horaz gegeben. Das mit der Mythennutzung erweiterte temporale Spektrum kann fortan aus einem begrenzten Moment des lyrischen Sprechens die römische Geschichte insgesamt deuten; andererseits hat die mit ihm ebenfalls vollendete Eliminierung eines mit dem lyrischen Sprechen zu identifizierenden Präsens62 eben zu jenem Dilemma geführt, das schon an der Regulusode beobachtet wurde: Der Deutimgshorizont ist hier nur ausnahmsweise einem >aktuellen Anlaß< zuzuordnen. Das zeigen bereits die divergierenden Lösungsversuche zu c. 12 eindrucksvoll.63 Hinter diese geschichtliche Entfaltung geht die Zeitstruktur der politischen Oden nicht mehr zurück; ihre nächste Ausformung in der Sequenz der Regulusode wie auch die identische Anordnung der nachfolgenden Ode IE 6 M zeigt eine Stabilisierung; unter dem hier betrachteten Aspekt bilden c. HI 5 und 6 die Mitte der politischen Lyrik. Die Elemente dieser Zeitsequenz sind oben zur Regulusode aufgeführt worden: (I) positive Zukunft - »praesens divus habebitur«; (Ia) »Bedingung« - in c. HI 6 negativ formuliert: »delicta lues, donec refeceris«. Mit dem Element Ia wird 61 Die positive Zukunftsmöglichkeit zeigt c. I 2 schon vor dem Oktavian-Teil in v. 19 (Iuppiter will die Flut nicht) und in dem futurischen Rückblick der sechsten Strophe. 62 Hierzu - als einem Problem der Theorie vormoderner Lyrik - unten im dritten Teil. 63 Seit A. Reifferscheid, Coniectanea nova, Programm Breslau 1880, S. 3f., der •acuisse ferrum« (v. 21) mit der Ermordung Caesars identifizierte, sind einzelne Krisensituationen vor 27 v.Chr. vorgeschlagen worden. Die Zeitstruktur von c. I 2 ist jedoch von der jüngeren Forschung im Widerspruch gegen Heinzes Deutung der ersten Odenhälfte als Darstellung einer bereits überwundenen Gefahr herausgearbeitet worden; bahnbrechend die Interpretation von c. I 2 als Mahnung an Oktavian von H. St. Commager (zuerst in: American Journal of Philology 80, 1959, S. 37ff.); genaue Nachzeichnung des Zeitgefüges - aber wieder mit unterschiedlicher Deutung, wie das lyrische Sprechen von c. 12, dessen >Gegenwart< sich zwischen 44 und 27 v.Chr. erstreckt, aktualisiert werden soll - bei F. Cairns [Anm. 51], L. A. MacKay [Anm. 56], und H. Womble, in: American Journal of Philology 91, 1970, S. lff. 64 Beide Oden sind bisher nur von C. Koch (in: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 4,1941, S. 8 lff.) eng aneinandergerückt worden, jedoch lediglich inhaltlich. Hierzu trug die gerade durch den >Pessimismus< ihrer Schlußstrophe verursachte Frühdatiening von c. HI 6 bei; dagegen H. Silomon, in: Philologus 92, 1937/38, S. 444ff.; G. Williams, in: Journal of Roman Studies 52, 1962, S. 31f., und B. Fenik, in: Hermes 90, 1962, S. 86.
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die futuristische Eliminierung [329] des Präsens seit Epode 16 (zuletzt in c. I 2: »ne rediret« und »quo melius perirent«) in eine präzise temporale Nachrangigkeit gebracht; (Ha) die noch >anstehende< schlechte Vergangenheit der in c. in 5 (v. 5ff.) und c. HI 6 (v. 9ff.) nahezu identischen Partherstrophen. Mit diesem Element erscheint der Rest des bedrückenden Präsens der Epoden, nunmehr in die Vergangenheit transportiert; (II) die positive Vorvergangenheit, in c. HI 5 wie 6 erstmals altrömisch (Regulus und das bäuerÜche Altrom). Mit c. HI 5 wird das temporale Gefüge komplettiert. Die Eliminierung des Fluchgedankens setzt eine der Zukunft entsprechende positive Vergangenheit frei, die historisch einmal degeneriert sein muß (und daher die Rezeption der altrömischen Exempla ermöglicht), so wie sie historisch im augusteischen Programm überwunden werden wird (und daher die Anknüpfung an konkrete Aufgaben - Partherkrieg in c. HI 5, Restauration der Tempel in c. HI 6 - ermöglicht). In dieser Koppelung der Vergangenheit an die Zukunft gründet die bemerkenswerte Offenheit der horazischen politischen Lyrik, welche sie von der Panegyrik (die stets eine Erfüllung der Vergangenheit in der Gegenwart darstellt) deutlich abhebt - eine Offenheit einmal für die Probleme der wechselnden und in den Gedichten verborgenen Gegenwart, eine Offenheit aber auch für eine stets mögliche lyrische Distanziertheit gegenüber dem Politischen überhaupt. Gerade an c. HI 6 und 5 läßt sich zeigen, daß sie das Erbteil des alten Fluchgedankens war, dessen Auflösung in historische Bewegung die Einfügung des auch bei Livius explizierten Dekadenzschemas begünstigte. Sein Kontrast mit der augusteischen Zukunft ist nichts anderes als der vieldiskutierte Widerspruch im Geschichtsbild der Ode EQ 6; aus ihm aber erwächst auch der eingangs besprochene Gegensatz zwischen dem gelungenen exemplum des Regulus und dem nachfolgenden Verfall in c. III 5.65 [330] 65 Der »immeritus« Büßende von c. IE 6,1, dem ein Aufhören des Verderbens in Aussicht gestellt wird, erscheint in der letzten Strophe - der letzten der Römeroden! - als keineswegs letztes Glied einer Dekadenzkette. Die Glättungsversuche sind zahlreich (Zusammenstellung bei V. Cremona [Anm. 59], S. 267f.), aber die offene Dissonanz bleibt bestehen. Die stufenweise Dekadenz, welche die zeitlose Identität der Fluchwirkung abgelöst hat (»hoc fönte derivata clades«, c. IE 6,19), kann mit der augusteischen Erneuerung noch in keiner gemeinsamen historischen Bewegung abgebildet werden. Wie in c. EQ 6 die positive Zukunft nicht aus dem Duktus der römischen Geschichte heraus vermittelt werden kann, so in c. m 5 das gelungene Exempel des Regulus nicht in die römische Geschichte hinein: Die von Regulus verhinderte »pernicies veniens in aevum« (v. 15) tritt doch ein. - Erst die Nachzeichnung der in c. HI 5 und 6 identischen Zeitstruktur erlaubt also die oben 15
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In der dritten Römerode ist nun das zeitliche Gefüge selbst, aus dem jede gegenwärtige Situation Roms gedeutet werden kann, zum Thema geworden66 - in einem solchen Maße, daß dieses geschichtstheologische Gedicht Vergangenheit und Zukunft nahtlos zusammenzufügen scheint.67 Horaz überbaut nunmehr die unvermittelte Korrespondenz von Mythendeutung und Gebet an den Soter Oktavian, wie sie c. 12 hergestellt hatte,68 durch eine zweite großangelegte Vergil-69 und Ennius-Rezeption:70 Die im ersten Buch der Georgien angelegte Entsühnung des Laomedon-Fluches, ihre im ersten Buch der Aeneis noch vertiefte Hindeutung auf Romulus und den neuen Quirinus Augustus wird in das gesamte historische Spannungsfeld Troia-Rom eingefügt. Doch zeigt wiederum das temporale Gefüge der Ode - das komplexeste in der politischen Dichtung des Horaz - den Unterschied zum vergilischen Seitenstück. Die segensreiche Zukunft ist hier an keine Bedingung mehr gebunden,71 steht fest: Augustus wird die Apotheose zuteil werden. Er ist in [331] einen griechisch-römischen Heroenkatalog eingereiht, der sich bis zu den spätesten Gedichten nicht mehr wandeln wird.72 Immerhin steht die Apotheose noch aus {»bibet«> v. 12)73 und wird vergeforderte Erklärung dieser Diskrepanz: Sie folgt aus dem Kontrast der augusteischen Wende mit der geschichtlichen Dekadenz, dem Thema beider Oden. 66 H. St. Commager [Anm. 50], S. 223: c. IH 3 »is about chronology«; vgl. auch V. Cremona [Anm. 59], S. 208. 67 Vgl. die Kritik Cremonas [Anm. 59], S. 211, der den Gegenwartsbezug vermißt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das gnomische Präsens der ersten beiden Strophen; zu ihm E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1956. 68 Der Üia-Romulus-Mythos wird in v. 29ff. zitiert; vgl. auch die Bemerkungen Cremonas [Anm. 59], S. 209. 69 Zu ihr vgl. H. J. Krämer [Anm. 34], S. 364ff.; V. Buchheit, Vergil über die Sendung Roms, Heidelberg 1963, S. 146ff.; M. Pani, Troia resurgens, in: Annali della Facolta di Lettere e Filosofia (Bari) 18, 1975, S. 65ff. 70 Vgl. zur Sonderung der ennianischen Elemente die eingehende Auseinandersetzung mit V. Buchheit bei V. Cremona [Anm. 59], S. 213f. 71 Auch v. 43f. zweifelt nicht mehr an der Lösung der traditionellen >Aufgabe <, am Parthersieg; anders R. Saeger [Anm. 3], S. 109f. 72 Vgl. c. I 12, IV 5 und noch epist. II 1,5. Zum Katalog und seinem Hintergrund H. J. Mette, in: Hermes 88, 1960, S. 458ff. Die Verschiebung von der Inkarnation des Gottes (c. I 2) auf den seiner Apotheose sicheren Heroen diskutiere zuletzt D. Pietrusinski, in: Eos 68,1980, S. 267ff. 73 Entscheidend für die Interpretation von c. EQ 3 ist die Lesart »bibet« (stau »bibit«); lehrreich daher die textkritische Diskussion seit Bentley. Unter dem hier untersuchten Aspekt gewinnt es seine Bedeutung, daß der überlieferte Horaztext häufig zwischen Präsens- und Futurformen schwankt. 16
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG gangenen Apotheosen konfrontiert: Zwischen Vergangenheit und Zukunft spricht nach wie vor nur das lyrische Präsens. Aber es hat sich in der Rede Junos ein zweites reflektierendes Medium geschaffen, das mit dem lyrischen Präsens interferiert und hierbei den Beziehungsreichtum des Gedichts erst ermöglicht: Juno redet nach v. 17f. von der Apotheose des Romulus; ihr zeitlicher Horizont aber greift nicht nur in die Vorvergangenheit des Laomedon zurück (v. 22), sondern transzendiert ab v. 3774 auch das Präsens des Dichters (bis zur Weltherrschaft v. 56).75 Die für die Interpretation entscheidende Frage ist nun, ob das Futur der dem Romulus huldvollen Juno das die Apotheose des Augustus bezeichnende Futur des Dichters erreicht und damit die >augusteische< Gegenwart des Dichters mit einschließt. Wäre das der Fall, dann läge eine temporal genau bestimmte typologische Dichtung, deren Energie auf die gesteigerte Identität des princeps mit Romulus gerichtet wäre,76 vor. In ihr wäre die aktuelle Gegenwart als offenes Problem in der Tat nicht mehr angedeutet: Die Zukunft augusteischer Erfüllung bewegte sich dann durch die Typologie der beiden Apotheosen auf eine augusteische Gegenwart hin und öffnete sich damit typologischer Panegyrik (Vergangenheit [332] - Erfüllung). Dagegen spricht zunächst die Überlagerung der beiden Sprecherperspektiven, sodann die Tatsache, daß Horaz in deutlichem Kontrast zu den anderen Heroen die Apotheose des Augustus eben nicht ins Präsens setzt, ferner überhaupt die Nennung des Augustus: Echte typologische Dichtung wiese auf die Identität mit dem princeps eben durch die Darstellung eines sichtlich gesteigenen >Romulus<.77 Vor allem aber hindert die vielbesprochene >Bedingung< der Juno v. 57ff., das Verbot, Troia wiedererstehen zu lassen, den Zusammenschluß der Typologie78 - und zwar so deutlich, daß sie wiederum eine aktualisierende Deutimg geradezu herausforderte.79 Auch wer sie als Aufruf zur 74 Eingeleitet durch ein »dum« von unbestimmter Dauer. 75 Es kongruiert also - ganz wie der horazische Sprechhorizont in bezug auf die >Gedichtsituation< - keineswegs mit dem genauen Zeitpunkt von Junos Rede; nicht nur der »Anachronismus« von v. 42f. (R. Heinze [Anm. 13], ad loc.), sondern auch v. 38f. (noch die Situation des irrenden Aeneaden voraussetzend) deutet dies an. 76 Vgl. für viele F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 347: »ganz und gar auf Augustus bezogen«. 77 Man vergleiche demgegenüber die Formulierung Aen. 1,292. 78 Nur wer sie, mit R. Heinze [Anm. 13], Einl. zu c. m 3, als »poetische Einkleidung« betrachtet, wird dieser Schwierigkeit entgehen. 79 Vgl. wiederum Th. Mommsen [Anm. 21], S. 173ff. Auch ein durch c. I 15 17
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG Abwendimg von Troia als der moralisch schlechten Vergangenheit versteht80 (also ähnlich c. HI 1 und III 6; hierfür spricht die scheinbar aus dem Kontext der Rede fallende Strophe v. 49ff.), wird damit eben auf die scheinbar ausgesparte, noch zu bewältigende Gegenwart geführt. Der eigentliche Sinn dieses Überschusses aber erhellt aus dem Vergleich mit Vergib81 Im Unterschied zur grundsätzlichen Augustus-Typologie der Aeneis, die durch den Dardanus-Mythos auch räumlich zum vollen Zyklus gestaltet worden ist, fordert das offene Geschichtsdenken des Horaz die Lösimg von der Vergangenheit als Aufgabe vor der künftigen Erfüllung: Troia82 muß zerstört bleiben, um die Palinodie des Fluches der 16. Epode83 zu vollenden. Die Endform lyrischen Zeitgefuges kündigt sich bereits in dem letzten datierbaren politischen Gedicht der ersten Odensammlung an, in c. m 14 (v. 1-4): [333] »Herculis ritu modo dictus, o plebs> motte venalem petiisse laurum Caesar Hispana repetit Penatis victor ab ora.« Erstmals spricht Horaz im positiven Präsens - und zwar in einer sichtbaren Abwandlung der Augustus-Zukunft von c. III 3, welche die nach wie vor bestehende Offenheit und Gefährdung dieser politischen Dichtung erweist. Wie der griechische Heros hat der princeps den Tod besiegt - von der Apotheose ist nicht mehr die Rede84 -; die Segnung der Gegenwart besteht gerade darin, daß er lebt, seine Abwesenheit schon bedeutet Unsicherheit. Zu Recht hat der Blick sich auf die »Krise des Prinzipats« in der Entstehungszeit des Gedichts (23 v.Chr.) gerichtet, haben aber auch die vernehmlichen Untertöne und Befremdlichkeiten85 des Gedichts nahegelegtes allegorisches Verständnis von v. 25ff. (Antonius und Kleopatra) stünde quer zur typologischen Sequenz. 80 Vgl. V. Cremona [Anm. 59], S. 209, mit Überblick über die Forschung. 81 Vgl. V. Buchheit [Anm. 69], S. 147ff.; H. Kempter [Anm. 19], S. 58; M. Pani [Anm. 69], S. 67 Anm. 64. 82 Troia ist hier das »Urbild verhängnisvoller naher Vergangenheit« (F. Klingner, Horazens Römeroden [Anm. 16], S. 348). 83 So mit W. Wimmel, in: Acta philologica Aenipontana 2,1967, S. 88. 84 Unzutreffend die Kritik E. Doblhofers (in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1964) an den richtigen Beobachtungen D. Kienasts (in: Chiron 1, 1971, S. 242f.). 85 Vgl. v. llff., sodann die »atrae curae« des Dichters (v. 13f.), vor allem jedoch 18
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Beachtimg vor allem durch die Historiker gefunden. Die Philologen in ihrer Mehrheit versuchten zu harmonisieren; noch in der Interpretation von c. HI 14 kehrt die unterschiedliche Horazdeutung der beiden Disziplinen wieder.86 Es kann nicht mehr überraschen, daß auch in dieser Ode die Zeitverhältnisse das Interpretationsdilemma beleuchten. Ehirchweg unbeachtet87 blieb nämlich das Futur »exiget« (v. 14): »dieser Tag«, so Horaz - und zwar nach der Aufforderung und den Anweisungen zur Festprozession -, werde ihm die Sorgen verscheuchen; es folgt dann die zweite Aufforderung an den puer zur Vorbereitung des Symposiums. Die naturalistische Logik fand bis heute (da man an dem Problem gewöhnlich vorbeigeht) keine widerspruchslose >Situation< für diese Sequenz,88 insbesondere für das Futur. Es hat [334] jedoch wiederum einen Eigenwert, bezeichnet den Ort des lyrischen Sprechens. Es distanziert nämlich erneut das Futur der Erfüllung - dieses Mal sogar vom Präsens des Sieges; und es projiziert, wie am Anfang der Reihe, diese Erfüllung in den sympotischen Bezirk.89 Die Nachzeichnung der Zeitstruktur in der horazischen Lyrik allein erlaubt es nicht, diese Entwicklung als eine Regression, inhaltlich als einen Rückzug aus den stehengelassenen Fassaden offiziöser Poesie, zu deuten. Aber man muß feststellen, daß die politische Panegyrik90 weiterhin durch die Variation nach anderen lyrischen Funktionen suppliert und das fatale Epitheton »unicus«, das Augustus als Gatte der Livia gegeben wird (man lese gegenüber den Glättungsversuchen neuerer Zeit die Kommentare von Mitscherlich [Q. Horatii Flacci Opera. Illustr. Chr. W. Mitscherlich. Bd. 1, Reutlingen 1814 u.ö.] und Orelli-Baiter [Anm. 40]). 86 Guter Forschungsbericht: E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962ff. 87 Ausnahme: Heinzes Erklärung ([Anm. 13], ad loc), »weil der Tag ja noch nicht abgelaufen ist«. 88 Orelli-Baiter [Anm. 40] und K. Nürnberger [Anm. 25], ad loc, nahmen als Situation das »Bekanntwerden« der Abreise des Augustus aus Spanien an; Heinze [Anm. 13], ad loc, versteht eine supplicatio vor der Rückkehr; beide Interpretationen werden zur Hauptsache durch das Futur in v. 14 ausgelöst. H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 2, S. 149, ignoriert es und nimmt den >Tag< als das wirkliche Einzugsfest. 89 Man vergleiche das Zeitgefüge am Beginn der Aktiumepode und der Kleopatraode. 90 In ihrer pindarischen Form (c. IV 4 und 14) bleibt sie ein Sonderfall, dessen Interpretation doch wohl auch den Blick auf die Suetonvita erforden. Aber auch die durchgehend präsentische Endform dieser formgeschichdichen Reihe c. IV 5 erinnert mit der Apostrophe des entfernten princeps an c. HI 14: An die Stelle der zeitlichen Distanzierung tritt das Thema der räumlichen Ferne. 19
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG durchkreuzt wird - hier durch die sympotische >zweite Gedichthälfte<91 und noch in der >letzten< horazischen Ode, c. IV 15, durch die Klammer der recusatiöy sogar unter Abgehen von der präsentischen Endform. Der versprochene Gesang steht dort zusammen mit der politischen Erfüllung (c. IV 15,17f. »non ... exiget otium«, ein Negativzitat von c. m 14,14 »exiget curas«) im Futur, und dieses tritt der positiven, >anstehenden< Vergangenheit der aetas des Augustus gegenüber. Diese Zeitstruktur ist das letzte Wort der politischen Dichtung des Horaz; und man kann ihm füglich entnehmen, daß der Dichter sich der durchschrittenen Entwicklung bewußt war.92 [335]
m Der formale Aspekt der Zeitstruktur, der für die Reihe der wichtigsten politischen Gedichte des Horaz hier zur Untersuchung stand, ist nur begrenzt aussagefähig.93 Die sichtbare Entwicklung der temporalen Ver91 Gerade das >Auseinanderfallen< beider Gedichthälften hat die Forschung seit Klingner immer wieder beschäftigt; bereits E. Burck betonte die zentrale Funktion der Strophe v. 13ff. (Nachweise bei E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1962f.). 92 Das zeigt die Häufung der Motive seit den Anfängen der Gruppe: die deutliche Reminiszenz an den Fluchgedanken (v. 11), das Parthermotiv (v. 7f.), die moralische Restitution (v. 9ff.), der Rekurs auf Altrom (v. 12ff.), die Meisterung der Bürgerkriegsgefahr (mit Reminiszenz an epod. 7: v. 19) und der Deutungshorizont der troianisch-römischen Geschichte (v. 31f.). 93 Seine Untersuchung vermag etwa die seit E. Fraenkel ([Anm. 2], besonders S. 43ff.) analysierte Umwandlung der altgriechischen lyrischen Formen bei Horaz zu beleuchten; sie nähen sich auch - unter den Aspekten >Offenheit< und >Distanzierung< - den Interpretationen Pöschls über den Platz der politischen Lyrik im Gesamtwerk; endlich hebt sie die temporalen Gefüge bei Horaz von den typologischen Bildungen Vergils ab (vgl. auch W. Kreinecker, Die politischen Oden des vierten Buches des Horaz, Diss. Innsbruck 1970, S. 138f.), unterstreicht also den Formenreichtum geschichtlicher Darstellungsformen in augusteischer Zeit. Vgl. zur vergilischen Typologie die Zwischenbilanzen von G. Binder, Vergils Aeneis und der Staat des Augustus, in: KFS [Katholische Freie Schulen] im Erzbistum Köln 46, 1981, S. 46ff., und R. Rieks, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.2, Berlin 1981, S. 805ff. - Nicht behandelt werden konnte an diesem Ort das Verhältnis von >futurischen< und >präsentischen< Steigerungsstufen in der Typologie - der futurische Bezugspunkt, wie er in c. EQ 3 gegeben ist, schließt an sich noch nicht die Typologie aus. Eine solche Untersuchung träfe auf eine parallele Diskussion über die Typologie in der spätantiken Poesie; vgl. Herzog, Probleme 20
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG
schränkungen in dieser Reihe weist jedoch über sich hinaus. Das zeigt sich zunächst darin, daß ihre formgeschichtliche Chronologie im wesentlichen mit der historisch oder gattungsgeschichtlich zu ermittelnden Folge übereinstimmt.94 Über das Verhältnis zwischen epod. 7 und epod. 16 macht die Formgeschichte eine klare Aussage (s. oben); ebenso bemerkenswert ist die frühe [336] Datierung von c. I 14.95 Der Kleopatraode folgen würde hiernach c. I 2; nicht eindeutig entschieden werden kann auch unter dem Tempusaspekt96 das Verhältnis von c. HI 3 und HI 5 (mit c. HI 6): Beide führen in c. I 2 erreichte Konfigurationen weiter, c. HI 6 rückt jedoch nahe an die Regulusode heran. C. HI 14, historisch sicher spät (24 v.Chr.) zu datieren, gibt sich auch temporal als Anknüpfung an c. DI 3 zu erkennen. Im vierten Odenbuch würde c. IV 5 gegenüber dem im allgemeinen als letzte Ode angesehenen c. IV 15 die Endstufe bezeichnen. Weit über das Feld der politischen Dichtung hinaus aber führen diese Untersuchungen zum Zeitgefüge, weil sich zeigen läßt, daß seine sämtlichen Züge, vor allem die Präsenseliminierung und die Verschränkung von Futur und Präteritum, sich auch in den Reihen der sympotischen und der erotischen Oden entwickeln. Eine Darstellung des Gesamtzusammenhangs kann hier nicht gegeben werden; immerhin nötigt der Befund dazu, die Zeitstruktur der horazischen Lyrik ernst zu nehmen und sie abschließend in eine Verbindung mit den schon mehrfach berührten Aspekten der Gedichtsituation, der Fiktion und des Verhältnisses zwischen lyrischer Zeit und Situationszeit zu stellen. Die Thesen Heinzes97 - die bisher einzige Theorie zum poetischen Verfahren der horazischen Ode - hauen bereits den engen Zusammenhang der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität [in diesem Band: S. 203ff.], und V. Buchheit, in: Hermes 109, 1981, S. 235ff. 94 Für die historisch gewonnene Chronologie sind heranzuziehen: H. D. Meyer [Anm. 22]; D. Timpe [Anm. 24]; R. Saeger [Anm. 3]; D. Kienast [Anm. 24]; vgl. im übrigen besonders K. Eckert, in: Der Altsprachliche Unterricht Reihe 4, Heft 2, 1959, S. 69ff.; H. St. Commager [Anm. 50], S. 160ff.; W. Wimmel [Anm. 83]; G. Wille, Horaz als politischer Lyriker, in: Timetikon aphieroma eis K. I. Merentite (...) [Festschrift für K. J. Merentitis], Athen 1972, S. 440ff.; E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1936ff. 95 Vgl. zum Problem E. Doblhofer, in: Aufstieg und Niedergang [Anm. 4], S. 1937. 96 Für c. m 5 kann nach den historischen Indizien nur ein Ansatz von 27 bis 25/24 v.Chr. gegeben werden (vgl. D. Timpe [Anm. 24], S. 167 Anm. 3). 97 Die horazische Ode (1923), in: ders., Vom Geist des Römertums, Darmstadt 3 t960, S. 172ff. 21
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG zwischen der streng situationsgebundenen98 und realen" Adressatenlyrik und ihrem »voluntaristischen« (weil dialogischen), [337] besonders auch futurischen Charakter hervorgehoben. Dieses Konzept stieß sogleich auf Widerspruch, einmal wegen seiner verfehlten Einschätzung der >modernen< Lyrik als Erlebniskunst,100 sodann wegen seiner zu schmalen Basis: Nicht wenige Horazoden kennen keinen Adressaten im Heinzeschen Sinn101 - darunter gerade auch die wichtigsten politischen Oden. Diese Ablehnung hat sich mit den formalen Beobachtungen Heinzes nicht eigentlich auseinandergesetzt,102 sie nur verdrängt; sie verhinderte Untersuchungen zum Zeitaspekt, die für andere römische Dichter nicht fehlen^ 98 Diese Situationsgenauigkeit, bereits durch J. G. Herder erkannt (vgl. Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund, Brief 2 (>Adrastea<, Bd. 5), in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 24, Berlin 1886, S. 203), ist auch nach der Herrschaft der naturalistischen Interpretationsmethode stets nachzuzeichnen; wenn Horaz »auf einem ganz bestimmten Hintergrund, einer bestimmten Szenerie, die kurz, aber scharf umrissen« ist (R. Hanslik, in: Serta Philologica Aenipontana [1] - Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 7/8, Innsbruck 1962, S. 339), seine lyrische Kunst aufbaut, verdient gerade diese fingierte Realität Aufmerksamkeit. Daß auf diesem Felde noch immer Neues ans Licht kommt, hat jüngst die Interpretation von c. I 26 durch E. Lefevre (in: Antike und Abendland 29, 1983, S. 26ff.) gezeigt. 99 Im allgemeinen wird jedoch übersehen, daß bereits R. Heinze die genaue Festlegung der Situation zwischen Dichter und Adressat als »Fiktion« (und damit in seiner Sicht als anachronistisches Verfehlen der frühgriechischen Kunst) bezeichnet (Die horazische Ode [Anm. 97], S. 188). 100 So schon R. Reitzenstein, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 53, 1924, S. 232ff. 101 Vgl. H. P. Syndikus [Anm. 4], Bd. 1, S. 14ff. 102 Eine Weiterbildung des Konzepts findet sich nur bei K. Quinn, Texts and contexts, London 1979, S. 172ff. (sowie in: ders., Latin explorations, London 1963, S. 84ff.); vgl. auch die Verteidigung E. Pöhlmanns, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaften 35,1982, S. 92ff. 103 Nur P. H. Schrijvers (in: Mnemosyne 26, 1973, S. 140ff.) hat statistische Untersuchungen zum Zeitgebrauch, im Anschluß an die Dialogtheorie von Aron Kibedi Varga, vorgelegt. - Zum Zeitgebrauch Vergils vgl. jetzt die Monographie von S. Mack, Patterns of Time in Vergil, Hamden 1978 (hierzu G. Binder, in: Gymnasium 86, 1979, S. 565ff., sowie M. v. Albrecht, in: Glotta 48, 1970, S. 219ff.); J. P. Brisson, Temps historique et temps mythique dans PEneide, in: Vergiliana, hrsg. von H. Bardon und R. Verdiire, Leiden 1971, S. 56ff., und R. Girod, Virgile et Thistoire dans l'Eneide, in: Presence de Virgile, hrsg. von R. Chevallier, Paris 1978, S. 17ff.; zu Statius: A. M. Taisne, Temps historique et temps legendaire chez Stace, in: Aion. Le temps chez les Romains, hrsg. von R. Chevallier, Paris 1976, S. 145ff. 22
AUGUSTEISCHE ERFÜLLUNG
Doch die Untersuchung hat gezeigt, daß Heinzes Beobachtungen zum Futur nicht an sein Verständnis >dialogischer< Lyrik gebunden sind. Das Zeitgefüge der horazischen Ode ist nicht das seiner fingierten Realität; die Verschränkung von Futur und Präteritum verweist auf das verborgene >Präsens< des lyrischen Sprechens selbst; die Verwerfungen zwischen situativer Geschlossenheit und temporaler Lyrik verweisen auf den >zweiten< Adressaten: den Leser als Partner des sprechenden Dichters (vgl. besonders c. I 14). Dieser Befund aber entspricht den Analysen zur Zeit in der Lyrik, [338] die K.Maurer vorgelegt hat104 - an Beispielen, die keine grundsätzliche Differenz zwischen antiker und moderner Lyrik statuieren und die z.T. auch am Horaz gewonnen wurden.105 Die Austauschbarkeit von Vergangenheit und Zukunft in der lyrischen Aussage kann nach Maurer eben durch jene >präsensbezogenen< Aspekte des Exaktfuturs und des >anstehenden< Perfekts komplettiert werden, die gerade die politische Lyrik des Horaz auszeichneten.106 Maurers Beobachtungen stoßen aber damit den Horazinterpreten auf Schwierigkeiten: 1) Woraus entspringt eigentlich die immer wieder nachgewiesene Präsenseliminierung bei Horaz; warum vermeidet der lyrische Standort des Dichters das Präsens? 2) Maurer sieht sich genötigt, seine grundsätzlich idealtypische Theorie in einen historischen Kontext zu stellen: Seit den römischen Elegikern107 verändere eine grundsätzlich monologische lyrische Haltung die ursprünglich dialogische und präsentische Situationsgebundenheit108 der griechischen Lyrik. - Wie man sieht, hängen beide Fragen zusammen: Sie verweisen auf die Tatsache, daß Horaz gerade in der >Modernität< seines Tempusgebrauchs »eigensinnig« (Hein-
104 In: Poetica 5, 1972, S. lff. Maurer entwickelt seine Zeittheorie im Anschluß (zugleich Widerspruch) an die formalistische >Abweichungstheorie< der Poesie vom normalen Sprechakt und an die narrative Zeittheorie K. Hamburgers. 105 Vgl. die Interpretation von c. I 37,lff., insbesondere von »tempus erat« (12f.). 106 Also die Formen »Ia« und »IIa« der Regulusode. - Vgl. K. Maurer [Anm. 104], S. 13 und 24 (gezeigt an Properz und Petrarca). 107 Daher war die Anwendung der Maurerschen Theorie so fruchtbar, die E. Lefevre auf die Elegien des Properz vorgenommen hat (L'unita dell'elegia properziana, in: Colloquium Propertianum, hrsg. von M. Bigaroni, Assisi 1977, S. 37ff.); vgl. insbesondere die Bemerkungen zum ersten Auftreten der temporalen Verfügbarkeit in Catulls Alliuselegie (ebd. S. 39). 108 Auch hier war R. Heinze (Die horazische Ode [Anm. 97], S. 188) vorangegangen: Horaz tendiere eigentlich bereits zu monologischer Lyrik; er halte um der lex artis willen am Rahmen frühgriechischer Lyrik fest. 23
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ze) an der Projektion in eine Situation festhält. Führt dieser Eigensinn auf das Spezifikum der lyrischen Kunst des Horaz, gerade auch in seinem Verhältnis zu seinen griechischen Vorbildern? [339] In diese Richtung zielt in der Tat die Deutung dieses Verhältnisses, die Rösler vorgelegt hat;109 sie beschreibt die Entwicklung zwischen Alkaios und Horaz als einen Prozeß sich potenzierender Indirektheit zwischen den Polen >Mündlichkeit< und >Buchpoesie<. Eine direkte präsentische Realitätswiedergabe und Deixis (demonstratio ad oculos) und damit eine Identität zwischen lyrischem und situativem Präsens am Beginn der Entwicklung vorausgesetzt, ist schon in der Phase oraler Tradierung der >zweite< Adressat zur Rekonstruktion und Aktualisierung aufgerufen; vollends der anerkannte Poet jenseits der Hetairie (bei Rösler repräsentiert Theognis diese Stufe) produziert >Deixis am Phantasmas die situativen Muster werden nun nicht nur Fiktion; sie beginnen beim Übergang in die späte Buchpoesie mit der freien Verfügbarkeit sprachlicher Fiktion zu operieren; ihr deiktisches Potential, die Anschaulichkeit der Situation reichert sich an - und steigert damit zugleich das Widersprüchlichkeitspotential, da ihre Details nicht mehr unvermittelt und als Realitätsabbildungen komponiert werden. Sie sind symbolisch geworden110 im Hinblick auf den Austausch zwischen Dichter und Leser. Wenn diese Deutungen erwägenswert scheinen, so führen sie die Beobachtungen zur Zeitstruktur der horazischen Ode zu folgender Deutung: 1) Horaz vermittelt sich seinem Leser nicht (wie etwa der Elegiker) im Monolog, der temporal ähnlich wechselt, aber auch das lyrische Sprechen im Präsens kennt. 2) Vielmehr artikuliert der Odendichter - unter zunehmender Aussparung des Präsens - sich im Präteritum und im Futur der fingierten Situationen, an denen er nicht einfach festhält, sondern die er anreichert und deren >Realität< [340] er durchkreuzt, vor allem mittels ihr nicht zugehöriger >versetzter< Tempora. Dem Leser wird die Situation illusioniert (Rekonstruktion durch Identifizierung) und zugleich als >ge109 Vgl. oben Anm. 42. Auch Rösler geht von der linguistischen Diskussion aus; er rezipiert die Sprachphilosophie K. Bühlers und sein Theorem von der Deixis am Phantasma; da diese Theorie selbst Stufen progressiver Indirektheit behandelt, vermag sie auch historische Phasen abzubilden. 110 Wenn die Horazinterpretation in diesem allgemeinen Sinn am Begriff des Symbolischen festhielte, könnte sie an die Erörterungen E. Cassirers (Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 358f.; vgl. auch W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion, München 21979, S. 290ff.) anknüpfen; sie wäre der nach Gadamer obsoleten Konfrontation von Allegorie und Symbol überhoben; vgl. E. A. Schmidt [Anm. 33], S. 527ff. 24
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zeigt< eingeklammen. 3) Durch die Aussparung des dichterischen Präsens wird auch das Präsens der fingierten Realität ausgeblendet; die fingierten Situationen werden so gestaltet (oder ausgewählt), daß sie eine Verschränkung von Futur und Präteritum zeigen. Hinzu tritt der betonte Hinweis auf die Ausblendung des situativen Präsens (in den >bezogenen< Tempora des Exaktfuturs und des >entstehenden< Präsens). 4) Dem Leser wird durch diese Überblendung von lyrischem und situativem Tempus im Bereich des Präsens eine aufzulösende Spannung vermittelt. In der politischen Lyrik wird auf diese Weise die Bewältigung einer drohenden Gegenwart verlangt - und poetisch eingelöst. In der erotischen Odenreihe (so kann hier angedeutet werden) soll ein >verfehltes< (zu Beginn der Reihe: elegisches) Präsens durch die temporale Verschränkung überwunden werden, in der sympotischen Reihe aus der Verfallenheit an Zukunft und Vergangenheit der cura auf eine erfüllte Gegenwart hingewiesen werden. Auch in diesen beiden Reihen wird diese Aufgabe poetisch vermittelt und poetisch eingelöst. Damit führt die Nachzeichnung der Zeitstruktur in das Zentrum der horazischen Odendichtung als philosophischer Dichtung. Die Scheidung zwischen einer >philosophischen< und >lyrischen< Werkhälfte hat die Horazforschung seit je behindert, stärker noch als die Opposition zwischen politischen und privaten Bezirken in seinem Werk. Traditionell hatte sich das Thema >Horaz und die Philosophie<, was die Lyrik betrifft, auf die Analyse der gnomischen Kristallisationen in seinen Oden111 und ihre Verrechnung auf eine der >Schulen< beschränkt.112 Sollte die nahezu trivial gewordene Hochachtung vor dem genauen und feinen Kunstverstand [341] dieses Dichters nicht dazu veranlassen, sich die von ihm so oft bezeugte Einformung der vita in das Philosophieren, ja dessen Primat vor der Dichtung selbst, nicht nur an verstreuten Sentenzen bestätigen zu lassen, sondern das philosophische Telos im poetischen Verfahren selbst aufzufinden?
111 Deren Auftreten - außerhalb der fingierten Situation - freilich nicht zufallig ist. Eine exemplarische Interpretation (unter Einbeziehung antiker Zeittheorie) von c. m 29 bei G. Vogt, in: Der Altsprachliche Unterricht 26/3, 1983, S. 36ff. 112 Vgl. den Forschungsbericht von W. D. Lebek, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.3, Berlin 1981, S. 2031ff., und bereits die Anregungen bei A. La Penna, Orazio e la morale mondana Europea» in: Q. Orazio Flacco, Tutte le opere, hrsg. von E. Cetrangolo, Florenz 31978, S. LXXvn. 25
Aeneas' episches Vergessen Zur Poetik der memoria I »tenere cogebar Aeneae nescio cuius errores oblitus errorum meorum.* Aug. conf. 1,13,20 Der Held debütiert beinahe mit einem Ohnmachtsanfall, so hat man das erste Auftreten des Aeneas im Seesturm Aen. l,92ff. gekennzeichnet.1 Was die Aeneaskritik seit Jahrhunderten als unheldisches Verhalten befremdet hat, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Todeswunsch in Form eines überwältigenden, jede Aktion hemmenden Erinnerungsanfalls. Der wie erstarrt die Hände zum Himmel hebende Held ruft nicht die Götter an, sondern preist in einem Makarismos die noch vor der Heimatstadt Gefallenen; ihnen und dem Feind Diomedes gelten seine Worte, der Welt dieser Toten fühlt er sich zugehörig. Dem Seesturm setzt er nichts entgegen. Nun ist das Unwetter, das auf ihm lastet (1,84), selbst eine Aktion, die von einer gebieterischen memoria ausgelöst wird: »saevae memorem lunonis ob iram« (1,4). Vom Proömium an, das die Handlung durch den Zorn der Göttin in Gang setzt, wird Juno, ganz im Unterschied zu ihrer Gestalt bei Homer, als Gefangene ihrer memoria dargestellt - einer mythischen memoria, die in Junos erstem Monolog2 ihre Niederlagen, viele
Aus: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hrsg. von Anselm Haverkamp und Re nate Lachmann unter Mitwirkung von Reinhart Herzog (Poetik und Hermeneutik 15), München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 81-116. 1 Eine Formulierung von Sainte-Beuve (£tude sur Virgile, Paris 21870, S. 216); vgl. A. Wlosok, Der Held als Ärgernis, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 8, 1982, S. 14. Ahnlich aber bereits St. Evremond (Reflexions sur nos traducteurs (1684), in: CEuvres, Bd. 3, Paris 1966, S. 109): »le premier signe de vie qu'il donne, c'est de gemir.« 2 Gute Analyse des Monologs unter diesem Aspekt bei G Highet, The Speeches in VergiFs Aeneid, Princeton 1972, S. 266f.
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
Konstellationen und Kontingenzen (bis zum Raub des Ganymedes) in sich versammelt (»alta mente repostum«, 1,26), nicht loswerden kann3 (»needum ... dolores / exciderant animo«> l,25f.) und planend wie fürchtend in sich parat hält (»tenditque fovetque«, 1,18; »metuens... memor«, 1,23). Damit weist Junos das Epos auslösende memoria eine eigentümliche Struktur auf, die das griechische Wort melete4 zusammenfaßt. Teilweise deutet sie auch das [82] deutsche »Er-Innern« (im Sinne von Hegels Gegensatz zum »Gedächtnis«)5 an - zum anderen Teil aber ist sie durchaus futurisch, pragmatisch: sie geht über vom > Ressentiment <6 zum obsessiven Handeln. Das hat die homerische Gottheit, und zwar nicht nur Juno, sondern überhaupt den olympischen >Apparat< der Aeneis, aufs stärkste verwandelt. Man vergleiche den göttlichen Handlungsanstoß in der Odyssee: Poseidon straft den Helden für ein Vergehen-, dort ist die göttliche Aktion eine isolierte, judiziale Handlung, die im übrigen sowohl der Götterwelt ihre Autonomie (ihre eigenen, durchaus nicht auf das Epos bezüglichen >Geschichten<) beläßt wie dem Helden in seinen Apologoi die Vielfalt von Abenteuern, die keineswegs Götterinterventionen entspringen.7 Aeneas hat keine Schuld zu sühnen; Juno straft ihn auch nicht - sie folgt einem memorialen Konnex von Niederlage und Rache.8 Damit aber ist der Aeneis ein neuartiger narrativer Raum eröffnet, der sich an fundamentalen Veränderungen der epischen Götterhandlung ablesen läßt: 1) Die vergilischen Götter kennen nicht mehr den Eigenraum mythisch entlastender, d.h. vom Epos im Sinne einer zweckgerichteten Handlung entlasteter Geschichten (etwa das Beilager von Zeus und Hera); während der eingreifende Poseidon in der Odyssee »von den Äthiopen« kommt, tritt die vergilische Juno aus den Zwängen ihrer Erinnerung heraus auf.9 2) Ihre Aktionen sind - im Gegensatz zu dem homerischen Bild der Götter-Häuser, zu ihren Beratungen und zu den genealogischen Erzäh-
3 B. Otis, Virgil, Oxford 1964, S. 93: »the goddess, who never forgot«. 4 Lateinisch am besten die ursprüngliche Bedeutung von »meditari«: »sich besinnen auf«, »sich ganz erfüllen mit«, zugleich aber: »sinnen auf«. 5 Vgl. H. Schmitz, Hegels Begriff der Erinnerung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 1964, S. 37-44. 6 Vgl. K. W. Gransden, Virgil, Cambridge 1990, S. 89. 7 Zu den hermeneutischen und narrativen Grenzen judizialen Geschehens vgl. Herzog, Non in sua voce [in diesem Band: S. 235ff], S. 220f. [hier: S. 244f.]. 8 Zu diesem Unterschied gegenüber Homer vgl. Gransden [Anm. 6], S. 71. 9 Vgl. R. Heinze, Vergils epische Technik, Leipzig 31915, S. 317f. 28
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN
lungen - in der olympischen Dimension zusammenhanglos; sie sind ausnahmslos bezogen auf die epische Handlung.10 Sie bestimmen daher auch das Feld der früheren episch-menschlichen Handlung in weitem Umfang: nicht mehr die ira des Achilleus, sondern Junos ira treibt das Geschehen hervor. Die spielerische Willkür, ja Frivolität der //ws-Götter ist der vollen psychologischen Integration ins Geschehen gewichen, die besonders Juno einen personalen Raum von individueller Abgründigkeit verschafft; ihr Zorn ist eigentlich unerklärbar.,l 3) Menschliche Handlung außerhalb der memorial gesetzten Handlungsziele Junos wird von Vergil kupiert. Dies geht so weit, daß der Werkrahmen selbst, das Ende des Epos, ausdrücklich als Ende eines Handlungsspielraumes Junos markiert wird.12 Dieser wird im Verlauf des Epos immer enger.13 Was jenseits dieses Handlungsspielraums noch an sichtbaren menschlichen Aktionen denkbar wäre,14 würde in völliger Beliebigkeit verschwinden.15 [83] Poetologisch zeigt sich diese Verwandlung in der bekannten Tatsache, daß die Aufbietung der olympischen Götter für das römische Nationalepos keineswegs so selbstverständlich war, wie es uns das gelungene, klassisch gewordene Werk erscheinen läßt. Der Gründer des latinischen Rom hätte mit dem Brand Trojas den griechischen Mythos hinter sich lassen können, sein Aufbruch war kein nostos. Die Präsenz der homerischen Götter stellt einen ähnlichen Rückgriff dar wie die Einformung der horazischen Buchlyrik in die lesbische Ode. Sie mußte eben deshalb neuartig und revolutionär wirken.16 Wie sich zeigte, kann jedoch gerade die memoriale Zuspitzimg der Götteraktionen nicht mit einem allgemeinen Verweis auf das gräzisie10 Besonders fühlbar am späten, desultorischen Auftreten Apolls (9,638ff.) und der dei minores. 11 5,788. 12 Vgl. das Drängen auf ein Ende im abschließenden Gespräch Jupiters mit Juno im 12. Buch. 13 Zu vergleichen ist: 4,90ff.; 7,286ff.; 10,62f.; 12,149ff. 14 Wobei Aktionen zunehmend als ein »Sichhinziehen«, als »Umstände« erscheinen (vgl. 7,315). 15 Vgl. 12,152f. 16 Vgl. V. Pöschl, Virgil und Augustus, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 31.2, Berlin 1981, S. 722. Ein Indiz ist, daß die ältere Forschung die vergilischen Götter als philosophisch vermittelt, als Figuren der theologia fabularis interpretierte (vgl. Heinze [Anm. 9], S. 292). Seit Otis [Anm. 3] ist das Problem neu gesehen worden; vgl. A. Wlosok, in: Gnomon 51, 1979, S. 544. Gute Übersicht: K. Quinn, VirgiPs Aeneid, London 1968, S. 300-307. 29
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN
rende Programm der augusteischen Klassik erklärt werden. Es liegt auf der Hand, daß eine solche mythische memoria in epischer Aktion selbst eine Spätform des Mythos17 darstellt. Denn die mythische Gottheit wird auf das memoriale Kreisen um die Urzeit seit Ganymedes und seit dem Parisurteil erst dadurch festgelegt, daß sie in der Gegenwart des Dichters und Lesers als anwesend gesetzt wird, genauer: daß sie mit ihrer Rachsucht und ihren Plänen eine Zukunft einbezieht, die nachmythisch ist die Zeit des Augustus und Roms Weltherrschaft (vgl. die Einführung des ersten Junomonologs l,19ff.). Erst hiermit wird ja ihre mythische memoria zum Ressentiment, zur Rebellion (vgl. 1,31), nämlich gegen die vom Dichter und Leser aus vergangene Zukunft der römischen Geschichte. Ein zweiter zeitlicher Raum, den Homer noch nicht kennt, ist also der memoria der Götter gegenübergestellt. In ihm, der geschichtlich bereits vergangenen Zukunft der fata,1* verständigt sich - unter Sprengung der homerischen Epenproömien als Anruf der Muse - Vergil mit dem Leser19 über etwas, das nicht mehr Inhalt des Werkes sein wird (also, im Sinne des anfangs Erörterten, den Eingriffen der Götter unverfügbar sein wird). Dieser zweite memoriale Rahmen des Werkes hat die bekannten, nach wie vor umstrittenen20 Konsequenzen für die vergilianische >Theologie<. Die fata kann auch [84] Jupiter nur >hervorholen<, memorieren (das hierbei gern angewandte »volvere«21 assoziiert im Lateinischen zugleich das Entrollen des volumen: es verrät die memoriale Herkunft aus der vom Leser bereits gewußten Geschichte); nur die dei minores glauben in ihrer mythischen Perspektive, es handle sich um korrigierbare Beschlüsse des 17 Der dadurch erst ein geschlossener und zugleich aggressiver Bereich wird. 18 Im Proöm ist das bereits außer der Weltherrschaft die Tatsache der punischen Kriege (l,12ff.). 19 Der erste Teil des Proöms (1,1*7) bezeichnet als Thema eben die nachmythische Darstellung der Gründung Roms. Der Musenanruf wird (l,8ff.) in Form einer befremdet-rationalistischen (vgl. 1,11) Frage nach den causae eines Götterzorns unter dieser geschichtlichen Perspektive nachgetragen, dann, in einer wiederum neuen Form, römisches fatum mit Junos Ressentiment verbunden (1,12-33). 20 Sind fatum und der Wille Jupiters, als des deus omnipotens> identisch? Gute Übersicht: A. Wlosok, Vergil als Theologe, in: Gymnasium 90, 1983, S. 187-202, und W. Pötscher, Das römische Fatum, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.1, Berlin 1978, S. 393-424; es herrscht die Interpretation vor, Vergil lasse eine »durch Iliasgötterstreit gleichsam gedehnte Zeusreligion« erkennen, die durch die Befrachtung mit der römischen Zukunft »viel schwerer« geworden sei (E. A. Schmidt, in: Gnomon 61, 1989, S. 253). 21 1,22 noch nach dem mythischen >Sitz im Leben< von Parzen gesagt; 1,262: »volvens fatorum arcana movebo« (Jupiter); 3,375f. 30
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN
obersten Gottes. Und in diesem Rahmen erhält der griechische Göttermythos erst die endgültige Kontur seiner Spätform in der Aeneis. Um mit und in den Menschen handeln zu können, müssen die Götter die fata verdrängen; sie vergessen sie geradezu (deutlich besonders in der Gestalt der Venus, so bei ihrer Beihilfe zur Intrige Junos im vierten Buch). Dieses Vergessen erst konstituiert die Abgeschlossenheit ihrer mythischen Welt, aus der sie memorativ handeln und argumentieren22 - damit aber den Mythos in einer aktualisierenden Weise radikalisieren. Das Ergebnis ist im epischen Kontext, daß die ununterbrochenen, für die Menschen als labores leidvollen Götteraktionen sich einem Telos einformen, das einer List der Vernunft zu ähneln beginnt:23 »fata viam invenient« (3,395). Zugleich wird durch den memorialen Raum der fata die beobachtete Reduktion mythischen Eigenlebens, der homerischen Kontingenz in eigentümlicher Weise kompensiert. Die Verständigung, die durch das Memorieren der fata zwischen Dichter und Leser erfolgt, führt zu narrativen Erweiterungen, die ebenso >außerhalb< des Epos stehen wie die Beliebigkeit menschlicher Handlungen. Bereits die großen, in der Forschung als >Durchblicke< bezeichneten »Entrollungen« der nachaeneadischen Geschichte (Jupiterprophezeiung, Heldenschau, Schildbeschreibung) sitzen handlungsfernen, nämlich hermeneutischen Darstellungsformen auf. Sie ergeben jedoch, besonders in den kleineren Spiegelungen,24 Luxurierungen in Form von zusätzlichen, dem Leser zugedachten Informationen zu Geschichte, Geographie und Ätiologie, wie es sie vorher im Epos nicht gegeben hat. Vor allem aber eröffnet die Überlagerung der mythischen durch die geschichtliche memoria in der paganen Antike erstmals die Denk- und Darstellungsform der steigernden Wiederholung, die Typologie* Augustus ist in solchem Horizont »Troianus Caesar« (1,286); damit wird aber bereits der von Rom wissende Aeneas sehr viel mehr sein als der mythische Aineias, der nicht begreift, warum er nicht den Tod seiner trojanischen Mitkämpfer teilen darf. [85] Aus dieser typologischen Dreistufigkeit ist handelnd, im Werk, einzig 22 Was nie aus dem Potential der im fatum erschlossenen geschichtlichen Zukunft heraus geschieht (vgl. 7,286ff.). 23 Die Erscheinungsform dieses Vorganges ist die >tanta moles< (1,33), die mythisch-geschichtliche »Anstrengung« - Hegels Lieblingszitat aus der Aeneis. 24 Diese leserbezogenen Formen verursachen in seltenen Fällen sogar eine ausdrückliche Handlungsreduktion: so verschiebt Jupiter eine Fortsetzung des Götterkampfes auf den späteren punischen Krieg (10,lff.). 25 Also nicht mehr nur die längst vertraute >vertikale< Spiritualisierung in der Allegorese. 31
AENEAS' EPISCHES VERGESSEN
Aeneas anwesend.26 Die Frage ist, wie der epische Held in diesem Werk zu handeln vermag. Auf Aeneas9 Schultern liegt zweifache Erinnerungslast; sein Handeln aber scheint doch offen, nämlich frei zu sein für Fiktionen wie zuvor in keinem Epos. Denn seine Fahrt ist nicht mehr als nostos mythologisch festgelegt. Andererseits waren seine Kämpfe noch nicht Bestandteil der römischen Geschichte. War sein Fahrtziel durch die in vielen Einzelzügen vorgegebene italische Aeneaslegende bestimmt, so hatte sie den Apologen des Odysseus und ihren Abenteuern geradezu zu konkurrieren.27 Erst mit der Aeneis schienen die Voraussetzungen für die Forderung des ersten großen nachhomerischen Epikers Choirilos nach einem allos logos erfüllt zu sein. In dieser Erwartung sieht man sich getäuscht. Zunächst reproduziert Aeneas* Handeln die homerischen Szenen der Ilias und der Odyssee in einer Ausschließlichkeit, daß es bis heute kontrovers ist, ob überhaupt >eigene< szenische Ensembles vorliegen. Der (Homer-)Leser sieht »jeden seiner Tritte voraus« (Herder).28 Bereits die Seesturmszene ist eine solche Reproduktion (Od. 5,297ff.): der im Sturm vor dem Phäakenland bedrängte Odysseus kehrt mit Situation, Sprache und Szenenverlauf als Aeneas wieder. Es handelt sich nicht um die übliche Intertextualität von Imitation und Evokation, sondern um typologische Wiederholung - und zwar erstmals in der europäischen Literatur um gesetzte, erzählte (nicht: expositorische) Typologie. Ihre Merkmale sind unverkennbar und in der großen Untersuchung von G. N. Knauer29 vollständig aufgeführt worden: Mehrfachbesetzung (grundsätzlich können alle Situationen und Personen der homerischen Epen kumuliert werden); Reproduktion von Struktur, Konsistenz, kontingentem Detail bei Variation von Motiv, Telos, »Stirn26 Der Begriff Typologie ist von G. N. Knauer, Die Aeneis und Homer, Göttingen 1964, S. 345-359, in Anlehnung an die Bibelexegese in die Vergilforschung eingeführt worden. Zum Problem: Herzog, Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft [in diesem Band: S. Iff., hier: S. 20ff.]. Zur typologischen Mehrstufigkeit nach den Untersuchungen F. Ohlys jetzt K. Stierle, Odysseus und Aeneas, in: Das fremde Wort. Festschrift für Karl Maurer, hrsg. von I. NoltingHauff, Amsterdam 1988, S. 152f. 27 Odysseus war bis in die Zeit der mittleren Republik durch eine Vielzahl italischer Legenden der Hauptkonkurrent für die Stelle auch des römischen Nationalheros; vgl. G. K. Galinsky, Troiae qui primus, in: Gymnasium 81, 1974, S. 182-200. 28 J. G. Herder, Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1878, Bd. 3, S. 103. 29 S. Anm. 26; zu ergänzen durch M. Lausberg, Iliadisches im ersten Buch der Aeneis, in: Gymnasium 90, 1983, S. 203-239. 32
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mung« (Heinze) - wobei auch die Umkehrung von Reproduktion und Variation in beiden Gruppen möglich ist; Kontamination aller Grade; Epiphänomene wie >Leitzitate<, mechanische Verwendung von SzenenResten und elliptische Andeutungen. Wenn auch in der Aeneisforschung die Untersuchungen noch nicht zu dem Punkt geführt sind, an dem die narrativen Probleme einer solchen Form sichtbar werden (Kontingenz; Fiktion),30 so wird diese umfassende Einformung doch als Konsequenz [86] aus dem memorialen Zusammenhang von Götterwelt und fatum bei Vergil sichtbar. Denn »das Gleiche ereignet sich«31 zunächst im mythischen Raum göttlicher melete und ihrer Aktionen, die mit dem Seesturm nicht nur Aeneas' Erinnerung an seine trojanische Identität bestätigen, sondern ihn in allen folgenden Handlungen aus dem (homerischen) Mythos nicht entlassen, sodann im intertextuellen Gedächtnis des augusteischen Lesers, der im Vergil den Homer und im Helden Aeneas jeden homerischen Heros antitypisch wiederholt sieht.32 Dies wiederum hat zur Folge, daß schon seit den alten Kommentatoren jede nicht auf Homer reduzierbare Kontingenz ihrerseits als figura des geschichtlichen Antityps Augustus interpretiert wurde.33 Aeneas trägt in seinem Handeln zweifache Erinnerungslast: der Rahmen der beiden memorialen Räume schließt sich, wenn wir beobachten, daß dem Helden auch die erinnerte Zukunft des fatum aufgeprägt ist. 30 Bis zur Frage der Namensgebung (vgl. C. Saunders, Sources of names of Troians and Latins, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 71, 1940, S. 517-555), aber auch der mangelnden Konsistenz der sekundären Handlung, schließlich der zur Reproduktion offenbar erforderlichen - memorialen - Leerstellen (vom Typ »multi praeterea, quos fama obscura recondit«, 5,302). 31 Heinze [Anm. 9], S. 281. 32 Diese Rückbindung ist, ähnlich der Projektion des Menschensohnes in den Gottessohn vor aller Schöpfung in der altchristlichen Typologie zwischen A T und NT, so stark, daß Vergil in der Helenus-Prophetie des dritten Buches die italische Zukunft des Aeneas durch die neu erfundene Dardanos-Genealogie und ihre Rückführung auf Italien an die trojanische Vorvergangenheit gebunden hat: der offene typologische Dreischritt tendiert hier zum mythischen Zyklus zurück; vgl. Herzog, Augusteische Erfüllung [Anm. 26]. 33 Vgl. Servius (ad Aen. introd): »intentio Vergilii haec est, Homerum imitari aut August um laudare e parentibus.« Zur augusteischen Typologie der Aeneis beste Übersicht bei G. Binder, Aeneas und Augustus, Meisenheim 1971. Lehrreich sind die seltenen Fälle, in denen beiderlei Reduktion nicht greifen kann (die sogenannten »eigenen« Szenen Vergils): hier wurde vorzugsweise allegorisiert (vgl. zu den zwölf Hirschen im ersten Buch: J. R. Dunkle, The hunter and the hunting, in: Ramus 2,1973, S. 127-147). 33
AENEAS9 EPISCHES VERGESSEN Aeneas weiß alles, was Dichter und Leser über die Erfüllung der römischen Geschichte an den Text herantragen und erinnern sollen. Er weiß mindestens soviel über das fatum wie die Götter - und zwar durch die seit je bemerkte ständige Wiederholung dieser Informationen, die ihm während des epischen Handlungsverlaufs zuteil wird und die daher Züge des Memorierens gewinnt: von Hektors Erscheinung über Creusas Prophezeiung, die Venus-Weisungen, die Orakel des dritten Buches bis zur Heldenschau und Schildbeschreibung. Diese unablässige Erinnerung dient keineswegs nur einer »allmählichen Aufhellung des Fahrtziels« (Heinze) und damit einer >Entwicklung< des Helden. Sie determiniert ihn in einem Maße, das bis zur Verformung personaler Konsistenz reicht54 und nur als Einformung des augusteischen Lesers und seiner panegyrischen Forderungen in den Helden erklärbar ist.35 Auch hier haben solche Einformungen die bekannte Tendenz zur Wucherung: Aeneas' künftiges Schicksal ist, wohin es ihn immer verschlägt, allen [87] Begegnenden in eigentümlicher und oft ganz unwahrscheinlicher Weise bekannt:36 die memoria der fata zehrt ihrerseits die Möglichkeit von Odysseus-Abenteuern, den epischen Schock der unerwarteten Kontingenz, auf.
n »Nach meinen pbysiognomischen Kenntnissen akkurat wie der fromme Aeneas, als ich denselben gestern mittag vor dreitausend Jahren von der Dido weglaufen sah.« Der Teufel in Chr. Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung Solche memoriale Mehrstöckigkeit ist es, die das erste >sekundäre Epos< geprägt hat - und damit die Aeneis-Ksitik seit dem 18. Jahrhundert (bis 34 Vor dem nationalen »Höhepunkt< des Epos, dem descensus und der Heldenschau, versichert Aeneas der Sibylle (6,56ff. 103ff.), er erfahre eigentlich nichts Neues. Ovid hat in seiner Replik des Aeneas gerade die fehlende Neugier des Helden thematisien; vgl. S. Döpp, Vergilischer Einfluß im Werk Ovids, München 1968, S. 51. 35 Auch in der Vergil-Forschung als Propaganda abgewertet (vgl. das Kapitel »Impure poetry« bei K. Quinn [Anm. 16], S. 26ff.). - Kritische Rekapitulation des augusteischen Leserhorizonts: Ph. Holt, Who Widerstands VergiPs prophecies, in: Classical Journal 77,1982, S. 303-314. 36 Vgl. l,522ff.; 1,565 (Dido vor Üioneus); 7,222ff. (in Latium). 34
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN zu Niebuhrs Urteil, Vergil habe als Epiker seinen Beruf verfehlt).37 Viel nachhaltiger aber dürfte sie die über ein Jahrtausend währende und noch uns eingefleischte i4ene^5-Kritik verursacht haben:38 Aeneas ist der mißglückte Held schlechthin. Die Stereotypen sind in jedem Jahrhundert seit den christlichen Apologeten vertreten: blaß,39 unheldisch, 40 grausam trotz aller (unbelegten) pietas41 - ja gerade durch sie in seiner Treulosigkeit das Urbild des erotischen Tartuffe,42 als der er noch für Grabbes intertextuellen Teufel einzig eine individuelle Physiognomik erhält. Sieht man näher hin, geht diese Irritation auf den unbezweifelbaren Befund zurück, daß Aeneas die Konsistenz als fiktionale Person (im Sinne der homerischen Epik), als >Charakter< im Sinne der peripatetischen Poetologie fehlt.43 Und offensichtlich handelt es sich hierbei um personale Verwerfungen, die aus dem Ineinander der beiden erörterten memorialen Horizonte der Aeneis entstehen. Aeneas ist - nicht nur in der Sicht der verlassenen Dido »eiectus« und »egens« (4,373), also [88] >unheldisch<, gleichsam ein rejeton (»reliquiae«, 1,30)^ des (trojanischen) Mythos, dem er, wie gestorben, seit dem Beginn der Handlung nicht mehr zugehört (»fuimus Troes«, 2,325); zugleich ist er seit der Versicherung des Proöms (1,10) »insignis pietate 37 B. G. Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, Bd. 3, Berlin 1848, S. 132. 38 Eine Gesamtwürdigung des Phänomens fehlt. - Allgemeiner Überblick: A. Wlosok, Der Held [Anm. 1], S. 9ff.; zu den Wurzeln in der paganen und christlichen Spätantike: E. Heck, Von der Geringschätzung Vergils, in: Museum Helveticum 47, 1990, S. 103-120; bis zur Renaissance: C. Kailendorf, In praise of Aeneas, London 1989; im englischen Klassizismus: C. Vossen, Der Wandel des Aeneasbildes im Spiegel der englischen Literatur, Bonn 1961; im deutschen Idealismus: H. Holtorf, Die Vergilkrise des 19. Jahrhunderts, in: Mitteldeutsches Jahrbuch, Meisenheim 1955, S. 127-144; in der Forschung bis heute: A. Wlosok, >Preface< zur englischen Ausgabe von R. Heinze, Virgil's epic technique, London 1993; R. Rieks, Vergils Dichtung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 32.2, Berlin 1985, S. 728-868. 39 Vgl. M. Griffith, What does Aeneas look like?, in: Classical Philology 80, 1985, S. 309-319. 40 Vgl. Heinze [Anm. 9], S. 272. 41 Der älteste Vorwurf, der, wie zuletzt wieder in der amerikanischen Philologie, an das Ende der Aeneis, die Tötung des Turnus, anknüpft: vgl. Lact. inst. 5,10. 42 Die bekannteste Kritik; noch V. Pöschl, Dido und Aeneas, in: Festschrift K. Vretska, hrsg. von D. Ableitinger-Grünberger, Heidelberg 1970, S. 148-173 (mit historischem Überblick), spricht vom »Mißbehagen« jedes Lesers über die »kalte Herzlosigkeit« (S. 160). 43 Vgl. E. Kraggerud, Aeneisstudien, Oslo 1968, S. 1M05. 44 Ein Leitmotiv; vgl. 1,529 (vor Dido).
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vir«, der sich auch als solcher Unbekannten vorstellt,45 aber jedermann bekannt ist - ersichtlich sub specie fati.46 Der oft fühllosen Starre47 (nicht nur in der Dido-Episode) des die fata vollziehenden Instruments kontrastiert Verzweiflung, Todesangst, das Bewußtsein sinnlosen Abgemattetseins und der vergeblichen Mühe,48 das im >Waschlappensyndrom< der allgegenwärtigen Heldenträne mündet.49 Vergil hat zuweilen die Notwendigkeit gesehen, eine plastische Konsistenz der Person zu verminein und damit einen Innenraum des Helden ahnen zu lassen.50 Aber hier handelt es sich um Epiphänomene,51 die nicht zu einer psychisch hervorgerufenen Fiktionalität führen, deren Vergil doch in den Eklogen durchaus fähig war. Dem in solcher Sicht schlecht konstruierten Helden haben sich die philologischen Interpretationen in einer Kette von Deutungen substituiert, die mit der Entwicklungsgeschichte< über das Leiden der humanitas an der eigenen geschichtlichen Größe bis zum >subversiven< Helden getreulich das 19. und 20. Jahrhundert spiegeln.52 Nun ist hier keine Rettung des Aeneas als eines epischen Helden beabsichtigt. Offensichtlich hat er vor allem gegen die memorialen Horizonte von Mythos und Geschichte zu kämpfen. Diese Erkenntnis freilich führt zu der These, die Aeneas* poetische Faszination erklären könnte: Im Schnittpunkt dieser Horizonte, genauer: im toten Winkel ihrer Über45 1,379; »fama super aethera notus« ist dabei homerische Formung (Od. 9, 19f.) - das Prädikat »pius« aber bleibt durch die Handlung unvermittelt. 46 W. R. Johnson, Aeneas and the ironies of pietas, in: Classical Journal 60, 1964, S. 360ff. 47 Vgl. D. Feeney, The taciturnity of Aeneas, in: Classical Quarterly 33, 1983, S. 204-219. 48 Leitbegriffe: »fessus«; »labores«; vgl. R. Rieks, Affekte und Strukturen, München 1989, S. 135ff. 49 Spezialstudien: R. Rieks, Die Tränen des Helden, in: Silvae. Festschrift für E. Zinn (...), hrsg. von M. von Albrecht u.a., Tübingen 1970, S. 183-198; ders., Affekte und Strukturen [Anm. 48], S. 138ff. 50 »Spes« und unbewegter »vultus« gegenüber den Gefährten, »dolor« »im Herzen« (1,209). 51 Indiz sind die vergilischen Leerstellen der Innerlichkeit vom Typ »plurima volvens« (1,305): der Inhalt dieser Erwägungen wird zwar nach homerischem Vorbild {Od. 9,445) nicht mitgeteilt, doch wuchen die Formel (vgl. 3,34; 4,238. 332) und bezeichnet so die gestörte personale Konsistenz selbst. 52 R. Heinze [Anm. 9], S. 272; K. Büchner, Art. >P. Vergilius Maro<, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft VDI A2, Stuttgan 1958, Sp. 1460ff.; die angelsächsische Forschung seit A. Parry, The two voices of Virgü's Aeneid, in: Arion 2, Heft 4, 1963, S. 66-80. 36
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schneidung entwickelt der Dichter in der Person seines Helden eine Dialektik von Erinnern, Vergessen und Gedächtnis, die zu neuen Schichten in der Archäologie des Individuellen vorstieß und künftig den Maßstab setzte, was mythologische und was geschichtliche Dichtung zu sein vermochte. Aeneas tritt, wie beobachtet, mit einem Erinnerungsznlzli auf, abgekehrt von jeder Handlungsmöglichkeit, verschlossen auch gegenüber den vielen Zusagen auf dzsfatum, die er zu diesem Zeitpimkt bereits erhalten hat: diese ihrerseits sind vergessen. Die Erinnerung geschieht mit höchster Intensität (Makarismos; Apostrophe des Feindes Diomedes). Erinnerung ist hier durchaus, was Hegel als Versammlung und [89] Reduktion einer »zerstreuten Mannigfaltigkeit« auf die einfache Einheit des Selbst bezeichnet, die sich an dieser Mannigfaltigkeit erinnert, »in sich geht« und die eigene Gestalt dabei der >Erinnerung< übergibt.53 Sie wird nicht aus einem Gedächtnis hervorgeholt; sie springt an - als eine Gruppe von Gestalten, die - hier als Tote - zu jener einfachen Einheit zusammenschießen, die >Griechen und Trojanen ergibt, und die Aeneas, der sich an sie und an ihnen sich erinnert, umschließt und sein Ich in diese Erinnerung wirft (Zugehörigkeit; Todeswunsch; Handlungsenthobenheit). Das ist eine genaue Phänomenologie, sichtbar auch an den Begleiterscheinungen, zunächst des Schreckens, der Trauer, der Unsagbarkeit und allgemein eines Vernichtungsgefühls,54 dann am affektiven Resultat, dem Erschlaffen, dem alles überlagernden Ruhebedürfnis.55 Darüber hinaus aber - poetologisch - gewinnt diese Erinnerung Bedeutung, weil sie aus der beschriebenen Konkurrenz des memorialen Drucks auf Aeneas hervorspringt. Gewiß, sie verschließt ihm vorderhand jede Handlungsmöglichkeit. Aber dies eben 1) als Resultat von Junos memoria: sie ist es, die aus ihrer mythischen melete durch den Sturm des Äolus 53 Vgl. die Nachweise bei H. Schmitz [Anm. 5]. 54 So besonders am Beginn des zweiten Buches: »animus meminisse horret luetuque refugit« (2,12); »quorum (sc. >Griechen und Trojanen) pars magna fui« (2,6; »pars magna* steht für die der Erinnerung zugehörige Individualität); der Schmerz kann nicht erzählt werden (»infandus dolor«, 2,3); seine Wiederholung (»renovare*, 2,3) wäre unerträglich. - Wie sich zeigen wird, wird die gleichwohl erfolgende Erzählung des Helden die neue memoriale Dimension des Gedächtnisses vollenden. - Gute Beobachtungen bei E. Henry, The vigour of prophecy, Bristol 1989, S. 1-18 (»Memory«). 55 Leitbegriffe: »finis«; »quies«; »requies« (eine Spezialuntersuchung fehlt). Diese Vorstellung überlagen in Aeneas immer wieder die fata-Verheißung; vgl. 3,393ff.: »requies ea (sc. Italien) certa laborum«. 37
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Aeneas in die Vergangenheit des Mythos bannt: seine Erinnerung im Blitz des Sturms ist auch die Identität mit dem, was Juno in ihm sieht; 2) als Resultat der fata-Verheißungen - und zwar als Vergessen. Denn die memoria der künftigen Geschichte kann zwar vergessen werden, aber sie ist in seinem Gedächtnis. Sie wird immer wieder memoriert werden können: in Orakeln (und deren Erfüllungen), in Bildern (und deren Deutungen), in hermeneutischen Verfahren, die sämtlich auf eine Mnemotechnik des Lesers zulaufen und damit die Personalität des Helden ebenso transzendieren wie die mythisch-homerischen Doppelungen. Diese personale Unabgeschlossenheit aber ist es, die in einer neuartigen Poetik der memoria das alte Epos überwinden wird. Die soeben angedeutete Dialektik zwischen Aeneas' Erinnern und Vergessen setzt sich sogleich nach der Eingangsszene (1,198-207) fort. Der Held ruft die Gefährten (und damit sich selbst; l,208f.) beim ersten Mahl an der öden Küste zur Besinnung: er erinnert an die erlittene Vergangenheit (»neque ignari sumus^ 1,198). Diese ist nun von den casus und discrimina rerum der Gegenwart distanzierbar - nämlich als mythische Vergangenheit; Skylla und die Zyklopen stehen für etwas der Gegenwart Unvergleichliches, vor allem Bedrohlicheres. Die Feststellung »passi graviora« (1,199) distanziert vom mythischen Raum und entlastet die Gegenwart (vgl. l,210ff.), indem sie ein Gedächtnis konstituiert. »Forsan et haec olim meminisse iuvahiu (1,203) vollzieht dann [90] den entscheidenden Schritt: auch die Gegenwart wird als potentielles Gedächtnis erlebt und bewältigt. Und diese Verschiebung kann bei Aeneas nur erreicht werden, indem sie das Vergessen der fatum-memoria aufhebt: jetzt erst nennt er die Verheißung, memoriert sie (l,205f.). Offenbar konstituieren und stabilisieren beide memorialen Räume einander, genauer: die Selbstdistanzierung56 der Erinnerung zum Gedächtnis des Mythos läßt das Gedächtnis der geschichtlichen Zukunft zugänglich werden. Man kann diesen Stabilisierungsvorgang als einen Ausgleich zwischen den beiden memorialen Lasten im Bewußtsein des Helden verstehen. Dieser Ausgleich aber führt zu dem auffälligen Faktum, daß die Selbstdistanzierung des Aeneas auch die >Gegenwart< in die potentielle Vergangenheit verschlingt. Poetisch bedeutet dies, daß die Entlastung des »meminisse iuvahiu gerade nicht zur kontingenten >epischen< Handlung freisetzt.57 Diese bleibt im Verlies der 56 Andeutungen zu diesem Vorgang bei S. F. Wiltshire, Self-distancing in the Aeneid, in: Vergilius 30, 1984, S. 25-31. 57 Das wird in der Interpretation der deutschen Latinistik, der an der Präparation von >Römerwerten< liegt, ignoriert; vgl. K. Büchner: »Aus jenem Wissen (sc. vom fatum) führt er dann mit seiner Kraft und seinem Wesen als frommer Streiter
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mythischen Abgeschlossenheit - daher die anhaltenden Einformungen in die homerischen Szenen. Sie setzt frei eben zum Memorieren, zur Erwartung, zur Beobachtung, zum Gefühl, zur Stimmung. Sie destruiert den homerischen Helden zur »durchgehaltenen« Identität zwischen Mythos und Geschichte. Das Fazit - »durate, et vosmet rebus servate secundisU (1,207) - mündet in keinen selbständigen (oder gegenüber Homer: fiktionalen) Handlungsansatz. Solche Stabilisierung gelingt Aeneas in den ersten vier Büchern des Epos nur zeitweise und unvollständig. In der Tat kann die vielerörterte >Suche< des Helden, seine >Entwicklung< bei allmählicher Aufhellung des Fahrtziels, auch als stetes Schwanken zwischen Vergessen und Innehaben der Zukunftsverheißung, zugleich zwischen Überwältigung durch die trojanische Erinnerung und ihrer Distanzierung im Gedächtnis beschrieben werden. Und zwar vorrangig als eine Kette von Vergessens-Anfällen.58 Denn da ein Epos zu entfalten war, hatten die homerisierenden Szenen als Handlung - das fatum selbst gibt nur Gewißheit über die nach-epische, geschichtliche Zukunft - stets den kontemplativen Zug der Selbstdistanzierung zu unterbinden. Damit entsteht die kraß unwahrscheinliche Kette des im Wortsinne epischen Vergessens des Aeneas.59 Von der Erscheinung Hektors über die Verheißung der Creusa,60 das Augurium am Ende des 2. Buches bis zu den >black-outs< des [91] Irrfahrtenbuchs und der monumentalen Folgenlosigkeit der im descensus enthüllten Heldenschau auf die Handlung im zweiten Teil des EDOS61 ist die Amnesie des Helden62 nicht seine Aufgabe durch.« (Der Schicksalsgedanke bei Vergil, in: Wege zu Vergil, hrsg. von H. Oppermann, Darmstadt 1963, S. 294). 58 Vgl. schon E. Henry [Anm. 54], S. 131: »customary oblivion«. Das habituelle Vergessen des Aeneas ist jedoch nie zum Bestandteil der Aeneaskritik geworden. 59 Im Wortsinne: nämlich die Form des Epos aufrechterhaltend. Gleichwohl auch in dem Sinne, in dem Th. W. Adorno die Formulierung zur Charakterisierung von Walter Benjamins >Verwahrensvergessen< einführte. 60 Ein besonders krasser Fall, da ihre Verheißung nicht nur sehr explizit ist, sondern sie als erste Gattin zusammen mit ihren Prophezeiungen dem anhaltenden Vergessen verfallen wird. Hier fragte bereits Servius: »cur Aeneas horum non meminit?« - Es kommt hinzu, daß Aeneas dieses Vergessen selbst in Form einer Rekapitulation (Buch 2) erzählt - weder gleicht also der Held als Erzähler die Inkonsistenz aus, noch der Epiker im Rahmen der auktorialen Klammer. Vgl. M. Wifstrand-Schiebe, Der Blackout des Aeneas, in: Eranos 81, 1983, S. 113-116. 61 Ein Maximum an personaler Inkonsistenz ist erreicht, wenn Aeneas die Schilddarstellungen im achten Buch erinnerungslos durchmustert, die mit der im descensus des sechsten Buchs ihm enthüllten (und von ihm kommentierten) Heldenschau z.T. identisch sind.
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nur die Kehrseite des schon erörterten permanenten Memorierens römischer Zukunft gegenüber dem Leser. Vielmehr manifestiert sie sich in den (hermeneutischen) Abschattungen63 des Verfehlens, der falschen Deutimg, auch in Ansätzen zu psychologisch detaillierter Verdrängung64 als Möglichkeit homerischer Kontingenz> die am Ende des fünften Buches dem Ziel der fata noch so entfernt ist wie im ersten. Als Musterfall des heldischen >Sich-Vergessens< gilt seit jeher die DidoEpisode des vierten Buchs. Gewiß ist sie das; so sehen es Fama (»immemores«, 4,194) und Jupiter-Merkur selbst. Der Göttervorwurf »rerumque oblite tuarumf« (4,267) hält indessen Aeneas nicht nur die habituelle Unfähigkeit vor, dasfatum ständig zu memorieren. Vielmehr hat Vergil im Dido-Buch eben den bereits genannten entscheidenden Aspekt, die Bewältigung auch der Gegenwart als künftiger Erinnerung, thematisiert; hierin liegt die das übrige Epos weit übergreifende Modernität und intertextuelle Intensität des Dido-Buches beschlossen. Aeneas hat mit dem Beginn der Liebesbeziehung den >trojanischen< Horizont der mythischen Identität grundsätzlich hinter sich gelassen;65 seine >römische< Identität ist vor der Handlung in Italien noch nicht endgültig gefunden. Indiz dieser Situation ist die neuartige Offenheit des Handlungsraums, in dem Dido so wenig die Frauen, denen Odysseus verfallen ist, kumuliert, wie ihr Karthago allein eine Projektion der durch dzsfatum bestimmten künftigen Konkurrentin Roms ist. Dido bedeutet also erstmals - und letztmals - in der Aeneis die offene, nicht memorial festgelegte Gegenwart. Aeneas trägt nicht mehr Anchises auf den Schultern (den er eben vor der Ankunft in Karthago »verliert«; 3,710); er führt Ascanius, den Garanten der fata-Zukunh (vgl. l,267ff.), nicht mehr an seiner Hand; Venus hat ihn durch Cupido in Sohnesgestalt ersetzt (l,657ff.). Das statuarische Sinnbild der Aeneas-Karyatide auf der Flucht aus Troja, das nun als memoriales Denkbild sichtbar wird, ist im vierten Buch aufgelöst: Cupido-Ascanius fälscht die memoria der Zukunft ebenso wie der in phönizische - nicht mehr die phrygischen! - Gewänder geklei-
62 Zur gesamten Kette des Vergessens: D. Quint, Painful memories, in: Classical Journal 78,1982, S. 30-38; E. Henry [Anm. 54], S. 5ff. 63 Aber auch in thematischer Darstellung von »Nicht-daran-Denken« und fast beiläufiger »Wiedererinnerung« im Fall des Anchises (vgl. 3,107 und 182ff.). 64 Zu Aeneas vgl. die Cclaeno- und die Helenus-Episoden des dritten Buchs. Vergil hat diesen Aspekt bis zum rebellischen Widerspruch in der Gruppe der trojanischen Frauen gestaltet, die die Weiterfahrt verweigern. 65 Hierzu unten HI. 40
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
dete Aeneas66 die der Vergangenheit. [92] Die vor der Ankunft in Karthago erreichte Stabilisierung zwischen mythischem und geschichtlichem Bewußtsein läßt eine Balance zu, deren Stillstand die Gegenwart als unbestimmte Offenheit kennzeichnet. Daß Aeneas sie nicht ebenfalls als künftige Erinnerung von sich distanziert, daran erinnern ihn die Götter. Dies aber geschieht wiederum in der anfallartigen Überwältigung, wie wir sie im Seesturm beobachteten.67 Aeneas zeigt die gleichen physischen Begleitphänomene (4,279ff.); er erblickt schon bei den Worten des Gottes seine gegenwärtige Tätigkeit beim Mauerbau in Karthago als abgeschlossen. Und in Merkurs Ermahnung (4,272ff.; bezeichnenderweise ebenso in Aeneas* eigener Verteidigung vor Dido, 4,35 lff.) wird die memoriale Gruppe Anchises-Aeneas-Ascanius wieder konstituiert, genauer: ihre Wichtigkeit über alle individuellen otia (4,271) des Helden hinaus betont. Was die Liebesgeschichte nun beenden wird,68 ist in der Tat erneut die >Starre< der Karyatide:69 die knappen Entschuldigungen des aufbrechenden Helden stellen die gegenwärtige Situation der Geliebten bereits als Vergangenheit dar (vgl. unten TD). Was während der Zeit der Liebesbeziehung von Aeneas sichtbar wird, führt nur das Minimum vor Augen, das die Ausnahmesituation dieses Buches an personaler Kontinuität erfordert: Aeneas spricht nicht, spricht vor allem von seiner Liebe nicht (das tut er erst später), wird zum Objekt.70 Umso farbiger stößt in die Offenheit dieser Gegenwart zwischen Mythos und Geschichte Dido vor - eine späte, hellenistisch-moderne Figur, mit der sich das vierte Buch als memoriale Leerstelle des Epos der Intertextualität, vor allem zur Tragödie hin, öffnet.71 Sie besetzt ihren Platz im Epos nicht mit Kontingenz, sondern mit Rhetorik; ihre Person ist in ihrer rationalistischen und individualistischen Götterkritik weit über den mythistorischen Horizont ihres Partners in die Zeitgenossenschaft des Dichters vorgetrieben. Mit der zweiten >Erinnerung< in der Aeneis, die durch Merkur erfolgt, 66 4,261ff. 67 Merkur fährt herab wie das Unwetter (4,253); die überrumpelnde Gottesepiphanie, nicht in Form der Begegnung, ist in der Aeneis einzig. 68 Zur Isolierung der Personen voneinander vgl. S. G. Farron, The AeneasDido episode, in: Greece and Rome 27, 1980, S. 34-47. 69 Sie wird noch unterstrichen durch die erneuten Leerformeln psychischen Kampfes (vgl. 4,390ff.) und den epischen Vergleich (4,441ff.). 70 Vgl. E. L. Harrison, VergiPs Mercury, in: Vergilian bimillenary lectures W82, hrsg. von A. G. McKay (Vergüius Suppl. II), College Park/Md. 1982, S. 1-47. 71 Vgl. nach wie vor die Zusammenfassimg Heinzes [Anm. 9], S. 116ff. 41
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN kündigt sich ein abschließender Zustand in der memorialen Struktur des Helden an. In ihr sehen wir Aeneas über beiderlei Gedächtnis (seiner trojanischen Herkunft sowie seiner römischen Zukunft) verfügen - aber er memoriert so wenig mehr aus ihm, wie er etwas auslöscht. Sein Gedächtnis ist ab Buch 5 zunehmend, vollends ab Buch 7, ohne Erinnern und Vergessen; aber es wird ihm, der sich der verheißenen Apotheose nähert, zur metete, einem voll der Gegenwart hingegebenen Handeln, das ihn in der zweiten Werkhälfte Juno vergleichbar macht. Unmittelbar nach Merkurs Epiphanie sehen wir [93] ihn - erstmals - planen, veranlassen, auch (vor Dido) taktieren.72 Die epischen Szenen werden auch im zweiten Teil der Aeneis homerische Szenen nachvollziehen, wenngleich ihr Zuschnitt nach den italischen Gründungsüberlieferungen und im Hinblick auf Augustustypologien zunehmen, sich also stärker an der geschichtlichen Zukunft orientieren wird. Aeneas selbst aber wird in seinem Bewußtsein73 nicht mehr ihr Thema sein; er ist zum geschichtlich Handelnden gewandelt.74^] 72 So auch alsbald gegenüber Jupiter, um ihn auf die Durchsetzung der fata festzulegen: Aeneas »erwägt« (!) 5,702ff., »ob er seine fata vergessen soll« - nämlich ostentativ, durch Abbrechen der Fahrt. Das geforderte Regenwunder tritt sogleich ein; die für das sekundäre Epos typische Wandlung der Götterinterventionen zum merveilleux kündigt sich an, das um so schärfer hervortreten kann (vgl. 9,123ff.), als die Handlung sich der Historie nähert. 73 Wo es noch einen Ausdruck findet, hebt es sich gerade im Verhältnis zur eigenen >trojanischen< Vergangenheit von der ersten Werkhälfte ab: man vergleiche die Selbstvorstellung des Aeneas vor Euander 8,127ff. mit jener vor Dido. Nunmehr offeriert der Held seine Genealogie^ führt sie mit diplomatischer Überlegung bis zu dem Punkt, an dem sich Euander des Anchises erinnern kann (8,155ff.; dreimal variiert). Der Umgang mit der eigenen (mythischen) Vergangenheit erfolgt planvoll: es handelt sich jetzt um ihre Nutzung, um historisch zu setzende Fakten, das Bündnis mit Partnern, die nicht mehr von vornherein am universalen (Leser-) Wissen von Aeneas partizipieren. Daß Vergil diesen Wissens-Horizont einschränkt, bedeutet, daß der Leser nicht mehr zur Kontemplation eingeladen, sondern gespannt wird auf die Vorbereitung der römischen Frühgeschichte. Dieser Horizont ist Livius bereits näher als Homer. 74 Das Zwielicht von Mythos und zunehmender Geschichtlichkeit in der zweiten Werkhälfte ist zwar in der Forschung von der Kontroverse um die Wandlung des Aeneas überschattet worden (s. Anm. 163), fand aber Beachtung (eine zusammenfassende Untersuchimg fehlt); vgl. Heinze [Anm. 9], S. 172ff.; Otis [Anm. 3], S. 313; Gransden [Anm. 6], S. 39ff. Dieser Teil ist überwiegend »streng quellenmäßig« (Heinze, S. 248) fundiert. Dies stellt sowohl vor Probleme hinsichtlich der invenfio, bis hin zur Namensfindung (s. Anm. 30), wie auch vor das Paradoxon, daß die Kampfbücher zugleich »einförmig« und »unübersichtlich« (Heinze) wirken können 42
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
- ein Indiz für einen zunehmenden Kontrast von zur Geschichtlichkeit tendierenden Erzählabläufen zu solchen des Epos. >Episierung< (ein typisches Kennzeichen des sekundären Epos) wird dann nicht nur sichtbar, wenn gleichwohl homerisien wird. Diese Spannung erzeugt vielmehr neue Darstellungsformen. So 1) die Ätiologie (vgl. zu ihr Binder [Anm. 33]); sie tritt erst ab dem fünften Buch auf und leistet ähnlich der Genealogie als historische Denkfigur die Verklammerung von (Zeit-)Geschichte und epischer Zeit. 2) Es kann kein Zweifel sein, daß die unter den bequemen, oft schiefen Abbreviaturen Romantik und Sentimentalität erfaßten Phänomene, wie sie sich seit dem 7. Buch häufen, mit dieser Spannung zusammenhängen. Die Idyllik eines Ur-Rom, wie sie auch die römische Elegie ausgearbeitet hat, entspringt einer Darstellungsform, die zwischen Projektion und Rekurrenz pendelt. Das erste Beispiel der Aeneis - Anchises zeigt dem Sohn die Latinerstädte mit den Worten »haec tum nomina erunt, nunc sunt sine nomine terrae« (6,776) - entfaltet sehr schön diese Dialektik, wie sie im Euander-Buch vorherrschen wird: den >romantischen< Blick des Lesers richtet der epische Held auf etwas noch nicht Vorhandenes; mit dem Blick des Lesers kann er es aus dem Noch-Nicht herausgreifen, und mit dem Blick des Helden kann andererseits der Leser die Gegenwart zum Verschwinden bringen was dann bleibt, ist der Name als Chiffre bedeutender Geschichte. Sentimentalität - der Ausdruck sollte nie für die kontemplativen Affekte des Aeneas selbst gebraucht werden - wird dem Leser mit diesem Hin- und Herwandern des Blickes in dem Maße eingeformt, in dem Aeneas* memorativer Innenraum in der zweiten Werkhälfte verschwindet; nun bedenkt der Dichter (unisono mit dem Leser) in Apostrophen häufig direkt seine Gestalten, die Aeneas am Wege liegen lassen muß (zuerst am Beginn des siebten Buches - nicht zufällig im Zusammenhang mit einer Ätiologie). 3) Das objektive Widerlager dieser Stimmungsmomente sind Ausdrucksformen der Distanz und der Aktualisierung. Distanz von der mythischen Welt repräsentieren die geschichtlich Handelnden in der zweiten Werkhälfte allenthalben (Drances etwa könnte eine Figur aus der ersten Dekade des Livius sein). Vor allem die Feinde der Aeneaden: dies macht ihre Modernität aus, die im Falle des Turnus vielleicht stärker beachtet werden sollte als seine moralische Bewertung. »Nil mefatalia terrent« (9,133) bezeugt nicht nur eine frevlerische Anmaßung; er lebt in einer eigentlich entgötterten Welt (für die seine Verehrung der Fortuna - vgl. 11,413 und 427 der Inbegriff ist), vor allem in einer gegenmythischen Welt, in der virtus sich aus rationalen Gründen, ohne Machinationen, »luce palam« (9,153) verwirklicht. Mit Troja sind auch die zeitenthobenen Geschichten des Mythos auf dem italischen Schlachtfeld an ein Ende gekommen, wird Lucagus höhnisch Aeneas bedeuten (10,58lff.). Solche Distanz aber verklammern gerade die Feinde des Aeneas auf ihre Weise mit dem Mythos. Hier bleibt es nicht bei dem blanken Anspruch, ein Mensch, vielmehr: ein epischer Held wie Aeneas zu sein (vgl. »et nos ...«, 11,50), um eigene fata zu wissen (9,136f.). Turnus aktualisiert den Mythos, indem er ihn auf sich appliziert: sein ironischer Ausruf »nunc et Myrmidonum proceres Phrygia arma tremescunt« (11,403) setzt sich selbst als Wiederkehr des griechischen Helden (vgl. ll,438f.: Aeneas möge sich als >Achilles< gerieren; er, Turnus, sei »haud ulli 43
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
m »invenit me et excogitavit me« Himmelfahrt Mosis 1,14 »5t cogitari potest, necesse est illud* Anselm von Canterbury, Ad Gaunilonem 1 Wenn Inkonsistenz in der Gestalt des epischen Helden die Interpretation geradezu zur Supplementierung im Sinne einer >Entwicklung< genötigt hat, könnten auch die vorstehenden Beobachtungen nicht nur die Entfaltung eines >sekundären< Epos, sondern auch eine Entwicklung des Helden beglaubigen. Angemessen wäre solche Interpretation freilich unter dem Aspekt der memoria nicht. Offenkundig war es doch die Interferenz dessen, was wir als die memorialen Räume des Mythos und der Geschichte bezeichneten, die auch dem Menschen Aeneas, selbst in dem »literal reveterum virtute secundus«) - es liegt eine panegyrische Applikation vor. Ihre Kehrseite, die Mythenapplikation der Invektive, läßt sich in der Schmähung des Aeneas durch Amata als eines zweiten frauenraubenden Phrygiers (des Paris; 7,363f.) beobachten. Die angedeuteten Denk- und Darstellungsformen führen aus dem Epos heraus, genauer: sie sind Ausdruck der Spannung, unter der sich die mythistorische Einheit der Aeneis aufzulösen beginnt. Was sie ablösen, ist die alte Darstellungsform nachvollziehender Identität. Als steigernde Typologie vermochte diese zwar auch die römische Zukunft einzubeziehen, und so wurde sie, gerade in der zweiten Werkhälfte, vom Dichter nicht selten gesetzt. (Hier liegt der Unterschied zu den rhetorisch-applikativen Selbstapplikationen der Figuren, die den Mythos für ihre Einzelaktionen aktualisieren; Vergil hat die Grenze zu einer Augustuspanegyrik, die ihm die zu feiernden Aktionen vorgab und von ihm allenfalls die Aktualisierung mythischer Beliebigkeit forderte, nie überschritten.) Aber die in ihr vereinten memorialen Räume des Mythos und der Geschichte drängen zur Verselbständigung. Wie weit dieser Weg am Ende des Epos schon beschritten war, zeigt eine unscheinbare Episode, die den memorialen Horizont der in die Geschichte drängenden Latiner andeutet (12,222ff.). Juturna spricht die rebellischen Gedanken des Rutulervolkes aus, das Turnus zögernd sich dem Zweikampf mit Aeneas weihen sieht. Das Volk will, nach nüchterner Schätzung des Kräfteverhältnisses, den Kampf selbst führen; an »requies« und »salus* (12,241) ist ihm nicht gelegen. Werde Turnus fallen, werde seiner zwar für immer gedacht (»vivusque per oraferetur^ 12,235); was aber nütze das - das Volk selbst würde als die Besiegten beherrscht werden. Hier dringen die Handelnden in die kommende Geschichte hinein wie der Schwann der künftigen Römer im Unterweltsbuch (s. unten V), und sie drängen auf die Beherrschung der Geschichte. Der epische Held »ad superos ... / succedet fama« (12,234f.), ihm mag das Elysium, die memoria bleiben. 44
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
lease from time«73 des vierten Buches, die Spuren eines Erinnerns und Vergessens [95] einzeichnete, deren Muster ein >Davor< und ein >Danach< umfaßt. Daß diese Spuren in die Person des vergilischen Helden, bis zum Kern seiner Identität, >von außen< hineingearbeitet wurden, zeigt die Kongruenz seiner >Entwicklung< mit der Ummontierung vom Trojaner zum Römer. Der Ausdruck trifft recht genau76 den vorsubjektiven Identitätssprung, den - im Horizont der Leser-memorw! - der phrygische Heros im Verlauf des Epos zum Römer (als conditor urbis wie als primus Augustus) vollzogen haben muß. Dieser Sprung wird in der Tat nicht zum Entwicklungsschritt verlangsamt und im Handlungsgang sichtbar gemacht, sondern durch Selbstbezeichnungen des Helden angezeigt; und diese sind nichts anderes als typologische Distanzierungen, Steigerungen und Identitätsfestlegungen, die sich vollständig der Hermeneutik zwischen Leser und Autor verdanken.77 Als solche entsprechen sie aufs verblüffendste den Denkformen der innerbiblischen Typologie,78 durch die seit der Urgemeinde das A T neu interpretiert wurde - nicht allerdings, wie in der Aeneis, interpretiert (als Selbstbezeichnung des Helden) und zugleich dargestellt (im Nachvollzug der homerischen Aktionen).79 75 G. K. Galinsky, Vergil's Romanitas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. n 31.2, Berlin 1981, S. 1008. 76 Vgl. die Spezialuntersuchung von W. Suerbaum, Aeneas zwischen Troja und Rom, in: Poetica 1,1967, S. 176-204. 77 Vgl. zur epischen Einformung der vergilischen Typologie oben I. 78 Troja ist vornehmlich »vergangen« (»fuimus Troes«, 2,325 - in einem Kontext, der den Begriff viermal mythologisch variiert; vgl. E. Henry [Anm. 54], S. 45); es bleibt die Hoffnung, daß es - als Troja - »wiederauferstehen« wird: 1,206 (Seesturmszene; vgl. noch 10,27 und 58); Troja wird dann »nur in uns«, d.h. im persönlichen Überleben der Flüchtlinge weiterbestehen (2,703); es folgen spiritualisierende Steigerungen (der Kern der typologischen Transformation auch im NT): •altera Troiae / Pergama« (3,86f.); *aeterna Pergama« (8,37); seit dem zehnten Buch bezeichnet Aeneas sich, bezeichnet vor allem aber der Dichter Ascanius als »Römer«. 79 Der >steigernde< Nachvollzug (über die Interpretation hinaus als Darstellung) ist in der Geschichte typologischer Literaturformen erstmals in der Aeneis anzutreffen; und es ist evident, daß er der Geschichtlichkeit futurischer memoria entspringt. Er wird - in der Form projizierter Handlungen - in die historische Fiktionalität providentieller, z.B. auch millenaristischer Historiographie münden, während das Parallelphänomen allegorischer Darstellung (Konstruktion; im Gegensatz zur interpretierenden Allegorese) einen raschen Weg in fiktionale Bildlichkeit ermöglicht. - Einen Ansatz zur Darstellungsform >Nachvollzug< lassen im NT einzig die pleromatischen Vollzüge von Psalmistenworten in der Passion (z.B. das Zerteilen des Gewandes) erkennen. 45
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
Gleichwohl lohnt der Blick auf die memorialen Zustände des Helden noch ein weiteres Mal. Denn wenn sich die Bewältigung der Erinnerung an die mythische Identität, ihre Bewältigung nämlich als Gedächtnis des Mythos in der Differenz zu ihm, als der entscheidende Einschnitt im Gesamtprozeß erwiesen hat, so hat Vergil diesen Schritt darüber hinaus als ästhetischen Vorgang dargestellt. Dies geschieht vor der Begegnung mit Dido, im ersten Buch der Aeneis. Der Gestrandete sucht, wie Odysseus bei den Phäaken in Nebel gehüllt, Karthago auf und stößt am Junotempel auf ein Kunstwerk, den Tempelfries. Ausführliche Beschreibung plastisch-mythologischer Kunstwerke gab es in den epischen Formen der Antike zuvor vermutlich nicht (die Schildbeschreibung ist seit Homer vielmehr ein [96] Einfallstor für die Lebenswelt des Lesers gewesen).80 Sie treten auch Aeneas als gänzlich unvermutete Kontingenz (»nova res«, 1,450) entgegen, deren Unwahrscheinlichkeit bereits die antiken Kommentare bemerken: dargestellt sind, bereits »weniger als ein Jahr« (Servius) nach dem trojanischen Krieg, die Szenen seines Endes. Aeneas »erkennt« jedes Detail, das er im einzelnen besichtigt (»lustrat dum singula«, 1,453), »wieder« (»agnoscit«, 1,470; »agnovit«, 1,488). Wiederum wird er von Erinnerung überwältigt (»lacrimans«, 1,459) - aber sie tritt ihm sogleich gestaltet gegenüber, in sich abgeschlossen, von ihm separiert und vergangen.81 Denn in denkwürdiger Doppelung macht Aeneas sich selbst unter den Handelnden der Darstellung aus.82 Es ist die erste Selbstbegegnung der europäischen Literatur vor der aula memoriae Augustins. Den ästhetisch konstitutiven Charakter dieser Selbstbegegnung hat Vergil in durchaus neuartiger Weise hervorgehoben: 1) Als Tempelfries ist das Geschehen in eine Distanz des Mythos gerückt, die Vergil durch die Auswahl der Szenen diskret bezeichnet hat: von der Ermordung des Priamus über das Schicksal des Troilus, Memnon, den Amazonenkampf bis zu Penthesilea ist die >Ilias< als epischer Rahmen so unübersehbar ausgespart, daß die dargestellten Szenen ihrerseits als gestalteter (»ex ordine«, 1,456) Artefakt betont werden. 2) Das Wiedererkennen der Bilder, in Form ihrer Beschreibung, integriert den 80 Das Kunstwerk im Erzählwerk harn als nachvergilische Darstellungsform für die Antike der Untersuchung; bisher wurden, zumeist noch in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon, die ekphrastischen Verfahren diskutiert; vgl. Heinze [Anm. 91 S. 398ff. 81 Vgl. B. Fenik, Parallelism of theme and imagery in Aeneid II and IV, in: American Journal of Philology 80, 1959, S. 1-24. 82 »Se quoqueprincipibus permixtum agnovit Achivis« (1,488). 46
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
Leser in dem Maße, daß Aeneas selbst nicht ekphrastisch verfahrend, sondern erzählend, ja lesend und gleichsam seine Wiedererinnerung noch einmal erinnernd vorgeführt wird: »we are left with the feeling that Aeneas is recolleaing it afterwards.«83 3) Aeneas besichtigt nicht etwa das, was er im zweiten Buch erzählen wird - die Troiae Halosis aus seinem beschränkten Erlebnishorizont -, vielmehr stehen die Handlungen auf dem Fries in einer objektiv-mythischen Perspektive, wie sie etwa der homerischen Teichoskopie eigen ist. 4) So sehr die affektive Hingerissenheit84 dieser Erinnerung der Reaktion im Seesturm nahekommt (»ingentem gemitum dat pectore ab imo«, 1,485): sie wird doch durch den Scheincharakter des Kunstwerks balanciert i^animum pictura pascit inani«, 1,464). 5) Aeneas verliert »jetzt erst« (»primum«, 1,450; wiederholt im folgenden Vers) seine Furcht, daß ihn Trojas Untergang einholt, die Hoffnung auf die fata siegt in ihm (l,450ff.). Juno ist in den Bereich der Kultverehrung zurückgetreten; was der Held gewesen ist, kann am Fries ihres Tempels einen Platz finden. Die Summe dieser ästhetischen Distanzierung zieht der meistzitierte, aber anerkanntermaßen kaum übersetzbare Vers des Epos (1,462): »sunt lacrimae verum et mentem mortalia tangunt.« [97] Daß der Mensch durch Geschehenes nicht ertaubt, ja daß das Geschehene etwas in sich parat hält (»rerum« als gen. subj.), das es als Gedenken (gen. obj.) sprechend machen wird, kann als gemeinsamer Boden der bisherigen Interpretationen gelten.85 In der Tat formuliert Aeneas* Ausruf (während des Erkennens und Nachtastens am Fries) im Sinne der älteren deutschen Wendung »es gedenkt mir«86 die Macht des Gedächtnisses, das sich der Held in der Distanzierung von seinem Erinnern geschaffen hat, und das sich im Gedenken wie im Vergessen meldet (vgl. oben I). Aber bevor der Vers, wie üblich, zugleich als Zeugnis einer >typisch vergilischen Sentimentalität< weitergedeutet wird, sollte er im Kontext betrachtet werden (1,461-463): 83 R. D. Williams, The pictures on Dido's teraple, in: Classical Quarterly N.S. 54, 1960, S. 148. 84 Vertieft durch Isolierung und Verengung des Blickfeldes beim betrachtenden Helden (l,494f.). 85 Vgl. A. M. Negri, Sunt lacrimae rerum, in: Studi Italiani di Filologia Classica 81, 1988, S. 240-258; R. Rieks, Tränen [Anm. 49]; D. J. Stewart, Sunt lacrimae rerum, in: Classical Journal 67, 1971/72, S. 116-122; absurd: H. Funke, Sunt lacrimae rerum, in: Klio 67, 1985, S. 224-233. 86 Vgl. zu diesem Ausdruck K. Stierle, Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann (Poetik und Hermeneutik 15), München 1993, S. 117-159, hier: S. 117. 47
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN
»en Priamus. sunt hie etiam sua praemia laudi, sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. solve metus;feret haec aliquant tibifama salutem.« Priamus' Tod wird plastisch vergegenwärtigt, aber bereits aus einem Gedächtnis, welches das Geschehene als einen objektiven Besitz konstituiert, es als sinnvoll rekonstruiert und ästhetisch als notwendig abschließt. Zur Erläuterung: was der Fries darstellt, ist, wie alles Vergangene, in einem Gedächtnis, das potentiell universal, »menschlich« ist.87 Und zwar blitzt es nicht mehr in der sinnlosen Abgerissenheit der vagabundierenden Erinnerung auf, sondern es wird als praemia, als fama rekonstruiert; sein Sinn ist Nachvollzug als Preis und Ruhm.88 Dem Griechen ist diese Sinngebung bereits als Gedachtnisleistung etwas Ästhetisches: Aoide, eine Tochter der Mnemosyne. Schließlich aber formuliert solches Gedächtnis das Vergangene selbst in seiner Darstellung über die homerische narratio hinaus als laus. Diese gibt ihren Gegenständen eine Kontur der Notwendigkeit, die nicht etwa auf verklärende Zurüstung und Übermalung hinausläuft - im Gegenteil: Züge dessen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt (vgl. 1,493), dem Tod anheimgegeben war (vgl. 4,475), kumulieren sich zur >Rührung< des Lesers (»tangere«; »lacrimae«). Die vergilische - wie überhaupt die antike - Ästhetik versteht sich als distanzierenden, aber überaus affektiven Nachvollzug. Erst nach seiner Selbstbegegnung im Kunstwerk ist Aeneas der Erzählung seiner Vergangenheit fähig, mit der Vergil im zweiten und dritten Buch, wie bekannt, narratives Neuland betritt: der memorierende Held vermag nun, weit über den erzählenden Odysseus hinaus, in erlebter Rede und unter Implikation des Lesers89 [98] eine Selbstdeutung seines Handelns zu geben, die ihn sich selbst in einer überwundenen Phase zeigt und die Notwendigkeit einer Entwicklung rekonstruiert. In ihr eröffnet die Distanzierung zum Mythos im Sinne der Selbst recht fertigung (vgl. besonders 2,432ff.) ebenso ästhetischen Raum wie das Gedenken an Priamus im Sinne der laus.
87 Die Potentialität wird durch die Unwahrscheinlichkeit des Frieses zum Zeitpunkt des epischen Geschehens unterstrichen: die räumliche Universalität (»quae regio in terris nostri non plena laborist«, 1,460) umfaßt auch die zeitliche des Lesers. 88 Weiterführend: J. W. Hunt, Forms of glory, Carbondale/Ül. 1973. 89 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. 72ff. 48
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN Der Erzähler also kann den Bezirk, der mit der Selbstbegegnung am Fries gewonnen wurde, verdoppeln.90 Diese jeder ästhetischen Dimension eigentümliche Fähigkeit zur Reduplikation und Reflexivität wird in der Aeneis sogleich sichtbar, wenn es heißt, daß Aeneas' Bericht »mehrfach wiederholt« wird (4,78f.), ebenso Kunstwerke mit mythologischen Darstellungen (»facta patrum«, 1,641). Solche Darstellungen tendieren bald zur Perfektion, zur Rationalität eines >Weltgedichts< (vgl. 1,642: »antiqua ab origine gentis«). Und am Ende stellt sich auch die Figur des Dichters, schon beim Gastmahl in Karthago, ein (Iopas; l,740ff.). Er ist nicht mehr der homerische Sänger, dem die Musen Geschichten der Göner gaben. Er hat auch den Mythos, selbst die Genealogie ab ovo, hinter sich gelassen. Er trägt ein Lehrgedicht >de verum natura< vor. Die memoria der Aoide hat sehr schnell die Weltsicht des zeitgenössischen Lesers erreicht. Es ist wohl der gelungenste Zug der Aeneis> wie Vergil diesen neuen memorialen Raum des Ästhetischen mit der Handlung des Epos vermittelt hat, und zwar mit dem Beginn der Dido-Handlung, die den Helden, wie zuvor erörtert, vor die Aufgabe stellt, die - ihm episch auferlegte - Offenheit gegenwärtiger Faktizität zu durchstehen. Wie Odysseus auf Scheria von Athene, wurde Aeneas von Venus in die Nebelwolke gehüllt.91 In ihr entrückt betrachtet er sich im Fries. Und aus ihr wird er enthüllt, als Dido aufgetreten ist. Die Wolke zerteilt sich, sodaß Aeneas aus dem Fries heraus der Königin erscheint (l,585ff.), man kann sagen, aus den künstlerisch gestalteten Figuren des Mythos hervortritt (l,588f.): »claraque in luce refulsit os umerosque deo similis«. Es ist das einzige Mal, daß Aeneas9 Äußeres beschrieben wird - und zwar als eine Epiphanie des ästhetisch Vollkommenen, die im Vergleich mit dem Werk eines Bildhauers endet (1,589-593). Dido wird fortan in Aeneas den in seiner fama arretierten Heros des trojanischen Mythos sehen, und in diesem Blick erwacht ihre Liebe (nämlich durch seine Erzählung: 4,lff.). Daß er in die Gegenwart ihrer Existenz treten kann, die sie sehr wohl als andersartig, »kleiner« empfindet,92 90 Richtig Ricks, Die Tränen [Anm. 49], S. 189. 91 Die >Wolke< wird von Vergil in die Nähe eines theatralischen a parte gerückt (Aeneas sucht vergeblich, mit der Umgebung in Rontakt zu treten: l,514ff.; die Reden, die er belauschen muß, sind auf ihn als impliziten Hörer hin komponiert), das seine Isolierung unterstreicht. 92 Vgl. l,731ff. 49
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN erscheint ihr anfangs unglaublich; es bestimmt aber bis zum Ende ihr gleichsam statuarisches Bild von der mythischen Geschlossenheit [99] und Verfügbarkeit des Geliebten. In dieses Bild paßt nicht die futurische Dimension der fata; noch in ihren Vorwürfen bei der Trennung zielen ihre Argumente auf den >Trojaner<.93 Was Aeneas in solcher Interpretation durch die ihm Begegnenden geschieht - nach Dido wird ihn fast jeder Feind in den Kampfbüchern auf seine trojanische Identität festlegen -, ist eine Verstärkung des Prozesses, durch den ihm ein Teil seiner selbst zum Gedächtnis wird. Ja, Aeneas ist im Begriff, die memorative Distanzierung sogar von seiner (epischen) Gegenwart, auf die Merkurs Mahnung abzielte, eigentlich schon vor Beginn der Liebesbeziehung zu leisten: als Hilfeflehender rückt er bei seiner Enthüllung vor Dido die Gewährung seiner Bitte bereits in die Vergangenheit; die Zeit in Karthago kann schon, bevor sie sich entfaltet, als ein labor unter anderen antizipiert und damit bewältigt werden.94 Bewältigt und sehr ähnlich einer ästhetischen delectatio erlebt: der Generationen von Lesern fatale düstere Genuß, den Aeneas offenbar bei der Trennung von Dido empfindet,95 ist ein memorativer: Aeneas wird der ihm in der Unterwelt erscheinenden Selbstmörderin nichts anderes sagen können als der Lebend-Verzweifelten. »Delectat bonos audire mala praeterita, quia fuerunt et non sunt.«96
IV »Gespenster/ Gleich erstarrten Bildern steht ihr da, Geschreckt vom Tag zu scheiden der euch nicht gehört.« J. W. von Goethe, Faust II, V. 8930f. Zwischen Mythos und fatum, zwischen Erinnern und Vergessen, hat Aeneas ein eigenes Gedächtnis ausgebildet, das auch ihn selbst und auch seine epische Gegenwart umschließt: eine Dekonstruktion des homeri93 Vgl. 4,311ff. 94 Vgl. l,609f.: »nomenque tuum laudesque manehunt, / quae me cumque vocant terrae.« Es erhält jetzt seinen Sinn, daß der Ausruf über die »lacrimae rerum« mit der Zuversicht schloß, die fama werde auch in der bevorstehenden Situation seine »Rettung irgendwie« ermöglichen (1,463). 95 Der den Dichter von einer verzehrenden Liebe des Aeneas erst sprechen läßt, als sie memoria ist - und zwar nach einem ruhigen Schlaf des Helden (4,554f.). 96 Aug. conf. 10,3,4. 50
AENEAS' EPISCHES VERGESSEN
sehen Helden, die ihm eine typologische Kontinuität bis zu Augustus wahren wird, seine personalen Konturen jedoch weitgehend zerbricht. Was davon unberührt bleibt und nicht zuletzt die faszinierende Wirkung des Aeneas ermöglicht hat, ist seine eigene, zunehmend ästhetisch vergegenwärtigte memoria. Sie nämlich steht quer zum mythistorischen, auf Rom hindrängenden Prozeß der Aeneis. Sie ist nicht dekonstruierbar. Ihre Selbstbilder und Selbstdeutungen schaffen zwar dem Helden eben jene Isolierung, die ihn beschleunigt in die römische Geschichte transportieren wird. Aber diese Bewegung geschieht, wie [100] bei Benjamins Engel der Geschichte,97 gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, den Blick in die Irrtümer und Trümmer der mythischen Welt, die gerade dieser Blick erinnernd aufhäuft. Die poetische Folge dieses kommemorativen Blicks sind jene fesselnden und zugleich gespenstischen Gestalten, in denen der alte Mythos während der erzählenden Selbstdeutung des Aeneas im zweiten und dritten Buch in eigenen Personen hervortritt und ihm in seiner Erinnerung (vor allem in der Erzählung vor Dido) begegnet. Auch diese Begegnung wird ihn beschleunigt als Römer isolieren. Aber sie konkretisiert zugleich mit großer Präzision gerade die Daseinsform, an die er sich in seinen ersten Erinnerungen klammerte, das von den fata nur überschattete (nicht dekonstruierte) Leben einer abgelegenen quies. Gespenstisch aber werden diese Figuren, ähnlich der Helena der klassisch-romantischen Phantasmagorie, dadurch, daß sie Aeneas im epischen Präsens der Handlung begegnen: an ihre mythischen Geschichten gebundene und nur ihnen zugekehrte Überlebende inmitten einer zukunftsgläubigen Handlung. Nicht nur die Irrfahrtenbücher, die gesamte Aeneis ist bekanntlich von Flüchtlingen bevölkert. Abgesehen von den Latinern (die selbst vom Auswanderer Dardanus abstammen) lebt keine Person, kein Volk eigentlich an seinem (mythisch tradierten) Ort. Das gilt neben den Aeneaden für Dido (l,619ff.), für die Stationen der Irrfahrt, für Sizilien, Diomedes und noch für einzelne Italerfürsten. Hintergrund sind nicht allein die homerischen Heimkehrergeschichten (nostoi) am Ende des trojanischen Krieges, die Vergil nun auch für das untergegangene Dion konstruiert.98 Vielmehr 97 W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I 2, Frankfurt/M. 1974, S. 697f. 98 Vgl. H. L. Tracy, Vergil and the nostoi, in: Vergilius 14, 1968, S. 36ff. - Die typologische Iteration der homerischen Epen setzt allerdings die hermeneutischen Voraussetzungen für das hier erörterte Phänomen der mythischen rejetons. Die Irrfahrten der Odyssee und ihr Personal werden beim Auftreten in der Aeneis durchweg durch die memoria des Homer-Lesers verformt: elliptische Andeutung, Konta51
AENEAS9 EPISCHES VERGESSEN
herrscht eine allgemeine, nachmythische Heimatlosigkeit, die nur in der memoria des Aeneas Gestalt gewinnt. Aeneas trifft, wie gesagt, zunächst sich selbst in dieser zukunftslosen Welt an. Er erinnert sich, wie er gleich nach der Ausfahrt - also unmittelbar nach Creusas Verheißung - ein Troja neu zu gründen und die Irrfahrt zu beenden versuchte." Die Gründung ist, wie erörtert, dem fatum gegenüber ein Vergessen; sie bleibt in der memoria des Aeneas bewahrt wie der Gründungsversuch auf Kreta als antiqua mater, [101] als Rückkehr zu den mythisch-genealogischen Ursprüngen.100 Diese Verkennung der fata resultiert bereits - nach Aeneas* Erinnerung - aus einer >Leerstelle< im Mythos: der kretische König Idomeneus, so >erinnern< sich die Aeneaden einer vereinzelten mythologischen Tradition, sei nach seinem nostos von der Insel vertrieben worden. Nunmehr tritt die Zukunftslosigkeit in der memoria des Aeneas (und seines Dichters) in selbständigen Gestalten hervor. Sie sind zunächst noch nicht Fiktionen, sondern entspringen Lokaltradition und antiquarischer Mythographie. Der sizilische König Acestes des fünften Buches ist trojanischer Auswanderer vor dem Krieg, und sein Reich kann die Heimat der rebellischen trojanischen Frauen werden.101 Auch der erste, der mit Aeneas das gleiche Schicksal teilt, König Antenor von Padua (l,242ff.), entspringt als trojanischer Flüchtling Lokaltraditionen. Aber seine Gestalt wird nun plastischer: er hat die Idyllik102 eines >neuen<, aber geschichtlich unbedrohten und völlig irrelevanten Troja erreicht.103 mination, Vervielfältigung (so bei Skyila und Charybdis), betonte Aussparung einzelner Abenteuer (so bei Kirke), ja Wiedererkennen durch die Aeneaden (vgl. zum Gesamtkomplex Heinzc [Anm. 9], S. HOff.). Handelt es sich hier um (hermeneutische) Formen der Reproduktion, so überschreitet die Weitererzählung mythologischer Geschichten die Grenze zur Fiktion. Die Harpyie Celaeno hat ihr mythisches Opfer Phineus verlassen und quält die Aeneaden mit ihrem Gastgeber - dem Leser wird hier eine Welt vorgestellt, die noch keine nachmythische sein soll, die auch noch nicht jene der typologisch-geschichtlichen Erfüllung ist, aber auch nicht mehr die Grundkonstellation der mythischen Geschichten wahrt: diese werden gespenstisch, indem sie zugleich überständig und aktualisiert werden. - Eben diesen Schritt werden die trojanischen rejetons bis zur Fiktion hin vollziehen. 99 3,16ff.: »fatis iniquis«, wie es ausdrücklich heißt. 100 3,129: »proavosque petamus«. 101 Wie angedeutet, repräsentieren sie die Überwältigung der Aeneaden, auch des Helden selbst, durch die labores. 102 1,249: »nunc placida compostus pace quiesciu. Vgl. A. Wlosok, Die Göttin Venus in Vergils Aeneis, Heidelberg 1967, S. 33-39. 103 Was in der Argumentation der Venus (l,250ff.) gegenüber Jupiter ein auch für Aeneas wünschbares Ziel wäre. 52
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Komplexer ist die erste Gestalt eines Griechen, der aus seiner mythischen Vergangenheit im Abseitigen vergegenwärtigt wird, Diomedes.104 Vergil hat die mythographisch überlieferte direkte Begegnung der beiden großen Kämpfer gestrichen,105 ein mögliches Eingreifen des früheren Feindes jedoch lange in der Aeneis vorbereitet. Diomedes, nach seinem nostos an die apulische Küste verschlagen, antwortet den Latinern schließlich abschlägig: er wird den Kampf gegen Aeneas nicht wiederholen seine neue Heimat und die Verwandlung seiner Gefährten in Vögel sieht er als Strafe seiner mythischen Vergangenheit an, die er zu vergessen sucht (11,280).106 Er rät von dem Konflikt mit den Trojanern ab; ohne Aeneas seien die Italer »fortunatae gentes«; »quieti«; »Saturnia regna« (11, 252f.). Weiter den mythischen Wurzeln entfremdet ist Polydorus, bereits die Gestalt eines Gestorbenen. Polydorus, wie Aeneas nach Thrakien geflohen (3,4lff.), stirbt einen gänzlich unheroischen Tod durch einen geldgierigen Herrscher, und Aeneas bestattet ihn. Die Vorgeschichte übrigens berichtet nicht der Tote, sondern Aeneas in der Erinnerung Asfama. All diese Gestalten versammeln sich gleichsam in der Begegnung des Aeneas mit [102] Helenus und Andromache (3,294-505), einem kunstvollen Ensemble. Seinen Kern bildet die ausgedehnte Helenus-Prophetie, eine sehr detaillierte und >imperiale< Weisung, die zu ihren - meist weniger beachteten - Rahmenbedingungen in Kontrast steht. Diese sind: 1) die >Weitererzählung< der alten mythographischen Tradition; 2) der abgebrochene Dialog mit der opfernden Andromache; 3) die Beschreibung des Schein-Troja, das Helenus gegründet hat; 4) innerhalb der Abschiedsreden der zweite Dialog zwischen Andromache und Aeneas. 1) Helenus und Andromache sind erst von Vergil als gemeinsame Sklaven des Achilleussohnes Neoptolemos (Pyrrhus) zusammengefügt wor104 Mythographisch vollständige Nachweise bei O. T. Zanco, Diomede greco e Diomede italico, in: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Accademia dei Lincei 20, 1965, S. 270-282; weiterführend W. W. De Grummond, VirgiPs Diomedes, in: Phoenix 21, 1967, S. 40ff. 105 Hierzu Heinze [Anm. 9], S. 104. 106 Diomedes' Vergessen spiegelt eigentümlich die dekonstruktiven Leistungen des Erinnerns und Vergessens in Aeneas wider. Aeneas hat sich von der mythischen Vergangenheit distanzieren können, die in seiner memoria aufgehoben ist. Richtet sich - zu Beginn des Epos - sein temporäres Vergessen auf das, was dasfatum für ihn bereithält, so »vergißt« Diomedes insgesamt seine ruhmreiche Existenz vor Troja - nur dieses Vergessen sichert ihm das zukunfts- und vergangenheitslose Überleben. 53
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den; Vergil hat darüber hinaus den Sohn der Andromache von Pyrrhus, Molossos, ignoriert. Aeneas kann die Gegenwart der beiden trojanischen Überlebenden zunächst nicht fassen (3,294ff.); sein Besuch bei ihnen entspringt der Unglaublichkeit (»casus tanti«, 3,299) und dem »mirus amor« (3,298) der Erinnerung. - Mit dieser den Helden tief verwirrenden Begegnung ist die Stufe des weitererzählten, des nicht mehr nur ausgesparten oder nachvollzogenen, allenfalls typologisch gesteigerten homerischen Mythos erreicht; diese Stufe repräsentierte Celaeno (s. oben Anm. 98). 2) Andromache ihrerseits begegnet Aeneas »entgeistert« (»amens«; »exterrita monstris^ 3,307); er erscheint ihr wie ein Gespenst (»verane fades?«, 3,310); sie hält es für möglich, daß er ein revenant ist - und fragt sogleich, warum ihr dann Hektor nicht wiederkehre (3,3llf.). Hinzu kommt, daß sie, wohl als einzige derer, die Aeneas im Verlauf des Epos begegnen, nichts von seiner Irrfahrt weiß - wobei Vergil in diesen Tatbestand (in Form der Frage: »aut quisnam ignarum nostris deus appulit oris?«> 3,338) das weitere Faktum eingefügt hat, daß auch Aeneas nichts von ihrem casus seit der Versklavung weiß.107 Mit Andromache tritt Aeneas etwas Neues entgegen, das sich ihm nicht als mythisch vergangen oder, wie die bisher besprochenen Gestalten, nur zukunftslos verfehlt darstellt: ein (unglückliches) Bewußtsein, das keine Verbindung mehr zu seiner einzig beglaubigten (mythischen) Existenz in der Misere seiner gegenwärtigen Faktizität108 zu finden weiß, eines Daseins, das nur auf die sinnlose Fortdauer und damit einen Abgrund von Individualität verweist, wie er sich in der Aeneis sonst nicht findet. Andromache tritt in Aeneas' memoria nur mit den Versuchen in Erscheinung, diese Unglaubwürdigkeit in der Hingabe an den Mythos zu verlieren109 oder in der Zukunft des Aeneas abzustreifen - nämlich in der Gestalt des Ascanius als Ersatz ihres getöteten Sohnes Astyanax.110 3) Aeneas antwortet in seiner Erinnerung nicht auf Andromache; dafür tritt - ohne seinerseits Andromache in ihrer gespenstischen Isolierung zu antworten - Helenus heran und zeigt Aeneas die [103] von ihm ge107 Vgl. die entsprechenden Fragen des Aeneas 3,317ff. 108 In ihr wird etwas sonst in der römischen Literatur (bis auf die EuripidesRezeptionen) Unerhörtes laut: das Elend der Bettsklavin, die schließlich von dem einer neuen Liebe folgenden Herrn dem Mitsklaven gegeben wird und die Erinnerung an die Existenz als Gattin Hektors wie eine Höllenstrafe erlebt (vgl. 3,32lff., beginnend wiederum mit einem Makarismos der erinnerten Toten). 109 In der Eingangsszene des Opfers 3,30lff. 110 Vgl. 3,339ff. und das Abschiedsgeschenk an die »Astyanactis imago« (3,489) - wiederum ein Kunstwerk mit eingewebten Bildern. 54
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gründete, Troja in allen Einzelheiten petrifizierende Neugründung, die seine Existenz trägt.111 4) Erst der Abschiedsdialog mit Andromache bringt eine Antwort auf die Begegnung - und zwar in Form eines Bekenntnisses des Aeneas, das Andromache als Gestalt seiner eigenen memoria enthüllt: ihr Bewußtsein wird als sein eigenes, kommemorativ verarbeitetes und distanziertes Bewußtsein sichtbar. Und es steht in krassem Kontrast zu den imperialen Verheißungen des Helenus - einem Kontrast, der sich nun nicht mehr als Vergessen desfatum artikuliert, sondern als Widerspruch zum fatum, als Widerspruch, der nur durch seinen Transfer in eine antizipierte memoria ausgeglichen wird (3,493ff.): »vivite feliceSy quibus est fortuna per acta iam sua; nos alia ex aliis in fata vocamur. vobis parta quies (...) 5i quando Thybrim (...) intraro (...).« Noch einmal wird der Makarismos im Seesturm (und ebenso der Andromaches) aufgenommen, aber Aeneas trägt ihn aus einer Distanz vor, die bereits die Gründung Roms voraussetzt (vgl. 3,802ff.). Er wird durch den Gehorsam gegen die fata nicht durchstrichen, aber auch durch kein Vergessen der fata realisiert. In der memoria bleibt er erhalten als nicht gelebte Pause zwischen Mythos und Geschichte; in ihr aber wird er auch ästhetisch geformt:112 Andromache bleibt unvergeßlich.113 [104] 111 Nicht die Existenz der Andromache; die Junktur »falsi Simoentis« (3,302) tritt einzig bei ihrer Opferung auf. 112 Die Probe auf die hier gegebene Interpretation - die nachmythischen Figuren begegnen Aeneas aus seiner memoria heraus - gibt die Wiederkehr des gleichen Bekenntnisses beim Abschied von Dido 4,333ff. Nachdem Dido und Karthago in die memoriale Dimension distanziert worden sind (»nee me meminisse pigebit«, 4,335; »dum memor ipse mei«, 4,336), bezeichnet Aeneas den ^ifci-Gehorsam als »nicht sein eigenes Leben« (4,340f.); ein solches würde - wie das der Andromache! der Pflege des zerstörten Troja, dem Totendienst, ja dem Wiederaufbau eines zweiten Troja als einer Stadt der »Besiegten« gewidmet sein (4,340ff.). - Es ist charakteristisch, daß erst die im Gegenzug zur philologischen ^ita-Verherrlichung des 20. Jh. sich bewegende >christliche< Interpretation Vergils von Theodor Haecker (vgl. zuletzt ders., Odysseus und Aeneas, in: Virgil, hrsg. von St. Commager, Englewood Cliffs 1966, S. 68ff.) auf diese Bekenntnisse zurückgriff. 113 Die Latinistik hat der Andromache-Helenus-Episode (abgesehen von der Prophezeiung) wenig Aufmerksamkeit zugewandt (vgl. R. E. Grimm, Aeneas and Andromache in Aeneid HI, in: American Journal of Philology 88, 1967, S. 151-162; gute Zusammenfassung: B. Otis [Anm. 3], S. 260f.); vor allem ist sie, soweit ich 55
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN Die Gestalt des Achaemenides (3,570ff.)1H ist nun die erste Fiktion Vergils, eine der wenigen in der Aeneis. Aeneas erzählt seine Landung bei den Zyklopen, die der Leser als eine der Odyssee-Wiederholungen erkennt. Aber das homerische Handeln des Helden wird in neuartiger Weise eingeführt. Aeneas weiß diesmal nicht, wo er gelandet ist (3,569);115 sein Erfahrungshorizont wird also auf den des Odysseus zurückverlegt. Und in diese Offenheit tritt Achaemenides116 als der Unbekannte schlechthin (»ignoti nova forma viri«, 3,591). Die Abenteuer des Odysseus und des Aeneas sind nun aus der Kongruenz von Nachformungen auseinandergetreten;117 auch wird die Spannung zwischen den homerisch-mythischen Geschichten und der Gegenwart des Aeneas nicht mehr in der Form einer >Fortsetzung< des Mythos (Celaeno, Andromache) sichtbar gemacht. Sie tritt als fiktionale Aufhebung der nach vollziehenden Identität zutage.118 Und diese Aufhebung wird in denkwürdiger Weise noch einsehe, gänzlich an der Rezeption Baudelaires (Le cygne) vorbeigegangen - und damit an der anhaltenden Interpretation auch der vergilischen Szene in der Romanistik (vgl. die Dokumentation bei M. Koch, Mnemotechnik des Schönen, Tübingen 1988; dort nicht genannt: W. Fietkau, Schwanengesang auf 1848, Hamburg 1978; J. Starobinski, Melancholie und Spiegelbild, in: Merkur 42, 1988, S. 751-765; vgl. auch B. Vinken, Zeichenspur, Wortlaut. Paris als Gedächtnisraum, in: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann, Frankfurt/M. 1991, S. 231-262). Der Philologe wird - wie aus der hier vorgelegten Interpretation und ihrer Gesamtsicht der vergilischen memoria deutlich wird - einen Dekonstruktivismus auch hinsichtlich der memoria selbst bei Vergil nicht gelten lassen; er muß auch auf den in allen romanistischen Interpretationen unberücksichtigt gebliebenen Schlußdialog Andromache-Aeneas, auch für die Interpretation Baudelaires, verweisen. Bereits Aeneas (Vergil) erinnert sich doppelt an Andromache (in der Szene selbst und in der Erzählung vor Dido), eine Doppelung, die - mitsamt der Abwendung von den römisch-imperialen fata in eine angemessene Interpretation Eingang finden sollte (vgl. nunmehr W.-D. Stempel, Nachdenken über Andromache, in: Gestaltung - Umgestaltung. Festschrift M. Kruse, hrsg. von B. König und J. Lietz, Tübingen 1990, S. 429-442). 114 Die Episode hat noch keine ausreichende Detailinterpretation gefunden; vgl. T. E. Kinsey, The Achaemenides episode, in: Latomus 38, 1979, S. HOff.; H. Offermann, Vergil, Aeneis 5,847 und die Palinurus-Episode, in: Hermes 99, 1971, S. 164-173; E. Römisch, Die Achaemenides-Episode, in: Studien zum antiken Epos, hrsg. von H. Goergemanns und E. A. Schmidt, Meisenheim 1976, S. 208-227. 115 Im Kontrast dazu wird 3,578ff. die fama vom Vulkan Aetna als dem mythischen Gefängnis der Zyklopen in Aeneas' Bericht einbezogen. 116 Auch der Name ist von Vergil erfunden; vgl. Heinze [Anm. 9], S. 112. 117 Dem modernen, nicht vom homerischen Nach Vollzug aus urteilenden Leser muß dieser Vorgang gegenläufig erscheinen: »Die beiden Welten rücken so nahe aneinander, daß sie sich fast berühren« (K. Stierle [Anm. 26], S. 120). 56
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mal als memoriales Ereignis dargestellt: Achaemenides wurde von Odysseus und seinen Gefährten in der Höhle des Polyphem »vergessen« (»bic rne ... / immemores ... / deseruere«> 3,616ff.). Die Leerstelle zwischen dem Mythos und seiner in die Geschichte führenden Wiederholung wird hier vom Mythos her als ein Vergessen seiner Figuren konstituiert. In ihrer Offenheit aber folgt die fingierte Figur gebieterisch den Darstellungszielen, die sich im karthagischen Fries ankündigten, in der Polydorusgestalt und vollends in Andromaches Bewußtsein Kontur gewannen: Geschichtsverlassenheit in räumlicher und zeitlicher Abgelegenheit, sinnloses Leid und Todesnähe. Achaemenides wird betont als >mittlerer Held< eingeführt (nicht adlig, arm, in den Krieg geschickt); seine Existenz auf der Zyklopeninsel hat ihn - was ohne Vorbild in der Odyssee ist - zum karg lebenden Robinson reduziert (vgl. 3,591. 649ff.).119 Seine Rede120 fordert von den Aeneaden nichts als Hilfe (also ein Heraustreten aus den mythischen Fronten der Feindschaft und zugleich eine Korrektur [105] der treulosen Vergeßlichkeit des Odysseus).121 Aeneas' nachmythisches Handeln wird zum Ausdruck humanen Mitleids.122 Im Gegensatz zu Helenus und An118 Vergil markiert diese Aufhebung mit besonderer Sorgfalt: wird zunächst die Zurücklassung des Achaemenides durch Odysseus auf »drei Monate« vor der Ankunft des Aeneas datiert (3,645), so wird beim leibhaftigen Sichtbarwerden Polyphems diese Zeitangabe durchkreuzt: der Zyklop wäscht sich im Meer das frische Blut aus seinem ausgestoßenen Auge (3,662f.). 119 Der Kontrast zur Odyssee muß beabsichtigt sein; hier war die Zyklopeninsel als Inbegriff goldener Zeit und ihrer natürlichen Fülle gemalt worden. 120 In ihr wird wiederum vorausgesetzt, daß Aeneas das Zyklopenabenteuer (des Odysseus) nicht kennt und Polyphems Angriff auch ihm droht. Daher die in dieser Form einzigartige Erzählung des Achaemenides über das Abenteuer des Odysseus, die aus den homerischen Nachvollzügen in der epischen Handlung herausfällt. Gleichwohl ist natürlich das Odysseus-Abenteuer in der memoria des Vergil- und Homerlesers. Achaemenides' Erzählung gerät daher zu einer eigentümlichen Mischform, in der der Berichtende nicht sein Erlebnis, sondern nur sein Zuschauen berichtet (vgl. 3,618ff. und die wiederholte Einklammerung durch »vidi«), 121 In solcher Korrektur der homerischen Vorlage zeigt sich die Aufhebung des identischen Nachvollzugs auch als Aufhebung der (bei Vergil stets latenten) typologischen Steigerung des homerischen Helden durch den vergilischen. Trotz des jeder Typologie inhärenten Moments der gesteigerten Erfüllung bleibt sie ein geschichtliches Denken der Identität und Wiederholung. Wo (wie auch in der Bibelexegese) überbietende Korrektur auftritt, ist typologisches Denken bereits verlassen. 122 Diese vergilische >Humanität< hat erst die Romantik in der Aeneis gefunden; vgl. J. M. Andre, La survie de Virgile dans le romantisme Italien, in: Bulletin de l'Association G. Bude 41,1982, S. 306-329. 57
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN dromache bleibt Achaemenides nicht in gespenstischer Weise in seinen mythischen Status gebannt; die Aeneaden nehmen ihn, anders als die anderen Begegnenden, auf ihrem Schiff mit. Hiermit freilich ist seine Funktion erschöpft; er tritt niemals wieder auf. Wenn er bei der Entfernung von der Zyklopeninsel noch einmal sichtbar wird, weist er den Weg zur nächsten (homerischen) Station der Fahrt,123 aber er legt den Weg »in entgegengesetzter Fahrtrichtung« zurück: »talia monstrabat relegens errata retrorsus / litora« (3,690f.). Die Aeneis ist mit der Odyssee wieder kongruent geworden, aber sie wird aus ihr herausführen. Die andere von Vergil erfundene Einzelfigur, Palinurus,124 steht spiegelbildlich zu Achaemenides. Vergil hat sie aus der geographischen Bezeichnung eines Kaps an der tyrrhenischen Küste entwickelt. Hier wird eine Leerstelle nicht mehr des Mythos, sondern der italischen Zukunft in die Handlung eingelassen und mit der Gestalt des Steuermanns der aeneadischen Flotte besetzt. Bezeichnend für diese Zukunftsbezogenheit läuft die Palinurus-Episode nicht mehr in der Erzählung des Helden vor Dido ab; sie ist Teil der seltenen epischen Primärhandlung in der ersten Werkhälfte. Auch ist Palinurus offenbar dem kommemorativen Götterzorn der Olympier enthoben; der Dämon, der ihn ins Verderben stürzen wird, handelt nicht als Teil von Junos Rachemaschinerie.125 Episch ist somit Palinurus vollkommen überflüssig; er drückt lediglich, am Ruder stehend, die ausschließliche Beschleunigung der zukünftigen Verheißung aus. Dies gibt seiner Szene hellenistische Leichtigkeit: das Meer und sein Getier werden zur theokritischen Szenerie (5,820ff.); die Flotte gleitet unter serenem Abend- und Nachthimmel ohne menschliches Zutun, auch ohne eine Ruderbewegung des Palinurus dahin (5,833ff.). In dieser Enthobenheit, diesem otium% senkt sich Somnus in Gestalt des Gefährten Phorbas herab, verwickelt Palinurus ins Gespräch. Und er macht den Steuermann auf seine Müdigkeit aufmerksam, auch er verweist auf die [106] labore$>
123 Damit aber kann intertextuelle Fiktionalität sich multiplizieren: in der Begegnung von Achaemenides mit einem weiteren (von Ovid erfundenen) Gefährten des Odysseus, Macareus (vgl. Stierle [Anm. 26], S. 120f.). 124 Vgl. F. J. Worstbrock, Elemente einer Poetik der Aeneis, Münster 1963, S. 53f.; R. C. Clark, Catabasis, Amsterdam 1979, S. 157; und vor allem J. Freccero, Dante. The poetics of conversion, Cambridge/Mass. 1986, S. 139ff.; P. E. Brenk, Unum proraultiscaput, in: Latomus 43, 1984, S. 776-801. 125 Die sehr lockere Motivation (zu Beginn der Episode), ein Mensch müsse noch vor Erreichen der italischen Küste sterben (5,814f.), soll eher im Kontrast zur besonders idyllischen Meerfahrt (5,830ff.) die Lesererwartung spannen.
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auf die endlich gewonnene Stunde der quies (5,844f.). Noch wehrt sich Palinurus gegen das, was ihm ein Vergessen zu sein scheint (»mene ... /ignorare iubest«, 5,848f.). Aber seinem verhangenen Blick begegnet nur noch die gefahrlose Stille der Sterne (5,853). Nun kann ihn Somnus mit einem Zweig voll des »Vergessenstaus« (»Lethaeo rore«, 5,854) berühren. Palinurus erwacht in der See erst, als die Flotte schon entfernt ist; sie droht geradewegs auf die Knochen am Fuße des Sirenenfelsens zuzusteuern. Mit der Trennung von Aeneas aber tritt der dem Untergang sichere (5,871) Palinurus auch aus der epischen Handlung der Aeneis. Dem Leser scheint es aufgegeben, diesen Untergang wieder in einer memoria der mythischen Landschaft, eben der gestrandeten Gebeine vor den Sirenen, abzuschließen. Aber Vergil - singulär in der Aeneis - durchkreuzt diese mythische Rückbindung durch ein zweites, postmortales Auftreten des Steuermanns (6,337ff.) im descensus-Buch. Und hier erzählt Palinurus »weiter« er stellt die sinn- und zukunftslose Endphase seines Lebens, getrennt von der Flotte, in krasser Realistik dar: seinen Kampf gegen das Ertrinken, seinen gräßlichen Tod durch Steinwürfe am endlich erreichten Strand, die noch grausigere Reise seines hin- und hergetriebenen Leichnams an allen Stränden des verheißenen Landes. Diese (erste) Begegnimg des Aeneas im Hades weitet seine memoria auch in ein Wissen des Gegenwärtigen und Künftigen aus, das zuvor nur auf die Verheißung des fatum hin als globale Geschichtserfüllung geglaubt war. Mehr noch: mit Palinurus begegnet Aeneas eine Gestalt, die auf eine neue Art quer und damit gespenstisch zum mythistorischen Handlungssinn steht; mit ihm memoriert Aeneas auch das in seinem Leiden schwer erträgliche Detail des geschichtlich Belanglosen. Mit Palinurus wird also ein rejeton, eine Abspaltung,126 auch von dem Weg in die römische Zukunft als Figur und als Untergang gestaltet - der Bruch in der Erzähllage und Stimmung zwischen den beiden Hälften der Episode127 zeigt unübertrefflich die Abkehr des Blickes vom geschichtlichen Telos 126 »Mutilated figures« nach der treffenden Bezeichnung von C. Fuqua (Hector, Sychaeus, Deiphobus, in: Classical Philology 77, 1982, S. 235-240). - Man vergleiche das ebenfalls fingierte Freundespaar Nisus und Euryalus im neunten Buch und den ebenfalls >zu früh verstorbenem Marcellus aus der augusteischen Dynastie in der Heldenschau. Im letzteren Fall ist die Rührung der Herrscherfamilie bei der Vorlesung durch den Dichter die einzige überlieferte Reaktion des zeitgenössischen Publikums (vgl. H. F. Rebert, The felicity of infelix in VirgiPs Aeneid, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 59,1928, S. 57ff.). 127 Vgl. zur Forschung: P. E. Brenk [Anm. 124]. 59
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des Epos. Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn einer solchen (nochmaligen) Ausweitung im Gedächtnis des Helden und ihrem möglichen Widerspruch zur national bestimmten memoria des römischen Lesers. Es ist die Frage nach dem Sinn des vergilischen descensus. [107]
V »Entrücke dich dem Stein/ Zerbirst die Höhle, die dich knechtet/ Rausche doch in die Flur! Verhöhne die Gesimse -« Gottfried Beim, Karyatide (1916) Für die Handlung der Aeneis bleibt Aeneas9 Eintritt in Hades und Elysium an der Hand der Sibylle folgenlos. Der Held jedenfalls handelt nach seinem ascensus aus keiner bestimmteren Kenntnis des Bevorstehenden, als sie der Leser den fünf Versen der abschließenden praeteritio 6,888ff. entnehmen konnte. Aber gerade Aufklarung über Gefahren bis zum Ende der epischen Handlung128 war es, was ihm als Ergebnis des Abstiegs versprochen und auch der Sinn der Nekyia des Odysseus gewesen war. Auch was Anchises ihm in einer Traumerscheinung verspricht - er werde dem Sohn das Schicksal Roms und die römische Geschichte enthüllen129 -, hätte, ähnlich den anderen >Durchblicken< auf die fata, in der Traumerscheinung selbst Platz finden können. Denn selbst die >Heldenschau< des descensus (6,756ff.) bestimmt Aeneas' Handeln, sowie er zum Licht empor kommt, in keiner Weise. Vor allem: der descensus umschließt keineswegs nur die Orientierung über die fata. Sogar der vertraute Nachvollzug Homers (der Nekyia im elften Buch der Odyssee) ist nur in Teilen im sogenannten mythologischen Hades130 des sechsten Buches (6,295-547) zu erkennen. Schon hier hat Vergil geändert: die Toten des Mythos wissen grundsätzlich von jedem postmortalen Geschehen; Aeneas kann ihnen, sehr im Unterschied zur Nekyia, nichts mehr »vermelden«.131 Sie sind Sachwalter eines uni128 3,458f.: »venturaque bella /et quo quemque modo fugiasque ferasque laborem« (Helenus-Prophetie). 129 5,737. 130 Sorgfältige Nachzeichnung der Rezeption bei F. Norwood, The tripanite eschatology of Aeneid VI, in: Classical Philology 49, 1954, S. 15ff.; zum Problem: F. Solmsen, The world of the dead in Book VI of the Aeneid, in: Classical Philology 67,1972, S. 31-41. 60
AENEAS9 EPISCHES VERGESSEN versalen Gedächtnisses geworden,132 das von der mythischen Vorzeit über die Handlung der Aeneis™ bis zu Augustus reicht - sie treten also Aeneas mit der memoria des Lesers gegenüber. Und Aeneas begegnet ihnen in einer Weise, die sich schon vor dem Tempelfries in Karthago ankündigte: als Zuschauer - ja er besichtigt geradezu dieses Gedächtnisuniversum. Bereits die Sibylle muß ihn vor dem Abstieg vom Beschauen eines weiteren (mythologischen) Tempelfrieses134 energisch hinwegführen (6,37); das wiederholt sich [108] bei der Begegnung mit dem verstümmelten Deiphobus (6,539ff.), der mit der Erzählung seines grausigen Todes den betroffenen Aeneas völlig seinen weiten Weg vergessen läßt.135 In diesem Universum wird ihm gewiß auch der Untergang seiner Geliebten (Dido), seiner Gefährten (Palinurus, Misenus) memoriert. Aber diese Allgegenwärtigkeit zielt weit über seine Person hinaus; was bei der Palinurus-Episode noch als >Ausweitung< der memoria des Helden interpretiert werden konnte, ist in Wahrheit der gesamte mythistorische Horizont des Lesers. Warum hat Vergil den memorw-Raum des Mythos und der fata> der sonst in begrenzter Weise dem Helden eingeformt wurde, in diesem Maße gesteigert und Aeneas gestaltgeworden gegenübertreten lassen? Weder imperiale Sinngebung noch homerisierende Nachfolge allein können den descensus erklären. Eine Erklärung hat die Vergil-Interpretation seit jeher in den beiden folgenden Landschaften des vergilischen Jenseits, dem >moralischen< und dem >philosophischen< Hades, gefunden. Gemeint ist der Höhepunkt des descensus, der nun unabhängig von der römischen Geschichtstheologie eine individuelle Erlösimgsphilosophie in die homerische Nekyia einfügt. Das System ist oft untersucht worden und in seinen Quellen geklärt.136 Es 131 Diese für Homer bis in die Schlachtaristien hinein wichtige Funktion des Heldentodes hat Vergil charakteristischerweise nur noch in der Rezeption einer epischen Formel außerhalb des descensus wiederholt (2,547ff.). 132 Charon handelt nicht nur, er erinnert an die früheren Versuche, in den Hades vorzudringen. Vor dem Eingang in die Unterwelt hat Vergil eine eigene Gruppe nachmythischer Personifikationen als Dämonen von universaler Macht eingeführt (Luctus, Egestas, usw.). 133 So Anchises, der nicht nur Künder der imperialen Zukunft ist, sondern aufs genaueste die Vorgänge der epischen Handlung unmittelbar nach seinem Tod (in Karthago) kennt (vgl. 6,679ff.). 134 In dieses Beschauen fügt sich Vergil mit auktorialen Apostrophen an die dargestellten Gestalten ein (6,30). 135 *Nosflendo ducimus horas«, mahnt die Sibylle 6,539. 136 Vgl. E. Norden, P. Vergilius Maro: Aeneis, Buch VI, Leipzig 21916, S. I6ff.; Solmsen [Anm. 130], S. 35ff.; Clark [Anm. 124], S. 169ff.
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AENEAS'EPISCHES VERGESSEN setzt, aus orphischer und pythagoreischer Tradition - unmittelbare Quelle Vergils dürfte Piatons Phaedo gewesen sein -, zyklische Verläufe zwischen (göttlichem) Pneuma und Körperlichkeit voraus, die im Sinne der Purifizierung (also eines Purgatoriums) von den Menschen durchlaufen werden können, menschliche Existenz also als Bewährung auffassen. Die Purifizierung erfolgt hierbei im Hades nicht als Strafe, sondern gleichsam als ausgleichendes Äquivalent des individuellen Verhaltens137 durch Einwirkung der Elemente Luft und Feuer.138 Bis zur gänzlichen Reinigung und Rückkehr in den aetber1* werden die Seelen immer wieder in die Körperlichkeit eingeschlossen (wiedergeboren; nach der Tradition etwa in einem Zyklus von 1000 + 9 Leben). Der durch stoische Lehrstücke angereicherte Piatonismus dieser Verkündigung fällt derart aus dem homerischen und augusteischen Rahmen der Aeneis, daß er seit der Spätantike als Kernaussage des Theologen Vergil im epischen Kleide angesehen wurde: er hat die menschliche vita als Bewährungs-Allegorie auf die übrigen Teile der Aeneis projiziert und von Fulgentius bis weit über Cristofero Landino hinaus die Aeneis als Allegorie menschlicher Vervollkommnung interpretieren lassen140 - eine Lesung der Aeneis, die noch in den >Entwicklungs<-Entwürfen [109] der Philologie nachwirken dürfte, der gegenüber jedenfalls die Hervorhebung des nationalrömischen /zta-Gedankens im 20. Jahrhundert ein kurzes Nachspiel bedeutete. In der jüngsten Forschung gibt es Tendenzen, zur Vergil-Allegorese über die Wiedergeburtslehre zurückzukehren.141 Ein allegorisches Verständnis würde (wie bei diesem Verfahren nicht anders zu erwarten) auch die memorialen Probleme lösen: über das Gedächtnisuniversum des Jenseits würde Aeneas nicht nur mit der memoria des Lesers kommunizieren, sondern mit dem Sinn einer Erlösungsphilo-
137 »Quisque suos patimur manis« (6,743). 138 Vgl.6,740ff. 139 Vgl.6,745ff. 140 Zu Fulgentius und zur Spätantike T. Agozzino, Secretum quaerere veritatis, in: Studi in onore di Q. Cataudella, Catania 1972, S. 615-630 und G. RaunerHafner, Die Vergilinterpretation des Fulgentius, in: Miuellateinisches Jahrbuch 13, 1978, S. 7-49; zur Frührenaissance E. Müller-Bochat, Leon Battista Alberti, Krefeld 1968. - Die Allegorisierung führte auch zur Form eines epischen Supplements, dem dreizehnten Buch der Aeneis Maffeo Vegios. 141 Repräsentativ A. Thornton, The living universe, Leiden 1977; hierzu A. Wlosok, in: Gnomon 53, 1981, S. 751ff. - Als Anhaltspunkt für die vom Dichter gewünschte Allegorese wurde oft die den ascensus begleitende Mineilung aufgefaßt, Aeneas sei durch die Pforte der falschen Träume wieder emporgestiegen (6,893ff.). 62
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN sophie versehen werden, die die römische Geschichtstheologie noch überwölbt. Doch ist das vergilische Jenseits für diese Reduktion zu reich angelegt. Es läßt sich zeigen, daß der descensus nicht allein in die Wiedergeburtslehre mündet, sondern in eine Poetik der memoria, in der Vergil dieses geheime Thema der Aeneis zusammenfaßt. Ausgangspunkt kann die Beobachtimg der bekannten Inkonsequenzen142 im Aufbau des vergüischen Hades sein. Der Tartarus als Strafort hat neben der Erlösungsphilosophie, die ein Purgatorium erfordern würde, nur bedingt seinen Platz. Vergil aber hat ihn weit über die Ansätze der homerischen Nekyia (Od. 11,568-600) hinausgeführt, und zwar im Sinne ewiger, von Rhadamanthys verhängter Höllenstrafen. Auch die alltäglichen Verbrecher sind durchaus unterschieden nach den Typen ihrer Tat inkorporiert;143 und wenn bei Vergil noch nicht Aeneas die Verdammten aufsucht, mit ihnen spricht oder ihre Strafe sich ins Endlos-Charakteristische steigern sieht (der Tartarus erscheint nur in der Erzählung der Sibylle), so ist die memorative Versteinerung der Figuren unübersehbar: sie kontrastiert scharf mit der Purgations- und Wiedergeburtslehre. Zugleich fallt auf, daß der Straf-Arretierung ausschließlich Gestalten des Mythos oder namenlose, typische Verbrecher ausgesetzt sind. Vergil hat keineswegs im Verhältnis zu den Aeneaden zeitgenössische oder künftige Figuren (wie Dante) antizipatorisch verurteilt.144 Keine Figur des Mythos schließt sich der Schar der zur nächsten Existenz Drängenden an. Offenbar setzt sich die kommemorative Abgeschlossenheit des Mythos im descensus auch gegenüber dem zyklischen Futur der Wiedergeburt durch. Auch an dem Gegenort der Belohnung, dem Elysium, wird solche Inkonsistenz mit [110] der Palingenesie sichtbar. Das Elysium hatte schon in den vorvergilischen Traditionen einen festen Ort in der Purifizierung: es verschmolz als orphisches Erbstück zunehmend mit dem Lehrstück 142 Ein Topos der Forschung, vgl. Solmsen [Anm. 130], S. 31. 143 Vgl. 6,608ff. Ansätze zur >Persönlichkeitssteigerung< im Sinne Dantes (vgl. JL Maurer, Personifikation und visionäre Persönlichkeitssteigerung in Dantes Divina Commedia, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 43, 1965, S. 112-137) werden hierbei sichtbar. 144 Die Erklärung ist nicht ausreichend, Vergil habe logischerweise vor Roms Gründung noch keine futurische Strafe fesdegen können (so Clark [Anm. 124], S. 173; zum Problem bei Dante vgl. bereits die Äußerung Jacopo della Lanas, Commedia-Kommentzr, hrsg. von L. Scarabelli, Mailand 1865, S. LVl). Denn Cato und Catilina sind in dem >kleinen Hades< der Schildbeschreibung (im achten Buch) in den Tartarus und ins Elysium versetzt. 63
AENEAS9 EPISCHES VERGESSEN von der Auflösung der Person zum aether und wurde in den erhaltenen katabaseis als Raum freudiger Erwartung dargestellt.145 Davon finden sich im descensus noch Spuren (vgl. 6,743-747); aber sie werden von einer Vergil eigenen Konzeption überlagen: dem Elysium als permanentem Aufenthaltsort einiger weniger, die ihre Person (und memoria, wie Anchises zeigt) nicht verlieren, jedoch weder ins Leben, noch in den aether zurückkehren.146 Nun klärt sich solche Resistenz der memoria im Tartarus wie im Elysium, wenn man beachtet, daß Vergil der Wiedergeburtslehre selbst als Kern eine Theorie des Vergessens eingeschrieben hat - und zwar eben am Beginn der Heldenschau. Im Elysium wird Aeneas auf eine große Zahl unruhiger Seelen aufmerksam, die sich wie ein Bienenschwarm147 vor einem Flußufer zu ihrer nächsten Existenz drängen. Anchises erklärt (6,713ff. 748ff.): »animae, quibus altera fato corpora debentur, Lethaei adfluminis undam securos latices et longa oblivia potant. (...) hos omnis (...) Lethaeum adfluvium dem evocat agmine magno, scilicet immemores supera ut convexa revisant rursus, et incipiant in corpora velle reverti.« Die neue Existenz setzt also »Vergessen«, »tiefe Erinnerungslosigkeit«, die unbefangene »Sicherheit« des ersten Mals148 voraus. Das geht weit über die partielle Amnesie hinaus, die seit jeher mit der Lehre einer Palingenesie verbunden war. Deshalb trifft der herkömmliche Hinweis auf Piaton als Quelle 149 nicht. Im Er-Mythos am Ende des Staats (621c) hat zwar die Seele vor ihrer Wiedergeburt aus dem Fluß Lethe zu trinken, aber »nicht über das Maß«. In der Tat hängt an der Palingenesie eben die
145 Vgl. Solmsen [Anm. 130], S. 32. 146 Auch hier (vgl. Anm. 144) ist die Erklärung nicht ausreichend, ein dauerndes Elysium werde für die Figur des Anchises und seine Kommentierung der Heldenschau benötigt. 147 Zum Hintergrund des Vergleichs und zu Dantes Rezeption: M. C. J. Putnam, Virgü's inferno, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 20/21, 1988, S. 165ff., hier: S. 196ff. 148 Richtig R. G. Austin, in seinem Kommentar zum 6. Buch (Oxford 1977), zur Stelle. 149 Vgl. Henry [Anm. 54], S. 134; zutreffend Putnam [Anm. 147], S. 197f. 64
AENEAS' EPISCHES VERGESSEN Möglichkeit der platonischen Anamnesis.150 - In der Formulierung Plutarchs (De tranquillitate animi 473b-e) ist sie Bewährung, ein Kampf zwischen der Zukunftsverfallenheit der anoitoi (also der melete)151 und der Verfügung über ein Gedächtnis der phronimoi (also der mneme). Für das einzelne Individuum hat Pausanias in diesem Sinne die katabasis der Purifizierung im Kultmysterium an der Erdspalte des Trophonios wiederholt: der Neophyte hat zuerst das [111] »Wasser des Vergessens«, sodann »ein anderes Wasser der Erinnerung« zu trinken, »und davon erinnert er sich an das, was er gesehen hat, als er herabgestiegen ist.«152 Umso befremdlicher erscheint Vergib rigorose Zuordnung des totalen Vergessens an die Wiedergeburt, wenn man berücksichtigt, daß es sich bei der von Aeneas bemerkten Schar immerhin um die in künftiger römischer Geschichte >versammelten< Helden handelt. Von ihnen wird Aeneas9 einziger Kommentar zur Heldenschau sagen: »quae Iuris miseris tarn dira cupido?« (6,721) - der Wille zum Leben ist etwas Furchtbares, und er macht elend. Eine solche Zuweisung des Vergessens an das Leben, des Gedächtnisses an das Jenseits hatte sich allerdings in der orphischen Tradition der Wiedergeburtslehre angebahnt. So wird auf den Goldschalen von Petelia und Thurii (Süditalien; 4. Jh. v.Chr.) der gestorbenen Seele im Hades geraten, aus dem See der Mneme zu trinken, aber den Lethetrank zu vermeiden; sie werde dann »über die anderen herrschen«, am Ende schneller zum aether zurückkehren.153 Vergil hat offenbar die Anamnesis ganz vermieden, ebenso das >Wasser der Erinnerung<154 - tatsächlich sind nur die Bewohner des Elysiums, ist Anchises Träger der universalen memoria des descensus. Ihre endgültige Erlösung hat Vergil nicht darzustellen gesucht: im Gegenzug wird die Existenz nach der Wiedergeburt, mag sie auch in ihrer Summe auf das römische Imperium hinauslaufen, der Erinnerungslosigkeit anheimgegeben.
150 Vgl. besonders Ateno 81ff.; Pbaedo 73-76; Phaedrus 250 und 275; zur Rezeption (unter Aussparung des vergilischen Problems) L. Oeing-Hanhoff, Zur Wirkungsgeschichte der platonischen Anamnesislehre, in: Collegium philosophicum. Studien. J. Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 240ff. 151 Ihr entspricht das Planen aus dem intensiv >präsentischen< Wirkungsraum dtrpathe (z.B. Ressentiments) heraus. 152 Paus. 9,39,8. 153 Nachweise bei Henry [Anm. 54], S. 134f. 154 Anders Dante, der bei seiner Rezeption des vergilischen Letheflusses als Wasser des Lebens wiederum das zweite in der Folge zu trinkende Wasser Eunoia einführt (Purg. 28,127-129; Purg. 31,lOlf. trinkt Dante vom Lethefluß).
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AENEAS'EPISCHES VERGESSEN
Mit dieser - von Vergil geschaffenen - Verbindung der Wiedergeburtsund Erlösungslehre mit einer Theorie des Vergessens hat sich nun ein eigentümliches Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte, also den beiden memorialen Horizonten, die das vergilische Epos konditionieren (vgl. oben I), herausgestellt. An dem Schwann, der aus der Höhle des Hades herausdrängt, nimmt keine Gestalt des Mythos teil;155 die (philosophische) Universalität der Wiedergeburtslehre wird eingeschränkt; der Mythos bleibt, unvergessen, nichts vergessend, in Tartarus und Elysium eingeschlossen. In der Jenseitshöhle der memoria ist andererseits keine geschichtliche Gestalt anzutreffen, die sich - wie etwa der Scipio in Ciceros De re publica - von den Wiedergeburtszyklen gelöst hätte. Noch durch die philosophische Konzeption der Palingenesie hindurch also hat Vergil den Schnitt zwischen Mythos und Geschichte gelegt; und es ist noch einmal der memoriale Schnitt zwischen Gedächtnis und Vergessen. Die römische Zukunft wird eine Kette von Taten, wechselnden Bildern und partiellen Gestalten entrollen (»fataque«; »fortunasque virum«; »moresque manusque«, 6,683), die aber kein Erinnern und Vergessen kennen, sondern in ihrer melete voranschießen. Und von ihnen heißt es in dem abschließend von Anchises verkündeten Manifest der [112] Römerwerte (6,847-853) ausdrücklich, ihre geschichtliche Existenz werde politisch sein (6,85lff.), nicht wissenschaftlich (6,849f.), und vor allem nicht ästhetisch (6,847ff.).156 Die mythischen Gestalten sind hingegen keineswegs im Gegenzug strikt in die memoria ihrer Geschichten gebannt, wie zu erwarten wäre. Dies gilt nur für die Verurteilten und die Unbestatteten (Dido; Palinurus; also die von Aeneas memorierte eigene Vergangenheit). Die Bewohner des Elysiums hingegen sind durch ihre Namen, nicht mehr durch Gestalten oder Geschichten, nur mehr als mythische Inbegriffe erkennbar; sie repräsentieren nichts anderes mehr als die memoria selbst. Sie enthält zunächst das universale Gedächtnis (des Lesers), das gerade auch die geschichtliche >Zukunft< umfaßt; Anchises157 steht für diese Einformung des 155 Anders noch in der vierten Ekloge, wo die mythischen Heroen in der Zeit der Augustusgeburt zum Beginn des neuen Weltenjahrs wieder auf der Erde erscheinen. 156 Es ist übrigens bemerkenswert, daß Aeneas auf dieses so oft hervorgehobene Manifest nicht antwortet, auch, wie erörtert, angesichts des ganzen in die Geschichte dningenden Schwanns nur die Frage nach dem Warum stellt, vor allem aber nur nach einer einzigen geschichtlichen Gestalt sich voll Mitleid erkundigt, dem >zu früh gestorbenem jungen Marcellus. 157 Anchises blickt nicht dem sich nähernden Sohn entgegen, sondern for66
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN ursprünglichen /ite-Horizonts zwischen Autor und Leser (vgl. oben I) in eine der Figuren des Elysiums. Aber darüber hinaus erinnern sich die Gestalten des Elysiums an sich seihst. Vergil steigert dabei die bereits Aeneas eingezeichnete Projektion der eigenen Person in die Vergangenheit zu einer Darstellungsform, die es zuvor nicht gab (6,640-678). Aus, Assaracus und Dardanus158 haben sich im Elysium ihrer Waffen, Wagen und Pferde, die losgeschirrt grasen, entledigt; die Lanzen stehen in den Boden gerammt beiseite. Sie führen eine Existenz des Nachher, die die alten Paraphernalien noch als Erinnerungsspur mit sich führt,159 aber freigesetzt hat.160 Diese Freisetzung hat Vergil im Sinne der Aoide ästhetisch gemeint: mit den Heroen, die nun, teils ins Grüne gelagert, teils Wettkämpfe ausführend, einen pindarischen Päan singen (6,655ff.), treten Musaeus und Orpheus auf.161 Hier wird die Linie einer ästhetischen Formung der memoria (s. oben HI) fortgesetzt. Zwischen der Gattimgstradition des Epos, der augusteischen [113] Erwartung an einen Preis Roms und einer philosophischen Weltanschauung hat Vergil die Aeneis in einer sehend in die Richtung, in welcher der futurische Schwann den Hades verlassen wird (6,679ff.). Er will die einzelnen geschichtlichen Gestalten erläutern und wird von Aeneas mit der Frage nach dem >philosophischen< Hintergrund geradezu unterbrochen (6,716ff.). - Es verdient Beachtung, daß der memoriale Blick des Anchises aus dem Seelenhaufen am Lethefluß nicht etwa nur einen Querschnitt des Gleichzeitigen, den gerade neu beginnenden Lebenszyklus, sondern die geschichtliche Folge der gesamten römischen Zukunft herauszuheben und ihre genaue temporale Sukzession zu vergegenwärtigen (»memorare«; »enumerare«, 6,716f.) in der Lage ist. 158 Es treten hier ausschließlich Gestalten der fernsten mythischen Vergangenheit auf. 159 Vergleichbar sind nur in der spätantik-mittelalterlichen Kunst Gestalten des A T in ihrer (typologischen) Erfüllung: so der noch die Asche und Schrunden aufweisende, aber bereits lächelnde Hiob in Prudentius* Psychomachie {psych. 165f.). 160 Diese Freisetzung kontrastiert aufs schärfste mit der (ebenfalls neuartigen) Darstellung der geschichtlichen Gestalten vor ihrer Wiedergeburt: ihnen wird, bereits ohne ihr Wissen, beim Trinken aus dem Lethestrom das Attribut ihrer irdischen Handlung wie eine bildliche Abbreviatur beigegeben: die Andeutung eines Kranzes, einer Lanze, auf die sich die Gestalt bereits stützt, die Ketten des Torquatos, aber auch das Todesdunkel um das Haupt des Marcellus. Charakteristisch für die Schwierigkeiten, die diese Darstellungsform der Philologie bereitete: H. T. Pliiß, Vergil und die epische Kunst, Leipzig 1884, S. 169f. 161 Ebenso alle, die durch ihre Erfindungen das Leben verbessert haben (6,663f. also gerade die, denen die römische Zukunft nach dem Manifest der Römerwerte wesensfremd sein wird) und dadurch in der kollektiven memoria menschlicher Utopie anwesend sind: »quique sui memores aliquos fecere merendo« (6,664). 67
AENEAS'EPISCHES VERGESSEN Poetik der memoria gipfeln lassen, die er in seinem Helden angelegt hat und in einem die Erwartimg durchkreuzenden Manifest formuliert. Offenbar weist diese Poetik auf eine memoriale Anthropologie, die es mit Erinnern, Vergessen und Gedächtnis zu tun hat, und zwar gerade bei der Genese von Kunst. Nach einer griechischen Tradition162 hat es als Töchter Mnemosynes ursprünglich nur drei Musen gegeben: Melete, Mneme und Aoide.
VI »Die Römer, die Stützen meines Arsches, sind immer, sind stets gewesen und werden immer bleiben.* W. A. Mozart, 13. Nov. 1777, an seine Cousine Die Aeneis wird als Epos zu Ende geführt: Aeneas verläßt das Elysium. Er hat im zweiten Teil des Werks für die Gründung Roms zu wirken. Allerdings wird der Held nicht in eine Wiedergeburt durch den Lethefluß hindurch entlassen. In seinem Gedächtnis führt er das Gesehene, freilich in Form einer kompakten, nicht mehr in Gestalten differenzierten Gewißheit mit (das zeigt etwa die Klage um Pallas ll,29ff.). Aber im allgemeinen außen sich dieses Wissen nicht im Handeln des Helden, sondern als Selbstgewißheit, als das zuweilen schroffe Bewußtsein, die pietas zu verkörpern und mitleidlos, ja blicklos durchsetzen zu müssen. Die Figur verändert sich (vgl. oben II); sie führt andeutungsweise noch einen kommemorativen Kern in sich, aber dessen zunehmende Unzugänglichkeit destruiert Aeneas zu einem die Geschichte vollziehenden Handlungsträger: »ego poscor« (8,533). Anchises hatte die Heldenschau mit einem Hinweis auf Aeneas' eigene Kriege als Beginn der römischen Zukunft geschlossen. Wirklich ist der Held, insofern er in der zweiten Werkhälfte handeln wird, gleichsam doch durch den Lethefluß gegangen. Mitleid und humanitas werden zeitweise in ausdrücklichem Hohn (vgl. 10,557ff.) zurückgenommen.163 Die Niedermetzelung [114] des Hauptfeindes Turnus, 162 Pausanias 9,29. Vgl. S. Goldmann, Topoi des Gedenkens. Pausanias' Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft, in: Gedächtniskunst [Anm. 113], S. 145-164. 163 Diese >Rücknahme< des descensus und der - nach wie vor zumeist als Entwicklung interpretierten - Gestalt des Helden, wie sie bis zum fünften Buch sichtbar wird, hat die neuere Forschung seit A. Parry [Anm. 52] zu einem radikalen An-
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das letzte Wort der Aeneis, wird endlich durch das zur Rache, zur blinden Wut sich zurückbildende Aufblitzen einer Erinnerung veranlaßt.164 Aeneas ist hier >außer sich< wie bei seinem ersten Auftreten im Seesturm des ersten Buches. Diesen Verlust seiner Figur an Innerlichkeit hat Vergil nicht zuletzt durch die erneute, starre Einfügung des Helden in die providentielle Gruppe165 Anchises-Aeneas-Ascanius ausgedrückt. Vergeblich beruft sich (10,53 lff.) der um pietas flehende Gegner auf Aeneas* Vater und Sohn: die pietas des Helden ist diese Gruppe und ihr fata-Sinn selbst geworden.166 Ascanius zugesprochen ist das letzte Gedenken des Aeneas vor seinem Schlußkampf mit Turnus (12,432ff.). Es handelt sich um eine komplizierte und unter dem hier betrachteten memorialen Aspekt raffinierte Form: von Aeneas formuliert wird diese Zuspräche als (wiederum antizipierte) memoria des erwachsenen Ascanius, der sich an Hektor erinnert, an die exempla seiner Vorfahren, an Aeneas selbst. Ihr Ziel ist virtus und labory nicht fortuna. Eine letzte Steigerung der Gedächtnisantizipation wird hier erreicht, wenn nach Aeneas* Willen Ascanius später in diesem Gedenken an Aeneas zur virtus aufgerufen werden soll (»sis memor et te animo repetentem ... / ... Aeneas ... excitet«, 12,439f.). Hier ist die gegenwärtige Ermahnimg eingeklammert; Aeneas hat sich als lebende Person (außerhalb der Schlacht) vollständig getilgt. Vollends verläßt Aeneas* Schutzgöttin Venus den Helden als Person und wendet sich Ascanius als dem Zukunftsrepräsentanten der Gruppe griff auf die >augusteische< Deutung des Epos (verbreitet vor allem in Deutschland; zuletzt: Otis [Anm. 3]) veranlaßt. Parry, hierin der Vergilauffassung H. Brochs nahe, interpretierte den Aeneas der zweiten Werkhälfte als Opfer der römischen Zukunft; die Aeneis wolle mit ihrer >zweiten< Stimme den Preis sichtbar machen, der für geschichtliches Handeln erlegt werden müsse. M. C. J. Putnam, The poetry of the Aeneid, Cambridge/Mass. 1965, wandte diese Beobachtungen zur Attacke des Dichters gegen Augustus um: in das Nationalepos eingeschrieben sei mit der Figur des Aeneas der Protest gegen den beginnenden Prinzipat; so auch S. Farron in mehreren Untersuchungen (vgl. z.B.: Aeneas' human sacrifice, in: Acta Classica 28, 1985, S. 21-33). 164 Durch den Blick auf das Pallas geraubte Wehrgehenk des Turnus; diese Erinnerung zieht Aeneas tief in sich hinein: »postquam saevi monimenta doloris /exuviasque hausit« (12,945f.). 165 Sie war noch im fünften Buch spielerisch durch Analogien in den Familien der Aeneaden variiert worden (vgl. 5,563ff.). 166 Zutreffend Otis' Schlagwort von Aeneas als >pietas in Aktion < ([Anm. 3], S. 313). 69
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zu (10,46ff.): möge doch Aeneas wieder ziellos in den Wellen treiben oder waffenlos irgendwo sein Leben in Ruhe zu Ende bringen:167 »liceat superesse nepotem«. Vergil hat diese Reduktion seines Helden auf die melete des Handelns eindringlich mit der zweiten großen Ekphrasis der Aeneis vollendet. Die Schildbeschreibung des achten Buches respondiert der Beschreibung des Tempelfrieses (s. oben HI), aber sie nimmt das Ergebnis des ersten Buches, die Selbstbegegnung und ästhetische Selbstdistanzierung, in einer denkwürdigen Szene zurück. Die Waffen des Vulcan, die Venus (wie die homerische Thetis dem Achilleus) ihrem Sohn überbringt, tragen auf dem Schildbuckel die geschichtliche Zukunft Roms noch einmal dargestellt.168 Aeneas [H5] aber erkennt sie nicht mehr. Der descensus ist unter das ihm verfügbare Gedächtnis abgesunken. Die Kommemoration des »quorum pars magna fui« (2,6; vgl. oben II), die Betroffenheit der Selbstbegegnung, wie sie vor dem Tempelfries möglich wurde, fehlt hier angesichts der Zukunft. Vergil verweist nun bei der Schildbeschreibung zunächst noch auf das Bewußtsein von der ästhetischen Qualität, das Aeneas vor den Friesdarstellungen hatte (vgl. 1,464: »animum pictura pascit inani«; vgl. oben HI): »miratur rerumque ignarus imagine gaudeU (8,730) - allerdings »*gnarus«: die delectatio am Schild kennt ihren Gegenstand nicht mehr. Sie sinkt daher schließlich alsbald unter das Bewußtsein ab, bedeutungsvolle Gestalten, überhaupt ein Kunstwerk vor sich zu haben: das verwunderte Schauen des Helden kann sich nicht genug tun und gleitet zu den Werkstoffen, zu den Funktionen der Waffen ab (8,618ff.). Am Ende nimmt er den Schild als Waffe auf, wälzt ihn sich samt fama und fata auf die Schultern (8,729-731): »talia per clipeum Volcani, dona parentis, miratur rerumque ignarus imagine gaudet attollens umero famamque et fata nepotum.« Nicht mehr den Vater und mit ihm die mythische Vergangenheit schleppt Aeneas aus dem brennenden Troja; in die Kriege um Rom hinein schul167 »Positis inglorius armis / exigat hie aevum* (10,52f.): es ist das Vergessen der fatay das Aeneas erfolgreich bewältigt hatte! 168 Einer der viel beachteten >Durchblicke< (vgl. oben I), in denen Vergil dem Leser die augusteische Gegenwart als Endpunkt der römischen Geschichte präsentiert; Vulcan hat ihn dementsprechend »haud vatum ignarus venturique inscius aevi« (8,627) gefertigt. Dem entspricht, daß Schildbeschreibung und Heldenschau so kunstvoll variiert sind, daß keine Figur und keine Kleinszene eine präzise Dublette haben. 70
AENEAS' EPISCHES VERGESSEN
tert er die geschichtliche Zukunft. Aeneas als Karyatide - auch die komplette Dreiergruppe, wie sie in der Antike vor und nach dem vergilischen Epos den überall gültigen Inbegriff des mythistorischen Gesamtgeschehens vorstellte,169 trägt den Charakter und die memoriale Struktur dieser Karyatide.170 Der archaisch-additive Schultersitz (Huckepacksitz) des Anchises wird nach einigen Experimenten auf Krateren und Münzen in der Tabula Iliaca von Bovillae (Abb. 1) von einem Aeneas abgelöst, der mit gefalteten Händen das untergeschlagene Bein des Vaters am Unterschenkel hält. Anchises, verhüllten Hauptes, die pignora imperii im Schoß, schaut in die von Hermes gewiesene Richtung zum Schiff. In sie blickt auch der junge Ascanius, den der Vater nicht an der Hand hält, sondern der den Vater zu führen scheint. (Creusa, die in späteren Bildtypen fehlen wird, ist auf diesem erzählenden Bildwerk noch links im Hintergrund sichtbar.) Aeneas' Blick aber folgt nicht dem Hermes; er trifft den Betrachter. Den Grundlinien dieses Bildtyps folgt noch Berninis, für die Neuzeit am einflußreichsten gewordene Gruppe in der Villa Borghese (Abb. 2). Creusa und Hermes sind verschwunden, die lastende Statik der Gruppe Asfigura serpentinata ist hervorgehoben; Aeneas ist stärker isoliert. Ascanius ist entsprechend dem ersten Buch zum Cupido umgestaltet, halb versteckt, mit der Hauptfigur kaum mehr verbunden. Aber er blickt in die gleiche Richtung wie das äußerst wache und streng zusammengefaßte Gesicht des eher getragenen als hinfälligen Anchises - eine Richtung, die der Idealperspektive des Betrachters entspricht. Aeneas kehrt den Blick zur Erde. [116] Als Epos hat die Aeneis die Karyatide ihres Helden nicht von der Doppellast mythischer und geschichtlicher memoria entlastet. Aber Aeneas tritt, sich selbst memoria und mit ihr eine Person erwerbend, in den zentralen Büchern aus dem homerischen und römischen Gefüge hervor. Nicht daß er dann unbelastet sichtbar würde: die memoria an das Leid und den folgenlosen Untergang der Gescheiterten ebenso tragend wie die ästhetische memoria eines philosophischen Universums, unterstellt er sich dem Himmel eines Weltgedichts, das Vergil von den Eklogen an zu schreiben beabsichtigte, dem Himmel einer Philosophie, der sich der Dichter nach den letzten bezeugten Äußerungen während der Arbeit an 169 Vgl. zum Folgenden die Nachweise bei W. Fuchs, Die Bildgeschichte von de: Flucht des Aeneas, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. I 4, Berlin 1973, S. 615-632. 170 Die - naheliegenden - tiefenpsychologischen Deutungen (vgl. Quint [Anm. 62], S. 35; R. Fahr, Lacrimans exsul feror, in: Anregung 20, 1981, S. 377-382) können hier nicht berücksichtigt werden. 71
AENEAS* EPISCHES VERGESSEN der Aeneis ganz zuzuwenden gedachte. So ist er zur Karyatide des Atlas171 geworden. Bei dieser >antiken Aufgabe<172 wird sie nach Abtragung der in heutiger memoria nahezu unkenntlich gewordenen imperialen und homerisierenden Metopen des Werkes wieder für uns sichtbar.
171 Vergil hat die Atlasfigur der Aeneis (vgl. 4,219ff.; 8,136ff.) der Schulterung des Schildes durch Aeneas deutlich kontrastiert; vgl. K. W. Gransden, Virgil, Aeneid Book Vm, Cambridge 1976, S. 17f., und Ph. R. Hardie, VirgiPs Aeneid, Oxford 1986, S. 372ff. - Zugrunde liegt die naturphilosophische Allegorie des Atlas seit hellenistischer Zeit; vgl. P. Boyance, Virgile et Atlas, in: Melanges d'histoire ancienne, offerts a W. Seston, Paris 1974, S. 49-58. 172 »Karyatiden, den Blick voller Entsetzen in die Kunstgeschichte gerichtet, aus der sie extrahiert worden waren. Wenig später eine jener Figuren, die feuergeschwärzten Schultern beladen mit einer Last, welche keine andere Stütze mehr hatte als sie, die unverhofft aus dekorativem Dasein zu antikem Auftrag gelangten: den Himmel zu tragen.« G. Kunert, Tagträume in Berlin und andernorts, Frankfurt/M. 1974, S. 33. 72
AENEAS' EPISCHES VERGESSEN
Abb. 1: Die Tabula Iliaca von Bovillae
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AENEAS' EPISCHES VERGESSEN
Abb. 2: Bernini, Aeneas, Anchises und Ascanius (Villa Borghese)
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Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica i In der aula memoriae unserer Feste gibt es einen Winkel, aus dessen Fundus wir immer wieder inszenieren: die spätrömische Orgie, »das Satyricon«, etwa in der Auffassung von Anatole France (Thais), von Heinrich Mann (Im Schlaraffenland) oder vor einiger Zeit von Fellini. Die Stereotypen brauchen nur angedeutet werden, auf daß sie sich mit öder Vertrautheit zum Gemälde (nämlich immer noch dem Thomas Coutures, Les Romains de la decadence, von 1847) vollenden: Es ist spät, draußen steht der graue Morgen, die Lampen brennen niedrig, Erbrochenes und Wein auf Marmor, Pfauenfedern in den Schlünden, stammelnde Trunkenheit auch der Philosophen, sexuelle Vermischung unter dem Ächzen der Insuffizienz oder Perversion... Es ist das Ende des Festes, sein Mißlingen, das wir hier inszenieren, und es hat folglich seinen angestammten Platz in Theorien des Festes, die beklagen, daß wir immer weniger zu feiern verstehen: Wenn sich aber dem wahren Feste unbemerkt und fast unwahrnehmbar das Pseudofest unterschiebt - erst dann wird es endgültig schlimm. Pseudofeste hat es anscheinend zu allen Zeiten gegeben; es handelt sich um eine immer präsente Möglichkeit der Entartung. Im spätantiken Rom zum Beispiel ist das festliche Arrangement ohne den wahrhaft festlichen Kern eine geradezu charakteristische Erscheinung gewesen - charakteristisch für den Verfall,1 den Verfall natürlich gegenüber den primären Entgrenzungen und Exzessen (etwa nach dem Modell von Caillois), der archaischen »Freigabe des Verbotenen« (Freud). Die >Orgie< Petrons wird somit zum Ahnherrn der kompensatorischen Kahlschlagzonen spätneuzeitlicher Belustigungen, der Freizeit, des Kriegs, des Urlaubs. Nicht solche Festphilosophie (und die ihr inhärente Geschichtsphilosophie), nicht die Stereotypen der Orgie sind bemerkenswert, wohl aber die Tatsache, daß Aus: Das Fest, hrsg. von Walter Hang und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 14), München: Wilhelm Fink Verlag 1989, S. 120-150. 1 J. Pieper, Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes, München 1963., S.93.
PETRONS SATYRICA hier historisch nichts stimmt. Kein Zug aus der vertrauten Festinszenierung >Orgie< kommt nämlich im historischen Referenztext, der cena Trimalchionis aus Petrons Satyrica, vor. Merkwürdiger noch: auch die Inszenierungen der cena bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts reichern sich nicht mit diesen Zügen an. N u n ist die cena Trimalchionis seit ihrer Erstveröffentlichung 1664 bis zum 19. Jahrhundert wiederholt als Fest und bei Festen aufgeführt worden; sie gehört zur Literatur, die als Fest inszeniert wurde. Die früheste Aufführung war durch einen [121 ] Brief Leibniz' für Februar 1702 in Hannover-Herrenhausen bekannt; 2 inzwischen habe ich im LeibnizArchiv (Hannover) den verschollen geglaubten, von Leibniz selbst aus diesem Anlaß verfaßten Trimalcion Moderne in Versen gefunden; Leibniz spielte in der Aufführung selbst den Enkolp. Die Bearbeitung und Inszenierung 3 hat nun das festliche Gastmahl des Trimalchio durchaus Formen des barocken Festes4 angenähert, in diesem Sinne auch neue Motive hinzugefügt;5 sie hat darüber hinaus Elemente des Tischgesprächs, des gelehrten discours zu einer philosophisch-theologischen Aktualisierung der Antike genutzt. Aber es findet sich, abgesehen vom Raffinement der Speisenfolgen, noch kein Element der >Orgie<.6 Dies bleibt auch das Kennzeichen ver2 Vgl. Friedländers Cena-Kommentar, Leipzig 1891, S. 155ff. (nur ein Auszug; der vollständige Brief war bereits von C. E. von Malortie, Der hannoversche Hof unter dem Kurfürsten Ernst August und der Kurfürstin Sophie, Hannover 1847, S. 175-182 veröffentlicht worden). 3 Im Typ von den Maskenzügen zu unterscheiden, mit denen antike Prosaliteratur seit dem 17. Jahrhunden festlich inszeniert zu werden pflegte; vgl. A.-Ch. Gruber, Les grandes fetes et leurs decors jusqu'i l'epoque de Louis XVI, Paris-Genf, 1972, S. 99ff. 4 Zur Aufführungstradition in Hannover unter Einbeziehung des Hofes (als Schauspieler; aber auch in szenischer Hinsicht: Trimalchio tafelt zwischen Leibniz / Enkolp und dem Kurfürsten, der »außerhalb des Spiels« mitfeien) vgl. außer den unveröffentlichten Materialien R. E. Wallbrecht, Das Theater des Barockzeitalters an den weifischen Höfen Hannover und Celle, Hildesheim 1974. 5 Trimalchio als soldatischer >Held< der Devolutionskriege gegen Frankreich (Motiv des miles gloriosus). 6 Bemerkenswert ist lediglich die z.T. krass-erotische Skatologie der Leibnizsehen Verse, die der Autor noch durch spätere Korrekturen verstärkt hat. So wird in einem Preislied des (hier in die cena integrierten Petronschen) Dichters Eumolp auf Trimalchio traditionelle petrarkistische Metaphorik parodiert: »Un petit Tarqvin bruloit Pour la gründe Lucrece. Dans l'ardeur qvi le pressoit, 76
PETRONS SATYRICA
gleichbarer Inszenierungen unter der Regence und zuletzt 1813 in Frankreich.7 Eine Wende (die offenbar an der zunehmenden Faszination durch die Spätantike als Epoche teilhat)8 bezeichnet Alexandre Soumets Tragödie Fete de Neron (1830). Die für ein römisches Fest obligatorisch gewordene cena bildet den Höhepunkt des Stückes (Akt HI, Szene 5), aber der Emporkömmling ist aus ihr verschwunden. Das Fest wird von Nero (in Anwesenheit Petrons) begangen, und sein Höhepunkt ist eine Aufführung von [122] Aischylos' Agamemnon durch den kaiserlichen Muttermörder. Das >Fest< selbst hat sich hier von der Vorlage Petrons gelöst und kann nunmehr durch Züge aus Sueton, der Historia Augusta und Tacitus montiert werden. Soumet bemerkt bereits summarisch in einer Regieanweisung: »Musique et ballet. La fete occupe tout le theatre; eile doit offrir Paspect d'une Bacchanale de l'antiquite«. Das Gemeinte konnte als vertraut vorausgesetzt werden. Als Ballett hat sich die Form auf der Bühne noch lange gehalten (nächste Reprise: Scribes Ballett in drei Akten UOrgie von 1831). - Hier erscheint also ein antikes literarisches Gastmahl, zunächst als Fest aufgeführt, zum Inbegriff eines nicht mehr literarisch verstandenen Festtyps dekonstruiert. Wenn dann später die römische Orgie wieder in literarischer Gestaltimg auftritt, so mit allen Paraphernalien eines selbständigen Imaginationsraumes, die Petrons cena nur mehr in bescheidenen und ungenauen Graden intertextueller Referenz enthalten.9 // bevoit et debevoit Sans cesse, sans cesse. Un jour a l'objet charmant II pissa dans la poche Estant las de sa rigueur Et croyant percer ce cceur De röche, de röche. Les pleurs estoient peu touchans Pour attendrir la dame; Presse de ses feux ardens II versa de l'eau dedans Sa flamme, sa flamme.« 7 Vgl. A. Collignon, Petrone en France, Paris 1905, S. 88ff. 8 Vgl. Herzog, Epochenerlebnis >Revolution< und Epochenbewußtsein >Spätantikes in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von R. Herzog und R. Koselleck (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, S. 195-219. 9 So beim Festin de Cotta in Anatole Frances Thais: das Raffinement der Petronschen Verfremdung von Eßbarkeit bei einzelnen Speisenfolgen - schon in der Leibnizschen Bearbeitung das lebendigste Zitatelement - dient nun weniger der Referenz als einer Gliederungsfunktion im Ablauf der cena: das Zitat evoziert nicht
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PETRONS SATYRICA Diese Dekonstruktion eines literarischen Gastmahls zum Prototyp des >spätrömischen Festes< (mit ihr verschwand die cena Trimalchionis in der Obhut kontierender, dann bis heute zumeist linguistisch und archäologisch kommentierender Philologen) hat nun ein ganz ähnliches Seitenstück. Im historischen Arrangement literaturwissenschaftlicher Romantheorie wurde Petrons Werk zum vielbesprochenen Kernstück der satura Menippea, nämlich ihrer dem Roman am stärksten angenäherten Form in der Antike 10 und gedieh dabei zu einem vergleichbar unkenntlich gewordenen Inbegriff.11 - Ich vermeide es, hier Belege anzuführen; es handelt sich um eine (untersuchenswerte) Form literaturwissenschaftlicher Intertextualität, deren durchaus produktive literarhistorische Unscharfe bei der Begegnung antiker Texte mit der Stringenz moderner Theorieparadigmen entstehen kann. Die >menippeische Satire< gibt es in der antiken Literaturtheorie nicht;12 menippeisch bezeichnet lediglich die formale Eigenheit des prosimetrum (die so unterschiedliche Werke wie die Consolatio philosophiae und die Satyrica aufweisen).13 Die heutige inhaltliche Ausweitung des Begriffs geht auf Drydens Literarkritik (und seine Verteidigung der eigenen Satiren) zurück; sie wurde in der Klassischen Philologie von Helm 1906 durch eine Gattungsgeschichte von Menippos über Antisthenes und die Diatribe bis zu Varro und Lukian [123] unterbaut,14 die zwar inzwischen als Phan-
mehr in erster Linie, sondern dient der Distanzierung des Autors gegenüber seinem Text. 10 Durchaus zutreffend bemerkt J. Kristeva, daß dieser Begriff (sc. die satura Menippea) den »Vorteil hat, eine gewisse Schreibweise in die Geschichte einzubetten« (Le mot, le dialogue et le roman; dt. Fassung in: Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. von J. Ihwe, Bd. 3, Frankfurt/M. 1972, S. 371). 11 Solche Unkenntlichkeit ging soweit, daß konstruierte Entwicklungslinien die Entdeckung der cena (erst im Jahre 1650) ignorierten, daß die cena stellvertretend für die übrigen, ganz heterogenen Teile der Satyrica (unrichtig zumeist als »das Satyricon« benannt) eintraten, daß schließlich auch die Petronschen Namen verfremdet wurden. 12 Varro hat den hybriden Titel für ein Werk verwendet, das er natürlich als Sammlung (römischer) Satiren verstand; neu (und auf Menippos von Gadara zurückgeführt) war die Form des prosimetrum. Die >menippeischen< Themen finden sich bereits bei Lucilius, ja Ennius. 13 Vgl. J. S. Williams, Towards a definition of Menippean satire, Diss. Vanderbilt Univ., NashvUle 1966, und N. Terzaghi, Per la stoiia della satira, Messina 2 1944. 14 R. Helm, Lucian und Menipp, Leipzig 1906.
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tom erkannt wurde,15 jedoch bis heute von den neueren Philologien rezipiert wird.16 Petron nahm in ihr - besonders nach Heinzes Ableitung der Satyrica vom griechischen Roman17 - keine hervorragende Stelle ein. Das änderte sich, als die literaturwissenschaftliche Romanforschung die menippeische Satire entdeckte. Nicht mit dem Anspruch einer Gattungsgeschichte, sondern aus archetypischen Mustern des Ästhetischen eine Anatomie auch der Prosagattungen entwickelnd, sah Northrop Frye einerseits die >Haltung< der Satire, andererseits die >Form< des Menippeischen in einer neuen Gattung verschmelzen. Neben wertvollen Beobachtungen zum >menippeischen< Helden und seinen Situationen11 war nun für die Satyrica der Ort ihrer literarhistorischen Bedeutung gefunden: mit Petron erreichte die >Menippea< den Roman und eröffnete dessen ästhetisch wertvollste Linie. Bei Michail Bachtin steht das Phänomen Petron in einem noch weiteren Horizont. Die Ausarbeitung des dialogischen Prinzips jenseits der linguistischen und logischen Doktrinen zur Zeit seiner ersten Schriften führte vor allem zum semantischen, dann aber auch Uterarisch-historischen Konzept der Polyphonie, der Anwesenheit textuell scheinbar nicht präsenter Stimmen, quer und gegen den >Monolog< der hohen Gattungen in einem literarischen Diskurs, in dem eine Vorstellung von Werk- und Autoridentität, besonders in der Theorie J. Kristevas, obsolet zu werden schien. Diese Entwicklung ist bekannt genug; aus ihr bezieht auch die gegenwärtig anhaltende literaturwissenschaftliche Anwendung des Intertextualitätskonzepts ihre Energie.19 Indessen zeigt schon die Präsentation der dialogischen Schichten in Bachtins Dostoevskij-Buch,20 daß die polypho15 Vgl. J. Bompaire, Lucien ecrivain, Paris 1958. 16 Vgl. noch die - für die frühe Neuzeit sehr nützliche - Übersicht bei W. von Koppenfels, Mundus alter et idem, in: Poetica 13, 1981, S. 16-66. - Demgegenüber vermitteln komparatistische Zusammenstellungen, die sich auf das sichere Kriterium des prosimetrum beschränken, einen eindrucksvollen Überblick über die Adaptation dieser Form in den unterschiedlichsten Gattungen; vgl. A. Scherbantin, Satlira Menippea, Diss. Graz 1951, und E. P. Korkowski, Menippus and his Imitators, Ann Arbor 1973. 17 R. Hcinze, Petron und der griechische Roman, in: Hermes 34, 1889, S. 494512. 18 N. Frye, Anatomy of criticism, dt. Ausgabe, Stuttgart 1964, S. 310f. 19 Vgl. hier die thematisch dem Konzept gewidmeten Kolloquiumbände >Dialogizität«, hrsg. von R. Lachmann, München 1982; >Intertextualität<, hrsg. von U. Broich und M. Pfister, Tübingen 1985; >Bakhtin<, hrsg. von G. S. Morson, Chicago 1986. 20 Dt. »Probleme der Poetik Dostoevskijs«, München 1971, S. 114-154. 79
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ne Subversion, das »Karnevalistische«, nach einer »historischen Poetik« verlangt - nach Bachtin auffindbar in einem »objektiven Gedächtnis der Gattung«. Der gesuchte Zeitpunkt, an dem die Subversion allererst »eindringt«, ist der Hellenismus, der Ort die Sageweise des >Spoudogeloion< (zur Charakterisierung von Texten in der Antike nicht belegt); zur Textoberfläche stößt sie u.a. im sokratischen Dialog und eben in der >Menippea<, erkennbar nach dem heuristisch bahnbrechenden Merkmalkatalog des >Menippeischen<.21 Es stellt sich für Bachtin, der an der Perspektive auf den neuzeitlich-dialogischen Roman von Rabelais bis Dostoevskij interessiert ist, nach dieser historischen Deduktion das Problem, die Verbindung von Menippea und Roman in der Antike nicht nur beschreiben, sondern auch erklären zu müssen, zu erklären ferner, warum sie sich erst mit über tausendjähriger Verspätung zur befreiend-chaotischen LachPolyphonie eines Rabelais mauserte. Bachtin ist dieser Frage wiederholt nachgegangen (in >Die beiden stilistischen Linien des europäischen Romans < und in >Die Vorgeschichte des Romanwortes«,22 ferner in der erzähltheoretisch anspruchsvollen und die historische Deduktion [124] z.T. verlassenden >Chronotop<-Studie).23 Hierbei geht es angesichts der deduktiven Methode und des disparaten antiken Materials begreiflicherweise nicht ohne einige begriffliche Verrenkung ab, die am Ende eine starke geschichtsphilosophische Überzeugung (gesteigen noch bei Kristeva) vermittelt. - Der griechische Roman, ein zwar z.T. parodistisches, aber artifizielles, häufig sentimentales Genre von gewiß nicht karnevalistischem Zuschnitt24 konnte nicht »als eine bis zur Romanform ausgedehnte menippeische Satire« gelten.25 In der >Chronotop<-Studie wird denn auch gegenüber diesem (»sophistischen«) Roman ein menippeisch-folkloristischer >Prüfungs- und Abenteuerroman< postuliert - doch erfüllt ihn nur Apuleius (ohne menippeische Form!).26
21 Ebd. S. 127-133. 22 Beide dt. in >Die Ästhetik des Wortess hrsg. von R. Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 251-338. 23 Hier benutzt in der franz. Übers.: >Esthetique et theorie du roman<, Paris 1975, S. 235-399. 24 Vor allem wird es, nicht nur von Bachtin, in seiner erzähltechnischen Raffinesse und Modernität unterschätzt; vgl. T. Hägg, Narrative technique in ancient Greek romances, Stockholm 1971. 25 >Probleme der Poetik Dostoevskijs< [Anm. 20], S. 126; man beachte die »gesellschaftspolitische«, »philosophische« und »ideologische« Erklärung in >Ästhetik des Wortes< [Anm. 22], S. 256f. 26 Vgl. >Esthetique< [Anm. 23], S. 261ff.
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PETRONS SATYRICA Das »Fatale« dieses Befundes - systematisch wäre zu dieser Zeit, der ausgehenden Antike, die gesuchte Verbindimg erfordert - läßt Bachtin auf eine allgemeine Schilderung der >römischen Lachkultur < rekurrieren: »Das Ganze kommt mir wie ein gewaltiger Roman vor«.27 Die Satyrica können dieser gesuchte Roman nicht sein, obwohl sie genau das missing link sind - in defizienter Weise: »Tatsächlich ist der Roman als ein Gebilde mit vielen Gestalten und vielen Stilen aus diesem großen Ganzen der parodistisch widergespiegelten Wörter und Stimmen in der Antike entstanden, vermochte es allerdings nicht, das gesamte vorbereitete Material in sich aufzunehmen und zu verwenden. Ich habe Petronius im Auge. Zu größerem war die antike Welt offensichtlich nicht fähig.«28 Eine Begründung für dieses Urteil gibt Bachtin nicht; offensichtlich wird es veranlaßt durch sein Konzept von der geschichtlichen Funktion der karnevalistischen Polyphonie als des Gegenkonstrukts zum (sich mit dem Christentum monotheistisch verstärkenden) literarischen Monolog der herrschenden Ideologie: nach einem solchen Konzept wird die literarische Lachkultur erst im Spätmittelalter stärker herausgefordert.29 In den Satyrica suchte Bachtin Vorbereitendes, den Atem folkloristischer Riten, den Saturnalienexzeß,30 und traf auf die intertextuelle Anwesenheit einander parodierender hoher Gattungen und ihr Raffinement.31 Demgegenüber ist Petrons anspruchsvolles Programm, wer sich mit Literatur abgebe, dessen Sinn müsse »ingenti flumine litterarum inundata« sein (118,3),32 zwar ein Manifest der Intertextualität, aber nicht >karnevalistischer<. 27 »Ästhetik des Wortes< [Anm. 22], S. 317. 28 Ebd. [Anm. 22], S. 317. 29 Vgl. >Esthetique< [Anm. 23], S. 251 und >Ästhetik< [Anm. 22], S. 253f. - Kristeva hat dieses historische Schema noch verstärkt (>Le mot< [Anm. 10], S. 364). 30 Vgl. die hymnischen Projektionen in die Satyrica: >Esthetique< [Anm. 23], S.364. 31 Wie bereits W. Rösler (M. Bachtin und die Karnevalskultur im antiken Griechenland, in: Quaderni Urbinati 23, 1986, S. 25ff.) am Beispiel der alten Komödie gezeigt hat, verwehrt Bachtins >folkloristischer< Ansatz ihm die Erkenntnis jeglicher Intertextualität zwischen hohen und akzeptierten Gattungen, die durchaus zur Stabilisierung der Anspielungskultur einer Bildungselite gehören. Besonders für die prosimetrischen Formen in kynischer Tradition - also die Vorgeschichte der Satyrica - sind die bei Bachtin gänzlich ausgesparte Nea sowie die römische Tragödie von Belang. Eine fruchtbare Anwendung von Bachtins Konzept auf die Apocolocyntosis Senecas findet sich bei R. R. Nauta, Seneca's Apocolocyntosis as Saturnalian literature, in: Mnemosyne 40, 1987, S. 69-96. 32 Von E. R. Curtius als Motto zu seinem großen Werk gewählt.
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Wie durch die Projektion der Vorstellung >Orgie< ist auch durch das Argumentationspotential, mit dem eine gattungshistorische Konstitution ihren Schwerpunkt zu untermauern sucht, das darunterliegende Werk verschlossen geblieben. [125] Was also ist das römische >Fest<, wenn wir es in der cena Trimalchionis, in den Satyricay wiederzuerkennen suchen? Eine Lektüre des Werkes kann zu unerwarteten Antworten führen.
n »Life or death, death or life: Life is death, and death is life.« T. S. Eliot, Sweeney Agonistes Beim Eintritt in das Haus Trimalchios bricht sich Enkolp vor Schreck fast die Beine, als er sich einem riesigen Hund gegenüber sieht - bis er entdeckt, daß es sich um ein Gemälde handelt (29,lf.) Als die Abenteurer der endlosen cena zu entkommen versuchen (72,4-73,1), ist der Hund lebendig geworden33 und versperrt den Weg; der begleitende Lustknabe Giton füttert und besänftigt ihn - wie die Sibylle im Unterweltsbuch der Aeneis den Cerberus, der zwar Einlaß gewährt, aber niemand hinausläßt (Imitation von Aen. 6,418-23). Es folgt der Bescheid des »atriensis«, daß man sich keine Hoffnung machen solle, auf demselben Wege das Haus verlassen zu können, auf dem man es betreten hatte: »nemo umquam convivarum per eandem ianuam emissus est; alia intrant, alia exeunt« (72,10): das ist die Konstruktion des vergilischen Hades (Aen. 6,893-896). Der Ausgang indessen bleibt unauffindbar, die Helden, »novi generis labyrintho inclusiv wiederholen die Erfahrung des Dädaluslabyrinths34 aus dem Vergilischen descensus (vgl. vor allem 6,27) und werden zur Rückkehr ins Fest gezwungen. Dieses Anspielungsensemble verdient deshalb 33 Ausdrücklicher Rückverweis auf 29,1: 72,7. Eine ähnliche Verklammerung: die Uhr, die Trimalchio an seinem Grab anbringen lassen will (71,11), hat er, wie noch vor Beginn der cena berichtet wird (26,9), auch in seinem »triclinium« stehen; beim Stundenschlag bläst ein »bucinator« - das Hörn ist das Instrument für Begräbnismusik -, »ut subinde sciat quantum de vita perdiderit«. Das Hörn wird während der cena immer wieder geblasen, zuweilen >über eine halbe Stunde< (69,4). 34 Bereits erkannt von P. Fedeli, Petronio: II viaggio, il labirintho, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 6,1981, S. 91-117. 82
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Aufmerksamkeit, weil Petron Aktionen und Akteure nach herkömmlicher Auffassung sich selbst kennzeichnen läßt; allerdings gibt es, wie noch zu erörtern sein wird, eine reiche, eindeutige Interpretationen durchkreuzende intertextuelle Anwesenheit des Mythos. Immerhin weist hier das Ensemble der von Petron gesetzten Signale so stark in eine Richtung,35 daß das Haus des Trimalchio, geschilden beim Eintritt des Helden, näheres Zusehen verlohnt.56 Über die Front des Hauses zieht sich ein Gemälde (29,3-6), das seinem Besitzer gewidmet ist. Solche pikturalen Hinweise, besonders auf den Beruf des [126] Hauseigners (in diesem Fall führt Minerva Trimalchio nach Rom), sind durchaus üblich. Aber hier ist die ganze Lebensgeschichte (von der Stellung als Lieblingssklave seines früheren Herrn: »capillatus« über seinen Aufstieg als Freigelassener) dargestellt und zwar bis zum Auftritt der Parzen und bis zur Apotheose.37 Solche Darstellungen finden sich an keinen Wohnhäusern;38 es handelt sich um die Darstellung eines abgeschlossenen Lebens, wie sie nach allen Einzelzügen für den Sarkophag bezeugt ist: Merkur als Psychopompos erscheint in Szenen aus dem Lebenslauf des Verstorbenen etwa auf einem Sarkophag der Villa Doria Pamphili,39 die Trias Merkur, Fortuna und Parzen auf dem fragmentarischen Sarkophag eines pompejanischen Händlers.40 Und so wird Trimalchio gegen Ende der cena, als er sein Grabmal in Auftrag gibt (81,9), die Hauptzüge dieses Wandbildes wiederholen. Er selbst will hier an Stelle der Fortuna Münzen unter das Volk werfend dargestellt werden. Aber auch diesen Darstellungstyp (Fortuna reicht aus ihrem Füllhorn dem Verstorbenen die Münzen) kennt die sepulkrale Ikonographie. 35 Hinzu tritt die Elster über der Schwelle des Eingangs (28,9): ein Totenvogel, vgl. CIL m 5561. - Die Helden werden aufgefordert, mit dem rechten Fuß die Schwelle ins Haus zu überschreiten: dieser Aberglaube war beim Eintritt in ein Haus zu beachten, in dem eine Begräbnisfeier stattfand (W. Deonna und M. Renard, Croyances et superstitions de üble dans la Rome antique, Brüssel 1961, S. 78). 36 Die folgende Untersuchung ist besonders der Vorarbeit M. Grondonas, La religione e la superstizione nella Cena Trimalchionis, Brüssel 1980, verpflichtet. 37 Mit ihren typischen Elementen: Mercur führt Trimalchio am Kinn zum tribunal; dort steht Fortuna mit der cornucopia an seiner Seite. Post mortem sieht in dieser Weise der Kaiser Claudius in Senecas Apocolocyntosis sein Leben hinter sich. 38 Petron sagt ausdrücklich, daß der Platz für die Darstellung an der Hauswand >kaum mehr ausreicht< i^in deficiente vero iam porticu«, 29,5). 39 Kommentiert bei F. Cumont, Recherches sur le symbolisme funeraire des Romains, Paris 1942, S. 336f. 40 Vgl. den Art. >Mercurius in: C. Daremberg und E. Saglio, Dictionnaire des antiquites grecques et romaines, Bd. 3.2, Paris 1904. 83
PETRONS SATYRICA Trimalchios Haus ist ein Sarg?1 ein Totenhaus, aus dem so schwer zu entkommen ist wie aus dem Hades. Enkolp, Ascyltos und Giton aber nehmen in diesem Haus an einer Feier unter Toten teil. Bekannt ist jedem Leser der cena die meist als unübertrumpfbarer Schlußakzent des Festes verstandene und durchaus mit literarischen Parallelen vergleichbare42 Inszenierung des eigenen Todes - genauer: der eigenen Leichenfeier. Doch eine genaue Analyse der Schlußphase dieser Feier (71-78) zeigt, daß hier eine Schwellensituation dargestellt wird, in der Leben und Tod ununterscheidbar geworden sind: ein >Lebender< sucht sein Dasein in einer Feier auf seinen Tod hin zu verdichten, aber man sieht einen >Toten<, der seine Endlosigkeit im Arrangement einer Feier als Leben zu reduzieren sucht. Zur Erläuterung: Die cena geht in folgenden Phasen ihrem Ende entgegen: 1) Trimalchio läßt sein Testament verlesen: »utfamilia mea iam nunc sie me amet tamquam mortuum« (71,3). Die »familia« beginnt mit dem Jammer, wie er >technisch< den ersten Teil der Feier vor dem aufgebahrten Leichnam einleitet: »ploratio« und »gratia«; es werden in gebührender Reihenfolge die eigentliche »ploratio« mit Teilentblößung [127], Zerraufen der Haare (»scindere«) und Zerkratzen der Brust folgen, endlich die eigentliche Bekleidung des Toten mit den »vitalia« (77,7-78,1) und die Salbung. Die »laudatio«^ die Trimalchio am Ende fordert (78,5), wird noch mit dem einleitenden Hornblasen angedeutet (78,5f.), ehe das katastrophale Ende der cena eintritt.43 Nun spricht Trimalchio hier nach gewöhnlichem Verständnis als Arrangeur eines Festes unter Lebenden; Petron aber durchkreuzt ein solches Verständnis wiederum durch den Hinweis auf eine Situation post mortem. Trimalchio bemerkt bei der Rezitation seines Testaments, seine Sklaven würden »salvo me« frei sein (71,1). >Wenn ich gesund bleibe< (also aus der Perspektive des Lebenden) - so wird gewöhnlich interpretiert - kann 41 Als Gegenprobe zu dieser Erkenntnis können die vergeblichen Bemühungen der Philologen und Archäologen gelten, das Haus des Trimalchio mit seinen komplizierten und weitläufigen Gemächern architektonisch zu deuten (vgl. G. Bagnani, The house of Trimalchio, in: American Journal of Philology 75, 1954, S. 16-39); vgl. zum Wandgemälde F. Magi, L'adventus di Trimalchione e il fregio A della cancelleria, in: Archeologia Classica 23, 1971, S. 88-92. 42 So die Inszenierung der eigenen Begräbnisfeier bei Seneca, epist. 12,8; Sen. brev. vit. 20,3; Tacitus, bist. 4,45,2; man vergleiche auch die Szene aus Molieres Malade imaginaire. 43 Zu diesen Phasen der Begräbnisfeier J. M. C. Toynbee, Death and burial in the Roman world, London 1971. 84
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der Text nicht meinen: das Testament (hier vor Zeugen nochmals verlesen) würde ja gerade mit dem Tod in Kraft treten.44 »Ate salvo« ist vielmehr ein Euphemismus für den Tod; Trimalchio imaginiert mit der Rezitation den gleichen Zustand post mortem, den die ganze Feier voraussetzen soll. 2) Trimalchio instruiert sodann den Begräbnisunternehmer Habinnas, wie er sein Grabmal zu gestalten habe (71,5-12). Ausdrücklich gibt sich die Instruktion als Wiederholung des schon früher gegebenen Auftrags (71,5); und diese Wiederholung spricht nunmehr mit den Worten, in denen sonst solche Instruktionen überliefert sind: den Worten des Toten auf Grabinschriften. Das beginnt bereits mit der hochaffektischen Anrede an den Begräbnisunternehmer (»amice carissime«); auch die Einzelweisungen erscheinen wörtlich auf erhaltenen Gräbern. Selbst die erklärenden Kommentare Trimalchios (»ut mihi contingat post mortem vivere«, 71,6; »ubi diutius nobis habitandum est«, 71,7) werden durch ihre wörtliche Wiederkehr auf Inschriften in die Perspektive post mortem gerückt.45 Damit hat sich eine eigentümliche Schwellensituation ergeben. Das >normale< Verständnis des Lesers, der Lebende vor sich agieren und eine postmortale Situation imaginieren sieht, beginnt durch die Häufung gegenläufiger Signale zu schwanken und setzt dabei eine der Schwellensituation eigentümliche Dialektik frei. Man sieht Trimalchio in jenen Momenten als Toten eine prämortale cena feiern, in denen er seinen Aufenthalt im Grab detailliert als Leben - und zwar als Verdoppelung des zuvor vertrauten Lebens, als Fest - arrangiert. »Ne mortuus iniuriam accipiam« (71,8) werden nicht nur die üblichen Maßnahmen gegen Verunreinigung getroffen, Trimalchio schreibt auch eine Uhr vor, damit durch das Verfließen der Zeit an ihn erinnert wird. Dieser Zugriff auf das Leben der Hinterbliebenen äußert sich in Selbstbehauptung (das Grab darf nicht Teil der Erbschaft sein) wie in einer grandiosen Ausdehnung des eigenen Daseinsbezirks: das Grab soll 100 x 200 Schritte messen und über einen [128] Obst- und Weingarten verfügen (71,6f.). Letzterer ausdrücklich für den Gebrauch des >Toten<, der ferner die Salben und Kränze der cena verlangt sowie ein Bild der gleichen Gladiatorenkämpfe, die sich hinter der 44 Zudem sind die Sklaven vermutlich bereits zuvor (70,10) von Trimalchio freigelassen worden, indem er sie zur Teilnahme an der cena einlud. Die Deutung von 70,10 ist umstritten; sie hat die juristische Kontroverse um die manumissio per mensam ausgelöst; vgl. A. Biscardi, in: Studi Italiani di Filologia Classica 15, 1938, S. 71-74, und G. Funaioli, ebd. S. 197-206. 45 Nachweise bei Grondona, La religione et la superstizione [Anm. 36], S. 46ff. 85
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Eingangstür seines Hauses gemalt finden (71,5; vgl. 29,9 und 52,3). Der >Lebende< in seinem Grab bleibt der feiernde >Tote< in seinem Haus. 3) Diese >Verdoppelung< vollendet sich in der nächsten Phase der cena in der einzig unter den Bedingungen der Feier möglichen Form: das Fest beginnt noch einmal (72f.). Als die »familia« mit der »ploratio« fortzufahren beginnt, schlägt Trimalchio mit den Worten »quare non vivamus« (72,2) vor, ins Bad zu gehen, um danach in einem ganz anderen »triclinium« (73,5) das Fest zu wiederholen, >aus einem Tag zwei zu machen< (72,4). Man erkennt nun, daß diese cena endlos multipliziert wird (denn so wie Bad und sportliche Betätigung (73,4) die neue cena einleiten, so war, wie man jetzt bemerkt, bereits die alte cena eingeleitet worden: Trimalchio haue ja nicht etwa die »convivae« empfangen, sondern war, vom Ballspiel kommend, im »adventus« eines Leichenzuges46 vor ihnen in sein Haus eingezogen: 27,1-6). An dieser Stelle versuchten die Helden der Satyrica aus dem >Hades<, wie erörtert, zu entkommen. Während im Verlauf dieser vergeblichen Versuche Ascyltos und Enkolp aus Schreck vor >Cerberus< ins »frigidarium« fallen (den kalten Höllenfluß Styx, wie die vergilischen Anspielungen zeigen),47 wirkt das heiße Bad (vgl. 72,4, wiederum durch vergilische Folie als Phlegeton erkennbar) auf Trimalchio wie eine Auferstehung (»rectus stabat«). Das heiße Bad steht (wie der Wein) wiederum nach den Grabinschriften für das Leben schlechthin.48 Das Fest geht weiter:49 »usque in lucem cenemus« (73,6). [129] 46 Bereits bemerkt von A. Magi, L'adventus [Anm. 41], S. 89. 47 Vgl. bereits die Beobachtungen von W. J. O'Neal, Vergil and Petronius, in: Classical Bulletin 32, 1976, S. 33f. 48 Vgl. R. M. Newton, Trimalchio *s hellish bath, in: Classical Journal 77, 1982, S. 315-319. Newton erkannte auch, daß Petron an dieser Stelle die intertextuelle Durchlässigkeit zur Aeneis (die Heroen wiederholen post mortem ihre irdischen Betätigungen) bis zu einer fiktionalen Umdeutung und Ausdehnung der Höllenstrafen, die einen Aspekt der Divina commedia antizipiert, gesteigen hat: die »convivae« haben bei ihrem >Sport< vor der nächsten cena Verrenkungen zu verüben, die nach dem Schema der Talion ihren Charakter als Habgierige und Schmeichler wiederholen. Verständlich wird der Text an dieser Stelle erst durch die Anwesenheit der vergilischen Folie (Aen. 6,642-659), auf die eine stark dissimulative imitatio verweist. 49 Durch zwei Verklammerungen hat Petron diesen Neueinsatz als Teil einer endlosen Kette gekennzeichnet. Der Anlaß zum Trinken ist der erste Bartwuchs des Lieblingssklaven (ein übliches Symbol des Lebensbeginns), so wie im Vorraum zum »triclinium« der ersten cena das täglich geschorene Barthaar des Hausherrn in einer riesigen goldenen Urne aufbewahrt wurde (29,8). Die Aufforderung Trimalchios zu Beginn der neuen cena: »tangomenas faciamusU (etwa: >Wir wollen auf 86
PETRONS SATYRICA 4) >Als er so sprach, krähte der Hahn< (74,1). Wie sich alsbald herausstellt (der Hahn wird sogleich gekocht serviert), hat Trimalchio den Zwischenfall trotz aller abergläubischen Vorkehrungen (74,1) arrangiert; als Unheilverkünder (für Trimalchio ist er der Hornbläser des Begräbnisses) kann der Hahn entweder Feuersbrunst (nach der auch uns noch geläufigen Symbolik) oder den Tod in seiner unmittelbaren Nahe verkünden (74,2). Nun wird bekanntlich das Ende der cena in der Tat durch den Einbruch der städtischen Feuerwehr herbeigeführt, die, durch das ständige Hornblasen alarmiert (78,7), ein Feuer vermutet. Andererseits »stirbt< Trimalchio auch nach seinen ultima verba (78,5) nicht. Selbst das Arrangement, das die festliche Stimmung unterbrechen soll, löst die Schwellensituation nicht auf. 5) »Sed vivorum meminerimus« (75,7). Solche Rückerinnerung an das Leben eröffnet die vorletzte Phase des Leichenfestes, in der Trimalchio die »laudatio funebris« in eigener Person vorwegnimmt - und zwar durchaus aus postmortaler Perspektive: sein Leben, das er nun erzählt, reicht genau wie dessen bildliche Abfolge auf der Frontseite seines >Hauses< bis zum Tod (»satis vivus pervenero«, 77,3; von raffinierter Ambivalenz ist der an die »convivae« gerichtete Ausspruch »nam ego quoque tarn fui quam vos estis«, 75,8). Der erfolgreiche Lebenslauf*0 stellt sich in dieser Phase des Festes als ein weiterer Versuch dar, das Dasein auf einen festlichen Höhepunkt hin zu arrangieren - nunmehr durch die Teleologie erzählten Erfolgs. Aber wiederum vergeblich. Zum einen ist ja des Erzählers >Leben< eben nicht mit seinem miterzählten Höhepunkt (Trimalchio >stirbt< in seiner gegenwärtigen Lage >vor Glück<: 75,9) zuende; er hat, wie ihm als ironisch genaue Unermeßlichkeit inhaltsloser Dauer prophezeit wurde, den Putz hauen <) wiederholt wörtlich den Einsau zum Gelage der ersten cena (34,7; dort mit dem begründenden Zusatz: »diutius vivit vinum quam homuncio«). Dem Willen Trimalchios nach einem sinnvollen und gesteigerten Dasein setzt Petron den Todeswunsch der Anekdote des KßuÄAa, -ri 6&a$; innroOavcTv 84Aco ^Sibylle, was willst du?< >Sterben will ich.<) entgegen, die Trimalchio während der cena berichtet (48,8). Die mythologischen Prämissen (der Sibylle schenkt Apoll ewiges Leben; sie vergißt jedoch, zugleich um ewige Jugend zu bitten: Ov. met. 14,130ff.) hat Petron zum Problem der Swiftschen Struldbruggs gesteigen: die Sibylle schrumpft so zusammen, daß nur eine Flasche ihre Reste erhalten kann (man vergleiche die gigantische Ausdehnung des Grabes von Trimalchio); ihr bleibt auf die Frage der Kinder (48,8) nur der Wunsch nach gänzlichem Erlöschen. 50 Die in der linguistischen Forschung wiederholt analysierten >Freigelassenengespräche< der cena (41-46) werden durch die Motivwiederholung ab Lebensläufe gleicher Art erkennbar; als fragmentarische Splitter ergeben sie Brechungen der vita des Gastgebers.
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noch 30 Jahre, 4 Monate und 2 Tage zu leben (77,2). Vor allem aber bewirkt das in sich geschlossene Sinnidyll seines Lebenslaufs, sehr ähnlich dem Idyll seines Lebens im Grabe, eine verstärkte Isolierung durch Selbstbehauptung: seine Ehefrau Fortunata (die noch auf dem Grab an seiner Seite dargestellt werden sollte: 71,11) hat in ihm nur noch einen untergeordneten Platz. Trimalchio verwundet und verstößt sie in plötzlich aufbrechendem Streit (74,8ff.). Es bleibt nach dem pompösen Lebenslauf die Prophezeiung (77,lf.): >Du hast all diese Dinge zu deinem Herrn gemacht. Mit Freunden hast du kein Glück. Niemand wird dir den Dank wissen, der dir zukommt. Du hast großen Besitz. Unter deiner Achsel aber nährst du diese Schlangen51 Das Dasein Trimalchios führt im Leben wie im Tod, als Fest zum Ende hin arrangiert oder erzählt, in die Isolation. 6) Trimalchio, am Ende gesalbt und eingewickelt - »die Angelegenheit steigerte sich bis zum äußersten Ekel« (78,5) -, >stirbt< nicht. Die »laudatio« hatte er sich selbst gehalten; der Aufforderung »dicite aliquid belli« (78,5) respondiert nur mehr der [130] Autor durch das Weitererzählen: er läßt die Gäste entkommen. Trimalchio bleibt unter endlosem Hörnerschall liegen. Es bleibt bei seiner Hoffnung, daß er >als Toter soviel Spaß haben wird wie als Lebenden (78,3). Dieses Fest kann nicht enden.
m »Der Körper überlebt die geistige Gestalt. Er grinst weiter in die Morgensonne. Eine feine Nummer/ Frißt und liebt, was ihm vor die Flinte kommt; er ist äußerst dämonisch, wenn man ihn genau betrachtet.« Gottfried Benn Das Fest wird in der cena als Leben aus der Perspektive des Todes inszeniert wie in den Satyrica insgesamt. Denn dieses Thema ist das Grundmotiv des Werkes; es markiert seine Einheitlichkeit, garantiert seine ästhetische Identität. Der Titel Satyrica bezeichnet keine >Satire< (erst in den Handschriften ist hier Verwilderung eingetreten) - diese wäre der Autorintention fremd; acnrvpiKÖs ist, wie Plinius d.Ä. und Plutarch bezeugen, ein lasziver und 51 »Tu dominam tuam de rebus Ulis fecistU kann sich nicht auf Fortunata beziehen (die mit der >Schlange< gemeint ist), sondern muß ganz wörtlich aufgefaßt werden. Es erhält dann freilich einen ernsten Sinn, auf den man in den Satyrica kaum gefaßt war. 88
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ausgefallener Vorfall. Mindestens 16 Bücher »oarupuccov« sind durch Subskriptionen bezeugt (der Anfang des Erhaltenen stammt aus Buch 14, die cena aus Buch 15). Hält man sich vor Augen, daß schon ein Ende des Werkes mit dem 16. Buch52 die Proportion von 150 erhaltenen zu 800 verlorenen Druckseiten ergibt, so wird nicht nur der marginale Platz der cena sichtbar (und im Gegenzug die Beziehung der erhaltenen EinzelcjonrupiKä zueinander wichtiger). Es erscheint die Werkgesamtheit ins Unfaßbar-Chaotische gegenüber den herkömmlichen Gattungsidentifikationen gesteigert: die Proportionen des griechischen Liebes-, Abenteuer- und Wiedererkennensromans vermögen auch als intertextueile Referenz53 in diesen Dimensionen (vom Inhalt abgesehen) keine Einheitlichkeit zu stiften. Die Folie »Mas + Odyssee«, schon früh erkannt und seither an vielen der Episoden verifiziert,54 hat die Formulierung eines Gesamtmotivs »ira Priapi« nahegelegt, das Enkolp in Buch 15 als sein Verhängnis bezeichnet und das nach den Fragmenten die Handlung schon der ersten Bücher tatsächlich ausgelöst hat.55 Die homerische Sequenz aber durchkreuzt Petron, wie noch zu zeigen ist, geradezu mit Absicht; ihre Anwesenheit ist weitaus schwächer als in Joyces Ulysses. Es sollte zugestanden werden, daß das Werk in seinem erhaltenen Zustand kein Indiz für Gattungsidentifikationen oder auch nur die Rekonstruktion einer Struktur parat hält - und offenbar auch nicht halten will. Enkolp, der nach Tempelschändung, Mord an seinem Gastfreund und einem Auftritt in der Gladiatorenarena zum Zeitpunkt der cena unter die Rhetoren geraten ist, hatte die Handlung zu Beginn der Satyrica (den Frevel an Priap und seine Folgen) wahrscheinlich damit ausgelöst, daß er, die leblos erigierte Gestalt des Gartengottes [131] annehmend, sich den Matronen von Massilia zur Benutzung dargeboten hatte.56 Es folgte vielleicht die Verurteilung zum Sündenbock, der auf ein Jahr von der Stadt 52 Wahrscheinlich aber sind angesichts der parodistischen Folie Mas und Odyssee 24 Bücher. 53 So die seit Heinze (vgl. Anm. 17) vor allem in der Forschung zum antiken Roman vorherrschende These. 54 Zuerst von E. Klebs, in: Philologus 47, 1889, S. 630ff.; jetzt der Überblick J. P. Sullivans, The Satyricon of Petronius, London 1968, S. 92. 55 Zur Verifikation dieses Motivs und der Konstruktion einer >Kette< homerischer Episoden als Handlungssequenz mit ihren Folgen für die Rekonstruktion des Werkes: H. van Thiel, Petron. Überlieferung und Rekonstruktion, Leiden 1971; Sullivan, The Satyricon [Anm. 54], S. 42 (mit Literatur) und 73f. 56 Vgl. frg. 4 aus Sidon. Apoll, carm. 23,145ff.; hierzu C. Cichorius, Römische Studien, Leipzig 1922, S. 438ff. 89
PETRONS SATYRICA ernährt wird, um die Pest fernzuhalten und nach Ablauf der Frist öffentlich geopfert zu werden.57 Als sozial bereits Toter muß er - wie die Satyrica zeigen - im entscheidenden Moment entkommen sein. Zum Ende des erhaltenen Teils der Satyrica aber gerät er mit seinem Gefährten Eumolp noch einmal in die gleiche Schwellensituation. Ihre Entfaltung ist näherer Betrachtung wert, weil sie, wiederum auf eine Leichenfeier hin inszeniert, ähnliche Folgen zeitigt wie die cena. Man ist soeben einem Schiffbruch entronnen; der Kapitän treibt tot vorbei; aber: Schiffbruch ist überall< (Eumolp, 115,17); und noch der Tote schwimmt ja, das Gesicht aufwärts gerichtet: »en homo quemadmodum nataU (115,10). Überleben heißt zunächst einmal sich tot stellen; dann kann bei keinem Plan etwas verloren werden (vgl. 117,5). Und flugs entrollt sich den Gefährten - aus der traditionell menippeischen Vogelschau betrachtet - das vor ihnen liegende Croton als Szene, die nur betreten zu werden braucht: eine Erbschleicherstadt, die als geschlossene Utopie geschildert wird. Die Erblasser und die Erbschleicher bilden eine Symbiose, die keine von ihr unabhängige Beschäftigung58 (»litterae«, »eloquentia«), keine unabhängige Moral (»sancti mores«) erlaubt, wohl aber »cenae« und »spectacula« (116,7): das unablässige und verschwendende Fest der antizipatorisch Toten auf Kosten derer, die ihren Tod erwarten und sich in die Lüge einer Zuneigung zu den Erblassern eingeschlossen sehen. Hinter einem solchen permanenten sozialen »mendacium« werden die Erblasser als Leichen, die Erbschleicher als Aasvögel sichtbar; die Stadt ist menschenleer: »adibitis oppidum tamquam in pestilentia campos, in quibus nihil aliud est nisi cadavera quae lacerantur aut corvi qui laceranu (116,9). Die Situation von Massilia erlangt hier Allgemeingültigkeit, und der Dichter Eumolp, der nun die Führung ergreift,59 tritt in sie ein, indem er 57 Vgl. frg. 1. 58 Nicht einmal mehr die Fortpflanzung: denn wer Kinder hat, bleibt aus der großen sozialen Erwartung der Erbwürdigkeit ausgeschlossen (vgl. 116,7); »inter ignominiosos lalitat«. Die (dystopische) Stabilität erscheint hier, wie zuweilen bei Swift, von ihren Folgen her in Frage gestellt. 59 Der Ich-Erzähler Enkolp tritt selbständig ab 126 nur noch als der homerische Polyaenus - Odysseus (Od. 12,184) in einem Abenteuer mit >Circe< auf. Hier läßt das Werk die Handelnden der Odyssee in sich ein, die sonst die einzelnen OOTTVpucä nur in raffinierteren Formen perspektivisch verlängern oder durchkreuzen. Man vergleiche die Lichas-Schiffbruch-Episode: dort verformt entgegen den offensichtlichen homerischen Schiffbruch-Parallelen die Anagnorisis durch Euryklea (vgl. 105,10), vor allem aber das Polyphem-Abenteuer die Handlungsoberfläche - und zwar nicht nur durch direkte Spiegelungen (»fingite nos antrum Cyclopis intrasse^ 101,7), sondern auch durch eine Technik der fragmentierten und >versetzten< An90
PETRONS SATYRICA sie inszeniert [132] (»mimum componere«, 117,4). Auf der >scaena maior< (117,2) der sozialen Lüge montiert sich Eumolp zum moribunden (vgl. 117,9) Reichen um, der durch Schiffbruch verwaist ist - das Arrangement isoliert den Agierenden, der auch die Gefährten sich zum rigiden Gehorsam von sklavischen Instrumenten verschwören läßt (117,5f.) und für sich einen fingierten Lebenslauf, hier im Sinne einer >Legendes konstruiert.60 Die charakteristische Reduktion gleicht Eumolp bereits in dieser Phase dem Kadaver an: in der Verführungsszene mit dem jungen Mädchen c. 140 ist er durch seine >Legende< zur Unbeweglichkeit des Moribunden gezwungen - möglicherweise der Priap-Imitation vom Anfang der Satyrica - und inszeniert ein »automaton« (dieser auch für die cena zentrale Begriff ist noch zu erörtern), das ihm, der zwischen einem >Sklaven< und dem Mädchen auf- und niedergeschnellt wird, den Liebesgenuß sichert. Bezeichnenderweise beobachtet Eumolp derweil wie alle Beteiligten dieses Arrangement und fällt in den allgemeinen »risus« ein: das »automaton« wird über den Beischlaf hinaus als solches genossen und schafft die Distanz der Inszenierung gegenüber der eigenen >Handlung<. Die Stabilität dieses Zustandes, in dem Eumolp durch Geschenke und Feste überhäuft wird, kann nur durch Steigerung dauern: Eumolp veröffentlicht sein Testament, demzufolge alle mit einem Legat Bedachten das Erbe dann antreten können, wenn sie öffentlich seine Leiche aufessen (141,2). Die Erlaubtheit des Kannibalismus ist ein auf Diogenes zurückgehendes Erbstück der menippeischen Satire, die Quellenlage ist hier seit langem untersucht.61 Zu beachten ist die Überführung des Topos in eine zielgerichtete Handlung, die schließlich eine Leichenfeier inszeniert.62 spielung, die den Leser irreführt (vgl. 101,5 - zu Unrecht athetiert von Müller; 102,8). Auf diese Signale hin war bereits die Vordergrundshandlung der Tavernenepisode (97,4; wiederum von Müller athetiert) arrangiert (Gitons Versteck unter dem Bett wie Odysseus unter dem Widder). In die Aktionen des Odysseus treten in den Satyrica, wie P. Fedeli [Anm. 34] gezeigt hat, die Handelnden unabhängig von der jeweiligen narrativen Konfiguration ein. - Vorgänger hatte Petron in der alten römischen Tragödie (vgl. Pacuvius, Armorum iudicium)y besonders aber in der Kyklopen-Parodie des varronischen Sesqueulixes. 60 Hierzu soll z.B. dienen, daß Eumolp die vorhandenen >Sklaven< stets >aus Versehen< mit anderen Namen anredet und so eine zahlreiche »familia« (ingiert (117,10); vgl. ferner die Korrespondenz mit fiktiven Gutsverwaltern und vor allem die ständige Umarbeitung seines Testaments. 61 Vgl. die Zusammenfassung bei H. D. Rankin, Eating people is right. Petronius 141 and a topos, in: Hermes 97, 1969, S. 381-384. 62 Zur Rekonstruktion und Deutung der letzten Fragmente der Satyrica vgl. F. M. Fröhlke, Petron. Struktur und Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1977, S. 85-96.
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PETRONS SATYRICA Durch die »summa nausea« des Testaments in ihrer Erwartung gereizt, lassen sich die Erbschleicher überzeugen und durch >ethnologische< Argumentationen den Ekel vertreiben (141,3 und 6-11). Hier werden Exemplatraditionen aus der Deklamationsliteratur imitiert (man vergleiche die 12. declamatio Quintilians) - die Imitation erreicht, daß dem Leser die wahre Identität von >abnormer< rhetorischer declamatio (wie sie in lff. noch als lebensfremd parodiert wurde) mit dem >Leben< auf dieser »scaena« vor Augen geführt wird.63 [133] Man vergleiche den ästhetischen Spielraum dieser Intertextualität mit den Gattungsnormen der Satire, unter die sich der thematisch verwandte Modest proposal Swifts stellt. Während dort die durchzuhaltende NaivitätsFiktion eines empfehlenswerten Kannibalismus (als ästhetischer Berstschutz vor der andrängenden Empörung gegen den faktischen Kindermord in Irland) noch allenfalls die schematische Aufstellung von Rezepten er-
63 Die Personen Petrons können stets aus ihren aarupiKä heraus Literaturkritik an den hohen Gattungen (der Rede, der Lyrik, vor allem dem historischen und mythologischen Epos) äußern, Gattungen, die ihre Aktionen z.T. selbst durch perspektivische Spiegelung in das Werk hinein generiert haben; in diesem Sinne ist ihr Leben >Literatur<. Daraus erklärt sich die in der Antike einzigartige Verquickung von Kultur- und Literaturkritik (hier sprechen die Personen mit Zitaten Quintilians und Senecas; vgl. zu 88 ~ Sen. epist. 115,10-12; Sullivan [Anm. 54], S. 163ff.), Kunstkritik (in den >Bildbeschreibungen< 83 und 89; hier wird die älteste römische Tradition der >Wiederholung< griechischer Literatur, die Begegnung der Handelnden mit sich selbst auf bildlichen Darstellungen des griechischen Mythos - inauguriert durch Vergil, Aen. l,416ff. -, fortgebildet) und schließlich eigener poetischer Produktion. Petron hat allein in dem erhaltenen Rest der Satyrica eine kleine Troiae Halosis und ein umfangreiches Bellum civile vorgelegt (vom Dichter Eumolp verfaßt und vorgetragen; als >Mißerfolg< in den Relativismus des übrigen Werkes integriert; vgl. zu beiden F. J. Zeitlin, Romanus Petronius, in: Latomus 30, 1971, S. 56-82). Ist die Troiae Halosis bis in einzelne Verse und Junkturen als echte Parodie der zeitgenössischen Seneca-Tragödie Agamemnon erkennbar, so stellt sich das Bürgerkriegsepos nicht etwa Lucans im Entstehen begriffenen Werk entgegen (nicht parodistische, sondern dissimulative Imitation aus den ersten Büchern der Pharsalia ist nachweisbar; vgl. P. Grimal, La guerre civile de Petrone, Paris 1977). Vielmehr stellt Petron durch den ironisienen Dichter Eumolp der modernen Form des historischen Epos (Lucan) das Exempel einer Behandlung des neuen, historischen Sujets mit einem Rückgriff auf den Götterapparat gegenüber. Petron ist darum kein Klassizist, er kontrastiert auch auf dem Felde der Literarkritik zeitgenössische Literatur durch die Erprobung vinueller Gegenmodelle, die in der offenen Form der Satyrica anwesend sein können. Denkwürdig ist immerhin, daß diese Leerstelle eine Generation später durch die mythologisch-historische Epik des Statius, Silius Italicus und Valerius Flaccus tatsächlich besetzt wurde. 92
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laubt (sie wird bei Petron 141,8 angedeutet), vermag die Realität gewordene declamatio Petrons den Imaginationsraum stärker zu erweitern: bereits der noch Lebende wird in seiner Nahrungsaufnahme von den Nachkommen überwacht, damit sein Fleisch keinen unpassenden Haut-gout erhält (141,3). Offenbar haben die (an dieser Stelle in Fragmente zerbröckelnden) Satyrica noch den öffentlichen Leichenschmaus selbst dargestellt (vgl. 141,5). Der Schluß mag - ähnlich dem Anfang in Massilia - eine Düpierung durch Unterschiebung eines fremden Kadavers enthalten und damit die Entlarvung der Erbschleicher als wirkliche >Aasvögel<, die mm ganz unbildlich Leichen fressen (nicht auszuschließen aber ist gemäß dem schonungslosen Umgang Petrons mit Nebenfiguren der Tod Eumolps und sein Verzehr, obwohl keine Erbmasse vorhanden ist). In jedem Fall aber enthüllt das Leichenbegängnis von Croton die Erbschleicher als die eigentlich Geschädigten, die nach ihrem Willen eigentlich die Toten zu sein hätten (»nam aut captantur aut captant«, 116,7). Sie sind als geprellte Betrüger selbst die >Toten< inmitten der von ihnen verzehrten Toten. Die Polis bleibt bei allen gegenseitigen >Begräbnisfeiern< tatsächlich und auf Dauer > menschenleer. Erst die Wiederkehr dieses Schwellenthemas in allen größeren Episoden der Satyrica erlaubt eine vollständige Interpretation der berühmtesten Geschichte des Werkes - wiederum einer >verlängerten< Bestattimg -, der >Matrone von Ephesus< (Ulf.). Sie ist, seit La Fontaines Bearbeitimg in diesem Sinne,64 immer wieder als freche Enthüllung morscher Konventionen, dann aber auch als kostbares Zeugnis >volkstümlicher< Realistik gefeiert und als Einbruch karnevalistischer Anarchie in den Monolog des akzeptierten und durch die hohen literarischen genera zementierten Wertesystems gedeutet worden: »ein Triumph des Lebens über den Tod« (M. Bachtin).65 Vierfach sei dieser Sieg: durchs Essen, dann durchs Trinken besiege die Matrone [134] ihre »düstere Verzweiflung« (von der freilich nichts im Text steht), die Liebe (die Vereinigung der Matrone mit der Wache) erzeuge neues Leben (erzeugt nur von der Fiktionalität interpretatorischer Inständigkeit); schließlich rette die Witwe die Wache vor dem Tod und verlasse die Nacht des Grabes (bei Petron bleiben beide im Gegenteil im Grab eingeschlossen). 64 Vgl. die Analyse R. E. Coltons, The story of the widow of Ephesus in Petronius and La Fontaine, in: Classical Journal 71, 1975, S. 35-52. 65 In seiner >Chronotop<-Studie, benutzt nach >Esthetique< [Anm. 23], S. 364366, hier S. 366.
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PETRONS SATYRICA Petrons Geschichte beginnt vielmehr damit, daß die Witwe - wie Trimalchio, wie die Sibylle - sterben will und dazu die übliche Leichenfeier radikalisiert.66 Diese setzt übrigens da ein, wo Trimalchios Fest unterbrochen wurde, mit der »elatio« des Toten ins Grab. Das »scindere crines« und Brustschlagen vollführt die Witwe noch dem Brauch konform; dann steigt sie ins Grab, sucht den Hungertod (die Folie der hohen Literatur ist Antigone, die auch im Bestattungsverbot des Kaisers 111,6 sichtbar wird). Die »pudicitia« der Matrone wird durchaus nicht als verkrampft und tadelnswert empfunden: die Umwelt akzeptiert sie als »singulare exemplum« (111,3; vgl. 5). Wir befinden uns bereits in der Nähe frühchristlicher Aretalogie. Und so ist der Fortgang des Geschehens keineswegs die freche Enthüllung eines krassen Lebenswillens hinter den hohen Werten, sondern die Geschichte eines Scheiterns: das Leben holt die Matrone, Zwang anwendend,67 ein und enthüllt sich dabei als das eigentliche Dasein unter Toten. Der Geruch des Weines, den der Soldat mitbringt, korrumpiert68 zunächst die begleitende Sklavin; und jetzt erst empfindet sie die Grenzüberschreitung, die ihre Herrin zu vollziehen im Begriff war, rückt ihr die Grenzen gegenüber dem Tod wieder vor Augen. Jetzt kommt ihr wieder zu Bewußtsein, daß ihre Herrin lebendig begraben sei (111,11), daß gerade die Anwesenheit ihres Gatten als Leichnam (111,12), den ihre Selbstverleugnung nicht mehr erreichen könne, sie zum Leben zwinge und damit zur Liebe. Diese letztere Argumentation - und damit der Handlungszusammenhang von 111,12-112,2 - wird durch eine Kette nahe beieinanderliegender und für den antiken Leser die Vorlage vollständig reproduzierender Vergilverse aus dem Didobuch dargestellt (Aen. 4,34 und 38f.: Anna überredet die Königin). Petron nähen sich hier erstmals in der lateinischen Literatur der speziellen intertextuellen Form des Cento* den er dann 132,11 66 Diesen Charakter als »spectaculum« hatte ihr Leben schon zuvor: ihre Tugend lockt von weither Frauen an (111,1; ganz ähnlich der Schönheit Psyches bei Apuleius). 67 Der einzige Erzähler-Kommentar in dem ganzen Stück spricht vom Zwang (111,13); daß er nicht ungern erlitten wird, ändert seinen Charakter nicht. 68 Stark betont durch »victam manum« (111,10). 69 Die Centonentechnik Petrons bedient sich dabei mit erheblichem Geschick des scheinbar überflüssigen Verses Aen. 4,39 (»nee venit in mentem, quorum consederis arvis«), den die Phantasielosigkeit der bisherigen Petronherausgeber athetierte. Die Magd führt mit ihm der Matrone vor Augen, daß sie sich auf dem >Totenacker< niedergelassen habe: nachdem die Grenzen zwischen Tod und Leben wieder empfunden werden, hat auch das Grauen vor dem Friedhof Gewicht. 94
PETRONS SATYRICA (mit der Anrede an sein schlaffes Glied ~ der Anrede des Aeneas an die sich abwendende Dido in der Unterwelt)70 fortsetzt und entsprechend den späteren Regeln formal vollendet. Die Phasen von Didos Verführung werden zu denen des Verrats der Matrone an ihrer pudicitia bis zur Vereinigung mit dem Wachsoldaten (112,3). [135] Das Leben hat die Matrone wieder - aber in welcher (inzwischen vertrauten) Gestalt! Die Toten begegnen wie überall in den Satyrica in diesem Leben den Lebenden. Zur Abschreckung hängt vor dem Grabmal der tote Verbrecher, den der Soldat zu bewachen hatte; sein Diebstahl und seine Bestattung durch die Verwandten, ermöglicht eben durch die Liebe zwischen Matrone und Soldat, läßt diesen in Erwartung seiner Strafe Anstalten zum Selbstmord treffen (112,6). Verzweifelt sieht sich die Matrone von Toten umstellt (»wf duo funera spectem«, 112,7). Sie kann die Situation nur retten, indem sie einen weiteren Toten aktiviert (also im Sinne der Satyrica das Leben, das sie zu transzendieren gesucht haue, mit Toten füllt): ihren Gatten, der erst jetzt ausschließlich in seiner Eigenschaft als Kadaver gebraucht wird - anstelle des gestohlenen Verbrechers - und mit grotesker Lebendigkeit gleichsam >ans Kreuz spaziert< (112,8). Diese Allgegenwart und Unentbehrlichkeit des Leichnams wird ironisch relativiert durch die Reflexion des Enkolp nach dem Schiffbruch71 angesichts der Leiche des Kapitäns (115,17f.): ob man den Leichnam verbrennt, bestattet oder den Tieren überläßt - diese Vorsorge ist angesichts des »corpus periturum« lächerlich. Die Passage wird erst ganz als ihrerseits lächerlicher Kontrast verständlich, wenn man berücksichtigt, daß hier fast wörtlich ein Zeitgenosse, der Philosoph Seneca, spricht.72 Die Parodie der stoischen Aufklärung gehört zur Perspektivik der Grenzsituationen in den Satyrica P 70 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. 34ff. 71 Der Kapitän Lichas, der alsbald selbst im Schiffbruch umkommt, wird die Geschichte der Matrone damit kommentieren, daß am Ende auch sie haue gekreuzigt werden müssen (113,2). 72 Erkannt von J. P. Sullivan [Anm. 54], S. 198-200. 73 Gegenüber dem griechischen Roman haben die Satyrica^ die erste Ich-Erzählung der lateinischen Literatur, die narrative Technik noch nicht bis zum inneren Monolog vorgetrieben (ein Grenzfall: präsentische Zwischenform der Erzählung nach einer Verseinlage 79,9). Sehr weit fortgeschritten aber erscheint die Fraktionierung (die bis zur Inkonsistenz geht) der handelnden Figuren, die sich den intertextuellen Strategien verdankt, wie sie vorstehend an ihren Hauptbeispielen erörtert wurden. Wendet man etwa J. Kristevas Organisationsmodell dialogischer Kate95
PETRONS SATYRICA Schließlich wird auch der Verführer zum Leben, der Wachsoldat, ein Toter. Er kann sich angesichts der zu erwartenden Strafe (denn die Vertauschung des Gekreuzigten [136] bleibt nicht verborgen: 112,8) nicht mehr an die Sonne wagen. Das Paar bleibt am Ende der Geschichte im Grab. Die Lebende, die nicht zu sterben vermochte, bleibt tot unter Toten.
IV »An uninformed carcass walks still about.« Jonathan Swift Mögen die vorstehend wiedergegebenen Ergebnisse einer neuerlichen Lektüre der Satyrica dem Werk auch einen ungewohnten Aspekt abgewinnen - neu mutet er nicht an. Wer die historischen Rekonstruktionen der satura Menippea seit Frye und Bachtin verfolgt hat, findet jedenfalls die Auffassung vom enthüllenden Charakter dieser Tradition wieder; auch der in diesen Forschungen vertraute Begriff der >Schwellensituation< (bei Petron wird aus dem reichen Arsenal der Grenzüberschreitungen gorien im Roman (>Le mot< [Anm. 10], S. 371ff.) auf die Satyrica an, so beginnen diese erst nach der vierten Stufe (auf ihr »macht sich der Text zur Lektüre (Text und Kommentar) eines äußeren literarischen Korpus (Zitat und Kommentar) und baut sich somit als Ambivalenz auf«) für das Werk Petrons beschreibungsfähig zu werden. Der Grund liegt darin, daß Petron bereits die grundsätzliche Trennung zwischen dem narrativen Horizont des Autors und des Ich-Erzählers mitsamt der erzählstrategischen Ausnutzung des Wechsels zwischen beiden (vgl. zu Apuleius J. J. Winkler, Auaor and aaor. A narratological reading of Apuleius's Golden Ass, Berkeley 1985; zur pikaresken Tradition H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Ich-Form in >Lazarillo de Torraes<, in: Romanistisches Jahrbuch 8, 1957, S. 290311) hinter sich läßt. Er verzichtet gänzlich auf psychologische Einheitlichkeit seiner Figuren, läßt vor allem die intenextuellen Spiegelungen und Handlungsdeformationen ihre Konsistenz bis zum Identitätsverlust zerbrechen (man vergleiche besonders die Chrysis-Figur 125 und 126). Figurenfragmentierung durch krasse Juxtaposition von Inkonsistenzen, durch relativierende Perspektivik (vgl. 127,9: Spiegelung von Mas 14,347ff. vor der Impotenzszene) findet in der Nutzung der prosimetrischen Form ihre Vollendung. Die eingepaßten Metren entstammen z.T. hochaffektischen lyrischen Gattungen und vermitteln psychische Schichten, die den Figuren der Satyrica sonst nicht eigen sind. So >spricht< in 79,8ff. das Liebesgedicht Catulls mit seinem Erfahrungsraum und bahnt Situationen an, die quer zu den kalkulierten *automata« der Handelnden stehen. 96
PETRONS SATYRICA offenbar jene zwischen Leben und Tod bevorzugt) kehrt wieder. Ebenso konnte, wer in der Quellenforschung zur hellenistischen Philosophie und zur Diatribenliteratur zu Hause ist, erwarten, als Telos hinter den Episoden der Satyrica eine philosophische Weltauffassung anzutreffen, die er als kynischen Relativismus auf dem Hintergrund epikureischer Lehrstücke zu beschreiben geneigt ist.74 Schwieriger ist eine angemessene Deutung der petronischen Formen von Intertextualität, wie sie oben (IQ) angedeutet wurden. Sie führen noch einmal vor die Frage nach der Struktur der Satyrica insgesamt, sei es auch als einer Hohlform mitanwesender Gattungen. P. Veyne (Le >je< dans le Satiricon, in: Revue des £tudes Latines 42, 1964, S. 301-324) und R. Beck (The Satyricon, in: Museum Helveticum 39, 1982, S. 206-214) neigen dazu, die prinzipielle »Abwesenheit« des Autors in diesem Spiegelkabinett intertextueller Relativierung als einen Verzicht auf Werkidentität überhaupt, auch auf eine Lösimg aus menippeischkynischen Themen und ihrer prosimetrischen Form zu interpretieren: »Petrone veut prouver qu'il ne prend pas lui-meme au serieux le genre mineur qu'il pratique« (P. Veyne ebd. S. 308f.). Das Argument stützt sich auf das Fehlen jeglicher der Satire eigenen moralischen Position des Autors. Nach dieser Deutimg läge in der Tat mit den Satyrica das Ideal einer dezentrierten, den Autor wie die Figuren umgreifenden Subjektlosigkeit vor, einer chaotischen Riesenform karnevalistischer Intertextualität. An einer solchen Deutung kann nach dem Aufweis des durchgehenden >Schwellenthemas< Tod/Leben nicht mehr festgehalten werden:75 es garantiert den Satyrica jene Werkidentität, welche durch die Kumulierung einander durchkreuzender Spiegelungen nicht aufgehoben, vielmehr allererst inszeniert wird. Die Satyrica [137] bestätigen die grundsätzliche Kritik K. Stierles76 an allen 74 So ausführlich O. Raith, Petronius ein Epikureer, Nürnberg 1963. 75 Das Argument, Petron breche durch seine Autordistanzierung mit der »moralischen* Tradition der römischen Satire, leitet sich aus dem erörterten Titel-Mißverständnis (Satyrica ~ Saturae) her. Petron aber kennt durchaus eine >inhaltlich< bestimmte Tradition, in die er sich stellt: die kynisch-epikureische Philosophie. 76 Werk und Intertextualität, in: Das Gespräch, hrsg. von K. Stierle und R Warning (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, S. 139-150. Stierle deutet hier bereits einige spezielle Formen intertextueller Relationen an, die denen der Satyrica nahekommen (Übersetzung, Parodie, Travestie; vgl. auch Th. Verweyen und G. Witting, Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion, in: Dialogizität, hrsg. von R. Lachmann, München 1982, S. 202-237). Zu ergänzen wäre diese Reihe durch jene spezifisch antiker Zitatformen (bis zum Cento) und jene der ästhetischen Folgen, besonders bei der Figuren- und Handlungsdeformation (s. oben HI). 97
PETRONS SATYRICA Intertextualitätskonzepten, die die fiktionale Autorität eines bestimmten Werkes auflösen: »Die Weise, wie ein Text eines anderen Texts inne ist, bestimmt seine ästhetische Gegenwärtigkeit.«77 Die Frage lautet vielmehr, wie eine solche Inszenierung die Konstitution des ästhetisch Unverwechselbaren leistet. Nun hat Petron seine Grenzsituationen zwischen Leben und Tod nicht nur mit allen Mitteln gattungsmischender Perspektivik in eine Handlung projiziert - er inszeniert diese Handlungen im Rahmen von Festen. Mehr noch: er läßt solche Feste von seinen Personen selbst arrangieren und verfolgt diese Arrangements bis zu ihren Folgen. Dieser in der Antike ganz neuartige ästhetische Vorgang soll wiederum am Beispiel der cena untersucht werden. Zunächst eine begriffliche Vergewisserung: die Kategorie >Inszenierung< sollte, insofern sie die Aktualisierung (z.B. Aufführung) eines Werkes bezeichnet, zur Beschreibung dieses Vorgangs zunächst nicht verwendet werden. Petron läßt ja seine Personen - obwohl er sie, wie sich gezeigt hat, durch intertextueile Verfahren literarisch inszeniert - ihre Feste planen, organisieren und bis in die Details arrangieren. Nun gehört die Kategorie >Arrangement< dem Fest ursprünglich nicht zu. Feste können als anarchistische Einbrüche verstanden - jedem Arrangement zuwiderlaufen. Sitzen sie aber institutionell gebahnten Riten auf, deren Phasen ihre Struktur und in gewissem Umfang auch ihre Formen bestimmen, so kann allenfalls marginal von Arrangement gesprochen werden. Der Begriff meint vielmehr ursprünglich die Anordnung einer Versuchsreihe, die der Lebenswelt Elemente enthebt und sie im geschlossenen Raum einer eigenen Mikro-Teleologie auf einen Ablauf zurichtet. Eben diesen Charakter trägt nun das Fest der cena Trimalchionis zum ersten Mal in der überlieferten Literatur. Trimalchio feiert kein Fest, das einen Anlaß hätte: seine Tage sollen ein Fest sein, das mit jeder cena vervielfältigt wird und kein Ende hat. Es werden also keine Saturnalien gefeiert, kein kultischer oder allgemein religiöser Hintergrund wird erkennbar.71 Nicht etwa ein Geburtstag wird begangen, kein gesellschaftliches Ereignis, das eine Auswahl der »convivae« oder auch nur deren Indivi77 K. Stierle, Werk und Intertextualität S. 145; vgl. R. Warning, Imitatio und Intertextualität, in: Kolloquium Kunst und Philosophie 2, hrsg. von W. Oelmüller, Paderborn 1982, S. 171: die poetische Fiktion ist »selbst der systematische Ort aller Dekonstruktion«. 78 Wohl aber der Hintergrund des Tod und Bestattung betreffenden Aberglaubens, dessen Zeichengläubigkeit in den Dienst der Arrangements gestellt werden kann. 98
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dualisierung zur Folge hätte. Petron hat, wie man stets bemerkt hat, jedes römische oder auch nur munizipale Kolorit vermieden (daher die Kontroverse über die Lage der urbs Graeca); man muß hinzufügen, daß auch alle folkloristische [138] Buntheit ausbleibt. Das Sarg-Haus Trimalchios umschließt eine Zwangsgemeinschaft, mit welcher der Hausherr seinen Tod als Fest zu antizipieren sucht. Diese Antizipation bedeutet ein gesteigertes, sinnvolles, perfektes und überschaubares Stück Leben (also das >Leben< noch einmal: dies eben ermöglichte die Perspektive post mortem und die Grenzverwischung, in der Petron die Feiernden als in Wahrheit Tote bezeichnet, die ihr endloses Dasein durch prämortale Feste auszufüllen suchen). Ein solches Fest bedeutet mit seiner Komplexitätsreduktion und Sinnemphase eine ungeheure Überforderung, die um so stärker durchschlägt, als es an keine vorgegebenen Strukturen anknüpfen kann. Denn die einzelnen Gänge (»fercula«) des Mahls strukturieren keineswegs die Feier; sie gehorchen dem Gesetz der kleinen, in sich geschlossenen perfekten und überraschenden Arrangements (»automata«). Systematisch gesehen erfordert ein solches Fest die Komponenten des beherrschten und isolierten Lebensausschnitts, der Mitwirkung einer Zwangsgemeinschaft (als Instrumente wie als Sinnbestätiger), der vorherwissenden Organisierung perfekter, unerwarteter und unüblicher Abläufe (Arrangement im eigentlichen Sinne), der Eliminierung störender Kontingenz (etwa des Mißlingens, der ausbleibenden Überraschung, der Emanzipation der »convivae« vom Zwang des Festes). Ein typisches »automaton« (so bezeichnet es die bewundernde »familia« 50,1) ist der vergeßliche Koch< (47,8-13; 49,1-50,1). Die »convivae«, noch nicht von der letzten Überraschung erholt (vgl. 47,8 - Schnelligkeit im Ablauf und sofortiger Wechsel zur nächsten Handlungseinheit sind erforderlich: vgl. 21,2.4; 22,6; 23,2f.), haben zwischen drei lebend hereingeführten (ein »nomenclator« ruft ihr Alter aus) Säuen als nächstem Gang zu wählen. Trimalchio zwingt ihnen durch eine Entscheidung die Wahl auf, die Sau erscheint in Minutenfrist tafelfertig; Erklärung: der Koch hat vergessen, sie auszunehmen. Die cena droht zu mißlingen; Zorn des Hausherrn; der Koch wird zur Folter entkleidet; die Mitwirkung der »convivae« besteht im anstrengenden Flehen um Gnade. Der Koch darf zur Strafe die Sau auf der Stelle ausnehmen; es erscheinen statt der Innereien delikate Würste. Die Eile der Zubereitung ist nun wieder bewundernswert und unerklärlich, aber die verwirrende und peinliche Geschehensfolge hat einen Sinn erhalten. Applaus ist zu spenden (im Reflex der Bestätigung erscheint das »automaton« als »lautitia« - Perfektion der Eleganz). 99
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Die Beherrschung der Szene und ihr Arrangement beweist sich in der Perfektion als Eliminierung des unzulänglichen Alltags, des Mißlingens (noch wenn Trimalchio beim Spiel Bälle verliert, werden sie in einer silbernen Schüssel gesammelt, 27,3; Arrangement eines scheinbaren Mißlingens auch bei der »manumissio« des Ebers 41,1-5 und eines Sklaven 41,6-S).79 In einer weiteren Steigerung deutet der Festherr tatsächliche Fehler oder Vorfälle, die sich seiner Beherrschung entziehen, als vorhergewußt [139] und geplant um (so die Ohrfeige für den ungeschickten Sklaven, 34,2; das Weinverschütten der Sklaven wird zum »propinare« für den Hausherrn, 28,3). Die Anspannung solcher Abläufe reduziert die Mitwirkenden (nicht nur die Sklaven, sondern auch die »convivae«) zu Instrumenten, die >automatisch< funktionieren - und eben deshalb im Bergsonschen Sinn zur Komik der cena beitragen (etwa der Sklave mit langen Haaren als >Handtuch< (27,6) - ein Swiftscher Mundschläger avant la lettre; vgl. 36,5-8) -, Instrumente, die erheblichem Zwang (bis zur Ekelgrenze: vgl. 64,13; 70,8f.), plötzlicher Brutalität (28,7; 30,7-11; vgl. 47,13) und auch Todesgefahr ausgesetzt sind (so der stürzende Akrobat c. 54; in der Quartilla-Episode wird jemand tödlich verletzt: 22,4). Die Angst, daß bei plötzlichem Zusammenbrechen der Wand oder des Plafonds ein mißlingendes Arrangement fatale Konsequenzen hat, beherrscht die »convivae« (54,3f.): »pessime mihi erat, ne ... per ridiculum aliquid catastropha quaereretur... itaque totum circumspicere triclinium coepi, ne per parietem automatum aliquod exiret.« In einem weiteren Schritt kann das Arrangement die »convivae« selbst zum Gegenstand der »automata« machen und sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Gesundheit führen. So insbesondere in der cena der Quartilla, einem gesonderten Festkomplex in den Satyrica: Wachhalten bei extremem Schlafbedürfnis (21,7-22,3), erotische Quälerei bis zu Insuffizienz mit drohendem Kreislaufversagen (19,6ff.; hier wird die einschlägige Aischrologie der horazischen Epoden zitiert; 25). Der Arrangeur, der Beherrscher des Festes, nimmt während dieser Abläufe Züge an, die schon an Trimalchio, als er Instruktionen für sein Grab wiederholte, sichtbar wurden: Züge der Isolierung, der Abnahme an 79 Ironischerweise ermöglicht eine derart durchgreifende Einbeziehung des möglichen Mißlingens, des denkbaren Chaos, seine Wiederkehr: so >spielen< in der Quartilla-Episode eindringende Räuber >zügellose< Sklaven und wechseln verrichteter Dinge erfolgreich in die Rolle des apathischen »conviva« über (vgl. 22,5). 100
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Individualität, zugleich der personalen Ausdehnung. Das Arrangement hat zunächst das Ziel, ein Leben außerhalb des Festes völlig zu ersetzen; Trimalchio ist nie allein, schweigt niemals, umgibt sich mit eindeutigen, leuchtenden Farben und läßt sich pausenlos unter Musik setzen (vom erwähnten Hornblasen über die hydraulische Orgel bis zum Flötenspieler, der abgeordnet ist, noch der Sänfte des Herrn folgend ihm genau ins Ohr zu blasen, 28,5). Zum Arrangement gehört zwar der (zwanghafte) Applaus der Mitwirkenden, aber Trimalchio liegt - was oft übersehen wird - keineswegs vor allem am parvenühaften >Ankommen<; seine Speisen z.B. sind, wie man längst gezeigt hat, nicht sonderlich anspruchsvoll. Er ist mit gusto taktlos (vgl. 34,7; 68,2), verletzt die Schamgrenze; zum Arrangement gehört dazu, daß sich bei Fehlen jeglichen Festanlasses und dem Zwangscharakter der Gesellschaft Trimalchios Privatheiten (der Lieblingshund, -sklaven, -Sportler), seine Leiblichkeit (der »flatus«) vorwölben und gleichsam das caput mortuum der Individualität vorstellen. Kontrastiert wird diese Entwicklung durch eine Ausdehnung, ja Delegierung seiner Lebensfunktionen. Trimalchio lebt nicht so sehr, als daß er leben läßt (die Sklaven für ihn, 28,3), wie Quartilla auf ihrem Fest lieben läßt: als Voyeur (26,lff.; man vergleiche das erörterte erotische »automaton« des Eumolp) - wie die Mitfeiernden allenfalls noch durch genau zu arrangierende Perversionen erregbar. Im Zuge solcher Delegation wächst die Ausdehnung einer Person: wichtig wird die grotesk hohe, schnell anwachsende (und, wie Trimalchio [140] befriedigt vermerkt (47,1 lff.), von ihm nicht mehr überschaute) Zahl der »familia«, eingeteilt in Kohorten und Dekurien. Die Wonnen der Enumeration (vgl. 48,3) entlasten die angespannte Handlung des Festes ins Imaginäre.
V »Inter mortuos Über* Psalm 87,6 Diese Phänomenologie wirkt zwar eigentümlich vertraut, doch sie führt eine Nachtseite der Möglichkeit >Fest< vor Augen; nicht ungern wendet man sich vom Text ab (in dem das Fest ja schließlich >nur als Literatur« inszeniert wird). Beim Abwenden aber tritt das merkwürdige Faktum hervor - und nun erklärt sich auch die Vertrautheit mit jenen »automata« -, daß man außerhalb der Satyrica in der (zeitgenössischen) Wirklichkeit auf eben jenen Festtyp stößt. Er ist uns in zahlreichen Zeugnissen (nicht 101
PETRONS SATYRICA immer verläßlichen, viel tralatizisches Gut enthaltenden Zeugnissen, aber das ist hier nicht von Belang) überliefert: in den Nachrichten von den römischen Kaisergreueln, vom sogenannten Caesarenwahnsinn (vor allem nach den Quellen Sueton, Herodian, der Historia Augusta, Tacitus). Das Gesamtphänomen hat niemals zur Untersuchung gestanden80 - es hat als Literatur des TroudÄa xcri öocOporros &fya (»Vielseitigen und der Verwunderung Würdigen«, Herodian 1,1,5) seit Montaigne den Status des Seriösen nicht mehr gewinnen können; und trotz des gängigen Inbegriffs hat, soweit ich sehe, die Psychoanalyse sich dieses eben in seiner Widerlichkeit dankbaren, vor allem historisch nicht auf Rom beschränkten81 Grundmusters eines ins Terroristische >gesteigerten< festlichen Lebens nicht angenommen. 82 Immerhin nahm es - in seinen maßvolleren Exempeln - bis zu Beginn dieses Jahrhunderts einen so festen Platz im Schauer-Kanon humanistischer Bildung ein, daß Ludwig Quidde mit seiner Satire auf Wilhelm II. 1894, indem er Sueton ohne ein aktualisierendes Wort nacherzählte (Caligula - Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn), zum Bestseller - vor allem aber wegen Majestätsbeleidigung justiziabel wurde. Die von den Imperatoren (insbesondere Tiberius, Caligula, Nero, Vitellius, Domitian, Commodus, Caracalla und Heliogabal) zumeist in Anekdotenform berichteten Aktionen sind häufig ausdrücklich als Feste gefeiert worden, stets aber sind sie arrangiert in eben dem Sinne, und wie sich zeigen wird, unter den gleichen systematischen Charakteristiken und Folgen wie die cena der Satyrica. Wer sich mit der unbegrenzten, wenngleich stets nur auf Zeit überlassenen Macht [141] des etablierten Prinzipats nicht dem institutionell erwarteten und vorbereiteten Leben in Repräsentation, Gesetzgebung, Verwaltung und Kriegführung zuwandte, sondern - und diese Möglichkeit bestand offenbar bis zu den Soldatenkaisern immer aufs neue - beschloß, die kurze Spanne der Herrschaft als Fest zu arrangieren** (mochte auch 80 Mit Ausnahme der Quellenforschung und der Schematisierung biographischer Rubriken; vgl. E. Cizek, Structures et ideologie dans les vies des 12 Cesars de Suetone, Paris 1977. 81 Vgl. den für diese Festgreuel archetypischen Herrscher Tschou aus der Shang-Dynastie; hierzu: The Analects of Confucius, hrsg. von W. E. Soothill, Shansi 1910, S. 13f. 82 Ansätze: J. Lucas, Un empereur psychopathe, in: L'Antiquite Classique 36, 1967, S. 159ff.; J. Ch. Starr, Civilization and the Cesars, New York 1954. 83 Die extreme Lösung ist die des >Hausmeiers<, wie sie Commodus anstrebte: die Machtausübung im traditionellen Sinne wird einem Stellvertreter überlassen. Sie bleibt erstaunlich lange stabil, solange die kaiserlich-wahnwitzigen Fest-Arrangements nicht die Politik oder den Stellvertreter einzubeziehen suchen.
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gerade dieses Arrangement die Ermordimg beschleunigen; vgl. Caligulas Erkenntnis Cass. Dio 59,16; vgl. Suet. Nero 40), dem stand als geschlossener Raum das Imperium zur Verfügung, als Zwangsteilnehmer jedermann außer den Soldaten. Der natürliche Tod eines Bürgers ist im Sinne dieser Rahmenbedingungen als Herrschaftsverlust zu bedauern (»me evasit«y Suet. Tib. 61), das Weiterleben wird als Strafe verhängt (Suet. Tib. 60). Denkbare Arrangements können zunächst in weitaus höherem Maß, als dies Trimalchio möglich war, an den Institutionen, überhaupt am Regierungsgeschäft, parasitieren: so die Feldzugsparodien Caligulas (Suet. Cal. 47), die bis zur Handlungssymbolik (Muscheln als Beute) gesteigert werden können. Hier erscheint bereits das raffinierte »automaton«, das Bedrohung für die Expeditionsteilnehmer (gewiß auch die eigene Lust am Schreck) arrangiert, um sie dann in den >Sinn< eines militärischen Triumphs aufzulösen - der simulierte Germanenüberfall auf Caligulas Expedition (Suet. Tib. 45). Auch an die traditionellen Kulte und Feste kann angeknüpft werden, wobei der krasse Exzeß über das institutionell gebundene, gemeinschaftlich akzeptierte und erwartete, gelöst und sogar anarchisch begangene Fest sichtbar wird - ohne daß doch dem terroristischen Arrangement ein Fest-Charakter abgesprochen werden kann. Der den Isis- und Mithras-Kult durch wirkliche Schlachtung der Gläubigen erfüllende Kaiser (H. A. Comm. 9) >aktualisiert< eine der späten Zivilisation fremde kultische Schicht. Solche Aktualisierung kann nun als Fest-Ablauf in der Realität für das eintreten, was literarisch die intertextuelle Inszenierung der alten und hohen Gattung bewirkt. Der bei einem HerkulesOpfer unerwartet die Taten des Heroen aktualisierende Commodian, der unter den zum Stillsitzen gezwungenen Römern im Amphitheater einzelne als >stymphalische Vögel< erschießt, andere mit der Keule erschlägt (H. A. Comm. 9; Herod. 1,14,9; Cass. Dio 72,20,2), feiert in diesem Sinne ebenso wie der ein Opfer den ganzen Tag und über ganze Herden von Vieh ausdehnende Heliogabal (H. A. Hei. 5,9). Systematisch schwierig ist84 unter diesen Bedingungen temporärer Allmacht die Konstitution eines ganz neuen, nicht parasitierenden (Un-) Sinn-Ablaufs zu leisten (Trimalchio konnte an die einzelnen Gänge einer cena anknüpfen). Der Extremfall ist der Wahnwitz ex integro: so die Zwangsexpedition der Senatoren zur Einsammlung [142] von 1000 Pfund
84 Das zeigt die simple Stufe der bloßen Verschwendung, angefangen vom Kleiderluxus bis zum systematischen >Verdecken< des Alltags durch Preziosen (Edelsteinstaub auf den Wegen, H. A. Hei. 25.29; vgl. bereits Sat. 68,1 und 34,4). 103
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Spinnweben (H. A. Hei. 27). Häufiger ist die Usurpation und Umkehrung von Handlungszielen (der Bau einer Therme und ihr Zwangsbesuch, um die größten männlichen Glieder auszuwählen, H. A. Hei. 8,6) oder die dem Happening ähnliche Hervorhebung fragmentarischer Alltagshandlungen (Befahren der Straße nach Baiae, Suet. Cal. 19) und die Destruktion der Apparaturen danach (ähnlich die Überfahrt mit Luxusschiffen - Gärten und Thermen enthaltend - und deren Destruktion sogleich danach, Suet. Cal. 37).85 Am steigerungsfähigsten erweist sich die Instrumentalisierung und Verdinglichung von Menschen (etwa als ins Wasser eintauchendes >Ixionsrad<, H. A. Hei. 24; als erotische >Kette< von Leibern, Suet. Tib. 43). Die Phänomene des Zwanges, der Grenzsituation, des Todes und nun auch der sozialen Demütigung können vervielfältigt werden.86 Eigentliche >Zerstörungswut< an Objekten ist die Ausnahme (vgl. etwa H. A. Hei. 32); die Steigerungsfähigkeit geht auch hier nur mehr in die Richtung des Arrangements als solchen und seiner Beobachtung, vor allem der Beobachtung der eigenen Person. Dies vollends in eroticis: die eigene Erregung gewinnt nur noch als Gegenstand eines seltenen und komplizierten Arrangements,87 bei gleichzeitiger Selbstbeobachtung,88 Aufmerksamkeit. Wir befinden uns in der Welt des horazischen Spiegelkabinetts. Wie Trimalchio verändert sich die kaiserliche Person durch den Ablauf ihrer Feste. Auch sie verfällt der Abstumpfung durch endlose Orgelmusik (Suet. Nero 16), sie isoliert sich (nur Heliogabal darf im schweigenden Amphitheater lachen, H. A. Hei. 32), delegiert sich an multiplizierbare Objekte;89 und ihre Privatheit, ihre Leiblichkeit wird allen zum Schicksal (vgl. Suet. Cal. 24).
85 Bereits hier mit einem starken Zug zur Beobachtung des Arrangements selbst: vgl. Suet. Tib. 62. 86 Zwangsauktion bis zu Selbstmorden; demütigende Einzelsteuern; sexueller Mißbrauch von Beamten, während sie Amtshandlungen vornehmen, und in Anwesenheit der Untergebenen. Die Todesarten nähern sich ästhetischen Inszenierungen (Ersticken unter Veilchenfudern und ästhetischer Genuß des Stöhnens zusammen mit dem Blumenduft; Erschlagen der applaudierenden Menge durch Ochsen und Kamele) oder beziehen die Gefühlsreaktion der Trauernden in die »automata« ein: den Angehörigen wird eine Sänfte für den Transport zur Hinrichtung geschickt. 87 Vgl. Suet. Tib. 44. 88 Vgl. Suet. Nero 29. 89 Caligula umgibt sich mit geköpften, dann durch seinen Porträtkopf komplettierten Statuen, denen seine tägliche Kleidung angezogen werden muß (Suet. Cal. 22). 104
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Dem Thema des Kaisers als eines tafelnden Leichnams (dem Thema Petrons also) hat ersichtlich Tacitus seine ausgefeilte Studie über Vitellius gewidmet. Vitellius begreift sogleich bei seiner Erhebung seine Chance zu immerwährender Gefräßigkeit (bist. 1,62); er wird überall (auch in seiner Furcht vor dem bevorstehenden Tod: 2,67f.) auf Straßen, in Bädern und Gärten, das Festmahl organisierend, zum Tier (3,84), das sich am Ende seine Identität als Herrscher von der Umwelt bestätigen lassen muß (3,63). Auf dem Höhepunkt seines Eß-Festes findet er den Palast in völliger Leere vor; er ist - als Gegensatz zur bisherigen Fülle des Festes - tatsächlich zur Unterwelt geworden; und Tacitus imitiert hier ebenso wie Petron das descensus-Buch der Aeneis. Als er abgesetzt ist, erlebt er auf dem Weg zur Hinrichtung die »decapitatio« seiner Statuen (3,85); auch jetzt bleibt er ein wandelnder Leichnam. [143] Der Schlußstein der cena, das Arrangement auf den eigenen Tod hin, fehlt auch im imperialen Rahmen nicht. Die feiernden >Wahnsinnigen< wissen mit kynischer Klarheit, daß ihr Leben gesteigert und als Fest arrangiert werden muß> weil es in den baldigen Tod hineinläuft. Die Alternative, die Pflichterfüllung, eine längere Herrschafts- und damit Lebenszeit, der Nachruhm, führt vor ein Phantom (während der >Ruhm< zu Lebzeiten, die >Ehrung<, etwas Real-Genießbares ist) und würde ein ungelebtes Leben aufbrauchen. So lautet der Rat des Tiberius an seinen Nachfolger Caligula (Cass. Dio 59,16,5-7; Übers. O. Veh): »Denn sie hassen dich alle und beten um deinen Tod; und wenn sie dazu imstande sind, werden sie dich ermorden. Mach dir also keine Gedanken, welche deiner Maßnahmen ihnen passen, und kümmere dich auch nicht darum, wenn sie etwas schwatzen, behalte vielmehr nur dein eigenes Vergnügen und deine eigene Sicherheit im Auge; denn darauf hast du den gerechtesten Anspruch! Wirst du doch auf solche Weise kein Leid erfahren und dich all der angenehmsten Dinge erfreuen. Und außerdem wirst du noch von ihnen geehrt werden, mögen sie wollen oder nicht. Schlägst du hingegen den anderen Pfad ein, so wird dir dies in der Tat keinen Nutzen bringen; denn magst du auch zum Schein eitlen Ruhm einheimsen, ein Vorteil wird dir daraus nicht erwachsen, im Gegenteil, ein Opfer von Anschlägen, wirst du ein schmähliches Ende finden.« So könnte Petron - und hinter ihm die Tradition seit Diogenes - argumentiert und formuliert haben. Mit diesem Rat stürzt Senecas philosophische Rechtfertigung des >guten< »princeps«, entwickelt in der Schrift De dementia™ 105
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Eine Möglichkeit, aus diesem Zwangsfest des Todgeweihten inmitten der am Fest Sterbenden zu entkommen, besteht so wenig wie für die Gäste des Trimalchio. Nero erwähnt einmal die sehr moderne Vorstellung eines >Privatlebens<, eines Feier-Abends nach der Abdikation, an dem er sich als Kitharöde sein Brot verdienen könne (Suet. Nero 41). Aber gerade er arrangiert als erster im großen Stile sein Totenbett wie Trimalchio (Suet. Nero 42-49). Ausschöpfen läßt sich das Fest über einen gewissen Steigerungsgrad nicht: >kein Kaiser erfährt, was ihm alles erlaubt ist<, und Rom hat leider nicht einen einzigen Nacken (Suet. Cal. 30,2). In phantastischer, aber konsequenter Weise läßt die Historia Augusta Heliogabal schließlich einen juwelenbesetzten Turm erbauen, von dem er sich in gegebenem Moment stürzen könnte; dann umgibt er sich mit Giften {H. A. Hei. 33) - von diesen endlosen Anstalten kann ihn erst die Absetzung und das Ende in der Latrine befreien.
VI Die festliche Zwangsveranstaltung in Petrons Satyrica und in der zeitgenössischen Wirklichkeit des Prinzipats - diese Koinzidenz soll hier nicht zur (unlösbaren) [144] »Petron-Frage«91 der Philologie zurückführen. Aber die Frage nach dem Verhältnis von ästhetischer Inszenierung und Arrangement eines Festes läßt sich nun nicht mehr abweisen (vgl. IV) oder zurückstellen. Denn das Arrangement der römischen Zwangsfeste erhält von den Elementen Uterarischer Formung einen eigentümlichen Abschein; man kann sogar feststellen, daß es Tendenzen birgt, die sich auf das ästhetische Faktum hinbewegen. Wie sich zeigen wird, vermittelt ein Konzept des bisher mehrdeutig gebrachten Begriffes der Inszenierung Klarheit. Die kaiserlichen Veranstaltungen suchen nach den Zeugnissen zwar öfter auch des Ästhetischen habhaft zu werden. Heliogabal, der in einer Volksmenge Giftschlangen losläßt (H. A. Hei. 23) oder auf einer cena Leoparden (H. A. Hei. 25; bei Petron wurden die »convivae« noch durch bel90 Vgl. M. Fuhrmann, Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit, in: Gymnasium 70, 1963, S. 481-514. Seneca hane die gesamte Erscheinung des Cäsarenwahnsinns auf Affektverwirrung zurückgeführt; schon die >kalte< Grausamkeit des Caligula ließ sich für ihn nicht mehr erklären (vgl. De ira 2,5,3). 91 War der Verfasser der »arbiter elegantiarum« Neros? War Nero durch Trimalchio karikiert? Sprechen Indizien in den Satyrica für eine Abfassung erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr.? 106
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lende Bluthunde erschreckt), genießt die Panik als zwar von ihm veranlaßte, aber seiner Beherrschung entzogene Regellosigkeit, als Regisseur, aber doch zugleich als Zuschauer. Das ist eine Form gesteigerten Lebens (sie setzt die Tendenz zur Isolierung des Festbeherrschers fort), die das pragmatische Setzen von Bestimmtheiten, die alsbald in ihrem Zweck verschwinden92 und neu komponiert werden müssen, übersteigt. Denn in solcher Weise wurde in den »automata« der Zwang genossen, der den Machttrieb befriedigte; und dazu hatte der Regisseur mitzuhandeln. Die Perfektion solcher in sich geschlossener terroristischer Mikro-Teleologien überführte auf direktem Wege die Wahnwelt des Imaginativen in die Realität; das dritte Element der (Iserschen) Trias, das Fiktionale, wurde nicht erreicht. Das Resultat dieses >kurzen Weges< wird früher oder später der Terror sein. Die Zwangsveranstaltung stieß, wie die oben angedeutete Phänomenologie zeigt, lediglich an die Grenze, bis zu der Menschliches zum Instrument reduzierbar wird. Daher die Vorliebe der Arrangeure für Grenzsituationen, die einen bekannten regressus in infinitum entspringen läßt: der Arrangeur weiß, daß die Mitwirkung der Beherrschten, von der Mechanik der geforderten Aktionen bis zum Applaus, vom Zwang garantiert ist, ist aber bei grenzüberschreitenden Abläufen auf Wahrhaftigkeit angewiesen. Einleuchtend daher der die Bedingungen solcher Festabläufe sprengende Versuch des Heliogabal, die Beschäler vor seinen Augen und zwischen den einzelnen Gängen seine Lieblingsfrau beschlafen und eidlich jedesmal den stattgehabten Orgasmus bekräftigen zu lassen (H. A. Hei. 30). Der Prototyp der zum Zuschauer befreiten Figur des festlichen Zwingherrn ist natürlich der seine Hauptstadt verbrennende Nero. Aber an seinem Beispiel wird deutlich, daß der in der gesamten Phänomenologie deutliche Hang zur Distanzierung, zur Einklammerung, zum Selbstbeobachten, kurzum: zur Reflexivität, nicht wirklich in einen ästhetischen Raum Einlaß findet. Der Brandstifter als Regisseur kann niemals durch seine Reflexivität die temporäre Autonomie der entfesselten Regellosigkeit zur Fiktionalität steigern; diese bedarf - um beim Beispiel zu bleiben - eines Dritten als Zuschauers, mit anderen Worten: sie bedarf eines intersubjektiv (institutionell) akzeptierten [145] Platzes, der in die Realität »hineingetrieben« ist (Iser), ihr aber zugehört. Nero schafft sich denn auch Zuhörer, indem er seine eigene Tat durch die Produktion und Inszenierung einer Troiae Halosis zu Gehör bringt - eine Doppelung, die Fik92 Vgl. W. Iser, Akte der Fingierung, in: Funktionen des Fiktiven, hrsg. von D. Henrich und W. Iser (Poetik und Hermeneutik 10), München 1983, S. 124. 107
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tionalität zwischenzuschieben und in akzeptierter Weise zu inszenieren versucht. Natürlich zerfallt sie sogleich entsprechend dem gekennzeichneten Regreß: die obdachlosen Opfer werden Zuschauer nur durch Zwang; das intendierte ästhetische Faktum verkommt wieder zum Arrangement. Die Situation umreißt am genauesten jene empörende Szene, bei der man sich zugleich doch fragt, woher einen eine intensive Komik bis zum Tränen-Lachen anwandelt: Nero führt als Schauspieler griechische Tragödien auf, was bis zu zehn Stunden dauert; niemand darf das Theater verlassen; Frauen kommen nieder; die Menge kann es »taedio audiendi« und vor allem »laudandi« nicht länger aushalten. Nero horcht ängstlich nach der Stärke des Beifalls, läßt dabei aber die Tore gegen den Zuhörerschwund schließen. Einzelne stellen sich aus Verzweiflung tot und können in Särgen passieren; andere stürzen sich wirklich von den Mauern. »Le comique se situe entre la vie et l'art« (Bergson). Nun läßt sich die Nähe des Zwangsfestes zum Ästhetischen auch an dem Verhältnis des letzteren zur Realität ermessen. Hält man sich gegenüber dem neronischen Spektakel vor Augen, wie lange die Zuschauer an einem Tag der athenischen Tragödienfeste wirklich ausharrten, so ist man in der Lage, gegenüber der terroristischen Simulierung des ästhetischen Raumes als Institution die tatsächliche Härte der institutionell akzeptierten und verwirklichten - in diesem Sinne: inszenierten, nämlich zu einer Realität in den >Realitäten< gewordenen - Fiktionalität zu erkennen. Es ist das Verdienst der Fiktionalitätstheorie Wolfgang Isers, durch die Einführung der Trias Imaginäres - Fiktionalität - Realität das Verhältnis der beiden letzteren Instanzen einer Betrachtimg unterzogen zu haben, die eben den >harten< Charakter der, man möchte sagen: real existierenden, Fiktionalität93 interpretierte (von Iser später in einer Ausweitung des Begriffs von der aufführenden Aktualisierung eines Werkes zum WirklichWerden des Imaginären in der Fiktion noch weiter ausgearbeitet).94 Wiederholte Realität verschwindet nach diesem Konzept in ihren Zwecksetzungen und Bestimmtheiten dann nicht mit ihrer Verwendung, wenn sie, als ein Akt grenzüberschreitender Imagination, sich »Einlaß in die gegebene Welt« verschafft; ihre Inszenierung, als Fiktionalität, verstanden als Vorbedingung des factum aestheticum, schafft erst durch ihre >harte< Form, ihren »gewissen Realitätscharakter«,95 den akzeptierten und ver93 Ebd. S. 121,124. 94 Zur Phänomenologie der Dialogregel, in: Das Gespräch, hrsg. von K. Stierle und R. Warning (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, S. 183ff. 95 Bereits von O. Marquard als »Operationalisierung des Imaginären für seine Wirksamkeit im Realen« gedeutet (in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 490). 108
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standenen Raum, in dem sich die Selektions- und Dekompositionsleistungen ästhetischer Prozesse entfalten können. Es ist nun unverkennbar (von Iser noch nicht thematisiert), daß bereits auf der Grundlage dieser ersten Bedingung inszenierter Fiktionalität der ästhetische Bereich in seinen (de-) konstruktiven Leistungen (Iser [146] spezifiziert: Tilgung, Ergänzung, Gewichtung) Prozesse aufweist, die jenen des Arrangements völlig vergleichbar sind - und vor allem mit ihnen ein offenbar vor- und transästhetisches Moment gemeinsam haben: die Triebfeder der Perfektion.96 Arrangement und Inszenierung, nach ihren hier angedeuteten Konzepten, treten somit klar auseinander; aber ihre nahe Verwandtschaft und die Tendenz zur wechselseitigen Angleichung ihrer Erscheinungsformen weist auf einen verborgenen Zusammenhang, der nur in einer historischen Explikation ans Licht träte. Nun fehlt noch viel, daß eine »Archäologie des Fiktionalen« (Hans Robert Jauß) ins Auge gefaßt werden kann. Die folgenden Erwägungen können sich allenfalls der Vorgabe bedienen, daß an den Interferenzen zwischen Arrangement und Inszenierung gewisse historische Wandlungen abgelesen werden können. Die Genese der ästhetischen Autonomie aus einer Fiktion im Fest, das sich seinerseits einer befreienden >Lichtung< in den Zwangsabläufen von Magie, dann Ritus, dann Kultfeier verdanke, ist der alte Traum eines konstruktiven (durchaus schon vorhistoristischen) Humanismus - geträumt zuerst als apollinische Geburtsfeier des homerischen Olymp und der griechischen Tragödie, später fortgeräumt als Alptraum anthropologischer Regresse ins Vorästhetische. Die Friedensfeier einer uranfänglichen Einheit zwischen religiöser, sozialer und ästhetischer Kultur - zu ihr strebt im Grunde auch die Genealogie ästhetischer Befreiung aus dem entfesselten Fest karnevalistischer Umkehrung; nur tritt die Befreiung hier später ein, setzt einen >Monolog< voraus, dem bereits die verfestigten Kultur->Riten< der akzeptierten ästhetischen Formen angehören. Solchen Genealogien ist bereits von der Klassischen Philologie (mit einem non liquet auf dem Felde der Tragödie), in jüngster Zeit aber auch von jenem Zweig der Fest-Forschung widersprochen worden, der sich unter dem Konzept der >Schwelle< (liminality) mit der Öffnung ritueller Festabläufe auf Ansätze zu narrativer und performativer Enthobenheit befaßt. Wie B. G. Myerhoff, V. W. Turner und insbesondere B. A. Bab96 Zu diesem Phänomen und zu diesem Zusammenhang sind die grundlegenden Bemerkungen von H. R. Jauß (Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären, in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 443ff., bes. S. 444) heranzuziehen. 109
PETRONS SATYRICA cock gezeigt haben,97 halten die Entgrenzungen und subversiven Exzesse innerhalb festlicher Abläufe gerade nicht die Ablösung, die relative Autonomie ästhetischer Repräsentation gegenüber rituellen Identitätsparaphrasen98 parat." [147] Heuristisch fruchtbarer erscheint es, Fest und ästhetischen Eigenraum zunächst als nebeneinander hervortretend zu betrachten und allenfalls die Genealogie des letzteren als einen konsistent nicht mehr belegbaren Übergang von Identität zu Repräsentation anzunehmen - so hatte bereits Manfred Fuhrmann das Beispiel der attischen Tragödie durch den bekannten Wechsel von >identischen< zu >repräsentativen< Aufschriften auf athenischen Statuen illustriert.100 Erst bei solcher Trennung der Phänomene kommt auch jenes >Hartwerden< des ästhetischen Imaginationsraumes in den Blick, mit dem es als begrenzt enthobenes, in sich geschlossenes, den Zuschauer entlastendes Gefüge begriffen, institutionell akzeptiert und realisiert - und eben das heißt: inszeniert werden kann.101 - Es ist kein Zufall, daß dieser Begriff, operationalisiert für die Akzeptierung des Ästhetischen als einer Realität unter Realitäten, der dramatischen Form entstammt. Denn in ihr tritt die entscheidende Ablösung der Repräsentation von der Identität in der Alleingegenwart des Schauspielers, aber auch im (szenischen) Zurücktreten des Dichters und des Regisseurs am ursprünglichsten vor Augen (eine Ablösung, die zweifellos einen langen Bewußtseinsprozeß voraussetzt).102 97 Vgl. die Beiträge der Genannten in: The reversible world, hrsg. von B. A. Babcock, Ithaca 1978; Rite, drama, festival, spectacle, hrsg. von J. J. MacAloon, Philadelphia 1984; dazu auch zum Problem des >Karnevals<: B. A. Babcock, The novel and the carnival world, in: Modern Language Notes 89, 1974, S. 911-937. 98 Von Myerhoff (A death in due time. Construction of seif and culture in ritual drama, in: Rite, drama (...), S. 149-179) in einer idealtypischen Linie von Gehlens rhythmisch akzentuierter Wiederholung der Alltagsverrichtung bis zur szenischen Wiederkehr eines Kult-Mythos dargestellt. 99 Vielmehr beruht die dem Fest als Lizenz zugeschriebene Leistung eines Autonomie-Generators nach Babcock auf einem Irrtum: das >Oberst-zu-unterst<, die Lachkultur, antizipiere oder verabschiede im allgemeinen lediglich sich ankündigende oder überwundene Phasen im Moment von rites de passage (z.B. den Winter im Frühjahr, das Erwachsensein in der Initiation); und hinter dem temporären Chaos werde eine durchaus ernstgemeinte Belastung bestehender hierarchischer Verhältnisse erprobt. 100 Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im Drama des 20. Jahrhunderts (1968), in: ders., Brechungen, Stuttgart 1982, S. 196. 101 Bereits K. Stierle [Anm. 76], S. 147 haue den Begriff >Aufführung< so interpretiert.
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Nun ist das den üblichen Zwecken bedingt enthobene, in sich geschlossene, den Zuschauer entlastende Gefüge sehr bald im Begriff, mit eben den Perfektions-, Sinn- und Harmonieanforderungen betrachtet zu werden, die es zu jenem beherrschten, kontingenzabweisenden Ablauf steigern, den wir im außerästhetischen Bereich als Arrangement bezeichneten. Die Stationen dieses Weges sind bekannt genug;103 die folgenden Andeutungen knüpfen an das Beispiel der aristotelischen Poetik an. Der >Stoff< ästhetischer Abläufe entzieht sich zunächst der Beherrschung; er ist als Mythos unverfügbar; vor der eigenen Erfindung im modernen Sinn wird gewarnt. Seine Zurüstung aber weist insgesamt nur in eine geforderte Richtung: die Synthesis eines Werks dient der geschlossenen Handlung (im Gegensatz zur Kontingenz des Geschichtswerks); die Systasis der Überschaubarkeit; die >poetische Gerechtigkeit bei Aristoteles in der Wirkungsästhetik (empfehlenswerte Handlungstypen zur Erzielung tragischer Effekte) beschlossen, postuliert eine in sich konsistente (Mikro)Teleologie. Vor allem bezeugt der mimetische Grundsatz selbst, sobald er grenzüberschreitend mit Hilfe der Kategorie des >Wahrscheinlichen< ausgearbeitet und in den Kapiteln 24 [148] und 25 der Poetik durch Lizenzen zur Darstellung des >Unmöglichen< ausgeweitet wird, daß sich die bedingte Autonomie der ästhetischen Prozesse zum beherrschten Arrangement gewandelt hat. Die zunehmende Anwesenheit des Autors im Werk vollendet den Anspruch auf Perfektion und Totalität, der das Kunstwerk bis zum 19. Jahrhundert begleitet hat. Dieser Tendenz wohnt aber der gleiche Zug zur Reflexivität, zur Thematisierung von Fiktionalität selbst inne, wie dem perfekten Arrangement der Realität. Damit manifestieren sich auch in der Archäologie des 102 Man sehe noch bei Aristoteles, Poetik 1448a 20ff., die Beschreibung der Mimesis im >Bericht< (örrrayy&Aeiv) und im Drama: Kod yäp 4v TOIS OUTOTS Kod -rix aCrrä mii€Ta6oa Icmv 6ii \xivfrrrayy£AÄovTa(...), f^ -nrävTas a>s TTfx5rrrovTas Kod 4vEpyoövnras TOUS nipoupfvous: irrrayy&ÄovTa (vom berichtenden Dichter gesagt) wird mit -rrpäTTovTas und (bereits ästhetisch-reflexiv) mpouvifvous (die Aktionen der Schauspieler beschreibend) auf eine Ebene gestellt; der tragische Dichter und die Inszenierung seines Werkes selbst treten hier noch hinter dem Modus der Repräsentation durch den Schauspieler zurück. Belustigenderweise ist der moderne Übersetzer dieser kleinen, aber bezeichnenden Asymmetrie nachzuhelfen geneigt; vgl. die Übersetzung M. Fuhrmanns (München 1976, Stuttgart 1982 u.ö.): »Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten (...), oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen«. 103 Vgl. die Hinweise von Jauß, Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 423ff.
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PETRONS SATYRICA Fiktionalen Züge der >Einklammerung<, der Intertextualität (beim Arrangement: > Aktualisierung^ und der Grenzüberschreitung, die sich als gegenläufig zu der eben angedeuteten Entwicklung darstellen: der zunehmenden Geschlossenheit, Plastizität und Beherrschbarkeit der ästhetisch vermittelten Sinnabläufe entspricht eine progressive >Aufweichung< der institutionell (>harten<) eindeutigen Instanzen104 für die Produktion und Rezeption des als Fiktion inszenierten Imaginären - bis zu einer Endphase, an der eine »Ununterscheidbarkeit der Fiktion vom Realen« (Wolfgang Iser) sich ankündigt. Elemente der progressiven Komplizierung und Einklammerung von Fiktionalitat treten ohne historische Explikation bereits in der systematischen Darstellung der Iserschen Fiktionalitätstheorie auf - zu Recht, denn beide Aspekte sind nicht zu trennen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist hier die Stufe der >Entblößung< des Fiktionalen als Selbstthematisierung, ergänzt in späteren Erörterungen105 durch die Perspektivik intertextueller Relativierung und den Distanzbegriff der Inszenierung. Der Regreß steigerungsfähiger >Einklammerungen< (Inszenierungen von Inszenierungen) wird bereits von Iser gekennzeichnet106 und auf grundsätzlich eingetretene Grenzverwischungen zwischen Realem und Imaginärem zurückgeführt: Maßstab ist jene »Pragmatik (...), die nicht in die Inszenierung eingeht, weil sie diese bedingt: die Erfahrbarkeit sozialer Realität durch ihre Kritik«.107 Eine derart unvordenkliche Wertung des Faktums Ästhetik legt freilich die Gefahr nahe, von ihr aus literarhistorische Aufstiegs- und Verfallsabläufe namhaft zu machen. Solche Tendenzen akkumulieren sich, was die literarischen Formen betrifft, als Gattungsentgrenzung, als Spiegelung und Deformation durch intertextuelle Perspektivik. Sie entfalten sich, wie in den Satyrica, dann ganz, wenn das Werk über die Traditionen eines lange Zeit durchgespielten Ganungsspektrums verfügt und es integriert (so sind bei Petron Epos, Lyrik, Historiographie und Redekunst >anwesend<), aber selbst keiner akzeptierten literarischen Inszenierung mehr folgt. Mit der Inszenierung dieses Zustandes selbst aber tritt ein Entlastungseffekt für die beherrschten und arrangierten Figuren des Werks ein (wie für die mit sich alleingelassenen Räuber im Arrangement der Quanilla; wie für die zum 104 Vgl. R. Warning, Der inszenierte Diskurs, in: Funktionen des Fiktiven [Anm. 92], S. 193. 105 Zur Phänomenologie der Dialogregel [Anm. 94]. 106 Ebd. S. 189. 107 Ebd. S. 188.
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Zuschauen freigestellten Opfer kaiserlicher Willkür); eben dieser Effekt bewirkt den anarchischen Reiz der Satyrica, wie er erstmals in der Antike auftriu. Als Ulixes comicus von seinem Autor [149] intertextuell >freigelassen<, folgt Enkolp seinen eigenen, Grenzsituationen erprobenden Arrangements, vor allem aber als Ich-Erzähler jenen seiner Gefährten, »in einer gewissen Verantwortung«, so möchte man mit Kafkas »Wahrheit über Sancho Pansa«, jenem Kupios A6yos (»Herrenwort«) der Intertextualität, sagen: die Personen sind aus dem Bereich streng inszenierter Fiktionalität in die historische Realität des Imaginären übergetreten, das sie fortan bevölkern. Das Reale ist nun (wie schon in Petrons Werk die Welt der Deklamatoren) das aus der Fiktionalität wieder entbundene Imaginäre, eine schon in der römischen Kaiserzeit vagabundierende Endform fiktionaler Wirkung, die die Affinität der Realität und ihrer Feste zur ästhetischen Inszenierung, die frappierende Gleichzeitigkeit der »automata« in den Satyrica und in den kaiserlichen Festen, erklärt. Und aus diesem Horizont wird die Rezeptionsgeschichte der cena Trimalchionis in der Neuzeit deutlich, die als Geschichte der Dekonstruktion eines literarischen Werkes das vollendet, was es selbst als Telos parat hält. Die cena wird sogleich nach ihrer Auffindung aufgeführt,1** aus dem narrativen Text in eine dramatische Inszenierung transformiert. Seit dem 19. Jahrhundert geht sie in jene historische Realität des Imaginären über, das ein breites Stratum der Feste im Zeitalter des Historismus repräsentiert. Als viel dauerhafter hat sich gerade angesichts der in der Literatur immer wieder erreichten UnUnterscheidbarkeit von Fiktion und Realität die Verbindung von Ästhetik und Perfektion erwiesen, wie sie die Vorstellung von Totalität und Absolutheit des Kunstwerkes bestimmte. In ihr wirkt die Versuchung zur Mikro-Teleologie, zur Kontingenzeliminierung noch am stärksten fort, die wir mit dem Begriff des Arrangements verbanden. Diesem Begriff sehr nahe kommt eine Formulierung des Problems, die eine Lösung des ästhetischen Moments von der Idee der Perfektion zu vollziehen sucht. Es ist wohl kein Zufall, daß sie sich in einem Text findet, der programmatisch das Ende des Historismus und die Rezeption der existentialistischen Schwellensituation deklariert: einer wenig beachteten, narrativen Episode aus Sartres La Nausee (1938).109 Hier entwickelt Anny 108 Zur intertextuellen Nutzung der Kategorie >Aufführung< vgl. K Stierlc, Werk und Intertextualität [Anm. 76], S. 147. 109 Paris 1963, S. 200-214.
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am Ende ihrer Liebesbeziehung eine Theorie der »moments parfaits«, begleitet von einer reichen Phänomenologie. Solche »moments« sind in diesem frühen Werk Sartres noch keineswegs existentielle >Grenzsituationen<; vielmehr genau vorzubereitende und zu inszenierende komplizierte Arrangements von Alltagssituationen (Tabuszenen, Bestrafung des Partners, der unter dem Zwang steht, ihm zugedachte, aber unbekannte Rollen zu erkennen). Vorbereitet werden sie durch »situations privilegiees«, die, von fast kalvinistischer Zeichenhaftigkeit begleitet und der Beherrschung noch entzogen, ergriffen und als kleines Fest (Möblierung, Kostümierung, spontan zu erfindende Privatrituale) gestaltet werden müssen. Anny ist zu ihrer Theorie bezeichnenderweise durch die Lektüre eines Prachtbandes von Michelets Geschichte veranlaßt worden, der in seiner endlosen Darstellung nur durch wenige großformatige und als geschlossene Szene komponierte Illustrationen unterbrochen wird. Auf sie läuft die historische [150] Sinnlosigkeit zu; von der Staatsaktion bis zur Genreszene vereinen sie das Bedeutsamkeits-Telos einer geschlossenen Situation. »En somme c'est une ceuvre d'art«, bemerkt denn auch ihr Geliebter zu diesen Zumutungen an ihrer beider Alltag. Anny widerspricht vehement: »il fallait transformer les situations privilegiees en moments parfaits. C'etait une question de morale«. Die Idee der Perfektion gewinnt ihre transästhetische Härte zurück. Die Wirklichkeit unserer Feste - der uns historisch überkommenen wie jener Feiern, die wir noch einigermaßen selbstverständlich an religiöse und soziale Überzeugungen anzuschließen in der Lage sind - wird durch Vorgänge, wie sie hier zur Untersuchung standen, stärker berührt, als wir selbst es erfahren. Nicht nur haben diese Vorgänge dazu beigetragen, daß wir in einem großen Teil festlich begangener Zeit von den Abläufen historischer Imagination geleitet werden. Das institutionell und ästhetisch nicht mehr vermittelte Imaginäre kann jederzeit unter dem befehlenden Ansporn der Perfektion in die Arrangements jener Alltagsterrorismen führen, die wir als die Kehrseite festlicher Steigerung zu erkennen uns scheuen.
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Metapher - Exegese - Mythos Interpretationen zur Entstehung eines biblischen Mythos in der Literatur der Spätantike
Dante, Purgatorio Xu: Das Problem des christlich-antiken Mythos Einen Felsbrocken auf dem Nacken schleppend zeigen sich in Dantes Purgatorio die des Hochmuts Schuldigen. Es handelt sich nicht um eine Wiederholung des Sisyphosmythos. Der Fels hat vielmehr den Zweck, den Blick des Schreitenden auf den Boden zu richten, einen Felsboden, in den eingemeißelt die Hybris der Vorwelt ihre mythischen Gestalten den Büßenden vor Augen hält {Purg. Xü,25ff.): »vedea colui che/u nobil creato piü ch'altra creatura, giü dal cielo folgoreggiando scender da un lato; vedea Briareoyfitto dal telo celestialy giacer da Valtra parte, grave a la terra per lo mortal gelo; vedea Timbreo, vedea Pallade e Marte, armati ancora, intorno alpadre loroy mirar le membra de*giganti sparte; vedea Nembröt a pie del gran lavoro9 quasi smarrito, e riguardar le genti che in Sennaar con lui superbi fuoro. (...)« Aus: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von Manfred Fuhrmann {Poetik und Hermeneutik 4), München: Wilhelm Fink Verlag 1971, S. 157185.
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Auf dem Relief sind ferner Niobe, Saul, Arachne, Rehabeam, Alkmäon, Sanherib, Tamyris, Holofernes und als Schlußtableau das brennende Troja abgebildet. Die Strafe der Hochmütigen, aber auch die Rolle, die die Abbilder ihrer mythischen Vorgänger spielen, ist also dem Talionenprinzip entsprechend gestaltet: diese werden wie Grabplatten (Xu, 17) mit Füßen getreten, jenen wird das stolze Haupt gewaltsam zum Anblick ihrer Vorgänger herabgezwungen. Es könnte scheinen, als handele es sich um eine der vielen antik-christlichen Figurationen, die die Commedia aufbewahrt. Aber die Funktion dieses Bilderfrieses ist außergewöhnlich. Selbst die überweltliche Gemeinschaft des Purgatorio, deren theologischästhetischer Sinn eben darin besteht, die Gesamtheit des Menschlichen von seinen Anfängen her zu integrieren, wird hier transzendiert. Denn Nimrod, Niobe und die ihnen Gleichgeordneten nehmen nicht mehr als Personen, als Mitbetroffene, z.B. in Geisterstimmen Klagende, [158] eben als unmythische >Zeitgenossen< sub specie salutis an der Heilsveranstaltung teil, wie so viele antike Gestalten. Vielmehr sind sie abgebildet, ja, wie Dante nicht zu betonen versäumt (Xü,64ff.), künstlerisch vollendet und die wirklichen Begebenheiten (il vero) überbietend abgebildet. Derlei Transpositionen in die bildende Kunst innerhalb literarischer Texte des Mittelalters, aber auch der Antike, sind stets Signal für eine bestimmte Rezeption des Mythos, und zwar für jene Rezeption, die den Mythos (auch die Sage und historisch fernliegende Ereignisse) endgültig als solchen fixiert, ihn dem Bereich der Wirklichkeit (hier: der heilsgeschichtlich begründeten Mitbetroffenheit) entrückt und in dem rein mimetischen1 der Kunstwahrheit ein nicht mehr der Ausdeutung verpflichtetes Leben läßt.2 1 Es handelt sich also gerade um den entgegengesetzten Vorgang zu der allegorisch deutenden (z.B. astronomisch oder physiologisch bezogenen) Darstellung mythischer Gestalten, jener Reduktion des Mythischen, in der dieses seit der Spätantike überwinterte. Das bei dieser reduzierenden Darstellung durchaus mögliche liebevolle Detail ist nicht Dantes vero> die fraglos anerkannte Kunstwahrheit, sondern der Abschein des Bedeutungsvollen; es ist eher als Attribut zu bezeichnen (z.B. die Sense des Saturn in mythologischen Handbüchern). Vgl. zu dem Übergang dieser Latenzperiode zur Renaissance E. Panofsky: »Middle Ages had left antiquity unburied. The Renaissance stood weeping at its grave and tried to resurrect its soul. Resurrected souls are intangible, but have the advantage of immortality and omnipresence. Therefore the role of classical antiquity after the renaissance is somewhat elusive but, on the other band, pervasive« (Renaissance and renascences in western art, Stockholm 1960, S. 113). 2 Als Beispiel für diese Bedeutung als Rezeptionssignal nenne ich aus der römischen Literatur das bellum Punicum des Naevius. Naevius hat in dem fragmema116
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Wichtiger noch: von der Konsistenz der Danteschen Dichtung her betrachtet bedeutet der Fries hier3 nicht nur das vollendete Kunstwerk, an ihm wird nicht nur das Exemplarische, das man selbst in der Wiederholung erfährt, betrachtet. Seine Gestalten sind vielmehr gänzlich dem Bereich des Geschichtlich-Mitmenschlichen und der Erlösung oder Verwerfung Fähigen enthoben und zu Instrumenten der Buße geworden; die Reliefplatten sind petrifizierte Teile der Danteschen Bußlandschaft. In den Stufen von der exemplarischen Reproduktion zur beginnenden Autonomie des Kunstwahren und dann zur Emanzipierung, die die üblichen Absicherungen des Antik-Mythischen in der Konsistenz des Danteschen Werkes durchschlägt, wird ein Vorgang der Remythisierung greifbar. An ihm können Merkmale abgelesen werden, die für den Begriff Mythos überhaupt konstituierend zu sein scheinen: 1) Er ist der dem Menschen erlebbaren Wirklichkeit - also bei Dante auch der supranaturalen - enthoben; 2) er wird nicht in den Verlauf einer irgendwie zielgerichteten Historie - bei Dante der christlichen Heilsgeschichte - einbezogen; 3) er ist, über seine eigene >Geschichte< verfügend, dem Bereich des Menschlichen zugehörig und erfahrbar - z.B. bei Dante im Sinne des Paradigmas.
VW Die vorliegende Stelle kann, wenn wir sie richtig als Zeugnis einer Remythisierung verstanden, einen Anfangs- und einen Endpunkt bezeichnen - den Anfangspunkt einer Spätphase des Mythos, jener aus antiken und biblischen Gestalten zusammengefügten mythologischen HinterWelt, wie wir sie seit der Renaissance vor allem noch als nicht mehr vorgängig von theologischer Deutung abhängige Folie der Kunst kennen, einen Endpunkt aber der spätantik-mittelalterlichen Epoche, in der von einem autonomen Mythos nicht gesprochen werden kann und die mit der ersten Berührung antik-mythischer und christlich-biblischer Welt begann.4 Stufen dieses Prozesses, der aus der Durchdringung des scheinbar Fernsten zur Konstituierung eines gemeinsamen Mythos führt, will diese risch erhaltenen Epos vermutlich durch die Beschreibungen von Darstellungen an einem Schiff oder Tempel die römischen Gründungsmythen in die Dichtimg über den ersten punischen Krieg integriert (die Deutung der Fragmente ist umstritten). Auf die Bedeutung des Kunstgriffes in der altfranzösischen Epik hat J. Seznec, Survival of the pagan gods, New York 1953, S. 116, hingewiesen. 3 Anders bei dem Marmorfries Purg. X,28ff.; hier fehlt die instrumentale Beziehung auf den Läuterungsvorgang. 4 Repräsentant der an dem Fries Büßenden ist nicht zufällig der Maler Oderisi, in dessen Rede die bekannte Unterscheidung zwischen der modernen Malerschule und den Künstlern der etati grosse fällt; vgl. Purg. XI,82ff. (Hinweis von K. Stierle). 117
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Untersuchung an wenigen Beispielen der Literatur kennzeichnen. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf dem überraschendsten und noch am wenigsten geklärten Zug dieses Vorgangs: daß auch die Bibel in den Bereich mythischer Figurationen absorbiert wird. Was hiermit gemeint ist, möge ein Blick auf den Bilderfries des Purgatorio erläutern. Sein Kompositionsprinzip ist die Parallelisierung der antiken und biblischen Gestalten; sie folgen einander bis zu dem antiken Schlußtableau sämtlich in Paaren. Und die Paare selbst sind kunstvoll gruppiert: 1) 2) 3) 4) 5) 6)
Luzifer - Gigantomachie (Opfer) Gigantomachie (Sieger) - Nimrod Niobe - Saul Rehabeam - Arachne Alkmäon - Sanherib Tamyris - Holofernes.
Das 1. und 2. Paar ist durch die Aspekte der Gigantomachie, die das Schema andeutet, jeweils zum Komplement eines einzigen Geschehens geworden; dadurch werden auch Höllensturz und babylonische Sprachverwirrung an den gleichen mythischen, den biblischen Geschichtsverlauf ignorierenden Ort versetzt. Das 1. Paar betont die Analogie des Hinabgestürzt- und Begrabenseins in der Hölle und unter der Erde, das 2. Paar vergleicht die membra disiecta der Titanen mit den verwirrten Volkshaufen in Babel; ferner kontrastiert im 2. Paar der Gesichtspunkt des göttlichen mit dem des menschlichen Betrachters, hierbei ist der göttliche Part durch die Olympier, der menschliche durch die biblische Gestalt besetzt. Die nächsten beiden Paare, nicht mehr Rebellen, sondern Vermessene, sind, was Antike und Bibel betrifft, chiastisch angeordnet. Das 5. Paar kontrastiert wieder (antiken) Täter und (biblisches) Opfer; der beiden gemeinsame Gegenstand des Frevels ist Verwandtenmord. Und ebenso bilden die beiden Gestalten des 6. Paares die Komplemente eines einzigen Geschehens, das mit dem des 5. kontrastiert: die gerechtfertigte Tötung des Tyrannen steht dem Mord gegenüber. Kyros und Judith werden in der bildlichen Darstellung verdrängt; Tamyris ermordet gleichsam in dieser antik-biblischen Welt auch den Holofernes. [160] Es liegt also ein reziprokes Wegblenden und Kontaminieren der Traditionen vor, ein Rollentausch wird vollzogen, wie er nur innerhalb einer als einheitlich vorgestellten mythischen Welt möglich ist. Die Komposition zeigt, daß es eben auf die Herstellung dieses einheitlichen Mythos durch die völlige Verschmelzung beider Traditionen abgesehen ist. 118
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Es wäre indessen verfehlt, die Zusammenstellung der Paare, ja selbst ihre Gruppierung nur Dantes Kompositionskunst zuzuschreiben. Was hier verbunden wurde, entspricht der Schlußphase einer über tausendjährigen Rezeptionsgeschichte, ohne deren Kenntnis der Sinn der Parallelismen, ja deren Gliederung (z.B. die Zugehörigkeit der Nimrodterzine zu der vorhergehenden, überhaupt das Prinzip 1 Paar - 2 Terzinen) nicht erkannt werden kann.5 Dies sei am Beispiel des 1. und 2. Paares gezeigt. Jean Pepin hat darauf hingewiesen, daß wir in der Assimilation von Gigantomachie und Genesis 11 das früheste uns noch faßbare Beispiel einer Berührung von antikem Mythos und biblischer Welt sehen dürfen:6 Eupolemos (in der Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. schreibend) hat nach dem Bericht des Eusebius (praep. ev. DC,17) die Erbauer des Turmes als die von der Sintflut verschonten Giganten angesehen; sie seien nach der Zerstörung ihres Werkes über die Erde zerstreut worden. Noch enger ist die Fuge zwischen Bibel und Mythos in der gleich darauf (DC,18) von Eusebius referierten Ansicht eines anderen, anonymen jüdischen Historikers: die Patriarchen stammten von den Giganten ab, die die olympischen Götter vernichtet hauen; nur einer von ihnen, Belos, sei entkommen und habe den babylonischen Turm gebaut. Auch durch Philon (z.B. de gig. 65) ist Nimrod als einer der sich empörenden Söhne der Erde interpretiert worden. Die christliche Spätantike hat diese Interpretation des hellenistischen Judentums rezipiert. Das zeigt z.B. die Schilderung Nimrods bei dem sonst nur knapp paraphierenden Bibelepiker Cyprian (5. Jh. n.Chr.; Genesis, 325ff.): »(...) deum gaudens contra se attollere sanctum, heroum de moreferox, quos ardua cervix immensumque caput sublimes tollit in auras.« Ausführlich und reflektiert geschieht die Parallelisierung bei Avitus (de spir. bist. gest. IV,86-122). Avitus rechtfertigt sie nach dem seit den Apologeten geläufigen Grundsatz vom griechischen Mythos als Derivat der Bibel. Endlich hat diese Assimilation auch in der heidnischen Auffassung vom Gigantenkampf eine Spur hinterlassen. Symmachus will in seinem 5 Vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1965, S. 368, der in der Aufzählung der Gestalten dieses Frieses die Komposition verkennt. 6 Mythe et allegorie, Paris 1958. S. 228ff.; ders., Le challenge Homere - Moise, in: Revue des Sciences Religieuses 29, 1955, S. 109ff. 5
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Panegyricus auf Valentinian I. den Kaiser als Städtebauer preisen und vergleicht:7 von den Giganten werde berichtet, sie hätten Berge aufeinandergetürmt; diese Überlieferung sei unglaubwürdig, es habe sich wahrscheinlich um berghohe Türme (montanas turres) gehandelt, die dann im [161] Gegensatz zu den Bauten Valentinians eingestürzt seien. Hier beschneidet die Mythenkritik die Gigantomachie auf ein >architektonisches< Substrat. Das geschieht natürlich um des panegyrischen Vergleichszwecks willen, möglich aber wird diese Umbiegung durch die Kenntnis der geschilderten Assimilation. Der Vergleich des Symmachus beweist, daß der auf Hesiod zurückführende Mythos vom Gigantenkampf mit dem bei Homer erzählten von Otos und Ephialtes, die Ossa und Pelion aufeinandertürmten (Od. XI, 305ff.), kontaminiert wurde. Die Nähe beider Mythen und die dem Wortlaut der Bibel nahen homerischen Verse erklären es, daß neben der soeben skizzierten Tradition auch die Verknüpfung dieses Mythos mit der Turmbaugeschichte geschah. Es ist übrigens diese Assimilation gewesen, die zum Paradebeispiel in der Auseinandersetzung zwischen heidnischen und christlichen Allegorikern bei Celsus, Origenes und Julian wurde.1 Die Abfolge der ersten Figuren auf Dantes Fries ist also die Auswirkung einer durch lange Rezeptionsgeschichte festgelegten Paarbildung, deren Genesis im einzelnen hier darzulegen nicht der Ort sein kann.9 Auch der Teufelssturz ist nicht nur wegen der augenfälligen Analogie mit dem Gigantenkampf in die Szene einbezogen worden; auch diese Lokalisierung auf dem Fries ist das Ergebnis einer Tradition, die freilich durch eine im Rahmen der Mythenkontamination unerwartete Technik, nämlich die der christlichen Bibelexegese, geschaffen wurde. Nimrods biblische Attribute (Jäger und Rebell) haben ihn seit Origenes allegorisch dem Teufel selbst gleichgestellt; die spätere Exegese hat diese Gleichung übernommen und sie der Dichtung vermittelt. Prudentius hat in seinem Lehrgedicht über den Sündenfall (hamart. 136ff.) Nimrod als den von jeglicher Historie gelösten, überzeitlichen Teufel dargestellt, ähnlich der Epiker Claudius Marius Viaor (aleth. m,166ff.); hier hat sich die Darstellung Nimrods (als des Teufels) von dem unmittelbar darauf beschriebenen Turmbau gänzlich gelöst. Der mythischen Gleichung also, die wir zwi7 Monumema Germaniae historica. Auetores antiquissimi, Bd. VI 1, hrsg. von O. Seeck, Berlin 1883, S. 327. 8 Vgl. hierzu E. Stein, Alttestamentliche Bibelkritik in der späthellenistischen Literatur, in: Collectanea Theologica 16, 1935, S. 41ff. 9 Hingewiesen sei noch auf die sehr ausgebildete Vorstufe der Parallelisierung von Judith und Tamyris bei dem Dichter Dracontius (de laud. dei HI,480ff.). 120
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sehen Luzifer und Nimrod konstatierten, lag bereits die allegorische Gleichung der christlichen Exegese zugrunde. Aber ohne daß zunächst auf die Techniken, die bei dieser Traditionsbildung Anwendung fanden, eingegangen werden soll - der Anfangs- und Endpunkt des Prozesses läßt sich an diesem Beispiel deutlich unterscheiden. Der bei Dante vollendete Rollentausch, der die Einheitlichkeit des antik-christlichen Mythos stiftet, ist in der spätjüdischen Assimilation noch kaum angedeutet. Besonders im zweiten, ausführlichsten Beispiel (praep. ev. IX, 18) sind die antiken Gestalten so ersichtlich auf die biblische Welt hin geordnet, daß sich die Frage stellt, ob es sich dort überhaupt um das Konvergieren gleichberechtigter Mythen handelt. Das chronologische Gerüst der Bibel bleibt erhalten (Sintflut - babylonischer Turmbau - Gigantomachie) und bestimmt den Bericht ebenso, wie dessen Einzelheiten (der Turm - nicht etwa die Berge) der Bibel verpflichtet bleiben. Nur die antiken Personen besetzen die biblischen Rollen; und der Personenwechsel ist in der Mythenkontamination die einfachste Möglichkeit. Außerdem ließ sich feststellen, daß im Laufe der Tradition verschiedene [162] griechische Mythen eklektizistisch zur Analogie herangezogen wurden (Giganten - Otos und Ephialtes). Ein scheinbar paralleles Phänomen, verschiedene Mythen innerhalb der Bibel< (Luzifer - Nimrod), führte sogleich auf eine Strukturverschiedenheit: die biblischen Gestalten sind zunächst auf ihren jeweils fixen Punkt innerhalb der biblischen Historie festgelegt, und nur die innerbiblische Exegese kann sie miteinander identifizieren; der Rahmen der Heilsgeschichte bleibt erhalten. Daher konnte der antike Mythos nur dort, wo schlagende Analogien dies ermöglichten, den Einschlag flüchtiger Einzelzüge in den Zettel einer chronologisch gesicherten Geschichte bewirken. An dieser Differenz - auf der einen Seite für die Mythenkontamination frei verfügbare antike Mythen, auf der anderen historisch fixierte biblische Geschichten - zeigt sich, daß es an der Zeit ist, die Begriffe »biblische Welt«, »antike Gestalten« und deren »Assimilation«, mit denen bisher operiert wurde, einer genaueren Prüfung durch Interpretation zu unterziehen. Andernfalls läuft die Untersuchung Gefahr, die entscheidenden Stationen jenes Prozesses zum gemeinsamen Mythos hin zu übersehen. Es ist bereits vorschnell gewesen, bei der Analyse vorauszusetzen, biblisches und antikes Substrat könnten als zwei gleichwertige, jedenfalls mythische Figurationen betrachtet werden. Angesichts des historischen und zudem sakralen Charakters der Bibel ist der Begriff >biblischer Mythos< eine äußerst problematische Größe. Wie sich gezeigt hat, kann sie am Beginn des Kontaminationsvorgangs noch nicht in sinnvoller Weise angewendet 121
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werden. Wie, so lautet die Frage, konnten in der nachbiblischen Literatur die biblischen Geschichten dem griechischen Mythos kommensurabel werden und schließlich in den Horizont des Mythischen eintreten? Für eine solche Untersuchung im Rahmen der Spätantike ist die Literaturwissenschaft, wie zugestanden werden muß, schlecht vorbereitet. Die Theologie befindet sich in einer Diskussion um den mythischen Charakter der Bibel, die seit etwa zwei Jahrhunderten andauert.10 Die Mythenkritik der Aufklärung setzte mit der Analyse des Schöpfungsberichts ein, und die heutige theologische Diskussion um den mythischen Charakter der Rede vom Kreuz und von der Auferstehung und deren mögliche Entmythologisierung hält bei den Kernpunkten des christlichen Glaubens.11 Sie hat dadurch nicht nur die modernen Theorien des Mythos in all ihren Wandlungen mitvollzogen und z.T. zuerst formuliert (so im 18. Jahrhundert) - je radikaler in ihr die Frage nach der Verkündigung wurde, desto formaler mußte der Gegenbegriff Mythos werden. Unter dem Einfluß der Existentialphilosophie hat er als Kategorie der objektivierenden und damit vergötzenden Rede von Jesus Christus12 eine unverkennbar ontologische Färbung erhalten. Diese Diskussion ist bisher noch nicht für eine Wiederbelebung der von Bultmann und Dibelius betriebenen Formgeschichte für das von Overbeck gestellte Problem einer nachbiblischen christlichen Literatur fruchtbar gewesen. Die Literaturwissenschaft darf skeptisch sein, ob eine so allgemein gefaßte [163] Kategorie des Begriffs Mythos für die nicht theologische Interpretation der patristischen Literatur nutzbar gemacht werden kann. Auf der anderen - philologischen - Seite fehlt es keineswegs an Untersuchungen über die Reduktion des antiken Mythos zum Schattendasein des allegorischen Ornaments und über seine Remythisierung in den europäischen Renaissancen. Dieser Vorgang hat immer wieder Beobachter gefunden; eine Fülle von Einzeluntersuchungen trat den bahnbrechenden Arbeiten von Liebeschütz, Seznec, Curtius und Panofsky zur Seite. Dieses Interesse am >Nachleben< des antiken Mythos in der Rezeption durch das Christentum - meist wird der Begriff Rezeption in diesem Sinne gebraucht, und vom Nachleben des Christlich-Biblischen in der spätantiken Literatur zu sprechen, ist vollends nicht üblich - zeugt von der 10 Hierzu vgl. Chr. Hanlich und W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952. 11 Zu verfolgen in den Sammelbänden >Kerygma und Mythos<, Hamburg 1948ff. 12 Vgl. W. Pannenberg, Mythos und Won, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 51, 1954, S. 167ff. 122
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Perseveranz der humanistisch-klassizistischen Optik, die das Interesse vor allem auf den Umfang der Rettung bzw. des Verlusts der Antike in einer an sich gleichgültigen Form gerichtet hatte. Diese relative Gleichgültigkeit des Rezeptionsmediums hatte ihre Ursache offenbar darin, daß in dieser Sicht das Christentum nicht nur an einem prinzipiell außerliterarischen Ort stand, sondern durch seine literarische Betätigung seit der Spätantike geradezu als verfälscht erschien. Wo daher Phänomene auftauchen, die nur als Literarisierungsformen der christlichen Aussage gedeutet werden können, da werden sie aus dieser Sicht noch immer nur als Säkularisierungserscheinungen verstanden13 - und zwar in der von Hans Blumenberg gekennzeichneten Verwendung dieses Begriffs als Etikettierung des Illegitimen. Daß der Begriff der Rezeption nicht mehr in das einseitige Verständnis entweder als Nachleben oder als Säkularisierung auseinanderfällt,14 dessen bedarf die Literaturwissenschaft besonders, wenn sie sich der Spätantike zuwendet. Erst dann sind die überkommenen Fronten Literatur - Antike / Glaube - Christentum überwunden. Auch den patristischen Schriftstellern brannte dieses Problem der Literarisierung auf den Nägeln. Das beweist gerade die Reichhaltigkeit der topischen Bilder, die diesen Vorgang umschreiben und regeln möchten. Das eben berührte Klischee von Form und Inhalt z.B. ist nur eine Wiederholung der bekannten patristischen Exegese zu Exod. 11,2 (die goldenen Gefäße der Ägypter sind Philosophie und Literatur der Antike). Eine andere Exegese befahl, der Antike als einer weiblichen Kriegsgefangenen zuerst sämtliche Haare abzurasieren, ehe man sie zur Konkubine nehmen dürfe.15 Wenn diese Untersuchung die Entstehung eines bibüschen Mythos als Frage nach der Rezeption des Christlichen durch die Literatur versteht, dann stellt sie damit auch eine ständig wiederholte Topik in Frage: wer hat hier eigentlich wen geschoren? [164]
13 Hierzu Näheres unten, S. 142. 14 Vgl. H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von M. Fuhrmann (Poetik und Hermeneutik 4), München 1971, S. 11-66, hier: S. 27. 15 Vgl. Deut. 21,10ff.; hierzu H. de Lubac, Exegese medievale I 1, Paris 1959, S. 290ff. 123
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n Clemens Alexandrinus, Protreptikos: Der griechische Mythos als christliche Metapher Die patristische Literatur erreicht mit Clemens von Alexandrien einen ersten Höhepunkt, und das bedeutet, versteht man diesen Vorgang als eine Literarisierung des zunächst nicht Literarischen, daß nun die Öffnung gegenüber der Antike ein Ausmaß erreicht, wie es erst wieder im vierten Jahrhundert zutagetritt. Mit den Apologien des zweiten Jahrhunderts war, wie Overbeck bemerkt,16 der Eintritt in die Literatur vollzogen, aber mit dem Werk des Clemens ist ein abrupter Neueinsatz geschehen. Formal ist der Protreptikos ebenfalls eine Apologie, aber ihr Ziel ist neu: neben der apologetischen Negation wird bereits versucht, die christliche Lehre positiv zu umreißen - und dies mit den konventionell gewordenen Mitteln der apologetischen Abwehr, also in Begrifflichkeit und Mythos der Griechen: »Ich will dir den Logos und die Mysterien des Logos zeigen und sie dir mit den Bildern erklären, die dir vertraut sind.«17 Es wird nunmehr - mit Overbeck zu redenl8 - das Heidentum innerhalb der Kirche bekämpft. Es soll hier diesem Ansatz nachgegangen werden, soweit in ihm der griechische Mythos zum Vehikel der christlichen Aussage wird. Denn dieser Ansatz ist bis zu einer bestimmten Grenze gelungen. Er hat damit Grenzen gesteckt, die für das allgemeine Problem des sich mythisch ausdrückenden Christentums Gültigkeit haben. Die Komposition des Protreptikos19 erleichtert die Untersuchung: der apologetische Mittelteil (Kap. II-X)20 wird eingeleitet und abgeschlossen durch eine Folge griechischer Mythen (Kap. I und Xlf.). Über ihre Funktion läßt Clemens den Leser zunächst im unklaren: Amphion, Arion und 16 Über die Anfinge der patristischen Literatur, Neudr. Darmstadt 1954, S. 44. 17 6d£co ooi TÖV X6yov Kai TOO Xöyou TCC puorfpia, Kcrrä TVJV aty SiTjyouiuvos ElKÖva (Protr. 119,1; die Übersetzung der Clemens-Zitate nach O. Stählin). 18 Über die Anfänge [Anm. 16], S. 53. 19 Hier benutzt in der Ausgabe von C. Mondesert - A. Plassard, Paris 21949. 20 Der Mittelteil ist in einen negativen und einen positiven Teil geschieden: Kap. nf. Ablehnung der heidnischen Religion, insbesondere der Mysterien, IV der Dichter, V der Philosophen; ab VI Hinweise auch der Philosophen (VI) und der Dichter (Vü) auf den wahren Gott, Vlllf. Beweise aus dem AT, X abschließende exhortatio. 124
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Orpheus, so beginnt er, haben die Mauern erbaut, den Fisch herbeigelockt, die Tiere gezähmt. Eine Aufzählung also ohne Vorbereitung, etwa die Angabe eines Deutungsziels oder die ihr entsprechende Kautele vom Typ »die Lügen der Dichter berichten« (wenn abgelehnt) oder »sogar der heidnische Mythos« (wenn positiv gedeutet). Aber so beginnt auch nicht der trockene Bericht des mythologischen Antiquars.21 Offenbar wird der Mythos hier noch als autonome Größe (KOCI TÖ $o\xa clertn TOOTO TEAÄIV voav $8erai yopü>, »immer noch wird dieses Lied im griechischen Chor gesungen«, 1,1) empfunden, zumindest hingestellt - denn daß es sich hier um eine Spätphase des Mythenberichts handelt, daß der Mythos in etwas anderes integriert werden wird, signalisiert das angefügte »dies ist ein anderer griechischer Mythos* (1,1). Zunächst aber wird noch ein dritter, der von Eunomos und der Zikade, eingefügt (l,2f.). Der diesmal ausführliche Bericht läßt jetzt seine Funktion erkennen: die Zikade, die nach der griechischen Überlieferung herbeiflog, um eine gesprungene Saite auf der Leier des Eunomos zu ergänzen, habe, so Clemens, gar nicht zu Ehren des Python (eines toten Drachen), sondern des wahren [165] Gottes gesungen; sie sei nicht, um dem heidnischen Sänger zu helfen, sondern um von dem Instrument Besitz zu nehmen, herbeigeflogen, und Eunomos habe daraufhin nur noch die Zikade begleitet. Es liegt also eine Umbiegung des Mythos vor, noch keine Umdeutung; der Mythos wird deformiert, bleibt aber durchaus ernstgenommenes Geschehen, das nur falsch berichtet wurde (1,3). Der griechische Mythos erscheint hier als einseitige Schilderung der wahren Umstände, und um diese >Depravierung< aufzuheben, >berichtigt< Clemens seinerseits die Einzelheiten. Noch also will der deformierende Bericht den Mythos nicht interpretieren, er zeigt zunächst nur an, daß es möglich ist, diesen - >tatsachengetreu< erzählt - in die christliche Welt zu integrieren. Integrationsmittel ist hier die insgesamt unter Gott stehende Natur, repräsentiert durch die Zikade; der Sängerwettstreit soll durch die wunderbare Überlegenheit des Tiers demonstrieren, wer der wahre Gott ist. Nur Andeutungen offenbaren, wie weit der Mythos durch diese Integration schon deformiert ist. Nicht Apollon ist der Gegner Gottes; die Verschiebung auf den Drachen Python hin christianisiert auch den Gottesgegner; er wird als Satansschlange assimiliert; daher gleich darauf der eindeutigere Ausdruck Schlange. Daher auch das Schwanken, ob der Gesang des Eunomos vielleicht kein Hymnos (wie das natürlich beim Gesang auf Apollon der Fall 21 Es handelt sich im Gegenteil um ein Musterbeispiel raffinierter Prosa; vgl. E. Norden, Antike Kunstprosa, Leipzig 1909, Bd. 2, S. 549. 125
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS sein mußte), sondern vielleicht ein Threnos (des Götzenanbeters auf die besiegte Schlange) gewesen sei. Noch ist die Funktion dieses mythischen Sprechens nicht deutlich. Auf eine völlige Integration des griechischen Mythos, wenn auch durch weitgehende Substanzveränderung, ist es aber nicht nur abgesehen. Die Mythen, so wird die platonische Kritik aufgenommen (2,1-3,2), sind nichtig, die Dichter haben durch ihre Erfindungen unendliches Verderben gebracht, man muß sie auf dem Helikon und Kithairon zurücklassen, dafür die Propheten auf dem Berge Zion aufsuchen, dort sei »der wahre Wettkämpfer, der im Theater des Weltalls den Siegeskranz empfängt« (6 yvrjaios Äycoviorfjs tni TCO TTOVTÖS KÖOUOU 6E<5nrpco cr^avoupevos, 2,3). Gemeint ist mit letzterem der Logos, aber auch er wird nicht anders als »mein Eunomos« (6 Eüvopos 6 t\x6s) genannt, denn auch er singt, freilich das biblische »neue Lied« (2,4). Hier ist ein weiterer Schritt getan. Der Mythos, der nicht mehr geglaubt, aber noch als lebendige Macht erfahren wird,22 wird en bloc abgelehnt und verächtlich gemacht - die Dichter solle man auf ihren Musenbergen einsperren (2,2). Die Kluft zwischen einem höheren Wissen (2,2) und dem trügerischen Mythos erscheint nun, und zwar in dem gleichen Verhältnis wie bei Piaton.23 Gleichwohl wird das mythische Sprechen nicht aufgegeben, sondern es greift, gerade als Folge der Abwertung des griechischen Mythos, jetzt auf biblische Vorstellungen in der Weise eines mythischen Kontraposts über; der heilige Berg Zion und die Propheten sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als aus der Bibel nach den Konturen des verworfenen Mythos herausgelöste Scherenschnitte. Auch der Logos ist dieser den Mythos bloß reflektierende biblische Umriß ohne christlichen Inhalt; bekränzt steht er, der >wahre< (mein) Eunomos, im [166] »Theater der Welt«. Die soeben als mythischer Kontrapost bezeichnete Sprache mündet in die Metapher. Sie ist somit nichts als ein Teil der allgemeinen Ausdruckswelt, die die Spätantike zu einem so ergiebigen Feld der Metaphernforschung macht. Die mit der Welt profan gewordene Sprache reicht nicht mehr hin, die Zone des Christlichen anders als im uneigentlichen, metaphorischen Gebrauch auszudrücken. Das zeigt sich zunächst bei der Ausarbeitung des Dogmas, später besonders in der Entwicklung der christlichen Poesie. Ausdrücke nach dem Typ mens Eu22 Sehr charakteristisch ist der Satz »Mir ist es, wenn es auch nur Sagen (|i06os) sind, unerträglich, daß so viele Unfälle zu Tragödien ausgestaltet werden« (2,2). 23 Die Idee des Einsperrens der Dichter spielt auf Piatons Staat (398a) an; auch der Hinweis auf die Weisheit, die vom Himmel herabgeführt werden soll, ist Anspielung auf Piaton (Pbileb. 16c). 126
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nomus, verus {perennis) sol, antenna crucis, miles pacificus lassen sich wie es üblich ist - als >Vergeistigungen< (im Bereich der literarischen Imitation als >Kontrastimitationen<) bezeichnen, aber eine solche Umschreibung des Rezeptionsvorgangs drückt wiederum nur, wie oben (S. 122f.) erläutert, dessen eine Richtung aus - ebenso gut ließe sich von Versinnlichungen sprechen. Beschreibt man den Vorgang mit der Terminologie der antiken Rhetorik, so muß man die Termini unabhängig von der mit ihnen verbundenen Wertsetzung der Antike anwenden. Die genannten Beispiele etwa münden auf der einen Seite in die Katachrese, auf der anderen ins Oxymoron. Beide sind nach der klassischen Rhetorik nur als extreme Stilmittel zulässig; ihr häufiger Gebrauch erzeugt >Schwulst<. Und als schwülstig und affektiert hat man in der Tat immer wieder die altchristliche Literatur bezeichnet. In Wahrheit aber hat sich das System der rhetorischen Tugenden in der christlichen Avisdruckswelt geändert; die proprietas und perspicuitas sind um ihren Wert gekommen, und bereits in der Spätantike (besonders bei Paulinus von Nola und Fortunatus) herrscht das argute Stilideal einer manieristischen Epoche, in der gerade aus Katachrese und Oxymoron die Concetti gebildet werden. Mit der Beobachtung, daß das Durchhalten der mythischen Sprache trotz christlich-platonischer Ablehnung des Mythos ihr Hinübergleiten in den Bezirk der Metapher zur Folge hat, stellt sich die Frage, wie sich mythische und metaphorische Sprache überhaupt verhalten, weniger allgemein formuliert: Wird mythisches Sprechen in unmythischer Zeit metaphorisch? Für die Bejahung dieser Frage spricht es, daß nun, nachdem die platonische Mythenkritik aufgenommen wurde, der Protreptikos auch diejenige Haltung gegenüber dem griechischen Mythos einnimmt, die uns als die übliche der christlichen und neuplatonischen Spätantike erscheint, die der allegorischen Exegese. Denn eine Allegorese ist formal erst möglich, wenn der Mythos als eine ausgedehnte Metapher («- Allegorie) verstanden wird. Clemens greift an dieser Stelle den in 1,1 angedeuteten Orpheusmythos heraus (4). Der Logos-Orpheus habe die schlimmsten Tiere, die Menschen, gezähmt. Verschiedene Tiergattungen werden daher allegorisch als die von verschiedenen Lastern Beherrschten gedeutet. Und dann wird der Mythos überboten: der wahre Orpheus zähmte nicht nur, sondern die allegorischen >Tiere< werden durch das neue Lied überhaupt erst zu >Menschen<. Diese Stelle ist im Gedankengang der einleitenden Kapitel entscheidend. Durch die Allegorese, die hier auf ein ethisches Substrat zielt, wird erstmals im Protreptikos das mythische Sprechen durchbrochen. Der 127
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Kontrast zum Mythos ist nicht mehr ein bloßer Schauenriß desselben. Der Mythos soll nun etwas bedeuten. Seine Handlung, seine Gestalten sollen nur mehr als Abbilder, seine Sprache soll nur mehr metaphorisch verstanden werden. [167] Auch die Bibel, die hier reichlich zitiert wird, wird jetzt diesem Funktionszusammenhang eingeordnet und tritt dem Mythos, in gleicher Weise gedeutet, zur Seite. Das oben (S. 126) beobachtete Herausschneiden von Einzelzügen geschieht hier wieder, aber nicht mehr zum Zwecke des mythischen Kontraposts, sondern lediglich zur Verbreiterung des metaphorischen Feldes - erst in ihm gelingt die Integration von Bibel und griechischem Mythos. Geschickt fügt Clemens an dieser Stelle die biblischen Metaphern vom Otterngezücht und vom Wolf im Schafspelz den orphischen Tieren hinzu (4,3), und darüber hinaus kommt es zur Bibelallego rese: wenn Gott Abraham aus Steinen Kinder zu erwecken vermag (Matth. 3,9), so beziehe sich dies auf die Heiden, die wahren Steine, weil sie an Steine (d.h. die heidnischen Götter) glauben - ein Musterbeispiel jener gleitenden Unscharfe, wie sie die christliche Exegese und später die christliche Dichtung zur Erweiterung ihres metaphorischen Assoziationsfeldes übten. Die erwähnte Überbietung des Mythos (die Tiere werden nicht nur gezähmt, sondern allererst in Menschen verwandelt) ist überhaupt erst der metaphorischen Zweideutigkeit entwachsen, denn die orphischen Tiere sind ja in diesem Deutungshorizont bereits Menschen, die nur zu >wahren< (ethisch vollkommenen) Menschen gemacht werden. Die Ambivalenz Tier - Mensch spielt also mit der metaphorischen Fuge zwischen Mythos und Deutung; die überbietende Deformierung des Mythos ist nicht echt, ist sekundär. Der Vergleich mit der oben (S. 125f.) besprochenen Deformierung des Eunomos-Mythos ist instruktiv. In beiden Fällen wird die Struktur der Erzählung verändert, aber im ersten Fall wird der ernstgenommene Mythosrichtiggestellt,im zweiten >überholt< die Exegese durch die ihr zur Verfügung stehende metaphorische Zweideutigkeit (Tier >Tier<). Beide Haltungen führen zur Deformierung und stehen so im Gegensatz zur reinen Ausdeutung, die den Mythos en bloc und daher in seiner Substanz unberührt auslegt. Dem scheinbar neutral referierenden Bericht folgte die Richtigstellung; die Abwertung des Mythos gab ihn zur Deutung frei und entleerte ihn zur Metapher; seine Projizierung auf die biblische Geschichte öffnete auch diese dem Zugriff der Metapher; endlich zeichnete sich eine ethische Exegese des mythisch-biblischen Metaphernfeldes ab, die ihrerseits eine deformierende Wirkung auf den ursprünglichen Mythos haben konnte. 128
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Wir sehen, daß in den Einleitungskapiteln eine reiche Formengeschichte des mythischen Sprechens in christlichem Horizont steckt. Aber was drückt dieses so oft berufene Sprechen nun eigentlich aus? Bisher gar nichts. Noch immer steht der bekränzte Logos-Kitharöde im Theater, und dieser unentwegte Sänger, der keinen alten Inhalt mehr und noch keinen neuen hervorbringt, mutet wie eine Rolle des absurden Theaters an. Die Hauptmetapher, das Lied, der Extrakt der Mythenzusammenstellung am Beginn des Protreptikos, ist noch nicht gedeutet worden. Deutung ist bisher nur in dem Teilbereich der orphischen Tiere geschehen. In 5ff. unternimmt Clemens den Versuch, die Liedmetapher auszulegen, und man kann beobachten, wie mühsam er sich aus dem vom Mythos geerbten Bild zu emanzipieren sucht. Zunächst wird das Bild noch weiter ausgeführt (5): die Harmonie des Liedes hat die Welt geordnet. So entspricht die Mischung der Elemente der Mischung der dorischen und lydischen Tonart. In gleitender Unscharfe wird dabei sowohl der Mensch, wie die Welt, wie der Logos zum Instrument der Musik dieses Alls (5,4). Die Metapher [168] eröffnet also zunächst eine Deutung auf die stoische, auch bei Philon rezipierte Lehre vom musischen Kosmos. Die biblische Welt ist nun vollends von dieser durch das metaphorische Sprechen intendierten rational-kosmologischen Deutung auf die Stufe des griechischen Mythos zurückgedrängt worden. Das zeigt 5,2f.: der kosmischen Harmonie gegenüber ist die orphische ähnlich unvollkommen wie die des biblischen Archegeten der Musik, Jubais (vgl. Gen. 4,21). Die mythisierende Rückwirkung der Mythendeutung auf die zu ihrer Stützung herangezogene Bibel ist der erste Ansatz zur Bildung eines biblisch-antiken Gesamtmythos. Allerdings sei hinzugefügt, daß Jubal in der Bibel als negative Gestalt gilt. Die Grenzen jener Rückwirkung zeigen sich sogleich bei der Behandlung des anderen biblischen Musikers, Davids. David steht auch als Musiker in einem anderen Verhältnis zum göttlichen Sänger als Orpheus oder Jubal. Dem Logos, »der von David stammt und doch vor ihm war« (£K Aaßl8 Kcd 7rp6 aOroö), kann David im Gegensatz zu den übrigen erfolgreich nacheifern (5,3f.). Die heilsgeschichtlich motivierte Differenzierung innerhalb der Bibel wirkt also dem Mythisierungseffekt entgegen. Die Lied-Metapher ist noch immer nicht christlich gedeutet worden. »Was will nun dieses Instrument, der Logos Gottes, der Herr, das neue Lied?« Die Antworten der folgenden Partien zeigen das Bestreben, die christliche Lehre mit dem gewählten Bild zu vereinen. Das >Instrument< Christus - erst jetzt wird der Logos beim Namen genannt - ist, so heißt es, »menschenfreundlich« (
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tet, bewahrt« (6,2), kurz, er begleitete mit pädagogischen Äußerungen den Menschen vom Beginn der Welt an. Schließlich wird er inkarniert, auf daß er als Mensch zu Menschen rede. Clemens läßt die Sünden- und Erlösungslehre völlig beiseite; Christus ist nach dem Grundsatz verba docent, exempla trahunt Mensch geworden (vgl. 8,3). »£r erzieht uns zum richtigen Leben und leitet zum ewigen Leben an« (7,1). Das Lied-Bild erfährt also eine leichte Verschiebung auf die >Rede< generell hin, im übrigen bleibt es gewahrt und dient als höchst unvollkommenes Vehikel zur Formulierung der christlichen Lehre. Denn der Begriff Christi als des Erziehers, der für das Gesamtwerk des Clemens so bezeichnend ist, führt angesichts der biblischen Geschichte und vor allem der Lehre vom stellvertretenden Leiden und der Erlösung zu erheblichen Verkürzungen der dogmatischen Aussage. Und es wäre verfehlt, wollte man mit der Bezeichnung >Gnostik< die Tatsache ignorieren, daß Clemens tatsächlich immer wieder den Versuch macht, die kirchlichen Lehrvorstellungen seiner Zeit zu formulieren. Die Clemens-Forschung hat gezeigt, daß er durchaus die paulinische Theologie übernommen und an manchen Stellen der Stromateis zu formulieren verstanden hat; auch hier kämpft das soteriologische Dogma mit den Bildern einer pädagogischen Ethik.24 Der Text des Protreptikos (besonders 7) läßt nun merken, daß Clemens hier ebenfalls die Bilder vom warnenden Gesang, vom rettenden Lehrer zu durchbrechen sucht, um die Heilswirklichkeit auszusprechen. Unvermittelt, und ohne daß sie erklärt würde, erscheint die bösartige Schlange, die den Menschen seit Anbeginn quält (7,4), unter [169] den Metaphern. Aber die Umschreibung der Erlösung fällt wieder in die gewohnte Metaphorik zurück: wenn Christus nach den Propheten erschien, so wie sie, nur wirksamer, »zum Heil einladend« (eis acoTTpiav TrapccKaAdiv, 7,6). Die Grenzen dieser Sprache werden vollends dort sichtbar, wo sie die historische Dimension des A 7, hier des Exodus, ins Bild zu integrieren versucht. Ich resümiere die Passage (8,1-3): Der Logos-Erzieher hat immer wieder zum Heil gemahnt; in Moses und den Propheten wendet er sich mehr an den Verstand, aber die Ereignisse des Exodus stellen eine dem Kindesalter angemessene Erziehung dar: die Wunder in Ägypten und der brennende Dornbusch ziehen als Wunderzeichen an, die wandernde Säule 24 Vgl. W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus, Berlin 1952, und W. Bierbaum, Geschichte als Paidagogia Theou, München 1953; speziell E. Fascher, Der Logos-Christus als göttlicher Lehrer bei Clemens von Alexandrien, in: Studien zum NT und zur Patristik. E. Klostermann zum 90. Geburtstag dargebracht, Berlin 1961, S. 193ff. 130
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sollte Furcht einflößen, denn als Feuersäule ist sie gleichsam eine gigantische Zuchtrute - für die Gehorsamen Licht, für die Ungehorsamen Feuer. »Manchmal schilt er, manchmal droht er, über einzelne Menschen weint er, anderen wiederum singt er ein Lied vor, wie ein guter Arzt bald Pflaster auflegt, bald Einreibungen vornimmt, zuweilen aber auch das Messer oder das Feuer anwendet.« Man vergleiche diese Deutimg des Exodus mit der paulinischen Rekapitulation IKor. 10,1-11, dem Keimpunkt der Exodustypologie in der altchristlichen Exegese, an dem sich der Umschlag vom typologischen Verständnis der eschatologischen Naherwartung zur sakramentalen Typologie vollzog.25 Die paulinische Deutung will die biblischen Ereignisse keineswegs in ein einheitliches Bild integrieren, sondern ordnet sie einer bestimmten heilsgeschichtlich-typologischen Konzeption ein. Die Typologie kann offenbar die Details präziser erfassen als eine von metaphorischer Stimmigkeit ausgehende Allegorese (die Feuersäule, das Wasser von Mara und das Manna z.B. können kaum in einem gemeinsamen Bild kongruieren). Die zitierte Zusammenstellung von >Äußerungen< Gottes vom Schelten bis zum Weinen ist der biblischen Geschichte inkommensurabel. Sicheres Indiz dafür, daß in den Bezirk der reinen Metapher hinübergeglitten wird, ist der bruchlose Wechsel des einen Bildes (>Äußerungen<) mit einem neuen (>Arzt<), das sogleich detailliert und ebenfalls ohne präzise Beziehung zur biblischen Geschichte ausgeführt wird. Die Einleitung des Protreptikos mündet hier in den eigentlich apologetischen Hauptteil. Auch die Metamorphosen des mythisch-metaphorischen Sprechens sind mit der reinen Metapher an einem Endpunkt angelangt. Offenbar ist diese Einleitung eine Maske, die dem griechischen Leser entgegengehalten wurde. Die Reduzierung des Mythos zur mehr oder weniger gelungenen christlichen Metapher leitet bei Clemens zur traditionellen Apologetik über. Hiernach wäre Clemens und sein mythisches Proömium nicht so weit von der Praxis der späteren christlichen Exordien entfernt. Indessen, Clemens nimmt diese mythische Maske in den Schlußkapiteln (XIf.) gerade dort, wo er noch einmal das Christliche in positiver Aussage propagieren will, wieder auf, und es ist zunächst nicht ein griechischer Mythos, dessen er sich bedient. Hier wird, wenn ich recht sehe, der Versuch unternommen, einen christlichen Mythos zu konstruieren (Protr. 111): [170]
25 Vgl. besonders IKor. 10,11: »Uns zur Warnung wurde es aufgeschrieben, uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat.«
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METAPHER - EXEGESE - MYTHOS »Als der erste Mensch ungebunden im Paradies spielte, war er noch das Kind Gottes. Als er aber der Lust erliegend (die Schlange bedeutet allegorisch, weil sie auf dem Bauch kriecht, die erdhaften Laster, die sich der Materie zuwenden) sich von seinen Begierden verführen ließ, da wurde das Kind mit seinem Ungehorsam erwachsen und empfand, weil es auf seinen Vater nicht gehört haue, Scham vor Gott. Solches vermochte die Lust: Der Mensch, in seiner Einfalt noch nicht gebunden, fand sich durch Sünden gefesselt. Von den Fesseln wollte ihn der Herr wiederum lösen, und im Fleisch gefangen - das ist ein göttliches Geheimnis - bewältigte er die Schlange, unterwarf den Gewaltherrscher, den Tod, und - das Außerordentlichste - zeigte durch seine ausgebreiteten Hände an, daß jener Mensch, der durch die Lust in die Irre geführt und durch den Untergang gebunden war, befreit ist. Welch ein geheimnisvolles Wunder! Der Herr liegt hingestreckt, der Mensch ist aufgestanden, und der aus dem Paradies Gefallene findet noch einen größeren Lohn, den Himmel, für seinen Gehorsam.« Dieser Text kann dazu dienen, Möglichkeit und Grenze eines christlichen Mythos, ja überhaupt eines konstruierten Mythos zu erörtern. Denn er trägt Züge an sich, die den Mythos kennzeichnen, zweifellos aber auch solche, die diese Form als etwas anderes ausweisen. Für den mythischen Charakter der Partie spricht zunächst die erkennbare Absicht des Autors, einen Mythos zu komponieren. Die die zitierte Partie einleitende Aufforderung, Gottes Heilswerk möge »vom Ursprung her« (avco8ev, 111,1) zur Anschauung gebracht werden, zielt gerade nicht auf eine Rekapitulation der biblischen Geschichte von Anfang an, wie sie z.B. in der Stephanusrede der Acta vorliege und wie Clemens sie in Protr. 8 in einzelnen Details des Exodus angedeutet hat. Hier ist es auf die Darstellung eines überschaubaren und plausiblen Erzählparadigmas, eines »plot« im Sinne Northrop Fryes26 abgesehen, also auf das, was oben als die mythische Geschichte im Gegensatz zur Historie bezeichnet wurde (vgl. S. llöf.). 27 Clemens selbst hat für die Bezeichnung dieser Erzählform 26 Nach ihm also die Stufe des expliziten Mythos; vgl. Anatomy of Criticism, Princeton 1957, S. 137. 27 Der Mythos hat als Erzählung seine eigene Geschichtlichkeit; ihre exemplarische Wahrheit ist der Verifizierbarkeit der Historie entgegengesetzt. Vgl. zu diesem Zusammenhang A. Scrima, Le mythe et l'experience de l'indicible, in: Mythe et Foi (Archivio di FUosofia 1), Paris 1966, S. 14ff. G. Widengren hat am gleichen Ort (S. 316ff.) die überzeugenden Ergebnisse der modernen Religionsphänomenologie zu diesem Zusammenhang vorgetragen. Er weist darauf hin, daß für die Frühstufe des mythischen Bewußtseins Historie nichts als die Verlängerung dieser dramatisch-gleichnishaften Geschichte ist. Erst die Ablösung einer prinzipiell verifi-
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nach einem Kunstausdruck gesucht. Unmittelbar vor der zitierten Partie und wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt kommt es [171] zur Formulierung >Heils-Drama<: »... als er die Maske eines Menschen annahm und sich in Fleisch kleidete, um das Drama der Erlösung (TÖ acoTfpiov 5paya) der Menschheit aufzuführen; denn er war ein wahrer Wettkämpfer und Mitstreiter seines Geschöpfes« (110,2f.). Gemeint ist eine Kontrast>Tragödie<,28 in der Gott und Mensch Hauptspieler und Partner einer christlichen >Handlung< sind. Dieser metaphorische Ausdruck ist formal dem Eunomosbild in der Einleitung gleich (vgl. S. 125ff.). Aber hier bezweckt die Formulierung nicht den bloßen metaphorischen Kontrast, sie läßt es nicht bei einem inhaltlich unbestimmten >Singen< oder >Reden< bewenden, sie will auf den christlichen Inhalt einer Gegen-Tragödie, also gerade auf einen Gegen-Mythos29 hinweisen. Den Begriff >Mythos< freilich kann der Christ nicht übertragen - der Text selbst umschreibt mit dem Ausdruck Mysterion; die Terminologie der griechischen Tragödie deutet aber an, daß genau dieser Ausdrucksrahmen gemeint ist. Wenden wir uns dem Text selbst zu. Die Historie ist ein Gegenpol des Mythischen - wie hat Clemens sie aus seiner Erzählung, dem argumentum gleichsam, das er hier vom Theaterstück der Erlösimg geben will, hinauseskamotiert? Dies gelingt durch die Einheit der Menschheitsperson; der Protoplastus ist identische Person während der ganzen Handlung und wird so erst zum mythischen Akteur, so wie Gott erst durch das Aufsetzen der Theatermaske, als die seine Inkarnation hier umschrieben zierbaren historischen Dimension macht auch die Trennung von Glaube und Mythos überhaupt sinnvoll und verstehbar. Der Mythos (der nunmehr dem griechischen Wortgebrauch entsprechend als etwas der Fabel Nahestehendes begriffen wird) wird zweifelhaft; der Glaube hingegen sucht weiterhin die magisch-rituelle Identität in der >Reiigion< zu perpetuieren. In diesem Sinne aber wurden Mythen als den Ritus begleitende und deutende Reden ursprünglich nicht >geglaubt<. - Die durchaus der Nachprüfung standhaltende Konsequenz dieser These ist die Tatsache, daß die Mythen von dem ersten uns faßbaren Auftreten an Änderungen ihrer >Geschichte< ebenso unterworfen waren wie später das den Glauben begleitende und deutende Dogma. Daher wäre es falsch, die magische Ausdruckswelt neben der mythischen einer wesensverschiedenen >logischen< gegenüberzustellen. Im Gegenteil: Der Mythos ist als eine Vorform des diskursiven Denkens der magischen wie der gläubigen Haltung entgegengesetzt. 28 Vgl. Protr. 119,1: »Hier ist der von Gott geliebte Berg, nicht Schauplatz von Tragödien, wie der Kithairon, sondern den Dramen der Wahrheit geweiht.« 29 In Protr. 119,1 wird dieses Heilstheater mit dem Stoff der euripideischen Bakchen verglichen. 133
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS wird, zur mythischen, aus der monotheistischen Unfaßbarkeit kommensurabel gewordenen Person wird. Clemens hat hier nur die längst als mythisch fixierte Stellung des Urmenschen Adam als >des< Menschen aufgenommen, wie sie vor allem die paulinische Adam-Christus-Typologie (Rom. 5,12ff.) gefördert hatte. Adam war in ihr zum ausgezeichneten Antityp Christi (im soteriologischen Sinne) erhoben worden, in einem grundlegenderen Sinn als die späteren (sakramentalen) Typen Abel oder Isaak. Die Typologie ist also die Voraussetzung der Personeneinheit. Die Betrachtung vom Ursprung her unterstreicht die mythische Ferne des Menschen der Schöpfung als des einzig möglichen Partners.30 Clemens hat damit einen der biblischen Zyklen, die Northrop Frye als mögliche Elemente zur Konstruktion eines christlichen Mythos beschreibt,51 gewählt. Die größte Schwierigkeit des konstruierten Mythos besteht indessen im Erzählen selbst, in der Erfindung der mythischen Geschichte. Denn als sekundärer Mythos hat er stets die Stufe des diskursiven Ausdrucks rückgängig zu machen. Der Zweck dieses Vorgangs kann es z.B. sein, der Philosophie die Tiefendimension des Sakralen zu verleihen (Piatons Mythen). Als ein Erzählen, das auf eine Signifikanz außerhalb seiner selbst angewiesen ist, gerät der konstruierte Mythos ständig in Gefahr, als Verschlüsselung einer Idee zur Allegorie zu werden. Hier zeigt sich wieder die problematische [172] Grenze von Mythos und Metapher: der konstruierte Mythos kann nur dann etwas anderes als ein ausgedehnter metaphorischer Ausdruck (- Allegorie) sein, wenn seine Personen und deren Handlung nicht lediglich Substrate einer möglichen Deutung sind, sondern zur autonomen und in eine Idee nicht restlos umsetzbaren, d.h. die Idee nicht nur paraphierenden Sprache werden (z.B. bei Melville). Aber mit dieser Formulierung haben wir nichts anderes umschrieben, als was gemeinhin mit Dichtung bezeichnet wird, wie denn auch das nicht nur metaphorisch spiegelnde Bild in der modernen Ästhetik Symbol genannt wird. Nun geht auch Clemens vom diskursiven Horizont aus, der bei ihm der theologische ist. Dies muß gegenüber dem Einwand, es handele sich hier um einen kaum verhüllten gnostisch-primären Mythos, es liege hier also gar nicht der Versuch vor, vorgegebene Theologie in mythischer 30 Die paulinische Adam-Christus-Typologie basiert selbst auf der Vorstellung dieser mythischen Ferne; mehr als jede andere biblische Episode hat die Adamgeschichte den von der Heilsgeschichte ablösbaren Charakter des Mythos; vgl. S. Vergote, Mythe, croyance ali£n£e et foi, in: Mythe et Foi [Anm. 27], S. 167ff. 31 Anatomy of Criticism [Anm. 26], S. 198ff. 134
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Sprache zu erfassen, betont werden (vgl. S. 130). Es zeigt sich, daß die Konstruktion eines Mythos für den christlichen Theologen besondere Schwierigkeiten birgt: die Theologie ist nicht wie etwa die platonische Philosophie ein Produkt der Spekulation, sondern ein solches der spekulativen Exegese. Ist aber in diesem Fall ein Rekurs auf Mythisches anders vorstellbar, denn als Rekurs auf den ausgelegten Text selbst, die Bibel? Im vorliegenden Fall mußten die Stufen des Heilsplans und ihr theologischer Sinn in eine Handlung zwischen zwei Partnern integriert werden. Clemens hat hierzu die auch in der Antike weit verbreitete Vorstellung von der Gleichartigkeit der menschlichen Altersstufen mit denen der Weltgeschichte herangezogen.32 Die historische Ausdehnung der Erzählung bleibt so im Rahmen eines Menschenlebens. Und dieses Menschenleben in seinen Epochen ist Gegenstand des Mythos. Am Anfang steht der fatale Sturz aus der Kindheit in die Sterblichkeit des Erwachsenseins, dann beginnt der mythische Kampf gegen das selbstverschuldete Altern, den der Helfer mit dem Gegner Tod führt, und der mit dem Sieg des Helfers und der Rückkehr in die Unsterblichkeit den Zyklus schließt. Aber - so weit hat Clemens die Vorstellung von den Altersstufen ja gar nicht ausgeführt. Der Text läßt sie vielmehr sehr schnell wieder fallen; der zweite Teil des Dramas, Auftreten und Kampf Christi, werden nicht mehr von ihr getragen. Dieses Abbrechen zeigt die Grenze und das Scheitern des clementinischen Mythos. Wieder gelingt es nicht, das Kreuzgeschehen mythisch zum Ausdruck zu bringen, und damit hängen Verlauf des Kampfes und der - kaum angedeutete - Tod auch des Siegers völlig in der Luft; ein Erzählungszusammenhang gelingt nicht. Kraß stehen sich der Besieger des Todes und der Schlange und der Hingestreckte gegenüber, ebenso der am Anfang Ungehorsame - der Ungehorsam war ja die Initialzündung - und der plötzlich für besonderen Gehorsam Belohnte, dessen Funktion im Kampf zudem unklar ist. Kraß natürlich nicht im Rahmen der latenten christlichen Theologie, aber im Rahmen des Mythos. Denn der Mythos fordert zwar keineswegs eine logische Konsistenz; der Sturz des Anfangs, das Auftreten der Schlange und des Todes brauchten nicht motiviert zu werden. Eine durchgehende Stimmigkeit der Handlung mit der diskursiven Foüe würde, wie angedeutet, den sekundären Mythos zur Allegorie [173] werden lassen. Aber das elementare Erfordernis der mythischen Erzählstruktur ist eine genau explizierte Handlung. Sehr wohl können z.B. Verstümmelung des Uranos und Geburt der Ana32 Vgl. R. Haussier, Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, in: Hermes 92, 1964, S. 313-341.
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dyomene einander folgen, aber diese Folge muß erzählt werden. Die bereits dem Mythos immanente Kausalität ist sein Lebensnerv - gerade sie unterscheidet ihn von der lediglich sukzessiven Bedeutsamkeit des magischen Vorgangs und rückt ihn in den Vorhof des historischen und logischen Begreifens (vgl. oben Anm. 27). Hier aber werden die wichtigsten Handlungselemente nicht erzählt, sondern vorausgesetzt; die Anspielung auf die ausgebreiteten Hände ist ohne die Bibel schlechthin unverständlich. Das Scheitern wird durch die zweimalige Betonung des Mysteriums unterstrichen; dies ist eine Unsagbarkeitsbeteuerung.33 Demgegenüber ist es die Eigentümlichkeit des echten Mythos, daß er alles sagen kann. Er könnte etwa den Kampf als eine gegenseitige Tötung erzählen, die darum doch der entscheidende Sieg des einen ist, weil der andere der Tod selbst war. Die paulinische Theologie hat bereits ähnlich formuliert, und Ähnliches findet sich auch in den altchristlichen Exegesen zum Kampf Jakobs mit dem Engel.34 Der Text trägt, wie man sieht, mythische und nicht-mythische Züge an sich. Wo das Anfangsbild aufgegeben wurde, konnte die Theologie nicht mehr anders als in unverbundenen Metaphern zu Worte kommen. Im Rahmen des Protreptikos bedeutet der Text, daß die Einleitung keineswegs nur mythische Maske gewesen ist. Clemens verfügt bereits über die theologische und noch über die mythische Ausdrucksform - dies ist es, was er mit der zeitgenössischen Gnosis gemein hat, und dies hat ihn der späteren Patristik nicht geheuer gemacht. Der einschneidende Unterschied zur Gnosis besteht darin, daß der Ansatz zum mythischen Sprechen theologisch abgebunden wird und an einer bestimmten Grenze aussetzt. Der Protreptikos erwies sich in seinen Rahmenkapiteln als ein Spannungsfeld zwischen mythischem, metaphorischem und sekundär-mythischem Ausdruck. Er erlaubte es, die Übergänge zwischen diesen Zonen darzustellen. Das Fazit lautet: wo der griechische Mythos in der christlichen Welt noch ernstgenommen und als autonom rezipiert wird, bilden sich Integrationsformen: a) die deformierende Korrektur, b) der mythische Kontrapost. Die Mythenkritik demgegenüber gibt den Mythos zur Deutung frei; wo das mythische Sprechen weiter durchgehalten wird, mündet es in die Metaphorik mit dem Substrat der möglichen Deutung. 33 Und sie weist gerade auf die SteUe hin, an der der Mythos transzendiert wird: dem Helfer ist es erst durch die Inkarnation möglich, in den Raum des mythischen Kontinuums einzutreten. Ähnlich durchbricht schon die typisch philonische Deutung der Schlange den Mythos. 34 Vgl. Justin, Dialogus 125,3ff. und Orig. In Exod. bom. 1,5. 136
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An dieser Stelle werden griechischer Mythos und Bibel in ein einheitliches metaphorisches Kontinuum einbezogen, und insofern konnte - mit großem Vorbehalt - von mythisierender Rückwirkung dieses Vorgangs auf die Bibel gesprochen werden. Die mythisch-biblische Metaphorik reichte indessen zu einer Formulierung der historischen und theologischen Dimension nicht aus; diese Ausdrucksform schlug vielmehr immer wieder in das reine Bild und den unanschaulichen Wechsel reiner Bilder um. Und auch wo diese Metaphorik den Grundstock einer Erzählung bildet und sich, ohne einerseits zur Allegorie zu werden und [174] andererseits die Bibel nur nachzuerzählen, einem sekundären Mythos zu nähern beginnt, zerrannen die Handlungselemente zu ihrer ursprünglichen Bildlichkeit, vermochte eine metaphorische Theologie einen Mythos nicht zu erschaffen. Der Schlußteil des Protreptikos sei hier noch gestreift, um diese Ergebnisse zu bekräftigen. Auch er läuft in eine Folge reiner Bilder aus, die alle noch einmal theologische Aspekte erfassen sollen: die Lichtmetaphorik (113,2-114,3), insbesondere das in der späteren militärischen Dogmatik wichtige Bild der Sonne, die geistliche Landwirtschaft Gottes (114,4), Hirt und Herde (116,1), geistlicher Krieg (116,2ff.), Tempel und Opfer des Herzens (117,4f.). Es ist hier bereits, besonders in den Bildübergängen, jene Ausdruckslage erreicht, die die unanschaulich die Bilder vermischende Hieratik der spätantiken Prosa und Poesie kennzeichnet. Augustin hat das Grundrepertoire dieser Bilder in den einleitenden Kapiteln von De doctrina christiana* aufgestellt; es ist bis heute der metaphorische Grundbestand der Theologie gebheben. Auch zum griechischen Mythos kehrt das letzte (Xu.) Kapitel des Protreptikos zurück. Dieser hat hier endgültig die Funktion bekommen, die er in der Patristik behalten sollte; er ist die Folie einer Exegese, die - das ist der Unterschied zu den Einleitungspartien - nicht mehr nur auf ein ethisches Substrat, sondern auch auf die Heilstatsachen des Christentums deuten soll. So werden nun der Odysseus- und Teiresiasmythos (118,lff. und 119,3) auf das Kreuz hin ausgelegt, und es ist bezeichnend, daß die Exegese des griechischen Mythos das Kreuzgeschehen besser abzubilden in der Lage ist als der »Mythos« lll,lff. In den Schlußpartien des Protreptikos sind die Linien der zukünftigen christlichen Ausdruckswelt angelegt: es dominieren die nicht mehr durchgehend bezogenen Metaphern und die Exegese von Bibel und Mythos nach theologischen Richtpunkten. Der Deutungshorizont kann die jewei35 Vgl. de doctr. christ. 1,12-20. 137
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lige Folie kontaminieren (so gleitet in 118,lff. Clemens von dem Abenteuer der Skylla und Charybdis zu dem der Sirenen hinüber) und überbietend deformieren (so wird Teiresias in 119,3 sehend; vgl. zur sekundären Deformierung< oben S. 128); Folie und Deutung können säuberlich getrennt sein (so meist im Bibelkommentar), oder die Deutung folgt jedem Detail (so meist in der Poesie) - auf jeden Fall kommt es am Scheitelpunkt der Deutung zu Katachresen (z.B. der Hafen des Himmels in 118,4). Diese sind der exegetische Extrakt, und ihre ungeheure, durch die ununterbrochene exegetische Arbeit erreichte Fülle wird sehr bald von der Literatur als Instrumentarium des arguten Stils verstanden. Die Wirkung dieser Tradition auf die Neuzeit ist noch wenig erforscht.
in Die rhetorische Synkrisis der christlichen Spätantike: Von der Typologie zur Mythisierung der Bibel Die mythisch-metaphorische Sprache des Protreptikos hat die biblische Tradition nur höchst fragmentarisch erschließen können. Eine detaillierte Erfassung der Bibel gelang erst der Exegese. Die Bibel war seit dem zweiten Jahrhundert v.Chr. der Mythenkontamination ausgeliefert, von der oben (S. 118f.) eine Probe gegeben wurde, doch wurde diese sowohl [175] vom orthodoxen Judentum (so auch von Philon) wie vom orthodoxen Christentum heftig angegriffen. Im allgemeinen blieben die biblischen Geschichten völlig an die theologische Auslegung gebunden. Die äußerst umfangreiche exegetische Literatur allein der Patristik ist bisher literaturwissenschaftlich in keiner Weise ausgewertet worden; indessen haben die Forschungen von Erich Auerbach, Leonhard Goppelt, Jean Danielou, Jean Pepin und Henri de Lubac seit Jahrzehnten die Prinzipien der christlichen Exegese erörtert.36 Die Ergebnisse zeigen, aus welchem Deutungshorizont hier das A T erschlossen wird. Die jüdische Geschichte konnte von der Urgemeinde nicht mehr als autonome und in ihrem Ziel noch ausstehende Historie begriffen werden, die Formen des Pleroma und der Typologie im NT bezeugen dies. Die Typologie, als eine Hermeneutik der Geschichte, hat vor allem die schwierige Ablösung der eschatologischen Naherwartung durch das ekklesiologische Bewußtsein organisiert 36 Vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S.2ff. 138
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(vgl. oben S. 131). Sie war vom Barnabasbrief, Justin und Irenäus in der Auseinandersetzung mit Judentum und Häresie zu ihrem vollen Bestand ausgebildet worden; ein reiches Netz von Bezugspunkten hatte das A Tals autonome Historie aufgesogen und in die christliche Heilsgeschichte integriert. Zwar hatte auch die Allegorese schon seit dem NT Anwendung auf das A T gefunden, und im Gegensatz zur Typologie ist ihr Deutimgsziel nicht die heilsgeschichtliche Beziehung, sondern ein ahistorisches Substrat (z.B. psychologische Dispositionen), aber sie war stets nur Ornament der typologischen Konstruktion. Origenes, der Schüler des Clemens, hat diese exegetischen Prinzipien in einer Hermeneutik der Exegese nach dem bekannten Schema des mehrfachen Schriftsinnes ausgearbeitet. Und seit dem dritten Jahrhundert n.Chr. hat die Exegese den Kommentar als selbständige Literaturform herausgebildet. Diese knappe Rekapitulation möge hier genügen. Man möchte nach ihr vermuten, daß gerade die das A T erschließende Bibelexegese schwerlich einer mythisierenden Freisetzung der biblischen Geschichten den Weg öffnen konnte: die Typologie bewahrt den historischen Charakter, die Allegorese führt zur Metapher. Und doch ist es gerade die Umformung der Bibelexegese gewesen, die seit dem vierten Jahrhunden n.Chr. die Mythisierung förderte. Ich beginne mit einem Text des Hieronymus (epist. 122, praef.): »Apodemius, der die Bedeutung seines Namens durch die lange Schiffahrt zu uns bestätigte und vom fernsten Gallien kommend Rom beiseite ließ und Bethlehem aufsuchte, um dort das himmlische Brot zu finden und gesättigt im Herrn aufzustoßen (vgl. Ps. 44,2), überbrachte mir auf einem kleinen Blättchen die größten Fragen. Bei ihrer Lektüre merkte ich, daß in dir der Eifer der Königin von Saba erfüllt wurde, die vom Ende der Welt kam, um die Weisheit Salomons zu hören. Natürlich - ich bin nicht Salomon, aber dich muß man die Königin von Saba nennen. Ich wundere mich auch sehr, warum du den reinsten Quell in deiner Nachbarschaft übergehst und die Fluten eines so fernen Flüßchens aufsuchst, die Wasser Siloe übergehst, die schweigend fließen (vgl. Jes. 8,6), aber die Wasser Sior begehrst, die durch die brodelnden Laster der Welt verschmutzt sind (vgl. Jer. 2,18). Du hast dort doch den heiligen Priester Alethius. So verbessere meine Bitterkeit mit seinem Honig, halte in das Wasser von Mara das Holz des Kreuzes (vgl. Exod. 15,25) und halte meinen greisenhaften Schleim durch seine jugendliche Straffheit zusammen, damit du froh sagen kannst: >süß ist meiner Kehle deine Rede, süßer als Honig meinem Munde< (Ps. 118,103).« [176] 139
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Dieser Text ist zwar exegetisch gesättigt, aber er hat eine ganz andere Funktion als die patristischen Kommentare. Er soll die literarische Bescheidenheit des Hieronymus ausdrücken, indem er die Adressatin, die ihn wegen eines exegetischen Problems konsultiert hatte, lobt und sie auf einen Kompetenteren verweist. Das ist natürlich nicht ernst gemeint, im Gegenteil - wie auch sonst bei Hieronymus ist deutlich die literarische Eitelkeit des Schriftstellers spürbar, der sein >Manna< austeilt und ängstlich besorgt über seinen Stil spricht. Die Assoziation der Bibelstellen, die Umbiegung der Zitate aus den Propheten und dem Buch Exodus, endlich der Vergleich mit der Königin von Saba und Salomon, dient diesem rein literarischen Zweck. Damit ist die Exegese mitsamt ihren hermeneutischen Mitteln in einen ganz anderen Horizont transponiert worden. Die in ihren Deutungen traditionell festgelegte Exegese ist literarisch verfügbar geworden; ihr metaphorisches Bedeutungsfeld, das bei Clemens selbst in der Kontaminierung mit dem Bereich des griechischen Mythos doch stets theologisch bezogen wurde, hat sich abgelöst. In diesem Fall sogar im wörtlichen Sinn; denn der vorliegende Text ist die Vorrede zu einer exegetischen Abhandlung des üblichen Typs. Die Folgen des hier repräsentierten Prozesses hegen auf der Hand: die exegetisch bearbeitete Bibel wird frei zur literarischen Verwendung. Das zeigt besonders die Benutzung der Exodusstelle, die zu den ältesten Tauftypologien der christlichen Auslegimg gehörte.37 Deutungsziel ist nun anstelle des Sakraments die natürlich geheuchelte - stilistische Unterlegenheit des Greises. Weiter noch geht der Vergleich mit der Königin von Saba und Salomon, und hier scheint die Uterarische Verselbständigung der Exegese eine gänzliche Verwandlung der Typologie gefördert zu haben. Denn eigentlich wird nicht mehr nur verglichen; der Eifer, so heißt es, habe sich in der Adressatin erfüllt. Dies Uterarisch gemeinte Pleroma steht nicht mehr auf einer Stufe mit der Verfügbarkeit des metaphorischen Feldes. Es ersetzt nämlich das traditionelle mythisch fundierte Kompliment des heidnischen zeitgenössischen Briefes (so hat z.B. Ausonius Chiron und Achilles als entsprechendes Paar verwendet).38 Und von hier ist es zur Anpassung der Typologie an die Technik der heidnisch-mythischen Überbietung nicht mehr weit. Ambrosius hat diesen Schrin mit der gleichen biblischen Figur, ebenfalls in einem Proömium, vollzogen: wenn der Kaiser Gratian ihn um die Abfassung einer dogmatischen Schrift gebeten hat, so 37 Vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst [Anm. 36], S. 75. 38 Praef. U9ff. (hrsg. von K. Schenkl, Berlin 1883, S. 3; R. Peiper, Leipzig 1886, S. 2; S. Prete, Leipzig 1978, S. 2). 140
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS ist er wie König Hiram (vgl. 3 Kon. 5,15) zu Salomon gekommen. »Sed non ego Salomon (vgl. den Text des Hieronymus) neque tu unius gentis, sed totius orbis Augustus.«*9 Hiram ist in der Exegese wie die Königin von Saba seit jeher ein Typ der zu Christus findenden heidnischen Völker gewesen. Das literarisch-topische Ziel des Ambrosius, zugleich Selbstverkleinerung und Lob des Adressaten, verkehrt die hermeneutische Struktur von Text, Deutungsziel und Deutungshorizont völlig. Ambrosius übernimmt zunächst die Methode der Typologie: dem biblischen Hiram entspricht ein wahrer (vollkommenerer) Antityp, nur - dieser ist nicht mehr die Heidenkirche, sondern Gratian. Der Wechsel des Bedeutungsziels ersetzt die Beziehung [177] der Bibel auf eine heilsgeschichtliche durch die auf eine panegyrisch-gegenwärtige Größe. Dieser Vorgang sei an dem hieronymianischen und ambrosianischen Beispiel zunächst nur beschrieben; ob sein Effekt einer Mythisierung der Bibel gleichkommt, genauer gesagt, inwiefern wir von einem Umschlagen des exegetisch-typologischen Verstehens in die literarische Technik der Mythenüberbietung reden können, soll im folgenden untersucht werden. Es wurde bereits angedeutet, daß die Emanzipierung der Exegese untrennbar mit der Rezeption der christlichen Schriftstellerei in die Gattungsformen der Antike verbunden gewesen ist - die praefatio des Hieronymus wird der exegetischen Abhandlung vorangestellt. Solche Abhandlungen, sogenannte exegetische Briefe, waren aus praktischen Bedürfnissen entstanden und zunächst nichts als formlose Kleinkommentare. Die praefatio des Hieronymus will diese Form in die privatere, literarischspielende, ja in ihrer Topik Versteck spielende Stilsphäre der Epistel einbeziehen.40 Einen Höhepunkt dieser Entwicklung bezeichnet etwa der 10. Brief des Paulinus von Nola: der Bitte des Adressaten, etwas zur Schrifterklärung zu schreiben, wird nicht nur keine exegetische Antwort mehr zuteil, vielmehr ist der Antwortbrief nichts als eine excusatio, die aber ausführlich und virtuos exegetisch gestützt wird. Hiermit ist der exegetische Brief vollends in die Stiltradition des spätantiken Briefs eingefügt worden. Die Bitte des Adressaten, die sich bezeichnenderweise nicht mehr auf ein konkretes Problem bezieht, ist eine Aufforderung, ein stilistisches Kunstwerk von sich zu geben; ihr antwortet der Briefschreiber mit topisch-bescheidener Ablehnung, die selbst ein solches Kunstwerk ist 39 Defidead Gratian. Iprol. 40 Die spätantiken Praefationen sind generell als die hervorragendsten Brennpunkte in diesem Rezeptionsvorgang anzusehen; vgl. T. Janson, Latin prose prefaces, Stockholm 1964, und K. Thraede, Zu Ursprung und Geschichte der christlichen Poesie II, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 5, 1962, S. 137ff. 141
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS - das gleiche Spiel, wie es bei Symmachus, Sidonius und Ennodius zu beobachten ist. Ahnlich sind andere christliche Ausdrucksformen durch die Gattungen rezipiert worden. Zum Beispiel wird die Heiligenvita und vor allem die Dichtung bestimmten Literaturtraditionen angepaßt, die dann zum Ausgang der Spätantike oft sklerotisch und unablösbar geworden sind und das Mittelalter überdauern (z.B. das hagiographische Epos). Dieser Rezeptionsvorgang ist bisher, wenn überhaupt, von der klassischen Philologie zu einseitig als Depravierung bzw. Perpetuierung der antiken Gattungen beschrieben worden, während ihn die patristische Forschung noch weitgehend als eine fatale Literarisierung beurteilt. Die vorliegende Untersuchung darf die Einzelheiten dieser Rezeption nicht ignorieren. Denn gerade die starr gewordenen, aus der Antike übernommenen Gattungsregeln sind der beste Maßstab für die Integration der Bibel in die Literatur. Ich wähle zur Demonstration eine der von der Antike am schematischsten reglementierten Gattungen, das Enkomion, insbesondere die beiden Reden auf Basilius den Großen, die wir von Gregor von Nazianz und von Gregor von Nyssa, dem Bruder des Basilius, besitzen. Nach dieser Schematisierung - wir verdanken die ausführlichste [178] dem Rhetor Menander41 - müßten wir die Rede des Gregor von Nazianz genau genommen als Grabrede im engeren Sinne (tnrrrdipios A6yos; Trauerrede aus Anlaß des Todes), die des Gregor von Nyssa als sogenanntes reines Enkomion (KaöccpövtyKcopiov;Lobrede auf den Toten an einem Erinnerungstag) bezeichnen. Der Unterschied besteht in leichten Veränderungen einer im übrigen seit Thukydides durch lange Tradition fixierten Struktur, von der hier nur der konstante Kern kurz angedeutet sei: nach der üblichen Nichtigkeits- und Schwierigkeitsbeteuerung (au^riais) des Proömiums werden die Topen Heimat, Geschlecht, Geburt, Natur und Anlagen fovcns), sodann Kindheit und Erziehung, hierauf die Tugenden im inneren (£mTT|8e0paTa) und äußeren Sinn (irpä^eis) abgehandelt. Der indirekten Charakterisierung dient am Ende die Synkrisis mit Mythen, Geschichte oder Zeitgenossen. Diesem festen Kern werden am Schluß je nach dem aktuellen Zweck des Enkomions entweder ein Makarismos oder ein Threnos angefügt. Das Christentum hat das Enkomion seit Eusebius' Rede auf Konstantin rezipiert und, wie sich besonders gut angesichts seiner starren Schematisierung zeigen läßt, unter bestimmter Umbiegung der Topik verändert 41 Hrsg. von L. Spengel, Rhetor« Graeci, Bd. 3, Leipzig 1856, S. 331 ff. 142
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(so werden Srnnfouiionra und irpä&xs zu >Wundern<).42 Seit den Anfängen dieser panegyrischen Gattung hat sich die Synkrisis auf die Technik der mythischen Überbietung spezialisiert.43 Der Klassiker des Enkomions, Isokrates, hat in seinem Euagoras (orat. 9,65ff.) den Gelobten mit mythischen Gestalten verglichen; diese werden von ihm überboten, und auch die Wahrheit, d.h. das geschichtlich Beglaubigte (hier: Kyros) erreicht nicht seine Größe. Ähnlich hat Hypereides in seinem Epitaphios (§ 35ff.) Leosthenes in der Unterwelt mit den trojanischen Heroen wie mit Miltiades und Themistokles verglichen und damit den gleichen Effekt erzielt. Die Rhetoriken haben gerade diese Überbietungsfunktion (vmpoyf\) seit Aristoteles (Rhet. 1368a) und Anaximenes (§ 35) empfohlen. Besonders nützlich war sie zu panegyrischen Zwecken als ergiebigstes Mittel der indirekten Schmeichelei und hat aus diesem Grunde ihren keineswegs mehr gattungsgebundenen Siegeszug in der römischen Kaiserzeit angetreten. Seit den Epikern der flavischen Zeit und besonders Martial sind große Teile des griechischen Mythos, seit Claudian, der den Höhepunkt dieser Entwicklung bezeichnet, ist auch die römisch-republikanische Geschichte nur mehr in dieser Funktion als Folie präsent, wobei komplizierte Formen der Reihung speziell auf die Pointe ihrer eigenen Destruktion durch die Überbietung ausgebildet werden. Es liegt hier eine durchaus dialektische Spätphase des literarisch und konventionell gewordenen Mythos und seines Verhältnisses zur geschichtlichen Wirklichkeit vor. Denn anders als bei Isokrates stehen sich bei Claudian und seinen Zeitgenossen nicht mehr Mythos und Geschichte einfach im Verhältnis von Lüge und Wahrheit gegenüber. Gegenüber dem nun einzig >Wahren<, d.h. dem Objekt der Panegyrik, wird die Geschichte nicht mehr mit der Kategorie des historisch Beglaubigten, wird der Mythos [179] nicht mehr mit der Kategorie des historisch nicht Belegten erfaßt, vielmehr schmilzt beides zu einer vorläufigen Vergangenheit, die erst im panegyrisch >Wahren< erfüllt wird, zusammen; ganz folgerichtig kann vor dieser panegyrischen Logik nur das durch die gefeierte Gegenwart Übertrumpfte auf eine Wahrheit Anspruch erheben: »credamus historiis minora iactantibus.«" Es hat sich also in der Panegyrik der Spätantike der Begriff des Wahren 42 Vgl. dazu L. Meridier, L'influence de la seconde sophistique sur Poeuvre de Gregoire de Nysse, Paris 1906, und X. Hürth [unten Anm. 46], S. 3 und 32. 43 Zur Synkrisis vgl. F. Focke, Synkrisis, in: Hermes 58, 1923, S. 327ff. 44 Symm. orat. 1,9 (auf Valentinian); vgl. Ennodius, paneg. Theod. 78: die alten Geschichten und Taten erreichen keineswegs die (panegyrische) Gegenwart, so sehr man sie auch durch Lügen überhöht hat - Mythisierung der Geschichte. 143
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS gewandelt; er ist nicht mehr identisch mit der Verifizierbarkeit der Historie gegenüber einem lügnerischen Mythos, sondern er hebt ein punktuelles Objekt der Gegenwart als das einzig Unmythische aus einer Welt heraus, deren historische Dimension seit langem verloren gegangen war andererseits aber beraubt er den Gelobten seiner eigenen historisch-realen Gestalt und macht ihn zum Projektionspunkt dessen, was der Mythos (und die mythisierte Geschichte) eigentlich< hätte sein können.45 Alles Vergangene wird ausgelegt, alles Vergangene erfüllt sich erst, indem es von der Gegenwart überboten wird. Es wird deutlich, daß dieser Überbietungstechnik die hermeneutische Struktur der Exegese eigen ist. Zwischen Mythos und panegyrischer Wahrheit besteht ebensowenig Platz für die Historie wie zwischen Bibel und Auslegung. Allerdings besteht eine entscheidende Differenz beider Formen. Sie läßt sich an den Deutungszielen ablesen. Zwar ist z.B. der wahre Josua - Christus (Prudentius, Catbem. Xu, 173) formal ein exegetisches Produkt wie der wahre Apollon - Stilicho (Claudian, in Rufin. I, praef.); das erweist sich auch durch die beiden Formen mögliche und in parallelen Ausdrücken verlaufende Erweiterung zur Allegorese: dem wahren Jebusiter - Gegner des Josua - Teufel (vgl. Prudentius, kam. 416ff.) kann ein alius Python - Gegner des Apollon - Rufin (vgl. Claudian, in Rufin. 1,15) zur Seite treten. Aber das Deutungsziel der christlich-typologischen Exegese war selbst etwas Historisches, bezeichnete Stationen der Heilsgeschichte. Die Mythenüberbietung hingegen deutet auf den ahistorischen, ständig wechselnden Punkt der Gegen wart. Daher steht in ihr dem typologischen Spannungsverhältnis zwischen zwei Ereignissen einer Geschichte das jenseits der Historie wertende Verhältnis zwischen Minderwertigkeit und Größe gegenüber. Wir erkennen nun, daß die Emanzipierung der altchristlichen Exegese zur Literatur, aus der auch die panegyrische Überbietung rezipiert wird, gerade diese Differenz überspringt, den Umschlag von der typologischen in die überbietende Exegese als einer sehr ähnlichen, von der Antike entwickelten Struktur vollzieht - und damit den Rahmen der heilsgeschichtlichen Dimension zusehends auflöst. Diesen Vorgang beobachteten wir am Beispiel des Hieronymus und des Ambrosius: der >wahre < Hiram als Heidenkirche oder als Gratian - diese Differenz bezeichnet den Unterschied zwischen Typologie und Überbietung und, wie wir vermuten dürfen, zwischen biblischer Heilsgeschichte und Mythisierung biblischer Geschichten. [180] 45 Dies ist natürlich für den Panegyriker gerade dann bequem, wenn er nichts Wirkliches über den Gelobten zu sagen weiß (vgl. Ennodius, epist. I,5,5f.). 144
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Diese Bemerkungen erklären, warum gerade die rhetorische Synkrisis, der Keimpunkt der Überbietungstechnik, an der Stelle, wo sie vom Christentum rezipien wird, den besten Aufschluß über diese Zusammenhänge verspricht. Die Synkrisis in der Rede des Gregor von Nazianz auf Basilius (orat. 43 - PG 36, Sp. 493-605) ist in der Tat beispielhaft; sie ist wegen ihrer Ausführlichkeit als Muster für die Theorie, aber auch als die schwächste aller erhaltenen Synkriseis angesehen worden.46 Ein Blick auf den Text erklärt diese Paradoxie: die Synkrisis (Kap. 70-76) unternimmt hier nichts weniger als eine Überbietung der gesamten biblischen Geschichte durch Basilius, die jeweils an den Hauptfiguren von Adam bis zu den Aposteln durchexerziert wird. Gregors virtuose Variation gewährt dabei Einblick in die Technik der Überbietung. Die Synkrisis mit Noah zeigt den Grundtyp: Noah rettete mit Mühe sein großes hölzernes Fahrzeug, Basilius aber entkam leicht der Sintflut der Gottlosigkeit, er machte seine Bischofsresidenz zur wahren Arche, die ohne Schwierigkeit in den Wassern der Häresie schwamm. Hier liegt natürlich die traditionelle Exegese der Sintflutgeschichte zugrunde. Aber sie ist auf den Kopf gestellt worden. In der theologischen Auslegung bedeutet die biblische Sintflut (neben anderem) die Gottlosigkeit, die Arche (neben anderem) die Gemeinde usw. Diese Substrate erfüllen immer wieder den Typ, der ein für allemal in der Schrift aufgestellt worden ist und dies ist das Entscheidende - prinzipiell durch die gesamte Geschichte nicht ausgeschöpft werden kann. Für eine Überbietimg ist hier deshalb kein Raum, weil die biblischen Ereignisse als solche gar nicht nur sie selbst sind, sondern Deutimg fordern. Gefordertes Deutimgsziel kann z.B. eine bestimmte psychische Disposition sein (Sintflut - Status corruptionis, Arche - Körper, Noah - Hegemonikon); in diesem Fall wird die Bibel durch die allegorische Exegese zur Metapher. Oder das Deutungsziel ist die typologische Beziehung (Sintflut - Häresie, Arche - ecclesia, Noah - Christus); in diesem Fall deutet die typologische Exegese den historischen >Schatten< der jüdischen Geschichte durch die historische Wahrheit der heilsgeschichtlichen Ordnung. Die letztere Deutungsform, die Typologie, setzt offenbar die Synkrisis voraus, aber sie stülpt sie um. Noah erfüllt sich erst und endgültig in dem kappadokischen Bischof, seine Arche erst und endgültig in dessen Kirche
46 Vgl. X. Hürth, De Gregorii Nazianzeni orarionibus funebribus, Straßburg 1907, S. 30 und 56. 145
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS - endgültig deshalb, weil die Erfüllung jetzt als Überbietung verstanden wird- Nicht mehr die Geschichte von Noah ist von einer durch alle Zukunft unerschöpfbaren Bedeutsamkeit, vielmehr kann alles Vergangene nicht die Gestalt des Basilius ausschöpfen - daher die Hypertrophie der Synkrisis durch die ganze biblische Geschichte; sie ist nichts als das verkehrte Spiegelbild der Hypertrophie patristischer Kommentare, die die gesamte Natur und Geschichte bei der Erklärung (etwa des Hexaemeron) heranziehen. Nicht mehr Noah, sondern Basilius >bedeuten etwas; Typ und Antityp haben ihren Ort gewechselt. Die Umkehrung der Typologie beläßt der Bibel weder ihre historische noch ihre metaphorische Funktion; sie verleiht ihr die Struktur des überbotenen Mythos. Diese Mythisierung muß daher geflissentlich jede Typologie der traditionellen Exegese als ihr widerstreitend ignorieren. In Überbietung Abrahams, so Gregor, >opferte< Basilius sich selbst; auch hätte kein Ersatz wie bei Abraham gefunden werden können, [181] da ihm eben niemand gleichkam (!). Die Christustypologie des Opfers und deren Deutung des Lammes werden nicht erwähnt. Im Gegensatz zu Isaak hat nach Gregor Basilius sich beim Segnen seiner Söhne (d.h. seiner Gemeinde) niemals täuschen lassen. Esau und Jakob werden nicht mehr als die Juden und Heiden verstanden, wie es jedem Hörer gegenwärtig war. Und so ist auch Josua nicht mehr der Typ Jesu, sondern der Heerführer in Kanaan; seiner oTpcmiyia (>Feldherrenmacht<) gegenüber ist Basilius ?€opX°S ^Herrscher^, denn das von ihm eroberte Kanaan ist spirituell. Ein sicheres Mythossignal fällt an dem zuletzt genannten Beispiel bereits auf: die Usurpierung der Typologie, des spirituellen Pleroma durch die panegyrische Überbietung verbannt die Bibel in den litteralen Sinn, vor dem die traditionelle heilsgeschichtliche Typologie die Bibel hatte bewahren wollen. Man vergleiche die Bemerkung über Josuas Eroberung Kanaans bei Origenes mit der soeben erwähnten Kennzeichnung dieser Geschichte bei Gregor: »has (...) scripturas ante adventum domini nostri (...) cum legeret Israel ille, qui secundum carnem est, nihil aliud in bis, nisi bella et effusionem sanguinis intelligebat« (hom. in Jes. Nave 14).47 Das litterale Verständnis der Bibel aber hatte die Mehrzahl der Väter, wo es auftauchte, ausdrücklich als pu6oAcyEio0ca abgelehnt48 - ein Zeugnis da47 Ein weiteres Beispiel für die Usurpierung der christlichen Spiritualität: Sido nius Apollinaris lobt den Erbauer der neuen Martinskirche (epist. IV, 18): dieser Bau übertreffe den Tempel Salomons, denn dort seien nur Edelmetalle verarbeitet worden, hier sei diefidesdas Baumaterial gewesen. 48 Vgl. Basilius, epist. 263 und bes. 265, sowie Ten. de pudic. 8f.; es wird gerade die Anwendung der typologischen Technik auch auf das NT, also die beginnende
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METAPHER - EXEGESE - MYTHOS für, daß sich die Spätantike der Gefahr einer >Mythisierung< der Bibel durchaus bewußt war. Indem die Überbietung die biblischen Gestalten peinlich auf ihre >Geschichten< beschränkte, wies sie ihnen in der Tat eben den Bereich an, den Origenes ebenso wie die heidnische Mythenkritik als anstößig (z.B. in den Patriarchengeschichten) und oft sinnlos zurückgewiesen hatten, den Bereich des reinen Mythos. Die Tendenz zur litteralen Auffassung findet sich tatsächlich durchgehend in der Synkrisis Gregors: Henoch bleiben mit seiner Entrückung die Versuchungen eines längeren Lebens erspart; Joseph ist nichts als ein Getreideverteiler in Ägypten; die Tafeln des Moses zerbrechen; Paulus ist nur bis Italien gekommen. Denn erst durch solche Litterarisierung wird die Folie präpariert, auf der eine Überbietung möglich ist: Isaak wurde von Gott dem Abraham versprochen, Basilius versprach sich selbst Gott; Samuel salbte Könige, Basilius ist selbst Gesalbter des Herrn; zu Johannes dem Täufer kam nur die Nachbarschaft, zu Basilius die ganze Welt. Schüeßlich kann dieses Verfahren sogar die Geschichte eines als Mythos hingestellten biblischen Ereignisses deformieren: Adam wurde aus dem Paradies vertrieben; Basilius wäre natürlich nie aus ihm vertrieben worden, aber selbst den Fall gesetzt (!) - er hätte gewiß das Flammenschwert überwunden. Gregor wiederholt hier genau die Form der sekundären Deformierung des griechischen Mythos (vgl. S. 128): wie dort der >wahre< Orpheus die Tiere zu Menschen machte und der >wahre< Teiresias [182] wieder sehend wurde (vgl. S. 137f.), so kann auch der >wahre< Adam Basilius wieder ins Paradies eindringen. Die Mythisierung der Bibel ist also auf dem Umweg über die panegyrische Exegese erreicht worden; die panegyrische Deutung deformiert die Bibel wie die theologische den Mythos. Ein Mythossignal sind endlich eben die Beteuerungen, die biblischen Gestalten könne niemand überbieten. So heißt es in der Synkrisis mit Johannes dem Täufer (Kap. 75): »Wenn nun jemand diese Rede verwegen findet, so möge er bedenken, daß ich diesen Vergleich nicht anstelle, um diesen Mann dem größten von allen, die vom Weibe stammen (d.h. Johannes dem Täufer), voran- oder gleichzustellen. Ich will zeigen, daß er ihm nacheiferte, daß er manches von seinem Charakter in sich trug.«
Übertragung der Typologie auch auf die Gegenwart, scharf bekämpft. - Es wirkt als Ironie, daß eben Basilius, das panegyrische Objekt von Gregors Rede, sich nachdrücklich gegen eine solche Emanzipierung der Exegese gewandt hat. 147
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS Diese Kautele bedeutet lediglich, daß sich Gregor dessen bewußt ist, daß die Überbietungstechnik der Bibel eigentlich nicht angemessen ist; gleich darauf aber wendet er sie wieder eben auf Johannes den Täufer an (vgl. oben S. 147). Man kann das allmähliche Verblassen der innerhistorischen Spannung der christlichen Typologie in der Übertragung auf die Konvention der Mythenüberbietung noch gut an einigen fast theoretischen Äußerungen verfolgen, die hier nach dem Grad der Literarisierung, den sie anzeigen, aufgeführt seien: 1) Paulinus von Nola, carm. XV,260ff.: »veterem remeare recenti / historia video speciem«; der hl. Felix wiederholt den Typ des Petrus im Kerker. Hier ist noch die historische, nicht wertende Spannung der Typologie bewahrt. Die Heiligen sind die rekurrierenden Siglen der biblischen Heilsgeschichte. 2) Sidonius Apollinaris, epist. VI,1 (an Bischof Lupus): »tu iunior magis quam minor Moyses«; hier erreicht die Überbietung die Typologie. Der zeitlichen Nachfolge tritt die Wertung an die Seite. 3) Paulinus von Nola, epist. V,2: Paulinus dankt für den letzten Brief des Severus, es folgt auch hier der Vergleich mit Salomon und der Königin von Saba. Diese habe Salomon um der utilitas willen aufgesucht; Severus sei höher zu schätzen, er habe ihm aus desiderium geschrieben, obwohl die utilitas klein war. - Hier ist im Lob des Adressaten die Erfüllungsstruktur der Typologie bereits durch die panegyrische der Brieftopik überlagert worden; hierbei ist die Aussparung Salomons (er habe weniger utilitas als Salomon) nicht etwa Respekt vor der Bibel, sondern topische Bescheidenheit (vgl. Hieronymus: »sed non ego Salomon«, oben S. 139f.). 4) Ennodius vergleicht sich selbst mit Lazarus (epist. VHI,16): »est facti (nämlich der im Wunder bezeugten Barmherzigkeit Christi) unitas in distantia personarum, eo nunc amplior magnitudo divini operis, quia quod ille meruity mihi cessit indebite«. Die >Distanz< wird nicht mehr so sehr zeitmäßig wie wertmäßig gesehen. Die zeitüche Struktur der Typologie ist sehr dünn geworden; an die Stelle der Wiederholung eines Typs tritt in raffinierter Weise die Betonung der besonderen Niedrigkeit, die eine besondere Gnade herausfordere. Das völlige Verschwinden des typologischen Verstehens zeigt die Bemerkung im folgenden Brief (VIII, 17): »quod senuerat temporibus (die Lazarus bewiesene Gnade), novellis resurrexit exemplis« (sc. an Ennodius). Hier hegt bereits das AfTin einer Ferne, die mythische Patina angesetzt hat, sehr ähnlich der Auffassung Claudians vom antiken Mythos als »superata vetustas« (in Ruf. 1,283). 148
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5) Sidonius Apollinaris, epist. VI, 12,7: »sed si forte Achaicis (...) exemplis tamquam non idoneis religiosus laudatus offenditur, seposita mystici intellectus reverentia venerabilis patriarchae Ioseph historialem diligentiam comparemus, qui contra sterilitatem Septem uberes annos insecuturam facile providit remedium, quod praevidit. secundum tarnen moralem sententiam [183] nihil iudicio meo minor est qui in superveniente simili necessitate non divinat et subvenit.« Hier hegt wohl der für die Literarisierung der Bibel in der spätantiken Synkrisis bezeichnendste Text vor. Sidonius lobt Bischof Patiens wegen seiner Getreideheferungen in Notzeiten. Der Parallelismus antiker und biblischer Gestalten wird durchgeführt (als »Achaicum exemplum« wurde zuvor Triptolemos genannt), muß aber noch gerechtfertigt werden. Hierzu wird die traditionelle typologische Exegese, der »mysticus intellectus«, dem Sidonius im Vorbeigehen seine Reverenz erweist, ausdrücklich beiseitegeschoben und die Josephsgeschichte litteral als panegyrische Folie ausgelegt: Joseph hatte leicht träumen und dann Vorsorgen... Höchst bezeichnend ist dabei das falsche Handhaben einer exegetischen Terminologie, die Sidonius offenbar nicht mehr versteht: im Gegensatz zur »historialis diligentia« und dem »mysticus intellectus« bezeichnete dort die »moralis sententia« als terminus technicus die psychisch-moralische Allegorese; Sidonius gebraucht ihn als Etikett für das panegyrische Verfahren. Wo nun diese Ausbeutung der Bibel zum System erhoben wird, da läßt sie sich in den Epitaphien als Sprengung der Synkrisis ablesen. Das wird in der in den gleichen Jahren mit dem Enkomion des Nazianzeners entstandenen Rede Gregors von Nyssa auf Basüius offenbar (ca. 380 n.Chr.; In Basilium fratrem, in: Gregorii Nysseni Opera X.l, hrsg. von O. Lendle u.a., Leiden 1990, S. 109-134). Schon die Synkrisis des Gregor von Nazianz hatte in ihrem Totalitätsanspruch den traditionellen Sinn des rhetorischen Topos hinter sich gelassen; die Dimension der ganzen Bibel stand in keinem angemessenen Verhältnis zu den im übrigen getreu nach den rhetorischen Regeln geschilderten Lebensumständen. Ahnlich ist auch Gregor von Nyssa verfahren. In Kap. 2-10 seiner Rede fmdet sich eine vergleichbare Form. Aber sie dient nur als Einleitung; was dann folgt, ist nichts als eine Riesenform dieses Topos, die die ganze Rede aufgesogen hat und nur als Unterabteilungen die anderen Topen zu ihrem Recht kommen läßt: die Geburt und Kindheit etwa wird als ein Vergleich mit Samuel abgehandelt (19), Kindheit und Erziehung in drei langen Vergleichen mit Moses (20-23), Johannes dem Täufer (13f.) und Elias (14-18). Die Topen kehren also fast alle, wenn auch in geänderter Reihenfolge, wieder, 149
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Gliederungsprinzip aber ist nur mehr die reine Abfolge der vervielfältigten Synkriseis; traditionell ist nur noch das Proömium geblieben (1). Hier hat die Ersetzung der heidnischen Mythen durch die gesamte Bibel das Enkomion in seiner Gestalt verwandelt. Der Gelobte ist nur mehr die Hohlform eines biblischen Mythos. Die bisher beschriebenen Überbietungsformen wiederholen sich und zeigen z.T. eine Erweiterung. So die Häufigkeit und Insistenz der Kautelen, gleichsam das schlechte Gewissen der theologischen Rhetorik: eine Überbietimg Johannes des Täufers, so heißt es jetzt (13f.), wäre icj^icia und pavla (>Frevel< und >Wahnsinn<); wiederum aber geschieht die Uberbietung gleich darauf: Johannes habe nur den jüdischen Kleinfürsten Herodes zum Gegner gehabt, Basilius aber den Weltherrscher Valentinian. Und die Panegyrik erschöpft sich in diesem Enkomion nicht mehr in einer kurzen, die Typologie verkehrenden Deutung. Auch eine andere Auslegeform, die allegorische, wird ins Literarische transponiert. So kommt es in der Synkrisis mit Moses bei Gregor von Nyssa endlich auch zur panegyrischen Allegorese: die Mutter und die Amme bedeuten im Leben des Basilius - nicht etwa in dem des Moses; hier liegt der Unterschied zur traditionellen Allegorese - die Kirche und die antike Bildung. Die panegyrische Exegese greift damit über die biblische Person als Bezugspunkt hinaus und ist nun prinzipiell endloser Wucherung fähig wie die theologische. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß auch die über die Gattimg [184] Enkomion hinauswuchernde panegyrische Beziehungssucht die biblische Historie nicht in allen Details auszuschöpfen vermochte, wie die theologische Auslegung. Sie hat sie nur insgesamt in den Horizont des Mythos gehoben, erzählt sie im wesentlichen und deutet nur das Passende auf den Gelobten aus. Dieses Nacherzählen der biblischen Geschichten geschieht meist in der Klammer einer praeteritio, die die Geschichte unbezogen stehen läßt, so z.B. in der Rede des Gregor von Nazianz die Richter, die Jünglinge im Feuerofen, Jonas und die Makkabäer. Es wird dabei in knappen Stichworten erzählt, sehr ähnlich den Abrissen der Mythographen. Man sieht, daß diese Erzählungen zwar aus der panegyrischen Exegese erwachsen und jederzeit panegyrisch verfügbar sind - aber sie können auch jederzeit als litteral aufgefaßte >biblische Geschichten < abgelöst werden. Sie ähneln den tituli der spätantiken und mittelalterlichen Kirchen. Diese tituli waren in ihren Details noch spürbar nach dem ursprünglichen geistigen Sinn des Dargestellten ausgerichtet, und die unter ihnen angebrachten Legenden geben denn auch die Exegese, deren übersetzende Abbreviatur das Bild lediglich darstellt. Aber 150
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS
die Bilder konnten von den Legenden abgelöst werden (wir haben Sammlungen von solchen Bildunterschriften im Dittochaeon des Prudentius und bei anderen spätlateinischen Dichtern), so wie die Erzählungen in der panegyrischen praeteritio ablösbar waren. Die Rezeption der antiken Literatur seit dem 4. Jahrhundert n.Chr. hat die biblischen Texte aus ihrer heilsgeschichtlichen und exegetischen Fixierung gelöst und als mythenähnliche Erzählungen zu verstehen gewagt - die panegyrische Überbietungstechnik macht diesen allenthalben stattfindenden Prozeß nur besonders deutlich. So hat z.B. Ambrosius im Uterarischen Porträt den jungen Valentinian und seine politische Laufbahn in einer Nacherzählung des Hohen Liedes charakterisiert {de obitu Valent. 59ff.). Hieronymus stellt eine Art Repertoire für die rhetorische Verwendung biblischer Gestalten zusammen (epist. 39). Ambrosius hat in einen Brief (epist. 62[19],8-12) ein auf keine Auslegung bezogenes Porträt Johannes des Täufers als rhetorisches Kunstwerk eingelegt; Paulinus von Nola schreibt ein Epos über ihn. Die Bibel ersetzt nun den mythologischen Stoff der Dichtung. Von hier ist es zum Prinzip des Paralleiismus antiker und biblischer Gestalten, zur Konstituierung einer antik-biblischen Einheitsmythologie, deren Endpunkt wir bei Dante beobachteten, nicht mehr weit. Das erste große Beispiel sind die Exempelpaare, die sich durchgehend in der Schrift De officiis ministrorum des Ambrosius finden. Je nach dem Adressaten wird Antikes oder Biblisches angeführt, so in der Apologie für die Mönche (Adversus oppugnatores vitae monasticae, in: Patrologia Graeca 47, Sp. 319-388) des Johannes Chrysostomos: Buch 2 (an die Heiden) und Buch 3 (an die Christen) sind säuberlich nach antiken und biblischen Beispielen getrennt. Der Weg von der geglaubten Historie zum biblischen Mythos hat, wie wir sehen, kompliziertere Formen angenommen als der antike Mythos während seiner Latenzperiode als Metapher. Man kann diesen Prozeß als ein ständiges Aushöhlen der theologischen Gebundenheit der Bibel durch die Konfrontation mit dem antiken Mythos und der Uterarischen Technik der Antike kennzeichnen. Die Tragweite dieser Entwicklung wird erst klar, wenn man sich von der uns selbstverständlichen Auffassung der Bibel als Text unter Texten, eben als Gesamtheit der biblischen Geschichten, löst - vor der Spätantike war die Bibel dies noch nicht gewesen, sondern ein Text, der beständig hinter sich wies, Auslegung nicht nur forderte, sondern nur in der Auslegimg präsent [185] war. Wie bereits angedeutet: das Entstehen eines biblischen Mythos in der patristischen Literatur konnte durch die Exegese nur auf den biblischen Text selbst zurück151
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS führen (vgl. oben S. 134f.); es ist der biblische Text selbst, der sich verwandelte. Hermeneutisch charakterisiert durch seine auslegungsfordernde Struktur, mußte er im Zuge der spätantiken Literarisierung auch den am griechischen Mythos eingeübten Auslegungsverfahren der Antike verfallen und zum Konglomerat von mythologisch verwendbaren >biblischen Geschichten < werden. Bei Clemens Alexandrinus wird der griechische Mythos als christliches Ausdrucksmittel zur Metapher, so wie die allegorische Exegese auch die Bibel partiell als Metapher auslegen konnte - wovon das geschichtlichtypologische Verständnis der Bibel unberührt blieb. Erst im 4. Jahrhundert wurde es zerdehnt und umgeformt: aus dem typologischen Verständnis wurde die Bibel als mythisierte Geschichte freigesetzt. Die beiden grundsätzlichen Auslegeformen, die ahistorische der Allegorese und die historische der Typologie erlauben es, den Prozeß des Zusammentreffens von antikem Mythos und biblischer Geschichte als eine gegenläufige Bewegung zu erkennen: die Allegorese verdünnt den griechischen Mythos zur Metapher; die Perversion der Typologie läßt die biblische Historie in den Horizont des Mythos eintreten. Doch im Unterschied zum Schicksal des antiken Mythos ist diese Umwandlung der Bibel im Medium der Literatur nie endgültig oder total gewesen. Die Integration der Bibel in die Literatur geht in bestimmten Wellen vor sich, und wer gewillt ist, sich von der Optik ausschließlich des Nachlebens der Antike zu lösen, wird konstatieren, daß diese Wellen den sogenannten europäischen Renaissancen entsprechen, ja daß gerade die Literarisierung der Bibel zu deren Grundstock gehört, der auch die kurzfristige »Galvanisierung« (Panofsky) des antiken Mythos mitträgt. Nur sehr gering ist der antik-mythische Überschuß der karolingischen Renaissance, stärker dann in derjenigen des 11. und 12. Jahrhunderts. Und selbst in der italienischen Renaissance wurde nicht nur der antike Mythos, sondern ebenso die Bibel in den ästhetischen Raum der Kunstmythologie transponiert. Zwischen diesen Wellen aber und selbst nach der Epoche der Kunstperiode ist die Bibel stets mehr als ein Arsenal mythologischer Bilder gewesen: geglaubte Geschichte. Es ist nicht zuletzt die patristische Topik gewesen, die den hier untersuchten Prozeß in der Spätantike verschleiert hat. Unermüdlich und in einem großen Aufwand von Bildern und Autoritäten spricht sie von ihrem Sieg über die heidnische Literatur und den heidnischen Mythos. Wenn Gregor von Nyssa in seiner Rede auf Basilius den Totschlag des Ägypters durch Moses als den Sieg des Basilius über die antike Bildung deutet, dann wirkt dies als ein paradoxes und ironisches Ergebnis: eben 152
METAPHER - EXEGESE - MYTHOS
dort, wo die Bibel in der altchristlichen Literatur den Höhepunkt ihrer Literarisierung erreicht und vom Geflecht der panegyrischen Allegorie überzogen wird - dort ist ihr Deutungsziel der Sieg des Christlichen über die Antike. So verrät die Topik sich selbst. Die Deutung, die hier dem Tod des Ägypters gegeben wird, ist ebenso Wunschbild wie die Unterwürfigkeit der eingangs erwähnten Kriegsgefangenen. Jener kahlen Konkubine, der Geliebten der Kirchenväter, sind zweifellos die Haare nachgewachsen, ja sie hat, wie wir sahen, schon bald den Eroberer ihrerseits, als einen zweiten Samson, unter das Schermesser genommen.
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Exegese - Erbauung - delectatio Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spätantike Fulgentius bemerkt in seinem 7Z?efc*is-Kommentar über den sensus mysticus in der Poesie: »Sub blanditorio poeticae ftctionis tegumento moralium seriem institutionum utiliter inseruerunt. Cum enim teste Horatio >aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iocunda et idonea dicere vitae<> non magis litterall sensu aut historiali facilitate hilares reperiuntur et iocundi quam mistica expositione figurarum moribus humanae vitae aedificandis utiles et idonei.«1 Das gleiche Zwielicht, das die Identität des Autors bis heute schwer entscheidbar macht (müssen wir zwischen einem Mythographen und einem Bischof Fulgentius trennen?), geht auch von der Synthese dieses Textes aus. Diesem opus caelatum paganer und christlicher Poetologie lassen sich unschwer die Einzelsteine entnehmen alles gute Bekannte: die horazische Formel, die Terminologie der Schriftsinne, endlich das Bild der aedificatio. Auch die Verschmelzung dieser Traditionen, in der Fulgentius jede, auch die pagane Poesie dem doppelten Schriftsinn unterwirft und das prodesse der aedificatio dem geistigen, die delectatio dem Literalsinn zuordnet, wird dem Mediävisten allenfalls als eine frühe Aszendenz des sogenannten integumentum-Konuepts,2 wie es von Ulrich von Straßburg und Thomas von Aquin ausgearbeitet wurde,3 Aufmerksamkeit erregen. Und doch trügt die musivische Glätte; sie verbirgt die erhebliche begriffliche Anstrengung, unter der die christlichpagane Spätantike die entscheidenden, doch ganz heterogenen ästhetischen und hermeneutischen Konzepte ihrer Epoche, eine autonome PoeAus: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hrsg. von Walter Haug, Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1979, S. 52-69. 1 Fabii Planciadis Fulgentii opera, hrsg. von R. Helm, Leipzig 1898, S. 180. 2 Vgl. die Forschungsübersicht bei Christel Meier, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 1-69, hier: S. 9ff. - Es würde diesem Bild entsprechen, wenn sich definitiv zeigen ließe, daß der Text pseudofulgentianisch ist und ins Hochmittelalter (Umkreis der >Schule von Chartres<) gehört. 3 Vgl. E. de Bruyne, £tudes d'esthetique medievale, Bd. 2: L'epoque romane, Brügge 1946, S. 302ff.
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO tik, eine allegorische Interpretationslehre und das geistliche Konzept des wirkenden Wortes, vereinigte. Denn mag man zunächst der Poetologie des prodesse und delectare wie der exegetischen Systematik, jeder für sich, zum Ausgang der Spätantike eine hinreichende Abgeschliffenheit zubilligen, die sie zu austauschbaren Elementen prägte - die delectatio wird christianisiert, die Allegorese säkularisiert -, so stutzt man doch angesichts des Zuschnitts, den die Erbauungsvorstellung hier erhält: auf pagane Literatur, gar Poesie war sie bis dahin nicht übertragen worden. Und nun fällt ein Weiteres auf: nach den neueren, vornehmlich hagiographischen Forschungen zum Erbauungsbegriff würden wir eher seine Zuordnung zum wirkungsästhetischen Vorstellungsfeld Andacht, imitatio, compassioy dulcedoy also zu einer christianisierten delectatio erwarten, als zu dem hermeneutischen der säkularisierten Allegorese. An diesem Punkt wird sichtbar, daß der Text des Fulgentius an ein Problem rührt, das in der Erforschung der christlichen Spätantike noch der Lösung harrt. Man kann es mit den Begriffen umschreiben, die Fulgentius scheinbar problemlos zusammenfügte; es betrifft das Verhältnis zwischen Allegorese und antiker [53] Poetologie, genauer: zwischen allegorischer Dichtung und poetischer delectatio. Daß die allegorische Dichtung zwischen Antike und Frühmittelalter bisher kaum je unter diesem Aspekt zur Untersuchung stand,4 ist bereits bemerkt worden;5 die Gründe verrät die Situation der Forschung: 1) Die in den letzten Jahrzehnten wieder ans Licht gehobenen oder nachgezeichneten theoretischen und praktischen Leistungen allegorischen Denkens, Verstehens und Gestaltens haben überwiegend - und nicht zum geringsten im Gegenzug zur sogenannten Erlebnispoetik - eine Untersuchung nach konstruktiven und intelligiblen Aspekten erfahren.6
4 Ausnahmen: G. Simon, Untersuchungen zur Topik der Widmungsbriefe der Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12. Jh., in: Archiv für Diplomatik 4, 1958, S. 52ff., und 5-6, 1959/60, S. 73ff., sowie F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Dannstadt 1977, S. 93ff., bes. S. lOOff. 5 R. Schulmeister, Aedißcatio und imitatio, Hamburg 1971, S. 55f. Zur Tradition der Trennung von docere und delectare H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1977, S. 139. 6 P. Zumthors Bemerkung zum >message poetique< (anläßlich der prudentianischen Psychomachie): »Le dechiffrage partira de l'intelligible pour aboutir a eile« (Essai de po£tique medievale, Paris 1972, S. 124), steht für viele; vgl. auch die kritischen Anmerkungen bei Christel Meier [Anm. 2\ S. 3ff.
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EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO
2) Die Neuentdeckung der christlichen Allegorie wurde nicht von Klassischen Philologen, sondern vor allem von den mediävistischen Disziplinen geleistet; hiermit hängt die gelegentliche Neigung zusammen, >mittelalterliche< Poetik, insbesondere der allegorischen Formen, nach einem scharf diskontinuierlichen Schnitt als eine Schwelle des >Neuen< in die spätere Antike zu verlegen, etwa mit dem GEuvre des Prudentius.7 3) Mit einem solchen Schnitt wird oft die Mehrzahl allegorischer Dichtungen der Spätantike, die in einer hochemotionalen, auf Affekterregung durch Exegese abzielenden Rüstung auftreten, in die Sphäre einer >rhetorischen< Antike, einer zukunftslos sich der christlichen Ausdrucksformen bemächtigenden autonomen Kunstübung verwiesen; in diesem Bezirk waltet noch unangefochten, aber zumeist desinteressiert die Klassische Philologie mit den von E. R. Curtius ererbten Kontinuitätsbegriffen.8 Und doch ist dies der lebendigste Bezirk der christlich-literarischen Allegoristik, der noch den intakten Buch- und Rezitationsmarkt und eine bis zu politischen Wirkungen reichende Verständlichkeit kennt.9 4) Zwar streben die hagiographischen Forschungen des letzten Jahrzehnts nach einem Konzept christlicher Wirkungsästhetik, das unter den Leitbegriff der >Erbaulichkeit< gestellt wird (vgl. S. 171 Anm. 72); doch scheinen von seinem Anwendungsfeld bisher keine Verbindungen zur poetischen Praxis der Allegorie zu bestehen; selbst wo die Rezeption der antiken Rhetorik in die christliche Poesie als Leistung erbaulicher Literatur dargestellt wird, werden >exegetische< unvermittelt neben >erbauliche< Erklärungsmodelle gestellt.10 Die Bemerkung des Fulgentius soll zum Anlaß genommen werden, im folgenden der Verbindung zwischen Praxis und Theorie des christlichen delectare und der christlich-exegetischen Dichtung in der Spätantike nachzugehen. Denn wenn auch auf diesem Felde, nach den Worten von H. R. 7 Noch Jauß, Ästhetische Erfahrung [Anm. 5], S. 106, zitiert zustimmend die Charakterisierung des christlich-allegorischen >Neueinsatzes< durch Jean Paul. Vgl. zur Persistenz der romantischen Anschauung von der christlichen >Schwelle< in der Ästhetik der Spätantike: Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. XXXIvf., und: Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität [in diesem Band: S. 203ff.], S. 378ff. [hier: S. 207ff.]. 8 Auch die an der Spätantike interessierte Latinistik spart das Problem einer christlichen Rezeption der peripatetisch-horazischen Ästhetik aus; so bei M. Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungslehre, Darmstadt 1973. 9 Vgl. unten S. 161ff. 10 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 121f., und H. Kech, Hagiographie als christliche Unterhaltungsliteratur, Diss. Konstanz 1977. 157
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Jauß, unsere Denkgewohnheit der »Trennung von delectare und prodesse als eine Episode in der Geschichte der Kunst« erscheint,11 dann könnte der Nachweis einer engen spätantiken Verknüpfung zwischen der Darstellung des sensus spiritalis und der Affekterregung, der exegetischen und der kathartischen Poetik sowohl das Schicksal der antiken Poesie - ihre Rettung und Verwandlung - wie die Zukunft der spiritualisierenden Hermeneutik - ihre unabschätzbare Breitenwirkung in Politik, Predigt und einer lebendig bleibenden Poesie - erklären. Befragt man zunächst die theoretischen Äußerungen der christlichen Poeten, [54] so sieht man die poetische Verpflichtimg zum nitor sermonisy zur delectatio zu Beginn der Spätantike noch nicht zu jener tralatizischen Formel erstarrt, in der sie (meist in Verbindung mit dem HorazZitat) über Isidor das Mittelalter erreicht und erst seit dem 12. Jahrhundert wieder zum Problem wird. Gegenüber dem literarisch kompetenten pagan-christlichen Publikum des 4. Jahrhunderts12 wird sie noch in dem programmatisch-christlichen Johannespanegyrikus des Paulinus von Nola (carm. 6,18f.) als etwas Selbstverständliches eingeräumt. In einen Konflikt mit den Darstellungserfordernissen biblischer Allegorese gerät die christliche Poesie zum ersten Mal bei Sedulius; aber man hat nicht den Eindruck, daß dieser Konflikt in seinen Konsequenzen dem Dichter und seinem kirchlichen Auftraggeber bewußt wurde. Vor allem: er wird nicht gegen eine ästhetisch freie Darstellung von Exegesen gelöst.13 Sedulius ist die Poesie noch etwas Naturwüchsig-Autonomes; wer der Poesie »pro insita consuetudine vel natura« verfallen sei, dürfe nicht verdammt werden. Aber ihre sinnenfesselnde suavitas rechtfertigt er nur mehr als apologetisches Instrument: sie sei wichtig, damit der für poetische Schönheit Empfängliche, wenn er Christ geworden sei (»viam libertatis ingressus«), nicht durch die vertrauten Verlockungen zurückfalle.14 Hieraus entspringt die erste das NT nach einzelnen allegorischen Perikopen in einem hochrhetorischen Manierismus darstellende Poesie, das Carmen Paschale, auf das noch zurückzukommen sein wird. Der Auf11 Jauß, Ästhetische Erfahrung [Anm. 5], S. 57. 12 Vgl. hierzu die Diskussion in: Christianisme et formes litt£raires de l'antiquite tardive en Occident (Entretiens sur l'antiquit£ classique 23), VandoeuvresGcnive 1977, S. 412ff. 13 Zum folgenden vgl. die ausführlichere Darstellung bei Herzog, Bibelepik [Anm. 71 S. XLlff. 14 »Non repetat iniquae servitutis laqueos, quibus ante fuerat internus.« - Die Zitate aus der Epist. ad Maced 1 (Sedulii opera omnia, hrsg. von J. Huemer, Wien 1885 [CSEL 101 S.5f.). 158
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO
traggeber nötigte den Dichter, sie durch ein Prosawerk zu ersetzen. Die Deutungen dieser folgenreichen Ablehnung - sie begründete die mittelalterliche Tradition des sog. opus geminum15 - reichen von einer Fiktion des Dichters bis zum Testimonium altkirchlicher Kunstfeindschaft. Es läßt sich jedoch an dem Prosawerk zeigen, daß hinter der Forderung ein exegetisches Bedürfnis stand, welches die poetische lex artis durchkreuzte: Sedulius weicht nämlich in der Neubearbeitimg sowohl von der Auswahl einzelner Perikopen wie von der Darstellung jeweils einer Allegorese ab; er trägt nach, vervollständigt und inkorporiert sogar Vulgatatexte als Lemmata. Nicht aber wird die rhetorisch-manierierte Darstellung zurückgenommen; zu Recht konnte Seduhus diese Kunstprosa als ein bloßes stilum vettere bezeichnen. Und Arators allegorische Poetisierung der Apostelgeschichte im 6. Jahrhundert hat diese erste, praktische Abgrenzung zwischen delectatio und Allegorese zum Abschluß geführt: einzelnen, unveränderten Vulgataperikopen steht die - Sedulius an Manierismus noch übertreffende - Poesie der allegorischen Auslegung gegenüber; hiermit hat - auch nach Arators eigener theoretischer Formulierung16 - eine bemerkenswerte Zuordnung der poetischen Überhöhung zur Allegorese, der schmucklosen Prosa zum sensus historialis stattgefunden, wie sie in der gleichzeitig formulierten, zunächst so einleuchtend erscheinenden Synthese des Fulgentius keinen Platz findet. Ein ähnliches Bild vermitteln allgemein die patristischen Äußerungen zum Verhältnis von Poesie und Exegese: auch sie streben zunächst einer pagane wie christliche Dichtung mit der Möglichkeit allegorischer Auslegung verbindenden Lösung zu, wie sie Fulgentius repräsentiert, nehmen zum Ende des 4. Jahrhunderts jedoch eine scharfe Differenzierung und Abgrenzung vor. Exemplarisch ist der Wandel [55] in der Auffassung Augustins. Er beginnt in den Cassiciacum-Dialogen mit einer beträchtlichen Wertschätzung paganer Poesie als eines die Wahrheit verbergenden Kleides.17 Augustin bewegt sich hier noch in den Bahnen der spätantiken, die paganen Klassiker allegorisierenden Grammatik, wie sie in einer seit Edgar de Bruyne dokumentierten Tradition das Mittelalter erreichte und erst seit Thomas von Aquin zu einer systematischen Durcharbeitung ge15 Vgl. E. Walter, Opus geminum. Untersuchungen zu einem Formtyp in der mittelalterlichen Literatur, Diss. Erlangen 1973. 16 Epist. ad Vigilium 21f. (De actibus apostolorum, hrsg. von A. P. McKinlay, Wien 1951 [CSEL 72], S. 4): »Alternis reserabo modis quod littera pandit /et res si qua mihi mystica corde datur.« 17 Vgl. etwa De ord. 1,24; Contra Acad. 3,11 und 39ff.; hierzu K. Svoboda, L'esthetique de saint Augustin, Brunn 1933, S. 48. 159
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO langte. Und sie wird von Augustin - im Austausch mit dem Poeten Licentius - auch auf eine mögliche christliche Poesie projiziert: auch der christliche Dichter könne mythologische Sujets (z.B. Pyramus und Thisbe) darstellen, wenn er die christlich-allegorische (in diesem Fall: moralische) Schlußauflösimg anfüge.18 Wir besitzen auch derartige christliche Poesie aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts, das Carmen de ave Phoenice; und wir besitzen, im Werk des Laktanz, das hervorragendste Beispiel christlicher Exegese der heidnischen klassischen Dichter. Nach 390 verändert sich diese Auffassung sehr rasch, nicht nur bei Augustin.19 Licentius wird auf die hagiographische Poesie des Paulinus von Nola verwiesen,20 vor allem aber definiert Augustin in seiner christlichen Ästhetik<, in der Schrift De doctrina christiana, das Verhältnis der Exegese zur delectatio neu - nur dieser Aspekt innerhalb seiner Zeichenlehre ist hier von Belang. Erstmals wird nun die (pagane) Poesie21 mit den biblischen Schriften konfrontiert und erfährt eine krasse Herabstufung in den Rängen des Zeichenhaften. Sie steht unter dem alle Spiritualität verkennenden iudaizare - denn die Spiritualisierung kann gegenüber der Schrift erlernt und nachgeholt werden; die physische Allegorese paganer Poesie jedoch führt selbst nur auf das vanum der geschaffenen Elemente. »Quam ob rem christiana libertas eos, quos invenit sub signis utilibus,... interpretatis signis... elevatos ... liberavit. ... Quos autem invenit sub signis inutilibus, non solum servilem operationem (sc. die Allegorese dieser signa)..., sed etiam ipsa signa frustravit removitque omnia.«22 Im Gegenzug erhält nun die Schrift alle jene poetischen und (vor allem) rhetorischen Strukturen zugeschrieben, die einer autonomen Literatur, ab der ägyptischen Kriegsgefangenen<, geraubt werden. Diese >Bibelästhetik< Augustins, zugleich die erste europäische Ästhetik der obscuritas, ist seit Henri-I. Marrou hinreichend untersucht worden - ein Desiderat ist freilich ihre Nachwirkung im Mittelalter23 und vor allem im 17. und 18. 18 De ord. 1,14. 19 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 171ff. 20 Aug. epist. 26 (und 23). 21 Zitiert wird an dieser Stelle (einmalig in De doctrina christiana) ein episches Adespoton (Ekphrasis Neptuns); angeschlossen wird der Topos *siliqua ... porcorum* (3,7,11). 22 De doctr. christ. 3,8,12. Augustin versäumt auch nicht, die Möglichkeit des einfach ästhetischen, nicht auslegenden Genusses der paganen Dichtung als die am niedrigsten stehende Haltung zu brandmarken (De doctr. christ. 3,7,11). 23 Vgl. wiederum de Bruyne [Anm. 3], S. 307ff.; noch ungeklärt ist die Tradition, die zu Boccaccios Vita di Dante (B. 14) führt. 160
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Jahrhundert.24 In diesem Zusammenhang ist die radikal veränderte Zuordnung von Poesie und Exegese hervorzuheben: Gott ist einzig Poet, einzig über eine Poetik der delectatio verfügend;25 die Exegese wird zu einer intellektuellen, nicht produktiv-ästhetischen Leistung; sie hat sich allen Anspruchs auf Schmuck und Eingängigkeit, auf eine Kopie der göttlichen delectatio* zu enthalten. Angesichts der Neuartigkeit dieser Bibelästhetik wird oft übersehen, daß die delectatio für die Tätigkeit eines christlichen Autors - der in dieser Systematik, aber auch bei Hieronymus,27 zum Exegeten schlechthin wird - ein unlösbares Problem geblieben ist. Es tritt sogleich im 4. Buch von De doctrina christiana auf, das sich der Vermittlung der Schriftexegese< widmet, also keineswegs nur eine >Predigtlehre< darstellt.28 Christliche Exegese vermag zwar im systematischen Denken Augustins die rhetorischen Stilhöhen des probare und des flectere [56] in die christlichen Vermittlungsmodi des dogmatisch-verkündenden docere und des movere als eines Aufrufs zum Handeln zu transformieren. Das mittlere genus dicendiy das delectarey aber führt in De doctr. 4,25,55 zu einer kaum verhüllten Verlegenheit: es sei, so wird dort formuliert, den beiden anderen genera subsidiär, es habe keinen Zweck in sich selbst; an anderer Stelle wird es aus der Ecclesia wie aus dem platonischen Staat vertrieben.29 »Appetant eum (sc. stilum), qui lingua gloriantur, et se in panegiricis talibusque dictionibus iactant« (4,25,55) - warum aber rezipiert Augustin dieses genus dicendi überhaupt? Die Beispiele, die er von Cyprians Ad Donatum an für das delectare anführt, zeigen hinlänglich, daß er es keineswegs global den Paganen zuweisen konnte; sie zeigen, mitsamt der Insistenz Augustins, daß er sich einer sehr lebendigen, die Exegese in die Rhetorik einformenden christlichen Literatur gegenübersah. Ganz offensichtlich ist die Wandlung in der Auffassung von allegorischer Dichtung und ihrer christlichen Möglichkeit - nach dem Austausch mit Licentius erwähnt Augustin christliche Poesie überhaupt nicht mehr; er geht auch an dem Werk des Prudentius kommentarlos vorbei - sowie die gewaltsame Abgrenzimg von ästhetisch autonomer Exegese die Ursache der 24 Zur Neuzeit vgl. R. P. Lessenich, Dichtungsgeschmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jh., Köln 1967. 25 De doctr. christ. 2,6,7f. 26 De doctr. christ. 4,8,22. 27 Siehe unten Anm. 45. 28 Schon die emphatische Distanzierung von der Zumutung, hier rhetorische praecepta zu erörtern (4,1,2), sollte zu differcnziertcrcr Würdigung führen. 29 De doctr. christ. 4,14,30. 161
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO fehlenden Ausarbeitung einer christlichen Poetik in der Spätantike; und gewiß ist sie von der Distanzierung gegen die rhetorisierte Bibelexegese des 4. Jahrhunderts veranlaßt worden. Das Ausmaß dieser Rhetorisierung, der Umfang dieser sehr homogenen Integration der biblischen Exegese in die griechisch-lateinische Literatur ist bisher kaum umrissen, eine auch nur summarische Darstellung fehlt. Es handelt sich um die folgenden, sämtlich nach 370 aufkommenden Usurpierungen der Schriftauslegung: a) historisch-panegyrische Applikationen, zuerst in dogmatischen Schriften des Ambrosius (Hunnenexegese von Ezecb. 38,9),30 sodann in der bekannten Rom- und Theodosius-Panegyrik des Augustin, Prudentius und Orosius (nach der exegetischen Technik mit der Applikation frührepublikanischer Geschichte auf die Gegenwart bei Claudian vergleichbar), ferner die wenig beachteten ersten posttypologischen Geschichtsdeutungen bei Orosius (insbesondere in der - von Augustin zurückgewiesenen - Übertragung der ägyptischen Plagen auf die Chronologie seit den Christenverfolgungen);31 b) politische Usurpation der Allegorese, insbesondere bei Ambrosius und seit der frühbyzantinischen Literatur. Sie beginnt mit dem Instrument der Prophetenexegese in der antiarianischen Polemik gegen die Kaiserin Justina, wird in der Auseinandersetzung mit Theodosius zu einer äußerst wirksamen Aktionsform gesteigen 32 und findet im zweiten Epikedium (auf Theodosius) mit der bibelexegetischen Festlegung der Thronfolger auf ein politisches Programm33 ihre für die byzantinische Welt verbindliche Form; c) hagiographisch-politische Exegese zeitgeschichtlicher miracula als >biblischer< historia: neben Sulpicius Severus in der hagiographischen Dichtimg des Paulinus von Nola; 34 30 De fide ad Grat. 2,16. 31 Vgl. Oros. 7,26f. und Herzog, Orosius [in diesem Band: S. 293ff.]. 32 Wie jüngst gezeigt wurde (F. Claus, La datation de l'Apologia David, in: Ambrosius Episcopus. Atti del Congresso internazionale di studi ambrosiani, hrsg. von G. Lazzati, Mailand 1976, Bd. 2, S. 168ff.), hat die Apologia David altera mit ihrer vom Kaiser zunächst selbst zu seiner Veneidigung allegierten Auslegung von 2Sam. 11 (David - Bathseba) zur Kirchenbuße geführt; Ambrosius führt in diesem Fall das spirituelle Schriftverständnis gegen das literale >Exempel< des sündigen biblischen Königs ins Feld; vgl. Herzog, Vergleichende Bemerkungen zur theologischen und juristischen Applikation, in: Text und Applikation, hrsg. von M. Fuhrmann und H. R. Jauß (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 367-393. 33 Vgl. De obitu Theodos. 15f. und (negativ) 39.
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EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO d) Freisetzung zur autonomen ästhetischen Form, zum allegorischen Kunstwerk: die breiteste und seit L. Meridier35 nicht untersuchte Tradition liegt in den griechischen Enkomien und Epikedien Gregors von Nazianz, Gregors von Nyssa und des Johannes Chrysostomos vor; 36 ihre kunstvollste Ausarbeitung hat in der Spätantike die [57] Epistolographie des Paulinus von Nola 37 (zu ihr zählen auch die literarisch banalisierten Bibelexegesen in den Briefen und Proömien des Hieronymus) und die Enkomiastik des Ambrosius erreicht.38 Es ist zwar möglich, die Gesamtheit dieses Usurpations- und Integrationsphänomens unter der Vorstellung einer ersten posttypologischen Dynamik in der abendländischen Literatur zu begreifen (allerdings verschwimmen die Grenzen, etwa im Sinne der von Augustin gezogenen Linie: ist die hagiographisch-politische Deutung noch theologisch sinnvoller Ausdruck einer fortlaufenden nachbiblischen Heilsgeschichte?). Für die spezielle Erörterung des Verhältnisses poetischer und exegetischer Formen erscheint nicht eine globale Deutung, sondern die Einsicht in die ästhetischen Implikationen und Konsequenzen dieser Verschmelzung sinnvoll. In der Tat bringt sie eine Kette unverwechselbarer literarischer Formen hervor. Dem Widerspiel des Antityps zum Typ am nächsten, parasitär am nächsten, steht die Figur der Überbietung> ererbt aus der alten rhetorischen Form der Synkrisis (nicht zufällig einem Bestandteil des Enkomion). Sie pervertiert den (biblischen) Typ zur Folie, beschränkt ihn rigoros auf die historia und manipuliert diese endlich nach den Erfordernissen des panegyrischen Objekts.39 Charakteristische Begleitform ist die lizenzerteilende Kautel,40 oft als Beteuerungsformel der 34 Vgl. Herzog, Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität (...), S. 404ff. [in diesem Band: S. 227ff.]. 35 L'influence de la seconde sophistique sur Toeuvre de Gregoire de Nysse, Paris 1906. 36 Zu den Enkomien auf Basilios vgl. Herzog, Metapher - Exegese - Mythos [in diesem Band: S. 115ff.], S. 177ff. [hier: S. 142ff.]. 37 Bisher nicht untersucht; zum Verständnis des Gattungshintergrundes: K. Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, München 1970. 38 Vgl. De obitu Valent. 9ff., wo die Kirche mit den Worten des Hohen Liedes in einen Dialog mit dem Kaiser tritt, ferner 59ff.: Valentinians Vita und Karriere wird als Canticum-Exe%ese erzählt. Vgl. Y.-M. Duval, Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funebres de saint Ambroise, in: Christianisme et formes litteraires [Anm. 12], S. 255ff. 39 Beispiele bei Herzog, Metapher - Exegese - Mythos [in diesem Band* S. 146ff.]. 40 Ein Beispiel: die Exegese des Geliebten aus dem Hohen Lied auf Kaiser Valen-
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prinzipiell unantastbaren Bibeltypologie. Die Reduktion der Schrift zur historia verstärkt ihrerseits erheblich die Ausformung dieser Folie in der narratio; man kann in der Epistolographie und den Enkomien von ekphrastischer Intensität als dem untrüglichen Anzeichen bevorstehender Exegese sprechen. Schließlich kann die Form der bedeutsamen Ekphrasis die Allegorese selbst ersetzen;41 sie hat nun Verweisungscharakter angenommen und läßt die im Hörer vorausgesetzte spiritualisierende Applikation aufklingen. Die Ausarbeitung der narratio gestattet ferner die Aufnahme des gesamten rhetorischen Instrumentariums des stilus medius: insbesondere handelt es sich um die prinzipielle Katachrese (ein System exegetischer Metaphernketten ohne Auflösimg, aber auch ohne Kommunikationszweck durchzuhalten, ist z.B. das Ziel der Epistolographie des Paulinus) noch vor der exegetischen Auflösung der narratio; die Distanz zwischen narratio und Deutung wird durch Antithesen-Häufung, der musikalischen Form des düster vergleichbar, akzentuiert. Hieronymus, ein Mann von weiterem literarischen Horizont als Augustin, hat die Lebenskraft und insbesondere die antipagane Wirkungsmöglichkeit dieser Formen hoch eingeschätzt; er hat auch die Grenzen zwischen der gebotenen theologischen Zurückhaltung und wirksamer kirchlicher Literatur besonnener gesetzt - man sollte diese Besonnenheit nicht, wie es noch oft geschieht, einem Wechsel zwischen >asketischem und >weltlichen< Phasen zuschreiben. Nur für drei Gattungen hat er strikt die delectatio abgelehnt und hierbei sein berühmtes Urteil über die »mei similes, qui post saeculares litteras ad scripturas venerum«, gefällt: 1) für die Schrift->Übersetzung< selbst, wenn sie völlig als Klassikercento (wie bei Proba) auftrat;42 2) für den exegetischen Schriftkommentar (als ProsaFachschrift);43 3) für die Predigt.44 Gerade die enkomiastische Überfortinian (»habens in se imaginem Christi«) wird eingeleitet (De obitu Valent. 58): »nee iniuriam (>Blasphemie<) putes: charactere domini inscribuntur et servuli et nomine imperatoris signantur milites.« 41 Man hat diesen Zusammenhang zuerst in der Dichtung (so im Buch Cathemerinon des Pnidentius) vermutet; er ist jedoch in der hier besprochenen Literatur heimisch (ein Beispiel: Hieronymus, epist. 19,8f.). 42 Epist. 53,7. 43 Man dürfe nicht »proprios libros componere et super unaquaque materia testimoniis scripturarum hinc inde quaesitis eloquentiam iungere saecularem« (In Eph. prol., PL 26, Sp. 440B). 44 Ein Prediger verderbe den Wein der Schrift, wenn er »austeritatem scripturarum, per quam potest audientes corripere, vertit ad gratiam et ita loquitur, ut non corrigat sed delectet audientes« (In Esaiam 1,29, hrsg. von R. Gryson und P.A. Deproost, Freiburg 1993, S. 175, Z. 6ff.). 164
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mung [58] der Exegese hat er jedoch im Briefwechsel mit Paulinus von Nola - dessen (verlorenen) Theodosiuspanegyricus lobend - emphatisch als einzige Möglichkeit einer gelungenen Kontrastliteratur begrüßt. Es spricht hier das klare Bewußtsein des spätantiken Literators, daß christliche Literatur nur bibelexegetisch ihren Sinn habe und erst in einer noch ausstehenden - gelungenen Verbindung von Exegese und Literatur die römische Literatur zu ihrer eigentlichen Höhe gelange: »huic prüdentiae et eloquentiae si accederet vel Studium vel intellegentia scripturarum, viderem te brevi arcem tenere nostrorum«; »nasceretur nobis aliquid, quod docta Graecia non haberet (...); nihüque Latinius tuis haberemus voluminibus.«* Es ist vermutlich das Zerbrechen des weströmischen Reiches, das die lange Tradition jener um 370 beginnenden Reihe der panegyrici talesque dictiones (Augustin) für den lateinischen Westen abbrechen üeß und ihren Erfolg in der lateinischen und griechischen Literatur bis heute aus dem Bewußtsein der Latinisten und Mediävisten tilgte - im byzantinischen Osten ist diese Reihe, vornehmlich nach ihrem posttypologischpolitischen Aspekt, geschichtsmächtig geworden.46 Erst ihre Existenz aber erklärt, warum die theoretischen Auseinandersetzungen seit dem Ende des 4. Jahrhunderts sich kaum mehr speziell mit christlicher Poesie, christlicher Poetik befassen, in der doch die Forschung zumeist die ästhetische Frucht, das literarisch Zukunftsweisende der Bibelallegorese erblickt. Doch begründet diese Erinnerung an eine unbeachtete Literaturform, diese Erklärung einer >fehlenden< christlichen Poetik in der Spätantike hinreichend auch die Formen und die Praxis einer delectatio in der christlich-exegetischen Poesie dieser Zeit? Von dem Problem dieser Praxis ging die Untersuchung aus. Nicht nur außerhalb des viel behandelten Prudentius findet sich ja poetisch ausgeformte Schriftdeutung; sie findet sich auch lange vor der Paganes und Christliches einschmelzenden, die Bibelexegese so erfolgreich usurpierenden spätantiken Klassik am Ende des 4. 45 Epist. 58,11. 8-9. Diesem Programm gegenüber setzte sich die Stellungnahme Augustins durch; vgl. die beiden, noch in der Spätantike, aus unterschiedlichen Perspektiven vorgenommenen Abgrenzungen: 1) Ennodius: »properantes ad se de disciplinis saecularibus salutis opifex non refutat, sed ire ad Mas quemquam de suo nitore (!) non patitur« (epist. 9,9); 2) Isidor: »eloquia Sacra exterius incompta verbis apparent, intrinsecus autem mysteriorum sapientia fulgent« (sent. 3,13). 46 Einige Bemerkungen hierzu bei H. Hunger, Aspekte der griechischen Rhetorik von Gorgias bis zum Untergang von Byzanz, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 277,3 (Wien 1972). 165
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO Jahrhunderts, ja vor der Rezeption des origenistischen Schriftkommentars im Westen durch Hilarius von Poitiers. Als sich gegen 330 die Poesie der Schrift bemächtigt, um sie, vor dem Hintergrund einer Stiltheologie,47 im Gewand der höchsten antiken Gattimg ins Lateinische zu übersetzen, tut sie dies nicht etwa im Rückzug auf eine bloße Technik rhetorischen Paraphrasierens; sie erhält seit Juvencus die alte Abgrenzung der Poetik gegen die veritas des Historikers (in der epischen Tradition am Beispiel Lucans verdeutlicht und so noch Isidor41 geläufig) aufrecht. Die Theorie der poetischen figmenta (christlich: mendacia)49 wird nicht durch den Anspruch auf die vera historia der Schrift komplettiert, sondern durch die theologische, außerästhetisch formulierte Bedeutsamkeit des neuen Themas abgelöst.50 Avitus und Dracontius werden die Unmöglichkeit, die Schrift nach ihrer historia erzählen zu wollen, hervorheben.51 Aber schon Paulinus von Nola und Prudentius haben an programmatischer Stelle die Darstellung des sensus spiritalis als das Ziel ihrer Dichtung deklariert.52 Nach diesem Gang durch die spätantiken Bedingungen einer Begegnung von Poesie und Exegese - sie sind vielschichtiger, als die plane Synthese des Fulgentius [59] vermuten ließ - soll diese Poesie selbst in einem frühen specimen zu Worte kommen und zur Untersuchung stehen - es handelt sich bei dem folgenden Text sogar um die erste abendländische Begegnung von antiker Poesie und biblischem sensus spiritalis, die Darstellung des Weinwunders zu Kana im Werk des Juvencus (dem Mediävisten sei empfohlen, die entsprechende Partie aus Otfried, der Juvencus gut kannte, zum Vergleich heranzuziehen): » Vina sed interea convivis deficiebant. Tum mater Christum per talia dicta precatur: >Cernis, laetitiae iam defecisse liquoremf Adsint, nate, bonis ex te data munera mensis.<
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47 Vgl. hierzu Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 179ff. 48 £rym.8,308f. 49 Vgl. Juvenc. praef. 16: »veterum gestis hominum mendacia nectunt.« 50 An diesem Punkt entstehen die >heteronomen< Begriffe der christlich-poetischen Programme der Spätantike: Dichtung als Erlösung, Versifizierung als gutes Werk (Juvencus), säkulare Literatiu- als Sünde (Proba), ferner die zum Mittelalter traditionell gewordene (Un-)Gleichung metrische Korrektheit ~ Glaubensfestigkeit (zuerst Marius Claudius Victorius, dann Avitus). 51 De spir. bist. gest. 3,333ff.; De laud. dei 3,741f. 52 Vgl. Paul. Nol. carm. 22 (an Jovius), 154ff.; Prud. Cath. 3,26ff.
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EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO Olli respondit terrarum gloria Christus: >Festinas, genetrix; nondum me talia cogit 135 Ad victus hominum tempus concederedona.< Mensarum tunc inde vocat laetata ministros Mater et imperiis nati parere iubebat. Sex illic fuerant saxis praepulchra cavatis Vascula, quae ternis aperirent ilia metretris 140 Haec iubet efontis gremio conplere ministros. Praeceptis parent iuvenes undasque coronant Conpletis labiis lapidum; tum spuma per oras Conmixtas undis auras ad summa volutat. Hinc iubet, ut summo tradant gustanda ministro. 145 Ille ubi percepit venerandi dona saporis Nescius, in vini gratum transisse liquorem Egestas nuperpuris defontibus undasy Increpat ignarum sponsum, quodpulchra reservans Deteriora prius per mensas vina dedisset.«53 150 Es nimmt nicht wunder, daß die eucharistische Spiritualisierung von Job. 2, die hier ihren ersten Poeten gefunden hat, gewöhnlich ganz übersehen wird und hinter dem zurücktritt, was man gemeinhin wortgetreue Paraphrase nennt. Aber so zan und unauffällig sie sich fühlbar macht - man vergleiche auf der anderen Seite die explizite Deutung Otfrieds, in der die Applikation der Verwandlung auf den sensus spiritalis selbst eine abschließende Phase bewußter allegorischer Poetik erreicht54 -, so umfassend hat sie den Text verwandelt. Das wird, ist einmal der Schlüssel dieser poetisierten Exegese aufgefunden, sogleich deutlich. In einem ersten Schritt wird das spirituelle Vorverständnis durch kaum merkliche paraphrastische Signale vermittelt; der sensus spiritalis wird also nicht durch Auflösung, sondern durch Nutzung des periphrastischen Spielraums erreicht: »adsint, natey bonis ex te data munera mensis« (v. 133) sowie »nondum me talia cogit / ad victus hominum tempus concedere dona« (v. 135f.) enthüllt zusammen mit anderen Formulierungen (vgl. 4,455f. ~ Matth. 26,29 »regna patris in nova me rursus concedent surgere vina*: also das Weinstockgleichnis Job. 15,1 aufnehmend)55 die sakramentale Identität dieses Weines mit dem Blute Christi. Ebenso kann nur die peri53 Evang. 2,130ff. (hrsg. von J. Huemer, Wien 1891 [CSEL 24], S. 47f.). 54 Die Deutung des Wunders von Kana auf die Allegorese selbst findet sich zuerst bei Arator, Act. apost. 2,889ff. 55 Vgl. ferner Evang. 2,731 - Matth. 12,50.
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phrastische Abundanz bei der Nennung des Wassers (als Quellwasser v. 141; »puris defontibus« v. 148) einen Wink auf das zweite Sakrament [60] des Kana-Wunders, die Taufe geben, das in späterer Exegese - in Verknüpfung mit Job. 19,34 - als Voraussetzung des ersten erscheint.56 Es ist allerdings notwendig, sich an diesem Punkt über den Begriff des >Signals< zu verständigen, ihn zu korrigieren. Der Text zeigt nämlich, daß es Juvencus keineswegs nur auf eine Anleitung zur Auslegung ankommt, daß diese Dichtung keineswegs als eine Art unvollkommenes Puppenstadium expliziter exegetischer Poesie angesehen werden darf. Periphrastischer Spielraum ist in dieser Poesie nicht nur Indiz, sondern Manifestation; die Intensität der Paraphrase beweist eine emotional und mimetisch die Grenzen antiker Poesie sprengende Haltung, die es nicht erlaubt, diese Phänomene als den üblichen ornatus der delectatio von der neuartigen hermeneutischen Kommunikation einer Exegese an den Leser zu scheiden. Zur Erläuterung: Die paraphrastische Intensität führt zunächst zu luxurierenden Wiederholungen57 (>Wein< v. 132 und 146; >Wasser< v. 141 und 148), zu einer ästhetischen Steigerung (v. 139 »praepulchra«), des weiteren zu einem starken ekphrastischen Reliefe wie es die Darstellung der Steinkrüge v. 139-144 aufweist. Ekphrasis - mit diesem Begriff eines traditionellen ornatus möchte man diese Intensität zunächst noch als mimetischen Kunstzweck fassen, bis eine ab v. 142 faßbare akribische Verlangsamung bis zur Zeitlupe unmittelbar vor dem spirituell entscheidenden Moment - eben dieses Formgesetz findet sich z.B. auch in den Hymnen des Prudentius (vgl. carm. 3 und 5)58 und im Cento Probae - die Mimesis überschreitet. Die Gegenstände >verlebendigen< sich (Panofsky); das Wasser beginnt zu schäumen (Imitation eines Vergilverses,59 den Juvencus 4,703 auch für Jesu Verscheiden benutzt hatte). Ähnlich werden biblische Paraphrasen in der altchristlichen Dichtung immer wieder im unmittelbaren Hof des spirituell Bedeutsamen überformt: der Jordan schäumt bei der Taufe Jesu auf; die Masten der Fischerboote erzittern; der Orion er56 Vgl. bei Juvencus den sehr unscheinbaren, gleichwohl das paraphrastisch Nötige überschreitenden Hinweis des »nuper« (v. 148). 57 An dem Gegenphänomen der Verkürzung des Vorlagetextes zum Zwecke des spirituellen Signals erweist sich, daß die periphrastische Breite sich nicht in der Signalfunktion erschöpft; vgl. v. 140, wo das »zwei oder drei« der Vorlage auf das spirituell wichtige »ternis« verkürzt wird. 58 Vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S.72. 59 Aen. 5,761f. 168
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scheint bei Jesu Wandeln auf dem See;60 endlich kommt es seit Paulinus von Nola zu pararealistischen Überschüssen wie dem Nimbus Mariens und dem Wohlgeruch eines Engels,61 und dem Übersprung von Andachtshandlungen auf die biblischen Figuren, so auf Elisabeth, die Mariens Bauch küßt.62 Es leidet keinen Zweifel, daß diese spirituelle Poiesis nicht nur mimetisch nachantik, sondern ebenso nachantik in ihrer merklichen emotionalen Spannung des Dichters selbst ist, die erstmals bis zum Einreißen der antiken Distanz zwischen Autor und Werk führte.63 Merklich wird sie zunächst in kontextunabhängigen Epitheta (vgl. v. 134);64 sie präformiert die gehörige Gefühlslage des Hörers (vgl. v. 146 »venerandi saporis«) wie der biblischen Figuren (vgl. v. 137 »laetata«). Vom Stupor attonitus bis zur miseratio gibt sich eine diffuse Emotionalität in der frühen Bibeldichtung zu erkennen. Die allgegenwärtige >Inbrunst< (>ardor inexpletus< Juvenc. 2,415) dieser Poesie gipfelt seit Proba im Eindringen des Dichters in das Werk an spirituellen Höhepunkten (als Transformierung der antiken exclamatio zum Gebet oder zum Mithandeln).65 Diese emotionale und transmimetische Intensität in der poetischen Darstellung des Spirituellen ist nicht auf Rhetorik reduzierbar; sie begegnet vor der Rezeption antiker Gattungen und rhetorischer Kunstformen in die altchristliche [61] Poesie. Aber es läßt sich gut erweisen, daß vor allem sie das Rezeptionsvehikel für die literarische Tradition der Antike gewesen ist, daß sie zur Eroberung des rhetorischen ornatus herausforderte. Man vergleiche die nächste poetische Darstellung des Weinwunders, nach etwa einem Jahrhundert: »Prima suae Dominus thalamis dignatus adesse Virtutis documenta dedit convivaque praesens Pascere, non pasci veniens, mirabile!fusas In vinum convertit aquas: amittere gaudent Pallorem latices, mutavit laeta saporem 5 60 Vgl. ausführlich hierzu Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 150ff. 61 Ebd. S. 218. 62 Paul. Nol. carm. 6,162. 63 Vgl. ausführlich hierzu Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 145ff. 64 Sie können auch die Funktion haben, der andächtigen Stimmung fremde Partien der Vorlage zu eliminieren; so in v. 135: »generrix« überformt das absprechende »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« (Joh. 2,4). 65 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. 47ff., 97ff. Nachzutragen: Marius Claudius Victorius, Aleth. l,462ff. und Paulus von Petricordia 4,437ff. 169
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO Unda suum largita merum, mensasque per omnes Dulcia non nato rubuerunt pocula musto. Implevit sex ergo lacus hoc nectare Christus: Quippeferax qui vitis erat virtute colona Omnia fructificans, cuius sub tegmine blando 10 Mitis inocciduas enutrit pampinus uvas.«66 Noch herrscht grundsätzlich das paraphrastische Darstellungsprinzip, doch sind sowohl Deutung (ab v. 8; vgl. besonders »ergo«) wie eine zusammenfassende Vorwegnahme (v. 1-3) abgelöst, und die narratio ist gänzlich auf das Wunder konzentriert; sie wird durch das Reizmittel der Antithese (v. 2f.) aufgezehrt - eben diese Rezeption des Sedulius riß das christliche Publikum der Spätantike hin (vgl. Cassiodors emphatischen Applaus im Psalmenkommentar für die antithetischen Stellen carm. pasch. l^öSff.).67 Das Verwandlungswunder selbst wird nach der Tradition der Metamorphose verarbeitet; rhetorisches Indiz dieser Verarbeitung ist seit Ovid die Litotes (hier v. 7). Bemerkenswert ist, daß nun rhetorisch überformte narratio und spirituelle Auflösung auseinandertreten; vor v. 8 gibt es keine Juvencus vergleichbaren spirituellen Signale mehr, und andererseits enthüllt die Deutung ab v. 8 viel direkter - durch unmittelbaren Zugriff auf Job. 15,1 (v. 9ff.) -, was bei Juvencus in der narratio verborgen blieb. Diese Phase exegetischen Dichtens entspricht dem Auseinandertreten von extremem, ekphrastischem Realismus und Vergeistigung seit Prudentius, Sidonius und Arator; und sie erst war offensichtlich in der Lage, den poetischen Wechsel der beiden Bedeutungsebenen zum neuartigen Kompositionsprinzip zu erheben (so bei Prudentius), typologische Exegesen zu Gliederungsfunktionen in größeren Werken zu nutzen (so bei Marius Claudius Victorius),61 bereits in der Spätantike ein System spiritueller >Exkurse< zum Sinnträger einer größeren Dichtimg aufzubauen (so bei Avitus)69 und die (vor allem epische) Tradition der allegorischen Personifikation in die bibeltypologischen Responsionen zu integrieren (so bei Prudentius). Die Forschungen zur Allegorie haben die Leistungen dieser Phase - zu Unrecht - als die eigentlich neuartigen einer christlich-allegorischen Poetik hervorgehoben. Allerdings sind sie traditionsbestimmend 66 Sedulius, Carm. pasch. 3,1-11 (Opera omnia [Anm. 14], S. 65). 67 PL70,Sp.814B. 68 Vgl. die Buchschlüsse 1 und 2 und den Anfang von Buch 3 der Alethia; verwandt - und Beweis für die Werkeinheit - ist die Komposition von Ps.-Hilarius, Genesis und De Evangelio. 69 Vgl. De spir. bist. gest. 2,292ff.; 3,220ff.; 3,362ff.; 4,493ff. (postskriptural). 170
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geworden, traditionsbestimmend aber wurde auch das Auseinandertreten70 narrativer delectatio und spiritueller aedificatio, wie sie das System des Fulgentius trennen wird. [62] Denn nun ist deutlich geworden, daß aedificatio und delectatio in der Praxis christlich-exegetischer Dichtung ursprünglich keineswegs getrennt und nach dem Schema des Fulgentius der Ebene der historia (delectatio) und der Ebene des sensus spiritalis (aedificatio) zugeordnet sind. Das Problem dieser Begriffssynthese, insbesondere der Ort der aedificatio, beginnt sich zu lösen. Denn längst wird der Leser bei der Interpretation des Juvencustextes die Beobachtung gemacht haben, daß eben die Spirituals sierung durch paraphrastische Intensität samt ihrer ästhetischen Implikation, der transmimetischen Emotionalität, genau das >Erbauen< (dKOÖopf); aedificatio) umschreibt, wie es seit den Untersuchungen der Kunstgeschichte zum >Andachtsbild<71 und der Hagiographie zur Vitenlegende72 als genuin christliche Ästhetik herausgearbeitet wurde. Aber der Begriff des Erbaulichen wurde bisher stets partiell, nur für eng umgrenzte Gattungen bis zu einiger deskriptiver Deutlichkeit gebracht; auch wo er als ästhetischer Leitbegriff der christlichen Ausdruckswelt in der Spätantike und als Rezeptionsmedium für die antike Literatur verallgemeinert wurde,73 ist sein enges Verhältnis zur christlichen Bibel70 Mit ihm stellt sich das Problem, wie die deutende Auflösung der historia, also speziell die Allegorese, ästhetisch zu behandeln sei - Augustin hat es präzise am Beispiel prophetischer Metaphernsprache und der sie auflösenden Allegorese zu theologischer Begrifflichkeit umrissen (De doctr. christ. 2,6,7): den Hörer der Allegorese ergreift eine deutliche Unlust: »quid est ergo quod si haec quisque dicat minus delectat audientem?« - Die Lösung des hier zitierten Seduliustextes bleibt bis zum Ausgang der Spätantike sehr beliebt, ist aber nur sehr begrenzt möglich: die Einformung der spirituellen Auflösung selbst in eine Klassikerimitation. Durch das Vergilzitat (v. 11 ~ Georg. 1,448) gewährt die imitative Kongruenz zwischen Bibel und Klassiker (auch in den Kommentaren des Ambrosius und Hieronymus genutzt) dem Schrifttext die spirituell erforderte zweite Textfassimg; die poetische Tradition leistet auch hier noch die Darstellung des sensus interior. - Das Problem bleibt bis zum Frühmittelalter gegenwärtig (vgl. Avitus, De spir. bist. 5,15ff. und Odo von Cluny, Occupatio 2,248 und 517 - dort als Gegensatz zwischen der theorematica camena und den mimiloqui, quasi thema secuti). 71 Seit E. Panofsky, Imago Pietatis, in: Festschrift für M. J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 261ff. 72 Konsequent durchgeführt und verallgemeinert zuerst bei Th. Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, Tübingen 1964; in Detailuntersuchungen fortgesetzt bei H. Kech [Anm. 10] und A. Gier, Der Sünder als Beispiel, Frankfun/M. 1977. 73 Herzog, Die Bibelepik [Anm. 7], S. LXXVlff. 171
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO allegorese nicht gesehen worden. Der Grund liegt, wie sich zeigen wird, zum einen in einer Unterschätzung des Erbauungsbegriffes und der Unkenntnis seiner Begriffsgeschichte, zum andern in der fehlenden Berücksichtigung der griechisch-christlichen Literatur. Denn es läßt sich erweisen, daß in der alten Kirche gerade das Konzept literarischer otKoßqj^ zu eben jener Einheit von narrativer delectatio und spiritueller aedificatio ausgearbeitet wurde, wie wir sie in der frühen exegetischen Dichtung des 4. Jahrhunderts praktiziert sahen. Und dieses Konzept gelang durch etwas, das weder die Klassische Philologie noch die Allegorieforschung der christlichen Spätantike zugetraut haben: durch eine Rezeption der aristotelischen Poetik. Während die innerbiblische und frühkirchliche Geschichte des Begriffes >Erbauung< bis zu Clemens Alexandrinus hinreichend bekannt ist,74 hat der Mangel an Untersuchungen für die Spätantike zu einer gewissen Konfusion geführt und den Blick auf den poetologischen Rang des Erbauungskonzepts verstellt. Einerseits kennt die Geschichte der Bibelexegese den Terminus aedificatio als Bezeichnung für das System der Schriftsinne (seit Origenes);75 dieser Tradition entstammen auch die im Mittelalter tralatizisch gewordenen Veranschaulichungen des mehrfachen Schriftsinnes (Jundamentum, tectum, parietes; Edelsteinsymbolik).76 Andererseits ist das >Erbauen<, durch Zeugnisse des lateinischen Westens seit dem 4. Jahrhundert belegt,77 als theologisch-literarische Kategorie der Wirkungsästhetik, insbesondere für die Hagiographie, verwendet worden,
74 Vgl. H. Pohlmann, An. >Erbauung<, in: Reallexikon für Antike und Christentum 5, Stuttgart 1962, Sp. 1043ff.; R. Vielhauer, Oikodome, Heidelberg 1939; Schulmeister [Anm. 5]. 75 Vgl. vor allem Orig. De princ. 4,2,4. 76 Hierzu Schulmeister [Anm. 5], S. 18ff.; zur aedificatio als exegetischem Begriff vgl. die Übersicht bei H. de Lubac, Ex£g£se medievale. Les quatres sens de P&riture, Bd. II2, Paris 1964. 77 Wobei die kritische Übersicht bei Schulmeister [Anm. 5], S. 26ff. zeigt, daß die patristischen und minelalterUchen Belege kaum das tragen, was die hagiographische Forschung gern als zunehmende Asthetisierung von theologischen Konzepten (Kech [Anm. 10]) kennzeichnet und an den legendarischen Texten - ähnlich wie die vorliegende Untersuchung für die Poesie - als rezeptive Sättigung genuin christlicher Ausdrucksbedürfnisse (der Andacht) durch rhetorische Affektschemata beschrieben hat. Die Einführung des Terminus >Erbauung< bei Wolpers [Anm. 72], S. 3ff., zeigt denn auch, daß nicht eine deutUche Vorstellung von der altchristlichen ohco6opi<), sondern der Rückgriff auf die pietistische Erbauung die UteraturwissenschaftUche Renaissance dieses Konzepts in der Hagiographie vermittelt hat.
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ohne daß sie nach den spätantiken Texten tatsächlich auf Vorgänge der ästhetischen Erfahrung im Hörer /Leser verwiese.78 Offensichtlich liegt es an der unzureichenden Begriffsgeschichte von >£rbauung< nach den apostolischen Vätern, daß man sowohl die Verbindung zwischen der >exegetischen< und der >literarischen< wie auch besonders die Bindung beider an die soteriologischen und kerygmatischen Prozesse innerhalb der Gemeinde / Einzelseele, die das Bild ursprünglich veranschaulichte, vermißt. [63] Nun ist diese ursprüngliche Vorstellung, entgegen der Auffassung Pohlmanns, noch bei Origenes lebendig; und bei ihm - in den wenig beachteten Prophetenhomilien - findet sich auch die Ausarbeitung sowohl zum exegetischen wie zum wirkungsästhetischen Konzept. Im folgenden sei der Weg vom soteriologischen Bild bei Origenes bis zum literarisch-exegetischen Programm mitsamt einer Theorie der erbaulichen Affekterregung bei Johannes Chrysostomos nach den wichtigen Stationen skizziert. 1) Mit ausdrücklichem Bezug auf die gemeindlich-eschatologische aedificatio-Lehre des Pastor Hermae wird die Leistimg des Auferbauens durch spirituelles Schriftverständnis in die moralische Wandlung des einzelnen Gläubigen transformiert; spirituelles und literales Verständnis korrelieren der Anwesenheit von Tugenden und Lastern.79 2) Das Bild gewinnt metaphorische Breite durch exegetische Allegation (vor allem an lChron. 29,1): die erforderlichen Baumaterialien sind Xpvaös (>Gold<), apyupos (>Silber<) und X(6oi -ripioi (>Edelsteine<; schon bei Origenes zum Bild Edelsteine — Tugenden ausgeformt), schlecht und unverwertbar hingegen sind %J\CL (>Holz<), yägrros (>Heu<) und KciXapos (>Schilf<) - was diese Metaphern bedeuten, wird noch nicht expliziert.80 3) Weiter zur negativen Seite wird das Bild durch Einführung der OIKO5o^f] 8iaß6Aou (>Erbauung des Teufels<, In Jerem. hom. 1,15); sie allegiert Matth. 16,17f. (Pforten der Hölle als Gegensatz zum Petersfelsen). 78 Nur ein in der hagiographischen Forschung vernachlässigter Text der lateinischen Spätantike wendet sich den Wirkungen christlicher Literatur unter dem Aspekt der aedificatio ausführlich zu: Augustinus, De doctr. christ. l,35,39ff. Augustin knüpft hier die Exegese an deren Vermittlung und stellt den Grundsatz auf: »quisquis igitur scripturas divinas intellexisse sibi videtur ita ut eo intellectu non aedificet caritatem dei et proximi, nondum intellexit« (1,36,40). Es folgt eine Übertragung der paulinischen Dreiheit Glaube, Liebe, Hoffnung auf die Vorgänge im hörenden Objekt dieser aedificatio (l,37,41f.). 79 Vgl. In Ezech. hom. 13,3 (GCS Werke VHI, S. 448f.). 80 Vgl. In ]ercm. hom. 16,5 (GCS Werke III, S. 137,28ff.) und in Ezech. hom. 1,3 (GCS Werke VHI, S. 324). 173
EXEGESE - ERBA UUNG - DELECTA TIO 4) Wichtig für die spätere Wandlung zum literarischen Konzept wird die bisher übersehene, zuerst bei Origenes auftretende Bilderweiterung durch die Ka8odpeois (>Abriß<, >Zerstörung<) als notwendiger Voraussetzung der otKoSotii*): vor jedem (spirituellen) Fundament muß zunächst einmal altes Bauwerk eingerissen werden - nämlich die, zunächst noch angedeutete, dKoSop^ SiaßöAou.'1 Origenes versichert geradezu die Identität beider Phasen: »usque ad hodiernum diem est disperdere et aedificare.«*2 5) In den griechischen Exzerpten aus den Jeremiashomilien werden die Metaphern zum ersten Mal über die Deutimg auf Tugenden und Laster hinaus aufgelöst: das Gold bedeute <5tAr)8ria$ T6 6öyporra (>Wahrheitslehre n<), das Silber den Xöyos acoTf|pios (>Heilswort<); nur die Edelsteine bleiben noch Tugenden.13 Dieser Übergang84 zur antihäretischen Deutung wird dann in namentlicher Nennung Marcions und gnostischer Widersacher vollendet: die Gegner, indem sie vf^uScovupöv -nva yvcoaiv (>eine fälschlich so genannte Erkenntnis<) verbreiteten, COKO86PTI<J€V $8OU iruÄriv (>erbauten sie [im Griechischen Sing.] eine Unterweltspforte<; vgl. Matth. 16,17f.).85 6) Den - entscheidenden - Schritt von der antihäretischen Lehre zur paganen Literatur als der >schlechten< Erbauung vollzog zuerst Basilios in seinen Mönchskonstitutionen: die eCnparreAfca (>Scherzworte<) sind das genaue Widerspiel der christlichen otKoSopi^.86 7) Der Abschluß dieser Entwicklung wird von Basilios (Ad iuvenes) und Johannes Chrysostomos (De inani gloria) erreicht. Erhalten bleibt der zweifache Aspekt der OIKO8OHI*|, Abreißen und Aufbauen - die systematische Energie liegt auf dem ersteren. Bei Basilios werden erstmals die seelischen Vorgänge im Hörer erfaßt; die Koöcdpcois des Origenes wird nun als Kdöapois HA^S (>Läuterung der Seele<) bezeichnet;17 das Einreißen der Erbauung des Teufels beseitigt TÖCS 816 TGOV cdoOifaHcov f|8oväs (>die sinnlichen Vergnügungen<),M präziser: die pagane Poesie.89 Die eigent81 Vgl. Injerem. hom. 1,15 (GCS Werke DU, S. 13f.) und 16 (ebd. S. 15,12ff.). 82 In Ezech. hom. 1,12 (GCS Werke Vm, S. 336,19f.). 83 Vgl. Sei. in Jerem., PG 13, Sp. 568C-D. 84 Er wird Comm. in Matth. UM (GCS Werke X, S. 91) fühlbar; neben der Gnosis steht hier als Erbauung des Teufels nochTOpvda(>Unzucht<) und Apvrpis (>Verleugnung des Glaubens<). 85 Vgl. Comm. in Matth. 12,12 (GCS Werke X, S. 91f.) und In Ezech. hom. 8,2 (GCS Werke VHI, S. 402f.). 86 Vgl. PG 31, Sp. 1376A-B (Kap. 12). 87 Adiuv.%7. 88 Adiuv.9,7. 174
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liehe olKo5oprj bleibt die spirituelle Vermittlung der Schrift; und Chrysostomos ist es gelungen, die bei Basilios noch nebeneinanderstehenden apologetisch-literarischen und exegetischen Funktionen des Bildes zu verschmelzen: durch die Theorie [64] geistlicher iräöos (>Leidenschafts<)-Erregung. Kann das Einreißen der schlechten Seelen-Bauten nur als Reinigung von unerwünschten iräßj) (>Leidenschaften<) verstanden werden,90 so erkennt Chrysostomos, daß diese Vertreibung nur durch die Erregung neuer, erwünschter TTÖCÖTI möglich ist - und diese Erregung ist bereits der erste Schritt des Bauens (im Bilde des Chrysostomos: die Errichtimg goldener Stadtmauern - das Gold behält also seinen fundamentalen Platz, den es bei Origenes vor Silber und Edelsteinen fand). Chrysostomos hat diese Lösung durch Rezeption aristotelischer Begrifflichkeit gefunden. Im einzelnen bewegt sich die Argumentation folgendermaßen:91 Katharsis von der alten affektiven Verfallenheit an die >Mythen< kann nur durch das Gefühl der Glaubhaftigkeit (aristotelisch: Tn8av6v) neuer (biblischer) >Erzählzusammenhänge< (6uTyfyAOTa) erzielt werden.92 Man hat dem zu Bekehrenden (oder dem Kind) entsprechende biblische Sujets darzubieten - Chrysostomos schildert sie unbefangen aristotelisch ihrerseits als >Mythen< im Sinne von Erzählungen, so in der Konfrontation von Argonautensage und Mord an Abel. Erst das in0av6v vermag durch die Erregung von 96ßos (>Furcht<) (sowie cd8cbs, >Scham<) die kathartische Erschütterung zu vollenden; es gilt die Regel A£ye <poßepcoTEpa 8iTiyf|ionra (>erzähle Geschichten, die mehr Furcht erregen<)93 - es ist die Forderung nach dem attonitus Stupor, der den biblischen Szenen des Juvencus aufgeprägt ist. Chrysostomos verdeutlicht die affektive Erschütterung durch eine modellartige narratio von Jakob und Esau: neben dem Schrecken über die Verfluchung Esaus soll die Empörung über die Lüge Jakobs und schließÜch >Mitleid< (üAeos) über Esau erlebt werden auch die miseratio der christlich-poetischen Erbaulichkeit begegnet sich hier in der aristotelischen Kategorie wieder. Es ist bezeichnend, daß sich mit dem ästhetischen Verständnis auch die Bildhaftigkeit der Erbauungsvorstellung wandelt. In der Schrift De inani gloria ist das goldene Fundament der Glaubhaftigkeit - auch bei Augustin ist die fides das psychische Fundament der aedificatio - zu einer von 89 Adiuv.9fi. 90 Vgl. Ad iuv. 9,7. 91 Vgl. De inan. glor. 38ff. (hrsg. von A.-M. Malingrey, Paris 1972 - Sources chretiennes 188). 92 Vgl. De inan. glor. 39. 93 De inan. glor. 52. 175
EXEGESE - ERBA UUNG - DELECTA TIO Toren durchbrochenen Stadtmauer geworden; ausdrücklich deutet Chrysostomos die Pforten94 als die Tore der Sinneswahrnehmungen. Man sieht, wie das architektonische Bild durch die Kombination mit der tcäOapotsLehre porös wird: nur die Bildvermischung von Kehraus und Aufbau kann noch ausdrücken, was hier geschehen ist: die theoretische Verschmelzung von Allegorese und Affekt, die ein Auseinandertreten der Phasen,95 ein Auseinandertreten von rhetorisch-ekphrastischer Realistik und hermeneutischer Enthüllung, von delectare und docere negiert. In dieser Verschmelzung ist die Schrifterklärung durch ein Konzept der gezielten seelischen Wirkungen ergänzt worden. Das Verständnis des sensus interior der Schrift, von Chrysostomos schlechtweg als 91x0009b bezeichnet,96 wird erst die Verwandlung des Gläubigen in die Edelsteinbekrönung der Mauern vollbringen; möglich aber ist sie nur durch die Mitwirkung der delectatio: KcnrccyAOKcavc T6 StTiyifycnra (>versüße die Geschichten<).97 Es ist unwahrscheinlich, daß diese Erbauungsästhetik auf den griechischen Osten beschränkt ist; ich verweise vorderhand auf Augustins Scheidimg in purificatio und ascensio?* auf seine Empfehlung der Affekterregung bei der Katechese (»severitate Deiy qua corda mortalium saluberrimo terrore quatiantur, Caritas aedificanda est«)9* und seine Empfehlung stilistischer Mühe zum Erreichen der [65] Caritas im Hörer (»stilo sonantiore et quasi tornatiore eloquio Caritas scripturarum intimanda «f«).100 Die Nachwirkimg der aristotelischen Poetik war in der Spätantike bisher nur bei Simplikios faßbar. Daß es der Reflexion über christliches Erbauen als sinnvoll erscheinen konnte, das mOavöv ihrer 6iTiyf||jiorra darzustellen, und als erstrebenswert, in dieser Darstellung eine KÖcOapois durch 9Ößos und SÄEOS ZU erreichen - dies kann nicht nur die Allegorieforschung zu einer stärkeren Beachtung der emotionalen Voraussetzungen 94 Vielleicht im Anschluß an das Bild von den >Pforten der Hölle< bei Origenes; doch überschreitet die den ganzen ersten Teil der Homilie ausfüllende Bildlichkeit von der Stadt, den Mauern, ja ihren Gesetzen weit die origenistischen Ansätze (als erste Erweiterung der Erbauungsmetapher zum Bild ist der Hinweis des Origenes auf das refrigerium seines spirituellen aedificium (— Taufe), dessen Fenster (~ spirituelles Sehen) und dessen Mennigeanstrich (~- Christi Blut) Sei. in Jerem., PG 13, Sp. 569, zu nennen). 95 Hier eine einheitliche Bildebene zufinden,ist seit dem Pastor Hermae bis zur Psychomachie des Prudentius (beide: Kampf; dann Bau) ein Problem gewesen. 96 De inan. glor. 46. 97 De inan. glor. 39. 98 De doctr. christ. 2,7. 99 De catech. rud. 9. 100 De catech. rud. 12f. 176
EXEGESE - ERBAUUNG - DELECTATIO
und Konnotationen der altchristlichen Texte führen; es kann auch zu einer Korrektur von der Vorstellung einer nur mit »denkwürdiger Verspätung«, in der Romantik erreichten christlichen Poetik, die für das Mittelalter »postulierbar, nicht eigenständig bezeugt« sei,101 Anlaß geben. Die Leistung ästhetischer Erfahrung in der christlichen Spätantike weist sich nicht nur in dem Neueinsatz einer allegorischen Poesie des Unsichtbaren; man kann sie auch in dem Erbe einer aristotelischen Erbauung erkennen.
101 Jauß, Ästhetische Erfahrung [Anm. 5], S. 142. 177
Rom und Altes Testament Ein Problem in der Dichtung des Prudentius
»... ut in Abrahaefilios et in Israeliticam dignitatem totius mundi transeat plenitudo.« Oration nach der vierten Karsamstagslesung Nicht auf Aeneas und seine Trojaner geht die Gründung Roms zurück. Noah landete mit seiner Sippe an der lavinischen Küste; als seine entarteten Nachkommen Babylon gegründet hatten, war er mit seinem Schiff nach Italien gefahren. Sein Sohn ist Janus; er erbaute mit einem >zweiten< Janus, dem Sohn Japhets, und der Ureinwohnerin Camesa1 auf dem Palatin »civitatem Ianiculum«. Aber auch der babylonische Tyrann Nimrod, »qui et Saturnus a love eunuchizatus«, segelte nach Italien und gründete eine zweite civitas auf dem Kapitol. Aus beiden civitates entstand Rom. So der Bericht der frühmittelalterlichen Graphia aureae urbis Romae.2 Soweit ich sehe, wird hier zum ersten Mal in der christlichen Tradition eine alttestamentarische Abkunft der Römer in den trojanischen Gründungsmythos eingearbeitet. Die antiken Elemente dieser Synthese sind zumeist bekannt, und eine spekulative Linie von der Völkertafel der Genesis bis hin zu den Römern ist für das christliche Geschichtsdenken3
Aus: De Tertullien aux Mozarabes. Milanges offerts a Jacques Fontaine (...), a l'occasion de son 70e anniversaire (...), hrsg. von Louis Holtz und Jean-Claude Fredouille (Collection des ttudes Augustiniennes. Serie Antiquiti 132), Bd. 1: Antiquiti tardive et christianisme ancien {IIIe VIe siecles), Paris: Institut d'ttudes Augustiniennes 1992, S. 551-570. 1 Vgl. Serv. Aen. 8,330 (Camesene: Gattin des Cameses) und Macr. Sat. 1,7,19 (Cameses als Mitregent des Janus). 2 Beste Darstellung und Diskussion noch bei A. Graf, Roma nella memoria e nelle immaginazioni del medio evo, Turin 1915, S. 46f., 67f. 3 Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 1, Stuttgart 1957, S. 233. Zum judenchristlichen Hintergrund solcher Völker-Genealogien vgl. H. G. Kippenberg, Die jüdischen Überlieferungen als >patrioi nomoi<, in: Die Restauration der Gotter,
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS bereits seit den pseudoklementinischen Rekognitionen prinzipiell angelegt. Auch die historische Denkform, die Genealogie, ist erkennbar und legt es nahe, die Erzählung den mannigfachen [552] frühmittelalterlichen origines gentium mit ihren nicht seltenen4 Rückführungen auf Troja zuzuordnen. Am nächsten steht die fränkische Trojasage,5 die in ihrer ersten Ausprägung (Fredegar) sich an die Stelle der römischen Aeneaden setzt, in der späteren Form (des Liber historiae Francorum) beide, die fränkischen und römischen, origines parallelisiert. Aber der Vergleich zeigt, daß der biblische Patriarch als Gründer Roms eben nicht jene Legitimation, speziell der translatiof zu erbringen hat, wie sie die barbarischen Trojasagen leisten sollen; in diesen blieb Rom selbst ausgespart, es wurde ersetzt. Vielmehr deutet die alttestamentarische Abkunft Roms darauf hin, daß diese genealogische Form des Romgedankens die Vorgeschichte des Aeneadenmythos durch eine Vorgeschichte des Alten Bundes ersetzen will. Sie verweist damit auf eine christliche Anschauung von Rom, die dessen >Vorgeschichte< in jene Spannung zur Gegenwart einformt, wie sie zwischen dem Alten Bund und der Ecclesia besteht. Eine solche Geschichtssicht muß in die Spätantike zurückführen; ihr Kern ist das (bisher wenig beachtete)7 Phänomen einer Einschmelzung des alten Rom in das Alte Testament. Zu fragen ist nach seinen Gründen und seiner Rückwirkung auf ein typologisches Verständnis des heidnisch-alten Rom gegenüber dem christlichen. Die Beachtung dieses Phänomens könnte es erlauben, sich dem zentralen Problem des spätantiken Romdenkens, der Differenzierung (oder Identität) von christlichem Rom und Kirche, unter einem neuen Aspekt zu nähern. Nun läßt sich wirklich zeigen, daß die genealogische Ableitung Roms aus dem A T eine (soweit uns erkennbar: abschließende) Stufe spätantiken Romdenkens gewesen ist. Bereits im dritten Buch der Landes Dei des hrsg. von R. Faber und R. Schlesier, Würzburg 1986, S. 45-60. Über die zugrundeliegende jüdische Tradition wird noch zu handeln sein. 4 Vgl. H. Hommel, Die trojanische Herkunft der Franken, in: Rheinisches Museum 99,1956, S. 323-341. 5 Vgl. zuletzt F. Graus, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, hrsg. von W. Erzgräber, Sigmaringen 1989, S. 25-43 (mit Literatur). 6 Hierzu K. Heisig, Zur fränkischen Trojasage, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 90,1974, S. 441-448. 7 Es erscheint in den mannigfachen Untersuchungen zur Kirche als dem Verus Israel nur am Rande; für eine frühe Phase wird es untersucht von R. J. Vair, The Old Testament promise of the land as reinterpreted in first and second Century Christian literature, Diss. Berkeley 1979.
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ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS
spätlateinischen Dichters Dracontius finden wir die Römer genealogisch ins AT versetzt (3,144-149): »quidpater Abraham, quid Isac meruisse legunturf horum posteritas replevit gentibus orbem. 145 barbaries nee sola datur de germine iusto, et Romana manus hoc est de sanguine fusa. dat maior gentile genus germanus et hostis, et minor eduxit nos munera pacis amantes.« [553] Diese Genealogie, die bisher nicht erklärt war,8 wurzelt in einer Tradition spätjüdischer Romfeindlichkeit (faßbar 4Esdra 6,8-10 und Jubil. 35,13),9 die Rom erstmals auf Esau (Edom) zurückführte. Mit der Aufnahme der Genealogie durch Dracontius aber ergibt sich das Problem des Textverständnisses neu. V. 146ff. beziehen sich nicht wie die bekannte Allegorie des Galaterbriefs auf Abrahams, sondern auf Isaaks Söhne Esau (»maior germanus«) und Jakob (»minor«). Wie werden diese Söhne geschichtlich gedeutet? Dracontius will sagen: die Nachkommenschaft der Patriarchen bevölkerte die ganze Welt (145), das »germen iustum« (Isaak) erzeugte nicht nur im geistlichen Sinne >negative< Nachkommenschaft (zusammengefaßt 148; zuvor entfaltet 146f.), sondern auch »nos« (149). »Wir«, die Friedliebenden, sind Abkömmlinge »Jakobs« (die Kirche als Erbe Israels); »Esau« erzeugte nach 148 das »heidnische Geschlecht« und die »Feinde«. Die »Feinde« werden in 146f. erklärt als »barbaries«, das »heidnische Geschlecht« als »Romana manus«.10 8 Einzig der Dracontiuskommentar des Arevalo (ad loc) nimmt Anstoß mit der Bemerkung, die Römer stammten doch nicht von Esau ab. - Der Verf. ist W. Scheuer für eine ausführliche Diskussion des Problems verbunden. 9 Diese Tradition wird im folgenden zur Sprache kommen; beste Übersicht über ihre Geschichte: M. Delcor, La prophetie de Daniel, in: Popoli e spazio Romano tra diritto e profezia (Da Roma alla terza Roma Hl), Neapel 1986, S. llff.; bes. S. 15-20 (mit Literatur). Die Genealogie blieb auch in der jüdischen Tradition lebendig, vor allem bei Nachmanides. Vgl. G. Cohen, Esau as symbol in early medieval thought, in: Jewish medieval and Renaissance studies, hrsg. von A. Altmann, Cambridge/Mass. 1967, S. 19-48, und M. Funkenstein, Nahmanides' symbolical reading of history, in: Studies in Jewish mysticism, hrsg. von J. Dan, Cambridge/Mass. 1978, S. 129-150. 10 Moussy (Dracontius, hrsg. von Ch. Moussy, Bd. 2, Paris 1988, S. 23) übersetzt 148 »Le frere aine a engendre la race belliqueuse des paiens«;richtighingegen hatte bereits Vollmer (MGH. AA 14, Berlin 1905, S. 358 s.v. »hostis«) den Acc. plur. (»opp. munera pacis amantes«) erkannt: heidnisches Rom wie Barbaren wer181
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS Nun kann die Abwesenheit der Juden in der Genealogie des Dracontius nicht überraschen: sie sind in der Auffassung der »vera propago« (150) als Verus Israel der Kirche, als Christenheit, aufgegangen. Das >Alte Testament< als Welt halten somit, zumindest genealogisch, neben der Christenheit die >Barbaren< und >Rom< besetzt. Letzteres vor allem verdient nähere Beachtimg: es ist das heidnische Rom, es ist nicht ein Rom, mit dem das »nos« des Dichters sich identifiziert, und [554] es gehört nicht mehr der entscheidenden Phase der Heilsgeschichte an.11 Vielleicht erfassen wir mit der besonderen Form dieses genealogisch fundierten Romden gemeinsam der Christenheit genealogisch gegenübergestellt. Dies beweist vollends der Kontext 150ff.: einfingierterEinwand fragt, wie neben der »wahren« Patriarchenabkunft noch hätten gezeugt sein können a) die »immites, qui gaudent sanguine fuso« (152), b) »zugleich« (»simul«> d.h. in der Zwillingsgeburt) »feritate cruentos« (153) - eine deutliche Unterscheidung zwischen dem (heidnisch aufgefaßten) Rom (unterstrichen noch durch die Anspielung auf Lucan. 4,278 »gaudebit sanguine fuso«) und den (wilden) Barbaren. - Damit ist auch die Bemerkung I. Opelts (s.v. >Barbar<, Jahrbuch für Antike und Christentum 10, 1967, S. 271) hinfällig, die »barbaries« auf die Juden beziehen will. 11 »Barbaries« müßte andernfalls mit »nos munera pacis amantes« (149) identisch sein oder zumindest die typologische Spannung Juden-Christen ausdrücken; »barbaries« verweist aber nach dem Kontext als eindeutiger Begriff auf 147f. Eine letzte Deutung hat, wie aus seinem Index s.v. Romanus hervorgeht, implizit Vollmer [Anm. 10] und mit ihm wohl bisher die communis opinio vertreten: nach 145 (Verbreitung durch die ganze Welt) wird gegliedert in »barbaries« und »Romana manus« (146f.); 148 erläutert die »barbaries«* 149 bezieht das friedliebende »Wir« auf Rom - dies ergäbe ein sehr stark hervorgehobenes christliches Rombild. Diese Deutung erscheint ausgeschlossen: 1) wegen der eindeutigen genealogischen Tradition Esau-Rom, 2) durch die genannte Differenzierung innerhalb 148 (»gentile genus« und »hostis«)y die in 152ff., wie erörtert, entfaltet wird, 3) widerspricht sie dem ausdrücklich formulierten Verhältnis von Rom und Kirche im dritten Buch der Laudes dei. Rom, wie auch sonst bei Dracontius, ist das Rom der entfernten, für bella und virtus exemplarischen Nation; es hat lange Christus nicht gekannt (232); ausdrücklich nimmt der Dichter 466f. das Bild von den »munera« (»aeternae vitae«) auf, und konfrontiert ihnen das Bild des kriegerischen, dann milde herrschenden Roms (457ff. - eine Rezeption der Vergilverse von der Sendung Roms). Dieses Rom konnte auf keines der »munera« hoffen, auf die »wir« hoffen. Ausdrücklich ordnet Dracontius in der folgenden Argumentation (156-168, einer der deutlichsten Rezeptionen der augustinischen cwitates-Lehre in der Spätantike) die Heilsgeschichte (die »tempora mundi«) der »propago« »vom Anfang der Welt« (161) bis zur Gegenwart zu: Krieg und Frieden seien die beiden >Zustände< der Weltgeschichte, die sich eben durch die Verteilung der von Isaak stammenden »gentes« (Barbaren, Römer, »nos«) zweiteile und so Isaaks Geschlecht die ganze Welt, zeitlich und räumlich, gegeben habe. 182
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS bildes eine bisher nicht beachtete Ausprägung der christlichen Romidee auch in der Poesie; möglicherweise läßt sich seine Vorbereitimg bereits in dem scheinbar von der Forschung so hell erleuchteten Gelände der christlichen Romideologie oder gar >Romtheologie< der theodosianischen Zeit erkennen. Eben das unverwechselbare Gepräge des dracontianischen Denkbildes, das heilsgeschichtliche Verhältnis zwischen Juden, Kirche, Barbaren und Rom - wobei zugleich die Juden in der Erfüllung der Ecclesia zurücktreten und Rom auf seine heidnische Vorgeschichte zurückgestuft wird -, würde hierbei als Ausgangspunkt dienen; einen Leitfaden könnte die Transformation von Römischem in Alttestamentarisches an die Hand geben. Eine solche Untersuchung kann hier nicht vorweggenommen werden; es soll im folgenden beim Hinweis auf das Problem und bei der Erläuterung einzelner Aspekte bleiben. Nicht zufällig wenden diese Hinweise sich mit einigen Interpretationen Prudentius zu; der Jubilar, dem diese Bemerkungen gewidmet sind, hat in einer Vielzahl von Interpretationen das Werk des spanischen Dichters als Höhepunkt christlich-poetischen Romdenkens in der Spätantike gewürdigt. Und es läßt sich zeigen, daß das Verhältnis von Rom und Altem Testament Prudentius beschäftigt hat, daß er es in seinem gesamten Werk zu gestalten gesucht hat. [555] Ich knüpfe an eine unauffällige Versreihe an, die vor ganz ähnliche Fragen wie die Genealogie des Dracontius stellt. Prudentius schildert ham. 484ff. Jerusalem als befestigte Stadt, die Angriffen erst dann auf Dauer trotzen könne, wenn Christus als Schlußstein (Matth. 21,42) die Mauer krönt (496f.): »non illum regina Tyri, non accola magni Euphratis Parthus rapiet, non decolor Indus (...)«. Die Anwesenheit konkreter Feinde des historischen Rom im Kontext des Alten Testaments, unter ihnen Didos als »regina Tyri«> hat befremdet;12 ihre Deutung ist bis heute kontrovers13 und rührt an das schwierigste Pro12 Sie stieß von Arevalo bis zum Kommentar Lavarennes (ad loc: »symbolisme obscur«) auf Unverständnis; anders erst im Kommentar Stams, mit dem sich die Deutung auf Dido durchsetzte (vgl. die Übersicht bei R. Palla, Hamartigenia, Pisa 1981, ad loc). 13 Vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S. 101: »nicht sowohl geistliche Feinde, als die Gegner des römischen Reiches«; vgl. auch Palla [Anm. 12], S. 33f., der in der Einleitung zu seinem Kommentar die Verschmelzung von Biblischem und Römischem an dieser Stelle als einen der ästhetischen Höhepunkte des Gedichts wertet (33f.). Dagegen V. Buchheit, Prudentius 183
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS blem der christlichen Romidee: erhält Rom in der auf die Schrift gegründeten Heilsgeschichte eine eigene Funktion? Der mit kam. 484ff. einsetzende Kontext der Belagerung Jerusalems war in dem Gedicht über die Entstehung des Bösen 126 (mit dem Auftritt des Teufels als Ursache), sodann ab 406, der konsequenten Einführung des Kriegsbildes, vorbereitet worden.14 Ziel der Angriffe ist das »Menschengeschlecht« (406; vgl. 377 und noch 445). Die ab 389 z.T. als Personifikationen greifbar werdenden Angreifer unter der Leitung des Teufels erhalten durchweg Züge barbarischer Fremdvölker/ 5 ab 409 aber wandeln sie sich zu den alttestamentarischen Gegnern Israels bei dessen Landnahme.16 Diese Wandlung, die zugleich die unaufhörliche Auseinandersetzung mit dem Bösen in geschichtliches Denken einbettet, erschließt sich nur einem spirituellen Verständnis,17 das vollends ab 445 gefordert wird: die »facta sub legis umbra« gelten allgemein und insbesondere für den Verus Israel der Kirche; ein Erfolg seiner spirituellen Feinde - die weiterhin als Barbaren dargestellt sind! - würde, auf das Alte Testament zurückbezogen, ein »Babylon« (448) für die »Jakobsnachkommenschaft« (452) der Christen bedeuten. Die bekannten und allgemein gültigen Voraussetzungen für dieses spirituelle Verständnis werden noch bei Dracontius zu einer - sieht man von der genealogischen Überformung des sensus spiritalis ab - vergleichbaren Zuordnung von Barbaren, Juden und [556] Christen und ihrer Anwesenheit im Alten Testament führen. Auch das Teil-Bild vom belagerten18 Jerusalem wird durch die Einfügung des >Schlußsteins< sowie durch einen trinitarischen Akzent 19 zwanglos als das allegorische Bild von der unüberwindlichen Zionsstadt sichtbar, die von ihren kirchlichen Fundamenten auf Erden bis »über die Wolken« (485) ins Eschaton reicht.20 In dieses Bild aber scheinen nimmehr, anders als bei Dracontius, auch die Feinde Roms über Gesittung durch Eroberung und Bekehrung, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 11, 1985, S. 195, Anm. 46: »diese Namen fungieren ... als Reiche des Teufels«. 14 Vgl. Herzog [Anm. 13], S. 96-102. 15 Diesen Zug hebt zu Recht Buchheit [Anm. 13], S. 195ff. hervor. 16 Vgl. Herzog [Anm. 13], S. 99f. und Palla [Anm. 12], ad loc. 17 Die »allegorische Partie der Hamartigenie (452-503)« (Chr. Gnilka, Exegetische Bemerkungen zu Prudentius' Hamartigenie, in: Hermes 111, 1983, S. 350) bahnt sich also bereits 409ff. an. 18 Unrichtig D. Shanzer, Allegory and reality, in: Illinois Classical Studies 14, 1989, S. 360, Anm. 106, zur Stelle: »does not employ the image of the embattled city«. 19 V.493f. 20 Zur Tradition und Ausprägung dieses Bildes (insbesondere bei Eusebius):
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ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS - neben den Puniern die Parther und >Inder< - eingefügt. Ist damit das spiritualisierte Zion des Alten Testaments zu Rom geworden? Oder wie ist dessen Verhältnis zur Kirche, zur Stadt des »Jakobssamens« vom Dichter aufgefaßt worden? Partizipiert Rom gar an der eschatologischen Dimension dieser >Stadt Eben der Aufweis solcher >Romtheologie< bei Prudentius hat die Forschung beschäftigt, seit im Anschluß an C. Schmitts Begriff der politischen Theologie< und die lang anhaltende Kontroverse um die Deutung der augustinischen civitates-Lehre21 die mit der providentiellen Rolle Roms und insbesondere der tempora christiana befaßte >Reichstheologie< seit Melito von Sardes und Origenes zur Untersuchung stand.22 Prudentius wurde, nach ersten Andeutungen Klingners,23 von Buchheit in einer bahnbrechenden Studie zu per. 2 aus dieser Perspektive gedeutet.24 Sah noch Klingner in den beiden überwiegend als zentral für die prudentianische Romidee angesehenen Werken - c. Symm. und per. 2 - bei Prudentius »die ganze altrömische Romidee« in das christliche Geschichtsverständnis integriert,25 Fuhrmann hingegen die nationalistische Romideologie der augusteischen Zeit in den Zeugnissen der heidnischen und christlichen Spätantike zur zivilisatorischen [557] und universalistischen Romidee gewandelt,26 so unternahm es Buchheit zu zeigen, wie der Dichter in einer engen und detailgenau Vergil kontrastierenden Auseinandersetzung R. Farina, L'impero e l'imperatore cristiano in Eusebio di Cesarea, Zürich 1966, S. 289f. 21 Vgl. den vorzüglichen Forschungsbericht K. Thraedes, Das antike Rom in Augustins De civitate dei, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 20,1977, S. 90148. 22 Bequemer Überblick über die Geschichte der Forschung bei G. Torti, Patriae sua gloria Christus, in: Rendiconti dell'Istituto Lombardo, Classe di Lauere 104, 1970, S. 341ff. Auf Prudentius hatte ihre Untersuchung bereits ausgedehnt M. Bolwin, Die christlichen Vorstellungen vom Weltberuf der Roma aeterna bis auf Leo den Großen, Diss. Münster 1923; gründliche und wirksame Präsentation des Materials zuerst bei E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem (zuerst 1935), München 1951, S. 78ff. 23 F. Klingner, Rom als Idee, in: Antike 3,1927, S. 17ff. 24 V. Buchheit, Christliche Rom-Ideologie im Laurentius-Hymnus des Prudentius, in: Polychronion. Festschrift F. Dölger, Heidelberg 1966, S. 121-144. 25 Klingner [Anm. 23], S. 30. Ahnlich, aber das Phänomen als marginale Verbrämung einschätzend, K. Thraede, Rom und der Märtyrer in Prudentius* per. 2,120, in: Romanitas et Christianitas. Festschrift J. H. Waszink, Amsterdam 1973, S. 317-327. 26 M. Fuhrmann, Die Romidee der Spätantike, in: Historische Zeitschrift 207, 1968, S. 529-561.
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ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS mit der alten Romidee ein spiritualisiertes Rom erstehen läßt, das sich in der »caelestis Roma« (per. 2) vollendet. Von der Struktur der allegorischen Deutungsebenen in der altchristlichen Exegese ausgehend, bin ich zu einer noch weitergehenden Deutung gelangt:27 die heilsgeschichtlichtypologischen Spiritualisierungen nutze Prudentius nach ihren ekklesiologischen und eschatologischen Aspekten auch für den Einbau Roms in das providentielle Geschehen - und zwar sowohl als Einheit von »EkklesiaRoma«11 in der Phase der tempora cbristiana, wie als Übergang »ins Eschatologische«29 (vgl. c. Symm. 2,634ff.). Dieser letzten Interpretation, aber auch einer eindeutigen Identifikation Roms mit der Kirche, widersprach vor allem Torti,30 ihr folgten jedoch im wesentlichen Fuhrmann,31 Fontaine und Klein.32 Die stets um die gleichen Stellen kreisende Kontroverse ruht eher, als daß sie zu einer Lösimg geführt worden wäre.33 Nun kann die Partie kam. 409ff. im Vergleich zu Laudes dei 3,144ff. als Exempel dafür dienen, daß die Frage nach der heilsgeschichtlichen Funktion Roms bei Prudentius aus bestimmten Gründen zu kurz griff. Zunächst ist die Stelle noch keineswegs hinreichend genau interpretiert. Rom erscheint - und zwar nicht nur indirekt, im Spiegel seiner historischen Feinde wie in 496f. - nicht plötzlich; es ist im biblischen Kontext schon länger spürbar. Gnilka hat auf die Kontrastimitation zu Vergil aufmerksam gemacht, durch die 455ff. die in >babylonischer< Gefangenschaft den »mores patrii« Entfremdeten im Gegensatz zu den UrItalikern Aen. 12,823ff. ihre Sprache und Kleidung aufgeben.34 Unmittel27 Herzog [Anm. 13], passim. 28 Herzog [Anm. 13], S. 116. 29 Herzog[Anm. 13],S. 115. 30 Toiti[Anm.22],S.350ff. 31 Fuhrmann [Anm. 26], S. 556: »Rom geht in der Kirche oder die Kirche in Rom auf.« 32 J. Fontaine, La derni£re epopee de la Rome chretienne: le Contre Symmaque de Prudence, in: Vita Latina 81, 1981, S. 12 (»continuite sinon coincidence entre les deux cites«); R. Klein, Das spätantike Romverständnis vor Augustin, in: Bonner Jahrbücher 185,1985, S. 97-142. 33 Vgl. Buchheits zweite Untersuchung zur Frage [Anm. 13], der nunmehr von Romidee sun von Romideologie spricht und die Tradition der Reichstheologie in manchen Punkten differenziert. Repräsentativ für den Stand der Diskussion die offene Formulierung A. Dihles (Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit, München 1989, S. 597), bei Prudentius liege eine »Verknüpfung der Romidee mit dem Christentum« vor. 34 Gnilka [Anm. 17], S. 349f. Auch die Bezeichnung >Jerusalems< als »structam tantis sudoribus urbem« (484) verdient in diesem Zusammenhang Beachtung.
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bar vor der Apostrophe des belagerten >Jerusalem< [558] hatte Prudentius 480-482 an den biblisch negativ bewerteten Wiederaufbau des von Gott zerstörten Jericho35 erinnert. Diesen alttestamentarischen Geschehenszusammenhang36 hat die patristische Exegese zu einem heilsgeschichtlichen Ensemble von der Zerstörung Jerichos, der Errettimg Rahabs, der Stammutter des davidisch-messianischen Geschlechts, und dem Verbot des Wiederaufbaus der zerstörten Stadt entwickelt,37 das Prudentius durch die geniale Rezeption eines Klassikerzitats - Hör. carm. 3,3,65f.:38 das Verbot Junos, das zerstörte Troja, aus dem sich die Aeneaden gerettet haben, wiederaufzubauen - dem Geschehensbogen der Aeneis eingeformt hat, einem Geschehensbogen, den er darüber hinaus - und zwar wiederum in der Formulierung der horazischen Dichtung über das Verhältnis von Troja und Rom,39 carm. 3,3 - auf dem Höhepunkt seiner Romdichtung, im Laurentiushymnusper. 2, erneut anklingen läßt.40 Wir stehen hier an einem bisher nicht erfaßten41 Zentrum der prudentianischen Spiritualisierung des römischen Geschichtssinnes, wie ihn Vergil und Horaz vermittelt hatten; und diese Rezeption gehört in die von der Prudentiusforschung der letzten Jahre bevorzugt und mit substantiellen Einsichten betriebene Untersuchung der Klassikerspiritualisierung.42 35 Vg.Josua 6,26; 3 Kon. 16,34. 36 Er schließt in der exegetischen Tradition zumeist die Entsühnung des salzigen Strafwassers 4 Kon. 2,19-22 durch Elisa und dessen Deutung auf Jesus, die Jünger und die Taufe ein (vgl. die folgende Anmerkung). 37 Vgl. vor allem den von B. Bischoff wiederentdeckten Bibeldichter Severus (8,120ff.) mit den ad loc. gegebenen Nachweisen (Severi Episcopi <Malacitani(?)> in Evangelia libri XII. Das Trierer Fragment der Bücher VHI-X. Unter Mitwirkung von R. Herzog erstmalig hrsg. und kommentiert von B. Bischoff f und W. Schetter f. Bearbeitet von O. Zwierlein (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, N.F. 109), München 1994). 38 *Si resurgat murus* ~ ham. 481 »rursus (patitur) consurgere muros«. 39 Vgl. Herzog, Augusteische Erfüllung zwischen Vergangenheit und Zukunft [in diesem Band: S. lff.], S. 330-335 [hier: S. 16ff.]. 40 »(Si resurgat) murus auctore Phoebo« — per. 2,414 »(o Christe ...,) auctor horum moenium«. Wir erkennen hier in seltener Klarheit ein formales Prinzip spätantiker Klassikerspiritualisierung (das >fortgesetzte< Zitieren) wie das inhaltliche der Kontrastspiritualisierung: Ersatz von Phoebus durch Christus wie in psych. 1. 41 Auf die Rezeption der Horaz-Verse in ham. und per. 2 hat bisher nur B. van Koten, Prudentius und Horaz, Diss. (masch.) Freiburg 1953, S. 23 und 25 aufmerksam gemacht, ohne den Zusammenhang der Versteile zu bemerken. Unverständlich der Einspruch Buchheits [Anm. 13], Anm. 152 hinsichtlich der Rezeption in per. 2. 42 Grundsätzliches hierzu: Chr. Gnilka, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaften 32, 1979, S. 89ff. 187
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS Insbesondere für per. 2 haben die musterhaften Untersuchungen Buchheits43 gezeigt, daß solche Rezeptionen die Abscheidung einer >uneigentlichen< (Thraede) Vorvergangenheit vom christlichen Rom bedeuten (und bewirken), eine Abscheidung, die das pagane, in per. 2 vornehmlich das >trojanische< Rom betrifft. Diese Distanzierung aber vollzieht sich durch die spiritualisierende Imitation der Klassiker in Form der Erfüllung^ sie nähert sich dem typologischen [559] Verhältnis zur Vergangenheit. Das kann durchaus >Kontrastimitationen< einschließen. Wichtig für die gedankliche Form ist, daß die Figuren und Erzählungen einander im Sinne der Steigerung und Überwindung zugeordnet sind: in per. 2 das Apostelpaar den Stadtgründern, die Schließimg der Öffnung des Janustempels, der Engel Gabriel Merkur.44 Der »error Troicus« (445) - durchaus im Doppelsinn von Irrfahrt und Irrtum - dauert bis zur Bekehrung Roms an, er wird als eine Größe von heilsgeschichtlichem Rang aufgefaßt und rückt nunmehr offen in die Nähe der jüdisch-alttestamentarischen Gottesverfehlung: jene Römer und an ihrer Spitze die Verfolger, die den Märtyrer und seine Zeichen nicht verstehen, sind ganz denjenigen Juden vergleichbar, die Moses* strahlendes Antlitz nicht ertragen und sich gegen ihn verhärten {per. 2,361-396). Nach römischen Kategorien aber werden sie damit den »Barbaren« gleich, nämlich den alttestamentarischen Feinden Israels (381 ff.); das gläubige Rom hat die Stelle der wahren »Juden« (383) eingenommen. Zurück zu kam. 409ff. Mit der gebotenen Vorsicht, welche die Individualität der Werke (aber auch deren Abfolge!) zu berücksichtigen hat, kann die Entfaltung dieses Denkens in per. 2 ein Licht auch auf das antihäretische Gedicht werfen. Rom ist, wie erörtert, in einer unauffälligen, 43 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, in diesem Punkt, K. Thraede [Anm. 25], S. 319. 44 Die zuletzt genannte Kontrast-Steigerung per. 2,453 (zuerst erkannt von Buchheit [Anm. 24], S. 140) ist eine der kühnsten Vergilspiritualisierungen in der Spätantike: gegen die »errans Iuli caecitas« soll Christus den Engel Gabriel aussenden. In der Situation des Laurentius gesprochen, vergegenwärtigt die Bitte das unmittelbar vor der Bekehrung stehende Rom der Kaiserzeit als die Trojaner in der Situation der Irrfahrten - Dido erscheint hier (wie in harn, indirekt) als Tiefpunkt im Spannungsgefüge der Aeneis. Die Wende in Aeneas' Verhalten kann ab vorverweisendes Bild die Wende Roms zu seiner neuen, christlichen Gestalt fordern und damit die gesamte Zeit der paganen urbs stark in die trojanische Vorzeit rücken, hiermit die Geschichtsdichtungen Vergils und Horazens spiritualisierend. Zugleich wird das republikanische Rom der exemplarischen virtus abgeschieden und zum geschichtsenthobenen Positivum freigesetzt, als das es utsächlich im Gedicht gegen Symmachus erscheint. 188
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doch unübersehbaren Weise auch in der Belagerung >Jerusalems< präsent, aber - wie nun gesagt werden kann - in einer differenzierten Weise, die das alte Rom mit seinen historischen Feinden spiritualisiert, und zwar sowohl in Form der Erfüllung (480ff.; Horazrezeption) wie der Kontrastierung (455ff.; vgl. Anm. 34). Soviel läßt sich, blickt man ausschließlich auf die Klassikerrezeptionen, erkennen. Doch ist noch ein weiterer Aspekt der Partie unberücksichtigt geblieben. Er betrifft die barbarischen Feinde. Der erzählte Katalog der historischen Feinde Roms ist nicht erratisch, schließt nicht übergangslos mit dem Hinweis auf den einen Feind, den Teufel als »Charon mundi« (5OO-503)45 und dem Ausblick auf die Dämonologie des Epheserbriefs (506ff.). Nicht nur Dido und ihre Genossen wären vergeblich gegen dieses >Jerusalem< angerannt; [560] »quin sifulmineos cogens ad bella gigantas allophilus tua castra velit delere tyrannus, tutus eris, nee tefirma statione movebit ipse Charon mundi (...).« (499ff.) Vorschnell hat man in diesen Versen nichts anderes gesehen als zuvor schon in Dido und Genossen (Buchheits »Reiche des Teufels«) und in dem »Charon mundi« selbst - nämlich noch einmal den Teufel.46 Eine solche Undifferenziertheit ist aber sehr unwahrscheinlich; Prudentius hat offenbar an dieser Stelle mit »quin si« sorgsam gesteigert und sich gerade nicht wiederholen wollen. Ab 409 folgen den Kanaanäern die alten Feinde des römischen Reiches; nach ihnen aber muß es, vor dem schrecklichsten Feind (»ipse Charon mundi«)> mit dem »allophilus tyrannus« eine besondere Bewandtnis haben. Sein Attribut verweist ihn nach biblischem Sprachgebrauch auf die Philister,47 aber Prudentius hat sicher nicht erneut lediglich biblische Feinde variieren wollen. Dieser >Tyrann< und sein Gefolge erhielten stattdessen Züge aus dem Gigantenkampf. Die Vermutung ist erlaubt, daß der Dichter hier, im Unterschied zu den historischen in 496ff., auf die gegenwärtigen Bedroher deutet - in einer dem Gedicht gegen Symmachus nahen Anspielung auf Claudians Instrumentierung der
45 Nicht überzeugend die Emendation »Charon« zu »archon« (W. J. McCarthy, in: Classica et Mediaevalia 40,1989, S. 213ff.). 46 So Palla [Anm. 12], ad loc. und McCarthy [Anm. 45], S. 222. Palla verweist immerhin auf die Gigantomachie-Anspielungen. 47 Palla [Anm. 12] erwägt eine Deutung auf Goliath. 189
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS Gigantomachie noch im bellum Geticum* Weitere Hinweise auf Kämpfe mit zeitgenössischen Barbaren hat D. Shanzer kürzlich in der Psychomachie zu entschlüsseln gesucht;49 Prudentius habe auf sie jeweils durch Imitationen Claudians angespielt. Keines der vorgebrachten Beispiele vermag in gleicher Weise wie harn. 499ff. zu überzeugen;50 wohl aber hat Shanzer mit ihrer These vom zeitgeschichtlichen Ort der Psychomachie*1 einen Aspekt getroffen, der zum geschichtlichen Verständnis von harn. 409ff. beiträgt. Hamartigenie und Psychomachie sind bekanntlich nicht nur durch die Abfolge im Gesamtwerk eng verwandt; sie entfalten auch das gleiche Kampfbild. Die ausgearbeitete Form des Bildes in der Psychomachie mit seinen innerpsychischen, ekklesiologischen und eschatologischen Zügen erlaubt wiederum, in gewissem Umfang, Rückschlüsse auf das antihäretische Werk. Und zwar interessiert in unserem Zusammenhang besonders der mit dem ekklesiologischen offenbar verwobene universal- und zeithistorische Aspekt. Er ist in seinen Grundzügen bekannt: der >Kampf < der Psychomachie konzentriert in seinem Bild die gesamte Geschichte, die für das Alte Testament >bereits< ausgekämpft ist. Die im Epos >nunmehr< dargestellten [561] Kämpfe erhalten ihre Eindringlichkeit denn auch nicht nur von ihrer Vorbereitung des Eschaton (das zugleich ein Aufhören des Kampfbildes bedeutet), sondern von dem eigentlich unzeitgemäßen, ja verspäteten Charakter der Kämpfe nach Christi Geburt.52 Hier wird eine geschichtliche Phase sichtbar, in die auch die Gestalt der Veterum Cultura Deorum eingreift. Mit dem Auftritt der Discordia wird die Phase noch weiter präzisien auf die tempora christiana. Die >Gefolgsleute< - als menschliche Personen der allegorischen Handlung enthoben - werden von dieser Phase aus gesehen sämtlich in eine einheitliche Geschichte (das Kampfgeschehen) gerückt, in der Altes und Neues Testament (vgl. Judas Ischarioth, 529f.), antike Götter und der Häresiarch Arius anwesend 48 Über die Beziehung zu Claudian vgl. die besonnenen Bemerkungen S. Döpps, Prudentius* Gedicht gegen Symmachus, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 23, 1980, S. 78f. 49 Shanzer [Anm. 18], S.351ff. 50 Würde sich eine solche Claudianrezeption erweisen lassen, so ergäbe sie eine bemerkenswerte Parallele zur Klassikernutzung: wiederum würde Imiution zur Spiritualisierung der Geschichte (hier: die Allegorisierung der Gegenwart) beitragen. 51 Freilich mit Ausnahme der unbeweisbaren Datierungshypothese ([Anm. 18], S. 360: auf 408/409 n.Chr.). 52 Vgl. 60ff., 163ff, 291, 375, 383ff., 529f.
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ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS sind.53 Die Gegenwart der Zeitgeschichte selbst aber ist für die Darstellung durch das präsentische allegorische Kampfbild eigentlich ausgeschlossen. Sie kann daher allenfalls zwischen Kampf- und Bauphase des Gedichts, unter Durchbrechimg der Bildebenen, zutagetreten - und zwar präzise als >Belagerung< einer Stadt (hier der urbsl) wie in ham.: »barbaries, sanctae quae circumsaepserat urbis / indigenas ferroque viros flammaque premebau {psych. 753f.).M Außerhalb der epischen Handlung mit ihren Personifikationen wird, wie Shanzer gezeigt hat,55 in der praefatio zur Psychomachie die gleiche Einformung ins Alte Testament sichtbar: die Feinde Abrahams sind als »barbari«, »gentes profanae« und »feroces« gekennzeichnet. Mit diesem Ergebnis ist ein weiterer Schritt zur Erkenntnis des spiritualisierten Rom getan. Offenbar umfaßt es bei Prudentius auch die Wirklichkeit des Imperium christianum; Bedrohungen von Barbaren und Häretikern verschränken sich. Die Linien des geschichtlichen Denkbildes werden nun vollständig sichtbar: durch eine der Schrifttypologie vergleichbare Auslegung wird Rom in die Nähe des Alten Testaments gerückt. Damit aber wirken die alttestamentarischen Typen der Feinde Israels auf Rom zurück; sie können ihrerseits ausgelegt werden auf das neue Deutungsziel: das christliche Rom. Prudentius steht mit diesem Geschichtsdenken nicht vereinzelt da. Dies hat für Ambrosius (im Romdenken Prudentius zweifellos eng verwandt) F. E. Consolino in einer aufschlußreichen Studie gezeigt.56 Ambrosius ordnet, wie bekannt, römische und alttestamentarische exempla einander zu, setzt aber dann in gleicher Weise einen sensus altior für ein christliches Verhalten voraus [562] - ersichtlich im Sinne eines >eigentlichen<, die exempla kontrastierenden und korrigierenden Verständnisses.57 Daneben aber kennt er die Erfüllung alttestamentarischer Figuren
53 Es lohnt allerdings, einer stärkeren Differenzierung unter den prinzipiell stets »noch mitkämpfenden< Personen nachzugehen. So ist der trotz seiner Schwären >jetzt < lächelnde Hiob (163ff.) eine hermeneutisch bemerkenswerte Figur der pnidentianischen Dichtung. 54 Zutreffend die Interpretation Shanzers [Anm. 18], S. 359. 55 Shanzer [Anm. 18], S. 359. 56 F. E. Consolino, Gli exempla maiorum nel De officiis di Ambrogio e la duplice ereditä dei cristiani, in: La tradizione - forme e modi. XVHI Incontro di Studiosi dell'antichitä cristiana, Rom 1990, S. 351-369. Für Hieronymus vgl. K. Sugano, Das Rombild des Hieronymus, Frankfurt/M. 1983, S. 93ff. 57 Vgl.
ell6.
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ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS im zeitgenössischen Krieg gegen die Barbaren (der Bischof von Thessalonike als neuer Elisa gegen die »ingruentes Gothorum catervae«).5* Zurück zu ham. 409ff. Wenn >Jerusalem< auch gegen die zeitgenössischen Feinde des Imperium verteidigt werden muß (499ff.), so kann nun gefragt werden, inwiefern das Bild von der Belagerung dieser Stadt ähnlich wie in der Psychomachie - aber nach dem Kontext 409ff. innerhalb der alttestamentarischen narratiol - eine geschichtliche Differenzierung erkennen läßt. Es zeigt sich, daß auch dieser Kontext eine vergleichbare Differenzierung erlaubt - und zwar ohne die allegorische Bildebene der Psychomachie. Ich hatte bereits Gelegenheit, auf den eigentümlich schwebenden Charakter der Jerusalem-Reflexion im Bild der gewählten Allegorie hinzuweisen.59 V. 445ff. erzählen, der biblischen historia folgend, die babylonische Gefangenschaft< als Ergebnis des gelungenen Angriffs der >Feinde<; 462ff. wendet sich der Dichter an die exilierten Juden < mit einer Kette von Fragen, die - übrigens ganz im Sinne der deuteronomistischen Geschichtsschreibung - unter dem Aspekt »nonne fuit melius ..., si« die Wunder Gottes bei Exodus und Landnahme vor Augen stellen: wozu dies alles, wenn es verspielt wurde? Und als letztes Glied in der Fragenkette (vgl. 484) wird auch das Bild von Jerusalem eingeführt. Es ist nach dem Sinn der Argumentation bis 489 historisch gefallen; es kann, nach 490ff., bestehen - offenbar spirituell bestehen. Mit dieser ambivalenten Spannung aber ist nun nicht lediglich die allgemein typologische Erfüllung des Alten Bundes in der Christenheit gemeint: die Kette der Fragen, aber schon die gesamte Situation seit 409ff. setzte ja diese Spiritualisierung bereits voraus. Vielmehr bezeichnet Prudentius mit dieser Ambivalenz eine biblisch formulierte, aber historisch konkrete heilsgeschichtliche Situation: nach dem >Exodus< und vor dem >Exil<. Spirituell kann diese Situation zunächst für jedes Gemeindeglied (>psychisch<) gelten: nach der Taufe und vor der jederzeit möglichen, aber grundsätzlich vermeidbaren Sünde. Auf eine solche Spiritualität der Situation deuten vor allem die sakramentalen Konnotationen der ausgewählten Exoduswunder hin (hierauf verwies bereits Gnilka): der »transitus« 471ff. und die Kundschaftertraube 475ff.60 Doch auch ein geschichtlicher Moment der Christenheit und, wie wir nun hinzufügen können, insbesondere der römischen Christenheit 58 Vgl. epist. 13,5-8. 59 Herzog [Anm. 13], S. 102: »raffinierte Kreiskomposition«. 60 Gnilka [Anm. 17], S. 351. Hierbei stehen »transitus* (einefigurader Taufe) und Kundschafcertraube (einefigurades Kreuzestodes und der Eucharistie) wiederum in der Spannung »quid iuvat..., si perdiderit«. 192
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS wird bezeichnet: nach der Bekehrung Roms und [563] angesichts jeder möglichen Bedrohung durch die heidnischen oder heterodoxen Barbaren. Erneut erweist sich, daß die Kunst der prudentianischen Dichtung begründet ist in ihrer stets durchgehaltenen typologischen Spannung: sie wuchert nicht zur BeUebigkeit allegorischer Deskriptionen, sondern ist eine geschichtliche Dichtung von hohen Graden. Nicht an einer allegorischen Detaillierung der kanaanäischen Feinde (409ff.) lag dem Dichter (so wenig wie in der Psychomachie an einer erschöpfenden Detaillierung des allegorischen Bildes), sondern, auf dem Fundament der Typologie von der Christenheit als des >wahren Israels an einer Applikation des alttestamentarischen Geschehens auf eine bestimmte heilsgeschichtliche Situation, die zugleich eine Situation im Leben jedes Einzelnen ist. Jetzt erst wird das Schwanken, dann der Übergang vom »mortale genus« als Träger dieser Geschichte zum »semen Iacob« zu Beginn der Passage ganz verständlich.61 Zielte die antihäretische Lehrdichtung nach ihrem universalen Sinn auf das gesamte unter Gott und der Macht des marcionitischen Dämons stehende Menschengeschlecht, so war bereits die Darstellung seiner Kämpfe in biblischen Formen unter dem Aspekt der allgemein figuralen Vorbildlichkeit des Alten Testaments möglich (vgl. 409ff.). Erst die Differenzierungen innerhalb der Spiritualisierung Israels ermöglichten dann die Präzisierung eines bestimmten heilsgeschichtlichen Moments. Er ist nach der einheitlichen Geschichtskonzeption des Prudentius zumindest in Hamartigenie und Psychomachie sehr ähnlich.62 Aber er ist dies nur innerhalb eines gleichbleibenden, sowohl einzelpsychischen wie ekklesiologischen und eschatologischen Deutungshorizonts. Vor allem: die geschichtliche Dichtung des Prudentius vermag offenbar in den einzelnen Werken Geschichte mit unterschiedlichen poetischen Verfahren darzustellen. >Rom< bezeichnet noch keineswegs, wie später bei Dracontius, nur mehr das alte Rom; es weist auch auf die tempora christiana.** Aber ist 61 Hier ist jede Beschränkung auf nur einen Aspekt eine Verkürzung; so bei GnilkafAnm. 17], S. 349. 62 Die Situation der Psychomachie weist mehr auf das Ende aller Geschichte und steht damit näher an vergleichbaren Darstellungen im Gedicht gegen Symmachus und in den Märtyrerhymnen. Die Situation der Hamartigenie läßt nie die psychische Deutung in den Hintergrund treten und erinnert darin an die Tageszeithymnen. 63 Hinsichtlich der Distanzierung des heidnischen Rom vom christlichen steht Ennodius den prudentianischen Ansätzen noch näher ab der dracontianischen Trennung; dies ist auch darin begründet, daß er sich zur Frage Roma selbst in einer 193
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS das »seinen Iacob« (452) [564] bei Prudentius bereits in dracontianischer Weise überwiegend das >Wir< der friedliebenden Kirche? Ist es möglich, die Funktion des christlichen Rom in einem solchen Gesamtzusammenhang noch präziser dargestellt zu erkennen - und dabei vielleicht von allzu globalen Interpretationen zum >Romgedanken< in einen gesicherten Rahmen der prudentianischen Geschichtsdichtung zurückzuführen? Die vorstehenden Überlegungen können, wie gesagt, eine solche Untersuchung nicht ersetzen. Die Interpretationen deuten indessen auf ein methodisch wichtiges Verfahren bei der Erkenntnis der prudentianischen Verse als geschichtlicher Dichtimg. Wenn wir dem Dichter wirklich die Herausarbeitung genau erfaßter heilsgeschichtlicher Phasen zuzutrauen haben, so ist es geboten, das Einzelwerk und besonders die Folge der Werke für eine Sukzession, eine allmähliche Entfaltung solcher Phasen zumindest durch den Dichter in Betracht zu ziehen. Bereits das Ensemble ham. 409-503 zeigte, daß es nicht nur nach seinem heilsgeschichtlichen Ort ein >zuvor< und >danach< enthält, sondern nach seinem poetischen Aufbau64 den Kontext ständig zu erweitern veranlaßt, und zwar vorwärts und rückwärts, und das über die Grenzen der Prosopopöie zu Worte kommen läßt (also in einer ersichtlich an Prudentius anknüpfenden Form): Rom beklagt hier ihre unrettbar der Hölle verfallenen republikanischen >Söhne<, »Curios, Torquatos, Camillos, quos ecclesia non regeneravit (!) ...; criminosis iunctus est aequi observantissimus, quia Christum ignoravit, Seipio«. Als bekehrte Roma aber ruft sie sich alsbald zur Ordnung: »relegamus tarnen quibus mutata sint ista successibus ...: ecce iam curia mea ad caelum vocatur« (Hb pro synodo 130-132). Vgl. zuletzt die Interpretation von B. Näf, Das Zeitbewußtsein des Ennodius und der Untergang Roms, in: Historia 39, 1990, S. 100-123, hier: S. 114f. Ennodius bewertet, und zwar gerade in der Distanzierung, das alte Rom sehr positiv. Dies verstärkt sich noch im kirchlichen Denken seit dem 8. Jh.: die Differenzierung des prudentianischen Romdenkens wird hier weitgehend zugunsten einer globalen Identifikation gerade mit dem alten, republikanischen Rom zurückgenommen; vgl. P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio I2, Darmstadt 1957, S. 46f. und 225. Diese Ambivalenz wird im europäischen Romdenken bestehen bleiben. 64 Nach seinem poetischen Aufbau verweist ham. 409ff. als biblische narratio auf eine Spiritualisierung des Schriftberichts, in der alle Deutungsebenen des prudentianischen Gesamtwerkes virtuell anwesend sind. Ahnlich verhält es sich mit der exegetischen Argumentation der antihäretischen Lehrdichtungen, dem allegorischen Bild der Psychomachie> der Märtyrererzählung, dem titulus und den lyrischen Perikopen der Hymnen. Thematisien wird diese Verzahnung in den praefationes der Epen. Daß ein solcher Blick auf das Gesamtwerk die Beachtung der Gattungsindividualität eines jeden Einzelwerks nicht ausschließt, ist selbstverständlich. 194
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS Einzelwerke hinweg. Dies nicht nur nach dem Erfordernis einer jeden philologischen Texterfassung; vielmehr machen sich für Prudentius typische, sorgsam gesetzte Vor- und Rückverweise auf Werke außerhalb der Hamartigenie bemerkbar, die, für sich betrachtet, vor kaum lösbare Fragen stellen. Was bedeutet z.B. in der interpretierten Passage das Verlernen der angestammten Sitten, der sakralen Musik bei den in Babylon Gefangenen (455-461) im sichtbaren Verweis auf das Verstummen heidnischer Instrumente vor dem babylonischen Herrscher, der Gott erkannt und bekannt hat (apoth. 147ff.), und das Aufklingen >neuer< Musik, nachdem der Römer Pilatus den dreisprachigen »titulus« ans Kreuz hat schlagen lassen (apoth. 386ff.)? Ahnlich tritt die aus Bildern des Tempels und der Stadt [565] dargestellte Zionsstadt der interpretierten Passage deutlich erkennbar, aber mit veränderten Konturen, in der Folge des Gesamtwerks zuerst apoth. 518 hervor. Unmittelbar nach dem bleichen Schrecken der letzten Niederlage, den das unverständige römische Heidentum unter seinem Kaiser Julian gegen Christus erlebt (apoth. 449-503) - hier zuerst im Gesamtwerk werden, innerhalb eines Kontexts adversus Iudaeos, die noch paganen Römer den Juden nach ihrer Verstocktheit gleichgestellt -, wird der zerstörte Tempel Salomons dem >Tempel< gegenübergestellt, der Jesu Leib ist. Auf die Spiritualität dieses Gebäudes (»nostrum templum«) wird gegenüber dem historischen Tempel der Juden durch die Negierung aller irdischen Architektur, aller kostbaren Materialien hingewiesen - und eben in dieser Negierung wird der Tempel anschaulich als ein Bauwerk dargestellt, das auf ham. 485ff. vorausweist (vgl. apoth. 519-523). Bei der Aufnahme des Bildes in der Hamartigenie - die somit den historischen und den >mystischen< Tempel65 von apoth. zusammenfaßt - wird andererseits durch die Einfügung des Schlußsteins Christus (ham. 490ff.) bereits die Zionsstadt der Apokalypse psych. 834ff. sichtbar.66 Schließlich fassen (ähnlich den allegorischen praefationes der hexametrischen Dichtungen)
65 Den Tempel Gottes (nach 1 Kor. 6,19) in der Seele eines jeden Menschen hat Prudentius zuerst cath. 4,16-27 eingeführt - in seinem lyrischen Werk, das vor allem die >psychische< Deutungsebene hervorhebt. Zu diesem Bild wird - unter Beibehaltung der in der Psychomachie erreichten Allegorisierung im Detail! - per. 10, 346ff. zurückkehren; die Aufnahme des Bildes c. Symm. 2,248ff. (also zwischen Psychomachie und dem Buch Peristephanon) zieh bereits auf die psychische Deutung, nimmt jedoch mit ihren Negierungen kostbarer Architektur die Vollständigkeit des Bildes psych. 834ff. wieder zurück; sie steht in der Abfolge des Gesamtwerks spiegelbildlich zur Darstellung des Tempels apoth. 519ff. 66 Vgl. insbesondere psych. 870ff. 195
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zwei tituli des Dittochaeon (81ff., 121ff.) alle Aspekte des Bildes (den psychischen, den eschatologischen wie den historischen) zusammen.67 Das Beispiel des Tempel-Bildes erweist, daß die prudentianischen Vorund Rückverweise einer Entfaltimg der spirituellen Deutungsebenen im Gesamtwerk dienen. Es verstärkt aber auch die Vermutung, daß diese Entfaltung in der Folge des Gesamtwerks auch die Abfolge heilsgeschichtlicher Phasen darzustellen und in den Einzelwerken zu differenzieren vermag. Stellt man etwa - als Fazit der vorstehenden Hinweise - die einfache Frage, an welcher Stelle im Gesamtwerk Rom (oder auch nur das Phänomen der Romanisierung des Alten Testaments) vom Buch Cathemerinon an auftritt, wie sich seine Darstellung bis zum Buch Peristephanon wandelt, so können bereits wenige Andeutungen genügen, um die Fruchtbarkeit einer solchen Untersuchung vor Augen zu stellen. Romanisiert werden in den Tageszeithymnen vor allem die Nineviten cath. 7; mit den aus dem Osten zur Anbetung heranziehenden Magiern tritt dann auch - im Kreis der den [566] Juden durch natürliche Gotteserkenntnis überlegenen, durchaus als Barbaren gekennzeichneten gentes - Rom cath. 11 und besonders am Ende von cath. 12 auf den heilsgeschichtlichen Plan.68 Es kann kein Zufall sein, daß apoth. 128ff., nach dem Bekenntnis des babylonischen Herrschers zum rechten Glauben, das Verstummen der heidnischen Musik vom gleichen Weltreichspreis abgelöst wird (153f.), wie ihn die Magier cath. 12,89ff. aussprechen. Es ist bereits das christliche, das neue Rom, auf das hier von Babylon und von den Völkern des Alten Testaments »ante legem«*9 her gedeutet wird.70 Apoth. 421 ff. wird dann erstmals das alte, von Christus besiegte,71 das heidnische Rom vom heils67 Vgl. C. Davis-Weyer, Komposition und Szenenwahl im Dittochaeum des Prudentius, in: Studien zur spätantiken und christlichen Kunst, F. W. Deichmann gewidmet, Bd. 3, Bonn 1986, S. 26f., und die Hinweise Shanzers [Anm. 18], S. 362. 68 Vgl. V. Buchheit, Göttlicher Heilsplan bei Prudentius (Cath. 11,25-48), in: Vigüiae Christianae 44, 1990, S. 222-241. 69 Zum theologischen und exegetischen Hintergrund Nachweise bei Farina [Anm. 20], bes. S. 284. Vgl. auch J. Van Oon, Jeruzalem en Babylon, s'Gravenhage 1980. 70 Die Wechselwirkung mit der ebenfalls traditionellen Deutung Babylons als Typ des heidnischen Rom, als Feind des (spirituellen) Gottesvolkes im AT, zeigt bei Prudentius die Ambivalenz des römischen Kolorits: so bei der >Christenverfolgung< Daniels durch den babylonischen Herrscher cath. 4, so auch abgeleitet auf Ägypten als Bedränger der >Kirche< cath. 5. Noch das (befürchtete) Versagen der in Babylon exilierten >Juden< ham. 448ff. und das Verlernen der >neuen Musik< dortselbst (ham. 460f.) drückt diese Ambivalenz aus. 71 Vgl. apoth. 421-448 und 503-508. Hier fällt bereits die >trojanische< Charak196
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS geschichtlich zukunftstragenden Rom abgeschieden; es ist bemerkenswert, daß das alte Rom apoth. 424-432 keineswegs über den traditionell reichsfeindlichen Barbaren stehend erscheint: wie jene ist es von Christus unterworfen.72 Und zugleich tritt in der Apotheosis das Judentum als heilsgeschichtliche Größe vom Plan; ihm wird in den folgenden Werken das alte, heidnische Rom eingeformt: zu den genannten Passagen bis zur Psychomachie und zu per. 2 ist z.B. per. 5,85ff. zu vergleichen. Eine Endstufe weist per. 10,591-635 auf: Christus schloß seinen Bund mit dem Gottesvolk lange vor Romulus. Hier wird nach den apologetischen Variationen des alten Prioritätsbeweises im Gedicht gegen Symmachus das Argument von Prudentius zuerst in eine Völkerchronologie eingefügt (616ff.), die auch Jupiter einschließt. Die alttestamentarische Genealogie des heidnischen Rom, von der wir ausgingen, ist nun nahezu erreicht. Für das von Dracontius neu eingeführte Element, die genaue ethnologische Rückführung Roms auf Esau, wurde zunächst allgemein auf eine alte Tradition jüdischer Romfeindlichkeit verwiesen; offen blieb, welchen Hintergrund diese dracontianische Rezeption hat. Cohen 73 hat gezeigt, daß die [567] jüdische Auslegung von Gen. 25,23 auf Rom in einer langen Tradition vom 2. Jahrhundert v.Chr. bis zum 4. Jahrhundert n.Chr. faßbar wird. Sie steht bis zu diesem Zeitpunkt neben der altchristlichen, die übliche Typologie zwischen Synagoge und Ecclesia spiegelnden Auslegung Esaus auf die Juden sub lege, Jakobs auf die Christenheit; beide Seiten kennen die verschiedenen Auslegungen.74 Seit dem Aufstieg des Christentums zur römischen Staatskirche ändert sich dieser >typologische Friedens von Hieronymus und Augustin an wird in ununterbrochener Folge bis ins hohe Mittelalter gegen die jüdische Identifizierung EsauEdoms mit Rom polemisiert; christliches Imperium und römische Kirche tolerierten nicht mehr die globale Herabsetzung ihres Typos auf den >schlechten< Bruder.75 Dieser Deutungsstreit rief im Frühmittelalter, als seine Konsequenzen bedrohlich sichtbar wurden, jüdische Reaktionen hervor, die nun ein ursprünglich rein typologisch abgefaßtes Denkbild ethnographisch zu unterterisierung des heidnischen Rom auf: »iam purpura supplex sternitur Aeneadae rectoris adatria Christi* (446f.). 72 Nun erklärt sich auch das indirekte, genauer: negative Auftreten Didos und ihrer Genossen im alttestamentarischen Kontext ham. 496ff.: diese konnten dem heidnischen, können aber nicht dem christlichen Rom schaden. 73 Esau as symbol [Anm. 9], Vgl. ferner Schramm [Anm. 63], S. 29f. 74 Belege vom Ba^nabasbriefbxs zu Origenes: Cohen [Anm. 9], S. 32ff. 75 Daß diese Reaktion im Mittelalter zu politisch-juristischen Konsequenzen führte, hat Cohen [Anm. 9], S. 35f. gezeigt. 197
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mauern suchten. Zum ersten Mal geschieht dies in für uns greifbarer Gestalt bei Josephus Gorionides (vulgo Josippon), und zwar in Form eines Flavius-Josephus-Breviariums; die erste Version entstand wohl 953 n.Chr.76 Hier wird nun Rom erstmals von Gestalten des Alten Testaments gegründet. Die Zerstreuung nach der Flut verschlug die Kittim (Gen. 10,4) an die kampanische Küste; sie bevölkerten als Ureinwohner Italien.77 Es folgte eine zweite Einwanderung: Joseph und seine Brüder, mit dem Leichnam ihres Vaters aus Ägypten zurückwandernd, vertrieben die Nachkommen Esaus, Ismaels und Keturas aus ihren Sitzen. Esaus Enkel Zepho entkam nach Karthago, schloß sich dort Aeneas an, folgte ihm auch auf dem >Kriegszug< gegen Italien, fiel dann jedoch von ihm ab und verbündete sich mit den >uritalischen< Feinden der Trojaner; er wurde von diesen Völkern als Janus-Saturnus verehrt; direkt von ihm stammt Romulus ab. Josippon hat seine Genealogie durch eine sorgsame Auswertung des lateinisch-spätantiken servianischen Vergilkommentars untermauert.78 Man wird die Parallele zur Erzählung der Graphia bemerkt haben, die bis in die Struktur (doppelte Einwanderung) hinein reicht. Bis zu weiteren Untersuchungen liegt die Vermutung auf der Hand, daß die Graphia die jüdische Verteidigung der Rom-Esau-Typologie bekämpft, indem sie sie usurpiert und auf Noah zurückverlegt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erscheint die Rezeption der jüdischen Tradition durch Dracontius als eine marginale, aber bezeichnende Grenzüberschreitung. Dracontius vollzieht sie gleichsam zu innerchristlichem Gebrauch: um das heidnische Rom und die Barbaren von der römischen Kirche zu distanzieren. Eine solche Rezeption aber wurde erst möglich, als das gegenüber der allgemeinen kirchlichen Typologie (Jakob ~ Christenheit) sehr differenzierte [568] Romdenken des Prudentius ein »himmlisches Rom« (per. 2,559) aus der Zeitenferne eben dem Alten Testament gegenüber entfaltete. Diese Entfaltung, so läßt sich zeigen, vollzieht sich in der Abfolge des prudentianischen Werkes. Eine Nachzeichnung spiritueller Rück- und Vorverweise innerhalb des prudentianischen Gesamtwerks - eine Untersuchung mit einem solchen Ziel wird ein Kernproblem der gegenwärtigen Prudentiusforschung be76 Auf ihn wies Schramm [Anm. 63], S. 44f. hin. 77 Kittim bedeutet die >Westländer< schon im /. Makkabäerbuch; die Vulgata wird den Namen Ezecb. 27,6 mit »de insulis Italiae« übersetzen. 78 Josippon ist bisher in brauchbarer Form nur von J. F. Breithaupt (Gotha 1707) ediert; die dort gegebenen Hinweise auf Quellen sind ergänzungsbedürftig. 198
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rühren. Denn gerade die Einheitlichkeit des prudentianischen Gesamtwerks, die im Kriterium der Werk/b/ge impliziert wird, also die auf eine präzise Konzeption des Dichters zurückgehende Komposition der Einzelwerke zu einem poetischen Corpus, ist umstritten, zumindest nach ihrer Tragweite ungeklärt. Der Grund liegt wohl darin, daß der sich bei jeder Untersuchung nur vertiefende Beziehungsreichtum dieses Werkes, einfacher gesagt: der geniale Wurf dieser Dichtung, dazu verleitet hat, mehrere Probleme zu vermengen. Die Einheitlichkeit des prudentianischen Werks hat die neuere Forschung seit den dreißiger, dann verstärkt seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts in einer Überwindung ausschließlich philologischer oder theologischer Traditionen als spirituelle Einheit erkannt; in ihr vermochte Prudentius das bibelexegetische Erbe nach seinen unterschiedlichen Deutungsebenen nicht zuletzt dadurch poetisch zu formen, daß er der Klassikernutzung eine souverän beherrschte, gleichwohl fast allgegenwärtige Funktion einräumte. Die spirituelle Einheit aller Deutungsebenen war seit Gnilkas Studie zur Psychomachie79 an einem Werk aufgewiesen; ich habe sie, vorwiegend im Blick auf die Methoden der Spiritualisierung, am Gesamtwerk verfolgt.80 Mit dieser Erweiterung aber fand sich die Prudentiusforschung in Methodenprobleme verstrickt, die seit der Diskussion über allegorische und figurale Deutung in der alten Kirche und in der Literatur des Mittelalters Theologie und Mediävistik seit einiger Zeit beschäftigten, allgemein gesagt: sie fand sich belastet durch die hergebrachten Kontroverskategorien von >Antike< und >Christentum<. Der Prudentiusphilologie haben diese Belastungen nicht eben gutgetan.81 [569] 79 Chr. Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963. 80 Herzog [Anm. 13]. 81 Sie haben zweifellos dazu beigetragen, eine allgemein akzeptierte Gesamtdarstellung weiter zu verzögern (dies hinderte nicht eine Anzahl von wertvollen Einzeluntersuchungen zur Textgeschichte, zur Klassikernutzung und zu spirituellen Formen sowie die Kommentierung vereinzelter Werke). Die Kontroversen nahmen bis in die achtziger Jahre Formen an, die angesichts ihres Objekts, des poeta ChristianuSy befremden mögen, und keineswegs zur Klärung grundsätzlicher, nicht nur die Grenze von Philologie und Theologie, sondern auch jene der historischen Hermeneutik allgemein berührender Positionen geführt haben. Da ich mich an der Polemik nicht beteiligt habe, sei mir die Vermutung gestattet, daß die Kontroverse um die prudentianische Allegorie und die Erfaßbarkeit christlicher Literaturformen auf eine Gegenwärtigkeit der Probleme verweist, die in den wissenschaftlichen Austausch nicht restlos eingehen kann. Sachlich scheint es eher geboten - und nach dem Stand der Vorarbeiten auch möglich -, die methodische Erörterung von Phä199
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Denn sie blockierten den Weg, der nun zu einer angemessenen Erfassung der Einzelwerke und ihres kompositorischen Zusammenhangs unter dem Aspekt ihrer spirituellen Vergleichbarkeit82 zu führen hatte. Steidle hat dann diesen Weg grundsätzlich beschrieben;83 er hat zugleich gefordert, das so formulierte Problem einer Einheit des Werkes nicht mit der Erkenntnis seiner spirituellen Einheitlichkeit zu vermengen.84 Hieran knüpfte die Untersuchung W. Ludwigs zum Gesamtwerk des Prudentius und seine These von einer Dichteredition (405 n.Chr.) nach einem einheitlichen Konzept an.85 Sie basiert nicht zuletzt auf der Annahme eines Verweisungssystems zwischen den Einzelwerken, durch das eine Entfaltung von den Tageszeitliedern über den spirituellen Höhepunkt der Psychomachie bis zur »konkreten historischen Ebene«86 der Bücher gegen Symmachus und der Märtyrerhymnen sichtbar wird. Die Untersuchung Ludwigs führte mich zu der Einsicht, daß eine derart konzipierte Abfolge der Einzelwerke durch den Dichter in einer Verbindung besonders zum heilsgeschichtlichen Aspekt der spirituellen Deutungsebenen stehen dürfte.87 Auch Ludwigs bahnbrechende Studie wurde jedoch dadurch in ihrer Wirkung beeinträchtigt, daß sie die Einsicht in die Einheit des Werkes mit einem weiteren Problem vermengt, dem Verhältnis zwischen der Edinomenen wie Symbol, Typologie, Allegorie sowie von Rezeptionsformen für die altchristliche Literatur und in ihrem Zusammenhang allgemein, nicht nur gestützt auf die Interpretation einzelner Autoren, zu erörtern. Dies hat Chr. Gnilka aus seiner Sicht (Chresis, Basel 1984), getan. 82 Von mir als »allegorische Einheit des prudentianischen Werks« (Herzog [Anm. 13], S. 116) charakterisiert; dort wurde bereits die Hamartigenie als »Vorstufe« (S. 102) der Psychomachie interpretiert; dem folgten J. Fontaine, Naissance de la poesie dans POccident chretien, Paris 1981, S. 202, und Shanzer [Anm. 18], S. 360. 83 W. Steidle, Die dichterische Konzeption des Prudentius und das Gedicht Contra Symmachum, in: Vigiliae Christianae 25, 1971, S. 246-249. Ins Detail ging bereits seine Interpretation zum Zusammenhang von Apotheosis und Hamartigenie (S. 257f.). 84 Berechtigt insofern seine Kritik [Anm. 83], S. 244 an Herzog [Anm. 13]. 85 W. Ludwig, Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Ganimgen, in: Christianisme et formes litteraires de l'antiquite tardive en Occident (Entretiens sur l'antiquite classique 23), Vandoeuvres-Genive 1977, S. 303-363. Die These ist in den Grundzügen nicht widerlegt; vgl. Fontaine [Anm. 82], S. 149 und 158f. Zur Kritik sogleich. 86 Ludwig [Anm. 85], S. 312, vgl. S. 310f. und 339f. 87 Vgl. R. Herzog in der Diskussion zu W. Ludwig in >Christianisme et formes litteraires< [Anm. 85], S. 367ff.; dort wurde das Konzept der vorliegenden Untersuchung formuliert. 200
ROM UND ALTES TESTAMENT IN PRUDENTIUS tion des Dichters vom Jahre 405 n.Chr., der (vollständigen?) Rekapitulation der Werke durch den Dichter praef. 37-42 und der Anordnung des Werkes in den ältesten Handschriften - kurzum: einem Problem nicht nur des Werkkonzepts, sondern auch der frühen Editionsgeschichte. Selbstverständlich ist die praef. 37-42 vom Dichter angedeutete Aufzählung der Werke, in denen sich sein Gott zugewandtes Dichten [570] ausdrücken soll, für die Einheit des Werkes der stärkste philologische Beweis: 1) diese Aufzählung gibt die Werke in eben der Folge, die ihren spirituellen Sinn entfaltet; 2) diese Aufzählung wird ersichtlich in den beiden ältesten Handschriften (insbesondere in der Hs. B) in den Grundzügen beibehalten. Indessen übersah eine Kritik an Ludwigs These, die diese fast ausschließlich88 auf das alte Problem der vollständigen Entschlüsselung der Einzelwerke in des Dichters Aufzählung reduzierte,89 daß damit das Konzept des Dichters nicht berührt war. Auf ihm aber basiert die Einheit der Werke, wie wir sie lesen können; diese Werkgesamtheit wiederum eröffnet den Zugang zur Einheitlichkeit seines Geistes und seiner Weltdarstellung, wenn wir sie zu lesen verstehen. In diesem Sinne möchten die vorstehenden Überlegungen eine Untersuchung vorbereiten, die auf eine der »großen Sachfragen«90 in der Erklärung des Prudentius antworten könnte.
88 Vgl. indessen die abgewogenen Bemerkungen Chr. Gnilkas (Zur praefatio des Prudentius, in: Füologia e forme letterarie. Studi offerti a F. Della Corte, Urbino 1988, S. 231-251), der, v. 37-42 nicht in den Mittelpunkt der Interpretation stellend, die Funktion - und damit implizit auch Fragen des Zeitpunkts der Werke sowie des Gesamtkonzepts - der praefatio in hilfreicher Weise erörtert. 89 So Shanzer [Anm. 18], S. 347-350 (gegen Ludwig - und bereits Weymann für eine spätere Entstehung der Psychomachie); die Ablehnung durch J.-L. Charlet (La creation poetique dans le Cathemerinon de Prudence, Paris 1982, S. 49ff.) bedeutet - wie seine Schematisierung der Tageszeithymnen nach dem abstrakten Gattungskriterium der Episierung - einen Rückschritt, insofern er Prudentius nur allgemein »une sorte d'itineraire spirituel« als Konzept zuzuschreiben geneigt ist (La poesie de Prudence dans Pesthetique de son temps, in: Bulletin de PAssoc. G. Bude 1986, S. 368-386, hier: S. 370). Daß Prudentius vielmehr von Literaturformen, die ihren Sitz im Leben der Kirche haben, ausgeht (dem Hymnus, der antihäretischen Schrift, der Apologetik, der Hagiographie), diese durch partielle Rezeption poetischer Gattungen erweitert und sie für die spirituelle Entfaltung des Gesamtwerks mit seinen Verweisketten transparent zu machen in der Lage ist, habe ich in Restauration und Erneuerung< (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike 5, München 1989, S. 29) angedeutet. 90 Gnilka[Anm. 17], S. 338.
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Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des Paulinus von Nola
»/e voulais reagir contre Voptique d&favorable que les prtjugis avaient si longtemps impose a Vetude de ce qu*on continue de disigner du terme de BasEmpire. Mais je ne prenais pas garde que j'abordais cette etude avec des notions reques de cette tradition meme, avec laquelle jepritendais rompre.« H.-I. Marrou1 Marrou hatte in der bekannten, 1949 zu seinem Augustin-Buch geschriebenen retractatio die Begriffskomplemente Dekadenz-Säkularisierung im Auge. Doch jeder, der sich längere Zeit mit dem Problem der heidnischchristlichen Gattungskontinuität in der Spätantike befaßt hat, wird sich mag er sich auch von historischen Denkgewohnheiten und ästhetischen Traditionen unbelastet glauben - in der wissenschaftlichen Diskussion und bei dem Versuch, einen spätantiken Text unter dem Gesichtspunkt jener Kontinuität zu interpretieren, auf Schritt und Trin ähnlichen Modellkategorien oder deren Nuancen konfrontiert sehen, wie ich sie im folgenden bespreche. Nicht daß sie stets zusammen anzutreffen wären: [374] sie treten in einer gewissen historischen Folge auf und werden in den grundlegenden Arbeiten unserer Disziplin nuanciert oder durch ein neues Begriffsmodell ersetzt (hierauf wird zurückzukommen sein). Aber sie tragen sämtlich zwei Eigentümlichkeiten an sich, die sie als Erbstücke eines komplexen neuzeitlichen Verhältnisses zur Spätantike ausweisen: 1) sie führen zumeist positive und negative literarische Wertungen mit sich; in
Aus: Christianisme etformes litliraires de Vantiquiti tardive en Occident (Entretiens sur Vantiquite classique 23), Vandoeuvres-Genhve: Fondation Hardt 1977 S. 373-411. 1 Saint Augustin et la fin de ia culture antique, Paris 41958, S. 664 (in der retractatio).
PAULINUS VONNOLA ihnen stecken, bei näherem Hinsehen, literarkritische Optionen, die der heutige Spätantikeforscher außerhalb seiner Interpretation zumeist nicht teilt;2 2) sie setzen sämtlich ein Konfrontations- und Kontinuitätsschema zwischen den als vergleichbar hypostasierten Begriffen »Christentum« und »Antike« voraus. Diese auf die Kontinuität (oder den Kontinuitätsabbruch) zwischen zwei »Welten« fixierte Optik ist uns für die Spätantike als etwas Selbstverständliches überkommen. Aber das ist sie nicht immer gewesen. Daß man die literarische Phase von ca. 300-700 nicht als nachantike Literaturepoche sui generis, mit eigenen trans-»konfessionellen« Stilkonstanten, einer eigenen Formtradition ansah, sondern beständig von der Scheidelinie Antike-Christentum durchschnitten, als »Übergangszeit«, daß es also nicht um eine Epoche, sondern um die Probleme eines Kontinuums durch sie hindurch ging, ergab sich aus dem Identitätsverlust mit der nachantiken Zeit. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Identitätsausfall seit dem Frühhumanismus in seinen Folgen für das historische Epochenbewußtsein3 und vor allem für die Kontinuitätsoptik und ihre Nachwirkung in der Diskussion um die Grenzdaten zwischen Antike und [375] Mittelalter4 wiederholt Gegenstand der Untersuchung gewesen. Den entsprechenden Wandlungen des literarischen Epochenbewußtseins ist für die Spätantike bisher nur S. d'Elia in einer materialreichen, wenngleich nicht ganz an die gegenwärtig in der Forschung herrschenden Modellbegriffe heranführenden Arbeit nachgegangen.5 Das sprechendste Zeugnis für den Identitätsabbruch zu spätantiken Formtraditionen als Ursprung der angedeuteten Kontinuitätsoptik liegt m.W. in einem Brief des Erasmus vor:6 Warum eigentlich knüpfen die zeitgenössischen christlich-lateinischen Dichter nicht mehr an ihre spät2 Vgl. wiederum H.-L Marrou [Anm. 1], S. 649, der - post festum - die Ähnlichkeit zwischen der exegetischen Technik Augustins und der Poesie Mallarm£s feststellte. 3 Vgl. u.a. W. Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken, Leipzig 1930, und A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, Göttingen 1960. 4 Vgl. die von P. E. Hübinger herausgegebenen Sammelbände: Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, Darmstadt 1968, und: Zur Frage der Epochengrenze zwischen Altertum und Mittelalter, Darmstadt 1969; die beste Übersicht über die verschiedenen Ansätze bei K. F. Stroheker, Germanentum und Spätantike, Zürich 1965, S. 275ff. 5 II basso Impero nella cultura moderna del Quattrocento ad oggi, Neapel 1967. 6 Epist. 49,85. 204
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antiken Vorläufer, sondern immer wieder an die römischen Klassiker an? - Diese Beobachtung teilt seitdem jeder, der die Geschichte »christlicher« Poesie in der Neuzeit an einer beliebigen Gauung verfolgt: in einer beständigen Diskontinuität untereinander (die nicht nur durch die Differenzierung der Nationalliteraturen bedingt ist) geschehen immer erneut Anknüpfungen an die antiken Gattungen (z.B. die Heroide, das Epos, die Ode) - und paradoxerweise treten trotz solcher Diskontinuität immer die gleichen Formkonstanten (z.B. Neigung zur Allegorie, zur Vergeistigung, zur sekundären Anschaulichkeit, zur Entgrenzung der antiken Formen) auf. Offensichtlich ist seit der beginnenden Neuzeit eine einheitliche literarische Gruppe (deren Einheitlichkeit sich zuerst in spätantiken Werkreihen manifestiert haue) aus dem Bewußtsein selbst der ihr Zugehörigen geschwunden. Dieser Schwund stellte erst das literarische Kontinuitätsproblem zur Antike. Was nun im Bewußtsein [376] bleibt, ist die Projektion auf eine als Form gedachte Antike und die Reduktion des Christlichen auf den nachantiken Inhalt der Literatur. Unter dem Modell dieser Leitvorstellungen taucht die spätantike Literatur nach drei Jahrhunderten, in denen sie kaum zur Reflexion Anlaß gab, endgültig mit dem Anbruch des Historismus und der beginnenden Literaturgeschichte im Horizont der Wissenschaft auf, ausführlich zum ersten Mal bei Friedrich Schlegel (1812):7 »Die größeren Versuche aber (sc. im Gegensatz zur Hymnendichtung), das Christentum poetisch darzustellen, fielen, wie auch oft noch später geschehen, nicht glücklich aus; weil die von den alten Dichtern entlehnte Form für diese Gegenstände nicht paßte und es also nur eine tote Zusammensetzimg blieb.« Auffälliger als das Form-Inhalt-Schema erscheint die negative literarische Wertung, unter der die spätantik-christliche Poesie (schon bei Schlegel übrigens ebenso die »pagane«) hier gegenüber der Zeit des Erasmus zum Vorschein kommt. Auf welche Weise hat sich eigentlich die negative Kritik mit dieser literarischen Epoche verbunden?8 Die Abwertung dieser Literatur war noch keineswegs, wie oft angenommen wird, mit der stilistischen Orientierung des Frühhumanismus auf die lateinischen Prosa- und Versklassiker vollzogen. Seit Petrarca bis zum 16. Jahrhundert wird die Literatur bis zu Boethius noch stets als eine Einheit antiker Literatur gesehen; und es sind zunächst außerliterarische, historische Gesichtspunkte, zudem Probleme der eigenen Zeitgeschichte 7 Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur, in: ders., Werke Bd. 6, hrsg. von H. Eichner, München 1961, S. 158. 8 Das folgende im Anschluß an die Darstellung S. d'Elias [Anm. 5], S. 31 ff. 205
PAULINUS VON NOLA (Italien unter der Herrschaft der »Barbaren«, Antagonismus zwischen »republikanischen« und »kaiserlichen« Herrschaftsformen), die auch die Literaturkritik mitbestimmen: nicht zufällig halten die »Caesarianer« den »Ciceronianern« (im politischen wie stilistischen Sinne) vor, es gebe auch in der [377] späteren Kaiserzeit große Schriftsteller.9 Wie eine ästhetischgrundsätzliche Scheidung zwischen paganen und christlichen Autoren und Formen,10 so fehlt auch das Bewußtsein vom Einschnitt des dritten nachchristlichen Jahrhunderts bis zum 16. Jahrhundert (Biondo etwa setzt die Akme des Römischen Reichs und seiner Kultur unter Theodo sius an).11 Der Wandel zeigt sich seit dem 16. Jahrhundert in einer schrittweisen Zurücknahme der Mittelaltergrenze in die Antike an. Seit Sigonio, Paruti und Baronius wird der Einschnitt des 3. Jahrhunderts hervorgehoben; Sigonio faßt als erster die nachfolgende Zeit bis zum Langobardeneinfall als eigene Epoche auf.12 Viel nachhaltiger wirkte die aus konfessioneller (protestantischer) Haltung vorgenommene Reduktion der späteren Antike zum papistischen Mittelalter: liegt für Calvin das Ende der vorpapistischen, positiv gesehenen alten Kirche noch um 500, so für Melanchthon beim Tode Augustins, für Flacius Dlyricus dann im 4. Jahrhundert, als der (auch durch die Barbareneinfälle sich ankündigende) Teufel kirchlicher Dekadenz bereits intra viscera receptus est}1 Es ist im ganzen der protestantische Begriff einer geistlichen Depravation, einer Säkularisierung" [378] der dem allgemein historischen und ästhetischen der Dekadenz}5 wie er dann in der
9 Vgl.d'Elia[Anm.5],S. 34ff. 10 Die erste Wandlung scheint bei G. Villani vorzuliegen: »omnis paene consenuit poesis (sc. im späten römischen Imperium), eo etiam fortasse quod ars non esset in pretio, cumfides catholica coepissetfigmentapoetarum ut rem perniciosam et vanissimam abhorrere« (zitiert nach: Le vite di Dante, scritte da G. e F. Villani [u.a.], hrsg. von G. L. Passerini, Florenz 1917, S. 181). Viel stärker tritt die Verurteilung der christlichen Kunstzerstörer< bei den Theoretikern und Historikern der Schönen Künste auf, zugleich mit dem Topos von Papst Gregor, dem Statuen- und Buchzerstörer (vgl. T. Buddensieg, Gregory the Great, the destroyer of pagan idols, in: Journal of the Warburg and Courtauld Inst. 28,1965, S. 44ff.). 11 Vgl.d'Elia[Anm.5],S.38f. 12 Vgl. dTlia [Anm. 5], S. 67. 13 Vgl. hierzu eingehend d'Elia [Anm. 5], S. 84ff. 14 Zum Begriff und seiner Geschichte: F. Delekat, Über den Begriff der Säkularisierung, München 1968; H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, S. 9ff. Zu literarischen Folgeformen: A. Schöne, Säkularisierung als sprachbildende Kraft, Göttingen 1968. 206
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Geschichtsschreibung der Aufklärung vorherrschend wird, vorausgeht und ihm dauernden, latenten Nachdruck verleiht. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts haben sich beide Modelle zu Komplementen verschränkt. Diese Verschränkung wird nicht etwa von der beginnenden Romantik, die auf protestantischer Seite das nationale Mittelalter bis zu den Völkerwanderungen, auf katholischer Seite darüber hinaus die christlich-spätantiken »einfachen« Formen der Literatur, insbesondere die Hymnodik, rezipierte, in Frage gestellt, sondern übernommen. Nur im beschränkten Milieu der militant-antirevolutionären Frühromantik versuchte eine extreme Position, die lateinische Dichtung der Spätantike (die seit der ratio studiorum Tamissiers (1598) aus dem Schulkanon verschwand) zu popularisieren: so hat Arevalo seine Editionen aufgefaßt und in den Vorreden begründet: »buk malo (sc. der französischen Aufklärung und Revolution) maxima ex parte occurri potest, si mordicus retineatur et accurate explicetur doctrina cum aliorum patrum tum poetarum christianorum.«16 Aber wie Schlegel, so haben selbst Chateaubriand und vollends Ozanam die überkommenen Wertungen auf die altchristliche Literatur übertragen und sie der immer positivistischer werdenden allgemeinen Literaturgeschichte und Patristik vermittelt. Die Fronten, die man in die spätantike Literatur projiziert, sehen um 1900, etwa zur Zeit der einflußreichsten Werke zu diesem Gegenstand, A. von Harnacks Geschichte der altchristlichen Literatur und G. Boissiers Lafxn du paganisme, so aus: eine grundsätzlich neue Weltanschauung (der das Ästhetische ein fremder, jedenfalls untergeordneter Aspekt ist) löst eine absterbende, auch in den ästhetischen Formen dekadente, rhetorisierte [379] Antike ab. Sie steuert ihr eigentlich zukommende, eigenständige poetische Ausdrucksformen (Hymnodik) an, die sie in der Spätantike z.T. auch erreicht; z.T. verfällt sie, in einer Verfälschung des ihre Botschaft tragenden ursprünglichen Gefühls, der Säkularisierung durch dekadente Literaten, die nur mehr tote, trockene, hybride Werke schaffen - hegelianisch gesehen gleichsam eine massa perditionis des Epochenübergangs. Dieses Bild, wie es uns heute noch, nicht nur aus älteren Handbüchern,17 vertraut ist, bot der Forschung des 20. Jahrhunderts die Angriffsfläche, mußte zu Ausgleichsmodellen zwischen den Hypostasen »Antike« und »Christentum« führen, reizte überdies zu beständigen »Rettungen« der in Patristik und Philo15 Die beste Begriffsgeschichte, auch für die frühe Neuzeit: K. W. Swart, The Sense of Decadence in 19th Century France, Den Haag 1964. 16 Prolegomena in Coelium Sedulium, Rom 1794 - PL 19, S. 436. 17 Am traditionellsten noch Chr. Mohrmann, £tudes sur le latin des Chretiens, Bd. 3, Rom 1965, S. 151ff. 207
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logie nach wie vor abgelehnten, in der Öffentlichkeit längst vergessenen Werke. In diesem Umfeld sind jene Leitbegriffe entstanden - der des »Ersatzes« tauchte als erster auf -, die im folgenden am Beispiel kurzer Interpretationen darauf befragt werden sollen, inwiefern sie selbst noch den neuzeitlichen Kontinuitätsvorstellungen und Wertungen verpflichtet sind, vor allem aber: inwiefern sie spezifische Literaturformen der christlichheidnischen Spätantike zu umschreiben vermögen. Denn das erscheint doch als der einzig angemessene Weg: die eigenen Kategorien anhand von Texten zu überprüfen, die seit dem 4. Jahrhundert eine eigene Formkontinuität aufbauen und sich dessen - im Unterschied zur Zeit nach den Humanisten18 - auch bewußt sind. Man überwindet damit zwar nicht, wie Arevalo meinte, die Tatsache, daß die Spätantike noch immer die ungelesenste Epoche Europas überhaupt darstellt (außerhalb der Confessiones und einiger Brevierhymnen wird kein Buch [380] von Nicht-Spezialisten gelesen) - ein Faktum, das die Forschung, gerade auch im Fehlen einer lebenden, außerfachlichen Literarkritik, zu wenig in Rechnung stellt. Aber man erreicht vielleicht ein Textverständnis, das über das Ziel von »Rettungen« hinausgeht und literarische Strukturen sichtbar macht, die ästhetischen Tendenzen der eigenen Zeit durchaus nicht fernstehen. Zu diesem Zweck sollen poetische Texte gewählt werden, die eben jener Gruppe des »Dekadent-Säkularisierten« angehörten (also der Gruppe Juvencus, Paulinus, Prudentius usw.), und aus ihnen Werke, die exemplarisch das Form-Inhalt-Schema zu erfüllen scheinen, indem sie alte Gattungen »christianisieren«. Es bot sich (auf lateinischer Seite) in diesem Fall die »Christianisierung« des Paulinus von Nola (hier: Epithalamium; Propemptikon) an; angeschlossen wird eines der Natalicia. Paulinus repräsentiert nicht nur, was die Gattungsvielfalt und die poetologische Reflexion angeht, die mittlere Entwicklungsphase dieser Gruppe; er stellt auch in der Forschung zur altchristlichen Poesie so etwas wie einen blinden Fleck dar. Trotz recht zahlreicher Einzeluntersuchungen hat er - im Unterschied zu Prudentius - nicht zu generellen Konzepten Anlaß gegeben. Selbst eine befriedigende Gesamtdarstellung der Poesie fehlt noch. Er gilt als langweiliger, z.T. läppischer Poet.19 Man kann also gewärtig sein, bei 18 Vgl. hierzu Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, S. 165ff. 19 Vgl. - aus jüngster Zeit - K. Thraede, Studien zu Sprache und Stil des Prudentius, Göttingen 1965, S. 26: »langweilige Hexametermassen«; R. Argenio, San Paolino da Nola, cantore di miracoli, Rom 1970, S. 65: »non fu grande poeta«; W. H. C. Frend, »The two worlds of Paulinus of Nola«, in: Latin literature of the 208
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ihm trotz aller begrifflichen Nuancen in der neueren Forschung auf das ungebrochene neuzeitliche Verständnis spätantiker Poesie zu treffen. [381]
I Paul. Nol. carm. 25 Ersatz (Verdrängung); Kontrast (Kontrafaktur); antike Form - christlicher Inhalt Das Epithalamium in Iulianum et Titiam ist die am häufigsten untersuchte Dichtung des Paulinus.20 Sie ist als einzige in den letzten Jahren neu ediert und kommentiert worden.21 Mit ihr scheint ein Paradefall für das Phänomen des Ersatzes (remplacementy sostituzione) antiker Gammgen durch christliche vorzuliegen. Ohne Zweifel schreibt Paulinus aus dem Bedürfnis, dem sozial hochgestellten Brautpaar bei seiner Einsegnung etwas den alten Hochzeitscarmina Ebenbürtiges zu offerieren. Es sind generell Gattungen, durch welche die sehr stabilen gesellschaftlichen (meist aristokratischen) Lebensformen des spätantiken Ständestaats vor und über allen »konfessionellen« Lagern gewahrt bleiben sollen, für die sich das Ersatz-Modell zur Interpretation anbietet (so in der Panegyrik, im Epikedion, in der Epistolographie). Jedoch ist dieses Modell wegen der in ihm steckenden, aber zumeist falschen wirkungsgeschichtlichen Behauptung der Verdrängung (oder wenigstens des Anspruchs auf Verdrängung: um die heidnische Literatur »dann unnütz zu machen«)22 gegenüber den Tagen Geffckens und Boissiers23 in der Forschung völlig aufgegeben worden.24 Vielleicht zu früh; denn dieses Modell stellt in der Tat als einfourth Century, hrsg. von J. W. Binns, London 1974, S. 122: »rather tedious works«. 20 Vgl. C. Morelli, in: Studi Italiani di Filologia Classica 18, 1910, S. 319-432; F. Wilson, in: Speculum 23, 1948, S. 35ff.; R. Keydell, An. >£pithalamium<, in: Reallexikon für Antike und Christentum 5, Stuttgart 1962, Sp. 927ff., hier: Sp. 942f.; Z. Pavlovskis, in: Classical Philology 60, 1965, S. 164ff. 21 J. A. Bouma, Assen 1968. 22 J. Geffcken, Antike Kulturkämpfe, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 15,1912, S. 606. 23 La fin du paganisme, Bd. 2, Paris 1903, S. 4; hier wird die christliche Poesie noch als Beweismittel gegen die Paganen verstanden; vgl. generell zur Ersatztheorie Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. LXn. 24 Vgl. P. G. van der Nat, Divinus vere poeta, Leiden 1963, S. 24. 209
PAULINUS VON NOLA ziges eine wirkungsgeschichtliche Frage: inwiefern steht [382] die Handhabung der alten Gattungen durch Christen in einem Verdrängungskampf gegen die alte Literatur; inwiefern ist ein solcher Verdrängungskampf erfolgreich verlaufen; hat die Poesie eine Rolle in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen »dezidierten« Paganen und »militanten« Christen gespielt? Diese Fragen werden ja nach wie vor kontrovers beantwortet, schon aufgrund der unterschiedlichen Methoden, deren sich die Forschung zu ihrer Beantwortung bedient hat (literarische Topik; Sozialgeschichte). Daß jedenfalls für die Poesie der wirkungsgeschichtliche Aspekt des Ersatz-Modells nur beschränkt, nämlich in einem bereits innerchristlichen Umkreis, sinnvoll ist, zeigen die folgenden Beobachtungen: 1) In der direkten und aktuellen christlich-paganen Polemik erscheint die Poesie - außer Contra Flavianum und Ad quendam senatorem - nirgends; daß sie überhaupt heidnische Leser gehabt hat, erscheint höchst zweifelhaft;25 2) eine eigentliche Verdrängung oder Reduktion paganer (besser: inhaltlich neutraler) Gattungen wird nicht sichtbar; 3) das Bewußtsein, mit den von Christen gehandhabten alten Gattungen über eine »eigene«, »christliche« Poesie zu verfügen, tritt vor dem 5. Jahrhundert, vor Sidonius Apollinaris, außerhalb der Präfationentopik nicht auf.26 Entsprechend bestehen offenbar bestimmte hierarchische Schranken gegenüber dieser ersichtlich als prinzipiell pagan empfundenen Betätigung: von der bischöflichen Ordination ab gilt die Produktion (und Lektüre) von Poesie nicht mehr als vertretbar;27 4) demgegenüber läßt sich tatsächlich die wesentliche Funktion dieser christlichen Gattungsusurpation [383] als Aneignung eingefleischter Kultur- und Lesebedürfnisse einer bereits christlichen Bildungsaristokratie28 der Spätantike verstehen. Sprechendes Zeugnis ist der erste Brief des Sedulius an Macedonius: wer der Poesie »pro insita consuetudine vel natura« verfallen sei, sei nicht zu verdammen (»Ao-
25 Über mögliche Wirkungen des Prudentius auf Claudian: A. Cameron, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970, S. 467ff.; J. Fontaine (Les symbolismes de la cithare dans la poesie de Paulin de Nole, in: Romanitas et Christianitas. Studia J. H. Waszink ... oblata, Amsterdam 1973, S. 133) halt die Existenz eines heidnischen Publikums für möglich. 26 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. 167ff. 27 Vgl. Sidon. epist. IV,12; DC,12; DC,16; Ale. Avit. Prologus ad Apoll, (zu carm. 6 De virg., S. 275 Peiper); Ennod. opusc. 6 (S. 311 Vogel); Statuta Ecclesiae antiqua 5. 28 Die erst im 5. Jahrhundert erfolgende Erweiterung des Phänomens auf die ländliche Unterschicht ist dargestellt bei P. Rich£, Education et eulture dans l'Occident barbare, Paris 1962.
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rum mores non repudiandos aestimo«); wichtig sei, daß er als Christ (»viam libertatis ingressum«) nicht die alte Poesie lese: »non repetat iniquae servitutis laqueos> quibus antefuerat inretitus«;29 5) das Phänomen der programmatisch christianisierten Gattimgen in der Poesie läßt sich also nur begrenzt durch die Vorstellung eines Ersatzes, eher durch die einer parasitären Teilhabe am spätantiken Schulbetrieb umschreiben, die außerhalb der monastischen Institutionen nach dem 5. Jahrhundert nicht aus spontanen, gar poetischen Antrieben fortgesetzt wurde: »properantes ad se de disciplinis saecularibus salutis opifex non refutat, sed ire ad Mas quemquam de suo nitore non patitur.«*0 Doch auch im speziellen Fall des Epithalamium ad lulianum et Titiam führt die Ersatzvorstellung nicht an den Text selbst heran, ja sie trifft, was die Gattung angeht, geradezu ins Leere: nach Paulinus gibt es eine Fülle von Epithalamien, die sehr wohl die antike Gattung im alten Sinne aufnehmen und fortsetzen. Ein Fall kann geradezu als Antwort auf die Umformung des Paulinus angesehen werden.31 Ein geeigneteres Interpretationsmodell stellt nun der Begriff des Gattungskontrasts (Konkurrenz, opposizione) bereit, den der christliche Poet zu den alten Formen aufzustellen bemüht sei. Gegenüber der hergebrachten, leicht summarisch hegelianisierenden Ersatzvorstellung (das Alte wird »aufgehoben«) [384] wird hier die spätantike Literatur als ein längeres Nebeneinander zweier konkurrierender Literaturen aufgefaßt. Wo in der Forschung heute noch von Ersatz die Rede ist, ist zumeist diese KontrastVorstellung gemeint,32 und andererseits basiert, selbst wo ein bruchloses Aufgehen des Christlichen im Inhaltlichen, des Antiken im Formalen in Frage gestellt wird, das Kontrastmodell zumeist auf der neuzeitlichen Vorstellung eines Aufnehmens antiker Gattungsformen unter »Füllung« durch neue, christliche Inhalte. Das Modell entwickelt eine reiche Metaphorik, die in den meisten Fällen direkt an die spätantike Topik anknüpfen kann.33 Denn daß diese 29 Hrsg. von J. Huemer (CSEL 10), S. 5f. 30 Ennod. epist. EX,9 (S. 297 Vogel). 31 Ennod. carm. I,4,53ff.: die Klage des Eros gegen die zunehmende virginitas (S. 277ff. Vogel). 32 Vgl. M. Fuhrmann, Die lateinische Literatur der Spätantike, in: Antike und Abendland 13, 1967, S. 76. 33 Vgl. G. Bardy, Litterature grecque chretienne, Paris 1928, S. 13: »admirable vetement«; M. L. W. Laistner, Thought and Letters in Western Europe A.D. 500 to 900 (London 21957), S. 45: »indebted only for their technique (...), filled with new ideas«; A. F. Memoli, Originalita, fortuna ed arte di un nuovo genere lettera211
PAULINUS VONNOLA Anknüpfung möglich war, daß die christlichen Poeten der Spätantike und die Reflexionen z.B. des Hieronymus und Augustin selbst ein formalinhaltliches Kontrastbewußtsein verraten, ist ein starkes Argument für die Angemessenheit des Modells. Nicht nur die Spiegelung der antiken Gattungen in die Bibel hinein aus dem Gefühl der geistlich-literarischen Konkurrenz, die Aufstellung einer kontrastiven Literaturgeschichte, die Präfationentopik mit der Ausformung einer kontrastiven Metaphorik, sondern auch die ersten größeren Poesien der christlichen Literatur, die Evangelien des Juvencus und der Cento der Proba, sind nach ihrem Programm und ihrer Form als Konkurrenzprodukte angelegt. Der Cento Probae kann sogar dem reinsten Modellfall des Gattungskontrasts, der Kontrafaktur, zugerechnet werden (die auch im eigentlichen, musikalischen Sinn in der Spätantike durch das christliche Keleuma belegt ist und von Hieronymus für einzelne Psalmen und das Hohelied postuliert wird). Der Begriff der Kontrafaktur [385] mit seinen begleitenden Vorstellungen (so den »Textunterlegungen«; supposizione) erfreut sich gegenwärtig in der Forschung großer Beliebtheit;34 in der französischen Forschung von Boissier bis Fontaine35 wird er durch Cheniers »sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques« ausgedrückt. Legt man also einer Interpretation des carm. 25 das Modell des Gattungskontrasts zugrunde - und so verfährt durchweg die Spezialforschung36 -, muß die erste Frage nach der formalen Kontinuität zur Gattung Epithalamium lauten. Die Antwort wird durchweg in einer Gliederung von carm. 25 nach den Topen des antiken Epithalamiums unter Beiziehung des Theoretikers Menander gegeben. Freilich fällt sogleich die starke Differenz bei der Abgrenzung dieser Topen (1. irpoofpiov, Einleitung <; 2. TTEpl TOO yäpcu, >Über die Ehe<; 3. £yKcbpiov T&V ya^ouirrcov, >Preis der Brautleute<; 4. ?K9paai$ TTJS vup >Beschreibung der Braut<; 5. TrpcTpam'i, >£rmunterung<) auf,37 mehr noch deren Zerspliuerung und rio, il sermone latino cristiano, in: Nuovo Didaskaleion 14, 1964, S. 70: »la vesta ricca e splendida«. 34 Vgl. Herzog, Die Bibelcpik [Anm. 18], S. LXD und 221. 35 Boissier, Lafindu paganisme [Anm. 23], Bd. 2, S. 43; Fontaine, Les symbolismes de la cithare [Anm. 25], S. 142 Anm. 60. 36 Vgl. C. Morelli [Anm. 20], S. 417: »voluta opposizione«; ähnlich Z. Pavlovskis [Anm. 20], S. 165; J. A. Bouma [Anm. 21], S. 11; R. Keydell [Anm. 20], Sp. 942: stau einer iipaipainf| (>Ermunterung<) in Wahrheit eine AiTüipuni'i (>Abraten<). 37 Vgl. C. Morelli [Anm. 20], S. 418ff.; R. Keydell [Anm. 20], Sp. 943; J. A. Bouma [Anm. 21], S. 12; S. Costanza, I generi letterari nell'opera poetica di Paolino di Nola, in: Augustinianum 14, 1974, S. 643. 212
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zufällige Position im Rahmen des Gedichts: nur -npoofpiov (v. 1-14) und irepi TOÖ yäpou (v. 15-26 [28?]) sollen einander den Vorbildern gemäß folgen, im übrigen sei in v. 27-152 an Stelle destyKcityiiov»een protreptisch betoog te vinden«;38 v. 153-198 erscheint nur mehr unter der Bezeichnung >Exkurs<39 oder wird nicht erwähnt.40 Bei näherer Prüfung stimmt aber offensichtlich die ganze Topensubsumtion nicht: wo wird in v. 1-14 die traditionelle epische Maschinerie in der Tradition des Statius, die hier nach Meinung der Forschung gespiegelt [386] wird, greifbar? Ist die Einsetzung der Ehe im Paradies v. 15ff. wirklich ein Kontrast zu den mythologischen Projektionen des alten Epithalamiums, an dieser Stelle meist auf die Hochzeit des Peleus? Generell gefragt: wo wird wirklich einer alten Form ein neuer Inhalt gegeben? Die Antwort, die carm. 25 gibt, widerspricht dem Form-Inhalt-Schema. Denn es gibt in diesem Gedicht sehr wohl Kontrastpunkte, aber an ihnen wird - mit dem Schema zu reden ein Inhalt einem anderen konfrontiert, wird der alte Inhalt vergeistigt. So einmal in v. 15lf., wo statt der Iuno Pronuba ein Iesus Pronubus fungiert - aber nicht im Rahmen eines Gattungsabschnitts, überhaupt einer Handlung, sondern in einer biblischen Vergleichsszene (es liegt der Rezeptionstyp der Korrektur vor, wie er in der Imitationsforschung geläufig ist).41 So aber vor allem im »Proömium« (v. 3f.): »Christe dem, pariles duc ad tuafrena columbas et moderare levi subdita colla iugo.« Hier ist aus dem gesamten mythologischen Zug der erotischen Gottheiten zum Ort des Epithalamiums nur ein Bild herausgelöst, verselbständigt und vergeistigt worden: die Zugtiere des zum Brautpaar eilenden Venuswagens, die Tauben (zuweilen sind es auch Schwäne), werden über die Vorstellung der Seele als Taube - zu den christlichen Eheleuten selbst. Vergeistigung ist also Metapher; und diese Metapher wird im Pentameter biblisch verbreitert. Das Joch (des Venuswagens) wird zum »sanften Joch« Christi. In der Forschung ist diese Beziehung durchaus beachtet worden;42 da sie jedoch im Modell des formalinhaltlichen Kontrasts keinen Platz findet, ist man sich der Eigentümlichkeit und Tragweite der 38 J. A. Bouma [Anm. 21], S. 12. 39 R. Keydell nur [Anm. 20], Sp. 943: »ein großes Stück der Mine«. 40 S. Costanza [Anm. 37], S. 643. 41 Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. 193f. 42 Vgl. C. Moreili [Anm. 20], S. 418; Z. Pavlovskis [Anm. 20], S. 166; J. A. Bouma [Anm. 21], zur Stelle. 213
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Vergeistigung nicht bewußt geworden. Der Eigentümlichkeit nämlich, daß [387] diese Verwandlung der alten mythologischen Handlung nicht nur Vergeistigung, sondern Isolierung auf ein Bild und Reduktion zur Unanschaulichkeit bedeutet: die Eheleute ziehen selbst den Wagen, dessen Fahrt nun sinnlos (und überformt) ist. Übrigens hat Paulinus hier außer dem Eingang des traditionellen Epithalamiums auch den vor den Triumphwagen der Venus gespannten amator der römischen Elegie vergeistigt. Die Tragweite des inhaltlich spiritualisierenden, formal metaphorischen Kontrasts wird erkennbar, wenn man mit den vergeistigenden Antithesen ab v. 31 (vorbereitet ab v. 9ff.) der Grundform überhaupt von carm. 25 begegnet, einer wahren Stretta von Antikerezeptionen KCCT' öcvT^paoiv (>ins Gegenteil verkehrt).*1 Es handelt sich hier um eine verbreitete Form des inhaltlichen Antikekontrasts; man vergleiche etwa Hier, epist. 108,3 (£mTäGrabrede<, auf Paula).44 Eher als die gewaltsame Rückbeziehung auf Gattungstopen verlohnt hier ein Einblick in die verschiedenen antithetischen Typen, auf deren Vielfalt die eigentliche Kompositionsenergie von carm. 25 liegt. Es gibt neben der ausgearbeiteten Form v. 31ff. den stillschweigenden, »thetischen« Kontrast (v. 30; 53: verborgene Vergeistigung: Edelstein - virtus)y den Kontrast durch Aussparung (»Christus soneU - und nicht Hymenaeus), die Vergeistigung der erotischen Sondersprache (vgl. v. 146: »suscipere«)y die Vergeistigung antiker Objekte zu Symbolen (»unguentum« v. 37ff.); schließlich erscheint auch die Form der biblisch verbreiterten Metapher (v. 45f.; 91ff.). Scheinen solche Phänomene zunächst nur dem Modell »christliches Epithalamiums etwas mehr Hintergrund zu verleihen, so stellen bestimmte formale Konsequenzen das Kontrafakturmodell überhaupt in Frage. Zweifel beginnen bei jener Form, die als biblisch verbreiterte Metapher bezeichnet wurde; und diese liegt eben in jenen Passagen vor, welche die [388] Forschung unter Verlegenheitsbegriffe wie >Exkurs< subsumierte. Biblisches erscheint zwar in carm. 25 auch in einer der antiken Mythologie vergleichbaren, exemplarisch-illustrativen Funktion (so v. 73ff. Jesaias; v. 103ff. Paradies, Rebecca, Herodias), wird allerdings nicht mehr auf den Anlaß Epithalamium bezogen. Ab v. 15 aber liegt eine neue Form vor, die nicht mehr als Accompagnato verstanden werden kann, sondern - in v. 141-190 wiederaufgenommen - mit ihrer impliziten Bibel43 Vgl. bereits W. Schmid, Art. >Elegie<, in: Reallexikon für Antike und Christentum 4, Stuttgart 1959, Sp. 1058. 44 Zur Form: Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. U. 214
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exegese die Einheit des Gedichtes trägt. Was v. 15-27 noch ganz unmetaphorisch erzählt wird (»prisca sub imagine«; daher dem Topos mpl TOO yäpou, >Über die Ehe<, in der Tat ähnhch), gibt ab v. 146 (»Christum in coniuge suscipiat«) über verschiedene paulinische Metaphern (Eph. 4,15f.: Christus als Haupt des Gemeindekörpers) und paulinische Exegesen (2 Kor. 11,2; vor allem Eph. 5,3 lf.) der »Ehe« einen ekklesiologischen Sinn; sie wird zum Inbegriff der keine Geschlechter, weder Jugend noch Alter (vgl. v. 175f.) kennenden kirchlichen Gemeinschaft - ein paradoxer »Kontrast« zum Epithalamiuml Aber es geht nicht an, sich beim Exkurscharakter dieser Passagen zu beruhigen. Denn der ekklesiologische Horizont mit einer Aufhebung aller individuellen und geschlechtlichen Besonderheit ist es, den Paulinus ersichtlich durch die biblisch-metaphorische Form in diesem Gedicht zu erreichen sucht. Es handelt sich nicht um bloße »Überladenheit mit biblischen Zitaten und Anspielungen«;45 vielmehr steuert dieses Epithalamium einem Preis der Virginität zu. In v. 149f. erscheinen Eva und Sarah zunächst nur als weitere Exempel; in v. 151ff. scheint das Auftreten des Iesus Pronubus und der Maria zu Kana nur durch die »Hochzeit« vermittelt zu sein. Doch die ausgefeilte Exegese v. 153-190 erweist, daß Eva und Sarah als Typen der Gattin und Schwester vereint in Maria, der »schwesterlichen«, unberührten Ehefrau gespiegelt werden, [389] die die Kirche ist, aber auch in der als Gemeindemitglied einen Teil des Körpers Christi darstellenden Titia anwesend sein soll (vgl. v. 233ff.). Die komplizierte Linie der Exegese kann hier nicht im einzelnen nachgezogen werden; wichtig ist, daß sie nach biblischem Material und Argumentation an die altkirchlichen Traktate De virginitate anschließt.46 Hinter dem Gattungskontrast des christlichen Epithalamiums erscheint also - angezeigt durch formale Anomalien - eine ekklesiologisch-asketische Poesie. Solche Transformationen sind in der spätantiken Literatur recht häufig. Vermutlich ist das Material noch nicht einmal hinreichend aufgedeckt (der Form von carm. 25 am ehesten zu vergleichen: eine consolatio wird über die Metapher >Träne< - pii actus zum Mildtätigkeitssermon: Paul. Nol. epist. 13; eine Grabrede wird zur Klosterregel, zum antihäretischen Disput: Hier, epist. 108,20ff.). Das Modell der formal-inhaltlichen Gattungskontinuität führt also nur zu einem bestimmten Punkt, über den hinaus es den Text nicht mehr zu45 L. Kraus, Die poetische Sprache des Paulinus Nolanus, Diss. Würzburg 1918, S. 36. 46 Vgl. J. A. Bouma [Anm. 21], zur Stelle. 215
PAULINUS VON NOLA reichend erfaßt. Es ist kein Zufall, daß eben an diesem Punkt - formale Anomalien - bei allen, die an dem Modell festhalten, die überkommene Negativwertimg in einem eindrucksvollen internationalen Unisono durchschlägt: beklagt wird die »Manie des Verfassers, Zitate aus der Heiligen Schrift einzuschalten«,47 »senza un ordine ben definito«;41 Paulinus ersetze leider die Mythologie durch einen »sermon qui nous semble quelquefois plus edifiant qu'agreable«;49 kurzum: »by challenging classical poetry (...) he suffered a signal defeat«.50 [390]
n Paul. Nol. carm. 17 Verschmelzung (christlicher Humanismus); Christianisierung (Verwandlung, Vergeistigung) Das Kontrast-Modell wurde im 20. Jahrhundert mehrfach revidiert. Am folgenreichsten erwies sich, daß gegenüber der unzureichenden Verrechnung von Antike und Christentum auf Form und Inhalt die Konfrontation von Inhalt und Inhalt, mit anderen Worten: die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung in den Vordergrund trat. Jetzt erst kam es zu einer dauerhaften Begegnung von Patristik und Philologie. Versuche, Liturgie und Exegese von der literarischen Analyse fernzuhalten, können mittlerweile als Anachronismen gelten.51 Diese Begegnung hat dazu geführt, daß der Begriff einer mehr oder weniger »reinen« Form der antiken Gattung als Fiktion betrachtet wurde;52 vor allem die Arbeiten Fontaines haben auf die lange Geschichte der Gattungs- und Stilmischungen vor und innerhalb der Spätantike hingewiesen, ohne welche die Gestalt der christlichen Aneignungen nicht zu erfassen ist. Und andererseits wurde die Ungeschichtlichkeit eines für die Spätantike pauschal Verwendung 47 A. Eben, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters I 1, Leipzig 1889, S. 310f. 48 C.Morelli[Anm.20],S.421. 49 G. Boissier, La (in du paganisme [Anm. 23 J, Bd. 2, S. 88. 50 H. Green, The Poetry of Paulinus of Nola, Brüssel 1971, S. 37; vgl. S. Prete, Paolino di Nola e l'umanesimo cristiano, Bologna 1964, S. 152. 51 Vgl. noch M. Pellegrino, Religion et poesie dans le christianisme antique, in: Revue dUistoire et de Philosophie Religieuses 41,1961, S. 395. 52 Vgl. J. Fontaine, Le melange des genres dans la poesie de Prudence, in: Forma Futuri. Studi in onore del canünale M. Pellegrino, Turin 1975, S. 760.
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findenden Begriffs des »Christlichen«, ja seine Angemessenheit überhaupt, in Frage gestellt;53 was in der Spätantike einer »christlichen Seite« zugerechnet werden muß, erwies sich als höchst zweifelhaft: ist das - historische - Christentum der Spätantike nicht bereits Verschmelzung, also Ergebnis selbst der Auseinandersetzung? Diese Fragen wurden [391] und werden in den Arbeiten der DölgerGesellschaft erörtert;54 sie werden überdies seit den 20er Jahren durch eine Reaktionsbewegung gegen das allgemeine Verdikt über die christliche Spätantike getragen, die sich unter der These von einem christlichen Humanismus der Spätantike artikulierte, in der Mehrzahl von katholischen Gelehrten repräsentiert wurde und nach dem 2. Weltkrieg, indem sie den christlichen Humanismus des 4. Jahrhunderts als die erste und exemplarische Antikerezeption Europas interpretierte, zuweilen an eine restaurative Kulturpolitik anknüpfte. Die Arbeiten E. K. Rands, H. Rahners, P. Courcelles, E. R. Curtius' (um nur einige zu nennen) bezeugen gerade da, wo sie nicht Detailanalyse sind, noch die ursprüngliche Apologetik gegen klassizistische Vorurteile: der christliche Schriftsteller erreicht nach dem Humanismus-Modell, »ne sacrifiant jamais le fond a la forme«,55 eine Harmonie,56 eine Art prästabilierten Ausgleichs zwischen den sich ergänzenden, im Grunde einander zugeordneten »wahren« Werten der Antike und des Christentums; im christlichen Humanismus des 4. Jahrhunderts bekräftigen diese sich gegenseitig,57 ja das »Christliche« befreit einerseits durch seine Rezeption die verschütteten Werte der Antike und erreicht so andererseits erst seine verbindliche Hochform.58 Kritik am humanistischen Verschmelzungsbegriff setzte denn auch an dem Punkt an, wo ohne zureichende Detailanalyse Harmonie postuliert
53 Insbesondere durch K. Thraede (vgl. zuletzt in: Jahrbuch für Antike und Christentum 17, 1974, S. 154). 54 Vgl. zuletzt H. Dörrie, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 11/12, 1968/69, S. 189: »Die Forschung steht vor einer ungemeinen Fülle von Umwendungen, Neu-Deutungen, Umwertungen, in denen >Spätantiker Geist< (der nicht notwendig als christlich zu präzisieren ist) am Werke ist.« 55 G. Bardy, Litterature grecque chretienne [Anm. 33], S. 13. 56 So z.B. N. K. Chadwick, Poetry and letters in early Christian Gaul, London 1955. 57 So P. Courcelle, L'humanisme chretien de saint Ambroise, in: Orpheus 9, Catania 1962, S. 34. 58 Vgl. F. Arnaldi, Dopo Costantino, Pisa 1927, S. 243f. (von Paulinus); A. Wifstrand, Die alte Kirche und die griechische Bildung, Bern 1967, S. 19. 217
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wurde, [392] wo nicht das Wie der Verschmelzung zur Debatte stand,59 Auch erhoben sich Stimmen gegen die intendierte Vorbildlichkeit eines christlichen Humanismus für unser Jahrhundert.60 Indessen haben gerade Einzeluntersuchungen, die (innerhalb und außerhalb des Reallexikons für Antike und Christentum) unter dem Leitbegriff einer Christianisierung {Umsetzung, transformation, retractatio) standen, zu dem sehr fruchtbaren Kontinuitätsmodell der Vergeistigung (spiritualite chretienne, symbolism) geführt. Wohlgemerkt: da hier Inhalt und Inhalt konfrontiert werden, stehen bei diesen Untersuchungen literarische Form und Gattungen gewöhnlich nicht im Vordergrund; nach diesem Modell ergeben sich die Formen der christlich-spätantiken Literatur erst als Konsequenzen der Christianisierung,61 und zwar - worauf nach W. Schmid des öfteren insistiert wurde62 - unterhalb der Gattungsschwelle, im Bereich des Stils und der Bilder. Natürlich fanden derartige Untersuchungen auf dem Feld der poetologischen Metaphorik ein lohnendes Objekt - so ist die Vergeistigung des »Opfers« und der Leier für die christliche Poesie mehrfach Gegenstand der Untersuchung gewesen.63 Abgesehen von der unter diesem Modell besonders fruchtbaren Imitationsforschung (z.B. geistliche Bukolik; Lichtsymbolik)64 sind die Untersuchungen [393] zur Vergeistigung der Erotik65 und des ländlichen otium* hervorzuheben.
59 Vgl. vor allem K. Thraede, Studien [Anm. 19], S. 12ff. und A. Salvatore, Studi Prudenziani, Neapel 1958, S. 12ff. 60 So K. Thraede, in: Romanitas et Christianitas [Anm. 25], S. 327 Anm. 26: wer heute noch Vergil und die Bibel vereinen wolle, marschiere »möglicherweise philologisch und theologisch in die falsche Richtung«. 61 Vgl. - zu Paulinus - J. A. Bouma [Anm. 21], S. 12 Anm. 2. 62 An. >Elegie< [Anm. 43], Sp. 1058, und J. Fontaine, Permanencia y mutaciones de los generös literarios clasicos de Tertulliano a Lactancio, in: Actas del HI Congreso Espanol de Estudios Clasicos (Publicaciones de la Sociedad Espanola de Estudios Clasicos 7), Madrid 1968, Bd. 2, S. 128, und ders., Le melange des genres [Anm. 52], passim. 63 Vgl. K. Thraede, Studien [Anm. 19], S. 28ff.; Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. 172f.; zur Leier: Ch. Witke, Numen Litterarum, Leiden 1971, S. 89ff.; J. Fontaine, Les symbolismes [Anm. 25]; H. Junod-Ammerbauer, Le po£te chretien selon Paulin de Nole, in: Revue des Etudes Augustiniennes 21, 1975, S. 13ff. 64 Vgl. Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. 185ff. 65 W. Schmid, An. >Elegie< [Anm. 431 und A. Salvatore, II motivo dellTEros nella spiritualita e nel linguaggio di San Agostino, in: Vichiana 7,1974, S. 251 ff. 66 J. Fontaine, Valeurs antiques et valeurs chretiennes dans la spiritualite des grands proprietaires terriens a la fin du IVe sikle Occidental, in: Epektasis. Melanges patristiques offerts au cardinal Jean Danielou, Paris 1972, S. 571ff. 218
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Das Modell Vergeistigung führt näher an den Text heran als jenes der Kontrafaktur - das zeigte sich am Epithalamium des Paulinus, dessen Transposition in eine ekklesiologisch-asketische Dichtung nur durch Aufmerksamkeit auf Spiritualisierungsprozesse erkennbar wurde. Im folgenden soll der formale Aspekt dieses Modells - die inhaltliche Umsetzung antiker Bilder, Stile und Werte führe zu formal neuartigen Konsequenzen (Problem der Gattungsmischung) - am Beispiel des Propemptikon des Paulinus (carm. 17) überprüft werden. Daß im Fall von carm. 17 die These vom Gattungskontrast nichts Förderliches erbringt, liegt auf der Hand: handelt es sich bei diesem Monstrestück (mit seinen 85 sapphischen Strophen der Riesenform des prudentianischen Romanushymnus präludierend) überhaupt um eine Anknüpfung an das alte Propemptikon (so die einzige Spezialstudie zu diesem Gedicht)67 oder an die Tradition des poetischen her}** Die Gattungstopen, wie sie Jäger aufführt,69 greifen nicht mehr; und soweit eine Folge von Abfahrt des Nicetas aus Nola, seinen Reisestationen und seiner Ankunft in Serbien überhaupt als reale Handlung erscheint, liegt sicher eine Mischung beider Traditionen vor. Es ist nun charakteristisch, daß die Feststellungen, die unter dem Vergeistigungsaspekt bisher zu carm. 17 [394] getroffen wurden (eine Detailuntersuchung fehlt noch), nicht an der Rezeption der alten literarischen Traditionen, sondern der antiken Vorstellung der Freundschaft interessiert sind: Paulinus, der überhaupt als der Transformator des antiken Freundschaftsbegriffs ins Spirituelle angesehen wird,70 habe in carm. 17 die »Spiritual unity« der beiden Freunde Nicetas und Paulinus ausdrücken wollen.71 Läßt sich nun unter diesem Gesichtspunkt auch die Form von carm. 17 interpretieren? Dafür spricht zunächst, daß das Gedicht in seiner Ausdehnung, auch in seiner scheinbaren Gestaltlosigkeit durch eine Kette von Vergeistigungsformen, genauer gesagt: durch ein stets neu einsetzendes Respondieren zwischen einer realen und einer spirituellen Instanz geprägt ist - sehr ähnlich den Hymnen des Prudentius. Carm. 17 läßt sich 67 F. Jäger, Das antike Propemptikon und das 17. Gedicht des Paulinus von Nola, Diss. München-Rosenheim 1913. 68 So E. Doblhofer, Drei spätantike Reiseschilderungen, in: Festschrift Karl Vretska, hrsg. von D. Ableitinger-Grünberger, Heidelberg 1970, S. lff. 69 Das antike Propemptikon [Anm. 67], S. 48ff. 70 Vgl. P. Fahre, Saint Paulin de Nole et Tamitie chretienne, Paris 1949; S. Prete [Anm. 50], S. 152. 71 H. Green [Anm. 50], S. 35; vgl. S. Costanza lAnm. 37], S. 642, und E. Doblhofer [Anm. 68], S. 5. 219
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zwischen den Rahmenstücken (v. 1-16, endend in einem Makarismos> und v. 317-340), die die Trennungssituation vergeistigen (und insofern tatsächlich an die Situation des Propemptikon anknüpfen), in sieben Blöcke gliedern, die jeweils von einem Abschnitt der Reise ausgehen (und insofern tatsächlich an die Situation des her anknüpfen) und Landschaft und Bewohner vergeistigen: 1) v. 21-56: Reise durch die Malariagebiete Süditaliens; 2) v. 57-100: durch Apulien; 3) v. 10M36: Einschiffung; 4) v. 137184: Seefahrt; 5) v. 185-240: durch Mazedonien; 6) v. 241-276: durch Thrakien; 7) v. 277-316: Heimkehr. Wie aber stehen die Reisespiritualisierungen mit der Verarbeitung der Trennung am Anfang und Ende in Beziehung? Die Trennung vom Freund wird hier negiert - wieder eine Anknüpfung KOT* dnntypaatv (>ins Gegenteil verkehrt*) an die alte Gattung -, bleibt mit dieser Negation aber noch in der Konsequenz eines Gedankens des alten Propemptikon: »menfe« und »corde« bleibt der Abreisende mit dem Freund vereint (vgl. ferner v. 89ff.). [395] Nur in der stärkeren Betonung der Nicht-Trennung hat denn auch Jäger die »eigenartige Umbildung«72 des antiken Freundschaftsgedankens gesehen. Doch was wäre an dieser Umbildung christlich? Und vor allem: sind die »ausgeuferten« 300 Verse des her nur eine unverbundene und weitschweifige,73 aus der Gattungsmischung mit einer anderen poetischen Tradition resultierende Einlage, ein »spiritueller Reiseführer für seinen Freund Nicetas«?74 In Wahrheit begründen die Stationen des her erst die Negation der Trennung. Sie formieren ein spirituelles Gefüge, das sich nicht mehr auf eine Vergeistigung antiker Gattungen und Werte beschränkt. Bis zur vierten Station (Seereise) einschließlich werden die Reiseszenen jeweils durch die bereits besprochene Form der biblisch verbreiterten Metaphorisierung überbaut - eine Form, die hier noch differenzierter als in carm. 25 sichtbar wird. Die Campagna-Sümpfe, so bittet der Dichter, sollen die Bitterkeit ihrer Miasmen verlieren, wenn Nicetas sie durchquert - so wie (Exod. 15,25) das Wasser von Mara durch Eintauchen des Holzes; wie als nächtliche Feuersäule den fliehenden Israeliten, so soll Christus auch Nicetas in der Dunkelheit leuchten (v. 29ff.). Das sind noch biblische Bezüge, die im Bereich des Exempels bleiben; noch sind die biblischen Geschichten heilsgeschichtliche Tatsachen, die an sich ihre »normale« 72 Das antike Propemptikon [Anm. 67], S. 62. 73 Vgl. G. Boissier, La fin du paganisme [Anm. 23], Bd. 2, S. 88: Komme il arrive toujours a saint Paulin, le milieu du poeme languit«. 74 E. Doblhofer [Anm. 68], S. 3. 220
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sakramentale Exegese erfordern (Paulinus deutet sie in v. 30 und 49ff. an) und nicht auf ein aktuelles, postskripturales Ereignis »bezogen« sind: Nicetas »erfüllt« auf diesem Abschnitt seiner Reise nicht das A T, sondern der Poet knüpft mit seinen guten Wünschen an die Exempel der alten Wunder an. Mit der Einschiffung aber verwandelt, verzaubert [396] sich die Natur,75 die Meerestiere drängen herzu, und unter ihnen tritt auch der Fisch des Jonas auf (v. 129ff.), zunächst scheinbar nur ein »testis« (v. 129). Doch dann handelt er, »besser« als im AT, für Nicetas korrigiert er sich: er spitzt nur die Ohren und sättigt sich ausschließlich am Gesang des Hymnendichters Nicetas. Von der »normalen« (christologischen) Exegese fehlt hier jede Spur: Nicetas »erfüllt« hier das AT. Untrügliches Anzeichen für diese »bezogene« Form der biblisch-metaphorischen Narrativität ist die Korrektur. Und neben der Korrektur alsbald die Überbietung: wenn Nicetas auf der Seefahrt als ein zweiter Jakob »flieht« (nämlich die »Welt«), übertrifft er spirituell den Patriarchen: »quod semel fecit patriarcha, semper / hie facit« (v. 150f.); ja nicht genug damit: die Himmelsleiter schaut er nicht nur; er erklettert sie auch »per crucis scalas« (v. 157). Der Abschluß der Fahrt durch Mazedonien und Thrakien zeigt dann Nicetas völlig als wundertätigen Verzauberer von Mensch und Landschaft, ohne daß nun noch eine biblisch-narrative Verankerung der Vergeistigungen nötig wäre. Die kalten und schroffen Gebirge werden - spirituell in der Seele ihrer Bewohner - sanft; die Briganten werden zu Mönchen; die unruhigen, seit 378 vom Reich praktisch nicht mehr kontrollierten thrakischen Föderaten nehmen den Frieden an (vgl. v. 261ff.). Hierbei überbietet Nicetas übrigens durch die (mit biblischen Metaphern überbaute) Gleichsetzung der thrakischen Einwohner mit Tieren implizit den thrakischen Sänger Orpheus (vgl. v. 253ff.). Die politisch-geistliche Allegorese zeigt in ihrer Tier-Metaphorik (vgl. v. 261ff.) eine große Nähe zum politischen Aspekt der prudentianischen Psychomachie.76 Und selbst nach der Heimkehr geht die spirituelle Reise des Nicetas noch fort (v. 301ff.): [397] in den Himmel, den Schoß Abrahams, wo Paulinus einen »patronus« (v. 306) für sich zu erwarten hat.77 75 Begleitet von Symbolen wie der »antemna crucis* (v. 47); vgl. das metaphorische Umfeld in v. 181ff. 76 Zu diesem Zusammenhang vgl. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S. 113ff. 77 Vgl. mit dieser Verarbeitung das andere geistliche Propetnptikon des Paulinus: epist. 5,18f. 221
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Solche den modernen Leser bisweilen blasphemisch anmutende Applikation der figuralen Spiritualität auf den Freund (der Begriff »Säkularisierung« meldet sich bereits) begründet Paulinus zu wiederholten Malen durch jene christologische Klammer, die auch die ekklesiologische Einheit von carm. 25 stiftete. Mit Nicetas (z.B. v. 58), in ihm (v. 15f.), als sein Haupt (v. 14) reist eigentlich Christus und erfüllt in dem zusammengedrängten Handlungsgefüge einer Reise das Heilsgeschehen spirituell noch einmal. Und unter Christus als Haupt ist auch Paulinus »eins« mit dem nur scheinbar abreisenden Freund (vgl. v. 10ff.). Die den Rahmen setzende Negation der Trennung ist aufs engste mit dem spirituellen her verbunden.71 Daß dieser Gedichtaufbau nicht mehr die Vergeistigung einer einzelnen Gattung oder eines einzelnen antiken Ideals (des Freundschaftsideals) bedeutet, wird vollends im Zentrum der Dichtung, auf der mittleren Station der »Reise« (der Seefahrt) deutlich. Die Fahrt wird hier über die Gleichsetzung mit Jakob zur Flucht; Nicetas »kommt« in der Welt nirgends mehr »an«, sondern steigt auf der Himmelsleiter zum edelsteingebauten himmlischen Jerusalem. Die Handlung schwindet vor einem statischen Bild (v. 157ff.): »in astra, qua deus nitens ad humum coruscis e tbronis spectat varios labores bellaque mentis.« Nicetas, wie die von ihm Bekehrten ein Stein im Gefüge der Himmelsstadt (v. 238ff. und 301 ff.), ist aus einer irdischen Psychomachie entrückt - der gleiche Bildzusammenhang wie [398] in der Psychomachie des Prudentius. In v. 169-184 - übrigens gerade in der Mine des Gedichts - hat sich Paulinus unter dem Aspekt eines allgemein menschlichen »nos« gänzlich vom poetischen »Anlaß« gelöst und variiert nur mehr die Symbole des »Wegs«, des »Lichts«, des »Meers«, des (psychischen) »Sturms«, des (Körper-) »Schiffs« und der »vela cordis«. Mit dem biblisch-metaphorischen Eintritt in den begrenzten, von der altchristlichen Dichtung ständig variierten Kreis von Symbolen kann von einer lediglich auf Kontinuität zur Antike beruhenden Vergeistigung sinnvollerweise nicht mehr gesprochen werden. Auch dieses Modell führt nur bis zu einem bestimmten Punkt. Diesen Punkt aber bezeichnet offensichtlich gerade die in carm. 17 beobachtete Ausweitung der biblischen 78 Vgl. wiederum epist. 5,18f. 222
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Metaphorik von der »normalen« Exegese zur »bezogenen« Form. Bei Wahrung der prinzipiell nur skripturalen und sakramental zu beziehenden Typologie blieb das der Bibelexegese eigene literarische Potential latent, domestiziert; die biblischen Vergleichsszenen konnten als »Exempel« den mythologischen Illustrationen in der Literatur vor der Spätantike nichts strukturell Neues hinzufügen. Die Freisetzung dieser Dynamik aber in der »bezogenen« Form bedeutet den Beginn einer nachantiken exegetischen Poesie, die gegenüber vergleichbaren Experimenten mit dem Mythos bei Horaz und vor allem Claudian durch die typologische Aufbereitung der Bibel in der Schriftexegese qualitativ neu erscheint. Jeder Realitätsausschnitt vermag nun in einen ausgedehnten, aber in sich geschlossenen Kosmos spiritueller Bilder und Handlungsfragmente integriert zu werden. Wer die exegetische Poesie der Spätantike studiert und die vordergründige Monstrosität ihrer Formen überwindet, wird feststellen, daß in einem jeden ihrer Produkte eine potentielle Totalität der Welterfassung herrscht. Noch gilt von diesen Formen, was bereits Kaspar Barth zu den Poesien des Paulinus anmerkte: »longe maiorem diligentiam requirunt quam putatum hactenus esr.«79 Aber das Dilemma ist eben, [399] daß es bisher an einer zureichenden Ästhetik und Begrifflichkeit für alle als Kontinuität zur Antike nicht mehr beschreibbaren Formen fehlt, daß sich insbesondere zur Umschreibung christlicher Formen Verlegenheitsbegriffe theologischer Provenienz einstellen. Denn um solche - auch in dem hier behandelten engen Sektor aus der christlich-lateinischen Poesie - handelt es sich natürlich bei Formulierungen wie »asketisch-ekklesiologische Dichtung«, »christologische Kompositionsklammer«, »exegetische Dichtung«. Der Verfasser teilt diese Verlegenheit mit anderen, die die Beteiligung spezifisch christlicher Ausdrucksformen an der Synthese der spätantiken Literatur untersuchen.80 Sie zeigt an, daß neben der vielfach ausgeleuchteten Begegnungsgeschichte zwischen Antike und Christentum eine Geschichte der innerchristlichen Ausdrucksformen zum vorrangigen Desiderat der Spätantikeforschung geworden ist. Für die hier behandelte Form etwa lautet das Problem: in welcher Weise vollzog sich die Literarisierung der seit der alexandrinischen Schule 79 Caspar von Barth, Adversaria commentaria, Frankfurt 1624, Buch 13,14. 80 Vgl. R. Argenio [Anm. 19], S. 71: »rintendimento parenetico«; F. Gastaldelli, Tcologia e retorica in San Gregorio Magno, in: Salesianum 29, 1967, S. 293: »esposizione dottrinale«; vor allem J. Fontaine, Le melange [Anm. 52], S. 773: »echo catechetique de la parole de Dieu ..., discours apologetique, exegetique, moralisant..., celebration liturgique ou paraliturgique«. 223
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ausgebildeten exegetischen Technik; wie wurde sie im 4. Jahrhundert im Westen rezipiert; an welche Ausdrucksformen in der vorhilarianischen christlichen Latinität konnte sie anschließen?81 Solange solche Untersuchungen nicht unternommen worden sind, schlägt nicht nur nach wie vor bei der Begegnung mit exegetischen Formen das Unverständnis als Werturteil durch.82 Vielmehr muß bis dahin der Interpret nach einer Überprüfung der Kontinuitätsmodelle der Frage gewärtig sein, ob denn überhaupt [400] »christliche« Formen in literarischer und nicht nur theologischer Beschreibung vorgestellt werden können. Ein Versuch, das Baugesetz der exegetischen Form in der christlichlateinischen Poesie näher zu umschreiben, soll an einem der hagiographischen Gedichte des Paulinus unternommen werden.
m Paul. Nol. carm. 26 Rhetorisierung (Dekadenz) - Säkularisierung; Poesie als Exegese Die Form der biblisch ausgedehnten Metaphorik und Vergeistigung, die »broderie spirituelle« der altchristlichen Dichtung,83 ist von der Forschung, auch der Spezialforschung zu Paulinus, seit langem konstatiert, freilich bislang nur in Ausnahmefällen als das Kompositionsprinzip dieser Dichtung interpretiert worden. Die Ursache liegt noch einmal in jener Verschränkimg der Spätantike-Abwertung, welche die (im Nordenschen Sinn) ubiquitär gewordene rhetorische Technik der späteren (dekadenten) Antike eine unheilige, das Evangelium verfälschende, säkularisierende Allianz mit der Technik der Exegese eingehen sah, diese letztere Technik wohl gar als einen der alexandrinischen Schule aus der Antike selbst überkommenen Krebsschaden verstand. Was sich in dieser Praxis spätantiker (ob paganer, ob christlicher) Literatoren unterhalb der Gattungsschwelle austauschte, sah man zu einer unauflöslichen Verkrustung von panegyrischen Techniken des Exemplifizierens (insbesondere der Uberbietung) und »postfiguralen«84 Formen der Schriftexegese gerinnen. 81 Vgl. meine Bemerkungen in: Die Bibelepik [Anm. 18], S. 179ff. 82 Vgl. für den Fall des Propemptikon: mit der >spiritual unity< gehe einher »a corresponding loss of tension which makes the classical composition so successfull« (H. Green [Anm. 50], S. 35). 83 J. Fontaine, Valeurs antiques [Anm. 66], S. 583. 224
PAULINUS VON NOLA Während die Säkularisationskomponente dieser Verschränkung zumeist nur [401] in begleitenden Wertungen zum Ausdruck kommt, beherrscht die Ableitimg der exegetischen Technik aus der Rhetorik, die Angleichung der biblischen Narrativität an die Funktion der Mythologie in der alten Poesie, bis heute weithin das Feld.15 Ein Versuch (des Verfassers), die exegetische Technik im Werk des Prudentius zu verfolgen,86 hat wohl die Schriftauslegung als Kompositionsprinzip erweisen können, erfaßt jedoch durch eine zu starke und unhistorische Abgrenzung des »Christlichen« von der imitativen und rhetorischen Tradition das Phänomen nur ebenso partiell wie die globale Subsumtion und Abwertung. Denn daß die altchristliche Literatur in der Rezeption von Gattungen wie den panegyrischen Redespezialitäten, der consolatio, z.T. auch des Epos, vor allem der Epistolographie die eigene exegetische Tradition in erheblichem Umfang nach den Prinzipien der Synkrisis und Überbietung verwertet hat, ist gar nicht zu leugnen - hier ist auf Untersuchungen in der Art von L. Meridiers Vinfluence de la seconde sophistique sur l'oeuvre de Gregoire de Nysse (Paris 1906) zu verweisen. Der Verfasser ist kürzlich diesem Aspekt für die griechische und lateinische Literatur nachgegangen;17 und unter den Beispielen für die rhetorische Einformung hat auch Paulinus seinen Platz." Sind aber unter diesem Aspekt nicht auch die biblisch ausgedehnten »Vergeistigungen« seiner Gedichte zu begreifen? Man sehe etwa die specimina einer auf [402] den Adressaten »bezogenen« Form - einer Form also, wie sie bereits zu carm. 17 von der »normalen« heilsgeschichtlichen Exegese abgesetzt wurde -, die in dem poetischen Brief gelegentlich der Rettung des Martinianus aus dem Seesturm (carm. 24) wuchern. Nicht nur, daß Martinianus eine Vielzahl von Figuren der alt- und neutestamentarischen Geschichte »erfüllt« (Isaak, Joseph, Samuel, Samson, Jonas,19 84 Zum Begriff (als Säkularisationsphänomen) A. Schöne [Anm. 14], S. 37ff. 85 Exegetische Poesie als Rhetorik: »lourd attirail d'une rhetorique superficielle« (G. Bardy [Anm. 33], S. 13); Verschränkung von Dekadenz und Säkularisation: A. Ebert [Anm. 47], S. 112, und H. Fuchs, Die frühe christliche Kirche und die antike Bildung, in: Die Antike 5, 1929, S. 107ff.; ähnlich K. Thraede, Studien [Anm. 19], S. 10f., und in: Jahrbuch für Antike und Christentum 17, 1974, S. 154; J. Fontaine, Le melange [Anm. 52], S. 758f. und 764 Anm. 19; speziell zu Paulinus: S. Prete, Paolino [Anm. 50], S. 107, und Ch. Favez, Note sur la composition du carm. 31 de Paulin de Nole, in: Revue des £tudes Latines 13,1935, S. 267. 86 Die allegorische Dichtkunst des Prudentius [Anm. 76], S. U3ff. 87 Metapher - Exegese - Mythos [in diesem Band: S. 115ff.]. 88 Vgl. an gleicher Stelle, S. 174ff. [in diesem Band: S. 137ff.]. 89 Vgl. zu dem >]ona$-Epyllion< v. 205ff. die Verarbeitung bei Ennod. carm. 111. 225
PAULINUS VON NOLA Paulus) - die Applikation dieser Erfüllungen überschattet offenbar die traditionelle heilsgeschichtliche Spiritualität (v. 641f.): »ut quod patentes gestitarunt corpore nos actitemus spiritu«. Und diese auf den Adressaten bezogene Spiritualität tritt wieder in den Formen der Korrektur90 und Überbietung91 auf, die z.T. im NicetasGedicht zu beobachten waren und generell der panegyrischen Synkrisis eigen sind.92 Könnten also unterhalb der Gattimgsschwelle die poetischen Christianisierungen, auch was biblische Strukturen betrifft, doch als Kontinuität zur antiken literarischen Technik gedeutet werden? Jedoch: zieht man alle Seiten des Phänomens in Betracht, muß das Ergebnis lauten, daß hier wie bei den »Anknüpfungen« an antike Gattungen das Kontinuitätsmodell zu kurz greift, die Texte nicht ausschöpft. Denn die Verbindung der exegetischen Tradition und der ihr inhärenten Vergeistigungsmechanismen mit rhetorischer Technik stellt nur einen Vorgang an der Randzone des exegetisch-literarischen Potentials dar. Eher als das Modell einer Kontinuität von der Antike her trifft die Vorstellung von einer begrenzten Rezeption der Rhetorik in christlich-literarische Ausdrucksformen hinein zu, die im lateinischen Westen seit der Einübung in die Schriftexegese, seit der Generation des Hilarius, möglich wurde, und mit der [403] in der lateinischen Poesie zum ersten Mal im Werk des Paulinus experimentiert wurde.93 Die Rezeptionsgrenze wird auf der Ebene der poetischen Gammgen durch die hier besprochenen »Kontrafakturen« des Paulinus gekennzeichnet; später, bereits bei Prudentius aber, gibt es programmatische Gattungs-Kontrafakturen nicht mehr. Unterhalb der Gattungen ist die Rhetorikrezeption vor allem im Feld der Prosa, der Rede und der Epistolographie, vollzogen worden, und hier geht auch die Öffnung viel weiter als beim imitativen oder einzelne Gattungen mischenden Anschluß der Poesie an die Antike. Kurz gefaßt lautet die These:94 1) das Phänomen der exegetischen Formen kann aus der Kontinuität zur Antike nicht voll erfaßt werden; es gibt hier einen Überschuß, der die Umfor90 Vgl. v. 557: »hac parte Samson nolo sit...«. 91 Vgl.v.503ff. 92 Vgl. Metapher - Exegese - Mythos [Anm. 87], S. 178ff. [hier: S. 142ff.]. 93 Vgl. zu diesem Zusammenhang Herzog, Die Bibelepik [Anm. 18], S. 155ff. 94 Eine ähnliche Position bezog bereits J. Fontaine, Le m£lange [Anm. 52], S. 769ff. (vgl. auch Ch. Favez [Anm. 85], S. 267). 226
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mung antiker Traditionen als nur marginale Rezeption in ein eigenes literarisches Ausdruckspotential erkennbar werden läßt; 2) die Entwicklung dieses Ausdruckspotentials, auch seine wechselnde Aufnahmefähigkeit gegenüber der antiken Literatur, kann erst durch eine Analyse des intendierten Publikums und damit der wechselnden literarischen, pastoralen und liturgischen Situation eines jeden Werkes beschrieben werden. Zur Begründung muß ein Text herangezogen werden, der im Gegensatz zu den bisher besprochenen außerhalb der expliziten Gauungskonfrontation steht, auf eine bestimmte Situation der Hörer (Gemeinde) antwortet, jedoch die Ansatzpunkte deutlich werden läßt, an welche auch die marginale Antikerezeption anschließen konnte. Paulinus hat diese Art Poesie in seiner hagiographischen Dichtung erreicht, die auch in diesem Sinne Prudentius am nächsten steht. Zur Überprüfung der These sei ein kaum beachtetes,95 weil wieder [404] »maßloses« Gedicht auf den hl. Felix, carm. 26 aus dem Jahre 401/402, herangezogen. Was also hat es mit der Bauform »exegetischer Poesie« auf sich, die selbst eine Rezeption der rhetorischen Technik erst ermöglicht? Carm. 26 ist in der Situation der allgemeinen Panik nach dem ersten Italieneinfall der Barbaren vor der Schlacht von Pollentia entstanden. Man kann es wie die gleichzeitigen Sermonen des Maximus von Turin als Reaktion auf die Befürchtungen der Gemeinde verstehen, die durch die Fortifikation Roms nur noch bestärkt wurden - Stilicho hatte bereits auf paganer wie auf christlicher Seite viel Vertrauen eingebüßt.96 Denn diese Panik ist deutlich der »Ausgangspunkt« - so wie die Situationen des Epithalamiums und der Trennung in den anderen Gedichten. Der wiederkehrende Todestag des Ortsheiligen bot nur den Anlaß, der Panik entgegenzutreten; er hat, wie generell in den Natalicia, nicht zu einem Kontrast mit dem alten Geburtstagscarmen geführt. Und dieser Ausgangspunkt soll auch hier zu einer für die öffentliche Ruhe dringend benötigten »Vergeistigung« führen, wird auch hier Korr' ävrtypaoiv (>ins Gegenteil verkehrt<) behandelt: die wahrhafte Bestürzung »sei« die dringend gebotene Freude am Gedenktag - dies Leitmotiv, ab v. 5ff. wiederholt (antithetisch-argute Verarbeitung: v. 74ff.), hat also einen nicht literarisch (rhetorisch oder exegetisch) zu isolierenden, sondern einen handfest politisch-pastoralen Hintergrund. Es galt, die entscheidende Fähigkeit des 95 P. Fabre streift in seinem Paulinus-Buch [Anm. 70] lediglich die wenigen Verse über die Felix-Wunder. 96 Zum politisch-literarischen Hintergrund am ausführlichsten P. Courcelle, Histoire litteraire des grandes invasions germaniques, Paris 31964, S. 32ff. 227
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Lokalpatrons auch zur Meisterung der unbestimmten politischen Bedrohung sichtbar zu machen und zur Stabilisierung des öffentlichen Lebens einzusetzen. Die Heiligenverehrung war übriggeblieben - das schwache weströmische Kaisertum begann, Ravenna auszubauen; die Barbaren waren vielleicht schon auf dem Weg nach Mittelitalien -; konnte das Grab des Märtyrers nach den bukolisch-begrenzten signa auch für die Reichspolitik [405] Heilszeichen setzen? Es ist nötig, sich dieser konkreten Umstände bewußt zu sein, wenn man dem Gang des Gedichts und seinem Aufbau exegetischer Formen folgt. Denn die Exegese ist in der Spätantike eine volkstümliche, ja auch politische Denkform. Das Fest unter gedrückter Stimmung und Fluchtgedanken wird zunächst mit dem pascha der Israeliten in Ägypten verglichen (v. 55f.). Paulinus »bezieht« nicht etwa die Geschichte auf seine Laien; der heilsgeschichtliche Typ des pascha sei in Christus erfüllt worden, und damit »perit umbra figurae« (v. 54). Dieser typologische Anschluß an das A T vermag jedoch die konkreten Rettungs-sigrw Gottes im AT, um deren Wiederholung es der Gemeinde in dieser Situation gehen muß (denn präzise auf die Hoffnungen und Befürchtungen im municipium ist die alttestamentliche Kette ab v. 80 komponiert: militärische Wirkimg des bloßen Gebets v. 92ff.; Sinnlosigkeit der Fortifikation v. 114ff.; militärische Wirkung des Gottvertrauens von Kindern und Frauen v. 150ff.; Abbruch einer feindlichen Belagerung v. 166ff.), nur mehr als Vergeistigung zu wiederholen: die wahren Feinde sind eben nach der Erfüllung der A Tsigna im Evangelium nur mehr spirituelle, also »innere« (v. 99-114); der Aufbau geschieht von der antithetischen Verarbeitung zur expliziten Vergeistigung. Damit muß der Gegenwartsbezug der alten Wunder zum Exempel und komplementär dazu zur Spiritualisierung (hier zur Psychomachie) geraten. Anzeichen dafür ist wieder, daß in den biblisch-narrativen Partien die christologische Exegese erwähnt wird (vgl. v. 143-148: Rahab). In diese heilsgeschichtliche »Lücke« nun - der gegenüber der nach Zeichen verlangenden Gemeinde fehlende Realitätsgehalt einer nur mehr vergeistigten skripturalen Geschichte - wird der patronus als interventor (v. 195) von Paulinus eingeführt - gleichsam als gegenwärtiger Anachronismus einer (seinetwegen) doch noch nicht »erfüllten« Heilsgeschichte. Wie die Rettungswunder des AT in Wirklichkeit Interventoren zu [406] verdanken seien (v. 219ff.: Moses; v. 221ff.: Abraham; v. 227ff.: Elias), so wirke die Präsenz des Felix auch in der gegenwärtigen Situation (v. 230f.): sein Martyrium entlastet, enthebt die Gemeinde den unabsehbaren und schwer zu deutenden signa der Gegenwartsgeschichte in die durch Felix 228
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präsente Zeitlosigkeit sämtlicher von Gott gegebener Antwort-szgn* auf geschichtliche Bedrohungen. Diese Entlastung erst läßt, im Sinne einer Negation der Bestürzung am Anfang, die ängstliche Fürbitte des Patrons die direkte Kehrseite der geforderten laetitia in der Gemeinde sein (v. 215f.): »inque vicemflebit nobis, quia mente dicata nos laetamur ei«. In einem abschließenden Gebet an Felix wird daher noch einmal die gesamte Kette der A T-Wunder bis zu der - erflehten - Abwendung der Katastrophe vom Römischen Reich (v. 249ff.) zusammengefaßt: mit Felix besitzt man das Schlußglied dieser Kette. Doch wie können die Gefahren, die sich im Barbarensturm abzeichnen, auf die in Nola bekanntgewordenen Wunder des Patrons bezogen werden? Zunächst dadurch, daß Paulinus nunmehr den Patron mit einer der Gestalten aus dem A T in jene typologische Identität zu setzen vermag, die gegenüber der Gemeinde nicht mehr gegeben war (oder nur mehr in vergeistigender Verallgemeinerung). Und an diesem Punkt tritt jene Form der bezogenen Exegese auf, die auch einen Anschlußpunkt für die Rezeption rhetorischer Tradition (Synkrisis) zu bilden vermochte. Hier indessen ist sie durch die Integration des Patrons in die Heilsgeschichte typologisch gebunden, und hier ist sie nicht rhetorische Einformung, sondern wird geistlich-politisch benötigt.97 Indem Paulinus Daniel in der Löwengrube und die Geschichte von den drei Jünglingen im Feuerofen durch Felix »wiederholen« läßt (v. 255ff.), können deren Züge auf die gegenwärtige Lage [407] bezogen werden, erfordern dabei aber wiederum jene Korrekturen, jene unanschauliche Bildverbindung, die uns für diese Form vertraut ist. Die »Löwen« sind nun die sich in Italien herandrängenden Feinde (v. 257), und wenn sie sich um Felix-Daniel ruhig lagern, so sind sie die gefangenen oder als Föderierte befriedeten Barbaren (vgl. v. 258ff.). Die Korrektur der biblischen Geschichte wird andererseits dadurch nötig, daß der babylonische König als Zuschauer von der Unschuld der Gefangenen im Ofen überzeugt ist - die jetzigen »Könige« aber leider auch die Geweihten des Herrn bei ihrer Invasion nicht geschont haben (gewissermaßen die von Felix garantierte Identität mit der Schrift verletzend: die »Korrektur« erfolgt daher als empörte exclamatio, v. 266ff.). Vollends unanschaulich wird die biblische
97 Daß allerdings die hagiographische »Verlängerung« der Heilsgeschichte auch als ein erster Schritt zur »Säkularisierung« gedeutet werden kann, ist nicht zu leugnen. 229
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Geschichte in ihrer Beziehung auf Felix, wenn das Auslöschen der Flamme im Ofen durch Gott zum Auslöschen der (Kriegs-)Flamme in Italien durch den »Jüngling« Felix selbst wird. Es sei angemerkt, daß am Beispiel der Jünglinge im Feuerofen und ihrer »Wiederholung« durch den Märtyrer Fructuosus auch Prudentius (Perist. 6) die Spannung zwischen den skripturalen und hagiographischen Zeichen exemplifizierte: »Ulis sed pia flamma tunc pepercit, / nondum temporepassionis apto /nee mortis decus ineboante Christo.« (v. 112ff.). Der Märtyrer hat zwar einen Schrifttyp in seinen Zügen zu wiederholen, im entscheidenden Zug, der Rettung, aber zu ändern: er muß sterben, und seine Qual bis zum Tod ist häufig mit der typologischen Wiederkehr des Schriftwunders identisch: »iam plenus titulus tui est / (...). / absolvas, precor (...)« (Perist. 7,76ff.).98 Die Situation der hagiographischen Dichtung des Paulinus ist bereits eine andere: am Grabe des Patrons - also nicht mehr innerhalb der vita des sanetus - müssen die - nunmehr der Gemeinde gehörenden - signa den Schrifttyp exakt wiederholen und werden zu diesem Zweck notfalls korrigiert. [408] Paulinus hat mit dieser Beziehung nun eine Basismetaphorik, »Tiere«, »Flamme«, »Löschen«, die die direkte Applikation der Nolaner FelixWunder auf die drohende Invasion endlich ermöglicht. Es kommt aber beim Übergang zu dieser Applikation, dem gedanklichen Ziel des ganzen Gedichts, zu einer fast theoretischen Begründung der hagiographischen Ausdehnung einer exegetischen Kette bis zu den auf den Nägeln brennenden »Anknüpfungspunkten« der zeitgenössischen Realität, die als poetologische Rechtfertigung in der spätantiken Literatur ihresgleichen sucht (v. 286ff.): »(...) patriis virtutibus aemula sanetus signa gerisy nee, si species operum tibi dispar, non similis virtus; diversa est gratia vobis, gloriapary quoniam sanetisfons omnibus unus et regnum commune dei; non una prophetis 290 martyribusque sacris opera, ut diversa fuerunt tempora, nee coeunt signis distantia causis gesta; dei per dona sibi caelestia distant aequales meritis.«
98 Vgl. zu diesem Zusammenhang Herzog, Dichtkunst [Anm. 76], S. 28ff. 230
PA ULINUS VON NOLA Die virtutes aber sind - dieser Beweisführung dient die ausführlich durchgeführte Konfrontation der hagiographischen und der skripturalen signa v. 323-381 - im Gegensatz zu den vordergründigen species das Entscheidende und Gemeinsame, »in quibus isteferas omnes compescit et ignes.« (v. 305).99 Dementsprechend folgen zum Abschluß des Gedichts drei Wunder des Felix, die auf die Schlüsselmetaphern (ferae - Barbaren, v. 307ff.; ignis Invasion, v. 394ff.; Wasser - Löschung der Kriegsgefahr, v. 411ff.) ausgelegt werden. Der Schlußvers faßt noch einmal die drei Aspekte zusammen. Die Heilimg des Gefräßigen, der das Geflügel mit den Federn [409] hinabschlingt, die Verschonung der Kirchengebäude bei einer Feuersbrunst, die Ableitung einer drohenden Überschwemmung - in diesen lokalen Ereignissen kann die Gemeinde von Nola durch die exegetische Dichtung die Weltgeschichte begreifen und in laetitia transzendieren. Man kann rechtens über die politischen Implikationen und Konsequenzen einer solchen Realitätsintegration den Kopf schütteln und in ihr gar, ähnlich wie Piganiol in seinem Verdikt über den geistlichen Quietismus und Opportunismus eines Themistios, eine der geistigen Ursachen für den Untergang des Römischen Reiches sehen.100 Übrigens sind ja die politischen Konsequenzen einer solchen Haltung gerade zur Zeit von carm. 26 in Claudians Spottversen an einen christlichen Befehlshaber gebrandmarkt worden.101 Was indessen die literarische Form betrifft, so wird nun die exegetische Poesie als eine variable Spannung von Realitätsfragmenten und Metaphern sichtbar. Ihre Struktur wird durch genau abgestufte (und in carm. 26 programmatisch erörterte) Beziehungen zwischen vereinzelter Kontingenz, hagiographischer Teilhabe an einem figuralen Realitätscorpus und schließlich dessen Aktualisierung durch Spiritualisierung gewährleistet. Als literarische Bauform läßt sich diese Poesie so charakterisieren: der Rückzug aus den mimetischen Kunstzwecken der Antike führt zu einem Rückzug aus der Oberflächenbehandlung: Kompositionsverluste, Gliederungsdefizite, eine geminderte Gattungsdistinktion verbergen eine klare und gleichbleibende Struktur. Ausschnitte jed-
99 Der Abschluß dieser sigfw-Theorie findet sich v. 372t: die verschiedenen signa der Schrift und der Märtyrer ergänzen einander zur Gesamtökonomie der HeUsgeschichte: Petrus schlug kein Wasser aus dem Felsen, aber Moses wandelte auch nicht auf dem Meer. 100 A. Piganiol, L'empire chretien, Paris 21972, S. 234f. 101 In Iacobum magistrum equitum (carm. min. 50).
231
PAULINUS VONNOLA
weder Wirklichkeit, die deshalb dem modernen Beobachter meist als fragmentiert erscheint, sind keine mimetischen Kunstwerte, sondern werden dem Publikum durch vergeistigende Metaphorik als Handlungszeichen vorgestellt (dies ist der »heteronome« Aspekt der christlichen Literatur). Die vergeistigende Metaphorik und ihre Handlungsziele werden gesetzt durch ein [410] zweites - und abgeschlossenes - Realitätscorpus mitsamt typologischer und allegorischer (also historischer und moralischer) Sinndeutung; es kann einem andächtigen Publikum als Erbauungsobjekt dargestellt werden (dies ist der »erbauliche« Charakter der christlichen Literatur). Dies Realitätscorpus kann in posttypologischen Identifikationen aufgrund hagiographischer Teilhabe zu einer Intensivierung der Ausgangsrealität führen (dies ist der »symbolistische« Aspekt der christlichen Literatur). Jeder der Typen vermag sich literarischen Traditionen der Antike zu öffnen. Formal neigt die exegetische Bauform zu antithetischen und Ringkompositionen. Hervorgehoben werden sollte: 1) daß das zweite Realitätscorpus einen (durch die Schrift) abgeschlossenen Charakter hat. Die beständigen Variationen seines begrenzten Bildinhalts102 ergeben daher Züge einer hermetischen Poesie, die bisher erst in der Barockforschung thematisiert wurden; 2) daß demgegenüber die Form an jedwede, auch die alltäglichmikroskopische, auch die politisch-aktuelle Realität anschließen kann. Ihre Fähigkeit zur Sinngebung auch des Absurden und Unmenschlichen in der Geschichte unterscheidet sie vielleicht [411] am stärksten von späteren Literaturen, die die Geschichte ausgrenzten und ihr in »Auto102 Mit diesem Variationscharakter hängt wohl die sehr enge Traditionsbildung seit der Entstehung der christlich-lateinischen Poesie im 4. Jahrhunden zusammen. Laktanz wirkt auf Juvencus, den Proba und Paulinus kennen (welcher ebenso auf Proba rekurriert); Hieronymus entwickelt im Austausch mit Paulinus das exegetische Programm dieser Poesie; und die entscheidende Wende, die Paulinus in dieser Tradition bedeutet (Abkehr von den imitativen Großformen des Cento und der Paraphrase, aber auch, nach den hier besprochenen Experimenten, vom expliziten Ganungskontrast), wird von Prudentius radikalisiert. Blickt man ins 5. Jahrhundert, so ist mit den Gedichten Prospers und des Orientius das Formexperiment exegetischer Dichtung noch keineswegs abgeschlossen, als das Verblassen der Schultradition und der Zerfall der lateinischen Kulturlandschaft und, damit einhergehend, ein zurückgehendes Verständnis für die poetischen Möglichkeiten der Exegese, die Form versiegen läßt. Die mittlerweile erreichten Formen werden mitsamt den aus der Antike rezipienen fest, sklerotisch. Nachdem Sedulius sein Carmen Paschale auftragsgemäß zum Kommentar umarbeitete, wurden auch die hagiographischen Gedichte des Paulinus auf Anweisung eines seiner Amtsnachfolger zur Prosa-Vita 5. Felicis umgearbeitet {Acta Sanctorum, Januarii Bd. 1946). 232
PAULINUS VON NOLA
nomie« opponierten oder sich ihr unterwarfen. »Cest le christianisme qui a commence de substituer a la contemplation du monde la tragedie de l'äme. Mais du moins il se referait a une nature spirituelle et, par eile, maintenait une certaine fixite. Dieu mort il ne reste que Thistoire et la puissance.«103
103 A. Camus, L'exil dUetene, in: ders., Essais, Paris 1965, S. 855. 233
Non in sua voce Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones Voraussetzungen und Folgen
I Gespräch mit Gott? »Sprich mit mir, unterhalte dich mit mir« - diese Aufforderung Augustins,1 so befremdlich sie bei einem Gottesanruf erscheint {*sermocinari« zielt neben dem sachüchen >Gespräche führen< durchaus auf die Alltagskonversation, das Plaudern), könnte man noch einem theologischen Bewußtsein vom ständigen >Dialog< mit Gott, vom >personhaften Gegenüben Gottes zurechnen und sich so mit vertrauten Denkmustern der Theologie fortbehelfen. Aber Augustin läßt keinen Zweifel aufkommen: er hat mit Gott geschwatzt (»garriebam tibi«; conf. 9,1,1). Und als sei er noch nicht deutlich genug geworden: >familiär< im Ton und Gefühl des Privaten {conf. 9,4,8), spricht er mit Gott. Dies Plaudern wirkt zunächst einmal anstößig. »Plotinus never gossiped with the One, as Augustine gossips in the Confessions.«2 Der Anstoß ist uns mindestens seit der Aufklärung vermittelt, die nicht nur die ästhetische,3 sondern auch die religiöse Intimität (und zwar bis zur Abwertung des Betens mit Gott) ins Lächerliche oder Blasphemische [214] abdrängte.4 Aus: Das Gespräch, hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning {Poetik und Hermeneutik 11), München: Wilhelm Fink Verlag 1984, S. 213-250. 1 Conf. 12,10,10: »fw me alloquere, tu mihi sermocinare.« 2 E. R. Dodds, Augustine's Confessions, in: The Hibbert Journal 26, 1928, S. 459. 3 Zum Wechselgespräch zwischen Gott und Dichter in der Poesie der frühen Neuzeit vgl. jetzt A. D. Nuttal, Overheard by God, London 1980. 4 Symptomatisch Lessings Sarkasmus gegenüber Klopstock (»Er wünscht mit Gott zu reden, zweifelt aber, daß er ihn wird zu sprechen bekommen«; Werke Bd. 9, hrsg. von J. Petersen und W. von Olshausen, S. 121) und Kants Abgrenzung des Betens vom »Afterdienst« (Werke Bd. 6, hrsg. von E. Cassirer, S. 345ff.).
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT Sodann aber erhebt sich der Einwand, daß solches Plaudern, ein entspanntes Gespräch zwischen Gott und Mensch, in sich einen Widerspruch trägt, der in den pragmatischen Angemessenheiten und Zwängen religiöser Sprechakte gegründet ist - wegen dieses Widerspruchs wäre auch in der Antike die Möglichkeit eines solchen Gesprächs für absurd erklärt worden. Die Pragmatik der verbalen Kommunikation von sehen Gottes (Modi der Offenbarung, persönlicher Anruf, Verkündigung, Verheißung, Akte des Befehlens, des gerichtlichen Sprechens, der visionären Bildlichkeit - um nur einige zu nennen) wie von Seiten des Menschen (mit Namen anrufen, >Bekennen< - hodab, Lobpreisen, Beten, Beichten, Akte des gerichtlichen Sprechens - wiederum sind nur einige genannt) vermag sich zwar zu >Rede< und >Antwort< zusammenzuschließen. Und dieser Kommunikationszusammenhang ist es, den die Theologie auf den (weiten) Begriff einer >dialogischen Verfaßtheit< der Beziehung zwischen Gott und Mensch gebracht hat. Solch ein Dialog aber ist eben kein gelöstes Gespräch - ein solches erscheint in der Tradition geradezu als Bild der Grenzüberschreitung, Gefahr und Ausnahme. Jahwe unterredet sich mit Moses wie ein Mann mit dem anderen: >Gespräch<, nicht >dialogische Beziehung<; kein >Ziel< der Unterredung wird hier genannt, auf keinen >Text< der Gottesoffenbarung soll an dieser Stelle verwiesen werden; und es folgt der Hinweis auf die > Ausnahmen nach Moses nahm Jahwe keinen Mann aus Israel in ein solches Gespräch auf. Tantalus wird zum Göttergespräch zugelassen: Gesprächs nicht dialogische Beziehung<; wiederum kein >Ziel<, kein >Text<; das Gespräch selbst wird verraten, und dieser Verrat führt zur endlosen Strafe. Wo immer es Dialogtexte zwischen Gott und Mensch gibt, werden sie rapide in pragmatische Konsequenzen überführt; es sind Wortwechsel. Abraham dingt Gott das Leben zur Vernichtung Verurteilter ab: der Dialog formt sich einem Sprechakt des Verhandeins ein. Athene packt den zum Schwertstreich bereiten Achill beim Haar und überredet den sich Sträubenden zur Mäßigung. Man hat dieses dialogische Sprachhandeln als die erste Öffnung einer deliberativen Innerlichkeit interpretiert,5 in der ein Selbstgespräch möglich wird: in einer solchen Tradition dialogischer Innerlichkeit wird Piatons Rückführung der sokratischen Dialektik auf das erkennende Selbstgespräch in der Seele stehen, und diese
5 Vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 41975, S. 35f. (»ließe sich auch aus seinem Inneren erklären«) und H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 31976, S. 76. 236
A UGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT
Tradition wird in der Antike durch Augustins Soliloquien abgeschlossen. Aber an solchem Selbstgespräch nimmt eben der Gott nicht mehr teil. Gewiß: noch macht sich das Daimonion des Sokrates vernehmbar, mit den von ihm beschriebenen hemmenden Konsequenzen. Aber Gespräch mit ihm führt der Gesprächsversessene bezeichnenderweise nicht. Nun sind Anstoß und offenbare Widersprüchlichkeit hermeneutische Phänomene, die zu einer Rekonstruktion des unmöglich Scheinenden nötigen. Führt Augustin so etwas wie das von ihm angedeutete Gespräch mit Gott? Wie konstituiert er seine Voraussetzungen? [275] Ich möchte im folgenden zeigen, daß die Confessiones eben dies sind: allmähliche Konstituierung eines Gesprächs. Es muß freilich - angesichts der uferlosen Forschung zu den Confessiones - sogleich gesagt werden, daß diese Rekonstruktion keine neue Deutung des Werkes zu geben sich anmaßt; kaum ein Detail wird der Spezialforschung Neues hinzufügen. Nicht einmal der unmäßig traktierten Frage seines Aufbaus wird besondere Aufmerksamkeit zugewendet. Ich möchte nur zeigen, daß die Confessiones im Sinne meiner These gelesen werden können.6 Gelingt diese Demonstration, so kann dies vielleicht auch einiges Licht auf Deutung und Aufbau der Schrift werfen; vor allem aber hat die Konstituierung des entlasteten Gesprächs mit Gott in den Confessiones erhebliche Konsequenzen für die Sprachphilosophie, Ästhetik und Theologie gehabt; sie hat sie noch heute.
n Konstitution
des Gesprächs
1. Aporien des Proömiums Mit conf. 1,6,7 setzt jener Abschnitt der Confessiones ein, den die Leser von den Zeitgenossen Augustins an immer wieder als Autobiographie verstanden haben. Vom vorangestellten Proömium her hat die Forschung 6 Ich verweise auf eine ähnliche Problemstellung bei F. E. Consolino, Interlocutore divino e lettori terreni. La funzione-destinatario nelle Confessioni di Agostino, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 6, 1981, S. 119-146. Die sich als hermeneutische Lektüre der Confessiones bezeichnende Untersuchung von H. De Noronha Galvao, Die existentielle Gotteserkenntnis bei Augustin, Einsiedeln 1981, trägt zu dieser Frage nichts bei; sie ist jedoch für die Untersuchung der *caritas«-Asxheiik Augustins heranzuziehen (vgl. S. 275ff.), ebenso wie die für dieses Thema fortan grundlegende Einführung bei O. Donovan, The Problem of Selflove in St. Augustine, New Haven 1980. 237
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT seit längerem dieses Verständnis in Frage gestellt.7 Zu Recht; indessen stellt das Proömium den narrativen Charakter des Folgenden überhaupt in Frage. Das Proömium beginnt - im Wortlaut von Ps. 144,3 - als Vorsatz zu »laus«, zum Gotteslob. Augustin hat das Werk mit dem gleichen Psalmenzitat geschlossen, hat es auch in einem Binnenproömium (Buch 13) wiederholt.8 Die Confessiones stellen sich damit in eine vertraute, in den Psalter, ja bis zum Deborah-Lied hinaufreichende Tradition des Sprechens zu Gott, die confessio laudis? Dieses lobende Prädizieren Gottes hält nach seiner Struktur bereits den Umschlag der allgemeinen Prädikation (etwa in Form der Eulogie, hier der pcyas-Formel) in der narratio der Gottestaten.10 Es gibt [216] sogar die Form der >individuellen<, d.h. die >Wendungen< und >Errettungen< des eigenen Lebens reihenden narratio.11 Es lag daher nahe, daß in der Forschung vom Titel wie von der Rahmenstruktur der Confessiones her die biblische Sprachform der confessio laudis zum Verständnis der autobiographischen narratio (und ihrer Verbindung zum >philosophischen< Buch 10 und den exegetischen Büchern 1113) herangezogen wurde.12 Augustin aber durchkreuzt sogleich ein sol-
7 Ausführliche Interpretationen des Proömiums bei R. Guardini, Anfang, München 1950; G. N. Knauer, Psalmenzitate in Augustins Konfessionen, Göttingen 1955; W. Schmidt-Dengler, Stilistische Studien zum Aufbau der Konfessionen Augustins, Diss. (masch.) Wien 1965; vgl. ferner die Analyse von Solignac und Bouissou in der Ausgabe der Bibliotheque Augustinienne, Bd. 13/14 (hrsg. von A. Solignac, E. Trehorel und G. Bouissou), Paris 1962, Bd. 13, S. 647ff. 8 Zu diesen strukturellen Verweisungen: G. N. Knauer [Anm. 7], S. 49f.; U. Duchrow, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin, Tübingen 1965, S. 187f.; R. J. O'Connell, St. Augustine's Confessions, Cambridge/Mass. 1969, S. 37f. 9 Hierzu nach den grundlegenden Untersuchungen Gunkels (H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Zu Ende geführt von J. Begrich, Göttingen 1933, S. 265ff.); C. Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 1977, S. 21ff. 10 Vgl. C. Westermann [Anm. 9], S. 78; zur preisenden narratio besonders R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit, Göttingen 1967. 11 Hierzu E. Balla, Das Ich der Psalmen, Göttingen 1912, S. 31f. 12 In den Stand der Diskussion über confessio laudis, confessio peccati und die Deutung der Confessiones seit Landsberg (1936) führen am besten ein: M. Verheijen, Eloquentia pedisequa, Nijmegen 1949, S. 5ff.; K. Grotz, Die Einheit der Confessiones, Tübingen 1970, S. 22ff. und G. Pfligersdorffer, Augustins Confessiones und die Arten der confessio, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 14, 1970, S. 15ff. Das Fazit P. Browns (Augustine of Hippo, London 1967, S. 175), »confessio 238
A UGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT
ches Verständnis; er geht mitnichten zum preisenden Bericht über: »da mihi, domine, scire et intellegere utrum sit prius invocare te an laudare te et scire te prius sit an invocare te. sed quis te invocat nesciens te? aliud enim pro alio potest invocare nesciens. an potius invocaris ut sciaris?« (1,1,1). Das zu Gott gewandte Sprechen der laudatio hält sich durch, aber es schließt die Form der quaestio, der philosophischen Zergliederung ein. Die quaestio regrediert vom »laudare« des Anfangs über das »invocare« zum »scire«. Wir scheinen uns nach Form und Inhalt in den Frühdialogen Augustins zu befinden. Der Form nach, als Gottesanrede, verlangt die quaestio die Antwort eines göttlichen Dialogpartners; Augustin tut hier den Schritt über den plötzlich erscheinenden und das Wort ergreifenden Dialogpartner Ratio in den Soliloquien13 hinaus. Die Antwort geben nämlich Schriftzitate im kunstvollen Arrangement eines Cento (Rom. 10,4; Ps. 21,27; Matth. 7,7 - stark umgeformt). Sie konstituieren die Antwortkette a) invocare credere praedicare b) laudare invenire quaerere. Augustin (wieder durch Gottesanrede als Sprecher markiert) zieht das Fazit quaerere invocare invocare credere und hat mit dieser Rückbindung des »quaerere« (»intellegere«, »scire«) an das »credere« (»fides«, »praedicatio«) mittels der »invocatio« (»laus«) auch inhaltlich den Lobpreis des Anfangs auf die theologischen Erörterungen der Frühschriften (Problem der »auctoritas« und des Verhältnisses von »fides« und »intellectus«)14 zurückgeführt. [217] meant, for Augustine, >accusation of oneself; praise of God<«, dürfte den Diskussionsstand wiedergeben. 13 »Volventi mihi multa (...) ait mihi subito sive ego ipse, sive alius quis, extrinsecus sive intrinsecus (...)« (sol. 1,1,1). 14 Sehr ähnlich formuliert wird das Dilemma ratio (quaerere) und auctoritas (fides) in diesem Zusammenhang De utilitate credendi 20; eine ähnliche Lösung (Rekurs auf diefidespraedicata, die Schriftoffenbarung) fmdet es in der Schrift De vera religione (hierzu G. Strauss, Schriftgebrauch, Schriftauslegung und Schriftbeweis bei Augustin, Tübingen 1959, S. 2ff.); aus dem Horizont dieser Lösung ist die folgenreiche Formel »intellege ut credas; crede ut intellegas« (serm. 43,9) zu verstehen (zur Diskussion: U. Duchrow [Anm. 8], S. 105ff.). Wie R. Holte (Beatitude et sagesse, Paris 1962, S. 315ff.) und U. Duchrow ([Anm. 8], S. 184ff.) gezeigt haben, liegen theologisch zwei Phasen der Paulus-Rezeption Augustins zugrunde; die 239
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT »Invocat te, domine, fides mea« schließt 1,1,1 - aber diese Versicherung leistet noch keineswegs, was sie nach den begrifflichen Präliminarien erwarten läßt: ein Lob Gottes nach der Schriftverkündigung (»fides praedicata«). Sie leistet dies so wenig wie das Psalmenzitat am Beginn: ein zweites Mal durchkreuzt Augustin mit den »seltsamen Fragen«15 einer quaestio das tradierte preisende Sprechen zu Gott. 16 Nunmehr steht die Möglichkeit und Form der invocatio überhaupt zur Frage: »quomodo invoco deum meumf (...) quo te invoco?« (1,2,2), und wird bis zur Frage nach der Identität des Anzurufenden zugespitzt: »quis est ergo deus meusf« (1,4,4). Auch diese quaestio rekapituliert noch einmal das in den Frühschriften Erreichte. Was »invocare« gegenüber der Transzendenz Gottes heißen könnte, wird mit Hilfe plotinischer Begrifflichkeit erörtert (1,2,21,3,3);17 die Frage nach der Identität Gottes, in die Form einer kunstvoll periodisierenden Gebetsprädikation gefaßt (1,4,4),18 verweist19 auf das Gebet aus den Soliloquien (sol. l^-ö) 20 und erweitert es bis zu den Grenzen, an denen nur die Prädikationen einer >negativen Theologie< fortfahren könnten.21 >Bisher ist eigentlich nichts gesagt< (1,4,4) - dieses Fazit der zweiten quaestio des Proömiums geht erheblich über die Form in den Soliloquien hinaus. Dort leitete das Gebet das Erkennen Gottes im Dialog mit der »ratio« ein (»scire haec omnia quae oravi«; sol. 1,7,1); hier hat das Reden zu Gott noch nicht einmal begonnen. Der biblische Weheruf am Ende von 1,4,4 (»vae tacentibus de te«: Mark. 7,37) und der hochaffektische Eingang von 1,5,5 (»quis mihi dabit adquiescere in te?«) unterstreichen, in Confessiones setzen bereits das Konzept von der zuvorkommenden Gnade Gottes voraus. 15 R. Guardini, Anfang [Anm. 7], S. 22. 16 Richtig L. F. Pizzolato, Le confessioni di Sant'Agostino, Mailand 1968, S. 69: »incertezza tra invocazione, lode e conoscenza«. 17 Vgl. R. J. O'Connell [Anm. 8], S. 38f. 18 Zur Analyse G. Bouissou [Anm. 7], Bd. 13, S. 652ff. 19 Mit dem bezeichnenden Unterschied, daß Gott in der Prädikation der Confessiones bereits als »deus meus« erscheint, andererseits in den Confessiones die Form nicht mehr in Form der invocatio, des >Gebets<, erscheint. Hierzu gleich. 20 Augustin setzt diese Formenreihe mit dem Schlußgebet in De trin. 15,28,51 fort (vgl. A. Mandouze, Saint Augustin, Paris 1968, S. 704). Zur Analyse des Gebets in den Soliloquien vgl. O. du Roy, L'intelligence de la foi en la Trinitc selon Saint Augustin, Paris 1966, S. 196ff., und G. Raeithel, Das Gebet in den Soliloquien Augustins, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20,1968, S. 139ff. 21 Augustin verwirft sie; vgl. trin. 1,1,1 (hierzu J. Mader, Die logische Struktur des personalen Denkens, Wien 1965, S. 38f.). 240
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT welchem Ausmaß die quaestiones des Proömiums% d.h. die um 390 erreichten Positionen, die biblischen Sprechformen des Gebets und des Preisens für Augustin wirklich integrieren können. Die »auctoritas« des Glaubens und der Schrift für alles Reden zu und von Gott sind akzeptiert, ja Augustin fügt Schriftzitate zu >Antworten< auf seine quaestiones zusammen. Aber so wenig sein Sprechen als Preis oder Gebet Gott erreicht, so wenig spricht Gott in der Schrift zu ihm, zu ihm persönlich. •Quid mihi es?« und alsbald insistierend: »ei mihi! die mihi per miserationes tuas, domine deus meus, quid sis mihi« (1,5,5). Die Pracht der augustinischen Rhetorik sollte nicht übersehen lassen, daß hier der entscheidende Schritt zur Gesprächseinleitung unternommen wird. Die vertrauten Formen sprachlicher Zuwendung zu Gott dringen nicht mehr durch, prallen an der philosophisch gesicherten Unerreichbarkeit Gottes ab. Gott soll sprechen, [218] aber auch er nicht im tradierten Sinne des allen Menschen gegebenen >Wortes< der Schriftoffenbarung. »Die animae meae: salus tua ego sum« (Ps. 34,3), spricht zwar der Psalmist, in der Schrift zu Gott; aber Augustin setzt um die Zitat-Klammer der persönlichen Applikation (1,5,5) noch eine zweite der nur ihn seihst betreffenden Applikationsforderung: »sie die, ut audiam«. Die sprachliche Zuwendung Gottes an den Menschen - hier in der Form der Verheißung - ist Augustin, insofern sie Schriftwort ist, noch nicht vernehmlich: sogleich noch einmal wird das Psalm wort zitiert und »curram post vocem hanc«> insistiert Augustin, »et apprehendam te. noli abscondere a mefaciem tuam« (1,5,5). Wie aber kann dann Gott zu ihm persönlich sprechen? Auch er nicht, so fordert es Augustin, in den tradierten Sprechakten der sich auf das einmalige Ich applizierenden Gottesrede: des Richtens und des Vergebens. Erst diese letzte Durchkreuzung der überkommenen Formen religiöser Kommunikation, nunmehr auf der Seite der pragmatisch-applikativen Zuwendung Gottes, nötigt dazu, das Proömium als Gesprächseinleitung zu verstehen. »Non iudicio contendo tecum«> versichert Augustin; und auch Beichte und Vergebung sind längst erfolgt (»nonne tibi prolocutus sum adversum me delicta meay deus meus, et tu dimisistif«, 1,5,6). Gleichwohl bittet Augustin um das Weitersprechen: »miserere ut loquar« (1,5,5). Aber worüber er, worüber Gott? Confessio laudis und Gebet treffen ihren Adressaten nicht mehr; das biblische Wort Gottes ist Augustin nicht vernehmbar, insofern seine Verheißung nicht ihn, unverwechselbar ihn trifft; das richtende und vergebende Sprechhandeln Gottes - mit ihm die confessio peccati Augustins ist nicht das gemeinte Sprechen. Dennoch: >laß mich sprechen< (1,6,7).
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A UGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT
2. Beginn der providentiellen narratio Die narratio als hermeneutischer Dialog >Worüber anders<, so setzt Augustin fort, >als darüber, daß ich nicht weiß, woher ich auf die Welt kam (...), daß ich zum ersten Mal lachte, wie man mir später erzählte (...)< (l,6,7f.) - kurzum: als Antwort auf die Sprechaporie setzt der >autobiographische< Teil der Confessiones ein. Richtig hat die neuere Forschung das moderne Verständnis als Autobiographie abgewehrt und diesen Teil als eine Kette von Handlungen Gottes interpretiert. Aber zu Unrecht, wie die Aporie des Proömiums zeigte, hat sie fast durchweg diese Darstellung des Handelns Gottes mit Augustin einfach als die zu Beginn geforderte confessio laudis, als preisende narratio aufgefaßt. Vielmehr liegt eine erstmals von Augustin erreichte hermeneutische Situation vor, in der die Voraussetzungen eines Gesprächs mit Gott gelegt werden: a) Augustin spricht zu Gott von Gottes Handeln an ihm, und er spricht von den eigenen Reaktionen - beides in der Vergangenheit, also als narratio. Es handelt sich um ein Sprechen, das sich allein auf den Handlungszusammenhang zwischen Gott und Augustin beschränkt, »als wäre er und Gott allein im Himmel und auf Erden und Gott mit niemand denn mit ihm zu schaffen hätt>« (Luther).22 Dem Partner der Interaktion wird diese erzählt. b) Die Erzählung der Interaktion ist an den Sprecher und sein gegenwärtiges Wissen von ihr {memoria) gebunden; dieses konstituiert ihren narrativen Zusammenhang. [219] c) Die vergangene Interaktion kann als solche erst verstanden werden in der gegenwärtigen narratio; dieses Verstehen konstituiert einen bermeneutischen Dialog zwischen den Partnern der vergangenen Interaktion. d) Augustin und Gott bewegen sich so in der dem hermeneutischen Dialog eigenen Zeitstruktur. Augustins Verstehen der von ihm erzählten Interaktion führt einen Dialog mit Gott: dieser Dialog vollendet sich in der Gegenwart (»quid mihi sis«, nicht »quid mihifueris«)y insofern sich in ihr das Verstehen ereignet; er manifestiert sich textuell als narratio des Vergangenen. Die Interaktionen der Partner erhalten erst als erzählte den Charakter dialogischer Verlautbarungen. Garant dieser Zeitstruktur ist ausschließlich die sich durchhaltende Identität des personalen Bewußtseins (memoria).
22 Weimarer Ausgabe Bd. 7, S. 566. 242
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e) Den entscheidenden Schritt vom durchaus pragmatischen Handlungsbeispiel der vergangenen Interaktion (z.B. Gottes >Strafen<, Augustins >Rebellieren<) über ihr Verständnis als Dialog bis zur Konstituierung eines entlasteten Gesprächs ermöglicht andererseits erst die sich durchhaltende personale Identität Gottes. Denn auch diese Identität bleibt gewahrt, obwohl sich Gottes - von Augustin verstandenes - Handeln innerhalb der narratio zunehmend auf ein Sprechen, ein den Hörenden vom pragmatischen Druck zunehmend entlastendes Sprechen zum Menschen hin entfaltet. Gottes Handeln erreicht ein solches Sprechen in dem Moment, in dem das verstehende Gespräch, aus dem heraus die narratio beginnen konnte, durchgehend präsentisch wird - wie sich zeigen wird, ist dieser Umschlag nicht mit dem autobiographischen Moment der >Konversion< identisch. f) Formal wird - über die als Dialog verstandene Interaktion hinaus ein Gespräch dadurch konstituiert, daß Augustin vom Proömium an vor, während und nach der narratio die Anrede an Gott wahrt. Sowie auch Gott aus der narratio heraus ein handlungsenthobenes Sprechen erreicht - auf welche Weise, wird zu zeigen sein -, ist das Gespräch konstituiert. Die Phasen dieses Prozesses sollen im folgenden erläutert werden.
3. Providenz und Textgestalt Das Sprechen zu Gott kann ihn nur in der eigenen memoria antreffen diese erste Gewißheit nach den gescheiterten Sprechversuchen des Proömiums hat Augustin später, im 10., der memoria gewidmeten Buch, sehr deutlich formuliert. Ein >Ort<, an dem Gott in der memoria wohne, lasse sich nicht bestimmen, ja die memoria selbst sei in Teilen dem Individuum unzugänglich (>unbewußt<); daß indessen Gott in ihr anzutreffen ist, sei gewiß; Augustin geht bis zu der Aussage, er wisse in dieser Hinsicht mehr von Gott als von sich selbst (10,5,7). Dieser cartesianische Punkt hat nun zur Folge, daß jede narratio von Gott und seinem Handeln mit Augustin strikt an die Perspektive des Wissens, der eigenen Erinnerung und an die Grenze vor der Fremdüberlieferung gebunden ist; besonders die ersten Kapitel des Lebensberichts unterstreichen dies bei jeder Gelegenheit.23 Augustin hat die unumgängliche Konsequenz dieser Eingrenzimg auf die einzig sichere Gotteserfahrung bemerkt: ein sprachliches Vernehmbar23 Vgl. 1,6,7-9 sowie 4,3,6; ferner programmatisch (Bucheingang und Buchschluß) 2,1,1; 4,1,1; 4,16,31. 243
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT Werden [220] Gottes außerhalb ihrer ist in dieser Phase unmöglich; er hört auch >die aus den Wolken schallende< Verkündigung der Schrift nicht 24 - ganz im Sinne des sprechenden Löwen Wittgensteins, der auch als solcher nicht verstanden werden kann.25 Augustin erfahrt Gott in seiner memoria als handelnd, und zwar sinnvoll, ex post verstehbar handelnd Der Verständnishorizont kann zunächst - innerhalb der abgeschlossenen memorial - das judiziale Wirken Gottes erfassen: Gott zieht zur Rechenschaft, straft, läßt die Strafe verbüßen.26 Judiziales Handeln, in einer narratio ex post konstituiert, erzählt nicht einen >Fall< im Präsens der Applikation auf ein Urteil, eine Strafe hin; hier erzählt der Gestrafte dem Richter dessen Urteil. Augustin hat hiermit eine Transformation der juristischen Applikation vollzogen, die sich auf die Struktur der providentiellen Geschichtsschreibung zubewegt.27 Doch partizipiert sie noch an beiden Applikationsformen: der judizialen Situation folgt der persönliche >Fall<, die >Privatprovidenz< (Kant: »partikuläre Providenz«),28 sowie das personale Gegenüber der Institution (des angeredeten >Richters<); der historiographischen Situation folgt die narrative Distanz ex post (nach der >Entscheidung<). Diese neue Form der Privatprovidenz - neu in ihrer strikten Bindung an das Problem der invocatio Gottes wie in ihrer konsequenten Anwendung auf den Lebensbericht als memoria2* - wird in den Confessiones mitsamt dem Begriffsarsenal30 der providentiellen Historiographie (»punitio« 24 Vgl. 2,2,3. Das Bild für diese paradoxe Situation ist die Nähe Gottes bei gleichzeitiger Ferne Augustins (z.B. 5,9,17). 25 Schriften Bd. 1, Frankfun/M. i960, S. 536. 26 Vgl. 1,12,19; 1,15,24; 5,10,18. 27 Zum hermeneutischen Zusammenhang beider Formen vgl. Herzog, Zum Verhältnis von Norm und Narrativität in den applikativen Hermeneutiken, in: Text und Applikation, hrsg. von M. Fuhrmann (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 440ff. 28 Vgl. seinen Aufsatz >Über partikuläre Providenz< (Kant, Werke Bd. 4, hrsg. von E. Cassirer, S. 524f.), dessen Kritik der Möglichkeit einer solchen individuellen Form göttlicher Zuwendung sich auf Augustins Behauptimg der empirischen Erfahrbarkeit (in der memoria) nicht einläßt. Sekundär, vom Offenbarungsbegriff abgeleitet als »Erziehung«, erscheint Individualprovidenz erstmals bei Lessing (Die Erziehung des Menschengeschlechts $ 2). 29 Im übrigen wird das Konzept, vom Neuplatonismus vermittelt, bereits in Contra acad. 1,3 formuliert. 30 Vgl. Chr. Parma, Pronoia und Providentia, Leiden 1971, und H. Dörrie, Der Begriff Pronoia in Stoa und Piatonismus, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 24, 1977, S. 60ff. 244
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- »miseratio«;*1 »patientia« - »ira«; Identität - unter dem Aspekt der narrativen Zeitdistanz - von »peccatum« und »punitio«; potentiell unbegrenzte realhermeneutische Zeichenhaftigkeit)32 entfaltet. Und wie jede providentielle Hermeneutik hat sie die Tendenz, die zu deutende Kontingenz in der Deutung aufzuzehren;33 sie identifiziert insbesondere die zeitliche Ausdehnung des Faktenzusammenhangs mit dem Prozeß des Verstehens selbst. Wie bei Orosius Geschichte aufhören kann, wenn sie verstanden wird, so endet bei Augustin die providentiell [221] belangvolle vita mit der Taufe.34 Wie bei Orosius das Verstehen der Geschichte eine Dialektik zwischen »occultum« und »apertum« den Fakten und ihrer Selektion einprägt, so auch bei Augustin: dem »nimis occulte« des vergangenen Handelns Gottes entspricht - hermeneutisch notwendig - das »nescire« Augustins in der Vergangenheit und das mühsam erreichte »scire« während der gegenwärtigen Gottesanrede (vgl. 4,14,23). Der Augustin der Vergangenheit versteht, was ihm widerfährt, noch nicht in rechter Weise als »poena«, weil er seine »culpa« noch nicht erkennt (vgl. 7,2,5). Wie man sieht, ist es die providentielle narratio, die den hermeneutischen Dialog als verstandene Interaktion zwischen Gott und Augustin konstituiert. Für die narratio selbst hat dieser Dialog bestimmte formale Konsequenzen: a) Er transformiert (zuweilen mit der Formel »scire vellem«) alsbald jeden auftretenden Ansatz von Formen des betenden Sprechens in die narratio (vgl. 10,10,16; 1,18,29). Der hermeneutische Dialog als narratio weist andere Formen religiösen Sprechens ab (integriert sie). b) Ebenso wird jedes Eindringen der noch im Proömium geübten Form der quaestio*5 abgeschnitten: »an irrides me ista quaerentem teque de hoc quod novi laudari a me iubes et confiteri me tibi?« (1,6,9). Der hermeneutische Dialog als narratio weist die quaestio als Form des philosophischen Dialogs ab. c) Der Deutungsdruck auf die Fakten (s. oben Aufzehrung der Kontingenz) führt zu Phänomenen der narrativen Reduktion, die sich als herme-
31 »Miseratio« ist der Zentralbegriff der augustinischen Privatprovidenz (oft im Anschluß an Ps. 68 und 118); vgl. 1,15,24; 4,16,31; 5,10,20. 32 Zu dieser Realhermeneutik: W. Wieland, Offenbarung bei Augustinus, Mainz 1978, S. 103ff. und 181. 33 Vgl. Herzog, Orosius [in diesem Band: S. 293ff.], S. 96f. [hier: S. 313-315]. 34 Vgl. 9,2,4.
35 Vgl. zu solchen Formen vor der Hortensius-Lekliire in B. 3: 1,7,11; 2,7,12; 3,2J. 245
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neutische Mehrfachbesetzung,36 als Überdetermination erweisen (vgl. 5,8,15). d) Die erkannte Providenz, und sie allein, stiftet die narrative Konsistenz. Sie ist fähig, sowohl gleichzeitiges wie zeitlich und örtlich weit auseinanderstehendes, aber auch psychisches und sichtbares Handeln Gottes als narratio zu organisieren (vgl. 5,9,16).37 Andererseits kennt sie kein ungebunden-deutungsfreies Detail, keinen »Konsistenzmüll« (Stempel); sie ist wie jede providentiell applizierende Historiographie vollständig nach ihrer gesetzten (>fingierten<) Teleologie gesättigt.38 Ihr Text unterscheidet sich damit in charakteristischer Weise: a) vom >Text< der gedeuteten Offenbarung (ausgelegten Schrift): dieser ist prinzipiell hermeneutisch nicht ausschöpfbar - und hat sich, seit der historisch-kritischen Exegese aus dem Dialog applikativer Hermeneutik entlassen, zum historisch-narrativen Text freisetzen können; ß) vom >Text< etwa der Autobiographie Abaelards: die »historia calamitatum« kennt, wie E. Birge-Vitz im Vergleich mit den Confessiones gezeigt hat,39 durchaus die memoria deutungsfreien und szenisch autonomen Details. Wenn hingegen, wie bei Augustin, die judiziale Situation sich auch noch in ihrer narratio durchsetzt, [222] weist sie die ästhetische Unbestimmtheit ab. »Gott hat keinen Witz« (Lessing). Hätte er ihn, »wer steht uns für die Gefahr, daß er einen ungerechten Ausspruch tut?«40 e) Providentiell gedeutete Faktizität neigt zur Metaphorik, im Falle der Privatprovidenz in außerordentlichem Maße zur Katachrese mit biblischer Bildlichkeit.41 Das ist nicht einfach als Stilphänomen biblischen oder allgemein auslegenden Redens zu interpretieren; vielmehr ermögUcht diese Katachrese die Erfassung psychischen Geschehens, für das es zuvor Ausdrucksmöglichkeiten nicht gab.42
36 Vgl. Herzog, Orosius [Anm. 33], S. 91 [hier: S. 307f.]. 37 Vgl. P. Courcelle, Recherches sur les confessions de Saint Augustin, Paris 2 1968, S. 296. 38 Über diesen Unterschied zur narratio der literarischen Fiktion: Herzog, Zum Verhältnis von Norm und Narrativität [Anm. 27], S. 444. 39 Type et individu dans l'autobiographie medievale, in: Poetique 6, 1975, S. 426ff., besonders S. 439. 40 Werke Bd. 25, hrsg. von J. Petersen und W. von Olshausen, S. 158. 41 Vgl. 1,6,7 (Katachresentyp); 2,3,6-8 (Häufung); 3,1,1; 4,2,2f.; 5,7,13; 7,8,12. 246
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f) Die oben angedeutete Zeitstruktur des hermeneutischen Dialogs ist für diese narratio konstitutiv; wird sie - etwa in Exkursen - verlassen, zerbricht die Form. So hat Augustin 1,18,28 das auch sonst anzutreffende Deutungsbild vom >Schweigen< Gottes aus der narrativen Vergangenheit (vgl. 5,8,10) ins Präsens transponiert (»vides haec, domine, et taces«). Diese Verschiebung führt sogleich in einen Exkurs, der als >Adressat < von Gottes Schweigen die Mitmenschen, die »filii hominum«, einführt (1,18, 29). Mit ihr werden die Voraussetzungen des Dialogs - die Interaktion zwischen ausschließlich Gott und Augustin - durchkreuzt. g) Die hermeneutische Fundierung der narratio führt zu ihrem Sichtbarwerden an der Textoberfläche. Deutungen werden oft im Irrealis eingefügt,43 auch in Ketten von Fragen im Irrealis suggeriert.44 »Error«, zumeist Deutungsmuster für die Vergangenheit (vgl. 1,12,19), kann auch unversehens zur Korrektur der Fakten-memorw in der gegenwärtigen Anrede an Gott führen, ja diese Korrektur nimmt Gott selbst in einem >Einwand< gegenüber der narratio vor: »sed nunc in anima mea clamet deus meus et veritas tua dicat mihi: non est ita, non est ita.« (1,13,22). Ganz offensichtlich überschreitet dieser >Einwand< Gottes den hermeneutischen Dialog mit ihm, insofern bisher eine Interaktion Gott - Augustin nur verstanden wurde: Gottes Handlung in der Vergangenheit, als verstehbare Verlautbarung erfaßt, ist nunmehr in der Gegenwart als handlungsenthobenes Sprechen angekommen. Diese Entwicklung war als der entscheidende Schritt zur Konstituierung des Gesprächs mit Gott genannt worden (oben 11,2). Wie läßt Augustin sie einsetzen? Wie kann dem Deutungsmuster »tacere - indicare« (für das dialogische Handeln Gottes) das »sermocinari« mit Gott (in der post-judizialen Gegenwart des Erzählens) entwachsen? 4. Von der narratio zur Gesprächsvoraussetzung a) Gott läßt - so versteht ihn Augustin - die providentielle und zu ihrer Aktionszeit undurchschaubare Interaktion mit Augustin (»ego conabar ad te et repellebar abs fe«, 4,15,26) sich auf die Möglichkeit sprachlicher Kommunikation zuspitzen: die Hortensius-Lektüre veranlaßt ihn, sich der Schrift zuzuwenden (3,4,7ff.). Was ihm geschieht, versteht er hier 42 Vgl. die Psalmenanwendung *et prodiebat tamquam ex adipe iniquitas mea* (Ps. 72 J) für eine Form der Verstocktheit. 43 Vgl. 1,11,17: »quasi necesse esset...«. 44 Vgl. 5,9,17.
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A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT zwar so wenig wie in den anderen Zwängen seiner vita (»nesciebam quid ageres mecum«, 3,4,8), und auch das Hören von Gottes Wort [223] (als Schrift) scheitert noch wie das Hören der Schrift, selbst wenn sie laut vom Himmel spräche (oben H,3).45 Aber mit einem bezeichnenden Unterschied: Augustin nimmt Gottes Wort durchaus wahr, nämlich als Text (noch nicht als ihm selbst zugewandtes Sprechen) - aber freilich erst als Text unter anderen, und zwar als schlechten Text, als schlechte Literatur (3,5,9). Noch also scheitert der auf das Hören Gottes gerichtete Handlungsanstoß, aber das Fazit, in dem dies Geschehen als Dialog verstanden wird - die Talion des >Verspottens< (Augustin verspottet die Schrift; Gott verspottet Augustin: 3,10,18) -, bedient sich erstmals eines sprachlichen Bildes. Daß übrigens die Phase der Hortensius-Lekiüre und ihres »surgere« und »redire ad deum« die entscheidende Wende bedeutet, hat, auch insofern sie den Aufbau des Werkes nach ganz anderen Gesichtspunkten untersucht, die Forschung seit jeher gesehen.46 b) In der nächsten Phase beginnt Gott zu sprechen, noch nicht zu Augustin selbst: diesen erreichen die Verlautbarungen nach wie vor allenfalls als >Erschütterung<, sondern durch eine Traumvision seiner Mutter,47 die als Erhörung ihres Gebets eintritt (3,ll,19f.). Hierbei ist die Transformation von der persönlichen Interaktion zum indirekten Ansprechen gerade wegen ihrer mühevollen Konstruktion bemerkenswert. »Et misisti manum tuam ex alto et de hac profunda caligine eruisti animam meam, cum pro mefleret ad te mea mater (...) exaudisti eam (...), nam unde illud somnium (...)^« (3,11,19). Die Handlungsmetaphorik, verlängert durch ein Psalmbild (Ps. 85,13),48 bedarf plötzlich der >Übersetzung< in das >eigentliche<, sprachliche Geschehen (»cum«; »nam unde«); das Verstehen macht erstmals das vergangene Geschehen über den judizialen Sinnhorizont hinaus transparent: hinter ihm erscheint die sprachliche Kommunikation noch nicht als Selbstzweck, aber als Phänomen eigenen Rechtes. Der her45 Hierzu ist die eindringliche Untersuchung von E. Feldmann, Der Einfluß des Honensius und des Manichäismus auf das Denken des jungen Augustinus von 373, Diss. theol. Münster 1975, S. 518ff. heranzuziehen. 46 Vgl. P. Courcelle, Recherches [Anm. 37], S. 56 und G. N. Knauer, Peregrinatio animae, in: Hermes 85, 1957, S. 216ff.; seine Interpretation der Confessiones als >Rückkehr des verlorenen Sohnes< stützt sich gerade auf die Auslegung der entsprechenden Perikope im Hortensius-Kzpitcl. 47 Zu ihrer Interpretation zu vergleichen: M. Dulaey, Le Reve dans la vie et la pensee de Saint Augustin, Paris 1973, S. 72ff. und 158ff. 48 Aus einem der >Leitpsalmen< in den Confessiones; vgl. G. N. Knauer, Psalmenzitate [Anm. 7]y S. 133. 248
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meneutische Dialog, der sich bisher nur zwischen dem verstehenden Augustin der präsentischen narratio und dem handelnden Gott der erzählten Vergangenheit etablieren konnte, beginnt nun seine dialogische Struktur in die narratio selbst zurückzuspiegeln.49 In der hier besprochenen Form liegt, wie die Brücke der >Übersetzung< aus dem Handeln zum Sprechen erweist, erst ein leiser Anfang dieser Spiegelung vor. Schon heller wird sie in einer [224] späteren Erörterung der Kommunikation zwischen Monica und Gott erkennbar (6,1,1): »me tamquam mortuum resuscitandum tibiflebat (sc. mater) etferetro cogitationis offerebat, ut diceres filio viduae: >juvenis, tibi dico, surge!<« Monica redet hier direkt - ohne >Übersetzung< aus Gottes Handeln - zu Gott: gerade umgekehrt kann nun dieses Reden katachrestisch in (biblisches) Handeln >übersetzte werden (»feretro cogitationis offerebat«; vgl. Luk. 7,12ff.) und mit dieser >Übersetzung< Gottes Antwort*0 (aus dem gleichen biblischen Kontext) suggerieren. Auch syntaktisch wird der Schritt über die Kommunikation der Traumvision hinaus bezeichnet: dem übersetzend-erklärenden »cum« und »nam« der Vision tritt das finale »ut« des auf Antwort drängenden Dialogpartners gegenüber. c) »Pertractans et componens cor meum, consideranti (...) persuasisti mihi« (6,5,7): in der gleichen >Übersetzung< metaphorischen Handelns ins Sprechen wie bei Monicas Traum macht sich im 6. Buch (nach der Begegnung mit den Predigten des Ambrosius) Gott auch Augustin selbst vernehmbar. Diese Zuwendung Gottes wird zunächst von Augustin noch nicht als Anrede verstanden; auch wird Augustin durch sie nicht zu eigener Anrede Gottes, gar zu einer >Antwort< genötigt. »Persuasisti mihi«: ihre Auswirkung ist vorerst Erkenntnisfortschritt; Augustin kommt mit sich in dieser Phase über das Prinzip der »auctoritas« und des vorgängigen »credere« ins Reine (vgl. 6,5,7f.), wie es das Proömium entwickelt; diese Klärung bezieht sich freilich bereits auf den Schriftrexf (noch nicht als 49 Nicht zufällig hebt Augustin die Traumvision und das anschließende Sprechen Gottes durch einen Priester< durch eine besondere Privilegierung innerhalb der memoria heraus: »(...) quod recolo. nam et multa praetereo, propter quod propero ad ea quae me magis urgent confiteri tibi, et multa non memini«. An dieser Stelle wird die providentielle Dynamisierung erstmals durch die präsentische Dynamisierung des verstehenden Darstellern überlagert. Das erweckt auf der einen Seite das Bewußtsein von einer erheblichen Faktenselektion (»multa praetereo*), auf der anderen von der Begrenztheit der memoria für das Darzustellende überhaupt (»multa non memini*). 50 Direkt von einem »responsum« Gottes »per sacerdetem« wird im Anschluß an die Traumvision berichtet (3,12,21). 249
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT ihm zugesprochenes Wort verstanden). »Suspirabam et audiebas me« (6,5,8): dieses Fazit erscheint nun unter einer ganzen Reihe von Antithesen zur providentiellen Interaktion.51 Der göttliche Hörer ist bereits anwesend, aber die menschliche Verlautbarung hat noch keinen Adressaten, ist noch nicht einmal verbal. d) Dies ändert sich in der folgenden Meditation über den betrunkenen Bettler (6,6,9f.).52 Man kann sie als den mühevollen - und dann fehlschlagenden - Rekonstruktionsversuch philosophischer Dialogführung zur Integration Gottes als Dialogpartner bezeichnen. Wie angedeutet (11,3), sind die philosophische quaestio und ihre menschlichen Gesprächspartner vom providentiellen Diskurs mit Gott prinzipiell ausgeschlossen; Augustin führt einen solchen Partner in der Meditation denn auch zunächst nur hypothetisch ein (»si quisquam percontaretur me ...«), sodann in der Transposition ins Präsens (»recedant ergo ab anima mea, qui dicunt...«). Diese Transposition muß den hermeneutischen Dialog mit Gott sprengen - Augustin versucht nunmehr, im direkten, präsentischen Zugriff, Gott in den Quaestionendialog [225] zu integrieren. Es kommt hierbei zu einer komplizierten - wie die Interpunktion der maßgebenden Ausgaben (Knöll, Skutella) zeigt, bisher nicht geklärten - Dialogsituation (vgl. 6,6,10): a) Rede der menschlichen Dialogpartner: »interest, unde quis gaudeat. gaudebat mendicus Me vinulentia, tu gloria.«5* ß) Augustin wendet sich mit der fragenden Entgegnung jedoch an Gott: »qua gloria, domine?« y) »Quae non est in te. nam sicut...« Wie aus der inhaltlichen Argumentation hervorgeht, antwortet Augustin sich selbst; die mit ß) fingierte dialogische Position Gottes wird zurückgenommen, noch hinter der Dialogsituation Ratio - Augustin in den Soliloquien: »te« ist wieder Anrede an Gott, präsentische Meditation.
51 Diese verlassen erstmals das kontrastive culpa-poena-Schem* und wenden es zur positiven Korrektur oder gar Steigerung: »cogitabam haec et aderas mihi, suspirabam et audiebas me, ßuctuabam et gubemabas me, ibam per viam saeculi latam nee deserebas.« (6,5,8). 52 Von Augustin durch die Rückführung der memoria an diese Episode auf Gottes Willen und eine präsentische exclamatio hervorgehoben: »domine, qui voluisti, ut hoc recordarer et confiterer tibi, nunc tibi inhaereat anima mea (...)«. Auch diese Phase manifestiert sich als weiterer Schritt zur Auflösung der narrativen Konsistenz: es treten erstmals mehrfache Rückblenden und Szenenwechsel auf; Handlungsstränge bleiben liegen (vgl. unter diesem Aspekt die Partie 6,7,12-6,9,15). 53 Hier erst endet die Rede der Gesprächspartner (gegen die Editionen). 250
A UGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT
8) Die menschUchen Gesprächspartner werfen in diese Meditation noch einmal ein:54 »interest vero, unde quis gaudeat.« e) Gleichwohl bleibt die präsentische Meditation an Gott - ohne gleichzeitige Anwesenheit Gottes und der menschUchen Partner als Dialogteilnehmer - gewahrt. Q Augustin läßt daher schließUch die Meditation wieder in die providentieUe narratio münden; die fingierten Partner des präsentischen Dialogs werden dabei zu den realen Freunden der Mailänder Zeit: »dixi tunc multa in hac sententia caris meis (...).« Das Ergebnis dieser denkwürdigen Rekonstruktion, die Zurücknahme Gottes aus der Möglichkeit direkten menschlichen Sprechens (im Gespräch des philosophischen Dialogs), sanktioniert noch einmal die Resignation des Proömiums: das Gespräch mit Gott wird nicht als Cassiciacum-Dialog erreicht werden. e) Indessen zeigt die präsentische Meditation Augustin zum ersten Mal - in die narratio eingefügt - zu Gott sprechend, nicht mehr nur seufzend (vgl. oben c).55 Hinter dieses Sprechen wird von der zweiten Hälfte des 6. Buches an nicht mehr zurückgegangen: Augustin >redet< nun auch in der narratio selbst.56 In ihr, in der providentiell noch nicht ans Ziel gekommenen Vergangenheit hat dieses Reden noch nicht seinen Adressaten erkannt - und hat doch schon den menschUchen Partner hinter sich gelassen. Es wird zum Monolog. Die erste ausführliche Form Uegt 6,ll,18f. vor (Planung des weiteren Lebens); es folgen 7,3,5 und 7,5,7 (über die »causa mali«). Augustin hat sich dieses Monologs nur in den hier genannten Partien der Confessiones bedient, und er hat sie sorgfältig von der sie umgebenden narratio abgehoben, die in präsentischer Gottesanrede geschieht: in jeder dieser Formen wird von Gott nur in der dritten Person gesprochen; er ist noch nicht ihr Adressat. Daß diese Monologe aber auch den menschUchen Partnern bereits enthoben sind, erörtert Augustin in einer besonderen Reflexion am Ende dieser Phase (nach der Lösung von den Astrologen, 7,7,11): »quae illa tormenta parturientis cordis mei, qui gemitus, deus meusl et ihi erant aures tuae nesciente me. et cum in silentio fortiter quaererem9 magnae 54 So wiederum gegen die Editionen. 55 Das gemeinsame Seufzen< (»congemescere«) beschließt noch einmal die Meditation (6,7,11). 56 Vgl. 6,10,17 (noch mit dem >Seufzen< verbunden). 251
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT voces tränt ad misericordiam tuam (...). tu sciebas, quid patiebar, et nullus hominum. quantum enim erat, quod inde digerebatur per linguam meam in aures familiarissimorum meorum! numquid tumultus animae meae (...) sonabat eis? totum tarnen ibat in auditum tuum (folgt ein Zitat von Ps. 37,911). intus enim erat, ego autemforis (...).«[226] Zunächst erscheint Augustins Sprechen noch als >Seufzen<, seine monologischen quaestiones (»cum in silentio quaererem«) haben jedoch, ohne daß er es bereits weiß, ihren Hörer,57 Gott. Sie sind also ein >unechter Monologs hermeneutisch das genaue Widerspiel zum a parte des Theaters, das um den Zuschauer weiß, aber noch nicht ad spectatores adressiert ist.51 Was Augustin bereits weiß, ist die Unmöglichkeit, seinen Freunden auch nur einen Bruchteil (»quantum erat ... /«) seiner Rede mitzuteilen. Hier erscheint erstmals im Prozeß der Konstitution eines menschlichgöttlichen Gesprächs das Versagen der zwischenmenschlichen Situation. Auf die sprachphilosophische Grundlage dieser Erörterung - »vox interior« und »exterior«*9 - wird noch hinzuweisen sein; hier erweist sie den augustinischen Monolog als >halbierten Dialog< - sowohl mit dem >insgeheim< zuhörenden Gott, wie mit den Menschen. Ihnen gegenüber wird Augustin mit seinem inneren >Aufruhr< (»tumultus«), ja überhaupt mit dem, was menschliche Worte (»lingua«) vermögen, vernehmbar (»sonabat eis«). Aber während Gott versteht und für Augustin nicht anwesend ist, sind die Menschen anwesend, verstehen aber nicht. f) Spricht nun Augustin, ohne es zu wissen, zu Gott, so hatte Gott sich bisher in sprachlicher Form, und zwar ausschließlich zu Augustin hin gewandt, nicht vernehmen lassen. Die >Schrift< blieb objektiv, mithin für die Frage »quid mihi sis« etwas Unverständliches (als Text unter Texten >schlechte Literaturs s. oben a). Einen direkt zu ihm sprechenden Gott hat Augustin bisher nur unter dem ausdrücklich als Adynaton umrissenen Bild der verständlichen Rede vom Himmel herab fassen können.60 Dieser scheinbar unaufhebbare Widerspruch zwischen >Wort Gottes< und persönlichem Zeichen, historisch beglaubigter (textueller) Auto57 Betont wird diese paradoxe Situation durch die Antithese »silentium« »magnae voces: 58 Vgl. zu diesen hermeneutischen Situationen, vom Gott des AT her gesehen: Herzog, Gottesmonolog und hermeneutischer Dialog, in: Text und Applikation, hrsg. von M. Fuhrmann (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 98. 59 Auf sie zielt bereits die Formulierung »intus erat (sc. das biblische lumen oculorum des Psalmenzitats), ego autemforis: 60 Vgl. oben ü,3 und Conf. 3,12,21 »ac si de caelo sonuisset« (Buchschluß). 252
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT rität und präsentisch erfahrener (gesprochener) Evidenz tritt noch im Prolog von Augustins Bibelhermeneutik (De doctrina christiana) auf.61 Aber auch diesen Widerspruch löst die partikulare Providenz der Confessiones in den Kapiteln über die »lectio« der »libri Platonicorum« (7,9, Dff.).*2 Gottes Handeln spitzt sich nun darauf zu, zu diesem (und keinem anderen) Zeitpunkt63 Augustin neuplatonische Schriften in die Hände fallen zu lassen {»procurasti [227] mihi«) und in ihnen den Schrifttext >wiederzuerkennen<, genauer: sie als den Prolog des Johannesevangeliums zu lesen: der Bibeltext erscheint nahezu als centonenhafte Überblendung der philosophischen Traktate. Dieses etwa dem Vergilschen Bibelcento der Proba genau entgegengerichtete Verfahren ist die Verzweiflung der Philosophiehistoriker gewesen, aber seine Verschüttung der >Quellen<64 zeigt eine Phase an, in der die Schriftoffenbarung eine neue Qualität gegenüber anderen Texten erhält: ihr Verständnis erschließt sich noch nicht direkt,65 jedoch als Auslegung anderer denkbarer Texte über Gott" »Ibi (sc. bei den Piatonikern) legi non quidem his verbis sed hoc idem omnino multis 61 Er wird hier bereits, die ganze Schrift De doctrina christiana bestimmend, gegen die Zeichengewißheit der Pneumatiker und zugunsten einer wissenschaftlichen Bibelhermeneutik gelöst, welche eine kritisch beschnittene, immerhin aber die Systematik der antiken Disziplinen bewahrende christliche Wissenschaftslehre ermöglicht. Vgl. U. Duchrow, Zum Prolog von Augustins De doctrina christiana, in: Vigiliae Christianae 17, 1963, S. 165ff. 62 Die Partie ist für die Interpretation des philosophischen Werdegangs und die Frage der >Bekehrung zum Neuplatonismus< entscheidend; vgl. P. Henry, Plotin et Poccident, Louvain 1934, S. 78ff.; P. Courcelle, Recherches [Anm. 37], S. 172; A. Mandouze, Saint Augustin [Anm. 20], S. 474ff., und insbesondere die drei Untersuchungen von G. Madec: Une lecture des Confessions 7,9,13-21,27, in: Revue des £tudes Augustiniennes 16, 1970, S. 79ff.; Christus, scientia et sapientia nostra, in: Recherches Augustiniennes 10, 1975, S. 77ff.; Verus philosophus est amator Dei. Saint Ambroise, Saint Augustin et la philosophie, in: Revue des Sciences Philosophiques et Theologiques 61, 1977, S. 549ff. 63 Vgl. die präsentische Reflexion 7,20,26. 64 Zur Interpretation vgl. außer den Anm. 59 genannten Untersuchungen G. Madec, Connaissance de Dieu et action de gräces, in: Recherches Augustiniennes 2, 1962, S. 273ff. Richtig verweist Mandouze (Saint Augustin [Anm. 20], S. 488ff.) auf den Vorläufer dieser Form in De vera religione 3,8-13. 65 Noch nicht direkt: die Bibel lektüre und -auslegung der paulinischen Schriften, alsbald als »contre-epreuve positive« (Mandouze [Anm. 20], S. 529) angefügt (7,21,27), ist aus der narratio gelöst und geschieht im Präsens der Niederschrift. 66 Sogar die Tatsache, daß die neuplatonischen Traktate existieren, ist im Hinblick auf das Verständnis der Schrift auslegefähig: vgl. 7,9,15 (im Rekurs auf den Römerbrief). 253
AUGUSTINS GESPRACH MIT GOTT et multiplicibus suaderi rationibus« - hiermit ist eine eigentümliche Vorform zur späteren Schriftauslegung erreicht.67 Noch ist der Text der Schrift nicht als persönliches Zusprechen Gottes erfahrbar, weist somit noch jedes direkte Verständnis ab. Aber jeder verstehbare Text über Gott ist bereits nur im Hinblick auf den Schrifttext verständlich. Die Schrift bildet den Verständnishorizont aller Texte, resorbiert sie - und verweist damit Augustin, wie zuvor aus der Welt des zwischenmenschlichen Dialogs, endgültig aus der Welt der Texte in sich selbst (»admonitus redire ad memet ipsum intravi in ultima mea«): 7,10,16 setzt der erste Regreß der Confessiones über die Grenzen der personalen Innerlichkeit hinaus ein, der besonders neben der Vision von Ostia im 9. Buch immer wieder als Einsatz der augustinischen Mystik gedeutet wurde. Ohne hier bereits auf die Fragwürdigkeit dieses Begriffes in seiner Anwendung auf die Confessiones einzugehen:68 nicht bemerkt wurde bei diesen Deutungen, daß in dieser Abgeschnittenheit, erstmals in der narratio, das Gelingen einer sprachlichen Kommunikation zwischen Gott und Augustin vorgeführt wird. Dieses diverbium führt einen erheblichen Schritt über den Versuch der Integration Gottes in den philosophischen Dialog (s. oben d) hinaus. Augustin trifft nun jener Anruf, »tamquam (!) audirem vocem tuam de excelso«: a) GOTT: »cibus sum grandium: cresce et manducabis me. nee tu me in te mutabis sicut eibum carnis tuae9 sed tu mutaberis in me.* Gott spricht erstmals nicht biblisch (allerdings zweifellos in Anlehnung an das paulinische Bild von der Speise der Kinder und der Erwachsenen).69 ß) AUGUSTIN hört noch nicht, er >erkennt< den Sinn einer Schriftstelle: »cognovi, quoniam pro iniquitate erudisti hominem et tabescerefecisti sicut araneam animam meam.« (- Ps. 38,12). [228] y) AUGUSTIN fragt - noch nicht als Gottesanrede und noch nicht im Wortlaut eines Schrifttextes, sondern als quaestio: »dixi: numquid nihil est veritas, quoniam neque per finita neque per infinita locorum spatia diffusa est?« 67 Sie ist auf die Kritik des Thomas von Aquin und Calvin gestoßen; vgl. P. Courcelle, Recherches [Anm. 37], S. 311 und 380. 68 Vgl. unten S. 261 ff. Vgl. im übrigen zur Stelle: G. N. Knauer, Peregrinatio animae [Anm. 46], S. 229, und A. Di Giannini, Creazione ed essere neue Confessioni, in: Revue des £tudes Augustiniennes 20, 1974, S. 285ff. 69 Vgl. im übrigen zum Hintergrund der Formulierung A. Mandouze, Saint Augustin [Anm. 20], S. 696. 254
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6) GOTT >antwortet< noch nicht explizit, aber er >ruft< Augustin >von ferne< ein Schriftwort als Aussage zu: »et clamasti de longinquo: >ego sum qui sum<.« (- Exod. 3,14). e) AUGUSTIN hört und versteht Gott (als »vox interior«): »et audivi sicut auditur in corde.« Wie sich zeigt, hängt das schließliche Gelingen dieses Austauschs (e) an der Transformation des biblischen Wortes Gottes zum persönlichen Anruf (6), den Augustin als Antwort auf y verstehen kann. In a und ß hingegen kann von einem Austausch noch keine Rede sein - gleichwohl setzen die dort eingenommenen Sprechpositionen die Voraussetzungen für die Kommunikation. Gott muß sich Augustin in der partikularen Providenz der Confessiones in natürlicher, nicht biblischer Sprechweise zuwenden (et); und Augustin muß sie als biblisches Wort >übersetzen< können (ß). Diese Stufe war bei der Lektüre der »libri Platonicorum« vorbereitet worden. Aber noch ist diese merkwürdige, von der providentiellen Hermeneutik erforderte Verschränkung der Sprechweisen (Gott als natürlich, Augustin als biblisch sprechender Partner) nicht restlos vollzogen. Gott spricht nur »gleichsam« natürlich und Augustins Part ist - sehr bezeichnend - in ß (»cognoscere«: biblisch) und y (»dicere«: Sprache der quaestio) geteilt. Bei näherem Hinsehen kann denn auch so wenig wie bei a-ß von einem wirklichen enchainement der Kommunikation in y-e die Rede sein, weder inhaltlich (das Exoduswort antwortet eigentlich nicht der Frage nach der Wahrheit, sondern stellt sich ihr entgegen) noch formal (Augustin bezeichnet die Frage als »dicere«, die Antwort 8 als »damare«). g) In der letzten Phase der Gesprächskonstitution, bis zum »tolle lege« des 9. Buches, wird sowohl die definitive Verschränkung der göttlichen und menschlichen Sprechsituation wie ihre Verkettung zur kommunikativen Folge vollzogen. Folgende Schritte waren in der narratio bis zum Beginn des 8. Buches erreicht worden: Gottes providentielles Handeln mit Augustin war zunehmend als Sprechen zu >übersetzen< (s. oben b); geschah diese Übersetzung in das Wort der biblischen Offenbarung (s. oben b), so verlor sie das entscheidende Merkmal des partikular-providentiellen Handelns: den persönlichen Adressaten; das biblische Wort Gottes blieb Text über Texten (s. oben c); Augustin hört Gott, aber er versteht ihn nicht; Gott war auch im zwischenmenschlichen Quaestionendialog nicht zur Sprache zu bringen (s. oben d). Was Augustin betrifft, so kommt er aus undurchschaubaren Handlungszwängen zunächst im >Seufzen<, dann in artikulierten, aber monologisch-adressatlosen Verlautbarun255
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gen zu Worte (s. oben d); Gott hört ihn, aber Augustin weiß es nicht; Augustin konnte auch beim Auslegen (>Übersetzen<) philosophischer Texte auf die Schrift hin (s. oben e) sich Gott gegenüber nicht in dessen >Wort< zur Sprache bringen. Es wird nun deutlich, daß zur Konstitution des unmöglich scheinenden Gesprächs noch zwei abschließende Transformationen erforderlich sind: das Augustin persönlich meinende Sprechen Gottes in die Worte natürlicher Rede sowie Augustins Sprechen-Können in die Worte biblischer Gottesoffenbarung - also eine die ursprünglichen Sprechpositionen vollständig vertauschende Verschränkung. [229] Diese Verschränkung war von Gottes Seite her im Augenblick der Versenkung Augustins an die Grenzen seiner Persönlichkeit (s. oben f) durch einen Zuruf Gottes in natürlicher Rede (>wie vom Himmel<) eingeleitet worden. Augustin hatte noch nicht mit den Wonen der Schrift antworten, jedoch erstmals, den Zuruf in Schriftworte >übersetzend<, Gott verstehen können (s. oben f: »cognovi ... audivi«). Dieses Verstehen findet in Buch 8 zum biblischen Antworten, das nicht mehr nur textuell die Abwendimg vom >natürlichen< Sprechen zu Gott, sondern als conversio überhaupt die Abwendung von einem persönlich-unwiederholbaren Lebensziel einschließen wird und damit Gottes Partikularprovidenz zum Verschwinden bringt. In der Tat geschieht im Sinne der judizialen oder im modernen Sinn autobiographischen narratio in Buch 8 eigentlich nichts mehr; das letzte Mal tritt der mit allen Paraphernalien providentiellen Zwanges: Peitsche, Erbarmen und Verborgenheit ausgestattete Gott 8,11,25 auf.70 Demgegenüber tragen mehrere kunstvoll ineinandergeschachtelte Bekehrungsgeschichten immer wieder Augustin einen Vollzug vor, den er noch zu leisten hat:71 1) vor einem Codex der - bereits verstandenen und geglaubten - Bibel sitzt zu Beginn (8,2,4) in der Erzählung des Simplicianus der Rhetor Viaorinus; sodann zeigt sich Augustin allein meditierend vor einem Pauluscodex (8,5,11); in der gleichen Situation Augustin zu Beginn der Erzählung, die Ponticianus vom Mönch Antonius gibt (8,6,14); in einer sekundären Binnenerzählung von einer »conversio« durch die Lektüre des Antoniuslebens sieht man Ponticianus und seine 70 »Instabas tarnen in occultis meis, domine, severa misericordia ßagella ingeminans timoris et pudoris, ne rursus (...).« 71 Die Funktion dieser Mehrfacherzählungen ist analysiert worden von P. Courcelle, Recherches [Anm. 37], S. 175ff.; A. Mandouze [Anm. 20], S. 472f.; W. Schmidt-Dengler, Der rhetorische Aufbau des achten Buches der Konfessionen des heiligen Augustin, in: Revue des £tudes Augustiniennes 15,1969, S. 199ff. 256
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT Freunde vor dem Codex der Antoniusvita (8,6,15); schließlich sieht man Augustin im Garten von Mailand wiederum vor einem Pauluscodex (8,12,29). 2) Der Schritt vom Verstehen bis zu ihrem Verständnis als Anruf und der Antwort darauf wird vor der Gartenszene zweimal, in der Victorinus-Erzählung72 und der Binnenerzählung von der »conversio« des Ponticianus, 73 vollzogen. Der entscheidende Schritt ist also das biblische Sprechen Augustins zu Gott; und das 8. Buch verwendet alle kompositorische Sorgfalt auf seinen Vollzug. Wie erörtert, versteht Augustin bereits die Schrift als Anrede Gottes, ja als Anrede an ihn, aber dieser Sprechweise Gottes kann er nicht antworten. Sie ist nicht wie das providentielle Handeln an sein eigenes Leben mit seiner eigenen Geschichtlichkeit adressiert - adressiert< bei einer sprachlichen Auffassung dieser Zuwendung Gottes; faßt man sie als Handeln auf, so >ändert< sie noch nicht sein Leben. »Non enim erat quid tibi responderem dicenti mihi (erstmals!): surge qui dormis (...) (Ephes. 5,14), non erat omnino quid responderem, veritate convictus, nisi tantum verba lenta et somnolenta: >modo<, >ecce modo< (...)« (8,5,12). Dieses Ausweichen Augustins ist - als Rede in >natürlicher< Sprache - nicht die geforderte Antwort; es überwindet - pragmatisch gesehen, an der »conversio« gemessen [230] - nicht die Kluft zwischen Einsicht und Tun. In ähnlicher Weise demonstriert das gesamte Buch die Unfähigkeit, der bereits erreichten Überzeugung gemäß zu handeln, Hörer und Täter des biblischen Wortes zu sein. Die Lösimg wird auf folgendem Weg gefunden: Augustin kann an eine schon erreichte Sprechposition anknüpfen, das Sprechen im zwischenmenschlichen Diskurs, das einen den Partnern nur zum geringen Teil vernehmbaren Subdialog mit Gott während und >unterhalb< der Kommunikation mit den Partnern ermöglicht (einen >halbierten Monologs s. oben e). Diese eigentümliche Form, die sich in der Antike zuvor allenfalls im Gefüge der Vergilschen Aeneis zwischen dem Poeten als narrator und dem sekundären narrator Aeneas angekündigt hatte,74 sei nach ihren Folgen für das Sprechen Augustins verfolgt: 72 Hier noch kurz und die Oberflächenphänomene referierend: »postquam legende* et inhiando hausit firmitatem (...), depuduit vanitati et erubuit veritati subitoque et inopinatus ait (...).« (8,2,4). 73 Hier bereits auf das unsichtbare Geschehen zielend: »er legebat et mutabatur intus, ubi tu videbas (...).« (8,6,15). Hier wird auch schon die Folgekonversion des Alypius vorgeprägt. 74 So >erwacht< Didos Liebe während und durch die Erzählung des Aeneas, »tarn dudum« (4,1). Auf diese Vorform im Zusammenhang mit Augustins Confes257
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT a) Ponticianus >erzählt<; »tu autem, domine, inter verba eius retorquebas me ad me ipsum, auferens me a dorso meo> ubi me posueram (...), et constituebas me ante faciem meam (...); et si conabar a me avertere aspectum, narrabat ille quod narrabat, et tu me rursus opponebas mihi.« (8,7,16). Erforderlich ist die narratio eines menschlichen Partners. Unter ihrer Oberfläche handelt Gott noch einmal - er spricht noch nicht etwa,75 sondern führt mit Augustin eine groteske Pantomime zu dritt auf: Augustin (I) hat sich hinter seinem Rücken (II) versteckt. Gott zieht ihn (I) hervor und dreht ihn gewaltsam vor sein (II) Gesicht. Diese Pantomime steht in eigentümlicher Relation zur fortdauernden narratio: >sowie< Augustin aus diesem Griff ausbrechen will, >erzählte er (Ponticianus), was er erzähltem Die narratio ermöglicht also gerade durch eine Form des >Weghörens< die Begegnung mit sich und Gott; aber sowie Augustin dieser Begegnung ausweichen will, >hört< er wieder die narratio und wird erneut aus ihr in sich hinein und zu Gott getrieben. ß) Die >Übersetzung< dieses Handelns in Sprachlichkeit steigert die Doppelung der Person Augustins zu einer gänzlichen Aufspaltung und Reduktion seines Ich, zu einer Psychomachie von Gestalten und Stimmen (8,ll,26ff.). »Retinebant (...) antiquae amicae meae et succutiebant vestem meam carneam (noch Handlungsbild) et submur* murabant: >dimittisne nos?< (...)« - so setzt eine »controversia in corde meo« (8,11,27) ein, die schließlich neben den alten Lastern auch ihre Gegnerin, die »continentia«, mitsamt einem zahllosen Gefolge (»tot pueri et puellae«) umfaßt, ja schließlich, sehr ähnlich der prudentianischen Psychomachie», die gesamte erwählte Menschheit umgreift. y) Augustins Innerlichkeit ist als unverwechselbare Subjektivität zerdehnt und zur Landschaft geworden76 - nicht etwa >mystisch< transzendiert! - , als Augustin nach einem letzten Affekt->Sturm< (8,12,28) fähig ist, mit dem Won Gottes zu Gott zu sprechen: »non siones hat mit Recht £. Vance in seinem Aufsatz »Augustine's Confessions and the Grammar of Selfhood«, in: Genre (Univ. of Oklahoma) 6, 1973, S. 14f. hingewiesen. Ich verweise auch auf seine Untersuchung »Le moi comme langage«, in: Poetique 4, 1973, S. 163ff.; beiden ist meine Auffassung der Confessiones verpflichtet. 75 Zu einfach J. Guitton, Le temps et Teternite chez Plotin et Saint Augustin, Brunn 1933, S. 323: »Dieu se sert des paroles et des gestes de nos interlocuteurs et leur donne ä leur insu une signification spirituelle qui nous concerne seuls.« 76 Vgl. 8,11,27: »aperiebatur enim ab ea parte (...)«. 258
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT quidem bis verbis, sed in hac sententia multa dixi tibi: >et tu, domine, usquequo? usquequo, domine, irasceris in finem? ne memor fueris iniquitatum nostrarum antiquarum?<« ( - Ps. 6,4 + 78,5.8). Auch im Sprechen mit dem Wort Gottes bleibt es beim >inneren Sprechen< Augustins (s. oben e), zu dessen zwischenmenschlich wahrnehmbarer Hülle der >objektive< Bibeltext jetzt geworden ist; denn trotz des wörtlich erscheinenden Zitats redet Augustin zu Gott gerade >nicht wörtlich< und vor allem >vieles mit einem Satz<.77 Und es ist nicht mehr das providentiell einmalige Ich Augustins, sondern das zeitlos-überindividuelle [231] >Wir< der zusammengefügten Psalmworte, das nun zu Gott spricht. Augustin71 redet im biblischen Sprechen zu Gott. 8) Nicht mehr >vom Himmels 7 9 nicht mehr unverständlich, antwortet das »tolle lege, tolle lege* Gottes (8,12,29) - in natürlicher Sprache. Gott handelt nicht mehr an Augustin in der providentiellen Realhermeneutik seiner providentiellen Führung. Augustin sagt 77 Diese linguistisch bemerkenswerte Folge des augustinischen Gegensatzes von >innerem< und >äußerem< Sprechen ergibt eine Diskrepanz zwischen sprachlicher Oberfläche und Tiefendimension, die bezeichnenderweise im Diskurs zwischen menschlichen Partnern prinzipiell auflösbar ist (und, wo sie etwa im Theater nach ihrem grotesken Effekt genutzt wird, lediglich auf Fremdsprachlichkeit beruht: »Tant de choses en deux mots? - Oui. La langue turque est comme cela; eile dit beaucoup en peu de paroles«, Moliere, Le Bourgeois gentilhomme IV,3). Im Diskurs mit Gott wird dieser Effekt durch die zusätzliche Differenz zwischen gemeintem Adressaten (Tiefendimension) und zuhörendem Dritten (sprachliche Oberfläche) gesteigen. Die Tiefendimension des Phänomens »multa in hac sententia* hat Augustin bereits während der narratio des Ponticianus umrissen: >unterhalb< des Gesprächs über Antonius kommen (in die narrative Distanz durch ein Plusquamperfekt integriert) zwölf Jahre seines Lebens in einem Subdialog Gott gegenüber zur Sprache (8,7,17f.). Daß die gesamte narrative Dimension der Confessiones als Sprechen mit Gott sich unter der Oberfläche eines Schriftwortes entfalten kann, zeigt dann das erste ausführliche Gespräch mit Gott. Hierzu sogleich. 78 Jedoch bereits ein Augustin, der sich von seiner früheren Person abzutrennen beginnt: die biblische Rede wird scharf an den »voces miserabiles«, die >er< zu gleicher Zeit noch verlauten läßt, abgegrenzt: »quamdiu? quamdiu >cras et cras< {...)?* Beide >sprechen< nach ihrer Oberfläche das gleiche aus, aber die »miserabiles voces* in natürlicher Sprache sind es, die noch das letzte Hindernis vor der Konversion bezeugen (vgl. 8,12,28). 79 Gerade die hier dargelegte Logik der Gesprächskonstitution in den Confessiones verbietet die seit Courcelles Vorschlag so oft diskutierte, im allgemeinen aber nicht akzeptierte Lesart »de divina (statt »vicina*) domo*. Gott spricht eben nicht mehr, wie zuvor, unverständlich »vom Himmel«. 259
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ausdrücklich, daß eine Nachforschung nach den »quasi pueri an puellae«> die zeichenhaftes Instrument der Rede Gottes hätten sein können, erfolglos bÜeb (8,12,29) und überflüssig ist. Hiermit verschwindet - so wie die partikulare Einzigartigkeit des augustinischen Ich - die providentielle Pragmatik von Gottes Handeln und Sprechhandeln. Gottes natürliches Sprechen verweist ein letztes Mal auf den Schrifttext selbst: Augustin liest ihn und erkennt, daß das ihn persönlich meinende, ihm Weisung gebende, ihm verständlich redende Antworten Gottes so wie sein Fragen sich in der Hülle des Schriftwortes ereignet. Die Protagonisten der narratio verschwinden, das Geschehen erstarrt, das Bild wird arretiert: nach Konkubinat, Rhetorikprofessur, nach dem Wechsel von einer Sekte zur anderen, sitzt der künftige Bischof im Garten von Mailand vor dem Pauluscodex, dessen Sprache er zu hören und zu reden vermag; nach Strafen, Ermunterungen, am Ende der ganzen, anfangs dunkel zupackenden, dann einsichtig werdenden Heilsveranstaltung ist mit einem letzten ungreifbar bleibenden Zuruf aus irgendeinem Nachbarhaus Gottes Wort in einer Sprache anwesend, in der er den Menschen anreden und hören will.
m Das Gespräch 1. Das Ende der narratio Nun kann das Gespräch zwischen Gott und Augustin einsetzen; seine erste Wiedergabe (9,4,8ff.) wird sogleich zu untersuchen sein. Doch verlohnt ein abschließender Blick auf die Konsequenzen seiner Konstitution. Denn es ist kein Zufall, daß am Punkt der »conversio« Generationen von Lesern ihre Lektüre beendet haben: es wird nichts mehr erzählt; während für die Forschung hier das dornigste Problem einsetzt: »Warum bringt Augustin in den letzten Büchern seiner Confessiones eine Auslegung der Genesis?«80 [232] Kein Zufall jedenfalls, wenn der Bericht bis Buch 8 als Gesprächseinleitung aufgefaßt wird. Das Gespräch hat die Krücke des durch die narratio 80 So der Titel einer der vielen einschlägigen Untersuchungen über die »Einheit der Con/essiones< (K. Grotz, Tübingen 1970). 260
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vermittelten Dialogs hinter sich gelassen; für neue Fakten (etwa seine Tätigkeit als Bischof) ist im Präsens der Unterredung kein Platz. Augustin bringt offenbar eilig (»multa praetereo quia multum festino«, 9,8,17) und interesselos (die Zeit ist ihm >zu kostbar<, um weitere Fakten zur Sprache zu bringen, 10,2) das zum Abschluß, was im Sinne der letzten Phase vor dem Gespräch mit Gott als Abstreifen des von seiner biographischen Geschichtlichkeit geheilten Ich aufgefaßt werden kann. Das Pharmakon der >Textvernichtung< (im Sinne Derridas)81 des Autobiographischen in den Confessiones ist nichts anderes als die endgültige Aufzehrung des Verstandenen im Moment des Verstehens. Buch 9 endet mit dem Tod jenes Teils seines Ich, der ihm seit je ein Symbol seiner Privatprovidenz gewesen war, mit dem Tod seiner Mutter Monica. Was sie nach der »conversio« ihres Sohnes sagt - »quid hicfaciam adbuc et cur hie sim, nescio, iam consumpta spe huius saeculi« (9,10,26) -, gilt auch für mögliche narrationes aus der weiterlaufenden vita Augustins, einer vita> in welcher kein providentieller Gott mehr zu handeln hat.82 Und Monicas Sterben wird in der Szene von Ostia (9,10,23ff.) als eine Radikalisierung von Gottes Sprechen mit Augustin vorgeführt und in der Zeitlichkeit vorweggenommen. Denn Monica transzendiert jedes Gespräch durch ihr Schweigen, ein Leer-Sein auf allen Stufen,83 in dem nur Gott noch spräche (9,16,25). »Si continuetur hoc« - Monica und ihr Sohn wissen, daß diese Erwägung nicht verschleiern kann, daß das völlige Verstummen und bloße Hören des menschlichen Gesprächspartners, ist das Gespräch mit Gott einmal erreicht, nur nach dem zeitlichen Leben sich durchhalten kann. Daß Augustin die momentane Möglichkeit solchen Verstummens in der Zeitlichkeit erlebt und berichtet, macht ihn zweifellos zu einem frühen Zeugen der abendländischen Mystik. Das erdrückende Interesse für diesen Aspekt der Confessiones?* sich oft ohne 81 Vgl. J. Derrida, La Dissemination, Paris 1972, S. 71ff. (»La pharmacie de Piaton«). 82 Sehr bezeichnend leitet die letzten Schritte, in denen Augustin seine bisherige Lebensform zum Abschluß bringt, erstmals und letztmals in den Confessiones sein >eigener Ratschluß< i^consilium nostrum«), der nunmehr nur noch Gott bekannt ist, den Menschen aber so unbekannt und unverständlich wie zuvor ihm selbst die Fügungen Gottes (vgl. 9,2,2). 83 Verschwinden der sprachlich vernehmbaren Oberfläche des Austauschs mit Gott und endlich Aussetzen auch des >inneren< Sprechens (vgl. 9,10,25); es bestätigt den besonders von Duchrow [Anm. 8] hervorgehobenen Vorrang des >Schauens< vor dem >Hören< im augustinischen Denken, daß auf dieser Stufe Bilder der illuminatio wieder in ihr Recht treten. 84 Wegen der Nüchternheit seines Urteils noch heranzuziehen: E. Hendrikx, 261
AUGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT den Versuch zu einer historisch sauberen Abgrenzung des Phänomens betätigend, ist es vor allem gewesen, das an der Konstitution eines durchaus zeitlichen Gesprächs mit Gott vorbeisehen ließ. Aber die folgende Untersuchung des ersten Gottesgesprächs im vollen Sinne macht es notwendig, beide Formen sorgsam zu trennen, zumal Augustin selbst sie aufeinander bezieht. Die Szene von Ostia führt die extreme Möglichkeit eines Aufhörens menschlicher Rede zu Gott vor Augen. Aber mit ihr enden die Confessiones so wenig wie mit Augustins »conversio«. [233]
2. Das erste Gespräch Die Szene im Garten von Mailand wird in der Tat bis zum Schluß der Confessiones arretiert: Augustin vor der Schrift spricht mit Gott. Die Aporie des Proömiums wird zu Beginn des 9. Buchs durch die Wiederholung des gleichen Schriftzitats in dialogischer Form, an dem im Proömium von Buch 1 die Verständigung scheiterte, von Augustin in programmatischer Weise überwunden.85 Und das neunte Buch wird durch die Ankündigung des >Schwatzens< mit Gott eingeleitet (9,1,2). Die Konstitution dieses Gesprächs in der narratio konnte bereits ergeben, daß als sprachliche Oberflache dieses Gesprächs nur der Schrifttext selbst erscheinen kann; aber er wird nun wechselnd von Gott und Augustin gesprochen. Sprachlich wahrnehmbar setzt das Gespräch 9,4,8 als Meditation über den gesamten 4. Psalm (»cum legerem psalmos David«) ein. Ich gebe im folgenden die Gesprächsaufteilung, nach dem Vulgatatext - wobei zu bemerken ist, daß der biblische Sprecher David ist, die »filii hominum« anredend:86 AUG.: »Cum invocarem te, exaudisti me, deus iustitiae meae; in tribulatione dilatasti mihi, miserere mei, domine9 et exaudi orationem meam.« (Ps. 4,2; Änderung: Vulg. »exaudivit«). Augustins Verhältnis zur Mystik, Würzburg 1936; das andere Extremfindetsich bei C. Butler, Western Mysticism, London 1951 (- 21926). Zur Szene von Ostia seien zwei Untersuchungen hervorgehoben: Ch. Boyer, La contemplation d'Ostia, in: Cahiers de la Nouvelle Journee 17, 1930, S. 137ff., und F. Cayre, Mystique et sagesse dans les Confessions de Saint Augustin, in: Recherches de Science Religieuse 39, 1951, S. 445ff. 85 Vgl. 9,1,1 und 1,5,5 {Ps. 34,10), und oben S. 240f. 86 Aufgefaßt als »individuelles Klagelied« mit wechselnder Adresse an Jahwe und die Feinde von H. J. Kraus, Biblischer Kommentar zum AT, 15/1, Neukirchen 31966, S. 31. 262
AUGUSTINS GESPRACH MIT GOTT GOTT: »Filii hominum, usquequo graves corde? ut quid diligitis vanitatem et quaeritis mendacium?« (Ps. 4,3). AUG. (nicht an Gott gewandt, sondern ihn zitierend; »clamat prophetia«):*7 »et scitotey quoniam dominus magnificavit sanctum suum.« (Ps. 4,4). GOTT: »Irascimini et nolitepeccare.« (Ps. 4,5). MENSCHLICHER GESPRÄCHSPARTNER: »Quis ostendet nobis bona?« (Ps. 4,6). AUG. (ihnen in einer Gottesanrede antwortend): »Signatum est in nobis lumen vultus tui, domine.« (Ps. 4,7). AUG. (ZU Gott; freie Paraphrase): »intus in cubili, ubi compunctus eram, ubi sacrificaveram« (Ps. 4,5; Umstellung) + »dederas laetitiam in corde meo.« (Ps. 4,7). AUG. (nicht an Gott gewandt): »cum haberem frumentum et vinum et oleum« (Ps. 4,8; freie Paraphrase). AUG. (ZU Gott): »oh in pace, oh in id ipsum!« (Ps. 4,9). Dieses Psalmengespräch kennt durchaus noch Durchkreuzungen seiner Form: die Wendung zu anderen Partnern (Ps. 4,6f.),88 die Aufgabe der direkten Anrede Gottes mittels des Schriftwortes (Ps. 4,4; 4,8);** syntaktisch gänzlich unpassende Elemente können indes bereits fortgelassen90 oder gar gegenüber dem Schrifttext korrigiert werden 91 - ein Verfahren, das an die Lizenzen des spätantiken Klassikercento erinnert. Ihm vergleichbar [234] ist auch die oft dünne, zuweilen jede Konsistenz abbrechende Verkettung der Gesprächselemente. In ihr manifestiert sich die Oberflächenstruktur des Austausches in biblischer Sprache. Nach den 87 Zusätzlich wird der vorherige Part Gottes (ab »usquequo graves*) ebenfalls aus dem Dialog herausgenommen. Wie mühsam seine Konstitution erreicht wurde, zeigt auch der Umgang mit dem Psalmenschluß (4,9) »obdormiam et somnium capiam«. Augustin hat zunächst Verständnis-{DeuiMn^) Schwierigkeiten, und sogleich fällt die Form aus jeder Dialogizität in die exegetische quaestio zurück: »cur dixit: obdormiam (...)?« Die Antwort vermag Gott (in Augustins Verständnis) erst durch ein Schriftwort aus anderem Kontext (IKor. 15,54) zu geben. Bis dahin ist jede gesprächsweise Kommunikation abgerissen. Man sieht, daß das Gespräch mit Gott für Augustin jeder seiner zuvor konstituierten hermeneutischen Voraussetzungen notwendig bedarf. 88 Zu ihrem Hintergrund vgl. unten 111,4. 89 Jedoch innerhalb der allgemeinen Anrede Gottes. 90 Vgl. 9,4,8-9,9,10 (insbesondere die Partien im Plusquamperfekt). 91 So bei Ps. 4,4: »insonui (!) multa graviter etfortiter in recordatione doloris m«'.« Hierzu unten IV. 263
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT
hermeneutischen Vorstufen des Gesprächs zwischen den ungleichen Partnern war bereits zu erwarten, daß hinter dem sprachlich darstellbaren Cento der Schriftworte der Diskurszusammenhang durch eine Tiefenstruktur geleistet wird. Augustin hat dies gerade an dieser Stelle immer wieder signalisiert. Er spricht zu Gott >während< des Lesens; >beim< Lesen; er wird beim Lesen >entzündet<, >verändert< (s. oben ü,4f); ja während eines Gesprächsparts Gottes (Ps. 4,3) spricht er selbst >mit Augen und Stimme< (vgl. 9,4,8f.); die Tiefenstruktur des Gesprächs kann also selbst die dialogische Oberfläche außer Kraft setzen. Was sich als Sache dieses Gespräches, als Gesprächsgegenstand schon in den Subdialogen während der Erzählungen angezeigt hatte (s. oben ü,4f), umschreibt Augustin nun mit aller Klarheit: es ist die memoria, die recordatio der gesamten Interaktion zwischen Gott und Augustin noch einmal und virtuell endloser meditativer Wiederholung fähig - nun aber im freien Besprechen mit Gott, und entsprechend dem Prinzip der Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe, »multa in hac sententia« (vgl. hierzu oben Anm. 77), nach ihrer ganzen Ausdehnung unterhalb eines Satzes der biblischen Oberflächensprache möglich.
3. Hermeneutisches Fazit. Ästhetische Konsequenzen Damit hat die Gesprächskonstitution seit ihrer Einleitung am Ende des Proömiums zu einem paradoxen Ergebnis geführt, das sich nur als Auswirkung einer Dialektik zwischen dem hermeneutisch-dialogischen Prozeß und der prozeßenthobenen Form des Gesprächs auf die Textkonstitution erklären läßt.92 Die Paradoxie berührt wieder die Zeitstruktur des hermeneutischen Dialogs und stellt sich so dar: Augustins providentielle narratio setzt zu einem biographischen Zeitpunkt ein, in dem sein Verstehen, durch die »conversio«, die Möglichkeit des Gesprächs mit Gott bereits erreicht hat. Die präsentische Aporie des Proömiums stellt sich jedoch, mitsamt ihrer Überwindung in der narratio, gerade nicht das Ziel des Gespräches selbst - sie verzichtet also nicht auf eine Entfaltung zur menschlich-intersubjektiven Textualität. Vielmehr strebt sie die Darstellung des hermeneutischen Prozesses selbst an, der sich erst im Gespräch vollenden wird. Die durchgehaltene präsentische Rede zu Gott, als Ort der verstehenden Deutung, beschleunigt mithin zunehmend die narrative Darstellung des hermeneutischen Geschehens, zehrt sie endlich auf. Die 92 Vgl. hierzu F. E. Consolino, Interlocutore [Anm. 6], S. 128. 264
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT Vollendung dieses Prozesses im Gespräch weist dann narrative Textualität ab: sowie die Vollendung eintritt, müßte ein narrativer Text abbrechen. Oder besser: das Gelingen der Gesprächsform müßte den narrativen Text überflüssig machen, >vernichten<. Aber Augustin hat die narratio nicht gestrichen. Vielmehr verdoppeln sich nunmehr »dargestellte* und »besprochene* Interaktion (die Kategorien H. Weinrichs sind hier am Platze); sie rekurrieren potentiell bei jeder weiteren Bibelmeditation bis zum Ende der Confessiones in der identischen Wiederholung eines endlosen, providentiell entlasteten Gesprächs. Wie man sieht, führt diese Dialektik zwischen dem dialogischen Prozeß der Hermeneutik und dem entlasteten Gespräch auf ästhetische Probleme. Diese brauchten in [235] einem Gespräch zwischen Gott und Mensch nach der Lösung der augustinischen »vox interior« keine Rolle zu spielen (ein solches Gespräch hat nur, wie sich zeigte, bemerkenswerte ästhetische Folgen). Sowie jedoch, nach der Anlage der Confessiones, wie sie das Proömium festlegt, die Konstitution eines solchen Gespräches erzählt werden soll - und nicht nur, wie alles andere Handeln mit Gott, besprochen -, stellen sich jene Fragen nach der >Verdoppelung<, nach dem >überflüssigen< Text. Sie stellen sich sofort als Folgeprobleme heraus, wenn man erkennt, daß diese Lösung >Narratio zusammen mit dem folgenden Gespräch< bereits die Fiktion eines einzigen Adressaten, Gottes, aufhebt. Mit der Entfaltung dessen, was Gesprächsgegenstand mit Gott sein könnte, zur narrativen Textualität menschlich-intersubjektiver Sprache, ist der menschliche Hörer, das Publikum mitgesetzt, ist die theologische Gesprächskonstitution auch als literarische zu begreifen. In der Tat hat Augustin auch diese Konsequenz, und zwar seit dem Beginn der narratioy erkannt. Aber er erörtert sie ausführlich zum ersten Mal eben in dem ersten Psalmengespräch mit Gott - an dem Punkt des Werkes, der die narratio wie jedes weitere Gespräch verdoppelt, ohne sie aus der Textualität zu verbannen. Wie sich zeigen wird, legt diese Erörterung das Fundament der - oft vermißten oder in platonische Überlieferung eingeformten - augustinischen Ästhetik.
4. Erweiterung zum zwischenmenschlichen Gespräch Augustin beschreibt die Phänomenologie des inneren Sprechens mit Gott - und zwar geschieht dies >zwischen< zwei Oberflächenelementen aus dem Gespräch mit Gott (Ps. 4,2 und 4,3) - in solcher Schärfe, daß die Frage der menschlichen Teilhabe hervorspringt (9,4,8): 265
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT
»audirent (sc. homines) ignorante me utrum audirent, ne me propter se illa dicere putarent, quae inter haec verba (sc. der Schrift) dixerim, quia et re Vera nee ea dicerem nee sie ea dicerem, si me ab eis audiri viderique sentirem, nee, si dicerem, sie aeeiperent, quomodo mecum et mihi cor am te de familu ari affectu animi mei (...).« Eine vergleichbar konzentrierte Phänomenologie ist mir aus der Antike nicht bekannt.93 Sie gibt zunächst vor, den menschlichen Partner nur zu Demonstrationszwecken einzuführen. Das Gespräch mit Gott scheint durch jedes Wissen von einem menschlichen Hörer gestört zu werden, und zwar sowohl in einem Mißverständnis der Sprechintention Augustins (Beziehung auf zwischenmenschliche Kommunikation) als auch in dem daraus resultierenden sofortigen Abbrechen des Gesprächs mit Gott. Dann aber erkennt Augustin die Möglichkeit, die Kommunikation mit Gott bei gleichzeitiger Kommunikation mit dem menschlichen Partner aufrechtzuerhalten, zunächst unter Änderung des Sprechens, dann sogar bei unverändertem Fortsprechen: die Kommunikation mit Gott wird dabei zwar nicht verstanden, jedoch leistet sie >zugleich< (vgl. die umgekehrte Situation oben 11,4g: >während< der Kommunikation mit den Freunden spricht Augustin mit Gott) eine zwischenmenschliche Kommunikation. Und sie soll diese leisten: »quae utinam audissentU (9,4,9),94 »o si viderent internum aeternumU (9,4,10). Augustin geht von der Phänomenologie eines göttlich-menschlich-zwischenmenschlichen [236] Sprechens zur Forderung nach dessen Performanz in seinem gesamten Umfang über - aus welchen theologischen Voraussetzungen und mit welchen ästhetischen Konsequenzen, wird zu zeigen sein. Das Gespräch mit Gott jedenfalls erweitert sich in den Confessiones bereits bei seiner ersten Realisierung zum zwischenmenschlichen Gespräch.
93 Vgl. zum theologisch-erbaulichen Hintergrund bereits bei Ambrosius: M. Pellegrino, Mutus loquar Christum, in: Paradoxos politeia. Studi patristici in onore di G. Lazzati, hrsg. von R. Cantalamessa u.a., Mailand 1979, S. 447-457. 94 Jetzt erklärt sich auch die Einbeziehung menschlicher Partner in das Psalmengespräch mit Gott. 266
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IV Die ästhetische Überformung des Gesprächs 1. Dialektik zwischen göttlicher und menschlicher Teilnahme am Gespräch Daß durch den menschlichen Zuhörer beim Gespräch mit Gott sich erst das Problem der sprachlichen Oberfläche dieses Gesprächs, seines Textes, und dieses Textes als Literatur stellt, hat Augustin bald nach der ersten Psalmenkonversation ausgesprochen. Er bricht die narratio ab (9,8,17): »accipe confessiones meas (...) de rebus innumerabilibus etiam in silentio« - um dann den letzten Bericht (über die Szene von Ostia) mit einem »sed non praeteribo« anzuschließen - die »praeteritio« würde nur die Sprachlichkeit unter den Menschen vernichten. Aber Augustin ist diesen Weg, auch nach der Vollendung der narratio, nicht gegangen. »Et nunc, domine, confitebor tibi in litteris«, heißt es in der Ostia-Erzählung (9,12,33) das Gespräch mit Gott als >Literatur< wird hier zuerst explizit. Latent nämlich hat Augustin die Dialektik, die sich zwischen der vom ausschließlichen Gottesgespräch eigentlich geforderten Textvernichtung und der fortlaufenden Textualität bis über das Ende der narratio hinaus etabliert, seit Beginn des Werkes beschäftigt.95 Zunächst durch negative Bestimmung: wenn Gott Augustin hören wird, so braucht sich dieser auch der geheimsten Mitteilung nicht wie vor Menschen zu schämen (vgl. 1,6,7) - Gott steht außerhalb eines sozialen Gesprächskontextes. Gott wird durch die Rede Augustins nichts erfahren - die narratio innerhalb des Gottesgesprächs hat keine normale Mitteilungsfunktion; »non docet« (sc. lingua> 5,1,1). Dann werden Publikumsreaktionen impliziert: mag man doch über seinen Bericht spotten (4,1,1); ein wohlwollender und geistlich fortgeschrittener Leser mag über ein Detail lächeln (5,16,20). Ja, Augustin gibt zu verstehen, daß vieles zu Berichtende einem Teil des Publikums schon lange bekannt ist.96 Endlich wird sogar die Allwissenheit Gottes ein Prädikat, das gerade für den providentiellen Prozeß erfordert wird, das >innere< Sprachlichkeit erzwingt und zur Textvernichtung nötigen sollte - zur Steuerung der Leserreaktion genutzt. Bereits Knauer97 war auf die häufige Wiederkehr des Psalmenzitats »Deus, tu scis« (Ps. 68,6) aufmerksam geworden. Seine neutrale Funktion, 95 Vgl. M. Verheijen [Anm. 12], S. 52ff. 96 Vgl. 3,11,20: »quod saepe non tacui.« 97 Psalmenzitate [Anm. 7], S. 76ff. 267
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT den Mitteilungswert der narratio für Gott zu verneinen und somit die Kontingenzverpflichtung der memoria einzuschränken, ist selten (vgl. 4,13,20). Vielmehr wird das Zitat besonders bei Fakten gesetzt, die auf eine positive Reaktion des menschlichen Mithörers rechnen könnten [237] - sie dämpfen hier eine mögliche Identifikation des Lesers und seine Affirmation der augustinischen Selbstdarstellung: beides würde den Fortgang des providentiellen Prozesses hemmen, der hermeneutisch auf das Widerspiel von Uneinsichtigkeit und ihrer Durchkreuzung mittels unerwarteter Fügungen angewiesen ist. Man braucht dieses hermeneutische Erfordernis nur auf den nun implizierten - menschlichen - Leser zu übertragen, um es als höchst modernes literarisches Erfordernis begreifen zu können, als Durchkreuzung der Leseridentifikation. Das »deus, tu scis« wahrt, theologisch vorgegeben, auch dem Unglaublich-Negativen der Selbstenthüllung den hermeneutischen Sinn providentieller Teleologie; es hat ihm literarisch über die Jahrhunderte die Faszination einer die Erwartungsgrenzen immer wieder überschreitenden, dabei durch die Intimität mit Gott beglaubigten Entblößung verliehen.9* Wie man sieht, resultieren diese ästhetischen Konsequenzen der augustinischen Hermeneutik aus den erörterten Konstitutionsvoraussetzungen des Gottesgesprächs der Confessiones. Literarisch führen sie endlich zur Emanzipation des menschlichen Mithörens zur Rolle eines zweiten Adressaten des Werkes. Augustin formuliert diese Konsequenz ausdrücklich bereits im 2. Buch (2,3,5): »Cui narro kaec?« unterbricht er den Bericht. »Neque enim tibi, deus meus, sed apud te narro haec generi meo, generi humano.«
2. Der Ansatz der augustinischen Ästhetik Hiermit ist der Wurzelpunkt der augustinischen Ästhetik in seinem Gespräch mit Gott erreicht. Denn der Frage wird Augustin nun nicht mehr 98 Wobei aufmerksame Leser sich seit je gerade an der mit ihrer eigenen Leserrolle konkurrierenden Intimität mit Gott stießen. So einer der ersten faßbaren Leser, der Gegner Pelagius: überliefert ist seine Empörung über das »da quod iubes, et iube quod vis« (10,29,40) - nicht nur aus gnadentheologischen Gründen, sondern auch wegen des intimen Gesprächstons. So aber noch im 20. Jahrhundert Brecht: »Ich lese aus Mangel an Schundromanen die Bekenntnisse des Augustinus (...). Sehr komisch ist bei ihm die so typische Haltung aller Gelehrten ihren Entdeckungen gegenüber: eine eifersüchtige, geizige, ja schadenfrohe Haltung. Er behandelt seine Religion wie sein Steckenpferd.« (Tagebücher 1920-1922, Frankfurt/M. 1975, S. 212). 268
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT ausweichen, welchen Sinn, welche möglichen Formen, welche Effekte die zwischenmenschliche Kommunikation >vor und bei< Gott haben kann. Augustin wendet sich ihr mit dem Proömium des 10., die memoria untersuchenden, sodann des 11., die fortlaufenden Bibelmeditationen zur Genesis einleitenden Buches zu. Mit der hermeneutischen Vollendung der narratio im Gespräch (Buch 9) steht Gottes Anwesenheit in der berichtenden memoria (ihre Gewißheit hatte die Aporien des Proömiums von Buch 1 überwunden) zur Untersuchung. Und ebenso mit der Vollendung der narratio im Gespräch steht die Anwesenheit des menschlichen Zuhörers im Werk überhaupt (sie hatte sich seit dem Ende des Proömiums von Buch 1 bemerkbar gemacht) zur Untersuchung. Die Forschung hat diesen Zusammenhang, der die Funktion des eingeschobenen < Buches 10 erklärt, bisher nicht gesehen. Erst Buch 10 und seine ästhetischen Klärungen werden es Augustin ermöglichen, der in Buch 9 erreichten Konversation mit Gott (>Lektüre< von Ps. 4) ab Buch 11 in den Genesismeditationen eine definitive Form, eine >Zwei-Adressaten-Form<, zu geben. Buch 10,1,1 geht sogleich von dem Faktum der doppelten Adressaten aus: »in corde meo coram te in confessione, in stilo autem meo coram multis testibus.« Noch einmal [238] - und zum letzten Mal in den späteren Büchern! - wird das >innere< Sprechen mit Gott beschrieben (vgl. 10,2,2; besonders: »tacet enim strepitu, clamat affectu«). Und diese Kommunikation wird nun ausdrücklich als Gespräch gekennzeichnet: »neque enim dico recti aliquid hominibus, quod non a me prius tu audieris« insofern wird noch die Differenz zwischen sprachlicher Oberfläche und Tiefe gegenüber der >Gleichzeitigkeit< früherer Subdialoge als zeitliche Differenz (»prius«) dargestellt. Dann aber setzt Augustin fort: »aut etiam tu aliquid tale audis a mey quod non mihi tu prius dixeris.« Hier wird die Verschränkung der Konversation bis zur Identität ihrer diverbia gesteigert - verstehbar nur als Fazit einer Gesprächskonstitution, deren sprachlicher Abschein biblischer Text, ein nach beliebiger Distribution auf menschlichen und göttlichen Partner fraktionierter Text ist. Nun wendet sich Augustin endgültig dem Telos der sekundären Kommunikation, der zwischenmenschlichen Teilhabe am Gespräch mit Gott zu. »Quid mihi ergo est cum hominibus, ut audiant confessiones meas?« (10,3,3). Wie zu erwarten, betritt Augustin mit der Antwort nicht das Feld antiker, autonomer Ästhetik - die »curiositas« etwa wird sofort zurückgewiesen (10,3,3). Jedoch versucht er - ein seltener Fall in der christlichen Antike - ästhetische Aussagen heteronom und gleichwohl den literarischen Phänomenen angemessen zu formulieren, den Satz bestätigend, aber modifizierend, daß es eine aus biblischer Tradition formulierbare 269
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT christliche Ästhetik nicht gibt, jedoch Folgen genuin christlicher Aussagen für die Ästhetik." Ziel der zuhörenden Teilhabe wie der sie ermöglichenden Textualität kann nicht mehr das Kunstschöne und seine Mimesis sein; die Ästhetik Augustins seit den Confessiones und besonders De doctrina christiana setzt gegenüber der in der Forschung fast ausschließlich beachteten platonisierenden Ästhetik der Frühschriften100 neu ein. Produktions- und Rezeptionsziel ist die paulinische »Caritas« (10,3,3), zunächst »quia omnia credit« (IKor. 13,7), also in Konnex mit der ebenfalls paulinischen »fides« das leistend, was im aristotelischen System das -mdavöv (>das Glaubhafte<) bezeichnete. Sodann aber erfaßt Augustin mit der Notion »Caritas« auch andere ästhetische Wirkungen. Nunmehr ausdrücklich auf die Darstellung vergangener (erzählter) Fakten bezogen (»praeteritorum ..., quae remisisti et texisti«: sie sind von judizialer Pragmatik entlastet), zielt die Intention der »Caritas« nicht nur auf das, was pastoraltheologisch dem paulinischen Begriff zuzuerkennen wäre (Beispiel, Hilfe, auf der Seite des Adressaten »imitatio«: »cum leguntur et audiuntur, excitant cor, ne dormiat in desperatione et dicat >non possum<«). Sondern dieses Ziel läßt sich auch als »delectatio« >übersetzen<: »delectat bonos audire praeterita mala eorum, qui iam carent eis, nee ideo delectat quia mala sunt, sed quia fuerunt et non sunt.« (10,3,4). Die narratio, hermeneutisch durch die mit Gott erreichte Konversation aufgehoben, erhält nun einen ästhetischen Sinn, der das kathartische101 Vergnügen am Leiden des anderen, soweit es die Antike angenommen [239] hat, in eigentümlicher Weise transformiert: die räumliche Distanz des >Schiffsbruchs mit Zuschauer<, welche ästhetische Entlastimg ermöglicht, wird hier in eine Zeitlichkeit verwandelt, welche Providenz allererst genießbar macht. Wie bewußt Augustin diesen Zusammenhängen nachgegangen ist - bis heute unter paulinischen Begriffen verborgen, welche den an die antike Begrifflichkeit gewöhnten Philologen offenbar solche Unlust erregten, 99 H. Blumenberg, in: Die nicht mehr schönen Künste. Hrsg. von H. R. Jauß (Poetik und Hermeneutik 3), München 1968, S. 605. IX Vgl. K. Svoboda, Llisthetique de Saint Augustin, Brunn 1933, und z.T. noch M. Fuhrmann, in: Die nicht mehr schönen Künste [Anm. 99], S. 583ff., sowie die Untersuchungen von W. Beierwaltes (v.a.: Regio Beatitudinis. Zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, Heidelberg 1981); Hinweise auf die >karitative< Ästhetik bei O'Connell [Anm. 18], S. 140ff. (mit Verweis auf erste Ansätze in der Schrift De Genesi ad litteram). 101 Zur Berechtigung dieses Ausdrucks in der augustinischen Ästhetik s. unten IV,3. 270
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT
daß sie näheres Zusehen unterließen - , zeigt seine sogleich folgende Frage, was nun der Effekt bei Aufhebung zeitlicher Distanz, nach dem Ende der narratiöy sei: »quo fructu (...) hominibus coram te confiteor per has litteras adhuc, quis ego simy non quis fuerim?« (10,3,4). Diese Spiegelung der beiden Confessiones-TeAe belegt ausdrücklich die oben gegebene Interpretation der Gesprächskonstitution. Für den >präsentischen< Teil sieht Augustin ein besonderes ästhetisches Problem: der Hörer ist hier nicht mehr affektentlastet - als begleitender Affekt war für die narratio des Vergangenen »amor misericordiae« (sc. »divinae«) und aus ihm resultierende »dulcedo« der erzählten Providenz genannt worden. Nun wird die theologische »Caritas« des menschlichen Partners (»orare pro me«) in den ästhetischen Affektdruck von »dolor« oder »gaudium« und der nun erst eingeführte dritte paulinische Begriff der »spes« in >Spannung< transformiert (»respirent in bonis meis, suspirent in malis meis«). Die Entlastung der »delectatio« aber - hier wird erstmals das Problem der doppelten Adressaten ästhetisch gelöst - genießt nun Gott. Den Affektdruck des Lesers, sein >Seufzen< und >Weinen< erlebt erst (sit venia verbo) Gott kathartisch; vor ihm aufsteigend verwandelt sich die Reaktion der Leser zum »hymnus«, wird also selbst ein ästhetisches Phänomen (10,4,5). »Tu autemy domine, delectatus odore sancti templi« formt diese Aussage einer Stelle der Apokalypse ein (Apk. 8,3). Sie vollzieht eben durch die produktive Rezeption der menschlichen Leser eine - für Gott - ästhetisch sinnvolle Erweiterung der Dualität des Gesprächs. Als Gegenstand dieser ästhetischen Prozesse ist Augustins Ich supponiert, zunächst in seiner providentiellen Zeitlichkeit, sodann in der Formulierung »quis sim«. So formuliert, kann jedoch dieser ästhetische Gegenstand nach der Aufhebung einer jeden möglichen (oder immer die gleichen »mala« memorierenden) narratio im biblischen Gespräch mit Gott nur das Schriftwort selbst sein. Mag es als Gesprächsgegenstand der >inneren< Sprache für den in den Affekten der »Caritas« bewegten Leser und Autor je verschiedene Kontingenz erfassen (für den Augustin der Confessiones bis zum Ende des Werkes immer wieder die Vorgeschichte seiner »conversio«) - was ästhetisch dargestellt erscheint, kann seiner Vollendung nach nur die textliche Oberfläche der Schrift sein. Augustin wird diesen Texttyp in den letzten Büchern der Confessiones in ausgedehnten Bibelcentonen konstituieren. Jede textuell sichtbar werdende Darstellungsform neben diesem Typ wird Annäherungsform oder besser - nach dem Ergebnis der Gesprächskonstitution - eine zur Textvernichtung tendierende Form sein. Augustin führt dieses Programm der Bücher 11-13 im Proömium zu Buch 11 als eigene ästhetische Form,102 als »meditatio* 271
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT ein, ab Schriftmeditation (11,2,2). Und er hat sie ausdrücklich mit der seit Buch 8 erreichten Aufhebung der eigenen (providentieU individuellen) Person verbunden: »et olim inardesco meditari in lege tua et in ea tibi confiteri scientiam [240] et imperitiam meam, primordia inluminationis tuae et reliquias tenebrarum mearum, quousque devoretur a fortitudine infirmitas.« (11,2,2). Die affektische Ästhetik wird nun erweiten (»non mihi soli aestuat, sed usui vult esse fratemae caritati«, 11,2,3) und geschlossen: »affectum ergo nostrum patefacimus in te confitendo tibi miserias nostras et misericordias (durchaus als Gottes >Affekt< aufzufassen) tuas super nos.« (11,1,1). Vor allem aber wird erst jetzt die volle >Übersetzung< der dualen Gesprächssituation in die ästhetische Trias GottMensch-Mitmensch erreicht: Gott vermittelt durch sein eigenes - biblisches - Sprechen bereits eine »delectatio« (vgl. 11,2,3 und 12,13,17), welche die antike »delectatio« am Erhabenen und Dunklen transformiert und von den entsprechenden Affekten begleitet wird: »horror est intendere in eam (sc. profunditatem der Schrift), horror honoris et tremor amoris« (12,14,17). Hier ist die paradoxe Hermeneutik der augustinischen Konversation mit Gott vollständig in einen ästhetischen Prozeß transformiert worden. Gott
delectatio: hymnus etc.
delectatio: horror tremor
Hörer Augustin \
Isthet. Beglettphanornen
/
\
/
\ V
meditativ« Tex tober flache
/ /
102 Sie wird 11,1,1 ausdrücklich von der traditionellen Form des Betens abgesetzt. 272
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT 3. Forschungsfragen Die Confessiones lassen nur einen Ausschnitt der augustinischen Ästhetik sichtbar werden; und nur, was zur Lösung des Gesprächsproblems von Augustin in Buch 10 und 11 ausgearbeitet wurde, kam hier zur Sprache. Es ist deshalb nötig - besonders angesichts einer fehlenden Untersuchung zum Gesamtphänomen - , auf einige Verbindungslinien zum übrigen Werk, besonders der Schrift De doctrina christiana, hinzuweisen: a) Daß sich in der »caritas«-Ästhetik nicht sinnvollerweise zwischen literarischen, ethischen und pastoraltheologischen Momenten differenzieren läßt, gründet sich in dem die ganze Person umfassenden >voluntaristischen< Aspekt der augustinischen Ontologie, sowohl im Bereich der Psychologie wie noch in der Trinitätslehre.103 [241] b) Die paulinische Systematik der augustinischen Ästhetik (»Caritas«, »fides«, »spes«) wird in De doctrina christiana wesentlich verfeinert und um einen Inhaltsbegriff, die »aedificatio«, erweitert. c) Ebenfalls in der Schrift De doctrina christiana hat Augustin die »c<mtes«c-Ästhetik linguistisch (semiotisch) zu fundieren und z.T. auch zu formulieren versucht; als Verbindungsglied zwischen Theologie und Linguistik dient hier ein vollständig nach der Systematik »res ad utendum« »res adfruendum« aufgebautes Zeichensystem. d) Zu klären ist die Beziehung der ausgeprägten Affektensystematik der augustinischen »delectatio« zu antiken Vorgängern, insbesondere ihre Beziehung zu den kathartischen Begriffen des Aristoteles. In den Confessiones bedürfen die Kapitel über den Schauspielbesuch (3,2,2ff.) einer neuen Interpretation. Für den griechischen Osten (Basilios) ist die Rezeption der aristotelischen Kathartik bereits gezeigt worden. 104
4. Die Endform des Gesprächs in den Confessiones Das Resultat der ästhetischen Konstruktionen Augustins in Buch 10 und 11 der Confessiones ist die Bibelmeditation. Diese erscheint in der Forschung gewöhnlich als Form der Exegese (und führt dann zu der immer wieder diskutierten Frage, wie eine Autobiographie in einen Genesiskommentar münden könne). Augustin hat jedoch, thematisch im 12. Buch, die Meditation unter dem Aspekt karitativer Ästhetik sehr deutlich von 103 Vgl. hierzu G. Strauss, Schriftgebrauch [Anm. 14], S. 32ff. 104 Vgl. Herzog, Exegese - Erbauung - Delectatio [in diesem Band: S. 155ff.]. 273
A UGUSTINS GESPRÄCH MIT GOTT der Exegese und der dogmatischen quaestio unterschieden (vgl. insbesondere 12,13,17-12,33,43). Sie kann - für jeden Teilnehmer am >inneren< Diskurs - keine definitive Wahrheit eines Textverständnisses beanspruchen; sie kennt keine falsche Auslegung, nur eine Mehrzahl von Auslegungen. Ja, Augustin hat die »dispensatio« der Schrift als einen von vornherein von Gott angelegten, prinzipiell endlosen hermeneutischen Aufhellungsprozeß beschrieben (12,27,37), der noch >vielen Gesprächsteilnehmern nützen wird< (»narratio dispensatoris tui sermocinaturis pluribusprofutura«; vgl. 12,28,39: »garriunt scrutantes«). »Aedificatio« als Ziel dieses Gesprächs (vgl. 12,18,27 und 12,27,37) dient keinem dogmatischen Interesse und tendiert stets dazu, unter Bedauern über die Sichtbarkeit der meditativen Textualität selbst (»quam multa de paucis verbis9 quam multa> oro te, scripsimus!«, 12,32,43) zum Schrifttext zurückzukehren. Diese Endphase, innerhalb der augustinischen Ästhetik die vollendetste Form,105 führt im 13. Buch 106 zu einem so umfangreichen Bibelcento, kaum noch von >eigenen< Worten unterbrochen, wie ihn nicht einmal die Briefe des Paulinus von Nola aufweisen (vgl. 13,12,13). Augustin thematisiert in ihm die Differenz zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur dieses Redens selbst. Auch >als Paulus< (der Bibelcento fügt vor allem Pauluszitate mit solchen aus den Psalmen zusammen), auch in Momenten mystischer Entrückung kann der Mensch, insofern er eben spricht, diese Differenz noch nicht überwinden: »adhuc abyssus abyssum invocat, sed iam in voce cataractarum [242] tuarum.« (13,13,14 - Ps. 41,8). Auch das >innere< Sprechen kann nie die Direktheit göttlichen Sprechens erreichen, insofern dieses zugleich handelt und spricht. »Nondum per speciem« (2 Kor. 5,7), aber - in einem der wenigen meditativen Textreste - »iam non in voce sua, in tua enim (...), in voce cataractarum tuarum.« Auch die Direktheit der natürlichen, kommunikativen Sprache also hat das >innere< Sprechen im Gottesgespräch hinter sich gelassen; es spricht in der biblischen - >Sprache der Wasserfälle<. »Non in voce sua«: das Gespräch unter Gott und Mensch hat zwischen göttlicher und menschlicher Sprache eine eigene Ausdrucksform eröffnet. Wie freilich für Jahrhunderte die augustinische Bibelmeditation zwischen dogmatischer Exegese und mystischer Versenkung verdeckt wurde, so hat 105 Dies hat, von ganz anderen ästhetischen Voraussetzungen her urteilend, Goethe gesehen: »Das Beste sind die Stellen aus der Bibel, weil es ewig nur Mosaik ist, was die Leute machen, aber in dem Sinne gut.« (Zu Riemer, 31.8.1806). 106 Zu ihm - auch für den Zusammenhang zwischen Exegese und Caritas F. Cayre, Le livre 13 des confessions, in: Revue des fitudes Augustiniennes 2, 1958, S. 143ff. 274
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auch die ästhetische Entdeckung der »vox cataractarum« und der »delectatio« durch die »obscuritas« der Schrift bis zum 17. Jahrhundert auf sich warten lassen. »D n*y a rien de commun entre la musique et le tonnerre«, wird eines der vielen Programme einer neuen, an die Sprache der Psalmen sich anschließenden Bibelästhetik gegen den Klassizismus argumentieren.107 Wie die Verbindung Augustins zur aristotelischen Ästhetik, bleibt auch seine Fernwirkung auf die Ästhetik der europäischen Vorromantik zu untersuchen.
V Das Gottesgespräch Augustins und die philosophische Hermeneutik {Ricoeur \ Gadamer). Hinweis auf Wittgenstein. Vom Ende der Intimität und ihren Folgen Der gesamte Prozeß vom Proömium der Confessiones über die Gesprächskonstitution bis zum Gespräch selbst und seinen ästhetischen Folgen wurde dargestellt, ohne ihn an hermeneutischen, ästhetischen oder linguistischen Theorien der Gegenwart zu messen. Die Hypothese bestimmter Gott und Mensch im Verkehr miteinander zukommender Sprechakte (I) trug für das tatsächlich in den Confessiones konstatierte Gottesgespräch nichts aus; und Augustin hat tradierte Formen des Sprechens zu Gott (Gebet, Lob, Beichte) sowohl im Proömium wie an entscheidenden Stellen des 10. Buches ausdrücklich zurückgewiesen. Es ist daher kein Zufall, daß eine Nachzeichnung und Kritik des gesamten Prozesses mit dem Instrumentarium der Sprechakttheorie nicht weit führt. Lohnend allerdings ist es, die Punkte zu kennzeichnen, an denen ein solches Verfahren zu kurz greift. Die bisher am weitesten in das Feld der Theologie, insbesondere der Schrifthermeneutik, vorgetriebene Anwendung der Sprechakttheorie hat Paul Ricoeur vorgelegt; hierbei wird der Sprechaktbegriff nach dem französischen Linguisten Benveniste formuliert und durch das Fregesche Begriffspaar »Verweisimgsbezug« und »Sinn« in eine Texthermeneutik nach dem Typ des Gadamerschen Fernverständnisses eingeformt.108 Religiöses [243] Sprechen findet sich bei Ricoeur zunächst der Fülle präsentisch-illo107 J. L. Guez de Balzac, Socrate chretien (1652), hrsg. von L. Moreau, Paris 1854, Bd. 2, S. 51 f.; vgl. hierzu Herzog, Die Bibeldichtung der lateinischen Spätantike, München 1975, S. LXVmf. 275
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kutinärer Akte zugeordnet, die in ihrem >Verweisungsbezug< auf Wirklichkeit, jedem aktuellen Partner eindeutig erschließbar, zielen. Insofern sie sich in sprachlicher Form manifestieren, ist ihr >Sinn< als >idealer Gegenstand< der Rede völlig immanent. Diese Formulierung kann noch keineswegs als etwas Neues gegenüber Austin und Searle angesehen werden. Neu ist erst, daß Ricceur sogleich eine mögliche Phänomenologie religiöser Sprechakte verläßt und sich auf diesem Felde ausschließlich den sprachlichen Formen zuwendet, insofern sie ihren >Sinn< von der Sprechaktsituation unabhängig in sich tragen, deren Verweisungsbezug somit aufheben (>zerstören<, >verfremden<) - also insofern sie bereits Text sind: der Text der Schriftoffenbarung nämlich.109 Man vergleiche hiermit die Wendung Augustins in der Einleitung der Confessiones: für ihn ist gerade zu Beginn seiner hermeneutischen narratio der Schrifttext das schlechthin Unzugängliche - nicht etwa das Nochnicht-Verstandene, mit dem eigenen Horizont zu Verschmelzende, sondern das durchaus Anderssprachige (im Sinne des Wittgensteinschen Löwen); auch zielt er gerade nicht auf ein Verständnis des (Schrift-)Textes, eine Texthermeneutik also, sondern trotz des Versagens der tradierten Sprechweisen zu Gott auf ein aktuales Gespräch, das zunächst einen Text des Partners noch gar nicht >zur Sprache bringen< kann, weil ein Text dieses Partners überhaupt noch nicht den Horizont menschlicher Sprache erreicht hat. Es geht eben - so könnte man den Unterschied zuspitzen Augustin tatsächlich um jenes unmittelbare Gespräch, dessen offenbar ganz ähnlich wie von Augustin (s. oben I) empfundene Unmöglichkeit (zwischen diesen Partnern)110 Ricoeur sogleich einen >Übergang vom Wort zur Schrift<, zur Texthermeneutik, suchen läßt. Mit diesem Ausweichen 108 Vgl. vor allem P. Ricoeur, La metaphore vive, Paris 1975 und ders., Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Metapher, hrsg. von P. Ricoeur und E. Jüngel, München 1974, S. 24ff. Eine wertvolle Untersuchung dieser Rezeption bei P. Gisel, P. Ricoeur et le discours entre la parole et le langage, in: Revue de Theologie et de Philosophie 26, 1976, S. 98ff. 109 Vgl. P. Ricoeur, Philosophische und theologische Hermeneutik, S. 31ff. 110 Es verdient Beachtung, daß vermutlich dem Insistieren auf einer linguistischen Deskription eines Gesprächs zwischen Gott und Mensch der Linguist das notwendige gemeinsame Sprechkontinuum zwischen diesen Pannern ebenfalls nur durch Rekurs auf eine Textlinguistik, also durch entsprechende theologische Substruktionen konstruieren würde: entweder unter Verweis auf die historisch-kritische Bibelexegese und eine >ursprüngliche Textgestalt< oder durch Einräumen einer >normgebenden Instanz<, die menschlichem Sprechen biblische Texte als Antwort zuordnen könnte. - Ich verdanke H. Rieser (Bielefeld) manche Anregungen zu diesem und den im folgenden behandelten Problemen. 276
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT ist für Ricoeur der Boden einer für theologische und literarische Texte grundsätzlich gleichen Hermeneutik gewonnen. Dem religiös Sprechenden und Fragenden begegnet eine mögliche Antwort immer schon verfremdet und alle dem Sprecher vertrauten Wirklichkeitsbezüge zerstörend in der >Welt der Werkes der >Ruf< der stets schon >gesagten< und wirklichkeitsautonomen, >Sinn< transportierenden Text-Welt der Schrift ist hermeneutisch von gleicher Art wie der eines jeden anderen Texts. So »gibt es kein prinzipielles Vorrecht für eine Auslegung, die insbesondere dem einzelnen gelten würde, wie es auch keinen allgemeinen Vorrang für den Personalismus der Ich-Du-Beziehung in der Beziehung des Menschen zu Gott gibt.«111 Was immer die gegenwärtige - oder jüngstvergangene Theologie von dieser Aussage halten mag,112 der augustinischen Gesprächskonstitution [244] gegenüber muß diese Hermeneutik Verstehensdefizite theologischer Natur aufweisen. Gott selbst wird hier mit einem denkwürdigen Persistieren der historisch-literarischen Bibelkritik innerhalb einer applikativen Hermeneutik113 zur im Verstehen zu konstituierenden Einheit der verschiedenen Textformen, literarischen Grundformen der Bibel.114 Aber ist es nicht möglich, sich gegenüber dem augustinischen Gottesgespräch der Unwegsamkeiten von Sprechakttheorien von vornherein zu 111 P. Ricoeur, Hermeneutik [Anm. 108], S. 41. 112 Hier und an anderen Stellen (Hermeneutik [Anm. 108], S. 35 und 40) ist von Ricoeur der theologische Gegenstandpunkt sehr deutlich bezeichnet: nicht nur die >existentialen Kategorien des Verstehens< - in einer »Warnung, nicht vorschnell eine Theologie des Wortes zu entwerfen, die nicht von vornherein und prinzipiell den Übergang vom Wort zur Schrift mit einschließt« -, sondern die gesamte >dialektische< Theologie mitsamt der von ihr vertretenen, nicht exegetisch reduzierbaren dialogischen Begegnung von Gott und Mensch: damit aber indirekt der Ansatz Augustins. Ich kann an dieser Stelle nicht die Aufnahme des augustinischen Ansatzes in der dialektischen Theologie< und der ihr eng verbundenen dialogischen Philosophie untersuchen. Mit dieser Aufnahme geschieht neben der Hermeneutik Gadamers und der philosophischen Grammatik< des späteren Wittgenstein zum dritten Mal im 20. Jahrhundert eine direkte Anknüpfung an die augustinische Sprachphilosophie - jedes Mal in produktiver Fehlinterpretation und insofern exemplarisch für Gadamers applikative Hermeneutik selbst (zu den Augustin-Interpretationen Gadamers und Wittgensteins sogleich; für die dialogische Philosophie sei hier summarisch auf die De migurro-Interpretation von E. Rosenstock-Huessy, Der Atem des Geistes, Frankfun/M. 1951, S. 95ff. verwiesen). 113 Denn das ist die Ricoeursche Hermeneutik auch auf dem religiösen Felde: »das Selbst wird durch die Sache des Textes konstituiert« (Hermeneutik [Anm. 108], S. 33). 114 Vgl. ebd. S. 42. 277
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enthalten und ein solches Gespräch als hermeneutisches Gespräch, also texthermeneutisch ohne die sachfremden Restriktionen Ricoeurs, zu rekonstruieren? Schon die Beschreibung der providentiellen narratio hatte ja Einleitung und Vollendung des Gesprächs mit Gott in den Confessiones nur als hermeneutisches Gespräch deuten können (s. oben 11,1). Im folgenden wird das Verfahren Augustins an der Explikation des Verstehens durch Gadamer gemessen. Ein solcher Rekonstruktionsversuch führt zu dem überraschenden Ergebnis, daß trotz der großen Allgemeinheit des Gadamerschen Ansatzes und seiner Rückführung auf die sprachliche Verfaßtheit des Menschen überhaupt seine Explikation das augustinische Verfahren nicht beschreiben kann, genauer: nur in einem Teilvorgang beschreiben kann. 1. Texte zu verstehen, »nach dem Modell des Gesprächs« (S. 360),115 setzt das Begegnen eines Gesprächspartners in der Schriftlichkeit von Texten voraus. Und seien diese noch so >selbstentfremdet<, als Inschriften etwa virtuell unerschließbar - mit einem Text ist jedenfalls die Fremdheit und Ferne, insofern sie überhaupt Sprache ist, vorgegeben. Nicht so für Augustin das Wort Gottes, jedenfalls nicht am Beginn der narratio. Augustin hat diese Lage bis zum Grotesken verdeutlicht: Gott könnte vom Himmel tönen, ja er tut dies ständig: diese Akusmata sind einfach nicht sprachlich vernehmbar. - Durch den Verstehenden »kommt« der andere überhaupt erst »zur Sprache« (S. 365), überwindet die Schriftlichkeit, denn sein Text wird in Sprache »zurückverwandelt« (S. 368); bei Augustin ist auch ein solcher Text nicht da, nur jemand, der mit ihm selbst handelnd verfährt - das hat er erfahren. Augustin konstituiert sich selbst den Text (nicht: sich an einem Text), indem er vom Handlungsgefüge zwischen dem anderen und sich erzählt - eine Textexegese, die zwischen Hermeneutik und Fiktion keinen systematischen Ort hat. [245] 2. Nun liegt ein Text vor, der tatsächlich, ganz im Sinne Gadamers, verstanden werden kann - die Einleitung eines hermeneutischen Gesprächs ist möglich und wird vollzogen. Allerdings: da die »Sache des Textes« von einem anderen handelt, aber nicht von der Fremdheit eines anderen her die Sprachlichkeit erreicht, erhält seine Textualität, erhält aber auch der Prozeß des Verstehens sehr eigentümliche Züge. Das Verstehen aktuali115 Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965. 278
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siert bei Gadamer die vorfindliche Erstarrtheit der Textualität zum Antworten, indem es durch die Selbstapplikation des sich entwerfenden Vorverständnisses ihr Fragen stellt, auf die ihre Sprachlichkeit Antwort sein könnte. Nach der bekannten wirkungsgeschichtlichen Explikation dieses hermeneutischen Gesprächs garantiert gerade die verfremdete Erstarrung die grundsätzliche Unerschöpfbarkeit des Textes, die sich der Aufhebung des aktualen Gesprächs verdankt. Auch Augustin stellt ständig >Fragen< an den Text seiner narratio, ja er forciert die Gesprächseinleitung durch das obligate >Duzen des Texts<, die Anrede des hermeneutischen Partners. Aber er kann, da er den zu verstehenden Text selbst konstituiert, diese Fragen nur stellen und im Verstehen beantworten lassen, indem er den Text weitererzählt. Der »hermeneutisch erhellende Prozeß von Frage und Antwort« vollzieht sich also nicht über den Text »hinaus« und »zurück« (S. 352) - ihn jedenfalls als unerschöpflich stehen lassend -, sondern er vollzieht sich den Text selbst vollendend und ihn vollständig aufbrauchend (hermeneutisch eindeutig determinierend). Der selbstkonstituierte Text bildet den hermeneutischen Prozeß ab und nichts sonst (seine >Sache< ist daher auch das Zur-Sprache Kommen des Handelns). Die Ausdehnung seiner - daher narrativen Zeitstruktur erst kann solches Abbilden des Verstehens selbst leisten während der >fremde< Text Gadamers, eben weil er seine »Sache« zur Sprache bringt, die nicht das Zur-Sprache-Bringen selbst ist, auch ein Minimum an Oberfläche aufweisen könnte. Es gibt bei ihm keine textlich ablesbare Gesprächskonstitution, sondern das Gespräch springt mit dem Stellen der erschließenden Frage in seine Existenz. Vollständig deutungsdeterminiert und >aufzubrauchen< (daher, wie gezeigt, mit Einsetzen des Gesprächs abbrechend) ist der Erzähltext Augustins. Und erst durch das Medium der providentieilen Kontingenzbildung, das diese hermeneutische Determination leistet, hat Augustin m.E. den >anderen< als göttlichen Partner von anderen möglichen Pannern erzählbarer Interaktionen geschieden und so das unmöglich scheinende Gespräch mit Gott vorbereitet.116 Gott ist erfahrbar, (A) indem er menschliches Handeln auf judiziales Pragma hin appliziert: dieses Handeln ist erzählbar. Es wird nicht verstanden; es wird gerichtet, die Erzählung wird durch Handlung aufgezehrt. Dem Christen ist darüber hinaus (B) das göttliche Pragma der Verheißung, Vergebung und Erlösung gegeben; es wird ihm applizierbar 116 Im folgenden wird an Erörterungen in: Herzog, Zum Verhältnis von Norm und Narrativität [Anm. 27], S. 435ff. angeknüpft. 279
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(»pro nobis«) als Christi Handeln; im narrativen Bekenntnis wird es appliziert, durch die Schrift verstanden (d.h. durch den Schrifttext ausgelegt). Bereits Paulus legt das zu bekennende Handeln Christi nach gnadentheologischen Kategorien durch die Schrift aus, bereits Lukas nach historischprovidentiellen. Auch Augustin hat das Handeln Gottes im Bekenntnis auf sich selbst appliziert (»quid mihi sis«) und durch die Schrift gedeutet. Aber er hat zugleich zum ersten Mal die [246] Spannung zwischen der judizialen Applikation des eigenen Handelns durch Gott (A) und der bekenntnishaften Selbstapplikation auf Gottes Handeln (B) als einen Prozeß der Entlastung, des Verstehensy als einen Prozeß von der Interaktion zum Gespräch in solchem Bekenntnis dargestellt: aus dieser prozeßhaften Dehnung der Applikation resultiert die >autobiographische< Öffnung - und es resultiert aus ihr die Aufzehrung dieser narratio am Ende des Prozesses durch das Gespräch. 3. Kommt das (hermeneutische) Gespräch zustande, so konstituiert es nach Gadamer seine eigene, beiden Partnern im Verstehen gemeinsame Sprachlichkeit, die Sprachlichkeit der Auslegung; sie verschmilzt mit eben jener, in der sich der Text zur Sprache zurückverwandelt (vgl. >Wahrheit und Methode< S. 375). Man kann diese Gesprächssprache als zweiten Text auffassen; im Rahmen der Hermeneutik Gadamers freilich mit der gebotenen Vorsicht: die Textualisierung dieser Verstehenssprache ist zwar möglich, aber ein flüchtiges, jederzeit im Text >aufgehendes< Epiphänomen. Wie zu erwarten, verhalten sich auch hier die Dinge im augustinischen Verfahren gerade umgekehrt: der selbstkonstituierte Text wird durch einen Text verstanden (kommt durch das Gespräch in dessen Medium an ein Ende), der gerade seinerseits nicht aufgezehrt wird: den Schrifttext. Hier bedarf es für eine angemessene Rekonstruktion der Hermeneutik in den Confessiones wohl am stärksten des Umdenkens. Augustin >versteht < nicht etwa >die Schrift< während dieses Prozesses; es handelt sich nicht um eine exegetische Form, für die durch eine Zuordnung der providentiellen narratio zum Auslegetext die Kongruenz mit der Texthermeneutik aufs Befriedigendste hergestellt wäre. Augustin stellt vielmehr zunächst so wenig eine Frage an die Schrift, daß vielmehr Gott in wiederholten Anläufen während der narratio genötigt ist, in deutlicher und unverwechselbarer individueller Menschensprache sich verlauten zu lassen, um Augustin mühsam zum Hören zu bringen. Gott also stellt - will man 280
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parallel zur Texthermeneutik formulieren - durch seine zunehmend sprachlich werdenden Handlungen jene Fragen, auf die Augustin, durch reagierendes Handeln den Text konstituierend, antwortet. Je deutlicher Gott in der Menschensprache formuliert, je mehr kann Augustin diese Handlungskette, indem er sie als Gottes Heils-Handeln an sich bekennt, sich selbst applizieren und sie - wie jedes Bekenntnis seit der Urgemeinde - durch allen Menschen und Zeiten offenbartes biblisches Sprechen Gottes verstehen. Sowie dies Verstehen Gottes sich etabliert, beginnt Augustin mühsam - biblisch zu sprechen - und im gleichen Moment verstummt die >natürliche<, auf seine Individualität zielende Sprache Gottes (s. oben II,4g: Verschränkung der beiden Sprachen). Nicht eine fremde, in ihre Textgestalt entfremdete Sprachlichkeit verschmilzt für die Dauer eines - immer wieder erneut und anders möglichen - Verstehens mit dessen Sprache. Sondern der Verstehende kommt zugleich mit dem verstandenen Partner allererst zu einer gemeinsamen Sprache,117 die über beider Rollen und Rollensprechen in der narratio hinaus Bestand haben wird: zur Sprache der Schrift. Diese ist nach den Erörterungen von Buch 9 und 10 so wenig Gottes >eigentliche< (nämlich zugleich schaffende) >Sprache< wie Augustins Sprache den Mitmenschen gegenüber. Das [247] Verstehen zwischen Gott und Mensch projiziert sich als eigene (keinem Partner als Auslegungssprache zugehörende) Sprachlichkeit mit fester Textualität: als permanenter Gesprächstext. 4. Mit der Asymmetrie von Text und Auslegungstext bei Augustin und Gadamer hängen unterschiedliche Phänomene der Textflüchtigkeit bzw. Textbeständigkeit zusammen, die erhebliche ästhetische und linguistische Konsequenzen haben. Gemeint sind vor allem Erscheinungen, die in der voraufgehenden Untersuchung als >Textveraichtung< bezeichnet wurden; Gadamer spricht von einer Tendenz zum Verschwinden. Meines Wissens ist diesen Beobachtungen Gadamers (vgl. v.a. >Wahrheit und Methode< 5. 375 und 377ff.) bisher keine sonderliche Beachtung geschenkt worden wohl auch nicht von ihm selbst. Sie erhalten aber im Vergleich mit dem Verfahren Augustins einen schärferen Hintergrund. Bei Gadamer ist der zu verstehende Text das Permanente (etwa insofern es immer wieder neuem Aufbrechen durch ein Verstehen sich in unwandelbarer Erstarrtheit stellen kann). Es erhält so alle Dignität eines ästhetischen Phänomens. Dagegen kann »die sprachliche Ausdrücklich117 Daher die Phänomene von Katachrese verstandener Handlung mit biblischer Sprache in der narratio. 281
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keit« des Verstehens sich keinen »zweiten Sinn neben dem verstandenen und ausgelegten« gewinnen. Sie ist dann »richtig«, wenn sie »akzidentiell« ist, hinter dem Text »verschwinden« kann. Ja, auch in ihrer Vermittlung an den Dritten, das Publikum des Hermeneuten, hat sie ihre Textflüchtigkeit zu erhalten: in der Hermeneutik Gadamers kann für eine Ästhetik des auslegenden Textes selbst kein Raum sein. Bei Augustin >verschwindet< der verstandene Text; es persistiert der Gesprächstext, die Schrift. Das >Verschwinden< aber, da es den Prozeß des Verstehens in eine Ästhetik der »Caritas« stellt, hat durchaus ästhetische Bedeutung: bleibt die narratio nach ihrer Aufzehrung durch das Gespräch für Gott und Augustin Gesprichsgegenstand, so kann sie dem menschlichen Zuhörer, wie gezeigt wurde, während ihrer Dauer Genuß (»delectatio«) bereiten. Und ebenso erhält die persistierende Sprache des Gesprächs durch die Einbeziehung eines menschlichen Gesprächspartners eine ästhetische Dimension; wie sich zeigte, werden die hermeneutischen Probleme dieser Einbeziehung durchweg ästhetisch gelöst. 5. Zuletzt aber stellt die sprachliche >Oberflächen<- und >Tiefen<-Struktur der augustinischen Gesprächssprache als Schrifttext vor Probleme, wie sie weder der auszulegende Text noch der Auslegungstext Gadamers aufwerfen.118 Es ist äußerst schwierig, dieses Sprechen linguistisch adäquat zu beschreiben. Die augustinische Sprachtheorie - soweit sie jedenfalls von ihm als solche thematisiert wurde119 - wird ihm mit ihrer Scheidung von >innerer< und >äußerer< Sprache (Begriffe, die bei der oben unternommenen Rekonstruktion beibehalten werden mußten) nicht gerecht. Ich zähle einige [248] der Schwierigkeiten auf: Die biblische Sprache ist - als Gesprächssprache - offenbar eine von den in sie eintretenden Personen und ihrem >Inneren< unabhängige Entität. Sie läßt keine Rückschlüsse aus 118 Die bisher eindringlichste Diskussion dieser Fragen bei Wieland, Offenbarung bei Augustinus [Anm. 32], S. lllff. 119 Es fehlt eine zusammenhängende und vor allem auch die oft weit über die explizite Theorie hinausgehenden Erörterungen umgreifende Darstellung. Ich verweise hier lediglich, wegen der Hinweise auf Wittgenstein, auf L. Alici, II linguaggio come segno e come testimonianza, Rom 1976. Sowohl Gadamer wie Wittgenstein haben die res-signum-Theorie Augustins sowie seine Scheidung in »vox interior« und »exterior« interpretiert (aber die hier dargestellten Probleme nicht gesehen): H.-G. Gadamer in dem Abschnitt »Sprache und verbum«, in: Wahrheit und Methode [Anm. 115], S. 395ff. - eine thomistische Vereinfachung des linguistischen Theologumenons vom inneren Wort; vgl. die Kritik U. Duchrows [Anm. 8], S. 44ff. - Zu Wittgenstein sogleich. 282
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ihrer Wohlgeformtheit (im linguistischen Sinne) auf tatsächliche syntaktische, semantische und pragmatische Leistungen und Kontexte zu. Sie vermag gleichzeitig für jeden Teilnehmer auf verschiedene Welten zu referieren. Ihre Bedeutung ist etwa bei dem zum Wechselgespräch fraktionierten Psalm 4 - offenbar die Tatsache ihres Gebrauchs. Sie ist Manifestation des Verstehens der Teilnehmer selbst - wobei sie nach Augustin eine durch die sprachliche Wahrnehmbarkeit nicht faßbare Kommunikation zwischen einzelnen Teilnehmern unter Ausschluß anderer ermöglicht. Wie man sieht, führen diese - nicht abschließenden - Merkmale ein Sprachspiel vor Augen, wie es erst der späte Wittgenstein beschrieb.120 Ein Vergleich muß an dieser Stelle unterbleiben.121 Aber hingewiesen122 sei auf eine Auswirkung der augustinischen Einbeziehimg Gottes in verstehbares Sprechen gerade bei einer Sprachphilosophie, die - wie jene Augustins in den Confessiones, wo sogar die mystische Entrückung noch als ein »tacere« des einen, menschlichen Partners umschrieben wurde123 Sprachlichkeit als hintergehbar zugrundegelegt.124 Wo solche Sprachlichkeit nicht mehr in nachprüfbarer Weise auf die >Wirklichkeit<, das >Innere< der eigenen Person oder des menschlichen Partners referiert, erhebt sich erneut der cartesianische Verdacht auf eine mögliche grundsätzliche Täuschung aller Erkenntnisinstrumentarien; und zwar erhebt er sich für Wittgenstein, auf der Ebene nicht hintergehbarer Sprachlichkeit, als die fatale Möglichkeit eines Dialogs mit einem Bewußtsein, das ich nicht verstehen soll und kann, als die Möglichkeit, »daß Gott mir immer eine Farbe zeigt, um zu sagen: Die nicht«.125 Ganz offensichtlich hat sich in dieser 120 Wobei ausgerechnet die Philosophischen Untersuchungen mit der Diskussion einer Confessiones-Steüe (1,8,13) beginnen, in der Augustin lediglich die ressignum-Thcone abwandelt: Wittgenstein kann in seiner Polemik gegen sie auf die eigenen Positionen im Tractatus zielen. D. E. Zoolalian, Augustine and Wittgenstein, in: Augustinian Studies 9, 1978, S. 25ff., bleibt bei diesem Augustin-Zitat stehen; weiterführend Alici, II linguaggio [Anm. 119], S. 132ff. 121 Ich verweise nur auf die genaue Parallele in der Deskription eines Ablaufs von > innerem < Sprechen, begleitender Körpersprache und zwischenmenschlicher Kommunikation conf. 9,8,4 (vgl. oben 111,3) und Philosophische Untersuchungen §332. 122 Im Anschluß an J. Zimmermann, Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1975, S. 213ff. 123 Vgl. oben IV, 1. 124 Vgl. zur Kritik dieser Positionen K. O. Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963, S. 21ff., sowie K. Lorenz und J. Mittelstraß, Die Hintergehbarkeit der Sprache, in: Kant-Studien 58, 1967, S. 190f. 283
A UGUSTINS GESPRACH MIT GOTT Rolle als »deus malignus«1* der von Augustin zuerst in der Innerlichkeit seiner memoria angetroffene und in der Sprachlichkeit des Verstehens eingefangene Gon verstockt, als der menschliche Partner in der Neuzeit sich aus der Intimität zurückzog, die das augustinische Gespräch erreicht hatte. Zuerst aus theologischen Gründen, dann aus historisch-bibelkritischen, endlich aus moralisch-aufklärerischen. Intimität wird theologisch verdächtig: [249] die Partikularprovidenz wird (gerade bei Gegnern des Calvinismus)127 lächerlich, die narratio eines sündigen Lebens selbst als confessio zur Schwatzhaftigkeit und die Änderung des Lebens geradezu hinauszögernd: »d'oü nous venoit cett'erreur de recourir a Dieu en tous nos desseins et entreprinses? (...) De quel langage entretiennent-ils sur ce subject (sc. ihre confession) la justice divine? Leur repentance consistant en visible et maniable reparation, ils perdent et envers Dieu et envers nous le moyen de Talleguer« (Montaigne).128 Die Bibelkritik demonstriert ihre Unmöglichkeit: Gott kann nicht selbst mit Moses »von Angesicht zu Angesicht« geredet haben; er muß eine »vox« zu diesem Zweck geschaffen haben. Wie aber konnte diese »vox creata« »Ich bin dein Gon, Jahwe« sprechen? - zu Menschen, die von der Existenz dieses Gottes nichts wußten? Ebenso unverständlich wäre dieses Sprechen, wie das Sprechen des Wittgensteinschen Löwen: »immo alicuius bestiae (sc. labia) contorsisset ad eadem pronuntiandum et dicendum, ego sum Deus, an inde Dei existentiam intellegerent?« (Spinoza).129 Es ist bemerkenswert, daß diese Argumentation auftritt, als die neue Bibelästhetik gerade das Unklassizistisch-Elementare des AT(»voces cataractarum«; »Donner«, s. oben IV,4) entdeckt. Aber sie entdeckt sie nicht mehr als die Ästhetik einer intimen »Caritas«, sondern als jene einer historisch fernen hebräischen Ur-Literatur. Schließlich die moralisch-aufklärerische Attacke: »The higher the deity is exalted in power and knowledge, the lower of course he is depressed in goodness and benevolence; whatever epithets of praise may be bestowed 125 Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1974, S. 207. 126 Zu dieser Rolle und ihrem Späthorizont vgl. die Bemerkungen H. Blumenbergs, zuletzt in: ders., Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, S. 295ff. 127 Umgekehrt läßt Dichtung aus calvinistischem Glauben an eine individuelle Providenz eine ähnlich breite Phänomenologie ästhetischer Intimität mit Gon sich entfalten wie in den Con/essiones; ich verweise auf die wertvolle Untersuchung von A. D. Nuttal, Overheard by God [Anm. 3]. 128 Essais eh. 56 (»Des priores«). 129 Tractatus theologico-politicus Kap. 1 (hrsg. von J. van Vlothen und J. P. N. Land, S. 97).
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AUGUSTINS GESPRACH MIT GOTT on him (...). Among more exalted religionists, the opinion itself contracts a kind of falsehood and belies the inward sentiment.« (Hume). 130 Ist endlich Gott aus der Intimität der confessio vertrieben, lebt diese in der gnadenlosen Dialektik einer Intimität mit dem Publikum fort, wie sie J. Starobinski an den autobiographischen Schriften Rousseaus demonstriert hat.131 Mit diesem Publikum kommt es nicht mehr zum verstehenden Gespräch: es urteilt; es zehrt die narratio nicht auf, sondern treibt den Autor umgekehrt in die »parole infatigable« weiterer Enthüllungen. Die confessio regrediert auf das judiziale Gedächtnis, Rousseau >legt Berufung ein< (mittels dialogischer Konstrukte). Ja, er sucht den vertriebenen Gott in die leere Intimität zurückzugewinnen, in welcher die Hölle die anderen sind. Schon das erste Buch der Confessiones legt Berufung beim Jüngsten Gericht ein. Aber es bleibt auch hier, trotz der Gottesanrede, bei judizialem Sprechen; es kommt zu keinem Gespräch. Rousseau wird, >die Confessiones in der Hand<, vor Gott treten; er konstituiert keinen Gesprächstext mehr. Und die Confessiones in der Hand sucht er endlich den ironisch verbliebenen Rest kirchlicher Intimität auf, um sein Buch als »Depot remis a la Providence« am Altar niederzulegen. Aber diese >Vorsehung< hat die Gitter zum Altar geschlossen. [250] Wie das entspannte Gespräch und den Wortwechsel zwischen Gott und Mensch gibt es auch die entlastete Intimität des augustinischen Plauderns mit Gott nicht mehr; aber ihre Folgen lassen sich auch nicht mehr ungeschehen machen.132 »Si les dieux se mettent a engager avec les humains des conversations individuelles, les beaux jours sont finis.«133
130 The Natural History of Religion, in: D. Hume, The philosophical works, hrsg. von Th. H. Green und Th. H. Grose, London 1882-1886, Bd. 2, S. 354f. 131 Zu dieser Dialektik ist vor allem J. Starobinski, Jean Jacques Rousseau. La Transparence et Pobstacle, Paris 1971, S. 217ff. zu vergleichen. 132 Nach Archilochos (frg. 91 West) und Späteren verspricht Zeus dem Tantalos, noch in der Gesprächsintimität, auf Erden wie ein Gott zu leben, hängt aber über ihm einen glühenden Stein auf; vgl. Euripides Orest. 4ff. und 982ff. Nach den Pindarscholien (ad Olymp. 1,91a) erklärt Tantalos ihn sich als Sonne, wie Anaxagoras diese und den Kosmos entgötternd, in dem er allein zurückbleibt. 133 J. Giraudoux, Ampbitryon 111,4.
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Partikulare Prädestination Anfang und Ende einer Ich-Figuration Thesen zu den Folgen eines augustinischen Theologoumenon
»The Master seldom spoke on providence, on profit, on perfection.« Konfuzius, The Analects [Lun yu] 9,1
I Gott hat den einen Menschen erwählt (electio), den anderen verworfen (reprobatio); augustinische Lehre von der sog. doppelten, supralapsarisehen Prädestination. - Ständig dies Theologoumenon begleitende Frage1 war: Warum den einen (erst zu erschaffenden) einzelnen eher als den anderen? - Solche Prädestination setzt und garantiert Punkte personaler Identität, die sich von den antiken Vorstellungen - soweit vorhanden über menschliche Individualität (Einzelseele) lösen. Die krasse Form der o.g. Prädestinationslehre (bei Augustin, Luther und Calvin) ist historisch eingebettet in das (philosophische) Problem der partikularen Providenz: bald nach dem letzten Streit um die unbedingte Prädestination (Quesnel, 1719) widerlegt Kant endgültig2 die Möglichkeit einer Individual-Providenz (»Über partikuläre Providenz«, 1788).3 Die Aus: Individualität, hrsg. von Manfred Frank und Anselm Haverkamp (Poetik und Hermeneutik 13), München: Wilhelm Fink Verlag 1988, S. 101-105. 1 So bei Augustin (zuerst In Ioan. ev. 26,2); so noch bei Calvin (Opera selecta, Bd. 4, hrsg. von P. Barth, München 1931, S. 404). 2 Sieht man von den begrifflichen Gegensätzen zwischen biologischer Teleologie, genetischem Zufall und individueller species nach Monod ab. 3 Sie hat eine Nachgeschichte als individuelles Gegenstück zur Geschichtsphilo-
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Frage der partikularen Providenz aber hatte sich schon vor dem Christentum in der Problemstellung der stoischen Theodizee angekündigt, genauer: mit der monotheistischen Personalisierung des die Welt durch waltenden Logos; der >blinden< Heimarmene trat nun eine göttliche Pronoia gegenüber, vor welcher das Leiden der Einzelseele systematisch zu rechtfertigen nicht gelang. Dies deshalb, weil auch die rigorosen Stoiker die freiheitliche Autarkie (autexousion) der Einzelseele nicht antasteten, die bei allen antiken Schulrichtungen - unbeschadet der Differenzen über die Schichten der Seele nach Graden ihrer Teilhabe am Logos durch Einsicht - Konsens war. Die durchgreifende Kritik der Skepsis an der stoischen Theodizee (Sext. Empir. 111,9-12) verweist daher auf die verschobene Balance - Personalisierung des Logos (Anthropomorphismus) und die Vernachlässigung der Autarkie des Einzelnen - als Fehler; Kants Widerlegung ist ihr sehr nahe. [102]
n 1. Die frühe Patristik bis zum jungen August in hatte weitgehend die griechische Seelenlehre rezipiert und die paulinische Gnadenlehre als nicht ausschließlich auf den Einzelnen gerichtetes, vielmehr durch ein erwähltes Volk vermitteltes Geschehen verstanden: in einer gnadentheologischen Gewaltenteilung (Synergismus) konstituierten sich Gott und Mensch als wechselseitig wirkende Individuen; sie gelangte nicht zur Prädestinationslehre. 2. Die Begrenzung der Gnadenlehre auf den Einzelnen und die Zuspitzung der philosophischen Gottesprädikate Gerechtigkeit, Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit transportierte sämtliche antiken Elemente personaler Individualität und Autarkie in eine wirkende Gottesperson. 3. Es kommt, bereits bei Augustin, auf der Seite des Wesens Gottes zu einem beschleunigten Regreß in den Abgrund individueller Unsagbarkeit. 4. Dem prädestinierten Einzelnen verbleiben nur mehr Ruinen seelischer Strukturen im antiken Sinne; es verbleiben an ihrem Ort instrumentelle Bahnungen eines Gnadengeschehens.
sophie: als »Erziehung«, harmonische Ausbildung des Einzelnen (Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts $ 2). 288
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Zu 1: Die herkömmliche Ableitung der partikularen Prädestination aus der unendlichen Bedeutung und Wichtigkeit des einzelnen Menschen im Evangelium neigt dazu, die patristischen Lösungen vor dem mittleren Augustin zu gering zu veranschlagen und die Rezeption stoischer Theologie durch diesen zu übersehen. Das sukzessive Zusammenwirken von Erwählung als vocatio (noch nicht in universale oder partikulare Erwählung geschieden!) auf Seiten Gones (A), die freie Glaubensentscheidung auf Seiten des Menschen (B), sodann das göttliche Geschenk des Geistes als Caritas (C), und die menschlich-autonome Leistung der perseverantia (D) im System des jungen Augustin wahrt noch die Balance zwischen zwei Individuen. Zu 2: Der den Einzelnen prädestinierende Gott besetzt die Autonomie von (B) - der Wille des Menschen wird unfrei4 - und von (D) - der Handelnde wird Gott. Das Gesamtspektrum der prädestinierenden Gnade: ihre Vorgängigkeit (praeveniens), Unmotiviertheit (gratuita), Unwiderstehlichkeit (irresistibilis), Untrüglichkeit (infallibilis) und schließlich noch ihre individuelle Wirksamkeit selbst (particularis), übersetzen eben jene Eigenschaften ins Göttliche, welche etwa die horme als nicht-reduzierbar individuelle Eigenschaften der seelischen Natur bei Panaitios (Cic. off. 1,30 und Clem. Alex, ström. 2,21) bestimmen. Dieser gnadentheologische Transfer von >Subjektivität< (»totum detur deo«, Augustin) ist deshalb leicht als ganz neuartiger, nachantiker >Voluntarismus< Augustins interpretiert worden, weil die Verwandlung dieser Autarkiemerkmale zu göttlichen Attributen die auf [103] »Zustimmung« des seelischen EinzelLogos zum großen Logos gerichtete >rationale< Struktur des seelischen Individuums radikalisiert. Zu 3: Stufen dieses Regresses: das Wissen der Gnade erfolgt aufgrund eines bereits seinerseits vorgängigen (supralapsarischen) Dekrets (»electio ex proposito«): erst hier kann eigentlich von Prädestination gesprochen werden. Schon Augustin setzt dann ein wiederum vorgängiges »praescisse quod ipse erat facturus« (de praed. 10,19) im personalen Raum Gottes an. Ahnlich der Regreß vom (antiken) Attribut der gerechten Gottheit auf den blanken Willen (angesichts der Partikularität notwendig), der auf dem Weg bis zu Calvins »eo ipso quod vult« mit dem Vehikel der sog. doppelten Prädestination (electio bedeutet nicht nur auch reprobatio, sondern umfaßt auch eine eigene vernichtende >Gnaden<-Wahl) zum Theologoumenon vom >verborgenen< Gott bei Luther führt, einem Abgrund an 4 »Prädestination pugnat ex diametro mit freiem Willen« (Luther, Weimarer Ausgabe Bd. 18, S. 718). 289
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Individualität: »ipse non verbum« (Luther) - Gott selbst steht geschieden von seiner Verkündigung in der Schrift. Zu 4: Von der freien Glaubensentscheidung verbleibt bereits bei Augustin noch die Distinktion des »Wollen, daß«, als menschlichen Vermögens, von der Steuerung des »Was-Wollens« (praeparatio) durch Gott; an Stelle der autarken Leistung der perseverantia verbleibt die Bahnimg determinierter Unwiderstehlichkeit: Luther wird gerade an diesem Punkt die Prädestinationslehre in die Nähe des stoischen Schicksalsbegriffs rücken (Weimarer Ausgabe Bd. 18, S. 618).
m Der Transfer von Personalität auf die Seite des prädestinierenden Gottes trägt nicht nur Elemente antiker Individualität auf der Seite des menschlichen Einzelnen bis zu unkenntlichen Resten ab; die gnadentheologische Intensität gewinnt dem Einzelnen in diesen Resten Konturen, die es zuvor nicht gab und die etwas konstituieren, das man, bereits der augustinisehen Phänomenologie durchaus gemäß, als >Ich< bezeichnen kann. - Dieses (prädestinierte) Ich erweitert, bei Verlust der antiken Autarkie, seine Grenzen zur Leiblichkeit, zur >eigenen Geschichtlichkeit< (es gewinnt eine neuartige Biographie); es wird reflexiv und entwickelt bei Verlust des freien Willens gegenüber seinen micht aktuellen < Bereichen Bewußtsein; es beginnt sich angesichts seiner Grenzerweiterungen als Interpretament zu begreifen. Auf diese These verweist der noch immer bestehende Widerspruch zwischen einer Kritik an Augustin als Zerstörer des >Subjekts< und einer Kritik an ihm als eines Verfälschers biblischer Theologie durch Subjektivität^ - Die Notwendigkeit gnadentheologisch neuer Konturen des Einzelnen zeigt bereits die Einfügung der Erbsündenlehre in die partikulare Prädestination. Gnadenbedürftigkeit setzt eine transindividuelle Schuld voraus; auch eine vorgängige electio und reprobatio haben [104] nach dem Sündenfall5 in einem undifferenzierten Kontinuum (massa perditionis) zu operieren und Individuen allererst zu sondern - gleichsam innerhalb einer globalen, genau bestimmten Biomasse. Diese Metapher ist keineswegs modernistisch: die biologistische Erbsündenlehre des Traduzianismus (ungeschiedene, in Zeugungen weitergegebene korrumpierte Seele) garantiert 5 Nach gnadentheologischer Terminologie: »infralapsarisch«. 290
FOLGEN EINES AUGUSTINISCHEN THEOLOGOUMENON allein das Fortbestehen der Sündenfallschuld für alle. Die grundlose Erwählung (Verstoßung) eines >Teils< dieser Seele konstituiert nunmehr überhaupt erst individuelle Abgeschlossenheit6 - und zieht deren Grenzen sehr weit (schon in den Confessiones zum vorgeburtlichen Leben): die antike (noch neuplatonische) Grenzziehung vor dem Abgrund des Leibes ist für das gnadentheologisch konstituierte Ich aufgehoben (das zeigt besonders die für dieses Ich strukturbildende Rolle der Konkupiszenz). Ferner: Wo Erwählung subjektiv als Überwindung durch die gratia irresistibilis erlebt wird, erhält das Ich eine partikular-providentielle Eigenhistorie,7 eine Biographie in neuem Sinne (es genügt, zur Vergegenwärtigung des Neuen die Confessiones neben den Bekehrungsbericht des Hilarius, de trin.y prol., zu halten). Schließlich entdeckt gerade die fremdbegrenzte Personalität, dieses Erwählungs-Ich, innerhalb seiner Grenzen dem antiken Logos samt >zustimmenden< Willen nicht zugängliche Zonen, die es schon in der interpretierenden memoria der Confessiones vor sich selbst bringt: »ibi mihi et ipse occurro« (10,8,14).
IV Selbstinterpretation und Weltoffenheit (Grenzüberschreitung) werden vornehmlich durch die lebenslange Ungewißheit des prädestinierten Ich über seinen Status als electus oder reprobatus gefördert. Bis zur Neuzeit durchdringen sich Eigen- und Weltauslegung und steigern sich von der Interpretation bis zur Veränderung. Selbstvergewisserung des prädestinierten Ich kann die Gnadenwahl Gottes nur individuell-direkt, also nicht über die Schriftverkündigung, erfahren: schon Augustin würde auch die vom Himmel redende vox dei als 6 Und diese verdankt sich keineswegs einem Hang zur Einzigartigkeit menschlicher Individualität, sondern ersetzt der Zahl nach die abgefallenen Engel: der prädestinierte Mensch ist in genauem Sinne Lückenbüßer (vgl. Enchir. 62 sowie die Einformung der erwählten Individuen als >Glieder< in das corpus mysticum nach dem paulinischen Bild, Depraed. 15,31). 7 Hier kann sich die Prädestinationslehre in ihrem Begriff vom einzelnen Ich durchaus auch der allgemeinen Geschichte - wieder in durchaus unantikem Sinne öffnen. Den Hauptanstoß, den jede partikulare Prädestination in der Schrift fand nach 1 Tim. 2,4 will Gott die Erlösung aller Menschen -, hat, wie schon Augustin (Enchir. 103), so noch Calvin (Opera selecta, Bd. 4, hrsg. von P. Barth, München 1931, S. 428) auf Menschen »aller Stände und Zeiten« bezogen. 291
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Schriftwon nicht auf sich beziehen: ihn muß die innerweltliche Kontingenz des »tolle, lege* treffen. Aus der Welt wird ein Anfangs-Zeichen, dann eine interpretierbare Sequenz von Zeichen ad se ipsum erwartet; die Welt und das Ich sind gnadentheologisch keine voneinander geschiedenen res. Das Ich, als Okular der Zeichenoffenheit, wird von sich selbst arrangiert; dies [105] erfordert das Nachdenken über Lebensphasen und die Sinnhaftigkeit ihrer Kontingenz - schon Augustin wehrt den Anspruch der auf allerpersönlichste tägliche Zeichengewißheit pochenden Pneumatiker ab (de doctr. christ., prol.). Dies erfordert auch Lebenspläne, bis zum Regreß auf den geistlichen Stundenplan - der den Nachmittag präzise zwischen Freundeskreis, Erforschung des Gnadenstands und Reproduktion der Arbeitskraft planende Augustin der Confessiones ist schon dem planenden Ich des schaffenden Künstlers etwa in der späten Form der Hygienevorsätze in Baudelaires Journal Intime sehr nahe. Das Gnadenzeichen des weltlichen Erfolgs, der calvinistische sog. Syllogismus practicusj zeugt, oft nur noch in der umstrittenen Deutung Max Webers bekannt, von dem letzten neuzeitlichen Impuls dieser verändernden Selbstinterpretation. Den abgründigsten Regreß aber - seiner Lehre vom verborgenen Gott genau entsprechend - in die Tiefe gnadentheologischer Selbstinterpretation setzt die lutherische Spirale (sog. Antiperistase) von Erwählungsangst als Zeichen von Heilsgewißheit in Gang: diese als Hochmut ein Zeichen der Verworfenheit; diese wiederum in Verzweiflung mündend, somit - desperatio salutaris - in ein Heilszeichen. Schließlich hebt die feste resignatio ad infernum> also die Erkenntnis der reprobatioy als definitive electio den Zirkel auf; das seit je bodenlose Ich der Prädestination hat sich als Selbstbewußtsein ad absurdum geführt.
V Dem Versanden der >harten< Prädestinationslehre zu Beginn des 18. Jahrhunderts folgen zwei Jahrhunderte - die beiden großen Jahrhunderte des neuzeitlichen >Subjekts
Orosius oder Die Formulierung eines Fortschrittskonzepts aus der Erfahrung des Niedergangs
»Uns fallt es nicht ein, die >Offenbarung der Geschichte* zu bezweifeln. Es sind die Christen, die durch Aufstellung einer aparten >Geschichte des Reiches Gottes< der Geschichte alle innere Wesenhaftigkeit absprechen. Wir reklamieren den Inhalt der Geschichte.« F. Engels, Die Lage Englands (1844)1
I Dem Neger Cacambo gegenüber definiert Candide den Optimismus seines Freundes Pangloss als »la rage de soutenir que tout est bien quand on va mal«. Daß Optimismus apologetisch sei, gilt für Voltaire noch stärker, wenn er einen Pangloss attackiert, der historisch argumentiert - und das ist der Bossuet der beiden Sermons sur la Providence und des Discours sur l'Histoire Universelle. Die doppelte Front gegen die Leibniz-Wolffsche Philosophie wie gegen den christlichen Providentialismus bringt einen Zusammenhang ans Licht, der in den Darstellungen zur Geschichte der Fortschrittsidee2 oft unberücksichtigt bleibt: die providentielle Geschichtsinterpretation der Christen hat in ihren apologetischen, die Details der Aus: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema. Hrsg. von Reinhart Koselleck und Paul Widmer (Sprache und Geschichte 2), Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 79-102. 1 MEW Bd. 1, Berlin 1957, S. 545. 2 Vgl. J. Delvaille, Essai sur Phistoire de Tidee de progres, Paris 1910; J. B. Bury, The idea of progress, London 1932; B. Delfgaauw, Geschichte als Fortschritt. Bd 1-3, Köln 1962-66; ferner: A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, Göttingen 1960.
OROSIUS Ereignisgeschichte arrangierenden Ausprägungen vom 3. bis zum 17. Jahrhundert die Idee des Fortschritts als ein Deutungsmuster ausgearbeitet, wie es sich in vielen Einzelheiten in der Historiographie einer in die Affirmation umgeschlagenen Aufklärung, insbesondere der Historiographie des politisch zur Herrschaft gelangten Sozialismus wiederholt. Daß die apologetische Tradition der Fortschrittsidee bisher wenig zur Untersuchung gestanden hat, liegt wohl zum einen an der weitgehend auf das Urchristentum fixierten Forschung zum christlichen Geschichtsdenken ihr galt die Zeit seit dem 4. Jahrhundert weitgehend als Säkularisierung, und als zweiter Säkularisierungsschub wurde auch die Fortschrittsidee des 18. Jahrhunderts gewertet;3 zum anderen enden die ideengeschichtlichen Untersuchungen bisher im allgemeinen [80] vor der neuen Situation eines Funktionswandels des geschichtlichen Fortschrittsgedankens zur Herrschaftssicherung.4 Was ist mit der apologetischen Form des Fortschrittsgedankens gemeint? Man kann in den genannten Sermons Bossuets zeigen, daß die Formulierung Candides tatsächlich das Problem einer jeden providentiellen, also Gott an die Tatsächlichkeit und das Detail des Geschichtsverlaufs bindenden Denkform ist: wie kann ein innergeschichtlich eingreifender Gott die Katastrophen, die Phasen des offensichtlichen Niedergangs in den Ereignissen rechtfertigen?5 Seit christliches Denken das Bestehende geschichtlich zu rechtfertigen suchte - und zwar entgegen der urchristlichen und der augustinischen Geschichtssicht unter Einbeziehung Gottes als des Garanten progressiver Prozesse auf die jeweilige Gegenwart hin -, hat es die eigentümliche apologetische Form einer Fortschrittsidee aus der Erfahrung der Bedrohung und der Dekadenz in der Geschichte gegeben; sie war zudem immer wieder ein Antrieb zu detailfreudigen historiographischen Konstruktionen.6 Diese noch unter dem
3 Vgl. z.B. A. Klempt, Die Säkularisierung, S. 130ff.; es wirkt der Entwurf K. Löwiths, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953 (zuerst 1949), nach. 4 Vgl. z.B. den Art. >Fortschritt< von J. Ritter, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 1032ff. Der dringend erforderte systematische Vergleich der Deutungsmuster in »christlicher« und »marxistischer« Historiographie ist noch weitgehend durch die Entwürfe aus der Zeit Karl Poppers (The open society and its enemies, London 1945) und Löwiths blockiert. 5 Vgl. J. B. Bossuet, CEuvres, hrsg. von B. Velat und Y. Champailler, Paris 1961, S. 1042 und 1059. 6 Der orosianische Ansatz, bei vergleichbarer Detailintensität, findet sich unter christlichem Aspekt noch bei George Hakewills Apologie or Declaration ofthe Power and Providence ofGod (1627), unter aufklärerischem Aspekt bei Fran^ois-Jean 294
OROSIUS
Odium der Verweltlichung und der zynischen Säkularisierung verschüttete Tradition soll hier mit ihrem ersten Vertreter, Orosius, zur Untersuchung stehen: in welcher Ausprägung vermag der christliche Providentialismus aus der Erfahrung des Niedergangs die Geschichte progressiv zu deuten? Orosius bezeichnet diesen Anfang bereits, was die Gattung, die christliche Historiographie betrifft - und dies selbst angesichts der Tatsache, daß seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts eine Vielzahl von Ansätzen, Geschichtsverläufe christlich zu ordnen, unternommen worden war, ja daß die pagane Historiographie des 4. Jahrhunderts demgegenüber schattenhaft wirkt und z.T. als Responsion auf jene Ansätze zu verstehen ist.7 Die Schwund- und Endform antiker Geschichtsschreibung ist die schematisierte Kaiserbiographie; ein Surrogat historischer Vergewisserung und Applikation stellt ihr die rhetorische und poetische Panegyrik an die Seite; ihr Arsenal findet diese in der Thesaurierung historischer wie mythologischer Exemplatraditionen. Die komplizierte, sich wohl über das 4. Jahrhundert erstreckende Redaktion der Scriptores Historiae Augustae repräsentiert jene seit Sueton und Marius Maximus allbeherrschende [81] Species historischer Belletristik, gegen die sich ein kurzfristiger und folgenloser Rückgriff auf die annalistische Form (z.T. erhalten bei Ammianus Marcellinus, verloren bei Nicomachus Flavianus) richtete.8 Die eigentliche Energie - auch die Energie der literarischen Formung - liegt im 4. Jahrhundert auf den panegyrischen Geschichtsapplikationen, von den Rhetoren der diokletianisch-konstantinischen Zeit über Claudius Mamertinus und Pacatus Drepanius bis zu Symmachus, Themistios und Claudian. Dieser Verflüchtigung der historiographischen Tradition entspricht der Rückgang auf die Memorier- und Abrißform der Breviarien (Eutropius, Festus, Epitome de Caesaribus). Und wo diese Literatur, auf die römische Geschichte bezogen, zu einem ausführlicher exzerpierenden Entwurf gesteigert wird - in dem dreiteiligen Werk des Aurelius Victor -, da soll es bereits einem christlich schematisierten Bild der römischen Vergangenheit entgegengestellt werden.9 de Chastellux' Felicite publique (1772). Bemerkenswert ist, daß auch bei diesem antichristlichen Ansatz fortschrittliche Geschichtsapologetik die Vergangenheit auf weiten Strecken als historia calamitatum deutet. 7 Generell hierzu A. Momigliano, The conflict between paganism and christianity in the 4th Century, London 1963. 8 Vgl. Amm. Marc. 28,4,H. 9 Diese Beziehung von Aurelius Victor zum Chronographen von 354 (insbesondere im Verhältnis von >Origo< und »römischer Stadtgeschichte<) hat jüngst P. L. 295
OROSIUS
Ein solches nämlich war durch den sog. Chronographen von 354 gegeben worden; er bezeichnet in seiner Komposition von Exzerptenlisten (Märtyrer- und Papstliste neben Consularfasten und Stadtpräfekten, dazu die mythologische Frühgeschichte Roms, das Ganze in Form eines Kalendariums) gut den Abstand zu seinem ersten Nachfolger: zu Orosius. Seinem ersten und einzigen Nachfolger: denn das Ziel christlicher Geschichtsschreibung lag seit ihrem Beginn in konstantinischer Zeit eben nicht mehr im profanen, nationalen Bereich. Neben der kurzen, die Form der Kaiserbiographie verwandelnden apologetisch-zeitgeschichtlichen Abrechnung in De mortibus persecutorum des Lactantius wird die Harmonisierung der biblischen Tradition mit der profanhistorischen (in der Chronik) und die Etablierung der christlich relevanten weiterlaufenden Geschichte als Sondergeschichte (in der Kirchengeschichte) durch Eusebios verbindlich. Die Fortführung der nicht mehr national gebundenen, alsbald lokal zersplitterten Chronistik (im 4. Jahrhundert noch: Sulpicius Severus und die Fortsetzung des Eusebios durch Hieronymus) sowie der Kirchengeschichte (im 4. Jahrhundert: Fortsetzung des Eusebios durch Rufinus) wird erst wieder durch die Stammesgeschichten seit dem 6. Jahrhundert ergänzt. Die gattungsgeschichtliche Situation auf der paganen Seite ist nur deutbar als Indiz einer seit langem verwandelten Erfahrbarkeit von Geschichte, der eine Sprengung unveränderter (historiographischer) Ausdrucksmöglichkeiten entspricht; Rhetorik, Panegyrik und Fiktionalisierung versuchen diese Erfahrung zu formulieren. Dieser Erfahrungsrahmen aber ist der des geschichtlichen wie des naturzyklischen Niedergangs, des Verlusts einer geschichtlich sinnvollen Perspektive, des weiteren, seit dem 3. Jahrhundert, einer erheblichen Einbuße an historischem Bewußtsein [82] überhaupt: es sind die Phänomene der unvermittelten Applikation historischer Ereignisse, des Verschwimmens zwischen Historie und Mythos, der Auflösung narrativer Geschehensfolgen sowie das Vordringen der exegetischen Erfahrungsweise zu beobachten. Über die zuerst genannte Komponente, das seit dem 1. Jahrhundert v.Chr. in die Geschichtsschreibung vordringende Deutungsmuster der Dekadenz, ist oft gehandelt worden. Es hat seit seinem Auftreten in der römischen Welt zugleich mit der historischen auch die Funktion der moralischen und ästhetischen Gegenwartsbestimmung;10 bemerkenswert Schmidt wahrscheinlich gemacht (vgl. Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5, hrsg. von R. Herzog, München 1989, $ 531.5 - S. 183). 10 Die beste Diskussion der Zeugnisse von Cicero bis Petron, Seneca und Pli296
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ist ferner die seit Sallust bestehende Verknüpfung mit den Problemen des Untergangs Roms und der Barbarenbedrohung.11 Hinreichend untersucht wurde auch die Erstarrung dieses Deutungsmusters in den biologischen Metaphern der senectus mündig2 des Menschenalterbildes und der aetatesLehre.13 Weniger bemerkt wurde dies: zwar findet sich der gesamte Komplex der im Niedergang-Schema liegenden Formulierungsmöglichkeiten nach der Reichskrise im 4. Jahrhundert wieder - man kann also füglich von einem für die Spätantike verbindlich gewordenen, den Ausdruck jeder geschichtlichen Erfahrung bestimmenden Modell sprechen. Doch tritt es in bezeichnender Verwandlung, Rezeption auf; und diese Verwandlung hängt mit der angedeuteten Entgrenzung der historiographischen Formen zusammen. Beobachtet wurde bereits, daß die Dekadenzmetaphorik im 4. Jahrhundert fungibel wird, auch gegen ihren Sinn gewendet werden kann (im Bild der sich verjüngenden Greisin Roma).14 Hinzu treten seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts folgende Momente: 1) Die traditionelle Erwartung der Dekadenz aktualisiert und beschleunigt sich seit dem 4. Jahrhundert durch Ereignisse, die bei den Zeitgenossen präziser als gewöhnlich angenommen, registriert und nach ihren Ursachen analysiert werden; wenige der neuzeitlichen Hypothesen über die Gründe des Untergangs Roms sind nicht schon von Zeitgenossen, auch von Panegyrikern, angedeutet worden.15 2) Diese Erfahrung ist nicht direkt, in der Historiographie, thematisiert worden (das Vorhaben, Zeitgeschichte als Chronik der Auflösimg zu schreiben, wurde von Hieronymus, zudem vor einem asketischen Hintergrund, lediglich angedeutet).16 Sie hat ihre Auswirkungen vielmehr in der Verwandlung des geschichtlich Überlieferten, sodann in der neuen, nicht mehr historischen [83] Form seiner Applikation auf die Gegenwart. nius bei H. Fuchs, Der geistige Widerstand gegen Rom, Berlin 21964, S. 47ff.; vgl. F. Vittinghoff, Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike, in: Historische Zeitschrift 198,1964, S. 547. 11 Vgl. H. Fuchs, Der geistige Widerstand, S. 9ff. 12 Vgl. F. G. Maier, Augustin und das antike Rom, Stuttgart 1955, S. 63ff. und F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 563. 13 Vgl. F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 557ff. 14 Vgl. M. Fuhrmann, Die Romidee der Spätantike, in: Historische Zeitschrift 207,1968, S. 535ff. 15 Vgl. die Korollarien bei F. Paschoud, Roma Aeterna, Rom 1967, S. 67ff., HOff. (Vegetius), 118ff. (Anonymus De rebus bellicis), 153ff. (Claudian). 16 VitaMalchil. 297
OROSIUS 3) In der biographischen Endform der Historia Augusta verschwimmen die Grenzen zur Fiktionalität der Unterhaltung, zum Kompendium, aber auch zur Panegyrik (Projektion der konstantinischen Dynastie ins 3. Jahrhundert) und zur (antichristlichen) Kampfschrift. Vollends für die altund vorrömische Geschichte verschwimmen die Grenzen zum Mythos; der Grammatikerkommentar, die antiquarische Schrift, der Exemplakatalog und der griechische Roman werden subsidiär (vgl. die Origo gentis Romanae% Valerius Maximus, Julius Valerius, Dares und Dictys). 4) Die neue Dimension dieser Grenzverwischung zeigt mitsamt ihren Folgen für die Erfahrungsmöglichkeit von Geschichte und deren Ausdruck17 das eigentliche spätantike Surrogat der Geschichtsschreibung, die Panegyrik (sowie ihre Negativform, die Invektive). Die fernliegende, insbesondere mythische und römisch-frührepublikanische »Geschichte«18 wird in dieser Form, aus ihrem Ereigniszusammenhang gelöst, in gleichsinnigen Exempeln multipliziert und superponiert, auf die Gegenwart ausgelegt; Wirklichkeit ist zur Wahrheit (eines Textes), das die Gegenwart vergleichende Lernen ist zum die Gegenwart verdrängenden Anwenden geworden. Offensichtlich liegt auch diesem Erfahrungsmuster die Erwartung der Dekadenz zugrunde, jedoch einer verschärften und zu bewältigenden: die Exempel der besseren Vergangenheit weichen den kumulierten Typen einer auch für die Gegenwart geltenden Zeitlosigkeit. Der panegyrische »Progreß« der Überbietung durch die Gegenwart, der stets die absolute Akme der Menschheit zu bezeichnen hat, zehrt von der Flucht aus der Bedrohung in die Texte. 5) Die seit dem 4. Jahrhundert aufwuchernde Panegyrik kann nicht als historische Pseudoform und marginale Spezialität ignoriert werden; exegetische Wirklichkeitserfahrung läßt sich auch bei Ammianus, ebenso in der Poesie und Jurisprudenz erweisen. Gegenüber dieser Entwicklung steht das christliche Verhältnis zur Geschichte zunächst in keinem Gegensatz zum Dekadenzschema. Bereits der Millenarist Laaantius hat es ausdrücklich mit seiner Überzeugung vom Untergang Roms verbunden.19 Dies ist bereits ein spätes Zeugnis; die frühe Verknüpfung des zunächst eschatologischen, dann in verschiedenen millenaristischen Konstruktionen bis zur grundsätzlichen Offenheit einer 17 Zum Folgenden darf auf die allgemeinen Bemerkungen des Verfassers in: Terror und Spiel, hrsg. von M. Fuhrmann (Poetik und Hermeneutik 4), München 1971, S. 606-609 verwiesen werden. 18 Bis zum 3. Jahrhundert n.Chr. hinab führt nur die desultorische Reihe »guter« Kaiser, die auch in der Historia Augusta vorliegt. 19 Inst. div. 7,13f.; vgl. F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 550f. und 561. 298
OROSIUS weiterlaufenden Zeitlichkeit findenden christlichen Geschichtsdenkens20 mit der jüdischen und apokalyptischen Romfeindschaft (insbesondere in der Ausformung des Vier-Weltreiche-Schemas)21 ist oft dargestellt worden.22 [84] Andererseits findet sich die starke Bindung der christlichen Geschichtsspekulation an das (christliche) Imperium Romanum seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts bereits seit langem in der Subsumtion auch des Historischen unter die Theologie vorbereitet: die bei Melito und Origenes noch eher beiläufig gezogene Parallele zwischen Inkarnation und pax AugustaP geht noch kaum über die seit dem Alten Testament zu beobachtende Tradition providentieller Integration der Profangeschichte hinaus. Der dramatische Wandel vollzog sich erst mit der Christianisierung des Imperiums selbst. Er ist oft dargestellt worden,24 zumeist unter den Kategorien der Vergröberung und Säkularisierung; und dieser Aspekt ist auch für die Bewertung der Orosiusdeutung insgesamt bis heute verbindlich geblieben.25 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, daß Eusebios die Verschmelzung von universaler Heilsgeschichte und nationaler Profangeschichte nicht allein durch providentielle Parallelismen und die Umformung der Vier-Reiche-Lehre vollzog, sondern die Integration der weiterlaufenden christiana tempora nur durch die Rezeption der panegyrischen Denkform zu leisten imstande war. Geschichte als universale dis-
20 Am eingehendsten dargestellt bei K. H. Schwane, Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre, Köln 1966. 21 Vgl. F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 551ff. 22 Vgl. insbesondere zur Persistenz der Untergangserwartung bis ins 4. Jahrhundert F. G. Maier [Anm. 12], S. 47; H. Fuchs [Anm. 10], S. 83ff.; E. A. Isichei, Political Thinking and Social Experience, Canterbury 1964, S. 58ff. 23 Vgl. A. Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung, München 1965, S. 31. 24 Vgl. die Skizzierung der Entwicklung von Melito über Origenes, Tertullian, Eusebios bis zu Augustin bei E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, in: ders., Theologische Traktate, München 1950, S. 49ff.; F. G. Maier [Anm. 12], S. 44ff.; Th. E. Mommsen, St. Augustine and the Christian Idea of Progress, in: ders., Medieval and Renaissance Studies, Ithaca 1959, S. 278ff.; A. Funkenstein [Anm. 23], S. 31ff.; E. A. Isichei [Anm. 22], S. 43ff.; M. Fuhrmann [Anm. 14], S. 545ff.; F. Paschoud [Anm. 15], S. 178ff.; E. Corsini, Introduzione alle Storie di Orosio, Turin 1968, S. 85ff. 25 Wird Säkularisation und Bindung Gottes an einen innergeschichtlichen Providentiaüsmus abwertend verstanden, so muß das Urteil über Orosius auf »Rückfall« hinter die augustinische Position lauten; vgl. zuletzt K. Thraede, An. Fortschritts in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 8, Stuttgart 1972, Sp. 175. 299
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pensatio Gottes mit der »progressiven« Spitze panegyrischer Rechtfertigung »bestehender Zustände« - ein solches Modell mußte im Unterschied zur geschichtsflüchtigen paganen Panegyrik der Spätantike erhebliche Konsequenzen auf die Darstellung der vergangenen Geschichte, genauer: auf das ständige Umschreiben und Manipulieren der jeweils jüngstvergangenen Etappen des Reichsverfalls und seiner panegyrischen Verdrängung haben. Das Problem stellte sich immer von neuem, solange nicht entweder eine verbindliche und die Zeitgeschichte verbindlich fortschreibende providentielle Geschichtsdarstellung vorlag oder die Bindung der christlichen Geschichtsschreibung an das christliche Staatswesen gelöst wurde - also, wie sich zeigen wird, bis zu den Lösungen des Orosius und Augustin. Seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts drängte dies Problem auf eine Lösung. Etwa gleichzeitig mit dem Hunneneinfall hatte die Reichstheologie des Ambrosius auch die panegyrische Exegese auf ihr [85] eigenes Feld übertragen26 und die Zeitereignisse durch die Schrift ausgelegt, man könnte sagen: zu bannen versucht. Die Goten werden kurz vor Adrianopel auf Ezechiel 38-39 projiziert;27 nach der Katastrophe folgte die christliche Kritik (des Hieronymus)28 auf dem Fuße. Indessen läßt sich diese biblische Projektion keineswegs als vereinzelte profanierende Willkür abtun; der kurz darauf ausbrechende Streit um den Altar der Victoria erhellte vielmehr die Tatsache, daß trotz der prinzipiellen Integration der nationalen Geschichte nur die biblische, nicht aber die nationale Vergangenheit als panegyrische Folie zur Verfügung stand: die letztere wurde von den Paganen reklamiert. Solange nicht eine wirklich Faktum nach Faktum abgreifende und umdeutende - nämlich auf die christiana tempora hindeutende - Darstellung der Profangeschichte durch die Christen vorlag, bedeuteten diese »weißen Flecken« im Detail eine Beherrschung der panegyrischen oder invektiven Folie durch die Paganen. Daher geriet die republikanische Frühzeit in der Auseinandersetzung zwischen Symmachus und Ambrosius unverkennbar zum ideologischen Kampfobjekt.29 Sie nötigte bereits Ambrosius zu Positionen, die von Augustin und Orosius aufgenommen werden.
26 Zur spätantiken Verschmelzung von panegyrischer Überbietung und bibelexegetischer Typologie vgl. Herzog, Metapher-Exegese-Mythos [in diesem Band: S. 115ff.], S. 174ff. [hier: S. 138ff.] 27 De fide ad Grat. 2,16. 28 In Ezech. 11 praef. 29 Vgl. bereits F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 568. 300
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Zum einen beginnt die rationale Destruktion der profangeschichtlichen Exempla;30 diese scheiden fortan als Typen aus. Zum anderen versucht Ambrosius gegen den Katastrophenvorwurf von paganer Seite zum erstenmal einen grundsätzlichen Angriff gegen das Dekadenzschema; der Progreß wird, zum mindesten innerhalb der Apologetik, als Faktor der Geschichte seit dem 3. Jahrhundert n.Chr. statuiert.31 Diese Positionen, von Prudentius fortgeführt, wurden bei jeder Katastrophe mit neuen Exempla der nationalen Vergangenheit attackiert.32 Das Schwanken des Hieronymus33 zeigt sehr deutlich die Unsicherheit auf christlicher Seite. Die Ereignisse von 410 drängten die »Romtheologie« vollends in die Defensive; man fand sich auf dem Felde der Geschichte in die Apologetik zurückgeworfen; das Argument des geschichtlichen Erfolgs (zuerst von Lactantius gegen die Verfolger aufgenommen) wandte sich gegen die Christen. In welcher Weise Augustin in dieser Situation mit dem Bau seiner Geschichtstheologie die [86] Lösimg vom imperialen Geschichtssinn vollzog,34 ist hier nicht nachzuzeichnen.35 Indessen nimmt Augustins Schrift De civitate Dei nicht lediglich die Konstruktion einer Metahistorie und ihrer unsichtbaren Subjekte, der beiden civitates vor. Ein radikales Ignorieren von Positionen des 4. Jahrhunderts ist nur bei den christiana tempore dem Dilemma des christlich gewordenen Imperiums zu konstatieren; hier betont Augustin wiederholt, gänzlich im Rahmen des Dekadenzschemas, seinen Pessimismus gegenüber dieser keineswegs ausgezeichneten, fortschrittlichen Epoche36 - bis auf den allerdings panegyrischen 30 Vgl. Ambr. epist. 73(18),5ff. 31 Vgl. epist. 73 (18), 7.23: »omnia postea in melius profecerunt«\ noch recht unvermittelt wird dann, um das Ende Gratians zu rechtfertigen, die Kautel »proinde quasi meritorum pretium caducis aestimetur praesentium« nachgeschoben und endlich wieder auf den »circuitus humanarum rerum« rekurriert (ebd. 34). 32 Komplettiert durch Attacken auf die biblischen »Nothelfer«; vgl. Claud. carm. min. 50. 33 Vgl. A. Funkenstein [Anm. 23], S. 153; F. Paschoud [Anm. 15], S. 214ff.; F.G.Maier[Anm. 12], S. 58. 34 »Rescuing Christian apologetics from the tyranny of history« (E. A. Isichei [Anm. 22], S. 84). 35 Als konzises Referat sei A. Funkenstein [Anm. 23], S. 36ff. genannt; zur ausführlicheren Einführung eignen sich am besten A. Wachtel, Beiträge zur Geschichtstheologie des Augustinus, Bonn 1960, und E. A. Isichei [Anm. 22], S. 74ff. 36 Vgl. das >zeitgeschichtliche< 18. Buch sowie 5,25,1-19; zu diesem betont pessimistischen Wegsehen vom christlichen Imperium vgl. Th. E. Mommsen [Anm. 24], S. 276f.; F. G. Maier [Anm. 12], S. 66, 153 und 203; E. A. Isichei [Anm. 22], 301
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Schlußpunkt des Theodosiuskapitels.37 Die ersten fünf »apologetischen« Bücher jedoch - das ist hervorzuheben38 - stehen jedoch keineswegs auf dem unangreifbaren Boden des eschatologischen Desinteresses und der Ablehnimg des do-ut-des-Schemas von Strafe und Belohnung in der Geschichte. 410 wird durchaus auf dem Argumentationsniveau des VictoriaStreites auch als punitio - und zwar auch für Christen - diskutiert, und Augustin läßt sich unter diesem Aspekt sogar in Einzeldeutungen und Faktenvergleiche innerhalb der Zeitgeschichte ein.39 Vor allem aber macht er, in apologetischer Situation, zum erstenmal mit der christlichen Detaildiskussion der nationalen, »positiven« Geschichte ernst. Den rationalistischen Ansatz des Ambrosius aufnehmend - und hier gänzlich unberührt vom Dekadenzschema -, deutet Augustin nun, wie Maier ausführlich dargestellt hat,40 die Exempla der römischen Geschichte von der Unangreifbarkeit der panegyrischen Verbindlichkeit zu Zeugen profaner und in der Profangeschichte begrenzt erfolgreicher virtutes um. Diese Entzauberung der Geschichte - der zeitgenössischen wie der vergangenen - zeigt, wie wenig das Deutungsmuster des Niedergangs bei Augustin noch bestimmend ist. Sie ist ebenso wie die Konstruktion der Metahistorie erst in den folgenden Jahrhunderten wirksam geworden; den apologetischen Tagesproblemen wich Augustin mit ihr aus. Wo er sie allerdings berührt, da weist auch sein Werk auf die Notwendigkeit des christlichen Umschreibens der Profangeschichte hin. Auch die Richtung, die eine solche apologetische Historiographie nehmen mußte, wird im 3. Buch bereits bezeichnet: [87] die Vergangenheit ist als »series calamitatum« darzustellen. Es ist der Auftrag Augustins an Orosius.
n Der apologetische Anlaß dieses Auftrags wird im Prolog zum Gesamtwerk mit aller Deutlichkeit genannt: die Plünderung Roms gibt den pagani Anlaß, »praesentia tempora veluti malis extra solitum infestatissima« dem herrschenden Christentum zuzurechnen.41 Orosius teilt im S. 79ff. Zuerst gesehen von E. Troeltsch, Augustin, die Antike und das Mittelalter, Berlin 1915, S. 24ff. 37 Civ.
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Grunde diese Beurteilung: es handelt sich um »clades ... graves«;42 und die im Werk verstreuten Andeutungen über die Gründe der Reichskrise43 erlauben es, ihn unter die illusionslosesten Zeitgenossen einzureihen. Aber die Defensive der Apologetik wirft diesen Schock in die Geschichte zurück; und dies ist der Auftrag Augustins: nach Schrecknissen rubrizierte Listen, gleichsam »globi miseriarum« (2,18,4) der paganen Vergangenheit. Das aber ist nicht das geschichtliche Werk, das Orosius geschaffen hat die bis heute nicht hinreichend gewürdigte Leistung des »Schülers«44 bestand darin, solche der Exemplatradition entgegengesetzten Kataloge zur Geschichtsschreibung erweitert zu haben. Er war sich dessen bewußt: im Unterschied zur Wiedergabe von Augustins >praeceptum< (1, prol. 9f.) formuliert er 1,1,14 sein Thema als Geschichtsabriß »usque ad dies nostros«. Damit werden die apologetischen Probleme der Reichstheologie des 4. Jahrhunderts mitsamt des von Augustin ignorierten Dilemmas der christlichen Zeitgeschichte aufgenommen und finden unter dem apologetischen Druck ihre Lösung in der ersten auf einen Fortschritt der Menschheit hin konzipierten Universalgeschichte. Orosius skizziert diesen Fortschrittsgedanken - gänzlich unberührt von augustinischen civitates-Gedznken45 - noch im Prolog: die Übel der Welt nehmen ab, und zwar (a) proportional zur Nähe der Inkarnation,46 (b) beschleunigt seit der Inkarnation (»ista inluscente, illam constipuisse«), (c) bis auf ein Minimum seit dem Überwiegen des Christentums (»illam concludi, cum ista iam praevalet*) und (d) völlig mit seinem Sieg [88] (»illam penitus nullam futuram, cum haec sola regnabit«).47 Hiermit werden - abgesehen von der noch bevorstehenden Epoche (d) - drei den Fortschritt potenzierende Phasen der Geschichte etabliert. Die Frage ist, ob 41 Historiae adversum paganos (hrsg. von K. Zangemeister [CSEL 5], Wien 1882) l,/>ro/. 9; vgl. E. Corsini [Anm. 24], S. 112f. 42 hprol. 13f. 43 Vgl. 7,35,6 (Prätendentenkriege sind unvermeidlich); 5,lf. (der Tribut an die Barbaren ist eine Notwendigkeit); 7,41 (die Ablösung der Römerherrschaft wird von nicht wenigen Provinzialen gewünscht). 44 Vgl. zur Diskussion: E. Corsini [Anm. 24], S. 55f.; Th. E. Mommsen, Orosius and Augustine, in: ders., Medieval and Renaissance Studies [Anm. 24], S. 325ff.; E. Peterson [Anm. 24]; W. Kamiah, Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart 2 1951, S. 155ff. 45 Es findet sich in den gesamten Historiae nur ein expliziter Verweis auf die terrestrische Vermischung beider civitates (7,37,8). 46 »Tanto atrocius... quanto longius a remedio verae religionis« (1, prol. 14). 47 1, prol. 14. Bemerkenswert ist, daß die Antichrist-Katastrophe aus der überschaubaren Geschichte herausgerückt wird (ltprol. 15). 303
OROSIUS diese Neukonzeption den Faktenzusammenhang der Geschichte zu organisieren, ferner, inwieweit sie das ihr konträre historische Modell des Niedergangs umzuformulieren imstande war. Die ersten Bücher scheinen die calamitates der ersten Phase lediglich im planen, narrativen Zusammenhang des exzerpierenden Breviarium zu reihen. Indessen kann diese insgesamt ungedeutete Ereignismasse nicht als Rückkehr in die Historiographie nach antikem Verständnis aufgefaßt werden. Von der Forschung wenig bemerkt, finden sich nämlich immer wieder Applikationen von Ereignissen, deren Struktur der Untersuchung wert ist. Beispiele: 1) Der Einfall der Amazonen in Europa wird von den Paganen nicht als Unglück gewertet; die Amazonen waren in Wahrheit Gotenfrauen; ihre Männer aber, die in Wirklichkeit nur das friedliche Föderatenverhältnis suchen, fürchtet die Gegenwart mehr als die Frauen (1,16). 2) Troja wurde 10 Jahre belagert, dann geschleift; die Gegenwart fürchtet sich vor »Feinden«, die von selbst Geiseln aufdrängen und für die Römer zu kämpfen bereit sind (1,17). 3) Der Galliereinfall unter Brennus und die Einnahme Roms 410 sind gerade wegen ihrer absolut entgegengesetzten Details »gleich« (2,19,12ff.).48 Solche Applikationen zeigen, daß Orosius die miseriae stets in bezug auf den apologetischen Druck der Gegenwart stellt: an diesen Stellen wird der Bezug explizit und manifestiert sich als offensichtliche Rezeption der panegyrisch-spätantiken Geschichtsauslegung. Wie dort verwischen sich Mythos und Historie.49 Wie dort wird ausgelegt, und zwar nach »sinnfälligen«, auch e contrario oder nach der Talion kongruierenden50 Details. Als eigentümlich verwandelte Rezeption jedoch: Deutimgsziel ist nicht wie in der Panegyrik die alles Vergangene überbietende Gefahr und Gefahrenmeisterung der verherrlichten Gegenwart, sondern die alles Vergangene unterbietende Gefahrlosigkeit und gleichwohl fehlende Gefahren48 Vgl. ferner 1,20,6: der Grausamkeit des Tyrannen Phalaris respondiert e contrario die Milde Kaiser Konstantins, der die paganen »Tyrannen« seiner Zeit überhaupt nicht bestraft. 49 Orosius bahnt sich denn auch in den ersten beiden Büchern brav den Weg durch griechische Mythen; die praeteritiones (1,12; 2,12,1) stellen lediglich Kapitulationen dar, nehmen diefabulosa jedoch ernst. 50 Untrügliches Kennzeichen der Exegese ist die textuelle Manipulation des Exempelberichts. So bei der Leonidas-Applikation: Leonidas hatte nach der Vorlage Justins (Epitoma Pompei Trogi 2,11,5) die Gefährten »ad meliora patriae tempora« venröstet; Orosius streicht »patriae« und legt den Ausspruch auf das Gesetz des Fortschritts in der Geschichte aus (2,ll,8ff.). 304
OROSIUS meisterung der befehdeten - paganen wie scheinchristlichen - Gegenwart. Diese Art der Vergangenheitsauslegung gab es nur in der »negativen Panegyrik« der Spätantike, [89] der Invektive.51 Die Rezeption der spätantiken Panegyrik in Form der Invektive ermöglicht der christlichen Apologetik die Integration der paganen Vergangenheit in eine progressive Universalgeschichte. Denn erst die Verschmelzung von Apologetik und Invektive vermochte die Probleme der Reichstheologie des 4. Jahrhunderts zu lösen: auf der einen Seite werden die Unzulänglichkeiten der Gegenwart auf die »Kleinheit« der Gegner gegenüber der »Größe« der alten Geschichte reduziert; auf der anderen Seite wird der »Fortschritt« der Gegenwart auf zunehmende Ereignislosigkeit und wachsenden Frieden reduziert. Damit sind die Begriffe >Dekadenz< und >Fortschritt< sorgsam separiert und einander neu zugeordnet worden, und zwar in einer nicht mehr historisch argumentierenden Dimension. Die moralisch gewertete wachsende Dekadenz der Gegner hält sozusagen die Geschichte auf ihrem Weg in die Ereignislosigkeit des abschließenden irdischen Friedens (s. oben Epoche (d), in der die Paganen verschwunden sein werden) immer weniger auf. Die Widersprüchlichkeit dieses Geschichtskonstrukts resultiert, wie ersichtlich, daraus, daß gegenüber dem apologetisch erzwungenen Postulat des Fortschritts das auch bei Orosius nach wie vor subsistierende Erfahrungs- und Formulierungskonzept des Niedergangs durchschlägt. Dies läßt sich an manchen Exegesen vorchristlicher Ereignisse zeigen;52 ein für die semantischen Verschiebungen typisches Beispiel sei angeführt. 3,2,9-14 werden die Kriege zwischen Athen und Sparta dem >increpator temporum Cbri$tianorum< entgegengehalten: »nescit hos... populos ita nunc in ... theatris consenescere, sicuti tunc in castris maxime proeliisque tabuisse.« Die müßige Gegenwart ist nach dem orosianischen Schema ein Fortschritt; mit »consenescere« jedoch drängt sich bereits ein Begriff aus der Dekadenzmetaphorik vor, die ja - auch bei Orosius53 - dem Theaterleben zukommt. Orosius neutralisiert jedoch das Wort sogleich durch das ungewöhnliche und negativ besetzte »tabuisse« auf der Seite der heroischen Vergangenheit. Im ganzen werden die Exegesen zur Zeit der Inkarnation hin seltener; potentiell aber sind sie bei jedem berichteten Ereignis mitzudenken. Oro51 Ein struktureller Vergleich zwischen Orosius und den Invektiven Claudians würde diesen Formzusammenhang darstellen können. 52 Hingewiesen sei auf 1,21,18; 2,18,5; 4,21,5ff.; 4,23,8ff. 53 Vgl. 4,21,5-9. 305
OROSIUS sius ist sich über den Deutungszwang dieses Verfahrens und den scheinnarrativen Charakter seiner Darstellung im klaren: einem feindlichen Publikum gegenüber (7,l,5f.) habe er die »vis«, nicht die »imago« der Geschichte darzustellen (prol. 3); andererseits sei bereits ein erheblicher Anteil deutungsfähiger Ereignisse von der - als solchen panegyrischen54 - paganen Historiographie unterschlagen worden (4,5,10ff.). - Diese Bemerkungen bezeugen bereits für Orosius das ganze Dilemma einer aus der Apologie erzwungenen und damit auf die Minutien der Ereignisse gefesselten Geschichtsphilosophie. [90]
m Die postulierte Beschleunigung im Fortschritt der Geschichte zum Besseren der Ereignislosigkeit hin - nach dem Schema des Prologs mit der Inkarnation einsetzend - stellt Orosius vor ein geschichtshermeneutisches Problem. Durch Exegese ad peius konnte die alte Geschichte in ihrer Deutung fixiert werden - wie aber können geschichtsimmanente Prozesse ad melius sichtbar gemacht werden? Orosius führt in dieser Phase den providentiellen Gott ein, bindet den christlichen Gott an Detaileingriffe. Diese Problemlösimg ist nicht selbstverständlich; sie ist vor und lange Zeit nach Orosius nicht praktiziert worden. Die positive Teleologie kann nämlich sehr viel reibungsloser durch Bindung der Providenz an den bloßen Faktenrahmen von Reichssukzessionen erreicht werden, also an eine Zwischeninstanz über den Einzelfakten, die den Gott der Geschichte vom Deutungsdruck der Details entlastet.55 So ist die »Reichstheologie« verfahren, der Orosius gewöhnlich zugerechnet wird. Zu Unrecht: die orosianische Adaptation der Reiche-Lehre56 setzt keineswegs dem pessimistischen Babylon-Rom-Parallelismus Augustins57 eine Rom-Providenz 54 »Proposito sibi laudis negotio« (ebd. 4,5,10). 55 Diese Lösung kann freilich nicht auch die Wandlung ad melius in der Natur mitleisten. Wo eine solche (wie bei Orosius) im Fortschrittsschema impliziert wird, kann die Faktendeutung nur unerklärte qualitative Sprünge vorführen: in den christiana tempora schaden Heuschreckenschwänne und der Ausbruch des Ätna nicht mehr (5,11,6; 2,14,3; vgl. 3,3,2). 56 Zu ihrer Entwicklung vgl. F. Vittinghoff [Anm. 10], S. 551 ff. Sie ist bei Orosius bereits zu einem geographischen Schema entwickelt (2,1). 57 Der Beginn des zweiten und des siebten Buchs der Historiae adversum paganos sowie eine Reihe von Einzelbemerkungen (vgl. 6,1; 2,1,2; 2,6,14) scheinen die providentielle Bedeutung Roms eindeutig auszusagen. Aber nicht nur, daß die De306
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entgegen, die tatsächlich den Detailfortschritt der Geschichte organisierte. Letzteres tut vielmehr ausschließlich5* der kurz vor der Inkarnation erstmals in der orosianischen Geschichte unmittelbar wirkende Gott, indem er eine Sondergeschichte etabliert. Zur Erläuterung sei das allmähliche Auftreten Gottes in der noch paganen Geschichte verfolgt. Sehr merkwürdig, aber mit dem zur ersten Geschichtsphase [91] Ausgeführten schlüssig ist nämlich Gott in der vorchristlichen Zeit auf chronologische Überschneidungen, auf Ereignissynchronismen, auf eine convenientia temporum59 beschränkt: die Deutungsform der Exegese hemmt jene der Providenz. Gott garantien so - als Arrangeur von Synchronismen - die Sinnfälligkeit von Geschichte überhaupt; auch die erste convenientia der Augustus-Zeit gehört noch diesem Typ an.60 Eine Verbindung der profangeschichtlichen Sinnfälligkeit zu jener der Heilsgeschichte besteht zunächst noch nicht: die Chronologie von Jesu Geburt korrespondiert zunächst nur der von Abraham.61 Die Ankunft des Gottessohnes manifestiert sich daher zunächst nur in der gesteigerten Zeichenhaftigkeit der Natur; hier wird die römische Tradition des prodigium fortgesetzt.62 Der erste profan-sakrale Synchronismus liegt 6,20,3f. und 8 vor (Verleihung des Titels Augustus ~ Epiphanias). Präzise aber mit der Menschwerdung konstruiert Orosius Wirkungen der neutestamentlichen Sondergeschichte in die allgemeine Geschichte hinein; die erste liegt vor im Verzicht des Kaisers auf den dominus-Ynel beim Geburtszensus.63 taildeutung hiervon unbeeinflußt bleibt: auch die Konfrontation von 410 mit dem Schema Babylon-Rom (2,3) verläßt sowohl die eusebianische Reichstheologie wie die pessimistischen Gleichungen Augustins. Nicht die Reichsschematik schließt die Geschichte mit dem Chaos ab - Rom steht noch -, aber auch Rom als Reich garantiert nicht seine eigene Dauer: »illius (sc. Gottes) clementiae esse, quod vivimus« (2,3,5). Daß auch der Fortbestand Roms an die Balance von Strafe und Lohn gebunden ist (2,3,7f.), und nicht an die providentiell gesicherte Überzeugung der Romtheologie, zeigt dann der Stoßseufzer 3,20,12. 58 Einzige Ausnahme scheint 4,17,8ff. zu sein: der Hannibal von Rom abwehrende Regen ist providentiell (»ad futurae fidei credulitatem«) - bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch wieder um eine historische Kontrastexegese gegen die Ungläubigkeit angesichts eines zeitgenössischen Wunders. 59 Synchronismus von Procas und Ninus (2,2,4), von zwei Perserschlachten (2,11,5). 60 6,20,9 und 6,21,19ff. 61 Vgl. 7,1. 62 Vgl. 6,18,34 und 6,20,5ff. 63 Vgl.6,22,5f. 307
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Das Nebeneinander von neutestamentlicher, später frühkirchlicher Sondergeschichte und allgemeiner Geschichte gestattet es Orosius, in der zweiten Phase seiner Geschichtsdarstellung Gottes Providenz noch im allgemeinen indirekt, als Effekt der Sondergeschichte auf die allgemeine, wirken zu lassen. Daß hier gleichwohl bereits Gott in der Geschichte agiert, erweist sich daran, daß von den wenigen wirklichen Berührungen beider Geschichten (den ersten Verfolgungen) abgesehen jede dieser - systematisch erforderten - Wirkungen ins Leere hinein konstruiert werden muß, wodurch sich eigenartige Typen historischer Kausalität präsentieren: 1) Die Achtlosigkeit, mit der die Profangeschichte neben dem neuen Ereignisstrang vorbeigeht, hat negative Folgen.64 2) Orosius etabliert eine zweigleisige Kausalität (Überdetermination) von Fakten; die nächste Stufe ist dann die Konstruktion >eigentlicher< (Krypto-)Ursachen; hier wandelt sich bereits der autonom Handelnde zum providentiellen Instrument.65 3) Die sekundär konstruierte Kausalität rückt zeitlich sehr weit auseinanderstehende66 oder einander grotesk unverhältnismäßige67 Faktengruppen zusammen; die Zweigleisigkeit verschwindet vor der allein [92] determinierenden Providenz; der Handelnde wird zur Marionette. 4) Gelegentlich bildet sich bereits der geschlossene und in sich stimmig motivierte Bezirk einer Geschichtslegende (so im Fall des Tiberius).68 Das Ergebnis dieser Konstruktionen ist die zunehmende Verdünnimg der profangeschichtlichen Oberfläche über den Ursachen der sakralen Sondergeschichte. Diese Oberfläche wird als offensichtlich nicht mehr in sich selbst kohärente und sinnvolle Detailanhäufung präsentiert. In ihr bildet erst die Ecclesia als Geschichtssubjekt69 Sinn70 - und dieser Sinn ist
64 Vgl. 7,3,5f. und 7,4,llff. (hier moralisierend: Rom geht ins Theater, anstatt Jesus zu sehen); vgl. 7,7,llff. 65 Vgl. 7,4,17f. (Tiberius'Judenverfolgung). 66 Vgl. 7,9,5 (Titus als Rächer der Ecclesia an den Juden); 7,12,4 (Einsturz der domus aurea unter Trajan). 67 Vgl. 7,18,7: Mammäa hört Origenes ~ Alexander Severus besiegt die Parther. 68 Vgl. 7,4. Ein Vergleich des christlich bestimmten Tiberius-Bildes mit dem historisch-materialistisch bestimmten Bild Napoleons in der marxistischen Historiographie ergibt strukturelle Parallelen; vgl. die Hinweise bei W. Maibaum, Geschichte und Geschichtsbewußtsein in der DDR, in: Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, hrsg. von P. Chr. Ludz, München 1971, S. 187ff. 69 Vgl. 7,8: die Ecclesia bittet, »quamvis vexata«, um Schonung der Verfolger. 70 Vgl. 7,6,8; 7,9,9f.; 7,20. Eine An Rückwirkung dieser Aushöhlung des profanen Geschichtssinnes ist es, daß im Grunde auch die paganen Instrumente der Providenz um die eigentlichen Dimensionen wissen (vgl. l,5,3ff. zu Tacitus). 308
OROSIUS Fortschritt. Die christiana tempora sind »in provectu posita«/1 nicht etwa nur im Sinne eines beschleunigten Wachstums der Kirche, sondern das wird bereits viel deutlicher als in der ersten Geschichtsphase - als Fortschritt aus der Ereignishaftigkeit der Geschichte selbst hinaus. Die Staatsaktionen beginnen zu versanden; »materia belli deficit«;71 die Finalität des Bösen (etwa bei Caligula)73 kommt gleichsam nicht mehr zur Erfüllung/ 4 Hier handelt es sich nun nicht mehr um die Wechselwirkungen zweier separater Geschichtssubjekte; diese Wirkungen treten ohne geschichtsimmanente Veranlassung ein; sie sind, wie erörtert, vom orosianischen Geschichtssystem des apologetischen Fortschritts selbst erfordert. Demgemäß greift hier Gott direkt ein; er vereitelt einen Giftmord;75 er erstickt einen Bürgerkrieg.76 »Plus les choses touchent de pres ä la providence et ä la sagesse divine, plus la disposition en doit etre belle.« (Bossuet). An dieser Stelle drängt die Gesamtkonstruktion bereits über das recht geschlossene und den Details gegenüber einigermaßen reibungslose77 Providenzmodell der [93] indirekten Kausalitäten. Aber noch ist der Ereigniszusammenhang nur ausnahmsweise78 in die direkte göttlich-menschliche Balance von Vergehen und Strafe eingeformt, die die klassische geschichtsapologetische Deutimg, auch Augustins in seiner Reaktion auf 410, gewesen war. Und wo Orosius durch das Gegeneinander von ultio und misericordia Gottes zum erstenmal einen besonders sinnlosen Geschichtsverlauf - die Wirren des 3. Jahrhunderts - zu deuten unternimmt, stehen die Fakten alsbald quer zur Deutung, und Orosius läßt sie schnell fallen.79 71 6,22,10. 72 7,5,22ff. 73 Vgl. 7,5,11. 74 Vgl. noch 7,9,2. 75 Vgl. 7,5,11. 76 Vgl. 7,6,6ff. Nicht zufällig tritt bei diesen Eingriffen gegenüber der faktischen Wirkung zusehends deren rasches Eintreffen in den Vordergrund; progressive Darstellung beschleunigt (vgl. 7,19,2 und 7,21,3). 77 Allerdings kommt Orosius bereits für diese Phase nicht ohne chronologische Arrangements (vgl. die Einordnung der Varus-Schlacht 6,21,26f.) und verkürzende Deformationen aus. Orosius macht sich selbst durch den paganen Gegner diesen Einwand (»te ... callide fortuitas temporum mutationes Christianorum ultionibus coaptantem«, 7,26,2), um ihn mit der Ablehnung des Deutimgszwangs in jedem Detail abzulehnen (»nee in verbo premo«, 7,26,9). 78 In der ersten Geschichtsphase erscheint eine Faktendeutung als Gottesstrafe nur einmal (2,17,16f.: Sokrates' Tod ~ Herrschaft der Makedonen über Griechenland). 309
OROSIUS Die Deutungsform der Sondergeschichte, die sich im Schöße der allgemeinen Geschichte vorbereitet und endlich siegt, wird bis zur marxistischen Historiographie ein Erbstück der Geschichtsapologetik bleiben. Bossuet hat sie zum (auch im Aufbau seines Discours sichtbaren) Leitprinzip erhoben, vor dem das direkte Eingreifen Gottes zurücktritt. Der providentielle Fortschritt bleibt daher bei ihm merklich auf die Kirchengeschichte beschränkt, während er für die Profangeschichte zur Reiche-Systematik zurückkehrt.
IV Mit dem Anbruch der vorletzten Phase der Geschichte (Aufhören der Verfolgungen, imperium Christianum), also der eigentlichen Zeitgeschichte, kann der Fortgang der Ereignisse nicht mehr aus der Dynamik zwischen einer partiellen und der allgemeinen Geschichte gedeutet werden: es gibt nur noch eine Geschichte des christlichen Reichs. Das orosianische System kann nun nur mehr durch die ungehemmte Betätigung des providentiellen Gottes antworten. Allerdings hat Orosius bei der Darstellung dieser Epochenwende den Versuch unternommen, den Geschichtssinn zusätzlich durch Verlängerung der innerbiblischen Typologie abzustützen. Das ist nach dem erwähnten Experiment des Ambrosius bis zum Hochmittelalter das erste Unternehmen dieser Art - und es ist von Augustin alsbald scharf zurückgewiesen worden. Orosius setzt nämlich die zehn kanonischen Christenverfolgungen als Antityp der Plagen Ägyptens, und zwar offensichtlich, um die Auswirkungen der letzten Verfolgungen als geschichtlich noch ausstehend deklarieren zu können und so einen Deutimgsmaßstab für die fortlaufende Zeitgeschichte zu gewinnen. Diese Hilfskonstruktion der bis in die Gegenwart wirkenden - und ihre Schwierigkeiten erklärenden - >Überreste< der überwundenen Epoche hat wiederum ihre strukturelle Parallele in der marxistischen Historiographie. - Die sakramentale, z.T. eschatologische Bibelauslegung wird also hier für die Fixierung noch [94] ausstehender Geschichte usurpiert.80 Konkret bedeutet diese biblisch garantierte Vorstrukturierung,81 daß in 79 Vgl. 7,22,9.
80 Vgl. 7,26. Stellenweise, so bei der Exegese des mare rubrum in Exodus, schlägt die eschatologische Deutung durch. Orosius hat dieses Deutungsinstrument wieder apologetisch inszeniert: es antwortet auf den Vorwurf des paganen Gegners, die letzte Verfolgung sei ohne Konsequenzen geblieben (7,26,2). 81 Wie wichtig sie geschiehtssystcmatisch für die Zeitgeschichte wird, zeigt 310
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der Phase des siegreichen Christentums die Häresie die Verfolgung fortsetzt: »sub nomine pietatis vis persecutionis«}1 Die Erschließung der biblischen Typologie für die Zeitgeschichte wird erst wieder bei Gerhoh von Reichersberg und Rupert von Deutz aufgenommen; charakteristischerweise aber läßt sie sich nicht als Panegyrik der Gegenwart domestizieren. Insbesondere die konstruktive Vorgabe der Typenfolge in der Schrift, zu denen kongruente nachbiblische Verläufe herzustellen sind, förderte eine scharf gegenwartspolemische, sodann apokalyptische und millenaristische Entwicklung der Form.83 Die Geschichte des 4. Jahrhunderts kann mm im Prinzip als göttlich unmittelbare Distribution von Lohn und Strafe je nach pietasy Häresie oder Rückfall ins Heidentum der Handelnden erzählt werden. Es ist leicht zu erkennen, daß diese Phase den problematischsten Umgang mit dem historischen Detail im orosianischen Gesamtwerk aufweist. Zwar entläßt Orosius hier - zum erstenmal - eine große Zahl von Fakten aus dem Deutungsdruck und stellt sie neutral dar; er konzentriert sich statt dessen auf größere Porträts, wie das Valens- und Radagais-Bild, die zu wahren Exerzierplätzen verzwickter und menschenverachtender Providenz geraten.84 [95] Jedoch gelingt auch diese Darstellung nur um den wieder eine Überdetermination: neben der Typologie ist sie vom - hier erstmals auftretenden - Teufel bedingt (7,29,2ff.). Orosius ist bei diesen Fixierungen dem Eusebios (bist. eccL 3,26f.) verpflichtet. 82 7,29,4. 83 Vgl. hierzu die vorzüglichen Analysen bei E. Meuthen, Der Geschichtssymbolismus Gerhohs von Reichersberg, in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, hrsg. von W. Lammers, Darmstadt 1965, S. 200ff. (insbes. S. 240ff.). 84 Das Valens-Bild des Orosius (7,33) entsteht aus dem Mißerfolg von Adrianopel - daß in der Phase direkter Providenz, ebenso wie in einer hegelianisierenden Geschichtsphilosophie, der Erfolg zum Deutungsindiz wird, spricht Orosius 7,37, lf. (am Beispiel Stilichos) aus. Valens ist sowohl persecutor (der Mönche) wie Häretiker; seine Reue kommt zu spät (bezieht sich auf die Maßnahmen vor Adrianopel). Adrianopel wird daher nicht beschönigt, sondern wiederum überdeterminiert: es bedeutet nicht nur Rache für den Kirchenverrat, sondern auch für den geistlichen Verrat an den Barbaren (die als Häretiker trotz ihres Sieges der ewigen Verdammnis verfallen sind). Radagais (vgl. 7,37) mußte als besonders sinnloser Verwüster des christlichen Italien erklärt werden. Gott läßt, zur Lehre für die »obtrectatores temporum Christianorum«> den paganen, die Nähe Roms verwüstenden Teil der Barbarenhaufen umkommen - denn hätte er ihn siegen lassen, wäre Rom völlig ins Heidentum zurückgefallen -, den christlichen aber in den entfernteren Gegenden siegen. Die Vernichtung der paganen Barbaren behält sich Gott persönlich vor; und hierbei übertreffen die Formulierungen des Orosius das an Zynismus in der antiken Historiographie bis311
OROSIUS Preis sich häufender Verfälschungen,*5 Beschönigungen86 oder Verschweigungen.*7 Vor allem aber wächst der Gegendruck des Ungedeutet-Faktischen. Neutral werden die Kämpfe der Konstantinssöhne, die Herrschaft Jovians, der Maximus-Aufstand und anderes berichtet. Die unbefangen und zumeist unverwandelt rezipierte Tradition des Prodigienreferats ist ein Indiz, wenn die Ereignisse den Panzer der Deutungen durchbrechen oder Orosius sich eine Art historiographisch-neutraler Pause gewährt.18 Vollends ist der providentielle Geschichtsrahmen aufgegeben, wenn Orosius eine bestimmte Politik - hier die Germanenpolitik Stilichos, deren Prinzipien er, wie die Darstellung der Ereignisse nach 410 erweist, durchaus billigt - aus politischen Gründen der damnatio memoriae anheimstellt.89
V Zur unmittelbaren Gegenwart hin verschmilzt endlich der Providentialismus mit Elementen der traditionellen paganen Panegyrik; auch Augustin hat, wie erörtert, die Zeitgeschichte nur panegyrisch abschließen können. Orosius wie Augustin zitieren in ihrer Theodosiuspanegyrik90 Claudian.91 Die Nähe der paganen Form ist bei Orosius insbesondere für
her Erreichte (vgl. E. Corsini [Anm. 24], S. 124 Anm. 117): Gott läßt die Barbaren »edentibus bibentibus ludentibusque nostris« bei Faesulae verhungern (7,37,14); was etwa noch überlebte, läßt er zu einem so geringen Preis in die Sklaverei verkauft werden, daß die Käufer das eingesparte Geld sogleich für die Bestattung der Moribunden zu verwenden haben (7,37,11). Man vergleiche diese Verarbeitung mit derjenigen Augustins (civ. dei 5>23,5ff.) und des Paulinus von Nola (carm. 21,4ff.). 85 Vgl. 7,32,4; 7,43,9. 86 Vgl. 7,34,5f.; 7,36,1; 7,39f. 87 Vgl. 7,33,7; 7,33,8; 7,36 (Ignorierung Stilichos im Bellum Gildonicum); 7,43 (Ignorierung des Gegensatzes Constantius - Athaulf). 88 Vgl. 7,9,11; 7,9,14; 7,20,4 (durch ein naives *et tarnen* eingeleitet); 7,32,5. 89 Kapitel 7,37 streift die noch von Prudentius verherrlichten Kämpfe Stilichos nur noch in anaphorischen Aposiopesen (dreifaches »taceo«); der Christ Orosius steht hier bezeichnenderweise seinem paganen Zeitgenossen Rutilius Namatianus näher. Die hilfsweise Heranziehung des Verdachts auf Heidentum gegen den unmündigen Stilicho-Sohn Eucherius zur Erklärung des Scheiterns von Stilichos Gesamtpolitik (7,38,lff.) zeigt die Verlegenheit. 90 Einen (verlorenen) christlichen Prosapanegyrikus auf Theodosius schrieb auch Paulinus von Nola. 91 In tert. com. Honor. 96ff. (Aug. civ. dei 5,26; Oros. 7,35,21).
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die Darstellung der Zeit nach 410 (bis zum Endpunkt 417), aber bereits der theodosianischen Dynastie insgesamt zu konstatieren:92 Betonung [96] der Augenzeugenschaft,93 Einformung der Gestalten und ihrer Sprache in biblische Formulierungen und Typen94 (sie bilden die mythologische Überhöhung bei Claudian nach), endlich das unmittelbare - über die theoretische dispensatio hinausgehende - Agieren Gottes95 (es ähnelt sehr den drahtziehenden Göttern Claudians).96 Auch systematisch setzt der panegyrische Providentialismus der Zeitgeschichte den Schlußpunkt im orosianischen Fortschrittsdenken. Die Handelnden sind nämlich nunmehr nicht nur aus der geschichtlichen Verantwortung, sondern zusehends aus geschichtlicher Aktivität überhaupt entlassen - sie gewinnen statt dessen den privaten Raum der pietistischen Versenkung, z.T. auch der Anekdote.97 Schon die Schlacht am Frigidus geschah bei Orosius in und hinter der Darstellung der Buße des Theodosius (7,35,14ff.); noch deutlicher dem Geschehen entrückt wird Mascazel (7,36,5ff.).98 Der providentielle Gott hingegen gewinnt immer stärkere Kontur, einen breiteren Raum personaler Verhaltensweisen. Er wird am Beginn des 7. (zeitgeschichtlichen) Buchs theologisch (hier wird die apologetische Verständigungsebene verlassen) als geschichtliche Potenz erläutert. Geschichtsverlauf ist patientia Gottes,99 und zwar durchaus patientia perniciosa, mit der Gott die sofortige Vernichtung nach seiner Verschmähung seit dem Sündenfall hemmt, jedoch die Kalamitäten-Geschichte der labores in Gang setzt, bis seine misericordia ihr ein Ende setzt. Diesen providentiellen Reaktionen respondiert auf der Seite ihres Adressaten der ebenfalls die Geschichte auslösende - contemptus Gottes; erst die poenitentia kann das providentielle Ende der Geschichte besiegeln.
92 Vgl. hierzu A. Lippold, Orosius, christlicher Apologet und römischer Bürger, in: Philologus 113, 1969, S. 96ff. 93 Zum Beispiel 7,36,12. 94 Vgl. 7,39,13f. und 7,39,2 (Papst Innozenz »tamquam iustus Loth«), 95 Vgl. 7,36,3 (Gott - und nicht Stilicho! - übernimmt die Vormundschaft über Arcadius und Honorius); 7,43,10 (Gott ordiniert den Gotenkönig Vallia gegen den Willen seines Volkes zum Frieden). 96 Vgl. zur politisch-panegyrischen Technik Claudians A. Cameron, Claudian, Oxford 1970, und P. L. Schmidt, Politik und Dichtung in der Panegyrik Claudians, Konstanz 1976. 97 Vgl. 7,39,13f. 98 Hierzu vgl. B. Lacroix, Orose et ses idees, Montreal 1965, S. 15lf. 99 Vgl. zu diesem Begriff E. Corsini [Anm. 24], S. 89. 313
OROSIUS Nun läßt sich beobachten, daß der orosianische Fortschritt in der Geschichte sich auch an den von Buch zu Buch persönlicher, anthropomorpher werdenden Reaktionen Gottes manifestiert. Zunächst wird jedes historische Datum - als calamitas - als entweder peccatum der Menschen oder respondierende punitio Gottes definiert; wobei die Deutung zwischen dem apertum der menschlichen und dem occultum der göttlichen Aktionen zu balancieren hat.100 Im folgenden Buch hat sich der Schwerpunkt dieser Balance zwischen apertum und occultum in der Geschichte bereits in Gottes Reaktionen verlegt: der versteckt bleibenden iustitia in den alten calamitates tritt die [97] aperta misericordia Gottes in der Gegenwart gegenüber.101 Noch im zweiten Buch wird der Reaktionsraum Gottes durch die ira als Gegenpol zur misericordia erweitert.102 Die volle Prägung des alttestamentlichen persönlichen Gottes in der Geschichte103 erreicht Orosius mit der Einführung der göttlichen Rache zu Beginn der tempora christiana:104 die providentielle Sonderaktion der auf die persecutio der Kirche folgenden ultio überlagerte das Schema von peccatum -
punitio. Hierbei wird die Aufzehrung von Ereignishaftigkeit durch innergöttliche Reaktionen beschleunigt; denn diese setzen durchaus nicht ein Mehr an Fakten. Orosius hat dies exemplarisch am Vergleich von Brennus und Alarich (2,19,14f.) dargestellt: »in hac clade praesenti plus deum saevisse, homines minus«; Gottes saevitia aber wirkt eher zeichenhaft als verheerend - dem Brand Roms beim Galliereinfall entspricht der Blitzschlag in einen Tempel. Zu einer noch eindringlicheren Reflexion dieses Verlusts an Geschichte veranlaßt Orosius der Vergleich zwischen den altrömischen bella civilia und den gegenwänigen Prätendentenkämpfen (5,22,515): die Geschichte ereignet sich nicht mehr so blutig wie früher; und gerade diese Tatsache lasse die Gegenwart so bedrückend erscheinen: es fehlt an klaren Entscheidungsschlachten. Das Verebben der Geschichte aber bedeutet zugleich ihre größere Zeichenhaftigkeit und Determiniertheit: »cum in hisce temporibus omnia plus necessitatis adferant et« - hier drängt sich nicht zufällig das Dekadenzdenken vor - »minus pudoris« (5,22,10). Im 7. Buch verstärkt sich 100 Vgl. 1,1,12. 101 Vgl. 2,3,9f. >Verborgenheit< und >Offenheit< werden im übrigen bei Orosius zu Indikatoren der Deutungsschwierigkeit (vgl. 2,3,9f. mit 1,17,3). Vgl. auch B. Lacroix [Anm. 98], S. 104ff. 102 Vgl. 2,18,5. 103 Vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, München 1957, S. 135ff. 104 Vgl. 6,22,11 (Buchschluß).
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dann der Eindruck, daß solche zunehmende Zeichenhaftigkeit nicht mehr so sehr den Fortgang der Geschichte bewirken als vielmehr den sie erlebenden Menschen belehren möchte.105 Die Providenz mündet in die Heilspädagogik106 und wandelt schließlich den Gott der Geschichte zu einem hermeneutischen Gott. Jedes Faktum ist potentielles Demonstrationsobjekt,107 und sein Katastrophencharakter ist dem Nicht-VerstandenWerden proportional.108 Geschichte hat verstanden zu werden,109 wenn sie an ihr fortschrittliches Ziel kommen soll; und sie kann vorzugsweise an ereignisarmen Zeichen verstanden werden.110 [98]
VI Wenn in dieser Weise Fortschritt in der Geschichte als Fortschritt aus ihr heraus definiert wird, wenn das zunehmende Verstummen der Geschichte bis zur Thematisierung der »weißen Flecken« in ihr111 gesteigert wird, dann meldet sich, auch bei Orosius, gebieterisch ein überhaupt ungeschichtlicher Gesichtspunkt zu Wort, der leicht aus der Überanstrengung der apologetischen Spekulation in das alte Konzept des Niedergangs zurückfällt. Ein Indiz ist das angesichts eines Fortschrittspostulats auffällige Fehlen einer prognostischen, überhaupt einer Zukunftsperspektive bei Orosius. Die Linien der Providenz münden tatsächlich in der nicht zufälligerweise panegyrischen Gegenwart, die denn auch ausdrücklich als der durch die ganze Weltgeschichte vorbereitete Höhepunkt dargestellt wird.112 Orosianische Geschichtsdarstellung als ständige historiographische Praxis wäre nur, nicht unähnlich der Orwellschen unablässigen Aktualisierung und Rektifizierung der Geschichte, als immer neue Konstruktion des Gesamtverlaufs auf einen neuen Fluchtpunkt der Aktualität möglich. 105 Vgl. 7,22,9: »ultionis maior forma quam poena«. 106 Vgl. die Spezifikationen von Gottes Handeln 4,6,39f. 107 Vgl. 7,15,7f. (Markomannenkriege des Mark Aurel). 108 Vgl. 7,26,10: »tanto eam ipsis fuisse graviorem quanto minus intellecta est«. 109 Vgl. 7,12,4; 7,37,15; 7,37,17. 110 Vgl. 7,35,12. 111 Vgl. 3,8,3f. (Schließung des Janus-Tempels als Pause in der Geschichte); 4,12,5-13 (Geschichte als Lepra-Ausschlag mit gesunden Flecken). 112 Vgl. 7,43,16 vom letzten berichteten Faktum, der Botschaft der Alanen, Sueben und Vandalen an Honorius 417: »si quid a conditione mundi usque ad nunc simili factum felicitate doceatur«. 315
OROSIUS Eine solche Herausnahme der Gegenwart aus der Geschichte hat bei Orosius die Fortschrittskonstruktion selbst sprengende Konsequenzen. Geschichte wird eher als ein Gegenüber von Texten empfunden, die rhetorische« Reaktionen (des Mitleids;113 der Verfremdung gegenüber der eigenen Wirklichkeit;114 der historisch unvermittelten, gleichsam theatralischen Anwesenheit)115 in einem distanzierten Betrachter116 auslösen. Vor dieser Gegenwartsenthobenheit, die Augustin auf die Formel »nos sumus tempora« (serm. 80,8) gebracht hat, kann im Grunde ein Fortschritt nicht gelten.117 Und von hier ist es bis zu einer Rückkehr zu agnostizistischen und zyklischen Denkmustern nicht mehr weit.111 Der im Gegensatz zu den neuzeitlichen Fortschrittskonzepten fehlende prognostische oder gar utopische Aspekt erklärt sich also aus der panegyrisch-apologetischen [99] Gegenwartsperspektive des Orosius: die bis zum Antichrist noch ausstehende Geschichte ohne weiteres als fortschreitend zu projizieren, würde nichts anderes als die Kompensation einer miserablen Gegenwart verraten.119 So kann denn auch keine Rede davon sein, daß Orosius die geschichtliche Zukunft als Fortdauer des die Barbaren integrierenden römischen Imperiums umrissen habe. Die Vorstellungen von einer römisch-barbarischen christlichen Romania, die in der Tat bei Orosius zum erstenmal auftreten, sind nichts anderes als die panegyrisch überhöhte Darstellung der von Stilicho bis Constantius gleich gebliebenen Germanenpolitik. Sie sind nicht Prognose, sondern Ergebnis der letzten, die gegenwärtigen Begebenheiten verformenden Geschichtsdeutung in diesem Werk. Da sie in der Forschung vorzugsweise die Interpretation der Historiae adversum paganos bestimmt haben,120 seien sie zum Abschluß erörtert. Dabei wird 113 Vgl. 3,20,5ff.; 3,23,2f. 114 Vgl. 2,8,3: die klein gewordene (dekadente!) Gegenwart hat fast mehr Mühe, die Taten der Geschichte zu lesen, als es Mühe machte, sie zu vollbringen. 115 Vgl. 3,23,2f.: Orosius betrachtet die Diadochenkämpfe wie ein großes Ensemble von Lagerfeuern vom Berg aus. 116 Die Distanz zeigen die mannigfachen Reflexionen über die Zeitstruktur historischer Deutung an (l,6,5f.; 1,8,8; 2,18,5; 3,14,9). 117 Vgl. 2,11,10: •cum ille promisit futura meliora, isti adserunt meliora praeterita, quid aliud colligi datur utroque in suis detestante praesentia, nisi aut semper bona esse sed ingrata aut numquam omnino meliora f« 118 Vgl. 1,1,10; 6,14,1; 7,41,9. 119 Vgl.4,/m*e/.2f. 120 Orosius als >Reichstheologe <: F. G. Maier [Anm. 12], S. 58 und 201; ähnlich E. Peterson [Anm. 24], S. 100; P. Courcelle [Anm. 38], S. 110; dagegen: D. Martins, Paolo Orosio, in: Revista Portuguesa de Filosofia 11, 1955, S. 375ff.;
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sich auch unter dem Romania-Optimismus eine der Wahrscheinlichkeit des Niedergangs entspringende Skepsis hervordrängen. Die Barbaren sind als Feinde Roms für Orosius kein Problem mehr: ihre Bekehrung, auch um den Preis der Erschütterung des Imperiums,121 ist Sinn der Grenzauseinandersetzungen, wobei heilsgeschichtlich alles auf eine nicht häretische Missionierung ankommt.122 Keineswegs aber sind sie bei Orosius bereits die »besseren Wilden« Salvians;123 wie die Radagais-Deutung lehrte, fallen sie als Pagane sofort unter die Schwelle des Humanen. Die staatlichen Grenzen zwischen Rom und barbarischen Staatsverbänden werden unter diesem Aspekt unwichtig.124 Im einzelnen will Orosius an den Details der Barbareneinfälle das Ziel der im Gegensatz zu Byzanz flexiblen Germanenpolitik des Honorius125 als erreicht andeuten: Föderatenverhältnis auf Reichsboden,126 Rechtfertigung des Tributs an die Barbaren (ein Glaudian würdiges Kabinettstück der Apologetik),127 vor allem aber die Maxime, die Germanen im imperialen Auftrag untereinander aufräumen zu lassen. Orosius [100] hat diese Maxime in zwei Programmen (der Botschaft an Honorius128 und dem Ausspruch des Athaulf)129 den Germanen selbst in den Mund gelegt - diese bei Orosius nicht unübliche apologetische Verfahrensweise sollte zu größerer Vorsicht, als sie in der Forschung meist diesen »Zeugnissen« gegenüber gebraucht wurde, anhalten. Denn daß diese Politik einer gleichsam automatischen restitutio des Imperiums unter germanischer Treuhänderschaft auch von Orosius nur recht mühsam, ja um den Preis einer Spiritualisierung130 des Begriffs Romania als erfolgreich G. Fink-Errera, San Agostin y Orosio, in: Ciudad de Dios 167, 1954, S. 535 und 548; differenziert: H. J. Diesner, Orosius und Augustinus, in: Acta Antiqua Acad. Scient. Hungaricae 11, 1963, S. 89ff. 121 Vgl. 7,41,8t 122 Vgl. das oben erörterte Valenskapitel und 7,32,12f. (Burgunder). 123 Vgl. M. Pellegrino, Salviano di Marsiglia, in: Lateranum 6, 1940, S. 220, und E. Corsini [Anm. 24], S. 118f.; anders H. J. Diesner [Anm. 120], S. 89ff.; vgl. E. A. Isichei [Anm. 22], S. 106; F. Paschoud [Anm. 15], S. 293ff. 124 Vgl. 7,32,9. 125 E. Corsini [Anm. 24], S. 109 Anm. 100, verweist mit Recht auf die Kontinuität seit Stilicho, die Orosius unterschlägt. 126 Vgl. 1,16. 127 Vgl.5,lf. 128 Die den Beschluß der Zeitgeschichte bildet (7,43,14f.). 129 7,43,4ff. 130 Spiritualisierung als Überwindung der Niedergangserfahrung findet sich z.B. auch bei Augustin (epist. 136f.). 317
OROSIUS darzustellen war, wird an der Wiedergabe zweier Erlebnisse des Orosius aus den Invasionsjahren nach 406 deutlich. 7,41,6f. wird die Barbarenkatastrophe in Spanien in drei Phasen zerlegt: (a) das Massaker als »Strafe«; (b) die Emigration durch Loskauf - sie wird in Bibelexegese eingeformt (Matth. 10,23); (c) die Landnahme der Barbaren - ebenfalls biblisch überformt. 5,2 wird die Romania geradezu als der verbleibende Fluchtraum definiert: »quasi patriae - die »echte« (spiritualisierte) patria ist nicht mehr irdisch. Es ist nun das dritte, diesmal aus dem unpersönlichen Stil des Historikers fallende Erlebnis des Orosius, seine Flucht aus Spanien, das - nicht am panegyrischen Schluß, sondern im Zentrum des Werkes (3,20) - eine Reflexion auslöst, welche die hinter der orosianischen Apologetik sich zumeist verbergende Skepsis, ja vielleicht seine wirklichen Befürchtungen sichtbar macht. Orosius hat seine eigene calamitas dem welthistorischen Unglück des Alexanderreichs, dieses sodann der Katastrophe von 410 konfrontiert und fahrt fort (3,20,10-13): »at vero si illa Alexanäri tempora laudanda potius propter virtutem qua totus orbis obtentus, quam detestanda propter ruinam qua totus orbis eversus est iudicantur: invenientur et modo plurimi, qui haec laudanda censeant, quia multa vicerunt et miserias aliorum felicitatem suam reputent. sed dicat quisquam: isti hostes Romaniae sunt, respondebitur: hoc et tunc toto Orienti de Alexandro videbatur, talesque et Romani aliis visi sunt, dum bellis ignotos quietosque petiverunt. sed Uli adquirere regna, isti evertere Student, separata sunt hostis excidia et iudicia victoris. siquidem et Uli prius eos bellis adflixerunt, quos postea suis legibus ordinarunt: et hi nunc hostiliter turbant quae - in quo non permiserit Deus - si edomita obtinerent, ritu suo conponere molirentur, dicendi posteris magni reges* qui nunc nobis saevissimi hostes adiudicantur. quolibet haec gesta talia nomine censeantur, hoc est sive dicantur miseriae sive virtutes, utraque prioribus conparata in hoc tempore minora sunt.«1*1 [101] 131 »Wenn man allerdings glaubt, die Zeit Alexanders wegen der Kraft, mit der die ganze Welt bezwungen wurde, eher preisen, als sie wegen des Unheils, das die ganze Welt aus den Fugen brachte, verabscheuen zu müssen - dann werden sich übrigens nicht wenige finden, die diesen Vorfall (sc. die Plünderung Roms 410) für preisenswert halten; haben sie doch viel besiegt und halten das Elend der anderen für ihr eigenes Glück. Nun mag man sagen: >Hier handelt es sich schließlich um die Feinde der Romania.< Antwort: >So urteilte damals auch der ganze Osten über Alexander, und so sind die Römer auch den anderen Völkern vorgekommen, als sie 318
OROSIUS 1) Noch einmal wird das pagane Argument der virtus alter Zeiten relativiert, wird also zunächst dem Dekadenzschema widersprochen. 2) Das Argument des virtus-Lobs müßten die Paganen sich auch für die Plünderung Alarichs entgegenhalten lassen. Der römische Standpunkt ist hier aufgegeben: der Sieg des einen sind die miseriae der andern.132 3) Der Vorwurf, damit den grundsätzlichen und selbstverständlichen Standpunkt als Römer, ja sogar als Angehöriger der Romania, aufgegeben zu haben (»isti hostes Romaniae sunt«), wird zurückgewiesen: Orosius knüpft hier in einem historischen Sprung zurück an die antiimperiale Tradition des »Widerstands gegen Rom«133 an. 4) Die letzte Gegenwehr des Romanhängers - Rom annektierte, aber zerstörte nicht - findet nur mehr die machiavellistische Antwort, daß die Geschichte vom Sieger geschrieben wird. 5) Endlich faßt Orosius gerade das ins Auge, was das Programm des Athaulf als undenkbar erscheinen lassen sollte: sollte Rom untergehen und dem steht nicht mehr die Gewißheit eines »Reichstheologen«, sondern nur mehr das Stoßgebet »m quo non permiserit deus!« entgegen134 -, würde eine neue Ordnung etabliert, würde eine neue historische Ära (in der die »saevissimi hostes« von jetzt sich zu »magni reges« wandeln) einsetzen. 6) Nach dem Dekadenzschema aber - Gesichtspunkt der virtutes
unbekannt und friedlich Lebende mit Krieg überzogene >Aber die Römer waren auf Annexionen aus; diese aber auf Vernichtung.< >Man muß eben zwischen dem Untergang des Feindes und der Sprachregelung durch den Sieger unterscheiden. Haben doch auch die Römer zunächst die mit Krieg überzogen, die sie später nach Recht und Ordnung verwalteten. So verwüsten jetzt auch diese feindlich ein Gebiet, das sie - Gott möge es nicht zulassen - nach ihren Gebräuchen zu ordnen bestrebt sein würden, wenn sie es fest erobert hätten. Für die Nachwelt würden sie dann als große Herrscher gelten, die wir jetzt als barbarische Feinde einschätzen.« Nenne man solche Vorfälle wie auch immer - große Taten oder Elend -: mit der alten Geschichte verglichen sind die zeitgenössischen Ereignisse jedenfalls geringer.« 132 So auch in 5,lf.: das Glück Roms ist das Unglück seiner Feinde, zu denen Orosius sich hier selbst, als Spanier, zählt (vgl. auch 5,23,16). Ahnlich differenziert wird zwischen Romani als Provinzialen und Romani ab Steuer-Besatzern (7,41,7); es haben durch die Barbareneinbrüche nur die Herrscher, und nicht zum Schlechteren hin, gewechselt. 133 Vgl. oben Anm. 10. 134 Die Vorstellung von Orosius als >Reichstheologen< hat die Forschung derart fixiert, daß über diesen Satz zweimal mit falscher Übersetzimg hinweggeglitten wurde (B. Lacroix [Anm. 98], S. 185; P. Courcelle [Anm. 38], S. 109); ebenso in der Interpretation E. Corsinis [Anm. 24], S. 189f.
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- ist die Geschichte, was auch bevorstehen mag, heruntergekommen; nur: die miseriae haben sich ebenfalls verringert. An keiner Stelle der Historiae wird so deutlich, daß Orosius den Prozeß der christiana tempora nur negativ zu formulieren imstande ist und daß diese Fortschrittsidee [102] einem nach wie vor das Denken und Formulieren bestimmenden Niedergangskonzept mühsam abgerungen wurde - als apologetische Ideologie. Als solche aber - und ebenso mit ihrem Arsenal historischer Deutungsformen - ist die von Orosius eröffnete Tradition noch keineswegs an ein Ende gekommen.
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»Wir leben in der Spätantike« Eine Zeiterfahrung und ihre Impulse für die Forschung I »Wir leben in der Spätantike«, kommentierte Alfred Andersch wenige Jahre vor seinem Tod eines seiner Theaterstücke,1 »in einem Zustand, der mit den Verhältnissen im 3. und 4. Jahrhundert (Zusammenbruch, allmähliche Dekadenz des römischen Imperiums, Aufkommen des Christentums) weitgehend parallel ist«. Weitgehend parallel nur - denn die Spätantike, in der wir »augenblicklich« lebten, sei endlos, weil ohne Aussicht auf einen Neubeginn durch Barbaren, hoffnungslos in ihrer Verderbnis. »Es gibt Tabus, die dürfen nie, nie gebrochen werden. Wenn sie gebrochen werden, ist es aus mit der Kultur.«2 »Nicht mehr nur die Götter verschwinden, wie zur Zeit des Constantius und Galerius, sondern der Mensch. Seine rasch fortschreitende Entartung, durch das Ferment einer maßlosen Zivilisation zur Reife gebracht, benötigt nur noch wenige Jahre der Barbarei, um ihn unter die Stufe eines Albino zu drücken.« Es bedarf wohl des Hinweises, daß diese letztere Diagnose der eigenen Zeit als einer gesteigerten Spätantike fast 150 Jahre vor Andersch niedergeschrieben wurde, entstanden aus dem Schock der Julirevolution von 1830, veröffentlicht 1832 von Nodier unter dem beklemmenden Titel De lafin prochaine de Vhumanite 3 - so fugenlos schließt sie sich dem heutigen Text an: Identität der Gegenwart mit der ausgehenden Antike, aber Identität als Steigerung. Die ausbleibenden Barbaren,4 die >Christen< der Erschienen als: Thyssen-Vorträge »Auseinandersetzungen mit der Antike*, hrsg. von Hellmut Flashar, Heft 4, Bamberg: C C Buchners Verlag 1987. 1 Text und Kritik 61/62, 1979, S. 93-95, zum Stück »Tapetenwechsel« (1978; in: ders., Neue Hörspiele, Zürich 1979, S. 73ff.). 2 »Tapetenwechsel«, S. 102. 3 Charles Nodier, (Euvres Bd. 5, Paris 1832, S. 326 (Übers, des Verf.). 4 Die eindringlichste Thematisierung dieses Aspekts, soweit ich sehe, bei dem neugriechischen Dichter Konstantinos Kavafis (1863-1933), nepuifrovros TOUS ßapßäpous (»Warten auf die Barbaren«, 1904), in: ders., Das Gesamtwerk. Griechisch und deutsch (...) von R. Elsie, Zürich 1997, S. 70-73.
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Gegenwart als ideologische Zwingherren eines kommenden, endlosen Mittelalters, der zivilisatorische Marasmus kultureller Verfeinerung und sittlicher Verkommenheit - sie überhöhen seit dem 19. Jahrhundert die Spätantike der eigenen Zeit zum anthropologischen Desaster, zum totalen Finale. Die Kette solcher Texte nun, die nahezu in gleichen, aber voneinander unabhängigen Formulierungen die Gegenwart in solcher Weise an dem messen, was wir wissenschaftlich erst seit kurzer Zeit als >Spätantike< bezeichnen, reicht weit zurück; sie reicht bis zu Chateaubriands Essai sur les revolutions anciennes et modernes (1796) und seinem Genie du Christianisme (1802). [4] Und schon beim ersten Auftreten entspringt diese Identifikation sichtbar dem Schock der eigenen Zeit, der eingestandenen Unmöglichkeit, das erschreckend Neue der eigenen Zeit anders als durch eine historische Vergewisserung, durch Projektion zu formulieren. »Könnte man etwa unter heutigen Bedingungen in den Vorstädten einer großen Hauptstadt der Kriminalität einer Masse vorbeugen, die unabhängig geworden ist, ohne eine Religion, die Pflicht und Tugend unter allen Lebensbedingungen predigt? Man zerstöre die Lehre des Evangeliums: dann braucht man in jedem Dorf Polizei, Gefängnisse und Henker. Wenn sich jemals, in einer unerhörten Wiederkehr, die Altäre der heidnischen Götter bei den modernen Völkern wiedererheben, wenn man in einer Gesellschaft, die die Sklaverei abgeschafft hat, Merkur den Dieb und Venus die Hure verehrte, dann wäre es um die Menschheit geschehen.«5 Von Anfang an eignet dieser Form der historischen Projektion ein hermeneutisch bemerkenswerter Zug: sie schildert ihre eigene Zeit als eine Spätantike, wie sie historisch nicht verlaufen ist und beschreibt so die eigene Zukunft;6 sie gewinnt also durch eine Form der historischen Korrektur, ja der historischen Fiktion futurischen Charakter. Nicht nur die Traditionstiefe dieser Zeiterfahrung ist beträchtlich, erstaunlicher noch ist die Dichte, in der sie gegenwärtig auftritt und dabei mit einer Vielfalt von Aktualisierungspunkten die so erfahrene Spätantike ausleuchtet: das Ende der Aufklärung, der griechischen Rationalität und der Beginn einer jahrhundertelangen Kultur des nackten Überlieferns un5 Franfois Rene de Chateaubriand, Le genie du Christianisme, in: ders., CEuvres (Ed. Garnier) Bd. 2, Paris 1861, S. 530 (Übers, des Verf.). 6 Daher haben die radikalsten kulturkritisch-prophetischen Texte des 19. Jh. an der Spätantike-Projektion teil; vgl. neben Nietzsche vor allem Baudelaires Fusies (»Le monde va finir ...«, in: ders., CEuvres comptetes [Biblioth£que de la Pleiade], Bd. 1, Paris 1975, S. 665). 322
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE
ter einem das Christentum steigernden Totalitarismus bei Arno Schmidt;7 die Schelte des modernen Intellektuellen und seiner Kultur als des Sophisten und Rhetors der ausgehenden Antike und seiner formalistisch gewordenen Allgemeinbildung, ferner die schrankenlose Wucherung der zentralisierten Hofbürokratie als definitives Ende der Moderne in Pascal Quignards Essay-Roman Apronenia Avitia? das fatale Fehlen der Barbaren, die uns noch besiegen und verwandeln könnten, bei Hartmut Lange, besonders in seinem Staschek oder der Tod des Ovid (1972);9 die Brandmarkung des frühen Christentums (als der einzigen, der großen Hoffnung) als eines Irrwegs zu einer Kirche, zur Verbindung mit Konstantin in einer Projektion auf den Wandel der europäischen Utopie (insbesondere der Idee [5] des Sozialismus) bei Hans Erich Nossack (Das Testament des Lucius Eurinus),10 aber auch bei Stefan Andres (Die Versuchung des Synesius)}1 Ausgewählte Stimmen dieser Art zeigen seit dem 19. Jahrhundert bis heute eine ausländische so gut wie eine deutsche, eine progressive wie konservative >Spätantike< - stets aber eine ausweglose, eine Spätantike als Finale. Es nimmt daher nicht wunder, daß gerade in den letzten Jahren wohlbekannte Stimmen dieses Unisono verstärkt haben: Bannerträger der sogenannten >Postmoderne<, insofern sie neben der spielerischen, manchmal zynischen Heiterkeit ihres neohistoristischen Zitierens noch zur Verdüsterung eines ebenfalls historistischen Katzenjammers fähig sind. Hinzu treten die Vordenker des philosophischen und soziologischen Neokonservatismus, zuerst in Amerika seit dem Beginn der 70er Jahre (Jürgen Habermas hat sie mit ihren deutschen Nachfolgern aus seiner Sicht kürzlich besprochen):12 die fehlende Legitimation von Herrschaft kann hier in einem Verschwinden von Zustimmungsbereitschaft und Vertrauen des spätantiken Menschen zu den ideellen und religiösen Werten seiner Zeit modellhaft erläutert werden (wir werden noch sehen, daß diese Spiegelung sich auf die Spätantike-Forschung selbst berufen kann); die Sterilität einer autonom gewordenen, weil vom Menschen, von der Gesellschaft 7 Die Projektion durchzieht das Gesamtwerk (vgl. Herzog, Glaucus adest. Antike-Identifizierungen im Werk Arno Schmidts - Bargfelder Bote 14, München 1975). Als Hauptstelle kann gelten »Zettels Traum«, Frankfun/M. 1970, S. 137f. 8 Les tablettes de buis d'Apronenia Avitia, Paris 1984. 9 Theaterstücke 1960-1972, Reinbek 1973, S. 307ff. 10 Frankfurt/M. 1965. 11 München 1971. 12 Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 30-59. 323
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abgekoppelten Ästhetik führt in dieser (unserer) Spätantike zum Fehlverhalten der Intellektuellen und zum drohenden Untergang der Moderne (Antike).13 Das Projektionsfeld des ausgehenden Altertums ist gerade außerhalb der Altertumswissenschaft gegenwärtig so verbreitet, daß Andersch in dem eingangs erwähnten Theaterstück einen »konservativen Professor« im »Kulturkreis unseres Bundesverbandes« über »spätantike Strukturen in der modernen Industriegesellschaft« reden läßt.14 Und in der Tat: auf dem Futurologen-Kongreß von 1975 über das Jahr 2000 hielt der französische Spätantike-Spezialist Henri-Irenee Marrou eines der Hauptreferate.15 Drohende Ausweglosigkeit, wenn sie in dieser Weise projiziert und umgekehrt als Historie den eigenen Problemen appliziert wird, kann, wie sich versteht, noch viel tiefere, trübere Formen von Zeitstimmungen aufrühren. So hat sich auch die jüngste Stimmung der Zeitenwende, das »New Age« (George Trevelyan und [6] Fritjof Capra), soweit die Bildungsvoraussetzungen noch zureichten, dieser Projektion bemächtigt. Vorausgegangen war N. A. Berdiajews Neues Mittelalter16 in den zwanziger Jahren, vorausgegangen war vor allem die Parallele der absterbenden >liberalistischen< Gesellschaft mit der Spätantike im Rahmen des präfaschistischen, eine anthropologische Wende postulierenden Irrationalismus.17 Wohl wäre eine Fülle von weiteren Namen und Gruppen, nicht aber wesentlich andere Aspekte der genannten Spätantike-Erfahrung hinzuzufügen. Aber wir sollten zunächst innehalten, um die Wasser dieser oft stereotypen Projektionen verrinnen zu lassen und uns zu vergewissern, mit was für einem Phänomen wir es hier zu tun haben, und inwiefern es überhaupt unsere Aufmerksamkeit beanspruchen kann. Zweifellos liegen hier Zeugnisse einer wilden, wissenschaftlich nicht gezügelten Selbstdeutung, auch Selbstbetäubung aus der Tradition des Historismus vor. Aber - so das erste Bedenken - handelt es sich dabei eigentlich um Auseinandersetzungen mit der Antike? Kann ihre Beachtung in irgendeiner Weise 13 Instruktive Übersicht bei M. van Uytfanghe, L'Antiquite tardive, le Haut Moyen Age et la seconde moitie du XXeme siecle, in: Didaaica classica Gandensia 19,1979, S. 139-182. 14 »Tapetenwechsel« [Anm. 1], S. 103. 15 Les terreurs de PAn 2000, Paris 1976, S. 13-19; vgl. H.-I. Marrou, Decadence romaine ou antiquite tardive, Paris 1977, S. 120. 16 Das neue Mittelalter (dt. Übers.), Berlin 1924 (21950). 17 Vgl. die Zusammenfassung dieser Gedankengänge in Gottfried Benns Essays zwischen 1932 und 1934. 324
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unsere Erkenntnis der alten Welt fördern - oder auch nur hemmen und beirren? Eben dies ist wirklich der Fall; wie ich im folgenden andeuten möchte, haben diese Projektionen eine bestimmte Geschichte, in der die Zeit zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert eine derartige Konsistenz erhält, einen so unverwechselbaren Imaginationsraum im Bewußtsein der Zeitgenossen gewinnt, daß um 1900 die ersten wissenschaftlichen Disziplinen mit einem neuen, aber schon fest umrissenen Epochenbegriff, »Spätantikes zu arbeiten beginnen. Ich möchte ferner zeigen, daß die Probleme und zeitgebundenen Orientierungsnöte, die seit der französischen Revolution jene wilden, korrigierenden und futurischen Projektionen hervortrieben, auch als wesentliche Forschungsantriebe der im 20. Jahrhundert mit der Spätantike befaßten Disziplinen fortwirken. Es bleibt eine zweite Vergewisserung nötig, einem zweiten Bedenken ist zu begegnen. Pessimistische Geschichtsprojektionen hat es immer gegeben. »Meiden Sie: apokalyptisch - das Tier aus dem Meer war immer da« (Gottfried Benn).18 Und diese Erscheinung knüpft historisch doch wohl nicht nur an die Spätantike an. Demgegenüber sollten wir, insofern wir uns als Erben der Aufklärung [7] wie des Historismus, als noch nicht aus der Moderne ausgewanderte Anhänger eines rationalen Diskurses verstehen, fragen, ob wir denn ernsthaft solche Identifikationen, wie sie in der Tradition seit Chateaubriand behauptet werden, teilen können. Unser nachhistoristisches Bewußtsein kann einen derart projizierenden Identifikationsgestus nur als wildes Denken begreifen: Wir leben doch nun einmal nicht in der Spätantike - müßte ein solcher Einwand, so trivial er ist, nicht ausgesprochen werden? Denn der Lärm jener wilden Projektion hat sich ja nicht zufällig in der letzten Zeit verstärkt. Die Gegenwart als aussichtslose Spätantike * eine solche Gegenwart der Antike gehört natürlich auch in die Debatten um das Ende der so vielfach totgesagten Moderne, um das so vielfach konsekrierte Scheitern der Aufklärung. Sollte man den Lärm dieser Debatte noch vermehren? - Aber: gerade wer die Dinge so beurteilt, kann Wichtiges erfahren, wenn er der Spätantike-Projektion und ihrer Geschichte nachgeht - einen Zusammenhang nämlich zwischen der Entstehung der Epoche >Spätantike< im Bewußtsein des frühen 19. Jahrhunderts und der Entstehung der sogenannten ästhetischen Moderne. Und es läßt sich ferner zeigen, daß der aussichtslose, finalistische Aspekt ursprünglich nicht der einzige in jener Erfahrung von Spätantike war. 18 Drei alte Männer, Wiesbaden 1949, S. 20. 325
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE Diese Thesen werden im folgenden expliziert: die Entstehung der neuen Epoche im Bewußtsein des 19. Jahrhunderts (II); die Besetzung eines neuen historischen Imaginationsraumes Spätantike - politisch und ästhetisch; die Wandlungen und das finalistische Umkippen der Spätantike-Projektionen seit 1848 (HI); der Übertritt eines vorwissenschaftlichen Bewußtseins von Spätantike in einzelne wissenschaftliche Disziplinen seit etwa 1900 und die Fortdauer der alten Projektionen in der Spätantike-Forschung bis auf unsere Zeit (IV).
n Ich komme zur ersten These. Was wir heute ziemlich selbstverständlich als Spätantike bezeichnen, eine Epoche eigenen Rechts und von eigenen Konturen zwischen dem 3. und dem 8. Jahrhundert (die Grenzen schwanken in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen), das hat es bis zum 19. Jahrhundert im europäischen [8] Bewußtsein nicht gegeben. Der Ausdruck selbst taucht zuerst in Jacob Burckhardts Zeit Constantins des Großen von 1853 auf; im Ausland wird er erst viel später nach deutschem Muster gebildet. Aber er bezeichnet bei Burckhardt nicht eine eigene Epoche, sondern einen Epocheneinschnitt, den Wechsel, den Übergang selbst von der Epoche Antike in die Epoche Mittelalter. Dieser Einschnitt allerdings, der Untergang der alten Welt, hat natürlich seit je, seit seinen Zeitgenossen selbst, das europäische Denken beschäftigt, hat nach Erklärungen suchen lassen - das Thema findet sich jetzt in Alexander Demandts ausladendem Kompendium dargestellt.19 Nichts deutet bis zum 18. Jahrhunden darauf hin, daß dieser Umschwung einmal als eine Jahrhunderte währende Zwischenzeit verstanden werden würde - er konnte eher seit den Humanisten als Negativpol, als Punkt Null der europäischen Geschichtsperiodisierung und ihres Dreischrittes von vorbildhafter Antike, verdüsterndem Mittelalter und erneut das Licht gewinnender neuer Zeit gelten. Man kann vielmehr sagen, daß die Etablierung einer solchen Zwischenzeit zum Ende der Antike geradezu blockiert schien, als die Orientierung an der Antike als Vorbild vollends mit dem Fortschrittsvertrauen der Aufklärung verschmolz - und man kann dies gut an der Geschichte der kulturellen, insbesondere literarischen Standortbestimmung gegenüber der Antike, der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes verfolgen.20 19 Der Fall Roms, München 1984. 326
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Eben die Diskussion der Quereile aber hat gegen 1780 - gerade zu der Zeit, als Gibbons monumentales Werk über den Fall des römischen Reiches das aufklärerische Urteil über das Ende der Antike erneut befestigte - eine Wandlung erfahren, die die Bedingungen für ein Bewußtsein von Spätantike als Epoche setzte.21 Kurz gesagt, die selbstverständliche Einheit von literarischem Klassizismus, politischem Republikanismus, wissenschaftlich begründetem Fortschrittsvertrauen und antikirchlicher Reserve - selbstverständlich war sie der Aufklärung, weil trotz aller Entdeckung des Mittelalters die Antike der Fluchtpunkt ihrer Teilbereiche blieb - zerbrach seit Rousseau. Denkbar schien es seit seinen beiden Discours, daß etwa moralischpolitische Dekadenz einen Uterarisch-wissenschaftlichen Fortschritt begleitete, daß also eine sich als fortschreitend [9] empfindende Zeit in Teilbereichen sich doch als dekadent zu deuten vermochte. Die Elemente jener aufklärerischen Einheit verselbständigten sich im erstarkenden geschichtlichen Denken; die Antike verblaßte oder wurde in einem partiellen, etwa ästhetischen Bereich, in einem Idealismus, aus der Geschichte enthoben. Am stärksten läßt sich diese Bewegung in der starken protestantischen Tradition Rousseaus in Deutschland und England erkennen. In Deutschland trat neben den antikeorientierten und geschichtsenthobenen, nach wie vor antichristlich gemeinten ästhetischen Neuhumanismus die Geschichtsphilosophie als Sachwalterin der Renaissancen und damit auch der Dekadenzen; sie war eben deshalb in der Lage, eine ästhetisch-antike Kernzone zu konservieren, weil sie das letzte Element der aufklärerischen Einheit, den politischen und wissenschaftlichen Fortschritt, so erfolgreich der Misere des Alltags und den Spezialisten überließ. Die eigene Zeit ästhetisch, politisch und geschichtsphilosophisch einheitlich zu deuten, durch Projektion in die Historie negativ zu deuten, war in 20 Vgl. H. R. Jauss, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes, in: M. Perrault, Parallele, hrsg. von H. R. Jauss, München 1964, S. 8-65; speziell zur Wertung der Spätantike: Herzog, Epochenerlebnis Revolution und Epochenbewußtsein Spätantike, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von R. Herzog und R. Koselleck (Poetik und Hermeneutik 12), München 1986, S. 212ff. 21 Zum folgenden vgl. die Untersuchungen von W. Kraus, Das historische Weltbild und die Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Lendemains 1.4, 1975/76, S. 24ff.; J. Starobinski, From the decline of erudition to the decline of nations, in: Daedalus 105, 1976, S. 189ff.; M. Fuhrmann, Die Querelle des Anciens et des Modernes, der Nationalismus und die deutsche Klassik, in: ders., Brechungen, Stuttgart 1982 (zuerst 1979), S. 129-150. 327
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE Deutschland erst wieder im Katzenjammer des wilhelminischen Reiches möglich. In England trat die Auflösung der alten Einheit fortschrittlichen Denkens erst um 1830 zutage, als gegenüber dem Bündnis von protestantischer Hochkirche, Klassizismus und deutscher Geschichtsphilosophie die katholische Wiedererweckung des Oxford movement um Kardinal Newman die sozialen und religiösen Probleme der eigenen Zeit in die späte Antike spiegelte.22 Weitaus abrupter vollzog sich diese Auflösung in Frankreich. Gleichsam ungeschützt, ohne eine Abkoppelung von Ästhetik, Politik und Geschichtsphilosophie war die Revolution und ihr Scheitern durchlebt worden, wurde die Gegenwart als globale Krise erfahren. So ist die Situation des Thermidor, nach dem Sturz Robpespierres, zur Geburtsstunde der Selbstdeutung als Krisen-Epoche Spätantike geworden. Stunde und Name lassen sich ausmachen: es ist das Jahr 1796; es ist der Emigrant Frangois Rene de Chateaubriand, der sich zu den Ideen Voltaires und Condorcets bekehrt hat, sie dann wieder verwirft und unter dem Schock seiner Orientierungslosigkeit den Essai sur les revolutions schrieb. Die Projektion der eigenen Krise in den Untergang der Antike wird hier erstmals von einer Reflexion über die Gegenwart als absolute [10] Zwischenzeit, ihr Aus-der-Zeit-Gefallensein eingeführt. Chateaubriand wandelt das alte Bild vom Zeitenfluß, der auf dem Weg von einer Epoche zur anderen überschritten werden muß (es war noch von Kant in den ProlegomenaP im Sinne der Aufklärung verwendet worden), ab: wir treiben im Fluß selbst, die Ufer der Vergangenheit und Zukunft entfernen sich immer mehr voneinander, die Ufer der feudalen Reaktion wie die Ufer der perfections imaginaires einer gescheiterten Aufklärung; wir leben in einem dunklen »Dazwischen«.24 Das Bild verrät die politische Desillusionierung als den Ursprung der Krisenerfahrung; aber sie wird im Werk Chateaubriands - anders als in Deutschland - die ganze Totale der aufklärerischen Gewißheit umgreifen:25 1) Dem ästhetischen Klassizismus wird nach dem ennui der Europaflucht das Experiment der Martyrs von 1809 - einer Zwischenform von Epos, Roman und Essay - entgegengesetzt: die erste literarisch in die Spät11 Vgl. hierzu D. J. DeLaura, Hebrew and Hellene in Victorian England, Austin 1969, S. 26-165. 23 1. Auflage (1783), S. 7. 24 CEuvres [Anm. 5], Bd. 1, S. 270. 25 Zum folgenden vgl. Herzog, Epochenerlebnis Revolution [Anm. 20], S. 223ff. 328
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE antike gespiegelte Fiktion seit dem Barock - nicht etwa eine >romantische< Dichtung; sie tritt lange vor der literarischen Auseinandersetzung von Klassizismus und Romantik in Frankreich auf. 2) Der geschichtlichen Fortschrittsidee und der Erfahrung ihres Scheiterns wird im Essai und bald darauf im Genie du Cbristianisme der Versuch entgegengesetzt, auf das antike Christentum als das tragende alteuropäische Fundament nach der Antike (und insofern >nach< einer Aufklärung, die sich auf die Antike beruft) zurückzugreifen. Solches Zurückgreifen aber geschieht in der eingangs gekennzeichneten Form der Projektion und Korrektur, der Frühform eines wilden (aktualisierenden) Historismus aus der Erfahrung der Krise. Die Spätantike wird aus der Erfahrung der Krise als Epoche der Krise konstituiert. Denn die >moderne Spätantike< ist wie noch heute, so bereits bei ihrem ersten Auftreten Beschwörung und Warnung - bei Chateaubriand Beschwörung als Versuch der Identifikation mit dem Urchristentum, Warnung als Zweifel, ob dieses Christentum nicht ebenso zu Ende gehe, wie die Aufklärung gescheitert sei. Das Schlußkapitel des Genie trägt die bezeichnende Überschrift »Wie wäre heute (!) der Zustand der Gesellschaft auf der Erde, wenn das Christentum nicht aufgetreten wäre?«26 Jetzt wird der [11] Sinn solcher Projektionen als fiktionaler Experimente mit dem Geschichtsverlauf deutlich: eine Erfahrung, die sich selbst als Krise, als absolute Zwischenzeit außerhalb jeder Epoche, Vergangenheit und Zukunft, begreift, spiegelt sich auf der Suche nach einem Maßstab in die größte historisch bekannte Katastrophe. Und hierbei leuchtet sie diese ferne historische Phase aus, weitet sie aus durch Spekulationen, Korrekturen, neue Fragestellungen. Mit diesem Vorgang stehen wir vor dem eigentlichen Ursprung unserer Vorstellung von Spätantike. Bei Chateaubriand sind bereits die entscheidenden Umwertungen vorgenommen, werden die Grenzmarken der künftigen Epoche abgesteckt: a) Aufwertung des Christentums, und zwar bereits als des Siegers in der Antike, Abwertung der antiken Rationalität und der antiken formalen, > rhetorischen < Kultur. - Wir erreichen so eine vordere Grenze der künftigen Epoche zwischen 150 und 300 n.Chr.; b) Aufwertung der Barbaren, aber nicht etwa im Sinne der nationalen Frühzeit romantischer Mittelalterbegeisterung, sondern als der Rezipienten des Christentums innerhalb eines römischen Reiches, dem sie sich 26 CEuvres [Anm. 5], Bd. 2, S. 526 (Übers, d. Verf.). 329
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zu assimilieren und das sie zu erhalten trachten - entsprechend dem aus der Völkerwanderung selbst beglaubigten Programm des Athaulf.27 Präziser: innerhalb des weströmischen Reichs; die Fronten der Ablehnung richten sich bei Chateaubriand sowohl gegen das fränkisch-germanische Reich des Frühmittelalters (ein denkbarer Gegensatz zu Rankes germanisch-romanischer Welt, deren nationale Zersplitterung Chateaubriand bereits als Ursache für einen allgemeinen europäischen Krieg der Zukunft sieht), wie gegen das byzantinische, bei ihm »despotisch« oder »caesarisch« genannte Reich Ostroms, das vom Islam nicht mehr sonderlich unterschieden wird. - Mit dieser Verschränkung von Frankenreich, Byzanz und Islam erreichen wir eine (auch in der modernen Forschung gängige) hintere Grenze der künftigen Epoche zu Beginn des 8. Jahrhunderts. Insgesamt ist die Spätantike, deren Begrenzungen hier sichtbar werden, bei Chateaubriand in der ganzen Intensität ihrer wiederholten Projektionen eine noch durchaus offene Epoche, eine noch keineswegs als ein Finale entworfene Selbstdeutung. Sie enthält [12] auch Elemente der Untergangsdeutung; aber die Verschränkung von Diagnose, Beschwörung, Warnung, ihre Funktion als historischer Formulierungsversuch für eine Gegenwart, in der Erfahrung und Erwanung erstmals inkongruent auseinandertreten, läßt sie als unabgeschlossen gegenwärtig. Eben dieser offene Sinn der neuen Epoche ermöglicht die ungeheuer dichte Entdeckung spätantiker Menschen, Ereignisse, Probleme in den folgenden Jahrzehnten, die, wie wir sehen werden, noch in der heutigen Forschimg nachwirken. Ich nenne hier sogleich Momente, welche der global aktualisierende Zugriff Chateaubriands noch nicht erfaßt oder umwertet: 1) die Differenzierung zwischen Urchristentum und ecclesia triumphans seit der konstantinischen Zeit; 2) die Frage nach der Identität der modernen Barbaren; 3) die Wertung der pagan geprägten und institutionalisierten Kultur in der Spätantike; 4) die problematischen administrativen und sozialen Strukturen des spätrömischen Reiches. Eben diese Momente werden Richtung und Sinn der Spätantike-Projektionen bis 1848 entscheiden.
27 Orosius, Historia adv. paganos 7,43,4. 330
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m Zwischen 1815 und 1848, im Frankreich der Restauration und Julimonarchie, wird die historische Selbstformulierung durch die Spätantike förmlich zu einem Diskurs, den jedermann spricht, mit dem man den politischen oder sozialen Gegner attackiert, der von der Kunstkritik über den politischen Leitartikel zum historischen Roman und zur Geschichtsschreibung (Guizots, Michelets und der Brüder Thierry) reicht. Seine Vielfalt harrt noch der detaillierten Darstellung28 - eine Vielfalt, die erst wirklich die Epoche als Einheit einer spiegelbildlichen Gegenwart bis heute im Bewußtsein befestigt. Ich nenne im folgenden nur die Haupttendenzen 29 und gebe zunächst Beispiele für die sich überlagernden Aktualisierungen aus dem politischen Kampf - Beispiele für das, was ich den wilden Historismus dieser Projektionen genannt habe. Nach der Revolution wurden die Spätantike-Projektionen erneut [13] durch die Niederlage Frankreichs 1814/1815 ausgelöst. Sie fügt den skeptischen Spekulationen Chateaubriands das Element der akuten Katastrophendrohung hinzu: Das Bild der in den Tuilerien kampierenden Alliierten hat bei Beranger, Quinet und anderen unabhängig voneinander wie ein Zünder gewirkt.30 Die Kosaken ersteigen hier unter der Führung des Alarich 410 vom römischen Marsfeld aus den Pariser Louvre - eine Vision, die den Merkmalen der futurischen Korrektur von Geschichte das weitere hermeneutische Kennzeichen des Anachronismus und der Überdetermination hinzufügt. Die außenpolitische Form der Spätantike-Projektion bleibt bis in die zwanziger Jahre erhalten, gerade bei den Anhängern einer konstitutionellen Monarchie und den gemäßigten Republikanern. So läßt sich in den politischen Traktaten und Vorlesungen Guizots von 1820 bis 183131 das ganze Geflecht der >gegenwärtigen< Spätantike er28 Verwiesen sei auf die Untersuchung des Verf., Politisch-soziale und ästhetische Deutungen der französischen Julimonarchie als Spätantike, in: Die Entstehung der Spätantike aus dem Bewußtsein des 19. Jh., hrsg. von R. Herzog und A. Stoli [nicht erschienen]. 29 Zum folgenden ist (unter dem begrenzten Aspekt des >Barbarenthemas<) das von P. Michel, Les Barbares 1789-1848, Lyon 1981 präsentierte Material zu vergleichen. 30 Vgl. P. J. de Beranger, Les Chansons. Bd. I 4: Les Gaulois et les Francs, Paris 1826; E. Quinet, L'histoire de mes idees, Paris 1858, S. 19. - Die gleiche Vision bei Lamartine, Memoires politiques (CEuvres comptetes, Paris 1860-1866, Bd. 37), S. 38. 31 Einzelnachweise und gute Gesamtanalyse bei Michel [Anm. 29], S. 131-143.
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kennen: 1814 sind die Sueben und Alanen in der Neujahrsnacht über den Rhein geflutet (eine genaue kalendarische Analogie des Jahres 406 zu Blüchers Rheinübergang bei Kaub), Barbaren, deren Haare nach Butter stinken, wie das schon den spätrömischen Poeten Sidonius bei den Westgoten geekelt hatte.32 Nötig ist ein (napoleonischer, später: liberaler) Kaiser Julian, mit dem man bei Straßburg (357 n.Chr.) erneut über Ariovist (58 v.Chr.) siegen muß, sonst droht der endgültige Einfall Attilas und das Ende des zivilisierten weströmischen Reiches; es wird dann nur mehr der Despotismus des Byzanz an der Neva und Donau (das metternichsche System der Heiligen Allianz) neben dem (preußischen) Frankenreich und einem (ultramontanen) Papsttum das neue, endgültige Mittelalter heraufführen. Ein Kaiser Julian Apostata ist nötig, nicht ein Konstantin, der sich (wie die Bourbonen der Restauration) der Kirche verschrieben hat. Diese bizarr anmutende Beziehungswut hat besonders seit 1830/31 bereits die französische Historiographie aufs stärkste beeinflußt; sie hat bereits bei Lacepede (1832) zu einer Frühform der sogenannten Pirenne-These in der Periodisierungsdiskussion des 20. Jahrhunderts geführt: erst Islam, Byzanz und Frankenreich schließen die Spätantike ab. Nach 1830/31, genauer: mit dem ersten großen Arbeiteraufstand von 1831 in Lyon, vervollständigt sich diese Realisierung der Spätantike im politischen Bewußtsein durch innenpolitische Bezugssysteme.33 [14] Es gibt keine äußeren Barbaren mehr - die Barbaren der gegenwärtigen Spätantike sind innere: die entstehende Industriearbeiterschaft. Das System St. Simons und seiner Anhänger projiziert hier noch präziser: die Proletarier sind die heutigen >Bagauden<, die gegen den Kapitalismus der römischen Aristokratie und ihrer feudalen Bürokratie rebellieren. Aber auch die vorkonstantinische Kirche wird von den Gegnern der Ultramontanen (Lamennais) wie vom linken, sozialen Katholizismus (Lacordaire, Montalembert und Ozanam) entdeckt. Das Urchristentum (der Sozialismus) muß zu den Barbaren (den Arbeitern) als der einzigen Hoffnung getragen werden. Das historische Argumentationspotential der Konstitutionellen und Liberalen (im Sinne Guizots) wird nun von Sozialisten und entschiedenen Republikanern im Sinne einer hoffnungsfrohen und revolutionären Spätantike umgedeutet und dabei noch verfeinert: Honorius (Louis Phi32 Vgl. Sidon. Apoll, carm. 12,7. - Dieser Topos des Ekels vor den Germanen taucht, so weit ich sehe, zuerst während der napoleonischen Kriege auf; vgl. £. Quinet [Anm. 30], S. 8f. (in der Rückschau). Er spielt in der antideutschen Publizistik der Kriege 1870/71 und 1914/18 eine Rolle; noch H. Langes »Staschek« [Anm. 9], S. 338f., kennt ihn. 33 Zum folgenden vgl. P. Michel [Anm. 29], S. 195-267. 332
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lippe) und sein Minister Stilicho (Thiers imd Guizot) treiben eine verfehlte Germanenpolitik, wenn sie die unteren Schichten als Föderaten zum liberalen Kapitalismus hin zu korrumpieren versuchen. Die Arbeiter, les fils d'Attila, werden siegen, sogar eine neue revolutionäre Kirche wird sich auf ihre Seite schlagen - Papst Leo wird hier sich den Hunnen nicht entgegenstellen, sondern an ihrer Spitze gegen Rom marschieren die progressive Spätantike bedient sich der Projektionsfigur der historischen Korrektur. Ich belasse es bei diesen Streiflichtern; sie dokumentieren hinreichend, wie die Spiegelung auf das ausgehende Altertum aus der Historie selbst, diese mit hoher Intensität rezipierend, neue Details zur Erfassung zeitgenössischer Strukturen und Probleme gewinnt. Wichtig ist der vorläufige Abschluß dieser Aktualisierungen im Jahre 1848. Die progressive Spätantike des Bündnisses zwischen Republikanern und Linkskatholiken geht 1848 in blutiger Enttäuschung unter. Denn mit solchen Slogans hatte dieses Bündnis auch in der Revolution gekämpft; denkwürdig ist das revolutionäre Manifest Ozanams vom Februar 1848 mit dem Titel Passons aux barbares - das merkwürdige Beispiel eines Barrikadenflugblatts, das sich mit einem ausführlichen Argumentationssystem zwischen 249 (decianische Verfolgung) und Karl dem Großen bewegt.34 Dies ist, soweit ich sehe, das letzte Beispiel einer progressiven Selbstdeutung als Spätantike. Schon im Juli 1848 ist [15] nach Renan35 eine solche Spiegelung nicht mehr möglich. Gewiß habe auch er mit der Revolution gehofft - wenn er auch nicht unfroh sei, daß die stinkenden Arbeiter die Kultur verschont hätten36 (hier wird nochmals der Topos von der Butter in den Haaren der Westgoten aufgenommen). Aber nun habe der Cäsarismus des Bas Empire (gemeint ist jetzt Napoleon HL) leider auf Dauer gegen die Barbaren gesiegt und begrabe Kultur und Fortschritt für immer - auch die finalistische Spätantike-Projektion also korrigiert die Geschichte. Diese Spätantike nicht mehr nur der Krise, sondern des absoluten Endes verstärkt sich im zweiten Kaiserreich. Wohl kann sie 1870 und 1914 noch einmal außenpolitisch gegen Deutschland mobilisiert werden. Aber im wesentlichen wird sie nur zu einer allgemein europäischen, den Natio34 F. Ozanam, in: Le Correspondant, 22.2.1848. 35 Brief vom 1.7.1848 an die Schwester Henriette (OEuvres completes, Paris 1947-1961, Bd. 9, S. 1085). 36 Fast gleichlautend der Argumentation Heines; vgl. z.B. »Ludwig Börne. Eine Denkschrift. 1840«, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Kaufmann, München 1964, Bd.ll,S. 134f. 333
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kennen: 1814 sind die Sueben und Alanen in der Neujahrsnacht über den Rhein geflutet (eine genaue kalendarische Analogie des Jahres 406 zu Blüchers Rheinübergang bei Kaub), Barbaren, deren Haare nach Butter stinken, wie das schon den spätrömischen Poeten Sidonius bei den Westgoten geekelt hatte.32 Nötig ist ein (napoleonischer, später: liberaler) Kaiser Julian, mit dem man bei Straßburg (357 n.Chr.) erneut über Ariovist (58 v.Chr.) siegen muß, sonst droht der endgültige Einfall Attilas und das Ende des zivilisierten weströmischen Reiches; es wird dann nur mehr der Despotismus des Byzanz an der Neva und Donau (das metternichsche System der Heiligen Allianz) neben dem (preußischen) Frankenreich und einem (ultramontanen) Papsttum das neue, endgültige Mittelalter heraufführen. Ein Kaiser Julian Apostata ist nötig, nicht ein Konstantin, der sich (wie die Bourbonen der Restauration) der Kirche verschrieben hat. Diese bizarr anmutende Beziehungswut hat besonders seit 1830/31 bereits die französische Historiographie aufs stärkste beeinflußt; sie hat bereits bei Lacepede (1832) zu einer Frühform der sogenannten Pirenne-These in der Periodisierungsdiskussion des 20. Jahrhunderts geführt: erst Islam, Byzanz und Frankenreich schließen die Spätantike ab. Nach 1830/31, genauer: mit dem ersten großen Arbeiteraufstand von 1831 in Lyon, vervollständigt sich diese Realisierung der Spätantike im politischen Bewußtsein durch innenpolitische Bezugssysteme.33 [14] Es gibt keine äußeren Barbaren mehr - die Barbaren der gegenwärtigen Spätantike sind innere: die entstehende Industriearbeiterschaft. Das System St. Simons und seiner Anhänger projiziert hier noch präziser: die Proletarier sind die heutigen >Bagauden<, die gegen den Kapitalismus der römischen Aristokratie und ihrer feudalen Bürokratie rebellieren. Aber auch die vorkonstantinische Kirche wird von den Gegnern der Ultramontanen (Lamennais) wie vom linken, sozialen Katholizismus (Lacordaire, Montalembert und Ozanam) entdeckt. Das Urchristentum (der Sozialismus) muß zu den Barbaren (den Arbeitern) als der einzigen Hoffnung getragen werden. Das historische Argumentationspotential der Konstitutionellen und Liberalen (im Sinne Guizots) wird nun von Soziahsten und entschiedenen Republikanern im Sinne einer hoffnungsfrohen und revolutionären Spätantike umgedeutet und dabei noch verfeinert: Honorius (Louis Phi32 Vgl. Sidon. Apoll, carm. 12,7. - Dieser Topos des Ekels vor den Germanen taucht, so weit ich sehe, zuerst während der napoleonischen Kriege auf; vgl. E. Quinet [Anm. 301 S. 8f. (in der Rückschau). Er spielt in der antideutschen Publizistik der Kriege 1870/71 und 1914/18 eine Rolle; noch H. Langes »Staschek« [Anm. 91 S. 338f., kennt ihn. 33 Zum folgenden vgl. P. Michel [Anm. 29], S. 195-267. 332
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE lippe) und sein Minister Stilicho (Thiers und Guizot) treiben eine verfehlte Germanenpolitik, wenn sie die unteren Schichten als Föderaten zum liberalen Kapitalismus hin zu korrumpieren versuchen. Die Arbeiter, lesfils d'Attilay werden siegen, sogar eine neue revolutionäre Kirche wird sich auf ihre Seite schlagen - Papst Leo wird hier sich den Hunnen nicht entgegenstellen, sondern an ihrer Spitze gegen Rom marschieren die progressive Spätantike bedient sich der Projektionsfigur der historischen Korrektur. Ich belasse es bei diesen Streiflichtern; sie dokumentieren hinreichend, wie die Spiegelung auf das ausgehende Altertum aus der Historie selbst, diese mit hoher Intensität rezipierend, neue Details zur Erfassung zeitgenössischer Strukturen und Probleme gewinnt. Wichtig ist der vorläufige Abschluß dieser Aktualisierungen im Jahre 1848. Die progressive Spätantike des Bündnisses zwischen Republikanern und Linkskatholiken geht 1848 in blutiger Enttäuschung unter. Denn mit solchen Slogans hatte dieses Bündnis auch in der Revolution gekämpft; denkwürdig ist das revolutionäre Manifest Ozanams vom Februar 1848 mit dem Titel Passons aux barbares - das merkwürdige Beispiel eines Barrikadenflugblatts, das sich mit einem ausführlichen Argumentationssystem zwischen 249 (decianische Verfolgung) und Karl dem Großen bewegt.34 Dies ist, soweit ich sehe, das letzte Beispiel einer progressiven Selbstdeutung als Spätantike. Schon im Juli 1848 ist [15] nach Renan35 eine solche Spiegelung nicht mehr möglich. Gewiß habe auch er mit der Revolution gehofft - wenn er auch nicht unfroh sei, daß die stinkenden Arbeiter die Kultur verschont hätten36 (hier wird nochmals der Topos von der Butter in den Haaren der Westgoten aufgenommen). Aber nun habe der Cäsarismus des Bas Empire (gemeint ist jetzt Napoleon IE.) leider auf Dauer gegen die Barbaren gesiegt und begrabe Kultur und Fortschritt für immer - auch die finalistische Spätantike-Projektion also korrigiert die Geschichte. Diese Spätantike nicht mehr nur der Krise, sondern des absoluten Endes verstärkt sich im zweiten Kaiserreich. Wohl kann sie 1870 und 1914 noch einmal außenpolitisch gegen Deutschland mobilisiert werden. Aber im wesentlichen wird sie nur zu einer allgemein europäischen, den Natio34 F. Ozanam, in: Le Correspondant, 22.2.1848. 35 Brief vom 1.7.1848 an die Schwester Henriette (CEuvres completes, Paris 1947-1961, Bd. 9, S. 1085). 36 Fast gleichlautend der Argumentation Heines; vgl. z.B. »Ludwig Börne. Eine Denkschrift. 1840«, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Kaufmann, München 1964, BcLll.S. 134f. 333
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE IV Und es ist diese Phase der reifen Decadence des Fin de siecle, es ist ihr Wendepunkt zur >Klassischen Modernes an dem die erste wissenschaftliche Disziplin mit einem Epochenbegriff >Spätantike< zu arbeiten beginnt: in Alois Riegls erstem Band der Spätrömischen Kunstindustrie von 1901. Wie bei den früheren Konstituierungen von Großepochen im historischen Bewußtsein Europas, bei Renaissance und Barock (Wölfflins Schrift hierzu war soeben erschienen),42 auch beim Mittelalter der Romantik, ist es die Kunstgeschichte, die Bahn bricht. Riegls Verwurzelung im Wiener Fin de siecle, auch seine Affinität zur Abstraktion, zu einer ausschließlich aus dem Material entwickelten Funktionalität sind bekannt;43 weniger bekannt ist es, daß sein Entwurf einer spätantiken Kunst-Epoche begleitet wurde von einem leidenschaftlichen Kampf für den Maler Gustav Klimt und gegen Klassizismus und spätromantische Historienmalerei, von einem Kampf, an dem der Patristiker Wilhelm von Hartel, der Publizist Karl Kraus und der Privatdozent Sigmund Freud - mit sehr unterschiedlichen Positionen - teilnahmen.44 Riegl hat in seinen Schriften von 1889 bis zur Monographie über die christliche Basilika (1903) die Einheit der Stilepoche Spätantike auf ein gegenüber der griechisch-römischen Kunst modernes, und zwar Christentum wie Antike umfassendes >Kunstwollen< zurückgeführt, dem er die breite Empirie seiner Beobachtungen zuordnete - zweifellos, wie bei den Theoretikern der Decadence, ein auf die Autonomie ästhetischer Prozesse gegründetes Konzept in der Tradition der Stil-Epochen Burckhardts und Wölfflins, jener Stil-Begriffe, die in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts trotz der Kritik Wilhelm Pinders und der Zuwendung zur Ikonographie seit Panofsky bis in die 60er Jahre (bei Bialostocki) zu fruchtbarer Auseinandersetzimg geführt haben.45 Das Riegische >Kunstwollen< selbst gehört bereits in eine Reihe mit Konzepten des direkten, verstehenden Zugriffs, mit denen die Geisteswissenschaft nach 1900 die historische Relativität zu überwinden trachtete - ähnlich der >inneren Form<, der >We42 H. Wölfflin, Renaissance und Barock, München 1888. 43 Nach W. Hofmann, Kunstwissenschaft, in: Bildende Kunst 2, Frankfun/M. 1960, S. 184ff. ertragreiche Gesamtwürdigung bei W. Sauerländer, Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siecle, in: Fin de siecle, hrsg. von R. Bauer, Frankfurt/M. 1977, S. 125ff. 44 Vgl. C. E. Schorske, Fin de siecle Vienna, London 1967, S. 208-279. 45 Das ist bereits von O. Pacht im Nachwort zur Neuauflage von Riegls Spätrömischer Kunstindustrie (Wien 1927), Darmstadt 1973, S. 406ff. gesehen worden. 336
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE sensschau< und vergleichbaren Ansätzen in der Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft bis 1930 - , Ansätzen, die einer zusammenfassenden Betrachtimg wen wären. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß diese wissenschaftliche [18] Etablierung der Epoche Spätantike durch ein bereits nachhistoristisches Konzept in der Kunstgeschichte sogleich erfolgreich gewesen ist und daß insbesondere die Antriebe für seine Entstehung bei Riegl (die moderne Einebnung von Gebrauchskimst und >Hoher Kunst<, die ästhetische Einebnung der Gegensätze zwischen Antike und Christentum, wie sie seit Couture und Flauben manifestien worden waren) in eine Fülle von Einzeluntersuchungen ausgemünzt wurden. Rasch hatte sich Riegls Konzept in der Architektur- und Skulpturgeschichte durchgesetzt (so schon mit den Arbeiten seines Schülers Rodenwaldt), nach anfänglichem Widerspruch auch in der sog. christlichen Archäologie und Kunstgeschichte (so schon bei L. von Sybel 1906, O. Wulff 1913 und M. Dvorak 1923).46 - Bis heute hat sich - hier kann wie bei den folgenden Disziplinen keine detaillierte Wissenschaftsgeschichte dargestellt werden - das bemerkenswerte Faktum ergeben, das auch für die folgenden Disziplinen festgehalten werden sollte: die wissenschaftliche Ausleuchtung im Detail läßt vielfach das Epochenkonzept Spätantike selbst obsolet, in seiner Selbstverständlichkeit uninteressant werden; in der Kunstgeschichte gilt es in seiner Einheitlichkeit mitsamt dem inhärenten Stilbegriff gar als überholt (so schon bei R. Kömstedt 1929,47 dann bei A. Grabar48 und E. Kitzinger);49 insbesondere durch die institutionellen Voraussetzungen der Forschung ist die einheitliche Sicht christlicher und traditioneller Formensprache gegenwärtig faktisch zerfallen (zuletzt wurde Riegls Konzept nachdrücklich verteidigt von A. Rumpf). 50 Die Geschichtswissenschaft, die eigentliche Verwalterin der Epochengrenzen und Periodisierungsfragen, hat in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Selbstvergewisserungen zum Thema Spätantike - ich nenne hier die beiden Arbeiten, die selbst Epoche gemacht haben: M. Geizers Programm 46 L. von Sybel, Christliche Antike, Marburg 1906; O. Wulff, Altchristliche und byzantinische Kunst, Berlin 1913-1918; M. Dvorak, Die Entstehung der christlichen Kunst, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 2,1923, S. 1-13. 47 Vormittelalterliche Malerei, Augsburg 1929. 48 Christian Iconography, Princeton 1968. 49 Byzantinische Kunst im Werden, Köln 1984 (zuerst engl.: The Art of Byzantium and the Medieval West, London 1976). 50 A. Rumpf, Stilphasen der spätantiken Kunst, Köln 1957. 337
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE von 192651 und K. Strohekers Rückblick von 1950S2 - die Pionierleistung Riegls und der Kunstgeschichte hervorgehoben. Aber selbstverständlich war gerade von ihr seit dem 19. Jahrhundert der Raum der neuen, für die Selbstdeutung so wichtig gewordenen Phase schon sehr intensiv ausgeleuchtet worden. In Frankreich ist, nach den z.T. bereits erwähnten Historikern der Julimonarchie, V. Duruys Werk53 zu nennen, in Deutschland [19] nach Burckhardts Konstantin-Buch die kürzlich wieder ans Licht gestellten Spätantike-Vorlesungen Mommsens;54 zur Zeit Riegls stellt O. Seecks monumentaler Untergang der antiken Welt55 trotz seines Titels bereits die Geschichte einer eigenen abgeschlossenen Epoche dar, und des MommsenSchülers L. M. Hartmann Geschichte Italiens im MA * umfaßt in ihrem ersten Teil just das, was dann erst bei Kornemann den Titel einer Geschichte der Spätantike erhalten wird. Hartmanns Darstellung kann nun als Beispiel dafür gelten, daß bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Spätantike noch keineswegs als ausweglos dargestellt wird; namentlich die deutsche Geschichtswissenschaft gewinnt zunächst jene Offenheit zurück, welche die Epoche zu Beginn des 19. Jahrhunderts auszeichnete. Alfred Heußens Bemerkung,57 um zu einer positiven Wertung der Spätantike zu gelangen, bedürfe es einer christozentrischen Optik; und wer die habe, wende sich eher dem Mittelalter zu, trifft also bereits für die Zeit um 1900 nicht zu (noch weniger für die heutige Arbeitsteilung zwischen Spät antike und Frühmittelalterforschung). Es erscheint aber notwendig, gegenüber der eigenen Wissenschaftsgeschichte der Historiker hervorzuheben, wie stark die gleichzeitig mit Riegl, aber unabhängig von ihm vorgelegten Arbeiten Max Webers die weitere Forschung - oft indirekt - bestimmt und vor allem die definitive Verdüsterung des Epochenbildes, gerade auch in der breiteren Öffentlich-
st Altertumswissenschaft und Spätantike, in: Historische Zeitschrift 135, 1927, S. 173ff. bzw. ders., Kleine Schriften Bd. 2, Wiesbaden 1963, S. 387ff. 52 Um die Grenze zwischen Antike und abendländischem Mittelalter; jetzt in: ders., Germanentum und Spätantike, Darmstadt 1965, S. 275ff. 53 Histoire des Romaines, Bd. 7, Paris 1885. 54 Theodor Mommsen, Römische Kaisergeschichte. Nach den Vorlesungsmitschriften von Sebastian und Paul Hensel hrsg. von B. und A. Demandt, München 1992. 55 Leipzig 1895ff. 56 Berlin 1897. 57 A. Heuß, Das spätantike römische Reich kein >Zwangsstaat, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37,1986, S. 603ff.
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keit, verstärkt haben. In seinen Spätantike-Studien von 1891 und 189658 hatte Weber im Übergang vom Sklavenstaat zum Kolonat eine langfristige Phase charakterisiert gefunden, in welcher der »geldwirtschaftliche politische Überbau«,59 samt arbeitsteiliger Gesellschaft, Polis und Bürokratie bis zu einem sehr einfachen Reduktionsstadium auf der Basis ruraler und feudalistischer Überschaubarkeit zurückgehe und dann absterbe eine seitdem bemerkenswert oft auf die Gegenwart applizierte Deutung der Spätantike als zu fortschrittlich. Bei Weber freilich wird dieser Prozeß während der Spätantike - fast noch mit Hegeischen Kategorien - als ein kulturell-humanitärer Fortschritt betrachtet; noch einmal ermöglicht die Rousseausche Partialisierung synchroner, aber gegenläufiger Fortschrittsbegriffe wie am Ende des 18. Jahrhunderts eine z.T. fortschrittsorientierte Interpretation von Dekadenz60 - sehr ähnlich hierin der sozialistisch-dogmatischen Interpretation, wie sie Friedrich Engels [20] 1884 im Ursprung der Familie vorgelegt hatte. Bei Engels tritt zum (geschichtsphilosophisch garantierten) Fortschritt, den die Reduktion antiker Hochzivilisation bedeutete, die Übernahme der uns bereits vertrauten Projektionsfigur vom >positiven Barbaren<. Mit dem »deutschen Barbaren« - so Engels - erreiche die letzte klassenlose Urkultur die Geschichte, die Hochzivilisation, so wie sich gegenwärtig die Hochzivilisation mit dem neuen Barbaren der Industriearbeiterschaft endgültig in die klassenlose Kultur verabschieden wird.61 Hier wird eine zyklisch-typologische Denkfigur greifbar, die sich hermeneutisch den >wilden< Aktualisierungen aus der Zeit der Julimonarchie anschließt. Hinzufügen möchte ich, daß auch die heutigen sozialistischen SpätantikeInterpretationen in der angelsächsischen Geschichtsschreibung (bei F. W. Walbank und, abgeschwächt, bei P. Anderson)62 die archaischen Züge direkter Aktualisierung - auch im Hinblick auf die Wertung des spätantiken Christentums - aufweisen. 58 Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Berlin 1891; Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896), nachgedruckt in: ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 4 1968, S. 1-26. 59 Die sozialen Gründe [Anm. 58], S. 23. 60 Ein »gewaltiger Gesundungsprozeß« vollzieht sich in der Spätantike (ebd. S. 25). 61 Vgl. F. Engels, Zur Urgeschichte der Deutschen, in: MEW 19, S. 425ff. 62 F. W. Walbank, The Decline of the Roman Empire in the West, London 1946 (1944 entstanden); P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus, Frankfurt/M. 31978 (Passages from Antiquity to Feudalism, London 1974). 339
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE Max Weber hat in den genannten frühen Arbeiten übrigens jede Aktualisierungstendenz, jedes >Lernen-Können< aus der Spätantike zurückgewiesen. Sehr anders dann in der vor allem einflußreich gewordenen, 1909 vorgelegten Erweiterung seiner Schrift Wirtschaft und Gesellschaft im Rom der Kaiserzeit,63 Ganz abweichend von seinen allgemeinen Thesen wird Bürokratie nun im späten Rom zur Fessel, die nicht etwa den gesamten zivilisatorischen Überbau einfach arretiert und zum Absterben bringt, sondern durch ihre gigantische Integrationsfähigkeit auch die einströmenden Barbaren erfaßt und erst durch eine allgemeine Katastrophe verödet werden kann - ein Schreckbild, eine Vorwegnahme der Gegenwart, wie Weber nun aktualisierend vermerkt,64 in welcher der Kapitalismus keinen ernsthaften Gegner als das Ende selbst mehr vor sich sieht. Die Diagnose Alfred Anderschs ist hier nicht mehr fern; und diese finalistische Spätantike hat gerade in der Orientierung der Forschung stetig nachgewirkt. 1926 schon kann nach M. Geizer der Historiker dieser Epoche vom bürokratischen Sozialismus faschistischer oder kommunistischer Prägung, wie er schreibt, nicht absehen;65 und M. Rostovtzeffs Lebenswerk, die Social and Economic History ofthe Roman Empire, ebenfalls von 1926, hat dann die Sklerose der noch liberalen, unbürokratisch-kapitalistischen Polis als Anfang vom Ende der Antike, als Anfang einer sehr modernen, dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts nahen [21] Spätantike interpretiert. Wenig bekannt ist, daß auch die Nationalökonomie im Zeichen der Depression von 1931 das Modell einer so interpretierten Spätantike auf ihre - unterschiedlichen - Lösungsvorschläge hin aktualisierte: am originellsten (und am ausführlichsten die Probleme der Spätantike einbeziehend) in der Kritik J. H. Haskells an Roosevelts New Deal:66 eine solche Politik habe schon im späten Rom zur Unproduktivität des tertiären Sektors (einschließlich Kirche und Heer) geführt und werde, wie man bereits (1939) in Europa sehe, im Totalitarismus neuer Diokletiane enden. Auch in der deutschen Geschichtswissenschaft ist - nach den bekannten Abgrenzungen der Spätantike als Epoche und nach der Erörterung ihrer Diskontinuitäten und Kontinuitäten in den Entwürfen von Dopsch, 63 Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 41968, S. 27-58. 64 Die Gegenwart wiederhole die ausgehende Kaiserzeit »nur auf technisch vollkommener Grundlage«, ebd. S. 57f. 65 Altertumswissenschaft und Spätantike [Anm. 51], S. 186. 66 The New Deal in Old Rome. How Government in the Ancient World tried to deal with Modern Problems, New York 1939. 340
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Aubin, Lot und Pirenne67 - gerade die Webersche Diagnose neben aller Detailforschung etwas, das nach wie vor zur Stellungnahme und Polemik reizt - so gegenwärtig in der Kontroverse um den >Zwangsstaat<-Charakter des späten Imperiums, wie sie zwischen Friedrich Vittinghoff und seinen Schülern und auf der anderen Seite Alfred Heuß geführt wird.68 Insgesamt aber erscheint in der Geschichtswissenschaft die Epoche seit langem etabliert; das Fazit Christian Meiers (1970) zur Periodisierungsdiskussion69 - die Einheit dieser Zwischen-Epoche stifte eine Kontinuität des Wandels - kann andeuten, wie facettenreich die Detailforschung von Seiten der Alt- und Frühmittelalterhistoriker inzwischen geworden ist. Verfolgt man Tendenzen und Äußerungen in den gegenwärtig besonders diskutierten Einzelfragen - etwa im Anschluß an R. Wenskus' Buch über die Germanen,70 in der Diskussion um die Kontinuität von der antiken zur mittelalterlichen Stadt,71 oder in der letzten Synthese zu Kultur und Alltagsleben in der Spätantike (P. Brown)72 -, so ist der Eindruck ähnlich wie in der Kunstgeschichte: das Epochenkonzept Spätantike als solches ist akzeptiert, steht aber nicht mehr im Vordergrund. Es bietet den Rahmen; aber es ist denkbar, daß dieser Rahmen eines Tages fortfällt. Die beiden großen Gesamtdarstellungen der spätantiken Geschichte von Alexander Demandt* und Jochen Martin,0 die in der nächsten Zeit erscheinen, werden nach meiner Kenntnis dieses Ergebnis bestätigen. [22] Es leuchtet ein, daß jene Disziplinen, die man im Hinblick auf die Spätantike normativ gebunden nennen kann - jene Disziplinen also, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit ihren Wertungen die Etablierung 67 Vgl. den Forschungsbericht bei Stroheker [Anm. 52], S. 275ff. 68 Letzte Meinungsäußerung (mit Dokumentation der Kontroverse) bei A. Heuß [Anm. 57]. 69 Kontinuität - Diskontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Kontinuität / Diskontinuität in den Geisteswissenschaften, hrsg. von H. Trümpy, Darmstadt 1973, S. 53ff.; hier: S. 94. 70 Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961. 71 Forschungslage u.a. bei L. Cracco-Ruggini, Changing Fortunes of Italian Cities from Late Antiquity to the Early Middle Ages, in: Rivista di Filologia e di Istruzione Classica 105, 1977, S. 448-475. 72 Die letzten Heiden, Berlin 1986 (zuerst engl.: The making of late antiquity, Cambridge/Mass. 1978). * A. Demandt, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian 284-565 n.Chr., München 1998. ° J. Martin, Spätantike und Völkerwanderung, München 1987. 341
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE einer Epoche zwischen Antike und Mittelalter blockierten, die Theologie also und die Klassische Philologie -, sich dem Epochenkonzept Spätantike nur zögernd öffneten. In gewisser Hinsicht ist ihnen auch die Rechtsgeschichte zuzuordnen. H. Coing hat in der Einführung zur vorliegenden Reihe der ThyssenVorträge bereits angedeutet, daß das römische Recht sich erst, als es seine Gültigkeit verlor, ausführlich seiner Geschichte zu widmen begann.73 Der traditionsgeschichtliche Klassizismus der älteren römischen Rechtsgeschichte deckte mit seiner Rückführung der Kodifikation Justinians auf die römische Jurisprudenz der frühen Kaiserzeit aber die Spätantike gerade zu; es bedurfte der Anstöße von Germanisten wie Brunner und Romanisten wie Mitteis - Zeitgenossen Riegls -, vor allem aber der Anstöße Levys und seiner Nachfolger seit 1928, um die rechtsgeschichtlich eigenständigen Züge der Spätantike zwischen dem Ende des klassischen Juristenrechts und den Germanenrechten zu erkennen.74 Es ist mithin vor allem die Entdeckung und Durchforschung des juristischen Vulgarismus gewesen, die den Anschluß an das Spätantike-Konzept der anderen Disziplinen fand: hier ist an F. Wieackers Untersuchung von 1955 zu erinnern.75 Und auch die Rechtsgeschichte zeigt die Spuren aktualisierender Spiegelungen: man vergleiche in dieser Hinsicht Wieackers Krise der antiken Weltlh und ihre Warnung vor einer Trübung wissenschaftlicher Erkenntnis durch solche Impulse mit seiner Schrift Recht und Gesellschaft der SpätantikeJ7 Katholische und protestantische Theologie verfügen bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Patristik - nach ihrer älteren Definition über eine historisch-literarische Hilfswissenschaft zur theologia positiva patrum - einer Disziplin, die nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb der katholischen Disziplinen nie einen unangefochtenen Rang besaß; sie hatte schon in der Zeit der Querelies des Anciens et des Modernes zu Differenzierungen zwischen einer Theologie der alten Kirche und der scholastischen Orthodoxie der Gegenwart gereizt.78 [23] Das Programm des Protestanten F. Nitzsch79 von 1865 für eine rein 73 Thyssen-Vorträge »Auseinandersetzungen mit der Antike«, hrsg. von H. Flashar, Heft 1, Bamberg 1985, S. 6. 74 Beste Einführung in diese Zusammenhänge: F. Wieacker, Vulgarismus und Klassizismus im Recht der Spätantike, Heidelberg 1955, S. 7-12. 75 Vgl.Anm.74. 76 Göttingen 1974, hier: S. 3f. und 29ff. 77 Stuttgart 1964. 342
WIR LEBEN IN DER SPÄTANTIKE historisch-literarische Patrologie schien die altkirchliche Literatur in die historischen Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts einzureihen. Doch erreichte eben jetzt - mit den Basler Vorlesungen F. Overbecks seit 1870, dann mit seiner Programmschrift über die Anfange der patristischen Literatur von 188280 (hinzuzunehmen ist die aus dem Nachlaß edierte Sammlung Christentum und Kultur)*1 - die uns bereits aus der Zeit vor 1848 vertraute und durchaus aktualisierende Unterscheidung zwischen Urchristentum und nachkonstantinischer Kirche die wissenschaftliche Theologie. Overbeck schied - und hierzu vornehmlich sollte sein neuer Begriff von Patristik als einer theologischen Zentraldisziplin dienen - das Urchristentum und seine zu untersuchende Formenwelt von der (abgelehnten) Großkirche des römischen Reiches. Diese Trennung bereitete auf der einen Seite die theologische Formgeschichte nach der Jahrhundertwende vor, forderte jedoch andererseits geradezu auf, der krass normativ abgewerteten Amtskirche nach Konstantin verstärkt historische Untersuchungen zu widmen. Das zeigt sich bereits in A. von Harnacks Wesen des Christentums (1901) - >Wesensschau< ist, wie erwähnt, ein ebenso antihistoristischer und geistesgeschichtlicher Anspruch wie das genau zeitgenössische >Kunstwollen< Riegls. Bereits bei Harnack wird die Verschränkung von Antike und Christentum als eigenständige complexio oppositorum gegenüber Overbeck aufgewertet - und hier lag der Verständigungspunkt mit dem Aufschwung der katholischen Patristik in Frankreich seit Alfred Loisy. Diesem Anstoß Harnacks entsprang ein noch heute unentbehrliches Instrument der Altertumswissenschaften, das griechische Kirchenväterkorpus und die philologisch hervorragende Reihe der Texte und Untersuchungen - um nur diese zu nennen. Den eigentlichen theologischen Verständnisraum für eine ausgedehnte Epoche Spätantike schuf jedoch erst Ernst Troeltsch in seiner Schrift Die alte Kirche.92 Sie aktualisiert ganz ähnlich wie der Zeitgenosse Max We78 Vgl. hierzu Herzog, Epochenerlebnis Revolution [Anm. 20]; zum folgenden vgl. M. Tetz, Altchristliche Literaturgeschichte - Patrologie, in: Theologische Rundschau N.F. 32, 1967, S. 1-42. 79 Geschichtliches und Methodologisches zur Patristik, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 10,1865, S. 37-63. 80 Über die Anfänge der patristischen Literatur, in: Historische Zeitschrift 12, 1882, S. 417-472 (nachgedruckt Darmstadt 1954). 81 Hrsg. von C. A. Bernoulli, Basel 1919 (nachgedruckt Darmstadt 1963). 82 In: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie - Ges. Schriften, Bd. 4, Tübingen 1925, S. 65-122 (zuerst erschienen 1916). 343
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ber - aber im positiven Sinne einer Wiederkehr der Spätantike, die erneut vor einer Integration des Urchristentums (Troeltschs »christlicher Grundidee«) in einen Humanismus (nunmehr den idealistischen der Goethezeit) stehe. Troeltsch setzt eine prästabilierte Harmonie zweier insgeheim einander [24] zugeordneter Ideenwelten,83 die zu ihrer wahren Steigerung des Austausches in einer langen fruchtbaren Spätzeit bedürfen, voraus; die Zwischenepoche Spätantike wird hier erstmals - aus einer Forderung an die eigene Zeit - als Konvergenzpunkt antiker Tendenzen interpretiert. An dieses Konzept konnte auch die katholische Patristik anknüpfen; es war das Konzept eines christlichen Humanismus, das hinter F. J. Dölgers Zeitschrift Antike und Christentum stand, die seit 1938 erschien. Ihm entsprang auch der Impuls für das grandiose Unternehmen, das seit 1941 die theologisch-philologische Spätantikeforschung vor allem repräsentiert: das Reallexikon für Antike und Christentum. Eben dieses Konzept aber erleichterte es der Klassischen Philologie, sich als letzte der Vorstellung von einer Epoche Spätantike zu nähern, die nicht lediglich als >Nachleben < aufgefaßt wurde und die man zuweilen betreten mochte wie einen Wintergarten der Überlieferungsgeschichte zwischen den strahlenden Sälen der Klassik und ihrer Renaissancen. Grenzüberschreitungen zur Spätantike hatte es von Seiten vorurteilsfreier Philologen seit je gegeben; gerade der Begründer des sog. dritten Humanismus, W. Jäger, hat sie nicht gescheut. Den abschließenden, auch die Wissenschaftsgeschichte der anderen Disziplinen reflektierenden Schritt aber fand die Philologie erst mit einem Vortrag M. Fuhrmanns von 1965,84 dessen Propagierung des Epochenrahmens Spätantike in der lateinischen Philologie sogleich durchdrang, weil er einfach das besiegelte, was man in einer großen Anzahl von Detailforschungen seit dem Krieg aus den Nachbardisziplinen als Anstoß aufgenommen hatte - nicht zuletzt im Ausland. Für die Umwertimg der Spätantike-Studien in der Philologie kann ihr Anfang in Frankreich als paradigmatisch gelten. Sie
83 EbdS.93ff. 84 Die lateinische Literatur der Spätantike. Ein Beitrag zum Kontinuitätsproblem, in: Antike und Abendland 13, 1967, S. 56ff. Es dürfte wissenschaftsgeschichtlich kein Einzelfall sein, daß Fuhrmanns Ausführungen, dem Inhalt nach eher eine Bilanz und ein Hinweb auf die Nachbardisziplinen, von programmatischem Impetus getragen erscheinen und auch so aufgefaßt wurden - mit nicht geringen Konsequenzen für die institutionelle Einbeziehung der Spätantikeforschung in die Klassische Philologie in den folgenden Jahren. 344
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bahnte sich dort mit dem Augustin-Buch des Patrologen H.-I. Marrou von 1938 an.85 Und auch hier weist die starke Fortwirkimg der Selbstdeutung als Projektion, ja der stark aktualisierende Wechsel solcher Projektionen auf die Anfangsphase des Konzepts in einer Disziplin hin. Denn Marrou hatte seine minutiöse und umfangreiche Studie dem Gesamtphänomen der christlich-paganen Mischkultur als einer typischen Spätphase rhetorisch-formaler Bildungstradition gewidmet - mit dem durchaus negativen Vorzeichen einer Hindeutimg [25] auf die Gegenwart. In einer kaum bekannten Rezension des Buches aus dem Jahre 1939,86 einer seiner letzten Arbeiten überhaupt, folgt übrigens W. Benjamin diesem Gemälde in seiner negativen Tendenz, ersichtlich aktualisierend87 eine vertraute Figur, diesmal bereits als Rückprojektion aus der Wissenschaft vollzogen. Marrou hat nun nach dem Krieg in der Neuauflage seines Werkes (1958) eine retractatio angefügt, die zu einer Palinodie gerät: Verteidigung eben dieser formalen Spätkultur auch für unsere Zeit, ihre Identifizierung mit der Literatur seit Mallarme. Ist hier die allgemeine Aufwertung der Klassischen Moderne nach 1945 greifbar, so liegt ebenso die Rezeption des Humanismus-Konzepts aus der Patristik und der theologischen Spätantikeforschung vor. In Frankreich haben diese Impulse besonders gewirkt; das zeigt das der Spätantike gewidmete Lebenswerk des Philologen J. Fontaine mit einer Fülle von Untersuchungen zur spätlateinischen Literatur, zuletzt mit der programmatischen Bilanz von 1980 Christentum ist auch Antike}* Es charakterisiert freilich die späte Zuwendung der Philologen, daß sie die entscheidenden Fragen zu Kontinuität und Diskontinuität, zur Wertung der Verschmelzung antiker und christlicher Ausdrucksformen, in den fünfziger Jahren von Nachbardisziplinen, besonders der Romanistik, übernahmen: von den beiden Antipoden E. R. Curtius und E. Auerbach. Die Vision einer die europäische Literatur bestimmenden Kontinuität über das Ende der paganen Antike hinaus bis in die Neuzeit (Curtius), andererseits die fruchtbare These, es gebe genuin christliche, insbesondere exegetisch-typologische Ausdrucksformen (Auerbach),89 erscheinen bis heute auch in der Altertumswissenschaft unvermittelt nebeneinander. 85 Saint Augustin et la fin de culture antique, Paris 1938. 86 Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von H. Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972, S. 587-589. 87 Ebd. S. 587: »Es zeigt sich, daß der Gegenstand fruchtbar werden kann.« 88 J. Fontaine, Christentum ist auch Antike, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 25, 1982, S. 5-19. 345
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Den Horizont dieser Kontroverse hat die gegenwärtig blühende philologische Spätantikeforschung noch nicht überwunden. Auch hier zeigt sich, daß der Epochenrahmen selbst nicht unbedingt Dauer gewinnen muß.
V Ich komme auf die eingangs gestellte Frage zurück: welches Phänomen bezeichnet die Selbstdeutung als Spätantike, deren Entfaltung [26] seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und deren Wirkung auf die Wissenschaftsgeschichte? Zweifellos sehen wir uns hier einer der großen europäischen Auseinandersetzungen mit der Antike gegenüber, aber wir gewahren eine Schatten-, eine Nachtseite gleichsam der vertrauten Aneignungen der Antike durch den Humanismus, die Klassik und auch durch die Aufklärung. Auch wer als Wissenschaftler durch seine Methode sich von der brutalen Identifikation mit Historie fernhält, wird sich doch nicht einfach mit dem Wort eines Frühmittelalterhistorikers von diesen Einblicken verabschieden können, daß klassische Zeiten sich klassischer Zeiten verstehend zu erinnern vermögen, unsere Zeit aber eine geheime, unterirdische Verwandtschaft zur Dekadenz der Antike besitze.90 Er müßte an der Deutung solcher Verwandtschaft interessiert sein. Denn selbst wer sich als Zeitgenosse von der Erfahrung seiner Welt als Spätantike nicht getroffen fühlt, wird bemerkt haben, wie die Wurzeln der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Aufklärung, um Moderne, um eine Bildung an der Antike dieses Phänomen berühren. Auch er wird eine Deutung dieses Sachverhalts fordern. Leicht zu deuten ist wohl die letzte Phase: eine wissenschaftsgeschichtlich recht einheitliche und tatsächlich interdisziplinäre Formation von reichem Ertrag tritt vor Augen. In ihren Hauptfragen wurde sie von den vorwissenschaftlichen Impulsen des 19. Jahrhunderts bestimmt und zum Teil bis heute getragen. Doch ist sie so autonom geworden, daß Kurzschlüsse zu den Zeitstimmungen kaum mehr eintreten. 89 In der Konsequenz dieser These wird wieder ein »neues« Mittelalter der christlich-allegorischen Ästhetik einer sterbenden, rhetorisch geprägten Antike in einem scharf diskontinuierlichen Schnitt konfrontiert - und damit die Zwischenzeit Spätantike ausgeblendet: so H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I, München 1977. 90 F. Prinz, Adel und Christentum im >Schmelztiegel< des Merowingerreiches, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 103, 1967, S. 1. 346
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Schwieriger ist die Deutung eben jener plötzlich aufflammenden, sehr schnell die ganze Breite der künftigen Epoche Spätantike ausleuchtenden Projektionen des 19. Jahrhunderts, die der Wissenschaftsgeschichte vorhergehen. Ich habe sie als Teil und Leistung des europäischen Historismus interpretiert, habe in ihnen die frühen, noch den typologischen und zyklischen Identifikationen nahen Denkfiguren eines wilden Historismus nachzuweisen versucht. In der Tat, so kann ein Fazit lauten, ist die Eroberung der Spätantike die letzte große Epochenkonstitution, die letzte große historische Aneignung der Antike gewesen. Wichtiger aber ist die Gesamtdeutung des Phänomens. Seine Entstehung [27] wird möglich aus einer Trennung, einer Partialisierung des einheitlichen, aufklärerischen Diskurses von Politik, Ästhetik, Fortschrittsvertrauen und antiker Norm. Wird diese Deutung akzeptiert, so muß die Erklärung des Phänomens nicht im allgemeinen bleiben: es sind ganz bestimmte Momente politischer und ästhetischer Sonderentwicklung, Erfahrungen innerhalb der Krise und des Scheiterns von Aufklärung zwischen 1796 und 1848. An der Entwicklung und am Umkippen des positiven Spätantikebildes wird ablesbar, wie das ungebrochene Vertrauen zu den alteuropäischen Beständen vor der Aufklärung - zur paganen Antike und zum Christentum - aufgezehrt wurde. Ist man gewillt, sich so weit auf diese Deutung einzulassen, kann am Ende die Beschäftigung mit diesem Gegenstand eine Klärung in der gegenwärtigen Diskussion um die Moderne, ihr mögliches Ende, die sogenannte Postmoderne und ihr Verhältnis zur Aufklärung beisteuern. Denn es hat sich gezeigt: Aufklärung und jene ästhetische Moderne, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert gerade in spätantiken Kontexten ausformt, sind keineswegs identisch oder auch nur miteinander verrechenbar. Wer etwa das sogenannte >Projekt Moderne< gegen die Verabschiedung von der Vernunft verteidigt - ein Beweis, wie stark die finalistischen Strömungen inzwischen gestiegen sind -, und wer in dieser Defensive das >Projekt Moderne< mit der Aufklärung verbindet, um sie gegen eine Postmoderne zu verteidigen, der sollte bedenken, ob der spielerisch zitierende Umgang der Gegenwart mit Geschichte nicht immer noch dem frühen, in seinen Denkformen noch immer mächtigen Historismus angehört, dessen Ströme, mit Chateaubriand zu sprechen, zwar noch geschichtsenthobene Inseln, wie etwa der Kunstmoderne, bestehenlassen, aber nur um den Preis der Ausgrenzung, der Partialisierung. Dann wird erkennbar, daß die eigentlichen Fronten zwischen Aufklärung und Historismus liegen, noch ebenso wie zur Zeit, in der man sich als Spätantike zu erfahren lernte.
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Wenn der Philologe zum Abschluß auf die Disziplin blickt, die er selbst betreibt, so kann die Befassung mit dem Epochenfall Spätantike zeigen, daß eine solche Diagnose auch für ihn gilt. Der Versuchung eines antimodernistischen Rückgriffs auf eine Antike, auch eine christliche Antike als Erbe eines voraufklärerischen [28] Europa,91 entspricht der traditionellen Auswanderung auf die humanistische Insel eines geschichtsenthobenen Klassikbegriffs. Und es bleibt die Anknüpfung an die Antike der Aufklärung. Unzweifelhaft aber wird das Bild der Spätantike diese Entscheidung eines jeden von uns spiegeln. Das aber hat bereits ein Zeitgenosse der hier beredeten Epoche, Augustin,92 nicht anders gesehen: »nos sumus tempora.«
91 Einer Versuchung, der gerade die rezeptionsästhetische Sicht auf die Antike ausgesetzt ist. 92 Sermo 80,8. 348
Vom Aufhören Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende
I Kants Schrift Das Ende aller Dinge und das Problem der Dauer im Ende »Kant, au/brausend: Sagen Sie nicht das Wort Ende.« Thomas Bernhard, Immanuel Kant »Ein Ende aller Zeit, bei ununterbrochener Fortdauer des Menschen, diese Dauer aber doch als eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe. (...) Dieser Gedanke hat etwas Grausendes an sich.« So eröffnet Kant die Abhandlung Das Ende aller Dinge.1 Sie erschien im Juni 1794 und war der unmittelbare Anlaß 2 für den scharfen Verweis der preußischen Regierung an den Philosophen (1.10.1794), nachdem mit der Ära Woellner / Hermes (1788) die Gegenaufklärung um sich gegriffen hatte und besonders Kants Religionsphilosophie seit 1791 mit schärfstem Mißtrauen [284] beobachtet wurde.3 In diesem Kontext, ja geradezu als politisch-theologische Aus: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierte und Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik 16), München: Wilhelm Fink Verlag 1996, S. 283-329. 1 Im folgenden zitiert nach I. Kant, Werke, hrsg. von E. Cassirer u.a., 11 Bde., Berlin 1912-1923, Bd. 6, S. 411-424; das Zitat: S. 411. 2 Zur historischen Bedeutung der preußischen Gegenaufklärung vgl. F. Valjavec, Das Woellnersche Religionsedikt, in: Historisches Jahrbuch 72, 1953, S. lff.; zum geistesgeschichtlichen Kontext und den Spätfolgen: O. Reboul, Kant et le Probleme du mal, Montreal 1971, S. 222ff., und W. A. Galston, Kant and the problem of history, Chicago 1975, S. 194ff.; zur Situation Kants in dieser Krise: E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, in: I. Kant, Werke Bd. 11, S. 385ff. 3 Kant war sich des Risikos bewußt; vgl. den Brief an Biester vom 18.5.1794: »Ich eile, Ihnen die versprochene Abhandlung zu überschicken, ehe noch das Ende Ihrer und meiner Schriftstellern eintritt.«
VOM AUFHÖREN Kampfschrift, ist die Abhandlung bis heute gesehen worden - sofern sie (»im Barockstil des kantischen Alters verfaßt«)4 überhaupt Beachtung fand.5 - Wie sich zeigen wird, geht sie weit über diesen Anlaß hinaus. Kant führt die »grausende« Vorstellung von der menschlichen Dauer im allgemeinen Ende in so eindringlicher Weise vor ihre Konsequenzen, daß eine Nachzeichnung lohnt. Kant geht vom Faktum des einzelnen »sterbenden Menschen« aus - das einzige Mal in seinem Werk -, aber nur, um es zu deuten. Der Sterbende »geht aus der Zeit«. Er verläßt also die räumlich-zeitliche Sphäre der Phaenomena; seine weitere Existenz ist damit - garantiert durch sein Wesen als freiheitliches Noumenon - von unzeitlicher >Dauer< (Kant: »duratio Noumenon«). Da diese unzeitliche Dauer sich der Vorstellungskraft als »bloß negativer Begriff« entzieht, führt sie - daher das Grausende - »an den Rand des Abgrunds«. Und doch gebe es eine Vorstellung von solcher Dauer zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Folge man dieser Idee, so stoße man letztlich auf die Vorstellung von einem »Ende aller Dinge als Zeitwesen und Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer« sei - nämlich der noumenalen Wesen als »übersinnlicher«. - Warum deren Fortdauer letztlich auf das Ende aller Dinge führt, wird noch nicht expliziert. Man wird in dieser Einführung eines Endes aller Dinge gewiß zunächst einen Abschluß der kantischen Religionsphilosophie und ihrer bekanntlich6 zunehmenden Öffnung gegenüber - besser: kritischen Rekonstruktion von - christlichen Theologoumena erkennen. Die noumenale >Dauer< stellt insofern das kantische Kapitel in der »fehlenden Geschichte der Unsterblichkeit« (H. Blumenberg) dar; Das Ende aller Dinge rekonstruiert eine kritisch-transzendentale Eschatologie.7 So gelesen, führt die - durchaus aporetisch gehaltene - Schrift in konzentrierter Form vor eine Reihe von Schwierigkeiten, die als exemplarisch gelten können: 4 E. Cassirer, in: I. Kant, Werke Bd. 11, S. 420. 5 Meines Wissens gibt es nur eine Spezialuntersuchung: W. P. Pomerleau, Kant's theory of human culture as the meaning of history, in: Logos 4, 1983, S. 25-38. 6 Vgl. B. Jansen, Die Religionsphilosophie Kants, Berlin 1929. 7 Systematisch kann dieser Vorgang sowohl als Vermittlung der praktischen Philosophie mit den seit Mitte der achtziger Jahre auftretenden Entwürfen zur Weltgeschichte aufgefaßt werden (hierzu sogleich) wie auch als Erweiterung der Zeitanalyse der ersten Kritik (in deren Antinomien der Anfang der Zeit, nicht ihr Ende erörtert wurde). 350
VOM AUFHÖREN 1) Das Ende aller Dinge, wenn es nämlich als Postulat einer praktischen Transzendentalphilosophie der Freiheit eine >Dauer< nach sich zieht, wird von [285] Kant als die theologische Vorstellung des Jüngsten Gerichts rekonstruiert.8 Eine solche Vorstellung kann für Kant natürlich nur eine regulative Idee der praktischen Vernunft, »Urteil unseres eigenen Gewissens« sein. So gedacht, zeigt sie dem Menschen »keine andere Aussicht, als die ihm sein eigenes Gewissen am Ende des Lebens eröffnet«. Handelt es sich bei diesem Ende also um eine reine Bilanz? Das ließe die kantische Moralphilosophie erwarten, nicht aber die rezipierte Eschatologie: nach ihr wäre es »weise, so zu handeln, als ob der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige (Leben) endigen, samt seinen Folgen unabänderlich sei«. Die >Folgen< nämlich bezeichnen über eine Bilanz hinaus die judiziale Situation des Jüngsten Gerichts, das von außen hereinbricht; der bilanzierte Zustand am Ende des Lebens wird der jeweils unabänderliche, der nun Dauer gewinnt. Dieser Widerspruch zwischen Transzendentalphilosophie und Apokalypse aber führt geradewegs zu einer scharfen Neuformulierung des Theodizeeproblems. Jede Vorstellung eines Jüngsten Gerichts ist nach Kant transindividuell, führt in ein »dualistisches System«,9 das die gesamte Menschheitsgeschichte beherrscht, damit aber vor jenes Problem des Bösen, das die praktische Philosophie Kants (d.h. seine Philosophie vor der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und den Herder-Rezensionen von 1784/85) zum Verschwinden gebracht hatte. Wozu, so heißt es nun wieder, war »auch nur ein einziger geschaffen, wenn er nur da sein sollte, um ewig verworfen zu werden? welches doch ärger ist als gar nicht sein«.10 2) »Warum erwarten die Menschen aber überhaupt ein Ende der Welt?« Die ungelöste Theodizee veranlaßt Kant, den zu Beginn der Schrift ohne weiteres auf das Ende aller Dinge ausgedehnten Gedanken vom Ende der Zeit, die Repristinierung der Eschatologie also, in den Vordergrund zu stellen - mit der geschichtsphilosophischen Frage, welchen Sinn die »Dauer der Welt« habe. Die Antwort ist, obwohl sie deskriptiv verfährt, 8 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 412f.; auch hier gilt die Beobachtung, daß die Gerichtshermeneutik der Geschichtsphilosophie stets immanent bleibt: vgl. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1982, S. 18. 9 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 413. 10 Zu allgemein also die »Pausen«-Formulierung Marquards [Anm. 8], S. 58, das Theodizeeproblem sei im >Hochidealismus< (bis 1804) verschwunden. Es wird seit 1784 immer wieder formuliert. Zur Wiederkehr des Problems innerhalb der Ideologie der Kritik der Urteilskraft ($$ 83ff.) vgl. W. A. Galston [Anm. 2], S. 22f. 351
VOM AUFHÖREN
skeptisch: eine »Dauer« ist nur insofern von Wert, »als die vernünftigen Wesen in ihr dem Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint«. An diesem Punkt tritt nun das Geschichtsdenken in die Ästhetik über, und zwar charakteristischerweise nicht im versöhnenden Sinn der späteren idealistischen Ästhetik als Krönung (oder Ausgleich) geschichtsphilosophischer Verläufe und Spannungen, wie sie auch die Interpretation der Kritik [286] der Urteilskraft nachhaltig beeinflußt hat.11 Eine zwecklose Schöpfung und Geschichte hat, so Kant nunmehr, keinen Anfang und kein Ende im ästhetischen Sinne: sie ist »wie ein Schauspiel, das keinen Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen gibt!« Damit ist eine merkwürdige Umkehr des ästhetischen Arguments gegenüber seinem üblichen Gebrauch in der Geschichtsphilosophie erreicht. Eine durch Vorsehung geordnete Natur- und Menschheitsgeschichte wird, so hatte der frühe Kant in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels formuliert, nach ihrem abgeschlossenen Zweck vom Menschen mit »Wohlgefallen« aufgenommen.12 Auch im 8. Satz der Ideen beglaubigte das ästhetische Urteil die geschichtliche Gesamtteleologie.13 Seit den Herder-Rezensionen (1784/85) hat jedoch die zunehmende geschichtsphilosophische Skepsis Kants die Ästhetik gerade nicht mehr zur Formulierung des Geschichtssinns instrumentalisiert; die Verbindung von Ästhetik und Teleologie in der Kritik der Urteilskraft, die geradewegs dieser Tendenz zu folgen scheint (und auch von Hegel so gedeutet wurde), will keinen Geschichtssinn etablieren.14 11 Ich darf auf die in der Gruppe >Poetik und Hermeneutik< mit D. Henrich geführten Diskussionen sowie die Ausführungen zur kantischen Ästhetik bei R. Warning, Zur Hermeneutik des Klassischen, in: Über das Klassische, hrsg. von R. Bockholdt, Frankfun/M. 1987, S. 77-100, hier: S. 88ff., verweisen; die Unterschiede der kantischen Philosophie zu einer bis Hegel sich vollendenden Platzhalterrolle der Ästhetik gegenüber der Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie werden hervorgehoben von A. Schmitt, Klassische und platonische Schönheit, in: Klassik im Vergleich, hrsg. von W. Voßkamp, Stuttgan 1993, S. 403-428. Wertvoll unter diesem Aspekt der Forschungsbericht von A. C. Genova, Aesthetic justification, in: Proceedings of the Sixth International Kant Congress, hrsg. von G. Funke und Th. M. Seebohm, Washington 1989, Bd. 2.2, S. 293-309. 12 I. Kant, Werke Bd. 1, S. 321. 13 Vgl. ebd. Bd. 4, S. 161ff. Vgl. A. Philonenko, La theorie Kantienne de Thistoire, Paris 1986, S. 112ff. 14 Sie dient vielmehr - neben dem genuinen Interesse an der Ästhetik - in der Einleitung und im 2. Teil sowohl einer Abrundung des gesamten kritischen Systems der >Vermögen< (Urteilskraft als »Verbindungsmittel«) sowie der Frage, wie 352
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Das Schauspiel-Argument im Ende aller Dinge quittiert und verstärkt also das mit der Rezeption der Eschatologie sich ankündigende Ungenügen an der Theodizee. Eine Weltgeschichte, die keinen Zweck für den Menschen erkennen läßt, ist nicht nur ungerecht, sondern unschön; sie zwingt ihn (als moralisches Wesen) zur Vorstellung des Weltendes. 3) Woher rührt die Skepsis Kants gegenüber dem >Zweck< der Welt und ihrer Geschichte? Kants bekannte frühere Position, der als unendlich gedachte Fortschritt der Gattung Mensch, wird im Ende aller Dinge nur noch in Bruchstücken, umgedeuteten Bruchstücken, erkennbar. Diese frühere Position enthielt die in der Natur (Kosmologie) begründete Fortschrittszuversicht seit der Himmelstheorie (1755):15 die »successive Vollendimg der Schöpfung«,16 die auch chaotische Einbrüche, ja die räumliche Wanderung [287] des Menschengeschlechts zu anderen Teilen des Universums in Betracht zieht.17 Die >Eschatologie< dieser Schrift18 ist deistisch, vor allem transindividuell; eine Geschichtsidee kann in ihr keinen Platz finden. Diese Position behauptete aber auch den geschichtlichen Fortschritt zum (republikanischen) Weltregiment, wie er noch in der Friedensschrift seinen Ausdruck findet. Die Ideen verzichten zwar auf eine »planmäßige Geschichte«, auf eine Deutung der Kontingenz, binden jedoch (im 8. Satz) die Geschichtssinn stiftende Providenz an den Fortschritt, an die Erreichung der »vollkommenen Staatsverfassung«. Man kann - wenn man bei Kant überhaupt bereits von Geschichtsphilosophie reden möchte - diese »geschichtsphilosophische Aufklärung« als ein Positiv zum späteren Negativ einer finalistischen Geschichtsphilosophie und ihres bis ins 20. Jahrhundert währenden Katzenjammers bezeichnen.19 Jedenfalls weist sie die christliche Eschatologie ab.20 Naturerkenntnis möglich ist. Insofern wäre die Bemerkung O. Marquards [Anm. 8], S. 62, in der Kritik der Urteilskraft komme die Natur der Geschichtsphilosophie zu Hilfe, einzuschränken. 15 In der charakteristischerweise statt der Vorstellung vom Ende der Zeit die im Ende aller Dinge ausdrücklich abgelehnte Idee von der Ewigkeit der Zeit herrscht. 16 I. Kant, Werke Bd. 1, S. 315. 17 Vgl. ebd. S. 319. 18 Vgl. ebd. S. 324f. 19 Vgl. R. Piepmeier, Theoreme vom Ende der Geschichte, in: Normen und Geschichte, hrsg. von W. Oelmüller, Paderborn 1979, S. 91ff. 20 Wo diese Position im Ende aller Dinge noch zitiert wird (Werke Bd. 6, S. 416f.), hat sie immerhin die Kraft, die apokalyptischen Bilder umzudeuten: das Ende aller Dinge müßte, wenn es als Beschluß einer Fortschrittsgeschichte gedacht würde, als Himmelfahn des Elias vergegenwärtigt werden. 353
VOM AUFHÖREN Solches Fortschrittsvertrauen aber erscheint im Ende aller Dinge geschleift und abgetragen. Dies zunächst in einer Abkopplung der Providenz von der Kontingenz. Der Widersinn der Geschichte, ihre Rückschläge,21 ja »die Last ihrer Existenz« muß die Menschen veranlassen, den Geschichtssinn der Providenz nur mehr als »Conkurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art« zu glauben.22 Konkret zeigt sich der Widersinn der Fortschrittsbehauptung in der Rousseauschen Diagnose: Moralität und Fortschritt in den anderen Feldern (auch dem politischen) treten auseinander.23 Schließlich aber wird das entscheidende Kriterium einer Negativbilanz genannt: das Individuum »hier im Leben«, und zwar der einzelne Mensch zu einem beliebigen Zeitpunkt in der unendlichen Fortschrittsgeschichte. »Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln« - der Endzweck wird von keinem Individuum erreicht.24 Man kann diese Skepsis durchaus bereits in Kants praktischer Philosophie, in der Moralität der Freiheit, angelegt finden.25 Diese fordert individuelle Akte und [288] Zwecke; ihr steht die Hermeneutik eines (Gewissens-)Gerichts nahe;26 sie öffnet sich einer Phänomenologie des Widersinns, auch des Todes (an den das Ende aller Dinge ja seine Erörterungen anknüpft). Bemerkenswerter erscheint, daß Kant in dieser Schrift (wie bereits in den Herder-Rezensionen) das abgelehnte Konzept einer Geschichtsteleologie genau umschreibt - und daß dabei erkennbar wird: es ist nicht mehr das Konzept eines aufklärerischen Fortschritts, sondern der »Pantheism (...) und der (...) Spinozism: welche beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer endlichen
21 Vgl. G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, $ 91. 22 Zu diesem Theorem und seiner Geschichte vgl. Ph. J. Rossi, Evil and the moral power of God, in: Proceedings of the ... Kant Congress [Anm. 11], Bd 2.2, S. 377ff. 23 Vgl. I. Kant, Werke Bd. 6, S. 416. 24 Vgl. Ph. Merlan, Eschatology, sacred and profane, in: Journal of the History of Philosophy 9,1971, S. 191-203. 25 So O. Reboul [Anm. 2\ S. 192ff. 26 Vgl. »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (in: I. Kant, Werke Bd. 4, S. 334): Der Gang zum Besseren »ist nicht eben das nämliche für das Individuum«. Die Schöpfung fing »vom Guten an«; als »Geschichte« ist sie »Strafe«, insofern sie »Geschichte der Freiheit« ist. 354
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Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert sind«.27 Der Spinozismus-Vorwurf (der nunmehr, im Zuge der Theologisierung des Arguments, einen Hinweis auf seine neuplatonische Vorgeschichte erfährt) war bekanntlich die versteckte Hauptkritik gegen Herders Ideen in Kants Rezension28 gewesen. Herder stelle - so Kants Referat - eine lückenlose Kette von Substanzen vom (nur scheinbar unbelebten) Gestein bis zum (nur scheinbar das Ende der Kette bildenden, noch der Fortentwicklung seiner Gattung fähigen) Menschen dar: Natur, Geschichte und Gott gingen in ein nur historisch auffaßbares Gefüge fließender Übergänge ein, in Bewegung gehalten durch ein »unsichtbares Reich selbständiger Kräfte«, auf das durch eine Fülle von Naturanalogien geschlossen werde. Kants Widerspruch bezieht sich zunächst auf die evolutionäre Lückenlosigkeit des Lebendigen.29 Es folgt der kaum verhüllte Spinozismus-Vorwurf, der Herder besonders traf: warum stelle Herder die »selbständigen Kräfte« nicht direkt der organischen Natur gegenüber (wie es die transzendentale Philosophie tat), sondern suche sie aus dem »Bauwerk der Organisation« zu entwickeln: dies führe auf den Verdacht, er halte die >geistigen Kräfte< »für ganz etwas anderes«, nämlich den Effekt einer auf Materie einwirkenden Natur.30 Der entscheidende Einwand aber ist Herders Vermischung individueller und gattungsmäßiger Glückseligkeit: der Tod des Individuums könne nur »aus moralischen Gründen« zum Postulat des Weiterlebens veranlassen, aber durch keine natürliche Palingenesie.31 Das Individuum werde von Herder in eine folgen- und sinnlose Glückseligkeit ohne die »Kunstendzwecke großer Gesellschaften«, ohne die Imperative und Postulate der moralischen Freiheit, aufgelöst und entlassen;32 da es dann lediglich kontingenter Teil einer (in sich ohne Zweck [289] ablaufenden) Gesamtevolution der Natur sei, verliere es sogar den Sinn seiner Existenz. Die Herderschen Individuen müßten sich wie die jahrhundertelang unentdeckt 27 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 420. 28 Ebd. Bd. 4, S. 179ff. 29 Dies ist das berühmte »Zurückbeben der Vernunft« vor prädarwinistischen Konzepten (I. Kant, Werke Bd. 4, S. 189). 30 Ebd. S. 188. 31 Ebd. S. 187f. 32 Die Polemik bezieht sich hier (Werke Bd. 4, S. 199) auf Herders Kritik an Kant, dieser postuliere den Menschen als das Tier, das einen Herren nötig habe und von diesem das Glück seiner Endbestimmung erwarte - in der Tat einer der Übergänge von Kants praktischer zur Religionsphilosophie und zum Geschichtsskeptizismus.
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VOM AUFHÖREN lebenden glücklichen Einwohner »von Otaheite« (Tahiti) die Frage stellen lassen, »warum sie denn gar existieren«.33 Das ist nichts anderes als die - seitenversetzte - Frage der Theodizee, sozusagen die Frage einer Physiodizee. Sie zeigt, daß Kants Rekonstruktion der Eschatologie nicht nur eine Abtragung des aufklärerischen Geschichtsoptimismus•, sondern auch die Abwehr künftiger, holistischer Geschichtsphilosophie bedeutet.34 4) Es ist erstaunlich, wie unmittelbar Kant im Ende aller Dinge hinter den abgelehnten geschichtsphilosophischen Konzeptionen bereits das verborgen sieht, was wenig später unter dem Terminus Nihilismus gefaßt wird. Wer sich aus der Unzufriedenheit mit dem nie zu erreichenden Endzweck versucht fühlt (»die Vernunft hat auch ihre Geheimnisse«), sich »in den Abgrund der Gottheit, durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit«, zu begeben hier wird der Spinozismus genannt -, der strenge sich in Wahrheit an, »das Nichts zu denken« - aus einem leeren Ruhebedürfnis, bei dem »ihm der Verstand ausgeht«.35 Die unmittelbare Bedrohung durch den Nihilismus ist offenbar das Korrelat sowohl zur Krise der Aufklärung36 wie zur Abwehr der Geschichtsphilosophie. 37 Ohne sie kann Kants Rechristianisierung des Geschichtsziels nicht verstanden werden. 5) Im letzten Teil der Schrift erfolgt die Wendung gegen die zeitgenössische Religionspolitik. Sie scheint überraschend und hat daher allein die
33 Kant legt damit Herder auf das Problem einer Kontingenz fest, die er selbst bis in die achtziger Jahre aus seinem Geschichtsdenken ausgegliedert haue; es wurde von der praktischen Philosophie zum Schweigen gebracht. Teleologie und Zufälligkeit werden erst in der Kritik der Urteilskraft ($$ 64ff., besonders $ 75) in ein (»untrennbar verbundenes«) Verhältnis zueinander gebracht, das Kontingenz für die Naturerkenntnis (nicht aber die Geschichte) auflöst: »The pure form of the abolition of contingency is purposiveness« (W. A. Galston [Anm. 2], S. 221). 34 Im Ende aller Dinge hat dies auch Folgen für die Rekonstruktion der alten Eschatologie gehabt: die These der »Unitarier« (im Gegensatz zu den »Dualisten«) von der unendlichen Purifikation der Seele wird nur zitiert, nicht rezipiert: Kant ignoriert damit bewußt die altkirchlich-platonistische (z.B. origenistische) Alternative zur »dualistischen« (besonders in der Gnosis ausgearbeiteten) Apokalyptik. 35 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 420. Kant verweist hierbei bereits auf die taoistische Philosophie. 36 Vgl. den Hinweis bei M.Horkheimer und Th.W.Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 93. 37 Zur Tradition im 19. Jh.: J. Collins, The Kantian critique of the God-is-dead theme, in: Kant studies today, hrsg. von L. W. Beck, La Salle/Ül. 1969, S. 409-431 und Da Penha Villela-Petit, Le retrait de la terre, in: Interpretazione del nihilismo, hrsg. von A. Molinaro, Rom 1986, S. 43.
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VOM AUFHÖREN Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Verständlich wird sie jedoch erst als Verlängerung der zuvor errichteten Front: sie ist Abwehr einer politischen Utopie, die aus der Enttäuschung über den ausbleibenden Fortschritt sich dem Versuch anschließt, das moralische Gesetz (das Christentum) in dieser Welt, und zwar beschleunigt, durchzusetzen - das Christentum also »mit gebieterischer Auktorität bewaffnet«.58 Das zielt gewiß in erster Linie auf das Woellnersche [290] Regiment,39 aber Kant rückt diese Polemik, in einer gleichsam vom Gegner angesteckten Beschleunigung und Teleskopierung, in die eschatologische Beleuchtimg eines »verkehrten Endes aller Dinge«: »der Antichrist« werde, wenn sich diese Richtung durchsetze, »sein obzwar kurzes Regiment« anfangen.40 Die Attackierung der Gegenaufklärung verschmilzt hier in eigentümlicher Weise mit der Wendung gegen die Totale einer Natur- und Geschichtsteleologie und dem ihr auf dem Fuße folgenden Nihilismus. Sie wirft bereits unübersehbare Schatten in das 19. und 20. Jahrhundert.41 Und denkwürdig bleibt es, daß sich auf dem politischen Felde die kantische Rekonstruktion der Eschatologie vollendet - mit der Figur des Antichrist.42 Odo Marquard hat die Geschichtsphilosophie als die Rache der neutralisierten Eschatologie an dieser Neutralisierung bezeichnet.43 Die Eschatologie, so könnte ergänzt werden, tritt beim späten Kant in persona auf, und zwar ex machina ihrer christlichen Denkformen; gerufen aber wird sie zum Schutz vor der Geschichtsphilosophie. Im übrigen kann der 38 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 424. 39 Deutlich die Verteidigung der »liberalen Denkungsart«, die »beinahe ein Menschenalter« geherrscht habe. 40 Vgl. I. Kant, Werke Bd. 6, S. 420-424. 41 So wird das >verkehrte Ende aller Dinge< die republikanische Annäherung an ein Geschichtsziel zurücknehmen, vielmehr durch »unter sich genommene Abreden« (Bd. 6, S. 421) herrschen. 42 Man vergleiche den Abstand zum 8. Satz der Ideen: dort wird die »äußerlichvollkommene Staatsverfassung« als providentieller Endzustand mit einem eschatologischen Bild umschrieben: »Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben«, der jedoch »nichts weniger als schwärmerisch ist« (Werke Bd. 4, S. 162). - Die Metapher vom (millenaristischen) Reich der Freiheit ist im Ende aller Dinge der realen Bedrohung durch den Antichrist gewichen. 43 O. M., Schwierigkeiten [Anm. 8], S. 16. Vgl. H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 1986, S. 213: »Zwar hatte die Aufklärung der Hölle den Untergang bereitet - oder doch geglaubt, dies wenigstens geschafft zu haben -; doch war dadurch die Unsterblichkeit als Trost für die Unendlichkeit der Zeit nicht anziehender geworden.« 357
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Nicht-Spezialist hier von einer Deutung des Phänomens und seinem historischen Kontext absehen. Die Rekonstruktion der einzelnen eschatologischen Denkformen durch Kant, von der noch nicht die Rede war, ist es, die im folgenden zum Wegweiser in traditionelle Darstellungen menschlicher Dauer im Ende dienen soll. Denn der Wert der kantischen Schrift eben weil sie mit dem kritischen Instrumentarium der Transzendentalphilosophie vorgeht - besteht darin, daß sie in historischer Verworrenheit auftretende Phänomene wie in einer Sektion bloßlegt und meßbar macht. [291]
n Kritische Rekonstruktion der christlichen Eschatologie Grundzüge der christlichen Eschatologie {nach Augustin) - Theoretische Explikation der urchristlichen Apokalyptik als Denkfigur menschlicher Dauer im Ende - Folgen der altkirchlichen Lösung für die Fortentwicklung der Eschatologie - Augustins Eschatologie: Hermeneutik, Narrativität und Remythisierung - Die leibliche Auferstehung als Verwandlung »Dies enim septimus etiam nos ipsi erimus.« Aug. civ. dei 22,30 Kants kritische Rezeption der Eschatologie erfaßt ausschließlich das judiziale Moment, das Jüngste Gericht (im Anschluß an Matth. und Apk)" Ist das ohne weiteres aus seinem Zugang zur altchristlichen Tradition verständlich, der in der moralischen Philosophie der Freiheit und des Gewissens begründet ist (s. oben I), so ist doch die Analyse der Gerichtsvorstellung, die seinem kritischen Zeitbegriff folgt, bemerkenswert. Die Zeit endet mit dem Jüngsten Gericht, aber dieses gehört (als Jüngster Tag) offenbar noch zur Zeit; »es geschieht an ihm noch irgend etwas«. Das Abbrechen der Zeit-Sphäre muß also - konzentriert man sich wie Kant strikt auf den judizialen Aspekt - die Rechtsanwendung selbst sein: das Umschlagen von »Ablegung der Rechnung« »zum gefallenen Los«, das dann Dauer im Reich der Noumena haben wird: der »Augenblick des Ausspruchs«. Was in der alten christlichen Eschatologie dem vorherging (Kant nennt den Sturz der Sterne, das Einrollen des Himmels, 44 I. Kant, Werke Bd. 6, S. 412 und 418f.
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die neue Erde und den neuen Himmel - nicht die Auferstehung), wäre daher als Geschehen noch innerzeitUch, was sich anschUeßt (Strafe und Lohn sowie »immer dasselbe Lied, ihr HaUelujah oder ewig dieselben Jammertöne«), kann kein Geschehen mehr sein; es wäre lediglich eine Versinnlichung der »moralischen Folgen«. Das Ende aller Dinge ist also Rechtsanwendung, ein Applikationsakt, Umschlag vom Pragma der Tat in das der Strafe, genauer: das Abbrechen des Ereignisflusses durch die andere Dimension einer (applikativen) Hermeneutik. Es empfiehlt sich, dieser kritischen Reduktion gegenüber die Grundlinien der altchristlichen Eschatologie zunächst einmal in knapper Form zu vergegenwärtigen - und zwar ohne Rücksicht auf die unübersehbaren historischen Entwicklungen der einzelnen heterokUten Motive,45 vielmehr durch ein Referat des kirchUch [292] rezipierten eschatologischen Systems August ins (civ. dei 20-22), des historisch ersten, das - philosophisch vertieft durch Thomas von Aquino (Summa theologica und Summa contra gentiles) - auf einer begrenzten, immer wieder diskutierten Anzahl biblischer loci beruht (vor allem: Apk. 20,lff.; Matth. 25,31-46; Rom., Thess., beide Kor.; Job. 5,24-29).46 Es wurde von der Dogmatik der christlichen Konfessionen nie verabschiedet. Allerdings: es gehört zu den wenig besprochenen, zu den ruhenden, wenn nicht gar verschollenen Beständen christUcher Tradition.47 Immerhin erscheinen seine zentralen Aussagen im zweiten und dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses. 45 Die folgenden Hinweise beziehen sich nur auf die hier unternommene systematische Erörterung (vgl. im übrigen die Bibliographie von I. Gruenwald, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 19.1, Berlin 1979, S. 84-118, sowie den Motivkatalog bei H.-I. Marrou, Art. >Geschichtsphilosophie<, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10, Stuttgart 1978, Sp. 703-779, hier: 712f.). Vorzügliche Diskussion der urchristlichen Apokalyptik unter diesem Aspekt: Apocalyptic and the New Testament, hrsg. von J. Marcus und M. L. Soards, Sheffield 1989, und: Apokalyptik und Eschatologie, hrsg. von H. Althaus, Freiburg 1987. Eine Darstellung von den orientalischen Ursprüngen an mit der Diskussion der neueren theologischen Debatten (seit der Aufwertung der Apokalyptik als Reaktion gegen Bultmann) vermitteln U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung, Stuttgart 21983, S. 17ff. und 300ff., und W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993. Zur Entwicklung in der Spätantike vgl. noch W. Kamiah, Apokalypse und Geschichtstheologie. Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse von Joachim von Fiore, Berlin 1935 (Nachdr. Vaduz 1965). Speziell zum Jüngsten Gericht: S. G. Brandon, The judgement of the dead, London 1967. 46 Bequeme Übersicht bei H.-I. Marrou, Le dogme de la resurrection, in: Revue desfitudesAugustiniennes 12, 1966, S. 111-136. 359
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Selbst außerhalb der Zeit stehend, rief Gott »im Anfang« (Gen. 1,1), d.h. durch den Logos und die präexistenten Ideen wirkend, die Schöpfung (und mit ihr die Zeit) ins Sein. Die Präexistenz umschließt auch, als Prädestination, das Wissen und die Determination der innerzeitlichen Abläufe und Entscheidungen der geschaffenen Wesen. Zu ihnen gehörten zunächst die Engel,48 spirituelle Leiber (Seele und Körper in harmonischer Einheit). Den Fall einiger Engel soll die Schöpfung des paradiesischen Menschen vor dem Fall, des prälapsarischen Menschen, ausgleichen. Dieser besteht aus Seele und Leib, wobei jeder dieser Bestandteile die Fähigkeit besitzt, den anderen zu beherrschen. Zur schon bestehenden Zeitlichkeit tritt nach dem Sündenfall (grundsätzlich weitervererbte Herrschaft des Leibes über die Seele) neu hinzu der Tod der Individuen. Damit kann sich eine erste geschichtliche Ereignisfolge entfalten, die - unter ira und patientia Gottes (lex an die Juden und natürliche Gottesoffenbarung an die Heiden) stehend - niemand die Rückkehr aus Tod und Fall gestattet. Wer in dieser Phase leiblich starb, dessen Seele wartet schlafend an abgesondertem Ort, die Gerechteren (auch einige Heiden) in limbo patrum, die anderen schon an einem (Vor-)Strafort, dem Purgatorium. Christi - des Logos - Inkarnation, Leiden und Auferstehung erfolgen einmalig. Seine menschlichen Zeitgenossen und die Nachgeborenen haben in einer zweiten geschichtlichen Ereignisfolge die Möglichkeit, sich glaubend zu bekennen und prinzipiell erhört zu werden: dies ist die >erste Auferstehung< (Auferstehung ist hier Metapher für die vorweggenommene Enthobenheit der Seele in der Verheißung). Sie vermögen sodann in der Bewährung bis zu ihrem leiblichen Tod (>erster Tod<) zu beharren (nach dem Tod: Seele in limbo patrum I im Purgatorium). Zu unbestimmter Zeit erfolgt die Wiederkehr (Parousie) Christi, ihr folgt die >zweite Auferstehung< (für die Verworfenen: die erste) der wartenden Toten zu einem dauerhaften Leib. Die zu diesem Zeitpunkt Lebenden werden in einen solchen Leib >verwandelt<. Zugleich49 verwandeln sich Himmel und Erde, das neue Jerusalem und die Hölle konstituie-
47 Man ermißt den Abstand des im folgenden wiedergegebenen Dogmas zu zeitgenössischen Versuchen der Reformulierung, wenn man bei W. Pannenberg das Jüngste Gericht als den »Grundwiderspruch des Ich gegen seine unendliche Bestimmung« gedeutetfindet(W. P., Was ist der Mensch, Göttingen 41972, S. 58). 48 Das System schwankt hier: systematisch erfordert wird vom Eschaton her die Außertemporalität der Engel. 49 Der Zeitpunkt schwankt bei Augustin; oft auch: nach dem Jüngsten Gericht. 360
VOM AUFHÖREN ren sich. Es folgt das Jüngste Gericht. Die Zeit endet. Die Verdammten erleiden hiermit den > zweiten Tod< (Tod ist hier Metapher für die nun [293] auch seelische, ewige Marter); die Freigesprochenen werden hiermit in den spirituellen Leib, der den prälapsarischen Engeln eigen war, transfiguriert (ihr Status ist also höher als der paradiesische). Die Schöpfung wird nicht in Gott zurückgenommen, aber sie kann (ihm anbetend zugekehrt) nicht mehr von ihm abfallen. Im Unterschied zur Reduktion Kants auf den Moment des Gerichts wird Eschatologie hier narrativ entfaltet; sie ist Teil eines umfassenden Heilsplans. Gleichwohl führt Kants kritische Rekonstruktion in ihr Zentrum, das Ende der Zeit, und kann dazu helfen, das Problem menschlicher Dauer im Ende der christlichen Eschatologie theoretisch zu explizieren.50 Tat und Strafe können, allgemein betrachtet, in einem Ereigniszusammenhang gedacht werden: oc:
I ex... e2
Denn nur dadurch, daß es als Strafe denominiert wird (1), steht das Ereignis e2 quer zur Folge der Taten, zum pragmatischen Fluß ex... e 2 . Und solche Denomination als Strafe rührt her von der juristischen Applikation, sie gehört der hermeneutischen Dimension an - einer anderen Dimension als der des Pragma. Wenn Strafe sich gleichwohl am historischen Ereignisfluß überhaupt eben (als e2) abbilden läßt,51 so deshalb, weil Folge einer Tat und Strafe für eine Tat im frühen Rechtsdenken den realhermeneutischen Zusammenhang einer durchaus pragmatisch bleibenden Sequenz, ja Identität besitzen (nicht nur im sog. Rechtsdenken der Talion, sondern im Faktenzusammenhang selbst: »Brüllt der Löwe im Wald, ohne Beute zu haben? Kommt ein Unheil über die Stadt, ohne von Jahwe zu stammen?«, Arnos 3,4.6).52 Als Abbruch, Ende der Ereignisse (ex ...) durch deren ein neues Ereignis stiftende Hermeneutik (e 2 ) aber kann das judiziale Geschehen auch durch den applikativen Rechtssyllogismus in
50 Ich knüpfe im folgenden an meine Theorie der juristischen, historischen und theologischen Applikation an (Zum Verhältnis von Norm und Narrativität in den applikativen Hermeneutiken, in: Text und Applikation, hrsg. von M. Fuhrmann und H. R. Jauß (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 435-455). 51 Vgl. ebd. S. 441. 52 Zudem ist die juristische Form der Ereignisapplikation dazu fähig, die faktenordnenden Bahnungen einer zeichenhaften providentiellen Gescbichtsdarstellung zu stiften; vgl. dazu ebd. S. 442f.
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verkürzter Form (wer ..., wird ... bestraft) mit dem ihm eigenen temporalen Gefüge (unvollendete Vergangenheit ~~ Präsens) formuliert werden.53 Nun stellt unter den Darstellungsformen des historischen Ereignisflusses gerade die Eschatologie, insbesondere in der Form einer Apokalyptik9 welche die Geschehnisse des alten Aion plötzlich >enthüllt<, vor das Problem, ein Ende [294] nicht nur erzählen (e t ... e2), sondern es als notwendig im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden erweisen zu müssen (et -> e2) - sie hat ihr Ende als Telos von etwas zu setzen. Dies gilt für alle eschatologischen Motive: die Äonenwende, die Enthüllungen verborgenen Gotteshandelns (etwa sein >Bekenntnis< zum Volke Israel), ebenso für solche Geschehensansätze, die einen neuen, etwa gesteigerten Ereigniszusammenhang eröffnen, also für solche der Dauer - so die Neuschöpfung der Welt und die Auferstehung. Es ist deshalb kein Zufall, daß die Darstellung eines solchen Endes als Rechtsspruch, also als hermeneutischer Abbruch des pragmatischen Flusses, nahe lag und von früh an überliefert ist. Aber mit einer Einformung in das Bild vom Gericht ist das Problem der Setzung von Telos nicht gelöst. Jede richtende Applikation setzt zwar ein als Urteil notwendiges End-Ereignis (e2), aber sie setzt es noch nicht unbedingt als ein Telos, das den Faktenzusammenhang selbst von ej - • e2 organisiert; sie schneidet nur richtend ein regelloses Geschehen ab. Das Problem verschärft sich noch, sowie die Apokalyptik in die Nähe, gar in den Geschehensbogen eines einzelnen menschlichen Lebens hineingerückt wird; es verschärft sich nämlich, sowie dadurch Fragen individueller Lebensregelung (Ethik) erfaßt werden - also in der urchristlichen Apokalyptik. Was hiermit gesagt ist und welche (begrenzten) Lösungsmöglichkeiten eine Enddarstellung als Gericht in diesem Kontext bereithielt, mögen drei Beispiele erläutern. Sie müssen in diesem Zusammenhang nicht historischexegetisch analysiert werden (obwohl die hier erörterten Lösungsmöglichkeiten durchaus im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion über die neutestamentliche Apokalypse stehen). Wichtig ist ihr systematischer Aspekt: sie lösen die Frage der Telossetzung auf unterschiedliche Art und haben unterschiedliche Konsequenzen gehabt. ß:
e f ... e2 |
Ein Beispiel ist das nicht-kanonische Herrenwort: »Worin ich euch ergreife (finde), darin werde ich (euch) auch richten.«54 53 Vgl. ebd. S. 438f. (Perfekt der Institution). 54 Überliefert zuerst bei Justin, dial. 47,5. Vgl. die bis heute maßgebliche Un362
VOM AUFHÖREN
Die Nähe zur Denkform a ist auffällig. Das Gericht kommt plötzlich auf ein zufälliges Ereignis >herabgefahren< (KorraAäßco). Wenn, nach Kafka, das Jüngste Gericht ein Standgericht ist, so prägt das Logion diesen Typ aus. Zugleich entspricht es am nächsten der Rekonstruktion Kants; es setzt ein Ende der Zeit als Ende des individuellen Lebens. Daß das Gericht den Tod meint, ist impliziert, [295] aber als (gewaltsames) Lebensende ist er nicht wichtig; das Gewicht hegt auf dem unberechenbaren und jedem menschlichen Forschen nach einem Telos der Gerechtigkeit widersprechenden Handeln des apokalyptischen Gottes. In der alten Kirche wird diese Tendenz, die eben jede Herleitung des Endereignisses aus der Notwendigkeit der vorangehenden Faktenzusammenhänge (s.o.) durchkreuzt, noch verschärft in der Kombination mit Ezech. 33,2: »iustitia dei non liberabit eum in quacumque die peccaverit, et iniquitas iniqui non nocebit (!) ei, quacumque die conversus fuerit ...«.55 Hier wird wohl ein Ende, aber gerade kein Telos des Vergangenen gesetzt, noch nicht einmal eine moralische Bilanz des Lebens, das vielmehr in seiner Kontingenz belassen wird. Damit aber wird auch die Differenz zur Denkform a unübersehbar. Ein solches Gerichtshandeln entfernt sich auch vom Standgericht, es weist deutlich über judiziale Applikation hinaus. Nicht so sehr hermeneutische Applikation setzt ein Ende des Ereignisflusses, sondern das Pragma einer ganz anderen stößt an das Pragma der bisherigen Welt (e21). y:
c,... e 2 - > e n | < - E
Ein Beispiel ist: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihrer.« (Matth. 5,10). Man kann diesen zentralen Typ der urchristlichen Denkform des Endes zuerst von a und ß abheben. Er grenzt an beide an. So hegt der judiziale Strafsyllogismus nach a etwa in Matth. 7,1 vor (Präsens -> Futur).56 Andererseits bewahrt die Voraussetzung auch der Seligpreisungen, die Kerntersuchung von A. von Harnack, Über einige Worte Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen (1904), in: ders., Kleine Schriften zur alten Kirche (...) 1890-1907, Leipzig 1980, S. 663-701, hier: 673-675, der die Tradition für genuin und das Logion für »einen eschatologischen Text ersten Ranges« hält. 55 So in Hieronymus* Hesekielkommentar. Aus den Synoptikern ist zu dieser Denkform das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen und von dem Dieb in der Nacht zu vergleichen. 56 Zum > bezogenen < Futur und seiner applikativen Gleichwenigkeit mit der unvollendeten« Vergangenheit vgl. Herzog [Anm. 50], S. 450. 363
VOM AUFHÖREN aussage der Täufer- und Jesusverkündigung (Matth. 3,2; 4,17): »Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herangekommen«, den Blick auf das hereinbrechende und alle Ereignisfolgen abschneidende Pragma nach ß. Denn das Himmelreich ist zwar (besonders bei Matth.) durchaus auch als judiziales Geschehen aufzufassen; für seine Verkündigung jedoch ist es entscheidend, daß es aus der Zukunft nahe in die Jetztzeit hereingerückt ist (| « - E). In der typisch verheißenden Vorwegnahme (Prolepse) der Seligpreisungen, wie sie das oben angeführte Beispiel zeigt, wird das Kommende in der Person Jesu die Gegenwart erreichen und damit als Freispruch, besser: Heilszusage57 sowohl [296] den judizialen wie »den apokalyptischen Rahmen überwunden«51 haben. In dieser Überwindung liegt aber die Antwort beschlossen, der eine Denkform nach y die Frage nach dem Verhältnis von Telos und Ende zuführt. Das Endereignis muß den handelnden Menschen nicht mehr unerforschlich sein (das ist es nur für den Hartherzigen, vgl. Matth. 5,25), es sieht sich nicht inkommensurablen Instanzen ausgeliefert - der Applikation seines Tuns in judizialer Hermeneutik (a) oder dem Abschneiden seines Tuns im Weltende (ß). Dem Ende kann vielmehr peTAvoia (Umkehr, conversio) vorausgehen; auch diese zweite, entscheidende Aussage der Täufer- und Jesusverkündigung (s. oben) ist Voraussetzung der Seligpreisungen. Mrrävoia ist in wörtlichem Sinne Umkehr, also Änderung des pragmatischen Telos: in der conversio des Christusbekenntnisses gewinnt der Handelnde, im Blick auf das Ende, die Freiheit, in der Welt und vor ihrem Ende sein Leben sinnvoll und nach einem unaufhebbaren Telos zu krönen; er läßt die Verfolgung geschehen (...e2-»en|). Individuelles Telos und allgemeines Ende treten damit prinzipiell auseinander, sind jedoch einander zugeordnet. Das Moment des Endes selbst (|) ist nach y die >Seligpreisung< als proleptische (s. oben) Begegnung mit Jesus Christus; diese Begegnung enthält zugleich Freispruch, Verwandlung und Neuentwurf des Lebens. Die Denkform y entgeht den Schwierigkeiten der Kontingenz und Zufälligkeit, den Schwierigkeiten jeder Theodizee. Sie vermag vom Herannahen und Anbrechen des neuen Aion («- E) her einen derartig konsi57 Die Heilsanwesenheit ist in dieser inchoativen Eschatologie< (H.-I. Marrou) insofern noch judizial aufzufassen, als das Gericht sich im Verhalten zu Jesus vollzieht (vgl. H. E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959, S. 29ff.) und die Seligpreisungen mit einem begründenden im auf E referieren. 58 W. Pannenberg, Offenbarung und Geschichte, Göttingen 1961, S. 92. 364
VOM AUFHÖREN stenten (notwendigen) Geschehenszusammenhang zwischen e2 und e n aufzubauen, daß er der narrativen Darstellung innerweltlichen Lebens offen wird.59 Damit aber ergeben sich auch Folgelasten. Nach y wird das Denkbild des Gerichts derart reduziert (nur der Verstockte erfährt ein - verdammendes - Urteil im eigentlichen Sinne), daß das Ende von Mensch und Welt kaum mehr als hermeneutische Applikation formulierbar ist. Ebenso erscheint die vorlaufende Ankunft des Himmelreichs so ausschließlich bezeugt als Umkehr und Bekenntnis des handelnden Menschen, daß ein Ende von Mensch und Welt kaum mehr temporal formulierbar, jedenfalls kaum mehr aufeinander bezogen ist. Sieht man genauer zu, so ergibt sich, daß die gesamte Sequenz von e, über e n bis zu der mit E einsetzenden neuen Ordnung der Dinge auf der gleichen Ebene (der Erlösung) erzählbar wird; das begründet übrigens die Narrativität des oben zusammengefaßten Dogmas etwa in der Version Augustins. Damit [297] aber tritt das Ende überhaupt vor dem Telos zurück, und es wird sich zum einen das Problem eines nach e2 gleichwohl, und zwar kontingent nach e n — Cn+i weiterlaufenden individuellen, aber auch geschichtlichen Lebens,60 zum anderen das Problem eines nunmehr sinnlosen individuellen Todes vor Eintritt von E ergeben. 8:
ej... e 2 (|) Ex... E 2 ... E3 I et - • e2 |
Als Beispiel kann die Erzählung von Lazarus und dem reichen Mann dienen. Der Reiche stirbt nach einem (insgesamt) sündigen Leben und wird post mortem gerichtet. Diese >postmortale< Lösung ist schon in der urchristlichen Apokalyptik stark vertreten; sie ist offenbar der ursprüngliche, 59 Jedoch nicht offen für einen ßios im Sinne der antiken (Auto-)Biographie. Denn zur Darstellung treibt nur die Phase seit der conversio (c2) und dem (handelnden) Bekenntnis (so bei Paulus). Das in der Umkehr gesetzte Telos kann sodann zwar alle Faktenzusammenhänge (ab ei) im Sinne einer heilsgeschichtlichen oder privatprovidemiellen Erzählung deuten (so bei Augustin); das lediglich fortlaufende Leben bis zum Eintritt des Todes aber kann ihm allenfalls zum Problem, nicht zur Erzählung werden. 60 Weiterlaufende Geschichte wird dann ab »im Grunde ein anachronistisches Geschehen« erfahren (M. Seckler, Das Heil in der Geschichte. Geschichtstheologisches Denken bei Thomas von Aquin, München 1964, S. 189). 365
VOM AUFHÖREN häufig noch mitgedachte Referenzrahmen für jedes eschatologische Geschichtsbild, auch im Rahmen von y.61 Übergangsformen zu den proleptischen Heilserwartungen (y) sind anzutreffen. So wird Matth. 5,25 dazu aufgefordert, solange es noch Zeit ist, die Umkehr zu vollziehen; später werde gerichtet. Ähnlich zu beurteilen ist die Identität zwischen Menschensohn und Richter, damit zugleich die Einformung des jetzigen Verhaltens in das künftige Gericht. In 8 aber liegt das Ende der Welt eindeutig post mortem; das individuelle Ende hat der Tod gebracht - der als solcher kein Telos setzt, auch keine rückwirkende (narrative) Konsistenz stiftet (|). Das individuelle Ende im Tode wird vielmehr in der Denkform 6 aus Apokalyptik und Telossetzung entlassen. Erst die urteilende Applikation post mortem im Jüngsten Gcricht< (E2) bündelt und beurteilt hier die Kontingenz des vergangenen menschlichen Lebens, gibt ihm Telos und Bewertung (ei -> e2). Telos und Ende aller Dinge müssen in dieser Lösimg nicht mehr zusammenfallen. Die christliche Eschatologie hat sich mit der Denkform 6 einer breiten Rezeption alter eschatologischer Motive geöffnet, welche die alte Stelle des Endes (Abbrechen zwischen e und E) besetzen. Endzeit, neue Welt, Auferstehung (Ei), Gericht (E2), ewiger Lobpreis und endlose Strafen (E3), auch ein Purgatorium seit Beginn der Geschichte können nun aufeinander folgen. Ja, solche Motive müssen nun z.T. systematisch eingebaut werden: so setzt ein postmortales [298] Jüngstes Gericht die Auferstehung voraus. Damit aber ergeben sich auch hier Folgelasten: ein Telos ist für die Zeit vor dem Tod (bzw. vor dem Ende der Geschichte) schwer auszumachen; das wird zu kompensatorischer Theologie im Bereich der Privatprovidenz wie der Geschichtsphilosophie führen. Postmortal tritt die Apokalyptik (das alles abschließende Ende) zurück in die Polyphonie eschatologischer Motive. Unter ihnen wird die für diese Geschehnisse erforderliche Fortdauer des Menschen zum Problem werden. Die >präsentische< (proleptische) Eschatologie nach y hatte noch in den kanonischen Schriften des NT, gegenüber der >futurischen<w nach 6, einen Ausbau erlebt, der die Folgeprobleme von y geradewegs platoni61 Vgl. L. Cope, The close of the age, in: Apocalyptic and the New Testament [Anm. 45], S. 113ff., sowie D. E. Orton, The understanding scribe. Matthew and the apocalyptic ideal, Sheffield 1989. 62 Diese etwas unscharfen Termini bestimmen noch die heutige Diskussion um die Lehre von der Auferstehung; vgl. G. Greshake und J. Kremer, Resurrectio mortuorum, Darmstadt 1986. 366
VOM AUFHÖREN sehen, auch gnostischen Lösungen zuführte und auf Seiten der Großkirche, die zu 5 tendierte, entsprechende, z.T. der Gnosis selbst, aber auch Marcion geschuldete Reaktionen veranlaßt hat. So wird Job. 5,24ff. vom Hörer und Bekenner der Verkündigung gesagt, er habe bereits das ewige Leben, komme nicht ins Gericht. Die Stunde sei »schon jetzt« (vgl. Job. 3,18: wer an Gottes Sohn glaube, werde nicht gerichtet; »wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet«).63 Solche eschatologisch-präsentische Immanenz schließt auf befriedigende Weise Weltzeit und Lebenszeit zusammen.64 Aber sie entledigt sich damit nicht nur des alten eschatologischen Erbstückes der leiblichen Auferstehung; sie spiritualisiert nicht nur sehr weitgehend das Denkbild vom Gericht. Dadurch, daß der individuelle Tod (oder das Weltgericht)65 zurücktritt, verändert sich die metanoia zum (bereits prädestinierten) Mittelpunkt eines gnostischen Heilsdramas. Damit aber löst sich die Eschatologie selbst weitgehend auf. Wenn die Setzung eines individuellen Lebens-Telos dann schließlich nicht mehr durch jenes der Welt und deren Ende vermittelt wird (so in 6), so öffnet das Christentum sich im Gegenzug ethischen, vor allem asketischen Strömungen; es öffnet sich auch dem hellenistischen Denken und seinem substantialistischen Konzepten von Leib und Seele sowie der Idee einer das All durchwaltenden Pronoia. Der >Psychiker<, gegen den sich bereits Paulus wenden [299] muß, gehört in seiner vollendeten Form einer Heilsgemeinschaft vom Anfang der Zeiten an; sein prästabiliertes >Bekenntnis< wirft Schatten und Licht in ein kosmisches Geschehen - so in der Gnosis - ; seine Entscheidung kann in ihrer reinen Immanenz aber ebensowohl als Schritt in einer unendlichen Kette des Aufstiegs im plato63 Vorstellungen futurischer Auferstehung und futurischen Gerichts stehen Job. 5,28f. unvermittelt daneben und haben noch in der modernen Theologie zu mancherlei exegetischen Ausgleichsversuchen mit Job. 5,24f. geführt (vgl. Greshake und Kremer, Resurrectio S. 142ff.). An Job. 5,24ff. schlössen sich die systematischtheologischen Konzepte der modernen Theologie seit Bultmann und Schottroff vorzugsweise an. 64 Im Sinne Blumenbergs [Anm. 43], S. 87, als Reduktion des Sinnlosen und der Kontingenz. 65 Bemerkenswerterweise findet sich in der Spätantike noch nicht die Verknüpfung des individuellen Todes mit dem Moment der (individuellen) Auferstehung und eines (je individuellen) Gerichts; der ursprünglichen präsentischen Eschatologie ist vielmehr die Vorstellung eigen, manche Hörer der Verkündigung würden »den Tod nicht sehen«. Die Aufwertung des je eigenen Todes zum Telos scheint (mit starkem existenzphilosophischen Akzent) erst in der Theologie des 20. Jh. vorzudringen: beide Konfessionen neigen ihr heute zu (vgl. die Hinweise bei Greshake und Kremer [Anm. 62], S. 254ff.). 367
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nistischen Sinne verstanden werden. Solche Immanenz drückt sich zum einen in jenem Geschichtsdenken aus, das die Gegenwart als Steigerung versteht und das Erbstück des alten Millenarismus historisch aktualisiert (anzutreffen bis zum 4. Jahrhundert). Zum anderen aber führt sie als Kette unendlicher Purifikation an kein Ende der Schöpfung, sondern in einen unabsehbaren Progreß zu Gott zurück - so in der falsa beatitudo (Augustin) des (Neu-) Piatonismus seit Origenes. In der Großkirche hat sich gegenüber diesen Extremen, den Auswirkungen präsentischer Eschatologie, insgesamt die futurische (8) durchgesetzt, wie sie auch das Referat des augustinischen Systems aufweist. Aber diese Durchsetzung gelang nur unter einer beträchtlichen Integration der angedeuteten präsentischen Denkformen, und die Integration erforderte ihrerseits eine weitreichende Chresis griechischer Philosophie. Sie führte dazu, ihre spezifische Folgelast, das Problem der menschlich-individuellen, und zwar nunmehr betont leiblichen Fortdauer im Ende noch zu vergrößern: 1) Endgültig bei Augustin ist die Vorstellung einer prima resurrectio (s. oben das Referat) in das System futurischer Eschatologie eingefügt. Sie entstammt alten apokalyptischen Darstellungsformen (vor allem Apk.) und war dort millenaristisch geprägt. Sie wollte sagen, daß vor der Gerichtsauferstehung für die Wechselfälle der ultima tempora (darunter des Friedensreichs) eine erste Auferstehung erfolgt. Augustin hat diese Vorstellung gänzlich aus ihrem Sitz im Leben gelöst und zur Integration der präsentischen Eschatologie genutzt: die prima resurrectio geschieht, als spirituelles Ereignis, mit der conversio, noch innerweltlich.66 Augustin fügt also, wie das Referat seines Systems zeigte, ein altes Theologoumenon in einen komplizierten (und metaphorischen) Zusammenhang von erstem und zweitem Tod, erster und zweiter Auferstehung ein. Wie dabei bemerkbar wurde, gelingt diese Systematisierung nur um den Preis einer durchgängigen Rezeption der griechischen Seele-Leib-Psychologie. 2) Der Millenarismus andererseits, mit ihm alle innerweltliche Steigerung der Gegenwartsgeschichte, wird von Augustin67 auf eine grundsätzlich steigerungslose Offenheit der Geschichte seit Jesus Christus zurückgeschnitten. Die ultima tempora der Apk. mit ihren wilden Geschehensabläufen werden hermeneutisiert, d.h. der spirituellen Exegese mit dem Ziel einer nachweisbaren göttlichen Ordnung der Realgeschichte zugeführt. Jedenfalls sind sie nach dem von der Apk. selbst erwähnten Ende 66 Vgl. vor allem epist. 199 (»define saeculi«). 67 Der damit eine mit Eusebius sich verstärkende Tendenz vollendet. 368
VOM AUFHÖREN aller Zeit (Apk. 10,5f.; noch von Kant zitiert) für [300] Augustin nicht mehr denkbar. Umgekehrt wird der realen Gegenwartsgeschichte grundsätzlich der Finalismus einer endzeitlichen Steigerung abgesprochen, die ihre Identifizierung mit dem - nun ja in die Geschichte zurückgenommenen - Antichrist ermöglichen würde.68 3) Solche Reduktion ist ein Ziel der Schrift De civitate dei. Ein anderes ist die Bestreitung eines ganz anderen Gegners: des (römischen) Geschichtsoptimismus, wie er sich seit Eusebius bis zur Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert (Ambrosius; Prudentius) etabliert hatte. Augustins ZweiReiche-Lehre wird (erfolgreich) den politischen Platzhalter präsentischer Eschatologie treffen, eine Romtheologie, die das Imperium in die Kirche einmünden läßt. 4) Augustins Banalisierung der Geschichte zur prinzipiellen Undeutbarkeit der Einzelfakten in Gegenwart und Zukunft wird balanciert durch eine Weiterentwicklung (und Verschärfung) der altkirchlichen Prädestinationslehre. Diese wird mitsamt ihren aus der griechischen Metaphysik übernommenen Paraphernalien (Pronoia, Allmacht, Allwissenheit, Probleme der Willensfreiheit und Kontingent nicht zuletzt Konzeptionen von Zeit)69 aus der Weltgeschichte in die außertemporale Einheit von Präexistenz und Eschaton transferiert.70 5) Damit werden für Augustin die Grenzen der Immanenz, abgesehen von dem Eintritt der Inkarnation und Passion, unnachgiebig. Im 21. Buch der Schrift De civitate dei spitzt Augustin sein System zu einer ausführlichen Polemik gegen die von Origenes vertretene unendliche Purifikation zu.71 Unnachgiebig aber werden die innerweltlichen Fakten auch gegen68 Vgl. civ. dei 20,7,lf. 69 Vgl. zu diesem Prozeß Herzog, Partikulare Prädestination [in diesem Band: S. 287ff.]. 70 Ich bin für die eindringliche Analyse dieser Balance der Deutung E.A. Schmidts (Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985) verpflichtet, die in der Interpretation der Schrift De civitate dei Epoche machen wird. Zu den Folgen der augustinischen Eschatologie für die Zeitkonzeption vgl. auch L. Wittmann, Ascensus. Der Aufstieg zur Transzendenz in der Metaphysik Augustins, München 1980. 71 Als Rezeption des eschatologischen Piatonismus bleibt bei Augustin die (zuerst zögernd vorgenommene) Einrichtung des Purgatoriums erhalten; systematisch erforden wird es durch eine konsequent futurische Eschatologie. - Das Argument Augustins gegen Origenes ist dem Kants gegen den unendlichen Progreß frappierend ähnlich: »sine timore certum sempiternum boni gaudium non haberent.« (civ. dei 21,17). Sogar eine Form des Nihilismus-Arguments fehlt nicht: andernfalls werde jeder Glaube an ein ewiges Leben zweifelhaft (civ. dei 21,17ff.). 369
VOM AUFHÖREN über dem Anspruch einer Hermeneutik, die aus Gottes dispositio (Heilsplan) von Prädestination bis zum Jüngsten Gericht Zeichen für den konkreten Verlauf der künftigen Geschichte wie für die Erwählung des Einzelnen ausmachen zu können meint. Dies gilt in erster Linie für die augustinische Beschränkung typologischen Geschichtsdenkens, als einer Realhermeneutik, auf den Geschehensbogen zwischen A T und NT als Heilsgeschichte. Typologie ist kontingenzabweisend; für sie wie für die distributio der Prädestination gilt, daß sie »zum Signum eines Bankrotts der [301] Geschichte« (H. Scholz) im säkularen Sinne wird. Aber sie stiftet in hohem Grade Teleologie. Ihre prinzipielle Ausdehnung über die gesamte Weltgeschichte würde (>posttypologisch<) die Erfüllung des Alten Testaments in Christus durch weitere Erfüllungen die Weltgeschichte zur Geschichtsspekulation erheben: eben so wird Joachim von Fiore in seinen mehrstufigen, tabellarisch geordneten concordantiae vorgehen. Würde Typologie schließlich mit Präexistenz und Eschaton verknüpft, so mündete solches Geschichtsdenken in Geschichtstheologie.72 Demgegenüber läßt Augustin - wie oft beobachtet wurde - teleologische und deutbare Geschichte mit Jesu Auftreten enden. Es folgt die undeutbare, offene Kontingenz der Gegenwartszeit, die selbst die tempora Christiana umschließt. 6) Nur von Kain bis Herodes kann also die civitas (terrena) dargestellt, erzahlt werden. Sie korrespondiert damit aufs genaueste der Erzählbarkeit (augustinischer) Lebensgeschichte zwischen Geburt und conversion - und läßt damit noch den Ort der präsentischen Eschatologie erkennen. Die Telossetzung innerhalb der augustmischen Eschatologie gliedert deren futurische Elemente aus und ignoriert zugleich das individuelle Lebensende. 7) Damit wird schließlich das Kernstück jeder Eschatologie, die judiziale Applikation des Jüngsten Gerichts, von den Geschichtsabläufen und
72 In Ansätzen in der Romtheologie, im übrigen bei Joachim von Fiore. Die hier vorgenommene terminologische Unterscheidung zwischen Heilsplan, Weltgeschichte, Heilsgeschichte, Geschichtsspekulation und Geschichtstheologie (die die Geschichtsphilosophie als neuzeitliches Phänomen unberücksichtigt läßt) geht wiederum mit der genauen civitas-dei-Analyse E. A. Schmidts konform. 73 Wie in Augustins Leben nach der conversio (und dem ihr untrennbar verbundenen Tod der Mutter) nichts mehr geschieht, das noch erzählenswert, ja überhaupt erzählbar wäre, so in der Weltgeschichte nach der Auferstehung Christi. Auf diese evidente Parallele macht £. A. Schmidt [Anm. 70], S. 103f., bei der Diskussion meiner Con/essiones-Deutun% [in diesem Band: S. 235ff.] aufmerksam. 370
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von den Entscheidungen des einzelnen Menschen in hohem Maße getrennt: durch einen u.U. lange zurückliegenden Tod (und somit durch die Vorhölle, das Purgatorium), durch die (prädestinierte) Geschichte, durch die prima resurrectio der Bekehrung, durch secunda resurrectio und Erneuerung des Kosmos - und zwar derartig, daß sie ihre eschatologische Bedeutung überhaupt zu verlieren droht. Dies zeigt sich darin, daß bereits bei Augustin die ständige Versuchung sichtbar wird, das postmortale Gerichtsurteil an die Welt zurückzubinden, ja mit ihren individuellen wie allgemeinen Faktenzusammenhängen zu identifizieren. Nicht weniger aber wird dieser Bedeutungsverlust auch durch die umgekehrte Tendenz manifest, das Jüngste Gericht als ganz und gar hermeneutische, weil außerzeitliche Veranstaltung zu kennzeichnen. Zur Erläuterung: Jeder präsentischen Eschatologie, wenn sie noch das judiziale Moment hervorhebt, muß zwischen >Standgericht< (ß) und >schon vollzogenen^ [302] Urteil (Joh.; s. oben) die Lösung (Welt-)Geschichte - Gericht naheliegen. Sie kann dann auch alte judiziale Denkformen erfassen (Verbrechen ist schon Strafe; s. oben zu a) oder kann - auf dem hohen Niveau der augustinischen Zeitkonzeption - die Ungeschiedenheit von (außertemporalem) iudicium und (temporalem) excursus der Geschichte(n) vertreten. In solcher Ungeschiedenheit fallen Pragma und Hermeneutik zusammen. Augustin hat - bei grundsätzlichem Festhalten an einem postmortalen Jüngsten Gericht - dieses Erbe der präsentischen Eschatologie ansatzweise rezipiert, offenbar um die Ereignishaftigkeit des außertemporalen Gerichts zu wahren. Die Folgen für die Darstellungsweisen des Gerichts (civ. dei> Buch 20 und 21) sind erheblich: das Gericht spielt sich im Gewissen des Menschen ab; Richter kann in wechselnder Bildlichkeit Gott, der Angeklagte selbst oder ein anderer Mensch sein; der Angeklagte tritt auch als Zeuge auf, ebenso der Richter. Klage, Anhörung, Verteidigung und Urteil verschwimmen nicht selten zu einer bloßen Selektion74 von Gruppen (so schon Matth. 25), die ersichtlich sehr leicht in das Schlußmoment eines innerhistorischen Vorgangs umgedeutet werden kann. Am denkwürdigsten erscheint die Metaphorisierung des Kerns jeder rechtlichen Applikation, der narrativen Zuspitzung der Lebenstaten vor der Rechtsapplikation, die sich als Vernehmung, Geständnis, Zeugnis, jedenfalls aber als 74 Diese hermeneutische Reduktion des iudicium erlaubt auch die Rezeption sehr alter, in der christlichen Eschatologie systemwidriger Darstellungsformen; so die der (seit Ägypten belegten) Seelenwaage bereits bei Augustin; vgl. L. Kretzenbacher, Die Seelenwaage, Klagenfurt 1958. 371
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Fallkonstitution niederschlägt. Ihre Reduktion zum Vorlesen aus einem geistlichen Schuldbuch ist schon in der Apk. angedeutet; in der jüdischen und altchristlichen Tradition steigert sich das Bild dann zur gigantischen, zugleich blitzschnell bilanzierbaren geistlichen Buchführung, zum Inbegriff unendlicher göttlicher memoria als Balance der unendlichen lebensweltlichen Kontingenz.75 Auch Augustin rezipiert die beiden Bücher, aus denen in der Apk. vorgelesen wird (Apk. 20,12: die »Bücher« und das »andere Buch« sc. des Lebens). Aber er deutet sie um: die »Bücher« als offenbarte Schrift, das »Lebensbuch« als - für die Belange des Gerichts lückenlose - Erfassung des je individuellen76 Lebens. Mit dem letzteren liegt also ein narratives Ensemble in Gottes außertemporaler Hand seit der Prädestination, das sich in seinem narrativen Telos nicht von den Confessiones unterscheidet. Am Ende der Entwicklung hat die Eschatologie August ins77 eine Gestalt gewonnen, die in der Tradition Bestand haben wird (8) - insgesamt eine hermeneutische (applikative) Denkform des Endes, die ihre Stabilität durch ihre überwiegende [303] Transposition in die postmortale Phase gewinnt. Die in ihr mitgeführten Elemente präsentischer Deutimg des Endes haben jedoch die Probleme dieser Lösung eher noch vergrößert. Das zeigt die Metaphorisierung des Gerichts - die Integration von Präexistenz und Eschaton in die Hermeneutik - und die Konzentration auf eine entscheidende Spanne teleologisch durch die conversio bestimmten menschlichen Lebens, insofern sie in der narratio erfaßbare Individualität festzulegen sucht. Beide Tendenzen verweisen auf das (von Kant hervorgehobene) Dilemma jeder futurischen Eschatologie: Wie kann der Mensch im Ende dauern? Denn eine solche Dauer muß nun über den (wesenlosen) Tod hinweg angenommen werden. Und zwar ist unbedingt erforderlich eine leibliche Dauer; nur sie garantiert die Individualität des Gerichts. Sie muß sich außerhalb der Zeit erstrecken - nach Kant das Zeit-Paradox jeder Dauer im Ende. Hieraus folgt in jeder futurischen Eschatologie eine weitere Komplikation: das postmortale Gericht zwingt zum Ansatz einer leiblichen Auferstehung, die dem Gericht vorhergeht.71 Schließlich muß solche 75 Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, S. 22ff. 76 Wie Blumenberg gezeigt hat (Lesbarkeit S. 29), hat Augustin (ctv. dei 20,14) bei dieser Transformierung den Text von Apk. 20,12 (»Über vitae*) zu »Über vitae uniuscuiusque« geändert. 77 Die Hauptzüge seines Systems finden sich zuerst in der fragmentarisch erhaltenen Schrift des Apologeten Justin über die Auferstehung. 372
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Dauer in Auferstehung auch eine Verwandlung, Steigerung des Leibes bedeuten. Denn damit die (zuvor wartende) Seele in den Leib erneut eintreten kann, um in der Einheit des corpus spirituale die Außerzeitlichkeit (verbildlicht in der Ewigkeit von Lohn und Strafe) zu erleben, muß sie eine Leiblichkeit anderer Qualität vorfinden. »Ohne die Umwandlung des Leibes ist kein Gericht möglich« (Tertullian).* So werden denn die pure Fortsetzung des Lebens (nach der conversio)7* und die garantierte leibliche Identität post mortem in einem Maße hervorgehoben, daß es die neuere Theologie aufs stärkste befremdet hat.80 Der »Lobpreis des Leibes« (»praeconium carnis«, Tertullian resurr. mort. 11,1) kehrt bei Augustin im letzten Buch der civitas dei in einer ausführlichen Feier menschlicher Leiblichkeit wieder, die a capite ad calcem jeden Körperteil nach der Proportionenlehre antiker Ästhetik durchgeht. Im übrigen geht Augustin an den Zeit-Paradoxa (Dauer post tempus, resurrectio vor iudicium) zu Beginn seiner Darstellung der Eschatologie in De civitäte dei mit einem knappen Hinweis81 vorbei - er konzentriert sich auf das Problem von Verwandlung und Dauer hinsichtlich des Leibes: »nulluni esse nunc carnem, quae dolorem pati possit mortemque non possit« (civ. dei 21,3). Ein solcher Superleib82 wird von Augustin sogleich in einem apologetischen Horizont eingeführt: an sich steht er unter dem Mythos- und Fiktionalitätsverdacht der Heiden. Augustin macht keinen Hehl daraus, daß in der Tat eine solche Darstellungsform der Dauer im Ende die christliche Eschatologie zu mythisieren [304] droht: »si credendum esse concesserimus, confirmabimus numina paganorum« (civ. dei 21,6). Die Behauptung einer dauerhaften Existenz gegenüber der immanenten historia präsentischer Eschatologie wie gegenüber einer bloßen Hermeneutik des Endes ist der klassische Fall einer Remythisierung. 78 Das hat zuerst Justin (apol. 1,18) festgestellt. * [Das Zitat läßt sich bei Tertullian nicht nachweisen, wohl aber der Gedanke; vgl. u.a. resurr. mort. Uyi;Adv. Marc. 5,10,13-15; 5,12,2f.] 79 »La seule excuse de vivre c'est d'attendre la resurrection« (Leon Bloy). 80 Die äußerste Gegenposition ist in der Eschatologie K. Barths, H. Otts und E. Jüngels erreicht: mit dem Tod wird das menschliche Dasein vollständig verwirkt (daher das Gericht im Tode); die Auferstehimg setzt einen neuen Anfang (vgl. Greshake und Kremer [Anm. 62], S. 250f.). 81 Civ. dei 21J. 82 Denn an ihm (nicht an der Seele) gehen die Veränderungen vor, die ihn zur materia spiritualis steigern (vgl. die Nachweise bei L. Wittmann [Anm. 70], S. 251ff.). Zugrunde liegt IKor. 15,42-44. 373
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Man kann daher die augustinische Erörterung über die Dauer im Ende des Menschen als den beständigen Versuch beurteilen, die auseinanderstrebenden Darstellungsformen der Hermeneutisierung (1), der Rückbindung an innerweltliche Geschehnisse (2) und der Remythisierung (3) zusammenzufassen. Zunächst (1) wird die Darstellungsform als selbstreflexiv eingeführt, also hermeneutisiert. Das Zusammenschießen der verstreuten Leibpartikel in der Auferstehung, so heißt es, geht blitzschnell vor sich, so schnell, wie es eben als notwendig gedacht werden muß (civ. dei 20,20). Die UnVeränderlichkeit der Individualität im ewigen Leib (»semper eiusmodi esse«) ist Ergebnis der Schriftauslegung (div. quaest. 83,9.19).83 Das Problem, welche Tätigkeit dieser Existenz nach dem Tode noch verbleibt - »quid agatur, nescio« (civ, dei 22,30,1) -, wird (2) durch Rückbindung an die zeitliche Existenz (im memorativen Lob Gottes) oder durch Ästhetisierung gelöst (Betrachtung des Leides der Verdammten als spectaculum ohne miseratio). (3) Solche Verfahren (die Kontingenz gleichsam verdampfen lassen) sind starker Gefährdung durch das Problem der fortbestehenden Individualität ausgesetzt. Die Notwendigkeit, eine über das Ende fortdauernde Individualität anzunehmen, besteht nicht nur für die Gerichtshandlung (besonders bei einer Strafe, welche Individualität beglaubigt, ja arretiert).84 Bereits der auferstandene Leib muß einerseits die Unverwechsel83 Weitere Beispiele bei L. Wittmann [Anm. 70], S. 260f. 84 Bei Augustin, wie generell in der Spätantike, ist zwar die Dauer als Strafe bereits stärker verbildlicht als die erlöste Dauer der Seligen, jedoch nicht zum Signum persistierender Individualität gesteigen. Die Strafen (zusätzlich sämtlich biblischer Bildlichkeit entspringend - das Feuer, die Kälte, der nagende Wurm) werden noch nicht an die Lebenswelt zurückgebunden (zu Ansätzen vgl. J. Le Goff, La naissance du purgatoire, Paris 1981). Das bezeichnet den Unterschied zu der bekannten Persönlichkeitssteigerung und Arretierung der irdischen Individualität im Danteschen contrapasso des Inferno (vgl. K. Maurer, Personifikation und visionäre Persönlichkeitssteigerung in Dantes Divina Commedia, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 43, 1965, S. 112-127, und K. Stierle, Selbsterhaltung und Verdammnis, in: Individualität, hrsg. von M. Frank und A. Haverkamp (Poetik und Hermeneutik 13), München 1988, S. 270ff.). Die narrative Garantie solcher Persistenz in den Berichten der Verdammten, das eigentlich Neue in der literarischen Eschatologie Dantes (während ihre Straf-Situationen durchaus judizialen (hermeneutischen) Eigencharakter besitzen können), steht eher in der Linie der Teleologie, wie sie die Confessiones in der Gestalt des augustinischen Über vitae (noch in der Hand des urteilenden Weltenrichters) besitzen. Weniger beachtet ist die Frage nach der identischen Fortdauer in Dantes Paradiso (nach K. Stierle, Selbsterhaltung S. 283, ein »Ort ausgelöschter Individualität«; vgl. 374
VOM AUFHÖREN barkeit einer individuellen Gerichtsentscheidung gewährleisten,85 [305] andererseits sprengen die Traditionen der altchristUchen Eschatologie die Grenzen der Personalität: »nos vero omnes in eandem imaginem transformamur« (2 Kor. 3,18).* Augustin gleicht diesen Widerspruch in einer Weise aus, die für jedes System typisch ist, das Kontingenz zu erfassen nicht in der Lage ist durch eine ausgefeilte Kasuistik. In ihrem Zwang zum Detail versteigt sie sich zu Anschauungsformen, die mir sonst nicht bekannt sind. Beispiele (civ.dei 22,12ff): 1) Werden alle Leiber gleich sein? (Das sei denkbar, aber nicht notwendig.) 2) Werden Frühgeburten und Foeten auferstehen? (Eine Antwort sei schwer zu geben.) 3) In welchem Lebensalter werden die Auferstehungsleiber verharren? (Nahe liege das Alter des individuellen Todes; anzunehmen sei, daß alle dreißigjährig sein werden: dies sei das Alter des auferstandenen Christus. Jedenfalls werden im Sinne der Steigerung als perfectio die Kinder als Erwachsene auferstehen.) 4) Welche Körpergröße? (Das Problem bestehe darin, daß die Größe einheitlich, weil an der Größe Christi ausgerichtet sein müsse, eine individuelle Verkürzung des Leibes würde aber der unbedingt erforderlichen Bewahrung der Einzelpartikel (Massenerhaltung) im Auferstehungsleib widersprechen.87 Wahrscheinlich: die Größe, die man im jugendlichen Erwachsenenalter anzunehmen habe.) in der Diskussion ebd. S. 339 die Einschränkungen J. Starobinskis). Die für Dante als >Lichter< - individuell nicht mehr erkennbaren Gestalten des Paradiso berichten in der Tat nie von ihrem irdischen Selbst; ihre Leiblichkeit erscheint gesteigert (Par. 14,10ff.), individuelle Sonderung wird geradezu perhorresziert (Par. 15). Gleichwohl ist das Bemühen Dantes, eine Spur von Individualität zu zeichnen, unverkennbar (vgl. die Transfigurationsthese J. T. Schnapps, The transfiguration of history at the center of Dante's Paradise, Princeton 1986). 85 So besonders nach Thomas von Aquino; vgl. M. Seckler [Anm. 60], S. 129. 86 Es wiederholt sich damit in der Eschatologie das Problem, das in der Erbsündenlehre Augustins für die Praexistenz des Individuums auftritt: die vom (für alle weitervererbten) Sündenfall her ungeschiedene >traduzianische< Masse der Gesamtseelen muß gleichwohl in einem >kreationistischen< Akt für jede Geburt gesondert werden; ein solcher ist ebenso Bedingung für die Prädestination wie der Auferstehungsleib für die ewige Seligkeit. Vgl. P. F. Beatrice, Tradux peccati. Alle fonti della dottrina agostiniana del peccato originale, Mailand 1978, und L. Wittmann [Anm. 70], S. 254. 87 Metaphorisch vermag jedoch Augustin in seiner Exegese die >Verkürzung< 375
VOM AUFHÖREN
5) Dickleibigkeit, Gliedverluste, Krankheiten im Leben, Verwesungsund Zersetzungsverluste post mortem} (Werden ausgeglichen.) 6) Stehen Frauen als Frauen auf oder alle als Männer? (Die umgekehrte Frage wird nicht gestellt. - Augustin entscheidet sich zögernd für geschlechtlich verschiedene Auferstehung, da man das weibliche Geschlecht nicht unbedingt als natürlichen Defekt anzusehen habe.) 7) Wie können im Leben abgeschnittene Haare (vgl. Luk. 21,18) und Nägel restituiert werden? (Im Unterschied zu Exkrementen gehörten sie zum individuellen Leib und werden in toto - aber >verwandelt< - in den Auferstehungsleib eingeschmolzen. Wichtig ist hier das Kriterium ästhetischer Perfektion. Würden alle abgeschnittenen Nägel mit auferstehen, »ubi erit decus?« civ. dei 22,12.) 8) Was geschieht im Fall des Kannibalismus? Steht in Anbetracht der verzehrten Körpeneile der Essende auf? Dann würde die verzehrte Portion der Körpermasse [306] des Gegessenen fehlen. (Lösung: die verzehrte Portion ist ein mutuum (eine Leihe), obwohl sie zur eigenen Körpermasse beigetragen hat.)*8 Die vertrackte Logik dieser Kasuistik folgt ersichtlich dem Zwang, jede Rückkopplung an ein lebensweltliches Telos, zugleich jeden Ansatz zur Mythisierung aufgrund luxurierender Bildlichkeit zu unterbinden; er folgt somit einer unwiderstehlichen Tendenz zur Entindividualisierung. Das Ergebnis ist zunächst etwas, was stets christlichen Darstellungsformen leiblicher Kontingenz in der Bildenden Kunst unterstellt wurde, »eiserne Familienähnlichkeit: eineiige Hundertlinge« (Arno Schmidt). Aber dieser Systemzwang stößt noch bei Augustin an seine Grenze. Dies betrifft zunächst das Verhältnis von Leib und Seele in der auferstandenen Person. Beide lassen sich letztlich nicht substantialistisch voneinander trennen; auch Augustin gesteht Wirkungen und Rückwirkungen zu. Werden also >negative< (vulgo: vom Leib verursachte) Affekte entfallen? Nach Augustin sind Trauer und Mitleid in der Tat mit dem Auferstehungsleib ausgeschlossen (memoria aber bleibt); selbstverständlich hat dies auch für Konkupiszenz und Laster zu gelten (auch die >Kardinal-Tugenden< als Abwehraffekte entfallen). Es ist einzusehen, daß Augustin sich hier einem unsicheren Terrain nähert, das zu betreten er vermeidet.
der irdischen Leiblichkeit durch die Beschneidung auf die Veränderung des Auferstehungsleibes auszulegen (c. Faustum 16,29). 88 Vgl. weitere Beispiele bei L. Atzberger, Geschichte der christlichen Eschatologie, Freiburg 1896, S. 327. 376
VOM AUFHÖREN Der Augustinforscher und Theologe H.-L Marrou hat gerade an diesem Punkt Augustin nicht nur referiert, sondern ihn im Sinne der modernen Theologie einer auf eschatologische Wirklichkeiten vorgreifenden Friedensgemeinschaft fortzudeuten gesucht.89 Hierbei treten die angedeuteten Schwierigkeiten in helles Licht. Die »valeurs humaines« der irdischen Personalität werden, so Marrou, sämtlich erhalten bleiben, insofern sie den eschatologischen Frieden vorwegnehmen; jede >wertvolle< Individualität wird erhalten bleiben, jede »non valeur« verschwinden. Die Gefährlichkeit eines solchen eschatologischen Humanismus liegt auf der Hand. Zum anderen entgeht es Augustin nicht, daß der Leib als solcher - also auch der Auferstehungsleib - eine Naturgeschichte hinter sich hat, daß er ein Geflecht von zeitlich bedingten Funktionen ist, die schlechthin nicht mit einer Unwandelbarkeit kongruieren. Die Lösung ist ein Kompromiß: teils werden leibliche Funktionen gesteigert (ungeheure Laufgeschwindigkeit; Telepathie), teils werden sie den natürlichen Abläufen enthoben (keine Ermüdung),90 zum größten Teil werden sie obsolet: die Gestalt bleibt, die Funktion ist erstorben. Übergriffe in griechische Medizin und Naturwissenschaft werden gemieden.91 Insgesamt bleibt ein ähnlich paradoxes Bild, wie das der bewaffneten (Raub-)Tiere im Paradies vor [307] dem Fall. Dementsprechend verdeutlicht Augustin seine Auffassung am Funktionswandel des männlichen Gliedes.92 Im Status corruptionis wird es durch Konkupiszenz, also durch Herrschaft des Leibes über die Seele, erigiert. Im prälapsarischen Zustand besaß Adam die Fähigkeit, durch puren Willensakt (ohne Konkupiszenz) zu erigieren (und wollustlos zur Fortpflanzung zu schreiten). Der Auferstehungsleib weist noch das Membrum auf; eine Erektion ist nicht denkbar. Weist das Problem der naturalis historia des Leibes bereits auf eine Rückkopplung an die temporale Welt, so vollends die Darstellungsform der Erinnerungsspur. Sie bleibt Märtyrern vorbehalten, die das Telos der Entscheidung in zeichenhafter Spur an ihrem Auferstehungsleib zu tragen berechtigt sind: Narben, sogar Amputationen. Zum Teil verdankt sich diese Grenzüberschreitung der Zeichenhaftigkeit einer erbaulichen Hermeneutik (so weist nach Prudentius psych. 163ff. der selige Hiob eine 89 H.-I. Marrou [Anm. 46]. Vgl. die augustinischen Ansätze civ. dei 19,13. 90 Enarr. in psalm. 147. Die Vorgänge der Ernährung bleiben, sind aber belanglos (sermo 242,2,2). 91 So hatte der Apologet Athenagoras (resurr. 7^7) Blut, Leber und Galle vom Auferstehungsleib ausgeschlossen. 92 Vgl. contra duas ep. Pelag. 1,17,34; civ. dei 14,23f. 377
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physiognomische Veränderung auf: das Lächeln, das seinen irdischen Gram kontrastiert). Es ist aber nicht zu übersehen, daß in dieses Denkbild der Dauer vor allem jene Stetigkeit der Entwicklung vom Irdischen her eingeschrieben ist, die sich als Veränderung, genauer: Verwandlung erfassen läßt und die eschatologische (Zeit-)Schwelle überspringt. In der Tat ist der Begriff der Verwandlung unter diesem Aspekt in der christlichen Auferstehungslehre seit der Spätantike zum terminus technicus geworden,93 der sich auf lKor. 15,52 stützen konnte. Seine Eigendynamik ist bemerkenswert. Auferstehung ist nicht nur mutatio in melius (vgl. civ. dei 21,15 und 24 hier überschattet der Gedanke der Perfektion das Ende). »Mutatione verum, non interitu« (civ. dei 20,14) - dieses Konzept nimmt das Ende geradezu zurück.94 Verwandlung, insofern sie Dauer im Ende darstellt, ist eine mythische Anschauungsform in einem präzisen Sinn. Denn sie kann erzählt werden. Sie vermittelt, wenn sie im Horizont der christlichen Eschatologie auftritt, also menschliche Dauer im Ende darstellen soll, futurische mit präsentischer Eschatologie. Aber sie tut dies, indem sie Eschatologie außer Kraft setzt. Sie stellt nämlich den Weg von der Veränderlichkeit zur Unveränderlichkeit dar; einen solchen Weg aber kann es nur geben, weil ein von >Natur< aus gewährleistetes und abgeschlossenes Substrat dieses Vorgangs bestehen bleibt. »Figura praeterit, non natura.«95 Noch im Horizont der christlichen Eschatologie weist damit die Denkform der Verwandlung auf ihren mythischen Charakter, durch den Telos und Ende in einer [308] neuartigen Weise voneinander ablösbar sind. Anfang und Ende umgreifen einen Gesamtvorgang (der Natur), dem der Wandel (der Gestalt) ein erzählbares, in diesem Sinne mythisch gewährleistetes und gesetztes Telos einprägt. Eine solche Mythisierung als Verwandlung erfahrt die leibliche Auferstehung vor allem an der bisher noch nicht erörterten Frage des augustinischen Systems: bei der Auferstehung der zur Zeit des Endes noch Lebenden.96 Der Lebende wird hier unmittelbar ins Gericht geholt, er wird den 93 Vgl. vor allem H.-I. Marrou [Anm. 46], S. 131ff. 94 Die hier trotz aller augustinischen Abgrenzungen zutage tretenden Verbindungslinien zur Geschichtsphilosophie (bis Bloch) verfolgt E. A. Schmidt [Anm. 70], S. 71f. Bei Orosius (contra Prise, et Orig. 8,10) wird das Argument jedoch deutlich gegen das platonistiscbe Zyklenkonzept des Origenes gewendet: nur immutatio, nicht Neuschöpfung. 95 Civ. dei 20,14. 378
VOM AUFHÖREN Tod »nicht sehen«. Bei diesem Vorgang wird er - anstelle des Todes - verwandelt. Diese völlig mythische Anschauung (sie entspricht genau der Himmelfahrt des Elias auf dem feurigen Wagen, die Kant für den unendlichen Fortschritt zitiert hatte) hat 1 Thess. 4,12 (der locus classicus für die Auferstehung der Lebenden) bewahrt: »rapiemur in nubibus« - im Moment der Weltverwandlung werden die Lebenden dem herabkommenden Christus entgegengerissen und verwandelt. Charakteristischerweise hat die kirchliche Lehre seit Augustin (civ. dei 20,20) das Bild durch die Einfügung des - eschatologisch geforderten - Todes entmythologisierend zu entschärfen gesucht. Dadurch aber ergeben sich nur weitere Komplikationen. Das zeigt sich in einer nahezu grotesken Raffung: im Moment des Emporhebens wird der Leib des Lebenden von Gott im Tod aufgelöst, sogleich vom Tode auferweckt und sofort zum Auferstehungsleib gesteigert: »potest quippe omnipotens mira eos celeritate in ipso raptu morte dissolvere statimque ad vitam revocare.«97 Augustin hat jedoch sehr wohl die Nähe zur mythischen Metamorphose, genauer: zur Apotheose gesehen. In apologetischer Absicht98 weist er auf die Verwandlung des Romulus bei seiner Himmelfahrt hin (civ. dei 22,6). Wirklich ist die ovidische Darstellung der Auferstehung der Lebenden gerade in der »Zerschmelzung«, Verwandlung und Steigerung der Leiblichkeit sehr nahe (Ovid. met. 14,824-828): »(...) corpus mortale per auras dilapsum tenues, ut lata plumbea funda missa solet medio glans intabescere caelo. pulchra subitfacies et pulvinaribus altis dignior (...).« 96 Einem, wie das Glaubensbekenntnis (»die Lebendigen und die Toten«) ausweist, unverzichtbaren Erbe apokalyptischer Eschatologie: es wird sich - wenn auch zu unbestimmter Weltzeit - das Ende so vollziehen, daß es auch noch Menschen in ihrem Leben trifft. 97 Otto von Freising, chron. 8,13. Otto hat diesem Theologoumenon eine sehr anschauliche Schilderung gewidmet. Möglicherweise ist sie in einem Detail {dissolvere) bereits der gleich zu nennenden Romulusmetamorphose verpflichtet. Theologisch gebotene Einfügung des Todes läßt sich auch in der zeitgenössischen Hagiographie beobachten: da ein Kind ungetaufc stirbt, kann der Märtyrer es auferwecken (damit es das Sakrament erhält) und es danach wieder sterben lassen: De mirac. St. Stephani (PL 41) 1,15,1. 98 Augustin vermeidet im übrigen - auch wegen des erwähnten Fiktions- und Mythosvorwurfs der Heiden - einen Vergleich der Auferstehungslehre mit der Metamorphose. 379
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Die Remythisierung der christlichen Eschatologie hat die Darstellungsform der mythischen Metamorphose erreicht. [309] Solche Remythisierung läßt sich nicht als Pervertierung eines urchristlichen Ansatzes deuten: vielmehr folgte sie gebieterisch aus den Problemen, die mit dem Sieg einzelner eschatologischer Anschauungsformen über andere auftraten. Dieser Sieg war nur durch Integration der konkurrierenden Formen möglich: des gesetzten und erzählbaren Telos aus der präsentischen Eschatologie und der judizialen Hermeneutik aus der Apokalyptik. Erst diese Integration ermöglichte narrative Dogmatik und stellte zugleich die Frage, wie menschliche Dauer nach aller Zeit vergegenwärtigt und erzählt werden kann. Der Weg zur Remythisierung war vorgezeichnet. Er fordert dazu auf, sich der mythischen Denkfigur aller Dauer im Ende, der Metamorphose selbst, zuzuwenden und sie darauf zu befragen, was sie für die Anschauung von der menschlichen Dauer im Ende austrägt. Auch eine solche Untersuchung kann noch einmal an die Radikalität der kantischen Phänomenologie anknüpfen.
ffl Dauer im Ende als Metamorphose - Ovids Metamorphosen als ästhetische Darstellung der Denkfigur - Lycaons Metamorphose Folgerungen für eine Gesamtdeutung der Metamorphosen Spannung zwischen Telos und Ende: Actaeon; Atalanta und Hippomenes »Hermaphroditus a resurrectione alienus.* Augustin* Kant hat im Ende aller Dinge den zuletzt erörterten Fall - wenn das Ende aller Zeit im Menschenleben eintritt - hervorgehoben und als Paradoxon formulien:99 »Alsdann wird die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subjekt stehend und ohne Wechsel immer dieselben.« An diesem Punkt hat Kant die kritische Prüfung der eschatologischen Tradition bis zu ihrer Dekonstruktion vorangetrieben, indem er sie zum * [Das Zitat läßt sich bei Augustin nicht nachweisen.] 99 I. Kant, Werke [Anm. 1], Bd. 6, S. 419.
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Problem einer jeden Dauer in jedem denkbaren Ende zusammenfaßt. In dieser Allgemeinheit verschwinden die wesentlichen Voraussetzimgen der Frage nach der menschlichen Dauer nach aller Zeit: 1) der Tod bleibt aus dem Spiel (ob das Geschehen als Tod zu deuten wäre, ist nicht von Belang; die Dauer des »denkenden Subjekts« spricht eher dagegen), 2) das Leben hat keinen aus ihm herleitbaren Abschluß, kein Telos. Schließlich 3) wird Ernst gemacht mit dem Paradoxon des Endes der Zeit. Es kann nach solchem Ende keine Veränderung mehr eintreten, also keine Auferstehung als mutatiöy kein ludicium, keine Strafe - allgemein gesprochen: keine Sinngebung durch judiziale Hermeneutik oder das Pragma einer neuen Welt. Es ist also kein aus der Zeitlosigkeit herleitbarer Abschluß, keine Eschatologie möglich. Das reine Abbrechen der Zeit hebt aber nicht nur jede Eschatologie auf, sondern geht auch hinter die Darstellungsform der mythischen Verwandlung zurück, [310] insofern in dieser etwas vor und nach der Metamorphose erzählt werden könnte - erzählt werden könnte, weil eine gemeinsame Bild- und Zeitebene (etwa der >Natur<; vgl. oben II) bestehen bleibt. Mit der Zeit also bricht jedes Geschehen ab. Genauer - und dies ist der Wert der kantischen Phänomenologie - : es verharrt und kann in eben diesem Stillgestelltsein nicht mehr das gleiche, zeitlich fließende Geschehen bleiben. Es ist verändert gegenüber seinem früheren Sein in der Zeit. Eben weil alles, nicht zuletzt »Gedanke« und »Gefühl«, immer dasselbe bleiben wird, wird alles Existierende »starr und gleichsam versteinert«. Die Dauer ist zeitlos geworden, und es geschieht eine Metamorphose, weil alles zeitlos dauern wird. Mit dieser Phänomenologie ist Kant weit über und vor eine religiösapokalyptische Eschatologie und die Möglichkeit einer mythisch erzählbaren Metamorphose hinausgegangen. Aber seine Phänomenologie zeigt deutlich, daß diese Verschränkung von Ende und Dauer als Problem, ja Postulat einer Darstellungsform formuliert ist. Auch was durch ein Abbrechen der Zeit endet, muß sich dadurch verwandeln. Dauer ist Metamorphose. Die Ergebnisse der kantischen Metamorphose durch den Stillstand der Zeit erscheinen bei ihm nicht zufällig als Artefakte. In der Tat ist dieses Paradoxon der Dauer im Ende eine Kernfrage des ästhetischen Darstellern, insofern Ästhetik, insbesondere Dichtimg, sich stets damit befaßt, ein Telos zu setzen, es fungibel zu setzen oder zu durchstreichen. Findet sie durch ihr ästhetisches Telos auf die Frage nach dem dauerhaften Ende eine genuine Antwort? Dauer im Ende ist, so soll gezeigt werden, als Metamorphose mythischen 381
VOM AUFHÖREN Geschehens das Thema Ovids. Trägt sein Gedicht Züge, die auf das Interesse der christlichen Eschatologie an der Dauer im menschlichen Ende weisen? Nähert es sich, trotz seines mythischen Gegenstandes, dem kritischen Zeitparadox Kants? Was Ovids Denkbild Metamorphose, seine Anschauungsform der Denkfigur Dauer im Ende zu leisten vermag, kann das erste Beispiel aus den Metamorphosen, die Geschichte Lycaonsy100 zeigen. Die Geschichte gehört zum Motivkreis der >kleinen Eschatologie<, des Vernichtungsbeschlusses und der darauf folgenden Flut. Juppiter wandert durch Arkadien, um unter dem ersten Menschengeschlecht, das dem Gigantenblut entstammt, einen Gerechten zu finden.101 Lycaon will ihn nicht als Gott begrüßen; es handelt sich um ein antediluvianisches Kräftemessen. In einer Mischung aus Neugier, Mut und Vermessenheit will er die Göttlichkeit des Gastes auf die Probe stellen: als »experientia veri« (1,225) plant er einen nächtlichen Mord, zunächst aber als »discrimen apertum« (1,222) die Probe, ob der Gast eine Mahlzeit aus Menschenfleisch erkennt. Der zweiphasige Geschehensbogen dieses Plans wird von Juppiter [311] vorausgesehen102 und schon nach der Schlachtung und beim Auftischen abgebrochen. Es folgt als Gerichtshandlung die Vernichtung des Hauses durch Blitzschlag und Brand. Aber das judiziale Eingreifen beendet die Erzählung noch nicht. Lycaon flieht ins Freie. Dort geschieht es ihm, daß sich seine untere Gesichtshälfte verändert: »colligit os rabiem« (1,234). Merkbar ist dies anfangs nicht an der Erscheinung, sondern am Verhalten. Er kann nicht mehr sprechen, nur heulen (insofern hat sich sein Charakter - rabies - in die Kehle »gezogen«); er fallt reißend das Vieh an (insofern hat sein Charakter das untere Gesicht zur Schnauze »gezogen«). Beides soll Fortdauer anzeigen - Fortdauer zunächst von Lycaons Wesen (»nunc quoque«, 1,235; »solitae cupidine caedis«, 1,234). Sie manifestiert sich zugleich im Aufbau der Erzählung: dasjenige Geschehensmoment, an dem die (von Lycaon durchaus weiter geplante) Ereignisfolge durch Juppiter unterbrochen 100 Met. 1,163-252. 101 Das Motiv ist dem Besuch der drei Männer bei Abraham vor der Vernichtung von Sodom und Gomorrha ähnlich; in den Metamorphosen wird es mit der Geschichte von Philemon und Baucis wiederaufgenommen. 102 Juppiter ist nicht nur Herr des Geschehens, sondern auch Erzähler des Vorgangs (im Götterrat). Vgl. hierzu J. B. Solodow, The world of Ovid's Metamorphoses, Chapel Hill 1988, S. 75f.; zum mythographischen Hintergrund F. Della Corte, Le Metamorfosi di Ovidio. Libri I-V, Genua 1970, S. 50-59 (Ovid hat den Mythos auf den >Zweikampf< mit Juppiter verkürzt).
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VOM AUFHÖREN wurde: die Schlachtung haue sein Wesen enthüllt. Fondauer ist schließlich in Einzelaspekten der Erscheinung Lycaons im Freien zu erkennen: graue Haare, Physiognomie. Nichtsdestoweniger herrscht Diskontinuität vor: Borsten statt Kleider, Beine statt der Arme. Die Diskontinuität liegt im Bildraum, in der Kontingenz der Erscheinung, die nicht als Fortdauer erklärbar ist. Diese Diskontinuität überwiegt aber auch, was das Wesen Lycaons betrifft. Er ist kein Mensch mehr: »fit lupus« (1,237). Lycaon ist nun Wolf, der Wolf. Es ist also ein Ende eingetreten, eine Verwandlung. Und dieses Ende ist wiederum auch das der Erzählung: Lycaon in den Wäldern ist nicht tot, aber von ihm kann nichts mehr erzählt werden. Wenn eine derartige Analyse des Verwandlungsvorgangs hinsichtlich der Aspekte Wesen, Erscheinung und Narrativität sich dem Problem Kontinuität / Diskontinuität nähert, nimmt sie die Metamorphose selbst und ihren Vollzug als Thema der ovidischen Metamorphosen ernst. Das ist in der Forschung eine überwiegend aufgegebene Position103 (die etwa an die detailreichen Analysen bei H. Haege, Terminologie und Typologie des Verwandlungsvorgangs in den Metamorphosen Ovids, Diss. Tübingen 1976, anknüpfen kann). Nun nimmt, wie die oben angedeutete, jede Analyse des Metamorphosenvorgangs, indem sie angesichts des narrativen Kontinuums zwischen Mythos und Natur eine stärkere oder schwächere Gewichtung der Diskontinuität enthält, auch zu den hier untersuchten Phänomenen der Dauer im Ende Stellung. Zwei neuere Interpretationen verdienen deshalb in diesem Zusammenhang Beachtung, weil sie sich unserer Frage stellen, ob Ovid zu einer genuin ästhetischen Lösung gelangt, die von dem bisher Untersuchten (oben I und II) abweicht. Denn beide Interpretationen fassen die Zäsur der Metamorphose zwischen Mythos und Natur als eine hermeneutische ins Auge; sie gehen von einem metaphorischen Horizont des Ovidschen Werkes aus. 1) E. Pianezzola, Elementi della tecnica poetica ovidiana, Turin 1973, versteht die Einzelepisode als Entfaltimg einer vorgängigen Metapher für das Wesen des Menschen (hier: >der Mensch ist ein Wolf<). Der Mythos wird als Entfaltung der Metapher erzählt (er wäre also nach Quintilian als Allegorie aufzufassen); die Metamorphose in ein [312] Naturwesen vollendet deshalb zugleich den Verwandlungsvorgang wie die Erzählung, weil er die hermeneutische Beglaubigung des vorausgesetzten Horizonts wäre. Man sieht, daß die ovidischen Metamorphosen in Pianezzolas Interpretation eigentlich Fabeln sind, in einer Interpretation, die das Element der Kontinuität deshalb durchhalten kann, weil die hermeneutische Zäsur bereits vor Einsatz der Erzählung gesetzt wird. 103 S. unten Anm. 106. 383
VOM AUFHÖREN 2) E. A. Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Die Metamorphosen als Metapher und Symphonie, Heidelberg 1991, verändert die Blickrichtung: »Die neue Gestalt (...) ist nichts anderes als die Metapher für eben diese Geschichte und das ihr zugrundehegende Wesen.« (S. 58). Es bleibt die Annahme eines vor gängigen Deutungshorizontes, aber die hermeneutische Zäsur Hegt zwischen Erzählung und deren eigener Metapher in Gestalt der (dauernden) Metamorphose. Nicht Welt-Metaphorik führt nach Schmidt zur Erkenntnis (dauernden) menschlichen Wesens, sondern umgekehrt: »Liebe und Kenntnis des Menschen« verwandeln poetisch die Welt-Dinge in einen Spiegel des Menschen, in einen »Bildersaal« (S. 76; vgl. S. 64). Das metaphorische Ergebnis wird man bei dieser Interpretation nicht mehr als continua metaphora (als kontinuierlichen Abschluß einer Erzählung) und damit auch nicht mehr als Allegorie im Sinne einer Entfaltimg von Fabeln über das Wesen des Menschen ansehen dürfen. Vielmehr hat die hermeneutische Zäsur, die Schmidt in die Metamorphose verlegt (das Ergebnis der Verwandlung als Metapher des zu ihr führenden Mythos selbst), zur Folge, daß das resultierende >Ding< selbst der auslegenden Seite zugehört, also der Allegorese. Nicht umsonst vergleicht Schmidt Ovids Metamorphosen mit der literarischen Form der Emblembücher. Es ist die Frage, ob die starke Akzentuierung, die jede Einschreibung der hermeneutischen Dimension in einen Text garantiert (s. oben I und II), tatsachlich Ovids Metamorphose als einer Figur der Dauer im Ende entspricht.
Versuchen wir, die Analyse der Lycaon-Episode durch Vergleich mit den zuvor gewonnenen Merkmalen eschatologischen Darstellens zu erweitern, so wird folgendes deutlich. Der Erzählungsbogen betrifft, wie bei allen ovidischen Geschichten, einen einzelnen Menschen. Er reicht vom einmaligen (mythischen) Geschehen bis zum Abschluß der Metamorphose, die endgültig ist. Das Ende ist nicht der Tod. Auch ist das Ende nicht Juppiters Strafapplikation. Ovid hat vielmehr mit dem Weiterleben Lycaons in den Wäldern, das nicht mehr erzählt werden kann, dem Tod keinen Raum in der Verwandlung gegeben. Ebenso hat er sorgsam Gericht und Metamorphose getrennt. Juppiter straft lediglich durch Blitzschlag und Brand; er läßt nicht die Metamorphose beginnen. Diese beginnt überhaupt nicht eigentlich, genauer: sie beginnt bereits mit der Erzählung selbst. Lycaon plant eine seinem Wesen entsprechende Geschehensfolge, er setzt ein mythisch erzählbares Telos. An dem Punkt der Handlung, an dem sein Wesen in stärkster Kongruenz mit seinen Taten in Erscheinung tritt, deren Kontingenz gleichsam aufzehrt, wird auch die Kontingenz seiner Erscheinung aufgezehrt; die Metamorphose reduziert das Wesens-
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fremde, arbeitet das Wesen als Erscheinung heraus. Juppiters Strafhandlung, die auf diesen Moment zielt, hat eher eine deiktische als eine hermeneutische Funktion, ebenso die narrative Zäsur der gescheiterten Pläne. Wie aber endet die Metamorphose? Sie endet ebenfalls nicht eigentlich, so wenig wie sie als solche begonnen hat, genauer: sie stellt geradezu die Dauer ihres [313] Endes dar. Es kann also in der Tat der Geschehensbogen von der Flucht Lycaons als Mensch bis zu seinen Bewegungen im Freien als Wolf auf einer Erzählebene dargesteUt werden. Mensch und Tier sind als Naturwesen in einem Bildlichkeitskontinuum anwesend Auch hier gilt: »figura praeterit, non natura« (Aug. civ. dei 20,14). Und ebenso gilt, was zur Remythisierung der Eschatologie im Erzählzusammenhang vom diesseitigen Leben, von leiblicher Auferstehung, Verwandlung des Lebens und dessen ewiger Dauer bemerkt wurde: Anfang und Ende umgreifen einen Gesamtvorgang (der Natur), dem der Wandel (der Gestalt) ein erzählbares, mythisch gewährleistetes und gesetztes Telos einfügt (s. oben S. 378). Ovid ignoriert jedoch die menschliche Fortdauer im Ende nicht. Im Gegenteil: seine Erzählung der Mythen auf das Telos der Metamorphose hin vermag etwas zu leisten, das nur in einer ästhetischen Darstellungsform möglich ist. Ovid thematisiert nämlich das Denkbild Dauer im Ende, indem er es darstellt - und kommt damit der kantischen Darstellung des Zeit-Dauer-Paradoxons (der Metamorphose in Artefakte) sehr nahe. Dies geschieht in den Metamorphosen durchgehend dadurch, daß der Dichter mit dem Verwandlungsvorgang in der Dauer des menschlichen Endes die Unwandelbarkeit des Naturwesens (hier des Tieres) erscheinen läßt. Damit wird das Ende in der Weise thematisiert, daß diese Naturwesen dem Leser noch stets und außerhalb des Kunstwerks zuhanden sind (im Diesseits der Lebenswelt); Lycaon ist der Wolf nur insofern, als er Wolf unter Wölfen ist. Umgekehrt wird menschliches Geschehen in eine Einmaligkeit des Ablaufs eingefügt, die der Vergangenheit und lebensweltlichen Unzugänglichkeit des Mythos angehört, die nicht als Fortdauer erklärbar ist. Das ist eine Zäsur, die etwas grundsätzlich anderes als eine hermeneutische Spannung zwischen Metapher und ihrer Entfaltung, zwischen Erzählung und emblematischer Universalmetaphorik bezeichnet. Das Ende wird als Bruchstelle zwischen ästhetischer und lebensweltlicher Erfahrung selbst dargestellt.104 Auf die Darstellung dieser Bruchstelle selbst aber 104 Die Konsequenz aus E. A. Schmidts Interpretation, »die Metapher (sc. des vorausgehenden Mythos in der Metamorphose, R. H.) stünde auch noch für die Verwandlung in sie selbst« (ders., Ovids poetische Menschenwelt, Heidelberg 1991, 385
VOM AUFHÖREN erhebt das Kunstwerk noch Anspruch. Diese Thematisierung des Endes nimmt also zugleich - ein für ästhetische Reflexion typischer Vorgang das Wesen und die Grenzen des Ästhetischen in den Blick.105 Man kommt daher nicht umhin, Ovids Metamorphosen dem Titel entsprechend wirklich als Dichtung über die Dauer des Endes, die Metamorphose, zu lesen - einen über hunderte von Einzelmythen hinweg festgehaltenen Gesichtspunkt. Das [314] ist in der Forschung eine kaum vertretene Auffassung.106 Ovid legt sie in einer ihm eigenen Weise nahe genug. Er weist nämlich auf mögliche Referenzsysteme inhaltlicher Deutung hin, um sie sogleich in Widersprüchlichkeit aufzuheben. Auf die Funktion eines mythologischen Weltgedichts, lesbar (und tatsächlich gelesen) als mythographisches Kompendium, könnte seine Bezeichnung des Werkes als »perpetuum Carmen« (met. 1,4) verweisen. Doch Ovid durchstreicht eine solche Deutung; denn er hat eine chronologische Ordnung suggeriert (so schon im Proömium): das Gedicht habe eine zeitliche Ausdehnung vom Chaos bis zur eigenen, augusteischen Zeit. Dem folgten die geschichtlichen, näherhin >augusteischen< Deutungen des Werkes.107 Doch Ovid durchstreicht auch sie unübersehbar. Dem obligaten Augustuspreis nach dem Gigantenkampf und am Werkende widerspricht die Rücknahme des Rombekenntnisses in der Pythagorasrede des 15. Buches.106 Zudem sind
S. 65), ist nicht so abwegig, wie er selbst meint. Die Einknüpfung der hermeneutischen Dimension in ein Kunstwerk führt sehr leicht zu reflektierenden Einklammerungen und Selbstthematisierungen, die schließlich nichts anderes mehr umschreiben als die Grenzen des ästhetischen Raumes selbst. 105 Daß ein zentrales Thema der Metamorphosen die Reflexion über Ästhetik ist, habe ich in meiner Konstanzer Antrittsvorlesimg >Narziß und Echo. Zur Ästhetik der Ülusion< [unpubliziert; vgl. oben S. Vlll Anm. 2] erörtert. 106 Viel zitiert G. K. Galinsky, Ovid's Metamorphoses, Berkeley 1975, S. 3: Ovids Werk sei »not about metamorphosis«. Zu den Ausnahmen s. oben S. 383f. Ovid wird - als Rhetor, Virtuose und glatter Nihilist - zumeist unterschätzt. Daher rührt eine Arbeitsteilung in der Forschung. Die heute zumeist vertretene Richtung betrachtet den poetischen Handwerker: so die Studien von H. Fränkel zur psychologischen Darstellung (Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten [zuerst: Ovid. A poet between two worlds, Berkeley 1945], Darmstadt 1970) und G. K. Galinsky (s. oben) zur Erzähltechnik. Zu den inhaltlichen Untersuchungen vgl. Anm. 107-111. 107 So Brooks Otis (Ovid as an epic poet, Cambridge 21970), W. Ludwig (Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids, Berlin 1965), E. Zinn (Die Dichter des alten Rom und die Anfänge des Weltgedichts, in: Antike und Abendland 5, 1956, S. 7ff.); vgl. den Forschungsbericht bei E. A. Schmidt [Anm. 104], S. 20ff. 108 A/eM5,418ff.
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die Metamorphosen vom Kern aus unepisch und unhistorisch: sie kennen keine Helden, nicht den kleinen Mann, nicht die gesellschaftliche Gruppe, nicht die politische Institution; sie kennen keine historischen Ziele und Verläufe. Die Voluten der unzähligen Einzelgeschichten sind kein Zierat an einem Weltgedicht. So ist auch jede Weltchronologie nur angedeutet, um dementiert zu werden: das Chaos wird nicht etwa durch eine Metamorphose zu den Weltaltern geläutert; diese ihrerseits werden schon im 1. Buch in eine mythische Zeitlosigkeit zurückgenommen, aus der auch die chronologischen Anstrengungen des römischen Schlußbuchs nicht herausführen.109 Die Metamorphosen sind von geschichtlicher wie von kosmischer Eschatologie entfernt. Auf ein anderes, theoretisches Referenzsystem weist Ovid sehr deutlich im Schlußbuch: es soll ersichtlich nicht übersehen werden. Hier trägt - außerhalb der Metamorphosengeschichten - der wiederverkörperte Pythagoras eine Lehre vor, deren Summe Wandel der Körperlichkeit bei Unsterblichkeit der Seele, Scheinhaftigkeit der formae über wesenhaft amorphem Fließen, Vergänglichkeit des gegenwärtigen Kosmos bei unendlicher Erhaltung seiner Elemente darstellt (met. 15,153-198). Bis heute ist diese Ausprägung der Seelenwanderungslehre als Schlüssel zur Eigeninterpretation Ovids verstanden worden.110 Er würde Zugang [315] zum entscheidenden Darstellungsmedium des Endes verschaffen: der Tier- und Pflanzenmetamorphose der Menschen. Das Kontinuum, von dem als Bedingung für die Erzählbarkeit der Metamorphosen gesprochen wurde, wäre nicht nur ein solches der Ästhetik selbst, der Bildlichkeit, sondern ein solches der zugrundeliegenden natura. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Zunächst ironisiert Ovid das Referat des Pythagoras offenbar: es ist, wie oft beobachtet wurde, als Karikatur eines philosophischen Vortrags gestaltet, ermüdend und weitschweifig. Darüber hinaus unternimmt Pythagoras nichts weniger, als die Metamorphosen entsprechend seiner Doktrin neu zu systematisieren: auch er fängt bei den Weltaltern an.111 Ovid zeigt, was die poetische Metamorphose nicht ist. Vor allem: er hat 109 Vgl. zum Vorstehenden die überzeugende Interpretation E. A. Schmidts [Anm. 104], S. 47ff. 110 So H. Dorne, Wandlung und Dauer, in: Der altsprachliche Unterricht 4, Heft 2, 1959, S. 95-116; differenziert: S. Viarre, L'image et la pensee dans les Metamorphoses d'Ovide, Paris 1964, S. 211-291; nachdrücklich dagegen zuerst H. Fränkel, Ovid [Anm. 106], S. 118f. 111 Vgl. die Episode von Salmacis (15,319). Zur ovidischen Form der Einklammerung durch Darstellung im Pythagorasreferat vgl. E. A. Schmidt [Anm. 104], S.40ff. 387
VOM AUFHÖREN sie nicht als Reduktion auf Naturgesetze, Abstraktionen und Elemente dargestellt; eine Form endet bei ihm mit einer anderen.112 Die Metamorphosen vergegenwärtigen das fortdauernde Ende ästhetisch. Dies bestätigt ein weiterer Widerspruch, den Ovid seinem Werk eingeschrieben hat und der den entscheidenden Hinweis auf die von Ovid unternommene Lösung des Darstellungsproblems der Dauer im Ende gibt.113 Das Ende, so konnte beobachtet werden, wurde dadurch darstellbar und ästhetisch nachvollziehbar genannt, daß die Metamorphose die Naturwesen hervorbrachte, die noch jetzt einen [316] Teil unserer Lebenswelt bilden; die Geschichten aber, die in der Metamorphose ans Ende
112 Narrative, nicht reduktionistische Darstellung von Diskontinuität stellt offenbar bei Ovid wie in mythisierenden Formen der christlichen Eschatologie vor gegensätzliche, aber vergleichbare Probleme. Soll eine durchgehende >Natur< als Substrat die Erzählfolge gewährleisten (so die natura mutata in melius bei der Auferstehung der Lebenden), so tritt sie in Widerspruch zur Theologie der Diskontinuität, die jeder Eschatologie eigen ist. Im Falle der Poesie tritt die Allgemeinheit (z.B. der Elementenlehre), die kennzeichnend ist für jede Theorie der Kontinuität, in Widerspruch zur - durch keine Metamorphose aufhebbaren - Kontingenz des Scheins, der formae. 113 Auf diese Hinweise hat zuerst E. A. Schmidt, unabhängig von seiner Theorie der ovidischen Metapher, aufmerksam gemacht (Ovids ... Menschenwelt [Anm. 104], S. 20ff.); die hier vorgelegte Deutung der Metamorphosen ist ihm verpflichtet. Daß die Thematisierung der Grenze zwischen Ästhetik und Lebenswelt auch Schmidts Untersuchung vor Probleme stellt, zeigt sich in dem, wenn ich recht sehe, nicht ganz ausgeglichenen Verhältnis zwischen seiner Deutung der Metamorphose als Metapher und seiner Gesamtinterpretation der Metamorphosen als »erzählerische Ätiologie« - nämlich »der Welt als menschlichen Metaphernhaushalt« (ebd. S. 60). - Die Ätiologie als eine alte, präzise umreißbare Denkform führt in der Tat Erzählungen als causae für etwas Dauerndes ein - oft Erfindungen, aber auch Naturphänomene; und es sind dies oft mythische Erzählungen. Aber ihr Ergebnis gewinnt keineswegs einen »Metaphernstatus« gegenüber der ätiologischen Erzählung: der Ätiologie fehlt jegliche hermeneutische Zäsur. Es ist unverkennbar, daß Schmidt den lebensweltlichen Bezug der Metamorphosen im Auge behalten möchte, ohne die ungeheure »Erweiterung der menschlichen Metaphorik«, welche die Metamorphosen nach ihm im Sinne einer poetischen Anthropologie vermitteln sollen, aufzugeben. So entsteht ein in sich widersprüchliches Konzept. Nicht vergessen werden sollte, daß Ovid selbst poetische Ätiologie, wie er sie in den Fasten vorlegt, scharf von den Themen der Metamorphosen abgrenzt (fast. 3,723ff.): »ecce libet subitos pisces Tyrrhenaque monstra dicere; sed non est carminis huius opus, carminis huius opus causas exponere quare vitisatorpopulos ad sua liba vocet.« 388
VOM AUFHÖREN kommen, werden damit verstärkt ins Jenseits des Mythos gehoben und so als Fiktion denominiert. »Natur und Kunst sind das zweifache Telos, das der Mythos der Metamorphose bei Ovid erfüllt.«114 In der Tat, die Metamorphosen generieren eine solche Fülle von Neben-Dingen (den Felsen Sipylos, Flüsse, Seen, das Echo, Pflanzen, Tiere bis zur Fledermaus und Ameise), daß sie wie eine >zweite<, freilich fragmentarische Natur wirken. Und doch hat Ovid betont die Schöpfung der Welt in allen ihren Bereichen vor der ersten Metamorphose berichtet. Und er bringt beide Konzepte in Konkurrenz. Die Koralle »gab es zuvor nicht«, der Schwan ist »nova avis«, so wie ausdrücklich Bernstein und Rebhuhn erst seit der Metamorphose existieren. Die Argusaugen komplettieren gar die Schöpfung: sie werden dem Pfauenschweif eingesetzt. Andererseits ist Lycaon natürlich nicht der erste und einzige Wolf (vgl. met. 2,494f.); übrigens geht »der Wolf« in der Flut unter (1,304).115 Ovid spielt also das Konzept einer unvollständigen, durch Metamorphosen entstandenen gegen die geschaffene Natur aus. Anders gesagt: auch die lebensweltlich zuhandenen >Ergebnisse< der Metamorphosen werden flktionalisiert. Noch indem Ovid Kunst und Natur kontrastiert und damit das dauernde Ende darstellt, versieht er diesen Kontrast mit dem Index eines ästhetischen Vorgangs - in den somit seine eigene Grenzüberschreitimg116 einbezogen wird. Ovid hat also die Spannung von Ende und Dauer, die sich in der Metamorphose verbirgt, ästhetisch beantwortet. Es wird sich zeigen, daß Ovids Lösung nicht in die Richtimg von Kants reductio ad absurdum durch die Kritik des Zeitparadoxons führt. Indem Ovid in jeder Einzelerzählung die Grenzen des Ästhetischen in der Metamorphose des Mythos erzählbar und damit diese Darstellung selbst zum Thema macht, stellt er auch dar, wie er erzählt. Das führt zu einer narrativen Ästhetik, aber vor allem zur Thematisierung des Darstellungs-Telos und seiner Abhebung von jedem anderen Telos (auch solchen Ausprägungen, wie sie bisher in der Denkfigur menschlicher Dauer im Ende begegneten). Diese Sachlage spiegelt sich in poetischen Verfahren und Typen von Einzelmetamorphosen, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können: 114 K. Stierle, Metamorphosen des Mythos. Petrarcas Kanzone >Nel dolce tempo< (Rime XXIII), in: Traditionswandel und Traditionsverhalten, hrsg. von W. Haug und B. Wachinger, Tübingen 1991, S. 37. 115 Vgl. E. A. Schmidt [Anro. 104], S. 20f. 116 Zur (ästhetischen) Kategorie der Grenzüberschreitung aus der Ästhetik in die Lebenswelt vgl. W. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt/M. 1991. 389
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1) Eine Sonderform der Dauer besteht geradezu im kantischen Bild der Erstarrung. Die Menschen versteinern wirklich. Es zeigt sich jedoch in allen Fällen, daß der Wechsel vom Tier zum Artefakt der Metamorphose einen deiktischen Sinn aufprägt. Die in Stein verwandelte Schlange von Aulis soll ein monumentum sein wie die petrefakte Gruppe von Inos Dienerinnen; Phineus soll in seinem [317] letzten Affekt als Statue geschaut werden; Lichas' und Niobes Verwandlung erklären sich aus der Kunde bestimmter geographischer Merkwürdigkeiten. Und in allen Fällen ist der Vorgang ein Aition. Deiktische Prägung verändert die Metamorphose häufig zur Ätiologie. 2) (Narrative) Ästhetik wird in den Episoden von Echo und Narziß sowie in der von Pygmalion zum Thema.117 3) Ovid spielt die Aspekte der Kontinuität und Diskontinuität in der Metamorphose in kunstvollen Variationen gegeneinander aus; bereits hier handeln viele Geschichten von ihrem eigenen Erzähltelos. Die Kontinuität (die Fortdauer des menschlichen Wesens) kann bis zum Extrem der Verkleidung gesteigert werden, der im Fall der Io sogar (einzig in den Afetamorphosen) das poetische Experiment der Gegenmetamorphose (vom Tier zurück in den Menschen) folgt. Zumeist liegt das Gewicht der poetischen Energie auf der Darstellung von Diskontinuität. Die unbeziehbare Kontingenz der neuen Gestalt ist die Regel (Grundtyp: die fliehende Syrinx wird zur Schilfpflanze). 4) Die Bewegung in das Ende der Metamorphose hinein wird von den Handelnden reflektiert. Das gestauet einen breiten Fächer psychischer Darstellung - von der Erlösung in extremer Lage (Daphne) bis zur angstvollen Verzweiflung angesichts des bevorstehenden Endes (Dryope, bis ihr die Eichenrinde den Mund verschheßt). An diesem Punkt vermag Ovid auch das Handlungstelos der mythischen Personen in mannigfachen Brechungen mit dem eigenen Erzähltelos kontrastieren zu lassen. 5) Dieses Verfahren setzt - anders als in der Lycaon-Episode - eine gänzliche Abhebung der Metamorphose von einem >Wesen < der Akteure frei. Die Verwandlung wird damit fungibel für ein narrativ gesetztes Telos, das Ovid zuweilen in ausdrücklichen Kontrast zur Metamorphose selbst setzt. Während Galanthis als das Wiesel wie Lycaon in ihrem Wesen verharrt, wird bei den Tränen-Metamorphosen der Niobe und der Byblis bereits ein partiales Erzählelement vom Spannungsbogen der Geschichte abgesondert. Es läßt sich an den großen Erzählensembles von (z.B.) Ceyx und Alcyone, Meleagros und Althaea sowie Procne und Philomela zei117 Vgl. Herzog zu Ovids >Narziß und Echo< (s. oben Anm. 105). 390
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gen, daß solches Auseinandertreten von Telos und Dauer bzw. Ende der Gestalten Ovid zuvor nicht erreichte Erzählweisen eröffnete. Unter den poetischen Grenzbestimmungen Ovids verdient die Darstellung der Spannung zwischen Telos und Ende besondere Beachtimg, weil diese Spannung zum Bestand der christlichen Eschatologie gehören wird (vgl. oben II). Zunächst gilt das für die Darstellungsform von Urteil und Strafe. Sie kann in den Metamorphosen im allgemeinen nicht als solche, als judizialer Abschluß eines Faktenzusammenhangs dargestellt werden - wohl aber in der alten rechtlichen [318] Vergegenwärtigung der Realhermeneutik, insbesondere als Talion (s. oben II). Als die letztere drückt sie, wie die Geschichte Lycaons zeigte, gerade im Zusammenhang zwischen Tat und Strafe die Fortdauer des Handelnden aus. Nahezu zwei Drittel der Mythen in Ovids Dichtung sind auf eine judiziale Entscheidung in der Metamorphose hin erzählt. Indessen: von wenigen Ausnahmen abgesehen (zu denen eben Lycaon, etwa auch die lykischen Frösche und Niobe gehören), läßt Ovid das Strafhandeln nicht einer Idee von Gerechtigkeit, gar dem Resultat einer Lebensbilanz für die Betroffenen, entsprechen.118 Es ist zumeist Ergebnis von Eitelkeit, Neid, Besorgnis oder bloßer Willkür der Götter; die Geschehensabläufe werden damit von Ovid geflissentlich entteleologisiert. Ein unbegreiflicher und unverantwortlicher Strafeingriff kann jedoch der Erhöhung des narrativen Reliefs dienstbar gemacht werden. In einem Fall hat Ovid nun von diesen Voraussetzungen her solches judiziale Handeln seinem Sinn nach, als Straf Telos, zum Thema gemacht: in der scheinbar allbekannt-harmlosen Geschichte von Actaeon (met. 3,131-256). Ovid setzt sie als bereits bekannt voraus (vgl. 3,138-140): der Jäger Actaeon überrascht zufällig in der Mittagshitze Diana im Bade, die sich zwar verbergen kann, ihm jedoch aus Zorn Wasser ins Gesicht schlägt: es folgt die Metamorphose zum Hirsch, der von den Hunden des Verwandelten zerrissen wird. Jedoch ist der Mythos hier gegenüber der Tradition stark reliefiert: 1) Actaeons Schuldlosigkeit wird hervorgehoben: die naheliegende Talion >erst Jäger, dann Gejagten wird nicht genutzt. 2) Ovid bettet die Geschichte in eine Diskussion über die Gerechtigkeit des göttlichen Handelns ein. Die Götter erörtern das Problem selbst nach dem Tode des Actaeon (3,253ff.) und kommen zu keinem Ergebnis;119 der Dichter beantwortet gleich anfangs (3,141f.) diese Theo118 Vgl. E. A. Schmidt [Anm. 104], S. 109ff. und 119. 391
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dizee-Frage (soweit sie im polytheistischen Kontext möglich ist) negativ: »fortunae crimen in Mo, / non scelus invenies.« 3) Das Handeln Dianas ist widersprüchlich. Sie leitet die Strafmetamorphose mit dem Ziel ein,120 daß Aaaeon als Tier von seinem Erlebnis nicht mehr erzählen könne (»nunc ... narres, /si poteris narrare«> 3,192f.). Als dann der Hirsch von den Hunden zerrissen ist, wird von ihr gesagt, erst jetzt sei für sie die Vergeltimg an ein Ende gekommen (3,251 f.). Dieser dritte Aspekt kann den Hinweis auf Ovids Darstellungsziel geben. Wo in den Metamorphosen judiziale Vollzüge erzählt werden, sind sie üblicherweise mit dem Ablauf der Metamorphose identisch (typisches Beispiel: Lotis -~ Dryope). Im Falle des Aaaeon treten Metamorphose und Tod auseinander (genauer: erhält der Tod sein Eigenrecht im ovidischen Geschehens bogen): das iudicium vollendet sich erst im Tod. Narrativ wird diese Verschiebung dadurch gewährleistet, daß die Metamorphose ihre eigenen Handlungsfolgen und Notwendigkeiten (von Ovid dlsfatum bezeichnet) setzt: als Hirsch erst wird Actaeon zum Opfer. Solche Verschiebung aber eröffnet zugleich die Spannung zwischen [319] dem (Straf-) Telos, das sich an Aaaeon vollzieht, mit seinem Ende als Mensch (in der Verwandlung).121 So tritt der Tod in Opposition zur Dauer im Ende; Aaaeon wird nach seiner immutatio vernichtet. Damit ergibt sich der Unterschied, aber auch die strukturelle Nähe der Geschichte zu Verwandlung und Gericht in der christlichen Eschatologie. Die Dauer bleibt dem Verdammten auch im Jüngsten Gericht gewahrt (anders gesagt: das Faktum des Todes - wie sich besonders bei der Auferstehung der Lebenden zeigte - kann nicht in Opposition zur Dauer treten oder überhaupt thematisiert werden). Andererseits aber folgt auch hier das Gericht erst der immutatio.122 Das hat eine eigentümliche, bei Ovid sonst nicht anzutreffende Konsequenz für das verwandelte Tier-Wesen. Der Hirsch ist >seelisch< in einem Maße Mensch geblieben, das der in die Kuh verkleideten Io nahekommt: er macht Pläne und stellt Erwägungen an (vgl. 3,204f.), erschrickt vor sei119 »pars invenit utraque causas« (3,255). 120 Ausdrücklich wird dabei die Metamorphose als abschließende Strafe angekündigt (3,191). 121 Man vergleiche hiermit die Lycaon-Geschichte: auch dort hatte Ovid iudicium und Metamorphose voneinander abgerückt. Aber die Strafe ging der Metamorphose nicht nur voraus, sie war (als Brand des Hauses) mit ihr (der Verwandlung zum Wolf) narrativ in keiner >fatalen< Teleologie vermittelt. 122 Diese Handlungsstruktur liegt in den Metamorphosen nur im ActaeonMythos vor. 392
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ner Schnelligkeit, weint über sein Bild im Wasser und fällt vor den Hunden auf die Knie. Liegt diese starke Betonung der Kontinuität bereits in der Konsequenz der Verschiebung des Telos von der Metamorphose auf den Tod, so vollends die Charakterisierung Actaeons als eines Zwischenwesens, das weder Mensch noch Hirsch ist - und zwar über den Vollzug der eigentüchen Metamorphose hinaus. Sein Angstschrei vor den Hunden ist ein Laut »non hominis, quem non tarnen edere possit / cervus«; die Bewegungen seiner Augen sind eigentlich Armbewegungen (vgl. 3,237ff.). Diese Unanschaulichkeit bezeichnet Grenzen der poetischen Darstellungsmöglichkeit, die in der christlichen Eschatologie die Identität der irdischen Person mit dem zu unendlicher Dauer gesteigerten Auferstehungsleib samt der Folge der Entindividualisierung festlegen. Mit der Actaeon-Geschichte hat Ovid die Telossetzung des richtenden Handelns in eine Spannung zur Dauer des Metamorphosen-Endes gestellt. Damit erhält das Phänomen des Todes Zugang zu den bisher betrachteten (narrativen) Lösungen der Denkform Dauer im Ende und droht die Spannung zwischen Ende und Telos zu sprengen. Denn die Actaeon-Geschichte setzt das Handlungstelos auf den Tod - das Ergebnis ist für den Dichter wie für die diskutierenden Götter unerträglich hart.123 Die Auslöschung des Actaeon ist ein Fremdkörper in der todlosen Welt des dauerhaften Endes.124 [320] In der Verwandlung der Atalanta (met. 10,560-707)U5 wird der Tod in einem umgekehrten (und ebenso indirekten) Verfahren ebenfalls zum 123 Die Callisto-Geschichte, die nächste Parallele, vermeidet den bevorstehenden Tod der Bärin durch eine zweite Metamorphose, den Katasterismos. 124 In den Metamorphosen wird durchaus gestorben, aber die tragischen Großerzählungen, die mit dem Tod enden (Phaethon, Icarus, Pyramus und Thisbe), sind von den sie begleitenden Metamorphosen deutlich abgetrennt. Im allgemeinen vermeidet Ovid bereits das narrative Zusammenfallen von Tod und Metamorphose (Ausnahme: Cygnus - Achill); nicht selten ist mit Beginn der Metamorphose der Tod schon eingetreten (Hyacinthus, Leucothea, Memnonstöchter). Erkennbar ist eine durchaus subversive Anwesenheit des natürlichen £ndes< im Gesamtwerk: Götter sehnen sich nach dem Tod (so Apollo, so Inachus), und einzelne Metamorphosen verhindern geradezu den Selbstmord als Erlösung, so bei Cyparissus und Aesacos (»optatae non est data copia mortis«, 11,786). In solchen Fällen fixiert zuweilen die Metamorphose den Moment des Selbstmordes und hebt ihn in perpetuierter Grausamkeit auf. Arachne, die sich zu erhängen im Begriff ist, preßt als Spinne beständig das Tau aus ihrem Leib, an dem sie sich hält. Aesacos als Tauchvogel vollzieht unaufhörlich die Geste des selbstmörderischen Sturzes ins Meer (»letique viam sinefine retemptat«, 11,792). 125 Einzige Einzelinterpretation (mit Literatur): B. M. Gauly, Ovid, Venus 393
VOM AUFHÖREN Thema. Hier setzt Ovid das Telos der Erzählimg auf die Metamorphose und zwar in einer derart unbarmherzigen narrativen Teleologie, daß die Akteure aus ihrer eigenen Fortdauer zu entkommen suchen. Wiederum wird das mythographische Material erheblich verkürzt und vereinheitlicht,126 ja Ovid hat zwei ganz unabhängige Traditionen, die Geschichte vom Wettlauf und den goldenen Äpfeln sowie die Überlieferung von der Metamorphose in das Löwenpaar, überhaupt erst miteinander verbunden.127 Das Ergebnis ist ein narratives Konstnikt, das der Dichter durch eigene Ergänzungen noch hervorgehoben hat: 1) Die Metamorphose wird zu Beginn der Handlung durch ein Orakel129 angekündigt: Atalanta habe jede Heirat zu vermeiden, sonst werde sie »ohne ihr Selbst« lebendig bleiben müssen, »teque ipsa viva carebis« (10,566); die Metamorphose wird also als dauerndes Ende des Menschlichen umschrieben.129 2) Abweichend von den für die Antike typischen Geschehensbögen, die mit einem Orakelspruch beginnen, wird ausdrücklich vor Beginn der Handlung hervorgehoben, daß ein solches Telos unbedingt erreicht werden wird (»nee tarnen effugies«, 10,566). 3) Das Geschehen wird noch durch eine weitere narrative Konsistenz überwölbt. Es wird nämlich von Venus erzählt,130 die selbst in der Geschichte die Peripetie zur Metamorphose veranlaßt. Atalanta folgt zunächst der so gesetzten narrativen Erwartbarkeit; sie sucht der Ankündigung entgegenzuwirken, indem sie dem >Rat< des Orakels folgt; sie stellt die im Mythos überlieferte Wettlaufbedingung für die Freier auf. Bemerkenswert ist, daß damit der Mythos mit seinen konkreten Umständen erst vom narrativen Konstnikt der ovidischen Erzählung her erreicht und eingeführt wird, als Reaktion der Protagonistin. Und und Orpheus über Atalanta und Hippomenes, in: Gymnasium 99, 1992, S. 435-454. 126 Die Kallimacheische Jugendgeschichte der Atalanta entfallt; Atalanta wird aus dem Meleagros-Mythos (der kalydonischen Jagd) gelöst und bleibt kinderlos. 127 Vgl. F. Bömer, P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar. Buch 1011, Heidelberg 1980, ad 10,686. - Zur Abgrenzung von der Ätiologie des Löwenpaars {fast. 4,215ff.) vgl. D. Porte, L'etiologie religieuse dans les Fastes d'Ovide, Paris 1985, S. 466f. 128 Ein in den Metamorphosen beliebtes Verfahren zur Stiftimg narrativer Teleologie. 129 Für die Einzelgeschichte vgl. z.B. die Episode von Narziß. 130 Und zwar zu einem pragmatischen Zweck: um ihren geliebten Adonis vor Raubtieren (vergebens) zu warnen. Venus' Erzählung ist ihrerseits Teil der Erzählung des Orpheus; erst diese wird vom Autor eingeführt. Die selbst in den Metamorphosen einzigartige Vielfachform der Schachtelung (die noch durch Erzähleranwesenheit in der Episode aktualisiert wird: vgl. 10,579; 639ff.) liegt mit ihrem stärksten Gewicht auf der Atalanta-Geschichte. 394
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zwar als Reaktion, die sie in einer extremen Haltung fixiert: ihre Bedingung und die aus ihr folgende Sukzession des Freiertodes machen [321] sie unmenschlich, »inmitis« (10,573), sie mythisieren sie allererst. Der Ausdruck trifft das Rechte, weil in Atalanta die Gestalt der Frau als Zeitgenossin des Dichters primär bleibt. Dies zeigt sich an einer gegenläufigen Erzählrichtung, die der Dichter alsbald aufbaut und die das faszinierend Moderne der Episode begründet. Schon Hippomenes erscheint nicht als Freier, sondern in der betonten Zufälligkeit des Zuschauers an den Wettkämpfen, und Atalanta verhebt sich in ihn - entgegen der mythologischen Tradition (in der sie nur im Wettlauf durch den Trick mit den Äpfeln besiegt wird). Ihr Monolog (10,61 lff.), der viel mehr als ein rhetorisches Bravourstück ist, zerbricht die Stabilität ihrer mythischen Person. Sie rät Hippomenes von der willkürlichen Bosheit der Wettkämpfe ab: »coniugium crudele meum est« (10,621). Und sie entwirft die Freiheit eines anderen Verhaltens, einer Gegen-Atalanta als »sapiens puella« (10,622 - der Ausdruck weist auf das Ideal der großstädtischen Liebesdichtung Ovids zurück). Ihr Lebensgesetz, wie es das Orakel ausgesprochen hat, die unausweichliche Selbstaufgabe als Mensch, wird jetzt als >unnatürlich< und >zwanghaft< schon und gerade in den Anstrengungen zu seiner Vermeidung, in denen sie ihr Leben zubringt, erkannt (»fata inportuna«, 10,634). Wichtiger noch: indem sich Atalanta schon vor dem Wettkampf besiegt gibt, arbeitet sie nicht mehr (vergeblich) gegen die Erfüllung des Spruches - nicht, weil sie die Vergebüchkeit eingesehen hätte, sondern aus Liebe; sie hat also erkannt, daß ihre Ehelosigkeit und Grausamkeit selbst schon Selbstaufgabe als Frau bedeuten, der Spruch sich bereits erfüllt hat. Atalanta zerbricht seinen Zwang, indem sie ihn nunmehr ignoriert - obwohl sie damit erst ihr Fatum im eigentlichen Sinne erfüllen wird. Das Dasein, das sie erwählen möchte, wird in der Geschichte selbst nicht ausgeführt, aber es ist das Wunschbild mehrerer Episoden in den Metamorphosen:1*1 ein im Tod aufhörendes Leben mythischer Ereignislosigkeit. Was nun folgt, ist ein Meisterstück von Mythendekonstruktion durch Festhalten an der Mythenüberlieferung selbst. Das Gefängnis der mythisch gesetzten Bedingungen kann nur so zerbrochen werden, daß Atalanta die anerkannt Unbesiegbare - im Wettkampf besiegt wird. Hier wird der Mythos in neuartiger Weise rezipiert: Venus bietet die Äpfel an; mit ihnen produziert Hippomenes den erwünschten Zwischenfall. Die innerlich längst >besiegte< Atalanta (vgl. 10,659ff.) erliegt nun dem mythologisch überlieferten Trick. Sie bückt sich zweimal nach den goldenen 131 So bei Cadmus und seiner Gattin und bei Philemon und Baucis. 395
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Äpfeln, muß aber, durch ihre ebenfalls vorgegebene Überlegenheit, trotzdem als erste im Ziel ankommen. Venus /Ovid finden sich daher, den Mythos offen karikierend, genötigt, dem Gold des dritten Apfels ein besonders schweres Gewicht zu verleihen, das Atalanta nun >tatsächlich< in Verzug bringt. Das ist eine Darstellungsform, die als Mythendestruktion zur Offenbachiade neigt und dadurch vollendet wird, daß Atalanta, als Person diesseits des Mythos, das Verfahren während der ganzen Zeit offenbar durchschaut (vgl. 10,676). Hiermit erreicht der gegen die gesetzte Teleologie laufende Erzählstrang seinen Höhepunkt. Er wird durch die Widersprüchlichkeit der Götterintervention (der [322] Venus, vergleichbar der Diana der ActaeonEpisode) vom Dichter stark unterstrichen. Venus, die als Erzählerin für die Unnachgiebigkeit des Erzähl-Endes steht, hat tatsächlich, als Helferin, gegen dieses Ziel gearbeitet. Da sie nun, nach ihren Worten (10,681 ff.), keinen Dank erntet, vollzieht sie eine Strafe - so unangemessen132 nach ihren dehumanisierenden Folgen und ihrer unbegrenzten Dauer, daß sie nur aus der Wiederherstellung des narrativen Telos insgesamt zu erklären ist.133 Venus veranlaßt denn auch allererst selbst das Vergehen, für das das Paar gestraft werden soll (den Koitus im Kybeletempel). Was sie hier tun, geschieht dem Paar nur mehr; die Metamorphose in die Löwen kündigt sich in dieser Passivität bereits an. Das Ergebnis der Verwandlung ist völlig diskontinuierlich zu ihrem früheren Wesen; intendiert ist Telos-Bestätigung, Bestätigung des absoluten und dauerhaften Endes des Menschlichen. Die Geschichte durchstreicht am Ende ausdrücklich das zum Tod führende menschliche Leben, auf das Atalantas Gegenentwurf zum Mythos eigentlich gezielt hatte. Gegenüber der Metamorphose »poena levis visa est« (sc. mors, 10,698): der Tod wäre eine »zu leichte Strafe«. - Auch in diese Geschichte, in der Telos und dauerndes Ende sich in zwingender Weise kumulieren, hat Ovid die Spannung dieses Gefüges durch den Tod, gerade weil er ausgeschlossen wird, eingezeichnet, in sehr moderner Weise.
132 Die Nahbegründung der Strafe, der >Undank<9 verweist bereits auf die Mythendestruktion. Atalanta und Hippomenes danken Venus nicht, weil sie längst selbst die mythischen Pündemisse ihrer Liebe abgestreift haben. Venus sieht sich mit ihrem Hilfsangebot auf eben die mythologische Tradition festgelegt, aus der das Paar sich befreit hat. 133 Ovid laßt dies dem Leser dadurch erkennbar werden, daß Venus der gesamten Geschichte eine Wertung als »veteris monstrum (...) culpae« (10,553) vorausschickt, das sich weder im Undank noch in der - von Venus veranlaßten - Profanierung des Rybeletempels erschöpfen kann. 396
VOM AUFHÖREN Ovid versammelt, nicht nur mythographisch und poetisch, die Traditionen der Antike zu einer Spätform; »between two worlds« (H. Fränkel) ist er bereits in der Lage, das Problem der Dauer im Ende zum geheimen Thema zu erheben. Allerdings steht er noch nicht in der Welt, in der die christliche Eschatologie die Frage unübersehbar in den Vordergrund rückte. Ovid erzählt nicht aus der Überzeugung von menschlicher Fortdauer im Ende; gerade seine poetische Lösung, die Metamorphose in Naturwesen, zeigt die (z.B. pythagoreisch formulierbare) Differenz zur Erlösungsreligion. Vor allem ist er Poet, nicht Philosoph oder Dogmatiker; er ist dadurch in der Lage, seine Anschauungsform des Problems (ohne zum kantischen Zeitparadoxon vorzustoßen) dadurch zu erreichen, daß er sie in eine ästhetische Darstellung, die Metamorphose, überführt. Gleichwohl: Ovid partizipiert, auch und gerade durch seine poetischen Verfahren, an Formen des Denkens über menschliche Dauer im Ende. In allen bisher erörterten Formen solchen Denkens blieb das Verhältnis zwischen Telos und Ende spannungsreich; auch bei Ovid trat diese Spannung durch die systematische Bruchstelle des individuellen Todes besonders deutlich hervor. [323] Die Untersuchung folgte bisher einem Rückgang von der Neuzeit in die Antike. Sollten weitere, vielleicht sogar weiterführende Ausprägungen der Denkform bei einem nochmaligen Regreß in die Antike in Erscheinung treten?
IV Herodots lydischer Logos - Solon und Kroisos: Ende ohne Dauer und hermeneutische Telossetzung - Schluß: Vom Aufhören •Ich war nicht, ich bin geworden. Ich war, ich bin nicht. Nichts anderes! Und wenn irgendjemand das Gegenteil behauptet, so lügt er. Ich werde nicht sein.* Griechisches Grabepigramm (Inscript. Graec. XIV 1201; 4. Jh. v.Chr.) Der Mythos von Io, ihr Weg von Argos nach Ägypten, wird leider von Persern, Phönikiern und Griechen verschieden erzählt. Will man gar eine Frage an die Geschichte stellen (und das ist möglich), etwa: Wie kam es zum Dauerkonflikt zwischen Griechen und Barbaren?, dann bleibt man 397
VOM AUFHÖREN mit solchen Fragen nach dem Anfang leicht in der Unentscheidbarkeit mythischer Rede stecken. Aber, so fährt Herodot fort (1,5,3), es gibt geschichtliches Wissen von dem Anfang einer Geschehenskette, den eine solche Frage voraussetzt; so kann man den Mann nennen, mit dem der Konflikt begann: Kroisos. Der Mann steht hier auch für die Geschichte,134 die mit ihm anfängt, für einen Geschehensbogen, der durch eine geschichtliche Frage konstituiert wurde. Damit aber ergibt sich das erste Dilemma einer postmythischen lorop(r| (>Geschichtserkundung<, >Geschichte<). Denn im mythischen Bereich stand für einen Mann eine Geschichte von ihm, aus deren Kunde sich nicht die bis zur Gegenwart reichenden Antworten auf eine geschichtliche Frage ableiten lassen. Wer ist Kroisos - daß er diesen Konflikt mit der Unterwerfung einzelner Griechenstädte begann, daß er im Krieg gegen Kyros scheiterte, vor allem: daß all das sich in dieser und keiner anderen Geschehensfolge ereignete? Kroisos muß mehr sein als ein Mann mit seiner ihm eigenen Geschichte. Wenn seine Taten erstmals geschichtliche Folgen hauen, dann muß er selbst, müssen seine Taten bereits das Ergebnis eines zielgerichteten Ereigniszusammenhangs sein, welcher nicht mehr Mythos sein darf, aber auch nicht durch Augenzeugen oder nachprüfbare Tradition gesicherte Geschichte ist. Es ist Aufgabe der loropiTi, auch und zunächst diesen Zusammenhang zu rekonstruieren. Eben so verfährt Herodot 1,6-94, im lydischen Logos.135 Er hat soeben auf Kroisos als den Anfangspunkt gesicherten Wissens, d.h. einer gesicherten Antwort auf eine Frage, verwiesen, da folgt der Regreß136 auf den Beginn der Dynastie [324] mit Gyges. Das scheint zunächst der alten historischen Denkform der Genealogie zu entsprechen.137 505 Jahre umfaßt das chronologische Gerüst vor den Mermnaden; dann folgen die Regierungsären von Gyges über Ardys, Sadyattes und Alyattes zu Kroisos. Und in diesem Gerüst, so scheint es, werden Novellen, Anekdoten, Apophthegmen 138 und nicht zuletzt Erzählungen gereiht, die mythischen 134 Vgl. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 91f. 135 Vgl. O. Regenbogen, Die Geschichte von Solon und Krösus (1930), in: Herodot, hrsg. von W. Marg (Wege der Forschung 26), Darmstadt 1962, S. 375403, und F. Hellmann, Herodots Kroisos-Logos, Berlin 1934. 136 T. E. V. Pearce, Epic regression, in: Eranos 29, 1981, S. 87-90, sieht Rückwendungen als orale Formen an. 137 Vgl. C. Westermann, Genesis-Kommentar, Neukirchen 1974, S. 9ff. 138 Darunter auch geschichtliche Überlieferung, nicht nur von den lydischgriechischen Zusammenstößen, sondern auch von griechischen Ereignissen (Periandros, Polykrates).
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Reden sehr nahestehen. So bereits am Anfang die Geschichte von Kandaules, seiner Frau und Gyges, in der tatsächlich noch die von Herodot erzählte Geschichte für den Mann steht.139 Wenn man den ganzen lydischen Geschehenskomplex überblickt, erkennt man jedoch, daß Herodots Kompositionsenergie sich darauf richtet, ihn als zielbestimmtes und notwendig ablaufendes Erzählgefüge, als logos bis zu Kroisos hin, zu konstruieren. Dies geschieht bekanntlich in erster Linie durch die Rezeption der delphischen Tradition, durch die Verschränkung von Orakelspruch mit dessen Erfüllung.140 Die Lyder lassen den Dynastiewechsel zu Gyges und den Mermnaden hin in Delphi bestätigen, das zugleich verkündet (1,13,2), es werde in der fünften Generation zu einem Umschwung kommen (der Spruch wird, versteht sich, nicht beachtet). Der Spruch erfüllt sich in Kroisos' Untergang (1,91: als zwingendes Handeln der Moira). Diese Tradition überformt auch die Begegnung zwischen Lydern und Griechen; die jeweiligen Konflikte und ihr Ausgang werden durch mehrfache Orakelfragen und Bescheide, ja durch eine Orakelprobe in die Gesamtdeutung dieses Geschehens, das von Delphi gewiesene Ende eines begrenzten Geschehensbogens (Telos), eingefügt. Kroisos erlebt sein Telos auf dem Scheiterhaufen; und man hat den Eindruck, daß er dann durch den (delphischen) Apollo Loxias nicht zuletzt deshalb gerettet wird, um die Verteidigung des Gottes auf den Vorwurf der >Täuschung< (IforTronrav, 1,90,2) zu hören. Herodot rückt also die Erfüllungsstruktur des lydischen Logos an dessen Ende selbst in den Vordergrund; es ist charakteristisch, daß ein solcher Logos den Geschehensbogen mit einem Ereignis abschließt, das nicht zuletzt der hermeneutischen Verständigung mit dem Leser dient. Die Moira, so verkündet Apollo durch die Pythia (1,91), ist bis auf geringe Verschiebungen in der geschichtlichen Kontingenz unerbittlich; so habe er vergeblich versucht, das Telos der Orakelerfüllung noch auf die nächste Mermnadengeneration zu verschieben. Wohl aber sei es ihm gelungen, Kroisos noch drei zusätzliche Jahre der Herrschaft (über die eigentlich schon abgelaufene [325] Erfüllung hinaus) zu schenken.141 - Kroisos selbst ist mit dieser Schicksals139 1,8-12. Herodot hat hier jedoch bereits Einzelzüge der Überlieferung (das Ringmotiv) abgeschnitten und stellt - vielleicht unter dem Einfluß der Tragödie die Geschichte als dialogische Auseinandersetzung dar. 140 Vgl. R. Bichler, Herodot als Dichter eines delphischen Versorakels, in: Grazer Beiträge 15, 1988, S. 47-59; vgl. auch Chr. Meier, Beobachtungen an Herodot. Zum Problem der Deckungslücken im Haushalt historischer Zusammenhänge, in: Die nicht mehr schönen Künste, hrsg. von H. R. Jauß (Poetik und Hermeneutik 3), München 1968, S. 91-110. 399
VOM AUFHÖREN erfüllung aus dem weiteren Geschehensablauf gleichsam entlassen; er erscheint als abgeklärter Begleiter der persischen Könige noch 3,36. Wird am lydischen Logos als ganzem bereits Herodots Interesse an der Hermeneutik zielgerichteter Abläufe sichtbar, so wird die Frage des Telos selbst im Zentrum dieser Partie, in der Solonepisode, thematisiert. Dies geschieht dadurch, daß die Frage an dem naheliegendsten, aber hinsichtlich seines zielgerichteten Ablaufs problematischsten Ereigniszusammenhang geprüft wird: dem individuellen menschlichen Leben. Diese Episode, in der der Autor seine Geschichtsdarstellung unterbricht, ist daher immer wieder als Beispiel einer Lebensweisheit gelesen worden, die das individuelle Dasein zum Gegenstand hat. Aber Herodot läßt Solon durchaus auch in die Kroisosgeschichte hineinwirken. Insgesamt kann die Solonepisode geradezu als gedankliche Vorbereitung zum alsbald dargestellten delphischen Erfüllungszwang angesehen werden.142 So erleidet Kroisos nach Herodot den Verlust des Thronfolgers, weil er im Gespräch mit Solon seine Hybris zeigte; dieser Verlust ist eine Notwendigkeit (»von der Gottheit Vergeltung«, öc 8eoö vipecns, 1,34,1). Dann ist es Kroisos' Erinnerung an Solon im Moment des bevorstehenden Todes, die Kyros dazu veranlaßt, den Scheiterhaufen zu löschen (noch vor dem Anruf Apollos). Auf dem Höhepunkt seiner Macht (1,29) sagt sich bei Kroisos Solon als Besucher an - ganz außerhalb eines geschichtlichen Ereigniszusammenhangs - , >um die Welt zu erfahren< (Konrä Occopiris), ein alter ego Herodots. Alleiniger Gegenstand seines Besuchs ist die bekannte Debatte, welcher Mensch »der vom Glück Gesegnetste« (6ÄßicibTaTos) sei. Solon steigen die Antwort 143 von zwei Beispielen bis zur theoretischen Reflexion: 1) Der Athener Tellos (l,30,3ff.; er ist sonst unbekannt).144 Sein Leben ist ereignislos, ungefährdet durch Höhen und Tiefen, es verläuft in einer
141 Zu diesem Motiv des schicksalswidrigen göttlichen Zeitgeschenks vgl. Habakuk 2,3. 142 Vgl. F. Hellmann, Herodots Kroisos-Logos [Anm. 135], S. 36ff. und Ch. C. Chiasson, The Herodotean Solon, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 21, 1986, S. 249-262. 143 Ich folge W. Schadewaldt (Die Anfinge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankfurt/M. 1982, S. 195ff.) darin, daß der Aufbau von Solons Darlegung nicht als Antiklimax (der Glücklichste, der Zweitglücklichste) zu verstehen ist, sondern als allmähliche Entfaltung eines Gedankens. 144 Erwogen wurde, ob sich sein Name sogar der erörterten Frage nach dem Telos verdanke (so H. Immerwahr, Form and thought in Herodotus, Cleveland 1966, S. 156). 400
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blühenden Polis, vor allem aber ist das »Ende seines Lebens« (TeAevrrn TOO (Mou) glänzend. Sein Tod in der Schlacht bewirkt nämlich den Sieg über die Feinde. Sein Leben ist also von einem Telos her gewertet,145 das mit dem Tod zusammenfällt; als Telos wird es von Tellos zwar noch erlebt, vor allem aber von den Überlebenden entsprechend verstanden. Daß Tellos Anteil an einem geschichtlichen Ereignis [326] (dem Sieg über Eleusis) hat, ist wichtig, entscheidend aber ist die auf einen Lebenszusammenhang (ßios) bezogene Bilanz. 2) Solche Bilanz können im Grunde nur die Überlebenden ziehen. Kleobis und Biton, die anstelle von Zugochsen ihre Mutter zum Tempel der Hera ziehen, erreichen ebenfalls eine optimale TEXCI/T^ TOO ßfou. Aber sie erleben sie nicht mehr. Die von der Mutter erflehte Belohnung ihrer pietas besteht darin, daß sie aus dem Schlaf nicht mehr erwachen. Das Telos ist wieder ein von außen kommender, >unnatürlicher< Tod. Aber er ist nun überwiegend demonstrativ: er geschieht, um von allem Volk gepriesen zu werden und den Satz einzuprägen, daß es für den Menschen besser sei zu sterben als zu leben. 3) Es wird nun deutlich, daß dieser bekannte Satz nicht nur eine Maxime (mit einer vieluntersuchten Vorgeschichte)146 rezipiert. Er ergibt sich aus der in den ersten Beispielen angelegten Hermeneutisierung des TelosProblems, das die allgemeine Reflexion (1,32) zuende führt: erst mit dem Abschluß des Lebens kann dessen Telos gedeutet werden. Aber diese Bestimmung gibt nicht der Tod selbst, sondern eine postmortale Bilanz (für Herodot: der Ruhm bei den Überlebenden und in der Nachwelt, dem er selbst, wie er im Proömium sagt, dient). Diese Bilanz ist kein postmortales Gericht - denn der Mensch dauert nicht -, sondern eine hermeneutische Setzung des Telos. Soll sie positiv ausfallen, muß das Leben bis zu seinem Abschluß möglichst von Defekten, Krankheiten, Armut und sittlichen Verfehlungen frei geblieben sein.147 Aus diesem Grunde ist es besser, früh zu sterben. Aus diesem Zusammenspiel von fehlender Dauer und hermeneutischer Telos-Setzung ergibt sich eine eigentümliche Entteleologisierung des Lebensverlaufs, die nicht in die Denkform von der Dauer im Ende (oben 145 Diese Wertung ist es, die den Inhalt des Lebens bis zur Ereignislosigkeit einebnet und als Feier der \xeo&ny; (>des Mittelmaßes<) entindividualisiert. Man vergleiche die Charakterisierung des >Grünmantels< im Don Quixote [>E1 del Verde Gabans >Der mit dem Grünen Mantels i.e. Don Diego de Miranda; vgl. Don Quixote Buch 2, Kap. 16-18]. 146 Vgl. Ch. C. Chiasson, The Herodotean Solon [Anm. 142], S. 251ff. 147 Vgl. 1,32. 401
VOM AUFHÖREN I-III) mündet, aber auch nicht den Tod aufwertet. Mit jedem Zuwachs an Lebenszeit (Solon/Herodot rechnen 26.250 Tage als wahrscheinliches Maximum aus) kann der Vorrat an öAßiov (»Glück«) nicht steigen, es vergrößert sich aber das Risiko einer Vernichtung: das Göttliche wirkt vor allem durch >Zorn<; es schneidet die Extreme zurück. Der Tod erhält damit eine Grenzfunktion, bis zu der die Balance zwischen Übeln und Segen anhalten kann; nichts anderes ist er - von dem in der ganzen Partie nicht ausdrücklich die Rede ist - als der Zeitpunkt, zu dem das sich ständig erhöhende Risiko überstanden ist und über das gesamte Leben geurteilt werden kann. Der Tod setzt also keine Krönung, auf ihn zu bildet das Leben keine Teleologie aus - außer der negativen Dynamik der Risikoerhöhung. Die glückliche Geschlossenheit des Lebens bestimmt sich ex post; daher der Satz, daß vor dem Abschluß des Lebens niemand glücklich genannt werden kann.148 Vor allem darf er sich nicht selbst als Glücklichen bezeichnen und entsprechend leben (wie es Kroisos tut). [327] Diese Reflexion hat eine bezeichnende Rückwirkung auf die Sicht des Lebens selbst: ßfos kann es bei Herodot nur als >vollendet< heißen; während es gelebt wird, ist es £cor| und dem Risiko unterworfen, das letztlich die Kontingenz selbst ist: TTOV toT\ avOpamos 01419091*) (»der Mensch ist ganz, was ihm widerfährt«, 1,32,4). Wenn das Leben zwischen Kontingenz und Telos-Hermeneutik so buchstäblich sein eigenes Überleben ist, ist sein Telos, während man es lebt, Teloslosigkeit: das Aufhören. 149 *
Kehren wir ein letztes Mal zu Kant zurück: »Daß einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da die Zeit selbst aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung«, heißt es im Ende aller Dinge.150 Die Vorstellung eines solchen Aufhörens zu ertragen ist also schwer. Die Vorstellung aber, selbst aufzuhören, ist, wie die Untersuchung zeigte, fast unerträglich, »die Vorstellung, daß jetzt das Ich verschwinde, aber die Welt bleibe«.151 148 Ovid zitiert ihn in der >Theodizee<-Diskussion der Actaeon-Geschichte met. 3,135ff. 149 So exemplarisch bei Kleobis und Biton: OÜK£TI <5cvforT|aav (»sie standen nicht mehr auf«, 1,31,5). 150 I. Kant, Werke [Anm. 1], Bd. 6, S. 419. 151 A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von A. Hübscher, Wiesbaden 1972, Bd. 3, S. 573: auch noch nach Schopenhauer eine »falsche« Vorstellung; »der innere Kern des Ich« (der »Wille«) bleibe. 402
VOM AUFHÖREN Offenbar ist es schon schwierig genug, vom Aufhören zu reden. Wendet man sich, trotz aller Diskreditierung der Etymologie, dem deutschen Wort zu, so eröffnet sich hier eine eigentümliche Semantik, die in keiner anderen Sprache anzutreffen ist.152 Man vergleiche zunächst, auf welche Notionen das Wort sich nicht eingrenzen läßt: 1) T&OS, finis, Ende. In allen diesen Bezeichnungen herrscht, wie sich erwies, der gerade Gegensatz zum Aufhören. So reicht T&OS vom Wendepunkt (beim Pflügen wie beim Wettrennen) bis zur Grenze, Erfüllung, zum Ziel und zur Vollendung, auch zur Verwirklichung;153 2) cessare: das Fort-Bleiben, Aus dem Spiel Gehen - das >Abtauchen< im eigentlichen Sinne; es ist terminus technicus des servus fugitivus; 3) desinere: zu einer abschließenden (zumeist anderen) Form finden, die in Kontinuität oder Kontrast zu früheren oder benachbarten Teilen steht: was der Dichter als Meerjungfrau begann, >kommt< schließlich als häßlicher Fisch >heraus<: »desinit in piscem« (Horaz, ars poet. 3f.); 4) TTOUCO - das scheinbar nächste Äquivalent.154 Transitiv meint es, jemanden zu hindern, aufzuhalten (entsprechend im Passiv); im Medium drückt es aus, daß etwas durch äußere Umstände ins Stocken kommt, intermittierend aussetzt, also auf einer Nullstufe (»Pause«) verhält; 5) Äityco: in transitivem Gebrauch wird etwas gestillt, [328] kalmiert, abgestellt, bei abstraktem Subjekt wird die Vorstellung des vegetativen Nachlassens (bis zum Vergehen) deutlich: ein immanenter, zumeist biologischer vigor bildet sich zurück. Wenn >Aufhören< zugestandenermaßen all dies auch sein kann, so meint es doch wesentlich noch etwas anderes. Das bestätigt sich, sowie man sich der schon bei flüchtiger Aufmerksamkeit absonderlichen Etymologie zuwendet. Soll das Wort wirklich mit dem Hören, gar mit dem Aufhorchen zu tun haben? So die Etymologie seit Grimm (ablehnend noch Adelung) bis heute, »obwohl die erklärung Schwierigkeiten mitführt«.155
152 Ich bin dem gegenwärtigen Herausgeber von Kluge, Deutsches etymologisches Wörterbuch, E. Seebold, für detaillierte Nachweise zur deutschen Etymologie dankbar. 153 Vgl. D. Holwerda, TEAOZ, in: Mnemosyne 4, 1963, S. 337-363; G. Sfameni Gasparro, Ancora sul termine TtArrfi, in: Filologia e forme letterarie. Studi offerti a F. della Corte, Urbino 1987, Bd. 5, S. 137-152; R. B. Omans, The origins of European thought, New York 1973, S. 426ff.; W. Porzig, Die Namen für Satzinhalte im Griechischen und im Indogermanischen, Berlin 1942, S. 54f. - Oft fast synonym: Trtpas. Im Unterschied zu liAos weist es nicht selten auf die Kontur, das Band (»Tau«), das zusammenhält. 154 Vgl. W. Porzig, ebd. S. 50f. 403
VOM AUFHÖREN Die Herleitimg erfolgt so: Auszugehen ist tatsächlich von einem Kompositum von »hören«. Schon im Mittelhochdeutschen läßt sich »er hört« (oft nur als Simplex, häufig als Imperativ »Hör!«) in der Bedeutimg »er verrichtet das gebotene« sowie »er unterläszt das verbotene«156 nachweisen. Wer aufmerkt und seine Sinne auf etwas anderes richtet, kann nicht weiter tätig sein.157 Dieses Unterlassen verselbständigt sich dann, wobei »noch lange die andersartige Begleithandlung« (das Hören als Gehorchen) mitgedacht wird.158 Die weitere Entwicklung ist vorhersehbar. Aufhören erfordert schon im Frühneuhochdeutschen nicht mehr den Infinitivus definitionis (womit eine Person aufhört), sondern kann sich zum Nomen actionis im Sinne Porzigs159 verallgemeinern: etwas hört auf. Vor dem Abschluß der Entwicklung, der Reflexion auf das Subjekt (»ich höre auf« im absoluten Sinne), hält offenbar der gegenwärtige Sprachgebrauch noch inne.160 Dieses Zögern verbindet sich recht gut mit der hergebrachten Empörung über das Aufhören, die hier zur Untersuchung stand. Dennoch plädiere ich für dieses Won. Wir hören auf. Wenn wir das wirklich zu tun ertragen, postulieren wir nicht die Unendlichkeit eines moralischen Subjekts und keine leibliche Fortdauer als Menschen. Wir spielen nicht mehr im Ensemble der überkommenen T£XT) das uns weitergegebene Instrument, bis uns der Atem ausgeht. Die eschatologische Posaune einer judizialen Drohung bläst nicht uns. Allenfalls können wir das Thema Telos ästhetisch vernehmen. Selbst die hermeneutische Coda, die der postmortale Trost in der Wertung der anderen, des solonischen 6Xßiov, bereithält, wird entbehrlich. Aber wir müssen das Aufhören auch nicht mit der leiblichen Dekomposition (im Sinne von Aityco), mit dem Tod verwechseln oder ihn gar existentialistisch als Ende hypostasieren. Auch haben wir nicht, noch nicht ab emanzipierte Sklaven zur Flucht bereit oder schon lange auf [329] ihr, das cessare als >Bald-GeschafftHaben< zum Ersatz-Telos zu erheben. 155 J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 670: »aufhören« Nr. 2. 156 Ebd. Sp. 671. 157 Eben diese hanebüchene Sinnfalligkeit in der Herieitung störte Adelung: »Allein diese Figur ist ein wenig hart.« (J. C. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart, Bd. 1, Wien 1807, S. 501). 158 Briefliche Mitteilung von E. Seebold vom 21.7.1992, der auf eine ähnliche Entwicklung bei »schenken« verweist. 159 Vgl. W. Porzig, Die Namen [Anm. 153], S. llff. 160 Während die sprachliche Vorstellung »ich ende (als)« schon seit dem 19. Jh. belegt ist. 404
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Was aber ist dann das Aufhören? Zeigt uns das Wort vielmehr lediglich an, warum wir in all die angedeuteten Festlegungen ständig wieder, gut heideggerisch, verfallen? Denn mit etwas aufzuhören, so die Brüder Grimm, ist nur möglich, wenn wir gehorchen, auf eine Stimme hören. Wir hören also auf alle Instrumente der T&T). Nur indem wir ihnen folgen,161 wie der Kafkasche Sancho seinem Ritter, können wir wirklich die Hände von etwas lassen, besonders von uns selbst. Nur so hören wir auf.
161 Selbst im ästhetischen Nachvollzug: wir hören auf ihn und entheben uns damit aller anderen Zwecke. 405
Register
Ästhetik (christl.) 155ff. bei Augustin 160ff., 265ff., 268ff. (s. auch Erbauung) Ätiologie 43 Anm. 74, 388 Anm. 113,390 Allegorie, Allegorese (christl.) 127f., 156ff., 221ff. Ambrosius 140f., 151,162f., 191, 300-302 Andersen, Alfred 321, 324, 340 Andres, Stefan 323 Anselm von Canterbury 44 Arator 159, 170 Aristoteles {Poetik) 111,175-177 Auerbach, Erich 138,345 »aufhören« (Etymologie) 403-405 Augustinus 159ff., 185, 235ff., 287ff., 300-303, 310, 312, 316, 348, 358ff. Ästhetik 160ff., 265ff., 268ff. memoria 242ff. Prädestinationslehre 287ff. civ. dei 20-22: 359ff. conf. 208, 235ff., 287ff. conf. l.l.lff.: 237-241 conf. l,6,7f.: 242f. conf. 7,7,11: 251f. conf 7,9,13ff.: 253-256 conf. 8: 256-260 conf. 9,4,8ff. (Garten): 262-266 conf 9,10,23ff. (Ostia): 260-262 conf 10,l,lff.: 268-271
conf. ll.l.lff.: 271f. conf. 11-13: 273f. conf (Textkritik) 250 Anm. 53, 251 Anm. 54, 259 Anm. 79 doctr. christ. 159ff., 173 Anm. 78, 175f., 273,292 Vergilrezeption (in den conf.) 257 Augustus lff., 16ff., 31, 33, 51, 61 Avitus 119,166,170 Babel, Turmbau von 119-121 Bachtin, Michail 79ff.,93 Barth, Karl 292 Basilios von Caesarea 174 f. Baudelaire, Charles 56 Anm. 113, 292, 322Anm.6 Benjamin, Walter 39 Anm. 59, 51, 345 Benn, Gottfried 60, 88 Bernhard, Thomas 349 Bernini 71 Blumenberg, Hans 123,350 Bossuet, Jacques Benigne 293f., 309f. Brecht, Bertolt 268Anm.98 Buchheit, Vinzenz 185f. Burckhardt, Jakob 326,338 Caesarenwahnsinn 102ff. Caligula 102ff., 309 Calvin 206,287, 289, 292 Camus, Albert 233
Cassiodor 170 CassiusDio 105 Catull 96 Anm. 73 Cervantes 401 Anm. 145 Chateaubriand, Francis Rene de 207,322,328-331,335,347 Christus 129-131,222 Claudian 143f., 162,189f., 223,231, 295,312f. Clemens von Alexandria (Protrept) 124ff. Couture, Thomas 75, 335, 337 Cunius, Ernst Robert 122,157, 217, 345 Cyprian von Karthago 161 Cyprian (Bibelepiker) 119 Dante 63 Anm. 143, 65 Anm. 154, 86 Anm. 48, 374f. Anm. 84 Purg. 12,25ff.: 115ff. Demandt, Alexander 326, 341 Dölger, Franz Joseph 344 Dracontius 166,180ff., 197f. Ekphrasis 46f., 164, 168 Eliot, Thomas Stearns 82 Elysium 63ff. Engels, Friedrich 293, 339 Enkomion 142ff., 163-165 Ennodius (epist. 8) 148,165 Anm. 45 Epithalamium 209, 212ff. Erasmus 204f. Erbauung 171ff. Eschatologie (frühchristl.) 359ff. Eusebius 142,296,299 Exegese (bibl.-christl.) 120ff., 127ff., 137£f., 155ff. Fellini, Federico 75 Fernere, Theophile de 335 408
Fest (Orgie) 75-77,107ff. Fiore, Joachim von 370 Flaubert, Gustave 335,337 Fontaine, Jacques 183,186,216, 345 Fortschritt(-sidee) 293f., 303ff. Fraenkel, Eduard 1, 3 France, Anatole 75, 77 Anm. 9 Frye, Northrop 79,132 Fuhrmann, Manfred 110,111 Anm. 102,185f., 344 Fulgentius 62, 155ff. Gadamer, Hans-Georg 278-282 Geizer, Matthias 337f., 340 Gibbon, Edward 327 Giraudoux, Jean 285 Gnilka, Christian 186, 199 Gnosis 366f. Goethe 50, 274 Anm. 105 Grabbe, Christian D. 34f. Graphia aureae urbis Romae 179, 198 Gregor von Nazianz (orat. 43) 145ff., 163 Gregor von Nyssa (in Basilium fratrem) 149f., 152, 163 Guizot, Francis 331-333 Hades (Unterwelt) 60ff., 82ff. Harnack, Adolf von 207, 343 Hartmann, Ludo Moritz 338 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 334 Heine, Heinrich 333 Anm. 36 Heinze, Richard 4, 21ff., 79 Heliogabal 102ff. Herder, Johann Gottfried 22 Anm. 98, 32, 355f. Herodot 397-402 1,6-94 (lyd. Logos) 398-402 l,29ff. (Sohn) 400402
Heuß, Alfred 338, 341 Hieronymus 161,163-165,214, 296f., 300f. epist. 122: 139-141 Hilarius von Poitiers 166, 226, 291 Himmelfahrt Mosis 44 Hiob 67 Anm. 159,191 Anm. 53, 377f. Historia Augusta 77,102,295, 298 Historiographie (spätantik/christl.) 295ff. Homer 27ff., 46ff., 60ff., 70ff. Odyssee 28, 32, 56ff. Rezeption der Odyssee bei Petron 90f. Anm. 59 (s. auch Odysseus) Horaz lff.,223,403 politische Dichtimg lff. Gebrauch der Tempora 7ff., 20ff. c. 1,2: 12-14 c. 1,14: lOf. c. 1,37: llf. c. 3,3: 16-18 c. 3,5: lff., 14f. c. 3,6: 14f. c. 3,14: 18-20 c. 4,5: 8 c. 4,15: 20f. epod. 7: 8f. epod. 9: 11 epod. 16: 9f. Vergilrezeption 13,16ff. Rezeption bei Prudemius 187-189 Hume, David 284f. Invektive 305 Iser, Wolfgang 107ff. 112 Isidor von Sevilla 158,165 Anm. 45, 166 Isokrates 143
Jäger, Werner 344 Jauß, Hans Roben 109,157f., 177 Jenseitsvorstellungen 60ff. Johannes Chrysostomos 151,163, 173ff. Josippon 198 Joyce, James 89 Juvencus 166ff., 212 Kafka, Franz 113,405 Kannibalismus 91-93 Kant, Immanuel 244, 287f., 328, 349ff., 359, 361 Das Ende aller Dinge 349ff., 372, 379-381,402 Kavafis, Konstantinos 321 Anm. 4 Klingner, Friedrich 185 Knauer, Georg N. 32 Konfuzius 287 Kroisos 398ff. Kunert, Günter 72 Anm. 172 Laktanz 35 Anm. 41, 160, 296, 298, 301 Landino, Cristofero 62 Lange, Hanmut 323, 332 Anm. 32 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 76 (und Anm. 6) Lessing, Gotthold Ephraim 246 Lucan 166 Ludwig, Walther 200f. Lukas 280 Luther 242, 287, 289f., 292 Mallarme, Stephane 203, 335, 345 Mann, Heinrich 75 Marquard, Odo 357 Marrou, Henri-Irenee 324, 345, 377 Meier, Christian 341 memoria (in der Aeneis) 27ff. 409
(bei Augustin) 242ff. Millenarismus 298f., 368 Moliere 84 Anm. 42, 259 Anm. 77 Mommsen, Theodor 5f., 338 Montaigne, Michel de 284 Moses 236,284 Mozart 68 Mythos (christl.) 115ff., 132f. Anm. 27 Naevius 116f. Anm. 2 Nero 106-108 Niedergang (Dekadenz) 294ff., 305, 319f. Nodier, Charles E. 321 Nossack, Hans E. 323 Odysseus 32, 46, 48f., 56ff., 137f. Origenes 120,139, 146f., 172ff., 176 Anm. 94, 185, 299, 356 Anm. 34, 368f., 378 Anm. 94 Orosius 162, 245, 293ff. Prolog 302f. 3,2,9ff.: 305 3,20,10ff.: 318-320 Orpheus 127-129 Orphik 62ff. Otfried von Weißenburg 166f. Overbeck, Franz 122,124,343 Ovid 379,381ff. Tod in den met. 393 Anm. 124 met. l,163ff. (Lycaon) 382-386, 390f. met. 3,131ff. (Actaeon) 391-393 met. 10,560£f. (Atalanu) 393-396 met. 14,824ff.: 379 met. 15,153ff.: 387f. Panegyrik 143ff., 298ff, 312ff. Paulinus von Nola 158,162ff., 203ff.
410
carm. 15: 148 carm. 17: 219ff. carm. 25: 209ff. carm. 26: 227ff. epist. 5: 148 epist. 10: Ulf. Paulus 131,134,215,254,270ff., 280 Pausanias 65 Pepin.Jean 119,138 Petron 75ff. Erzählperspektive 95f. Anm. 73 Kunst- u. Lit.kritik 92 Anm. 63 Sat. (Titel) 88f. cena Trimalchionis 75-77, 82ff., 98ff. Troiae Halosis 92 Anm. 63 Sat. Ulf. (Witwe von Ephesus) 93ff. Sat. 116-141 (Croton) 90ff. Bellum civile 92 Anm. 63 Orfyweerezeption in den Sat. 90f. Anm. 59 Philon 129,138 Piaton 62,64f., 126, 236 Plutarch 65 Poetik / Poetologie (christl.) 155ff., 232 Anm. 102 Prädestinationslehre 287ff. Proba 164,168f., 212, 253 Propemptikon 219-221 Prudentius 120, 144,150f., 161f., 166,168, 170,179ff., 219, 222, 225-227,230,301 bam.409tt.: 183ff. per. 2: 187f. praef. 37ff.: 201 psych. 163ff.: 67 Anm. 159, 191 Anm. 53,377f. Horazrezeption 187-189 Vergilrezeption 185-187
Pythagoras 386f. Quidde, Ludwig 102 Quignard, Pascal 323 Regulus lff. Ricoeur.Paul 275-278 Riegl, Alois 336-338,343 Rösler, Wolfgang 24 Rom (-idee, -theologie) 179ff., 296ff. Roman, antiker 78ff. Romulus 13,16f.,379 Rostovtzeff, Michael 340 Rousseau 285,327,339 Sallust 297 Sartre, Jean-Paul 113f. Satire, menippeische 78ff. Schlegel, Friedrich 205 Schmidt, Arno 322f., 376 Schmidt, Ernst August 384, 388 Anm. 113 Schmitt, Carl 185 Schöpfung 360 Sedulius 158f., 169f., 210f. Seeck, Ono 338 Seneca 95 Sidonius ApoUinaris 170,210,332 epist. 6: 148f. Simplikios 176 Solon 400-402 Soumet, Alexandre 77 Spätantike als Epochenbegriff 204, 326ff., 336ff. als literarische Epoche 204ff. als Spiegel der Gegenwart 321ff., 331ff., 346-348 Spinoza 284, 354-356 Sprachtheorie 28 lff. Stoa 95,129, 288-290
Sulpicius Severus 162, 296 Swift, Jonathan 87 Anm. 49, 90 Anm. 58, 92f., 96,100 Symmachus 119f.,295 Tabula Iliaca 71 Tacitus 77,102,105 Tantalus 236,285 Anm. 132 Tartaros 63 Teiresias 137f. Telos 362ff., 376ff., 389ff., 399ff. Tertullian 373 Theodizee (stoisch) 288 Thomas von Aquin 155,159, 359 Tiberius 105 Tod 83ff., 261, 354f., 360ff., 378f., 392ff., 401ff. in Ovids met. 393 Anm. 124 Troeltsch, Ernst 343f. Typologie in der augusteischen Literatur 17ff., 31-33, 45 christl. 131,134,138ff., 191-193, 197f., 223,228ff., 310f., 370 VergU 27ff. Aeneis 27ff., 257 Theologie 28ff. Typologie 17ff., 31f., 45 Aeneas 27ff. Aeneas-Kritik 34f. Dido 40-42, 49f. Turnus 43f. Anm. 74, 68f. memoria (in der Aeneis) 27ff. Aen. l.lff.: 27ff. Aen. l,92ff.: 27, 37f. Aen. l,198ff.: 38f. Aen. l,441ff.: 46ff. Aen. 1,462: 47f. Aen. 3,294ff.: 53-55 411