Wilfried Härle Spurensuche nach Gott
Wilfried Härle
Spurensuche nach Gott Studien zur Fundamentaltheologie und Gotte...
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Wilfried Härle Spurensuche nach Gott
Wilfried Härle
Spurensuche nach Gott Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019694-8 (geb.) ISBN 978-3-11-019925-3 (brosch.) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen.
Meinen Enkelkindern
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht . . . . . .
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„Wesen des Christentums“ – Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit . . . . . . 23 Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität?
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Befreiende Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz . . . . . . . . . . . . . 109 Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Tradition und Schrift als Thema des interkonfessionellen Dialogs heute aus evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung? Überlegungen im Anschluss an Luther und Schleiermacher . . . . . 164 Rechtfertigung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“ 202 Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen . 240 Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes . 257 Den Mantel weit ausbreiten. Theologische Überlegungen zum Gebet 286
VIII
Inhalt
Religion als Horizont und Element der Bildung . . . . . . . . . . . . . 306 Spurensuche. Theologie nach 1945 im Ringen mit der Verborgenheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes . . . . . . . . . . . . . 343 Leiden als Fels des Atheismus? Analysen und Reflexionen zum Philosophengespräch in „Dantons Tod“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 „Christus factus est peccatum metaphorice“. Zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 „… gestorben für unsere Sünden“. Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Braucht der Osterglaube das leere Grab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Warum ausgerechnet drei? Grundsätzliche Überlegungen zur Trinitätslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Das Eschaton predigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 „Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ . . . . . . . . . . . . . 478 Veröffentlichungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Vorwort Die in diesem Band versammelten Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre sind – in gewisser Hinsicht – alle neu. Sie waren entweder bisher noch gar nicht veröffentlicht oder wurden von mir für diesen Aufsatzband gründlich überarbeitet. Dabei kam es an manchen Stellen nicht nur zu Erweiterungen des bisher veröffentlichten Textes,1 sondern auch zu Korrekturen an früher gemachten Aussagen2. Auf solche Selbstkorrekturen, soweit sie mir bewusst wurden, habe ich in Fußnoten ausdrücklich hingewiesen und sie als solche kenntlich gemacht. Dieser Band ergänzt die „Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie“3 und „zur Ekklesiologie und Ethik“,4 die in den zurückliegenden Jahren erschienen sind. Dabei könnte man im Blick auf die Reihenfolge, in der diese Aufsatzbände erschienen sind, fragen, ob der nun veröffentlichte Band nicht eigentlich der erste in der Reihe hätte sein müssen. In systematisch-theologischer Hinsicht ist das zu bejahen. Das entspräche auch dem Aufbau meiner Dogmatik,5 in der nicht nur – gänzlich unoriginell – die Fundamentaltheologie den ersten Hauptteil bildet, sondern in der materialen Entfaltung der Dogmatik dann auch die Explikation und Reflexion des Gottesverständnisses der Explikation und Reflexion des Weltverständnisses vorangeht. Aber die systematischtheologische Ordnung und Strukturierung ist das eine, und die Art, Weise und Reihenfolge, wie sich etwas einem Menschen erschließt, ist das andere. Dabei lässt sich sogar als begründete Vermutung formulieren, dass insbesondere die methodischen Fragen, wie sie in der Fundamentaltheologie behandelt werden, sich dem Erkennen und Bewusstsein in 1 2 3 4 5
So insbesondere in dem Aufsatz: Paulus und Luther, in dem ich das Gespräch mit der Paulus- und Lutherdeutung der sog. ,New Perspective‘ suche (s.u. S. 202 – 239). So insbesondere in dem Aufsatz: Warum ausgerechnet drei?, in dem ich mich um eine klarere und verständlichere Begründung der Trinitätslehre in semiotischer Perspektive bemühe (s.u. S. 435 – 458). Sie erschienen unter dem Titel: Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005. Sie erschienen unter dem Titel: Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt, Leipzig 2007. W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York (1995) 20073.
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Vorwort
aller Regel nicht zuerst, sondern zuletzt erschließen – nicht, weil sie uns so fern stehen, sondern weil sie so nahe liegen, dass sie leicht übersehen werden können. Insofern spiegelt die Abfolge dieser drei Bände – jedenfalls aus meiner Sicht – auch so etwas wie eine naheliegende Erkenntnisordnung wider, und leistet damit etwas, was mir bei der Vorarbeit an meiner Dogmatik zwar als Ziel (oder Ideal) vorschwebte, was sich aber für mich dort als nicht realisierbar erwies.6 Beim Aufbau des vorliegenden Bandes schließe ich mich jedoch möglichst streng der systematisch-theologischen Ordnung an, beginne also mit dem, was ich unter Fundamentaltheologie verstehe (davon handeln die ersten zehn Aufsätze), in denen es vor allem um drei Themenschwerpunkte geht: – um das, was nach christlichem Verständnis der Ausdruck ,Wesen des Christentums‘ bzw. ,Wesen des christlichen Glaubens‘ meint und worin dies besteht; – um das, was der christliche Glaube unter ,Wahrheit‘ (und in Verbindung damit unter ,Wirklichkeit‘, ,Gewissheit‘ und ,Toleranz‘) versteht und welche Bedeutung dieses Verständnis auch für das Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen hat; – um das, was der christliche Glaube (evangelischer und katholischer Provenienz) über die Bedeutung und Auslegung seiner Quellen in Tradition und Schrift sagt und wie er sie sachgemäß handhabt. Auf diese im strengen Sinne fundamentaltheologischen Studien folgen dann – im losen Anschluss an das Stichwort „Schriftauslegung“ – fünf Aufsätze, die sich schwerpunktmäßig mit Luthers reformatorischer Theologie befassen, wobei es dabei auch um die Frage geht, ob Luther die Schrift angemessen verstanden hat. Der vierte und fünfte Aufsatz aus dieser Gruppe7 leitet dann zugleich über zur Gotteslehre, mit der sich die folgenden Studien befassen. Dabei ist es mir wichtig, dass die Aufsätze zur Christologie (insbesondere über Kreuz und Auferweckung Jesu Christi) der Gotteslehre zugeordnet und darum auch der Studie über die Trinitätslehre vorgeordnet sind. Mutatis mutandis gilt dies auch für die beiden abschließenden Aufsätze bzw. Vorträge zur Eschatologie. Der Großteil dieser Studien entstand in Form von Vorträgen, die auf Einladung im Rahmen der Pfarrerfortbildung oder auf Gemeindeveranstaltungen erstmals gehalten und dann für den Druck überar6 7
Siehe dazu a.a.O., S. 40 f. (Abschnitt 1.5.1). Über Luthers Zwei-Regimenten-Lehre und über eine Theologie des Gebets im engen Anschluss an Luther.
Vorwort
XI
beitet wurden. Ich hoffe, dass diese Überarbeitung zwar die Überprüfbarkeit und Genauigkeit der Texte erhöht, aber dabei nicht ihre Verständlichkeit und Lesbarkeit abgesenkt hat. Jedenfalls werden auch diese Studien von mir nicht primär als Beiträge zum innertheologischen wissenschaftlichen Fachgespräch veröffentlicht, sondern primär als versuchte Brckenschlge von der theologischen Theorie in die persönliche christliche Existenz und in die gemeindliche und schulische Praxis. Rückmeldungen, die besagen, dass solche Text sich dort als hilfreich erwiesen haben, empfinde ich nach wie vor als Glückserfahrungen und als Anlässe zur Dankbarkeit. Zu danken habe ich bei diesem Aufsatzband zunächst Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag de Gruyter, der mit der Bitte um einen solchen Band auf mich zukam und ihn dadurch überhaupt erst initiiert hat. Die damit (und schon lange vorher) erlebte und bewiesene vertrauensvolle Beziehung und Zusammenarbeit hat sich auch bei diesem Band von Anfang bis Ende bewährt. Danken möchte ich ferner Frau Christiane Banse, meiner studentischen Hilfskraft, die auch dann noch, als sie bei mir – emeritierungsbedingt – nicht mehr angestellt war und besoldet wurde, hilfreich und kräftig (also ihrem Titel Ehre machend) an der Entstehung dieses Bandes mitgewirkt hat. Das war nicht selbstverständlich aber schön. Danken will ich schließlich ganz herzlich meinem Sekretär, Herrn Willi Schmitt, mit dem mich nun über mehr als zehn Jahre eine gute fachliche Zusammenarbeit, vor allem aber eine intensive menschliche und brüderliche Beziehung verbindet, für die ich von Herzen dankbar bin. Nach menschlichem Ermessen wird dies die letzte Publikation sein, bei der ich auf seine verlässliche Zuarbeit und Mitarbeit zurückgreifen konnte. Deshalb mischt sich in den Dank an ihn eine gehörige Portion Wehmut, die aber die Dankbarkeit nicht übersteigt. Meine guten Wünschen begleiten seinen weiteren Weg. Dieser Aufsatzband steht unter der Metapher der ,Spurensuche nach Gott‘. Das könnte archäologisch missverstanden werden. Aber Gott ist kein Fossil. Vielmehr geht es darum, Gott in den Zeichen zu suchen, in denen er auf indirekte, verborgene, aber nichtsdestoweniger reale Weise schöpferisch, befreiend und inspirierend in dieser Welt gegenwärtig und erfahrbar ist. An dieser Spurensuche wollen die vorliegenden Studien mitwirken. Sie teilen dabei die Überzeugung, dass Gott zu finden immer auch und zuerst bedeutet, von Gott gefunden zu werden.8 Sie 8
Dieser Gedanke ist mir erstmals durch das Buch von T. Koch, Mit Gott leben.
XII
Vorwort
sind getragen von der Gewissheit, dass es das Glück des Lebens ist, einen Gott gefunden zu haben, dem man im Leben und im Sterben vertrauen kann. Ich widme dieses Buch meinen Enkelkindern, den geborenen und den noch nicht geborenen. Sie waren und sind für mich selbst solche ,Spuren‘, die auf Gott verweisen, und sie sind mir immer neu ein Grund für unsagbar große Dankbarkeit. Ich wünsche ihnen, dass sie ihr Leben lang auf der Spurensuche nach Gott bleiben und dabei auch immer wieder fündig (und gefunden) werden. Heidelberg, den 1. Juli 2008
Wilfried Härle
Eine Besinnung auf den Glauben, Tübingen (1989) 19932, bewusst geworden. Es handelt sich dort um ein durchgehendes Motiv. Ich halte dieses Buch übrigens für eines der besten Bücher, die jemals über den christlichen Glauben geschrieben wurden.
Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht 1. Das Wesentliche als das Ursprüngliche Sowohl das, was das Wesentliche am Christentum ist, als auch das, was unter der evangelischen Sicht zu verstehen ist, muss bestimmt werden durch Rückbesinnung auf den Ursprung 1: einerseits als Rückfrage nach dem reformatorischen Ursprung, andererseits als Rückfrage nach dem geschichtlichen Urimpuls, der am Beginn der Geschichte des Christentums steht und sich unaufgebbar mit dem Lebenszeugnis Jesu von Nazareth verbindet. Dabei besteht zwischen diesen beiden Rückfragen insofern ein innerer Zusammenhang, als die reformatorische Theologie (Luthers und Calvins) nicht eine Neuerung oder Veränderung des christlichen Glaubens sein oder bringen wollte, sondern eine Re-formation, also Rückbesinnung und Orientierung am Ursprung des christlichen Glaubens. Das zeigt zugleich, dass das reformatorische Christentum bzw. die evangelischen Kirchen sich von Anfang an weder als neue Kirchen oder gerade erst entstandene Formen des Christentums verstanden, sondern den Anspruch erhoben, die legitime Fortsetzung der ursprünglichen, alten Kirche zu sein. Deswegen hat Luther der römisch-katholischen Kirche zwar nicht abgesprochen, dass auch sie christliche Kirche ist, aber er hat ihr bestritten, sich in Kontinuität mit der alten Kirche zu befinden und deren legitime Fortsetzerin oder Nachfolgerin zu sein.2 Vielmehr nimmt die Reformation für sich in Anspruch, angesichts gravierender Fehlentwicklungen im mittelalterlichen Katholizismus an
1 2
Zur Begründung dieser These vgl. W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 20073, 49 – 80 sowie ders.: ,Wesen des Christentums‘ – Was ist das? in diesem Band 12 – 22. So in Luthers Schmalkaldischen Artikeln: „Wir gestehen ihnen nicht, dass sie die Kirche sind, und sind’s auch nicht, und wollen auch nicht hören, was sie unter dem Namen der Kirche gebieten oder verbieten“ (BSLK 459,18 f.).
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Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht
die ursprüngliche, authentische christliche Überlieferung anzuknüpfen und sie fortzusetzen.3 Deswegen würde man auch die „evangelische Sicht“ missverstehen, wenn man sie deutete als eine spezielle, partikulare Auffassung des Christlichen, die nur einen bestimmten Aspekt hervorhebt oder für einen eingeschränkten Personenkreis gültig sein will. Nein, die konfessionelle Vielfalt, wie sie sich nach den Trennungen zwischen Ostund Westkirche und auf Grund der Trennungen innerhalb der Westkirche darstellt, hat zugleich den Charakter eines Streites um die legitime, angemessene Interpretation und Sichtweise des Christlichen. Und gerade deshalb ist es unerlässlich, zum Verständnis der evangelischen Sicht des Wesentlichen am Christentum zurückzufragen nach dem Ursprung des christlichen Glaubens.
2. Der biblische Kanon als Ursprungszeugnis4 Deswegen hat für die evangelische Kirche und Theologie die Rückbesinnung auf den biblischen Kanon als das Ursprungszeugnis des christlichen Glaubens eine so zentrale und unverzichtbare Bedeutung. Dieser biblische Kanon bildet den kritischen Maßstab, an dem sich jede spätere gottesdienstliche Praxis sowie alle späteren Lehrentwicklungen der christlichen Kirchen messen lassen müssen.5 Zwar wurde dieser biblische Kanon durch kirchliche Entscheidungen festgestellt bzw. festgelegt, aber das heißt keineswegs, dass die Bibel eine Schöpfung der Kirche und darum der Kirche untergeordnet sei. Vielmehr hat die Kirche durch die Feststellung des Kanons diejenigen christlichen Ursprungszeugnisse anerkannt und zur Geltung gebracht, die sich im christlichen Gottesdienst Anerkennung verschafft und durchgesetzt hatten als diejenigen, denen die Kirche selbst ihr Dasein verdankt.6 Die Kirche lebt aus der in der Bibel ursprünglich bezeugten Botschaft vom 3 4 5 6
Vgl. WA 51, 479,1 ff.: „… dass wir bei der rechten alten Kirche geblieben sind, ja dass wir die rechte alte Kirche sind, ihr aber von uns, das ist: von der alten Kirche abtrünnig geworden seid“. Vgl. hierzu W. Härle, Dogmatik (s. Anm. 1), S. 111 – 139. Siehe dazu den „summarischen Begriff“ der Konkordienformel (BSLK 834,16 – 22). So J. Calvin, Institutio von 1559. I, 7,2 sowie K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/ 1, S. 110: „die Bibel macht sich selbst zum Kanon. Sie ist Kanon, weil sie sich als solcher der Kirche imponiert hat und immer wieder imponiert.“
Der biblische Kanon als Ursprungszeugnis
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Heilshandeln Gottes in Israel und – letztgültig – in Jesus Christus. Dort, wo diese Botschaft Gewissheit schafft und Glauben weckt, wird sie als das Wort Gottes erkannt und anerkannt, aus dem die Kirche lebt und an dem sie sich darum immer wieder neu ausrichten kann und muss.7 Freilich, schon die Reformatoren – insbesondere Luther – erkannten, dass dieses ursprüngliche, im biblischen Kanon versammelte Zeugnis zugleich ein vielstimmiges, teilweise sogar widersprüchliches Zeugnis ist. Deswegen kann nicht die Bibel als solche Gegenstand des Glaubens sein, sondern sie verweist auf diesen Gegenstand als den Ursprung des christlichen Glaubens und als die Bezeugung dieses Gegenstandes. Und dabei bedarf sie der immer neuen Auslegung, auch der kritischen Auslegung auf ihren Gegenstand, ihre „Mitte“8 hin und von dort her. Dass die Bibel auf das hin zu befragen und auszulegen ist, was in ihr „Christum treibet“9, wie Luther es formuliert hat, ist dabei nicht ein willkürlicher, von außen herangetragener Auslegungsmaßstab, sondern genau dasjenige Schriftprinzip, das sich aus der ernsthaften, intensiven, auch wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Wortlaut des biblischen Textes selbst ergibt und sich an ihm immer wieder neu bewähren muss. Aus dem Ernstnehmen der Schrift ergibt sich das „solus Christus“10, und das „solus Christus“ verleiht der Schrift ihre Kraft und Autorität, Glauben zu wecken und alle Glaubenslehre zu beurteilen, also ihre kausative und normative Autorität11. Die evangelische Christenheit (und Theologie) war in ihrer Geschichte freilich nicht immer davor gefeit, aus der Bibel einen „papierenen Papst“12 zu machen, um sich in einer dem päpstlichen Lehramt vergleichbaren Sicherheit vor dem Risiko der Infragestellung, der 7 So z. B. Luther in den Schmalkaldischen Artikeln (BSLK 421,23 – 25): „Gottes Wort soll Artikel des Glaubens (auf-)stellen und sonst niemand, auch kein Engel“. 8 Siehe dazu O. Weber, Grundlagen der Dogmatik. Bd. 1. Neukirchen Moers 1955, S. 292 f. 9 WA DB 7, 384,26 ff. 10 „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies ?“ (WA 18,606,29/ LDStA 1, 236,1 f., dt.: „Nimm Christus aus den Schriften – was wirst du noch in ihnen finden?“ [LDStA 1, 237,1 f.]) und: „Universa Scriptura de solo Christo est ubique“ (WA 46,414,15, dt.: „Die ganze Schrift [handelt] überall von Christus allein“). 11 S. W. Härle, Dogmatik (s. Anm. 1), S. 114 – 117. 12 So die Kritik von Sebastian Franck (Geschichtsbibel, Straßburg 1531) am reformatorischen Schriftprinzip. Siehe dazu H. Weigelt, Sebastian Franck und die lutherische Reformation, Gütersloh 1972, S. 47.
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Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht
Auseinandersetzung und des immer neuen Hörens und Verstehens zu schützen. Diese Versuche erwiesen sich freilich sehr oft in der Geschichte als erfolglos und heillos, weil sie letztlich aus einem mangelnden Vertrauen in die Selbstdurchsetzungskraft der Wahrheit entstanden. Sie waren Versuche, die Gewissheit, die einem Menschen nur unverfügbar zuteil werden kann, zu verwandeln in eine Sicherheit des Glaubens und des Lehrens, die über die Wahrheit verfügen will, statt diese über sich verfügen zu lassen.
3. Das Ringen um die rettende Wahrheit13 Die reformatorische Theologie nahm – insbesondere bei Martin Luther – ihren Ursprung dort, wo sich ihm im Ringen um die rettende Wahrheit Einsichten unwiderstehlich aufdrängten, die im Widerspruch zur kirchlichen Lehre und Praxis von der Buße standen und ihn deswegen vor die Entscheidungssituation zwischen der im Gewissen erschlossenen Wahrheit und dem Geltungsanspruch kirchlicher Lehre stellten. Diesen Kampf hat Luther in seinen Klosterjahren bis zur Verzweiflung und bis zum Gotteshass14 durchlitten, bis er erkannte, dass die menschliche Liebe zu Gott und zum Nächsten nicht die Voraussetzung und Bedingung für das Heil sein kann, weil jede „Liebe“, die erbracht wird, um für den „Liebenden“ selbst das Heil zu gewinnen, nichts anderes als Selbstsucht bzw. Egoismus ist und gerade nicht Liebe. Wäre der Glaube, „der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6) die Voraussetzung oder Bedingung für Gottes rechtfertigendes Handeln, so könnte es nie zum Freispruch, zur Annahme und zur Erneuerung des Menschen kommen.15 Er bliebe gefangen in seinem Kreisen um sich selbst, in seiner „incurvatio in seipsum“16. 13 Vgl. hierzu M. Brecht, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation, Stuttgart 19903, bes. S. 55 – 230. 14 „Ego autem … non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum …“ (WA 54,185,21 – 24/LDStA 2, 504,23 – 26/505,29 – 33, dt.: „Ich aber … liebte nicht, ich hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott“ – von mir leicht korrigierte Übersetzung). 15 Siehe dazu W. Härle, Glaube und Liebe bei Martin Luther (2001), in: ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 145 – 168. 16 Diese auf Augustin zurückgehende Formulierung wird in Luthers Römerbriefvorlesung aufgenommen (WA 56, 356, 4 f.).
Das Ringen um die rettende Wahrheit
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Der reformatorische Durchbruch erfolgt für Luther dadurch, dass er erkennt, die „Gerechtigkeit Gottes“, von der im Alten und Neuen Testament die Rede ist, ist nicht die Eigenschaft des (gerechten) Richters, der jedem gibt, was er verdient, sondern sie ist seine schöpferische Barmherzigkeit und Treue, die seinem verlorenen Geschöpf zuteil wird, um es in die Gemeinschaft mit Gott zurückzurufen und in ihr leben zu lassen.17 Dabei ist für das reformatorische Verständnis zweierlei wesentlich: Das Erste ist die Einsicht, dass das freisprechende, annehmende Rechtfertigungsurteil dadurch (und nur dadurch) in einem menschlichen Leben wirksam wird, dass es in ihm Glauben, und das heißt Vertrauen auf Gottes Heilszusage, weckt. Dieses Vertrauen ist weder menschliche Leistung noch eine Bedingung für das Rechtfertigungsurteil Gottes, sondern es ist die Weise, wie dieses Urteil vom Menschen empfangen und für ihn wirksam wird. Das Vertrauen wird selbst durch Gottes Zusage geweckt, indem er durch seinen Geist das äußere Wort des Evangeliums im Menschen gewiss werden lässt. Das Zweite ist damit untrennbar verbunden: Dieses Vertrauen auf die schöpferische Barmherzigkeit Gottes ist ein Lebensakt und -prozess, der als solcher eine reale Veränderung und Erneuerung des Menschen bewirkt. Der Glaube macht aus dem Menschen eine neue, nämlich eine auf Gott vertrauende Kreatur, die als solche (d. h. durch den Glauben) das Erste Gebot – und damit implizit alle Gebote – erfüllt. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die als Bedingung des Rechtfertigungsgeschehens mit Nachdruck bestritten werden muss, muss mit demselben Nachdruck als Frucht des Rechtfertigungsgeschehens behauptet werden. Aus evangelischer Sicht ist es wesentlich, dass das Heil sola fide, d. h. allein durch den Glauben empfangen wird, dass dieser Glaube aber nicht als ein intellektueller Akt oder als eine bloße innere Befindlichkeit verstanden werden kann, sondern eine Neuausrichtung, ja sogar Neukonstitution der Person darstellt, die lebensbestimmenden und damit lebensverändernden Charakter hat.18
17 Siehe dazu Luthers Rückerinnerung an den reformatorischen Durchbruch in WA 54, 185, 12 – 186, 20/LDStA 2, 504,13 – 507,26 sowie meine Interpretation dieses Textes in dem Aufsatz: Luthers reformatorische Entdeckung – damals und heute (2002), in: W. Härle, Menschsein in Beziehungen (s. o. Anm. 15), S. 1 – 19. 18 Das hat Luther besonders eindrucksvoll in der Passage über den Glauben in seiner Vorrede zum Römerbrief zum Ausdruck gebracht (bes. WA DB 7,
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Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht
4. Das evangelische Verständnis der Kirche Von daher erschließt sich auch das evangelische Verständnis der Kirche, und zwar in dreierlei Hinsicht: – Kirche ist Gemeinschaft der Glaubenden, die konstituiert wird durch das Glauben weckende Wirken des Heiligen Geistes; – die grundlegende Erlebnisgestalt von Kirche ist die um Wortverkündigung und Sakramentsfeier versammelte Gemeinde; – der Auftrag der Kirche ist die Bezeugung des Glauben weckenden Evangeliums in der Welt.19 Nach evangelischem Verständnis baut sich die Kirche also nicht von den Amtsträgern her auf, denen durch Weihe oder Ordination eine besondere, exklusive Vollmacht für die Verwaltung des Heils oder der Heilsmittel übertragen wäre, sondern in evangelischer Sicht sind alle Christen mit ihrem Christsein befähigt und beauftragt, das Evangelium zu bezeugen und so das äußere Wort auszurichten, dessen sich der Heilige Geist – wo und wann Gott will – bedient, um Glauben zu wecken und die Kirche zu bauen.20 Es ist eine bleibende Gefahr im Protestantismus, aus der begrenzten Bedeutung des äußeren Wortes, der Lehre, der Ordnungen und der Institutionen auf eine relative Unwichtigkeit oder Gleichgültigkeit all dieser äußeren Elemente zu schließen. Im ökumenischen Gespräch und aus dem ökumenischen Gespräch hat die evangelische Kirche und Theologie sich deshalb an eine seiner ursprünglichen Einsichten erinnern zu lassen, die im Laufe der Geschichte immer wieder in Gefahr war verloren zu gehen: an die unverzichtbare Bedeutung und Wichtigkeit des „äußeren Wortes“ (CA 5), das als von Gott aufgetragenes Menschenwerk zwar nicht Glauben schaffen kann, das Gott aber gebrauchen will, um Glauben zu wecken und um die Kirche in dieser Welt zu bauen. Diese Unterscheidung von Gotteswerk und Menschenwerk begrenzt zwar alles Menschenwerk – auch das der christlichen Kirche – aber in dieser Begrenzung wertet sie das Menschenwerk nicht ab, 10,6 – 13). Diese Textpassage wird in diesem Band in dem Aufsatz „Paulus und Luther“ vollständig zitiert, s. u. S. 231 f. 19 Alle drei Elemente sind (explizit oder implizit) enthalten in CA 7, dem Grundtext der reformatorischen Ekklesiologie. 20 Von diesem allen Christen und der christlichen Kirche aufgetragenen Dienst spricht Artikel 5 der CA (allerdings unter der missverständlichen Überschrift „De ministerio ecclesiastico“ bzw. „Vom Predigtamt“), dessen Thema das Zustandekommen des Glaubens ist.
Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
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sondern in der denkbar stärksten Form auf: als dasjenige, das Gott in seinen Dienst nehmen will, um dadurch Glauben zu wirken und so Menschen an Gottes ewigem Heil Anteil haben zu lassen. Das evangelische Verständnis von der Kirche und dem kirchlichen Amt findet seinen komprimierten Ausdruck in der Wiederaufnahme der neutestamentlichen Lehre vom Allgemeinen Priestertum.21 Diese Lehre schließt nicht aus, dass es in der Kirche besondere, durch Ordination vergebene Ämter gibt. Im Gegenteil: Die Einrichtung solcher Ämter ist um des kirchlichen Auftrags und um des Schutzes des Allgemeinen Priestertums willen unerlässlich. Die Amtsinhaber bilden freilich keinen besonderen geistlichen Stand, der dem Geheimnis und der Kraft des Glaubens näher wäre, als es die Gläubigen aufgrund ihres Christseins sind. Die Amtsträger nehmen aber auf Grund der kirchlichen Ordnung und damit im Namen aller Gläubigen in der versammelten Gemeinde die Aufgaben der Wortverkündigung, Sakramentsdarreichung und Gemeindeleitung wahr. Damit kommt zum Ausdruck, dass das grundlegende und konstitutive Gegenüber nicht das von Amt und Gemeinde ist, sondern das von Wort Gottes und Gemeinde, zu der die Amtsträger hinzugehören, dass es aber Teil ihrer spezifischen Aufgabe ist, an dieses Gegenüber zu erinnern.
5. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium Wenn in den zurückliegenden Textabschnitten wiederholt von der „Verkündigung des Evangeliums“ die Rede war, so wird damit zwar das Entscheidende des kirchlichen Auftrags zur Sprache gebracht, aber in einer missverständlichen Kurzformel, die der Explikation bedarf. Dies ist nicht deswegen der Fall, weil das Evangelium ergänzungsbedürftig wäre und nur die halbe Wahrheit enthielte, sondern weil zum Verständnis der ganzen Wahrheit, die das Evangelium ist, der Blick auf das Gesetz, auf das sich das Evangelium seinerseits bezieht, unerlässlich ist. Nach Luthers Überzeugung bildet die Fähigkeit, Gesetz und Evangelium an-
21 Siehe dazu die grundlegende Arbeit von H. Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997. Dort finden sich auch alle einschlägigen Quellenbelege aus Luthers Schriften. Die entscheidenden biblischen Belege für das Allgemeine Priestertum sind: Ex 19,6; Jes 61,6; 1 Petr 2,5 und 9; Apk 1,6; 5,10 und 20,6.
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Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht
gemessen zu unterscheiden (und zueinander in Beziehung zu setzen) geradezu das Kriterium richtiger Theologie.22 Worum geht es dabei? Das Gesetz ist Ausdruck des guten, heilsamen Willens des Schöpfers für seine Geschöpfe. Dieser Wille, der im Doppelgebot der Liebe seinen komprimierten, prägnanten Ausdruck findet, ist dem Menschen zum Leben23 gegeben, und zwar sowohl in der allgemeinen Gestalt, in dem er jedem Menschen ins Herz geschrieben ist24, als auch in der besonderen Gestalt, in der er durch Mose dem Volk Israel offenbart ist. Indem das Gesetz jedoch dem Menschen begegnet, der von Gott entfremdet ist und unter der Macht der Sünde lebt, begegnet es dem Menschen als Forderung, und zwar als unerfllbare Forderung und wird so zum vernichtenden Gerichtsurteil. Oder es weckt im Menschen den Wahn, den Willen Gottes doch aus eigener Kraft erfüllen zu können. So Gerät der sündige Mensch unter dem Gesetz in die heillose Alternative zwischen Verzweiflung und Hybris, aus der es mit den Mitteln des Gesetzes kein Entrinnen gibt. Rettung gibt es nur dadurch, dass der heilvolle, dem Leben dienende Wille Gottes dem Menschen nicht in der Gestalt des fordernden oder anklagenden Gesetzes, sondern in der Gestalt des freisprechenden, annehmenden Evangeliums begegnet. Der Inhalt des Gesetzes verliert dadurch nichts an seiner Wahrheit und Bedeutung, aber die Form des Gesetzes, also das Gebot, das (scheinbar) an den Willen und damit an die eigenen Kräfte des Menschen appelliert, erweist sich als ungeeignet, den Menschen zum Heil zu führen. Für das evangelische Verständnis des Christlichen ist es von daher ausschlaggebend, dass das, was uns alleine retten kann, dem Menschen nur als Geschenk zuteil werden und nur im Glauben angenommen, aber auf keine Weise von ihm geschaffen oder verdient werden kann.
22 So WA 40/1, 207,17 f.. Auf die Bedeutung dieser Unterscheidung für das rechte Verständnis von Luthers Theologie hat vor allem G. Ebeling immer wieder nachdrücklich hingewiesen. Siehe z. B. seine Einführung in Luthers Denken unter dem Titel: Luther, Tübingen (1964) 19814, S. 120 – 136. 23 Röm 7,7 – 12. 24 Röm 2,14 – 16.
Christsein als lebenslanger Prozess
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6. Christsein als lebenslanger Prozess Es wäre jedoch ein Missverständnis, wenn man annähme, dass der Übergang vom Leben unter dem Gesetz und aus dem Gesetz zum Leben unter dem Evangelium und aus dem Evangelium den Charakter eines einmaligen Aktes oder einer einmaligen Einsicht hätte, hinter die es kein Zurückfallen gäbe. Weil das Evangelium die Macht der Sünde zwar bricht, aber nicht zum Verschwinden bringt25, darum erfährt auch der Christ diese Macht täglich neu in seiner Umgebung und in seinem Herzen. Und diese Macht bedient sich auch immer wieder des Gesetzes als Forderung, Anklage und Verurteilung, um den Menschen in die Verzweiflung zu treiben oder zur Hybris zur verführen. Dabei ist der Weg in die Verzweiflung insofern der verheißungsvollere, als er den Menschen eher bereit macht, nach Hilfe Ausschau zu halten und die Stimme des Evangeliums zu hören. Neben der äußeren Eindämmung des Bösen durch Androhung von Strafe ist dies aus evangelischer Sicht sogar das eigentliche und entscheidende Amt des Gesetzes: dem Menschen seine verfahrene und verlorene Situation bewusst und ihn so bereit und offen zu machen für den bedingungslosen Zuspruch des Evangeliums. Und dies ist ein im Leben des Christen sich immer wieder ereignender Prozess, der zugleich den Charakter eines Kampfes auf Leben und Tod hat. Das Gesetz trifft den Menschen mit der vernichtenden Wucht der berechtigten Anklage und Verurteilung, der Liebe Gottes im Leben keinen Raum zu geben, sie immer wieder zu verleugnen und zu verraten. Das Evangelium widerspricht dem nicht dadurch, dass es die Anklage des Gesetzes für gegenstandslos oder übertrieben erklärte, sondern dadurch, dass sie der Wahrheit, die das Gesetz aufdeckt, die überlegene Wahrheit des Evangeliums gegenüberstellt. Misst das Gesetz den Menschen an dem, was er tut, so deckt das Evangelium auf, was der Mensch von Gott her und vor Gott und darum in Wahrheit ist, nämlich ein von Gott geliebtes Geschöpf und Kind Gottes. Dieser lebenslange Kampf und Übergang spiegelt die Situation des Christen in der Welt als zugleich („simul“26) bestimmt von der Macht des Bösen und vom Zuspruch der Gnade Gottes. Beides gilt je in 25 Die damit angedeutete Unterscheidung zwischen „herrschender Sünde“ und „beherrschter Sünde“ hat Luther vor allem in seiner Schrift gegen Latomus herausgearbeitet (WA 8, 94,9 f./LDStA 2, 313,5 f.). 26 So schon in Luthers Römerbriefvorlesung WA 56, 70,9 und 272,17.
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Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht
seinem „Bereich“ als Totalbestimmung des Menschen, aber weil die Sicht des Menschen in der Beziehung zu Gott die umfassende Wahrheit über sein Dasein ist, darum ist auch die Gerechtigkeit, die dem Menschen von Gott her zugesprochen und zuteil wird, die umfassende, überlegene, endgültige Wahrheit über den Menschen. Für die evangelische Sicht des Christlichen ist es jedoch wesentlich, dass der Mensch auch diese Gewissheit nicht anders hat als so, dass sie ihm immer neu zuteil wird. Nicht der Mensch verfügt über diese rettende Wahrheit, sondern Gottes rettende Wahrheit verfügt über den Menschen. Deswegen ist auch das „wesentlich“ Christliche zu äußerlich und oberflächlich verstanden, wenn es aufgefasst wird als eine Anzahl von Lehrsätzen oder Aussagen, in denen die Wahrheit über Gott, Welt und Mensch erfasst ist und dem Menschen (von der Kirche) mit der Forderung der Zustimmung vorgelegt wird. Nach evangelischem Verständnis sind solche Glaubensaussagen der (allerdings unverzichtbare) Versuch, das unverfügbare Geschehen, durch das die Botschaft von Christus Glaubensgewissheit weckt, in Sprache zu fassen und so zum Gegenstand von Glaubenskommunikation zu machen. Dass diese Glaubenskommunikation das bewirkt, was sie intendiert, nämlich das persönliche Angerührtwerden, die Weckung von Gewissheit und daseinsbestimmendem Vertrauen, das haben nach reformatorischem Verständnis weder der einzelne Christ noch die Kirche im Ganzen in der Hand, sondern das hat Gott sich im Wirken seines Geistes bleibend vorbehalten.
7. Rechtfertigung allein aus Glauben als das Wesentliche Lässt sich das wesentlich Christliche aus evangelischer Sicht, wie es auf den zurückliegenden Seiten skizzenhaft entfaltet wurde, in einem entscheidenden Punkt zusammenfassen? Die evangelische Kirche und Theologie war und ist der Auffassung, dass alles Entscheidende zusammengefasst ist in der Botschaft und Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Diese umfasst tatsächlich in nuce alles Wesentliche, weil sie von dem Gott redet, der als Schöpfer, Versöhner und Vollender in unverfügbarer, bedingungsloser Gnade wirkt, indem er die Welt „aus nichts“ ins Dasein ruft, den verlorenen Menschen „ohne des Gesetzes Werke“ rechtfertigt und schließlich die Toten zum ewigen
Rechtfertigung allein aus Glauben als das Wesentliche
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Leben erweckt27. Und sie enthält auch insofern alles Wesentliche, als sie die Menschen (und damit implizit die ganze Schöpfung) in ihrer Verlorenheit, in ihrem Bejahtsein durch Gott und in ihrer Bestimmung zur ewigen Gottesgemeinschaft zur Sprache bringt. Vor allem aber enthält sie insofern alles wesentlich Christliche, als sie Gott nicht ohne seine Beziehung zu Welt und Mensch und diese nicht ohne ihre Beziehung zu Gott zu denken erlaubt. Diese Beziehung ist asymmetrisch, weil in ihr Gott der primär Wirkende und das Geschöpf das primär Empfangende ist. Diese Beziehung hat den Charakter der Liebe, die unverfügbar ist, aber allem Dasein Sinn und Wert verleiht28. Das Vertrauen auf diese unverfgbare Liebe Gottes, die in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat, ist das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht.
27 Diesen Zusammenhang hat bereits Paulus in Röm 4,16 f. hergestellt bzw. auf ihn hingewiesen. 28 Das bringt Luther knapp und prägnant zum Ausdruck in der 28. These der Heidelberger Disputation von 1518: „Amor Dei non invenit, sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili“ (WA 1, 365,2 f. / LDStA 1, 60,6 f. dt. „Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten“ [LDStA 1, 61,7 – 9]).
„Wesen des Christentums“ – Was ist das? Wenn eine Vorlesungsreihe vom „Wesen des Christentums“ spricht, und dabei sogar den bestimmten Artikel gebraucht – also den Anspruch erhebt „Das Wesen des Christentums“ zu thematisieren –, dann bedarf das einer Erklärung, vielleicht sogar einer Rechtfertigung. Denn die Rede vom „Wesen“ im allgemeinen und vom „Wesen des Christentums“ im besonderen versteht sich nicht – vielleicht muss man sagen: nicht mehr – von selbst. Sie wirkt nicht nur ein wenig altmodisch und betulich, sondern sie weckt möglicherweise auch negative Assoziationen, Unbehagen, Animositäten, vielleicht sogar Ablehnung. Bei allem Respekt für den großen Platon: Die Frage nach den Ideen, die als die eigentliche Wirklichkeit der Welt der Erscheinungen zugrunde liegen, und in diesem Sinne die Frage nach dem „Wesen der Dinge“ passt nicht so recht in unsere postmodern geprägte geistige Landschaft und zu den (angeblichen oder tatsächlichen) Errungenschaften unseres Denkens. Was ist das Befremdende an dieser Rede? Ich vermute, es steckt in mehreren Elementen: einmal in der Tendenz zum Überzeitlichen und Ungeschichtlichen, so als gebe es ein Wesen jenseits des Wechsels der geschichtlichen Erscheinungen; sodann das Monolithische, als könnte durch die Rede vom „Wesen des Christentums“ die Tatsache zum Verschwinden gebracht werden, dass uns alles (auch das Christentum) immer nur in der Vielfalt perspektivischer Wahrnehmungen gegeben ist; schließlich das Normative, so als könne sich ein Theologe oder eine Theologische Fakultät die Definitionsmacht aneignen, zu bestimmen und verbindlich vorzugeben, was das Wesen des Christentums sei. Dass die Heidelberger Theologische Fakultät sich trotz dieser präsenten – um nicht zu sagen: allgegenwärtigen – Bedenken entschlossen hat, für ihren Beitrag zum Übergang in das Jahr 2000 diesen Titel zu wählen, hat auch, hat vielleicht sogar primär, historische Gründe. Die Erinnerung an die im Wintersemester 1899/1900 in Berlin von Adolf (erst seit 1914: von) Harnack unter dieser Überschrift vor ca. 400 Hörern aller Fakultäten frei vorgetragene und einige Monate später als Buch veröffentlichte Vorlesung ist ganz unvermeidlich. Dabei war diese Vorlesung möglicherweise von Harnack als eine Art Vermächtnis des 19. an das 20. Jahrhundert und insofern als Vorzeichen für das neue
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Jahrhundert gedacht, wurde aber faktisch eher zum theologischen Abgesang, vielleicht zur Bilanz eines zu Ende gehenden Jahrhunderts und seiner Theologie. Insofern könnte eine solche historische Erinnerung auch nachdenklich machen oder sogar abschrecken. Aber die Erinnerung an das große Berliner Vorbild alleine reicht natürlich nicht aus, um das Unternehmen dieser Vorlesungsreihe über „Das Wesen des Christentums“ zu begründen. Vielmehr stellt sich angesichts einer faktischen Pluralität, die sich permanent steigert, und angesichts eines prinzipiellen – auch aus guten theologischen Gründen vertretenen – Pluralismus zumindest die Sach- und Informationsfrage nach dem, was denn nun spezifisch, unverwechselbar, bleibend christlich sei. Und damit stellt sich eben unvermeidlich die Frage nach so etwas wie dem „Wesen des Christentums“. Was aber ist damit gemeint? Erläuterungs- und erklärungsbedürftig ist an dieser Formel nicht nur der Begriff „Wesen“, sondern auch die Rede vom „Christentum“. Wenn ich es recht sehe, ist in den letzten drei Jahrzehnten die Rede vom „Wesen des Christentums“ weitgehend abgelöst worden durch die Rede vom „Wesen (oder von der Identität oder vom Selbstverständnis) des christlichen Glaubens“. Mit dieser terminologischen Verschiebung ist selbst so etwas wie eine elementare Wesensbestimmung verbunden, deutet doch schon die Rede vom „Wesen des christlichen Glaubens“ darauf hin, dass eben der Glaube das Wesentliche am Christentum sei und nicht etwa dessen organisatorische Gestalt, seine weltweite Verbreitung oder der kodifizierte Bestand seiner gültigen Lehren und Ordnungen. Ich teile diese Auffassung grundsätzlich, möchte aber doch auch auf die damit verbundene Gefahr einer Ver-Geistigung oder Ent-Leiblichung des Christlichen hinweisen. Ist bzw. war nicht die Rede vom „Wesen des Christentums“ bei allen drohenden Missverständnissen doch eine notwendige, heilsame Erinnerung daran, dass das Christliche (wie alles Religiöse) nur so und dadurch wirklich ist, dass es Lebensvollzüge bestimmt, Gestalt annimmt, das Leben in erfahrbarer Weise beeinflusst und prägt. Man kann freilich zurecht darauf verweisen, dass all dies – recht verstanden – durch die Rede vom „Wesen des christlichen Glaubens“ gerade nicht aus-, sondern eingeschlossen werde, jedenfalls dann, wenn „Glaube“ nicht ganz untheologisch als bloßes Meinen oder Fürwahrhalten, sondern – ganz theologisch – als daseinsbestimmendes Vertrauen verstanden wird. Das ist durchaus richtig, und so verstanden ist die Rede vom „Wesen des christlichen Glaubens“ auch nicht zu beanstanden, sondern als Zugewinn festzuhalten, aber die Erinnerung
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daran, dass der Glaube (um seiner selbst willen) die soziale und individuelle Verleiblichung und Gestaltwerdung braucht, ist doch alles andere als überflüssig oder entbehrlich. Und daran ausdrücklich zu erinnern, könnte eine der wichtigen, unaufgebbaren Funktionen der traditionellen Rede vom „Wesen des Christentums“ sein. Freilich, die weitaus größeren und schwerer zu lösenden Schwierigkeiten und Probleme liegen im Wesensbegriff. Ich fragte bereits eingangs, ob sich diese Rede unter heutigen Denkbedingungen überhaupt noch aufrecht erhalten lässt. Das ist sicher dann nicht der Fall, wenn sie sich verbindet mit einer Deutung der Wirklichkeit, der zufolge das eigentliche Wesen aller Dinge so gedacht wird, als sei es in einem jenseitigen Reich der Ideen präformiert, aufbewahrt und vorweggenommen, so dass die für uns zugängliche Welt der wahrnehmbaren Erscheinungen immer bloß eine abbildhafte Darstellung oder Abschattung jener Welt ewiger Wesenheiten wäre. Der Wesensbegriff wird auch dann nur mit großer Mühe festgehalten werden können, wenn er definitorisch verbunden wird mit der Vorstellung von Zeitlosigkeit, Unveränderlichkeit, also Ungeschichtlichkeit. Aber dass diese Zuspitzungen bzw. Verengungen keineswegs notwendig mit dem Wesensbegriff verbunden sind, zeigt schon unser – auch umgangssprachlich vertrautes – Reden vom Wesen eines Menschen, das wir wahrzunehmen, zu erkennen und möglicherweise auch zu beurteilen versuchen. Wenn wir vom Wesen eines Menschen reden, dann meinen wir jedenfalls etwas, was für diesen Menschen charakteristisch ist, was die Vielfalt seiner Ausdrucks- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten, die im lebensgeschichtlichen Wandel in Erscheinung tritt, zu einer Einheit verbindet und dessen Wegfall aus diesem Menschen etwas bzw. jemanden anderes machen würde, als er (in unseren Augen) tatsächlich ist. In diesem Sinne kann dann auch davon gesprochen werden, dass sich das Wesen eines Menschen durch einen Schicksalsschlag, eine Erkrankung, eine neue Beziehung oder eine religiöse Erfahrung radikal verändert habe. In diesem, zunächst ganz anspruchslos wirkenden Sinn ist es nicht nur möglich, sondern legitim, vermutlich sogar notwendig, nach dem Wesen nicht nur von Individuen, sondern auch von geschichtlichen Größen wie „des Mönchtums“, „der Reformation“, „der Aufklärung“, „des Humanismus“, „des Marxismus“ oder „der Postmoderne“ zu fragen. Und in eben diesem Sinne ist es auch möglich, legitim und vermutlich unvermeidlich, nach dem Wesen von Religionen oder Weltanschauungsgemeinschaften zu fragen.
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Schwieriger als die Formulierung dieser Frage ist freilich ihre Beantwortung. Woran kann und soll man sich orientieren, wenn man das Wesen des Christentums bzw. des christlichen Glaubens bestimmen will? Lassen Sie mich zunächst kurz auf zwei vielleicht naheliegende, aber vom methodischen Ansatz her in die Irre führende (Ab-)Wege hinweisen. Den einen Abweg sehe ich darin, das Wesen des Christlichen als das Dauerhafte oder Bleibende bestimmen zu wollen, indem man sich an den Elementen orientiert, die sich in der Christentumsgeschichte von Anfang an bis heute durchgehalten haben. Die scheinbare Plausibilität dieses Denkansatzes besteht in der Vermutung, dass dasjenige, was das Wesen des Christentums ausmacht, nicht erst nachträglich hinzugewachsen oder irgendwann verlorengegangen sein könne, sondern stets vorhanden gewesen sein müsse. Aber gegenüber dieser plausibel klingenden Vermutung muss man auf zweierlei hinweisen: Einerseits folgt daraus keineswegs, dass das, was immer und überall im Christentum anzutreffen war, tatsächlich sein Wesen ausmacht oder zu seinem Wesen gehört. Es könnte sich dabei auch um ein zufällig dauerhaft vorkommendes Merkmal oder um etwas ganz Allgemeines und Unspezifisches handeln, das mit dem Wesen des Christentums gar nichts zu tun hat. Andererseits – und das ist der noch gewichtigere Einwand – wird hierbei übersehen, dass das Wesen einer Person oder Gemeinschaft nicht mit den an ihr wahrnehmbaren Erscheinungen (oder einer Auswahl daraus) gleichzusetzen ist, sondern dass das Wesen zwar in Erscheinungen mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommt, von ihnen aber grundsätzlich unterschieden werden muss, weil das Wesen unterschiedlicher Ausdrucksformen und Erscheinungen fähig ist. Geschichtliche Stabilität ist deswegen allenfalls ein Indiz, um dem auf die Spur zu kommen, was mit dem Begriff „Wesen“ gemeint ist, darf aber damit nicht gleichgesetzt werden. Der zweite Irrweg ist nicht weniger problematisch und gefährlich: Er besteht darin, das Wesen oder das Wesentliche als das Unterscheidende zu bestimmen. Die scheinbare Plausibilität dieses Denkansatzes resultiert daraus, dass Personen oder Gemeinschaften, die sich in nichts voneinander unterscheiden würden, doch wohl als wesensgleich oder wesensidentisch bezeichnet werden müssten. Das ist zwar grundsätzlich richtig, erlaubt aber keineswegs, im Umkehrschluss das Wesen als das Unterscheidende oder vom Unterscheidenden her zu bestimmen. Die Tatsache, dass ein bestimmter Gegenstand sich von einem anderem in
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einer bestimmten Hinsicht nicht unterscheidet, besagt ja nicht, dass diese Hinsicht deshalb nicht zum Wesen dieses Gegenstand gehört. Es könnte doch z. B. sehr wohl sein, dass es zwischen Judentum, Christentum und Islam gemeinsame, verbindende Elemente gibt (etwa den Glauben an einen Gott, an die Erschaffung der Welt durch Gott und an ein ewiges Leben), die gleichwohl zum jeweiligen Wesen dieser unterschiedlichen und zu unterscheidenden Religionen gehören. Das erklärt sich m. E. daraus, dass solche Elemente – wiewohl sie an sich und in sich keine Unterschiede aufweisen – doch als Elemente des Wesens unterschiedlicher Glaubensweisen in einen spezifischen Zusammenhang treten, von dem her sie verstanden werden wollen und müssen. Entscheidend für die Wesensbestimmung ist deswegen nicht die Frage, ob ein solches Element auch in einer anderen Religion (oder bei einem anderen Menschen oder bei einem anderen Gegenstand) vorkommt, sondern ob es unverzichtbar zu dieser Religion (oder zu diesem Menschen oder zu diesem Gegenstand) hinzu gehört. Das Differenzverfahren, das ich hier als zweiten Abweg kurz skizziert habe, würde im übrigen – wider Willen – dazu führen, dass gerade die Wesensbestimmung fixiert bliebe (wenn auch negativ fixiert bliebe) auf dasjenige, wovon etwas oder jemand abgegrenzt bzw. unterschieden werden soll. Wenn aber diese beiden relativ naheliegenden und auch gut nachvollziehbaren Wege ausscheiden, welche Möglichkeit bleibt dann, in der Frage nach der Bestimmung des Wesens (des Christentums oder des christlichen Glaubens) voranzukommen? Meine erste Antwort lautet: An der Einsicht, dass wir dieses Wesen immer nur in Gestalt unserer Interpretationen und damit unserer Konstruktionen haben, führt kein Weg vorbei. Zugespitzt formuliert: Wesensbestimmung ist immer Konstruktion, und insofern gilt auch: Wesen ist Konstrukt. Das ergibt sich m. E. zwingend gerade aus der für den Wesensbegriff grundlegenden Unterscheidung von den Erscheinungen oder auch von der Summe der Erscheinungen, durch die uns Individuen, Gruppen, Ereignisse oder Gegenstände gegeben sind. Es gibt keine Wesensbestimmung von irgend etwas oder irgend jemand abseits oder unabhängig vom produktiven Erkenntnisakt der Interpretation oder Deutung. Aber wenn dies die ganze Wahrheit wäre (und nicht bloß die halbe), dann hätte es letztlich überhaupt keinen Sinn mehr, über unterschiedliche Wesensbestimmungen einen Streit zu führen, sei es einen alltäglichen oder einen wissenschaftlichen. Denn dann wäre eben das jeweilige „Wesen des Christentums“ nichts anderes als das Konstrukt des jeweiligen Autors, das sich aus dessen Willkür – und aus nichts anderem
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– erklärt. Dann wäre freilich auch eine solche Vorlesungsreihe wie die heute begonnene allenfalls in ästhetischer oder machtpolitischer Hinsicht interessant als Aneinanderreihung verschiedener möglicher oder um Durchsetzung konkurrierender Interpretationen und Deutungen. Aber Interpretationen und Deutungen wovon eigentlich? Alle Deutung und Interpretation lebt doch davon, dass sie Deutung und Interpretation von etwas oder jemand ist, sich also auf ein zu Interpretierendes bezieht und ihm mehr oder weniger angemessen sein, es aber auch verfehlen kann. Würde jemand z. B. sagen, zum Wesen des Christentums gehöre das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes, zu Mohammed als seinem Propheten, das fünfmalige tägliche Gebet, die Armensteuer und die Wallfahrt nach Mekka, so würden wir ihm mit größter Bestimmtheit mitteilen, er habe offensichtlich das Wesen des Christentums mit dem Wesen des Islam verwechselt – und wir würden darauf insistieren, obwohl das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes dem Islam und dem Christentum durchaus gemeinsam sind. Es gibt etwas, das ich nennen möchte: eine Widerständigkeit der Erscheinungen, die sich gegen beliebige Interpretationen und Deutungen sperrt und die deshalb nur um den Preis der Wahrnehmungs- bzw. Realitätsverweigerung übersprungen und im Sinne reiner konstruktivistischer Beliebigkeit weginterpretiert werden kann. So richtig es also ist, dass wir Wesensbestimmungen immer nur in Gestalt von Konstrukten haben, so verkehrt wäre es, daraus zu folgern, dass Wesensbestimmungen nichts anderes seien als (beliebige) Konstrukte. Die längst erkannte Zusammengehörigkeit von produktivem und rezeptivem Erkenntnisaspekt gilt auch im Blick auf die Wesenbestimmung des Christentums und anderer Größen. Dabei läßt sich zwischen beiden Elementen bzw. richtiger: Aspekten des Erkenntnisprozesses weder säuberlich trennen noch ein quantitatives Verhältnis konstatieren. Vielmehr gehen beide permanent ineinander über, bedingen sich gegenseitig und kommen nur miteinander vor. Das macht die Aufgabe der Wesensbestimmung zu einer nicht nur komplexen, sondern auch riskanten, unter Bedingungen der Endlichkeit niemals abschließend zu erledigenden Aufgabe. Diese Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit hängt nicht nur mit der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens zusammen, sondern auch damit, dass wir es beim Christentum wie bei anderen Religionen mit geschichtlichen Wirklichkeiten zu tun haben, deren Wesensgehalt zwar ( jedenfalls möglicherweise) bereits in ihrem Urimpuls vollkommen enthalten ist, dessen Explikation, Darstellung, Entwicklung und
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Erkenntnis in der Geschichte jedoch noch weitergeht und deswegen und insofern selbst noch auf Zukunft hin offen ist. Man kann sich das bezogen auf das Christentum rückblickend gut an zwei zentralen Beispielen verdeutlichen: einerseits an der Trinitätslehre, die in den ersten Jahrhunderten noch nicht zum Lehrbestand des Christentums gehörte, wiewohl sie in seinem Urimpuls, d. h. in der Verkündigung, im Wirken und im Geschick Jesu von Nazaret als des Christus, bereits implizit gegeben war; andererseits an der reformatorischen Aussage vom Christen, er sei gerecht und Sünder zugleich (also am berühmten „simul“). Auch diese Aussage läßt sich in den biblischkanonischen Texten nicht explizit aufweisen, ist aber in ihnen implizit vorhanden und gehört insofern (auch insofern) jedenfalls zum Wesen evangelischen Christentums. Mit den bisherigen Ausführungen ist freilich ein Problem noch nicht gelöst, sondern allenfalls gestellt, das sich beim Durchdenken der Frage nach dem Wesen des Christentums immer wieder neu als eines der schwierigsten erweist: die genaue Verhältnisbestimmung von Wesen und Erscheinung. Dabei kann man allerdings eine denkbare Verhältnisbestimmung von vornherein als abwegig, um nicht zu sagen als absurd ausscheiden, nämlich die Behauptung, Wesen und Erscheinung einer Gemeinschaft, Person oder Sache hätten gar nichts miteinander zu tun. Ich wüßte nicht, was man unter dieser Voraussetzung noch sinnvollerweise mit der Rede oder Vorstellung von einem Wesen und einer Erscheinung – z. B. des Christentums – verbinden sollte. Viel schwieriger ist indes die Abgrenzung in die andere Richtung: Lassen sich Wesen und Erscheinung überhaupt voneinander unterscheiden oder ist nicht das Wesen so etwas wie die Summe oder Gesamtheit oder der Inbegriff aller Erscheinungen? Wenn man diese Auffassung vertritt, kann man jedenfalls nicht mehr von unwesentlichen oder gar wesenswidrigen Erscheinungen reden, sondern muss jede Erscheinung als zum Wesen gehörig und insofern als wesensgemäß bezeichnen. Eine solche Gleichsetzung mutet unserem sprachlichen Empfinden einiges zu, aber ist sie nicht bei genauem Zusehen geradezu unvermeidlich? Mit welchem Grund sollten wir etwa sagen können, zum Wesen des Christentums gehöre zwar der Glaube an Jesus Christus, die Versammlung der Gemeinde zur Feier des Gottesdienstes, das Lesen der Bibel, die Entwicklung und Pflege des Bildungswesens in Kirche und Gesellschaft, die tätige Nächstenliebe und Diakonie; zum Wesen des Christentums gehörten jedoch nicht die Kirchenspaltungen, die Ket-
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zerverfolgungen, die Hexenprozesse oder die Judenpogrome? Nun könnte man zwar sagen, dem Christentum hätte nichts Wesentliches gefehlt oder würde nichts Wesentliches fehlen, wenn die zuletzt genannten Erscheinungen nicht stattgefunden hätten und wenn sie folglich nicht zur Geschichte des Christentums gehörten, hingegen würde dem Christentum Wesentliches fehlen, wenn auch nur eines der erstgenannten Elemente (Christusglaube, Gottesdienst, Bibellektüre, Bildungsengagement, Nächstenliebe, Diakonie) nicht in Erscheinung getreten wäre. Wenn man den Wesensbegriff so verwendet, wird er aus einem beschreibenden zu einem wertenden, vielleicht sogar zu einem normativen Begriff. Das mag durchaus legitim und vertretbar sein, aber dann stellt sich die Frage: Wie ist es dann zu erklären, dass zur Geschichte und zum Erscheinungsbild des Christentums auch all die genannten unerfreulichen Erscheinungen gehören? Sie sind ja dem Christentum nicht von außen angetan oder zugefügt worden, sondern in irgendeiner Weise im Rahmen und Gesamtzusammenhang des Christentums und insofern aus ihm entstanden. Vor allem aber ist eines ganz unmöglich: Die Unterscheidung zwischen einem positiven Wesen(skern) und den negativen, als unwesentlich oder wesenswidrig gekennzeichneten Erscheinungen kann und darf nicht benutzt werden, um das Christentum rückwirkend von der Verantwortung für diese Negativa zu entlasten oder freizusprechen. Nein, sie gehören dazu und müssen verantwortet und übernommen werden. Aber noch einmal gefragt: Wird damit nicht die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung und wird damit nicht überhaupt das Reden vom Wesen (des Christentums) sinnlos? Das ist m. E. aus zwei Gründen nicht der Fall: Erstens gehören die Begriffe „Wesen“ und „Erscheinung“ – wie bereits angedeutet – auf unterschiedliche Ebenen. Das Wesen ist weder ein Element der Erscheinungen neben anderen noch deren Summe, sondern eine bestimmte Interpretation der Erscheinungen als einheitlicher Zusammenhang, und zwar diejenige Interpretation, die sich an der Leitfrage orientiert: Was macht die Identitt einer Größe, in unserem Fall: des Christentums aus, was also ist das Charakteristische, Eigentmliche des Christentums, das dieses zu erkennen und wiederzuerkennen und darum und dann auch von anderen Religionen zu unterscheiden erlaubt? In diesem Sinne ist und bleibt die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung m. E. nicht nur sinnvoll, sondern unverzichtbar.
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Zweitens: Gerade von diesem Ansatz her lässt sich möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage finden, ob denn alle Erscheinungen gleichermaßen zum Wesen einer Sache, Gemeinschaft oder Person hinzugehören. Unter dieser Leitfrage ist es nämlich sinnvoll, zu unterscheiden zwischen Erscheinungen, die in das Identitätszentrum hinein gehören oder unmittelbar mit ihm verbunden sind, und solchen, die nur in abgeleiteter, indirekter, durch zahlreiche andere Einflüsse mit bestimmter Form hinzugehören. In dieser Hinsicht ist es also sehr wohl legitim, zwischen einer Mitte und Rändern, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen Wesensgemäßem und Wesenswidrigem zu unterscheiden, ohne deswegen die Zugehörigkeit auch des Unwesentlichen und Wesenswidrigen zu dem Gesamtzusammenhang der Erscheinungen zu bestreiten. Die christliche Theologie hat in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel (angeregt einerseits durch Luthers kritisches Schriftprinzip, andererseits durch die historisch-kritische Betrachtungsweise seit der Aufklärungszeit) solche Denkansätze entwickelt und von ihnen bis heute reichlich und mit großem Gewinn Gebrauch gemacht. In welchem Maße von einer solchen Interpretationsmöglichkeit des Wesensbegriffs und von den daraus resultierenden methodischen Instrumenten Gebrauch gemacht wird, hängt nicht zuletzt davon ab, aus welchem Interesse heraus die Frage nach dem Wesen des Christentums gestellt wird. Dieser Frage will ich mich abschließend kurz zuwenden. Mir scheint es möglich, in einer groben Typisierung zumindest drei unterschiedliche Interessen zu unterscheiden, die sich mit der Frage nach dem Wesen des Christentums verbinden (können) oder ihr zugrunde liegen: 1) ein informatives oder deskriptives Interesse, aus dem heraus die Frage nach dem Wesen des Christentums oder einer anderen Religion gestellt wird, um in die unübersehbare Fülle der Erscheinungen und Phänomene einige Ordnung zu bringen, um im allgemeinen oder im wissenschaftlichen Gespräch kundig mitreden zu können, eben um zumindest einigermaßen Bescheid zu wissen; 2) ein kritisches oder selbstkritisches Interesse, bei dem es um Zurechnung, Verantwortlichkeit oder auch um Reformbestrebungen gehen kann, die geleitet sind von dem Ziel, das Christentum wieder zu seinem Wesen oder zu dem für es Wesentlichen hinzuführen oder es als von seinem Wesen her überholt zu erweisen, es als problematisch oder gar gefährlich zu kennzeichnen; schließlich
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3) das Interesse an Orientierung und Vergewisserung im Blick auf die eigene religiöse Einstellung und Lebenspraxis gerade angesichts einer großen Fülle und Vielfalt von religiösen Sinnangeboten und Möglichkeiten. Diese Interessen können sich teilweise miteinander verbinden oder überlagern. Das ist zwischen dem ersten (informativen bzw. deskriptiven) und dem dritten (an existentieller Orientierung und Vergewisserung ausgerichteten) Interesse offensichtlich. So kann z. B. die rein religionskundliche Frage nach dem Wesen einer Religion unversehens und unvermittelt zu einer Sache persönlichen Getroffen- und Betroffenseins werden, die lebensgeschichtliche Bedeutung bekommt. Und von dem dritten Interesse her erweist auch das zweite seinen legitimen Sinn und seine Zugehörigkeit. Nun wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass gerade heute diese persönliche Orientierung in der Regel nicht in der Form der Übernahme eines bestimmten, vorgegebenen (sozusagen kompletten) religiösen Bekenntnisses erfolge, sondern in Gestalt einer individuellen Auswahl und Kombination aus verschiedenartigen religiösen Angeboten (sog. Patch-work-Identität oder Cafeteria-Religion). Ich bestreite nicht, dass das in vielen Fällen so ist. Ich bestreite auch nicht, dass das eine Möglichkeit sein kann, mit religiösen Bekenntnissen und Wahrheitsansprüchen umzugehen – soweit sie dem einzelnen nur partiell einleuchten und für ihn Überzeugungskraft gewinnen. Ich bestreite aber, dass sich daraus die Konsequenz ergibt oder auch nur ergeben dürfte, auf so etwas wie eine Wesensbestimmung der unterschiedlichen Religionen zu verzichten und deren Inhalte (z. B. die christliche Verkündigung) von vorneherein zu segmentieren oder in variablen „Paketen“ oder „Versionen“ anzubieten. Soll nicht eine irreparable Zerstörung der religiösen Kultur eintreten, so müssen die Religionsgemeinschaften und ihre Theologien alles tun, um die jeweilige religiöse Überlieferung – wie sie im Austausch mit der jeweiligen Lebenswelt existiert – so klar und so unterscheidbar wie möglich zu beschreiben und zu vermitteln. Gerade eine Epoche mit starken Individualisierungstendenzen ist zu deren individuell und sozial gedeihlicher Realisierung auf die verlässliche Pflege derjenigen Traditionen angewiesen, an denen Menschen sich orientieren und zwischen denen sie sich auswählend verhalten können. Insofern dient auch die Bestimmung des Wesens des Christentums der Ermöglichung einer individuellen und sozialen religiösen Kultur, deren Gedächtnis intakt ist.
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Und das gilt unabhängig davon, welches Interesse oder welche Interessen bei der Wesensbestimmung leitend ist bzw. sind. Diese unterschiedlichen Interessen sind grundsätzlich in gleicher Weise legitim und berechtigt. Trotzdem kann man mit gutem Grund sagen, dass das Orientierungs- und Vergewisserungsinteresse dasjenige ist, das nicht nur der Frage nach dem Wesen des Christentums, sondern auch dem Wesen des Christentums als Religion am angemessensten ist. Damit mache ich also nun abschließend selbst eine Aussage über das Wesen des Christentums, das – wie jede andere Religion – erst dann in seinem Selbstverständnis erfasst und verstanden ist, wenn es wahrgenommen wird als Herausforderung oder als Einladung, das darin enthaltene Gottesverständnis, Weltverständnis und Selbstverständnis als eigenes zu übernehmen, also für das eigene Leben bestimmend werden zu lassen. Es gehört freilich auch zum Wesen des Christentums (und das gilt nun nicht für alle Religionen gleichermaßen), dass es darum weiß, dass die Aneignung einer Religion oder eines Glaubens nichts ist, worüber Menschen verfügen und willentlich entscheiden können, sondern dass es hier um einen Vorgang geht, der dem Menschen in erster Linie widerfhrt, einen Vorgang, in dem der Mensch primär angesprochen, bewegt, erfasst, gewonnen wird – freilich so, dass er dann und daraufhin gar nicht umhin kann, sich zu alledem zu verhalten, es in seinem Leben und für sein Leben wirksam werden zu lassen oder sich dem zu verschließen. Diesen Vorgang kann auch eine solche Vorlesung und eine Vorlesungsreihe über das Wesen des Christentums nur beschreiben und darstellen, aber nicht inszenieren oder bewirken. Damit führt auch eine Vorlesungsreihe über das Wesen des Christentums bestenfalls an die Grenze, an der sich die Sache selbst zeigen muss oder verborgen bleibt. Aber wenn sie tatsächlich bis zu dieser Grenze führt, dann ist ihr schon viel gelungen.
Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit 1. Erläuterungen zur Themaformulierung Wenn in der Überschrift dieses Aufsatzes vom „christlichen Verständnis“ von Wahrheit und Gewissheit die Rede ist, bedarf dies einer Erläuterung, um nach Möglichkeit ein Missverständnis zu vermeiden, das sich sowohl aus geschichtlichen Erinnerungen1 als auch aus gegenwärtigen Diskussionen2 ergeben könnte. In der Themaformulierung ist nicht die Rede von einer oder der „christlichen Wahrheit und Gewissheit“, neben der es möglicherweise eine andere (außerchristliche, fremdreligiöse, philosophische oder sonstige weltanschauliche) Wahrheit und Gewissheit geben könnte, sondern die Rede ist vom christlichen Verstndnis der Wahrheit und Gewissheit, wobei vorausgesetzt ist, dass es zwischen den Religionen und Weltanschauungen unterschiedliche Auffassungen darüber geben kann, was unter ,Wahrheit‘ und ,Gewissheit‘ zu verstehen, wodurch und inwieweit sie zu erkennen ist und welche Bedeutung ihre Erkenntnis für das Leben der Menschen hat. Auf dieser Ebene des Wahrheits- und Gewissheitsverstndnisses ist dieser Beitrag angesiedelt, und zwar als Versuch einer Positionsbestimmung aus christlicher Perspektive. Weiter gehe ich davon aus, dass das, was wir zu beschreiben und zu verstehen versuchen, wenn wir nach der Wahrheit und Gewissheit fragen, sich aus jeder (religiösen, weltanschaulichen oder philosophischen) Perspektive auf dasselbe bezieht bzw. dasselbe meint.3 Denn schon 1 2
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Ich denke hier vor allem an die spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen um das Problem der sogenannten doppelten Wahrheit. Hier denke ich vor allem an die häufig anzutreffende Kennzeichnung von kirchlichen Äußerungen (z. B. zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen) als Glaubenswahrheiten, die in einer pluralistischen Gesellschaft nicht (mehr) mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftreten und als solche akzeptiert werden könnten. In der pluralistischen Gesellschaft könnten nur Vernunftwahrheiten Anspruch auf allgemeine Geltung erheben. In anderen Theoriesprachen gesagt: dass es dieselbe Extension hat bzw. dasselbe denotiert. Damit behaupte ich nicht, dass diese Ausdrücke bei jeder ihrer Verwendungen auch dieselbe Intension hätten bzw. dasselbe designierten. Aber sie
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Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit
,verstehen‘ und ,beschreiben‘ setzen voraus, dass das Verstandene und Beschriebene real ist, so dass sich das Verstehen und die Beschreibung darauf beziehen kann, um es zu erfassen. Nur unter dieser Voraussetzung ist auch ein Gespräch oder Streit zwischen verschiedenen Wahrheits- und Gewissheitsverständnissen sinnvoll und aussichtsreich. Denn ohne diese Voraussetzung stünden die verschiedenen Wahrheits- und Gewissheitsverständnisse nicht nur unvermittelt, sondern unvermittelbar nebeneinander. Sie würden sich – wenn überhaupt – auf ganz unterschiedliche Sachverhalte beziehen. Es gäbe dann keine Möglichkeit der Verständigung über sie. Der Preis dafür wäre gefährlich hoch. Denn dann wäre es nicht nur unmöglich, sich über Wahrheitsbegriffe und -theorien sowie über Gewissheitsbegriffe und -theorien sinnvoll auseinanderzusetzen, sondern jede auf Verständigung oder Kooperation aus Einsicht zielende Kommunikation wäre damit am Ende. Übrig blieben nur Ausdrucksformen unterschiedlichen Geschmacks oder unterschiedliche Sprachspiele ohne Anspruch auf intersubjektive Geltung – oder eine Kommunikation mittels Macht oder Gewalt. Der Preis, der für eine solche Preisgabe von Wahrheit und Gewissheit als je identischer Sachverhalt zu zahlen wäre, ist also geradezu unvorstellbar hoch; denn sie betrifft nicht nur die Möglichkeit der Verständigung über die Begriffe „Wahrheit“ und „Gewissheit“, sondern eben damit über alles, was wahr oder gewiss ist oder sein kann. Diese Einsicht hebt freilich die genannte Tatsache nicht auf, dass es unterschiedliche Verstndnisse von Wahrheit und Gewissheit (Begriffe und Theorien) gibt, die miteinander im Streit liegen. Und mit dem Streit um die unterschiedlichen Wahrheits- und Gewissheitsverständnisse steht genau diese jeweils vorausgesetzte und unterstellte Identität der Sache bzw. des Gegenstandes auf dem Spiel, die mit diesen Begriffen bezeichnet werden. Insofern ist die Tatsache, dass es unterschiedliche beziehen sich auf dasselbe: auf die mit den Begriffen „Wahrheit“ und „Gewissheit“ gemeinten Sachverhalte. Und mit „Sachverhalten“ sind hier nicht Wahrheiten oder Gewissheiten inhaltlicher Art (also bestimmte wahre oder gewisse Sätze bzw. Aussagen) gemeint, sondern Wahrheit oder Gewissheit als je spezifisches Phänomen. Bestreiten könnte man diese These m. E. nur, indem man entweder die Auffassung begründet, die Begriffe „Wahrheit“ und „Gewissheit“ seien konstitutiv quivok oder indem man nachweist, dass sich diese Begriffe auf gar nichts beziehen kçnnen, z. B. weil sie selbstwidersprüchlich sind wie etwa der Begriff „Rundquadrat“. Für die Äquivokationsthese sehe ich keinen Anhaltspunkt. Der These von der Selbstwidersprüchlichkeit des Wahrheitsbegriffs kommt die Bestreitung der Adäquanztheorie zumindest nahe. Damit werde ich mich weiter unten (in Abschn. 2 und 3) beschäftigen.
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Wahrheits- und Gewissheitsverständnisse gibt, keineswegs leicht zu nehmen, sondern stellt eine ernsthafte, beunruhigende Tatsache dar. Beunruhigend ist sie deshalb, weil mit dem Wahrheits- und Gewissheitsverständnis alle Erkenntnisbemühungen und alle Auseinandersetzungen problematisch werden, da sie alle nur dann sachhaltig sind, wenn sie implizit oder explizit mit dem Anspruch oder der begründeten Vermutung des Wahr-Seins (und das schließt ein: als wahr GewissSeins) artikuliert werden. Das Wahrheits- und Gewissheitsverständnis ist insofern so etwas wie das Vorzeichen vor der Klammer, innerhalb deren jede Kommunikation stattfindet. Der Versuch, in dem vorliegenden Text das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit zu artikulieren, geht also einerseits von der notwendig vorauszusetzenden Identitt von Wahrheit und Gewissheit je für sich aus (und erhebt selbst den Anspruch auf gewissheitsbasierte Wahrheit), er geht andererseits von der faktischen Vielfalt und Strittigkeit artikulierter und vertretener Wahrheits- und Gewissheitsverstndnisse aus (und stellt insofern einen Gesprächsbeitrag in einem wahrheits- und gewissheitstheoretischen Diskurs dar). Der vorliegende Beitrag geht aber schließlich auch davon aus, dass das christliche Verständnis der Wahrheit und Gewissheit dasjenige Verständnis ist, in dem das, was Wahrheit und Gewissheit sind, adäquat zum Ausdruck kommt. Diese Überzeugung hat selbst nicht den Charakter eines zu glaubenden Lehrsatzes, sondern den einer zu explizierenden Gewissheit und Wahrheit, die entfaltet, aber nicht bewiesen werden kann.
2. Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem Im Unterschied zu vielen anderen Begriffen bezeichnet der Begriff ,Wahrheit‘ bzw. das Adjektiv ,wahr‘ etwas Schlichtes, Einfaches.4 Jedes Kind („von sieben Jahren“5) weiß, was gemeint ist, wenn von ,Wahr4
Das schließt nicht aus, dass schon die Definition des Wahrheitsbegriffs, erst recht aber die Entfaltung einer Wahrheitstheorie außerordentlich komplex und kompliziert sein kann. Ich halte es jedoch für sachlich wichtig und klärend, sich immer wieder an dem einfachen, umgangssprachlich vertrauten Grundsinn der Worte ,wahr‘ und ,Wahrheit‘ zu orientieren, um das immer schon vorhandene, vertraute Wissen von dem, was Wahrheit ist, nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern für die Untersuchung fruchtbar zu machen. Diesem Kriterium genügen die vier gängigen Wahrheitstheorien nicht, die als Alternativtheorien zur Adäquanztheorie diskutiert werden: die Redundanz-, die Kohärenz-, die
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heit‘ und ,Unwahrheit‘6, vom ,Wahrsein‘ oder ,Nicht-Wahrsein‘ die Rede ist.7 Dabei ist der Verwendungszusammenhang dieser Worte die intersubjektive sprachliche Kommunikation. D. h., diese Worte beziehen sich ursprünglich8 auf sprachliche Äußerungen (gesprochener
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Konsequenz- und die Konsens(us)theorie. Alle diese Theorien enthalten zwar unbestreitbare Wahrheitselemente; aber sie kommen nicht als Alternativen, sondern nur als Ergnzungen zur Adäquanztheorie in Frage. (Siehe dazu W. Härle, Systematische Philosophie, München [1982]) 21987, S. 169 – 187). Es gibt jedoch eine weitere interessante und leistungsfähige Wahrheitstheorie, die auf E. Husserl zurückgehende sog. Erfllungstheorie. (Siehe dazu E. M. Pausch, Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung, Berlin/New York 1994, S. 133 – 136. Dort auch Quellen- und Literaturangaben). Husserls Wahrheitstheorie basiert auf der Unterscheidung zwischen Intention (intellectus) und Erfüllung (res). Er geht davon aus, dass die Erfüllung steigerbar ist und dass die vollkommene Adäquanz zwischen Intention und Erfüllung den Charakter einer ,regulativen Idee‘ im Sinne Kants hat. Das zeigt aber, dass die Erfüllungstheorie keine Alternative zur Adäquanztheorie, sondern eine phänomenologische Modifikation und Przisierung der Adquanztheorie ist. Als solche ist sie weiterführend und sollte im wahrheitstheoretischen Diskurs noch stärker beachtet werden. So Luther in Teil III der Schmalkaldischen Artikel (BSLK 459, 21). Damit ist die untere Grenze der selbstständigen Urteilsfähigkeit (insbesondere im Blick auf die Unterscheidung von gut und böse) gemeint. In dem zitierten Text bezieht Luther dieses Wissen allerdings nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Kirche. Um ein möglichst großes Maß an semantischer Klarheit zu erzielen, gebrauche ich als Negation von „Wahrheit“, „wahr“ etc. hier und im Folgenden stets die Ausdrücke „Unwahrheit“, „unwahr“ etc., nicht jedoch „Falschheit“, „falsch“ oder „Unrichtigkeit“, „unrichtig“ etc. Ich lasse damit auch die Frage auf sich beruhen, ob „Falschheit“ und „Unrichtigkeit“ in jedem Fall dasselbe bedeuten wie „Unwahrheit“ und ob sie ebenso wie „Unwahrheit“ einen kontradiktorischen Gegensatz zu „Wahrheit“ bilden. Es handelt sich (unter Einbeziehung der darauf aufruhenden Wahrhaftigkeit) also um ein elementares Phänomen, das für die menschliche Kommunikation, Interaktion und Bildung von Anfang an von fundamentaler Bedeutung ist und deshalb größte Wertschätzung und Behutsamkeit erfordert und verdient. Auf diesen wichtigen Aspekt hat mich im Rahmen einer Diskussion Reiner Preul dankenswerter Weise hingewiesen. Das Wort „ursprünglich“ bezieht sich hier nicht auf den Ursprung der Wirklichkeit, sondern auf die elementare Kommunikationssituation, in der die Rede von „Wahrheit“ zunächst auftaucht, gelernt und gebraucht wird. Es könnte sich also im Verlauf der Analyse durchaus zeigen, dass es im ontologischen Sinn des Wortes eine „ursprünglichere“ Schicht oder Dimension des Wahrheitsbegriffs gibt, die auch in der alltagssprachlichen Kommunikationssituation immer schon (bewusst oder unbewusst) vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird und werden muss.
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oder geschriebener Art), und zwar beziehen sie sich auf die Frage, „ob es so ist“ bzw. „ob es sich so verhält“9, wie in der Aussage behauptet wird.10 Mit dieser alltagssprachlichen Grundbedeutung von ,Wahrheit‘ bzw. ,Wahrsein‘ trifft sich die – spätestens bei Aristoteles nachweisbare, durch die mittelalterliche und neuzeitliche Philosophiegeschichte tradierte – Definition und Theorie der Wahrheit, der zufolge Wahrheit „die Übereinstimmung zwischen res und intellectus“11 bezeichnet. Dabei wird diese sogenannte Adäquanz- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit in unterschiedlichen Formulierungen überliefert, von denen mir die in der Überschrift zu diesem Abschnitt gewählte „adaequatio intellectus ad rem“12 insofern die genaueste zu sein scheint, als sie – im Unterschied etwa zu der Rede von der „adaequatio rei et intellectus“ – nicht nur eine parataktische Zuordnung von res und intellectus enthält, sondern die mit dem Wahrheitsbegriff intendierte Ausrichtung des intellectus an der res sachgemäß zum Ausdruck bringt.13 9 So auch Anselm von Canterbury, De veritate, cap. II: „Quando est enuntiatio vera?“ – „Quando est quod enuntiat“ (dt.: „Wann ist eine Aussage wahr?“ – „Wenn das ist, was sie sagt“). 10 Die Menge der sprachlichen Äußerungen, für die die Frage nach dem Wahrsein sinnvoller Weise gestellt (und beantwortet) werden kann, ist dementsprechend einzuschränken auf (konstatierende oder behauptende) sprachliche Äußerungen, also auf Aussagen, und sie ist z. B. nicht auszuweiten auf Fragen, Bitten, Befehle, Ausrufe etc.. Diese können angemessen oder unangemessen, sinnvoll oder sinnlos, berechtigt oder unberechtigt sein, aber nicht wahr oder unwahr. Das schließt jedoch nicht aus, dass man z. B. Ausrufe oder Fragen einsetzen kann, um zu täuschen, also um unwahrhaftig zu sein. 11 So bei Thomas von Aquino, STh I, q 16, a 2 (unter Verweis auf Isaac Israeli und Avicenna): „veritas est adaequatio rei et intellectus“. 12 Sie findet sich ebenfalls (näherungsweise) bereits bei Thomas, der a.a.O. von der Wahrheit als conformitas „intellectus … ad rem“ spricht. Thomas verwendet den Begriff „conformitas“ an Stelle des Begriffs „adaequatio“, weil er der Auffassung ist, der erkennende Intellekt könne nur wahr sein, wenn er der erkannte Sache, und d. h. der „forma naturae suae“ ähnlich sei. Diese Ähnlichkeitsbeziehung zur Form bringt der Begriff „conformitas“ natürlich besser zum Ausdruck als „adaequatio“. Der in diesen Formulierungen bei Thomas vorausgesetzten Erkenntnistheorie und Ontologie folge ich nicht, wohl aber seiner Verhältnisbestimmung „intellectus ad rem“, gegenüber der unbestimmteren Formel „intellectus et rei“. 13 Den Unterschied zwischen beiden Formeln kann man sich unschwer klarmachen an dem Vergleich zwischen zwei Situationen, in denen sich entweder der intellectus an der res ausrichtet (und damit wahrheitsgemäß ist) oder in der die res anhand des intellectus modifiziert bzw. korrigiert (also im Sinne der Aussage
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Die Rede von der „adaequatio intellectus ad rem“ enthält freilich insofern ein Problem, als in ihr vom intellectus und nicht von der propositio die Rede ist. Dies erscheint im Blick auf die intersubjektive Kommunikationssituation als unangemessen und künstlich, findet hier doch kein unmittelbarer Austausch von Gedanken, sondern zeichenvermittelte Kommunikation mit Hilfe von Aussagen statt. Trotzdem enthält die Rede vom intellectus ein wichtiges Wahrheitsmoment, um dessentwillen sie nicht nur akzeptiert, sondern der Rede von der propositio vorgezogen werden kann: Die Rede vom intellectus hält präsent, dass die Wahrheitsfrage sich auch und grundlegend als die Frage nach der je eigenen Erkenntnis der Realität stellt. Zwar gilt auch hierfür, dass diese Erkenntnis in irgendeiner Form sprachlich artikuliert oder doch artikulierbar sein muss, um wahrheitsfähig sein zu können, aber es zeigt sich hier eine gegenüber der Aussagen-Ebene grundlegendere Schicht, nämlich die des Erschlossenseins von Wahrheit für den Intellekt, also für das menschliche Erkenntnisvermögen. Ursprünglicher als die Frage nach der Wahrhaftigkeit, also nach der wahrheitsgemäßen Kommunikation des Erkannten, ist die Frage nach dieser wahrheitsgemäßen Erkenntnis, also nach der Wahrheit selbst.14 Insofern erweist sich die Rede vom ,intellectus‘ innerhalb dieser Definition des Wahrheitsbegriffs als durchaus sachgemäß. Das eigentliche gedankliche Problem dieser Definition liegt daher auch weder im Begriff ,res‘ noch im Begriff ,intellectus‘, noch in deren Zuordnung durch die Kopula ,et‘, sondern in der Charakterisierung dieses Verhältnisses durch den Begriff ,adaequatio‘ bzw. ,Korrespondenz‘ oder ,conformitas‘. So sehr es auch umgangssprachlich einleuchten mag, dass ein bestimmter Gedanke bzw. eine Aussage der gemeinten ,res‘ adäquat sei, ihr korrespondiere oder konform sei, so schwierig ist es doch, zu erfassen und zu bestimmen, was hierbei mit ,Adäquanz‘ bzw. ,Korrespondenz‘ oder ,conformitas‘ genau gemeint ist bzw. gemeint sein kann. Handelt es sich bei ,res‘ und ,intellectus‘ nicht um zwei zurechtgebogen) wird. Zwar kommt es auch in diesem zweiten Fall zu einer adaequatio, aber diese kann sehr wohl den Charakter einer nachträglichen Korrektur oder sogar Fälschung haben, also ziemlich genau das Gegenteil von „Wahrheit“ bezeichnen. 14 Das schließt freilich nicht aus, dass die Frage nach der Wahrhaftigkeit nicht nur im intersubjektiven Kommunikationszusammenhang ihren Ort hat, sondern auch im intrasubjektiven Kommunikationszusammenhang, also in der Selbstbeziehung, etwa in Form der Verleugnung oder Verdrängung des als wahr Erkannten oder in Gestalt der Lebenslüge (s. dazu u. Abschn. 9).
Semiotische Rekonstruktion der Adäquanztheorie
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kategorial verschiedene Sachverhalte, deren kategoriale Verschiedenheit es nicht erlaubt oder es unmöglich macht, sie so miteinander zu vergleichen, dass zwischen ihnen Adäquanz bzw. Korrespondenz oder Ähnlichkeit behauptet (oder bestritten) werden kann? Nun scheint sich eine sehr einfache Lösung dieses Problems dadurch anzubieten, dass es sprachlich und sachlich ohne weiteres möglich ist, den intellectus selbst als res zu bezeichnen. Das ist z. B. dort der Fall, wo – wie im vorgehenden Absatz – darüber nachgedacht wird, was über den Intellekt angemessener Weise gesagt oder nicht gesagt werden kann. Er wird dadurch selbst zur ,res‘ der Aussage bzw. des Intellekts. Indessen zeigt schon die Formulierung, dass die vorgeschlagene Lösung nicht weit trägt; denn das Problem stellt sich dadurch erneut, dass der Intellekt, der als ,res‘ in den Blick genommen wird, natürlich wiederum res für den bzw. für einen Intellekt ist. Das Verhältnis von ,res‘ und ,intellectus‘ kehrt also auf neuer Ebene wieder und setzt sich permanent fort. Es scheint daher unmöglich zu sein, für ,res‘ und ,intellectus‘ eine kategoriale Vergleichsebene zu finden, die es erlauben würde, von einer Adäquanz oder Korrespondenz oder Gleichförmigkeit zwischen beiden zu sprechen.15
3. Semiotische Rekonstruktion der Adäquanztheorie Die Semiotik als allgemeine Zeichentheorie bietet jedoch ( jedenfalls in ihrer phänomenologischen Gestalt) m. E. eine Verständnis- und Darstellungsmöglichkeit für die Adäquanztheorie16 der Wahrheit, in der das
15 Dieses Problem stellt sich in gleicher Weise, wenn man die Begriffe ,Adäquanz‘ und ,Korrespondenz‘ durch den (vorsichtigeren, prozesshafteren) Begriff ,Konvergenz‘ ersetzt. Vgl. zur Konvergenztheorie der Wahrheit F. Miege, Wahrheit als Konvergenz, in: W. Härle (Hg.), Im Kontinuum, Marburg 1999, S. 35 – 59. Auch hier taucht die Frage nach der kategorialen Vergleichs- und Vermittlungsebene auf. 16 Ich vermeide künftig den bisher regelmäßig gebrauchten Doppelausdruck ,Adäquanz- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit‘, weil sich in semiotischer Perspektive der Korrespondenzbegriff als missverständlich und irreführend erweist, während das für den Adäquanzbegriff nicht gilt. Zugleich bin ich der Auffassung, dass das Sachanliegen und der Wahrheitsgehalt der Korrespondenztheorie in der Adäquanztheorie (gerade in ihrer semiotischen Interpretation) vollständig erhalten bleibt und in ihr aufgenommen und zur Geltung gebracht wird. Es handelt sich also nicht um eine sachliche Distanzierung von der
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Problem der kategorialen Differenz zwischen ,res‘ und ,intellectus‘ zwar nicht einfach verschwindet, wohl aber durch Integration bearbeitbar wird und den Charakter einer grundsätzlichen Infragestellung der Adäquanztheorie verliert. Einen ersten Ansatz zu einer solchen semiotischen Interpretation und Weiterentwicklung der Adäquanztheorie der Wahrheit kann man in der sogenannten semantischen Wahrheitstheorie17 sehen. Eine semiotische Rekonstruktion der Wahrheitstheorie geht jedoch insofern über diesen semantischen Ansatz hinaus, als sie nicht nur ,Zeichen‘ und ,Objekt‘ und ihr Verhältnis zueinander in den Blick nimmt, sondern auch die Deutung des Zeichens18 als (bestimmtes) Zeichen unter dem Begriff ,Interpretant‘ einbezieht.19 Dabei ist es zum Verstehen dieses Korrespondenztheorie, wenn dieser Begriff künftig nicht mehr auftaucht, sondern lediglich um eine sprachlich-begriffliche Distanzierung. 17 Siehe dazu A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, Leopoldi 1935 sowie: Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik (1944), in: G. Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien, Frankfurt/M. 1977, S. 140 – 188. Tarskis semantische Wahrheitstheorie ist vor allem stimuliert durch das Bemühen, logisch unauflösbare Paradoxien, wie z. B. das sogenannte Paradox des Lügners zu vermeiden. Er zeigt, dass dies nur möglich ist, wenn man klar zwischen Objektsprache und Metasprache unterscheidet und sich damit von der Prämisse semantisch geschlossener Sprachen, die Tarksi für inkonsistent hält, verabschiedet. 18 Ich spreche hier und im folgenden von Zeichen, um dasjenige Element im Zeichenprozess zu benennen, das die Ausbildung eines Interpretanten stimuliert und dadurch als Zeichen (für etwas) interpretiert und erkennbar wird. In der Umgangssprache nennen wir aber nicht nur dieses Element „Zeichen“, sondern (auch) das interpretierte Zeichen. Dadurch ist es schwierig, den Unterschied zwischen dem Zeichen (z. B. einem Schlag auf den Rücken) und seiner Deutung und Erkenntnis als Zeichen (z. B. als Schlag auf den Rücken) zu benennen. 19 Das Modell und Instrumentarium einer solchen semiotischen Interpretation liegt in geeignetster Form in Gestalt der Semiotik von Ch. S. Peirce vor, die für eine semiotische Reinterpretation der Adäquanztheorie der Wahrheit in mehrfacher Hinsicht günstige Voraussetzungen bietet: einerseits dadurch, dass die drei konstitutiven Theorieelemente ,Objekt‘, ,Zeichen‘ und ,Interpretant‘ als unauflöslich miteinander verbunden gedacht werden, so dass sie nur gemeinsam den Bezeichnungsprozess angemessen beschreiben können, sodann dadurch, dass diese drei Größen nicht als unterscheidbare Klassen von Entitäten gemeint sind, sondern nur durch ihre Funktion im Bezeichnungsprozess voneinander unterschieden und definiert werden, schließlich dadurch, dass der durch ,Objekt‘, ,Zeichen‘ und ,Interpretant‘ konstituierte Bezeichnungsvorgang als ein Prozess verstanden wird, der nicht in einem einmaligen Durchgang zum Abschluss kommt, sondern in dem das, was auf einer früheren Stufe
Semiotische Rekonstruktion der Adäquanztheorie
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semiotischen Zusammenhanges günstig(er), nicht vom (bloßen) Objekt auszugehen und sich über die Einbeziehung des Zeichens zum Interpretanten hin zu bewegen, sondern bei der konkreten Kommunikationssituation einzusetzen, in der Objekt und Zeichen immer schon als (irgendwie) durch Interpretation vermittelte, also sprachlich und damit kulturell gedeutete Phänomene auftauchen. Nur so kann man meiner Erfahrung nach auch dem Wahrheitsanliegen und -element des Konstruktivismus gerecht werden.20 Die konkrete sprachliche Kommunikationssituation, die z. B. ausgedrückt wird durch den Satz: „Ich habe eben einen Schlag auf den Rücken bekommen“ verweist auf eine leibhaft-sinnliche Wahrnehmung, durch die dieser interpretierende Satz ausgelöst und stimuliert (aber nicht determiniert) worden ist, wobei sich der Interpretant „Schlag auf den Rücken“ auch als falsch gebildet und darum als unwahr erweisen könnte21. Und diese empfundene Wahrnehmung, die als solche nicht unwahr sein kann, stimuliert einen Interpretanten und verweist auf ein Objekt, für das das Zeichen steht, z. B. auf etwas, das mich am Rücken (wie ein Schlag) getroffen hat. Diese drei Dimensionen sind in jedem Zeichenprozess enthalten. Er ist irreduzibel dreistellig. Inwiefern kann man sagen, dass auf Grund dieser drei Elemente das Problem der kategorialen Differenz durch Integration bearbeitbar wird und den Charakter einer grundsätzlichen Infragestellung der Adäquanztheorie verliert? Dadurch, dass sich in dieser semiotischen Rekonstruktion zeigt: Objekt (res) und Interpretant (intellectus) stehen einander nicht in kategorialer Differenziertheit gegenüber und wären unter dieser Bedingung auf ihre Adäquanz22 hin zu befragen, sondern beide sind miteinander immer schon vermittelt durch Zeichen, durch die die Möglichkeit der adäquaten Interpretation der res durch den intellectus – auf fallible Weise – gegeben ist. Der gesamte Zeichenprozess ist ein zeichenvermittelter Prozess. Wäre es anders, hätten wir es also mit einer nicht zeichenhaft vermittelten res zu tun, so hätten wir es nur mit der ,Zeichen‘ war, nunmehr zum ,Objekt‘ wird und entsprechend der bisherige ,Interpretant‘ in die Rolle des ,Zeichens‘ weiterrückt. 20 Siehe dazu W. Härle, Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität, in diesem Band S. 54 – 68. 21 Es war vielleicht eine endogen bedingte Nervenreizung, die sich anfühlte wie ein Schlag auf den Rücken. Das ändert nichts daran, dass ich eine Wahrnehmung gemacht habe, die mich zu einer solchen Interpretation stimulierte, auch wenn sich die Interpretation im Nachhinein vielleicht als unwahr erweist. 22 Dasselbe gälte für Korrespondenz oder conformitas oder Konvergenz.
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leeren Vorstellung von einer res zu tun, aber nicht mit dieser selbst. Die bloßen leere Vorstellung von einer res ist aber wahrheitstheoretisch irrelevant. Die res selbst macht sich nur23 in und durch Zeichen zugänglich, zunächst gewissermaßen „im Dunklen“. Sie begegnet, „meldet sich“, „klopft an“ durch ein leibhaftes, sinnlich-vermitteltes Zeichen, das durch seine Begegnung zur Ausbildung eines24 Interpretanten stimuliert. So motiviert und orientiert die res die Interpretantenbildung, aber determiniert sie nicht. Deswegen kann die Interpretantenbildung auch misslingen und die im Zeichen begegnende ,res‘ verfehlen. Irrtum ist möglich. Die scheinbare kategoriale Differenz zwischen ,res‘ und ,intellectus‘ erweist sich damit faktisch als die notwendige Zusammengehörigkeit zweier unterschiedlicher Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen: die zeichenhaft zur Interpretation (bzw. zum Verstehen) stimulierende ,res‘ und den durch die ,res‘ zeichenhaft stimulierten ,intellectus‘ im Prozess des sich Erschließens der Wirklichkeit für einen Interpretanten. Der so verstandene und beschriebene Zeichenprozess hat universalen Charakter, ist jedoch gleichwohl durch zwei Grenzwerte limitiert: – einerseits durch das ,dynamische Objekt‘, das dem gesamten Bezeichnungsprozess zugrunde liegt, das also die Semiose fundiert und stimuliert, aber niemals selbst zum Zeichen oder Interpretanten wird, – andererseits durch den sogenannten ,finalen Interpretanten‘, d. h. diejenige ultimative Deutung des universalen Zeichenprozesses, in dem dessen vollständige Erkenntnis und damit seine umfassende Wahrheit zur Geltung kommt. Dieser finale Interpretant kommt im Zeichenprozess niemals als Objekt oder Zeichen vor, sondern bildet dessen schlechthinigen Abschluss. 23 Diese Bindung der res an die signa ist (im Sinne der phänomenologischen Semiotik) so streng zu denken, dass schon die Unterscheidung zwischen ,bloßer Erscheinung‘ und ,Ding an sich‘ nicht zulässig ist, weil sie erkenntnistheoretisch unerschwinglich ist. 24 Auf die Tatsache, dass ein Zeichen zur Ausbildung nicht nur eines Interpretanten, sondern mehrerer Interpretanten auf unterschiedlichen Ebenen stimulieren kann (z. B. zum Erkennen, dass eine Bärin auf mich zukommt, zum Erschrecken darüber und zum Weglaufen, als rationaler, als unmittelbarer und als dynamischer Interpretant), sei hier nur anmerkungsweise hingewiesen, ohne dass dies hier im einzelnen ausgeführt werden kann. Siehe dazu G. Linde, Zeichen und Gewissheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen 2008.
Die Fundierung des Wahrheitsverständnisses im Gottesgedanken
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Es ist mit Händen zu greifen, dass sowohl in der Vorstellung – wenn auch nicht im Begriff – des ,dynamischen Objekts‘ als auch in der Vorstellung des ,finalen Interpretanten‘ genuine, unverzichtbare Elemente des christlichen Verständnisses der Wahrheit zur Geltung kommen oder jedenfalls expliziert werden können: Gottes Wirken als Ursprung und dauernder Beweger des Prozesses der Schöpfung, Erhaltung und Erschließung der Kreaturen sowie das Eschaton als diejenige Wirklichkeit, in der (nach 1 Kor 13,12) alles bruchstückhafte irdische Erkennen an sein Ziel und Ende gekommen ist und eine so umfassende und ungetrübte Erkenntnis der Wirklichkeit gegeben ist, wie wir jetzt schon von Gott erkannt sind.
4. Die Fundierung des Wahrheitsverständnisses im Gottesgedanken Durch den Rekurs auf die Semiotik vorbereitet, lässt sich nun die Frage nach der mit dem Wahrheitsbegriff gestellten theologischen Interpretations- und Verstehensaufgabe im Rahmen einer von missverständlichen Interpretationen befreiten Adäquanztheorie der Wahrheit formulieren. Dass eine solche Interpretation auf konsistente Weise mçglich ist, zeigt die funktionale und prozessuale Interpretation der Semiose, wie wir sie im vorigen Abschnitt andeutungsweise vorgenommen haben. Dass eine solch konsistente theologische Interpretation notwendig ist, ergibt sich jedoch erst aus fundamentalen Überzeugungen des christlichen Glaubens, die zu seinem Wesen gehören: Mit dem Begriff ,Wahrheit‘ ist ja – wie gezeigt – die gedankliche Aufgabe gestellt, zumindest drei Sachverhalte zu denken und gedanklich miteinander zu verbinden: – die res, auf die sich wahrheitsfähige Aussagen und Gedanken beziehen, – den intellectus, der sich auf die res in interpretierender Absicht und Funktion bezieht, sowie schließlich – das Verhältnis der Angemessenheit des intellectus ad rem, in dem erst die Pointe des Wahrheitsbegriffs zum Ausdruck kommt. Versucht man, den so strukturierten Wahrheitsbegriffs seinerseits umfassend zu begreifen, zeigen sich offenkundige Beziehungen zu folgenden für den christlichen Glauben konstitutiven Überzeugungen: – dass die Wirklichkeit im ganzen ihren Ursprung nicht in sich selbst trägt, sondern im schöpferischen Sein und Wirken Gottes gründet;
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Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit
– dass der Glaube dasjenige daseinsbestimmendes Vertrauen auf diese Ursprungsmacht ist, das auf Wahrheit basiert, also die Wirklichkeit so erkennt, wie sie tatsächlich und letztlich ist, und dass er darum heilsamen Charakter hat; – dass Glaubende diese wahre Erkenntnis nicht ihrer eigenen Bemühung und Anstrengung, sondern einem unverfügbaren Offenbarungsgeschehen verdanken, durch das ihnen die Wahrheit erschlossen ist. Diese drei Einsichten sind untereinander so verbunden, dass das Erschlossensein der Wirklichkeit für das Erkennen des Menschen die Voraussetzung für den Glauben des Menschen an Gott darstellt und seinerseits in dem daseinskonstituierenden und -erhaltenden Wirken Gottes, also in seinem Schöpferwirken gründet und gleichursprünglich mit ihm gegeben ist. Mit anderen Worten: Das zeichenhafte Erschlossensein der Wirklichkeit für das Erkennen des Menschen, das diesen zum Verstehen und Erkennen stimuliert, ist dasjenige „Scharnier“, durch das das schöpferische Wirken Gottes und die Konstitution des Glaubens miteinander unauflösbar verbunden sind.25 Dieses Erschlossensein der Wirklichkeit für das Erkennen ist nach christlichem Verständnis schon mit der Schöpfung gegeben (siehe bes. die Schöpfungspsalmen und Röm 1,19 ff.), geht darin aber nicht auf. Ihre zwar nicht letzte, wohl aber letztgltige Gestalt hat Gottes Offenbarung in Jesus Christus gefunden. Deshalb wird von ihm als dem Wort (logos) Gottes ( Joh 1,1 ff.) nicht nur gesagt, dass er die Wahrheit Gottes in dieser Welt bezeugt ( Joh 18,37), sondern dass er selbst die Wahrheit und so der Weg zum Vater ist ( Joh 14,6, vgl. auch Joh 1,17). Dem ist jedoch – mit Luther – sofort hinzuzufügen: „Von Christus aber könnten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den Heiligen Geist offenbart wäre“26. D. h. aber: Ohne den „Geist der Wahrheit“ ( Joh 15,26; 16,13; 1 Joh 4,6; 5,6), der im Menschen – „ubi et quando visum est Deo“ (CA 527) – Gewissheit und Glauben schafft, wäre die Erkenntnis der Wahrheit Gottes gar nicht möglich. Deswegen hat nicht nur die Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch das christliche Verständnis der Wahrheit trinitarische Struktur. Dabei ist 25 Darauf liegt der Akzent in den Aussagen über die Konstitution des Glaubens, wie sie in Luthers Kleinem Katechismus (BSLK 551,46 – 552,8) sowie in CA 5 (BSLK 58, 2 – 8 und 14 – 17) – hier allerdings unter der nachträglich hinzugefügten irreführenden Überschrift „De ministerio ecclesiastico“ bzw. „Vom Predigtamt“ – enthalten sind. 26 BSLK 660,44 ff. 27 BSLK 58,7 f.
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Gott zu denken als der Ursprung der Wirklichkeit, der den gesamten Erkenntnisprozess insofern bestimmt, als er ihn ermöglicht, stimuliert und orientiert. Andererseits weiß sich die Wahrheitserkenntnis des Glaubens als begrenzt durch die vollkommene Erkenntnis der Wirklichkeit, die unter den Bedingungen der Endlichkeit noch nicht möglich ist. Sie versteht sich darum selbst als cognitio viatorum. Wenn mit dem bisher Gesagten das christliche Verständnis der Wahrheit einigermaßen angemessen wiedergegeben ist, dann ist freilich noch ein weiterer gedanklicher Schritt erforderlich, der das Wahrheitsverständnis in grundlegender Weise mit dem Gottesverständnis verbindet: In der allgemeinen wahrheitstheoretischen Diskussion, die – jedenfalls in der Regel – darauf verzichtet, die Wahrheitsfrage im Horizont der Gottesfrage zu thematisieren und zu reflektieren, bleiben zwei Sachverhalte unaufgeklärt, die entweder als bruta facta oder als unerklärbare Mysterien hingenommen werden müssen: – einerseits die Tatsache, dass zwischen den Gesetzen und Regeln, denen die res28 folgt, und den Gesetzen und Regeln, denen der intellectus gehorcht, offenbar solche Parallelitäten oder Gemeinsamkeiten bestehen müssen, dass die adaequatio intellectus ad rem überhaupt als Möglichkeit gedacht werden kann, – andererseits die Tatsache, dass beidem, sowohl der res (in ihrer Regelhaftigkeit) als auch dem intellectus (in seiner entsprechenden Regelhaftigkeit) eine Stabilität und Verlässlichkeit eignet, ohne die wiederum so etwas wie Verstehen, Erkenntnis oder Wahrheit gar nicht gedacht werden könnten. Will man diese alles andere als selbstverständlichen, aber für das Wahrheitsverständnis konstitutiven Sachverhalte nicht einfach als unverstanden und unverstehbar hinnehmen, so ermöglicht, erlaubt und erfordert das Gottesverständnis eine vertiefende Reflexion des Wahrheitsverständnisses, die eine Verstehensmöglichkeit für diese Phänomene erschließt. Gott als dem schöpferischen und sich durch die Zeichen der Schöpfung offenbarenden Ursprung der Wirklichkeit kann und muss aus der Sicht des christlichen Glauben eine Kontinuität, Verlässlichkeit und Treue zugesprochen werden, aus der sowohl der kontinuierlich-einheitliche Prozesscharakter der Wirklichkeit als auch 28 Ich gebrauche res hier und im folgenden nicht als Bezeichnung für einen einzelnen Erkenntnisgegenstand, sondern als Sammelbegriff für die zu erkennende Wirklichkeit.
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deren kontinuierliches Erschlossensein für das menschliche Verstehen und Erkennen verstehbar werden. Ich zögere, für diese Kontinuität, Verlässlichkeit und Treue Gottes ebenfalls den Begriff „Wahrheit“ in Anspruch zu nehmen,29 weil ich davon eine semantische Verunklärung befürchte. Ich zögere auch, hierfür den Begriff „Wahrhaftigkeit“ in Anspruch zu nehmen, der zwar in kategorialer Hinsicht durchaus vertretbar wäre, aber m. E. nur dann angewandt werden sollte, wenn er sich seinerseits auf die vorausgesetzte Wahrheitserkenntnis eines wahrheitsliebenden Subjekts oder auf eine von ihm aus ergangene Aussage oder Verheißung bezieht und diese einlöst. Beides erscheint mir als eine personalistische Verengung im Blick auf das Reden von Gott, auf die ich verzichten möchte, auch wenn dies die Konsequenz hat, auf die Identifikation Gottes mit der Wahrheit zu verzichten und die Rede von der „Wahrhaftigkeit Gottes“ nur in einem metaphorischen Sinn verwenden zu können. Das schließt nicht aus, sondern gerade ein, dass emphatisch von Gott als dem Grund, Ursprung und Garanten aller Wahrheit gesprochen werden kann und muss, wobei in dieser Rede die trinitarische Struktur nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn es nicht zu Unterbestimmungen kommen soll. In der trinitarischen Struktur seines Wirkens ist Gott zugleich der Ursprung der Wahrheitsfähigkeit, der Wahrheitserkenntnis und der Wahrheitsgewissheit des Menschen. Diese grundlegende und umfassende, in Gott gegründete Sicht der Wirklichkeit, die ihrerseits mit dem Anspruch des Wahrseins auftritt und begegnet, bezeichne ich künftig als „Wirklichkeitswahrheit“. Sie konkurriert mit anderen Gesamtdeutungen der Wirklichkeit, die ebenfalls als Wirklichkeitswahrheit verstanden sein wollen, und ist grundsätzlich zu unterscheiden von der Fülle dessen, was ich künftig „Tatsachenwahrheit(en)“ nenne; denn die Wirklichkeitswahrheit ist zwar die Möglichkeitsbedingung aller Tatsachenwahrheiten, aber gleichwohl von ihnen kategorial zu unterscheiden. Erstere bezieht sich auf die Erkenntnis von Ursprung, Wesen und Bestimmung30 der Wirklichkeit im ganzen (deshalb und insofern ist sie auch ein Singularetantum), letztere bezie29 E. Herms tut dies (Gewissheit in Martin Luthers >De servo arbitrio<, in: LuJ 67/2000, S. 27, Anm. 6) unter Angabe zahlreicher Stellen, an denen Luther die Formel „Deus est veritas“ gebraucht. 30 Diese Formel hat E. Herms in zahlreichen seiner Schriften eingeführt und ihr terminologischen Sinn gegeben (vgl. etwa das Register seines Aufsatzbandes: Kirche für die Welt, Tübingen 1995, S. 499).
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hen sich auf die Erkenntnis der Einzelsachverhalte und Sachverhaltsklassen in ihrer Fülle und Vielfalt (deshalb verwende ich hierfür auch stets des Plural). Diese Unterscheidung wird sich auch noch im Blick auf die Gewissheitsthematik (s. u. Abschn. 7) als relevant erweisen. Zuvor muss jedoch noch ein anderer Aspekt des christlichen Wahrheitsverständnisses angesprochen werden; denn die bisherigen Überlegungen blieben lückenhaft, wenn die Fragen nach der Möglichkeit und Wirklichkeit der Unwahrheit – in Gestalt des Irrtums, des Nichtwissens und der Lüge – weder einbezogen noch im Horizont der Wirklichkeit Gottes reflektiert würden.
5. Grenzen menschlicher Wahrheitserkenntnis Je stärker und umfassender herausgestellt wird, dass und wie alle Wahrheit und Wahrheitserkenntnis im wahrheitsermöglichenden, wirklichkeitserschließenden und gewissheitsschaffenden Wirken Gottes begründet ist, umso dringlicher stellt sich die Frage, was dies für das Verständnis von Irrtum und Nichtwissen, also von verfehlter oder fehlender Wahrheitserkenntnis besagt. Dabei erscheint es zunächst als wichtig, die Phänomene, die mit den Stichworten ,Irrtum‘ und ,Nichtwissen‘ bezeichnet werden, sowohl voneinander als auch scharf von dem zu unterscheiden, was wir als ,Lüge‘ bezeichnen.31 Zwar sind alle diese Phänomene darin miteinander verbunden, dass in ihnen die Wahrheit nicht zur Geltung kommt, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen: Beim Irrtum handelt es sich um ein Verkennen der Wahrheit, beim Nichtwissen um ein Fehlen von Wahrheitserkenntnis, bei der Lüge um eine Verleugnung der Wahrheit,32 also um die Unwilligkeit, der Wahrheit die Ehre zu geben.33
31 Zwar ist laut Sprichwort Irren menschlich, aber Lügen ist nicht menschlich, sondern in der Regel erbärmlich, gelegentlich sogar teuflisch. 32 Es handelt sich bei der Lüge um ein der Wahrheit Nicht-gehorchen oder Sienicht-tun, wie das im Neuen Testament in Joh 3,21; Röm 2,8; Gal 5,7; 1 Petr 1,22; 1 Joh 1,6 ausgedrückt wird. 33 Auf diesen letztgenannten Aspekt, in dem die Frage nach der Wahrheit zur Frage nach der Wahrhaftigkeit wird, werde ich in Abschn. 9 noch einmal zu sprechen kommen; deswegen will ich mich hier mit einigen wenigen Andeutungen begnügen.
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Von ,Lüge‘ kann nur dort gesprochen werden, wo ein Mensch die Wahrheit erkennt34 bzw. erkannt zu haben meint, sie aber in der Kommunikation mit anderen (oder auch in der Beziehung zu sich selbst) nicht anerkennt und zur Geltung kommen lässt, sondern bewusst verdrängt oder durch Unwahrheit ersetzt. Dabei ist die Lüge umso gefährlicher und wirksamer, je weniger plump und offenkundig sie ist, und je mehr sie sich den Schein der Wahrheit zu geben vermag; denn umso besser kann die mit der Lüge intendierte (Selbst-)Täuschung gelingen. Die Lüge ist ein Parasit der Wahrheit. Wegen des fundamentalen Charakters, den die Wahrheit und darum auch die Wahrhaftigkeit für jede Kommunikation und für jede Beziehung hat, ist die Lüge – als Verfälschung und Verleugnung der Wahrheit – eine elementare Bedrohung, wenn nicht sogar Zerstörung aller Kommunikation und eine Infragestellung der personalen Identität des Menschen.35 Deswegen nennt die Bibel zurecht den Teufel „den Vater der Lüge“ ( Joh 8,44) und setzt die Lüge als ein Wesensmerkmal des Bösen der Wahrheit als einem Wesensmerkmal Gottes entgegen. Lüge kann zur teuflischen Infragestellung menschlicher Identität und zur diabolischen Zerstörung zwischenmenschlicher Kommunikation werden. Und trotzdem muss aus christlicher Sicht auch gesagt werden: Die Fhigkeit zur Lüge ist Teil menschlicher Personalität, weil sie auf der dem Menschen verliehenen Freiheit basiert, die erkannte Wahrheit anzuerkennen und zur Geltung zu bringen oder sie zu verleugnen und zu entstellen. Die Mçglichkeit der Lüge ist insofern – wie die Sünde überhaupt – der Preis personaler Freiheit.36 Dieser Satz wird jedoch missverständlich, wenn ihm nicht sofort hinzugefügt wird: Die Verwirklichung dieser Möglichkeit ist der Verlust personaler Freiheit, so wie alles Sich-einlassen mit der Macht der Sünde für den Menschen Versklavung bedeutet ( Joh 8,34). Demgegenüber gilt: Die Erkenntnis der Wahrheit und das Bleiben in der Wahrheit hat befreienden Charakter. Sie macht frei ( Joh 8,31 f.). Deshalb muss man sagen: Die dem Menschen als Person von Gott gegebene Freiheit schließt zwar als solche die 34 Insofern gehört die Lüge nicht unter die Überschrift: „Grenzen menschlicher Wahrheitserkenntnis“. Es wird sich jedoch gleich zeigen, dass es Zusammenhänge zwischen Lüge und Irrtum gibt, um derentwillen die Lüge in diesem Abschnitt schon kurz mitzuthematisieren ist. 35 Vgl. dazu noch einmal den wichtigen Hinweis von Reiner Preul aus Anm. 7. 36 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, S 309: „Das moralische Übel ist die tragische Folge kreatürlicher Freiheit“.
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Zulassung von deren selbstzerstörerischer Negation durch die Lüge ein, aber durch die Realisierung dieser Möglichkeit wird die von Gott dem Menschen gegebene Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit und Gemeinschaft mit Gott verfehlt. Deswegen hat die Realisierung dieser Möglichkeit (selbst-)zerstörerischen Charakter. Wenden wir uns von da aus den Phänomenen des Nichtwissens und des Irrtums zu, so ist deren fundamentale Andersheit gegenüber der Lüge darin begründet, dass dem Menschen in der Situation der Lüge die Erkenntnis der Wahrheit erschlossen ist (oder zu sein scheint37), in der Situation des Nichtwissens und Irrtums hingegen verschlossen ist. Trotz dieses grundlegenden und außerordentlich bedeutsamen Unterschieds gibt es aber doch auch Übergänge zwischen Lüge, Nichtwissen und Irrtum, die insbesondere dort auftauchen, wo ein Mensch die Wahrheit nicht erkennen will, oder wo er nach und nach seinen eigenen Lügen glaubt, also selbst ihr Opfer wird. Damit gerät er in eine Situation der Verblendung hinein, kann schließlich nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden oder hält die Lüge schlussendlich für Wahrheit. Aber auch noch in solchen Übergangsphänomenen wird der grundlegende Unterschied zwischen Lüge, Nichtwissen und Irrtum erkennbar und das spezifische Charakteristikum des Irrtums: die nicht (mehr) gegebene Wahrheitserkenntnis. Nun zeigte sich in Abschn. 4 und 5, dass gemäß dem christlichen Wahrheitsverständnis die vollkommene Erkenntnis der Wahrheit (der ,finale Interpretant‘) für den Menschen keine zeitliche, sondern eine eschatische Wirklichkeit ist. Diese Einsicht ist für die Reflexion der Möglichkeit und Wirklichkeit des Irrtums in zweifacher Hinsicht von großer Wichtigkeit: einerseits bezogen auf die Wirklichkeit im ganzen (auch und gerade aus christlicher Sicht), also im Blick auf die Möglichkeit und Wirklichkeit des Irrtums oder des Nicht-Wissens im Blick auf die Wirklichkeitswahrheit; andererseits im Blick auf die Gesamtheit der Tatsachenwahrheiten, sofern diese als ein einheitlicher, kohärenter Gesamtzusammenhang zu verstehen sind, in der es nichts schlechterdings Isoliertes gibt, sondern in der alles mit allem zusammenhängt. Letzteres heißt aber: Die vollkommene Erkenntnis alles einzelnen (und 37 Dieser Zusatz ist erforderlich, weil ein Mensch auch dadurch lügen kann, dass er etwas zu erkennen meint, diese vermeintliche Erkenntnis für die Wahrheit hält, die er jedoch in seiner Kommunikation verleugnet. Bei dieser Kombination von Irrtum und Lüge kann sogar der Fall eintreten, dass ein Mensch – irrtümlich – die Wahrheit sagt und dabei doch – absichtlich – lügt.
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damit auch die Wahrheit des Erkannten) hängt ab von der umfassenden Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten im ganzen. Anders gesagt: Jede Einschränkung und jeder Vorbehalt im Blick auf die Erkenntnis des Ganzen hat einschränkende Rückwirkungen auf die Erkenntnis jedes einzelnen. Damit stellt sich das Problem des Irrtums hinsichtlich der Tatsachenwahrheiten in zwei Grundformen, zwischen denen es Übergänge gibt, die sich aber gleichwohl unterscheiden lassen: die unvollständige, fragmentarische Erkenntnis von Wahrheit auf der einen Seite (Nichtwissen) und die Verkennung oder fehlerhafte Deutung von Wahrheit (Irrtum) auf der anderen Seite. Der erste Fall bezieht sich lebensgeschichtlich und menschheitsgeschichtlich auf das Faktum, dass Tatsachen uns nur im Rahmen eines Entwicklungs- und Reifungsprozesses erschlossen werden können, und dass dabei jede in diesem Leben mögliche Stufe den Charakter des Fragmentarischen, Unvollkommenen hat. Die Gesamtheit der Tatsachenwahrheiten ist uns immer nur partiell erschlossen und zugänglich, und sie ist überdies stets bedroht von der Möglichkeit des Vergessens und des Verkennens (z. B. durch unzutreffende Verallgemeinerung). Hiervon jedoch zu unterscheiden ist die Verkennung der Wirklichkeitswahrheit und damit der Gegebenheitsweise und der Konstitutionsbedingungen von Wirklichkeit und Wahrheit überhaupt. Diese Verkennung ist dort gegeben, wo die vom Menschen nicht zu produzierenden, sondern von ihm immer nur in Anspruch zu nehmenden und immer schon in Anspruch genommenen, ihm also passiv erschlossenen und gegebenen Bedingungen aller Wahrheitserkenntnis ihrerseits verkannt werden. Dieser Fundamentalirrtum im Blick auf die Wirklichkeitswahrheit ist seinerseits ebenfalls eine Art Vorzeichen vor der Klammer38 aller dem Menschen erschlossenen oder nicht erschlossenen Tatsachenwahrheiten. Dieser Irrtum hat den Charakter der grundlegenden Verblendung, die laut Röm 1,18 – 23 Ausdruck des gottlosen Wesens und der Ungerechtigkeit der Menschen, also der Sünde ist, „denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt, so dass sie keine Entschuldigung haben“ (Röm 1,19 f.). Und Paulus beschreibt dieses 38 Diese Metapher habe ich bereits am Beginn dieses Textes (s. o. S. 25) eingeführt und erläutert.
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unentschuldbare Verkennen, das auf einem Nicht-Wahrnehmen der Werke Gottes beruht, als ein Niederhalten der Wahrheit durch Ungerechtigkeit (Röm 1,18). Während die immer nur begrenzte, fragmentarische Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten Teil der geschöpflichen Endlichkeit und Begrenztheit ist,39 ist das Verkennen der Wirklichkeitswahrheit – und damit der Konstitutionsbedingungen von Wahrheit überhaupt – Ausdruck der Sünde, also der Entfremdung des Menschen von Gott. Von der schuldhaften Lüge unterscheidet sich diese sündhafte Verblendung dadurch, dass ein Mensch aufgrund des Menschheitszusammenhangs in sie hineingerät, auch wenn er sie nicht gewollt und gewählt hat, sondern in sie als die Signatur der entfremdeten Welt hineingeboren wird (Gen 8,21; Hi 14,4; Ps 51,7), die er auch an sich selbst vorfindet. Diese Verblendung kann nicht auf das aktiv wählende Wollen Gottes zurückgeführt werden, aber es muss in Zusammenhang gebracht werden mit dem zulassenden Wollen Gottes, das freilich gegenüber seinem Heilsratschluss nur den Charakter eines „opus alienum“ ( Jes 28,21) hat, das im Dienste seines „opus proprium“ steht – im Sinne von Röm 11,32: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“. Die damit erneut sichtbar werdende eschatisch-eschatologische Perspektive des christlichen Wahrheitsverständnisses kann in ihrer Bedeutung schwerlich überschätzt werden.40 In dieser Perspektive sind auch die Verheißungen von Joh 16,13, dass der Geist uns in alle Wahrheit leiten werde, und von Mt 16,18, dass die Pforten der Hölle die christliche Gemeinde nicht überwältigen sollen, zu sehen. Sie basieren auf der Gewissheit der Treue Gottes, wissen aber zugleich um die Angefochtenheit aller irdischen Wahrheitserkenntnis und -gewissheit und bringen das genuin christliche Verständnis der Wahrheit gerade dadurch zum Ausdruck, dass sie bezeugen, dass nicht wir die Wahrheit haben, sondern dass die Wahrheit uns hat, dass es darum darauf ankommt, dass wir in der Wahrheit bleiben, genauer gesagt: dass wir von Gott in der Wahrheit erhalten werden.41 39 S. o. Anm. 31. 40 Sie wird uns im Zusammenhang mit der Verifikationsthematik in Abschn. 9 noch ein drittes Mal begegnen. 41 Poetisch und kirchenmusikalisch ist diese Einsicht eindrucksvoll ausgestaltet in der Schlussstrophe des Liedes „Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren“ von Ludwig Helmbold (EG 320,8). „Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesus Christus. Amen.“
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Es hat sich gezeigt, dass aus christlicher Sicht alle Wahrheitserkenntnis auf einem Geschehen der Erschließung der Wirklichkeit (für erkenntnisfähige Subjekte) beruht, das den Charakter von Offenbarung und Erleuchtung hat.42 Diese Aussage hat einerseits erkenntnisbegrndenden Charakter, sie hat aber andererseits auch erkenntnisbegrenzenden Charakter; denn sie schließt die Möglichkeit ein, dass es Aspekte oder Elemente der Wirklichkeit geben könnte, die Gott dem Menschen (noch) nicht geoffenbart, sondern (in seiner Weisheit und Güte) vorenthalten hat. Die biblische Überlieferung rechnet damit nicht nur in der Form des allgemeinen Hinweises auf die Bruchstückhaftigkeit unserer Erkenntnis (1 Kor 13,9 – 12; 2 Kor 5,7), sondern auch ganz konkret etwa im Blick auf den Tag und die Stunde, da Himmel und Erde vergehen werden, von dem niemand weiß, „auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ (Mt 24,36), und von dem deshalb auch gesagt werden kann: „Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat“ (Apg 1,7). Deshalb muss nicht nur von Offenbarung und Erschlossenheit, sondern auch von Verborgenheit, ja vom „verborgenen Gott“ („Deus absconditus“) gesprochen werden. Aus reformatorischer Sicht, wie Luther sie vor allem in der Heidelberger Disputation von 1518 und in De servo arbitrio expliziert hat, ist sogar von einer zweifachen Verborgenheit Gottes zu sprechen, von der freilich nur die zweite eine Grenze menschlicher Wahrheitserkenntnis markiert. In der Heidelberger Disputation unterscheidet Luther den Deus manifestus ex operibus vom Deus absconditus in passionibus43 und vertritt die These, dass nicht der zu Recht Theologe genannt werde, der das unsichtbare Wesen Gottes aus den Schöpfungswerken (manifestus ex operibus) wahrnimmt, sondern derjenige, der das erfasst, was von Gott sichtbar und im Rückblick44 auf Leiden und Kreuz erkennbar wird
42 Damit bejahe ich ausdrücklich das Wahrheitsmoment der Augustinischen Illuminationstheorie („Erkennen heißt erleuchtet werden“), ohne mir damit sämtliche Implikationen dieser Lehre zu eigen zu machen. 43 LDStA 1,52,17. 44 Luther spricht LDStA 1,52,10 von den „posteriora Dei“. Dies ist eine Anspielung auf Ex 33,18 – 23, wo Mose, der die Herrlichkeit Gottes sehen will, gesagt wird: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. … Wenn meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorüberge-
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(absconditus in passionibus). Dabei betont Luther ausdrücklich, dass die Weisheit, die aus der Erkenntnis der Werke Gottes resultiert, nicht an sich schlecht ist, „sondern der Mensch missbraucht ohne die Theologie des Kreuzes das Beste aufs Schlimmste“45. Dabei setzt Luther voraus, dass es eine „natürliche“ Gottesvorstellung (vielleicht besser: Gotteserwartung) gebe, der zufolge Gott sein Wesen durch die Macht, Herrlichkeit und Größe seiner (Schöpfungs-)Werke am angemessensten offenbare, woraus der Irrglaube des Menschen resultiere, diesem Gott auch durch eigene beeindruckende Werke genügen und imponieren zu können. Demgegenüber ist es der Kern der reformatorischen theologia crucis, dass Gott sein Wesen, nämlich Gnade, Erbarmen und Liebe gegenüber seinem verlorenen Geschöpf, in der Schwachheit, Niedrigkeit und Schande des Kreuzes am angemessensten zeige. Diese Rede von der absconditas Dei bzw. vom Deus absconditus schränkt also das Offenbarsein Gottes und seine Erkenntnis nicht ein, sondern dient im Gegenteil dazu, die Wahrnehmung des Menschen dorthin zu lenken, wo Gott sich in der irdischen Wirklichkeit seinem Wesen nach zu erkennen gibt: im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Von da aus, aber erst und nur von da aus erschießt sich dann die Erkenntnis des Wirkens Gottes in der Schöpfung auf verlässliche Weise. Eine andere Bedeutung hat die Rede vom Deus absconditus hingegen in De servo arbitrio, wo Luther unterscheidet zwischen dem Deus praedicatus und dem Deus absconditus und dieser Unterscheidung folgende Deutung gibt: „Vieles tut Gott, das er uns durch sein Wort nicht anzeigt. Vieles auch will er, von dem er in seinem Wort nicht anzeigt, dass er es will“.46 Mit diesem Unterschied sollen wir so umgehen, dass wir uns an den Deus praedicatus halten, den Deus absconditus verehren, aber nicht zu erforschen versuchen.47 Denn: „So weit … Gott sich selbst verbirgt und von uns nicht erkannt werden will, geht er uns nichts an“.48 Untersucht man genauer und im Zusammenhang, was nach Luther der Inhalt dieser occulta voluntas Dei ist, so
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gangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen“. LDStA 1,57,20 f. LDStA 1,406,5 f :„Multa facit Deus, quae verbo suo non ostendit nobis, Multa quoque vult, quae verbo suo non ostendit sese velle“. LDStA 1,404,7 f.: „Quae voluntas non requirenda, sed cum reverentia adoranda est …“. LDStA 1,404,15 f.: „Quatenus … Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos“.
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zeigt sich, dass es dabei um die Frage geht, wie, wann und auf welche Weise Gott sich Menschen zum Heil so offenbart, dass sie zum Glauben finden (können) – also um die Frage nach dem „ubi et quando visum est Deo“ (CA 5). Auch hier geht es also – in Anlehnung an die neutestamentlichen Aussagen – um „Zeit oder Stunde“, aber nun nicht bezogen auf das Weltende, sondern auf den lebensgeschichtlichen Ort, an dem sich für einen Menschen die Wahrheit des Evangeliums in rettender Weise erschließt. Entscheidend ist für Luther jedoch, dass in Jesus Christus alles von Gott erschlossen ist, was zu unserem Heil notwendig ist, so dass die Rede vom Deus absconditus in keiner Weise in Frage stellt, dass Gott in Jesus Christus dem Menschen sein Herz und Wesen zur Erkenntnis erschlossen hat. Aber diese Selbsterschließung des Herzens und Wesens Gottes schließt nicht die Offenbarung und Lösung aller Welträtsel ein, sondern diese müssen – und können – in der Gewissheit der göttlichen Heilszusage Gott überlassen und so ertragen werden.
6. Wahrheitsgewissheit als Modus der Wahrheitserkenntnis49 Wahrheit ist für Menschen nur zugänglich im Modus von Gewissheit. 50 D. h., nur in dem Maße, in dem wir der Wahrheit inne sind, von ihr überzeugt sind, ist Wahrheit für uns zugänglich. Dabei kann diese Gewissheit sehr unterschiedliche Grade haben und in unterschiedlicher Intensität vom Zweifel begleitet, angefochten und in Frage gestellt sein. Deswegen geht es bei der Wahrheitsgewissheit nicht nur um ein – grundlegendes – ,ob‘ oder ,ob nicht‘, sondern auch um ein graduelles ,inwieweit‘ bzw. ,inwiefern‘.
49 Vgl. hierzu W. Härle, Befreiende Gewissheit, in diesem Band s.u. S. 69 – 95. 50 Zu der für die reformatorische Theologie grundlegenden Bedeutung der Gewissheitsthematik vgl. den in Anm. 29 genannten Aufsatz von E. Herms: Gewissheit in Martin Luthers >De servo arbitrio< sowie die dort auf S. 23 in Anm. 2 genannte Literatur. Dabei ist zur Vermeidung von Missverständnissen darauf hinzuweisen, dass Luther in aller Regel zwischen – zu suchender, heilsnotwendiger – Gewissheit (,certitudo‘) und – trügerischer, heilsbedrohender – Sicherheit (,securitas‘) grundsätzlich unterscheidet. Während das Streben nach Sicherheit den Versuch darstellt, über das Heil zu verfügen, ist Gewissheit das wehrlose, aber auch alternativlose Innesein dessen, dass über den Menschen zu seinem Heil verfügt wird.
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Hiervon zu unterscheiden sind diejenigen Vorgänge der Aneignung von als wahr behaupteten Aussagen, die sich nicht auf eigene Gewissheit, sondern nur auf die Autorität der eine Aussage übermittelnden Instanz beziehen. Hier tritt das Vertrauen zu der vorlegenden Instanz gewissermaßen – vorläufig oder dauerhaft – an die Stelle der eigenen Gewissheit. Sowohl in der lebensgeschichtlichen Entwicklung als auch im Blick auf eine Fülle von Tatsachenwahrheiten ist dieser indirekte, vermittelte, nicht auf Gewissheit gestützte Zugang zur Wahrheit durchaus legitim, weil sich auf diese Weise ein Zugang zur Wahrheit und eine Annäherung an Wahrheitserkenntnis vollzieht, die ansonsten verschlossen blieben. Und doch ist dies selbst keine Wahrheitserkenntnis, sondern nur deren Substitut oder Vorbereitung. Dort, wo es um die Verfassung und Bestimmung der eigenen Existenz, um das eigene Sein in der Welt vor Gott, um das eigene Verständnis der Wahrheit, also um die Wirklichkeitswahrheit geht, hängt jedoch alles davon ab, dass Menschen sich (nur) auf diejenigen Wahrnehmungen einlassen, die ihnen so zuteil werden, dass sie in ihnen Gewissheit wecken. Auch dies ergibt sich letztlich aus nichts anderem als aus der personalen Bestimmung, unter welcher der Mensch als Geschöpf Gottes existiert. Menschen sind dazu bestimmt, in freier Entsprechung zu der ihnen als Wahrheitsgewissheit zuteil werdenden Erkenntnis zu leben und zu handeln. Dabei stellt es eine strikt zu respektierende Grenze dar, dass Menschen zwar dazu aufgerufen und beauftragt sind, einander die lebenstragende Gewissheit des christlichen Glaubens zu bezeugen (und darin eingeschlossen auch das christliche Wahrheitsverständnis), dass sie aber jeden Versuch zu unterlassen haben, andere Menschen zu einem Reden oder Handeln gegen ihre eigene Gewissheit und Überzeugung zu veranlassen.51 Wer das dennoch täte, würde diese damit – wenn auch vielleicht in bester Absicht – genau in den Identitätskonflikt treiben, der oben als die möglicherweise zerstörerische Signatur der Lüge beschrieben wurde. Insofern muss aus der Sicht des christlichen Wahrheitsverständnisses die Wahrheitsgewissheit des einzelnen Menschen als unhintergehbar und unverletzlich bezeichnet werden. 51 Dies hat Luther besonders eindrücklich und einprägsam am Beginn der 1. Invocavit-Predigt von 1522 eingeschärft (s. Bo 7, 363, 15 – 21 [= WA 10/3, 1,15 – 2,18]).
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Gleichwohl besagt diese Unhintergehbarkeit und Unverletzlichkeit persönlicher Wahrheitsgewissheit nicht deren Irrtumslosigkeit. Schon im Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte können wir dessen innewerden, dass wir uns möglicherweise von einer Wahrheitsgewissheit bestimmen ließen, die wir aus jetziger Sicht als irrig, verkehrt oder zumindest halbwahr bezeichnen müssen. Zwar gibt es Gewissheiten, in denen wir uns nicht täuschen und darum auch nicht irren können, nämlich die unmittelbaren Wahrnehmungsgewissheiten, in denen uns z. B. Gefühle, Sinneseindrücke oder Erinnerungen aktuell gegeben sind. Aber jede sprachliche bzw. begriffliche Deutung solcher Wahrnehmungen unterliegt dem Risiko des Irrtums und der Täuschung. Jedoch gerade diese Unterscheidung weist erneut auf die Bedeutung des christlichen Wahrheitsverständnisses hin, zeigt sie doch noch einmal die grundlegende Bedeutung von (für uns) passiver Erschlossenheit, von Zuteilwerden und Widerfahrnis im Zusammenhang aller Wahrheitserkenntnis. Je wehrloser ein Mensch der ihm begegnenden Wirklichkeit ausgesetzt ist und durch sie affiziert wird, umso unbezweifelbarer ist die ihm zuteil werdende Wahrheitsgewissheit. Jedoch so, wie es eine vorbereitende und partiell substituierende Bedeutung von externer Kommunikation im Zusammenhang von Wahrheitserkenntnis gibt, so gibt es auch eine überprüfende und zur Selbstkorrektur anleitende Funktion der Kommunikation über Wahrheitsgewissheit und Wahrheitserkenntnis. Zwar muss ein Mensch, der in seinem Gewissen von der Wahrheit getroffen ist, an dieser festhalten, auch wenn sie in seiner Umgebung keineswegs geteilt, sondern für Täuschung oder Verirrung erklärt wird. Aber das schließt nicht aus, dass wir uns mit unseren Wahrheitsgewissheiten der kommunikativen Auseinandersetzung stellen und zu stellen haben. Im Blick auf die grundlegende, unhintergehbare Gewissheit bezüglich der Wirklichkeitswahrheit selbst ergibt sich dies schon – aus christlicher Sicht – aus dem Auftrag, die uns zuteil gewordene Wahrheitsgewissheit als heilsame Wahrheit zu bezeugen. Im Blick auf die Fülle der Tatsachenwahrheiten ergibt sie sich aus der Einsicht in die Begrenztheit und Fragmentarität all unserer Erkenntnismöglichkeiten. Aber auch von dieser kommunikativen Überprüfung und Anleitung zur Selbstkritik, wie sie etwa im Rahmen der christlichen Gemeinde und Kirche ihren legitimen Platz hat, muss gelten: Sie ist und darf nicht Ersatz für persönliche Wahrheitsgewissheit sein, sondern sie kann nur Anleitung zu ihrer Überprüfung und Vergewisserung, also zur Öffnung für die Bestätigung alter oder das Gewinnen neuer Gewissheit sein.
Wahrheitsgewissheit als Erinnerungs-, Erwartungs- und Gegenwartsgewissheit
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Auch hier ist die Grenze zum Übergriff in die Gewissen und Gewissheiten anderer Menschen strikt zu respektieren.
7. Wahrheitsgewissheit als Erinnerungs-, Erwartungs- und Gegenwartsgewissheit Was bedeutet es aber für die grundsätzliche und die alltagspraktische Orientierung eines Menschen, wenn ihm eine bestimmte Wahrheitsgewissheit zuteil geworden ist? Im Blick auf die Tatsachenwahrheiten begründet Wahrheitsgewissheit (bewusst oder unbewusst) die Erwartung, dass sich das als wahr Erkannte auch in Zukunft als wahr erweisen werde. Diese Erwartungsgewissheit ist insofern und insoweit stabil und verlässlich, als sie sich auf regelhafte Zusammenhänge und auf Klassen von erkennbaren Sachverhalten richtet. Sie ist freilich auch in dem Maße fragil und verletzlich, als sowohl das Allgemeine als auch das Besondere und Einzelne, das Regelhafte und das Spontane unter geschichtlichen Bedingungen immer auch Veränderungen unterliegt – und seien sie auch nur geringfügiger Art. Anders ist es auch hier im Blick auf die Gewissheit bezüglich der Wirklichkeitswahrheit, die sich auf Ursprung, Wesen und Bestimmung der Wirklichkeit im Ganzen bezieht und ihrerseits das Wahrheitsverständnis mit einschließt. In ihr taucht zwar auch Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit als Strukturmerkmal der erkannten Wirklichkeit auf, aber diese prozesshaft-geschichtliche Struktur selbst hat invarianten Charakter, unterliegt also nicht dem Wechsel und Wandel, sondern gilt so unveränderlich wie die sie tragende Treue Gottes selbst. Das heißt natürlich nicht, dass unsere Beschreibungen dieser Struktur ungeschichtlich, invariant und absolut verlässlich wären, das sind sie gerade nicht. Aber sehr wohl ist das, was in unseren Beschreibungen der Struktur der Wirklichkeit zu erfassen gesucht wird, von solcher Verlässlichkeit. Deshalb begründet es auch eine unverbrchliche Erwartungsgewissheit. In der Sprache der Bibel findet solche unverbrüchliche Erwartungsgewissheit ihren Ausdruck z. B. in der Verheißung des noachitischen Bundes in Gen 8,21 f., in der apostolischen Gewissheit, dass Gottes Gaben und Berufungen ihn nicht gereuen können (Röm 11,29) sowie in der Verheißung, dass Christi Worte nicht vergehen werden (Mk 13,31 parr.). Es ist also die Treue Gottes selbst, die diese unver-
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brüchliche Erwartungsgewissheit begründet, und darum ist diese Erwartungsgewissheit ihrerseits nichts anderes als eine Grundgestalt christlichen Glaubens, also des daseinsbestimmenden Vertrauens auf das Sein und Wirken des dreieinigen Gottes. Die Funktion der Wahrheitsgewissheit für das menschliche Leben geht aber nicht darin auf, dass sie (in unterschiedlichen Formen) Erwartungsgewissheit begründet, sondern sie ist zugleich (und wie sich noch zeigen wird, in gewisser Hinsicht sogar notwendigerweise) Erinnerungsgewissheit. Auch dies bezieht sich wiederum auf beide Dimensionen der Wahrheit: auf die Tatsachenwahrheiten und auf die ihnen zugrunde liegende und sie umfassende Wirklichkeitswahrheit. Weil wir uns in unserer geschichtlichen Existenz – in die Zukunft schreitend, aber von der Vergangenheit herkommend – immer auch so orientieren müssen, dass wir uns dessen vergewissern, was geworden ist, was uns begegnet ist, wodurch wir und unsere Welt so geprägt, gestaltet und verändert wurden, wie wir sind bzw. sie ist, und weil diese Erinnerungen der Gefahr der Verfälschung, der Verdrängung und des Vergessens unterliegen, darum hat Wahrheitsgewissheit immer auch den Aspekt der Erinnerungsgewissheit. Dass Wahrheitsgewissheit sowohl Erwartungsgewissheit als auch Erinnerungsgewissheit begründet, ist wohl wahr, aber genau besehen in dieser Unterscheidung noch abstrakt. Denn das Besondere der grundlegenden Orientierungsfunktion, welche die Wahrheitsgewissheit für das menschliche Leben (auf der Ebene der Tatsachenwahrheiten wie auch auf der grundlegenden Ebene der Wirklichkeitswahrheit) besitzt, besteht gerade in dem Zusammenhang und in der Zusammengehörigkeit, also in der Kontinuitt zwischen Erinnerungsgewissheit und Erwartungsgewissheit. Denn einerseits ist es die Erinnerungsgewissheit, die ihrerseits die Erwartungsgewissheit begründet, andererseits ist es die Erwartungsgewissheit, die ihrerseits die Erinnerungsgewissheit bestätigt (oder dort, wo sie enttäuscht wird, in Frage stellt). Das besitzt schon im Blick auf die Ebene der Tatsachenwahrheiten Plausibilität und Evidenz, es gilt aber ebenso für die Ebene der Wirklichkeitswahrheit, in der die Erwartungsgewissheit gerade durch die Erinnerung an die Verheißungen und die erfahrene Treue Gottes begründet und je neu bestätigt wird. Um diesen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Erwartungsgewissheit und Erinnerungsgewissheit so denken zu können, dass er in der Erfahrung nachvollziehbar wird, muss freilich noch eine dritte Form der Gewissheit gedacht werden, in der Erinnerungsgewissheit und
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Erwartungsgewissheit miteinander vermittelt sind und durch die erst sichergestellt wird, dass es sich um die Erwartungs- und Erinnerungsgewissheit desselben Subjekts handelt. Ich nenne diese dritte vermittelnde Form „Gegenwartsgewissheit“ und meine damit die jeden gegenwärtigen Moment (bewusst oder unbewusst) begleitende Gewissheit, hier und jetzt in dieser Gewissheit zu existieren. Der Rekurs auf diese jeweilige Gegenwartsgewissheit ist deswegen unverzichtbar, weil sich die Erinnerungsgewissheit zwar auf das Vergangene bezieht, aber nicht in der Vergangenheit, sondern im gegenwärtigen Bewusstsein des Subjekts ihren Ort hat, und ebenso die Erwartungsgewissheit sich zwar auf die Zukunft bezieht, aber nicht in der Zukunft, sondern im gegenwärtigen Bewusstsein des Subjekts ihren Ort hat. Damit nehme ich eine wichtige Einsicht aus Augustins52 Theorie der Zeit auf und versuche sie (auch) in wahrheitstheoretischer Hinsicht zur Geltung zu bringen. Aber wie lassen sich alle diese Formen der Gewissheit auf ihreTragfähigkeit und damit auf ihren Wahrheitsgehalt hin berprfen?
8. Wahrheit und Verifikation Eine in der empiristischen Philosophie gelegentlich anzutreffende Engführung besagt, das Wort „wahr“ bedeute soviel wie „nachprüfbar“ oder „beweisbar“.53 Mit einer solchen Gleichsetzung wird der Wahrheitsbegriff in ganz unsachgemäßer Weise beschränkt auf Verifizierbares, wodurch nicht nur die unendliche Fülle individueller Wahrnehmungen in ihrer raum-zeitlichen Besonderheit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, sondern auch die grundlegenden ontologischen Einsichten über die Verfassung der Wirklichkeit (einschließlich der Wahrheit) nicht mehr als wahrheitsfähig erscheinen und aus dem Wahrheitsverständnis ausgeblendet werden müssten. Eine solche Gleichsetzung, die de facto auch ein Versuch der Wahrheitsbemächtigung ist, ist aus der Sicht des christlichen Wahrheitsverständnisses strikt abzulehnen. 52 Confessiones, Buch XI, 20. 53 So z. B. W. Kamlah /P. Lorenzen, Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, rev. Ausg. Mannheim 1967, S. 121: „Jedoch ist … eine Aussage nicht schon dann ,wahr‘, wenn sie ,sprachlich richtig‘ gebildet wurde (den gültigen sprachlichen Vereinbarungen entsprechend), sondern erst dann, wenn sie auch durch sachkundige Nachprüfung verifiziert werden kann.“ (Ähnlich a. a. O., S. 123).
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Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit
Das heißt aber nicht, dass aus dem Wahrheitsverständnis bzw. aus der Wahrheitstheorie insgesamt die Frage nach der Verifikation ausgeschlossen oder als belanglos beiseite gelassen werden dürfte. Angesichts dessen, was in Abschn. 7 über die Irrtumsfähigkeit von Wahrheitsgewissheit gesagt wurde, stellt sich mit Nachdruck die Frage, ob und inwiefern es Möglichkeiten der Überprüfung für solche Gewissheiten gibt. Die Aufgabe der kommunikativen Überprüfung von Wahrheitsgewissheiten ist dabei zwar nicht abzuweisen sondern unbedingt aufzunehmen, aber sie bleibt grundsätzlich begrenzt, weil sie immer schon auf die Gültigkeit anderer Wahrheitsgewissheiten als Überprüfungsinstanz angewiesen ist. Indessen ergibt sich aus dem, was über Wahrheitsgewissheit als Erinnerungs-, Erwartungs- und Gegenwartsgewissheit in Abschn. 8 gesagt wurde, ein Ansatzpunkt, der einen Schritt darüber hinausführt. Die aus der Erinnerungsgewissheit gespeiste Erwartungsgewissheit kann sich in unserer Wahrnehmung und Erfahrung (also im Medium unserer Gegenwartsgewissheit) bestätigen oder als unzutreffend erweisen. Dabei besteht zwischen beiden Erfahrungen, was in der wahrheitstheoretischen Diskussion schon lange erkannt ist54, insofern eine Asymmetrie, als die Bestätigung zwar nicht den Charakter der Verifikation (also des Wahrheitserweises oder -beweises) hat, wohl aber die Widerlegung den Charakter der Falsifikation (also der Wahrheitswiderlegung bzw. des Unwahrheitserweises). Diese Asymmetrie ergibt sich erkenntnistheoretisch daraus, dass zur Widerlegung eines allgemeinen Behauptungssatzes ein einziger Gegenbeleg genügt, dass ein Wahrheitserweis für einen solchen allgemeinen Behauptungssatz jedoch nur dann möglich ist, wenn tatsächlich die Gesamtheit aller möglicherweise unter ihn fallenden Sachverhalte bekannt und als mit der Behauptung übereinstimmend erwiesen worden ist. Bezieht man diese Asymmetrie zwischen Falsifikation und Verifikation in das christliche Wahrheitsverständnis ein und bringt sie in ihm (sachgemäßer Weise) zur Geltung, so ist zu sagen, dass jeder Fall, in dem eine aus Wahrheitsgewissheit gewonnene Erwartung eintrifft, den Charakter einer Besttigung und Vergewisserung dieser Wahrheitsgewissheit hat. Das berechtigt und ermutigt zum Festhalten an dieser Gewissheit und zur Offenheit für neue Erfahrungen. Aber der damit be54 Besonders nachdrücklich hat sich K. R. Popper (Logik der Forschung, [Wien 1934] Tübingen 19766) für die Begründung und Verbreitung dieser Einsicht eingesetzt.
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schrittene Weg kommt unter endlichen Bedingungen nicht zu seinem Abschluss, weil er auf künftige Bestätigungen angewiesen ist und durch die Möglichkeit künftiger Widerlegung bedroht bleibt. Deswegen ist John Hick zuzustimmen, wenn er den Begriff der eschatologischen Verifikation (,eschatological verification‘) einführt.55 Das heißt aber: Alle verifikatorischen Aussagen stehen unter dem ,eschatischen Vorbehalt‘ richtiger: unter der Bedingung der antizipierenden Gewissheit der sich erweisenden Treue, d. h. sie sind getragen von der „guten Zuversicht, dass der (in euch) angefangen hat das gute Werk, der wird‘s auch vollenden“ (Phil 1,6).
9. Wahrhaftigkeit als Lebenszeugnis von der Wahrheit Ebenso wie Verifikation von Wahrheit zu unterscheiden ist – und doch untrennbar mit ihr zusammengehört –, gilt dies auch von der Wahrhaftigkeit. Wir sind diesem Thema bereits im Abschn. 6 begegnet, wo von der Lüge die Rede war. ,Wahrhaftigkeit‘ und ,Lüge‘ bezeichnen zwei einander entgegengesetzte Weisen des Umgangs mit der Wahrheit, deren eine dadurch gekennzeichnet ist, dass sie (als Wahrheitsliebe) sich von der Wahrheit in Anspruch nehmen und bestimmen lässt, sie tut ( Joh 3,21; 1 Joh 1,6) und ihr gehorcht (1 Petr 1,22), während die andere dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die erkannte Wahrheit verleugnet, verdrängt, verdreht oder zu vergessen sucht ( Jak 1,23 f.) und ihr nicht gehorcht (Röm 2,8; Gal 5,7). Mit dieser Alternative von Wahrhaftigkeit oder Lüge geht es um das grundlegende Verhältnis des Menschen zu der ihm erschlossenen und gewiss gewordenen Wahrheit, von dem alle anderen Lebensaspekte und Verhaltensweisen (noch einmal: wie von einem Vorzeichen) mitbestimmt werden. Mit der Entscheidung über Wahrhaftigkeit oder Lüge fällt die Entscheidung darüber, ob ein Mensch aus bzw. in der Wahrheit ist oder nicht ( Joh 18,37; 1 Joh 3,19; 2 Joh 4; 3 Joh 4). 55 Death and Eternal Live, Ipswich (1976) 1990, S. 327 ff. Bei Hick bezieht dieser Gedanke sich allerdings nur auf eschatologische Hypothesen, wie z. B. die Reinkarnations-Lehre, und bleibt dadurch in seiner Bedeutung unterbestimmt. Angesichts der konstitutiven eschatologischen Ausrichtung und Offenheit aller Glaubensaussagen verdient der Gedanke der eschatologischen Verifikation – genauer: der eschatischen Verifikation – in der christlichen Theologie jedoch umfassende Rezeption.
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Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit
Diese biblischen Aussagen deuten an, dass es bei der Frage der Wahrhaftigkeit um mehr geht als um eine wichtige kommunikative Tugend in der Beziehung zu anderen, nämlich um eine Lebenshaltung, die auch das Gottesverhältnis und Selbstverhältnis umfasst und darum das ganze relationale Lebensgefüge des Menschen, also seine Identität bestimmt. Dabei stellt die Lüge Gott gegenüber den lächerlich wirkenden, in Wirklichkeit tragischen, verzweifelten Versuch dar, im Angesicht der Quelle der Wahrheit die erkannte Wahrheit zu verleugnen, also sich dort zu verbergen, zu verstellen und zu verstecken, wo es nichts zu verbergen, zu verstellen und zu verstecken gibt (Gen 3,10; vgl. auch Apg 5,4 und 9). Es erscheint mir allerdings wichtig, auch hier noch einmal an die Unterscheidung zwischen Tatsachenwahrheiten und Wirklichkeitswahrheit zu erinnern. Es gibt, worauf z. B. D. Bonhoeffer56 verwiesen hat, eine Weise der Wahrhaftigkeit, die zwar den Tatsachenwahrheiten verpflichtet ist, diese aber so zur Geltung bringt, dass sie die Wirklichkeit verfehlt, weil sie den Sprecher oder die Adressaten nicht in ihren wirklichen Beziehungen – auch und gerade in ihrer Beziehung zu Gott – wahrnimmt. Dem setzt Bonhoeffer die These entgegen: „Das Wirkliche soll in Worten ausgesprochen werden. Darin besteht die wahrheitsgemäße Rede“.57 Dem christlichen Wahrheitsverständnis zufolge findet Wahrhaftigkeit nicht dort ihre Grenze, wo sie für einen Menschen (sei es für den Redenden oder für den Angeredeten) schmerzlich oder verletzend wird – im Gegenteil: Gerade dies kann heilsam und notwendig sein. Wohl aber erweist sich Wahrhaftigkeit als missverstanden, wo sie die von Gott jedem Menschen gegebene Bestimmung aus dem Blick verliert, mögliche Tatsachenwahrheiten also von der Wirklichkeitswahrheit isoliert und letztlich gegen sie zur Geltung bringt. Was Wahrhaftigkeit im Gesamtzusammenhang des christlichen Verständnisses von Wahrheit bedeutet, kommt innerhalb der biblischen Texte wohl am besten zum Ausdruck in der Aussage: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). Damit wird gesagt, dass Christus Jesus, weil er als ,die Wahrheit‘ ,der Weg‘ zu Gott und darum ,das Leben‘ ist, zugleich den Orientierungspunkt darstellt, an dem sich auch 56 Was heißt die Wahrheit sagen? in: ders.: Ethik, hg. von E. Bethge, Stuttgart (1948), S. 283 – 290. 57 A. a. O., S. 284.
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bemisst, was dem christlichen Wahrheitsverständnis zufolge „Wahrhaftigkeit“ genannt zu werden verdient.
Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität? Der Titel dieses Aufsatzes verrät, dass es mir um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Positionen geht, von denen ich die eine mit der Formel charakterisiere, die Wirklichkeit sei unser Konstrukt, und die andere mit der Formel, die Wirklichkeit sei widerständige Realität1. Es geht also um die Auseinandersetzung zwischen einem erkenntnistheoretischen und ontologischen Konstruktivismus auf der einen Seite und einem erkenntnistheoretischen und ontologischen Realismus auf der anderen Seite. Vermutlich leuchtet es den meisten Menschen ohne ausführliche Begründungen ein, dass es einen großen Unterschied macht, ob man die Wirklichkeit als unser Konstrukt oder als widerständige Realität deutet, erfährt, erlebt – auch wenn es möglicherweise gar nicht so einfach ist, genau anzugeben, welche praktischen Konsequenzen dieser Fundamentalunterschied eigentlich hat. Aber bevor wir darüber nachdenken (können), müssen wir uns zunächst erst einmal einen Einblick und groben Überblick verschaffen über das, was mit diesen Begriffen bezeichnet wird, was also theoretisch als Auffassung oder Konzeption hinter ihnen steht. 1
Das Verhältnis der Begriffe „Wirklichkeit“ und „Realität“ zueinander ist semantisch bzw. definitorisch nicht eindeutig festgelegt. Häufig werden beide Begriffe als Synonyme gebraucht, gelegentlich findet sich jedoch auch die Festsetzung, „Realität“ bezeichne die durch unsere sprachlichen Zeichen gefasste und gedeutete Wirklichkeit. Ich verwende den Begriff „Realität“ in diesem Text anders, nämlich zur Bezeichnung des Widerständigen, an dem sich unsere Deutungen zu orientieren und abzuarbeiten haben. Ich schließe mich damit terminologisch G. Roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit [1994] 1997, S. 324) an, der schreibt: „Ich habe davon gesprochen, dass das Gehirn die Wirklichkeit hervorbringt und darin all die Unterscheidungen entwickelt, die unsere Erlebniswelt ausmachen. Wenn ich aber annehme, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, der Konstrukteur, existiert. – Diese Welt wird als ,objektive‘, bewusstseinsunabhängige oder transphänomenale Welt bezeichnet. Ich habe sie der Einfachheit halber Realitt genannt und sie der Wirklichkeit gegenübergestellt“.
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Dabei erfordert der erkenntnistheoretische und ontologische Realismus zunächst wenig Erklärungsaufwand. Er ist eine Theorie, die unserer Alltagserfahrung und unseren Denkgewohnheiten sehr entgegen kommt. Wir sind sozusagen alle von Natur aus erkenntnistheoretische und ontologische Realisten, d. h., wir nehmen an, dass wir grundsätzlich die Realität so erkennen können, wie sie ist, dass es also eine Realität gibt, in der wir auch selbst vorkommen, die sich nicht nach unseren Deutungen oder gar Wünschen richtet, sondern ihnen gegebenenfalls Widerstand entgegensetzt. Wir gehen in der Regel davon aus, dass es eine Wirklichkeit auch schon gab, als sie noch nicht von Menschen erkannt wurde, und dass es sie geben wird, wenn die Evolution die Spezies homo sapiens eliminiert haben sollte. Dabei wird jeder Realist sofort hinzufügen, dass wir uns natürlich bei unseren Erkenntnisbemühungen auch irren können – durch optische Täuschungen, falsch angewandte Begriffe, Erinnerungsfehler, Trugschlüsse etc. Aber da wir häufig die Chance haben, solche Fehler zu entdecken, können wir sie in vielen Fällen durch genaueres Zusehen, gründlicheres Nachdenken oder andere Methoden aufklären oder korrigieren. Dabei gibt es unter den Vertretern des erkenntnistheoretischen und ontologischen Realismus eine große Bandbreite hinsichtlich des Zutrauens zu unserer Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnisfähigkeit. Aber auch diejenigen, die darüber sehr skeptisch urteilen, sind doch – solange sie Vertreter des Realismus sind – der Auffassung, dass solche Erkenntnis grundstzlich mçglich sei. Demgegenüber ist der Konstruktivismus sehr viel schwerer zu erfassen und zu beschreiben. Lassen wir die Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland unter dem Namen „Konstruktivismus“ entstandenen Kunsttheorien (von W. Tatlin u. a.) und konstruktivistische Literaturtheorie (von E. G. Bagritzki u. a.) beiseite, so stoßen wir erst in den SechzigerJahren des 20. Jahrhunderts auf den Beginn des erkenntnistheoretischen und ontologischen Konstruktivismus, und zwar an der Universität Erlangen. Damals lehrten dort die Philosophen Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen. Paul Lorenzen vertrat die Theorie, wissenschaftliche Sprachen, insbesondere die der Logik und Mathematik, ließen sich am angemessensten rekonstruieren, wenn man sie aus alltäglichen Dialogen ableitet und als vereinbarte Regeln interpretiert. Das darin zum Ausdruck kommende Programm haben Kamlah und Lorenzen 1967 unter dem Titel: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens publiziert. Darin kommen zwar die Begriffe „Konstruktion“ und
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„Konstruktionsvorschrift“ des öfteren vor, aber (noch) nicht der Programmbegriff „Konstruktivismus“2. Zu diesem Erlanger Konstruktivismus rechnet man auch die Gruppe der zunächst in Konstanz wirkenden Schüler: Peter Janich, Friedrich Kambartel, Jürgen Mittelstraß sowie Matthias Gatzemeier und Franz Koppe. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie3 findet sich im Jahre 1976 unter dem Lemma „Konstruktivismus“ nur dieser „methodische Ansatz der von P. Lorenzen begründeten konstruktiven Wissenschaftstheorie“4 samt seinen Vorläufern im Bereich der Logik, Mathematik und Informatik. Vom sog. „Radikalen Konstruktivismus“ ist dort ebenso wenig die Rede wie in den etwa gleichzeitig abgeschlossenen beiden Bänden Wolfgang Stegmüllers über „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“.5 Der Programmbegriff „Radikaler Konstruktivismus“ taucht – ohne nähere Bezugnahme auf den Erlanger Konstruktivismus – Mitte der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts auf, und dieses Konzept wird von Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick und Siegfried J. Schmidt vertreten6. Ernst von Glasersfeld war es auch, der den Terminus „Radikaler Konstruktivismus“ geprägt hat.7 Dieses Konzept hat sich in relativ kurzer Zeit Beachtung verschafft, was sich auch daran zeigt, dass die beiden um die Jahrtausendwende erschienenen großen theologischen Lexika, die dritte Auflage des „Lexikon für Theologie und Kirche“8 und die vierte Auflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart“9 Artikel zu diesem Lemma enthalten.10
2 Peter Janich, ein Schüler von Paul Lorenzen, merkt dazu an, dass „die Rede vom Erlanger Konstruktivismus zunächst eine Erfindung ihrer Gegner“ gewesen sei. So in dem informativen Beitrag: Die methodische Ordnung von Konstruktionen. Der radikale Konstruktivismus aus der Sicht des Erlanger Konstruktivismus (1992), in: ders., Konstruktivismus und Naturerkenntnis, Frankfurt am Main 1996, S. 105 – 122. 3 Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1019 – 1021. 4 A. a. O., Sp. 1019. 5 Bd. I 19653 ; Bd. II 19796. 6 Siehe dazu den von S. J. Schmidt herausgegebenen Sammelband: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987. 7 So G. Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt am Main 1987, S. 505. 8 Bd. 6, Freiburg u. a. 19973, Sp. 323. 9 Bd. 4, Tübingen 20014, Sp. 1639.
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Was ist nun unter Radikalem Konstruktivismus zu verstehen? Peter Janich schreibt: „,Radikaler Konstruktivismus‘ heißt dieser Ansatz … deshalb, weil in Fortsetzung radikal skeptischer Tradition und in Ablehnung traditioneller Erkenntnistheorien jegliche Form von Erkenntnis einschließlich des Erkannten selbst als Konstruktionen gesehen werden. Die philosophischen Hauptgegner sind ersichtlich: realistische, ontologische sowie korrespondenztheoretische Auffassungen von Wahrheit oder Wissen und alle in diese Tradition gehörenden Wissenschaftstheorien. Der Ansatz ist radikal instrumentalistisch in dem Sinne, als jede Form von Kognition nicht nur als von lebenden Systemen hervorgebracht und konstruiert, sondern auch auf die Aufrechterhaltung des Lebens gerichtet verstanden wird. Leben und Erkennen sind keine Selbstzwecke, sondern dienen ihrerseits der Aufrechterhaltung des Lebens.“11
Diesem radikalen Konstruktivismus ist auch der von Gerhard Roth12 und Helmut Schwegler vertretene neurobiologische Konstruktivismus zuzurechen. Dieser neurobiologische Konstruktivismus versteht Erkenntnis als eine evolutionäre Anpassungsleistung, die das Überleben der Art bzw. der Gene sichern soll und enthält damit ein realistisches Element. Er bestreitet folglich nicht das Vorhandensein einer Außenwelt, unterscheidet sie aber strikt von der Welt der neuronalen Ereignisse im Gehirn und von der subjektiven Erlebniswelt. Roth geht dabei davon aus, dass unser Gehirn die Fakten und Ereignisse der Außenwelt in Elementarereignisse zerlegt und nach evolutionär erworbenen Prinzipien zu bedeutungsvollen Wahrnehmungsinhalten neu zusammensetzt. Dieser Theorie zufolge sind nicht nur unsere Bilder von der Außenwelt, sondern ist auch unser Ich selbst ein Konstrukt unseres Gehirns. Das einzige, was kein Konstrukt zu sein scheint, wäre demzufolge unser Gehirn. In Roths eigenen Wort gesagt: „Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ich, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Vielmehr geht ihre Konstruktion durch das Gehirn nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch, teils frühontogenetisch entstanden sind und ansonsten in Erfahrungen des Gehirns mit seiner Umwelt entstanden. Diese Prinzipien sind meinem Willen nicht unterworfen. Vielmehr bin ich 10 Leider gilt das nicht für den 1990 erschienenen Band 19 der Theologischen Realenzyklopädie. Angesichts der langen Vorlauf- und Produktionszeit war dafür die Theorie des Radikalen Konstruktivismus offenbar noch zu jung. 11 P. Janich, Die methodische Ordnung von Konstruktionen (siehe oben Anm. 2), S. 111. 12 Siehe dessen bekanntes, bereits in Anm. 1 zitiertes Buch: Das Gehirn und seine Wirklichkeit.
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ihnen unterworfen. Diese Feststellung ist außerordentlich wichtig, denn sie macht den neurobiologischen Konstruktivismus, wie er hier vertreten wird, überhaupt erst plausibel.“13
Ich will mich im Folgenden auf die Form des Radikalen Konstruktivismus konzentrieren, wie ihn von Glasersfeld, von Foerster, Watzlawick und Schmidt vertreten, und den neurobiologischen Konstruktivismus wegen seiner ganz eigenen Voraussetzungen, Begründungen und Probleme hier beiseite lassen. Was unter Radikalem Konstruktivismus zu verstehen ist, haben wir von Peter Janich gelernt: Es ist die These, dass jegliche Form von Erkenntnis einschließlich des Erkannten als Konstruktion des erkennenden Subjekts gesehen werden muss. Erkennen heißt also nicht Rezipieren oder Rekonstruieren, sondern Produzieren bzw. Konstruieren. Und die Wirklichkeit ist folglich nichts anderes als dieses Konstrukt. Diese Theorie wirkt auf die meisten Menschen so absurd, dass sie dazu neigen, darüber mit einem Lächeln oder einer abfälligen Bemerkung hinwegzugehen. Wir sollten das aber nicht tun, bevor wir uns nicht davon überzeugt haben, ob der Radikale Konstruktivismus nicht doch im Recht ist oder zumindest wichtige Wahrheitselemente enthält. Schließlich wirkt ja auch die Behauptung, wir lebten auf einem kugelförmigen Planeten, der sich mit etwa 1100 Stundenkilometern um seine eigene Achse dreht und überdies dabei um die Sonne kreist, und nur die Tatsache, dass es eine Erdanziehungskraft gibt, verhindere, dass wir wie kleine Raketen ins Weltall geschleudert würden, beim ersten und zweiten Hören so absurd, dass man geneigt sein könnte, darüber mit einem Lächeln oder einer abfälligen Bemerkung hinwegzugehen, und es sich trotz der Gegeneinwände des gesunden Menschenverstandes dennoch empfiehlt, sich auf eine solche Theoriebildung ernsthaft einzulassen. Überhaupt: Überblickt man die Geschichte wissenschaftlicher Theorien, so waren und sind es oft die zunächst völlig unplausibel, ja absurd wirkenden Theorien, die sich schließlich durchgesetzt haben, weil sie sich als wahr bzw. richtig erwiesen haben. Tatsächlich gibt es einen Vorläufer des erkenntnistheoretischen (und damit auch des ontologischen) Konstruktivismus, der geeignet ist, den Ruf dieser Theorie anzuheben: Ich meine Immanuel Kant und seine Kritik der reinen Vernunft, in deren Vorrede zur zweiten Auflage die berühmten Sätze zu lesen stehen: 13 A. a. O., S. 330.
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„Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis msse sich nach den Gegenstnden richten; aber alle Versuche, ber sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert wrde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstnde mssen sich nach unserem [!] Erkenntnis richten … Es ist hiemit eben so als mit den ersten Gedanken des K o p e r n i k u s bewandt, der, nachdem es mit den Erklrungen der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen mçchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die A n s c h a u u n g der Gegenstnde betrifft, es auf hnliche Weise versuchen.“ 14
Um nicht missverstanden zu werden: Kant ist kein Konstruktivist, aber er hat als einer der ersten gesehen, wie groß der Anteil des erkennenden Subjekts an jedem Erkenntnisakt ist. Aufgegangen ist ihm dies offensichtlich anhand dessen, was er die beiden Anschauungsformen nennt: Raum als die äußere Anschauungsform und Zeit als die innere Anschauungsform. Kant entdeckt, dass wir nichts Äußeres denken oder uns vorstellen und erfassen kçnnen, ohne dass wir dies in irgendeiner Form räumlich denken bzw. vorstellen. Und er entdeckt, dass wir nichts Innerliches denken, vorstellen oder erfassen kçnnen ohne die Anschauungsform der Zeit, wobei Letztere bei jedem Erkenntnisakt (also auch bei dem, der sich auf Äußeres bezieht) eine unverzichtbare Rolle spielt, da alles Äußere für uns ja nur dadurch zugnglich ist, dass es uns innerlich präsent wird. Bei dem Versuch nun, Raum und Zeit als Beschaffenheiten der Wirklichkeit zu denken, verwickeln wir uns notwendigerweise in Widersprüche, weil wir ein und dieselbe Wirklichkeit zugleich als (räumlich oder zeitlich) begrenzt und als unbegrenzt denken müssten. Letzteres müssen wir aber dann, wenn wir Raum und Zeit als Realitäten denken, über deren Grenzen wir stets beliebig hinaus und weiter fragen können: Was ist außerhalb des Raumes, und was ist vor und nach der Zeit? Und hier kommt Kant auf die Idee, Raum und Zeit seien dann am angemessensten verstanden, wenn wir sie nicht als Qualitäten oder Beschaffenheiten der Wirklichkeit, sondern eben als Anschauungsformen des erkennenden Subjekts verstehen15. 14 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1968, S. 25 (B XVI f.). 15 Das hat einen Vorläufer in Augustins Einsicht, die Zeit sei nur eine „distentio animi“ (Confessiones/Bekenntnisse, eingleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München 19602, Buch 11, 26,33).
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Das aber hat die These zur Folge, dass wir alle Dinge nur so erkennen können, wie sie uns erscheinen, sich uns zeigen. Und das heißt: Wir erkennen immer nur die Erscheinungen, die Phänomene, nicht aber – so fügt Kant an – das „Ding an sich“. Der letzte Halbsatz wirkt wie eine ganz plausible Konsequenz aus dem zuvor Gesagten, ist es aber nicht. Schon zu Kants Lebzeiten wurde von Salomon Maimon16 der Einwand formuliert, Kant habe sich mit dieser Aussage in einen Widerspruch verwickelt, indem er behauptet, die Phänomene seien nicht gleich oder gar identisch mit dem Ding an sich. Das könnte er aber nur behaupten, wenn er wüsste, wie das Ding an sich ist und dass es sich von dem, was uns erscheint, unterscheidet. Kant ist also mit dem letzten Halbsatz einen Schritt zu weit gegangen. Es wäre vorsichtiger und genauer gewesen zu sagen: Ob die Dinge tatsächlich an sich und in sich so sind, wie sie uns erscheinen, können wir nicht wissen, weil für uns immer nur die Erscheinungen zugänglich sind. Liegt beim Radikalen Konstruktivismus möglicherweise derselbe Fehler vor? Um das beurteilen zu können, müssen wir uns die entscheidenden Argumente des Radikalen Konstruktivismus zunächst genauer ansehen. Dabei zeigt sich, dass der Radikale Konstruktivismus in dreierlei Hinsicht ein genuines Kind der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist: – einerseits durch seine phänomenologischen Elemente, die an Husserl anknüpfen, – sodann durch seine semiotischen Elemente, die von Peirce und Eco beeinflusst sind, – schließlich durch seine naturwissenschaftlichen, genauer gesagt biologischen Anteile, die vor allem Ergebnisse von Maturana und Varela aufnehmen. Was diese unterschiedlichen Einflüsse untereinander und mit dem Radikalen Konstruktivismus verbindet, ist die Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Aktivität des Erkenntnissubjekts im Erkenntnisvorgang, wie sie zum Ausdruck kommt in der These: Alles Erkennen ist ein Interpretieren. Ob es sich um sprachliche oder außersprachliche Zeichen handelt, sie erschließen sich uns nur, indem wir sie als Zeichen interpretieren und indem wir ihre Bedeutung als bestimmte Zeichen interpretieren. Aus dem semiotischen Dreieck von Zeichen, Bezeichne16 S. Maimon, Versuch über die Transcendentalphilosphie, Berlin 1790, S. 419 f. Vgl. dazu W. Windelband/H. Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philospohie, Tübingen 151957, S. 497 f.
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tem (Objekt) und Zeichendeutung (Interpretant) gibt es kein Entrinnen. Diese Deutungen sind aber lebensgeschichtlich – und das heißt immer auch kulturell – erlernte und eingeübte Deutungen, bei denen wir irgendeine Sprachen benutzen müssen, durch die wir das, was wir erkennen, uns selbst und anderen erst zugänglich machen. Man kann sich das unschwer schon an den allerschlichtesten – oder sagen wir lieber: ganz schlicht wirkenden – Aussagen verdeutlichen, in denen wir eine Erkenntnis formulieren, z. B. A = A oder 1+2=3 oder: Ich bin ein Mensch. Jeder Baustein oder Bestandteil solcher Elementaraussagen erfordert eine Deutung, um verstanden zu werden. Und jeder dieser Bestandteile erlaubt mehr als eine Deutung, und jede Deutung erlaubt oder erfordert sogar wiederum eine Deutung, um überhaupt verstanden werden zu können. Der kulturellen Aufgabe des Deutens bzw. Interpretierens können wir also tatsächlich nicht entrinnen, solange wir uns überhaupt an Kommunikations- und/oder Erkenntnisprozessen beteiligen, d. h. solange wir leben. Wenn das aber so ist, dann scheint unsere übliche Vorstellung von Wahrheit und Wirklichkeit unangemessen naiv zu sein. Wir lernen ja schon als Kinder, dass Wahrheit die Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit ist. „Veritas est adaequatio intellectus et rei“, bzw. genauer: „ad rem“.17 Diese Definition setzt allem Anschein nach voraus, dass es zwei unterscheidbare Größen gibt: Die Aussage bzw. den Intellekt auf der einen Seite und die Sache bzw. Wirklichkeit auf der anderen. Und wenn beide miteinander übereinstimmen, haben wir es mit Wahrheit zu tun. Aber hiergegen wendet der Radikale Konstruktivismus ein, dass wir die Sache oder Wirklichkeit ja niemals als sie selbst, ohne unsere Deutungen und Interpretationen haben, sondern nur als gedeutete, als interpretierte. Wenn wir also Aussage und Wirklichkeit auf ihre Übereinstimmung hin überprüfen (wollen), so vergleichen wir gar nicht Aussage und Wirklichkeit, sondern eine interpretierte Aussage mit der interpretierten Wirklichkeit, also Aussage mit Aussage. Es scheint so, als seien wir so im Gehäuse der Zeichen bzw. der Sprache gefangen, dass es gar keinen Ausbruch und keinen Blick darüber hinaus geben 17 So die berühmte Definition von „Wahrheit“ bei Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae, Bd. I De veritate, Turin/Rom 1964, q 1, a 1 unter Berufung auf Isaac Israeli (845 – 940). Vgl. hierzu in diesem Band den vorangegangenen Beitrag: Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit, s. o. S. 23 – 53, bes. S. 25 – 29.
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könne. Wir konstruieren das, was wir für Wirklichkeit halten, und messen unsere Aussagen an unseren Konstrukten – so der Radikale Konstruktivismus. Hat er nicht recht? Ist es nicht tatsächlich so, dass wir alles, was wir erkennen oder aussagen, immer nur in Form unserer Erkenntnis- und Aussagemöglichkeiten haben, mit denen wir Sinneswahrnehmungen oder gedankliche Konstruktionen sprachlich fassen, interpretieren und artikulieren? Und selbst jede (scheinbare) Bestätigung oder Widerlegung einer Annahme, Vermutung oder Behauptung haben wir doch ebenfalls nur in Form solcher Deutungen, und damit wird offensichtlich nicht nur die Idee der Verifikation, sondern auch die der Falsifikation im strengen Sinn des Wortes ausgeschlossen. Mit dem Begriff „Wahrheit“ kann demzufolge allem Anschein nach nichts anderes als ein erzielter Konsens oder eine erreichte Konvention bezeichnet werden, also eine Verständigung oder Vereinbarung. Und gibt es nicht tatsächlich ganze Bereiche oder Sparten der Kommunikation, die zeigen, dass wir die Wirklichkeit nach unseren Wünschen und Vorstellungen durch unser Denken und Sprechen verändern und insofern konstruieren können? Ich denke dabei z. B. an die von Robert K. Merton entdeckte Self-fulfilling Prophecy, an die Vielzahl der in der Medizin nachgewiesenen Placebo-Effekte und an den sog. Pygmalion-Effekt aus dem Bereich der Pädagogik. Hier wird überall etwas gedacht oder gesagt, was – gemessen an der Wirklichkeit – nicht so ist, aber durch das die Wirklichkeit sich so verändert, dass dadurch das wahr wird, was wir zunächst wahrheitswidrig gesagt haben. Sind das nicht alles starke Argumente und Belege für den Radikalen Konstruktivismus? Aus der langjährigen Beschäftigung mit der Semiotik, Logik, Phänomenologie und vor allem Kategorienlehre von Charles Sanders Peirce18 meine ich gelernt zu haben, wie viel an dieser Sichtweise und 18 Siehe dazu Ch. S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (stw 425) Frankfurt am Main 1983, bes. S. 54 – 63. Es ist ein großes Verdienst von Hermann Deuser, dass er sowohl durch seine Peirce-Studien (vgl. Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie, Berlin/New York 1993) als auch durch seine mustergültige Übersetzung und Edition der religionsphilosophischen Schriften von Peirce (Philosophische Bibliothek Bd. 478, Hamburg 1995) wesentlich dazu beigetragen hat, dass die wichtigen und tragfähigen Impulse der Semiotik, Kategorienlehre und Religionsphilosophie dieses bedeutenden amerikanischen Philosophen auch in Deutschland vermehrte Beachtung und Rezeption gefunden haben.
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Realismus-Kritik berechtigt ist und warum sie letztlich trotzdem auf einem fundamentalen Irrtum beruht. Peirce zeigt, dass tatsächlich jede Aussage, die wir machen (können), und jeder Gedanke, in dem wir uns etwas klarmachen, zu der Kategorie der Drittheit gehört, für die in zeichentheoretischer Hinsicht das Operieren mit Symbolen, d. h. mit konventionell eingeführten bzw. verabredeten Zeichen nicht nur charakteristisch, sondern unverzichtbar und unerlässlich ist. Peirce zeigt jedoch auch, dass es unterhalb dieser Drittheit die Kategorien des reinen Soseins (Erstheit) und des Daseins (Zweitheit) gibt, über die wir zwar nicht anders als im Medium von Drittheit kommunizieren können, deren wir aber so innewerden können, dass uns dadurch die Angemessenheit unserer Kommunikation und unseres Verhaltens fragwürdig oder vertrauenswürdig wird. Besonders eindrücklich lässt sich dies verdeutlichen – und erfahren! – an der Kategorie der Zweitheit in Form des Widerstandes, den uns etwas leistet, das in unseren Interpretationen und Deutungen (bisher) gar nicht vorkam und nicht vorgesehen war. Ich verdeutliche dies an einem trivialen, aber anschaulichen Beispiel: Ich gehe durch einen Raum und bemerke nicht, dass er durch eine Glaswand geteilt ist, die sich meinem Versuch, den Raum zu durchschreiten, widerstandsfähig und schmerzhaft entgegenstellt. All das, was ich eben über diese Erfahrung gesagt habe, ist bereits vermittelt durch unsere konventionellen Sprachzeichen und durch meine Deutungen. Aber all diesen Deutungen liegt die unartikulierte Wahrnehmung von „etwas“ zugrunde, das mich – schmerzhaft – mit einer Realität konfrontiert, die ich jedenfalls nicht konstruiert, ja bis dato nicht einmal interpretiert habe. Ich wiederhole: Jede Interpretation dieser Wahrnehmung – z. B. als „Schlag“ oder „Stoß“ oder „Schmerz“ oder „Glaswand“ – ereignet sich auf der Ebene der Drittheit, also im Medium konventioneller Zeichen und unserer Interpretationen, aber das, wodurch diese Kommunikation und Interpretation ausgelçst ist, liegt unterhalb bzw. vor dieser Ebene der Drittheit. Nun könnte man gegen diese These einwenden, das sei zwar in solchen seltenen Sonderfällen – wie bei einer Glaswand oder Glastür – vielleicht gelegentlich so, aber das seien eben doch erkenntnistheoretisch irrelevante Ausnahmeerscheinungen. Aber das wäre ein großer Irrtum. Die unmittelbare, noch uninterpretierte Wahrnehmung – vermittelt durch unsere (äußeren oder inneren) Sinne – liegt all unseren Erkenntnisakten zugrunde. Diese Wahrnehmungen liefern permanent das Rohmaterial an, aus dem Erkenntnis entsteht. Und dort, wo solche elementaren Wahrnehmungen unseren Erwartungen, Vermutungen,
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Annahmen oder Behauptungen widersprechen, gewinnen wir durch sie die Erkenntnis eigenen Irrtums. In seinem 1994 französisch und 2004 deutsch veröffentlichten Buch: Die Schule der Egoisten19 spielt Eric-Emmanuel Schmitt die These eines philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Egoismus durch, die in der Geistesgeschichte gelegentlich als konsequenter Idealismus bezeichnet wurde und insofern dem Radikalen Konstruktivismus nahe steht, als sie mit ihm die Überzeugung teilt, es gebe keine von der Erkenntnis unabhängige Wirklichkeit, also keine widerständige Realität. Schmitt zeigt mit dem ihm eigenen Witz auf, wie alle Argumente, ja wie sogar körperliche Attacken gegen den Vertreter des erkenntnistheoretischen und ontologischen Egoismus ins Leere laufen und den Egoismus argumentativ nicht zu überwinden vermögen. Der – vorübergehende – Zusammenbruch seiner Theorie ereignet sich für ihren literarischen Vertreter, Gaspard Languenhaert, als er sich in eine Zigeunerin verliebt, die ihn jedoch zurückweist. Die entsprechende Passage lautet: „Sie rückte näher, sah ihn aufmerksam an, betrachtete seinen schönen Mund, sein tiefschwarzes Haar, seine feinen Brauen, den blassen kräftigen Hals, dann erneut die Augen, und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Er blieb wie angewurzelt stehen, sprachlos. Sie lachte, das tat ihm weh. Als er sich wieder gefasst hatte, sah er nur noch einen Rockzipfel um eine Hausecke verschwinden, dazu das Hündchen, das fröhlich folgte. Da war es um Gaspard geschehen. Er lief stundenlang ziellos umher und hatte nur noch Gedanken für die Zigeunerin. Saint-Mallo ist entsetzlich trist, wenn man liebt und nicht wiedergeliebt wird. Am nächsten Tag kehrte er zurück zur Place d’Archevêché. Wieder tanzte sie. Er war wie gebannt. Als sie mit ihrem Tamburin durchs Publikum ging, gab er ihr nichts, stand nur da und sah sie an; selbst als der Platz sich schon geleert hatte. Da trat sie zu ihm und ohrfeigte ihn erneut. Und er wusste, er hatte nur darauf gewartet. Am nächsten Tag kam er wieder. Sie war nicht da. Er wartete, er verstand nicht. Wie? Hatte er etwa die Fähigkeit verloren, sie nach Belieben erscheinen zu lassen? Er musste sich sammeln … Er verließ den Platz, unvermittelt, ging aus der Stadt, querfeldein. Aber auch die frische Luft konnte den höllischen Druck auf seine Schläfen nicht mindern. Seine Schritte führten ihn nach Saint-Ambroise, und unwillkürlich betrat er die kleine runde Kapelle, die dort einsam unter einem blauen, wild bewegten Himmel auf dem Hügel stand. 19 Zürich 20044.
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Zum ersten Mal und ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, betete er zu Gott. Er bekannte sich zum Schöpfer, richtete ein langes hingebungsvolles und verzweifeltes Gebet an ihn; zum ersten Mal empfand er seine Begrenztheit und seine Endlichkeit und bat um Hilfe, gleich einem jener demütigen Sünder, wie man sie überall in bretonischen Landen antraf. Wie lange hatte er wohl gebetet? War er erhört worden? Als er aufsah und sich zur benachbarten Bankreihe wandte, kniete dort, ins Gebet vertieft, die schwarzäugige Zigeunerin. Also hatte er seine Fähigkeit wiedererlangt! Sie stand auf und lächelte ihm zu. Wortlos verließen sie die Kapelle.“20
An der nicht erwiderten Liebe und an der Tatsache, dass die Geliebte sich ihm verweigert und entzieht, macht Gaspard die Erfahrung einer widerständigen Realität, die nicht seinen Wünschen und seinen Konstruktionen gehorcht und die damit seine Theorie, er selbst sei der Schöpfer seiner Welt, ins Wanken bringt. Konsequent folgt auf den Zusammenbruch der egoistischen Theorie der Schritt in die Kapelle und das Gebet, in dem er einen andern als sich selbst als den Schöpfer der Wirklichkeit anerkennt. Dass er die Erhörung seines Gebets alsbald als Wiedererlangung seiner Fähigkeit zur Erschaffung und Gestaltung der Welt nach seinem Belieben interpretiert, zeigt jedoch zugleich, wie tief diese Illusion (bei ihm) sitzt und wie widerständig sie ihrerseits gegen die widerständige Erfahrung der Realität ist. Die Wahrnehmung einer widerständigen, sich unseren Wünschen und Konstruktionen verweigernden Realität ist zwar – verglichen mit positiver, inhaltlich bestimmter Wahrheitserkenntnis – eine eher negative Erkenntnis, aber sie sollte deswegen nicht gering geachtet werden; denn sie gilt für alle Aspekte und Bereiche unseres Umgangs mit der Welt, einschließlich des Umgangs mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Das zeigt nicht nur, wie wichtig das Konfrontiertwerden mit und die Wahrnehmung von Widerständen für alles menschliche Lernen ist, sondern es zeigt sich darin, was wohl jeder Mensch bereits häufig schmerzlich erfahren hat: Die Realität richtet sich nicht – jedenfalls nicht in jeder Hinsicht und immer – nach unseren Deutungen und Interpretationen. Sie ist nicht nur unser Konstrukt, sondern kann unsere Konstrukte schwer erschüttern, vielleicht sogar zum Einsturz bringen. Dabei gibt es eine erkenntnistheoretisch wichtige Asymmetrie zwischen Wahrheit und Irrtum, die über die von Karl Popper festge20 A. a. O., S. 88 – 90.
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stellte Asymmetrie von Verifikation und Falsifikation noch hinausgeht. Wenn ich einem Menschen plausibel machen will, dass und warum ich den Radikalen Konstruktivismus für eine irreführende Theorie halte, dann wird das kaum dadurch gelingen können, dass ich ihm noch so viele Beispiele dafür beibringe, dass unsere Aussagen mit der erfahrbaren Wirklichkeit – zumindest gelegentlich oder sogar häufig – bereinstimmen, indem wir z. B. eine Verabredung treffen und sie dann auch einhalten oder eine Vorhersage machen, die dann tatsächlich eintrifft, oder eine Behauptung aufstelle, die sich als zutreffend erweisen lässt. Der überzeugte Konstruktivist wird uns immer wieder entgegnen, dass wir dabei stets zwei Interpretationen bzw. Konstrukte miteinander vergleichen, die deswegen miteinander übereinstimmen, weil wir sie so konstruiert haben bzw. konstruieren. Aber der Konstruktivist kann – meiner Überzeugung und Erfahrung nach – unter Umständen beeindruckt oder erschüttert (nicht widerlegt!) werden, wenn man auf die Erfahrung von Irrtmern verweist, die überdies für unser Überleben keine positive Bedeutung haben, z. B.: Wir treffen eine Verabredung, haben uns aber hinsichtlich des Datums oder der Uhrzeit missverstanden, und deswegen kommt die Begegnung nicht zustande. Wir geben eine Prognose ab, und diese trifft nicht ein. Wir stellen eine Behauptung auf, und sie erweist sich als falsch. In all diesen Fällen ist es zumindest sehr aufwendig, wenn überhaupt möglich, die Tatsache der Nichtbereinstimmung aus unseren Konstruktionen, Deutungen oder Interpretationen zu erklären. Man müsste schon einen tief verankerten Masochismus bei fast allen Menschen voraussetzen, um die meist schmerzhafte oder ärgerliche oder enttäuschende Nichtbereinstimmung zwischen Aussagen und der Wirklichkeit plausibel aus unseren Konstruktionen erklären zu können. Deswegen möchte ich es als den Segen der Mçglichkeit des Irrtums bezeichnen, dass wir konfrontiert werden können mit Erfahrungen, die uns so überraschen, so hart und so unangenehm treffen können, dass wir sie beim besten Willen nicht auf unsere Konstruktionen zurückführen können, sondern als das annehmen „müssen“, was sie nach meiner festen Überzeugung sind: Begegnungen mit einer widerständigen Realität. Dass jede Deutung bzw. Interpretation unserer Wirklichkeitserfahrungen mittels sprachlicher, kulturell vereinbarter Zeichen die Wirklichkeit nur ungenau, unzureichend oder ganz verkehrt erfassen kann, ist wohl richtig, aber das bedeutet nicht, dass die Unterscheidung zwischen res und intellectus, zwischen Wirklichkeit und Sprache sinnlos oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Gerade weil unser Denken und
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Reden so irrtumsanfällig ist, müssen wir nicht nur den Dialog untereinander suchen, um uns mit neuen Wahrnehmungen, Perspektiven und Einsichten konfrontieren zu lassen, sondern wir müssen uns dem Kontakt und der Kontrolle durch die widerständige Realität aussetzen, und dabei können wir dessen innewerden, dass es diesen Segen der Möglichkeit des Irrtums gibt, der als erkannter Irrtum ja immer schon eine Wahrheitserkenntnis, folglich der erste Schritt zum Lernen und damit zu einem angemesseneren Umgang mit der Wirklichkeit ist. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass der Radikale Konstruktivismus grundfalsch ist. Er lebt von einer Einsicht, die an ihrer Stelle (auf der Ebene der Drittheit) richtig und wichtig ist, er generalisiert diese Einsicht und wendet sie auf Ebenen bzw. Schichten des Erkennens und der erkannten Wirklichkeit an, auf denen sie nicht gilt. Darum hat der Radikale Konstruktivismus als Theorie für mich selbst den Charakter eines Irrtums, den man erkennen und vermeiden oder überwinden kann. Ich halte den Radikalen Konstruktivismus aber nicht nur für eine falsche, sondern darüber hinaus für eine außerordentlich gefhrliche Theorie. Man muss ja fragen: Wenn die Konfrontation mit der widerständigen Realität als Kontrollinstanz für unsere Aussagen ausfällt, oder richtiger gesagt: bestritten oder geleugnet wird, was kann dann eigentlich an deren Stelle treten? Wer sagen würde: nichts, würde damit den Unterschied zwischen wahren und falschen Aussagen, also zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge, zwischen Orientierung und Irreführung rundum bestreiten und die Kommunikation der völligen Beliebigkeit preisgeben. Das will – wenn ich es recht sehe – niemand, auch kein Vertreter des Radikalen Konstruktivismus. Was bleibt aber dann? Die Kohrenz der Aussagen wäre ein mögliches Kriterium, aber sie sagt nichts über die Wahrheit, wie man an jedem Lügner lernen kann, der ein gutes Gedächtnis und darum (noch) die Kontrolle über sein Lügengewebe hat. Zudem tendiert das verabsolutierte Kriterium der Kohärenz dazu, die Erkenntnis von Neuem, Überraschendem, Fremdem programmatisch auszuschließen, und verhindert dann jeden grundlegenden Erkenntnisfortschritt. Dasselbe gilt im Prinzip, wenn die Antwort lautet: Es ist der Konsens, den wir gesellschaftlich erzielt haben bzw. erzielen. Wenn der Konsens die Kontrollinstanz für unsere Aussagen ist, dann wird die Wahrheitsfrage zu einer Mehrheitsfrage. Das ist schon im Rückblick auf die Geschichte – egal, ob man an Sokrates, Jesus, Galilei oder Einstein
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denkt – unplausibel. Vor allem aber droht damit die Verwandlung der Wahrheitsfrage in eine Machtfrage. Aber gegen diese drohende – und in der Geschichte immer wieder realisierte – Ersetzung der Wahrheitsfrage durch die Machtfrage gibt es einen Impuls aus der christlichen Überlieferung, an dem wir uns nicht irremachen lassen sollten – auch um derer willen, die die Wahrheitsfrage längst vergessen oder ersetzt haben. Ich meine die Aussagen des johanneischen Christus aus Johannes 18,37 und 8,31 f.: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ und: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“. Darauf kommt es an.
Befreiende Gewissheit 1. Luthers reformatorische Theologie Auf die Frage, worin die reformatorische Entdeckung Martin Luthers bestehe, lautet die – zutreffende – Standardantwort: Sie besteht in der Erkenntnis, dass die in der Bibel bezeugte Gerechtigkeit Gottes nicht zu verstehen ist als die „aktive Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft“1, sondern als die „passive Gerechtigkeit Gottes, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben“2. Diese Antwort ist sachlich schon deswegen überzeugend,3 weil sie sich auf das Selbstzeugnis Luthers (aus seiner Vorrede zu den Opera latina aus dem Jahre 1545) berufen kann. Durch diese Antwort scheint sich freilich automatisch die weitverbreitete Überzeugung mit zu bestätigen, Luthers Leitfrage, auf die die reformatorische Entdeckung sich bezieht, sei die Frage gewesen: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“. Bei genauerem Zusehen erweist sich diese Frage jedoch als eine eher missverständliche, jedenfalls aber sachlich sekundäre4 Formulierung für den Gegenstand von Luthers 1 2 3
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„iusticia … activa, qua Deus est iustus, et peccatores iniustosque punit“ WA 54, 185,18 – 20/LDStA 2, 504,21 f. „iusticiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem“ WA 54, 186,6 f./LDStA 2, 506,5 f. Damit ist weder gesagt, dass die Antwort erschöpfend sei (siehe dazu den Fortgang der Untersuchung), noch ist damit gesagt, dass diese Antwort hinreichend klar und verständlich sei. Insbesondere das Verständnis der iustitia Dei als iustitia passiva bedarf m. E. einer sorgfältigen Interpretation. Das kann jedoch nicht Inhalt dieser Abhandlung sein. Einen Versuch dazu habe ich unternommen in dem Aufsatz: Luthers reformatorische Entdeckung – damals und heute (2001), in: W. Härle, Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 1 – 19. So auch E. Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987 (künftig zitiert als Auslegung) und ders., Gewißheit in Luthers >De servo arbitrio< (2000), in: ders., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006 S. 56 – 80 (künftig zitiert als Gewissheit). Vgl. auch ders., Keine Alternative zur Ökumene. Eine Aufforderung zu offener Entschiedenheit, in: NELKB 55/2000, Nr. 2, S. 33 – 37., S. 86, Anm.221: „Die Frage nach dem ,gnädigen Gott‘ erfasst ein zwar wesentliches, aber doch systematisch nachgeordnetes Moment dieser Gesamtproblematik. Wenn sich diese
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Ringen. Die Fixierung auf die inhaltliche, soteriologische Frage birgt zumindest die Gefahr in sich, die gleichursprüngliche und für Luther grundlegendere, erkenntnistheoretische Frage nach der Gegebenheitsweise und damit nach der Begrndung einer tragfähigen Antwort auf die soteriologische Frage aus dem Blick zu verlieren. Bei dieser erkenntnistheoretischen Frage geht es darum, ob und wie das wahre Verständnis der Gerechtigkeit Gottes dem Menschen so erschlossen und gegeben sein könne, dass es zum Inhalt seines daseinsbestimmenden Vertrauens werden kann. Damit geht es um die Frage nach der verbindlichen Autoritt, an der sich der Mensch im Leben und im Sterben orientieren kann und zu orientieren hat, wenn er auf die Grundfrage des Lebens eine verlssliche Antwort finden will. Schon diese Frageformulierung zeigt, dass es sich dabei nicht um zwei selbstständige, voneinander unabhängige Sachverhalte handelt, sondern um zwei Aspekte an ein und demselben Sachverhalt der grundlegenden Lebensorientierung. Die Antwort, die sich Luther im Ringen um das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes erschließt, betrifft darum auch beide Aspekte, und nur weil sie beide betrifft, kann sie als so befreiend und klärend erlebt werden, wie Luther das im Rückblick beschreibt5.
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Frage als Grundfrage lutherischer Theologie … verselbständigt, tendiert sie zu einer Verzeichnung von Ansatz und Pointe der Theologie Luthers: sie partikularisiert sie sozial (eine mönchische Spezialtheologie für Skrupulanten) und historisch (lässt sie als einer zeitgebundenen Fragestellung verhaftet erscheinen). Aufgrund dieser Verengung wird sie dann unter Umständen sogar für die lutherischen Christen und Theologen späterer Jahrhunderte selber unverständlich oder zumindest nur noch in Uminterpretationen verständlich, wie vor allem die Diskussionen von Helsinki 1961 zeigten“. Ähnlich in Gewissheit, S. 15: „Eine traditionelle und weit verbreitete Auffassung besagt, die Leitfrage von Luthers Theologie sei die spätmittelalterliche Frage nach dem gnädigen Gott. Wer sich mit den leitenden Fragestellungen und dem Werden von Luthers reformatorischer Theologie näher beschäftigt, wird schnell feststellen, dass diese Frage tatsächlich eine grundlegende Rolle spielt. Er wird aber auch sehen, dass diese Frage allenfalls die Ausgangsfrage der theologischen Arbeit Luthers war. Als solche hat sie im Zuge ihrer Bearbeitung speziellere Fragestellungen aus sich freigesetzt, die dann ihrerseits wiederum allesamt auf eine neue Grundfrage zulaufen: Wie werde ich der mir geltenden und an mir wirksamen Gnade Gottes gewiss?“ „Da fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten zu sein. … So ist mir diese Stelle bei Paulus [sc. Röm 1,17] wirklich das Tor zum Paradies geworden“ (WA 54, 186,8 f. und 15 f./ LDStA 2, 507,9 – 11 und 19 f.: „Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis
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Worin besteht diese Antwort und inwiefern betrifft sie die beiden fraglichen Aspekte? Durch Gottes Erbarmen6 entdeckt Luther im Bibeltext, dass die (passive) Gerechtigkeit Gottes darin besteht, dass der barmherzige Gott uns durch den Glauben rechtfertigt7. Das heißt: Die Gegebenheitsweise dieser Einsicht (als Werk des Erbarmens Gottes) entspricht genau ihrem Inhalt8. Wäre es anders, so würden Gegebenheitsweise und Inhalt einander gegenseitig in Frage stellen oder gar aufheben. Erst beides zusammen, und zwar nicht in Form einer additiven Verbindung, sondern in Form einer gegenseitigen Durchdringung erfasst den Sinngehalt der reformatorischen Entdeckung angemessen. Dass damit – und erst damit – Luthers eigene Intention und sein Verständnis angemessen verstanden sind, lässt sich in vielfältiger Weise zeigen9. Das
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portis in ipsam paradisum intrasse. … Ita mihi iste locus Pauli fuit vere porta paradisi“). „miserente Deo“ WA 54, 186,3/LDStA 2, 506,1. „nos Deus misericors iustificat per fidem“ (WA 54, 186,7/LDStA 2, 506,5 f.). In den Worten von Herms: „(D)ie befreiende Einsicht [muss] bestimmte inhaltliche und formale Bedingungen erfüllen: Inhaltlich muss sie besagen, dass Gott überhaupt nie den Tod, sondern immer das Leben des Sünders will; dass also die Gnade das Ziel seiner Gerichte ist; dass sich also die Gnade als Gericht über die Sünde zugunsten des Sünders auswirkt; und dass dementsprechend die Erfahrung dieser gerechtmachenden Gnade nicht als Ziel des Bußprozesses, sondern nur als sein Prinzip, sein Ausgangspunkt, in Betracht kommt. – Wirksam können solche theologischen Einsichten aber nur dann sein, wenn eben sie statt anderslautender Theorien sich als gültig erweisen. Und deshalb, weil ihm evident wurde, dass die Schrift auf ihrer Seite steht und nicht auf der Seite der scholastischen Gnadenlehre. – Bezwingende Stimmigkeit gewann die neue Einsicht für Luther dadurch, dass sich ihm dieser formale Aspekt nur als die Konkretion ihres Inhalts darstellte: Das Aufleuchten und das Wirksamwerden der Evidenz, dass die Schriftlehre – entgegen der theologischen Theorie – die Huld Gottes nicht an die Bedingung der persönlichen Gerechtigkeit knüpft, sondern ihre Bedingungslosigkeit lehrt – das Aufleuchten und Wirksamwerden dieser Evidenz wird von Luther selbst als die Weise des Wirkens der bedingungslosen Gnade verstanden. Die Gnade Gottes wirkt bedingungslos, indem sie den Menschen durch die biblische Botschaft ihrer Freiheit und Bedingungslosigkeit gewiss macht“ („Antichrist“. Tiefenpsychologische Hintergründe eines klassischen Falles theologischer Polemik [1985], in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, S. 81 – 101, dort S. 95 f.). So ist schon Luthers erster Veröffentlichung, der Auslegung der sieben Bußpsalmen von 1518 (überarbeitet 1525) zu entnehmen, dass das Gerichts- und Gnadenwirken Gottes am Menschen nur dadurch wirksam werden kann, dass es den Menschen als ein „Pfeil im Herzen“ trifft und so der Wahrheit gewiss macht (WA 1, 175 f. und WA 18, 492 f.). In De servo arbitrio (1525) hat Luther
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Resultat dieses vertieften Verständnisses der reformatorischen Entdeckung hat Herms pointiert und bündig so formuliert: „Im Zentrum von Luthers Theologie steht das Problem der Gnadengewissheit. Die wirksame Gegenwart der Gnade muss gewiss sein. In ihrem positiven Gehalt ist Luthers Theologie eine Theorie der Gnadengewissheit.“10 Von daher zeigt sich, dass die Verweigerung des Widerrufs der öffentlich vertretenen neuen Erkenntnis sowohl dem Papst gegenüber als auch vor Kaiser und Reich nichts ist, was zur reformatorischen Erkenntnis hinzukme, sondern lediglich ihr Ernstnehmen als eine von Gott selbst geoffenbarte und damit gewiss gemachte Erkenntnis.11 Die Vertiefung im Verständnis der reformatorischen Theologie, die damit erreicht wurde, ist noch nicht hinreichend verstanden, wenn man in ihr nur die Hinzufgung eines in der bisherigen theologischen Forschung nicht oder nicht hinreichend beachteten Aspekts reformatorischer Theologie, nämlich des Gewissheitsaspekts sieht. Das ist sie zwar auch, aber damit alleine würde eine rein additive und damit äußerlich bleibende Verhältnisbestimmung von Gnade und Gewissheit in der Rechtfertigungslehre noch nicht überwunden. Das ist erst dann der Fall, wenn erkannt wird, dass Gewissheit die dem Inhalt der Rechtfertigung genau entsprechende Weise ist, wie einem Menschen im Rechtfertigungsgeschehen Gnade zuteil wird, und dass Gnade der dieser Weise in der Auseinandersetzung mit Erasmus die Theorie vom Geschehen des Wortes Gottes als Vergewisserung des äußeren Wortes im Herzen des Menschen ausgearbeitet. Vgl. dazu Herms, E. Gewissheit (s. o. Anm. 4). Schließlich hat Luther in seinen Katechismen (1529) die Lehre vom offenbarenden, d. h. erleuchtenden Wirken des Heiligen Geistes als die Weise, wie Gottes Gnadenhandeln den Menschen erreicht und umwandelt, für Gemeindeglieder und kirchliche Amtsträger ausgelegt und so ins Bewusstsein der reformatorischen Christenheit gerückt. (Vgl. dazu Herms, Auslegung [s. o. Anm. 4], bes. S. 46 – 100). 10 Gewissheit (s. o. Anm. 4), S. 15. 11 Dem entspricht Luthers Berufung auf sein Gewissen als Begründung für die Verweigerung des von ihm geforderten Widerrufs vor Kaiser und Reich. (Vgl. dazu Herms, Keine Alternative zur Ökumene [s. o. Anm. 4], S. 33 f.). Hier hat nach Herms’ Auffassung auch Luthers Antichrist-Vorwurf gegen das Papstamt seinen sachlichen Grund: „Der römische Stuhl … verhält sich … nicht so, wie es der Tatsache angemessen wäre, dass die erste und letzte Autorität für den Glauben eben diese von Gott selbst durch das äußere Wort geschaffene Evidenz und Gewissheit der Sache selbst ist; ja: der römische Stuhl erkennt und anerkennt diese Autorität nicht nur nicht, sondern setzt an ihre Stelle seine eigene Autorität. Dies ist es, was Luther sieht und in dürren Worten so festhält: Der Papst ist der Antichrist“ („Antichrist“ [s. o. Anm. 8], S. 83 f.).
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genau entsprechende Inhalt dieser Gewissheit ist, die im Menschen den Glauben weckt, durch den die Rechtfertigung zum daseinsbestimmenden Vertrauen wird.
2. Luthers Gewissheitsverständnis in der Interpretation von Herms Was aber bedeuten Herms’ Auffassung zufolge dabei die Begriffe „gewiss“ bzw. „Gewissheit“ für Luther? Aus dem Schlussteil des in Anm. 8 zitierten Textes geht zumindest andeutungsweise hervor, wie Herms den Gewissheitsbegriff Luthers versteht, nämlich im Sinne von etwas Bezwingendem, das „dem Gewissen keine Alternative“ lässt, zugleich aber die Befreiung darstellt, sich auf diese Gewissheit „handelnd einzulassen“12 Um möglichst genau zu verstehen, was Herms bzw. Luther in der Interpretation von Herms mit „Gewissheit“ meint, empfiehlt es sich jedoch, noch andere Erläuterungen zu diesem Begriff aus Herms’ Schrifttum mit heranzuziehen. Dabei zeigt sich zunächst, dass der Begriff „Gewissheit“ von Herms in der Regel nicht rein formal definiert oder abstrakt verwendet wird, sondern stets als ein – in mehrfacher Hinsicht – konkretisierter Begriff. Er lässt sich (ohne dass das bei Herms explizit so behauptet würde) durch vier Charakteristika bestimmen: Das erste Charakteristikum des Gewissheitsbegriffs besteht darin, dass „Gewissheit“ stets zu verstehen ist als „Selbstgewissheit“ und zwar als „fundamentale Selbstgewissheit“.13 Es geht bei der in Rede stehenden Gewissheit also um ein Bewusstsein, das dem menschlichen Subjekt (aufgrund seines Gegenstandes) nicht äußerlich bleiben oder sein kann, sondern es geht um dasjenige Bewusstsein, dessen Gegenstand das Sein des erkennenden Subjekts selbst ist. Insofern hat Gewissheit (auch die Gewissheit, in der und durch die das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes erschlossen ist) stets und notwendigerweise den Charakter von Selbstbewusstsein bzw. Selbstgewissheit.14 12 Durch ihren Inhalt erweist sich dieses Befreiung also zugleich als Verpflichtung. 13 So E. Herms, Luther und Freud (1987), in: ders. Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, S. 102 – 123, bes. 111 – 113 und Auslegung (s. o. Anm. 4), S. 82 f. 14 „Offenbar tritt … [sc. bei Luther] der Glaube genau an die Stelle, an der später bei Descartes … die cogitatio sui und die in ihr herrschende Gewissheit der
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Von da aus ergibt sich das zweite Charakteristikum: Gewissheit muss notwendigerweise als inhaltlich-bestimmte Gewissheit verstanden werden. Dabei handelt es sich schon insofern um eine Notwendigkeit, als ein inhaltlich völlig unbestimmte (Selbst-)Gewissheit eine (Selbst-)Gewissheit von nichts, also eine leere (Selbst-)Gewissheit, mithin gar keine (Selbst-)Gewissheit wäre. Über diese Trivialität hinaus muss aber Selbstgewissheit auch insofern als inhaltlich-bestimmt (und zwar in einer spezifischen Weise, also nicht beliebig inhaltlich-bestimmt) gedacht werden, als nur unter dieser Voraussetzung der mit Gewissheit jeweils notwendigerweise verbundene Anspruch 15 auf Wahrheit aufrecht erhalten werden kann. Welche inhaltliche Bestimmtheit ist dies? Es ist die dem Menschen (von Gott) gegebene Bestimmung, und d. h. für Herms: Es ist die Gewissheit, als freies Geschöpf unter der – heilvollen – Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes zu existieren.16 Von hier aus ergibt sich das dritte Charakteristikum des Gewissheitsbegriffs: die Bedeutung von Gewissheit für das Handeln des Menschen. „Die das Gewissen bezwingende … Gewissheit ist als solche Befreiung: nämlich dazu, sich auf sie handelnd einzulassen“.17 Um die Bedeutung der Gewissheit für das Handeln richtig zu verstehen, muss man sich zunächst bewusst machen, dass der Mensch als Wesen, das mit endlicher Freiheit begabt ist, notwendigerweise handelt, also stets handeln, d. h. aus einem Spielraum von gegebenen Möglichkeiten irgendeine für sich auswählen muss. 18 Auch das, was man umgangssprachlich als Untätigkeit oder Nichtstun bezeichnet, ist (weil zurechenbar gewählt) ein Handeln. Dementsprechend besteht die Pointe der handlungsorientierenden Bedeutung von Gewissheit nicht darin, dass Gewissheit über-
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eigenen Existenz des cogitators tritt [muss heißen: steht]. So wenig für Descartes in der cogitatio sui eine Täuschung über die Existenz und über die Wesensbeschaffenheit von deren Gegenstand herrschen kann, so wenig für Luther im Glauben.“ (Gewissheit [s. o. Anm. 4], S. 18). Aus diesem Anspruch resultiert natürlich nicht, dass er auch in jedem Fall erfüllt wäre. Davon wird noch zu sprechen sein (s. u. Abschn. 4). Hier geht es zunächst nur um die nicht zu bestreitende Einsicht, dass der Anspruch auf Gewissheit den Anspruch auf Wahrheit einschließt. Vgl. hierzu Herms’ Aufsatz Gewissheit (s. o. Anm. 4) im Ganzen. „Antichrist“ (s. o. Anm. 8), S. 96, Anm. 30. Zum Zusammenhang von Gewissheit und Handeln vgl. auch Herms, Handeln aus Gewissheit. Zu Martin Heideggers Phänomenologie des Gewissens, in: NZSTh 41/1999, S. 132 – 157, bes. S. 148 f. Vgl. dazu Herms, Vorwort, in: ders., Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991, S. IXff.
Luthers Gewissheitsverständnis in der Interpretation von Herms
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haupt erst zum Handeln befähigen oder motivieren würde. Das ist weder möglich noch nötig. Wohl aber befreit Gewissheit zu einem Handeln, das nicht blind, rein zufalls- oder umweltgesteuert erfolgt, sondern durch eigene Einsicht orientiert ist. Dabei bezieht sich die durch Gewissheit vermittelte Einsicht – streng genommen – auch auf die im zielstrebigen Handeln vorausgesetzte Ziel-Mittel-Relation, also auf die Wahl der für die Erreichung von Handlungszielen erforderlichen Mittel. Aber die grundlegende Bedeutung von Gewissheit für das Handeln kommt erst dort in den Blick, wo ihre orientierende Funktion für die – stets erforderliche – Klärung der Handlungsziele erfasst wird.19 Von hier aus wird auch einsichtig, warum die durch Gewissheit gegebene Handlungsorientierung angemessener mit dem Begriff „Befreiung“ als mit dem der „Verpflichtung“ beschrieben wird. Zwar schafft auch und gerade Gewissheit die innere Verpflichtung zu einem der Gewissheit entsprechenden Handeln, aber als innere Verpflichtung steht sie dem Handelnden nicht als auferlegte Forderung gegenber, sondern hat primär gewinnenden und deshalb auch befreienden, nämlich von Verblendung und Irrtum befreienden Charakter. Das vierte und letzte Charakteristikum des Gewissheitsbegriffs ist die Alternativlosigkeit, und d. h.: das Bezwingende von Gewissheit.20 Dabei muss sofort hinzugefügt werden: Es handelt sich um eine Alternativlosigkeit bzw. ein Bezwingendes für ein personales Subjekt. Damit unterscheidet sich die Alternativlosigkeit der Gewissheit z. B. von der naturgesetzlichen Alternativlosigkeit, mit der ein Gegenstand (unter den Bedingungen der Schwerkraft) zu Boden fällt. Das heißt aber auch: Es handelt sich um eine Alternativlosigkeit, die verleugnet oder bestritten und der im Handeln widersprochen werden kann – wenn auch nur um den Preis des Selbstwiderspruchs. Mit dem ausdrücklichen Rekurs auf die Personalität des Subjekts von Gewissheit taucht jedoch ein gravierendes Problem auf: die Möglichkeit des Zweifels. Dabei geht Herms davon aus, dass für Luther Gewissheit „jeden Zweifel ausschließt“, ja Herms 19 Im Blick auf sie spricht Herms von „zielwahl-orientierenden Gewissheiten“ bzw. von „ethisch orientierender Gewissheiten“ (so z. B. in Gesellschaft gestalten, S. 64 f., 119 f., 244 f., 351 f. u.o.). 20 Siehe oben bei Anm. 17: „Die das Gewissen bezwingende (dem Gewissen keine Alternative lassende) Gewissheit …“. Ähnlich in Gewissheit (s. o. Anm. 4), S. 18: „ … Gewissheit, die jeden Zweifel ausschließt.“ Den Begriff „Alternativenlosigkeit“ gebraucht Herms in seinem Aufsatz: Theologie und Politik, in. Gesellschaft gestalten, S. 120.
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geht so weit, sogar die Mçglichkeit des Zweifels auszuschließen.21 Gewissheit wäre demnach unbezweifelbar. Es wird im nächsten Abschnitt zu prüfen sein, unter welchen Bedingungen dieser Ausschluss der Möglichkeit des Zweifels behauptet und aufrecht erhalten werden kann. Worin besteht der Zusammenhang dieser vier Charakteristika von Gewissheit nach Herms’ Auffassung bei Luther? Er erschließt sich nur dadurch, dass Gewissheit in Beziehung gesetzt wird zu der Wahrheit, die Gott selbst ist. Die kühne These, mittels deren Herms (unter Nennung einer beeindruckenden Fülle von Luther-Stellen22) die vier genannten Charakteristika bei Luther miteinander verbunden und erfüllt sieht, lautet: Ein „Gegenstand“ könnte dann und nur dann „jenes Innesein von Wahrheit schaffen, das jeden möglichen Zweifel ausschließt, … wenn dieser Gegenstand identisch wäre mit der Wahrheit selbst: Und genau das ist Luthers These: Gott ist die Wahrheit selbst. Gott und Wahrheit sind für Luther identisch.“23 Die Kühnheit dieser These, von der Herms m. E. zu recht sagt, sie sei „in der evangelischen Theologie bisher weder klar erkannt noch richtig verstanden…, noch … bis heute einer kritischen Diskussion unterzogen“ worden24, wird erst dann sichtbar, wenn man erkennt, dass Herms dabei nicht einen existentiellen oder personalen Begriff von Wahrheit (etwa im Sinne von Joh 14, 6) voraussetzt, sondern den adäquanz- bzw. korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff der klassischen Philosophie: „Wahrheit“ als „Übereinstimmung zwischen dem Wissen von etwas dem Wissensvollzug gegenüber vorgegebenem Wirklichen und der vorgegebenen Eigenart dieses Wirklichen selbst“.25 Gott wäre demnach von Luther gedacht (bzw. bei Luther zu denken) als die sich selbst vergegenwärtigende Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Wissensvollzug und Wirklichem – freilich, sofern es sich um eine bzw. die gewissheitsbegründende Wahrheitsvergegenwärtigung handelt, nicht als irgendeine solche Übereinstimmung, sondern genau als diejenige, die die Bestim21 Gewissheit, S. 19: „Der Wahrheit als dieser Übereinstimmung ist der Glaube so inne, dass kein Zweifel mçglich ist. … Weiterhin soll aber nach Luther dieser einzigartige Gegenstand des Glaubens, der seine unbezweifelbare Gewissheit begründet, Gott sein. Kann auch dieser Gegenstand durch seine Selbstpräsentierung jenes Innesein von Wahrheit schaffen, das jeden mçglichen Zweifel ausschließt?“ (Hervorhebungen von W. H.). 22 A. a. O., S. 59, Anm. 6. 23 A. a. O., S. 59 f. 24 A. a. O., S. 58. 25 A. a. O., S. 59.
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mung des Menschen umfasst und darum den Charakter derjenigen alternativlosen Selbstgewissheit hat, die zu einem dieser Gewissheit entsprechenden Handeln befreit.26
3. Die Möglichkeit von (unbezweifelbarer) Gewissheit Durch die bisher in knappen Zügen dargestellte Herms’sche Rekonstruktion von Luthers reformatorischer Entdeckung, genauer gesagt: vom Zentrum der reformatorischen Theologie Martin Luthers, stellt sich die Sachfrage, ob es überhaupt etwas gebe – oder auch nur geben könne – das dem skizzierten Gewissheitsbegriff Luthers entspricht, ihn also erfüllt. Als Problempunkt erweist sich dabei das vierte Charakteristikum der Alternativlosigkeit, insbesondere in seiner pointierten Interpretation von Gewissheit als Unbezweifelbarkeit. Gibt es überhaupt etwas Unbezweifelbares? Kann es etwas Unbezweifelbares geben? Um diese Fragen mit Gründen beantworten zu können, gehe ich so vor, dass ich zunächst zu klären versuche, was mit „Zweifel“ sinnvollerweise gemeint sein kann. In einem möglichst weiten Sinn kann man Zweifel als Infragestellung von Gewissheit interpretieren. Der Fraglosigkeit der Gewissheit stünde dann der Zweifel als die Infragestellung der Gewissheit (sei es des Inhalts der Gewissheit, sei es des Modus als Gewissheit) gegenüber. In diesem Sinn des Wortes scheint es möglich zu sein, alles in Frage zu stellen. Den Beweis dafür kann man dadurch antreten, dass man es tut. Durch die generelle Ankündigung: „Ich stelle alles in Frage“, die dann allenfalls auf Rückfragen hin immer neu bestätigt werden muss, kann man also offenbar den Tatbeweis dafür führen, dass alles in Frage gestellt werden kann, mithin nichts unbezweifelbar ist. Die härteste Testfrage gegenüber einer solchen Behauptung oder Ankündigung würde vermutlich lauten: „Stellst Du auch in Frage, dass irgendetwas in Frage 26 In den Abschnitten 1 und 2 von Gewissheit nennt Herms das „Wesen Gottes – die sich selbst vergegenwärtigende Wahrheit zu sein – … [eine] Implikation der schöpferischen Allmacht Gottes“ (S. 60). Hieraus wird erkennbar, dass die Aussage von der Identität zwischen Gott und Wahrheit (s. o. bei Anm: 22) noch differenzierungsbedürftig und -fähig ist. Dass Gott als Heiliger Geist „die Wahrheit ist“, ist z. B. weniger ungewohnt als die These von der Identität Gottes und der Wahrheit. Andererseits sollte man sich hüten, durch trinitätstheologische Abschwächungen der kühnen These Herms’ bzw. Luthers die Spitze abzubrechen.
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gestellt werden kann?“ Mit dieser Frage wird nun die Mçglichkeit des Zweifels (im Sinne der Infragestellung von Gewissheit) und damit die Voraussetzung, von der der Zweifel selbst abhängt, in Frage gestellt. Würde der (fiktive) Zweifler diese eine Möglichkeit von seiner Infragestellung ausnehmen, um seine Position nicht als sinnlos, weil selbstwidersprüchlich erscheinen zu lassen, so hätte er bereits das entscheidende Zugeständnis gemacht, durch das er seine eigene Position falsifizieren würde: Die Möglichkeit des Zweifels könnte man demzufolge nicht bezweifeln (ohne sich in einen eklatanten Selbstwiderspruch zu verwickeln), also gibt es zumindest etwas Unbezweifelbares: die Möglichkeit des Zweifels selbst27. Aber muss der fiktive Zweifler dieses Zugeständnis machen? Könnte er nicht bei seiner Position beharren und sagen: „Ich stelle auch die Möglichkeit in Frage, dass irgend etwas in Frage gestellt werden kann“? Das könnte er in der Tat sagen. Aber würde er damit tatsächlich alles in Frage stellen, oder würde er damit nur sagen, dass er alles in Frage stellt? Diese Alternative lässt sich nur entscheiden durch einen Rekurs auf die Bedeutung von intersubjektiv gültigen Regeln (z. B. der Logik) für die Kommunikation. Denn das Problem, das sich hier stellt, besteht – wie gezeigt – darin, dass zumindest der Eindruck entsteht, dass der fiktive Zweifler, der bei seiner Position der Infragestellung von allem beharrt, sich in einen Selbstwiderspruch verwickelt, indem er die Möglichkeit dessen bestreitet, was er selbst tut. Es dürfte schwer fallen, irgendeine Logik oder ein anderes Regelsystem für Kommunikation zu benennen, nach der bzw. nach dem dies eine sinnvolle, verstehbare, nachvollziehbare gedankliche oder kommunikative Operation wäre. Unser fiktiver Zweifler wäre denn auch gut beraten, auf entsprechende Rückfragen hin kein Regelsystem zu nennen, das er für gültig halte, sondern sich auf die Aussage zurückzuziehen, er stelle auch jedes (mögliche) Regelsystem in Frage. Spätestens an dieser Stelle scheint es sich zu empfehlen, den Diskurs zu beenden, da der fiktive Zweifler sich mit dieser Position allem Anschein nach aus jeder regelorientierten Kommunikationsgemeinschaft verabschiedet hat. Diese Verabschiedung ergibt sich nicht bereits aus der Infragestellung einer bestimmten Logik (etwa der klassischen, 27 Das wäre nicht identisch mit der Position Descartes’ (s. u. Anm. 28). Denn bei ihm ist das „fundamentum inconcussum“ nicht die Mçglichkeit des Zweifels, sondern das Faktum des Zweifels. Es wird noch zu prüfen sein, welche dieser beiden Positionen erkenntnistheoretisch die stärkere ist.
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zweiwertigen) oder eines bestimmten Regelsystems für die Kommunikation. Sie ergibt sich allerdings dann, wenn kein solches Regelsystem als gültig benannt oder anerkannt wird, wobei die Anerkennung des Identitätsprinzips (AA) und des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ([A&A]) das (auf das Verständnis der geltenden Regeln selbst anzuwendende) Minimum darstellt, ohne das eine regelorientierte Kommunikation gar nicht möglich ist. Aber was folgt daraus? Ist damit nicht doch die Unbezweifelbarkeit jeder Gewissheit in Frage gestellt, die sich zumindest auf die Gültigkeit bestimmter Kommunikationsregeln stützen muss – selbst wenn es sich dabei um so elementare Regeln wie das Identitätsprinzip oder den Widerspruchssatz handelt? Wenn zugestanden werden muss, dass jedes System von Kommunikationsregeln in Frage gestellt werden kann, dann wird jede Gewissheit bezweifelbar, die sich auf irgendein System von Kommunikationsregeln stützt und stützen muss. Und es ist nicht schwer, den Grund dafür zu finden, warum das so ist: Die Reflexionen über die Gültigkeit irgendwelcher Kommunikationsregeln erfüllen nicht das erste der oben genannten Charakteristika des Gewissheitsbegriffs: Sie gehören nicht in den Bereich der Selbstgewissheit, sondern sind Reflexionsprodukte und können deswegen nicht die Fraglosigkeit haben, die für (Selbst-)Gewissheit charakteristisch ist. Gilt dasselbe auch im Blick auf die Unmöglichkeit der Infragestellung der Existenz eines denkenden, genauer: zweifelnden Subjekts unter der Bedingung real existierenden Denkens bzw. Zweifelns – wie Descartes28 sie aufgezeigt hat? In ihrer Grundform besagt Descartes‘ These: Wenn immer ich zweifle, kann ich doch nicht bezweifeln, dass ich (als ein zweifelndes Ding oder Etwas oder Subjekt) existiere. Gilt auch hierfür das oben über die Notwendigkeit der Anerkennung einer Logik bzw. eines gültigen Systems kommunikativer Regeln Gesagte? Oder handelt es sich bei Descartes gar nicht um eine Schlussfolgerung, die irgendwelchen Regeln folgte? 29 Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass sich das eine Schlussfolgerung indizierende „ergo“ („co28 Meditationes de prima philosophia (1641) (PhB 250a), Hamburg 19772, S. 42 ff. Die entscheidenden Formulierungen bei Descartes lauten: „…ego sum, ego existo, quoties a me profertur vel mente concipitur [hoc pronuntiatum], necessario esse verum“ sowie: „ego sum, ego existo, certum est. Quamdiu autem? nempe quamdiu cogito“ ferner: „Sum autem res vera et vere existens, sed qualis res? dixi, cogitans.“ 29 Genauer gefragt: Handelt es sich um ein Enthymem, bei dem der Obersatz zu ergänzen wäre: „Alles, was zweifelt bzw. denkt, existiert“?
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gito, ergo sum“) zwar reichlich in der Descartes-Interpretation aber nicht in Descartes‘ Meditationes selbst findet. Das ist schwerlich ein Zufall. Descartes versteht das „ego cogito, ego sum“ offenbar gerade nicht als eine (regelgestützte) Folgerung, sondern als eine intuitive Gewissheit im Sinne einer unbezweifelbaren Selbstwahrnehmung. Damit ist sein Gewissheitsverständnis zumindest insoweit formal kompatibel mit dem von Herms analysierten reformatorischen Gewissheitsverständnis.30 Ist auch eine so verstandene Gewissheit abhängig von einem System kommunikativer Regeln? Zur Klärung dieser Frage ist eine Differenzierung nötig: Sofern sich die Gewissheit auf einen vom Akt der Selbstwahrnehmung zu unterscheidenden Inhalt bezieht31, ist eine Differenz zwischen der Gewissheit der Selbstwahrnehmung und der Wahrheit des in ihr Wahrgenommenen stets denkbar. Der fraglose Übergang vom einen zum anderen ist daher unzulässig. Bezieht sich die Gewissheit jedoch ausschließlich auf den Akt der Selbstwahrnehmung und ist nichts anderes als er der Inhalt, im Blick auf den Gewissheit in Anspruch genommen oder behauptet wird, dann ist diese Gewissheit unbezweifelbar – allerdings nur im Akt der Selbstwahrnehmung. Schon einen Augenblick später oder aus einer anderen Perspektive kann ich mich mit gutem Grund fragen, ob mich meine Erinnerung nicht täuscht, indem sie mir vorspiegelt, eine solche Selbstwahrnehmung gehabt zu haben. Aber im Akt der Selbstwahrnehmung ist eine solche (Selbst-)Täuschung nicht möglich.32 Der Akt der Selbstwahrnehmung ist für sich schlechthin gewiss und unbezweifelbar gewiss. Aber was ist damit gewonnen? Es scheint: so gut wie nichts. Denn weder gilt die Gewissheit für einen vom Akt der Selbstwahrnehmung verschiedenen Inhalt, noch gilt sie außerhalb des Aktes der Selbst30 Siehe oben Abschn. 2. 31 Beispiele hierfür sind: Ich habe den Eindruck, dass der Zug, in dem ich sitze, fährt. Oder: Ich höre, dass mein Name gerufen wird. In beiden Fällen ist eine Täuschung möglich: Tatsächlich steht der Zug, in dem ich sitze, und der Zug auf dem Nebengeleis fährt. Oder im zweiten Fall wurde ein anderer, ähnlich klingender Name gerufen. Aber es bleibt in beiden Fällen richtig, dass ich diese Selbstwahrnehmung hatte oder habe. Von ihr kann auch ganz zu recht Gewissheit behauptet werden. Problematisch ist indes die Schlussfolgerung von der Gewissheit der Selbstwahrnehmung auf die Wahrheit des Wahrgenommenen. 32 Liest man die oben Anm. 28 zitierten Aussagen Descartes’ sorgfältig, so zeigt sich, dass auch er offenbar genau dieses Phänomen der auf den Akt der Selbstwahrnehmung bezogenen Selbstgewissheit im Blick hat.
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wahrnehmung. Sie scheint sich dem oben33 kritisch apostrophierten Phänomen einer leeren (Selbst-)Gewissheit, die keinen Inhalt hat, bedenklich anzunähern. Dieser Schein trügt jedoch aus mindestens zwei Gründen: – Zunächst ist festzuhalten, dass diese Gewissheit nicht inhaltsleer ist, sondern dass sich die Bezweifelbarkeit lediglich auf einen vom Akt der Selbstwahrnehmung unterschiedenen Inhalt bezieht. Das Entscheidende hieran (im Blick auf die Gewissheitsthematik) ist, dass der Akt der Selbstwahrnehmung selbst der Inhalt ist, von dem Unbezweifelbarkeit ausgesagt werden kann und muss. Da dieser Akt selbst nicht nichts ist, ist die darauf bezogene Gewissheit (als Selbstgewissheit) auch keineswegs inhaltsleer. Vielmehr besteht dieser Inhalt zumindest in drei präzise benennbaren Elementen: in der Selbstbezglichkeit 34 der Selbstwahrnehmung und damit in deren Erschlossensein, im Widerfahrnischarakter 35 der Selbstwahrnehmung und damit in deren Gegebensein; sowie schließlich in der Alternativlosigkeit der Selbstwahrnehmung und damit in deren Unbezweifelbarkeit. – Sodann erweist es sich als irrig, aus der Begrenzung auf den Akt der Selbstwahrnehmung auf die Bedeutungslosigkeit (im Sinne der Extensionslosigkeit) der mit der Selbstwahrnehmung gegebenen Gewissheit zu schließen. Vielmehr gilt umgekehrt: Der Akt der Selbstwahrnehmung ist kein isoliertes, punktuelles Ereignis, sondern er ist ein Element im kontinuierlichen Prozess der Selbstwahrnehmung. Es ist ja nicht so, dass lediglich je und dann solche Akte sich ereigneten, um alsbald zu enden, vielmehr ist Selbstwahrnehmung die permanente Weise nicht nur des Selbstbezugs, sondern des Wirklichkeitsbezugs berhaupt. Anders als vermittelt durch Selbstwahrnehmung wird uns gar nichts zugänglich. Positiv gesagt: Alles wird uns permanent durch das Medium und im Medium der Selbstwahrnehmung zugänglich. Diese Tatsache wird vermutlich gerade deswegen leicht übersehen, weil sie allgegenwrtig ist. Von daher erweist sich die mit der Selbstwahrnehmung verbundene Gewissheit als das ständig präsente (was nicht heißen muss: ständig
33 S. o. S. 74. 34 Auch dies gilt per definitionem, wobei hinzuzufügen ist, dass die Selbstbezüglichkeit nicht notwendigerweise den Charakter des Selbstbewusstseins hat, sondern ebenso als Selbsterfahrung gedacht werden kann. 35 Selbstwahrnehmung wird einem Subjekt – per definitionem – zuteil, sie gehört nicht zu dem, worüber ein Subjekt verfügen könnte, sondern was die Voraussetzung alles seines Verfügens ist.
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bewusste) Vorzeichen aller menschlichen Daseinsvollzüge und -äußerungen. Macht man sich beides klar, dann verschwindet der Eindruck, es handle sich um eine leere Gewissheit. Dann erscheint zudem nicht mehr das Phänomen der Gewissheit als das Rätselhafte und Erklärungsbedürftige, sondern viel eher das des Zweifels und der Ungewissheit. Wie können diese überhaupt zustande kommen, wo doch die mit der Selbstwahrnehmung gegebene Gewissheit stets als Vorzeichen der Wirklichkeitswahrnehmung gegeben ist? Ich halte auf diese Frage zwei Antworten für möglich: Zweifel und Ungewissheit können selbst als Gewissheiten verstanden werden, und zwar als Gewissheiten von der Möglichkeit des Irrtums oder der Tuschung im Blick auf bestimmte (vom Akt der Selbstwahrnehmung unterschiedene) Inhalte der Selbstwahrnehmung; oder: Zweifel und Ungewissheit erklären sich dadurch, dass die Unbezweifelbarkeit der Selbstwahrnehmung sich nur auf sie selbst in actu bezieht, nicht aber auf den von ihr zu unterscheidenden Inhalt oder auf sie als erinnertes Faktum. Mein Eindruck ist, dass beide Antworten faktisch denselben Sachverhalt von zwei Seiten aus beschreiben: von der Möglichkeit des Irrtums her, die der Begrenztheit der Gewissheit korrespondiert bzw. von der Begrenztheit der Gewissheit her, der die Möglichkeit des Irrtums korrespondiert. Insofern muss man zwischen diesen beiden Antworten nicht wählen, sondern kann sie unschwer miteinander verbinden. Alles bisher Gesagte gilt von dem strengen, anspruchsvollen Begriff „Gewissheit“ im Sinne von „Unbezweifelbarkeit“, den Herms bei Luther meint konstatieren zu müssen. Auch und gerade im Blick auf diesen strengen Begriff von „Gewissheit“ scheint mir jedoch folgende Differenzierung erforderlich zu sein: Der Charakter der Gewissheit als Unbezweifelbarkeit ist nicht selbst Inhalt und Bestandteil der Gewissheit, sondern wird ihr aufgrund einer reflektierenden Analyse (und darum selbst im Modus der Bezweifelbarkeit) von außerhalb ihrer selbst zugesprochen. Die Einbeziehung modaler Kategorien (wie „notwendig“ oder „unmöglich“) in die Interpretation von Gewissheit scheint sich zwar nahezulegen oder gar aufzudrängen, wenn man „Gewissheit“ nicht unterbestimmen will als bloße Abwesenheit von Zweifel oder von Alternativen, während der Gewissheitsbegriffs es zu erfordern scheint, dass die notwendige Abwesenheit von Zweifel bzw. die Unmçglichkeit oder Undenkbarkeit von Alternativen behauptet wird. Hierfür scheint auch die Tatsache zu sprechen, dass die bloße Mçglichkeit, es könnte
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anders sein, offenbar bereits eine Einbuße an Gewissheit darstellt. Aber dieser Schein trügt. Um dies argumentativ zu untermauern, ist es notwendig, auf die Situation und damit auf das Subjekt zu rekurrieren, dem etwas gewiss ist und das darum berechtigterweise die Aussage machen kann: „Dies ist mir gewiss“. Besagt diese Aussage lediglich: „Es gibt für mich keinen Zweifel und keine Alternative“, oder besagt sie: „Es kann für mich keinen Zweifel und keine Alternative geben“? Nur scheinbar gibt die zweite Aussage einen höheren Grad an Gewissheit und damit eine präzisere Erfassung dessen wieder, was „Gewissheit“ meint. Bezogen auf den Inhalt der Gewissheit, also auf das, was gewiss ist, setzt die Modalaussage („Es kann …“) eine Distanz voraus, die mit der Unmittelbarkeit von Gewissheit gerade nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres vereinbar ist. Wer sagt: „Es kann für mich keinen Zweifel und keine Alternative geben“ und damit mehr oder etwas anderes meint als: „Es gibt für mich keinen Zweifel und keine Alternative“, der äußert sich nicht über den Inhalt der Gewissheit, sondern über die Mçglichkeit(sbedingungen) von Infragestellungen der Gewissheit, also von Zweifeln und Alternativen. Damit ist aber die Situation unmittelbarer Selbstwahrnehmung verlassen, die für Gewissheit charakteristisch, ja unverzichtbar ist. Man könnte dagegen einwenden, dass zwar diese Situation verlassen sei, aber nur zugunsten einer anderen, die sich auf die Unmçglichkeit von Zweifel und Alternativen bezieht. Aber gerade das ist m. E. in Frage zu stellen, weil Modalkategorien keine möglichen Inhalte von Selbstwahrnehmung, sondern (auf sie bezogene) Reflexionsprodukte sind. Aber selbst wenn man diese Möglichkeit eines im Modus der Selbstwahrnehmung gegebenen Inneseins von Modalkategorien behauptete, bliebe doch das Faktum, dass sich Gewissheit dann auf etwas anderes bezöge, nämlich nicht auf den ursprünglich angesprochenen Inhalt, sondern auf dessen Notwendigkeit oder Mçglichkeit – und das ist etwas kategorial anderes. Soll eine Gewissheitstheorie daher nicht auf den Akt der Selbstwahrnehmung und das in ihm unmittelbar Gegebene begrenzt werden, so empfiehlt es sich, den Gewissheitsbegriff nicht mit der Modalaussage der Unbezweifelbarkeit zu belasten und so zu verengen, sondern im weiteren Sinne als faktisch gegebene Alternativlosigkeit zu verstehen. In diesem Sinne kann einem Menschen unvergleichlich viel mehr gewiss sein als im Sinne der Unbezweifelbarkeit. Dieser modallogisch nicht eingeschränkte Begriff hat zudem zwei große Vorteile: Er entspricht einerseits – wie gezeigt – genau der Situation, in der sich Gewissheit
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einstellen kann, und damit dem Inhalt, auf den sie sich beziehen kann; andererseits ist dieser Gewissheitsbegriff offen und anschlussfähig für die Wahrheitsfrage, die mit der Gewissheitsfrage nicht identisch und die mit der Konstatierung von Gewissheit noch nicht beantwortet ist.
4. Das Verhältnis von Gewissheit und Wahrheit Von dem Verhältnis zwischen Gewissheit und Wahrheit war bereits an mehreren Stellen andeutungsweise die Rede, so z. B. in der These, die Behauptung von Gewissheit impliziere den Anspruch auf Wahrheit, aber von der Gewissheit der Selbstwahrnehmung könne nicht auf die Wahrheit des Wahrgenommenen geschlossen werden.36 In diesen beiden konträren (oder jedenfalls konträr wirkenden) Thesen verbirgt sich ein Problem, auf das wir am Ende des vorigen Abschnitts erneut gestoßen sind und das nun in den Blick gefasst werden soll. Dieses Problem lässt sich auch aufzeigen anhand der Luther-Analyse von Herms, die zur Behauptung der Einheit von Wahrheit und Gewissheit hinsichtlich des Glaubens führt.37 Genau besehen handelt es sich in diesen verschiedenen Aussagen sogar um zwei Probleme: einerseits um die Zulässigkeit des Schlusses von der Gewissheit auf die Wahrheit, andererseits um die Frage, ob im Blick auf Gewissheit und Wahrheit die gleichen oder unterschiedliche Konstitutions- und Erkenntnisbedingungen bestehen. Da die Beantwortung der letzteren Frage Voraussetzung für die Klärung der erstgenannten ist, beginne ich mit ihr. „Gewissheit“ ist ein erkenntnispsychologischer Begriff, „Wahrheit“ ist hingegen ein erkenntnistheoretischer Begriff. Insofern sind „Gewissheit“ und „Wahrheit“ grundsätzlich unterschieden und zu unterscheiden. „Gewissheit“ und „Wahrheit“ sind jedoch beide Relationsbegriffe, die 36 S. o. bei und in Anm. 15. 37 Nach Herms gilt für Luther: „,… fidei est, non falli‘, (,… das Wesen des Glaubens besteht darin, nicht getäuscht zu werden‘). Dass es das Wesen des Glaubens ist, nicht getäuscht zu werden, heißt: im Glauben kann keine Täuschung vorkommen. … Den Infallibilitätscharakter des Glaubens sieht Luther … im Gegenstand des Glaubens begründet. Dabei hat das Bestimmtsein des Glaubens durch diesen seinen Gegenstand zu infallibler Gewissheit wiederum seinen Grund in der wesentlichen Eigenart dieses Gegenstandes, nämlich in der wesentlichen Eigenart Gottes. Diese Eigenart besteht darin, die sich durch sich selbst dem Glauben vergegenwärtigende, sich ihm zum Gegenstand machende Wahrheit selbst zu sein.“ (Gewissheit [s. o. Anm. 4], S. 17 und 19 f.).
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etwas bezeichnen, was dem Erkennen (und dem darauf basierenden Handeln) Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit verleiht. Während für „Gewissheit“ jedoch der Ausschluss einer bestimmten Beziehung charakteristisch ist: ihre Alternativlosigkeit für ein Subjekt, ist für „Wahrheit“ die Behauptung einer positiven Beziehung (der Übereinstimmung, Korrespondenz oder vorsichtiger und dynamischer formuliert: der Konvergenz38) wesentlich. Aber in welcher Beziehung stehen die beiden Begriffe bzw. die durch sie bezeichneten Größen zueinander? Zwischen Gewissheit und Wahrheit bestehen Beziehungen, die sich einander jeweils paarweise zuordnen lassen: – Aus der Gewissheit, dass etwas wahr ist, folgt nicht, dass es tatsächlich wahr ist.39 – Aus der Wahrheit von etwas folgt nicht, dass es auch gewiss ist. – Gewissheit schließt die Überzeugung vom Wahrsein dessen ein, was gewiss ist.40 – Wahrheit wird dadurch erkannt, dass Wahrheitsgewissheit entsteht.41 – Im Erkennen erschließt sich die Wahrheit nur durch Gewissheit, diese geht also logisch voran. – Im erkannten Sein wird Gewissheit erst durch Wahrheit gestiftet, diese geht also logisch voran. Zwischen Gewissheit und Wahrheit besteht demzufolge ein mehrfach-asymmetrischer Zusammenhang, in dem beide Größen auf-
38 Siehe dazu F. Miege, Wahrheit als Konvergenz, in: W. Härle (Hg.) Im Kontinuum, Marburg 1999, S. 35 – 59. 39 Vgl. dazu L. Wittgenstein, Über Gewissheit, Frankfurt/Main 1970, S. 56 (=Nr. 194): „Mit dem Wort ,gewiss‘ drücken wir die völlige Überzeugung, die Abwesenheit jedes Zweifels aus, und wir suchen damit den Andern zu überzeugen. Das ist subjektive Gewissheit. – Wann aber ist etwas objektiv gewiss? – Wenn ein Irrtum nicht möglich ist. Aber was für eine Möglichkeit ist das? Muss der Irrtum nicht logisch ausgeschlossen sein?“ Mit dem Terminus „objektive Gewissheit“ operiert auch Herms (noch) in dem Aufsatz „Offenbarung und Erfahrung“ (1987), in ders., Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, S. 246 – 272, bes. S. 249 ff. 40 Bei Herms kurz und präzise benannt mit der Formel: „Der formale Charakter von Gewissheit (als Wahrheitsbewusstsein)“ so in: Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung, in: ders., Gesellschaft gestalten (s. o. Anm. 18), S. 63. 41 Dem Satz Wittgensteins: „Ich weiß = Es ist mir als gewiss bekannt“ (Über Gewissheit [s. o. Anm. 39], S. 73 [=Nr. 272]) würde ich den Satz entgegenstellen: „Ich weiß = Es ist mir als wahr gewiss“.
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einander bezogen sind, sich (intentional) wechselseitig voraussetzen, aber nicht auseinander abgeleitet werden können. Nun sahen wir aber oben, dass unter spezifischen Bedingungen, nämlich für den Fall der Selbstwahrnehmung als solcher durchaus von der Gewissheit auf die Wahrheit geschlossen werden kann, weil und sofern die Gewissheit sich nicht auf einen von der Selbstwahrnehmung zu unterscheidenden oder unterscheidbaren Inhalt, sondern auf diese selbst als ihren Inhalt bezieht. Über diesen stets gegebenen und mit zu denkenden Sachverhalt hinaus bzw. durch ihn hindurch bezieht sich Gewissheit aber auch auf Inhalte, die von der Selbstwahrnehmung zu unterscheiden sind. In diesem Fall besteht jedoch stets das Risiko der (Selbst-)Täuschung. Dieses Risiko ist deshalb unvermeidlich gegeben, weil das Urteil hinsichtlich der Übereinstimmung von Erkenntnis und Wirklichkeit sich (mit Letzterem) auf etwas bezieht, was nicht als Selbstwahrnehmung oder in der Weise der Selbstwahrnehmung gegeben, sondern nur durch Erinnerung oder Erwartung zugänglich ist42, damit aber der Gefahr der Täuschung unterliegt. Die Gewissheit, die sich auf einen vom Akt der Selbstwahrnehmung unterschiedenen Inhalt bezieht, ist deshalb unweigerlich begleitet von der Mçglichkeit des Zweifels. Von daher erscheint nun aber die von Herms als solche herausgestellte Zentralthese Luthers „fidei est, non falli“43 als problematisch, es sei denn die fides bezöge sich ausschließlich auf den Akt der Selbstwahrnehmung als solchen. Das tut sie zwar insofern, als jeder Aspekt, der in der Gewissheit erschlossen ist, den Charakter der Selbstgewissheit hat. Aber in entscheidender Hinsicht, nämlich beim Umschlag von der Unheils- in die Heilsgewissheit, die zugleich „das Umschlagen der äußeren Klarheit des Schrift- und Verkündigungswortes zur inneren Klarheit“44 ist, kommt mit dem „Evangelium“ die Instanz zur Sprache, die „das Wirken der schöpferischen Wahrheit als Realisierung des schöpferischen Gemeinschafts-, Versöhnungs- und Vollendungswillen(s)“45 bezeugt, der als solcher mit dem rein formalen Gegebensein der geschöpflichen Selbstgewissheit noch nicht gegeben ist. 42 Das hat Herms zufolge offenbar auch Luther so gesehen, ohne deswegen freilich die Möglichkeit unbezweifelbarer Gewissheit hinsichtlich der Wahrheitserkenntnis in Frage zu stellen. Siehe dazu Gewissheit (s. o. Anm. 4), S. 18 f. 43 S. o. Anm. 37. Der zitierte Satz findet sich in De servo arbitrio WA 18, 652,7/ LDStA 1, 322,10. 44 Gewissheit (s. o. Anm. 4), S. 36. 45 Ebd.
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Kann der Glaube tatsächlich nicht getäuscht werden? Wie erklärt es sich dann, dass es enttäuschten Glauben, Irrglauben, Aberglauben gibt? Nun kann man sich hier allem Anschein nach damit helfen, dass man sagt, schon die Begriffe „Irrglaube“ oder „Aberglaube“ zeigten, dass es sich dabei eben nicht um (echten, richtigen) Glauben handle, und ähnlich sei es mit dem enttäuschten Glauben, an dem das enttäuscht werde, was an ihm mit wahrem Glauben nicht zusammenstimme. Um dies zu verdeutlichen, müsste man aber sagen: Keineswegs für alles, was sich als fides versteht oder was sich „fides“ nennt, gilt der Satz Luthers: „fidei est, non falli“, sondern nur für die fides vera, die fides Christiana. Was aber sind deren Kennzeichen? Wodurch unterscheidet sie sich von anderen Formen einer fides, für die dies nicht gilt? Die naheliegende Antwort: dadurch, dass sie nicht getäuscht wird, würde zeigen, dass wir es hier offenbar mit einer zirkulren Argumentation zu tun haben. Lässt sich diese naheliegende Antwort vermeiden? Ja, offenbar dann, wenn man mit Luther (und mit Herms) von der Erkenntnis ausgeht: „Deus est veritas“46, und zwar die sich dem Menschen selbst erschließende und so in ihm Gewissheit schaffende Wahrheit. Wird durch diese Gewissheit Glaube geweckt, der sich auf diese Gewissheit schaffende Wahrheit als seinen Gegenstand bezieht, so gilt: Glaube, jedenfalls dieser Glaube kann nicht getäuscht werden, weil er auf die Wahrheit selbst gegründet ist. Ich bestreite nicht, dass es theologisch legitim ist, so zu argumentieren, aber es ist außerordentlich voraussetzungsreich; denn die Erkenntnis des Wesens Gottes als Wahrheit, die sich doch nur durch die Schaffung von Gewissheit erschließen und einstellen kann, ist in dieser Argumentation immer schon vorausgesetzt. Das heißt aber: Man würde den Sinn dieser Argumentation völlig verkennen, schlösse man aus dem Einstieg bei der (Selbst-)Gewissheit, dass aus ihr die Erkenntnis Gottes als Wahrheit abgeleitet würde oder abgeleitet werden könnte. Tatsächlich zeigt die Tiefenstruktur der Argumentation, die nicht dem Aufbau, sondern den inhaltlichen Aussagen der Herms’schen Analyse von De servo arbitrio zu entnehmen ist, dass nicht die Aussagen über das Wesen Gottes aus dem Phänomen der Gewissheit abgeleitet werden, sondern dass die Leitfrage lautet: Unter welchen Bedingungen lassen sich die Aussagen über die Untrüglichkeit der Glaubensgewissheit nachvollziehen bzw. als stimmig rekonstruieren? Und diese – dabei vorausgesetzten – Bedingungen werden in den Aussagen über Gott und Gottes Selbsterschließung als die Wahrheit expliziert. Die Argumenta46 S. o. Anm. 22 und 23.
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tion setzt also tatsächlich bei der Gewissheit an, aber leitet aus ihr nicht die Wesensaussagen über Gott ab, sondern deckt diese als in ihr notwendigerweise vorausgesetzt auf. Mit dieser Argumentation wird zweierlei ernstgenommen und zur Geltung gebracht: einerseits die Tatsache, dass wir, wenn es um Glaubensaussagen geht, legitimerweise gar nirgends anders ansetzen können als bei dem, was uns gewiss geworden ist; andererseits die Erkenntnis, dass diese Gewissheit ihrerseits von Voraussetzungen herkommt und lebt, die sie nicht selbst produzieren, sondern nur als gegeben hinnehmen und zur Sprache bringen kann. Das damit gewählte abduktive Argumentationsverfahren47 erweist sich sowohl der Deduktion als auch der Induktion gegenüber nicht nur als überlegen, sondern als alleine sachgemäß. Wird es jedoch nicht als solches erkannt, so droht entweder das Missverständnis eines (deontologisch-)deduktiven Beweises der Gewissheit aus der Wahrheit oder das Missverständnis eines (ontologisch-)induktiven Beweises der Wahrheit aus der Gewissheit.
5. Das Befreiende an der Gewissheit des Glaubens Von dem befreienden, weil orientierenden Charakter der Gewissheit des Glaubens war bereits kurz die Rede.48 Das soll hier abschließend aufgegriffen und im Blick auf drei unterschiedliche Aspekte noch etwas weitergeführt werden.49
a) Die phänomenologische Ausrichtung theologischer Arbeit In einem Aufsatz aus dem Jahr 199450 hat Herms sein Verständnis von Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens dargestellt, wobei er gleich zu Beginn darauf hinweist, dass er dies nicht im Sinne 47 Vgl. dazu Art. „Abduktion“ in: HWBPh Bd. 1/1971, Sp. 3 f. sowie W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York (1995) 20073, S. 7 f. 48 S. o. S. 73 und 76. 49 Auch hierbei befinde ich mich im Gespräch mit Herms und nehme Anregungen aus seinen Texten auf. 50 „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens“, in: MJTh VI, S. 69 – 99. In Anm. 1 dieses Aufsatzes nennt Herms die Belegstellen, an denen er bereits in früheren Arbeiten die Titelformulierung des Aufsatzes (in programmatischer Absicht) gebraucht hatte.
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eines positionellen theologischen Programms (neben anderen) verstanden wissen will, sondern dass ihm „dieses Verständnis von Theologie alternativlos zu sein scheint.“51 Damit ergibt sich zunächst die interessante Nebenpointe, dass von Herms für dieses Theologieverständnis selbst Alternativlosigkeit, also (unbezweifelbare) Gewissheit in Anspruch genommen wird. Das ist so, weil dieses Theologieverständnis nichts anderes zur Geltung bringen will als das bei aller theologischen Arbeit stets und notwendigerweise vorausgesetzten Wahrheitsbewusstsein, auf das sich der christliche Glaube gründet und bezieht. Mit der Programmformel „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens“ wird also nichts anderes (nicht mehr, aber auch nicht weniger) zur Geltung gebracht als die konstitutive Bedeutung von Gewissheit (als Wahrheitsbewusstsein) für die Theologie. Inwiefern hat dies befreienden Charakter? 52 Mir scheint das befreiende Potential dieses Theologiekonzepts und damit die befreiende Wirkung der Orientierung an Gewissheit vor allem in zweierlei Hinsicht erkennbar zu werden: - Ist es die Aufgabe der Theologie, sich an dem Wahrheitsbewusstsein (und mithin an der Gewissheit) hinsichtlich des christlichen Glaubens auszurichten, dann befreit dies die Theologie in denkbar stärkstem Maße von der Fixierung auf Autoritäten, die (dem oder der oder den) Gläubigen vorgeben könnten, was er oder sie zu glauben und zu lehren haben. Kann und darf theologisch nichts gelehrt werden als das, was als wahr erkannt und gewiss geworden ist, dann ist für die Wahrhaftigkeit und für die Wissenschaftlichkeit der Theologie bestens gesorgt. Dies darf freilich nicht so missverstanden werden, als werde damit der Bezug auf vorgegebene Texte, Lehren und Theoriebildungen unwichtig oder entbehrlich. Diese sind vielmehr Teil des verbum externum, an dem Wahrheitsgewissheit sich erst bilden kann, und als solches sind sie die unverzichtbaren Zeichengestalten, durch die der Inhalt des christlichen Glaubens zum Gegenstand innerer Klarheit werden kann. Die Frage nach dem Zustandekommen und der Gegebenheitsweise des christlichen Wahrheitsbewusstseins tritt also nicht an die Stelle der Frage nach dem Inhalt dieses Wahrheitsbewusstseins, sondern konkretisiert und vertieft sie in bestimmter, und zwar entscheidender Hinsicht. Das Befreiende 51 A. a. O., S. 69. 52 Allein um diese Frage geht es hier. Dass es im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich ist, das dabei vorausgesetzte Konzept von Theologie darzustellen, zu analysieren und kritisch zu würdigen, versteht sich von selbst.
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der Orientierung an Gewissheit besteht also nicht in dem Irrglauben, den Inhalt des christlichen Glaubens aus der eigenen Selbstgewissheit erzeugen zu können, sondern in der Erkenntnis, dass das (überlieferte) Evangelium als verstandene und als wahr erkannte Botschaft und Lehre bezeugt werden will53. - Ist es die Aufgabe der Theologie, sich an dem Wahrheitsbewusstsein (und mithin an der Gewissheit) hinsichtlich des christlichen Glaubens auszurichten, dann befreit dies die Theologie in denkbar stärkstem Maß von der Fixierung auf die Machtfrage in der theologischen und kirchlichen Kommunikation. Dies gilt freilich nur unter der Bedingung, dass die Jemeinigkeit des Wahrheitsbewusstseins fraglos anerkannt wird und damit der Verzicht auf jeden Versuch des Eingreifens in ein fremdes Gewissen unterbleibt. Dies sind jedoch Implikationen des Gewissheitsund des Gewissensverständnisses, wie sie bereits in der paulinischen54 und reformatorischen55 Theologie, grundsätzlich aber auch in der scholastischen56 Theologie erkannt und anerkannt worden sind. Gegen gruppendynamische Rangeleien um Einfluss und Anerkennung, wie sie auch in Theologie und Kirche an der Tagesordnung sind, hilft vermutlich nichts so wirksam wie die Ausrichtung auf sachorientierte theologische Arbeit, die sich ausschließlich durch die Wahrheitsfrage motivieren und disziplinieren lässt. Das ist wirksame Befreiung.
53 Der gute, unverzichtbare Sinn der leicht frömmlerisch klingenden Worte „Bezeugung“, „Zeugnis“ und „bezeugen“ liegt gerade in diesem Verweis auf das (öffentliche) Eintreten für etwas, von dem man aus eigener Einsicht weiß, dass es wahr ist. 54 Siehe insbesondere Röm 14,4; 1 Kor 4,1 – 5, 8,7 – 13, 10,23 – 11,1. Vgl. zum Thema insbesondere H.-J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, Tübingen 1983, S. 137 – 300. 55 Klassische Belege hierfür sind einerseits Luthers Rede auf dem Reichstag zu Worms (WA 7, 832 – 838) sowie der Anfang der ersten Invokavit-Predigt (WA 10/3, 1,15 – 2,18). 56 Das gilt jedenfalls für die prominenteste scholastische Gewissenstheorie: die des Thomas von Aquino (s. STh I q 79, a 13 sowie II,1 q 19 a 5 u. 6).
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b) Die Einbeziehung der Gewissheitsthematik in das ökumenische Gespräch Spätestens seit seiner Auseinandersetzung mit dem sog. Rahner-FriesPlan57 hat Herms unermüdlich darauf hingewiesen, dass alle ökumenischen Lehrgespräche über (kontroverse) Einzelthemen solange ohne Aussicht auf wirkliche Klärung bleiben, als nicht die Konstruktionsprinzipien mit einbezogen werden, die für die Gültigkeit der Lehre in den jeweils an den Gesprächen beteiligten Kirchen vorauszusetzen sind. Dieser Hinweis, der bisher in den offiziellen ökumenischen Gesprächen zwischen den Kirchen kaum Beachtung gefunden hat,58 ist aus zwei Gründen wichtig: Einerseits verweist er auf die jeweils vorauszusetzende ökumenische Konzeption und Programmatik, die nur ein Spezialfall der in einer Kirche geltenden Grundsätze für die Formulierung und Entwicklung kirchlicher Lehre sein kann. Die römisch-katholische Kirche hat ihre diesbezügliche Konzeption und Programmatik in großer Klarheit und Deutlichkeit auf dem II Vatikanischen Konzil formuliert59. Die reformatorischen Kirchen haben dem zwar mit der Leuenberger Konkordie ein alternatives Modell entgegenzusetzen, aber (noch) nicht eine vergleichbare Konzeption und Programmatik, die diesem Modell erst entnommen und innerhalb der reformatorischen Kirchen einvernehmlich formuliert werden müsste. Auch hierzu liegen freilich seit geraumer Zeit Vorschläge von Herms vor60, die sich an die hier dargestellte und analysierte Position zur Gewissheitsfrage bündig an57 H. Fries/K. Rahner, Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit (QD 100) 1983 (zahlreiche Neuauflagen). E. Herms, Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen, Göttingen 1984; ders., Ökumene im Zeichen der Glaubensfreiheit. Bedenken anläßlich des Buches von H. Fries/K. Rahner „Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit“ (1984), jetzt in: ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft, Marburg 1989, S. 1 – 26 sowie ders., Nachwort. Zur Kritik an „Die Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen“ ebd., S. 267 – 291. 58 Siehe jedoch neuerdings für die ökumenische Fundamentalttheologie: E. Herms/L. Zˇak, Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008. 59 Insbesondere in dem Dekret über den Ökumenismus: Unitatis redintegratio vom 21. 11. 1964 (s. LThK2 Bd. 13, 1967, S. 9 – 126). 60 Siehe z. B. Lehrkonsens und Kirchengemeinschaft, in: J. Brosseder (Hg.), Von der Verwerfung zur Versöhnung, Neukirchen 1996, S. 81 – 110.
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schließen. Das kann schwerlich anders sein, soll nicht das ökumenische Gespräch anderen Regeln und Grundsätzen folgen, als sie für die Entstehung und Erhaltung des christlichen Glaubens selbst gelten. Denn das hieße ja, dass das ökumenische Gespräch den Gegenstand und Inhalt aus dem Blick verloren hätte, der das Wesen des Christseins und darum auch der christlichen Kirche ausmacht. Das kann niemand wollen, und das will wohl auch grundsätzlich niemand, der an den ökumenischen Gesprächen beteiligt ist und für sie Verantwortung trägt. Andererseits verweist die obengenannte Einsicht darauf, dass jede Einigung über eine Teillehre solange eine bloß scheinbare Einigung bleibt, als die Gültigkeitsbedingungen von kirchlicher Lehre, die generell und darum auch für jede Einzellehre vorauszusetzen sind, nicht mit bedacht und in den Blick genommen werden. Dieses Problem ist im Zusammenhang mit den Gesprächen über „Lehrverurteilungen – kirchentrennend“ und über die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ anhand der Frage nach der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre zumindest thematisch geworden, wenn es dabei auch schließlich nicht geklärt werden konnte, sondern wieder verdrängt wurde. Wenn es gelingt, die Frage nach der Bedeutung von Glaubensgewissheit für den christlichen Glauben und für die kirchliche Lehre selbst zum Thema der ökumenischen Gespräche der Kirchen zu machen, so ist damit die fundamentale Ebene erreicht, auf der die Frage nach Konsens oder Dissens – jedenfalls aus reformatorischer Sicht – angesiedelt ist. Sollte es gar gelingen, in dieser Frage zu einer Verständigung zu kommen, die für alle beteiligten Kirchen aus Überzeugung akzeptabel ist, dann wäre vermutlich der ökumenische Durchbruch gelungen, der auch die tragfähige Basis für volle Kirchengemeinschaft darstellen würde. Dass es für diese Hoffnung Gründe gibt, darauf hat Herms immer wieder unter Verweis auf die Erklärung des II Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit61 hingewiesen.62 Er schreibt: „Nach rö61 Dignitatis humanae vom 7. 12. 1965 (s. LThK2 Bd. 13,1967, S. 703 – 748), bes. Abschn. 10: „Caput est ex praecipuis doctrinae catholicae, in verbo Dei contentum et a patribus constanter praedicatum, hominem debere Deo voluntarie respondere credendo; invitum proinde neminem esse cogendem ad amplectandam fidem“ („Es ist eine Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von den Vätern ständig verkündet, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glaubens antworten soll, dass dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf“).
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misch-katholischer Lehre gilt zwischen den verschiedenen Religionen der Grundsatz, im Gewissen bindet nur die Wahrheit selbst. Müsste nicht das Lehramt der röm.-kath. Kirche anerkennen, dass dieser Grundsatz auch innerhalb der christlichen Gemeinschaft uneingeschränkt gilt? Dann aber könnte auch Luthers Insistieren auf der Wahrheit, die ihn im Gewissen band, kein ausreichender Grund gewesen sein, ihm die kirchliche Gemeinschaft aufzukündigen. Die Kirchenzuchtmaßnahme gegen Luther wäre also vielleicht zu revidieren.“63 Befreiend wäre die Orientierung an der Wahrheitsgewissheit für die Ökumene aber nicht erst dann, wenn dieses Ziel erreicht wäre, sondern schon auf dem Weg, nämlich befreiend von dem Übermaß jetzt dominierender kirchenpolitischer Argumentationen, die ein geringes Vertrauen sowohl in die Selbstdurchsetzungskraft der Wahrheit des Evangeliums als auch in das ökumenischen Wollen und Engagement der Partnerkirche(n) verraten. Freilich erfordert dieses Ernstnehmen der fundamentalen Bedeutung der Gewissheit in allen Glaubensfragen die Bereitschaft, sich auf eine mögliche Vielfalt einzustellen und diese als Mçglichkeit zu wollen, also aus prinzipiellen Gründen den religiösweltanschaulichen Pluralismus zu bejahen.64
c) Die Stärkung innengeleiteter Orientierung als Beitrag zur Gesellschaftsgestaltung Das Pluralismus-Konzept, für das Herms sich nachdrücklich einsetzt, bezieht sich nicht nur und nicht einmal primär auf das zwischenkirchliche Miteinander, also auf die Ökumene, sondern hat umfassende, gesellschaftstheoretische (und -praktische) Bedeutung. Im Hintergrund 62 Zuletzt in dem bereits oben (Anm. 4) zitierten Text „Keine Alternative zur Ökumene“. Das folgende Zitat findet sich dort auf S. 36. 63 Ich möchte von mir aus hinzufügen: Das müsste (auch nach reformatorischem Verständnis) nicht bedeuten, dass damit die reformatorische Lehre von der römisch-katholischen Kirche als wahr oder als gültig akzeptiert werden müsste und dass ihr deshalb eine legitime Rolle (also „eine Kanzel“ oder „ein Katheder“) in der Lehrverkündigung der römisch-katholischen Kirche zuerkannt werden müsste. Vgl. hierzu W. Härle/H. Leipold, Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung, Bd. 1 u. 2, Gütersloh 1985, bes. Bd. 1, S. 10 – 37. 64 Siehe dazu E. Herms, Pluralismus aus Prinzip (1991), in: ders., Kirche für die Welt, Tübingen 1995, S. 467 – 485, und: Vom halben zum ganzen Pluralismus (1993), ebd. S. 388 – 431.
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stehen dabei seine zahlreichen profunden gesellschaftstheoretischen und gesellschaftsanalytischen Arbeiten, die er in den letzten Jahrzehnten erarbeitet und zur Diskussion gestellt hat.65 Dabei spielt sowohl in seiner Gesellschaftstheorie als auch in seiner Gesellschaftsanalyse die Gewissheitsthematik eine entscheidende Rolle. Hiervon soll abschließend die Rede sein. Zentral für die Gesellschaftstheorie von Herms ist die Einsicht, dass jede gesellschaftliche Interaktion von Menschen jedenfalls vier elementare Funktionen erfüllen muss, die sich im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung in vier Funktionssysteme ausdifferenzieren, die freilich untereinander notwendigerweise in enger Verbindung und im permanenten Austausch stehen. Zu diesen vier Funktionen bzw. Funktionssystemen gehört neben dem Ökonomischen, dem Politischen und dem Wissenschaftlich-Technischen auch das WeltanschaulichReligiöse. Insbesondere hier, und von hier aus für die gesamtgesellschaftliche Interaktion spielt Gewissheit eine schlechterdings entscheidende Rolle. Denn – wie wir bereits sahen66 – hängt insbesondere die Klärung der Handlungsziele von ihr ab. Dabei ist es keineswegs erforderlich, ja vom Wesen der Sache her sogar problematisch, wenn eine Gesellschaft so verfasst ist, dass es in nur eine Organisation im religiösweltanschaulichen Funktionssystem gibt, die demzufolge eine Monopolstellung besitzt. Wünschenswert ist vielmehr die Möglichkeit der Vertretung unterschiedlicher weltanschaulich-religiöser Gewissheiten, die im Sinne des Pluralismus miteinander öffentlich konkurrieren. In seinen gesellschaftsanalytischen Arbeiten wendet Herms dieses gesellschaftstheoretische Instrumentarium vor allem auf die hochdifferenzierten neuzeitlichen Gesellschaften westlicher Prägung an, in denen nicht mehr geschichtlich gewachsene weltanschaulich-religiöse Traditionen eine weithin bekannte und anerkannte Prägekraft besitzen, 65 Ein wichtiger Teil dieser Arbeiten ist veröffentlicht in den Aufsatzbänden: Gesellschaft gestalten (s. o. Anm. 18), Kirche für die Welt (s. o. Anm. 64) und Politik und Recht im Pluralismus, Tübingen 2008. Einen bibliographischen Überblick über das Oeuvre von E. Herms bis zur Milleniumsgrenze gibt das am Ende der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag angefügte Schriftenverzeichnis (Befreiende Wahrheit, hg. von W. Härle, M. Heesch und R. Preul, Marburg 2000, S. 609 – 620). Daraus geht auch hervor, dass die Beschäftigung mit gesellschaftstheoretischen Fragen bei Herms bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts und damit bis in die Anfänge seiner theologischen Publikationstätigkeit zurückreicht. 66 S. o. bei Anm. 19.
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sondern eine Vielzahl von „Anbietern“ auf dem religiös-weltanschaulichen „Markt“ miteinander konkurrieren. Als besonders problematisch erscheint es dabei, dass darunter Positionen sind, die zwar ebenfalls religiös-weltanschaulich geprägt sind (etwa der Rationalismus oder der Humanismus), aber oft mit dem Anspruch religiös-weltanschaulicher Voraussetzungslosigkeit und Neutralität auftreten. Dadurch wird die weltanschaulich-religiöse Gesamtsituation unklar, verworren und verwirrend. Und dies ausgerechnet in einer gesellschaftlichen Lage, die aufgrund ihres Differenzierungsgrades und ihrer Entwicklungsdynamik einen immensen Orientierungsbedarf erzeugt. Hier besteht die massive (und weithin bereits akut gewordene) Gefahr, dass der Orientierungsbedarf abseits von der Ausbildung und Pflege individueller und gemeinschaftlicher Wahrheitsgewissheit durch Außenleitung und Fremdbestimmung unterschiedlicher Provenienz gedeckt wird. Das befreiende Potential der Gewissheit, die das Fundament des christlichen Glaubens bildet, besteht darin, dass sie – gegen den gesellschaftlichen Trend – zu einer innengeleiteten Orientierung verhilft, die als solche Freiheitscharakter hat. Voraussetzung dafür, dass dieses Potential zur Wirkung kommen kann, ist freilich die verlässliche, einladende öffentliche Kommunikation des Evangeliums in der Kirche und durch die Kirche sowie durch die einzelnen Christen in der Gesellschaft – insbesondere in deren Bildungseinrichtungen. Zur Erkenntnis und zur Bewältigung dieser Aufgabe hat Herms durch sein wissenschaftliches Oeuvre bereits bisher einen beeindruckenden Beitrag geleistet.
Die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen1 An der Titelformulierung dieses Aufsatzes kann man in mehrfacher Hinsicht Anstoß nehmen: einerseits an der Fraglosigkeit, mit der da von der „Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens“ die Rede ist, andererseits an der asymmetrischen Gegenüberstellung der Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens zu den Wahrheitsansprchen anderer Religionen. Schon diese Formulierungen scheinen zu verraten, dass es gar nicht um eine faire Begegnung und um einen Vergleich auf derselben Ebene geht, sondern um eine – bestenfalls gnädige – Beurteilung anderer Religionen aus der Position dessen, für den die Wahrheitsfrage längst beantwortet ist, weil er die Wahrheit zu besitzen meint. Ob diese Vermutungen richtig sind, kann nur der Fortgang des Textes zeigen. Ich wollte aber doch gleich zu Beginn signalisieren, dass ich Verständnis dafür habe, wenn die – bewusst gewählte – Themenformulierung solche unerfreulichen Assoziationen und Vermutungen weckt. Es könnte freilich auch ein entgegengesetztes Unbehagen an dem Thema geben, das vor etwa einem halben Jahrhundert im Bereich der evangelischen Theologie sicher sehr deutlich empfunden und artikuliert worden wäre: Ich meine das Unbehagen an der selbstverständlichen Rede von den „anderen Religionen“, durch das der christliche Glaube jedenfalls indirekt als eine Religion unter anderen gekennzeichnet und mit diesen verglichen wird. Es waren in unserem Jahrhundert vor allem Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, von denen kritische Anfragen und Einwände gegen eine solche Zuordnung des christlichen Glaubens zur Welt der Religionen kamen,2 wobei die Kritikpunkte und Einwände Barths und Bonhoeffers nicht miteinander identisch sind. 1 2
Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel „Aus dem Heiligen Geist. Positioneller Pluralismus als christliche Konsequenz“ in: Die Zeichen der Zeit. Lutherische Monatshefte 37/1998, H 7, S. 21 – 24. Diese beiden Theologen hatten übrigens bis zur deutschen Vereinigung den größten Einfluß auf Theologie und Kirche in der DDR, weshalb nach meiner Beobachtung auch heute noch am ehesten von Theologen und Kirchenleuten aus den neuen Bundesländern solche Anfragen kommen.
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Für Barth ist Religion grundsätzlich der menschliche Versuch, sich einen Weg zu Gott zu bahnen, ja letztlich über Gott verfügen zu wollen. Dem stellt er als Inhalt des christlichen Glaubens die Botschaft vom Kommen Gottes zum Menschen und die Souveränität Gottes gegenüber allem Menschlichen und Irdischen entgegen. Für Barth ist Religion geradezu Ausdruck der Sünde, nämlich der Hybris und der Gnadenfeindschaft des Menschen, und insofern besteht für ihn ein radikaler Gegensatz zwischen christlichem Glauben und Religion. Barth sieht freilich, dass das Christentum, wie es sich in den christlichen Kirchen empirisch darstellt, durchgängig ebenfalls Züge dieser Hybris und Gnadenfeindschaft zeigt. Und insofern kann er dann auch das Christentum eine Religion (im negativen Sinn des Wortes) nennen, um sie dann aber dem christlichen Glauben gegenüberzustellen. Bonhoeffer war hingegen der Meinung, Religion sei immer mit Metaphysik und mit individuellem Heilsstreben verbunden, was seines Erachtens beides dem christlichen Glauben wesensfremd ist. Deswegen schwebte ihm vor, die christlichen Glaubensinhalte auf nicht-religiöse Weise zu interpretieren, wobei er der Meinung war, dass dies nicht nur dem Wesen des christlichen Glaubens angemessen sei, sondern auch unserer Zeit, von der er (1944/45) der Meinung war, Religion sterbe allmählich ab und wir gingen einer völlig religionslosen Zeit entgegen. Ich teile diese beiden Auffassungen nicht, weil sie m. E. weder dem christlichen Glauben noch anderen Religionen noch der inzwischen eingetretenen geschichtlichen Entwicklung gerecht werden. Tatsächlich haben wir ja heutzutage in Deutschland ein Zusammentreffen des Christentums mit so vielen verschiedenen und zahlenmäßig so stark vertretenen Religionen, wie es das seit der Zeit der Christianisierung im frühen Mittelalter nicht mehr gegeben hat. Und darüber hinaus gibt es bekanntlich ein völlig unüberschaubares, aber blühendes und wucherndes Szenario neuer religiöser Strömungen, Richtungen und Bestrebungen, bei dem einem Hören und Sehen vergehen kann3. Eben damit ist aber unüberhörbar die Frage nach dem Verhltnis der Wahrheit des christlichen Glaubens und den Wahrheitsansprüchen dieser anderen Religionen gestellt. Wenn ich es recht sehe, lassen sich im Rahmen einer groben Übersicht vier Typen der Verhältnisbestimmung unterscheiden. Ich spreche von Typen, weil es davon jeweils unterschiedliche individuelle 3
Die Aufgabe einer Neuinterpretation religiöser und theologischer Begriffe stellt sich freilich gerade angesichts dieser Situation mit Nachdruck.
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Ausprägungen gibt, deren Abweichungen voneinander sogar sehr erheblich sein können. Für den Zweck dieses Aufsatzes scheint mir jedoch eine solche Typisierung zulässig und angebracht zu sein, weil sie zwar etwas vereinfacht, aber damit auch ein gewisses Maß an Übersichtlichkeit herstellt. Ich beschreibe im Folgenden diese vier Typen und schließe jeweils gleich eine kurze kritische Würdigung an.
Typ 1: Religionen basieren gar nicht auf Wahrheit Dieser erste Antworttypus löst das Problem der Verhältnisbestimmung, indem er es durch Bestreitung seiner Voraussetzungen zum Verschwinden bringt. Wenn es in Sachen Religion keine Wahrheit gibt, ist es überflüssig und sinnlos, unterschiedliche Wahrheiten und Wahrheitsansprüche zueinander in Beziehung zu setzen. Dieser Typus taucht naturgemäß besonders häufig im Rahmen der Religionskritik auf, findet aber in gewissen Formen auch innerhalb der Religionsphilosophie und gelegentlich sogar am Rande der Theologie Aufnahme. In einer indirekten, abgeleiteten Form, von der noch die Rede sein soll, ist dieser Antworttypus auch in unserer Gesellschaft seit der Aufklärungszeit relativ weit verbreitet. In der These, dass Religionen nicht auf Wahrheit basieren, können sich verschiedene Anschauungen Ausdruck verschaffen: z. B. die Illusionstheorie, wie sie etwa S. Freud vertreten hat, oder die breite Palette sogenannter nonkognitivistischer Theorien, die besagen, dass religiöse Aussagen gar nicht wahrheitsfähig sind, und das heißt zugleich, dass sie im logischen Sinn des Wortes keine wahrheitsfähigen (also wahren oder falschen) Aussagen sind, sondern z. B. Empfindungen oder Einstellungen zum Ausdruck bringen. Von beiden Ansätzen her erscheint die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher religiöser Wahrheiten oder Wahrheitssprüche als ein Scheinproblem, und der Streit zwischen den Religionen erscheint dann so sinnlos wie der Streit über unterschiedlichen Geschmack. Dabei gestehen die Vertreter dieser Theorien durchaus zu, dass religiöse Äußerungen (wie z. B. die Sätze: „Die Welt ist Gottes Schöpfung“ oder: „Es gibt ein Leben nach dem Tod“ oder: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“) wie wahrheitsfähige Aussagen klingen; aber die Vertreter dieser Theorien behaupten, dass das eine irrige Annahme sei. Was sind solche Äußerungen nach deren Auffassung dann? Hier gehen die Anschauungen
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weit auseinander: Sie seien Ausdruck von Gefühlen, sagen die einen, von Lebenseinstellungen, sagen die anderen, von Wunschvorstellungen, sagen die dritten, wobei sie einräumen, dass solche Wunschvorstellungen gelegentlich auch einmal zufällig eintreffen könnten und dann tatsächlich wahr werden. Diese Theorien sind aus theologischer Sicht nicht so völlig inakzeptabel, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Sie weisen nämlich zu Recht darauf hin, dass religiöse Äußerungen sich von vielen Aussagen der Wissenschaft und der Alltagswelt in zweifacher Hinsicht unterscheiden: Sie lassen sich in der Regel nicht mit experimentellen oder anderen empirischen Methoden verifizieren und – das ist besonders wichtig – sie haben stets einen Bezug zur Existenz des Menschen, zu seinen Gefühlen, zu seinen Hoffnungen und Lebenseinstellungen, wie er bei sonstigen Aussagen in der Regel nicht gegeben ist. Beide Unterschiede ergeben sich daraus, dass religiöse Aussagen sich auf die unverfügbaren Voraussetzungen aller lebensweltlichen und wissenschaftlichen Aussagen beziehen. Damit beziehen sie sich auf das Ganze des Daseins, und deswegen sind sie nicht empirisch verifizierbar. Trotz dieses Wahrheitselements, das im ersten Antworttypus enthalten ist, halte ich (mit der weit überwiegenden Mehrzahl der Theologen) diese Theorien vom Ansatz her für falsch; denn gerade der Bezug zum Gefühl, zur Lebenseinstellung oder zu der das Leben bestimmenden Hoffnung setzt voraus, dass es sich – jedenfalls nach Meinung der Betroffenen – um wahre oder jedenfalls um wahrscheinliche Aussagen handelt, denen ein Mensch auch nur deshalb Vertrauen schenkt, weil er sie für wahr oder wahrscheinlich hält. Sie bestimmen das Lebensgefühl und die Handlungsorientierung, weil sie für verlässlich gehalten werden. Die Theorie von der Religion als einem Irrtum oder einer Illusion, die für die Menschen nützlich sind, weil sie z. B. tröstliche oder motivierende oder disziplinierende Funktionen ausüben, funktioniert ihrerseits nur so lange, wie sie den Gläubigen verheimlicht wird – also als eine Art Geheimwissen einer Priesterkaste, die Religion benutzt, um Menschen zu beeinflussen und zu lenken. Das trifft zwar sicher zu für Fehlformen von Religion, wie es sie in allen Religionen (auch im Christentum) gibt oder gegeben hat, aber diese Theorie verfehlt das Wesen und Selbstverständnis der Religion und ist deswegen abzulehnen. Ich wies oben darauf hin, dass es eine indirekte, abgeleitete Form dieser Theorie gebe, die seit der Aufklärung auch in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Ich meine damit die These: „Religion ist Privatsache“. Diese These hat einen guten und wichtigen Sinn, wenn damit
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gemeint ist: Jeder einzelne Mensch muss das Recht haben, sich für oder gegen (eine bestimmte) Religion zu entscheiden, und er muss das auch keinem Menschen gegenüber begründen oder rechtfertigen. So verstanden ist der Satz Ausdruck des Grundrechts auf Religionsfreiheit und verdient als solcher unbedingte Anerkennung. Aber der Satz: „Religion ist Privatsache“ ist (immer auch) anders gemeint: Er will die Religion aus der Öffentlichkeit und damit aus der öffentlichen Kommunikation der Gesellschaft in die Privatsphäre verbannen. Dahinter kann die nonkognitivistische Auffassung von Religion stehen, der zufolge ein öffentlicher Streit über Fragen der Religion als Streit über den (religiösen) Geschmack sinnlos ist und deswegen vermieden werden sollte. Darin drückt sich jedenfalls die Meinung aus, wir könnten die Fragen des öffentlichen Lebens und Zusammenlebens auch (und vielleicht sogar besser) lösen ohne Rückgriff auf religiöse Grundfragen und Grundlagen. Vor 40 Jahren hat Ernst-Wolfgang Böckenförde den inzwischen berühmt gewordenen (und seit einiger Zeit auf fast jeder einschlägigen Tagung zu hörenden) Satz geschrieben: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“4 Dieser Satz wird heute ganz überwiegend mit Zustimmung zitiert, bringt also einen breiten (staatsrechtlichen und politischen) Konsens zum Ausdruck. Er lässt jedoch zwei Fragen unbeantwortet: a) Welche Voraussetzungen sind das? b) Wer kann sie statt dessen – wenn überhaupt – garantieren? Ich kann diese Fragen im Rahmen dieses Vortrages nicht diskutieren,5 sondern will nur darauf hinweisen, dass mit ihnen – zumindest möglicherweise – auf die Rolle verwiesen wird, die die Religionen und Weltanschauungen für eine solche Fundierung des Staates zu leisten haben. Jedenfalls ist damit eine öffentliche (und nicht bloß private) Auseinandersetzung über die weltanschaulich-religiösen 4
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Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. FS E. Forsthoff, Stuttgart 1967, S. 93. Leicht modifiziert und erweitert jetzt auch in Böckenfördes Aufsatz: Fundamente der Freiheit, in: Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Hg. E. Teufel, Frankfurt/M. 1996, S. 89. Dazu neuerdings E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007. Siehe dazu E. Herms, Die weltanschaulich/religiöse Neutralität von Staat und Recht aus sozialethischer Sicht (1996), in: ders., Politik und Recht im Pluralismus, Tübingen 2008, S. 170 – 194 sowie Ch. Polke, Öffentliche Religion im neutralen Staat. Eine Untersuchung zur politischen Ethik, Leipzig 2009.
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Grundlagen unseres Staates gefordert, die mit dem hier angesprochenen Theorietyp nicht zu vereinbaren ist. Im Übrigen erweist sich die so verstandene These von der Religion als Privatsache als ein verkapptes (vielleicht unbewusstes) Programm zur Abschaffung der Religion. Indem nämlich z. B. die authentische Beschäftigung mit Religion in der Öffentlichkeit (z. B. in der Schule) reduziert oder programmatisch eliminiert wird, werden der Religion in unserer Gesellschaft entscheidende Bildungsmöglichkeiten entzogen, ohne die sie auch im privaten Bereich langfristig nur verkümmern kann.
Typ 2: Alle Religionen enthalten nur Teilwahrheiten oder Aspekte der Wahrheit Die überwiegende Zahl der relativistischen Theorien, die dieser These zustimmen würden, geht davon aus, dass Religionen durchaus wahre Aussagen machen, die einander aber teilweise widersprechen. Dass das so ist, begründen die relativistischen Theorien häufig mit dem Hinweis auf die Transzendenz Gottes („Deus semper maior“), die alle Religionen, ihre Wahrheitserkenntnis und Wahrheitsansprüche, relativiert – was aber nicht unbedingt heißt: als falsch erweist. Gerne wird dabei das buddhistische Bild von den Blinden herangezogen, die alle an unterschiedlichen Stellen einen Elefanten betasten (am Kopf, Ohr, Zahn, Rüssel, Rumpf, Fuß etc.) und dabei zu völlig unterschiedlichen, miteinander unvereinbaren Aussagen über das kommen, was sie betastet haben (Topf, Schaufel, Pflugschar, Säule etc.).6 Dabei liefert das Bild die Erklärung für diese scheinbaren Widersprüche gleich mit: Die Gegensätze entstehen dadurch, dass partikulare oder perspektivische Erkenntnisse generalisiert oder verabsolutiert werden. Darin scheint dann auch schon der Therapievorschlag erhalten zu sein: „Akzeptiert Eure Partikularität und Perspektivität sowie die Unerkennbarkeit des Ganzen, dann könnt Ihr auch die partikularen Wahrheitserkenntnisse der anderen Religionen akzeptieren und anerkennen“. Vermutlich ist diese relativistische Religionstheorie heute vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen: Sie wirkt auch aus religiösen 6
Der Text findet sich in: A. Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube. Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum, Tübingen 1999, S. 202 f.
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Gründen sympathisch bescheiden, und sie wirkt hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen friedensstiftend und toleranzfördernd.7 Aber sie hat zwei erhebliche Schwächen: Die eine Schwäche besteht darin, dass sie genau das voraussetzt, was sie bestreitet, nämlich die Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes im Ganzen. Das wird z. B. deutlich an dem eben genannten Beispiel von den Blinden und vom Elefanten. Man muss nur die Position des Königs, der die Geschichte inszeniert, also des Buddha, mit einbeziehen. Weil er das Ganze kennt, kann er die scheinbaren Gegensätze als Teile eines Ganzen oder als unterschiedliche Perspektiven auf das Ganze zusammenschauen und über die Blinden spotten, die das nicht (er-)kennen. Insofern setzt gerade die Theorie, die besagt, dass keine Religion eine umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes hat, genau diese umfassende Erkenntnis voraus, um die verschiedenen (anderen) Religion relativieren und einander zuordnen zu können. Ohne diese unterstellte Erkenntnis des Ganzen gäbe es keinen Grund für die Annahme, die unterschiedlichen religiösen Aussagen seien Teile oder Aspekte eines Gottes und widersprächen sich gar nicht. Aber warum sollte es sich nicht um Aussagen über ganz unterschiedliche Gottheiten handeln? Die andere Schwäche der relativistischen Religionstheorie besteht m. E. darin, dass sie dem Selbstverständnis der Religionen – jedenfalls der monotheistischen Offenbarungsreligionen (also Judentum, Christentum und Islam) – nicht gerecht wird. Religion ist in diesen Religionen etwas Unbedingtes, das im Leben und Sterben Halt geben soll. Um dies zu erkennen, reicht schon der Hinweis auf die grundlegende, lebensorientierende Bedeutung der Religion, wie sie insbesondere in Entscheidungssituationen immer wieder zum Ausdruck kommt. Religion sucht nach Gewissheit und lebt von Gewissheit. Dabei muss man sofort hinzufügen: von angefochtener Gewissheit, die vom Zweifel begleitet ist, immer wieder erhofft und errungen werden muss, aber von Wahrheitsgewissheit, aufgrund derer ein Mensch sein Herz an (seinen) Gott hängt und sich auf (seinen) Gott verlässt. Mit dem Relativismus der hier skizzierten Theorien ist dieses Selbstverständnis der Religionen nur schwer oder gar nicht vereinbar.
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Im Gleichnis bewirken freilich die unterschiedlichen Deutungen Streit und Gewaltausbrüche, an denen der Initiator dieser Übung – wie der Text sagt – „seine Freude“ hatte.
Typ 3: Unsere Religion ist als einzige wahr
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Typ 3: Unsere Religion ist wahr, die anderen befinden sich im Irrtum Im Unterschied zu den relativistischen Theorien, von denen eben die Rede war, nehmen die Vertreter dieser – ich nenne sie fundamentalistischen – Theorien ihren Standpunkt ganz innerhalb der (eigenen!) Religion. Sie wollen ernst nehmen, dass Gott sich ihnen geoffenbart hat, dass sie die Wahrheit erkannt haben, und sie sehen sich deswegen genötigt, alle anderen religiösen Auffassungen – jedenfalls insgesamt betrachtet – als Irrtümer (sei es Einbildungen, sei es Erfindungen oder Lügen) zu beurteilen. Die Stärke dieser Theorien besteht vor allem darin, dass sie die unbedingte Geltung und Verbindlichkeit der als wahr erkannten Religion ernst nehmen wollen. Und sie gehen von da aus zu folgender Überlegung weiter: Da es nur einen einzigen Gott geben kann, müssen sich die Aussagen aller Religionen auf ihn beziehen und an ihm messen lassen. Wenn nun aber Gott sich (in Jesus Christus) geoffenbart und damit zu erkennen gegeben hat, dann müssen alle religiösen Behauptungen, die dieser Offenbarungserkenntnis widersprechen, falsch sein. Und ein Anhänger dieser fundamentalistischen Auffassung wird immer fragen: Warum soll ich etwas tolerieren (oder gar akzeptieren), von dem ich doch überzeugt bin, dass es falsch ist? Dabei müssen die Vertreter fundamentalistischer Theorien nicht aggressiv, militant oder gewalttätig mit den Anhängern anderer Religionen umgehen. Aber sie werden in der Regel alles tun, um die Entfaltung und Ausbreitung solcher fremdreligiöser Auffassungen zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Die Schwäche und Problematik dieser Position sehe ich in zwei Punkten: a) in einem Mangel an kritischer Selbstreflexion und b) in einem Mangel an Empathie bzw. Einfühlungsvermögen – wobei sich diese beiden Momente wie die Innen- und die Außenseite ein und derselben Geisteshaltung oder Einstellung zueinander verhalten. Ich will das kurz erläutern: a) Mangel an kritischer Selbstreflexion meint die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die Geschichtlichkeit der eigenen religiösen Entwicklung und Erkenntnis wahrzunehmen und anzuerkennen, und es meint die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die eigene religiöse Position dem Zweifel und der Infragestellung auszusetzen. Vertreter fundamentalistischer Theorien sind häufig verunsicherte Menschen, die sich ihres
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Glaubens nicht gewiss sind und deshalb Anfragen oder auch nur konkurrierende Positionen von sich fernhalten müssen, weil sie diese als bedrohlich empfinden. b) Mangel an Empathie bzw. Einfühlungsvermögen meint die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, in Gedanken die Perspektive eines Andersdenkenden oder Andersgläubigen einzunehmen, sich zu fragen, was für ihn sein Glaube bzw. seine Religion bedeuten könnte, welche Wahrheitselemente in seiner Auffassung enthalten sein könnten und was möglicherweise fr seine Religion spricht. Selbst wenn eine solche fundamentalistische Theorie und Einstellung aus der Sicht anderer Religionen verständlich sein sollte, aus der Sicht des christlichen Glaubens ist sie es jedenfalls nicht. Dies ergibt sich nicht nur aus der Universalität des göttlichen Heilswillens, der für alle Menschen (auch für die Anhänger anderer Religionen) gilt, sondern dies gilt auch in Form des Gebotes der Feindesliebe, durch das uns die positive Zuwendung zum anderen, zum Fremden, zu dem als bedrohlich Empfundenen und Erlebten zugemutet wird. Schließlich ist es auch die im Neuen Testament immer wieder enthaltene Aufforderung, (alles) zu prüfen, und das Zutrauen in die Selbstdurchsetzungskraft der Wahrheit (vgl. Röm 12,2; 2 Kor 13,8; Eph 5,10; Phil 1,10 und 1 Thess 5,21), die sich aus der Sicht des christlichen Glaubens nicht mit der fundamentalistischen Position vereinbaren lassen. Aber kann es – wenn man das Problem nicht wie in Typ 1 eliminieren will – überhaupt eine andere Lösung geben, als sich entweder für eine relativistische oder für eine fundamentalistische Position zu entscheiden? Der folgende vierte Theorietypus versucht jedenfalls, einen Weg jenseits dieser Alternative zu gehen.
Typ 4: Die eigene Wahrheitsgewissheit besitzt unbedingte Geltung; fremde Wahrheitsansprüche verdienen unbedingte Achtung Ich nenne diesen Theorietypus „positionellen Pluralismus“8. Im Unterschied zu den bisher gebrauchten Bezeichnungen handelt es sich bei dieser Kennzeichnung nicht um einen eingeführten Terminus, sondern 8
Vgl. zum Thema „Pluralismus“ den informativen Artikel „Pluralismus II“ von Ch. Schwöbel, in: TRE Bd. 26, 1996, S. 724 – 739 (Lit!).
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um einen Formulierungsvorschlag, den ich zur Diskussion stelle. Ich nehme dabei Gedanken, Anregungen und Formulierungen auf, die vor allem auf C. H. Ratschow und auf E. Herms zurückgehen,9 setze jedoch teilweise etwas andere Akzente. Auch hierbei handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für mehrere Theorien. Den gemeinsamen Ansatzpunkt kann man gut mit einem Zitat von C. H. Ratschow markieren. In seinem Buch „Die Religionen“10 schreibt er: „Ein Gott ist als Gott der absolute Herr wie die absolute Wahrheit wie der einzig absolute Halt im Leben und im Sterben. Er besitzt diese absolute Geltung unter denen, die seine Epiphanie betraf. Alle anderen Menschen vermögen seinen absoluten Anspruch weder einzusehen noch anzuerkennen. Wem ein Gott nicht widerfuhr, der sieht seine Gottheit nicht ein! Der Absolutheitsanspruch der Religionen ist daher für die eigene Religion unabweisbar, für jede fremde Religion nicht nachvollziehbar.“ Ist das, was Ratschow hier vertritt, nicht faktisch eine Variante der fundamentalistischen Position – jedenfalls bezogen auf die Epiphanie, also auf die Offenbarung Gottes? Das wäre sogar die fundamentalistische Position in Reinkultur, wenn Ratschow sagte: „Unser Gott besitzt absolute Geltung, weil uns seine Epiphanie betraf“. Aber Ratschow spricht bewusst von einem Gott, nicht etwa weil er der Meinung wäre, es gäbe mehrere Götter, sondern weil er zum Ausdruck bringen will, dass das, was für die je eigene Religion in Anspruch genommen wird, auch jeder anderen (Offenbarungs-)Religion zuerkannt werden muss. Der entscheidende Unterschied zur Position des Fundamentalismus (und des Relativismus) besteht also darin, dass der absolute Geltungsanspruch nicht nur für die eigene Religion, sondern grundsätzlich für jede Religion anerkannt wird – jedenfalls wenn diese Religion ihn selbst erhebt. Dabei beansprucht der positionelle Pluralismus nicht, die Wahrheit anderer Religionen selbst zu erkennen, zu beurteilen oder 9 Neuerdings hat sich auch P. Steinacker – im Anschluss an C. H. Ratschow – nachdrücklich für die Zusammengehörigkeit von „Toleranz und Absolutheitsanspruch“ sowie für die Beteiligung der Christenheit und der anderen Religionen „am öffentlichen Diskurs über die Zielvorstellungen der Gesellschaft und des privaten Lebens“ ausgesprochen. Vgl. dazu seinen Aufsatz: Die Kirche im Dialog der Religionen, in: Zeitschrift für Mission 23/1997, Heft 3, S. 166 – 183, bes. S. 169 u. 176 sowie insbesondere seinen Aufsatzband: Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen, Frankfurt am Main 2006. 10 Gütersloh 1979, S. 126 f.
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anerkennen zu können.11 Er weiß, dass wir nur versuchsweise gedanklich, aber nicht real aus der uns erschlossenen Wahrheitsgewissheit heraustreten und uns willkürlich (also durch Entschluss) eine andere Wahrheitsgewissheit zu eigen machen können. Um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, setze ich im Titel dieses Aufsatzes die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens den Wahrheitsansprchen anderer Religionen gegenüber.12 Wir haben weder die Möglichkeit noch einen Grund, diesen Anspruch zu besttigen, dazu müsste er sich uns als wahr erschlossen haben. Wir haben aber auch weder die Möglichkeit noch einen Grund, diesen Anspruch zu bestreiten. Denn dazu müsste er sich uns zunächst als wahr erschlossen und schließlich doch als falsch erwiesen haben – wie dies etwa der Fall ist, wenn Menschen sich bewusst von ihrer Religion abwenden oder zu einer anderen Religion konvertieren. Wir haben lediglich die Möglichkeit, den Wahrheitsanspruch einer anderen Religion – soweit wir ihn verstehen – mit der Wahrheitsgewissheit unserer Religion zu vergleichen und dabei Übereinstimmungen, Abweichungen oder Widersprüche zu konstatieren. Das ist aber etwas anderes als ein Urteil über den Wahrheitsanspruch einer andern Religion. Ich bezeichne diesen Theorietyp als „positionellen Pluralismus“ und modifiziere damit die Formel von E. Herms „Pluralismus aus Prinzip“13. Die Rede vom positionellen Pluralismus ist bewusst doppeldeutig. Sie meint einerseits einen Pluralismus (also eine grundsätzlich anerkannte und als Möglichkeit gewollte unvereinbare Vielfalt) von religiösen Positionen, die je für sich von Wahrheitsgewissheit geprägt und bestimmt sind. Und sie meint andererseits einen Pluralismus, der aus der Position des christlichen Glaubens gewonnen und abgeleitet ist, genauer: aus der Lehre vom Heiligen Geist als dem Geist Gottes, der in einem Menschen den Glauben weckt, den der Mensch nicht von sich aus hervorbringen kann. In seiner Auslegung des dritten Glaubensarti11 Die Unmöglichkeit einer solchen fremdreligiösen Wahrheitserkenntnis macht der Sammelband Christian Uniqueness Reconsidered, Hg. G. D’Costa, New York 1990, stark und spricht deshalb im Untertitel vom „Myth of a Pluralistic [in meiner Terminologie müsste es heißen: Relativistic] Theology of Religions. 12 Ein Autor, der einer anderen Religion angehört, müsste dementsprechend die Wahrheitsgewissheit seiner Religion den Wahrheitsansprchen anderer Religionen (einschließlich des Christentums) gegenüberstellen. 13 So der Titel des 1991 entstandenen Aufsatzes, der jetzt zugänglich ist in dem Aufsatzband von E. Herms: Kirche für die Welt, Tübingen 1995, S. 467 – 485.
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kels im Kleinen Katechismus hat Luther diese Ansicht in die Worte gefasst: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen …“14 Was der christliche Glaube hierbei von sich selbst bekennt, muss er konsequenterweise zumindest als von Gott zugelassene Möglichkeit auch für andere Religionen gelten lassen. Vor allem aber muss er es sich verboten sein lassen, das Wirken des Heiligen Geistes in die eigene Regie nehmen zu wollen, um Anhänger anderer Religionen gegen ihre berzeugung zu Christen zu machen. Dies schließt freilich die Bezeugung des eigenen Glaubens anderen Menschen gegenüber in keiner Weise aus. Im Gegenteil: Zum respektvollen und ernsthaften Austausch zwischen den Religionen gehört notwendigerweise die (wechselseitige) Bezeugung des eigenen Glaubens bzw. der eigenen Religion, also das, was wir mit einem herkömmlichen (aber leicht missdeutbaren) Begriff als den missionarischen Auftrag bezeichnen. Diesen Auftrag sollen wir nicht nur erfüllen, sondern wir erfüllen ihn tatsächlich, weil jede Lebensäußerung eines Menschen (gewollt oder ungewollt) auch Zeugnis davon ablegt, was ihn religiös bestimmt.15 Sich das bewusst zu machen, kann auch Gefühle der Peinlichkeit, der Scham oder Schuld hervorrufen. Dieser Auftrag wird freilich (auch) dort nicht erfüllt, sondern geradezu verraten, wo die Bezeugung verfälscht wird zur Indoktrination oder zur Abwerbung mit unlauteren Mitteln. Gibt ein solcher positioneller Pluralismus eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der christlichen Wahrheitsgewissheit und den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen? Das zu beurteilen, steht mir nicht zu. Aber auf eine offene Flanke dieser Antwort will ich abschließend hinweisen. Wie ich oben ausführte, ist der positionelle Pluralismus eine spezifisch christliche Position. Das heißt nicht notwendigerweise, dass er für andere Religionen inakzeptabel wäre. Aber ob er von ihnen (und wenn ja, von welchen Religionen) akzeptiert werden kann, ist eine noch offene Frage. Müsste dieses Modell, jedenfalls sofern es sich auf das gesellschaftliche Miteinander der Religionen und Weltanschauungen bezieht, aber nicht um seiner inneren Stimmigkeit willen voraussetzen, dass alle betroffenen Religionen und Weltanschauungen ihm (aus Überzeugung) zustim14 BSLK 511,46 – 512, 3. 15 Paulus bringt diese Tatsache zum Ausdruck durch die bildhafte indikativische (nicht imperativische) Bezeichnung der Christen als „Brief Christi“ (2 Kor 3,3).
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men? Und was folgt daraus, wenn andere Religionen oder Weltanschauungen (auf demselben Territorium) dem nicht zustimmen, sondern einen prinzipiellen Relativismus vertreten, der gar keine öffentlich artikulierten religiösen Wahrheitsgewissheiten duldet, oder wenn sie einen radikalen Fundamentalismus vertreten, der die öffentliche Kommunikation über andere Religionen unterbindet und z. B. die Abkehr von der eigenen Religion unter (Todes-)Strafe stellt? Ich sehe hier in Konsequenz meines Ansatzes keine andere Möglichkeit als das öffentliche Eintreten für eine Verfassungsordnung, die genau diesen positionellen Pluralismus ermöglicht, ja ihn rechtsstaatlich garantiert. Denn ich kenne kein anderes Modell, das in gleicher Weise einerseits das Eigenrecht der religiösen Wahrheitsgewissheiten und -ansprüche aller Religionen und Weltanschauungen zur Geltung bringt und andererseits dem gesellschaftlichen Frieden dient. Ich sehe dieses Verfassungsmodell im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (unter Einschluß der Präambel) in überzeugender Weise repräsentiert. Und es erfüllt mich auch mit Befriedigung, dass dieses Modell von einem breiten Konsens in unserer Gesellschaft getragen wird. Für diesen Konsens müssen wir aber auch immer wieder argumentativ werbend eintreten, und zwar einerseits in unserem Land (insbesondere im Blick auf die nachwachsenden Generationen), andererseits aber auch im Rahmen der außenpolitischen Beziehungen vor allem in Ländern, in denen bislang noch keine wirkliche Religionsfreiheit herrscht. Wir dürfen die Religionsfreiheit z. B. der Muslime in Deutschland nicht solange einschränken, bis in der Türkei und im Sudan Religionsfreiheit für Christen und für die Anhänger anderer Religionen herrscht. Aber wir müssen (auch unter Verweis auf die bei uns praktizierte Religionsfreiheit) offensiv, unbeirrt und unnachgiebig in solchen und anderen Ländern für Religionsfreiheit aller Menschen eintreten. Staatliches Recht darf die religiöse Kommunikation und die öffentliche – auch kontroverse – Kommunikation über Religion und ihre Wahrheit nicht unterdrücken, sondern muss ihr Raum geben. Indem der freiheitliche (auch der säkularisierte) Staat dies tut, leistet er einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung und zur Regeneration der Voraussetzungen, von denen er lebt, die er aber selbst nicht garantieren kann.
Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz In einem Artikel über Toleranz1 hat der ehemalige Heidelberger Reformationshistoriker Heinrich Bornkamm die Problem- und Begriffsgeschichte von Toleranz und Christentum wie folgt zusammengefasst: „Das Christentum ist in seiner Geschichte immer wieder vor die doppelte Aufgabe gestellt worden, Toleranz zu erringen und Toleranz zu gewähren. Dabei verschlingen sich jeweils religiöse und philosophische Voraussetzungen untrennbar mit rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die historische Leitlinie bildet die rechtliche, öffentliche Toleranz, in der die Gesinnungs-Toleranz erst geschichtswirksam wird. … Die öffentliche Toleranz reicht von beschränkter Duldung bis zu vollkommener, nur durch die allgemeinen Staatsgesetze begrenzter Freiheit. Ihre Geschichte durchläuft drei Situationen: a) konfessionelle Staatseinheit (mit unterdrückten oder geduldeten Häresien), b) konfessionelle Pluralität auf christlicher Basis, c) religiöse Neutralität (einschließlich des Atheismus). Wenn sich die großen Einschnitte dazwischen (Reformation und Spätaufklärung/19. Jh.) auch deutlich abzeichnen, so ist der Ablauf doch im einzelnen ganz verschieden. Die Übergänge zwischen den drei Situationen sind das eigentliche Thema der Toleranzgeschichte. Die (noch nicht untersuchte) Wortgeschichte folgt der Problemgeschichte. Der Tugendbegriff tolerantia (Leidensfähigkeit, Geduld) erhält vor der Mitte des 16. Jh.s (deutsch zuerst bei Luther 1541 nachgewiesen …) den zweiten Sinn der vorläufigen Duldung (befristet durch den erhofften Sieg der Wahrheit oder eine spätere Regelung durch ein Konzil oder dgl.), dann im 17./18. Jh. den einer christlich-humanen Grundpflicht des Staates und wandelt sich in der Aufklärung wieder in eine Tugend (Weitherzigkeit, Friedfertigkeit)“. Dieses knappe, gehaltvolle Resümee, dem ich in fast2 jeder Hinsicht zustimmen kann, verweist mit der Nennung von „Reformation und 1 2
Art. „Toleranz II. In der Geschichte des Christentums“, RGG3, Bd. 6/1962, Sp. 933 f. Die Einschränkung bezieht sich vor allem auf die Aussage, die Wortgeschichte von „Toleranz“ sei noch nicht untersucht. Inzwischen liegen in Form des Art.
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Spätaufklärung“ zurecht auf die beiden „großen Einschnitte“, die in der Entwicklungsgeschichte des Toleranzgedankens als Zäsuren zwischen den drei genannten „Situationen“ besondere Beachtung verdienen. Auf sie will ich in der folgenden Abhandlung das Augenmerk richten, indem ich zwei Texte einer etwas genaueren Betrachtung und Analyse unterziehe, die für das Verständnis und für die Wandlung des Toleranzbegriffs, insbesondere aber für die Beziehung zwischen Religion und Toleranz von außerordentlicher sachlicher Bedeutung sind: Luthers Disputatio de iustificatione von 1536 sowie die Ringparabel aus Lessings Drama „Nathan der Weise“ aus dem Jahre 1779. Während der LutherText erst durch einen im Jahr 1981 in Wien gehaltenen und gleichzeitig in der Zeitschrift für Theologie und Kirche3 veröffentlichten Vortrag von Gerhard Ebeling in seiner Bedeutung für das Toleranzverständnis ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurde, hat die Ringparabel schon seit langem den Rang eines Klassikers und gilt als magna charta religiöser Toleranz schlechthin. In einer kleinen Studie4 habe ich bereits vor Längerem die Vermutung geäußert und zu begründen versucht, dass der Toleranzgedanke der Aufklärung, wie er in der Ringparabel Lessings Ausdruck findet, „eine Übergangserscheinung“5 darstellt, die entweder zur Auflösung des Toleranzgedankens führt, sofern dieser von der Wahrheitsfrage abgelöst wird, oder zu einer Vertiefung des Toleranzverständnisses durch Wiedergewinnung des Anschlusses an seine begriffliche (und reformatorische) Ursprungsgeschichte. Diese Hypothese möchte ich hier aufgreifen und in Form einer Analyse der beiden genannten Texte zu plausibilisieren versuchen. Von daher ergeben sich dann grundlegende Einsichten in und Anfragen an das Verhältnis von
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„Toleranz“ von K. Schreiner und G. Besier, in: O. Brunner u. a. (Hg.) Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6/1990, S. 445 – 605 in ausführlicher Form sowie durch den Art. „Toleranz“ von G. Schlüter und R. Grötker, in: HWBPh, Bd. 10/1998, Sp. 1251 – 1262 (mit umfangreichen Literaturangaben) in knapper Form die seinerzeit noch fehlenden wort- bzw. begriffsgeschichtlichen Untersuchungen vor. Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, in: ZThK 78/1981, S. 442 – 464. Dieser Text wurde 1982 erneut veröffentlicht in dem von T. Rendtorff herausgegebenen Sammelband: Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, S. 54 – 73. Dieser Sammelband ist insgesamt für das hier verhandelte Thema einschlägig. Der Toleranzgedanke im Verhältnis der Religionen, in: W. E. Müller/H. H. R. Schulz, Theologie und Aufklärung. FS für G. Hornig, Würzburg 1992, 323 – 338. A. a. O., S. 338.
Begriffsgeschichtliche Vorklärung
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Religion und Toleranz unter den Bedingungen von Säkularisierung bzw. Pluralismus, die abschließend thematisiert werden sollen. Dem Ganzen ist jedoch ein kurzer Abschnitt vorangestellt, der der begriffsgeschichtlichen Vorklärung und Verständigung dienen soll.
1. Begriffsgeschichtliche Vorklärung „Toleranz ist die Duldung von Personen, Handlungen oder Meinungen, die aus moralischen oder anderen Gründen abgelehnt werden; sie wird meist öffentlich von Individuen oder Gruppen entweder praktiziert oder gefordert und argumentativ begründet“6. Im Hintergrund dieser in ihrer Schlichtheit eindrücklichen Definition steht natürlich das lateinische Verbum „tolerare“ bzw. das lateinische Substantiv „tolerantia“. Das heißt freilich keineswegs, dass das Substantiv „tolerantia“ von Anfang an die eben als Definition eingeführte Bedeutung gehabt hätte. Vielmehr gibt es eine sowohl in die Stoa als auch in biblische und patristische Texte zurückreichende Begriffsgeschichte, in der „tolerantia“ – häufig synonym zum griechischen „rpolom¶“ (= Geduld) – als Bezeichnung für eine individuelle Tapferkeitstugend auftaucht, die „das geduldige Ertragen von (physischen) Übeln wie etwa Schmerzen, Folter, Schicksalsschlägen oder militärischen Niederlagen“ sowie die „Leidensfähigkeit des Gläubigen“ und seine Geduld benennt7. Andererseits kennen offensichtlich bereits die griechische Antike, der römische Staat, aber auch der Islam eine institutionalisierte „Toleranz der Religionen“, „die sowohl religiös als auch politisch motivierte Duldung Andersgläubiger in gewissen Grenzen“8 einschließt, ohne dass dafür der Toleranz-Begriff verwendet würde. Es scheint so, als habe erst Augustin mit dem Toleranzbegriff die sozialethische Forderung der Duldung von Andersgläubigen, sündigen Mitchristen oder moralisch
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So G. Schlüter/R. Grötker, Art. „Toleranz“ (s. o. Anm. 2), Sp. 1251. Ich halte diesen Definitionsversuch insgesamt für gelungen. Lediglich das Wort „entweder“ ist irreführend und überflüssig, da es den Anschein erwecken kann, zwischen praktizieren, fordern und begründen bestünde eine Alternative. A. a. O., Sp. 1252. Ebd.
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anstößig lebenden Mitmenschen verbunden, die in der oben genannten Definition von Toleranz gemeint ist9. Aus diesen knappen, skizzenhaften Bemerkungen zur Begriffsbedeutung wird bereits erkennbar, worin das – zweifache – sog. „Paradox der Toleranz“10 besteht. „Widersprüchlich ist [richtiger: erscheint] bereits die Forderung der Duldung dessen, was begründetermaßen abgelehnt wird; zu substantiellen Selbstwidersprüchen führt die Forderung, auch intolerantes Verhalten zu tolerieren“.11 Das erste Paradox stellt nur einen Scheinwiderspruch dar, weil es stets übergeordnete, höherrangige Gründe dafür geben kann, etwas zu dulden, was man mit guten inhaltlichen Gründen und aus voller Überzeugung ablehnt. Das zweite Paradox führt jedoch tatsächlich zu einem Selbstwiderspruch. Bezogen auf fremdes Verhalten handelt es sich zwar (nur) um einen pragmatischen Widerspruch (also um einen Widerspruch in Form einer Handlung), der aber nichtsdestoweniger zerstörerischen Charakter hat; im Blick auf eigenes Verhalten ist die Duldung von Intoleranz hingegen sowohl in pragmatischer als auch in logischer Hinsicht selbstwidersprüchlich, also schlechthin inkonsistent. Deswegen bedarf die zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Definition insofern einer impliziten oder expliziten präzisierenden Ergänzung, als in sie aufgenommen werden muss, dass die Duldung sich nicht auch auf Handlungen oder Meinungen erstrecken kann, die ihrerseits als intolerant zu kennzeichnen sind. Das eigentlich Schwierige und auf der Ebene von Begriffsdefinitionen wohl nicht lösbare Problem bildet jedoch die Frage, ob eine solche Begrenzung von Toleranz sich auch auf Personen beziehen kann (darf oder muss), die ihrerseits als (programmatisch) intolerant zu bezeichnen sind. Darf Unduldsamkeit sich also nur auf (intolerante) Handlungen und Meinungen beziehen oder auch auf (intolerante) Personen? Eine begrifflich, ethisch und christlich-religiös akzeptable Lösung dieses Problems ist wohl nur möglich unter Zuhilfenahme der für die reformatorische Theologie wesentlichen Unterscheidung zwischen Person und Werk12 eines Menschen. Ihr zufolge hat auch der (pro9 Ebd. Dort (Anm. 6 – 13) auch die Belegstellen bei Augustin sowie bei Thomas von Aquino, der in der Summa theologiae (II/2, q 10, a 11) eine ähnliche Auffassung vertritt wie Augustin. 10 G. Schlüter/R. Grötker, Art. „Toleranz“ (s. o. Anm. 2), Sp. 1258. 11 Ebd. 12 Siehe dazu bei M. Luther z. B. WA 39/1, 69, 16 – 70, 3 sowie 281,19 – 282,7. Kurz und prägnant bringt Luther die Pointe dieser Unterscheidung zum Aus-
Luthers Aussagen über die Toleranz Gottes
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grammatisch) intolerante Mensch als Person Anspruch auf Toleranz, während gleichzeitig seine intoleranten Handlungen und Meinungen nicht zu tolerieren, also nicht zu dulden sind. Diese Unterscheidung hat in der Geschichte immer wieder Kritik erfahren, weil sie als gekünstelt oder wirklichkeitsfremd erscheint, tatsächlich bildet sie jedoch eine Errungenschaft, ohne die z. B. strafrechtliche und andere Sanktionen schwerlich mit der Respektierung der Menschenwürde vereinbar sein dürften. Nach dieser terminologischen Vorverständigung nun zum ersten Text:
2. Luthers Aussagen über die Toleranz Gottes13 Luthers Rede von der „tolerantia Dei“ bietet einen wichtigen Beitrag zum Toleranzverständnis aus christlicher, genauer gesagt: aus evangelischer Sicht, weil sie – trotz ihrer relativ schmalen literarischen Verankerung in Luthers Werk – in eigenständiger sprachlicher Gestaltung einen Zentralgedanken christlicher Verkündigung und Lehre zum Ausdruck bringt, der aus der neutestamentlichen Überlieferung bekannt ist als das Gebot der Feindesliebe 14. Dieser Anknüpfungspunkt ist deswegen für das anstehende Problem wichtig, weil er nicht eine konfliktfreie, von Harmonie geprägte Form des Zusammenlebens voraussetzt, sondern im Gegenteil Feindschaft, Beleidigungen, Angriffe etc., also eine tiefgreifend gestçrte Kommunikation und Interaktion. Der Ansatz ist weiterhin deswegen leistungsfähig, weil er nicht voraussetzt, dass zunächst eine interreligiöse Verständigung über bestimmte ethische, weltanschauliche oder dogmatische Voraussetzungen erreicht werden müsse (und könne), sondern genau in die vorausgesetzte Konfliktsidruck in WA 39/1, 283,9 : „opus non facit personam, sed persona facit opus“ (dt. „nicht das Werk macht die Person, sondern die Person tut das Werk“). Vgl. zu dieser Unterscheidung auch E. Jüngel, Der menschliche Mensch. Die Bedeutung der reformatorischen Unterscheidung der Person von ihren Werken für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen, in: ders., Wertlose Wahrheit, München 1990, S. 194 – 213. 13 Vgl. zum ganzen folgenden Abschnitt den in Anm. 3 genannten Aufsatz von G. Ebeling. 14 Die wichtigsten Belegstellen finden sich in der Bergpredigt (Mt 5,43 – 48) bzw. in der Feldrede Jesu (Lk 6,27 – 35). Vgl. aber auch Röm 12,14 und 20 f. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass in dem Gebot der Feindesliebe, das aus dem Wirken Gottes begründet wird, ein für den christlichen Glauben zentrales, unverzichtbares Element zum Ausdruck kommt.
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tuation hineinspricht. Der Ansatz ist schließlich deswegen von größter Bedeutung, weil er sich nicht auf einen Appell an die Moralität oder das Ethos der Menschen beschränkt, sondern vom Zentrum des christlichen Glaubens her eine Begründung gibt, die den Charakter einer bis in die Tiefe der Persönlichkeit hinein reichenden Motivation hat oder jedenfalls haben kann. Luthers Ausführungen über die tolerantia Dei können eine große Bedeutung entfalten, weil damit der Blick weggelenkt wird von dem, was der Mensch zu tun hat (also vom Gesetz), auf das, was Gott für ihn tut (also zum Evangelium) – und zwar unabhängig von der Moral, Religion oder Weltanschauung des Menschen. Dabei wäre es freilich ein Missverständnis, wenn man erwartete, dass Luther in seinen Thesen das Verhältnis der Christen zu den Anhängern anderer Religionen thematisierte. Zwar geht es in den Thesen um eine Grundunterscheidung, die sich auf den Glauben bezieht, aber diese Grundunterscheidung kann und darf nicht gleichgesetzt werden mit der zwischen Christen und Andersgläubigen. Thema von Luthers (insgesamt 35 Thesen umfassenden) dritter Thesenreihe über Römer 3,28 ist die „ratio iustificandi“15, was man in diesem Fall besser nicht mit „Grund der Rechtfertigung“, sondern mit „Weise der Rechtfertigung“ übersetzt. Und Luthers Hauptthese lautet: Man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen der Weise, wie der Mensch vor Gott gerechtfertigt wird und der Weise, wie der Mensch vor den Menschen 16 gerechtfertigt wird.17 Der juristisch klingende Terminus „Rechtfertigung“ bzw. „gerechtfertigt werden“ darf hierbei nicht forensisch (= gerichtlich) verengt verstanden werden, als gehe es nur um die Situation von Anklage und Verurteilung oder Freispruch. Es geht 15 WA 39/1, 82,2/LDStA 2, 424,4. Zum Gesamtzusammenhang der Thesen Luthers über Röm 3, 28 vgl. W. Härle, Rechtfertigung vor Gott und vor den Menschen in Luthers Disputationen aus den Jahren 1535 – 37 in: ders. Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 21 – 37. 16 Im Lateinischen steht hier jeweils „coram“ (= vor, gegenüber, im Angesicht von). Dieses „coram“ bedeutet damit aber auch „bei“. Damit diese breitere Bedeutung von „coram“ zum Ausdruck kommt, gebrauche ich im Folgenden wahlweise sowohl „vor“ als auch „bei“. 17 WA 39/1, 82,4 f./LDStA 2, 424,4 f.: „aliam esse rationem iustificandi hominis coram Deo, a ratione iustificandi eius coram hominibus“ (dt.: „dass für die Rechtfertigung des Menschen vor Gott eine andere Weise gilt als für seine Rechtfertigung vor den Menschen“ [LDStA 2, 425,4 – 6]).
Luthers Aussagen über die Toleranz Gottes
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vielmehr umfassend um das Verhältnis der Anerkennung, Bejahung und des Ansehens vor Gott bzw. vor den Menschen. Dass im Blick auf diese Frage unterschieden werden muss zwischen der Anerkennung, die ein Mensch vor und bei Gott sucht bzw. findet und der Anerkennung, die er vor und bei Menschen sucht bzw. findet, dürfte unmittelbar einleuchten und ist möglicherweise auch aus der Sicht anderer Religionen und Konfessionen gut nachvollziehbar. Schwieriger könnte es schon sein, der inhaltlichen Bestimmung dieser beiden Weisen von Rechtfertigung zuzustimmen. Hier vertritt Luther (im Anschluss an Paulus) mit Nachdruck die Auffassung, dass die Rechtfertigung vor Gott nicht durch die guten Werke des Menschen geschieht, und d. h. für ihn: durch das, worüber ein Mensch willentlich verfügt, was er also tun und lassen kann; sondern dass die Rechtfertigung vor Gott allein durch den Glauben, also durch das bedingungslose, daseinsbestimmende Vertrauen auf Gott in Christus geschieht, das einem Menschen aufgrund des Evangeliums durch den Heiligen Geist zuteil wird18. Dass aus diesem Glauben dann (gute) Werke folgen, und zwar mit innerer Notwendigkeit, hat Luther stets nachdrücklich betont,19 aber ebenso nachdrücklich abgelehnt, dass diese Werke in ir18 So WA 39/1, 83,24 – 27/LDStA 2, 426,30 – 428,2: „Iam certum est, … iusticiam Christi … non posse nostris operibus comprehendi. – Sed fides … ipsa comprehendit Christum“ (dt. „Damit steht fest, dass … die Gerechtigkeit Christi … sich nicht mit unseren Werken ergreifen lässt. – Sondern der Glaube, .. der ergreift Christus“ [LDStA 2, 427,40 – 429,2]). 19 So schon in Luthers Vorrede zum Römerbrief von 1522 (WA DB 7, 10,6 – 13): „Aber glawb ist eyn gotlich werck ynn vns, das vns wandelt vnd new gepirt aus Gott … vnd todtet den allten Adam, macht vns gantz ander menschen von hertz, mut, synn, vnd allen krefften, vnd bringet den heyligen geyst mit sich, O es ist eyn lebendig, schefftig, thettig, mechtig ding vmb den glawben, das vnmuglich ist, das er nicht on vnterlas solt gutts wircken, Er fraget auch nicht, ob gutte werck zu thun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie than, vnd ist ymer ym thun, Wer aber nicht solch werck thut der ist eyn glawbloser mensch, …“. Ebenso WA 39/1, 46,28 – 34/LDStA 2, 406,12 – 18: „Fatemur opera bona fidem sequi debere, imo non debere, Sed sponte sequi, Sicut arbor bona non debet bonos fructus facere, Sed sponte facit. – Et sicut boni fructus non faciunt arborem bonam, Ita bona opera non iustificant personam. – Sed bona opera fiunt a persona iam ante iustificata per fidem, Sicut fructus boni fiunt ab arbore iam ante bone per naturam“ (dt.: „Wir bekennen, dass gute Werke auf den Glauben folgen müssen, vielmehr nicht müssen, sondern von selbst folgen, so wie ein guter Baum nicht gute Früchte bringen muss, sondern von selbst bringt. – Und wie gute Früchte nicht den Baum gut machen, so rechtfertigen gute Werke nicht die Person, – sondern gute Werke werden von einer Person getan,
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Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz
gendeiner Form die Voraussetzung, Bedingung oder der Grund für die Rechtfertigung des Menschen vor Gott seien. Für unsere Fragestellung ist nun noch ein anderer Aspekt von großer Bedeutung. Luther setzt voraus, dass es eine Alternative gibt, der zufolge Menschen entweder die für ihr Leben entscheidende Rechtfertigung bzw. Anerkennung bei Menschen suchen (woraufhin sie bei Gott kein Ansehen und keine Rechtfertigung haben) oder ihre Rechtfertigung bei Gott suchen (woraufhin sie vor den Menschen keine Rechtfertigung und kein Ansehen haben). Den denkbaren Fall, dass ein Mensch seine Rechtfertigung sowohl vor Gott als auch bei den Menschen suchen könnte, zieht Luther nicht einmal in Betracht. Das kann nur so verstanden und erklärt werden, dass es in der Frage der Rechtfertigung um die grundlegende, das Leben (und Lebensgefühl) eines Menschen bestimmende Anerkennung geht, von der alles andere abhängig ist, und die sich darum nicht vervielfältigen lässt. Sucht ein Mensch seine Rechtfertigung vor Gott, dann ist ihm das Urteil der Menschen letztlich unwichtig. Und umgekehrt: Sucht ein Mensch seine Rechtfertigung bei den Menschen, dann ist ihm das Urteil Gottes letztlich unwichtig. Durch diese Interpretation wird die Alternative, von der Luther an dieser Stelle ausgeht, m. E. ganz plausibel.20 Von hier aus argumentiert Luther folgendermaßen weiter: Aufgrund des bisher Gesagten müsste man erwarten, dass Gott die Werke derer, die sich selbst vor den Menschen rechtfertigen wollen, zerstört und zunichte macht. Das ist aber, wie die Erfahrung und auch die Bibel lehren, keineswegs der Fall. Gott lässt diesen Menschen oft die besten Güter dieses Lebens zuteil werden, obgleich doch ihre Werke in seinen Augen Betrug, Heuchelei, Ungerechtigkeit und Bosheit sind21. Dies die schon zuvor durch den Glauben gerechtfertigt ist, so wie gute Früchte von einem Baum kommen, der schon zuvor auf Grund seiner Natur gut ist“ [LDStA 2, 407,12 – 20]). 20 Sie hat eine Entsprechung in der paulinischen Alternative zwischen Beschneidung und Christusglaube. Wer zusätzlich zum Glauben an Christus auch noch auf die Beschneidung vertraut (nach dem Motto: „Sicher ist sicher“), zeigt damit, dass er nicht wirklich auf Christus vertraut und hat ihn damit „verloren“ (Gal 5,4). 21 WA 39/1, 82,21 – 24/LDStA 2, 424,21 – 24,: „Iusticia vero hominis, ut eam Deus temporaliter honoret donis optimis huius vitae, tamen coram Deo larva est et hypocrisis impia. – Et mirum est problema, Quod Deus remuneret iusticiam, quam ipse reputet iniquitatem et maliciam“ (dt. : „Aber auch wenn Gott die menschliche Gerechtigkeit zeitlich mit den besten Gaben dieses Lebens auszeichnet, ist sie dennoch vor ihm eine Maske und gottlose Heuchelei. –
Luthers Aussagen über die Toleranz Gottes
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nun ist für Luther nicht anders zu beschreiben denn als Ausdruck der unvergleichlichen Geduld und Weisheit Gottes22. Aber Luther versucht zu verstehen, warum Gott so unfassbar tolerant mit denen umgeht, die ihre Gerechtigkeit nicht im Glauben vor Gott, sondern durch ihre Lebensleistung bei den Menschen suchen. Und er gibt zwei Antworten auf diese Frage: Die erste Antwort bewegt sich ganz auf der Linie, auf der auch schon Thomas von Aquino23 (unter Berufung auf Augustin) argumentiert hatte: Gott duldet oft ein kleineres Übel, damit nicht durch ein größeres Übel alles durcheinandergebracht oder zerstört werde24. Die zweite Antwort, die Luther gibt, lässt noch stärker seinen spezifischen theologischen Ansatz erkennen: Gott handelt so mit den Ungläubigen, weil er mit derselben Toleranz und Güte auch die (christliche) Kirche und seine Heiligen auf Erden erträgt25. Zwar suchen diese ihre Rechtfertigung durch den Glauben vor Gott, aber sie tun dies so bruchstückhaft, halbherzig, sündig, dass Gott sie nur darum rechtfertigen kann, weil er sie nicht nach dem Maß ihres Glaubens und Gehorsams beurteilt, sondern um der Gerechtigkeit Christi willen annimmt und ihnen vergibt26. Die beiden Aspekte der Toleranz Gottes, die ich hier – vereinfachend – im Anschluss an Luthers Disputationsthesen wiedergegeben habe, lassen sich im Blick auf unsere Themenstellung wie folgt fruchtbar machen: Die Toleranz Gottes kennt den Unglauben, den Ungehorsam und die selbstzerstörerischen Tendenzen menschlichen Handelns. Davon wird nichts beschönigt, verharmlost oder entschuldigt. Gleichwohl gibt es eine Perspektive, die dieses Wissen und dieses scharfe Urteil umfängt und in einen neuen Horizont rückt: Es ist die erhaltende und erlösende Liebe Gottes, die bereit ist, alles zu ertragen, zu erdulden, zu erleiden um des geliebten Menschen willen. Es ist auffällig, dass Luther an dieser Stelle, anders als die entsprechenden neutestamentlichen Aussagen in Mt 5,43 – 48 und Lk 6,27 – 35 – daraus keine ethischen Folgerungen zieht im Blick auf das den Men-
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Es bleibt ein Rätsel zum Wundern, dass Gott eine Gerechtigkeit belohnt, die er selbst für Ungerechtigkeit und Bosheit hält“ [LDStA 2, 425,29 – 33]). WA 39/1, 82,31/LDStA 2, 427,1. STh II/2, q 10, a 11. So WA 39/1, 82,31 f./LDStA 2, 426,1 f. In den folgenden Thesen (15 – 19) nennt er dafür Beispiele. WA 39/1, 83,12 f.: „Quin et cum Ecclesia et Sanctis suis in terra non dissimili tolerantia et bonitate agit“ (dt.: „Sogar mit der Kirche und seinen Heiligen auf Erden verfährt er in ähnlicher Geduld und Güte“ [LDStA 2, 427,22 f.]) So in den Thesen 21 – 27, WA 39/1, 83,12 – 25/LDStA 2,22 – 42.
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schen gebotene Handeln. Er lässt die Aussagen über die Toleranz Gottes als reinen Indikativ stehen. Dadurch wirken sie umso stärker – auch umso motivierender. Sie verweisen unübersehbar, aber ohne jeden moralisch erhobenen Zeigefinger, darauf, dass Glaubende wie NichtGlaubende, Christen wie Nicht-Christen von derselben Toleranz Gottes leben, die die Unterschiede zwischen ihnen zwar nicht aufhebt, aber im Blick auf das – gemeinsame – Gewährtsein des Lebens radikal relativiert. Zwar kennt das Neue Testament – im Gleichnis vom sogenannten Schalksknecht (Mt 18,21 – 35) – den geradezu absurden Fall, dass einem Menschen eine unbezahlbar hohe Schuld und damit das ganze Leben geschenkt wurde, er aber alsbald hingeht, seinen Mitknecht ins Schuldgefängnis werfen lässt, bis der ihm seine geringe Schuld bezahlt. Aber gerade in der Absurdität dieses Handelns wird noch einmal deutlich, dass es eigentlich unmöglich ist, dass ein Mensch die Toleranz Gottes an sich erfahren und in ihrer Tiefe und Weite verstanden haben könnte und gleichwohl nicht bereit wäre, seinem Mitmenschen gegenüber Toleranz zu üben. Wer nach religiösen Wurzeln der Toleranz sucht: Aus der Sicht reformatorischer Theologie lassen sie sich in der Toleranz Gottes finden. Es soll nun geprüft werden, wie sich dieses Toleranzverständnis in der Aufklärungszeit verändert. Als Modell hierfür wird der klassische Toleranztext: die auf Boccaccios Decamerone27 zurückgehende Ringparabel aus Lessings Nathan gewählt.
3. Das Toleranzverständnis in Lessings Ringparabel Die Ringparabel wird in Lessings Drama „Nathan der Weise“28 vorbereitet und eingeleitet durch die Bitte von Sultan Saladin an Nathan, er möge, da er so weise sei, dem Sultan sagen, was für ein Glaube, was für 27 Der Decamerone entstand zwischen 1348 und 1353, erschien erstmals 1470 auf italienisch (dt. 1472/73). Im Decamerone findet sich die Ringparabel im 1. Buch, in der 3. Novelle, die den Titel „Melchisedech Giudeo“ trägt. (Sie ist unter dem Titel „Ringparabel“ heute am leichtesten zugänglich in dem Taschenbuch-Band G. Boccaccio, Meistererzählungen, Zürich 1995, S. 25 – 28). Verglichen mit Lessings Version umfasst die Ringparabel Boccaccios nur deren Anfangsteil. Die ethisierende Fortsetzung stammt von Lessing (s. u. Anm. 39). 28 Dritter Aufzug, siebender Auftritt, zitiert nach: G. E. Lessing, Werke Bd. 2, hg. von H. G. Göpfert, München 1971, S. 276 – 280.
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ein Gesetz ihm am meisten eingeleuchtet habe, da man doch annehmen dürfe, dass ein Mann wie Nathan nicht da stehen bleibe, „wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern“29. Nathan erkennt, dass der Sultan mit dieser Bitte nichts anderes will als eine Antwort auf die Wahrheitsfrage bezogen auf die unterschiedlichen Religionen.30 Da Nathan sich jedoch zugleich dessen bewusst ist, dass er dem Sultan nicht durch Rückgriff auf vorformulierte Glaubenslehren („uralte Münze, die gewogen ward“31) antworten kann, sondern nur durch eigene, selbstformulierte Überzeugungen („neue Münze“32), und da er die nicht anzubieten hat (oder dem Sultan nicht offerieren will), flüchtet er sich in die rettende Idee, dem Sultan – wie einem Kind – ein „Märchen“33 zu erzählen und ihn damit zufrieden zu stellen: eben die Ringparabel.34 Die Exposition der Parabel bestätigt (zunächst) ausdrücklich die Prämisse, von der Saladin bei seiner Frage an Nathan ausgegangen war, dass nämlich von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam „doch eine nur die wahre sein“35 könne. Der Vater, der seinen drei, ihm gleich lieben Söhnen in „fromme(r) Schwachheit“36 für die Zeit nach seinem Tod den einen Ring versprochen hatte, der die geheime Kraft besaß, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“37, sah sich genötigt, zwei Duplikate des Rings anfertigen zu lassen, die er selbst nicht vom Original unterscheiden konnte, um daraufhin diese drei Ringe (den einen echten und die beiden Kopien) je gesondert seinen Söhnen zu übergeben. Eine konfliktträchtige Dynamik ergibt sich aus dieser Exposition freilich nur dadurch, dass aufgrund väterlicher Verfügung der Erbe des Rings zugleich „das Haupt, der Fürst des Hauses werde“38. Diese mit 29 A. a. O., S. 274. 30 „Was will der Sultan? was? – Ich bin auf Geld gefasst; und er will – Wahrheit. Wahrheit! Und will sie so – so wahr, so blank, – als ob die Wahrheit Münze wäre!“ (a. a. O., S. 274 f.). Das Wort „Wahrheit“ kommt in dem kurzen Selbstgespräch Nathans (auf 26 Zeilen) siebenmal vor. 31 A. a. O., S. 275. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 A. a. O., S. 274. 36 A. a. O., S. 277. 37 A. a. O., S. 276. 38 Ebd.
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der geheimen Kraft des Ringes sekundär verbundene Machtposition wird nun naturgemäß nach dem Tod des Vaters zum Auslöser des Konfliktes, der die weitere Erzähldramatik bestimmt: „Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder mit seinem Ring’, und jeder will der Fürst des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht erweislich; – fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube“.39 Die Söhne verklagen sich gegenseitig, und es kommt zum Prozess, in dem jeder sich (subjektiv wahrheitsgemäß, also wahrhaftig) auf die Übergabe seines Ringes durch den Vater beruft40. In dieser ausweglos erscheinenden Situation kommt in der Parabel dem Richter der rettende Einfall, die dem Ring eigene „Wunderkraft beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm“41 zum Kriterium zu machen. Da jedoch die Wirkung auf Gott sich offenbar menschlicher Beurteilung entzieht, rekurriert der Richter nicht auf sie, sondern nur auf die Kraft, sich bei Menschen beliebt zu machen, und wendet dieses Kriterium auf die Brüder selbst an: „Nun; wen lieben zwei von euch am meisten?“ Da der Beliebteste der Besitzer des echten Ringes sein müsste, würde das Eingeständnis der Liebe zugleich bedeuten, selbst nicht den wahren Ring (die wahre Religion) zu besitzen. Nicht die Liebesfähigkeit, sondern die Beliebtheit macht dieser Konstellation zufolge die Echtheit des Ringes bzw. die Wahrheit der Religion aus. Die Tatsache, dass die Testfrage des Richters keine Lösung des Problems erbringt, führt in der Parabel zu einer tiefgreifenden Korrektur, durch die sogar die anfängliche Exposition radikal in Frage gestellt wird: „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der 39 A. a. O., S. 277 f. Hier endet die Gemeinsamkeit zwischen Lessing und Boccaccio. Das Folgende hat Lessing eigenständig gestaltet. 40 In einem zwischengeschalteten Dialog zwischen Nathan und Saladin gibt Lessing gewissermaßen eine Lese- und Verstehensanweisung. Der für Nathan/ Lessing wesentliche Unterschied zwischen den Religionen liegt weder in deren Lehren noch in ihren Gebräuchen, sondern in ihrer unterschiedlichen Begründung auf Geschichte, gemeint ist: auf geschichtliche Offenbarung. Eben die könne aber „allein auf Treu und Glauben angenommen werden“ (a.a.O., 278). D. h. aber: Der Rückgriff auf Geschichte und Offenbarung scheidet als Wahrheitskriterium im Streit der Religionen – aus Lessings Sicht – notwendigerweise aus, da jeder sich unweigerlich an seine Überlieferung halten wird. 41 A. a. O., S. 279.
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Vater die drei für einen machen“.42 Damit wird – scheinbar oder tatsächlich – die bisherige Voraussetzung, es gebe eine (aber auch nur eine) wahre Religion, preisgegeben. Alle drei sind „betrogene Betrieger“43. Dies ist offensichtlich eine Anspielung auf die Friedrich II. von Hohenstaufen zugeschriebene Rede von den „drei Betrügern“ (De tribus impostoribus): Mose, Jesus und Mohammed, die in der abendländischen Geschichte immer wieder auftaucht.44 Die Parabel ist indes mit diesem zweiten Lösungsmodell noch nicht zu Ende, da der Richter den Söhnen statt eines Spruches einen (guten) Rat erteilt: Er empfiehlt jedem der drei Söhne, trotz der Vermutung, dass der Vater den echten Ring verloren habe, fest an die Echtheit des eigenen Ringes zu glauben und dies dadurch in die Tat umzusetzen, dass er „seiner unbestochenen von Vorurteilen freien Liebe“ nacheifere, danach strebe, die Kraft des Steins dadurch an den Tag zu legen, dass er „dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott“ zur Hilfe komme.45 Dies werde in einem künftigen ( Jüngsten?) Gericht den Ausschlag geben. Diese letzte Wendung der Parabel, die in der Erzähldramatik eher wie ein Anhang und Ausgleich wirkt, dürfte für Lessings Verständnis von Religion, Wahrheit und Toleranz von größter Bedeutung sein; denn hier vollzieht sich eine folgenreiche Umkehrung der Betrachtungsweise: Nicht erweist sich die Echtheit der Religion als Kraft, beliebt und angenehm zu machen, sondern die Religionen bzw. ihre Anhänger müssen versuchen, diesen Echtheitsbeweis selbst zu erbringen, indem sie Liebe, Sanftmut, Verträglichkeit etc. praktizieren. D. h. aber: Nicht die (wahre) Religion bringt das sittlich richtige Verhalten hervor, sondern das sittlich richtige Verhalten macht eine Religion zur wahren Religion. Wenn es aber so ist, dann ist jede Religion, die
42 Ebd. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sich H. Bornkamms (s. o. Anm. 1, Sp. 943) Urteil zu eigen machen: „Da der Weg zu ihr [sc. der Toleranz] vom Glauben her, wozu es bei Luther Ansätze gab, nicht gefunden wurde, war sie aus der Skepsis gegenüber dem Dogma erwachsen“. Man muss allerdings fragen, ob das, was aus der Skepsis erwächst, wirklich sinnvoller Weise „Toleranz“ genannt werden sollte (s. dazu unten bei Anm. 47). 43 Lessing (s. o. Anm. 28), S. 279. 44 S. dazu W. Gericke, Das Buch „De Tribus Impostoribus“, Berlin 1982. Auf den Bezug zwischen Boccaccios Ringparabel und der Rede von den drei Betrügern verweist Gericke selbst auf S. 17. 45 Lessing (s. o. Anm. 28), S. 280.
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Nächstenliebe und Toleranz praktiziert, eine wahre Religion. Es kann folglich mehr als einen echten Ring geben, im Prinzip unbegrenzt viele. Blickt man auf den Verlauf, die Weichenstellungen und Resultate der Ringparabel zurück, so wird man konstatieren müssen, dass sich in ihr – bezogen auf das Verständnis und Verhältnis von Religion und Toleranz – zwei folgenschwere Veränderungen vollziehen: die Ersetzung der (positiven) Religion durch Sittlichkeit und damit verbunden die Verwandlung der (bislang als Duldung verstandenen) Toleranz in Freundlichkeit und Verträglichkeit. Und der Grund für beide Wandlungsvorgänge ist ein und derselbe: das Verschwinden bzw. die Verabschiedung der religiösen Wahrheitsfrage, von der doch die Parabel ihren Ausgang genommen hatte.46 Wenn dies die Botschaft von Lessings Ringparabel ist, dann muss aus der Sicht reformatorischer Theologie jedenfalls auf ein mögliches Reflexionsdefizit hingewiesen werden, auf das Fehlen der Frage: Woher wird einem Menschen die Motivation und Kraft zur vorurteilsfreien Liebe zuteil? Versteht sie sich von selbst? Bedarf es zu ihrer Aktualisierung nur des Appells und/oder der Einsicht? Oder liegt dem 46 Oder sollte dies doch nicht die ganze Wahrheit des Märchens sein, das Nathan Saladin erzählt? Es gibt theoretisch eine Möglichkeit, Lessings Auffassung zu Religion und Toleranz, wie sie in der Ringparabel aus dem Nathan exemplarisch erkennbar wird, anders zu interpretieren: nicht als Verabschiedung von der Wahrheitsfrage, sondern als deren existentielle Umsetzung. Man müsste dann voraussetzen, dass Lessing den Kern der christlichen Lehre, aber auch der jüdischen und islamischen Lehre im Liebesgebot erblickt und unter dieser Voraussetzung die Echtheitsfrage als Frage nach der Übereinstimmung zwischen Lehre und Verhalten der Religionen formuliert. In diesem Sinn interpretiert etwa H. Schultze (Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie, Göttingen 1969, S. 62) Lessings Position: „Die objektive Wahrheitsfrage wird [sc. in der Ringparabel] nicht bagatellisiert, sondern in ihrem Existenzbezug sichtbar gemacht“. Ähnlich a.a.O., S. 60: „Diese Reduktion des Wahrheitskriteriums des Glaubens auf den Taterweis ist von Lessing ebenso wenig wie von der Aufklärung als Angriff auf die Religion überhaupt verstanden worden. So wie Jesus selbst das Doppelgebot der Liebe als den Inhalt des Gesetzes bezeichnet hat, meint auch Lessing in dem Gebot der Liebe das eigentliche Anliegen gerade des christlichen Glaubens sehen zu dürfen“. Diese Interpretationsmöglichkeit ist zwar inhaltlich gewichtig und soll darum am Ende dieses Aufsatzes noch einmal aufgenommen werden, sie lässt sich jedoch m. E. nicht anhand des Textes der Ringparabel als Lessings Meinung plausibel machen, da Lessings Nathan in der Ringparabel weder die Wahrheit noch die Identität der Lehre von Judentum, Christentum und Islam voraussetzt, sondern diese – historisierend – ganz auf sich beruhen lässt.
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notwendigerweise die Erfahrung eines unbedingten Bejaht- und Angenommenseins zugrunde, die den Menschen erst von der Fixierung auf zu erringende, zu verdienende Akzeptanz freimacht und ihn damit zur Bejahung, Annahme und Akzeptanz anderer frei werden lässt? Man könnte den Rat des Richters: „So glaube jeder sicher seinen Ring den echten“47 als eine Reminiszenz an diesen notwendigen Zusammenhang lesen, wenn nicht in den darauf folgenden Sätzen48 sofort der illusionäre Charakter dieses Glaubens betont würde.49 Ebenso wichtig ist für unser Thema jedoch die Feststellung, dass gerade in diesem Text, der als klassischer Beleg religiöser Toleranz gilt, der Toleranzgedanke Schritt für Schritt verabschiedet wird. Christoph Schrempf 50 hat deswegen wohl recht, wenn er mit Blick auf die Ringparabel im Nathan konstatiert: Die Hauptfiguren des Dramas hätten „sich also wohl den Rat des Richters so zu Herzen genommen, dass ihnen die Echtheit ihrer Ringe nachgerade ziemlich gleichgültig geworden ist … . Ihre Toleranz kann keinen tiefen Eindruck machen: was sie aneinander zu tolerieren haben, ist für sie ein Nichts“. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der programmatischen Auflösung des Toleranzgedankens bzw. zu seiner Ersetzung durch die Forderung der Anerkennung, wie sie schon von Goethe ausgesprochen wird: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“51. Solche Anerkennung wäre nun in zweierlei Weise denkbar: entweder aus einer Position, die die Wahrheit aller Religionen zu beurteilen und positiv zu bewerten erlaubt, also von einer Position ber den Religion aus, oder aus einer Position, in der die Wahrheit der Religionen keine Rolle (mehr) spielt und deswegen gleichgültig ist. Da eine transreligiöse 47 Lessing (s. o. Anm. 28), S. 280. 48 Ebd.: „Möglich; dass der Vater nun die Tyrannei des Einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss; dass er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen“. 49 Ebd.: „komme dieser Kraft … zu Hülf’!“ 50 Lessing als Philosoph, Stuttgart 19212, S. 165. 51 Maximen und Reflexionen, in: Goethes Werke, Bd. XII, Hamburg 19583, S. 385, Nr. 151. Ähnlich äußern sich dann am Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts Adolf Harnack (Protestantismus und Katholizismus in Deutschland [1907], in: ders., Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1, Gießen 1911, S. 233 f.) sowie Walter Jens („Nathans Gesinnung ist von jeher die meinige gewesen“, in: ders./H. Küng, Dichtung und Religion, München 1985, S. 115).
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Position, die Einblick in deren Gewissheiten und Wahrheitsansprüche erlaubt, für ein endliches Subjekt schlechterdings unerschwinglich ist, bleibt wohl nur die letzte Möglichkeit einer Anerkennung aus Gleichgültigkeit im Blick auf die Wahrheitsansprüche der Religionen. Die ist zwar mit relativistischen Wahrheits- und Religionstheorien kompatibel und entspricht ihnen bestens, sie ist aber vermutlich mit keiner einzigen Religion52 vereinbar. Was folgt daraus für das Toleranzverständnis unter den (säkularisierten oder pluralistischen) Bedingungen der Gegenwart?
4. Toleranz im Zeichen von Säkularisierung und Pluralismus In unserer Zeit wird häufig – und mit drastisch ansteigender Tendenz seit dem 11. September 2001 – die Auffassung vertreten, Religion sei nicht die Wurzel oder Quelle von Toleranz, sondern im Gegenteil deren große Bedrohung und Infragestellung, jedenfalls sofern es sich um dogmatische, nicht-aufgeklärte Religion handle, die nicht bereit oder in der Lage sei, ihre eigenen Wahrheitsüberzeugungen zu relativieren. Die Beobachtungen zu Lessings Ringparabel haben demgegenüber – ganz im Gegenteil – die Vermutung bestärkt, dass Toleranz mit der Religion (und zwar der auf Wahrheitsgewissheit basierenden Religion) möglicherweise ihr Fundament, jedenfalls aber ihren Gegenstand und damit sich selbst verliert.53 52 Für eine Religion (oder Weltanschauung), die sich einen solchen Relativismus in der Wahrheitsfrage zu eigen macht, würde das Toleranzproblem faktisch verschwinden. Man könnte im Blick darauf dann von trans-toleranten Religionen (oder Weltanschauungen) sprechen. 53 In diese Richtung zielt auch der Schlusssatz der Abhandlung von W. Brändle über Glaubensgewissheit und religiöse Toleranz (in: ders./G. Wegner [Hg.] Unverfügbare Gewissheit. Protestantische Wege zum Dialog der Religionen, Hannover 1997, S. 33 – 51, Zitat von S. 51): „Es spricht viel dafür, dass nur derjenige anderes religiöses Denken und Verhalten akzeptieren und ertragen kann, der selbst gelernt hat, seinen Glauben und die damit verbundenen Wahrheitsansprüche zu formulieren und – sie nicht zu Ende zu bringen.“ Der einschränkende letzte Halbsatz ist für Brändle, wie die ganze Abhandlung zeigt, jedoch außerordentlich wichtig, da er es für grundsätzlich erforderlich, weil klärend und weiterführend hält, dass religiöse Wahrheitsansprüche zwar nicht aufgegeben, wohl aber hinsichtlich ihrer „zeitlich und sprachlich bedingten Formen“ (a.a.O., S. 49) überdacht und relativiert werden. Die Bedeutung dieser Formen wird m. E. von Brändle etwas überschätzt im Vergleich mit der
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Aber spricht dies gegen die Verabschiedung und den Verlust der Religion? Könnte es nicht auch fr die Verabschiedung oder den Verlust des Toleranzgedankens sprechen? Löst – um es salopp zu formulieren – die Toleranz nicht möglicherweise nur ein Problem, das wir ohne die Religionen gar nicht hätten? Dienen also Religion und Toleranz miteinander zur Erhaltung und Bearbeitung einer Konfliktsituation, deren Verschwinden eher zu begrüßen als zu beklagen wäre? Wenn Religion ein für die menschliche Bildung (als Individuum und Humanum) verzichtbarer, entbehrlicher, überflüssiger oder gar schädlicher Aspekt wäre und wenn Menschen außerdem über ihre Religion so verfügen würden, dass sie sie gewissermaßen an- oder abschalten können, sie sich zulegen oder abstoßen, dann müsste man die genannten Fragen wohl bejahen. Aber kann man sich diese Auffassungen im Ernst zu eigen machen? Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine etwa drei Jahrzehnte währende philosophische, theologische und sozialwissenschaftliche Diskussion, die unter dem Vorzeichen des Skularisierungsparadigmas stand.54 Diese Diskussion erreichte zwar nur eine geringe begriffliche und analytische Schärfe, war aber gleichwohl deswegen außerordentlich wirksam, weil sie – jedenfalls für Mittel- und Westeuropa – eine gewisse diagnostische Kraft zu haben schien, die auch durch empirische Untersuchungen gestützt wurde. Demzufolge konnte der Eindruck entstehen, dass in diesem Bereich nicht nur ein (irreversibler) Prozess der Entkirchlichung vonstatten gehe, sondern auch die (Schreckens- oder Hoffnungs-)Vision eines religionslosen Zeitalters55 in greifbare Nähe rücke. Spätestens in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts ist allgemein bewusst geworden, dass das Säkularisierungsparadigma eher irreführend Bedeutung des Geistes, in dem die Inhalte und Formen kommuniziert werden. Vgl. zu diesem Themenaspekt auch W. Härle, Wahrheitsgewissheit und Toleranz im Verhältnis der christlichen Kirche zum Judentum, in: Kirche und Israel II (= Didaskalia Heft 42), Kassel 1992, S. 53 – 73. 54 Vgl. dazu H. Lehmann, Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997. 55 Mit dieser Formel spiele ich an auf die Diagnose bzw. Prognose, die D. Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen mit dem Satz gegeben hat: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen“ (Widerstand und Ergebung, hg. von E. Bethge, München 19853, S. 305). Vgl. hierzu den von Christian Gremmels und Wolfgang Huber herausgegebenen Sammelband, Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, Gütersloh 2002.
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als orientierend ist und deswegen dringend der Ersetzung durch ein anderes, leistungsfähigeres Paradigma bedarf. Dies wurde denn auch in der Rede vom „weltanschaulich-religiösen Pluralismus“ gefunden und hat sich seitdem (trotz ebenfalls inhärenter begrifflicher Unschärfen) eindrucksvoll bestätigt.56 Solange der Pluralismus lediglich als eine Konkretisierung oder Veranschaulichung von Säkularisierung verstanden wurde, änderte sich an der oben skizzierten Verabschiedung des (positiven) Religions- und Toleranzgedankens nichts Grundsätzliches. In dem Maße, in dem jedoch erkennbar wurde und erkennbar wird, dass umgekehrt der weltanschaulich-religiöse Pluralismus die übergeordnete und diagnostisch orientierungskräftige Kategorie ist, der die Säkularisierungstendenzen zu- und unterzuordnen sind, ist dieser prinzipiell relativistische Weg des Umgangs mit weltanschaulich-religiöser Vielfalt (und ihrer prinzipiellen Bejahung) verbaut. Nun stellt sich erneut die Frage danach, wie differierende (oder sogar einander widersprechende) religiöse Wahrheitsgewissheiten innerhalb eines gemeinsamen gesellschaftlichen Kontextes so ausgehalten, 56 So auch Ch. Schwöbel in seinem Art. „Pluralismus II“, in: TRE, Bd. 26/1996, S. 731: „Durch seine Verwendung als Leitbegriff zur Analyse und Deutung der Situation ersetzt der Begriff des Pluralismus in der Theologie der Gegenwart den Begriff der ,Säkularisierung‘, der in der Mitte des 20. Jh. als Zentralbegriff theologischer Gegenwartsreflexion verwendet wurde. Die der theologischen Säkularisierungsdebatte zugrunde liegende Auffassung eines heraufziehenden ,religionslosen‘ Zeitalters (D. Bonhoeffer), das als Mündigwerden der Welt und als ,legitime Folge des christlichen Glaubens‘ (F. Gogarten) mit der ,religionslosen‘ Interpretation religiöser Begriffe und mit einer Theologie der ,Weltlichkeit‘ der Welt zu beantworten versucht wurde, muß zum Teil als empirisch widerlegt gelten, zum Teil ist die Säkularisierungstendenz ein Teilaspekt der Situation des religiös-weltanschaulichen Pluralismus bzw. einer ihrer Voraussetzungen. – Empirisch widerlegt erscheint die Säkularisationsthese als Beschreibung einer einheitlichen und umfassenden Tendenz der Verdrängung der Religion und ihrer Ersetzung durch nicht-religiöse Instanzen. Der Eintritt in das letzte Viertel des 20. Jh. brachte weltweit eine empirisch gut belegte Renaissance des Religiösen, nicht nur im Sinne eines zahlenmäßigen Wachstums der Religionen und religiösen Bewegungen und ihrer Anhänger, sondern vor allem auch im Sinne einer Zunahme des Einflusses der Religionen auf den nationalen wie internationalen öffentlichen Bereich. Bedeutsam ist dabei das Auftreten einer postskularen Religiositt, die nicht als Fortführung religiöser Traditionen zu verstehen ist, sondern den Traditionsabbruch der Säkularisierung voraussetzt und auf ihn mit einer bewussten Hinwendung zur Religion reagiert“. Siehe zu Säkularisierung und Pluralismus neuerdings P. Haigis, Pluralismusunfähige Ekklesiologie. Zum Selbstverständnis der evangelischen Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft, Marburg 2008.
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ertragen (und möglicherweise sogar fruchtbar gemacht) werden können, dass sie weder inhaltlich vergleichgültigt noch im Widerspruch zu ihrer umfassenden Orientierungsbedeutung in die Privatsphäre abgedrängt werden. Die Frage nach der Pluralismusfähigkeit der Gesellschaft ist damit faktisch inhaltsgleich mit der Frage nach ihrer Toleranzfähigkeit (im Sinne des hier vorausgesetzten, ursprünglichen Toleranzbegriffs). Damit stellt sich die Frage nach den spezifisch religiösen Wurzeln von Toleranz neu und mit neuer Dringlichkeit. Es wäre jedoch unbefriedigend, wenn diese Frage lediglich dadurch beantwortet würde, dass die verschiedenen Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften sich selbst und gegenseitig versichern, Toleranz gehöre auch zu ihren Werten oder normativen Überzeugungen, die sie nicht nur von anderen einfordern, sondern selbst in das gesellschaftliche und interreligiöse Miteinander einzubringen bereit seien. Konstruktiv und weiterführend wird eine solche Antwort erst dann, wenn sie sich verbindet mit einer möglichst konkreten Bestimmung und Beschreibung dessen, was jeweils unter Toleranz verstanden wird und wenn sie die je eigenen theologischen bzw. weltanschaulich-religiösen Gründe durchsichtig macht, durch die sie sich zu solcher Toleranz verpflichtet weiß bzw. wissen. Während sich von daher eine pluralistische Situation im Blick auf Konzepte und Konzeptionen der Toleranz ergibt, die weder irritierend noch bedrohlich sein muss, verschärft sich die Situation dann radikal, wenn eine Religion oder Weltanschauungsgemeinschaft sich nicht in der Lage sieht, den Toleranzgedanken mit ihren Grundüberzeugungen zu verbinden und zu vereinbaren. Das ist vor allem dort der Fall, wo eine Religion oder Weltanschauungsgemeinschaft die Existenz abweichender religiös-weltanschaulicher Überzeugungen und Lebensformen als Bedrohung und Infragestellung ihrer eigenen Identität empfindet und beurteilt. Kommen in diesem Fall die Möglichkeiten des Dialogs und der friedlichen Konvivenz der Religionen an ihr Ende, so dass nun allenfalls noch vom (säkularen) Staat und seiner Rechtsordnung die Vorgaben für ein erträgliches Nebeneinander erhofft und erwartet werden können? Das wäre dann die Situation, wie sie im Abendland am Ende des Dreißigjährigen Krieges zu bestehen schien und wahrgenommen wurde: der Erweis der Friedensunfähigkeit der Religionen,57 57 S. dazu E. Herms, Die ökumenische Bewegung und das Friedensproblem der Neuzeit, in: ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer für eine realistische Ökumene, Marburg 1989, S. 216 – 243.
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die deren Zurückdrängung aus dem öffentlichen Leben und ihre politische Domestizierung erforderlich zu machen scheint. Eine solche Situation kann aus der Sicht der christlichen Religion (und vermutlich gilt das ebenso für andere Religionen) nur als Übelstand wahrgenommen und beurteilt werden. Und das bedeutet: Wenn es Möglichkeiten und Potentiale in den Religionen gibt, konstruktiv auf das Problem der Toleranzunfähigkeit einzelner Religionen und Weltanschauungen zu reagieren, dann verdienen diese gegenüber einer bloß staatlich auferlegten und aufgezwungenen Friedenspflicht den Vorzug. Gibt es im Christentum solche Möglichkeiten und Potentiale? Ich sehe an vier Punkten dafür Ansätze: Diese sollen nun abschließend kurz58 genannt werden: a.) Eine für den christlichen Glauben wesentliche Einsicht besagt, dass das Zustandekommen von christlichem Glauben sich nicht dem Wollen, Bemühen oder Entscheiden des Menschen verdankt, sondern auf einer dem Menschen zuteilwerdenden Gewissheit basiert, die ihrerseits als Gabe Gottes zu verstehen ist.59 Das heißt nicht, dass die personale Beteiligung des Menschen beim Zustandekommen des Glaubens ausgeschlossen wäre, wohl aber besagt es, dass das Glauben hervorrufende Wirken Gottes eine notwendige Bedingung dafür ist, dass ein Mensch zum Glauben kommt.60 Daraus folgt einerseits, dass kein Mensch einen Grund hat, sich seines Glaubens zu rühmen, andererseits, dass auch der Unglaube von Menschen als etwas verstanden werden muss, was jedenfalls unter Gottes Zulassung geschieht. Dieses Verständnis des Glaubens (und des Unglaubens) hat Konsequenzen für die Einstellung zu Menschen anderen Glaubens bzw. zu Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen. Auch wenn nicht gesagt werden kann, dass deren Glaube (oder Überzeugung) das Werk Gottes sei, so muss doch zugestanden werden, dass auch dieser Glaube (oder diese Überzeugung) 58 Eine ausführlichere Thematisierung dieser Potentiale ist Thema der folgenden Studie (s. u. S. 141 – 145). 59 So schon im Neuen Testament z. B. Mt 16,17 oder Phil 2,13 (als Begründung für das in V. 12 Gesagte!), besonders deutlich in Luthers Auslegung des Dritten Glaubensartikels in seinem Kleinen Katechismus: „Ich gläube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten“ (BSLK 511,46 – 512,5). 60 Diesen Aspekt des göttlichen Wirkens nennt der christliche Glaube den Heiligen Geist (siehe das Lutherzitat in der vorigen Anmerkung).
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unter Gottes Zulassung steht und dass er – auch deshalb – als Ausdruck von deren Gewissheit zu respektieren ist. Es ist eine noch zu erwägende Frage, ob die Einsicht, dass die den Glauben ermöglichende Gewissheit als Werk Gottes zu verstehen ist, auch aus der Sicht anderer Religionen gilt oder jedenfalls gelten könnte. Läge in einer solchen gemeinsamen Einsicht, obwohl sie sich auf ganz unterschiedliche Gewissheiten und Glaubensverständnisse bezieht, nicht ein beachtliches Potential für die Toleranz der Religionen untereinander – und zwar nicht nur ihrer Gemeinsamkeit wegen, sondern weil sie den Umgang miteinander wesentlich bestimmen müsste? b.) In den ersten Abschnitten dieses Aufsatzes war bereits von der für die reformatorische Theologie wesentlichen Unterscheidung zwischen Person und Werk – auch im Blick auf das Toleranzproblem – die Rede. Macht man sich diese Unterscheidung zu eigen, so lässt sich in klarer, eindeutiger Weise Toleranz verbinden mit dem kompromisslosen Einstehen und Eintreten für die eigene Wahrheitsgewissheit. Toleranz bezieht sich dann auf die Duldung von Menschen mit anderen religiösen, weltanschaulichen Gewissheiten und Überzeugungen, ja sogar das Akzeptieren des Menschen, aber sie bedeutet kein Akzeptieren anderer Gewissheiten oder Überzeugungen, ja nicht einmal das Zugeständnis, alle Auffassungen seien gleichermaßen gültig (oder unsicher). Toleranz verbindet sich hier mit dem Zur-Geltung-Bringen der eigenen Position und u. U. mit der deutlichen Ablehnung anderer Positionen.61 Im Fortgang unserer Untersuchung bestätigte sich sogar die Vermutung, dass nur unter der Voraussetzung eigener (und fremder) Wahrheitsgewissheit Toleranz überhaupt möglich sei. Dabei ist aber vorauszusetzen, dass das Eintreten, das für die eigene Überzeugung in Anspruch genommen wird, auch den Anhängern fremder Überzeugungen zugestanden wird. Dies findet allerdings dort seine Grenze, wo Menschen Überzeugungen vertreten, durch die genau diese Gleichberechtigung und damit die Basis des Zusammenlebens in Frage gestellt oder bestritten werden. Dies muss verhindert werden, ohne dass damit den Menschen, die diese Überzeugungen vertreten ihr Daseinsrecht
61 Ich habe deshalb in meinem Aufsatz: Die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen (in diesem Band S. 104 – 108) vorgeschlagen, diese Haltung als „positionellen Pluralismus“ zu bezeichnen. Ihm entspricht die hier vertretene Toleranz, die man als „positionelle Toleranz“ bezeichnen kann.
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Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz
bestritten wird. Ist (auch) dies eine für die Konvivenz der Religionen allgemein akzeptierbare Basis? c.) Als ein Spezifikum der neutestamentlichen Aussagen zur Feindesliebe (die ihrerseits das tiefste Fundament des Toleranzgedankens bilden) zeigte sich ihr Charakter als einseitige Vorleistung, die sich nicht von einem entsprechenden Entgegenkommen der Gegenseite abhängig macht. Demzufolge kann Toleranz auch dort gewährt und praktiziert werden, wo sie von der Gegenseite (noch) nicht erwidert wird oder nicht erwidert werden kann. Das betont das Neue Testament nicht nur im Blick auf die vorgängige Toleranz bzw. Liebe Gottes, sondern auch im Blick auf den entsprechenden Umgang der Menschen miteinander.62 In diesem Sinne lässt sich auch die Botschaft von Lessings Ringparabel für den Toleranzgedanken fruchtbar machen. Allerdings ist hier – auch und gerade aus der Sicht der reformatorischen Theologie, insbesondere auf Grund ihrer Unterscheidung zwischen Person und Amt des Menschen – eine wichtige Ergänzung und Präzisierung notwendig: So heilsam es sein kann, wenn Toleranz einseitig (als Vorleistung) erbracht wird, so unerlässlich ist es für dauerhaft gelingende soziale Beziehungen, dass (auch hinsichtlich der Toleranz) ein Verhältnis der Wechselseitigkeit besteht oder entsteht. Das heißt einerseits: Wer Toleranz für sich in Anspruch nimmt, muss sie auch anderen gegenüber praktizieren. Und es heißt andererseits: Wer Toleranz praktiziert, sollte für ihre Realisierung auch dort eintreten, wo sie noch nicht praktiziert wird. d.) Veränderungsprozesse, die die Identität von Personen, Gruppen oder Gemeinschaften betreffen, werden in der Regel dadurch erschwert oder sogar verunmöglicht, dass sie von außen gefordert oder sogar aufgenötigt werden. Aus gut nachvollziehbaren Gründen befördert solcher Druck von außerhalb das Gefühl der Bedrohung oder des Verlustes der eigenen Identität. Und deshalb löst dieser Druck eher Widerstand, Verhärtung und Abkapselung aus als Öffnung und Bereitschaft, sich zu verändern. Diese Einsicht steht in enger Beziehung zu dem in Abschnitt 2 angesprochenen Gedanken, dass für die Ermöglichung von Toleranz die Erfahrung von zuteilwerdender oder zuteilgewordener Toleranz günstiger und wirkungsvoller ist als die Begegnung mit der Forderung, Toleranz zu praktizieren. Deshalb ist es wohl der wirksamste Beitrag, den eine Religion zur Schaffung, Entwicklung und Stärkung von Toleranz leisten kann, wenn es ihr gelingt, sie anderen als Widerfahrnis von Toleranz zuteil werden zu lassen. Dies ist 62 Vgl. Mt 5,46 f. und Lk 6,32 – 35.
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aber nur möglich im Vertrauen darauf, dass einseitig gewährte Toleranz nicht ausgenützt wird, sondern auf fruchtbaren Boden fällt und Nachahmung findet. Damit verbindet sich die Hoffnung, andere auf diese Weise nicht nur für den Toleranzgedanken, sondern für eine Konvivenz der Religionen und Weltanschauungen im Geist der Toleranz zu gewinnen.
Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht Wer es in unserer Zeit – insbesondere nach dem 11. September 2001 – wagt, von religiösen Wurzeln der Toleranz zu sprechen oder zumindest nach ihnen zu fragen, setzt sich in weiten Kreisen der Bevölkerung zumindest dem Erstaunen aus. Vermutlich fallen die Reaktionen aber noch deutlicher aus und nehmen schnell ironische oder sarkastische Züge an. Sollte man wirklich den „religiösen Bock“ zum Gärtner der Toleranz machen oder erklären? Ausgerechnet in der Religion nach Wurzeln der Toleranz zu suchen, wirkt auf viele Menschen abwegig, weil allem Anschein nach gerade dort die hauptsächlichen Wurzeln der Intoleranz liegen. Häufig wird heutzutage der Vermutung, es gebe religiöse Wurzeln der Toleranz, die These entgegengesetzt, es sei allein die Domestizierung oder berwindung der Religion durch Aufklärung und Rationalismus, von der wir in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tolerante, friedliche Formen des Zusammenlebens und der Konfliktbearbeitung erwarten dürften. Bei dieser Argumentation gerät leicht aus dem Blick, welche Blutspur die politische Umsetzung der Aufklärung etwa in Gestalt der Französischen Revolution oder ihrer – dem Selbstanspruch nach konsequenten – Fortsetzung in Gestalt des Marxismus/Leninismus in der Geschichte des Abendlandes hinterlassen hat. Aber selbst wenn man mit einem solchen Auch-du-Argument die Kritiker möglicherweise beeindrucken und zu leiseren, vorsichtigeren Äußerungen veranlassen kann, so ist doch dieser Weg einer gegenseitigen Aufrechnung von Taten und Opfern der Intoleranz das, was der realistischen Wahrnehmung und Bearbeitung des damit angesprochenen Problems am wenigsten dient. Die Tatsache, dass im Namen der Vernunft und der Religionskritik Millionen Menschen ermordet wurden, rechtfertigt doch keine einzige Bluttat, die im Namen der Religion oder des Glaubens begangen wurde. Und solche Bluttaten wurden in großer Zahl begangen. Ein weiteres Argument kommt hinzu: Es scheint zumindest so, als gebe es nicht nur einzelne religiöse Wurzeln der Intoleranz, sondern als
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sei Religion berhaupt ein Faktor, der Konflikte zwischen Menschen, Gruppen und Völkern auslöst oder doch zumindest erheblich verschärft. Haben nicht viele Konfliktherde, die in letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen haben, mehr oder weniger starke religiöse Gründe oder zumindest religiöse Elemente – seien diese interreligiöser oder innerreligiöser, also z. B. konfessioneller Art. Ob man an die noch nicht lange beigelegten Konflikte in Nordirland denkt, an den Balkan, an die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern, an den Kaschmir-Konflikt, an den Terrorismus der Talibaan, an die täglichen Anschläge zischen Sunniten und Schiiten im Iraq – um nur einige besonders bekannte Konfliktherde zu erwähnen –, wo würden wir wagen zu behaupten, da sei Religion nicht konfliktverursachend oder zumindest konfliktverschrfend beteiligt? Und welche Religion oder Konfession könnte von sich sagen, sie habe damit nichts zu tun? Ich leite aus diesen knappen Beobachtungen und Überlegungen die These ab: Von religiösen Wurzeln der Toleranz kann nicht auf überzeugende Weise geredet werden, wenn nicht auch die religiösen Wurzeln der Intoleranz in den Blick gefasst werden. Der Sinn dieser These wäre missverstanden, wenn sie so aufgefasst würde, als ginge es lediglich darum, zuzugestehen, dass Religion bzw. je unsere eigene Religion in Vergangenheit und Gegenwart intolerante Züge aufgewiesen und entsprechende Verhaltensformen hervorgebracht hat und dass es insofern in der Religion bzw. in unserer je eigenen Religion Wurzeln der Intoleranz gibt. Dieses selbstkritische, bußfertige Eingeständnis ist vorauszusetzen, aber darin erschöpft sich der Sinn meiner These nicht. Vielmehr geht es darum, nachzufragen, inwiefern Religion eine Wurzel von Intoleranz sein kann, welche Elemente oder Faktoren es also sind, die (In-)Toleranz hervorbringen und in wieweit sie zur Religion überhaupt oder zu einer bestimmten Religion gehören. Alle diese Fragen, insbesondere die zuletzt genannte, lassen sich nicht sinnvoll beantworten ohne eine wenigstens elementare Verständigung darüber, was unter „Toleranz“ und „Intoleranz“ sowie unter „Religion“ zu verstehen sei, wie also diese Begriffe von mir gebraucht werden.
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Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht
1. Begriffliche Vorverständigungen über „Toleranz“, „Intoleranz“ und „Religion“ Für die Verständigung über den Toleranzbegriff orientiere ich mich erneut an der Definition, die das Historische Wörterbuch der Philosophie1 gibt, wonach Toleranz „die Duldung von Personen, Handlungen oder Meinungen [ist], die aus moralischen oder anderen Gründen abgelehnt werden“. Die (begründete) Ablehnung anderer Personen, Handlungen oder Meinungen und die deutliche Kritik an ihnen bildet also nicht etwa einen Widerspruch zur Toleranz, sondern einen notwendigen Bestandteil von Toleranz. Wo nichts abgelehnt wird, gibt es auch nichts zu tolerieren. Das widerspricht vermutlich dem Sprachempfinden vieler Menschen, wenn sie das Wort „Toleranz“ gebrauchen. Gerade deswegen liegt mir daran, nachdrücklich auf diesen sperrigen Befund hinzuweisen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ablehnung ist natürlich nur eine notwendige Bedingung für Toleranz, keineswegs eine hinreichende. Hinreichend ist erst die Duldung, das Ertragen, vielleicht sogar das Erleiden des Abgelehnten. Und Intoleranz ist dementsprechend die Haltung, die abgelehnte Personen, Handlungen oder Meinungen unter Androhung oder Anwendung von Gewalt nicht duldet und nicht erträgt – wobei noch ganz offen ist, ob dieses Nicht-Dulden und Nicht-Ertragen Ausdruck eines Nicht-Wollens oder eines NichtKönnens ist. Ein solches Nicht-Können könnte sich für Menschen gerade aufgrund ihrer Religion oder ihrer religiösen Überzeugung ergeben. Deshalb nun die zweite Vorfrage: Was ist Religion? Die Frage nach dem, was als religiös oder als Religion zu verstehen ist, gehört zu den insbesondere in der Religionswissenschaft ganz umstrittenen Fragen, wobei der Streit sich sogar darauf erstreckt, ob diese Frage überhaupt sinnvoll und beantwortbar sei.2 Ich kann mich ihm Rahmen dieses Aufsatzes naturgemäß nicht auf diese Diskussionen einlassen, sondern nur zum Zwecke der besseren Verständigung sagen, von welchem Religionsbegriff bzw. Religions1 2
Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 1251 f. Siehe dazu schon oben S. 109 – 130 in dem Aufsatz Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz, Anm. 6. Vgl. dazu F. Wagner. Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986; G. Ahn/F. Wagner/R. Preul. Art. „Religion I-III“, in: TRE 28/1997, 513 – 559 sowie MJTh XV: Religion, Marburg 2003.
Begriffliche Vorverständigungen
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verständnis ich hier ausgehe, um die Frage nach den religiösen Wurzeln von Toleranz und Intoleranz zu diskutieren. Dabei orientierte ich mich primär an den monotheistischen Religionen, im Blick auf die sich in unserem kulturellen Bereich vor allem die Frage nach Wurzeln von Toleranz und Intoleranz stellt, also an Judentum, Christentum und Islam. Ich fasse den Religionsbegriff jedoch so weit, dass ich nicht ausschließe, sondern erhoffe (und erwarte), dass auch andere Religionen, Religionsgemeinschaften oder religiöse Gruppierungen sich mit diesem Religionsbegriff erfasst und durch ihn verstanden fühlen. Ich verstehe unter Religion die das ganze Leben betreffende Ausrichtung von Menschen auf eine transzendente (oder göttliche) Wirklichkeit als den Grund des Daseins und als die Ermöglichung von Heil. Diese Ausrichtung geschieht sowohl gemeinschaftlich als auch individuell, und sie hat kultisch-rituelle, spirituelle, lehrhafte und ethische Aspekte. Weil es in der Religion um das Innesein der – mit Schleiermacher zu sprechen – „schlechthinnigen Abhängigkeit“3 des Menschen von der göttlichen Wirklichkeit geht, mit der die Entscheidung über den Sinn der Existenz fällt, darum hat so verstandene Religion stets den Charakter von etwas Unbedingtem. Sie ist – mit Tillich zu sprechen – Ausrichtung auf das, „was den Menschen unbedingt angeht“, oder, kürzer formuliert: „Richtung auf das Unbedingte“4. Wenn Religion generell zu verstehen ist als die Ausrichtung auf eine transzendente Wirklichkeit als das unbedingt Angehende, dann ist für religiöse Akte jedenfalls stets eine dreifache Gewissheit konstitutiv: a) die Gewissheit, in einer bestimmten Erfahrung, einem Text, einem Ritus mit der göttlichen Wirklichkeit in Berhrung zu kommen bzw. gekommen zu sein; b) die Gewissheit, durch diese Begegnung in der eigenen Existenz unbedingt betroffen zu sein, und c) die Gewissheit, durch diese Begegnung unausweichlich zu einer Antwort herausgefordert zu sein.
3 4
F. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/312, § 4. Die erstgenannte Formulierung ist Tillichs Systematischer Theologie, Bd. I, (1951) Berlin/New York 19848, S. 19 f. entnommen, die zweitgenannte Definition findet sich schon in seiner Religionsphilosophie von 1925, in: Paul Tillich, Main Works – Hauptwerke, Bd. 4, Berlin/New York 1987, S. 134.
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Dabei geht es bei diesen Gewissheiten niemals nur um die Beziehung des einzelnen Menschen zur göttlichen Wirklichkeit, so als seien die Mitmenschen und Mitgeschöpfe, die geschichtliche, soziale und naturhafte Welt dabei ausgeschlossen. Dies alles ist in der Regel stillschweigend oder ausdrücklich in die religiöse Erfahrung einbezogen, aber eben in der Zuspitzung, dass all diese Beziehungen im religiösen Akt in den Horizont der Beziehung zum Göttlichen rücken, von daher ihre Deutung und Bedeutung empfangen. Nach dem, was bisher über „Toleranz“ und „Religion“ gesagt wurde, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Toleranz bzw. Intoleranz nur dort, wo es um die Begegnung oder Auseinandersetzung mit Menschen oder Überzeugungen geht, die eine andere, abweichende, entgegengesetzte religiöse Haltung repräsentieren, also um das Verhalten zu Personen, Handlungen oder Meinungen, die aus religiçsen Gründen abgelehnt werden (müssen). Dabei kann und wird man zunächst an Menschen, Praktiken und Lehrmeinungen denken, die fremden Religionen oder Weltanschauungen zugehören, wobei es um die fremden Religionen und Weltanschauungen im ganzen gehen kann oder um einzelne ihrer Elemente, die aus religiösen Gründen abgelehnt werden. Aber auch innerhalb der eigenen Religion, ja sogar innerhalb der eigenen Konfession, Kirche oder Gemeinde kann und wird sich immer wieder das Thema „Toleranz“ stellen, hier freilich nicht bezogen auf das Ganze, das ja grundsätzlich geteilt wird, sondern bezogen auf einzelne Elemente, die abgelehnt werden. Dabei kann freilich das einzelne Element u. U. eine bestimmte Interpretation des Ganzen (des christlichen oder des evangelischen Glaubens) sein, so dass sich die beiden Formen, in denen sich das Thema „Toleranz“ stellt, einander doch sehr stark annähern und ineinander übergehen können. In der Religions- und Kirchengeschichte tauchen diese beiden Aspekte der Toleranzthematik auf unter den Stichworten: „Duldung fremder Religionen“ (einschließlich des sogenannten Heidentums) und ihrer Anhänger sowie „Umgang mit Ketzern, Häretikern oder Schismatikern“. Und die Frage, die sich uns nun stellt, lautet: Wie ist aus evangelischer Sicht Toleranz oder Intoleranz5 im Umgang mit Andersgläubigen (außerhalb und innerhalb der eigenen Religion bzw. Glaubensgemeinschaft) zu beurteilen? 5
Intoleranz kann sich sehr unterschiedlich äußern: als Diffamierung, Ausschluss, Vertreibung, Verfolgung, Vernichtung etc.
Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht
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2. Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht Zu den Sätzen Martin Luthers, die vom Lehramt in Rom als „Irrtümer Martin Luthers“ gebrandmarkt wurden und zu seiner (und seiner Anhänger) bis heute wirksamen Exkommunikation geführt haben, gehört der Satz: „Dass Häretiker verbrannt werden, ist gegen den Willen des Geistes“6. Dieser Befund ist in mehrfacher Hinsicht für unser Thema instruktiv: - zunächst als (negative) inhaltliche Aussage Luthers zur Frage nach dem angemessenen Umgang mit Häretikern ( jedenfalls nicht verbrennen); - sodann als Bewertung dieser Aussage Luthers durch das römische Lehramt (ihrerseits häretisch); - ferner als Ausdruck des Umgangs der römisch-katholischen Kirche mit einem nicht zum Widerruf bereiten (vermeintlichen) Häretiker (Exkommunikation), sowie - schließlich als Beschreibung des möglichen Schicksals, das einem Häretiker (wie angeblich Luther) drohen konnte (Verbrennung7). Auffällig an Luthers These ist, dass er sie begründet durch Berufung auf den (Heiligen) Geist, und nicht etwa durch Berufung auf das Tötungsverbot im Dekalog, auf das Liebesgebot im Alten und Neuen Testament, auf den Freiheitsgedanken in den paulinischen Briefen oder Ähnliches. Achtet man auf den Kontext dieser Aussage in den 95 Thesen, so ist mit dem „Geist“ dort offenbar zunächst der die Schrift inspirierende Geist gemeint; denn Luther bezieht sich zur Begründung seiner These auf mehrere Bibelstellen, denen er entnimmt, dass die Verbrennung bzw. Vernichtung von Häretikern nicht dem in der Heiligen Schrift offenbarten Willen Gottes entspreche: 6
7
DH 1483: „Haereticos comburi est contra voluntatem Spiritus“. Bei Luther finden sich die entsprechenden Aussagen in den Erläuterungen zu These 80 der 95 Thesen über die Kraft der Ablässe (WA 1, 624,36 – 38 und 625, 4). Wörtlich heißt es bei Luther: „haereticos et errantes concrememus … contra voluntatem spiritus“ (dt. „Häretiker und Irrende verbrennen wir … gegen den Willen des Geistes“), und er bestreitet die Meinung: „opportet comburi haereticos“ (dt.: „Es ist richtig, Häretiker zu verbrennen“). Dass dies eine reale Möglichkeit war, hatte hundert Jahre vor Luther das Schicksal von Jan Hus in Konstanz gezeigt und zeigte kurz danach das Schicksal von Anhängern Luthers in den Niederlanden und anderswo – aber auch das Schicksal von Servet in Genf. Dass diese reale Möglichkeit bei Luther nicht aktualisiert wurde, ist (unter den irdischen Instanzen) wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, dass Friedrich der Weise seine Hand schützend über ihn hielt.
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- Zunächst verweist er auf 2 Kor 10,5, wo Paulus sagt: „Wir zerstören [sc. mit den uns gegebenen geistlichen Waffen] Gedanken und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes…“. Gedanken zu zerstören, ist nach Luthers Meinung der für die Kirche und die Gläubigen gewiesene Weg, um sich mit entgegenstehenden Lehrmeinungen auseinanderzusetzen. Demgegenüber konstatiert er in der Kirche den Versuch, „einen kürzeren Weg anstelle dieser Mühe“ zu suchen, nämlich „statt die Ketzereien oder Irrtümer zu zerstören, die Ketzer und Irrenden zu verbrennen“.8 - Weiter erwähnt Luther Ri 3,1 – 6, wo gesagt wird, Gott habe nach der Landnahme Israels mehrere Völker im Land übriggelassen, um Israel einerseits zu lehren, Krieg zu führen, und um andererseits Israels Gehorsam und Treue zu prüfen. Diese Stelle legt Luther (im Anschluss an Hieronymus) typologisch aus als Hinweis auf den Kampf der Kirche mit den Ketzern. D. h.: Ketzereien existieren unter der Zulassung Gottes, damit die Kirche lernt, für den rechten Glauben zu kämpfen und sich in der Treue zu ihrem Glauben zu bewähren. - Sodann zitiert Luther 1 Kor 11,19, wo Paulus sagt: „Denn es müssen ja Spaltungen unter euch sein, damit die Rechtschaffenen unter euch offenbar werden“, woraus Luther schließt, dass es unter Gottes Zulassung Häresien gibt, die wir folglich nicht mit Gewalt eliminieren sollen bzw. dürfen. - Die vierte Bibelstelle schließlich, auf die Luther in diesem Zusammenhang anspielt, ist der Text, der für seine Einstellung zum Umgang mit Ketzern vom Anfang bis zum Ende seiner reformatorischen Tätigkeit grundlegende Bedeutung gehabt hat: Mt 13,28 f., die Worte aus dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen: „Da sprachen die Knechte: Willst du denn, dass wir hingehen und es [das Unkraut] ausjäten? Er sprach: Nein! damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet“. Demgegenüber sieht Luther in der Kirche seiner Zeit eine Einstellung, die besagt: „Die Ketzer müssen verbrannt und so die Wurzel mit den Früchten, ja das Unkraut zusammen mit dem Weizen ausgerottet werden“.9 Lässt man diese Bibelaussagen inhaltlich auf sich wirken, so zeigt sich, dass mit der Rede vom „Willen des Geistes“ zwar vordergründig 8 9
WA 1, 624,35 f.: „Compendium illud laboris nobis placet, ut non haereses aut errores destruamus, sed haereticos et errantes concrememus“. WA 1, 625,4 f: „Oportet comburi haereticos ac sic raticem cum fructibus immo zizania cum tritico evellere“.
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nur die Bibelaussagen als inspirierte Aussagen gemeint sind, hintergründig aber zugleich eine deutliche Bezugnahme auf das (zulassende) Wirken Gottes vorauszusetzen ist. Und dabei besteht ganz offensichtlich ein enger Zusammenhang gerade zum Reden vom Geistwirken Gottes. Dieser Zusammenhang wird offensichtlich, wenn man an Luthers Auslegung des Dritten Glaubensartikels, etwa im Kleinen Katechismus, denkt, wo es als Antwort auf die Frage, was es denn heiße, an den Heiligen Geist zu glauben, heißt: „Ich gläube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleucht, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben …“10. Dieser Aussage des Glaubensbekenntnisses über das Zustandekommen des Glaubens ist zunächst negativ zu entnehmen, dass der christliche Glauben nicht den eigenen Fähigkeiten des Menschen entstammen kann. Positiv wird dem entgegengesetzt11, dass die Entstehung und Erhaltung rechten Glaubens das Werk ist, das der Heilige Geist durch das Evangelium wirkt. Im Zusammenhang der uns hier beschäftigenden Thematik stellt sich nun die Frage, was daraus im Blick auf mögliche religiöse Wurzeln von Toleranz oder Intoleranz im Umgang mit fremdem Glauben12 folgt. Wenn man versucht, aus den einschlägigen Katechismusaussagen solche Konsequenzen abzuleiten, dann scheinen mir rein theoretisch vier Möglichkeiten gegeben zu sein:
10 BSLK 511,46 – 512,8. Dasselbe lässt sich aus der Auslegung des Dritten Artikels im Großen Katechismus und vielen anderen Aussagen Luthers belegen. Siehe dazu die grundlegende Studie von E. Herms: Luthers Auslegung des Dritten Artikels. Tübingen 1987. 11 Und diese positiven Aussagen stimmen inhaltlich genau mit dem überein, was CA 5 über die Konstitution des Glaubens sagt. 12 Den Begriff „fremden Glauben“ verwende ich hier und im Folgenden als Sammelbezeichnung für alle Glaubensformen oder -einstellungen, die sich vom (rechten) christlichen Glauben unterscheiden, also für das was man als fremde Religion oder Weltanschauung, als Unglauben, Aberglauben, häretischen Glauben etc. bezeichnen kann. Menschen mit einem fremden Glauben bezeichne ich zusammenfassend mit dem geläufigen Ausdruck „Andersgläubige“.
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1.) Während der rechte christliche Glaube das Werk des Heiligen Geistes ist, ist der fremde Glaube das Werk anderer (widergçttlicher) Mächte. 2.) Während der rechte christliche Glaube das Werk des Heiligen Geistes ist, trägt der Mensch für den fremden Glauben selbst die Verantwortung. 3.) Während der rechte christliche Glaube das Werk des Heiligen Geistes ist, entsteht fremder Glaube zwar unter Gottes Zulassung, ist aber nicht Werk des Heiligen Geistes. 4.) So wie die Entstehung rechten christlichen Glaubens das Werk des Heiligen Geistes ist, ist auch die Entstehung fremden Glaubens das Werk des Heiligen Geistes. Betrachtet man diese vier Möglichkeiten, so scheint die zweite Möglichkeit aus logischen Gründen, die vierte aus theologischen Gründen ausgeschlossen zu sein, während sich die erste und die dritte Möglichkeit unter dem Leitgedanken der Zulassung durch Gott miteinander verbinden lassen. Aber bei dieser Lösung des Problems bleiben mehrere Fragen offen: Vermag der Rückgriff auf eine widergöttliche Verführungsmacht das Problem tatsächlich zu lösen oder verschiebt er es nur auf eine andere Ebene? Stellt sich im Blick auf diese Macht nicht die Alternative, dass sie entweder im Sinn einer dualistischen Wirklichkeitsauffassung als ewige Gegenmacht zu Gott gedacht werden muss oder dass die Frage beantwortet werden muss, wie bzw. wodurch es zum Fall und damit zur Verwandlung des Engels des Lichtes in den Engel der Finsternis kommen konnte. Weist man den Dualismus, was m. E. zwingend geboten ist, als mit dem christlichen Glauben unvereinbar ab, so stellt sich im Blick auf die Entstehung fremden Glaubens wiederum die Alternative, dass sie entweder auf Gott als letzten Bewirkenden zurückgeführt werden muss oder in die Verantwortung eines Geschöpfs, nämlich eines Engels, fällt. Aber nun stellt sich natürlich mit allem Nachdruck die Frage: Darf denn in dieser Weise von fremdem Glauben gesprochen werden? Entsteht dadurch nicht der Eindruck, dass er geradezu mit Sünde identifiziert wird? Ist nicht vorauszusetzen, dass sich einem anderen Menschen (in einem anderen religiösen, kulturellen, historischen Umfeld) eine andere Glaubensgewissheit als unbedingt verpflichtend erschlossen hat, der er nun gerade aus religiösen Gründen treu sein und treu bleiben muss, auch wenn wir möglicherweise der Überzeugung sind, ihm habe sich nicht die Wahrheit erschlossen, sondern er sei einem
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Irrtum erlegen? Was bzw. woran würden wir vermutlich glauben, wenn wir in Ankara, Bombay oder Tokio geboren und aufgewachsen wären? Versucht man sich diesen Fragen und Einwänden ehrlich zu stellen, so entsteht der Eindruck, dass im Blick auf das Verhältnis zu Menschen fremden Glaubens die geläufigen theologischen Argumentationsformen und Grundüberzeugungen zu ganz merkwürdigen, inakzeptablen Konsequenzen führen oder generell so nicht greifen. Das wird insbesondere dann sichtbar, wenn man die bisher angedeuteten Denkansätze im Blick auf ihre eschatologischen Konsequenzen hin zu durchdenken versucht. Man steht letztlich vor folgendem Dilemma: Entweder spielt es in eschatologischer Hinsicht gar keine Rolle, welcher Glaube ein menschliches Leben geprägt bzw. getragen hat, weil Gott ohnehin alle Menschen zur ewigen Seligkeit bestimmt hat, oder Gott hat nach seinem unerforschlichen Ratschluss einige Menschen erwählt, um in ihnen den rechten Glauben zu schenken und sie so in Zeit und Ewigkeit zu retten, während er anderen Menschen diese Gabe nicht zuteil werden lässt und sie in Ewigkeit verwirft. Man muss wohl nicht ausführlich begründen, dass und warum beide genannten Möglichkeiten (wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen) aus evangelischer Sicht zumindest unbefriedigend, wenn nicht sogar inakzeptabel sind. Mehr noch: Schon die Formulierung dieser Alternativen und ihr Abwägen gegeneinander erscheinen als unangemessen und sachfremd. Es ist so, als hätte die Theologie geradezu ihren Bezug zum Inhalt des christlichen Glaubens verloren, wenn sie anfängt, solche Folgerungen zu ziehen, Szenarien zu entwickeln, gegeneinander abzuwägen und möglicherweise zu entscheiden. Wie kommt das? An welcher Stelle kommt das theologische Nachdenken über diese Fragen vom Weg ab und beginnt, sich in Spekulationen zu verlieren? Meine Vermutung ist, dass diese verkehrte Weichenstellung dort passiert, wo die Glaubenskommunikation (verstanden als Kommunikation über den Glauben aus der Sicht des Glaubens) verlassen wird in Richtung auf eine Kommunikation über fremden Glauben. Das hieße: Die Theologie verliert dann ihre Sachorientierung und ihren Sachbezug, wenn sie meint, über fremden Glauben mit den gleichen Mitteln kommunizieren zu können wie über den eigenen (christlichen) Glauben. Die theologische Begründung dafür, dass bei diesem Übergang ein grundliegender theologischer Fehler passiert, könnte den Überlegungen zu entnehmen sein, die Rudolf Bultmann 1925 unter dem (etwas irreführenden) Titel angestellt hat: „Welchen Sinn hat es, von Gott zu
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reden?“13 Seine Hauptthese lautet: Von Gott kann nur sachgemäß geredet werden aus der Haltung des Glaubens heraus, in der ein Mensch sich von Gott bestimmt weiß. Alles andere ist ein sachfremdes Reden ber Gott, das seinen „Gegenstand“ grundsätzlich verfehlt, und dasselbe gilt – so Bultmann – im Blick auf die Liebe. Und ebenso gilt es, so möchte ich anfügen, auch für den Glauben selbst. Dies ist ja auch der entscheidende Grund dafür, dass der christliche Glaube die aus der Perspektive des Glaubens vollzogene theologische (und nicht nur die von außen kommende religionswissenschaftliche) Betrachtung braucht. Sprechen wir aber als Theologen über fremden Glauben (seine Entstehung, seinen Gehalt, seine soteriologische oder eschatologische Bedeutung), so befinden wir uns in einer (quasi religionswissenschaftlichen) Außenperspektive, die zwar eine beschreibende Betrachtung aber keine Rekonstruktion, Explikation und Bewertung des Wahrheitsgehaltes solchen fremden Glaubens erlaubt. Eine Theologie fremden Glaubens ist bzw. wäre deshalb ein Unding. Aber ist der Verzicht auf eine solche Theologie fremden Glaubens mit dem Wesen des christlichen Glaubens und der Aufgabe christlicher Theologie vereinbar? Lassen sich dazu aus einer Besinnung auf den biblischen Kanon Einsichten gewinnen?
3. Neutestamentliche Beobachtungen zur Glaubenskommunikation Im Neuen Testament gibt es mehrere Erzählungen, in denen sich das Heraustreten aus der Glaubenskommunikation und damit eine Unterbrechung dieser Kommunikationssituation anbahnt oder vollzogen und bearbeitet wird. Interessanterweise haben die drei neutestamentlichen Texte, die mir dazu vor allem ein- bzw. aufgefallen sind, einen mehr oder weniger direkten bezug zum Thema „Toleranz oder Intoleranz“ Als ersten Text nenne ich Joh 21,15 – 23, wobei es sich (noch) um eine ganz innerchristliche Szene handelt: Der auferstandene Christus begegnet Simon Petrus, der ihn verleugnet hatte. Er fragt ihn nach seiner Liebe und beauftragt ihn, Christi Herde bis zu seinem Tod zu leiten. Diese äußerst dichte religiöse Kommunikation wird abrupt unterbrochen, als Petrus den sogenannten Lieblingsjünger Jesu kommen 13 Glauben und Verstehen Bd. I. Tübingen (1933) 19666, S. 26 – 37.
Neutestamentliche Beobachtungen zur Glaubenskommunikation
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sieht und den Auferstandenen nach dessen Schicksal fragt. Und er erhält von Jesus die Antwort: „Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?“ Und Jesus schließt dem die kurze Aufforderung an: „Folge du mir nach!“ (V. 22). Damit wird Petrus von seiner Kommunikation über das künftige Schicksal eines anderen weggeholt und wieder hineingenommen in die Glaubenskommunikation, die zwar nicht seine Neugier befriedigt, ihn aber zur Sache ruft. Nun geht es wieder um ihn ganz persönlich. In einer anderen Szene (Mk 9,33 – 40, par. Lk 9,46 – 50) ist es Johannes, der die religiöse Kommunikation mit Jesus unterbricht, indem er auf einen fremden Exorzisten verweist: „Meister, wir sahen einen, der trieb böse Geister in deinem Namen aus, und wir verboten’s ihm, weil er uns nicht nachfolgt“ (Mk 9,38). Lk 9,49 formuliert vorsichtiger: „Wir wehrten ihm, denn er folgt dir nicht nach mit uns“. Die Antwort Jesu lautet: „Ihr sollt’s ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann so bald übel von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk. 9,39 f., par. Lk 9,50). Dieses Logion und die dabei vorausgesetzte Situation ist für unsere Thematik in mehrfacher Hinsicht interessant: a) Die Glaubenskommunikation wird wieder dadurch unterbrochen, dass einer der Beteiligten auf einen anderen verweist, der nicht zum Kreis der Nachfolger gehört, also – so wird man frei paraphrasieren dürfen – religiös anderweitig gebunden ist. b) Die Stellungnahme Jesu zu dieser Kommunikation über den Unglauben ist geprägt von der Haltung der Toleranz: „Ihr sollt’s ihm nicht verbieten“. c) Das abschließende Jesus-Logion: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ ist in der Christentumsgeschichte und in der gegenwärtigen Christenheit leider weit weniger bekannt als das ebenfalls an zwei Stellen (Mt 12,30 und Lk 11,23) überlieferte Jesuswort: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“. Dieses letztgenannte Wort bezieht sich freilich nicht auf Menschen, die Jesus nicht nachfolgen oder eine andere religiöse Bindung haben, sondern auf die bösen Geister, mit denen Jesus sich auf keinerlei Bündnis einlassen will.14 14 Die inkludierenden Worte beziehen sich auf „uns“, also die Gemeinschaft der Glaubenden, die exkludierenden Worte beziehen sich dagegen auf „mich“, also auf Jesus Christus als das Zentrum der Glaubensgemeinschaft.
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Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht
Eine dritte, nur bei Lukas (9,51 – 56) überlieferte Erzählung handelt von der Erfahrung, die Jesus und seine Jünger in Samaria, also bei der religiös anders geprägten Bevölkerung im mittleren Landesteil Israels machen. Weil sie Juden sind, die sich auf dem Weg nach Jerusalem befinden, werden sie abgewiesen, als sie Herberge suchen. Johannes und Jakobus bitten Jesus daraufhin um die Erlaubnis, auf diesen Ort und seine Menschen Feuer fallen zu lassen, damit diese verzehrt werden. Die Reaktion wird im ursprünglichen Text des Lukasevangeliums (V. 55) geschildert mit den Worten: „Jesus aber wandte sich um und wies sie zurecht“. Die spätere Textüberlieferung hat dem dann noch die rhetorische Frage angeschlossen: „Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?“ Mit dieser nachträglichen Wendung wird das unduldsame Verhalten der Jünger selbst zum Thema der Glaubenskommunikation, indem es als mit dem Geist der Jüngerschaft unvereinbar gekennzeichnet wird.
4. Die Verwurzelung von Toleranz und Intoleranz Die drei angeführten Erzählungen aus dem Neuen Testament geben in Verbindung mit den reformatorischen Aussagen einige wichtige Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz bzw. Intoleranz, denen ich nun noch etwas nachgehen möchte. Grundsätzlich zeigt sich, dass die Toleranz- bzw. Intoleranzthematik dann auftaucht, wenn die Situation der Glaubenskommunikation unterbrochen oder verlassen wird durch Bezugnahme auf andere, die nicht in diese Kommunikation einbezogen sind oder sich ihr sogar bewusst verweigern. Insofern bestätigt sich, dass die Kommunikation über Toleranz/Intoleranz nicht zur Glaubenskommunikation, sondern zur Kommunikation über fremden Glauben gehört. Dort taucht das Problem auf, aber es lässt sich in der Kommunikation über den fremden Glauben nicht sachgemäß bearbeiten. Dass das Toleranzproblem sich in der Kommunikationssituation über den fremden Glauben stellt, zeigten die beiden letztgenannten neutestamentlichen Erzählungen dadurch, dass die Kommunikation über Toleranz/Intoleranz dort einsetzt, wo die Glaubenskommunikation im Sinne der Bezeugung des Evangeliums nicht zu einem positiven Ziel gekommen ist. Der Diskurs über Toleranz/Intoleranz entzündet sich an dem Faktum, dass es andere gibt, die entweder von dieser Kommunikation nicht erreicht wurden oder sich ihr aus irgendwelchen
Die Verwurzelung von Toleranz und Intoleranz
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Gründen verschlossen haben. Diese andere Kommunikationsebene wird freilich auch dort schon betreten, wo auch nur über die Möglichkeit reflektiert wird, dass es Menschen geben könnte, die anderen Göttern oder anderen Heilswegen anhangen. Macht man sich nicht bewusst, dass man damit in eine neue, veränderte Kommunikationssituation eingetreten ist, sondern versucht stattdessen die Linien der Glaubenskommunikation unverändert und ungebrochen auf diese andere Situation hin auszuziehen bzw. anzuwenden, so entsteht die Alternative, entweder allen Andersgläubigen das Heil abzusprechen, weil sie einen fremden Glauben haben, oder allen Andersgläubigen das Heil zuzusprechen, weil sie Gottes zum Heil bestimmte Geschöpfe sind. Diese Alternative scheint so schroff zu sein, dass man sie sich schärfer kaum denken kann. Und doch haben beide Möglichkeiten dies gemeinsam, dass sie kein religiöses Motiv bzw. keine religiöse Wurzel für Toleranz erkennen lassen. Im ersten Fall fehlt ein religiöses Motiv zur Toleranz, weil es (angeblich) auch keine Toleranz Gottes gegenüber den Andersgläubigen gibt. Der zweite Fall enthält kein religiöses Motiv zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen, weil jeder Glaube hier als gleich-gültig verstanden wird und entweder gar keine Rolle spielt oder anzuerkennen also nicht bloß zu dulden ist. Es ist ein auf den ersten Blick (aber wohl auch nur auf den ersten Blick) merkwürdiger Befund, dass so entgegengesetzte Optionen wie die religiöse Ablehnung alles fremden Glaubens und die religiöse Anerkennung alles fremden Glaubens in dieser Hinsicht eine gemeinsame Konsequenz haben, die jedenfalls nicht zur Toleranz, sondern im einen Fall zur Intoleranz, im andern Fall zur A-Toleranz,,15 führt. Aber gibt es dazu eine Alternative? Was würde es bedeuten, die Kommunikation über den fremden Glauben, in der sich das Toleranzproblem stellt, nun ihrerseits zu verlassen und zurückzukehren in die Situation der Glaubenskommunikation in der Hoffnung, dass sich dort (und nur dort) auch dieses Problem sachgemäß klären lässt, und zwar so, dass dabei zugleich die religiösen Wurzeln der Toleranz sichtbar werden? Die Rückkehr in die Situation der Glaubenskommunikation erfolgt jedenfalls dadurch, dass wir auf jedes Urteil über den Glauben eines Menschen verzichten bzw. es uns verboten sein lassen. Die dadurch 15 Ich habe dieses Kunstwort, das es m. W. bisher noch nicht gibt, gebildet, um den Unterschied zwischen beiden Positionen festzuhalten.
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Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht
(wieder-)hergestellte Kommunikationssituation hat Paulus 1 Kor 4, 3 – 5 wie folgt beschrieben: „Mir … ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden“. Im Wissen darum, dass wir das „Trachten der Herzen“ weder erkennen können noch sollen, sondern Gottes letztgültigem Gericht anheimzustellen haben, wird erkennbar, warum der so verstandene Glaube eine religiöse Wurzel der Toleranz ist. – Das schließt nicht aus, sondern ein, dass wir einander unseren Glauben als die uns gewiss gewordene, tragende Wahrheit des Lebens bezeugen. – Das schließt auch nicht aus, sondern ein, dass wir im Dialog einander dort widersprechen, wo wir zu unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen und -gewissheiten gekommen sind. – Das schließt nicht einmal aus, sondern ein dass Kirchen (und andere Religionsgemeinschaften) Lehrordnungen haben und Lehrbeanstandungsverfahren durchführen, anhand deren sie überprüfen, ob die öffentliche Lehre eines Amtsträgers mit den Lehrgrundlagen der Kirche bzw. Religionsgemeinschaft vereinbar ist. – Das schließt vor allem nicht aus, sondern ein, dass wir einander im Respekt vor unterschiedlichen religiösen Gewissheiten und Überzeugungen begegnen. – Es schließt nur eines aus: dass wir uns ein Urteil, sei es ein positives oder ein negatives, über den Glauben irgendeines Menschen anmaßen und von daher meinen, wir hätten an ihm nichts (mehr) zu tolerieren. Über das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen und seine Inanspruchnahme durch Martin Luther geht das insofern noch einen Schritt hinaus, als es dort primär die Angst zu sein scheint, mit dem Unkraut auch Weizen auszureißen. Hier hingegen geht es (im Anschluss an Paulus) um die noch fundamentalere Einsicht, dass uns schon das Urteil darüber verwehrt ist, wer in die Kategorie „Unkraut“ und wer in die Kategorie „Weizen“ gehört. Aber sowohl von Mt 13 wie von 1 Kor 4 her ergibt sich jedenfalls mit den 95 Thesen: Dass Häretiker (sei es auf mittelalterlichen, sei es neuzeitlichen Scheiterhaufen) verbrannt werden, ist wirklich gegen den Willen des Heiligen Geistes.
Tradition und Schrift als Thema des interkonfessionellen Dialogs heute aus evangelischer Sicht1 Es ist grundsätzlich auf zweierlei Weise möglich, in das Thema „Tradition und Schrift als Thema des interkonfessionellen Dialogs heute“ einzuführen: Man kann anhand vorliegender Veröffentlichungen darstellen, welchen Stand der interkonfessionelle Dialog zu diesem Thema heute hat, oder man kann versuchen, selbst zu diesem Thema Stellung zu beziehen und so einen Beitrag zum interkonfessionellen Dialog zu leisten. Ich habe mich für die zweite Variante entschlossen. Mein Verständnis vom Verhältnis von Tradition und Schrift – wie ich entgegen der gewohnten Begriffszusammenstellung aus inhaltlichen Gründen lieber sagen möchte2 – will ich so darstellen, dass ich – aus sachlichen Gründen, die in diesem Fall zugleich historische Gründe sind, – nach dem zurückfrage, was den Ursprung des Prozesses ausmacht, der zur Ausbildung von Tradition und Schrift geführt hat. Ich beginne also mit einer Reflexion über die Konstitutionsbedingungen von Tradition und Schrift im Kontext des christlichen Glaubens (1). Danach soll die Bedeutung der Kanonbildung (2) und zwar für den Rang der Schrift (2.1) und für den Rang der Tradition (2.2) thematisiert werden. Die daraus resultierenden Differenzierungen im Traditionsbe1
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Das Kernstück des folgenden Beitrags entstand anlässlich eines ökumenischen Symposiums, das am 14. Juli 2004 in Tübingen im Rahmen des Graduiertenkollegs „Die Bibel und ihre Wirkungsgeschichte“ stattfand. Dazu waren Jürgen Werbick als Vertreter der römisch-katholischen und ich als Vertreter der evangelischen Sicht eingeladen. Warum ich die uns vorgegebene – geläufige – Themaformulierung „Schrift und Tradition“ umgekehrt habe zu der – ungeläufigen, aber m. E. geschichtsund sachgemäßeren – Formulierung „Tradition und Schrift“, wird aus dem folgenden Text hervorgehen. Vgl. zu dem ganzen folgenden Text: Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewissheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft, Hg. D. Wendebourg und R. Brandt, Hannover 2001 sowie: Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis. Positionspapier der Kirchenleitung der VELKD, in: Texte aus der velkd 123/2004.
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Tradition und Schrift als Thema des interkonfessionellen Dialogs
griff und -verständnis ergeben sich als Anschluss- und Abschlussthema daraus (3). All dies geschieht in ökumenischer Absicht, d. h. mit dem Vorsatz, die evangelische Sichtweise so klar und verständlich wie möglich vorzutragen, sich dabei kritischen Anfragen und Nachfragen von römischkatholischer Seite so offen und ehrlich wie möglich zu stellen und selbst solche Anfragen und Nachfragen dort so deutlich und einfühlsam wie möglich an die römisch-katholische Sichtweise zu stellen, wo sich das aus sachlichen Gründen als notwendig erweist.
1. Die Konstitutionsbedingungen von Tradition und Schrift Mit der Formel „¥vhg Jgvø“ („er wurde gesehen von“ bzw. „er erschien Kephas“, 1Kor 15,5) bzw. „¥vhg S_lymi“ („er wurde gesehen von“ bzw. „er erschien Simon“, Lk 24,34) sind wir nahe am Ursprungsort des christlichen Glaubens und der christlichen Überlieferung. Beide Formeln sind nicht der Ursprung des christlichen Glaubens und der christlichen Überlieferung, aber sie verweisen auf ihn. Wären die Formeln selbst der Ursprung des Glaubens und der Überlieferung, so würde durch ihre bloße – gesprochene oder geschriebene – Zeichengestalt christlicher Glaube hervorgerufen und christliche Überlieferung in Gang gesetzt. Das ist jedoch nicht so, wie jeder Fall von wirkungsloser Wiederholung oder Bezeugung dieser – und ähnlicher – Formeln zeigt. Diese Formeln verweisen jedoch als Zeichen auf ein Geschehen, das man als den Ursprung des christlichen Glaubens und der christlichen Überlieferung nicht nur bezeichnen kann, sondern bezeichnen muss, und zwar auf einen komplexen Geschehenszusammenhang, für den zumindest die folgenden sechs Elemente konstitutiv sind: a) das widerfahrnisartige Ereignis bzw. Erlebnis, das mit dem Verb „¥vhg“ beschrieben wird; b) die Nennung des Namens einer konkreten Person, der dieses Widerfahrnis zuteil wurde; c) der Verweis auf „Christus“ bzw. den „Kyrios“, von dem gesagt wird, er sei gesehen worden bzw. erschienen; d) die darin ebenfalls implizit enthaltene Voraussetzung, dass in diesem Christus bzw. Kyrios Jesus von Nazareth (wieder)erkannt wurde, womit die personale Kontinuität ausgesprochen ist, die das christliche Kerygma an die Person Jesu bindet;
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e) die Wirkung dieses Widerfahrnisses, die darin besteht, dass Glaube an den auferstandenen Jesus Christus entsteht; f) die Tatsache, dass sich dieser Glaube (auch) in der Bezeugung dessen ausdrückt, wodurch er zustande gekommen ist3 und so christliche berlieferung begründet und in Gang setzt. Die beiden Formeln aus 1 Kor 15 und Lk 24 setzen also – bezogen auf den Prozess christlicher Überlieferung – zwei Elemente voraus: das Glauben weckende Widerfahrnis der Begegnung mit dem auferstandenen Christus und das sprachliche Bezeugen dieses Widerfahrnisses anderen gegenüber. Das eine wird in diesen Texten beschrieben, das andere findet – in sekundärer4 Form – statt. Diese Unterscheidung ist deswegen von grundlegender Bedeutung, weil durch sie die Frage unüberhörbar wird, woraufhin denn diejenigen glauben, die nicht von sich sagen (können): „Der auferstandene Christus ist mir erschienen“, sondern die ,nur‘ sagen können: „Der auferstandene Christus ist Kephas (Simon Petrus und anderen) erschienen“. Um diese Frage beantworten zu können, ist eine etwas genauere Rückbesinnung auf die Bedeutung der Ostererscheinungen für Kephas und alle anderen, die ihrer teilhaftig wurden, erforderlich. Es gibt neutestamentliche Aussagen, die – isoliert betrachtet – den Anschein erwecken könnten, als bestünde die Bedeutung der Ostererscheinungen darin, die Wiederbelebung des Gekreuzigten zu dokumentieren, also seine Rückkehr ins Leben.5 Das Neue Testament lässt jedoch insgesamt keinen Zweifel daran, dass die Auferstehung Jesu von den Toten nicht in die Reihe der ebenfalls bezeugten Totenauferweckungen6 gehört, durch die die Lebensfrist eines Menschen verlängert wird, sondern dass die Auferstehung Jesu als die Durchbrechung und 3
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Eine genaue Analyse muss an dieser Stelle zusätzlich unterscheiden zwischen dem – von Kephas (Simon Petrus) artikulierten – Urbekenntnis: „Er ist mir erschienen“, und dem dieses Urbekenntnis weitergebenden und damit bezeugenden Folgebekenntnis von 1Kor 15,5 und Lk 24,34: „Er ist ihm erschienen“. Ein solches Urbekenntnis ist im Neuen Testament an zwei Stellen von Paulus überliefert: Gal 1,15 und 1 Kor 15,8. Der sekundäre Charakter wird grammatisch an der verwendeten dritten Person – im Unterschied zur primären ersten Person – erkennbar. Aber auch die Weitergabe in der dritten Person ist ein Bezeugen, nämlich des Gehörten. So heißt es etwa in der Pfingstpredigt des Petrus: „Jesus von Nazareth … habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Den hat Gott auferweckt und hat aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, daß er vom Tode festgehalten werden konnte“ (Apg 2,22 – 24). Mk 5,35 – 43 parr.; Lk 7,11 – 17; Joh 11,1 – 45; Apg 9,36 – 43 und 20,6 – 12.
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Überwindung der Macht des Todes zu verstehen ist und seine Einsetzung „als Sohn Gottes in Kraft“ (Röm 1,4) bzw. seine Erhöhung als Herr aller Herren (Phil 2,9 – 11) bedeutet. Aber was besagen diese Formulierungen? Ihr Sinn kann nur dann angemessen erfasst werden, wenn man die Frage einbezieht, wer der Auferstandene und Erhöhte ist. Es ist nicht irgendein Gekreuzigter, sondern es ist Jesus von Nazareth, der als der Verkündiger und Bringer der Gottesherrschaft gewirkt hat und gekreuzigt wurde. Entweder ist daher sein Tod am Kreuz der Erweis, dass er sich mit seiner Botschaft und seinem Wirken einen hybriden, gotteslästerlichen Anspruch angemaßt hat,7 dessen Scheitern nun offenkundig wird, oder seine Auferstehung von den Toten ist der Erweis, dass er wahrhaft im Namen Gottes verkündigt und gewirkt hat. Hieran zeigt sich, dass es in den Ostererscheinungen um etwas ganz anderes als um die Rückkehr eines Toten ins Leben geht, nämlich um die Beglaubigung des Wirkens und der Person Jesu Christi durch Gott selbst. Diese Beglaubigung konnte den Aussagen des Neuen Testaments zufolge auf unterschiedliche Weise erfolgen: durch eine Deutung des leeren Grabes,8 durch Erscheinungen des Auferstandenen,9 durch eine innere Offenbarung10 oder durch die Verkündigung der Auferstehung bzw. des Auferstandenen.11 Entscheidend ist nicht die Art und Weise, wie diese Beglaubigung erfolgt, sondern dass sie erfolgt und dass sie durch das Wirken des Geistes Gottes in einem Menschen Glauben weckt. Dass Glaube geweckt wird, heißt dabei: dass Menschen dessen gewiss werden, dass im Lebenszeugnis Jesu Christi Gott selbst zum Heil der Welt handelt, und dass sie darauf vertrauen, d. h. von dieser Gewissheit ihr Leben bestimmen lassen. Die Beglaubigung des Lebenszeugnisses Jesu Christi durch seine Auferstehung von den Toten ist darum der Menschen zuteil werdende Wahrheitserweis seiner Verkündigung, seines Wirkens und seines Geschicks. Der Ursprungsort für diesen Wahrheitserweis liegt – den Aussagen des Neuen Testaments zufolge – in dem Widerfahrnis des Kephas (Simon Petrus) und anderer, die in der Begegnung mit dem Aufer7 Dieser Anspruch kommt z. B. in Aussagen wie Mk 2,5; Mt 12,28 par.; Lk 12,8 f. und Lk 17,20 f. zum Ausdruck. 8 Mk 16,5 – 8 parr. und Joh 20,1 – 13. 9 Mt 28,8 – 10; Lk 24,13 – 49; Joh 20,14 – 21,23; Apg 1,3 – 8 und 1Kor 15,5 – 8. 10 Gal 1,16. 11 Apg 2,37 – 41; Röm 10,5 – 17 und 1Kor 15,12 – 19.
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standenen – durch seinen Tod hindurch – seines Lebenszeugnisses gewiss geworden oder vergewissert worden sind und darauf ihr lebensbestimmendes Vertrauen setzten. Weil die damit geschehende Beglaubigung des Lebenszeugnisses Jesu Christi das Wirken Gottes zum Heil der Welt zum Inhalt hat, darum enthält sie als solche den Impuls zur Weitergabe und Bezeugung des so gewiss Gewordenen. Dies kommt in vielen biblischen Szenen zum Ausdruck, exemplarisch in der Szene, in der Petrus und Johannes vor dem Hohen Rat verhört werden und Rechenschaft geben über die Kraft und den Namen (Apg 4,7), in denen sie handeln. Ihre Antwort lautet: „in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden“, und darum widersetzen sie sich dem Gebot, künftig nicht mehr im Namen Jesu zu lehren, mit den Worten: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg 4,12 und 20). Diese Bezeugung in der ersten Person wird aufgenommen und weitergeführt, indem von diesem Geschehen durch die Apostelgeschichte berichtet wird. Und ebenso wird durch Paulus und durch Lukas in der dritten Person berichtet, dass der Gekreuzigte als der Auferstandene von Kephas bzw. Simon Petrus gesehen wurde. Das ist die in 1 Kor 15,5 – 7 und Lk 24 dokumentierte Überlieferungsstufe12. Die Aufnahme und Weitergabe der Bezeugung dieses Geschehens erfolgt in der Hoffnung, dass das Osterzeugnis auch bei denen, die es hçren, durch das Wirken des Heiligen Geistes die Gewissheit von der Wahrheit dieser Botschaft und Glauben an das Evangelium von Jesus Christus wecken wird, der dann seinerseits zur Bezeugung drängt. Dabei ist es jedenfalls evangelische Überzeugung, dass die Verkündigung, in der das „¥vhg“ weitergegeben, also bezeugt wird, eine zwar notwendige, aber für sich genommen noch nicht hinreichende Bedingung dafür ist, dass Glaube an Jesus Christus entsteht. Hinreichende Bedingung für die Entstehung von christlichem Glauben ist – laut 12 Auch hier ist sprachlich zu differenzieren zwischen dem, was Paulus empfangen hat, also dem, was ihm gesagt wurde (1Kor 15,3 – 5), und der Tatsache, dass er das nun in seinem Brief an die Korinther weitersagt. Und davon ist dann noch einmal im Blick auf Paulus selbst zu unterscheiden die Bezeugung der Gegegnung mit dem Auferstandenen, die ihm selbst widerfahren ist (1 Kor 15,8 f; s. o. Anm. 3). Ebenso ist zu unterscheiden zwischen der Aussage der in Jerusalem versammelten elf Jünger gegenüber den beiden Emmausjüngern (Lk 24,33 f.) und dem Bericht darüber, den Lukas in seinem Evangelium gibt.
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Luthers Auslegung des Dritten Artikels im Kleinen Katechismus13 und laut CA 514 – das für Menschen grundsätzlich unverfügbare Wirken des Heiligen Geistes, der in denen, die das Evangelium hören, Glauben wirkt, wo und wann Gott will. Unter diesem Vorbehalt steht alle christliche Überlieferungstätigkeit, Traditionsbildung, Verkündigungsund Lehrverantwortung. Aus den bisherigen Überlegungen ist jedenfalls deutlich geworden, dass und wie christliche Überlieferung konstituiert ist, wie sie beginnt und ihren Fortgang nimmt. Dabei ist als ein – kontingentes – Faktum hinzuzufügen, dass, soweit wir wissen, diese Überlieferung ursprünglich und für längere Zeit primär oder ausschließlich in mündlicher und nicht in schriftlicher Form erfolgte. Zwar hat Luther gelegentlich darauf hingewiesen, dass die Mündlichkeit die dem Evangelium angemessene Sprachform sei und insofern nicht beliebig,15 aber mehr als das wird man nicht behaupten dürfen, weil andernfalls der Prozess der Verschriftlichung der Evangeliumsüberlieferung in ein Zwielicht geriete, das sachlich nicht zu rechtfertigen wäre.16
2. Die Bedeutung der Kanonbildung17 für den Rang von Schrift und Tradition Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand vom Ursprungsereignis der Ostererfahrung sowie mit der Ausbreitung und Vervielfältigung der Evangeliumsüberlieferung stellte sich unweigerlich das Erfordernis schriftlicher Fixierung der Überlieferung des Evangeliums. Dies geschah nicht sofort in Gestalt kompletter literarisch komponierter Schriften 13 14 15 16
BSLK 511,46 – 512,13. BSLK 58,2 – 13. WA 5, 537,10 – 25 und 10/1/1, 627,1 – 3. So auch Luther WA 10/1/1, 626,5 f.: „Auch sehen wir in den Aposteln, wie alle ihre Predigt nichts anderes gewesen ist, als die Schrift hervorzubringen und sich darauf zu bauen“. 17 Siehe hierzu K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. I, Darmstadt 1982, S. 149 – 172; U. Domen/M. Oeming, Biblischer Kanon – warum und wozu? Freiburg 1992; W. Pannenberg/Th. Schneider (Hgg.), Verbindliches Zeugnis I: Kanon – Schrift – Kirche, Göttingen 1992; B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments (1987), dt. Düsseldorf 1993; Th. Söding, Mehr als ein Buch, Freiburg 1995; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, Göttingen 1999, S. 287 – 349.
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(z. B. Evangelien oder Apostelgeschichten), sondern wohl eher in der Form von Gelegenheitsschriften (z. B. Briefen) sowie als Sammlung von Spruch- bzw. Erzählüberlieferungen zum Zwecke der Verkündigung. Während die ältesten Gelegenheitsschriften in die fünfziger Jahre des ersten Jahrhunderts zurückreichen, liegt erst etwa um das Jahr 60 – 70, also mehr als 30 Jahre nach dem Osterereignis mit dem Markusevangelium ein in sich abgeschlossenes literarisches Werk aus dem Bereich der christlichen Traditionsbildung vor. Die Tatsache, dass solche Texte – so wie andere, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden, – später zum Bestandteil des neutestamentlichen Kanons wurden, darf nicht zurückprojiziert werden in das Ende des ersten Jahrhunderts, so, als hätten wir es hier schon mit der Schrift zu tun, von der im Titel meines Beitrages die Rede ist. Was später „die Schrift“ wird, ist hier noch Teil der Tradition. 18 Und wenn die neutestamentlichen Schriften von „der Schrift“ bzw. von „den Schriften“ sprechen, was sie reichlich tun,19 so meinen sie damit bekanntlich stets das Alte Testament bzw. Teile desselben.20 Von einem abgeschlossenen alttestamentlichen Kanon bzw. einer kanonischen hebräischen Bibel kann man aber für den Zeitraum, in dem der Hauptteil der neutestamentlichen Schriften entstand, noch nicht sprechen. Vielmehr überlappen sich beide Vorgänge der Kanonbildung zeitlich.21 18 Schon daraus – und aus den folgenden Hinweisen – ergibt sich für mich, dass es sinnvoller ist, von „Tradition und Schrift“ zu sprechen als von „Schrift und Tradition“: Im Anfang war die Tradition. 19 Z. B. Mk 12,24 par.; 14,49; Mt 21,42; 26,54 und 56; Lk 4,21; 24,27.32.45; Joh 2,22; 7,15.38.42; Apg 9,32.35; 17,2.11; 18,24; Röm 4,3; 9,17; 10,11; 11,2; 1Kor 6,16; Gal 3,8.22; 4,30; 1Ti 1,7; 5,18; 2Ti 3,15 f.; 1Pt 2,6; 2Pt 1,20; 3,16; Jak 2,8.23; 4,5. 20 Dazu P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, Göttingen 1999, S. 288 f.: „Über hundert Jahre lang, noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Testament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende heilige Schrift der Kirche, auf die sich die Juden, die Christus ablehnen, darum nur zu Unrecht berufen.“ Ähnlich K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. I, Darmstadt 1982, S. 160. 21 Dazu P. Stuhlmacher, a.a.O., S. 292: „Die neutestamentlichen Bcher sind nicht einer seit langem in sich feststehenden hebrischen Bibel gegenbergestellt worden, sondern sie beziehen sich auf die kanonisch noch unabgeschlossene Sammlung der Heiligen Schriften in hebrischer und griechischer Sprache. Da die kanonische Endgestalt der hebräischen Bibel erst Ende des 1. Jh.s n. Chr. erreicht war, die Übersetzung der LXX-Schriften noch länger gedauert hat und die Septuaginta überhaupt erst zusammen mit den neutestamentlichen Schriften kanonischen Rang erhalten hat, muss man von einem zwar sehr vielschichtigen, aber zusammenhngenden
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Soweit wir den Entstehungsprozess des neutestamentlichen Kanons überblicken, gehört also in seine Frühgeschichte eine lange Phase überwiegender mündlicher Überlieferung, in der es freilich durchaus geprägte, feste, memorierte Formen gegeben haben wird, und eine etwas später einsetzende, aber auch über viele Jahrzehnte hinreichende Phase schriftlicher Traditionsbildung, in der eine Vielzahl von Briefen, Evangelien und anderen Texten entstanden, von denen schließlich nur ein Teil in den neutestamentlichen bzw. biblischen Kanon Eingang fand. Es war wohl nicht zuletzt die Herausforderung durch die marcionitische Häresie,22 durch die die christliche Kirche sich im zweiten und dritten Jahrhundert veranlasst, ja genötigt sah, aus der Vielzahl der Schriften, die je in ihrer Weise das Evangelium von Jesus Christus bezeugen und überliefern wollten, diejenigen auszuwählen, denen kanonischer – und d. h. normativer – Rang für die kirchliche Verkündigung und Lehre zukam und zukommt. Wir stehen damit an dem entscheidenden Punkt, von dem aus das Verhältnis von Tradition und Schrift nicht nur in historischer, sondern auch in systematisch-theologischer Hinsicht zu bestimmen ist. Dieser Punkt ist die aus theologischen Gründen notwendig gewordene Auswahl des kanonischen Schrifttums aus der Fülle christlicher Überlieferungen, also aus dem, was wir als schriftliche Tradition bezeichnen können. Mit diesem Akt – oder richtiger: Prozess – der Kanonbildung passiert Zweierlei: eine Neubestimmung des Ranges der Schrift und eine Neubestimmung des Ranges der Tradition. Beides verdient je für sich Beachtung.
2.1 Die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang der Schrift Diejenigen Traditionselemente, die als dem biblischen Kanon zugehörig erkannt und anerkannt werden, erhalten damit normativen Rang für die kirchliche Verkündigung und Lehre sowie für die Beurteilung aller anderen Schriften und Überlieferungselemente. Sie werden zur norma normans. Damit erhält der biblische Kanon – für alle christlichen Kirkanonischen Prozess sprechen, dem die Hebrische Bibel, die Septuaginta und der zweiteilige christliche Kanon aus Altem und Neuem Testament entstammen.“ 22 Vgl. dazu K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. I, Darmstadt 1982, S. 160 f.
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chen – eine einzigartige Bedeutung und Sonderstellung, die ihn zum Maßstab bei der Beurteilung aller kirchlichen Lehraussagen macht.23 Dagegen lässt sich jedoch der Einwand erheben, dass durch die bisher gemachten Aussagen zumindest der Anschein entsteht, dass der biblische Kanon ein bzw. das Werk der Kirche sei und dass darum und insofern die Kirche, und zwar das den Kanon festsetzende kirchliche Lehramt nicht unter, sondern über der Schrift stehe.24 Dass der Kanon das Werk der Kirche sei und die Kirche – oder das kirchliche Lehramt – insofern über dem Kanon stehe, dürfte man jedoch nur dann behaupten, wenn es sich bei der Kanonbildung um einen Akt kirchlicher Festsetzung handelte, der von anderen Kriterien geleitet wäre als von denen, die aus den kanonischen Schriften selbst abzuleiten und zu gewinnen sind. Damit könnte aber der Kanon nicht mehr Maßstab für die Kirche, ihre Verkündigung und Lehre sein, sondern nur noch der von der Kirche selbst gesetzte Maßstab, mit dessen Hilfe die Kirche Verkündigung und Lehre beurteilt. Der Wille der Kirche oder die anderswoher gewonnenen Kriterien für die Festsetzung des Kanons wären dann die eigentliche normative Autorität der Kirche bzw. in der Kirche. Das wäre die Verabschiedung des biblischen Kanons als Norm und Maßstab für die Kirche. Wenn ich recht sehe, wird eine solche These im ökumenischen Gespräch heute von niemandem vertreten. Würde sie von einer Kirche vertreten, so müsste man darauf hinweisen, dass sich damit diese Kirche programmatisch von der Maßstäblichkeit des sie konstituierenden Überlieferungsgeschehens abschneiden würde, das in Jesus Christus seinen Ursprung hat und durch die kanonisch gewordene Tradition bezeugt wird. Mit der Preisgabe des biblischen Kanons würde mithin die Kirche auch ihre christliche Identität in Frage stellen.
23 So auch P. Neuner: „In dieser Rückbeziehung auf die Schrift und in der Verpflichtetheit auf sie als Norm stimmen die christlichen Kirchen überein.“ (Das Schriftverständnis in der katholischen Theologie, in: Die Zukunft des Schriftprinzips, Hg. R. Ziegert, Stuttgart 1994, S. 115). 24 Dabei ist zu beachten, dass die römisch-katholische Kirche nicht behauptet, das Lehramt stehe über dem Wort Gottes, sondern sie sagt, es diene ihm, aber ihm allein sei die Aufgabe anvertraut, „das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen“ (DH 4214). Die Verhältnisbestimmung zwischen Tradition, Heiliger Schrift und kirchlichem Lehramt, die im zweiten Vaticanum – ganz ähnlich wie im Tridentinum – vorausgesetzt ist, ist daher die eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses. Siehe dazu unten in 2.2.
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Wie ist dann aber die Rolle der Kirche und die Rolle der kanonischen Schriften beim Prozess der Kanonbildung angemessen zu beschreiben? Schon Calvin hat in seiner Institutio religionis Christianae25 das entscheidende Argument formuliert: Die Kirche erschafft nicht die Schrift, sondern sie erkennt in den biblischen Büchern die Wahrheit Gottes und anerkennt damit im Prozess der Kanonbildung, welche Schriften kanonischen Charakter haben und welche nicht. Es handelt sich also nicht um eine Festsetzung, sondern um eine Feststellung, nicht um eine Erfindung, sondern um eine Entdeckung der Kirche. Karl Barth26 hat dem pointiert Ausdruck verliehen durch die These, die Bibel mache sich selbst zum Kanon, indem sie sich der Kirche imponiert hat und immer wieder imponiert. Dieser Sichtweise ist aus sachlichen Gründen zuzustimmen. Denn die Kriterien, die bei der Feststellung des Kanons leitend waren: die inhaltliche Übereinstimmung mit der regula fidei, also dem Glaubensbekenntnis der Kirche, und die Rückführbarkeit auf die Apostel als die ersten, authentischen Glaubenszeugen, zielen beide auf die Vergewisserung darüber, welche Schriften als unverfälschte Zeugnisse vom Ursprung des christlichen Glaubens gelten können. Und selbst für die Einbeziehung der hebräischen Bibel als des alttestamentlichen Kanons in den biblischen Kanon der Christenheit war und ist die Überzeugung der christlichen Kirche maßgeblich, dass diese Schriften auf das Wirken Gottes zum Heil der Welt verweisen und es – im Modus der Verheißung – bezeugen, das im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi geschehen ist. Wie die Kirche in ihrem Glaubensbekenntnis nicht eigenmächtig festzusetzen versucht, was als christlicher Glaube zu gelten hat, sondern das sprachlich formuliert, wodurch sie sich selbst als christliche Kirche konstituiert weiß, so unternimmt die Kirche im Prozess der Kanonbildung den Versuch, diejenigen Schriften auszuwählen und auszuzeichnen, die das Ursprungsgeschehen bezeugen, durch das sie sich selbst als Kirche konstituiert weiß. Zwischen beidem besteht aber nicht nur diese strukturelle Gleichheit, sondern auch eine Ungleichheit und Asymmetrie: Indem der Kanon das Ursprungsgeschehen bezeugt, durch das sich die Kirche konstituiert weiß, bildet er zugleich das Kriterium, an dem sich die 25 Unterricht in der christlichen Religion (1559) I.7.1 f., dt. Ausgabe von O. Weber, Bd 1, Neukirchen 1936, S. 43 f. 26 KD I/1, S. 110.
Die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang von Schrift und Tradition
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regula fidei – ihrem eigenen Selbstverständnis nach – messen lassen und gegebenenfalls auch korrigieren lassen muss. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht und kann nicht gelten. Der Kanon erlaubt als Bezeugung des Ursprungsgeschehens, durch das die christliche Kirche konstituiert ist, keine Korrektur vom Glaubensbekenntnis aus. Insofern ist das Glaubensbekenntnis nicht norma normans, sondern norma normata. Trotzdem wäre es eine verkürzte Erfassung und Darstellung des Zusammenhanges zwischen Kanon und Glaubensbekenntnis, wenn ihr Verhältnis nur im Sinne einer ,Einbahnstraße‘ verstanden würde. Das Glaubensbekenntnis versteht sich zwar als aus dem Kanon abgeleitet und ihm insofern eindeutig untergeordnet, aber zugleich dient das Glaubensbekenntnis der – aus dem Kanon abgeleiteten – Anleitung zum rechten Verständnis und d. h. zugleich der rechten Auslegung des Kanon. Demzufolge besteht der Unterschied zwischen Kanon und Glaubensbekenntnis nicht darin, dass dem ersteren Autorität zukäme, dem zweiten aber nicht, sondern der Unterschied besteht darin, welche Autorität dem Kanon und dem Glaubensbekenntnis zukommt. Dabei besteht insofern noch einmal zwischen Kanon und Glaubensbekenntnis eine Einheit, als beider Autorität begründet ist durch die Sache, die sie bezeugen. Nicht in ihrer Zeichengestalt, sondern in dem Gegenstand, auf den sie verweisen, liegt ihre Autorität begründet. Aber die Beziehung, in der Kanon und Glaubensbekenntnis zu dieser Sache bzw. diesem Gegenstand stehen, ist jeweils eine verschiedene, und darum ist auch ihre Autorität eine verschiedene: Der Kanon bezeugt das Ursprungsgeschehen, durch das die Kirche konstituiert wird, im Glaubensbekenntnis antwortet die Kirche auf dieses durch den Kanon bezeugte Ursprungsgeschehen. Deshalb ist seine Autorität grundsätzlich an dem kanonischen Zeugnis auf seine Angemessenheit hin zu prüfen, während die Autorität des kanonischen Zeugnisses nicht am Glaubensbekenntnis zu messen ist, sondern diesem zugrunde liegt. Das bringt die reformatorische Unterscheidung zwischen dem Kanon als der norma normans und dem Glaubensbekenntnis (und der kirchlichen Lehre) als norma normata präzise zum Ausdruck.27 27 Diese Verhältnisbestimmung findet sich in „dem summarischen Begriff, Regel und Richtschnur“, der nicht nur als methodische Grundlegung der Konkordienformel, sondern zugleich als Fundamentaltheologie des reformatorischen Bekenntnisses in nuce verstanden werden kann und muss: BSLK 767,8 – 769,35.
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Fragen wir schließlich, was die Kanonisierung der Schrift für ihr Verhältnis zum kirchlichen Lehramt betrifft, so ist auch hier zunächst das Verbindende und Gemeinsame zu sagen: Wie die Kirche im Prozess der Kanonbildung den Versuch unternimmt, diejenigen Schriften zu erkennen, anzuerkennen und auszuzeichnen, die das Ursprungsgeschehen bezeugen, durch das sie sich selbst als Kirche konstituiert weiß, so dient das Lehramt dem Wachen darüber, dass das kanonische Ursprungszeugnis seinem eigenen Sinn gemäß ausgelegt und als Maßstab gegenüber aller kirchlichen Verkündigung und Lehre zur Geltung gebracht wird.28 Das Lehramt steht also (nach gemeinchristlichem Verständnis) nicht über dem Kanon, wohl aber (nach römisch-katholischem Verständnis) über jeder anderen Auslegung des Kanons, und es will gerade dadurch der Wahrung der normativen Bedeutung des kanonischen Ursprungszeugnisses dienen. Aber hier stellt sich die Frage, wie der Kanon sich in seinem eigenen Sinn gegen die Auslegungshoheit des Lehramtes zur Geltung bringen kann.29
2.2 Die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang der Tradition In der theologischen Diskussion wird in der Regel die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang der Schrift gerichtet. Dabei gerät die nicht weniger wichtige Bedeutung der Kanonbildung für die Tradition leicht aus dem Blick. Sie soll deswegen hier eigens thematisiert werden, zumal sie für das ökumenische Gespräch von besonderer Bedeutung ist. Die nicht als kanonisch erkannten und anerkannten Traditionselemente erhalten – nicht in einem gesonderten Akt, sondern in und mit dem Akt der Kanonbildung, also implizit – ebenfalls einen veränderten Status: Sie sind von nun an nicht-kanonische Traditionselemente im Unterschied und Gegenüber zum Kanon. Weil dieses zweite Element nicht auf einem eigenen Akt der Posterisierung basiert, sondern eodem 28 Bis hierhin könnte es im ökumenischen Gespräch zwischen der römisch-katholischen Kirche und den reformatorischen Kirchen Einmütigkeit geben. Eine offene Frage ist jedoch, ob auch Einmütigkeit darüber besteht, wie die wissenschaftliche Theologie und die Gemeinschaft der Gläubigen als das Volk Gottes an diesem Lehramt Anteil haben. Dies ist jedoch eine über das Verhältnis von Tradition und Schrift hinausführende Frage. 29 Siehe dazu den folgenden Aufsatz in diesem Band: Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung? S. u. S. 164 – 183.
Die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang von Schrift und Tradition
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actu, nämlich implizit mit dem Akt der Priorisierung der kanonischen Schriften erfolgt, hat es sich weniger in das kirchliche und theologische Bewusstsein eingeprägt, obwohl es doch nicht von geringerer Bedeutung ist. Anders gesagt: Mit dem Akt bzw. Prozess der Kanonbildung verändert sich auch der Status der Tradition, die nicht Bestandteil des Kanons wird: Aus vor-kanonischer Tradition wird nicht-kanonische Tradition. Daraus folgt, dass es aus evangelischer Sicht theologisch unangemessen wäre, den Kanon und die nicht-kanonische Tradition „mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht anzunehmen und zu verehren“, wie dies die römisch-katholische Kirche bekanntlich seit dem Tridentinum für ihren Bereich lehrt.30 Mit dieser Formulierung wird die Bedeutung der Kanonbildung für den Rang der nicht-kanonischen Tradition nicht in ihrer unterscheidenden Funktion ernstgenommen, jedenfalls nicht zum Ausdruck gebracht. Hier ist deshalb an die römisch-katholische Lehre die (alte) Frage zu richten, ob und inwiefern es sich ihrer Auffassung nach mit der von ihr anerkannten grundlegenden Bedeutung der Kanonbildung und der daraus resultierenden normativen Bedeutung der Heiligen Schrift verträgt, die nichtkanonische Überlieferung in dieser Weise der kanonischen Überlieferung gleichzustellen. Der dogmatischen Konstitution ,Dei verbum‘ zufolge lehrt auch die römisch-katholische Kirche einen Unterschied zwischen Kanon und Tradition, allerdings keinen Rangunterschied, sondern lediglich einen Unterschied der Art: „die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des göttlichen Geistes schriftlich aufgezeichnet wird; die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus, dem Herrn, und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten; so ergibt sich, dass die Kirche
30 Das berühmte „pari pietatis affectu ac reverentia“ aus DH 1501 wird übrigens ausdrücklich und fast wörtlich bekräftigt in der Dogmatischen Konstitution „Dei verbum“ des Zweiten Vaticanum: DH 4212. Die einzige Änderung besteht darin, dass es 1546 noch hieß: „suscipit et veneratur“, 1965 jedoch: „suscipienda et veneranda est“. Aus der Feststellung ist also eine Forderung geworden. Dies ist wohl nicht als Relativierung, sondern eher als Einschärfung zu verstehen.
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ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft.“31 Die damit – tatsächlich oder scheinbar32 – ausgedrückte ,ZweiQuellen-Theorie‘ der Offenbarungsmitteilung lebt nicht von der Unterscheidung zwischen der inspirierten Schrift und nicht-inspirierter Tradition, vielmehr werden beide ausdrücklich auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt. Die Differenz wird vielmehr bestimmt durch die Feststellung, in der Heiligen Schrift sei Gottes Rede „schriftlich aufgezeichnet“, während die nicht-kanonische Überlieferung das umfasst, was von Christus und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut und von ihnen unversehrt an die Bischöfe weitergegeben wurde. Träger dieser verbindlichen Tradition sind – dieser Lehre zufolge – ausschließlich die Apostel und ihre Nachfolger, also die Bischöfe. Und vorausgesetzt ist bei dieser Lehre die Annahme, dass es eine Quelle oder einen Strom der Offenbarungsmitteilung gebe, die bzw. der nicht in den Kanon Aufnahme gefunden hat und darum auch nicht in ihm enthalten oder aus ihm zu entnehmen ist. Hier zeigt sich erneut, dass die römisch-katholische Lehre vom Verhältnis zwischen Tradition und Schrift mit der – sicher gewollten – Aufwertung der nicht-geschriebenen Tradition eine – sicher nicht gewollte – Abwertung des biblischen Kanons in Kauf nimmt. Mit der römisch-katholischen Unterscheidung von Tradition und Schrift könnte nun allerdings Zweierlei gemeint sein, das aus evangelischer Sicht theologisch ganz unterschiedlich zu bewerten wäre: entweder die Insuffizienz der Heiligen Schrift in Fragen des Heils und ihre daraus resultierende Ergänzungsbedürftigkeit durch die nicht-geschriebene Überlieferung oder die Suffizienz der Heiligen Schrift in Fragen des Heils, aber die Vertiefungsfähigkeit und -bedürftigkeit jeder Auslegung der Heiligen Schrift. Gegen die erste Interpretation müssten sich auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche und Theologie – gerade angesichts der 31 DH 4212: „Sacra Scriptura est locutio Dei quatenus divino afflante Spiritu scripto consignatur; Sacra autem Traditio verbum Dei, a Christo Domino et a Spiritu Sancto Apostolis concreditum, successoribus eorum integre transmittit, ut illud, praelucente Spiritu veritatis, praeconio suo fideliter servent, exponant atque diffundant; quo fit ut Ecclesia certitudinem suam de omnibus revelatis non per solam Sacram Scripturam hauriat.“ 32 In der Tridentinischen „Betonung des unanimis consensus patrum“ sieht P. Neuner ein starkes Indiz dafür, „daß in Trient nicht eine Zwei-QuellenTheorie vorgetragen werden sollte“ (Schriftverständnis [s. o. Anm. 23] S. 124).
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beeindruckend erlebbaren Hochschätzung der Heiligen Schrift in liturgischen Vollzügen – gravierende Bedenken melden,33 ist es doch römisch-katholische Lehre, dass „all das, was die inspirierten Verfasser bzw. Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss“ und „dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in die heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“34. Gegen ein Verständnis der Tradition im Sinne einer immer neu um Vertiefung des rechten Verständnisses der Heiligen Schrift bemühten und zu ihr beitragenden Auslegung wären hingegen weder von römisch-katholischer noch von reformatorischer Seite Einwände zu erheben – im Gegenteil.
3. Notwendige Differenzierungen im Traditionsbegriff Die hinter uns liegenden Überlegungen zum Verhältnis von Tradition und Schrift aus evangelischer Sicht haben gezeigt, dass dem eindeutigen Begriff des Kanons bzw. der Schrift ein mehrdeutiger Begriff der Tradition bzw. Überlieferung gegenübersteht. Die auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten erzielten ökumenischen Fortschritte verdanken sich m. E. zu einem erheblichen Teil der Einsicht in diese Mehrdeutigkeit und dem Bemühen, durch sachgemäße Unterscheidungen zu einer klareren Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition zu kommen. So hatte die evangelische Theologie – nicht zuletzt aufgrund exegetischer Einsichten – zu lernen, dass die schlichte und pauschale Al33 Das tut auch P. Neuner, wenn er (a.a.O., S. 122 f.) im Anschluss an J. R. Geiselmann die Auffassung vertritt, die These von der Insuffizienz der Schrift und ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch die Tradition sei nur eine von zwei möglichen Deutungen – und zwar die problematische – dessen, was das Tridentinum vertreten wollte, und es entspreche „ebenso dem Text von Trient, in Schrift und Tradition die beiden Weisen zu erkennen, wie das Ganze der christlichen Hinterlassenschaft auf uns gekommen ist.“ 34 DH 4216: „Cum ergo omne id, quod auctores inspirati seu hagiographi asserunt, retineri debeat assertum a Spiritu Sancto, inde Scripturae libri veritatem, quam Deus nostrae salutis causa Litteris Sacris consignari voluit, firmiter, fideliter et sine errore docere profitendi sunt“ (dt. „Da also all das, was die inspirierten Verfasser bzw. Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen im heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“).
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ternative von Schrift oder Tradition an erheblichen Unklarheiten leidet, zu Missverständnissen und falschen Frontenbildungen führt und darum der Differenzierung bedarf.35 Diese Differenzierung kommt zum Ausdruck in der auch von mir hier vertretenen Einsicht, dass der biblische Kanon insofern als Teil der Tradition zu verstehen ist, als er in und aus einem Überlieferungs- bzw. Traditionsprozess entstanden ist. Dabei ist der Kanon derjenige Teil der Tradition, der in einem langen, aufwendigen, sorgfältigen Rezeptionsprozess als authentisches Zeugnis für das Ursprungsgeschehen, durch das christlicher Glaube und christliche Kirche konstituiert sind, erkannt und anerkannt worden ist. Legt man diesen weiten Traditionsbegriff zugrunde, so erweist sich die Entgegensetzung von Schrift oder Tradition als irrig und irreführend. Umgekehrt ergibt sich gerade von diesem Ansatz aus die Möglichkeit einer – zumindest relativ – klaren Unterscheidung zwischen vor-kanonischer und nicht-kanonischer Tradition, die – wenn dabei der Kanonisierungsprozess angemessen verstanden und theologisch gebührend ernst genommen wird – von großer Bedeutung nicht nur für den Rang des Kanons, sondern auch für den der Tradition ist. Dieser Ansatz schließt jedoch etwas nicht aus, von dem bisher noch nicht explizit die Rede war: weitere sinnvolle oder sogar notwendige Differenzierungen innerhalb dessen, was hier als nicht-kanonische Tradition bezeichnet wird. Solche Unterscheidungen ergeben sich nicht nur von römisch-katholischen Prämissen aus, sondern sie sind auch innerhalb der evangelischen Lehre von Schrift und Tradition angelegt und teilweise sogar ausgearbeitet worden. Ich denke dabei an den bereits oben eingeführten und erläuterten Begriff der ,norma normata‘ für die verbindliche kirchliche Lehre in Form des Bekenntnisses bzw. Dogmas. Es wäre jedoch weder sachgemäß, die norma normata als einzige Form legitimer kirchlicher Traditionsbildung zu akzeptieren, noch alle Formen kirchlichen Traditionsbildung unter dem Begriff der norma normata zusammenzufassen. Entfällt aber diese Alternative, so stellt sich die Aufgabe, zu differenzieren zwischen normativen und nicht-normativen Formen nicht-kanonischer Tradition. Erst indem 35 Eine wichtige Zäsur bildete und bildet in dieser Hinsicht immer noch der Aufsatzband von G. Ebeling: Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen (1964) 19662, darin insbesondere die große Abhandlung: „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition (a.a.O., S. 91 – 143).
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auch die nicht-normativen nicht-kanonischen Traditionselemente in den Blick genommen werden, wird theologisch der unabsehbar große Bereich erfasst, in dem Christenmenschen ihren Glauben authentisch bezeugen, als Laien theologisch produktiv sind, aber auch als Theologen und kirchliche Amtsträger am Prozess der christlichen Überlieferung rezeptiv und konstruktiv beteiligt sind. Ohne einen solchen Traditionsbegriff würde ein großer Teil des Reichtums, der der Kirche anvertraut ist, zwar nicht verloren gehen, wohl aber nicht hinreichend theologisch wahrgenommen. Dass es innerhalb dieses Bereichs nicht-kanonischer nicht-normativer Überlieferung erhebliche Qualitätsunterschiede gibt, ist ohne Weiteres einzuräumen. Aber sie gibt es auch innerhalb der kanonischen und der nicht-kanonisch normativen Überlieferung. Und in allen diesen Bereichen gibt es keine erkennbare Notwendigkeit oder auch nur Möglichkeit, solche qualitativen Unterschiede auch noch durch terminologische Differenzierungen zur Geltung zu bringen.
Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung? Überlegungen im Anschluss an Luther und Schleiermacher 1. Evangelische Antworten Auf die Themafrage dieses Aufsatzes gibt es nach evangelischem Verständnis mehrere Antworten, von denen man sagen kann, sie seien jedenfalls nicht falsch, sondern enthielten Wahrheitselemente. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass es nur eine Antwort gibt, von der man sagen kann: sie ist so genau, dass sie das Zentrum der Frage erfasst. Es ist dies freilich eine merkwürdige, vermutlich von vielen Nicht-Theologen als überraschend empfundene Antwort. Bevor ich sie nenne und erläutere, will ich einige von den anderen, nicht falschen, aber doch nicht erschöpfenden und nicht das Zentrum treffenden Antworten erwähnen. Von Adolf von Harnack, dem großen Kirchengeschichtler und Wissenschaftsorganisator an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wird anekdotisch überliefert, er habe seine beiden Tanten, die in Dorpat im Baltikum lebten, besucht und sich beiläufig danach erkundigt, wie sie denn ihre Zeit verbrächten. Sie sagten ihm, dass sie zur Zeit das Buch des Propheten Hesekiel miteinander läsen. Harnack konnte angesichts der Schwierigkeiten, die dieser Prophet mit seiner reichen, bizarren Bild- und Vorstellungswelt allen Lesern bereitet, seine Überraschung nicht unterdrücken und fragte spontan zurück: „Versteht Ihr das denn?“ Darauf soll die eine der beiden Tanten geantwortet haben: „Nun, alles verstehen wir sicher nicht. Aber was wir nicht verstehen, das legen wir uns gegenseitig aus“. Diese Antwort klingt witzig, ist aber auch ziemlich gut evangelisch; denn in ihr kommt – bezogen auf das Verstehen und Auslegen der Bibel – das zur Geltung, was die reformatorische Theologie im Anschluss an
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das Alte und Neue Testament das Allgemeine Priestertum bzw. das Priestertum aller Christen nennt.1 Und doch ist diese Antwort auch aus evangelischer Sicht nicht umfassend und erschöpfend, sondern verweist nur auf ein – allerdings wichtiges – Element. Wo das Defizit dieser Antwort liegt, kann man sich deutlich machen, wenn man etwas genauer über die Titelformulierung ,Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung‘ nachdenkt. ,Kompetenz‘ kann Zweierlei bedeuten, was keineswegs immer zusammentrifft, nämlich ,Zuständigkeit‘ und ,Fähigkeit‘. So sagen wir im Blick auf irgendeine ausstehende Entscheidung: „Das fällt (nicht) in ihre oder seine Kompetenz“. Und damit meinen wir dann, dass jemand (nicht) das Recht hat, diese Frage zu entscheiden, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen oder diese Erklärung abzugeben. Davon zu unterscheiden ist die Rede von der ,Kompetenz‘ im Sinne einer Befähigung, z. B. von der ,theologischen Kompetenz‘2, die jemand sich im Laufe eines Studiums erworben und angeeignet hat. Und solche Kompetenz als Fähigkeit ist in der Regel auch gemeint bzw. von ihr ist die Rede, wenn jemand für inkompetent erklärt und ihm oder ihr damit die Fähigkeit und Eignung abgesprochen wird, eine bestimmte Aufgabe sachgemäß in Angriff zu nehmen. Der Idealfall ist immer dort gegeben, wo beide Formen von Kompetenz zusammenfallen, wo Menschen also genau für das zustndig 1 2
Siehe dazu die präzise und umfassende Darstellung von H. Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997. Die m. E. für den Zweck der Kirchenleitung immer noch beste, weil denkbar umfassende (und trotzdem knappe), sehr genaue (und trotzdem verständliche) und außerordentlich konkrete (und trotzdem grundsätzliche) Beschreibung dessen, was theologische Kompetenz ist, findet sich in dem von W. Hassiepen und E. Herms herausgegebenen Band: Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung im Gespräch. Im Auftrag der Gemischten Kommission für die Reform des Theologiestudiums hg. von W. Hassiepen/E. Herms, Stuttgart 1993, S. 20 f. Unter „theologischer Kompetenz“ versteht dieser Text eine Fähigkeit, die aus fünf Elementen besteht, nämlich daraus, 1.) die Lehre und Ordnung der eigenen Kirche zu kennen und in ihren Intentionen zu verstehen; 2.) die Evangeliumsgemäßheit und Wahrheit dieser Lehre und Ordnung eingesehen zu haben und sich mit der Sache des Evangeliums, dem Auftrag der Kirche und den Aufgaben des kirchlichen Amts identifizieren zu können; 3.) diese eigenen Einsichten persönlich vertreten zu können; 4.) die Wahrheit des Evangeliums auch öffentlich auszusprechen und in der Amtsführung umsetzen zu können und 5.) die einmal gewonnenen Einsichten und Fertigkeiten angesichts fortschreitender Lebens- und Amtserfahrung kritisch und diszipliniert fortzuentwickeln.
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sind, wozu sie auch fhig sind. Traurig ist es in der Regel, wenn jemand die Kompetenz im Sinn der Befähigung besitzt, aber dafür nicht zuständig ist, also – jedenfalls in diesem Fall – nichts zu sagen hat. Katastrophal wird es oft dort, wo jemand zwar für eine Aufgabe oder Tätigkeit zuständig ist, aber nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt, um die Aufgabe sachgemäß zu lösen. Im Blick auf solche Situationen fällt vielen Menschen der alte Spruch ein, es sei ein Irrglaube anzunehmen, dass Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den (dafür erforderlichen) Verstand gebe. Was einen zumindest fragen oder zweifeln lässt, ob die Tanten Harnacks kompetent zur (richtigen) Schriftauslegung, bezieht sich jedenfalls nicht auf die Frage, ob sie dafür zustndig waren – das kann und sollte man keinem Christenmenschen absprechen –, sondern ob sie dazu hinreichend fhig waren. Aber wovon hängt das ab? Die Fähigkeit zur (richtigen) Schriftauslegung hängt von zwei Elementen ab, einem äußeren und einem inneren, man kann auch sagen: einem wissenschaftlichen und einem geistlichen Element. Die äußere, wissenschaftliche Fähigkeit zur Schriftauslegung ist deswegen erforderlich, weil die Texte, um die es sich dabei handelt, fast zwei- bis dreitausend Jahre alt sind, in Sprachen verfasst wurden, die es so heute nicht mehr als lebendige Sprachen gibt und die niemand von uns als oder wie eine Muttersprache beherrscht. Ohne Übersetzungen, ohne erläuternde Erklärungen, ohne historisches Wissen lassen sich Texte der Bibel entweder gar nicht oder jedenfalls nicht umfassend und vollständig verstehen. Die innere, geistliche Fähigkeit, die zum richtigen Verstehen der Bibeltexte erforderlich ist, ergibt sich daraus, dass die Bibel von Erfahrungen und Erlebnissen berichtet, die man nur dann richtig verstehen kann, wenn man sich auf sie einlässt, wenn man bereit ist, sie zu teilen, und das heißt, wenn man bereit ist, im Lichte dieser Texte sein eigenes Leben zu bedenken, zu prüfen und zu verstehen. Dabei hängen die wissenschaftliche Fähigkeit und die geistliche Fähigkeit nicht notwendigerweise miteinander zusammen. Zwar ist es ein großes Privileg, wenn man sich als Theologe beruflich mit den Texten beschäftigen kann, die einem auch menschlich, geistlich viel bedeuten und sogar die Grundlage der eigenen Lebensorientierung darstellen. Aber es gibt einerseits Menschen, die durch die Beschäftigung mit den biblischen Texten eher abstumpfen, den inneren Bezug zu ihnen verlieren und für die der theologische Beruf in Folge dessen zum Broterwerb, zum Job oder zur beliebig austauschbaren Möglichkeit
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einer akademischen Karriere wird. Und es gibt andererseits Menschen, die sogar Analphabeten sind, also nicht einmal den Bibeltext in ihrer eigenen Muttersprache lesen können, und doch von den Worten, die sie gehört haben, so getroffen, berührt und bewegt werden, dass es bei ihnen zu einem tiefen Verstehen, zu einer grundlegenden Ausrichtung der eigenen Lebenssicht und Lebenspraxis im Einklang mit diesen Texten kommt. Die durch ein Theologiestudium erworbene theologische Kompetenz ist immer auch eine hermeneutische Kompetenz, d. h. eine zum Verstehen und zur Auslegung des biblischen Kanons erforderliche und dazu anleitende Kompetenz. Weil diese theologische Kompetenz aber nicht notwendig gepaart ist mit der inneren Bereitschaft, sich von diesem Text anrühren, in Frage stellen und ausrichten zu lassen, darum ist es auch nicht zureichend, auf die theologisch gebildeten, theologisch kompetenten Männer und Frauen in Kirche, Schule und Universität zu verweisen, um die Frage nach den kompetenten Schriftauslegern zu beantworten. Und die Beurteilung der geistlichen Kompetenz eines Menschen entzieht sich ohnehin jedem menschlichen Urteil, selbst wenn wir gelegentlich meinen, wir hätten eindeutige Indizien in die eine oder andere Richtung. Dasselbe gilt aber auch schließlich von den kirchlichen Amtsträgern, den Bischöfinnen oder Bischöfen, Kirchenpräsidenten oder Präsides sowie den Mitgliedern der gewählten synodalen Gremien vom Kirchenvorstand bis zur Landessynode, zur Lutherischen Generalsynode oder zur EKD-Synode. Zwar darf man davon ausgehen, dass in solche Ämter zumindest überwiegend solche Personen berufen oder gewählt werden, die in dem Ruf stehen, etwas von der Sache und Botschaft der Bibel zu verstehen, mit ihr vertraut zu sein und sie zur Geltung zu bringen, aber einen Beweis hierfür haben wir nicht, und eine Gewähr für die richtige Schriftauslegung können auch sie nicht bieten, denn sie sind fehlsame, irrtumsfähige Menschen mit einer begrenzten theologischen Kompetenz und einer versuchlichen, fragilen geistlichen Prägung und Haltung. Sollten wir, wenn das so ist, am besten alle menschlichen Instanzen ausschließen oder überspringen und statt dessen gleich sagen: Die Kompetenz zur richtigen Schriftauslegung hat nach evangelischem Verständnis nur der Geist Gottes, also der Heilige Geist? Das wäre zwar ein Satz, dessen Richtigkeit man schwer bestreiten kann, der uns aber auch nicht wirklich weiterhilft, solange wir nicht angeben können, an welchen Orten, zu welchen Zeiten, durch welche Menschen, auf
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welche Weise der Heilige Geist wirkt und das rechte Verständnis und die angemessene Erkenntnis der Schrift weckt. Und bekanntlich weht der Geist – wie der Wind – wo er will, und wir wissen nicht, „woher er kommt und wohin er fährt“ ( Joh 3,8). Was nun? Steh ich da nun als armer Tor und bin so klug als wie zuvor? wie es Faust nach einem kompletten Philosophie-, Jura-, Medizin- und Theologiestudium erging? Nun, ganz so ist es ja nicht. Wir haben bei jeder dieser Antworten Elemente gefunden, die einen wichtigen Beitrag zur Schriftauslegungs-Kompetenz leisten, die aber je für sich genommen nicht hinreichend sind. Da ist es natürlich naheliegend, zu fragen, ob sie denn nicht dann hinreichend werden, wenn wir sie nicht je für sich und vereinzelt, sondern alle zusammen nehmen: Die Christenmenschen, die Männer und Frauen mit theologischer Kompetenz, die kirchlichen (sei es synodalen, sei es personalen) Amtsinhaber und schließlich – vor allem – den Heiligen Geist, der sie in alle Wahrheit leiten muss, will und wird? Das kann man so sagen, und damit wäre schon ziemlich viel zur Beantwortung der Thema- bzw. Titelfrage gewonnen, nämlich einmal die Einsicht, dass wir als Christenmenschen, Theologen oder Amtsträger alle aufeinander angewiesen sind, wenn es um die Aufgabe und Kunst der richtigen Schriftauslegung geht, dass wir aber vor allem alle miteinander auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen sind, der uns erst das Verständnis der Schrift so erschließt, dass wir sie als Wahrheit für unser Leben erkennen können. Und doch fehlt noch ein Element, das für die Reformatoren, insbesondere für Luther, so entscheidend war, dass er es in ins Zentrum seines methodischen Nachdenkens über die rechte Schriftauslegung gerückt und der römisch-katholischen Auffassung von der Kompetenz zur richtigen Schriftauslegung gegenübergestellt hat. Diese Antwort lautet: „Die Schrift ist ihre eigene Auslegerin“ („scriptura … sui ipsius interpres“) 3. Das ist m. E. die zentrale reformatorische Antwort auf die Frage: „Wer hat die Kompetenz zur richtigen Schriftauslegung?“ Aber was soll diese Antwort besagen? Was soll man sich darunter vorstellen, dass die Schrift sich selbst auslegt? 3
In dieser Allgemeinheit und Präzision findet sich die Formel bei Luther wohl nur in der „Assertio omnium articulorum“ von 1520, in: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe (=LDStA) 1, 78,30 – 80,3/79,41 – 81,4. Bezogen auf Einzelaussagen und -aspekte findet sie sich jedoch häufig in Luthers Schrifttum, so z. B. in WA 2, 191,9; WA 14, 556,26 f. und WA 20, 108,14 f.
Luthers Beitrag
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2. Luthers Beitrag Um den Sinn dieser Antwort zu verstehen, muss man sie zunächst gegen ein immer wieder auftauchendes Missverständnis abgrenzen, sodann in ihrer eigenen Bedeutung entfalten und schließlich mit den bisher gefundenen Antwortelementen verbinden, um zu verhindern, dass sie als eine Antithese zu allem bisher Gesagten (miss-)verstanden wird. Was zunächst das – vor allem in der römisch-katholischen Lutherkritik immer wieder auftauchende – Missverständnis anbelangt, muss man Luthers These von der Selbstauslegung der Schrift abgrenzen und unterscheiden von der Annahme, der Text der Heiligen Schrift sei durchweg klar oder leicht zu erheben. Luther war bekanntlich auch schon vor seiner Bibelübersetzung – um wie viel mehr danach – ein vorzüglicher Kenner der Bibel. Als solcher ist er der Überzeugung, dass die Heilige Schrift das, was wir zu unserem Heile wissen müssen, in hinreichender Klarheit enthält.4 Aber er weiß zugleich aus eigener (oft leidvoller) Erfahrung, dass die Schrift keineswegs an allen Stellen die für uns erforderliche und von uns erwünschte äußere Klarheit5 besitzt, geschweige denn, dass diese leicht festzustellen oder zu erheben wäre. Es 4
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Dies betont er mit besonderem Nachdruck in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam, bei dem er die Gefahr sieht, dass er klare Aussagen der Bibel für unklar erklärt, weil er sie für falsch hält bzw. nicht akzeptieren will. So z. B. in der Assertio (LDStA 1, 8,30 – 83,21) sowie in: De servo arbitrio von 1525 (LDStA 1, 235,1 – 7; 237,2 – 15; 239,36 – 39; 277,38 f.; 329,30 – 39; 331,39 – 333,40; 341,1 – 11; 345,1 – 12; 411,20 – 32; 473,34 – 38; 483,13 – 33 u.o.). Aber auch schon in der Auseinandersetzung mit Latomus im Jahre 1521 hat Luther dies betont: „Scripturae … satis apertae, quantum oportet pro salute …“ (WA 8, 99,20 – 21/LDStA 2, 324,20 f. dt. „Die Schrift … [ist] klar genug, was das zum Heile Notwendige angeht“ LDStA 2, 325,25 f.) Luther unterscheidet die äußere Klarheit (claritas externa) im Sinne der Verständlichkeit des wörtlichen bzw. buchstäblichen Textsinnes (sensus literalis) von der inneren Klarheit (claritas interna) im Sinne des Überwundenseins von der Wahrheit der im Text enthaltenen Botschaft (so z. B. Der 36. Psalm Davids, von 1521, in: WA 8, 236,7 – 17 und 239,16 – 21 sowie De servo arbitrio, von 1525, in: LDStA 1, 239,24 – 27 und 325,38 – 327,15). Diese Unterscheidung ist eine Entsprechung zu der oben genannten Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und geistlicher Kompetenz, ohne mit ihr identisch zu sein. Bei dem hermeneutischen Prinzip der Selbstauslegung der Schrift geht es zunchst um die äußere Klarheit, also um die Verständlichkeit der Schrift. Da der Heilige Geist, der zur Wahrheitserkenntnis des Schriftzeugnisses führt, jedoch nicht unabhängig von der Schrift, sondern in ihr und durch sie wirkt, gilt das „sui ipsius interpres“ insofern auch von der claritas interna.
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Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung?
gibt zahlreiche Aussagen von Luther, an denen er sagt, wie er selbst mit solchen dunkel, unklar oder unverständlich bleibenden oder klingenden Stellen umgeht oder wie er damit umzugehen rät.6 Was ist dann aber der Sinn der Rede von der Selbstauslegung? Denkt Luther hierbei an irgendeinen magischen, intellektuell nicht nachvollziehbaren oder überprüfbaren Vorgang, bei dem der Heilige Geist zum Subjekt einer Schriftauslegung würde, die zwar in Menschen stattfände aber so, als seien diese dabei – wie in Trance – nur das Medium oder Gefäß eines Geschehens, das sich ohne ihr Zutun in ihnen ereignet? Keineswegs! Luther weiß, bestreitet nicht, sondern schärft nachdrücklich ein, dass es zur rechten Schriftauslegung gehört, die alten Sprachen zu kennen,7 auf den Textzusammenhang zu achten8 und gründlich nachzudenken9. 6
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So z. B. ebenfalls in der Rationis Latomianae confutatio von 1521: „dimitte eam [sc. scripturam] ubi obscura est, tene ubi clara est“ (WA 8, 99,15/LDStA 2, 324,14 f.; dt. „lass sie, wo sie dunkel ist, halte dich an sie, wo sie klar ist“ [LDStA 2, 325, 18 f.]). In einer Predigt über Jer 23,5 – 8 aus dem Jahr 1526 sagt Luther es so: „Denn es ist mit Gottes wort nicht zu schertzen: kanst du es nicht verstehen, so zeuch den hut vor yhm ab…“ (WA 20, 571,22 f.). Dieser bei Luther häufig empfohlene respektvolle Umgang mit unverstandenen Aussagen der Schrift ist nicht immer eindeutig dem Dual von mangelnder äußerer oder innerer Klarheit der Schrift zuzuordnen, aber vermutlich ist gerade diese Uneindeutigkeit durchaus phänomengerecht. Die Grenzlinie zwischen nicht verstehen und nicht einverstanden sein ist nicht immer leicht oder klar zu ziehen. In seiner Auslegung des 36. (37.) Psalms aus dem Jahr 1521 vertritt Luther zum Vorhandensein und zum Umgang mit dunklen Stellen in der Schrift sogar eine weitreichende, kühne These: „Das ist wol war, ettlich spruch der schrifft sind tunckel. Aber ynn den selben [Sprüchen] ist nichts anderß, denn eben waß an andern orttern yn den klaren, offenen spruchen ist“. Und daraus folgert er: „Alszo, ist ein tunckel spruch yn der schrifft, szo zweyffelt nur nit, es ist gewisslich die selbe warheit dahinden, die am andern ort klar ist, und wer das tunckell nit vorstehen kann, der bleyb bey dem liechten“ (WA 8, 237,3 – 6 und 239,19 – 21). „Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt“ (An die Ratsherren aller Städte deutschen Lands, von 1524, in: WA 15, 38,8 f.); ähnlich äußert Luther sich in seiner Genesisvorlesung (WA 42, 195,18 – 20). Welche Bedeutung diese schlichte Auslegungsregel hat, ist Luther selbst an der Beschäftigung mit Röm 1,17, im Zusammenhang mit seiner von ihm selbst beschriebenen reformatorischen Entdeckung aufgegangen und bewusst geworden. „Donec miserente Deo meditabundus dies et noctes connexionem verborum attenderem …“ (WA 54, 186,3 f./LDStA 2, 506,1 f.; dt: „Bis ich, durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte darüber nachsinnend meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wçrter richtete …“ [LDStA 2, 507,1 f.] Hervorhebung von WH).
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Deshalb richtet sich das Prinzip der Selbstauslegung der Schrift auch nicht gegen die Einsicht, dass an der Aufgabe der Schriftauslegung alle Christenmenschen beteiligt sind, insbesondere jedoch diejenigen, die die theologische Kompetenz erworben haben und denen durch das Vertrauen ihrer Mitchristen ein kirchliches Amt zuteil geworden ist.10 Und natürlich weiß Luther, dass alle diese Menschen für das angemessene Verstehen des biblischen Textes auf das Wirken des Geistes Gottes angewiesen sind. Was er aber mit diesem Bekenntnis zur Selbstauslegung der Schrift betont, besagt positiv, dass die Bibel aus sich selbst heraus auszulegen und zu verstehen ist, bzw. negativ, dass ihre Auslegung nicht aus einer anderen Instanz oder Norm zu gewinnen ist oder ihr unterliegt – und sei es das kirchliche Lehramt oder die Gesamtheit der theologischen Tradition –, sondern dass wir immer neu auf den Wortlaut und den Zusammenhang des biblischen Textes zurückgehen müssen, wenn wir die Schrift richtig verstehen wollen.11 Gegen die Bestreitung dieser Einsicht durch die Behauptung, erst durch die theologische und kirchliche Auslegung und Lehre werde die Schrift klar, fragt Luther zurück: wo denn der Maßstab für das liege, was klare oder richtige Schriftauslegung ist. Und er zeigt völlig überzeugend, dass wir entweder die Schrift ersetzen müssen durch andere Autoritäten (Kirchenväter, Päpste, kirchliche Dogmen) und dann die Schrift an deren theologischen Lehrmeinungen messen und damit der Schrift die normative, kanonische Funktion absprechen, oder die Schrift als Kanon und Norm ernst nehmen, dann aber alle späteren Auslegungen (wie wichtig sie auch immer sind) auf ihre Richtigkeit anhand des biblischen Textes selber überprüfen müssen.12 9 Dass auch das eben erwähnte „dies et noctes meditari“ bei Luther zu den Elementen des Theologietreibens und Schriftverstehens gehört, hebt er in der Vorrede zu Bd. 1 der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften von 1539 mit allem Nachdruck hervor (siehe WA 50, 659,22 – 35) 10 Siehe hierzu und zum Folgenden O. Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, S. 35 – 126. 11 Dass dies der Sinn des Grundsatzes „scriptura … sui ipsius interpres“ ist, hat bereits G. Ebeling in seinem (quanitativ und qualitativ) großen Aufsatz: „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition, in: ders., Wort Gottes und Tradition, Göttingen (1964) 19662, S. 91 – 143, gezeigt. 12 In kaum zu übertreffender Klarheit stellt Luther diese hermeneutische Grundeinsicht im Anfangsteil der Schrift dar, in der er seine aus der Heiligen Schrift gewonnenen theologischen Überzeugungen, die vom kirchlichen Lehramt verurteilt worden waren, verteidigt: in der Assertio omnium articulorum (LDStA 1, 76,1 – 88,30/77,1 – 89,42). Dieser Textabschnitt ist ein Kabi-
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Die Lehre der römisch-katholischen Kirche, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil erneut formuliert wurde, stimmt damit zur Hälfte überein, wenn es in der Dogmatischen Konstitution ,Dei Verbum‘ heißt: „Das Lehramt steht … nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nur lehrt, was überliefert ist …“. Aber dem geht der Satz voran: „Die Aufgabe …, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut …“13. So nachdrücklich die evangelische Kirche und Theologie mit der römisch-katholischen Kirche und Theologie die Unterordnung des kirchlichen Lehramts unter das Wort Gottes bekräftigt, so entschieden bestreitet sie, dass die Aufgabe der authentischen Auslegung „allein“ dem kirchlichen Lehramt anvertraut sei. Und sie fragt zudem kritisch, ob in diesem Auslegungsmonopol des kirchlichen Lehramts, von dem es heißt, dass „es nur lehrt, was überliefert ist“, nicht die Gefahr steckt, dass das Wort der Heiligen Schrift keine hinreichende Möglichkeit und Chance bekommt, sich gegen seine Auslegung durch das kirchliche Lehramt zu wehren.14 Kann es durch die Überordnung der lehramtlichen Schriftauslegung über alle andere Schriftauslegung nicht leicht dazu kommen, dass das Lehramt faktisch – wenn auch sicher gegen seine Absicht und Intention – über dem in der Heiligen Schrift überlieferten Wort Gottes zu Stehen kommt? Das sind die Fragen, die schon Luther vor knapp 500 Jahren bewogen haben, auf Dreierlei zu dringen: – auf die Zentralstellung der Schrift als Kanon, Norm und Kriterium aller menschlichen, auch aller kirchenamtlichen Schriftauslegung, – auf die Beteiligung aller Christenmenschen an der Aufgabe der richtigen Schriftauslegung und nettstck reformatorischer Hermeneutik, das es verdiente, regelmßig in Lehrveranstaltungen Wort fr Wort durchgearbeitet zu werden. 13 DH 4214. 14 Dass es kritische Anfragen in diesem Sinne nicht nur von evangelischer, sondern auch von prominenter katholischer Seite gibt, belegt der Kommentar zu diesen Aussagen, den Joseph Ratzinger verfasst hat. Er schreibt dort: „Man wird schwerlich bestreiten können, dass die Form, wie hier einzig die Schrift als das Unklare, das Lehramt als das Klare ausgegeben wird, einseitig ist und dass in der Reduktion der Aufgabe darauf, das Vorhandensein der lehramtlichen Aussage in den Quellen zu beweisen, eine Entmündigung der Quellen droht, die schließlich den Dienstcharakter des Lehramts aufheben müsste, wenn man konsequent immer in dieser Richtung weiterschreiten würde“. ( J. Ratzinger, Kommentar zum Prooemium, I. und II. Kapitel [von Dei verbum], in: LThK2 Bd. 13, 1967, S. 527).
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– auf die Beförderung derjenigen theologischen Kompetenz, die für die Wahrnehmung der Aufgabe rechter Schriftauslegung erforderlich ist. Wenn man es so formuliert, wird aber zugleich erkennbar, dass es eine wichtige, wohl noch nicht hinreichend gelöste Aufgabe für die evangelische Kirche und Theologie darstellt, auf der Grundlage der anerkannten Selbstauslegungskompetenz der Heiligen Schrift, also des biblischen Kanons, die mit dem Allgemeinen Priestertum gegebene Urteilskompetenz und die jeweils zu erwerbende theologische Kompetenz zur (rechten) Schriftauslegung zueinander in ein sachlich, institutionell und rechtlich geordnetes Verhältnis zueinander zu setzen. Bei Luther gibt es dazu zwar Ansätze, aber keine ausgeführte Lehre. Sein theologisches Hauptargument ist die Überzeugung, dass das Christsein, verstanden als Leben im Glauben an Jesus Christus, nicht steigerungsfähig ist15 und es darum auch keine höhere Lehrautorität geben kann als die im Glauben an Jesus Christus gründende Glaubenserkenntnis. Dort, wo Luther aus der Heiligen Schrift begründet, warum „eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen“16 knüpft er an das Johanneische Bildwort vom guten Hirten an, in dessen erstem Teil Christus sich als „die Tür zu den Schafen“ ( Joh 10,7) bezeichnet und zwischen dem Hirten der Schafe einerseits und den Fremden andererseits unterscheidet, die „Diebe und Räuber“ sind (so Joh 10,1.5.8.10). Der Hirte geht durch die Tür zu den Schafen hinein (bzw. er wird vom Türhüter eingelassen). Der Dieb und Räuber hingegen steigt anderswo hinein. Den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Beurteilungskompetenz bildet jedoch nicht das Bild von der Tür, sondern das folgende Bild von der Stimme des Hirten. Dabei geht es um die Beziehung zwischen dem Hirten und seinen Schafen einerseits und die Beziehung des Fremden (Diebes und Räubers) zu den Schafen andererseits. Vom Hirten gilt: „die Schafe hören seine Stimme …, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern
15 Weder durch asketische Bemühungen, noch durch eine kirchliche Weihe, noch durch kirchenrechtliche Privilegien. 16 So der programmatische Titel der Schrift aus dem Jahre 1523 (mit dem ebenfalls programmatischen Untertitel „Grund und Ursach aus der Schrift“), in der Luther dieses Recht und diese Macht am sorgfältigsten begründet hat (WA 11, 408 – 416).
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fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht“ ( Joh 10,3 – 5; ebenso Joh 10,27).17 Der Bezug dieses (Teils des) Bildwortes zur Beurteilung rechter und falscher christlicher Lehre ist naheliegend. Dabei steht die Stimme für die Lehre. Vorausgesetzt wird, dass die Schafe die Stimme des Hirten kennen, erkennen und von anderen (fremden) Stimmen unterscheiden können. Vorausgesetzt wird weiter, dass die Schafe mit dem Hirten positive Erfahrungen gemacht haben, die zur Wiederholung einladen („Weide finden“, „Leben und volle Genüge haben“ [ Joh 10,9 f.], „ewiges Leben“ empfangen, „nimmermehr umkommen“ [ Joh 10,28]). Ja, das Bild wird im Folgenden sogar noch – mit deutlich christologischsoteriologischem Bezug – gesteigert: „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“ ( Joh 10,11). Und dessen Stimme, also die Stimme dessen, der sogar sein Leben für seine Schafe lässt, kennen die Schafe und folgen ihr bzw. ihm. Damit liegt das Bildmaterial bereit, um dessentwillen Luther diesen Text zur Begründung für die Urteilskompetenz der christlichen Gemeinde ohne ausführliche Erläuterung, Auslegung oder Begründung in Anspruch nehmen kann und nimmt. Der Bezug versteht sich von selbst, auch wenn das Bild changiert zwischen Christus als der Tür, durch den die rechten Hirten hereinkommen, und Christus als dem guten Hirten, dessen Stimme die Schafe erkennen und der sie folgen. Damit diese beiden Bilder sagen können, was sie sagen sollen, müssen sie so kombiniert werden, dass an der Stimme der Hirten erkennbar wird, ob sie die rechten Hirten oder ob sie Fremde sind, die in räuberischer und mörderischer Absicht kommen. Das Bildwort kann aber nur das leisten, was es leisten soll, wenn dabei implizit „Stimme“ durch „Worte“ ersetzt wird und wenn nicht nur von einem (guten) Hirten, sondern von einer 17 Da meiner Beobachtung nach heute viele Menschen Schwierigkeiten haben, dieses Bild(wort) auf sich anzuwenden und sich in der Rolle eines Schafes wiederzufinden, mag es zulässig sein, auf ein modernes, technisches Äquivalent zu verweisen, das heute als Veranschaulichungsmittel für diesen elementaren Sachverhalt verwendet werden könnte: sog sprecherabhängige Spracherkennungsprogramme, die dazu dienen, gesprochene Texte ohne den (Um-)Weg über eine Schreibkraft direkt in Schriftform zu bringen. Entscheidend für die Leistung und Qualität dieser Programme ist es, dass das Programm anfangs „lernt“, die Stimme des Sprechers in die orthographisch korrekte Schriftform zu übertragen. Dazu ist eine gewisse Zeit der „Gewöhnung“ an diese Stimme erforderlich. Ob der Vergleich mit einem Spracherkennungsprogramm schmeichelhafter ist als der mit einem Schaf, lasse ich jedoch dahingestellt.
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Mehrzahl die Rede ist, wobei die anderen (später kommenden) Hirten an ihrer Übereinstimmung mit dem guten Hirten (bzw. mit dessen Stimme, richtig gesagt: mit dessen Worten) von den Schafen als rechte Hirten erkannt werden. Versucht man das Bildwort und seine Anwendung durch Luther in dieser Weise zu entschlüsseln, so wirkt es ausgesprochen kompliziert, geradezu verwirrend, wobei ein Gutteil dieser Verwirrung auf die johanneische Bildermischung zurückgeht. Und trotzdem wirkt das Bild zugleich intuitiv gut verständlich, so dass es von Luther ohne weitere Erläuterungen eingesetzt und als Begründung für die These von der Urteilskompetenz der christlichen Gemeinde verstanden und verwendet werden kann. Der Versuch der Bild-Entwirrung ist gleichwohl nicht überflüssig, sondern weist auf mehrere voraussetzungsreiche Annahmen hin, die zumindest einer ausdrücklichen Benennung, wenn nicht sogar sachlichen Klärung und Begründung bedürfen, wie sich zeigt – an der Einzahl und Mehrzahl von gutem bzw. guten Hirten, – an der Unterscheidung zwischen Stimme und Worten sowie – an der Unterscheidung zwischen Tür und Hirte. Vorausgesetzt ist in alledem die Gewissheit, dass dort, aber auch nur dort, wo das Evangelium rein (also ohne unsachgemäße Zusätze oder Verdrehungen) gepredigt wird, christlicher Glaube und damit christliche Gemeinde entsteht, die mit der Botschaft vertraut ist, welche die christliche Identität ausmacht.18 Die so durch die gewissmachende Begegnung mit dem unverfälschten Evangelium von Jesus Christus in Berührung und dadurch zum Glauben gekommene christliche Gemeinde kennt damit die Stimme (=Worte) des guten Hirten und ist aufgrund dieser Kenntnis in der Lage, die Worte anderer Menschen daraufhin zu überprüfen, ob sie mit den Worten des guten Hirten übereinstimmen oder von ihnen abweichen.
18 So WA 11, 408,8 – 409,23: „Da bey aber soll man die Christlich gemeyne gewißlich erkennen, wo das lautter Euangelion gepredigt wirt. … Da her sind wyr sicher, das unmuglich ist, das nicht Christen seyn sollten, da das Euangelion gehet, wie wenig yhr ymer sey, und sundlich und geprechlich sie auch seyn, gleich wie es unmuglich ist, das da Christen und nicht eyttel heyden seyn sollten, da das Euangelion nicht gehet, und menschen lere regirn, wie viel yhr auch ymer sey, und wie heylig, und feyn sie ymer wandeln. … Christus … nympt den Bischoffen, gelerten, und Concilien beyde recht und macht tzu urteylen die lere, und gibt sie yderman, und allen Christen ynn gemeyn. Da er spricht Johan. X. Meyne schaff kennen meyne stym“.
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Dabei geht es jedoch nicht um eine Übereinstimmung, die in einer Rezitation oder Wiederholung der Worte des guten Hirten besteht. Im Gegenteil: Eine solche Rezitation oder Wiederholung würde aus zwei Gründen der gebotenen Übereinstimmung nicht gerecht: erstens weil die Muttersprache Jesu (und der ihn verkündigenden Apostel) nicht unsere Muttersprache ist und darum ohne Übersetzung von uns gar nicht verstanden werden kann; zweitens weil die Situation, in die hinein die Worte des guten Hirten, also die Worte des Evangeliums ursprünglich ergingen, nicht unsere Situation ist. Damit erklingen die Worte aber in einem anderen Resonanzraum, der ihren Sinn verändern kann. Wem an der sachlichen, inhaltlichen Übereinstimmung heutiger Verkündigung und Lehre mit dem reinen Evangelium von Jesus Christus gelegen ist, der muss diese zweifache Differenz in Rechnung stellen und sowohl in der Formulierung von Verkündigung und Lehre als auch bei deren kritischer Prüfung in Rechnung stellen. Anders gesagt: Die Artikulation und Beurteilung christlicher Verkündigung und Lehre ist eine hermeneutisch aufwendige Aufgabe.19 In welchem Maße dies Luther bewusst war und wie er damit selbst umging und umzugehen empfahl, ist vor allem seinem Sendbrief „Vom Dolmetschen“ aus dem Jahr 153020 zu entnehmen. Dabei weiß Luther aus eigener Erfahrung, „was fur kunst, fleiß, vernunfft, verstandt zum gutten dolmetscher gehöret“.21 Diese Kunst ist jedoch nicht aus Büchern alleine zu lernen: „den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden …, sondern, man mus die mutter yhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen; so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet“.22 Aus diesen Sätzen geht Zweierlei hervor: zum einen, dass es Luther bewusst ist, dass schon jeder Übersetzungsversuch ein Auslegungsprozess ist, der risikoreich ist und darum hohe Anforderungen stellt; zum anderen, dass an diesem Übersetzungs- und Auslegungsvorgang diejenigen mitbeteiligt sein müssen, für die ein Text übersetzt und damit 19 Dies und das damit verbundene „Problem der sachgemäßen Schriftauslegung“ habe ich detaillierter darstellt in: W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York (1995) 20073, S. 128 – 139. 20 WA 30/2, 632 – 646. 21 A. a. O., 633,30. 22 A. a. O., 637,17 – 22.
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seinem eigenen Sinn nach verständlich gemacht werden soll. Das zeigt, dass die rechte Auslegung der Heiligen Schrift (aus sich selbst heraus) eine Aufgabe ist, die nur in einem Miteinander von Fachleuten und Adressaten gelingen kann. Und dasselbe gilt für die Beurteilung christlicher Verkündigung und Lehre. Auch sie setzt ein Miteinander von Verkündigenden bzw. Lehrenden und Hörenden bzw. Urteilenden voraus. Aber um was für eine Form des Miteinanders handelt es sich in beiden Fällen? Beide Male strukturell um dasselbe oder um ein unterschiedliches Miteinander? Und wie müsste oder könnte dieses Miteinander beschrieben und charakterisiert werden?
3. Schleiermachers Beitrag Wenn man nach einer theologisch und kirchenpraktisch durchreflektierten Antwort auf diese Frage sucht, blickt man am besten auf Schleiermachers Theorie der Kirchenleitung, wie er sie an verschiedenen Stellen seines großen Werkes entwickelt hat.23 Als Ausgangspunkt meiner knappen Hinweise wähle ich Schleiermachers bekannte Begriffsbestimmung der christlichen Theologie aus seiner „Kurzen Darstellung“: „Die christliche Theologie ist … der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche,
23 Die beiden wichtigsten Quellen hierfür sind Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ [künftig abgekürzt: KD] (1811/1830), hg. von D. Schmid, Berlin/New York 2002 und seine posthum veröffentlichte „Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ [künftig abgekürzt: PTh], hg. von J. Frerichs, Berlin 1850. Ich orientiere mich im Folgenden aus Zeit- und Raumgründen ganz überwiegend an der KD. Die wichtigsten Arbeiten ber Schleiermachers Lehre von der Kirchenleitung sind: M. Daur, Die eine Kirche und das zweifache Recht. Eine Untersuchung zum Kirchenbegriff und der Grundlegung kirchlicher Ordnung in der Theologie Schleiermachers, München 1970, bes. S. 93 – 194; Ch. Dinkel, Kirche gestalten – Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York 1996; E. Herms, Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment (2001), in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, S. 320 – 399 sowie M. Fedler-Raupp, Der Gemeindepfarrdienst als Zentrum kirchenleitenden Handelns. Grundlagen des Kirchendienstes bei Schleiermacher, Frankfurt am Main 2008.
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d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“.24 Dabei setzt Schleiermacher voraus, dass die Theologie „nicht Allen [eignet], welche und sofern sie zu einer bestimmten Kirche gehören, sondern nur dann und sofern sie an der Kirchenleitung Theil haben; so dass der Gegensaz zwischen solchen [sc. die an der Kirchenleitung teilhaben] und der Masse und das Hervortreten der Theologie sich gegenseitig bedingen.“25 Dieses Zitat enthält implizit, nämlich in der Rede vom Gegensatz zwischen denen, die an der theologisch verantworteten Kirchenleitung teilhaben und der Masse, das Modell von Theologie und Kirchenleitung, wie es Schleiermacher vorschwebt und wie es für die Frage nach der Kompetenz zur (rechten) Schriftauslegung weiterführend sein kann. Allerdings stehen dabei zwei sprachliche Hindernisse im Weg: die Begriffe „Gegensatz“ und „Masse“. Letzterer wirkt – auf Menschen angewandt – abschätzig bzw. abwertend. Und dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, dass Schleiermacher an späterer Stelle diesen Gegensatz als den zwischen „Hervorragenden“ und der „Masse“ beschreibt.26 Eine (elitäre) Abwertung ist bei Schleiermacher jedoch nicht intendiert. Er könnte ebenso gut von der Mehrzahl oder den Vielen sprechen, die in ihrem alltäglichen Leben überwiegend nicht dem Erwerb theologischer Kompetenz zum Zweck der Kirchenleitung beschäftigt sind, sondern mit anderen (ebenfalls wichtigen) Dingen oder Aufgaben, und die sich darum weniger mit theologischen Fragen beschäftigen (können). Dass Schleiermacher dieses Verhältnis als Gegensatz beschreibt, kann ebenfalls irritierend wirken, weil es so klingt, als solle damit ein Antagonismus oder Konflikt beschrieben werden. Schleiermachers Begriff von „Gegensatz“ orientiert sich jedoch am Modell einer Polarität, an einem Gegenüber, das immer auch den Charakter von Ergänzung und Kommunikation hat. Was er hier „Gegensatz“ nennt, bezeichnet er sonst häufig als „relativen Gegensatz“. Was hat nun dieser relative Gegensatz bzw. diese Polarität zwischen den theologisch Weiterentwickelten und den theologisch weniger 24 KD S. 142 (§ 5). 25 KD S. 141 (§ 3). Um den engen Zusammenhang von Theologie und Kirchenleitung zum Ausdruck zu bringen, spreche ich künftig in der Regel von „theologisch verantworteter Kirchenleitung“. 26 KD S. 235 (§§ 267 und 268). An anderen Stellen (z. B. PTh S. 49 f.) spricht er (glücklicher) von überwiegend Mitteilenden und überwiegend Empfänglichen.
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Entwickelten mit Theologie im Allgemeinen und mit Schriftauslegung im Besonderen zu tun? Schleiermachers These lautet: Dieser in einer größeren Religionsgemeinschaft immer vorhandene relative Gegensatz erfordert eine „bestimmte Gestaltung … zum Behufe [d. h. zum Zwecke] der Ausgleichung und Förderung“. Und diese bestimmte Gestaltung nennt er bzw. beschreibt er als „Methode des Umlaufs“.27 In dichter Formulierung sind in diesem Paragraphen fast alle Elemente von Schleiermachers diesbezüglichem Modell enthalten. Es fehlt jedoch noch die Zielangabe, um verstehen zu können, was für ihn „Förderung“ heißt. Diese Zielangabe findet sich in der „Kurzen Darstellung“ gleich an drei Stellen fast gleichlautend formuliert. Die Grundform dieser Zielangabe lautet: „der letzte Zweck“ der christlichen Theologie besteht darin, „das eigentümliche Wesen desselben [sc. des christlichen Lebens] in jedem künftigen Augenblick reiner darzustellen“.28 Das Ziel aller Theologie und darum auch aller theologisch verantworteten Kirchenleitung ist demnach reinere Darstellung, wobei Schleiermacher das, was reiner dargestellt werden soll im erstgenannten Text als „das christliche Leben“, in den beiden anderen Fällen als „das Christenthum“ bzw. als „die Idee des Christenthums“ bezeichnet, ohne dass damit ein inhaltlicher Unterschied verbunden oder gemeint wäre. Ich werde das damit Gemeinte – auf der Basis wesentlicher Einsichten der Theologie des 20. Jahrhunderts – künftig als „christlichen Glauben“ bezeichnen, ohne damit einen sachlichen Widerspruch zu Schleiermacher zu intendieren. Nun könnte die Rede vom reineren Darstellen des christlichen Glaubens als letztes Ziel von theologisch verantworteter Kirchenleitung sehr theoretisch und abstrakt, sozusagen kopflastig klingen. Wiederum muss man sagen: Das ist von Schleiermacher nicht intendiert. Vielmehr geht es ihm um eine umfassende, unreduzierte Erfassung und ein anschauliches, konkretes Zum-Ausdruck-Bringen; denn Darstellung ist für ihn das (einzige) Mittel für religiöse Mitteilung29 und damit für das, 27 KD S. 235 (§268). In seiner PTh (S. 49) verwendet Schleiermacher dafür den Ausdruck: „Circulation der Mittheilung“. Aber auch dort verwendet er daneben bzw. dafür den Begriff „Umlauf“ (PTh S. 50). 28 KD S. 172 (§ 84). Die beiden Parallelformulierungen finden sich auf S. 233 (§ 263) und 250 (§ 313). Der in allen drei Formulierungen auftauchende identische semantische Kern besteht aus den Worten „reiner darstellen“ bzw. „reiner zur Darstellung bringen“. 29 Siehe dazu Ch. Braungart, Mitteilung durch Darstellung. Schleiermachers Verständnis der Heilsvermittlung, Marburg 1998.
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was man als christliche Sendung oder missionarischen Auftrag der Kirche bezeichnen kann. Dazu passt es, dass Schleiermacher beim dritten Vorkommen der Zielangabe der Formulierung „immer reiner zur Darstellung zu bringen“ die Worte folgen lässt: „und immer mehr Kräfte für sie zu gewinnen“.30 In dem komparativen Adjektiv „reiner“31 ist ein kritisches Element enthalten, das für Schleiermachers Verständnis von Kirchenleitung und Theologie ebenso grundlegend ist wie die Verwendung der Verben „fruchtbar machen“,32 „erbauen“,33 oder „aufregen“.34 Während die zuletzt genannten Worte für das vorwärtsdrängende, erweiternde Element theologisch verantworteter Kirchenleitung stehen, erinnern Worte wie „unwirksam machen“35, „regieren“36, „beschränken“37 oder „warnen“38 an das kritisch-reinigende Element von theologisch verantworteter Kirchenleitung. Beides gehört für Schleiermacher untrennbar zusammen, bedingt und fordert sich sogar gegenseitig. So lässt sich der theologisch verantwortete kirchenleitende Prozess als ein Oszillieren39 zwischen Voranschreiten und Korrektur, Erkundung und Ordnung beschreiben, der in dieser Welt unabschließbar ist, aber eine eindeutige Zielrichtung hat. An diesem Prozess nehmen nun die Masse und die Hervorragenden im Sinne Schleiermachers beide teil. Und jede der beiden Seiten, die letztlich sogar als in einem Menschen vorhanden und miteinander kommunizierend gedacht werden können, hat eine besondere Funktion. Damit kommen wir auf die bereits oben40 genannte „Methode des 30 KD S. 250 (§ 313). 31 Das wohl nicht zufällig an Jesu Bildwort vom Weinstock und den Reben in Joh 15,1 – 6, bes. V. 2 f. erinnert. 32 KD S. 232 (§ 259). 33 KD S. 239 (§§ 279 und 280). 34 KD S. 250 (§ 313). Wir würden dafür wohl eher das Wort „anregen“ verwenden. 35 KD S. 232 (§ 259). 36 KD S. 239 (§ 279). 37 KD S. 250 (§ 313). 38 Ebd. 39 Zur Bedeutung dieses Begriffs und dieser von Schleiermacher aus der Naturphilosophie seiner Zeit übernommenen Vorstellung für sein wissenschaftliches Denken siehe J. Dittmer, Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive, Berlin/New York 2001, bes. S. 275 – 277 (sowie die dortigen weiteren Stellenangaben im Register). 40 S. o. Anm. 27.
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Umlaufs“ zurück. Schleiermacher sagt von ihr, es sei eine Methode, „vermöge deren die religiöse Kraft der Hervorragenden die Masse anregt, und wiederum die Masse jene auffordert“. Und er fügt folgende Erläuterung an: „Daß auf diese Weise eine Ausgleichung erfolgt, und die Masse den Hervorragenden näher tritt, ist natürlich; Förderung aber ist nur zu erreichen, wenn man die religiöse Kraft überhaupt und namentlich unter den Hervorragenden in der Gemeinschaft als zunehmend voraussezt“.41 Was sind die Pointen dieses nicht ganz leicht zu verstehenden Textstückes? 1) Der Prozess in Richtung auf eine immer reinere Darstellung des christlichen Glaubens wird sowohl dadurch stimuliert (in Gang gebracht und in Gang gehalten), dass die Hervorragenden die Masse durch das anregen, was sich ihnen als Neues erschlossen hat, als auch dadurch, das die Masse die Hervorragenden auffordert, ihr (sc. der Masse) aus ihrem (sc. der Hervorragenden) Wissen und ihren Einsichten Antworten und Anregungen zu geben.42 Beides schließt sich naturgemäß nicht aus, sondern geht in gelingenden Prozessen von kirchenleitendem Handeln in eine spiralförmige, vorantreibende Bewegung über. 2) Dieser Prozess, in dem die Masse Anteil bekommt an dem, was sich den Hervorragenden (bereits) erschlossen hat, tendiert in Richtung einer Annäherung, ja Ausgleichung, wie Schleiermacher bewusst und ohne alles Bedauern sagt. In seiner Praktischen Theologie formuliert er es noch stärker: „Die Gestaltung der Ungleichheit … hat also keinen anderen Zwekk als diese Ungleichheit aufzuheben und durch die Circulation der Mittheilung einen gleichen Besiz hervorzubringen“.43 Es ist für Schleiermacher ein wünschenswertes Ergebnis von theologisch 41 KD S. 235 (§ 268). Die Tatsache, das Schleiermacher hier zweimal die Formel „religiöse Kraft“ gebraucht, könnte den Eindruck erwecken, es gehe hier nur um das, was er an anderen Stellen als „religiöses Interesse“ (KD S. 143 f [§§ 9 und 12]) bezeichnet und vom „wissenschaftlichen Geist“ unterscheidet und als sei die Methode des Umlaufs deshalb für das Phänomen bzw. für die Aufgabe der (rechten) Schriftauslegung nicht einschlägig. Aber das wäre ein Irrtum; denn für Schleiermacher ist Kirchenleitung nur mçglich, wenn kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist in der betreffenden Person vereint sind (KD S. 144 [§ 12]). Deshalb kann auch die religiöse Kraft, die hier als Spezifikum von Kirchenleitung genannt wird, nur eine sein, in der beide Elemente miteinander verbunden sind. 42 In seiner Praktischen Theologie beschreibt Schleiermacher dieses Aufordern als „Manifestation der Bedürfnisse“ (PTh S. 50). 43 PTh S. 49.
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Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung?
verantworteter Kirchenleitung, dass die Differenz zwischen den Hervorragenden und der Masse vermindert wird und die Masse mehr und mehr an dem partizipiert, was die Hervorragenden zu geben haben.44 3) Denkt man das eben Gesagte zu Ende, so scheint sich die Kirche durch das theologisch verantwortete kirchenleitende Handeln auf eine Situation der Differenzlosigkeit und damit des Stillstandes zuzubewegen, die der Zielangabe der immer reineren Darstellung des christlichen Glaubens widerspräche und theologisch verantwortetes kirchenleitendes Handeln zum Stagnieren bringen würde. Dass diese weder wünschenswerte noch empirisch beobachtbare Entwicklung nicht eintritt, erklärt Schleiermacher einerseits aus „dem Wechsel der Generationen“,45 andererseits daraus, dass „man die religiöse Kraft überhaupt und namentlich unter den Hervorragenden in der Gemeinschaft als zunehmend voraussezt“46. Es muss also – auch abgesehen vom Generationenwechsel, der immer wieder neu einen anregenden Bildungshunger erzeugt – eine religiöse Kraftquelle geben, die ihrerseits neue Einsichten generiert oder provoziert und damit das Vorwärtsschreiten in Richtung auf eine reinere Darstellung des christlichen Glaubens befördert. Dafür kommt auch im Sinne Schleiermachers (um wieviel mehr im Sinne Luthers) die Heilige Schrift als höchstrangige Kandidatin in Betracht. Ihre fortgesetzte Lektüre im Interesse einer reineren Darstellung und Verkündigung des christlichen Glaubens ist eine solche den Umlauf immer wieder neu anregende und in Gang haltende Kraft, durch die es zu einem genaueren Verstehen der Schrift und zugleich damit zu einem besseren Verstehen des eigenen Lebens im Licht der Schrift, genauer: im Lichte des von der Schrift bezeugten Evangeliums von Jesus Christus kommen kann. Von da aus ist es nur ein kleiner, aber wichtiger Schritt zu der Einsicht, dass die Aufgabe der rechten Schriftauslegung erst dann zu ihrem Ziel gekommen ist, wenn nicht mehr nur wir die Schrift auslegen, sondern wenn die Schrift uns auslegt, wenn sie uns also die heilsame, 44 Hierin wird ein grundsätzliches Kriterium für den Umgang mit Macht (z. B. in Form von theologischem Wissen) in der christlichen Kirche erkennbar, das m. E. Anerkennung und Anwendung verdient. Das Vorhandensein von (unterschiedlicher) Macht in der Kirche sollte nicht geleugnet oder verdrängt werden, aber sie ist so einzusetzen, dass davon andere profitieren und stärker werden können und so zugleich Machtunterschiede konstruktiv abgebaut werden. 45 So PTh S. 50. 46 KD S. 235 (§ 268).
Schleiermachers Beitrag
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rettende Wahrheit Gottes über unser Leben und für unser Leben zu erkennen gibt. Das ist dann eine Aufgabe, die nicht mehr wir zu vollziehen haben, sondern die wir nur noch an uns geschehen lassen können.47 Auch insofern trifft dann – sprachlich leicht aber entscheidend modifiziert und ihres symmetrischen Charakters entblößt – die eingangs zitierte Einsicht zu: „Wir legen uns gegenseitig aus“.
47 Dies beeindruckend genau und schön ausgedrückt zu haben, ist das Verdienst, besser: das Werk des großen reformierten Mystikers und Liederdichters Gerhard Tersteegen: „Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so, still und froh, deine Strahlen fassen und dich wirken lassen“ (EG 165,6). „(L)ass mich … dich wirken lassen“ – ich weiß nicht, ob der in Rede stehende Sachverhalt jemals genauer ausgedrückt wurde, ja, ob er überhaupt genauer ausgedrückt werden kann.
Rechtfertigung heute Wenn der Apostel Paulus sich im Römerbrief anschickt, sein Verständnis von Rechtfertigung des Menschen vor Gott zusammenzufassen, dann tut er das mit der Aussage, „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Für Martin Luther, der im Ringen mit dem Römerbrief die befreiende und zurechtbringende Kraft des Evangeliums von Jesus Christus entdeckt und erfahren hatte,1 wurde dieser Satz aus Röm 3,28 zum komprimierten Ausdruck seines Glaubens, seiner Verkündigung und seiner Theologie. Als es im Jahr 1535 – nach einer zehnjährigen Pause – in Wittenberg endlich wieder möglich wurde, theologische Doktorpromotionen durchzuführen, wählte Luther diesen einen Satz aus dem Römerbrief, um ihn innerhalb von drei Jahren im Rahmen fünf Promotionen in insgesamt 271 Thesen zu entfalten.2 Das ist nicht nur als eine theologische Liebeserklärung für diesen Bibeltext zu werten, sondern es ist zugleich ein unübersehbarer Hinweis darauf, wie viel es zum rechten Verständnis dieser Rechtfertigungslehre zu bedenken, zu unterscheiden, zu wissen und zu sagen gibt. Wenn es in meinem Text um das Thema „Rechtfertigung heute“ geht, dann kommen aber zu den schon damals bestehenden, von Luther gesehenen und angesprochenen Fragen noch diejenigen hinzu, die sich zusätzlich unter gegenwärtigen Bedingungen stellen. Es geht also um die Frage: Wie kann Rechtfertigung – als das Zentrum der reformatorischen, genauer: der lutherischen Frömmigkeit, Verkündigung und Theologie – heute verstanden, verkündigt und glaubt werden, und zwar so, dass darin das Wesentliche, ja letztlich das Ganze des christlichen Glaubens verstehbar, erfahrbar und erlebbar wird? Eine allgemeine Antwort vorab: Das ist jedenfalls nur so möglich, dass man die Vielzahl 1 2
Vgl. dazu W. Härle, Luthers reformatorische Entdeckung – damals und heute, in: ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 1 – 19. Siehe dazu W. Härle, Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre Luthers in den Disputationen von 1535 bis 1537, in: LuJ 71/2004, S. 211 – 228.
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der Verstehenshindernisse und Einwände, die an dieser Stelle bestehen, möglichst umfassend in den Blick nimmt und möglichst sorgfältig und ehrlich zu beantworten und so womöglich aus dem Weg zu räumen versucht. Das ist eine große Aufgabe, die im Rahmen eines solchen Textes natürlich nur skizzenhaft in Angriff genommen werden kann, aber das soll wenigstens versucht werden.
1. Verstehenshindernisse und Einwände Fragen wir zunächst nach den Verstehenshindernissen und Einwänden, die gegenüber der lutherischen Rechtfertigungsbotschaft und -lehre bestehen, so lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, die zwar untereinander auch zusammenhängen aber doch deutlich unterschiedliche Schwerpunkte haben: Da sind einerseits sprachliche Verstehenshindernisse zu nennen, andererseits sachliche Einwände, und ich nenne deren je drei3.
3
Zu den drei sachlichen Einwänden, die ich hier nennen und besprechen will, gehört eigentlich mindestens noch ein vierter, sehr grundlegender und umfassender Einwand hinzu, der insbesondere von Teilen der skandinavischen (K. Stendahl, H. Räisänen), amerikanischen (E. P. Sanders) und englischen ( J. D. G. Dunn) Bibelausleger unter dem Titel ,New Perspective‘ erhoben wurde. Dieser Einwand besagt, Luther habe die Aussagen des Apostels Paulus über die Rechtfertigung grundsätzlich missverstanden, und deswegen habe die lutherische Rechtfertigungslehre mit der paulinischen nur wenig oder gar nichts zu tun. Wenn dieser Einwand berechtigt wäre, käme ihm großes Gewicht zu; denn Luther wollte ja gar nichts anderes als die biblische Rechtfertigungsbotschaft, wie er sie vor allem bei Paulus fand, wieder in reiner Form zur Geltung zu bringen. Um den Einwand dagegen angemessen aufzunehmen und zu beantworten, wäre es zumindest erforderlich, die Grundzüge der paulinischen und der lutherischen Rechtfertigungslehre zunächst je für sich darzustellen und dann miteinander zu vergleichen. Das ist im Rahmen eines solchen Textes nicht (auch noch) möglich. Deshalb verzichte ich hier auf die Beschäftigung mit diesem sachlichen Einwand, verweise aber auf den wesentlich ausführlicheren Text, in dem ich diese Auseinandersetzung geführt habe: Paulus und Luther, in diesem Band S. 202 – 239. Ich komme dort zu dem Ergebnis, dass zwischen Paulus und Luther hinsichtlich der Rechtfertigungslehre zwar keine völlige Identität, wohl aber eine fundamentale Übereinstimmung besteht und dass sich die (Fehl-)Diagnose der ,New Perspective‘ vor allem aus deren mangelnden Kenntnis der Rechtfertigungslehre Luthers erklären lässt.
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Rechtfertigung heute
a. Sprachliche Verstehenshindernisse Was zunächst die sprachlichen Verstehenshindernisse anbelangt, so ist das Wort „Rechtfertigung“ selbst schon ein erster Stolperstein – nicht etwa deswegen, weil es in unserer Alltags- und Umgangssprache nur selten vorkommt (solche selten gebrauchten Wörter können ja durchaus Aufmerksamkeit und angemessenes Verständnis wecken), sondern weil dort, wo in unserer Umgangs- oder Wissenschaftssprache vom „(Sich-)Rechtfertigen“ oder von „Rechtfertigung“ die Rede ist, etwas ganz anderes, geradezu das Gegenteil dessen gemeint ist, was Paulus und Luther mit diesem Wort meinen. Während bei Paulus und Luther alles darauf ankommt, dass ein anderer, nämlich Gott um Jesu Christi willen den sündigen Menschen rechtfertigt, kennen und gebrauchen wir das Wort fast nur im Sinne von „Sich-rechtfertigen“, und das heißt dann nichts anderes als: begründen und aufweisen, dass und inwiefern man in einer bestimmten Situation (sei es mit einer Aussage oder mit einer Handlung) recht hatte oder im Recht war. Sich rechtfertigen heißt in unserer Sprache: „Zeigen, dass man im Recht ist“ und sei es auch nur deshalb, weil die Umstände so waren, dass man nicht anders, nicht besser handeln konnte. Schon die Vorstellung, dass ein Mensch einen anderen rechtfertigt, ist uns fremd, wir würden dann wohl eher sagen, dass wir ihn verteidigen, aber vielmehr noch ist uns der Gedanke fremd, dass ein Mensch gerechtfertigt wird, der gar nicht im Recht ist, sondern sich vergangen hat, sich im Irrtum befindet, sich schuldig gemacht oder versagt hat. Das meine ich, wenn ich sage, das Wort „Rechtfertigung“ sei selbst ein Stolperstein für das Verstehen. Nicht besser steht es mit dem zweiten Wort, das in diesem Zusammenhang eine grundlegende Rolle spielt: „Gerechtigkeit“ bzw. „gerecht“. An dem Satz aus Röm 1,17, dass im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart werde, hat Luther in seiner Klosterzeit fast den Verstand verloren. Die Verfassung, in die er durch diesen Satz aus Röm 1,17 geraten war, hat Luther rückblickend in einem Lied so beschrieben: „Die Angst, mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen musst ich sinken“ (EG 341,3). Warum trieb ihn dieser Satz in die Verzweiflung? Darum, weil Luther unter Gerechtigkeit, wie er es bei Aristoteles an allen seinen Lehrern gelernt hatte, die Eigenschaft verstand, die jedem das zuteil werden lässt, was er verdient. Als einen solchen gerechten Gott kannte Luther Gott, wie er sich im Gesetz offenbart. Aber wenn das auch die Gerechtigkeit Gottes sein sollte, die im Evangelium offenbar wird, worauf sollte der Mensch
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dann eigentlich noch hoffen? Wenn auch Christus nichts anderes wäre als der unbestechliche, strenge, eben gerechte Weltenrichter, der jedem zuteil werden ließe, was er verdient – worauf sollte- ein Mensch dann seine Hoffung (im Leben und im Sterben) richten? So verstand Luther über Jahre hin die paulinische Aussage, von der im Evangelium offenbarten Gerechtigkeit Gottes – bis sich ihm „dank Gottes Erbarmen“, wie er schreibt,4 ein neues, schriftgemäßes, befreiendes Verständnis dieses Begriffs erschloss. Und was verstehen wir heute unter „Gerechtigkeit“? Ich vermute: nichts anderes als das, was Luther darunter verstand, bevor ihm das neue, nämlich das biblische Verständnis von Gerechtigkeit bewusst wurde. Beim Begriff „Gerechtigkeit“ haben wir also nicht nur mit neuen, zusätzlichen Verstehensschwierigkeiten zu tun, sondern auch schon mit den alten, vorreformatorischen, von denen wir immer wieder eingeholt werden. Und schließlich gibt es noch ein drittes sprachliches Verstehenshindernis: das Wort „Glaube“. Wenn Paulus sagt, dass der Mensch gerecht werden ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben, dann klingt das für viele Menschen so, als würde damit gesagt: Nach reformatorischer Lehre komme es nicht darauf an, den Willen Gottes zu erfüllen und das von Gott Gebotene zu tun, sondern es komme nur darauf an, das Richtige zu glauben, also es für wahr zu halten und ihm zuzustimmen, selbst wenn man möglicherweise davon gar nicht wirklich überzeugt ist – also zuzustimmen wider besseres Wissen und Gewissen. Was für eine Karikatur von Glauben?! Aber wie weit verbreitet ist diese Karikatur auch heute noch in den Köpfen und Herzen vieler Menschen außerhalb und innerhalb der Kirche?! Und deswegen ist wohl auch das Wort „Glaube“ eher ein Hindernis als eine geöffnete Tür zum Verstehen dessen, was im reformatorischen Sinn „Rechtfertigung“ heißt und „Rechtfertigung heute“ besagen und bedeuten kann.
b. Sachliche Einwände Blicken wir nun auf die sachlichen Einwände, so ist die Lage nicht einfacher, sondern eher noch schwieriger. Da gibt es zunächst den Ein4
Mit diesen Worten beschreibt Luther, wie sich ihm nach tage- und nächtelangem Studium des Bibeltextes die neue, befreiende Erkenntnis erschloss (WA 54, 186,3/LDStA 2, 507,1 f./M. Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 1, S. 23).
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wand, die Rechtfertigungslehre sei so untrennbar mit einem Gottesbild und -verständnis verbunden, das Gott als zornigen Richter darstellt, dass von daher das Gottesbild zutiefst verdunkelt werde und das Evangelium eigentlich nicht weiter reiche als bestenfalls zu einer nachträglichen Abminderung und Aufhellung dieses Bildes, weil dieser Richter seinen Zorn dann doch nicht an den schuldig gewordenen Menschen, sondern an seinem unschuldigen Sohn entlade. Aber wird denn dadurch das Bild von Gott freundlicher, wird es evangeliumsgemäßer? Ja, viele Menschen fragen: Ist es nicht noch viel schlimmer, wenn wir es mit einem Gott zu tun haben, der seinen Sohn opfert, weil er nur durch das Blut eines Unschuldigen versöhnt werden kann oder sich versöhnen lassen will? Der erste sachliche Einwand gegen die Rechtfertigungslehre richtet sich also gegen deren Bild von Gott, gegen ihr Gottesverstndnis. Der zweite sachliche Einwand geht vom entgegengesetzten Punkt aus: von dem, was in der Rechtfertigungsbotschaft und -lehre über die Situation und über den Zustand des Menschen vor Gott gedacht und gesagt wird. Luther konnte gelegentlich den Inhalt der biblisch-reformatorischen Theologie in der knappen Formel zusammenfassen, es gehe in ihr um nichts anderes als um den angeklagten und verlorenen Menschen und um den rechtfertigenden Gott und Retter.5 Aber dass der Mensch verloren sei, sich nicht selbst helfen könne und der Rettung bedürfe, das ist eine Botschaft, die insbesondere für den neuzeitlichen Menschen schwer zu hören und zu ertragen ist. Wenn Paulus sagt, Juden und Heiden seien „allesamt Sünder und ermangeln den Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten“ (Röm 3,23), dann sagt Luther dazu: Das ist „das Hauptstück und der Mittelplatz dieser Epistel und der ganzen (Heiligen) Schrift“6. Viele Zeitgenossen – und wiederum nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der christlichen Kirchen – würden im Blick darauf eher von einer Herabsetzung des Menschen, von einem negativen Menschenbild sprechen und die Vermutung äußern, hier zeige sich, dass Humanismus und Aufklärung noch nicht wirklich in der christlichen Verkündigung angekommen seien. „Allesamt Sünder“ – und darum der Rechtfertigung bedürftig? Das empfinden viele Menschen als eine Kränkung und Demütigung, die sie nicht nötig haben. Und auch das ist ein sachlicher Einwand, dem die Rechtfertigungsbotschaft und -lehre heute begegnet, und er betrifft ihr Menschenbild. 5 6
WA 40/2, 328,1 f.: „subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator“. WA DB 7, 23 b (Randglosse zu Röm 3,23).
Antwortversuche
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Der dritte und letzte sachliche Einwand, den ich hier nennen will, begegnet häufig – nicht selten sogar von Kanzeln herab. Er lautet: „Rechtfertigung, Vergebung, gnädiger Gott – danach fragt heute kein Mensch mehr“. Stattdessen würde – wie es dann oft heißt – heute viel radikaler gefragt, wie Gott das Übel in der Welt zulassen könne, ob Gott überhaupt existiere oder wie man statt eines gnädigen Gottes wenigstens einen gnädigen Nächsten finden könne. Das Thema „Rechtfertigung“ erscheint vielen Menschen als überholt, abgetan, altmodisch. Und wer das ironisch ausdrücken will, sagt dann gerne: Die Rechtfertigungsbotschaft sei eine typische kirchliche Lehre, die Antworten gebe auf Fragen, die niemand stellt. Stimmt das? Wenn das zutreffen sollte, dann kann die evangelische Kirche, zumal die lutherische Kirche darüber jedenfalls nicht einfach hinweggehen, sondern dann muss sie zumindest darüber nachdenken, ob und wodurch die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott sich erledigt hat, oder ob diese Frage zwar nach wie vor lebenswichtig ist, den Menschen in der Neuzeit aber abhanden gekommen ist, oder ob die Frage nach der Rechtfertigung – möglicherweise in einem anderen sprachlichen Gewand – durchaus präsent ist und auf eine überzeugende, tragfähige Antwort wartet. Drei sprachliche Verständnisschwierigkeiten: „Rechtfertigung“, „Gerechtigkeit“ und „Glaube“, und drei sachliche Einwände: Gottesbild, Menschenbild und fehlende Gegenwartsbedeutung. Was sollen wir nun hierzu sagen? Lassen sich diese Probleme lösen?
2. Antwortversuche Bei dem Versuch, diese Verständnisschwierigkeiten und Einwände aufzunehmen und soweit wie möglich zu beantworten, möchte ich in der umgekehrten Reihenfolge vorgehen, also mit den sachlichen Einwänden beginnen, denn nur in Verbindung mit inhaltlich überzeugenden Antworten können wir auch passende, verständliche sprachliche Ausdrucksformen finden. Aber um zu sachlich begründeten Antworten zu kommen, ist es zunächst nötig, sich in wenigstens elementarer Weise darüber zu verständigen, was denn im Sinne des Apostels Paulus und des Reformators Martin Luther mit „Rechtfertigung“ überhaupt gemeint ist.
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a. Der biblisch-reformatorische Ausgangspunkt Ich wähle als unverdächtigen Ausgangspunkt jenen eingangs zitierten kurzen Satz aus Röm 3, 28, der für Paulus wie für Luther die Summe der Rechtfertigungslehre ist: „So halten wir nun dafür (wir würden wohl sagen: So sind wir nun davon überzeugt), dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“. Dieser Satz setzt voraus, dass der Mensch in einer bestimmten Situation existiert: in der „Grundsituation als Gegenübersein“, wie Gerhard Ebeling das genannt hat.7 Was ist damit gemeint? Der Mensch wird hier nicht als isoliertes, vereinzeltes Wesen, als Individuum mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten in den Blick genommen, sondern als das konkrete Beziehungswesen, das wir vom Beginn bis zum Ende unseres Lebens tatsächlich sind: als Kind unserer Eltern, als Teil einer Familie, als Angehörige eines Volkes und – in alledem – als Geschöpf Gottes. Und die Erfahrungen, die wir in diesen Beziehungen machen, entscheiden über etwas, was für das Menschsein ganz grundlegend ist: über die Erfahrung, angenommen oder abgelehnt zu werden. Es gibt offenbar ein grundlegendes, unausrottbares Bedürfnis jedes Menschen nach Akzeptanz, nach Annahme und Bejahung, das nicht weniger wichtig ist als das Bedürfnis nach Nahrung, Schutz und Pflege. Ja, man kann wohl sagen, dass Nahrung, Schutz, Pflege, und all das andere, was wir zur Erhaltung unseres Lebens brauchen, insbesondere deshalb für die menschliche Entwicklung wichtig sind, weil sie immer auch Ausdruck der lebensnotwendigen Akzeptanz sind, ohne die Menschen seelisch krank werden, verkümmern oder zugrunde gehen. Solche Annahme wird uns – wenn es gut geht – primär von anderen Menschen zuteil, von den Eltern zuerst, und darum ist es so wichtig, dass Kinder von ihren Eltern und mit ihnen solche Erfahrungen der Anerkennung und des Angenommenseins machen. Sie wird uns, wenn es gut geht, auch zuteil von Ehepartnern und Kindern, von Freunden, Nachbarn und Kollegen und von anderen Menschen. Aber das, was uns von unseren Mitmenschen her an Anerkennung zuteil wird, muss Teil unseres Selbstbewusstseins und unseres Selbstwertgefühls werden. Wir müssen lernen, uns selbst zu akzeptieren, obwohl wir (vielleicht noch besser als andere) wissen, dass es manches an uns gibt, das nicht in 7
G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. III, Tübingen 1979, S. 210 ff.
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Ordnung ist, nicht annehmbar, sondern störend oder sogar inakzeptabel. Deshalb taucht unweigerlich die Frage auf: Wer entscheidet eigentlich letztgültig darüber, ob ich annehmbar, akzeptabel bin – meine Mitmenschen, ich selbst? 8 Oder gibt es eine Instanz, von deren Annahme oder Ablehnung letztlich abhängt, was für einen Wert ich habe, ob ich akzeptabel bin und mich darum auch selbst annehmen kann? Für einen Menschen, der an Gott glaubt, ist das keine echte, sondern eine rhetorische Frage. Wer könnte darüber auch anders entscheiden als der Gott, der uns geschaffen und uns die Bestimmung unseres Lebens gegeben hat? Und darum ist aus der Sicht des Gottesglaubens, also auch aus christlicher Sicht, die Grundsituation des Menschen sein Gegenübersein zu Gott und die Erfahrung, die ihm darin und dabei zugesprochen und zuteil wird. Und darum ist es für das menschliche Leben ausschlaggebend, welcher Maßstab in dieser Gottesbeziehung gilt, worauf es in ihr ankommt. In anderen Worten gesagt. Woran es sich entscheidet, ob ein Mensch für Gott annehmbar ist, von Gott akzeptiert wird, ob er Gott recht ist, ob er vor Gott gerechtfertigt ist. Und hier greift nun der Satz aus Röm 3,28 ein, und zwar mit einer Negation und einer Position. Die Negation besagt: „nicht durch die Werke des Gesetzes“. Die Position sagt: „allein durch den Glauben“. Das ist schon deshalb eine zumindest überraschende, wenn nicht sogar revolutionäre Aussage, weil es sich bei dem, was verneint wird, ja ausdrücklich um die Werke handelt, die durch Gottes Gesetz geboten sind – sei es durch die Zehn Gebote, durch die Bergpredigt oder durch welche andere Zusammenstellung von Geboten auch immer. Es ist ja ganz naheliegend, dagegen einzuwenden: „Wozu sind uns denn von Gott Gebote gegeben, wenn nicht dazu, dass wir auf Grund ihrer Erfüllung für Gott annehmbar und akzeptabel, von ihm bejaht und gerecht gesprochen werden?“ Luthers Antwort auf diese Frage lautet: „Das Gesetz ist uns einerseits in seinem äußerlichen Sinn als Regel für eine 8
Paulus geht diese verschiedenen Instanzen in 1 Kor 4,3 f. anhand der Frage durch, ob er ein treuer Haushalter Christi sei, und setzt sie ausdrücklich in Beziehung zur Rechtfertigungsthematik: „Mir … ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet“. Hier wird schon andeutungsweise erkennbar, welche Freiheit und Unabhängigkeit von irdischen Instanzen mit dem Glauben an die letztinstanzliche Entscheidung durch den Herrn Christus Jesus gegeben ist.
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gute Ordnung unseres menschlichen Zusammenlebens gegeben, andererseits, wenn wir sie in ihrer Tiefenstruktur als Konkretisierung des Gebotes der Gottesliebe verstehen, als Spiegel, in dem wir erkennen sollen und können, wie es um uns bestellt ist. Aber sie sind uns jedenfalls nicht gegeben als Anleitung, wie wir vor Gott gerecht, wie wir für Gott annehmbar werden“.9 Warum das? Die entscheidende Doppelantwort, die sowohl Luther als auch der Sache nach schon Paulus10 auf diese Frage gibt, lautet: Einerseits gilt: Das Tun der Werke des Gesetzes, also ihre bloß äußerliche Erfüllung im Sinne bürgerlicher Rechtschaffenheit reicht nicht in die Tiefe, in der es sich entscheidet, ob wir den Willen Gottes wirklich erfüllen. Und solange wir sie erfüllen, um dadurch gerechtfertigt zu werden, lieben wir nicht Gott, sondern uns, bleiben also das Gebotene gerade schuldig. Andererseits gilt: Wenn wir vor Gott durch unsere Werke anerkennenswert würden, dann wäre Gott es uns schuldig, uns anzuerkennen und wir hätten Grund, vor Gott und bei Gott Forderungen zu erheben. Das heißt aber: Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wäre dann ver-kehrt. Gott wäre verpflichtet, uns das zu geben, worauf wir ihm gegenüber einen Rechtsanspruch haben. Gott würde zum Schuldner des Menschen. Aber ist das denn nicht ebenso, wenn wir allein durch unseren Glauben vor Gott Anerkennung finden können? Das wäre in der Tat ebenso, wenn der Glaube unser Werk, unsere Leistung wäre. Aber genau das ist er nicht und das kann er nicht sein; denn glauben heißt, von Herzen auf Gott vertrauen. Und dieses Vertrauen bezieht sich konsequenterweise sogar auf das Entstehen und Erhaltenwerden des Glaubens selbst. Nicht wir können uns zu Glaubenden machen, sondern der Glaube kann in uns nur durch die Begegnung mit Gott entstehen, wenn wir das Evangelium als glaubwürdige Botschaft hören und dieses 9 In diesem fiktiven Zitat fasse ich Luthers Lehre von den usus legis, d. h. von den Gebräuchen des Gesetzes zusammen, wie er sie in vielen seiner Texte entfaltet hat. Siehe dazu G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, S. 137 – 156. 10 Einschlägig sind hier einerseits die kritischen Aussagen des Paulus über das menschliche Sich-rühmen vor Gott: Röm 3,27; 4,2; 1 Kor 1,29.31; 4,7; 2 Kor 10,17; ebs. Eph 2,8 f., andererseits das, was er im sog. Hohen Lied der Liebe 1 Kor 13,1 – 3 entfaltet. Dabei wird auch erkennbar, was für ihn, ebenso wie für Luther, der Maßstab für den eigentlichen Willen Gottes ist: die Liebe im Sinne der Agape.
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Evangelium durch Gottes Geist in uns Glauben weckt. In Luthers bekannten Worten aus dem Kleinen Katechismus heißt das: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben …“.11 Der Glaube ist definitiv keine menschliche Leistung, sondern er ist die Offenheit für Gott und das Empfangen von Gottes Wirken an uns zu unserem Heil. Und diese Offenheit und dieses Empfangen wird geweckt und gewirkt durch das, was Gott dem Menschen zuteil werden lässt. Und alleine auf dieses Gottvertrauen kommt es an; denn darin wird Gottes Gottsein vom Menschen anerkannt und das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird wieder zurecht gebracht, vom Kopf auf die Füße gestellt. Wenn das der Kern der paulinisch-lutherischen Rechtfertigungslehre ist, dann besagt sie zugleich, dass wir uns unsere Anerkennung und unser Lebensrecht, unseren Wert und unsere Würde nicht erst verdienen müssen, weil uns dies alles immer schon von Gott gratis mit unserem Dasein gegeben ist.12 Und darauf vertrauen und aus diesem Vertrauen leben zu kçnnen, das ist das Glck des Lebens.
b. Antworten auf die sachlichen Einwände Kommen wir nun von daher zu den eingangs genannten sachlichen Einwänden, so lautete der Einwand, mit dem wir uns als erstem befassen wollen: Die menschliche Frage nach der Rechtfertigung vor Gott habe sich in der Neuzeit erledigt. Sie beschäftige den Menschen der Gegenwart nicht (mehr). Der heutige Mensch frage nicht mehr nach dem gnädigen Gott. An dieser These ist wohl richtig, dass Menschen heutzutage üblicherweise nicht mehr mit diesen Worten nach Gott fragen. Trotzdem möchte ich diesem Einwand die Behauptung entgegensetzen, 11 BSLK 511,46 – 512,8 (in modernisierter Orthographie). Sachlich dasselbe sagt die mustergültig genaue Beschreibung des Zustandekommens von Glauben im 5. Artikel der Confessio Augustana (BSLK 58,1 – 17). 12 Weil die Rede von der Würde des Menschen, die „unverletzlich“ ist, in Art. 1 des Grundgesetzes das zum Ausdruck bringt, darum ist dieser Menschenwürdeartikel eine Konkretisierung des Rechtfertigungsglaubens.
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dass Luthers Leitfrage auch in unserer heutigen Gesellschaft durchaus lebendig und häufig anzutreffen ist. Zwar empfinden sich Menschen heute wahrscheinlich nur ausnahmsweise vor gçttliche Anforderungen gestellt und fürchten, ihnen nicht gerecht zu werden. Dafür sind aber die menschlichen, gesellschaftlichen Anforderungen um so mehr präsent. D. h., das Forum, vor dem Menschen sich verantwortlich fühlen, die Standards, denen sie zu entsprechen versuchen, die Instanzen, von denen sie Anerkennung erhoffen und Ablehnung befürchten, sind irdisch geworden, ohne dass sie damit menschlicher geworden wären. Und das gilt nicht nur für Erwachsene oder für Jugendliche, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen, erkämpfen und behaupten wollen, sondern auch schon – in einem bisher nie gekannten Ausmaß – für Kinder. Wer nicht mithalten kann bei der Kleidung, in der schulischen oder beruflichen Leistung, im Sport, beim Freizeitvergnügen, richtiger: bei der Freizeitertüchtigung (vom Ballett, über das Reiten bis zum Golf), bei der Wahl der Urlaubsziele, der ist „weg vom Fenster“, „den kannst du vergessen“, wie es entlarvend und vernichtend heißt. Entscheidend ist dabei nicht so sehr der Inhalt oder die Höhe der Erwartungen und Leistungsanforderungen, sondern vor allem deren Stellenwert: Hängt von ihrer Erfüllung ab, ob ein Mensch die Anerkennung und Daseinsberechtigung zugesprochen bekommt, ohne die niemand leben kann; oder kann er von dieser Zusage schon ausgehen und geht es „nur noch“ um das, was ihm auf dieser Basis in seinem Leben gelingt oder nicht gelingt? Was für einen großen Unterschied das ausmacht, kann man interessanterweise gerade daran bemerken, dass Menschen, die sich grundsätzlich bejaht und anerkannt wissen, viel eher in der Lage sind, ihre Talente und Kräfte entspannt, lustvoll und effektiv einzusetzen. Leistungsdruck, von dem das Lebensrecht abhängig gemacht wird, beflügelt hingegen nicht zu großen Taten, sondern macht unsicher und verkrampft. Auch deshalb ist es wichtig, wie die Grundfrage beantwortet wird: Muss ein Mensch sich seinen Wert und seine Würde erst erringen und verdienen, oder sind diese ihm mit seinem Dasein immer schon (vom allerersten Anfang bis zum letzten Augenblick) gegeben? In Gestalt dieser Fragen ist Luthers Ringen um den gnädigen Gott in unserer Gesellschaft geradezu allgegenwärtig – nur eben ohne Bezugnahme auf Gott. Aber macht das nicht doch einen grundlegenden Unterschied aus? Entfällt mit dem Gottesbezug nicht die Vergleichbarkeit dieser Fragen damals und heute?
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Nun ist es keineswegs so, als komme die Rede von Gott oder die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft gar nicht mehr vor. Abgesehen von häufigen Redewendungen, unter denen „Gott sei Dank“ wohl die schönste ist, taucht auch die Frage nach Gott immer wieder auf: In Gestalt der sog. Theodizeefrage. Dabei könnte es so scheinen, als sei die Theodizeefrage eine spezifisch neuzeitliche Frage, zu der es bei Luther und in Luthers Frage nach dem gnädigen Gott gar keine Entsprechung gebe. Aber dieser Eindruck täuscht. Vielmehr empört Luther sich angesichts des Gedankens, dass Gott nicht nur im Gesetz, sondern auch im Evangelium dem Menschen als gerechter, strafender Gott begegnet, mit „ungeheurem Murren“13, wie er selbst sagt. Hier zeigt sich, dass das, was die Frage nach dem gnädigen Gott meinte, in der damaligen und heutigen Theodizeefrage sowie in Luthers Ringen um einen gnädigen Gott und um das angemessene Verständnis der Gerechtigkeit Gottes durchaus immer schon mit enthalten ist. Das wird unüberhörbar deutlich, wenn man die Rede vom „gnädigen Gott“ nur ergänzt oder ersetzt durch die Rede von einem „gütigen Gott“ oder von einem „guten Gott“ oder von einem Gott, der „es gut mit uns meint“ oder durch die etwas tastendere Formulierung, „ob es denn das Leben mit uns gut meint“. Insofern besteht hier sogar eine starke Verbindung zwischen der reformatorischen Situation und der unsrigen. Der entscheidende Unterschied zwischen Luther und uns heute liegt jedoch darin, dass die beiden Fragen nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott und die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt, die bei Luther noch eine Einheit bilden, in der Neuzeit ausgetreten sind in zwei voneinander weitgehend unabhängige Fragen: einerseits in die Frage nach der Gewährung von Anerkennung, die sich an irdische, gesellschaftliche Instanzen richtet; andererseits in die Frage nach Gottes Güte und Macht angesichts des Übels und Elendes in der Welt. Aber diese Fragen treten auch unter neuzeitlichen Bedingungen nur vorübergehend auseinander. Sie verbinden sich mit innerer Notwendigkeit alsbald wieder, wenn auch unter einem neuen Vorzeichen, und dabei verändert sich ihr Sinn und ihre Bedeutung. Dass und inwiefern das so ist, hat für mich am überzeugendsten der skeptische Gießener Philosoph Odo Marquard gezeigt, der sich in den zurückliegenden Jahren mehr als alle anderen Philosophen und mehr als die meisten 13 WA 54, 185,24 f./LDStA 2, 505,34/M. Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 1, S. 23.
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Theologen mit dem Thema „Theodizee“ und mit dem Zusammenhang zwischen Theodizee und Rechtfertigung beschäftigt hat.14 Marquard hat darauf hingewiesen, dass mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Atheismus die Theodizeefrage zwar negativ beantwortet wird,15 aber dass sie dadurch keineswegs verschwindet, sondern sich in die Anthropodizeefrage, also in die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen angesichts des Übels und Elends in der Welt verwandelt. Wenn es keinen Gott gibt, dann wird der Mensch zum Alleinverantwortlichen und gnadenlos Angeklagten angesichts des Übels in der Welt. Das heißt aber: Beide Fragen: die nach der rechtfertigenden Anerkennung und die nach der Verantwortung für den Weltzustand richten sich nun nicht mehr an Gott, sondern an den Menschen. Unter dieser zweifachen Überlastung kann der Mensch aber nicht aufrecht stehen und gehen, sondern nur zerbrechen. Den Preis, der dafür zu entrichten ist, hat wohl keiner so authentisch und ehrlich beschrieben – und persönlich bezahlt – wie Friedrich Nietzsche in seiner Verkündigung des Todes Gottes und in seiner Forderung, wir müssten zu Übermenschen werden.16 Was für ein Gewinn für uns alle und für unsere Gesellschaft ist es demgegenüber, wenn wir Gott wiedergewinnen als den, an den sich unsere authentischen Klagen richten und von dem wir das Maß des Menschlichen wiedergewinnen können. Das heißt dann ja „Rechtfertigung 14 Siehe z. B. O. Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (1978), in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 39 – 66; Rechtfertigung, Bemerkungen zum Interesse der Philosophie an der Theologie, in: Gießener Universitätsblätter, Heft 1,1980, S. 78 – 87; Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie (1983), in: ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 11 – 32; Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, in: W. Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht? München 1990, S. 87 – 102. 15 In der ihm eigenen ironischen Sprache nennt Marquard dies „die Radikalisierung der Theodizee durch den Freispruch Gottes wegen der erwiesensten jeder möglichen Unschuld: der Unschuld wegen Nichtexistenz“ (ders., Rechtfertigung, a. a. O., S. 82). Zugleich zeigt Marquard auf, dass und warum dies neuzeitlich zum „Verlust der Gnade“ (a. a. O., S. 83 – 85) führt: Weil es dem Menschen nicht zusteht, Gott zu begnadigen. 16 Vgl. dazu F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, München/Berlin/New York 1980, Nr. 125, S. 480 f. Siehe das große Pendant hierzu bei Jean Paul in seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, in: ders., Der Siebenkäs, 1896/97, Erstes Blumenstück; abgedruckt in G. Bornkamm, Studien zur Antike und Urchristentum, München 19632, S. 245 – 252.
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heute“ auf eine nicht nur entlastende, sondern befreiende und zurechtbringende Weise verkündigen, glauben und erleben zu können. Wir sind damit unversehens beim zweiten Einwand gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre angekommen: bei dem Einwand gegen das in ihr vorausgesetzte (negative) Menschenbild. Dessen Sinn und Pointe wäre jedoch gründlich missverstanden, wenn man darin das Bild eines moralisch verkommenen, minderwertigen menschlichen Subjekts gezeichnet finden würde. Dass es auch das gibt, dass Menschen also tief sinken können, bestreiten die Reformatoren nicht. Aber nicht der verkommene, sondern gerade der moralisch hochstehende Mensch, der sich selbst nichts vorzuwerfen hat, ist nach reformatorischer Einsicht in der Gefahr, zu verkennen, dass er der Rechtfertigung durch Gott bedürftig (und teilhaftig) ist. Wieso das? Deshalb, weil ihm der Blick für das verloren gehen könnte, was Paulus im 1. Korintherbrief (4,7) mit zwei rhetorischen Fragen auf den Punkt bringt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ Damit wird weder von Paulus noch von Luther in Frage gestellt, dass Menschen mit dem, was ihnen an Leichtem oder Schwerem, an Gaben oder Belastungen, an Glück oder Unglück zuteil geworden ist und immer neu zuteil wird, höchst unterschiedlich umgehen können und dafür auch Verantwortung tragen. Was damit aber bestritten wird, ist eine Haltung, wie sie in folgenden Sätzen oft zu hörenden Sätzen zum Ausdruck kommt: „Ich habe mir im Leben alles selbst verdienen müssen“. „Mir ist in meinem Leben nichts geschenkt worden“. Das stimmt ja einfach nicht, wie uns schon der Blick auf den Lebensanfang jedes Menschen zeigt, und wie es sichtbar wird, wenn wir danach fragen, woher wir denn die Kraft, Gesundheit, Intelligenz haben, mit der wir es im Leben so weit gebracht haben. Dass wir angewiesen sind auf das, was uns von Gott her zuteil geworden ist und gegeben wird, ehe wir daraus und damit etwas anfangen können (und dann auch anfangen sollen), das ist nicht Ausdruck eines negativen Menschenbildes, sondern wohltuender Realismus. Ja, wenn wir Søren Kierkegaard, dem großen dänischen Philosophen, Theologen und religiösen Schriftsteller folgen, ist es des Menschen höchste Vollkommenheit, Gottes zu bedürfen.17 Marie von Ebner Eschenbach hat das 17 S. A. Kierkegaard, Vier erbauliche Reden (1844), in: Gesammelte Werke, hg. von E. Hirsch und H. Gerdes, 13. und 14. Abteilung, Gütersloh 1981, S. 12 ff. Ähnlich formuliert schon Thomas von Aquino in seiner Summa contra gentiles
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einmal – in wohltuender Untertreibung – durch den Satz zum Ausdruck gebracht: „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe als sie verdienen“.18 Wenn man dem noch anfügt, und alle Menschen dürfen darauf vertrauen, von Gott mehr Liebe zu bekommen als sie verdienen, dann ist das zwar nicht so ansprechend formuliert, aber es trifft den Sinn der Rechtfertigungslehre schon sehr genau. Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke heißt, dass jeder Mensch von einem Ja Gottes schon herkommt, das ihm auf bedingungslose (aber zugleich höchst folgentrchtige) Weise Lebensrecht, Würde und die Bestimmung zum ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott zuspricht. Das kann sich niemand verdienen und das braucht sich niemand zu verdienen, und dieses Ja Gottes gilt auch dem Menschen, der aus Verblendung, Schwäche, Trägheit oder Hochmut meint, seinen Lebensweg ohne Gott gehen zu können und zu sollen. Von daher fällt nun aber auch schließlich ein neues, anderes Licht auf das Gottesbild, das in der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre enthalten ist. Es ist gerade nicht das Bild eines verletzten, beleidigten, zürnenden Herrschers, der erst durch den blutige Opfertod seines Sohnes versöhnt werden will und muss, bevor er vergeben, annehmen, rechtfertigen kann. Im Gegenteil: Wenn es in der biblischen und in der lutherischen Rechtfertigungslehre hinsichtlich des Gottesverständnis einen roten Faden oder einen cantus firmus gibt, dann lautet er: Gott ist das Subjekt, nicht das Objekt des Versöhnungs- und Rechtfertigungsgeschehens. Gott versöhnt, er wird nicht versöhnt. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu“, heißt es in 2 Kor 5,19. Und die vermutlich bekannteste Aussage aus dem Johannesevangelium lautet: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das
Bd. III, cap. 130, n. 3: „Quia vero summa perfectio humanae vitae in hoc consistit, quod mens hominis Deo vacet“ („Weil aber die höchste Vollkommenheit des menschlichen Lebens darin besteht, dass der Geist des Menschen für Gott frei wird“). Den Hinweis auf diese Thomas-Stelle verdanke ich Herrn Kollegen Drecoll, Tübingen. Zwischen dem thomasischen Freiwerden des Geistes für Gott und dem kierkegaardschen Bedürfen Gottes („traenge til Gud“) besteht freilich ein gewisser Unterschied. Aber deren beiderseitige Charakterisierung als „höchste Vollkommenheit des Menschen“ ist auffällig und nachdenkenswert. 18 M. von Ebner-Eschenbach, Aphorismen, Frankfurt/Main 1964, S. 8.
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ewige Leben haben“ ( Joh 3,16).19 Gottes Liebe ist der Beweggrund des Versöhnungs- und Rechtfertigungsgeschehens, nicht dessen Resultat. Und was heißt das für das Verständnis der in allen neutestamentlichen Überlieferungsschichten auftauchenden Rede vom Zorn Gottes? Sind sie nicht ernst zu nehmen? Oh doch, sie sind gar sehr ernst zu nehmen; denn die Rede vom Zorn Gottes widerspricht nicht der Rede von Gottes Liebe, sondern qualifiziert sie als brennende, heilige Liebe.20 Eine Liebe, die nicht zornig ist über das, womit ein geliebtes Gegenüber sich selbst schadet, ist nicht in höherem, sondern in geringerem Maße Liebe, ist vielleicht nur Freundlichkeit, Nettigkeit oder gar nur Konfliktscheu. Und darum gilt, was Paulus am Anfang des Römerbriefs sagt: „Gottes Zorn wird vom Himmel offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen“ (Röm 1,18). Gottes Zorn richtet sich also gegen die menschliche Snde, seine vergebende, zurechtbringende Liebe gilt hingegen den Sndern, den armseligen, aber auch den hochmütigen und den verstockten Sündern. Und das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Jesus Christus, der Sohnes Gottes, der die Sünde der Welt in seinem Leben, Leiden und Sterben auf sich nimmt, erträgt und erduldet, „auf dass wir Frieden hätten“ ( Jes 53,5). Freilich, solange uns Menschen diese Botschaft nicht zugesprochen wird, uns nicht erreicht, in uns nicht Glauben weckt, gleicht sie einem Guthaben, von dem wir nichts wissen, das unser Lebensgefühl und unsere Lebensführung nicht bestimmen kann, weil es zwar da ist, aber nicht fr uns da ist. Deswegen betonen Paulus und Luther, dass die Rechtfertigung verkündigt und geglaubt werden muss, damit sie im Leben der Menschen wirksam werden kann. Deshalb steht im Zentrum des kirchlichen Auftrags die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, das die bedingungslose Rechtfertigung, die Annahme und Bejahung des Menschen zum Inhalt hat. Daraus ergibt sich nun auch, was die Rede von der „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ meint und was dabei das Wort „Glauben“ bedeutet: nichts anderes als das lebensbestimmende Vertrauen auf Gott, das durch die Verkündigung des Evangeliums in einem Menschen ge19 Gleichsinnige Aussagen finden sich in Röm 5,8; 1 Tim 2,3 f.; 1 Joh 4,9 f. u.o. 20 Mit der Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes habe ich mich – auf Einladung der Lutherischen Bischofskonferenz – beschäftigt in dem gleichnamigen Aufsatz, der in diesem Band in leicht überarbeiteter Version erneut abgedruckt ist, s. u. S. 343 – 366. Mit dieser Thematik befasst sich auch die Dissertation von Stefan Volkmann: Der Zorn Gottes. Studien zur Rede vom Zorn Gottes in der evangelischen Theologie, Marburg 2004.
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weckt (und erhalten) wird. Dass dieses Vertrauen nicht nur die Antwort auf die Frage ist, wie uns von Gott her Rechtfertigung, d. h. die Anerkennung, Bejahung wirksam zuteil wird, durch die wir ins rechte Verhältnis zu Gott gesetzt werden, sondern dass in diesem Vertrauen auch die entscheidende Antwort auf die Theodizeefrage enthalten ist, das kann man – noch einmal – von dem skeptischen Philosophen Odo Marquard lernen. Er schreibt: „Die Antworten der Theodizee sind … durchweg unzureichend … Darum haben wohl diejenigen recht, die dem Vertrauen auf Gott, also dem Glauben das letzte Wort geben, und das nicht zu können ist dann das eigentliche Unglück“.21 Dass dieses Unglück nicht das letzte Wort behält, liegt nicht in unserer, sondern in Gottes Hand. Was uns in solchen Situationen aufgetragen ist, ist einerseits das solidarische Schweigen der Freunde Hiobs (Hi 2,11 – 13) und andererseits die redliche Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Von daher erschließt sich nun auch, was im biblischen Sinn die Rede von der „Gerechtigkeit“ – als Gerechtigkeit Gottes und als Gerechtigkeit des Menschen vor Gott – bezeichnet. Die Einsichten, die sich Luther hierzu am Anfang des 16. Jahrhunderts erschlossen haben, wurden durch die alttestamentliche und orientalistische Forschung im 20. Jahrhundert eindrucksvoll bestätigt22 : „Gerechtigkeit“ nach biblischem Verständnis bedeutet weder – wie bei Aristoteles –, dass jeder bekommt, was ihm zusteht, noch – wie bei Plato –, dass jeder tut, was seine Aufgabe ist, sondern „Gerechtigkeit“ im biblischen Sinn ist das, was die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch schafft und erhält. „Gerechtigkeit Gottes“ ist die Treue Gottes, durch die Gott dem Menschen seine Barmherzigkeit zuspricht und erweist, und „Gerechtigkeit vor Gott“ ist das dadurch geweckte Vertrauen des Menschen auf Gott, durch das er sein Herz im Leben und im Sterben an den Gott hängt, der sich in Jesus Christus zum Heil der Welt geoffenbart hat. Und beide: Gottes Treue und das menschliche Vertrauen sind dasjenige, was die Gemeinschaft zwischen Gott schafft, erhält und bewahrt. In dieser Treue Gottes und in dem (durch sie geweckten) Vertrauen des Menschen geschieht Rechtfertigung – damals und heute.
21 Schwierigkeiten beim Ja-Sagen (s. o. Anm. 14), S. 101 f. 22 Siehe dazu vor allem K. Koch, SDQ im Alten Testament, Heidelberg, 1953, H. H. Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung, Tübingen 1968 sowie J. Assmann, Ma’at, München (1990) 19952.
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Und in diesem Sinne gilt darum auch heute, wie bei Paulus und wie für Luther: „So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“.
Paulus und Luther Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“ Seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich von der englischsprachigen Paulusforschung ausgehend unter dem Titel „NewPerspective“ die Überzeugung weitgehend durchgesetzt, die Heikki Räisänen1 in dem kurzen Satz zusammengefasst hat: „Paul was no Luther before Luther“. In noch schärferer Form hat E. P. Sanders, auf den die These von Räisänen letztlich zurückgeht,2 das damit Gemeinte ausgedrückt, wenn er sagt: „wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen“3. Angesichts der Bedeutung, die die Berufung auf die Bibel, insbesondere auf Paulus, für die reformatorische Theologie Martin Luthers hat, ist das Urteil von Sanders – wenn es zutrifft – von erheblicher Bedeutung. Das muss einen lutherischen Theologen, wie ich es aus Überzeugung bin, dazu veranlassen, diese These und ihre Begründung sorgfältig zu überprüfen. Der Schwerpunkt meines Textes liegt nicht auf der Frage, ob Paulus das Judentum seiner Zeit richtig verstanden und beschrieben hat, auch nicht auf der Frage, ob Luther Paulus – seine Deutung des Judentums und seine Auffassung über die Bedeutung des Gesetzes als Weg zum Heil – richtig verstanden und beschrieben hat, sondern auf der Frage, welche theologischen Auffassungen Luther (zusammen mit den übrigen 1 2 3
Paul and the Law, Tübingen (1983) 19872, S. 231. Die Vorgeschichte von Sanders‘ Theorie stellt St. Westerholm (Perspectives Old and New on Paul. The ,Lutheran‘ Paul and His Critics, Grand Rapids/ Cambridge UK, 2004, S. 101 ff.) ausführlich dar. E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung (1991) Stuttgart 1995, S. 65. Noch schärfer ist die Formulierung, die die Herausgeber des Bandes: Justification and Variegated Nomism, Vol. II (D. A. Carson, P. T. O‘Brien und M. A. Seifrid) unter Berufung auf Krister Stendahl im Vorwort ihres Bandes (S. VI) wie folgt wiedergeben: „… some defenders of the new perspective cast their work as a self-conscious refutation of Luther, who … read his own introspective conscience (to recall the famous expression of Krister Stendahl [HTR 56/1963, S. 199 – 215: ,The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West‘]) back into Paul and thus corrupted the next half-millenium of study of the apostle …“.
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Reformatoren) tatsächlich vertreten hat und ob sie von E. P. Sanders und anderen Vertretern der New-Perspective richtig verstanden und wiedergegeben werden. Diese Frage ist in der Diskussion um die NewPerspective – soweit ich das wahrnehmen kann – bisher nicht ernsthaft diskutiert worden.4 Die beiden erstgenannten Fragen stehen bei meiner Beschäftigung mit der New-Perspective aber im Hintergrund. Hierzu vertreten die meisten neueren Forscher eine differenzierte Auffassung, die besagt, dass es mehrere unterschiedliche Richtungen im Judentum zur Zeit Jesu gegeben habe, von denen einige durch die Darstellung, die Paulus gibt, angemessen erfasst werden, andere nicht.5 Um das komplexe Bündel all dieser Fragen in der gebührenden Ausführlichkeit und Gründlichkeit zu beantworten, wäre zumindest Dreierlei erforderlich: – erstens eine Darstellung der paulinischen Theologie – in unserem Fall: konzentriert auf die Aussagen über das Menschsein – und zwar in kritischer Auseinandersetzung mit der Paulusdarstellung, wie sie Sanders, aber auch Räisänen oder J. D. G. Dunn6 gegeben haben; – zweitens eine auf dieselben Themen bezogene Darstellung der theologischen Aussagen Luthers; – drittens ein Vergleich zwischen den Ergebnissen der Analyse Paulus’ und Luthers mit dem Ziel der Überprüfung ihrer Übereinstimmung oder jedenfalls Vereinbarkeit. 4
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Den ergiebigsten Beitrag dazu hat m. E. bisher Ch. H. Talbert (Paul, Judaism and the Revisionists, in: CBQ 63, No. 1, 2001, S. 1 – 22) geleistet, wobei er die reformatorische Auffassung grundsätzlich rehabilitiert (so a.a.O., S. 11, 15 und 22). Eher beiläufig geht H. Frankemölle (Völker-Verheißung [Gen 12 – 18] und Sinai-Tora im Römerbrief. Das „Dazwischen“ [Röm 5, 20] als hermeneutischer Parameter für eine lutherische oder nichtlutherische Paulus-Auslegung, in: M. Bachmann [Hg.] Lutherische und Neue Paulusperspektive, Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, Tübingen 2005, S. 276 – 279) auf Luthers Paulusverständnis ein. Er schließt sich dabei in seiner Interpretation und Kritik grundsätzlich E. Peterson und H. Schlier an. Der ganze von Bachmann herausgegebene Band enthält interessante exegetische Beiträge und eine detaillierte Stellungnahme zu ihnen von J. D. G. Dunn, bietet aber im Blick auf die „Lutherische Paulusperspektive“ nur wenig. So z. B. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, S. 286 – 314 sowie Ch. H. Talbert (s. o. Anm. 4), der die Deutung des Judentums durch die New-Perspective scharf kritisiert. Jesus, Paul and the Law, London 1990 sowie: Prolegomena to a Theology of Paul, NTS 40/1994, S. 407 – 432.
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Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass ein solches Vorhaben den Rahmen dieses Textes sprengen würde. Deshalb kann ich mich nur auf das Wesentlichste konzentrieren und beschränken. Und ich tue dies, indem ich zunächst kurz rekonstruiere, von welchen Prämissen aus E. P. Sanders zu seiner These von der Unvereinbarkeit zwischen Paulus und Luther gekommen ist (1), sodann das darin vorausgesetzte Bild der paulinischen Theologie (2) sowie von Luthers Theologie (3) auf seine Korrektheit überprüfe, um schließlich aus meiner Sicht das Verhältnis zwischen den paulinischen und lutherischen Aussagen über Sünde und Heil des Menschen darzustellen (4).
1. Das Verhältnis der paulinischen und lutherischen Aussagen über den Menschen in der Sicht von E. P. Sanders Ich präsentiere Sanders’ Sichtweise zunächst in Form eines längeren Zitats und analysiere dann die wesentlichen Details dieser Aussage: „Paulus selbst gebrauchte gelegentlich die Terminologie der ,Gerechtigkeit‘ in einer spezifischen Weise; und Martin Luther, dessen Einfluss auf spätere Interpreten enorm war, stellte Paulus’ Aussage in den Mittelpunkt seiner eigenen, gänzlich anderen Theologie. Luther war von der Tatsache überwältigt, dass er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ,Sünder‘ empfand: Er litt unter Schuld. Paulus dagegen litt nicht unter einem Gewissen, das sich schuldig fühlte. Vor seiner Bekehrung zum Apostel Christi war er … ,untadelig‘ hinsichtlich der ,Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert‘ (Phil. 3,6). Als Apostel konnte er sich nicht vorstellen, dass beim Jüngsten Gericht irgendetwas gegen ihn vorgebracht werden könnte, obgleich er die Möglichkeit offen ließ, dass Gott einen Tadel an ihm finden würde (1. Kor. 4,4). Luther, von Schuld gepeinigt, interpretierte die paulinischen Stellen über ,Gerechtigkeit aus dem Glauben‘ so, als würde Gott einen Christen für gerecht erachten, selbst wenn er oder sie ein Sünder ist. Luther verstand ,Gerechtigkeit‘ juristisch, als eine Unschuldserklärung, doch auch als fiktiven Status, der Christen ,durch bloße Zurechnung‘ zugeschrieben wird, weil Gott gnädig ist. Luthers Ausdruck für die Verfassung des Christen war nicht Paulus’ ,untadelig‘ oder ,ohne Tadel‘ (z. B. 1. Thess. 5,23), sondern vielmehr simul iustus et peccator, ,zugleich gerecht und ein Sünder‘: ,gerecht‘ aus der Sicht Gottes, doch ein ,Sünder‘ in der alltäglichen Erfahrung.
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Anders ausgedrückt, Luther fand das Leben des Christen in Röm. 7,21 resümiert: ,So finde ich nun das Gesetz, das mir, der ich das Gute will, das Böse anhängt‘, während Paulus dies für die Not hielt, aus der Christ durch Christus befreit wird (Röm. 7,24; 8,1 – 8). ,Ihr aber‘, schreibt er, ,seid nicht fleischlich, sondern geistlich‘; und die im Geist leben, meint er, begehen nicht die sündigen Taten des Fleisches (Röm. 8,9 – 17; Gal. 5,16 – 24). Luthers Betonung des fiktiven, bloß zugerechneten Charakters der Gerechtigkeit ist, wiewohl oft als inkorrekte Interpretation des Paulus erwiesen, einflussreich geworden, weil sie einem weitverbreiteten Gefühl der Sündhaftigkeit entspricht und mit ihrem individualistischen introspektiven Akzent ein wesentliches Element des abendländischen Persönlichkeitsbegriffs bildet. Luther suchte und fand Entlastung von Schuld. Doch seine Probleme waren nicht die paulinischen, und – nun folgt das schon zitierte Resüme –: „wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen“7.
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E. P. Sanders, Paulus, S. 63 – 65. Ich setze mich im Folgenden vor allem mit dem in diesem Zitat (und in anderen ähnlichlautenden Äußerungen) enthaltenen Paulus- und Lutherbild kritisch auseinander, soweit ich es für problematisch halte. Dabei entsteht die Gefahr, dass das wie eine Totalkritik wirkt. Deshalb möchte ich vorab betonen, dass ich die Paulusarbeiten von E. P. Sanders in mehrfacher Hinsicht für verdienstvoll und weiterführend halte: Zunächst stimme ich Sanders darin zu, dass er die Grundüberzeugung des Judentums mit dem Begriff ,Bundesnomismus‘ („covenantal nomism“) bezeichnet, was in den Worten von T. George (Modernizing Luther, Domesticating Paul: Another Perspective, in: Justification and Variegated Nomism [s. o. Anm. 3] S. 49 wie folgt definiert wird: „Sanders‘s term for the idea that ,getting in‘ to God‘s covenant with Israel was intireliy a matter of God‘s electing grace while ,staying in‘ depended on the faithful keeping of God‘s law …“. Sanders hat von diesem Ansatz her das Zerrbild von einem ,gesetzlichen‘ oder ,nomistischen‘ Judentum und die grundsätzliche Alternative von ,Gesetz‘ und ,Gnade‘ zu recht – und wirksam – korrigiert. Damit ist freilich noch nicht darüber entschieden, ob die Erfüllung des Gesetzes nach jüdischer und/oder christlicher Vorstellung eine – nachträgliche – Bedingung für das Bleiben im Bund ist, und ob diese Erfüllung letztlich als ein Werk der Gnade Gottes oder als ein eigenständiges Tun des Menschen zu verstehen ist. Sodann stimme ich Sanders auch darin zu, dass das Damaskuserlebnis des Paulus nicht als eine seiner Berufung zum Heidenapostel vorangehende Bekehrung vom Gesetz zu Christus als Heilsweg zu verstehen ist, sondern dass das Damaskuserlebnis seine Berufung zum Heidenapostel ist, die als solche die Abwendung vom Gesetz als Heilsweg und die Hinwendung zu Christus als Heilsweg impliziert.
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In diesem Zitat kommen alle wesentlichen Punkte zur Sprache, an denen Sanders – ebenso wie Räisänen, Dunn, lange vor ihnen teilweise auch schon Althaus8 und andere – die wesentlichen Differenzen zwischen Paulus und Luther sehen. Im Zentrum stehen dabei zwei Formulierungen, die für Luthers Rechtfertigungslehre große Bedeutung haben: der Begriff „imputatio“ und die Formel: „simul iustus et peccator“.9 Es ist vor allem die Rede von der ,imputatio‘ bzw. ,Zurechnung‘ und das in ihr vorausgesetzte Verständnis von ,Sünde‘ einerseits und ,Rechtfertigung‘ andererseits, an dem Sanders die Differenzen zwischen Paulus und Luther festmacht. Für die Analyse dessen, was Sanders damit meint, empfiehlt es sich, den Ausgangspunkt beim Begriff ,imputatio‘ zu nehmen.10 Charakteristisch ist dabei, dass Sanders in seinem kleinen Paulus-Buch den Begriff ,imputatio‘ fünfmal mit dem Adjektiv ,fiktiv‘ verbindet11. Dabei bestreitet Sanders nicht, dass das entsprechende griechische Verb ,koc_feshai‘ bei Paulus – insbesondere in Röm 3 – 4, eine herausragende Rolle spielt. Er fügt aber sofort an: „Dies heißt jedoch nicht, dass Paulus meint, Gerechtigkeit werde denen, die den Glauben haben, fiktiv zu-
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Ich habe jedoch den Eindruck, dass Sanders an mehreren Stellen aus diesen beiden m. E. grundsätzlich zutreffenden Thesen Konsequenzen zieht bzw. sie in einer Weise interpretiert, durch die er sich weit von Paulus entfernt, dessen Auffassung also nicht gerecht wird. Darauf beziehen sich meine kritischen exegetischen Anfragen. P. Althaus, Paulus und Luther über den Menschen. Ein Vergleich, Gütersloh (1938) 19634. Auf diese beiden Formulierungen hat E. P. Sanders bereits in seiner ersten großen Arbeit: Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, S. 492 (dt.: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, Göttingen 1985, S. 664), hingewiesen, indem er schreibt: „The term ,forensic‘ is somewhat ambiguous, since it can refer to God‘s declaring one to be righteous (though he is not), a meaning conveyed by the term ‘imputation‘ and the catch-phrase simul justus et peccator. This meaning arises from Luther‘s theology (see, for example, his Commentary on Galatians, ET, S. 22 f., 26, 137 f., 223 – 9), and it is a meaning which I do not find in Paul. Paul does use the term forensically in the sense of the acquittal of past transgressions (=forgiveness), and this is the sense referred to here.“ Für dieses Thema verweise ich durchgehend auf Sibylle Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008. Aus (der Entstehung) dieser Arbeit habe ich sehr viel für das Thema „imputatio bei Luther“ gelernt. Zweimal auf S. 64, zweimal auf S. 89 und einmal S. 90.
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geschrieben, während sie in Wahrheit Sünder bleiben.“12 Ich lasse hier die Frage beiseite, was unter einer fiktiven Zuschreibung genau zu verstehen ist. Der für Sanders – und nicht nur für ihn – wesentliche Punkt ist offenbar die Vorstellung von einem unwahren Urteil, durch das ein Mensch als gerecht bezeichnet wird, der tatsächlich nicht gerecht ist, sondern Sünder. Und genauso versteht Sanders die Formel ,simul iustus et peccator‘: Gott spricht den Menschen gerecht, der in Wirklichkeit nicht gerecht ist, so dass der Mensch in sich selbst Sünder ist und bleibt und nur im Urteil Gottes als gerecht angesehen oder angesprochen wird. Als biographischen Hintergrund und Kontext dieser – angeblich lutherischen – Sichtweise sehen sowohl Sanders als auch Räisänen die Tatsache an, dass Luther allem Anschein nach – im Unterschied zu Paulus – „personal moral difficulties“ bzw. „moral difficulties with the law“13 hatte und unter Schuld(gefühlen) litt.14 Luther habe sich eben nicht – wie Paulus – als ,untadelig‘ beurteilt15, und das Verständnis von ,Rechtfertigung‘, das sich ihm aufgrund seiner besonderen Lebensgeschichte und Situation in der Begegnung mit der Theologie des Apostels Paulus erschlossen habe, steht dem zumindest nahe, was Sanders als ,psychologisches Erklärungsmodell‘ bezeichnet: „Nach dem psychologischen Erklärungsmodell predigte Paulus die ,Gerechtigkeit aus dem Glauben‘, die zugerechnet wird. Die Bekehrten erkennen ihre eigene unaustilgbare Sündhaftigkeit an, werden aber, psychologisch gesehen, durch die Verkündigung befreit, dass Gott sie trotzdem für unschuldig oder gerecht erachtet. Da das Evangelium sie empfinden lässt, dass sie geliebt werden, sind sie auch imstande, einander zu lieben nach dem durchaus plausiblen Prinzip: Liebe erzeugt Liebe. Wer emotional gefestigt ist, kann andere großzügiger behandeln als jemand, dem es an Zuneigung mangelt. Falsch daran ist nur, dass Paulus nichts dergleichen schrieb.“16
Und als Quelle für diese Luther-Darstellung nennt Sanders17 einige Passagen aus dem Großen Galaterkommentar Luthers von 1531/35. Was ich bisher dargestellt habe, ist keine Karikatur dessen, was Sanders und andere für die theologische Position Luthers halten, son12 13 14 15 16 17
A. a. O., S. 89. H. Räisänen, Paul and the Law, S. 231. So E. P. Sanders, Paulus, S. 64. Ebd. A. a. O., S. 95 f. S. o. Anm. 9.
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dern es ist knapp, aber genau wiedergegeben das Bild, das die genannten Autoren zeichnen und das ich hier nur zu referieren versucht habe.
2. Kritische Anfragen zur Paulus-Exegese von E. P. Sanders18 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne meinerseits fachliche exegetische Kompetenz zu besitzen, möchte ich zu folgenden Elementen der Paulus-Interpretation von E. P. Sanders kritische Anfragen formulieren. Dabei stimme ich19 vorab der von Sanders mehrfach formulierten Überzeugung zu, dass für Paulus die Einsicht zentral ist, dass Heiden wie Juden durch nichts anderes als durch den Glauben an Jesus Christus am Heil Anteil bekommen, dass dies jedoch das Tun des im Gesetz gebotenen Willens Gottes nicht aus-, sondern einschließt. Im abschließenden Teil meiner Ausführung werde ich zeigen, dass genau dies auch zentrale Überzeugungen Martin Luthers sind. Doch nun zu den kritischen Anfragen: a) Aus Röm 2,13 f. leitet Sanders die paulinische Auffassung ab, „dass einige Heiden, obwohl sie das Gesetz nicht haben, doch ,von Natur aus tun, was das Gesetz fordert‘; diese werden durch die Werke vor dem göttlichen Gericht gerechtfertigt sein (Röm 2,13 f.). Die Schlussfolgerung in 3,9 steht in keiner Relation zu dem, was zu ihr hinführt (die Anklagen in Röm 1 – 2 gehen in ihren Inhalten zu weit), und sie steht im Widerspruch zu 2,13 f.“20 Sanders begründet diese Deutung mit der Aufeinanderfolge von Röm 2,13 und 14. Der erste Vers besagt, dass vor Gott nicht diejenigen gerecht sind bzw. sein werden, „die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun“. Der folgende Vers besagt: „Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz“. Daran schließt unmittelbar der Vers 15 an: „Sie beweisen damit, dass in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es 18 Vgl. zum Folgenden J. Becker, Der Völkerapostel Paulus im Spiegel seiner neuesten Interpreten, in: ThLZ 122. Jg., Nr. 11, 1997, Sp. 977 – 990, bes. 981 f. sowie G. Theißen, Die Religion der ersten Christen (s. o. Anm. 5), bes. S. 225 – 233 und 286 – 314, von denen ich (auch) in dieser Sache viel gelernt zu haben meine. 19 Zusätzlich zu dem, was ich bereits in Fußnote 7 als zutreffend und zustimmungswürdig benannt habe. 20 E. P. Sanders, Paulus, S. 53.
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ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen“. Diesen vier Versen geht die Aussage voran, dass es kein Ansehen der Person vor Gott gibt und dass alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, ohne Gesetz verloren gehen; und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, durch das Gesetz verurteilt werden. Damit ergibt sich zunächst, dass die „Schlussfolgerung“, die Paulus in Röm 3,9 – 20 zieht, bereits den Vordersatz bzw. die Überschrift über die von Sanders herangezogene Argumentation in Röm 2,13 – 16 bildet. Insofern ist es schon eine äußerst kühne Behauptung, zu sagen, die Schlussfolgerung in 3,9 stehe in keiner Relation zu dem, was zu ihr hinführt. Weitaus gravierender ist jedoch, dass Paulus aus der Tatsache, dass Heiden von Natur tun, was das Gesetz fordert, gerade nicht folgert, dass sie also vor Gott gerecht sind, sondern er zieht daraus einen ganz anderen Schluss: „Sie beweisen damit, dass in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert …“. Paulus folgert also aus dem gesetzesgemäßen Tun der Heiden nur ihr Wissen um das Gesetz und damit ihre Unentschuldbarkeit, aber gerade nicht ihr Gerechtfertigtsein durch das Tun dessen, was das Gesetz fordert. Trotzdem bleibt das Nacheinander von Vers 13 und 14 erklärungsbedürftig. Müsste Paulus aus Vers 13, der besagt, dass diejenigen, die das Gesetz tun, gerecht sind bzw. sein werden, nicht die Folgerung ziehen, dass Heiden, die das tun, was das Gesetz fordert, vor Gott gerecht sind bzw. sein werden? 21 Die Auflösung dieser scheinbaren Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass man ernst nimmt, wie Paulus in Röm 2,13 und 14 sprachlich unterscheidet zwischen denen, die das Gesetz tun bzw. – wie es wörtlich heißt: „Täter des Gesetzes“ (,oR poigta· m|lou‘) sind, und denen, von denen er in Vers 14 sagt, dass sie „das tun, was das Gesetz fordert“ (,t± toO m|lou poi_sim‘). Unter Tätern des Gesetzes, die vor Gott gerecht sind bzw. gerecht werden, kann Paulus nur Menschen verstehen, die stets und ausnahmslos das Gesetz Gottes erfüllen; denn wer den Weg des Gesetzes geht, für den gilt: „Verflucht sei jeder, der nicht bleibt bei alledem, was geschrieben
21 Die Tatsache, dass die Pointe von Vers 13 in der Entgegensetzung von „hören“ und „tun“ besteht, ist zwar zu beachten, hebt aber die Aussage nicht auf, dass (nur) die Täter des Gesetzes vor Gott gerecht sind.
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steht in dem Buch des Gesetzes, das er’s tue!“ (Gal 3,1022 ; Dtn 27,26). In Vers 14 spricht Paulus hingegen nicht von den Heiden als Tätern des Gesetzes, sondern er spricht von Heiden, die das Gesetz tun, d. h. offensichtlich, die in einzelnen Fällen das Gesetz befolgen. Diese einzelnen Taten beweisen, dass Heiden das vom Gesetz Gebotene kennen, weil es „in ihr Herz geschrieben ist“ und dass auch ihr Gewissen und ihre Gedanken es ihnen bezeugen, „die einander anklagen oder auch entschuldigen“. Deswegen zieht Paulus aus Röm 2,13 f. – wenn man die beiden Verse einmal mit Sanders so aus dem Zusammenhang herauslösen will – nicht die Konsequenz, dass die Heiden „durch ihre Werke vor dem göttlichen Gericht gerechtfertigt sein“ werden23, sondern er leitet daraus „nur“ ab, dass sie den Willen Gottes kennen, und darum im Gericht Gottes unentschuldbar sind. Die Argumentation passt also ganz genau zu der Schlussfolgerung, die Paulus in Röm 3,9 – 20 zieht. b) Eine der exegetischen Thesen von Sanders, die sehr viel positive Resonanz und Zustimmung gefunden hat, lautet: Paulus verwarf nur diejenigen Aspekte des Gesetzes, die seiner Missionstätigkeit entgegenstanden, weil sie Juden- und Heidenchristen trennten24. Und zu diesen Aspekten bzw. Teilen des Gesetzes, die eine solche trennende Funktion hatten und darum von Paulus als für die Heiden nicht verpflichtend erklärt wurden, zählt Sanders die Beschneidungsforderung, die Speisevorschriften und das Sabbatgebot.25 Überzeugend an dieser bestechenden Lösung ist zunächst einmal die damit verbundene Absage an „(m)anche Neutestamentler“, die die Auffassung vertreten: „Paulus hielt sich an das moralische Gesetz, stand aber dem rituellen oder kultischen ablehnend gegenüber.“ Dazu Sanders: „Das alte Judentum nahm eine solche Einteilung des Gesetzes nicht vor. Paulus erfand sie nicht, noch hätte er sie gebilligt.“26 Aber wie steht es mit Sanders’ eigenem Deutungsvorschlag? M. E. liegt hier bei ihm ein Denkfehler vor, der dann sichtbar wird, wenn man 22 Vgl. auch die Aussage aus Gal 5,3, dass jeder, der sich beschneiden lässt, „das ganze Gesetz zu tun schuldig“ ist. Die dazu denkmögliche Interpretationsalternative, dass Täter des Gesetzes diejenigen seien, die das Gesetz häufiger befolgt als übertreten haben, muss man nicht nur als völlig unpaulinisch, sondern auch als abwegig bezeichnen. 23 So Sanders, Paulus S 53. 24 So a.a.O., S. 119. 25 A. a. O., S. 116 ff. 26 A. a. O., S. 112 f.
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fragt: Welche Gesetze bzw. Gebote können – Sanders’ Paulusinterpretation zufolge – von Heiden grundsätzlich bestritten und ignoriert werden, ohne dass dies Juden- und Heiden(-christen) trennen oder deren Gemeinschaft unmöglich machen würde? Man darf dabei ja nicht von der bloßen faktischen Übertretung ausgehen, wie sie in Israel und bei allen Menschen immer wieder als Möglichkeit gegeben ist und als Realität vorkommt, sondern man muss ganz grundsätzlich nach der Anerkennung der Gebote fragen. Stellt man die Frage aber so, dann zeigt sich, dass die notorische Bestreitung und Nichtbeachtung jedes Dekaloggebotes (und der Tora) von Seiten der Heiden(-christen) die Gemeinschaft zwischen ihnen und den Juden unmöglich machen würde. Das gilt also keineswegs nur für das Sabbatgebot, das Beschneidungsgebot und die Speisevorschriften. Das aber heißt: Der Logik von Sanders zufolge müsste jedes Gebot des Dekalogs (und der Tora) für Heidenchristen seine Geltung und Bedeutung verlieren, weil seine grundsätzliche Missachtung und Übertretung die Tisch- und Lebensgemeinschaft zwischen ihnen unmöglich machen würde. Man kann die Argumentation auch umkehren: Wenn das Sabbatgebot, die Beschneidungsforderung und die Speisevorschriften von Heidenchristen anerkannt würden, was ja keine größere, sondern eine geringere Forderung darstellt als die Einhaltung der (anderen) Dekalog(und Tora-)Gebote – dann hätten diese Gebote keinerlei trennende oder die Gemeinschaft unmöglich machende Funktion und Bedeutung. Warum sollte also den Heidenchristen dann nicht zugemutet werden, diese Gebote zu erfüllen, um vollgültige Christen zu sein? Sanders’ Argumentation wäre nur dann stimmig, wenn sich Forderungen des Gesetzes auf Sachverhalte bezögen, die man als Heide bzw. als Nicht-Jude gar nicht erfüllen kann, z. B. die leibliche Abstammung vom „Samen Abrahams“ oder das Geborensein von einer jüdischen Mutter. Die diesbezügliche Argumentation von Sanders erscheint mir sowohl als zirkulär, als auch als inkonsistent. c) Sanders erkennt und anerkennt durchaus die Bedeutung, die „das Verbot der Begierde“ in der paulinischen Argumentation hat. Und er räumt auch ein: „der Wortlaut ,Begehre nicht!‘ drängt geradezu eine Deutung des Verbots auf im Sinne von ,Begehre nicht in deinem Herzen!‘ Dies, so konnte Paulus ehrlich sagen, lässt sich nicht vermeiden.“27 27 A. a. O., S. 125.
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Aber statt von daher seine These von der grundsätzlichen Erfüllbarkeit des Gesetzes in Frage stellen zu lassen, beschreitet Sanders den umgekehrten Weg: Er stellt in Frage, dass die diesbezüglichen paulinischen Aussagen ernst zu nehmen seien. So kommt er zu dem „Schluss, dass Röm. 7 keine vollständige Analyse der Menschen und ihres Verhältnisses zu den Geboten darstellt. Röm. 7 kann kaum im Zentrum von Paulus’ negativen Aussagen über das Gesetz stehen. Als Analyse ist Röm. 7 zu partiell … Hat man erkannt, dass Röm. 7,7 – 25 die Übersteigerung von Paulus’ ursprünglicher Anschauung – dass das Gesetz gegeben wurde zu verdammen – zurücknimmt und im folgenden denselben theologischen Standpunkt erneut bekräftigt … erkennt man auch, dass Röm. 7 nicht das Zentrum von Paulus’ Denken darstellt. … Röm. 7 ist weder eine angemessene Analyse der Conditio humana noch eine Beschreibung der normalen menschlichen Psyche. – Mit anderen Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker.“28 Das ist nun eine besonders merkwürdige Exegese. Sanders konzediert zunächst, dass – auch nach der Meinung des Apostels – das Verbot zu begehren ein Verbot ist, das nicht vollständig eingehalten werden kann. Nun kann Sanders aber nicht bestreiten, dass dieses Verbot Teil des Dekalogs ist. Demzufolge müsste er nun einräumen, dass es nach der Überzeugung des Apostels zumindest ein Gebot bzw. Verbot gibt, das der Mensch nicht erfüllen kann. Und damit wäre klar, dass Luther mit seiner Gesetzesinterpretation, die ja immer wieder auf dieses Ver- bzw. Gebot zu sprechen kommt, den Apostel genau richtig verstanden hat und seine Überzeugung teilt. Aber diesen einzig konsequenten Weg geht Sanders nicht. Vielmehr wechselt er nun stillschweigend die Fragestellung. Es geht ihm nun nicht mehr um die Frage, wie ist Paulus zu verstehen und hat Luther Paulus richtig verstanden, sondern um die völlig andere Frage: Hat Paulus mit seiner Gesetzesinterpretation recht und – vor allem – bietet er „eine angemessene Analyse der Conditio humana“ und „eine Beschreibung der normalen menschlichen Psyche“? Und Sanders Antwort lautet: „Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker“. Das ist zweifellos eine scharfe Kritik an Paulus. Aber die Frage war doch nicht, ob die paulinische Anthropologie zustimmungsfähig ist, sondern: wie Paulus zu verstehen ist und ob Luther Paulus richtig verstanden hat. Und diese beiden Fragen werden von Sanders wider Willen so beant28 A. a. O., S. 126 – 128.
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wortet, dass man sagen muss: Paulus ist offenbar so zu verstehen, wie Luther ihn verstanden hat. Ein weiterer impliziter Widerspruch kommt bei Sanders hinzu. Sanders räumt ein: „der Wortlaut ,Begehre nicht!‘ drängt geradezu eine Deutung des Verbots auf im Sinne von ,Begehre nicht in deinem Herzen!‘ Dies, so konnte Paulus ehrlich sagen, lässt sich nicht vermeiden.“29 Wenn dies so ist, warum ist Sanders dann der Meinung, „Röm. 7 beschreib(e) in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker“. Wenn sich die Übertretung dieses Gebotes nicht vermeiden lässt, dann liegt das entweder am Gesetz oder an den Menschen; denn dann ist entweder das Gesetz seinem eigentlichen Sinn nach unerfüllbar oder – Sanders zufolge – sind alle Menschen Neurotiker und können deshalb das Gesetz Gottes nicht erfüllen. Ist Letzteres der Fall, dann würde Paulus damit aber doch etwas Wesentliches über die Conditio humana aussagen: Alle Menschen sind von Natur aus Neurotiker. Man darf zwar annehmen, dass dies nicht der Meinung des Apostels entspricht, aber zu so unsinnnigen Konsequenzen führt Sanders mit seiner Exegese von Römer 7. Wie kommt er darauf ? Als Begründung für diese Interpretation verweist Sanders immer wieder30 auf die rückblickende Selbsteinschätzung des Paulus, er habe, was das Gesetz betraf, „untadelig“ gelebt (so Phil 3,6 und 1 Thess 2,10).31 Da er diese Selbsteinschätzung ganz ernst nimmt, kann er den Aussagen von Röm 7,7 – 25 keine grundlegende Bedeutung zuerkennen. Würde Sanders die Einsicht, dass Paulus zufolge das Dekalogverbot des Begehrens unerfüllbar ist, ebenso ernst nehmen wie die rückblickende Selbstbeurteilung als ,untadelig‘ nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, so ergäben sich daraus erheblich veränderte Konsequenzen für sein Verständnis der paulinischen Theologie und seine Einschätzung des Verhältnisses zwischen Paulus und Luther. Sanders bringt zudem bei der paulinischen Selbsteinschätzung als ,untadelig‘ notorisch nicht in Anschlag, dass es für die angemessene Einordnung und Bewertung dieser Rückerinnerung wichtig ist, dass Paulus – ohne dieses rückblickende Urteil in Frage zu stellen – nach seiner ,Bekehrung‘ zu Jesus Christus dieses untadelige Leben mit def29 Bereits zitiert o. bei Anm. 27. 30 Z. B. a.a.O., S. 64, 127 und 132. 31 Auf die Tatsache, dass Sanders der Auffassung ist, gerade durch diese Selbsteinschätzung unterscheide sich Paulus grundsätzlich von Luther (so z. B. a.a.O., S. 64 und 132), werden wir noch im folgenden Abschnitt zurückkommen.
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tigen Ausdrücken als ,Schaden‘ und ,Dreck‘ (Phil 3,7 f.) bezeichnet.32 Deshalb bleibt die Aufgabe, zu verstehen, wodurch sich für Paulus diese völlige Umwertung ergeben hat und was sie bedeutet. d) Ein Grundanliegen der Paulus-Exegese von Sanders von seinem ersten großen Werk an33 ist es, zu zeigen, dass Paulus sein jüdisches Volk nicht mit dem Vorwurf der ,Werkgerechtigkeit‘ oder ,Selbstgerechtigkeit‘ konfrontiert. Demgegenüber vertritt Sanders die Auffassung: „Israels Schuld in Röm. 9,33 [besteht] darin, dass es nicht an Christus glaubt.“34 Sanders sieht natürlich, dass insbesondere der Abschnitt Röm 9,30 – 10,4 besagt, Israel habe die Gerechtigkeit (vor Gott) nicht erlangt, weil es der Auffassung war, die Gerechtigkeit komme aus den Werken und nicht aus dem Glauben. Deswegen kommt Paulus zu dem Ergebnis: „Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht“ (Röm 10,3 f.). Wie interpretiert Sanders diese Aussagen? Er wendet vier Auslegungsstrategien an: – Zunächst erklärt er die ganze Passage für dunkel und schwer verständlich;35 – sodann erklärt er die Argumentation, die auf ,Selbstgerechtigkeit‘ zielt, für individualisierend und psychologisierend und damit für anachronistisch;36 – ferner ist er der Auffassung, dass, wenn man ,Selbstgerechtigkeit‘ versteht als Anstrengung und Eifer um eine gesetzeskonforme Lebens32 Die Bedeutung dieser Aussagen aus Phil 3, 5 – 9 für das angemessene Verständnis der paulinischen Theologie betont auch St. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul (s. o. Anm. 2), S. 312. 33 Paul and Palestinian Judaism, London 1977 (s. o. Anm. 9). 34 Paulus, S. 158. 35 A. a. O., S. 157 f. : „Die genaue Bedeutung von Röm. 9,32 lässt sich nicht ermitteln … Der Sinn von ,hat es doch nicht erreicht‘ ist dunkel, aber viel lässt sich nicht darauf bauen … Röm. 9,31 f. … wird nie viel hergeben; der Satz ist dunkel … .“ 36 A. a. O., S. 157 ff.: „Zweitens ist diese Auslegung anachronistisch. Paulus denkt in diesem Abschnitt nicht in diesem individualisierenden und psychologisierendem Stil … Er analysiert nicht die Wirkung des Gesetzes auf das Innenleben des einzelnen Juden … Wir sollten aber aufgrund dieses Verses [sc. Röm 11,6] nicht meinen, dass Paulus vorwiegend in individualisierenden und generalisierenden Abstraktionen dachte.“
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führung, Paulus mit diesem Vorwurf auch seine eigenen „Mitarbeiter und Anhänger verdammen würde, die alle sich eifrig um eine untadelige Lebensführung bemühten oder zumindest von ihm dazu gedrängt wurden.“37 – Schließlich kommt er zu dem – überraschenden – Fazit: „Was Paulus in den letzten Versen von Röm. 9 und in den ersten von Röm 10 der jüdischen Gerechtigkeit vorwirft, ist ihr Ausschließlichkeitsanspruch …“.38 Ich will mich nicht dabei aufhalten, dass es eine einfache und häufig praktizierte Strategie ist, Aussagen, die nicht zur eigenen Interpretation passen, für ,dunkel‘ und ,unergiebig‘ zu erklären. Wenn es einem Autor jedoch darum geht, eine Position zu vertreten, die den Tatsachen entspricht,39 dann empfiehlt es sich, gerade die Aussagen besonders ernst zu nehmen und sorgfältig zu bedenken, die der eigenen Sichtweise widersprechen. Das habe ich an anderen Stellen bei Sanders sehr wohl entdeckt. Hier kann ich es nicht wahrnehmen. Der entscheidende Schwachpunkt von Sanders Argumentation verbirgt sich m. E. in bzw. hinter dem dritten Spiegelstrich. Wenn Sanders sieht, dass Paulus seine Mitarbeiter und Anhänger dazu drängt, sich um eine untadelige Lebensführung zu bemühen, dann ist das, was Paulus mit den Formulierungen „Gerechtigkeit aus den Werken“ oder „eigene Gerechtigkeit“ meint, vermutlich nicht identisch mit dem Bemühen um eine untadelige Lebensführung an sich. Der Differenzpunkt, 37 A. a. O., S. 157. 38 A. a. O., S. 159. 39 So erklärt Sanders im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines großen Werkes über Paulus und das palästinensische Judentum (s. o. Anm. 9) S. IX f.: „Eins der Ziele dieses Buches war, der vorherrschenden christl. Beurteilung des rabb. Judentums, wonach es sich bei ihm um eine Religion gesetzlicher Werkgerechtigkeit handele, ein Ende zu bereiten … In der Tat haben mich meine Untersuchungen zu der Überzeugung geführt, dass die Rabbinen und ihre pharisäischen Vorgänger eine Religion geschaffen haben, die es wert ist, respektiert und hochgeschätzt zu werden; hingegen habe ich keinerlei Verpflichtung gespürt, zu irgendwelchen Werturteilen zu gelangen. Meine Polemik richtet sich daher nicht gegen Forscher, weil sie etwa Antisemiten im rassistischen Sinne des Wortes gewesen sind. Der verstorbene Samuel Sandmel hat mir einmal Informationen darüber angeboten, welche Forscher früherer Generationen Antisemiten gewesen seien, doch habe ich abgelehnt, das herauszufinden. So wie ich die Dinge sehe, wird die im vorliegenden Buch angegriffene Position deshalb vertreten, weil man meint, dass sie den Tatsachen entspreche, und ich greife sie deshalb an, weil ich meine, dass das nicht der Fall ist.“
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auf den es ihm ankommt, muss dann an einer anderen Stelle liegen. Es kann auch im Ernst keine Frage sein, wo dieser andere Punkt zu suchen ist: in einem für Paulus außerordentlich wichtigen Begriff, der in den Paulusbriefen etwa vierzig Mal, sonst aber kaum im Neuen Testament vorkommt: ,Sich rühmen‘. Erstaunlicherweise spielt dieser paulinische Zentralbegriff – wenn ich nichts übersehen habe – bei Sanders so gut wie nirgends eine Rolle. Vermutlich hält er ihn für einen individualisierenden und psychologisierenden Begriff, den er als solchen für anachronistisch erklärt. Aber das wäre dann eine reine petitio principii. Jedenfalls lohnt es sich, vom Textbefund her der Frage noch einmal genauer nachzugehen, warum und inwiefern Paulus das Gesetz und seine Befolgung in der Lebensführung so nachdrücklich empfehlen kann und gleichzeitig so scharf die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, die er als ,eigene Gerechtigkeit‘ bezeichnet, als mit der Gerechtigkeit aus Glauben und vor Gott unvereinbar erklärt. Und genau damit sind wir dann an der Frage, ob Luther, der diese Unterscheidung von Paulus gelernt zu haben meint, Paulus richtig verstanden hat oder ob man mit Sanders sagen muss: „Martin Luther … stellte Paulus’ Aussagen in den Mittelpunkt seiner eigenen, gänzlich anderen Theologie.“40 e) Es ist schließlich auffällig, dass die von Sanders vertretene Position mehrere Widersprüche enthält, auf die ich hier nicht eingegangen bin, weil ich den Eindruck habe, dass solche Widersprüche von Sanders selbst insofern aufgelöst werden, als er dem, was er an einer Stelle problematischerweise behauptet, an mehreren anderen Stellen überzeugenderweise widerspricht, so dass man annehmen darf, dass die mehrheitlich geäußerte Auffassung seine eigentliche Meinung wiedergibt. Als einen solchen Widerspruch zähle ich das Verhältnis zwischen der (in Unterabschn. a) referierten These von Sanders, Heiden könnten durch das Tun des Gesetzes vor Gott gerecht werden, im Verhältnis zu der Grundaussage (aus dem Vorspann von Abschn. 2), für Heiden und Juden sei der Glaube an Jesus Christus der einzige Weg zum Heil. Einen weiteren Widerspruch sehe ich zwischen Sanders’ These, Paulus hätte einem Heiden nicht abgeraten, sich beschneiden zu lassen41, wenn dieser es wollte, während er an mehreren anderen Stellen42 dezidiert mit Paulus die Auffassung vertritt: Wer sich als Heide um des Heiles willen 40 Paulus, S. 63. 41 A. a. O., S. 81. 42 Z. B. a. a. O., S. 83.
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beschneiden lässt, hat Christus und das Heil verloren (s. Gal 5,1 – 6). Als einen grundsätzlichen Widerspruch empfinde ich auch, dass Sanders einerseits äußerst scharfsinnig und differenziert die paulinischen Argumentationen analysiert und als kohärent erweist, andererseits die Auffassung vertritt, Paulus sei weder ein philosophischer noch ein systematischer Theologe gewesen, sondern „ein Ad-hoc-Theologe, ein Prediger, ein Charismatiker, der Visionen hatte und in Zungen sprach – und ein religiöses Genie“. Und dem fügt er den Appell an: „Stecken wir ihn nicht völlig in die Zwangsjacke der logischen Gedankenordnung“! 43
3. Die Rechtfertigungslehre Martin Luthers Martin Luther hat seine Rechtfertigungslehre nicht in einer großen Schrift zu diesem Thema entfaltet, sondern sie bildet ein durchgehendes, überall präsentes Thema und Strukturprinzip seiner Theologie. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Texten, die sich konzentriert diesem Thema widmen: die beiden Sermone von der doppelten und von der dreifachen Gerechtigkeit44, der Traktat „De libertate christiana“45 (deutsche Fassung: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“46), der Große Galaterkommentar von 1531/3547, auf den sich Sanders beruft,48 sodann die fünf Thesenreihen, die Luther zwischen dem 11. September 1535 und dem 1. Juni 1537 verfasste, die sich alle
43 A. a. O., S. 166; ähnlich S. 167: „Wir sehen jetzt die volle Konsequenz der wiederholten Warnung, dass Paulus kein systematischer Theologe war. Er war ein Theologe: in Röm 9 – 11 wie in Röm 7 war er zutiefst beunruhigt über theologische Probleme. Paulus war indessen kein Systematiker, denn er stimmte seine Antwort auf diese facettenreichen Probleme nicht aufeinander ab.“ 44 WA 2, 145 – 152/LDStA 2, 67 – 85 und WA 2, 43 – 47/LDStA 2, 53 – 65. In der WA und in der LDStA steht der Sermo de triplici iustitia vor dem Sermo de duplici iustitia, weil er früher (nämlich bereits 1518) verçffentlicht wurde, der Sermo de duplici iustitia dagegen erst 1519. Der Entstehungszeit nach ist jedoch der Sermon von der doppelten Gerechtigkeit älter und entstand vermutlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Luthers „reformatorischer Entdeckung“. Vgl. hierzu M. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, Stuttgart (1981) 19903, S. 222 – 224. 45 WA 7, 49 – 73 /LDStA 2, 120 – 185. 46 WA 7, 20 – 38. 47 WA 40/1, 33 – 688 und 40/2, 1 – 184. 48 S. o. in Anm. 9.
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auf Röm 3, 28 beziehen49 sowie schließlich seine Vorrede zu Bd. 1 der Opera latina von 154550, die deswegen besonders interessant und ergiebig ist, weil Luther sich hier – allerdings aus einem zeitlichen Abstand von fast 30 Jahren – direkt auf seine „reformatorische Entdeckung“ anhand des Begriffs ,Gerechtigkeit Gottes‘ zurückbezieht. Mit diesem Text51 will ich darum beginnen und anhand dieses Textstückes einige Grundlinien von Luthers reformatorischer Rechtfertigungslehre darstellen.52 Welche neuen Einsichten erschließen sich Luther in der Beschäftigung mit Röm 1,1753 ? a) Luther entdeckt, dass das philosophische Verständnis von ,Gerechtigkeit‘, das er bei allen seinen Lehrern vorgefunden hatte, nicht das biblische Verständnis von Gerechtigkeit ist. Philosophisch, genauer gesagt: aristotelisch54 ist ,Gerechtigkeit Gottes‘ zu verstehen als die Eigenschaft Gottes, „auf Grund deren Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft“ (505,27 f.). Luther entdeckt, dass dieses Verständnis der sog. formalen oder aktiven Gerechtigkeit nicht das biblische Verständnis ist. Der Bibel zufolge ist Gottes Gerechtigkeit zu verstehen als „die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben“ (507,7 f.). Luther hat hier aufgrund seiner guten Kenntnis des Alten Testaments eine Entdeckung vorweggenommen, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der alttestamentlichen Wissenschaft und durch sie immer mehr durchgesetzt und allgemeine Anerkennung 49 WA 39/1, 44 – 53; 82 – 86 und 202 – 204/LDStA 2, 401 – 441. 50 WA 54, 179 – 187/LDStA 2, 491 – 509. Auf diesen Text nimmt T. George, Modernizing Luther (s. o. Anm. 7), S. 438 f. Bezug. 51 Ausschlaggebend ist das Teilstück WA 54, 185,12 – 186,20/LDStA 2, 504,13 – 507,26. Die im Folgenden in den Text in Klammern eingefügten Seiten- und Zeilenzahlen beziehen sich auf diesen Textabschnitt, wie er in der LDStA ediert und übersetzt worden ist. 52 Eine ausführlichere Interpretation dieses Textes habe ich vorgelegt in meinem Aufsatz: Luther reformatorische Entdeckung – damals und heute, in: W. Härle, Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, S. 1 – 19. Die Tatsache, dass dieser Text eine Rückerinnerung aus großem zeitlichem Abstand darstellt, ist in unserem Zusammenhang insofern unerheblich, als es hier nicht um die Frage geht, ob der junge oder der alte Luther die im Folgenden darzustellende Rechtfertigungslehre vertreten hat. Die Tatsache, dass dieser Text ein Jahr vor Luthers Tod erschien, gibt ihm sogar besonderes Gewicht, weil es sich dabei um eines seiner letzten Worte zum Thema ,Rechtfertigung‘ handelt. 53 So WA 54, 185,35/LDStA 2, 507,1. 54 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 5.
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verschafft hat: dass das hebräische Wort ,sedaqah‘, das üblicherweise mit ,Gerechtigkeit‘ übersetzt wird, richtig mit ,Gemeinschaftstreue‘, ,gemeinschaftsgemäßes Verhalten‘ oder ,dem gemeinschaftlichen Lebenszusammenhang dienendes Verhalten‘55 übersetzt werden müsste.56
55 Luther hat ziemlich schnell erkannt, dass sowohl der lateinische Begriff ,iustitia‘ als auch der deutsche Begriff ,Gerechtigkeit‘ nicht geeignet sind, um diese Bedeutung der biblischen Begriffe ,sedaqah‘ bzw. , dijaios}mg‘ wiederzugeben. Bereits im Sermon von der dreifachen Gerechtigkeit aus dem Jahr 1518 (WA 2, 43,4 f./LDStA 2, 55,1 f.) verwendet er in diesem Zusammenhang das aus dem Adjektiv ,fromm‘ bzw. ,frum‘ gebildete Substantiv ,Fromkeyt‘ und beginnt diese Predigt mit folgenden Worten: „Triplex est peccatum, cui triplex opponitur iusticia, Teutonice fromkeyt“ (dt. „Die Sünde ist eine dreifache, der eine dreifache Gerechtigkeit, auf deutsch Frömmigkeit, gegenübersteht“.) Dieser Übersetzungsversuch ist kein Einzelfall geblieben, sondern Luther hat ihn in den kommenden Jahren häufig wiederholt und dabei in der Regel angemerkt, dass es wichtig sei, die entsprechenden biblischen Begriffe nicht im Sinne der Philosophie oder der Alltagssprache zu gebrauchen, sondern in der „canonica significatio“, so z. B. in den Operationes in Psalmos von 1519 – 21: „,Iustitiam dei‘, quam infra sepius habebimus, oportet, ut assuescamus vere canonica significatione intelligere, non eam, qua deus iustus est ipse, qua et impios damnat, ut vulgatissime accipitur“ (WA 5, 144,1 – 3, dt. „Die ,Gerechtigkeit Gottes‘, die wir weiter unten öfter antreffen werden, muss, damit wir uns angewöhnen, sie gemäß der wahren kanonischen Bedeutung zu verstehen, nicht als die [verstanden werden], auf Grund deren Gott selbst gerecht ist und auf Grund deren er auch die Gottlosen verurteilt, wie das ganz allgemein angenommen wird“.). Und wenige Zeilen später schreibt er, dass die hebräische Sprache für unser Wort „Barmherzigkeit“ (misericordia) das Wort „Gerechtigkeit“ (also sedaqah) habe. Ebenso äußert sich Luther auch in der Adventspostille von 1522: „Ich wollt auch, das das worttle Justus, iustitia, ynn der schrifft, noch nie were ynnß deutsch auff den brauch bracht, das es gerecht, gerechtickeytt hiesse, denn es heyst eygentlich frum und frumkeytt.“ (WA 10/ 1/2, 36,4 – 6). Schließlich ersetzt Luther in seinem berühmten Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) fast durchgängig den Begriff „Gerechtigkeit“ durch den Begriff „Frömmigkeit“. Man muss jedoch kritisch dazu anmerken, dass der Begriff „Frömmigkeit“ dafür nicht gut geeignet ist. Möglicherweise hat Luther dies auch selbst erkannt und deswegen – leider – diese Übersetzungsversuche nach längerer Zeit aufgegeben, statt sie durch bessere zu ersetzen. 56 Siehe dazu die alttestamentlichen Teilartikel über „Gerechtigkeit“ in den großen Lexika und Enzyklopädien sowie die einschlägigen Monographien von K. Koch, SDQ im Alten Testament. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Heidelberg 1953, und H. H. Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung, Tübingen 1968 sowie von J. Assmann, Ma‘at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, München (1990) 19952.
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b) Es fällt auf, dass an allen entscheidenden Stellen in diesem Textabschnitt der Begriff „Gerechtigkeit“, „gerecht“ bzw. „gerecht machen“ zweifach vorkommt, nämlich einerseits als Bezeichnung für das Wirken Gottes, andererseits als Bezeichnung für das, was Gott im Menschen wirkt. 57 Luther bezeichnet also mit demselben Begriff „Gerechtigkeit“ das Wirken Gottes und das, was durch dieses Wirken im Menschen entsteht. Um das damit Gemeinte zu erfassen, ist es notwendig, die unter a genannte terminologische Klärung (von der aktiven zur passiven Gerechtigkeit, bzw. von Aristoteles zur Bibel) aufzunehmen und hierfür fruchtbar zu machen. Demzufolge besteht die Gemeinschaftstreue Gottes darin, dass er den Menschen gemeinschaftstreu macht. Aber was heißt das? c) Die Antwort gibt Luther, indem er die Gerechtigkeit (= Gemeinschaftstreue) Gottes interpretiert als Gottes Barmherzigkeit 58 und die Gerechtigkeit (= Gemeinschaftstreue) des Menschen interpretiert als dessen Glauben 59. Um dies zu verstehen, ist freilich der Hinweis wichtig, dass für Luther – wie für Paulus – „Glaube“ nicht als Für-wahr-halten oder Zustimmung bedeutet, sondern Vertrauen. Das heißt aber: Gottes Barmherzigkeit ist Gottes Gemeinschaftstreue (gegenüber dem Menschen). Der Glaube des Menschen ist als das (vom ersten Dekaloggebot geforderte) lebensbestimmende Vertrauen auf Gott die Gemeinschaftstreue des Menschen (Gott gegenüber). So erweist Gott sich im Geschehen der Rechtfertigung als gerecht, d. h. als gemeinschaftstreu, indem er dem sündigen Menschen seine Barmherzigkeit erweist. Diese Barmherzigkeit Gottes weckt im Menschen das Vertrauen, in dem dessen Gemeinschaftstreue Gott gegenüber besteht. Der dem Menschen barmherzige Gott und der auf diese Barmherzigkeit Gottes vertrauende Mensch sind die beiden Pole des Rechtfertigungsgeschehens, das Luther in der Beschäftigung mit dem biblischen Text entdeckt und das sich ihm als befreiende Botschaft erschließt. 57 So 507,7 f.: „Gerechtigkeit …, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht“; 507,21 – 23: „die Gerechtigkeit …, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt“ sowie 507,25 f.: „Gerechtigkeit …, durch die wir gerechtfertigt werden“. 58 507,6 – 8: „Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht …“ Vgl. auch den Beleg aus WA 5, 144,1 – 3 (s. o. Anm. 55). 59 507,4 – 6: „Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als diejenige, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben …“.
Stimmt Sanders’ Verhältnisbestimmung?
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d) Am Ende des zitierten Textstückes verweist Luther darauf, dass er später Augustins Schrift „De spiritu et littera“ gelesen habe und dabei wider Erwarten darauf gestoßen sei, „dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich interpretiert [als eine solche], mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt.“ (507,21 – 23). Luther fügt jedoch an: „Und obwohl das noch unvollkommen gesagt ist und er über die Anrechnung nicht alles ganz klar ausführt, wollte er doch die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wissen, durch die wir gerechtfertigt werden“ (507,23 – 26). Damit stoßen wir nun zum erstenmal bei Luther auf den Begriff der „Anrechnung“ bzw. „Zurechnung“ (lat. „imputatio“ bzw. „reputatio“), der im Zentrum der Kritik von Sanders steht, weil er davon überzeugt ist, dass „Zurechnung“ etwas bloß Fiktives bedeute. Bei Luther selbst wird dieser Begriff eingeführt, weil er den von Augustinus verwendeten Begriff der „Bekleidung“ bzw. des „Bekleidetwerdens“ für nicht wirklich angemessen hält. Fragt man, worin genau der Unterschied zwischen der Metapher „Bekleidung“ und der Metapher „Zurechnung“ besteht, so zeigt sich, dass „Bekleidung“ einen Vorgang bezeichnet, der keine personale Reaktion oder Stellungnahme impliziert, sondern z. B. auch an einer Leiche oder an einer Puppe vollzogen werden kann. „Zurechnung“ hingegen bezeichnet einen Vorgang, der nur dann für das Subjekt wirksam wird, wenn das Zugerechnete bzw. der Akt der Zurechnung durch ein personales Subjekt anerkannt, akzeptiert und damit bestätigt wird. Damit befinden wir uns ganz offensichtlich an einem Punkt, der für Luther – in seiner Abgrenzung von Augustin – ebenso wichtig war wie für Sanders hinsichtlich seiner Abgrenzung der Theologie Luthers von der paulinischen Theologie. Dem soll im folgenden, vierten und letzten Teil unserer Beobachtungen und Überlegungen nun noch genauer nachgegangen werden.
4. Stimmt Sanders’ Verhältnisbestimmung zwischen der paulinischen und lutherischen Theologie? a) Wir sahen, dass Sanders anhand des Wortes „untadelig“ zwischen Paulus und Luther nicht nur einen Unterschied, sondern einen Gegensatz konstatiert: „Vor seiner Bekehrung zum Apostel Christi war er [sc. Paulus] … ,untadelig‘ hinsichtlich der ,Gerechtigkeit, die das Gesetz
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fordert‘ (Phil. 3,6).“60 „Als Pharisäer war er, was das Gesetz betraf, untadelig (Phil. 3,6), und in seiner Apostelzeit lebte er ,heilig und gerecht und untadelig‘ (1. Thess. 2,10; vgl. 1. Kor. 4,4).“61 Luther hingegen „litt unter Schuld … [und] interpretierte die paulinischen Stellen über ,Gerechtigkeit aus dem Glauben‘ so, als würde Gott einen Christen für gerecht erachten, selbst wenn er oder sie ein Sünder ist. … Luthers Ausdruck für die Verfassung des Christen war nicht Paulus’ ,untadelig‘ oder ,ohne Tadel‘ …“.62 Diese von Sanders vorgenommene Entgegensetzung ist mindestens zur Hälfte unrichtig. In seinem Rückblick auf die reformatorische Entdeckung sagt Luther: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein …“ (505,29 – 31). Das ist keine einmalige Aussage, sondern taucht in ähnlicher Form bei Luther mehrfach auf.63 Nun muss man noch hinzu nehmen, dass Paulus im unmittelbaren Anschluss an seine rückblickende Selbstbeurteilung als ,untadelig‘ – „nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert“ – fortfährt: „Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwenglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus 60 61 62 63
Paulus, S. 64. A. a. O., S. 132. A. a. O., S. 64. WA 21, 254,36 – 255,2: „Wenn je ein Mönch mit seinen Anstrengungen ans Ziel gekommen ist, dann hätte das auch bei mir der Fall sein müssen“ sowie WA 49, 529,15 – 19: „Ich war nicht mit weiber, geld, gut beladen, non Tyrannus, voveram 3 vota und hette mich selbs erwürget. Ich war heilig, schlug niemand tod quam me. Ich gieng hoch her, wolt mich unserm herrn Got mit leib und seel opffern. Es war ein grosse, treffliche geistlikeit, war ein großer heiliger orden, et tamen fui der fleischlichste tropff in terris.“ Dass Luthers untadelige Lebensführung auch von anderen bestätigt wurde, belegt der Text eines alten Erfurter Klosterbruders über Luther, den O. Scheel (Dokumente zu Luthers Entwicklung, Tübingen 19292, Nr. 534) veröffentlicht hat: „Affirmabat is Martinum Lutherum apud ipsos sancte vixisse exactissime regulam servasse et diligenter studuisse“ (dt. „Er bestätigte, dass Martin Luther bei ihnen heilig gelebt, die [Mönchs-]Regel ganz genau beachtet und sorgfältig studiert habe“)
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kommt, nämlich die Gerechtigkeit von Gott aufgrund des Glaubens“ (Phil 3, 7 – 9). Das heißt, dass Paulus das untadelige Leben, dessen Untadeligkeit er auch im Rückblick nicht in Frage stellt, für etwas völlig Wertloses, ja Schdliches erachtet, weil es aus dem Gesetz kam und ihm den Zugang zur Erkenntnis und zum Gewinnen Christi verschloss. Aber trotz dieser Parallele, die in beiden Fällen besagt, dass ein Mensch (Paulus und Luther) nicht am Tun dessen gescheitert ist, was das Gesetz fordert, sondern erkannt hat, dass das Tun des vom Gesetz Gebotenen nicht der Weg zum Heil ist, sollte man vorsichtig sein, nun im Widerspruch zu Sanders einfach eine Gleichheit zwischen Paulus und Luther in dieser Hinsicht zu behaupten. Denn es gibt gleichwohl einen gravierenden Unterschied64 : Dieser eine gravierende Unterschied hat zu tun mit der Tatsache, dass Luther sich schon während seiner Klosterzeit dessen bewusst war bzw. immer mehr bewusst wurde, dass er trotz seiner untadeligen Lebensführung, die nicht nur die Erfüllung aller Gebote des Dekalogs, sondern auch die der Mönchsgelübde einschloss, vor Gott nicht bestehen könne. Er wusste sich trotz der vollständigen Gesetzeserfüllung „vor Gott … als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen“ (505,30). Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass dies auch für Paulus so gegolten hat oder gegolten haben könnte. Dass er durch seinen Eifer in der Verfolgung65 der Christen eine innere (Heils-) Unsicherheit kompensiert hätte, wäre eine psychoanalytische Spekulation, für die die vorliegenden Schriften des Apostels m. E. keinen An64 Dieser Unterschied besteht nicht darin, dass Paulus im 1 Thess auch von seinem Aufenthalt bei den Thessalonichern sagen kann, er sei „untadelig“ bei ihnen gewesen (1 Thess 2,10) und dass er den Thessalonichern wünschen kann, Gott möge sie „unversehrt“ und „untadelig“ für die Ankunft Jesu Christi bewahren (1 Thess 5,23). Beides könnte Luther uneingeschränkt genauso sagen; denn die erste Stelle bezieht sich nicht auf die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott, sondern vor den Menschen, und das zweite ist nicht eine Feststellung über einen Tatbestand, sondern eine Bitte an Gott. Und selbst die Aufforderung an Christen, untadelig zu leben, wäre mit Luthers theologischem Ansatz und seinem Gesetzesverständnis vollständig vereinbar. Unvereinbar wäre nur die Aussage, dass wir als Christen aufgrund unseres Gesetzesgehorsams vor Gott gerechtfertigt sind. Doch dazu später mehr. 65 Diese Verfolgertätigkeit hat Paulus nie gerechtfertigt oder entschuldigt, sondern stets rückblickend als schwere Sünde empfunden und gekennzeichnet. Sie war für ihn der Grund, warum er von sich sagte: „Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, daß ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe“ (1 Kor 15, 9). Von daher und in diesem Sinne kann man auch das Urteil in 1 Tim 1, 13 – 15 als paulinisch bezeichnen.
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haltspunkt bieten. Ihn hat die Erkenntnis, dass der Mensch nicht durch das Tun des Gesetzes, sondern durch den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus vor Gott gerecht wird, offensichtlich getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel.66 Von da aus erscheint die These als gut begründet, dass die seelische Verfassung, in der Paulus und Luther sich befanden, als ihnen das „Damaskuserlebnis“ bzw. die „reformatorische Entdeckung“ zuteil wurde, eine ganz unterschiedliche war. Dafür spricht auch, dass Paulus – der Apostelgeschichte zufolge – durch diese Erfahrung zu Boden geworfen wurde, das Augenlicht verlor und zunächst nach Orientierung suchen musste (Apg. 9, 1 – 19), während Luther seine Situation mit den Worten beschreiben konnte: „Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein“ (507,9 – 11). Die beiden gemeinsame Einsicht, dass das Tun der Werke des Gesetzes nicht der Weg zum Heil ist, sondern dass das Heil empfangen wird durch den Glauben an Jesus Christus, trifft den Pharisäer Paulus und den Mönch Luther nicht nur in historisch und religionsgeschichtlich, sondern allem Anschein nach auch in biographisch ganz unterschiedlichen Situationen und löst darum auch ganz unterschiedliche Reaktionen und Konsequenzen aus.67 Aber es ist noch eine entscheidende Frage völlig offen: Warum fühlt der als Mönch untadelig lebende Martin Luther sich vor Gott als Sünder? Die Antwort, die Luther in seinem Rückblick aus dem Jahr 1545 gibt, ist nicht ganz einfach zu verstehen. Folgende Gedanken lassen sich dem Text aber entnehmen: Obwohl Luther alles tat, was Gottes Gesetz und die Ordensregel von ihm verlangten und er daher eigentlich der kirchlichen Bußlehre zufolge im inneren Frieden mit Gott hätte leben müssen, muss er ehrlicherweise an sich Folgendes feststellen: – Er konnte nicht darauf vertrauen, dass er durch seine Genugtuung versöhnt sei (505,30 f.). 66 Bei Luther war es bekanntlich ein Blitz, der ihn aus dem bürgerlichen Leben ins Kloster getrieben hat. 67 Wenn dies gemeint sein sollte mit dem Satz: „Paul was no Luther before Luther“ (H. Räisänen, Paul and the Law [s. o. Anm. 1], S. 231), dann könnte und müsste man diesem Satz nachdrücklich zustimmen. Da dem bei Räisänen jedoch der Halbsatz vorangeht: „Paul‘s critique of the Law was not born out of any personal moral difficulties“ (ebd.), muss man wohl daran zweifeln, dass diese Deutung der Intention Räisänens entspricht.
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– Er liebte nicht, sondern hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott (505,31 – 33). – Er war mit ungeheurem Murren empört über Gott, weil dieser nicht nur durch das Gesetz, sondern auch durch das Evangelium den Sünder mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedroht (505,31 – 40). Die härteste selbstkritische Diagnose liegt zweifellos in dem Satz: Ich liebte nicht, nein, hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott. Denn hierin zeigt sich, dass Luther bei allem Tun dessen, was das Gesetz von ihm fordert, doch das nicht erbringen kann, worauf es bei alledem und in alledem ankommt: Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft (Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30 und Lk 10,27).68 Luther lebt also und erlebt sich im Zustand der Grundsnde, der fehlenden Gottesliebe, und das ist sein Problem.69 Aber fragen wir weiter: Warum liebt Luther diesen gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht? Luther hat an diesem Punkt in seinen Klosterkämpfen eine der tiefreichendsten religiösen Entdeckungen gemacht: Solange ein Mensch den Willen Gottes zu erfüllen versucht aus Furcht vor der Strafe Gottes (Hölle) oder aus Hoffnung auf den Lohn Gottes (Himmel), kann er zwar jede Handlung vollziehen, die vom Gesetz geboten ist, aber er liebt dabei nicht Gott, sondern immer nur sich selbst. Das Motiv, der Strafe, dem Zorn, dem Gericht Gottes zu entgehen, hat seinen einzigen Grund in dem Willen oder Hoffen des Menschen, sich selbst vor der Strafe Gottes in Sicherheit zu bringen und das Heil zu gewinnen. Und der „gerechte Gott“ (im Sinne der iustitia activa) ist dabei dasjenige Gegenüber, von dem die Bedrohung ausgeht und die Belohnung erhofft wird. Wenn nun „Gerechtigkeit Gottes“ das wäre, was Paulus bei allen Lehrern gelernt hat, und wenn diese Gerechtigkeit auch im Evangelium offenbart wäre (Röm 1,17), dann würde durch das Evangelium nicht Liebe zu Gott ermöglicht, sondern endgültig unmöglich gemacht, 68 Die Situation entspricht insofern dem, was Paulus 1 Kor 13,1 – 3 beschreibt, nämlich dass, wenn ein Mensch alles Erdenkliche könnte, hätte und täte – sogar alle seine Habe den Armen gäbe und seinen Leib verbrennen ließe –, aber die Liebe nicht hätte, es nichts bzw. nichts nütze wäre. 69 Die Diagnosen von E. P. Sanders (Paulus, S. 64): „Luther war von der Tatsache überwältigt, daß er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ,Sünder‘ empfand: Er litt unter Schuld. Paulus dagegen litt nicht unter einem Gewissen, das sich schuldig fühlte“, und von Räisänen (Paul and the Law, S. 231): Luther habe „personal moral difficulties“ gehabt, wirken verglichen damit nicht nur außerordentlich verharmlosend, sondern in erschreckender Weise verständnislos.
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indem der Mensch auch durch das Evangelium unter die Drohung der strafenden Gerechtigkeit Gottes gestellt bliebe. Mit anderen Worten: Luther erkennt, dass die Forderung, Gott zu lieben, angesichts der gleichzeitig bestehenden Strafandrohung durch die „Gerechtigkeit Gottes“ die Struktur eines „Teufelskreises“ hat, aus dem es kein Entrinnen gibt.70 Und dieser Teufelskreis scheint von Gott, dem Geber des Gesetzes und des Evangeliums, gewollt zu sein. Der Mensch untersteht einer strukturell unerfüllbaren Forderung und wird für ihre Nichterfüllung von dem Gott, der diese Forderung erhoben hat, dann auch noch bestraft. Auf eine solche Situation kann ein Mensch mit Verzweiflung, Hass, Resignation oder Unterwerfung reagieren – aber nicht mit Liebe. Ein solcher Teufelskreis kann nur von außen aufgesprengt werden, und er wird im Falle Luthers „durch Gottes Erbarmen“ (507,1) dadurch aufgesprengt, dass Luther „auf die Verbindung der Wörter“ aufmerksam wurde, nämlich: „,Der Gerechte lebt aus Glauben‘“ (507,2 – 4). Anhand dieses Zusammenhangs zwischen Gerechtigkeit und Glauben macht Luther eine exegetische bzw. philologische Entdeckung von größter Bedeutung: Die Prämisse, von der er bei alledem ausgegangen war, nämlich sein Verständnis von „Gerechtigkeit Gottes“ ist dem Text – ja dem ganzen biblischen Kanon – unangemessen. Mit dieser verkehrten Prämisse bricht aber das ganze schreckliche Gebäude von unerfüllbarer Forderung und gleichwohl bestehender Strafandrohung wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Wenn Gottes Gerechtigkeit seine Barmherzigkeit ist, durch die er im Menschen Vertrauen weckt, dann ist nicht nur dieser Teufelskreis durchbrochen, sondern dann geschieht durch die Verkündigung des Evangeliums genau das, wozu das Gesetz – als Forderung und Drohung – nicht in der Lage war: Der Mensch kann und wird nun Gott und seinen Nächsten lieben, die Gebote erfüllen, weil er es nicht mehr aus Angst vor Strafe zu tun versucht, sondern aus Dankbarkeit für die ihm zuteilgewordene Barmherzigkeit Gottes tut. Bei allem Respekt: Diese Einsichten Luthers haben sich E. P. Sanders auch nicht von ferne erschlossen. Er sieht in Luther einen Menschen, der Schuld- und Gewissensprobleme hat und sich darum durch den Gedanken einer zugerechneten, fiktiven Gerechtigkeit eine 70 Dies hat Luther vor allem in seinem Traktat: Von der Freiheit eines Christenmenschen/Tractatus de libertate christiana aus dem Jahr 1520 dargestellt (WA 7, 12 – 38 und 49 – 73/LDStA 2, 120 – 185). Diesem Text sind Luthers wesentliche Einsichten über die Struktur dieses Teufelskreises und seine Durchbrechung zu entnehmen.
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Lösung zurechtlegt, an die er glauben kann, die ihm hilft, mit seinen Schuld- und Gewissensproblemen zu leben und die ihn doch nicht nötigt, sein Leben radikal zu ändern und am Willen Gottes auszurichten. Das alles hat mit Luther – klar und deutlich gesagt – nichts zu tun. b) Aber bleibt nicht doch der dunkle, unklare, missverständliche Begriff der „Zurechnung“ in Luthers Rechtfertigungslehre bestehen, der eine solche Interpretation zumindest möglich macht? 71 Ja, fällt es nicht auf, dass Luther ausgerechnet dies an Augustin kritisiert, dass er zwar auch die Gerechtigkeit Gottes ähnlich erkläre, wie sie sich Luther erschlossen hat, nämlich als eine solche, „mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt“, dass Augustin aber dabei in bezug auf die Zurechnung der Gerechtigkeit „nicht alles ganz klar“ ausgeführt habe (507,22 – 24)? Tatsächlich spielt der Begriff und Gedanke der Zurechnung (imputatio bzw. non-imputatio) in Luthers Rechtfertigungslehre eine große und zentrale Rolle. Man kann – etwas überspitzt – im Sinne Luthers sagen: Durch seine Anrechnung- und Nicht-Anrechnung übt Gott die Barmherzigkeit (sedaqah/dijaios}mg) aus, durch die der Glaube entsteht, der das Heil empfängt, ja in gewisser Hinsicht selbst das Heil ist. Der Begriff der (Nicht-)Anrechnung ist aber – wie man auch an der Kritik von E. P. Sanders sehen kann – sehr missverständlich, weil er den Eindruck erwecken kann, damit werde wahrheitswidrig eine Fiktion, ein Schein, ein Als-ob aufgerichtet, dem keine Realität zukommt. Dass dies eine ganz irreführende, ja verkehrte Vorstellung ist, zeigt sich jedoch relativ schnell, wenn man mit dem Gedanken der Nicht-Anrechnung einsetzt72. Die Nicht-Anrechnung von Sünde oder Schuld besagt gerade nicht, dass der Anschein erweckt wird, als sei diese Sünde oder Schuld nicht begangen worden, im Gegenteil: sie ist geschehen, 71 Hierfür sei noch einmal nachdrücklich verwiesen auf die in Anm. 10 bereits genannte Arbeit von Sibylle Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008. 72 Wichtig ist dabei übrigens, dass Nicht-Anrechnung nicht gleichgesetzt oder verwechselt wird mit Vergessen. Selbst wenn uns die Beziehung zu einem Menschen wichtiger ist als das, was er uns angetan hat, und wir deshalb willens und in der Lage sind, ihm seine Schuld nicht anzurechnen, muss das nicht heißen, dass wir diese Tat oder diese Schuld vergessen (können). Das kann sich zwar gelegentlich so einstellen und ist dann eine besonders beglückende und befreiende Erfahrung, aber es kann nicht geplant und bewusst herbeigeführt oder gefordert werden.
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aber sie wird von dem, der von ihr betroffen ist, nicht angerechnet, d. h. sie spielt in der Beziehung keine Rolle, sie trennt die beiden Partner nicht (länger), sie wird behandelt, als sei sie nicht geschehen. Dies ist alles andere als eine Fiktion oder Lüge, es ist der Vorgang von Vergebung, durch den einem Menschen signalisiert wird, dass die Beziehung zu ihm wichtiger ist und wichtiger genommen wird als das, was dieser Mensch zur Störung dieser Beziehung getan hat. Auf eine solche Nicht-Anrechnung hat kein Mensch – sei es Gott oder anderen Menschen gegenüber – Anspruch. Es kann sogar sein, dass jemand sich außer Stande sieht, ein erlittenes Unrecht jemals zu vergeben, es also nicht (mehr) anzurechnen, sondern dass er es nur vergelten oder nur nachtragen kann. Mit dem Gedanken der Nicht-Anrechnung haben wir aber nur eine erste Annäherung vollzogen in Richtung auf den Gedanken der Anrechnung bzw. Zurechnung. Der Gedanke der Anrechnung selbst ist noch schwieriger, weil es tatsächlich entweder unklar oder unehrlich wirkt, wenn einem Menschen etwas angerechnet oder zugerechnet wird, was gar nicht er getan hat, sondern ein anderer. Trotzdem muss man sagen, dass der Gedanke der Anrechnung mit dem der NichtAnrechnung – bei Paulus, bei Luther und überall – innerlich notwendig zusammenhängt; denn die Nicht-Anrechnung ist ja zunächst nur eine Negation, die die Frage noch offen lässt, wie oder als wer der Partner nun zu betrachten ist. Mit anderen Worten: die Anrechnung ist die Position, die der Negation der Nicht-Anrechnung korrespondiert. Im zwischenmenschlichen Bereich wird dies häufig so gelöst, dass wir im Vorgang der Nicht-Anrechnung über das schuldhafte Geschehen zurück- oder hinausgreifen und uns orientieren an anderen, positiven Erfahrungen, die wir mit diesem Menschen gemacht haben und in Zukunft wieder zu machen hoffen. Das frühere oder das künftige Bild tritt dann an die Stelle dessen, wodurch die Störung der Beziehung stattgefunden hat. In der Beziehung Gottes zum Menschen ist es grundsätzlich ebenso, nur dass hier die Erinnerung und die Hoffnung weiter ausgreift und umfassender ist. Es ist die dem Menschen ursprünglich von Gott gegebene Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit, die in Jesus Christus bereits unter den Bedingungen der Zeit erfüllt ist und deren Erfüllung und Vollendung wir für uns im Eschaton erhoffen dürfen. Er ist das Ebenbild Gottes (2 Kor 4,4 und Hebr 1,3) – aber nicht so, dass die übrigen Menschen davon ausgeschlossen wären, sondern so, dass sie dazu bestimmt sind, durch den Glauben schon jetzt daran und an der in
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ihm verwirklichten Gerechtigkeit teilzuhaben (Röm 8,29). Genau diese Anteilhabe am Bild des Sohnes Gottes, der das Ebenbild Gottes und damit die Erfüllung der Bestimmung des Menschen ist, ist das Modell, an dem Luther sich ausrichtet, wenn er davon spricht, dass den Glaubenden die Gerechtigkeit Christi angerechnet bzw. zugerechnet wird. Insofern lässt sich nun sagen: Die Barmherzigkeit Gottes (sedaqah/dijaios}mg) besteht darin, dass Gott den Sündern die Gerechtigkeit Christi anrechnet und zuspricht und so in ihnen den Glauben weckt, der die Gerechtigkeit vor Gott ist. 73 In diesem Sinne gilt für Luther: „Die christliche Gerechtigkeit besteht nämlich aus diesen beiden [Elementen]: dem Glauben des Herzens und der Anrechnung Gottes“74. Das heißt aber: „Die Gerechtigkeit Christi ist eine rein passive, die wir nur empfangen, bei der wir nichts wirken, sondern erleiden, dass ein anderer in uns wirkt, nämlich Gott“.75 Dass die beiden zuletzt zitierten Aussagen Luthers aus seinem Großen Galaterkommentar stammen, ist kein Zufall, weil er dort, insbesondere in Gal 2, 15 – 21 den paulinischen Gedanken ausgedrückt findet, dass der Glaubende mit Christus gekreuzigt und damit dem Gesetz gestorben ist, zugleich aber im Glauben an Christus lebt, so dass ebenso gesagt werden kann: „Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Auch hier wäre ich vorsichtig, zu behaupten, die Interpretation der Beziehung zwischen dem Glaubenden und Christus sei bei Paulus und Luther vollkommen gleich. Die sprachlichen Mittel und die darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen weisen durchaus Differenzen auf. Aber an einem Punkt besteht jedenfalls – entgegen dem Urteil von E. P. Sanders – vollständige Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Luther: das ,paulinische‘ Sein in Christus und die ,lutherische‘ Anrechnung der Gerechtigkeit Christi sind nicht fiktiv, sondern real verstanden. Das schöpferische Wort, durch das Gott den Gottlosen durch den Glauben gerecht macht, ist nicht weniger wirkmächtig als das schöpferische 73 Was hier kurz in einem Satz zusammengefasst ist, wird in der Arbeit von S. Rolf (s. o. Anm. 10 und 71) entfaltet in Gestalt der Anrechnung des Glaubens (also der Erfüllung des ersten Gebotes) als Gerechtigkeit und in der Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, auf den sich der Glaube ausrichtet. Es handelt sich also um eine zweieinige Anrechnung, die in beiden Aspekten nichts mit einer Fiktion oder einem bloßen Als-ob zu tun hat. 74 WA 40/1, 364,11 f.: „Iustita enim Christiana his duobus constat, scilicet fide cordis et imputatione Dei“. 75 WA 40/1, 41,3 – 5: „Christiana iustitia est mere … passiva, quam tantum recipimus, ubi nihil operamur sed patimur alium operari in nobis scilicet deum.“
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Wort, durch das Gott dem ruft, was nicht ist, dass es sei, und als das neuschaffende Wort, durch das Gott die Toten ins ewige Leben ruft (Röm 4,17). Es wird sich im nächsten Unterabschnitt noch einmal ganz deutlich zeigen, dass es für Luther keine Gerechtigkeit aus Glauben gibt, die nicht alsbald und als solche eine den Menschen radikal verändernde Wirkung hat. D. h.: Seine Rechtfertigungslehre ist immer effektiv zu verstehen. Das aber ist kein Gegensatz zu einem forensischem Verständnis. Vielmehr ist bei Luther der Zuspruch des Evangeliums, also der Freispruch von der Sünde und die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi die Weise, wie Gott im Menschen Glauben wirkt und ihn so wirksam verndert. Das Forensische und Effektive gehören bei Luther untrennbar zusammen. Eine bloß forensisch gedachte Rechtfertigung wäre für Luther gar keine Rechtfertigung. Eine bloß effektiv gedachte Rechtfertigung wäre für Luther keine mit dem personalen Sein des Menschen vereinbare Rechtfertigung. Das verbum externum des Evangeliums, das die Vergebung der Sünden und die Anrechnung der Gerechtigkeit Gottes zuspricht, ist das unverzichtbare Mittel und Instrument, durch das Gottes Rechtfertigungshandeln am Menschen geschieht. Auch von diesem Zusammenhang muss man leider sagen, dass er sich E. P. Sanders nicht – jedenfalls nicht voll – erschlossen hat. c) E. P. Sanders konstatiert auch hinsichtlich der Frage, was die Rechtfertigung für das Leben des Christen bedeutet, einen tiefen Gegensatz zwischen Paulus und Luther: „The passive verb ,to be righteoused‘ in Paul’s letters almost always means to be changed, to be transferred from one realm to another: from sin to obedience, from death to life, form being under the law to being under grace … Luther saw the world and the Christian life quite differently. He was impressed by the fact that, though a Christian, he nevertheless felt himself to be a ,sinner‘: he suffered from guilt.“76 Sanders erweckt hier – und an mehreren anderen Stellen – den Eindruck, Luthers Rechtfertigungsverständnis zufolge ändere sich nicht die Person, sondern nur „Gottes Meinung von ihr“77. Prüfen wir diese Annahme anhand eines ge-
76 Sanders, Paul S. 48 f. Teile dieser Passage fehlen in der deutschen Ausgabe. 77 Sanders, Paulus S. 91.
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wichtigen, klassischen Texts Luthers, seiner Vorrede zum Römerbrief 78 : „Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den etliche für Glauben halten, und wenn sie sehen, dass kein Besserung des Lebens noch gute Werke folgen und doch vom Glauben viel hören und reden können, fallen sie in den Irrtum und sprechen, der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke tun, solle man fromm und selig werden. Das macht, wenn sie das Evangelium hören, so fallen sie daher und machen sich aus eignen Kräften einen Gedanken im Herzen, der spricht: ich glaube; das halten sie dann für einen rechten Glauben, aber wie es ein menschliches Gedicht und Gedanke ist, den des Herzens Grund nimmer erfährt, also tut er auch nichts und folgt keine Besserung hernach. Aber Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, Joh 1, 13, und tötet den alten Adam, macht uns ganz zu andern Menschen von Herz, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, dass unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun. Wer aber solche Werke nicht tut, der ist ein glaubensloser Mensch, tappt und sieht um sich nach dem Glauben und guten Werken und weiß weder, was Glaube oder gute Werke sind, und wäscht und schwätzt doch viel Worte vom Glauben und guten Werken. Glaube ist ein lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal darüber stürbe, und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen, welches der heilige Geist tut im Glauben. Daher ohne Zwang willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Lieb und Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, also, dass es unmöglich ist, Werke vom Glauben zu scheiden, ebenso unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werden.„79 Dieser Text gibt Luthers Verständnis von „Glauben“ und vor allem den unlöslichen Zusammenhang zwischen Glauben und guten Werken 78 Dieser Text hat bekanntlich insofern eine große kirchengeschichtliche Wirkung gehabt, als John Wesley seine grundlegende Bekehrungs- bzw. Heilserfahrung beim Hören dieses Textes gemacht hat. 79 Vorreden zum Neuen Testament, zitiert nach M. Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 6, München 19683, S. 89 f., leicht modernisierte Orthographie.
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klar und eindrucksvoll wieder. Dabei ist das Entscheidende, dass er Glauben und gute Werke nicht im Sinne Sollensforderung miteinander verbindet, sondern – sehr viel stärker – einen Seinszusammenhang sieht. Glaube kann gar nicht ohne gute Werke sein. Ein guter Baum – so Luthers Lieblingsmetapher aus Mt 7, 17 – 20 – soll nicht gute Früchte bringen, sondern er bringt sie mit innerer Notwendigkeit hervor. Was aber ist, wenn diese Konsequenz ausbleibt? Luthers Antwort ist klar und folgerichtig: „Wer aber solche Werke nicht tut, der ist ein glaubensloser Mensch, tappt und sieht um sich nach dem Glauben und guten Werken und weiß weder, was Glaube oder gute Werke sind, und wäscht und schwätzt doch viel Worte vom Glauben und guten Werken.“80 Wenn E. P. Sanders sagt: „Zu den eindrucksvollsten paulinischen Anschauungen zählt diese, daß wer in Christus ist, bereits den Wandlungsprozess begonnen hat, der bei der Wiederkehr des Herrn seinen Höhepunkt erreicht“81, dann muss man sagen: Genau dies ist auch Luthers Überzeugung.82 In diesem Sinne unterscheidet Luther schon im Sermon von der zweifachen Gerechtigkeit im Jahr 1518 zwischen der Gerechtigkeit Christi, die für den Menschen eine fremde, von außen kommende, ihm aber durch den Glauben zuteilwerdende Gerechtigkeit ist, von der zweiten Gerechtigkeit, die in uns als „ein Werk, Frucht und Folge der ersten Gerechtigkeit“ entsteht. „Die [zweite] Gerechtigkeit setzt die erste [im Leben] durch; weil sie immer daran arbeitet, den alten Adam zu vernichten und den Leib der Sünde zu zerstören. Deshalb hasst sie sich selbst und liebt den Nächsten; trachtet nicht nach dem Ihren, sondern nach dem Wohl des anderen.“83 Die erste Gerechtigkeit ist diejenige, die der Mensch nur im Glauben von Gott empfangen kann. Von der zweiten Gerechtigkeit dagegen gilt für Luther: Sie „ist die unsere und uns eigene. Zwar können wir sie nicht alleine zuwege bringen, jedoch insofern mittun, wie wir mit jener ersten, der fremden Gerechtigkeit zusammenwirken“84. Hier zeigt sich erneut, dass die „Gerechtigkeit“ Luther zufolge keineswegs eine fiktive Größe ist, 80 S. o. am Ende des zweiten Absatzes aus der zitierten Vorrede zum Römerbrief. 81 Paulus, S. 91. 82 Vgl. dazu z. B. die abschließenden Thesen der Disputatio de homine von 1535 (WA 39/1, 177, 3 – 12/LDStA 1, 66,8 – 17). 83 WA 2, 147,12 – 14/LDStA 2, 72,16 – 19: „Haec iustitia perficit priorem, quia semper laborat, ut Adam perdatur et destruatur corpus peccati: ideo odit se et diligit proximum, non quaerit quae sua sunt sed quae alterius …“. 84 WA 2, 146,36 f./LDStA 2, 72,1: „Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur eam, sed quod cooperemur illi primae et alienae.“
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sondern dass sie sich im Leben des Menschen durchsetzt und dabei unser Mitwirken in Anspruch nimmt. d) Zu den Punkten, an denen Sanders einen Gegensatz zwischen Paulus und Luther sieht, gehört auch die Frage, welche Rolle die Snde im Leben des Christen spielt. Dabei vertritt Sanders die Auffassung, dass Paulus (wie auch Petrus) sich weder vor ihrer Begegnung mit Christus noch nach ihr als Sünder fühlten, sondern – aufgrund ihrer Gesetzestreue – „innocent enough“85 waren und sich fühlten. Luther hingegen „war von der Tatsache überwältigt, daß er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ,Sünder‘ empfand“86. Nun ist es zum Verständnis der Position Luthers wichtig, dass er spätestens seit seiner Schrift gegen Latomus aus dem Jahre 152187 in der Sündenlehre bzw. im Sündenbegriff unterscheidet zwischen der herrschenden Sünde und der beherrschten Sünde (peccatum regnans vs. peccatum regnatum). Der Übergang vom einen zum anderen und damit die Entmachtung der Sünde erfolgt nach Luther durch die Taufe88. Luther vergleicht dies mit dem Vorgang, durch den ein Räuber gefangen und in Ketten gelegt wird. Er bleibt ein Räuber, seine Macht ist gebrochen, aber es besteht ständig die Gefahr, dass er wieder freikommt und erneut sein Unwesen treibt. Dieses zweifache Verständnis der Sünde entspricht genau dem zweifachen Verständnis der Gerechtigkeit, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war: Durch die Zurechnung der fremden Gerechtigkeit Christi ist die Macht der Sünde gebrochen, sie herrscht nun nicht mehr, sondern Christus herrscht. Aber die Macht der Sünde ist nicht 85 Paul, S. 48. Der Gesamtzusammenhang heißt: „When Paul wrote that he and Peter, though previously not ,Gentile sinners‘, had been righteoused by faith in Christ (Gal 2:15 – 16), he did not mean that they had been guilty but were now innocent. They had previously been innocent enough, not ‘sinners‘. When they were ‘righteoused‘ they were made one person with Christ (Gal. 3:28), or, as Paul put it in another letter, they had become part of a ‘new creation‘ (2 Cor. 5:17 …)“. Ich sehe nicht, wie man diese Aussagen von Sanders mit Röm 7,7 – 25 und 1 Kor 15,9 in Einklang bringen kann. Doch davon soll im Folgenden, vor allem unter e, noch die Rede sein. 86 E. P. Sanders, Paulus, S. 63 f. 87 WA 8,43 – 128/LDStA 2, 187 – 399, bes. WA 8,89 – 94/LDStA 2, 298 – 313. 88 WA 8, 91,24 f/LDStA 2, 304,23 f..: „Ita peccatum per baptismum in nobis captum, iudicatum prorsusque infirmatum, ut nihil possit, mandatur penitus abolendum“ (dt.: „So ist die Sünde durch die Taufe in uns gefangen, verurteilt und ganz schwach geworden, dass sie nichts vermag; es wird geboten, sie sei gänzlich zu vernichten“ LDStA 2, 305,29 – 31).
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vollkommen beseitigt, sondern als ständige Versuchung gegenwärtig. Und hierfür beruft sich Luther immer wieder auf Paulus, insbesondere auf Röm 6. Auf dem Hintergrund von Röm 1 – 3, wo Paulus den Nachweis zu führen versucht, dass alle – Juden wie Heiden – Sünder sind (Röm 3,23), versteht er die Taufe als ein Sterben mit Christus, das zugleich Befreiung von der Herrschaft der Sünde ist (Röm 6,6 – 14). Dabei fasst Paulus sich mit den Römern zusammen: „Wir wissen ja, daß unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, so daß wir hinfort der Sünde nicht dienen“ (Röm 6, 6). Gerade die Aufforderung, hinfort der Sünde nicht zu dienen in Verbindung mit der Aufforderung: „So laßt nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam. Auch gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind, und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit“ (Röm 6,12 f.) zeigt, dass auch aus der Sicht des Apostels die Macht der Sünde gebrochen ist und die Sünde mit der Zugehörigkeit zu Christus unvereinbar ist, dass aber gleichwohl die Sünde als Realität und ständige Versuchung da ist und auf dem Sprung, ihre Macht wiederzugewinnen. Und auch die Form, in der die Sünde im Leben des Christen wirklich ist und ihre Macht und Herrschaft wiederzugewinnen trachtet, ist bei Paulus und Luther zumindest ähnlich, wenn nicht gleich gesehen: Es ist die Begehrlichkeit (concupiscentia), die durch die Taufe nicht verschwunden oder beseitigt, sondern „nur“ entmachtet worden ist. Deswegen gibt es auch in der christlichen Gemeinde die Möglichkeit und die Realität der Sünde, nicht nur in Form der „Unzucht“ (1 Kor 5,1 – 5), sondern als Missachtung des Leibes Christi im Abendmahl (1 Kor 11,29 f.), als Heuchelei (Gal 2,11 – 14), als Zwietracht (Phil 4,2) oder als Rücksichtslosigkeit und Lieblosigkeit (1 Kor 14,20 – 3389). Und welche Bedeutung das Fehlen der Liebe bei allem Tun aus der Sicht des Paulus hat, geht aus 1 Kor 13,1 – 3 deutlich hervor. Insofern fällt es mir auch hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Christsein und Sünde schwer, zwischen Paulus und Luther eine erhebliche oder gar eine grundsätzliche Differenz festzustellen. 89 So interpretiert auch E. P. Sanders (Paulus, S. 136) diese Passage, wenn er schreibt: „Die Korinther ließen es an der Liebe untereinander fehlen, wie aus seiner Diskussion ihrer Versammlungen hervorgeht.“
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e) Zu den Punkten, an denen E. P. Sanders zumindest eine Differenz, wenn nicht einen Gegensatz, zwischen Paulus und Luther wahrnimmt, gehört schließlich auch Luthers Formel „simul iustus et peccator“90. Im Hintergrund dieser Formel steht die von Luther vor allem aus dem Römerbrief übernommene – und durch die eigene Erfahrung bestätigte – Erkenntnis, dass durch die Taufe die Sünde nicht gänzlich beseitigt ist, sondern in Form der Begehrlichkeit (concupiscentia) zurückbleibt und Gegenstand des lebenslangen Kampfes ist. Auch dort, wo Luther nicht die Formel „simul iustus et peccator“ gebraucht, hat er doch stets an dieser Sacheinsicht festgehalten. Es geht also bei der Frage nach dem „simul“ im Verhältnis zwischen Paulus und Luther immer zugleich um die Rolle des Begehrens bzw. der Begierde und ihre theologische Bewertung. Sanders geht hierbei im Blick auf Paulus so vor, dass er anerkennt, dass Paulus ebenfalls die Unvermeidlichkeit des Begehrens und darum auch die „Unvermeidlichkeit der Sünde“91 lehre, aber er vertritt die Auffassung, dass dies nur eine partielle, für das Denken des Apostels nicht zentrale Lehre darstelle. Er selbst vertritt – wie gesagt – die Auffassung, dass Röm 7 „keine zutreffende Beschreibung von Paulus’ vorchristlichem Leben und auch nicht vom nichtchristlichen Leben der Menschheit im allgemeinen [ist]. Vielleicht empfinden sich viele bisweilen so, doch Röm. 7 ist weder eine angemessene Analyse der Conditio humana noch eine Beschreibung der normalen menschlichen Psyche. „92. Statt seine eigene Paulusdeutung von Römer 7 her in Frage stellen zu lassen, wählt Sanders also, wie bereits oben gezeigt, den Weg, die Bedeutung und den Sinn von Röm 7 in Frage zu stellen und als einen „Schrei der theologischen Aporie“93 zu marginalisieren. 90 Bei Sanders, Paulus, S. 64; bei Luther WA 56, 269 f., 343 und 347. Wichtige Belegstellen für die Formel stammen schon aus der Römerbriefvorlesung Luthers von 1516, einem Text, in dem er sich noch auf dem Weg zur reformatorischen Entdeckung befand. Aber die Formel und die entsprechende Lehre sind bei Luther von der Römerbriefvorlesung an bis zum Großen Galaterkommentar (1531/35) nachzuweisen (so z. B. WA 40/1, 197,23 und 371,34). Zur Interpretation des damit Gemeinten sind bislang immer noch grundlegend R. Hermann, Luther These „Gerecht und Sünder zugleich“ (1930) Darmstadt 1960 sowie W. Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen (1951) 19613. 91 Sanders, Paulus, S. 125 und 127. 92 A. a. O., S. 127 f. 93 A. a. O., S. 128.
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Luthers These, der gerechtfertigte Mensch sei „simul iustus et peccator“, ist weder im Sinne eines kontradiktorischen Widerspruchs zu verstehen, noch in ein harmonisches teils-teils oder gar manchmalmanchmal aufzulösen, sondern von der Unterscheidung der zweifachen Gerechtigkeit her zu verstehen.94 Im Blick auf die erste, dem Menschen in der Taufe von Gott zugesprochene Gerechtigkeit gilt: Der Christ ist ganz gerecht. Im Blick auf die zweite Gerechtigkeit, die im Christenleben daraus entsteht und sich in Richtung auf die ewige Vollendung entwickelt, ist neben der wirksam werdenden Gerechtigkeit, also dem tatsächlich gelebten Vertrauen auf Gott und neben dem daraus resultierenden Gesetzesgehorsam, immer auch die Begierde vorhanden, die den Menschen von Gott und dem Nächsten abzieht und entfremdet. Im Blick auf diese zweite Gerechtigkeit gibt es also tatsächlich ein teils-teils von ,Krankheit‘ (durch die Sünde) und ,Heilung‘ (durch die Gerechtigkeit).95 Mit der Frage, ob die concupiscentia, also die Begierde, als solche Snde ist, stoßen wir auf eines der grundlegendsten anthropologischen und theologischen Probleme, das bis heute auch zwischen den christlichen Konfessionen nicht einmütig entschieden ist. In der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung zur Recht94 Es stellt ein sprachliches und inhaltliches Problem dar, dass Luther immer wieder (z. B. WA 56, 347,12 und WA 39/1, 564,4) sagt, die Christen seien „re vera“ Sünder, „reputatione Dei“ oder „in spe“ jedoch Gerechte. Dadurch kann der Eindruck entstehen, die Sünde sei wirklich, die Gerechtigkeit bloß erdacht. Dieses Missverständnis ist bei Sanders anzutreffen, und es gibt bei Luther Formulierungen, durch die er dieses Missverständnis mitzuverantworten hat. Die Einsicht, dass das, was Gott dem Sünder zuspricht und zurechnet, an Wirklichkeit der Realität der Sünde berlegen ist, ist bei Luther stets vorauszusetzen und mitzudenken – auch dort, wo sie sprachlich nicht ( jedenfalls nicht deutlich) zum Ausdruck kommt. 95 So z. B. WA 56, 347,8 – 13: „Vide nunc quod supra dixi, quod simul sancti, dum sunt iusti, sunt peccatores; iusti, quia credunt in Christum, cuius iustitia eos tegit et eis imputatur, peccatores autem, quia non implent legem, non sunt sine concupiscentia, sed sicut egrotantes sub cura medici, qui sunt re vera egroti, sed inchoative et in spe sane seu potius sanificati i. e. sani fientes …“ (dt. „Sieh nun, was ich oben gesagt habe, dass sie zugleich, weil sie Gerechte sind, Heilige sind und Sünder sind, Gerechte, weil sie an Christus glauben, dessen Gerechtigkeit sie bedeckt und ihnen angerechnet wird, Sünder aber, weil sie das Gesetz nicht erfüllen, nicht ohne Begehrlichkeit sind, sondern wie Kranke unter der Behandlung des Arztes. Sie sind tatsächlich Kranke, aber anfänglich und in der Hoffnung sind sie gesund oder besser Geheiltwerdende, d. h. gesund werdend).
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fertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichnet wurde, spielte gerade diese Frage bis zum Schluss eine entscheidende Rolle. Die römisch-katholische Kirche hat damals ihre Auffassung bekräftigt, dass die Konkupiszenz „eine auch nach der Taufe im Menschen verbleibende, aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung“ ist und „zum Einfallstor der Sünde werden kann“, aber nicht Sünde ist.96 Die von Luther – m. E. völlig zurecht – vertretene Auffassung, dass die Konkupiszenz als gottwidrige Neigung wirklich Sünde ist und nicht nur zum Einfallstor für die Sünde werden kann, wurde demgegenüber in der Gemeinsamen Offiziellen Stellungnahme nicht zum Ausdruck gebracht. Wo Paulus in diesem Streit steht, hängt davon ab, wie man Röm 7 versteht und gewichtet. Gegen die schon in der Reformationszeit vertretene Ansicht, es handle sich bei Röm 7,14 – 24 um so etwas wie einen Rückblick des Paulus auf seine vorchristliche Situation, der dann durch die Worte: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Röm 7,25) beendet wird, hat Luther schon damals eingewandt97, dass diese Deutung an V. 22 scheitert, wo Paulus sagt: „Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen“. Das – so Luther – kann erst der gerechtfertigte Mensch von sich sagen. Andererseits widerspricht es aber tatsächlich der paulinischen Theologie, dem Gerechtfertigten den Satz in den Mund zu legen: „ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“ (Röm 7,14). Insofern muss man Sanders zustimmen, „dass Röm 7 keine vollständige Analyse der Menschen und ihres Verhältnisses zu den Geboten darstellt.“98. Aber das heißt nun gerade nicht, dass es sich in Röm 7,14 – 25 um unwesentliche, marginale oder übertriebene Aussagen handeln würde. Paulus hat hier eine Tiefendimension von Sünde und Rechtfertigung entdeckt und angesprochen, die zunächst für Jahrhunderte unerkannt bliebt, bis sie durch Augustin und mehr als ein Jahrtausend später erneut durch Luther wiederentdeckt wurde. Diese Tiefendimension lokalisiert die Frage von Sünde und Gerechtigkeit im Herzen des Menschen, also in dem Zentrum des Fühlens, Wollens und Denkens, das der Mensch selbst nicht kontrollieren und willentlich verändern kann, von dem aus aber sein gesamtes Fühlen, Wollen, Denken und Handeln bestimmt wird. Davon soll nun noch abschließend kurz die Rede sein. 96 Anhang zur GOF, zitiert nach: epd-Dokumentation 36/99, S. 39. 97 WA 7, 104,3 – 8/LDStA 1, 96,21 – 27 und 97,25 – 33. 98 Sanders, Paulus, S. 126.
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f) Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass ein Begriff bei Sanders keine Rolle spielt, der für das paulinische Verständnis von Rechtfertigung zentral ist: das Sich-rühmen ( jauw÷shai). Durch diesen Begriff kann man auch einen Zugang dazu gewinnen, warum Paulus das Gesetz einerseits als „zum Leben gegeben“ und als „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,10 und 12) bezeichnen kann, es andererseits aber „Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2) nennt.99 Hierfür ist allerdings erforderlich, zwei Aspekte am Gesetz zu unterscheiden, die stets ungetrennt und untrennbar auftauchen: seinen Inhalt und seine Form (als Gesetz). Vom Inhalt des Gesetzes, wie er etwa im Dekalog (oder auch in der Bergpredigt) gegeben ist, kann und muss man mit Paulus sagen: er ist zum Leben gegeben, heilig, gerecht und gut. Aber indem dieser Inhalt nicht als Feststellung oder Verheißung, sondern in der Form des Gesetzes bzw. Gebotes erscheint, ist es zumindest naheliegend, dass diese Form – bewusst oder unbewusst – drei Eindrcke oder Interpretationen auslöst: – sie kann den Eindruck erwecken, das Gebotene sei für den Menschen erfllbar; – sie kann den Eindruck erwecken, die Erfüllung des Gebotenen sei die Leistung bzw. das Verdienst des Menschen; – sie kann den Eindruck erwecken, für die Erfüllung des Gebotenen stehe dem Menschen ein Lohn zu, auf den er Anspruch habe.100 Je stärker sich diese drei Interpretationen miteinander verbinden, umso naheliegender ist die Auffassung, dass das Tun der Werke des Gesetzes vor Gott einen Ruhm und Anspruch des Menschen begründe, also Gott letztlich zum Schuldner des Menschen mache. Damit aber wird das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf in kaum überbietbarer Weise pervertiert. Gott wird – um es in der Sprache Augustins zu sagen, vom Menschen gebraucht und benutzt (uti), statt dass der Mensch sich an Gott hingibt (frui). Und was Augustin hier formuliert, hat er ja aus 99 In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die paulinische Einsicht hinein, dass bei Abraham bereits die Glaubensgerechtigkeit zu entdecken ist, die älter und ursprünglicher ist als das Bemühen um die Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes (Röm 4, 1 – 25). 100 Auf eine weitere mögliche Interpretation und Reaktion verweist Paulus in Röm 7,7 – 9. Sie besteht darin, dass durch das Verbot „Du sollst nicht begehren!“ überhaupt erst die Begierde erweckt oder erregt wird. Ich teile an dieser Stelle die Auffassung von E. P. Sanders (Paulus, S. 127), dass dies ein Spezifikum des Verbotes der Begierde ist und sich nicht ohne Weiteres auf andere Geoder Verbote übertragen lässt.
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dem ersten Kapitel des Römerbriefs gelernt, wo Paulus die Grundsünde des Menschen darin sieht, dass er den Schöpfer und die Geschöpfe vertauscht. Die fatalen Fehldeutungen, die durch die Form des Gesetzes ausgelöst werden, ändern nichts an der Richtigkeit (Heiligkeit, Gutheit) seines Inhaltes. Deshalb wird das zum Leben gegebene Gesetz gegen seine eigene Intention zum Gesetz der Sünde und des Todes. Richtiger gesagt: Die Sünde als die verkehrte, nicht vom Vertrauen bestimmte Gottesbeziehung, nimmt das Gesetz zum Anlass, sei es im speziellen Fall, um die Begierde zu wecken, sei es generell, um den Menschen zum Selbstruhm und Anspruchsdenken vor Gott zu verführen. Auf dieser – bei Sanders gar nicht betretenen – Ebene knüpft Luther unmittelbar an Paulus an und entdeckt insbesondere in der spätmittelalterlichen Theologie der römischen Kirche reichlich Ansätze für eine Verleugnung der Glaubensgerechtigkeit zugunsten der Werkgerechtigkeit. Das ist natürlich – verglichen mit der paulinischen Situation – eine ganz andere Frontstellung, weil Luther sich ja mit seiner christlichen Kirche und ihrer Lehre kritisch auseinandersetzt, nicht mit dem Judentum oder Heidentum, das erst für den Glauben an Jesus Christus gewonnen werden soll. Aber wenn man diese Unterschiede in Rechnung stellt und im Blick behält, kann man wohl sagen, dass Luther auch und gerade an dieser Stelle vom Apostel Paulus entscheidende Einsichten übernommen hat, die für Kirche und Theologie damals und heute zu wichtig sind, als dass sie vergessen oder verleugnet werden dürften.
Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen Ich möchte in diesem Aufsatz Martin Luthers Theologie als Kunst des Unterscheidens vorstellen. Dieser Ansatzpunkt und die darin enthaltene These ist nicht originell. Sie wurde vor allem von Gerhard Ebeling1 des Öfteren als eine grundlegende Einsicht und als eine Zugangsmöglichkeit zu Luthers Theologie vertreten. Sie ist aber trotzdem noch nicht so ins allgemeine theologische und christliche Bewusstsein gedrungen, dass sie sich von selbst verstünde. Deshalb ist einiger Aufwand erforderlich, um die These plausibel zu machen, es sei das Besondere oder zumindest etwas Besonderes an Martin Luther, dass man an und bei ihm die Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen lernen könne – wobei ich unter „lernen“ sowohl „kennenlernen“ als auch „sich aneignen“ verstehe. Bevor ich aber auf diese bzw. auf solche Unterscheidungen bei Luther eingehe, muss und will ich den Versuch machen, den Begriff „Unterscheidung“ selbst zu klären. Auch dazu ist es nötig und jedenfalls sehr hilfreich, mit Unterscheidungen zu arbeiten und zwar mit Unterscheidungen, die sich selbst auf den Begriff „Unterscheidung“ beziehen, also sozusagen mit Meta-Unterscheidungen. Das klingt und ist zwar etwas theoretisch und abstrakt, lässt sich aber im Interesse der Klärung und des Verstehens nicht vermeiden.
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Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen (1964) 19814, bes. Kap. V-XIV sowie ders., Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteilskraft, in: ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4, 1995, S. 420 – 459. Vgl. hierzu auch den Abschnitt C 2 „Theologie als Unterscheidungslehre“, den Albrecht Beutel, als ein Schüler Ebelings, verfasst und in das von ihm herausgegebene Luther Handbuch aufgenommen hat (Tübingen 2005, S. 450 – 454).
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1. Unterscheidungen am Begriff „Unterscheidung“ Wer eine große Menschenmenge für etwas begeistern oder in Bewegung setzen will, tut gut daran, nicht mit allzu vielen und allzu feinen Unterscheidungen bzw. Differenzierungen (beide Begriffe verwende ich univok, also bedeutungsgleich) zu arbeiten, sondern eher mit einigen wenigen klaren Entgegensetzungen, z. B. zwischen Christen und Nichtchristen, Inländern und Ausländern, Linken und Rechten, Frauen und Männern, Armen und Reichen etc. Auch das sind natürlich Unterscheidungen, aber sehr grobe, und wenn über das so Unterschiedene Pauschalaussagen gemacht werden, dann handelt es sich meist um Verallgemeinerungen, Vereinfachungen, Simplifizierungen. Damit kann man Stimmungen erzeugen, manchmal sogar Wahlen gewinnen. Es verspricht jedoch in der Regel Erkenntnisgewinn, wenn man sich nicht allzu schnell und allzu dauerhaft auf solche vergröbernden Gegensätze einlässt, sondern jeweils genauer zusieht und innerhalb dieser so unterschiedenen Gruppierungen weitere Unterscheidungen trifft oder auch diese Unterscheidungen selbst reflektiert und problematisiert. Aber der in akademischen Diskussionen oft zu hörende und fast immer irgendwie richtige Satz: „Das ist mir zu undifferenziert“, kann schließlich auch dazu führen, dass durch immer neue und immer feinere Unterscheidungen notwendige Zusammenhänge aus dem Blick geraten, so dass man nur noch Bäume, aber keinen Wald mehr sieht, und eine – sei es alte oder neue – Unübersichtlichkeit entsteht, die ebenfalls nicht erkenntnisfördernd ist. Die Unterscheidungen, von denen ich bisher gesprochen habe, sind solche zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen oder innerhalb solcher Gruppen. Charakteristisch für diese Unterscheidungen ist es, dass man mit ihrer Hilfe abzählen, sortieren und das so Unterschiedene voneinander trennen kann: Hier die einen, dort die anderen. Das ist anschaulich und in der Regel gut nachvollziehbar. Ich will solche Unterscheidungen künftig als „Trennungen“ oder „trennende Unterscheidungen“ bezeichnen und sie können sich natürlich nicht nur auf Menschen beziehen, sondern ebenso auf Tiere, Pflanzen, Gegenstände, Materialien oder Ereignisse. Das Charakteristische dieser Unterscheidungen ist ihr sortierender, sortaler Effekt, wie es in der Fachsprache heißt, der es erlaubt, eine gewisse Ordnung in die Welt zu bringen. Wenn Martin Luther von Unterscheidungen („distinctiones“) spricht und von der Fähigkeit, solche Unterscheidungen zu treffen,
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sogar abhängig machen kann, ob jemand ein guter Theologe ist2, dann meint er in aller Regel nicht solche trennenden, sortalen Unterscheidungen, sondern solche, die an einer bestimmten Größe, an einem Gegenstand, an einer Person, an einer Sache vorgenommen werden, obwohl diese ein einheitliches Ganzes, z. B. ein Individuum3 bildet. In diesem Sinne unterscheidet schon die Bibel etwa zwischen der Welt als Gottes Schöpfung und der Welt als Machtbereich des Bösen, und so unterscheidet schon die frühe Christenheit zwischen der Gottheit und Menschheit Jesu Christi, wobei niemand auf die Idee käme, dass beides irgendwie getrennt, auseinandergenommen oder einander gegenüber gestellt werden könnte. Im Gegenteil: Diese eine Welt ist, wenn man sie im Blick auf ihren Ursprung betrachtet, Gottes (gute) Schöpfung, und wenn man sie im Blick auf ihre faktische Verfassung hin betrachtet, Machtbereich des Bösen. Dieser eine Jesus Christus ist zugleich „wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren“, wie Luther dies im Kleinen Katechismus formuliert hat.4 So haben wir neben den sortalen Unterscheidungen und Trennungen als Zweites solche Unterscheidungen, die sich auf unterschiedliche Aspekte an einheitlichen Sachverhalten beziehen. Es gibt jedoch noch eine dritte Gruppe von Unterscheidungen, in der die beiden voneinander unterschiedenen Größen auch als oder wie Aspekte an einem einheitlichen Sachverhalt gegeben sind (oder zumindest gegeben sein können), aber nicht gleichartig und miteinander vergleichbar, sondern fundamental unterschieden sind, weil sie verschiedenen Kategorien, d. h. Grundbegriffen zugehören. Mit solchen kategorialen Unterscheidungen bzw. Differenzen haben wir es dort zu tun, wo an einem Sachverhalt z. B. Räumliches von Zeitlichem unterschieden wird5, Konkretes von Abstraktem, Substantielles von Akzi2
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So sagt Luther im Blick auf die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium: „Wer dies gut zu unterscheiden weiß, ist ein guter Theologe“ (WA 39/1, 552,12 f., lat: „Haec qui bene novit distinguere, bonus est theologus“), ähnlich in WA 40/1, 207,3 f. Und „Individuum“ heißt ja: „ungeteiltes Ganzes“. BSLK 511,23 – 26. In humorvoller Form kommt dies etwa zum Ausdruck in dem als Kalauer präsentierten Kategorienfehler: „Nachts ist es kälter als draußen“. Logisch gesprochen entsteht der Witz dadurch, dass eine kategoriale (sich auf Zeit und Raum beziehende) Unterscheidung (zwischen „nachts“ und „draußen“) durch den Komparativ „kälter“ wie etwas behandelt wird, das man quantitativ von-
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dentiellem. Zu dieser dritten Gruppe von Unterscheidungen zählen auch die, in denen zwischen Mensch und Menschsein, zwischen Glaubenden und Glauben oder Sünder und Sünde unterschieden wird. Das Besondere an dieser Art von Unterscheidungen ist, dass das so Unterschiedene gar nicht getrennt voneinander vorkommen kann, sondern nur zusammen, also untrennbar ist. Aber auch solche Unterscheidungen, ja gerade sie, haben für Luthers Theologie – wie sich gleich zeigen wird – eine große Bedeutung. Neben und sogar noch vor den trennenden Unterscheidungen stehen bei ihm die kategorialen Unterscheidungen. Und daran zeigt sich auch, dass neben und mit den Unterscheidungen bzw. Differenzierungen immer auch die Verbindung, der Zusammenhang, gelegentlich sogar die notwendige, untrennbare Zusammengehörigkeit des Unterschiedenen mit bedacht werden muss. In diesem Sinn will ich im folgenden Hauptteil meines Textes fünf Unterscheidungen nennen, die in Luthers Theologie eine große, ja grundlegende Rolle spielen, bevor ich dann in einem kurzen abschließenden Schlussabschnitt fragen will, warum und inwiefern man diese Unterscheidungen als lebenswichtig bezeichnen kann oder sogar muss, wie ich das im Titel dieses Aufsatzes tue. Diese fünf Unterscheidungen besitzen bei Luther eine große Bedeutung, aber sie sind beileibe keine erschöpfende Zusammenstellung oder Auflistung der für ihn notwendigen, wenn nicht sogar lebenswichtigen Unterscheidungen. So werde ich z. B. nicht auf die Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen Priestertum und dem Pfarrerstand bzw. -beruf oder zwischen der sichtbaren und der verborgenen6 Kirche eingehen und auch nicht auf die grundlegende Unterscheidung zwischen Gewissheit und Sicherheit (certitudo und securitas) oder zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen, zwischen der herrschenden Sünde und der beherrschten Sünde (peccatum regnans und peccatum regnatum) 7 sowie zwischen dem offenbaren und verborgenen Gott (Deus revelatus und Deus absconditus) und auf viele andere Unterscheidungen mehr, die durchaus für Luthers Denken wichtig sind. Und das lässt sich gar nicht
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einander unterscheiden und zueinander ins Verhältnis setzen kann. Wenn man Sinn für solche Kalauer hat, kann man freilich – glücklicherweise – über sie auch dann lachen, wenn man den Witz (noch) nicht logisch erklären kann. Nicht „unsichtbare“ Kirche – das wäre die Formel, die Zwingli in seiner Expositio christianae fidei (1531) geprägt hat und die – auch im ökumenischen Dialog und Streit – zu vielen Missverständnissen geführt hat. Vgl. dazu o. S. 233.
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anders begründen oder rechtfertigen als mit der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes.
2. Unterscheidungen in Luthers Theologie 2.1 Buchstabe und Geist/Äußeres und inneres Wort In seiner ersten Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515 sagt bzw. schreibt Luther: „In der Heiligen Schrift ist es das beste, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden; denn das macht einen wahrhaft zum Theologen“8. Damit nimmt Luther eine Unterscheidung auf, die Paulus in 2 Kor 3,6 formuliert hat und die insbesondere durch Augustins Schrift ,De spiritu et littera’ an die kirchliche und theologische Lehrüberlieferung weitergegeben worden war. Paulus schreibt: „… dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ [2 Kor 3,6]. Damit unterscheidet Paulus den alten, durch Mose vermittelten Bund, der begründet ist durch den Buchstaben des Gesetzes, von dem neuen durch Jesus Christus gestifteten Bund, der begründet ist durch die Gabe seines lebendig machenden Geistes. Luther nimmt diese Unterscheidung auf, um mit ihrer Hilfe grundlegende Aussagen zu gewinnen über das angemessene Verstehen der Heiligen Schrift. Wird sie nur ihrem Wortlaut nach verstanden, demzufolge z. B. die Psalmen von David oder vom Volk Israel handeln, so ist sie nicht in ihrem eigentlichen, geistlichen Sinn erfasst, der auf Jesus Christus verweist. Luther hat von daher in seiner Frühzeit keine Schwierigkeit, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn9 aufzunehmen und anzuwenden, also den Bibeltext nicht nur in seiner historisch-wörtli8 9
WA 3, 12,2 f. Das ist einprägsam formuliert in dem mittelalterlichen Vierzeiler: „Litera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia“ (dt. „Der buchstäbliche Sinn lehrt das, was geschehen ist, der allegorische das, was du glauben sollst, der moralische das, was du tun sollst, der eschatologische [endzeitliche] das, wohin du dich [hoffend] ausrichten sollst“). Siehe zu diesem Themenkreis Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I Luther, Tübingen 19232 u. 3, S. 544 – 582.
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chen Bedeutung, sondern zusätzlich allegorisch, moralisch und eschatologisch zu interpretieren. Aber dass eine solche vierfache Schriftauslegung auch große Gefahren subjektiver Willkür in sich birgt, wird Luther im Zusammenhang mit seiner reformatorischen Entdeckung bewusst, und so löst er sich von der Lehre und Praxis der vierfachen Schriftinterpretation und konzentriert sich ganz auf das Erfassen des wörtlich-geschichtlichen Sinnes. Damit verschwindet die Unterscheidung zwischen Buchstaben und Geist nicht, aber sie verwandelt sich in bemerkenswerter Weise. Der Geist steht nun nicht mehr für die zusätzlichen geistigen und geistlichen (um nicht zu sagen: geistreichen) Auslegungsmöglichkeiten des Bibeltextes, die insbesondere dort eingesetzt werden, wo der Wortlaut der Bibel dunkel und schwerverständlich ist oder zu sein scheint, sondern der Geist steht nun für das Gewisswerden der Wahrheit der biblischen Botschaft. Um diese Neuakzentuierung zu verstehen, muss man Zweierlei im Sinne Luthers betonen: Gott bindet sich an das äußere, menschliche Wort der Verkündigung ebenso wie an die äußeren, sichtbaren, fühlbaren, schmeckbaren Zeichen des Sakraments; er will den Menschen nicht anders begegnen als durch diese äußere Vermittlung. Und das zweite: Das Wirken des Geistes bzw. des inneren Wortes besteht in nichts anderem als darin, die Verlässlichkeit, Wahrheit, Gültigkeit des äußeren Wortes für einen Menschen gewiss werden zu lassen. Anders gesagt: Das Glauben weckende Wirken des Heiligen Geistes geschieht nicht abseits vom äußeren Wort und Zeichen, an ihm vorbei, neben oder über ihm, sondern nur an ihm, mit ihm und durch es. Die Wichtigkeit und Heilsamkeit dieser Unterscheidung kann jedem Christenmenschen bewusst werden, der als Mitmensch, als (Groß-)Vater oder (Groß-)Mutter, als Lehrerin oder Pfarrer oder als Erzieherin anderen die christliche Botschaft so vermitteln möchte, dass dadurch Glaube geweckt wird. Die Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist, äußerem und innerem Wort macht deutlich, was wir in diesem Bereich tun können und was nicht: Wir können und sollen die christliche Botschaft so klar und verständlich wie möglich bezeugen, ausrichten, verkündigen, aber wir haben es nicht in der Hand, diese Botschaft für Menschen so gewiss werden zu lassen, dass sie darauf ihr Vertrauen setzen, also daran glauben. Das kann beim ersten Hören deprimierend wirken und wirkt manchmal insbesondere auf junge Menschen deprimierend: „So wenig sollen wir können?“ Tatsächlich ist es jedoch befreiend. Es kann entlasten von Selbstanklagen und
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Vorwürfen, wenn es einem nicht gelungen ist, die eigenen Kinder oder andere Menschen zum Glauben zu führen. Das haben wir nicht in der Hand. Das wirkt Gott durch seinen Geist – wo und wenn er will (CA 5). Und das ist gut so.
2.2 Gesetz und Evangelium Insbesondere im Blick auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat Luther immer wieder betont, dass sie das Erkennungszeichen dafür sei, dass ein Mensch die christliche Botschaft richtig verstanden habe und ein guter Theologe sei.10 Diese Unterscheidung klang bereits dort an, wo von der Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist im Sinne des alten und des neuen Bundes die Rede war. Das scheint zu belegen, dass Luther die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium gleichsetzt mit der Unterscheidung zwischen Mose und Christus, Altem und Neuem Testament oder Israel und Christenheit. Aber obwohl es Aussagen bei Luther gibt, die sich so interpretieren lassen, trifft dies doch nicht den eigentlichen Sinn der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, wie er sich Luther nach einem langen Ringen und vielen Auseinandersetzungen erst in den Dreißigerjahren des 16. Jahrhunderts insbesondere im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seines Großen Galaterkommentars, seiner Disputationen über die Rechtfertigungslehre und seiner Auseinandersetzung mit den sog. Antinomern in voller Klarheit erschlossen hat. Von allen theologischen Unterscheidungen Luthers erscheint diese als die zentralste, in gewisser Hinsicht sogar als der Schlüssel zum Verständnis aller anderen theologischen Unterscheidungen. Und das, worum es in dieser Unterscheidung geht, ist eigentlich etwas sehr Einfaches, Klares, leicht Fassliches – aber nur „eigentlich“. In einer Tischrede aus dem Jahr 1531 sagt Luther hierzu: „Es gibt keinen Menschen, der auf Erden lebt, der zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden wüsste… Ich hätt’ gemeint, ich könnt es, weil ich so lang und viel davon geschrieben, aber wenn es an das Treffen geht, so seh’ ich wohl, dass es mir weit, weit fehlt. Also soll und muss allein Gott der heiligste Meister sein“11 Was meint Luther damit? 10 WA 7, 502,34 f.; WA 36, 9,6-10-5; WA 39/1, 361,1 – 4; WA 40/1, 207,17 f. 11 WA TR 2, 3,20 – 4,5 (Nr. 1234) in Übersetzung und in modernisierter Schreibweise.
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Die Unterscheidung zwischen dem Gesetz, das im Namen Gottes sagt, was der Mensch tun soll, ist grundlegend zu unterscheiden vom Evangelium, das sagt, was Gott fr den Menschen tut, und zwar zu dessen Heil und Rettung. Das ist eine Unterscheidung, die schon ein Kind gut verstehen kann. Und hat man sie verstanden, so ist auch klar, dass die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium nicht gleichgesetzt werden kann mit der Unterscheidung zwischen Mose und Christus, Altem und Neuen Testament, Israel und Christenheit; denn da gibt es immer auf beiden Seiten Gesetz und Evangelium. Aber so klar diese Unterscheidung theoretisch ist, so schwierig kann sie für den Menschen insbesondere in der Situation der Anfechtung werden, und zwar aus drei Gründen: Der erste Grund ist der menschliche Trugschluss, dass er auch von sich aus – jedenfalls mit gutem Willen und Anstrengung – in der Lage sei, das von Gott Gebotene zu tun, also das Gesetz zu erfüllen.12 Dass der Mensch dies im theologischen Sinn des Gesetzes, d. h. von ganzem Herzen, gerne und mit Heiterkeit nicht kann, bedeutet – und das ist der zweite Grund – für den natürlichen Menschen eine soteriologische Kränkung erster Ordnung. Denn das besagt doch, dass der Mensch in der entscheidenden Hinsicht nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen, zu retten, seine Beziehung zu Gott in Ordnung zu bringen. Und dann kommt noch ein dritter Grund hinzu: Es ist uns ja keineswegs immer klar, was wir zu tun haben und was Gott für uns tun will und tun wird. Da können wir auf beiden Seiten vom Pferd herunterfallen, indem wir entweder uns zumuten und anmaßen, was nun wirklich nur Gottes Sache sein kann, oder indem wir versäumen, verschlafen und auf Gott schieben, was nun wirklich unsere Angelegenheit wäre. Nein, leicht ist diese Unterscheidung nicht zu machen und zu treffen. Ich habe soeben beiläufig eingefügt: „im theologischen Sinn des Gesetzes“, und habe das kurz erläutert durch die Formulierung: „von ganzem Herzen, gerne und mit Heiterkeit“. Ich hätte stattdessen auch vom Gesetz: „in seinem theologischen Gebrauch“ (usus theologicus) sprechen können; denn Luther hat in diesem Zusammenhang eine neue Unterscheidung in die Theologie eingeführt: die Unterscheidung 12 Es ist ein Hauptkritikpunkt Luthers gegenüber Erasmus, dass er diesem Trugschluss in seiner Diatribe ,De libero arbitrio‘ durchgängig erlegen ist und darum fortgesetzt aus dem Sollen auf das menschliche Können bzw. aus dem Gesetz auf das freie Willensvermögen des Menschen schließt. Vgl. dazu LDStA 1, XXIII-XXXVI. Derselbe Trugschluss findet sich später bei Kant.
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zwischen unterschiedlichen Gebräuchen des Gesetzes, und zwar dem politischen und dem theologischen Gebrauch.13 Luther hat nie bestritten, dass Menschen in der Lage sind, das Gesetz (z. B. in Gestalt des Dekalogs) in seinem äußerlichen, politischen, bürgerlichen Sinn und Gebrauch zu erfüllen, und dass dies für das menschliche Zusammenleben und für die Eindämmung des Bösen gut und nützlich ist. Aber Luther bestreitet nachdrücklich, dass der Mensch damit das Gesetz Gottes in seinem eigentlichen, theologischen Sinn erfüllt habe oder auch nur erfüllen könne; denn dieser Sinn und Gebrauch des Gesetzes kommt zum Ausdruck im Doppelgebot der Liebe, und Liebe kann man nicht – jedenfalls nicht erfolgreich – gebieten. Wahrscheinlich ist das Gebieten oder Fordern von Liebe sogar das sicherste Mittel, sie im Keim zu ersticken oder zu vertreiben. Und darum scheitert der Mensch am theologischen Sinn und Gebrauch des Gesetzes, das seinem Wortlaut nach die Liebe zu Gott und zum Nächsten gebietet. Dass gerade das, der Aufweis des Scheiterns am Gesetz und des Angewiesenseins auf das Evangelium, aus Luthers Sicht der eigentliche Sinn und die eigentliche Bedeutung des Gesetzes ist, das ist die provozierende Spitzenaussage im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, an der noch einmal deutlich werden kann, dass diese Unterscheidung, die doch theoretisch scheinbar so leicht zu verstehen ist, nicht erst uns heute, sondern auch schon Luther selbst existentiell die allergrößten Schwierigkeiten bereiten konnte.
2.3 Die Unterscheidung zwischen Person und Werk Mit der Unterscheidung zwischen Person und Werk tun wir einen weiteren Schritt auf dem bisher begangenen Weg, allerdings einen, der normalerweise gewisse Verständnisprobleme schafft, zugleich aber Bezüge zu mehreren anderen Unterscheidungen aufweist, die im Rahmen dieses Aufsatzes nur angedeutet, aber nicht ausgeführt werden können. 13 Im Blick auf den für Calvin besonders wichtigen, aber auch von Melanchthon und der Konkordienformel gelehrten dritten Gebrauch des Gesetzes hat Werner Elert überzeugend gezeigt, dass er in Luthers Theologie nicht vorkommt und keinen Platz hat (siehe ders., Eine theologische Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis, in: ZRGG 1/1948, S. 168 – 170 sowie ders., Gesetz und Evangelium, in: Max Keller-Hüschemenger [Hrsg.] Ein Lehrer der Kirche, Berlin/Hamburg 1967, S. 51 – 75, bes. 70 – 72).
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Luther verbindet die Unterscheidung zwischen Person und Werk schon ganz früh mit einer Verhältnisbestimmung zwischen beiden, durch die er sich von Aristoteles und von der aristotelisch geprägten Scholastik abgrenzt. Den Grundsatz, den Luther bei er Beschäftigung mit der aristotelischen Ethik kennen gelernt hatte, dass wir durch das Tun des Gerechten gerecht, d. h. gerechte Menschen werden, bestreitet er aufgrund seiner eigenen Erfahrung und theologischen Einsicht. Die Reihenfolge vom Tun zum Sein gilt nur in den äußeren, mit Bonhoeffer gesagt: vorletzten Dingen, mit denen wir es in der menschlichen Entwicklung und Erziehung, in Kunst und Sport, in Schule und Beruf in der Regel zu tun haben. Dort wird man durch immer wiederholte Handlungsvollzüge im besten Fall nicht nur zu einem Kenner, sondern zu einem Könner. Aber in der Gottesbeziehung ist es genau umgekehrt: Da muss die Person, das Herz eines Menschen erneuert werden, damit er in die Lage versetzt wird, das zu tun, was dem Willen Gottes entspricht. Immer wieder beruft sich Luther hierfür auf das neutestamentliche Bild vom Baum und den Früchten mit der Pointe: Ein guter Baum soll nicht gute Früchte bringen, sondern: „Ein guter Baum bringt gute Früchte“ (Mt 7,16 – 20). Und darum führen alle Versuche, an den Früchten, d. h. an den Taten bzw. Werken eines Menschen etwas zu kurieren oder zu bessern, nicht zu dem gewünschten Ziel, diesen Menschen von innen heraus, in seinem Wesen zu verändern und zu erneuern. Vielmehr muss zuerst dieses Wesen des Menschen verändert werden, das Herz muss gebildet werden, und das geschieht allein durch den Zuspruch des Evangeliums, der in einem Menschen Glauben weckt und ihn so vom Grund her erneuert. Die Taten (Früchte) sind Erkennungszeichen für diesen Veränderungs- und Erneuerungsprozess und insofern wichtig.14 Aber ob ein Mensch in der rechten Beziehung zu Gott existiert, entscheidet sich nicht an den Werken, die er tut, sondern an seinem Glauben, also an seinem daseinsbestimmenden Vertrauen auf Gott. Weil dies so ist, darum kann Luther auch sagen, dass der Mensch zugleich gerecht und Sünder ist (simul iustus et peccator), Sünder, sofern man auf das blickt, was im Leben des Glaubenden an Gutem (noch) nicht realisiert wird, aber gleichwohl Gerechter durch den Glauben und 14 Das schärft Luther insbesondere in der Vorrede zum Römerbrief (WA DB 7, 8,30 – 10,27) mit allem Nachdruck ein, wobei der Spitzensatz lautet: „Wer aber solche Werke nicht tut, der ist ein glaubensloser Mensch …“ (vgl. o. S. 231 f.).
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im Glauben an Gottes Barmherzigkeit, die in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat. Von da aus ergibt sich auch die kategoriale Unterscheidung zwischen dem Snder, dem Gottes vergebende Liebe gilt, und der Snde, gegen die sich Gottes Zorn richtet. Würde man diese Unterscheidung nicht treffen, dann müsste man aus dem Satz: „Gott liebt den Sünder“ folgern: „Also liebt Gott auch die Sünde“. Gegen den Vorwurf, das zu lehren, musste sich der Sache nach schon Paulus auseinandersetzen (Röm 6,1 f. und 15). Aber diese Konsequenz ergibt sich nur dann, wenn man die kategoriale Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde nicht macht oder sogar als sinnlos angreift und verwirft.
2.4 Die Unterscheidung der beiden Regimente bzw. Regierweisen Gottes Seit Luther sich in seinen Schriften mit der Frage nach der Autorität der politischen Obrigkeit – wir würden heute sagen: des Staates – und den Grenzen des Gehorsams und der Loyalität gegenüber dem Staat beschäftigt15, versucht er das Problem mit Hilfe von Unterscheidungen zu lösen. Dazu sieht er sich genötigt, weil es in der Bibel einerseits die klare Aufforderung gibt, das Böse nicht mit Bösem zu vergelten (Mt 5,38 – 42; Röm 12,17; 1 Thess 5,15; 1 Petr 3,9), andererseits die klare Aussage, dass Gott die weltliche Obrigkeit eingesetzt und ihr die Gewalt gegeben hat, um die Bösen zu strafen und das Böse im Zaum zu halten (Röm 13,1 – 7; 1 Petr 2,13 – 17). Bei dem Versuch, beides ernst zu nehmen, aber auch ohne Widerspruch miteinanderzu verbinden, knüpft Luther zunächst begrifflich an die altkirchliche und mittelalterliche trennende Unterscheidung zweier Reiche an, von denen eines die Glaubenden, das andere die Nichtglaubenden umfasst. Er löst sich aber sehr schnell von dieser (sortalen) Unterscheidung zweier Reiche und transformiert sie in der Unterscheidung zwischen zwei Regimenten Gottes, d. h. zwei Regier-
15 Erstmals in der Schrift: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) WA 11, 245 – 281, sodann in der Schrift: Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526) WA 19, 623 – 662, sowie schließlich in den Predigten zur Bergpredigt (1530 – 1532) WA 32, 302 – 544.
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weisen16. Diese Unterscheidung besagt, dass Gott einerseits (im Bilde gesprochen: mit seiner rechten Hand) durch Wort, Sakrament und seinen Geist zum Heil an der Welt wirkt, andererseits (wiederum im Bild gesprochen: mit seiner linken Hand) durch staatliche Gewalt und Gesetze die Welt erhält und vor der Übermacht des Bösen bewahrt. Die beiden Regierweisen sind also sowohl durch ihre Ziele (Heil und Erlösung einerseits, Erhaltung und Bewahrung andererseits) als auch durch ihre Mittel (Wort, Sakrament und Geist einerseits, Gesetz und Gewalt andererseits) grundsätzlich voneinander unterschieden, und Luther hat die Unterschiedenheit dieser beiden Regierweisen immer wieder eingeschärft, damit nicht in Fragen des Glaubens Gewalt ausgeübt oder in Fragen der Erhaltung der Welt auf Androhung und Ausübung von Gewalt verzichtet wird. In beiden Regimenten bzw. Regierweisen gebraucht Gott Menschen, die er dazu beauftragt, diese Mittel zu diesen Zielen einzusetzen. Aber beides sind Regierweisen Gottes, und immer dann, wenn dies in der Geschichte der Kirche und der Theologie vergessen wurde, entstand Gefahr und Schaden. Die Unterscheidung der beiden Reiche oder Regimente wurde sowohl im ausgehenden 19. Jahrhundert als auch in der Zeit des Dritten Reiches immer wieder so missverstanden, als gebe es eine Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit des weltlichen Regimentes Gott gegenber. Dem muss im Namen der Aussagen der Bibel und der darauf gegründeten Unterscheidung Luthers zwischen den beiden Regierweisen Gottes nachdrücklich widersprochen werden. Wohl aber folgt aus der Unterscheidung der Regierweisen für Luther eine weitere Unterscheidung, die mitten durch den Menschen hindurchgeht: die Unterscheidung zwischen dem Christen als Privatperson, der Unrecht, das ihm angetan wird, erleiden soll, ohne das Böse zu vergelten, und dem Christen als Amtsperson (sei es als Mutter oder Vater, Lehrerin oder Bürgermeister, Polizeibeamter oder Soldat, Abgeordnete oder Ministerpräsident), der die Aufgabe anvertraut ist, sich schützend vor den Nächsten zu stellen und ihn vor Gewalttat und
16 Diesen glücklichen Ausdruck hat der Theologische Ausschuss der VELKD im Jahr 1979 vorgeschlagen (vgl. dazu: Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, 2. Band, Reaktionen, hrsg. von N. Hasselmann, Hamburg 1980, S. 162 – 172). Dieser terminologische Vorschlag, der den zusätzlichen Vorteil hat, dass man nicht ,Regimente‘ mit ,Regimentern‘ verwechseln kann, hat sich inzwischen bewährt und weitgehend durchgesetzt.
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Verbrechen nach Möglichkeit zu bewahren, also dem Bösen zu wehren und zu widerstehen. Man kann an dieser Stelle kritisch gegen Luther einwenden, dass er möglicherweise die Bedeutung des Eintretens für das Recht dort unterschätzt hat, wo es um das eigene Recht geht. Der Grund für diese Unterschätzung könnte darin liegen, dass er am Wortlaut der strengen Antithesen der Bergpredigt nichts abmarkten wollte und dass er darum wusste, wie gerne Menschen bereit sind, im Namen des Rechtes Rache zu üben und Böses mit Bösem zu vergelten. Aber dieser kritische Einwand gegen Luther richtet sich weder gegen die Unterscheidung der beiden Regierweisen noch gegen die Unterscheidung zwischen Privatperson und Amtsperson, sondern nur gegen deren Anwendung in Beziehung auf sich selbst und auf den Nächsten.
2.5 Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch In einem Brief an seinen Freund und Weggefährten Spalatin aus dem Sommer 1530 schreibt Luther kurz und bündig: „Wir sollen menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa“.17 Dass diese Unterscheidung zwischen Mensch und Gott nicht so trivial und vor allem nicht so selbstverständlich ist, wie sie vielleicht beim ersten Hören klingt, geht aus einem anderen Lutherzitat hervor. Es heißt: „Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott sei, vielmehr wollte er, er selbst wäre Gott und Gott wäre nicht Gott“18. Diese Beobachtung oder Behauptung ist bei Luther vermutlich der Verführung des Menschen im Paradies abgelauscht, dem: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5). Dem kann der Mensch von Natur aus anscheinend nicht oder jedenfalls nur schwer widerstehen. Eine unerwartete Unterstützung für diese Auffassung bekommt Luther durch Friedrich Nietzsche, wenn es im ,Zarathustra‘ heißt: „ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter“.19 In ähnlicher Form findet sich dieser Gedanke auch schon im sog. Philosophengespräch in Georg Büchners Drama ,Dantons Tod‘, wo sich das Gefühl Ausdruck verschafft, dass es für den Menschen unerträglich ist, weniger voll17 WA Br 5, 415,45. 18 WA 1, 225,1 f. 19 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe in 15 Bänden, hrsg. G. Colli und M. Montinari, Bd. 4, 1980, S. 110.
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kommen zu sein als Gott20. Diese Wünsche und Phantasien sind keineswegs mit dem 19. Jahrhundert vergangen, und sie tauchen auch nicht nur in den Köpfen einiger Diktatoren auf, die nach der Weltherrschaft greifen und unsägliches Elend über ihr eigenes Land und fremde Länder bringen. Der Wunschtraum, die Rolle Gottes einzunehmen, ja Gott überlegen zu sein, gedeiht zur Zeit vor allem auf dem Boden der Biowissenschaften, die sich mit der genetischen Veränderung des Menschen, also mit dem Programm der Menschenzüchtung beschäftigen. Man kann nur hoffen, dass auch dort der Satz gehört und beherzigt wird: „Wir sollen menschen sein und nicht Gott sein. Das ist die summa“. Dass Luther diesen einfachen Gedanken als ,die summa‘ bezeichnet, unterstreicht, wie wichtig gerade diese Unterscheidung aus der Sicht seiner Theologie und aus der Sicht des christlichen Glaubens ist. Und darum eignet sie sich gut als Überstieg zum letzten Abschnitt mit der Frage nach der Lebenswichtigkeit dieser Unterscheidungen.
3. Lebenswichtigkeit dieser Unterscheidungen Ich beginne diesen kurzen letzten Abschnitt mit der Frage, ob es so etwas wie einen roten Faden in diesen Unterscheidungen gibt oder einen gemeinsamen Nenner, auf den sie sich alle bringen lassen. Zwei von diesen fünf Unterscheidungen hatten sich bisher schon durch Luthers sprachliche Äußerungen ausgezeichnet und vor den anderen hervorgetan: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, von der ich sagte, sie sei so etwas wie ein Schlüssel zum Verständnis aller anderen Unterscheidungen, und die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, von der Luther selbst sagt, sie sei „die summa“. Hängen beide miteinander zusammen und bieten sie gemeinsam einen Zugang zum Sinn und zur Bedeutung dieser Unterscheidungen? Erinnern wir uns kurz, worum es in der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium geht: um die Unterscheidung zwischen dem, was Menschen als den Willen Gottes tun sollen, und dem, was Gott für den Menschen zu seinem Heil tut. In der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium geht es also unter einer bestimmten Perspektive genau um die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, wie in der „summa“, sowie zwischen Gottes Tun und menschliches Tun. Dieser Unter20 Vgl. dazu in diesem Band S. 367 – 388.
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scheidung waren wir aber auch dort schon begegnet, wo es um das Verhältnis von Buchstabe und Geist bzw. äußerem und innerem Wort ging, um das, was Menschen zu verkündigen und zu bezeugen haben in Unterscheidung von der Wahrheitsgewissheit, die nur Gott selbst durch seinen Geist wecken kann. Hingegen ging es bei der Unterscheidung zwischen Person und Werk um eine, die sich nicht auf das Verhältnis Gott Mensch, sondern auf zwei Aspekte am Menschsein bezieht, und bei der Unterscheidung zwischen den beiden Regierweisen um eine Unterscheidung, die sich auf zwei Aspekte am Wirken Gottes und ebenfalls auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bezieht. Diese beiden Unterscheidungen lassen sich also nicht einfach der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch unterordnen, wohl aber ihr zuordnen. Damit ist die Anschlussstelle und der Ort dieser Unterscheidungen im Gesamtgefüge deutlich, und die große Linie bzw. Grundstruktur dieses Zusammenhangs von Unterscheidungen hängt tatsächlich immer direkt oder indirekt an der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch. Dass dort das Zentrum dieser Unterscheidungen liegt, hat bei Luther keine theoretischen oder intellektuellen Gründe, sondern praktische, existentielle Gründe. Die Theologie ist für ihn, wie das einige Jahrzehnte später formuliert wurde, eine „scientia practica“21, bzw. sogar eine „sapientia eminens practica“22 also eine (eminent) praktische Wissenschaft bzw. Weisheit, weil sie nach der Antwort auf die Frage sucht, wie das Leben des Menschen in Zeit und Ewigkeit gelingen kann, richtiger gesagt: Weil sie von der Begegnung mit einer spezifischen Antwort auf diese Fragen herkommt, diese Antwort auf ihr Wahrsein hin überprüft, zum menschlichen Leben mit der Vielfalt seiner Erfahrungen in Beziehung setzt und so weitervermittelt. Und wie kann der Wahrheitsaufweis hierfür geführt werden? Dort, wo es in der Auseinandersetzung mit seinem großen Widersacher Erasmus auf den entscheidenden Differenzpunkt kommt, kann Luther es unübertrefflich kurz sagen: „interroga experientiam“, „befrage die 21 So Johannes Musäus, Introductio in theologiam, Jena 1679, pars I, cap. III, Th XXII,6. Aber auch Johann Gerhard spricht schon von der Theologie als einer ,doctrina practica‘ (Loci theologici, Jena 1610 – 25, pro § 28). Und bei Luther selbst findet sich bereits die Aussage: „Vera theologia est practica“ (WA TR 1, 72,16 [Nr. 153]). 22 So David Hollaz. Examen theologicum acroamaticum, Leipzig 1707, pro cap. I, q 1.
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Erfahrung!“23 Was ist das für eine Erfahrung, von der Luther hier spricht? Es ist die Erfahrung, dass wir zwar tun können, was wir wollen, aber dass wir nicht wollen können, was wir wollen. Unser Wollen, Streben und Begehrungsvermögen haben wir nicht in der Hand, sondern dies wird affiziert und ausgerichtet durch das, was uns begegnet. Von diesem Affiziertwerden hängt ab, was wir lieben und was hassen, und damit hängt die Grundrichtung und Grundausrichtung unseres Lebens von dem ab, was uns so begegnet und zuteil wird, dass es uns erreicht, bewegt, motiviert, verändert. In einem riskanten Bild kann Luther sagen: Es kommt darauf an, was und wer uns reitet: Gott oder der Teufel. Darum haben wir das Gelingen unseres Lebens in der Beziehung zu Gott als dem Grund und der Quelle des Daseins nicht in unserer Hand. Daran erinnern die Unterscheidungen Luthers, das schärfen sie ein und darum sind sie lebenswichtig. Denn sie können einen Menschen vor dem Trug und Wahn bewahren, bei Instanzen oder an Stellen das Leben zu suchen, wo man es gar nicht finden kann, und es gleichzeitig dort zu verfehlen oder zu versäumen, wo es tatsächlich zu finden ist. 24 Ist das nicht doch zum Schluss eine niederdrückende, eine deprimierende Botschaft? Lassen Sie mich diese – zugegebenermaßen rhetorische – Frage abschließend beantworten mit einem Zitat aus seiner schon mehrfach erwähnten und von Luther selbst außerordentlich geschätzten Schrift gegen Erasmus von Rotterdam ,De servo arbitrio‘. Wenige Seiten vor dem Schluss dieses Buches spielt Luther den Gedanken durch, Gott könnte ihm anbieten, einen freien Willen zu haben, mit dem er an seinem Heil zumindest mitwirken könnte. Und er schreibt dazu: „… ich würde nicht wollen, dass mir ein freies Willensvermögen gegeben wird oder irgend etwas in meiner Hand belassen würde, wodurch ich nach dem Heil streben könnte. … Denn wie vollkommen auch immer ein Werk wäre, es bliebe ein Skrupel, ob Gott dies gefiele oder ob er irgend etwas darüber hinaus erforderte. Das beweist die Erfahrung aller Werkgerechten, und ich habe das zu meinem großen Leidwesen in so vielen Jahren zur Genüge gelernt. Aber weil jetzt Gott mein Heil meinem Willensvermögen entzogen und in seines aufgenommen und zugesagt hat, mich nicht durch mein Werk und mein Laufen, sondern 23 LDStA 1, 288,27/289,40. 24 Dies kommt eindrucksvoll zum Ausdruck in Jer 2,13: „Mein Volk tut eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch rissig sind und kein Wasser geben“.
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durch seine Gnade und seine Barmherzigkeit zu retten, bin ich sicher und gewiss, dass er treu ist; er wird mich nicht belügen. Ferner ist er mächtig und groß, so dass keine Dämonen, keine widrigen Umstände ihn werden niederzwingen oder mich ihm entreißen können. ,Niemand‘, sagt er, ,wird sie aus meiner Hand entreißen, weil der Vater, der [sie mir] gegeben hat, größer ist als alles‘“.25 Wenn das stimmt, dann lohnt es sich, bei Luther oder richtiger: mit Luther die Kunst solcher lebenswichtiger Unterscheidungen zu lernen.
25 LDStA 1, 651,1 – 24.
Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes1 Der vorliegende Beitrag enthält zwei Thesen, die sich einerseits ergänzen, andererseits in Spannung zueinander stehen. Beide sind in der Titelformulierung enthalten, und zwar in Gestalt der Mehrdeutigkeit des Wortes „als“. Der Titel besagt einerseits: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre könne und solle verstanden werden als eine Lehre vom Wirken Gottes (d. h., sie sei eine solche), und er besagt andererseits: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre könne und solle weiterentwickelt werden als eine Lehre vom Wirken Gottes (d. h. zu einer solchen). Beide Elemente stehen insofern in Spannung zueinander, als das, was schon vorhanden ist, nicht erst entwickelt werden muss. Sie ergänzen sich aber insofern, als die Entwicklung das Vorhandene voraussetzt, aufnimmt und weiterführt. Damit stellt sich als Aufgabe die Beantwortung folgender drei Teilfragen: 1.) Inwiefern lässt sich die Zwei-Regimenten-Lehre als eine Lehre vom Wirken Gottes verstehen? 2.) Inwiefern besteht (trotzdem) die Aufgabe, sie als solche weiterzuentwickeln? 3.) Was für eine Lehre vom Wirken Gottes ergibt sich auf diese Weise? Diese drei Fragen geben diesem Aufsatz seine Struktur.
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Der Aufsatz erschien ursprünglich unter der Überschrift „Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes“. Er war ein Beitrag zu dem Marburger Jahrbuch Theologie und dem zugehörigen Graduiertenkolleg unter dem Titel „Handeln Gottes“. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass die Rede vom Handeln in Anwendung auf Gott weniger geeignet und passend ist als die Rede vom Wirken Gottes. Deshalb habe ich hier durchgehend eine entsprechende Korrektur vorgenommen.Über die Gründe für diese terminologische „Konversion“ habe ich in meiner „Dogmatik“, Berlin/New York (1995) 20073, S. 283 – 285 Rechenschaft gegeben. Siehe zur Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre die einschlägigen Artikel von W. Härle, in: TRE 36/2004, S. 784 – 798, und von E. Herms, in: RGG4 Bd. 8, 2005, S. 1936 – 1941.
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Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes
1. Inwiefern lässt sich Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes verstehen? 1.0 Vorbemerkungen zur Interpretation der Zwei-Regimenten-Lehre Der Begriff „Zwei-Regimenten-Lehre“ ebenso wie der verwandte (geläufigere) Begriff „Zwei-Reiche-Lehre“ ist eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts2, und dies gilt allem Anschein nach auch für die verwandten, älteren Formulierungen: „Lehre von den zwei Reichen“3 bzw. „Lehre von den zwei Regimenten“4. Diese terminologische Beobachtung ist insofern für die zu untersuchende Sache erheblich, als sie daran erinnert, dass es in Luthers Schrifttum keine unter einem dieser beiden Termini programmatisch vorgetragene Lehre von den zwei Regimenten oder Reichen gibt. Eine solche Lehre muss erst aus den Texten rekonstruiert werden, wobei drei Schrift(-grupp)en besondere Bedeutung zukommt: „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“5, „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“6, und die Predigten über die Bergpredigt7. Die Lehre von den zwei Reichen oder Regimenten bildet jedoch von 1520 bis zu Luthers Tod ein durchgängiges Strukturelement seiner Lehre, das in den verschiedensten Formen, Ausprägungen und Anwendungsbereichen auftaucht. Wichtig ist dabei, dass Luther sich offensichtlich relativ früh von dem Augustinischen Dualismus von ci2
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Als ältesten Beleg für den Begriff „Zwei-Reiche-Lehre“ haben J. Haun und M. Schloemann die Arbeit von Harald Diem, Luthers Lehre von den zwei Reichen, 1938 (Nachdruck in TB 49, München 1973), S. 20, Anm. 34 ausfindig gemacht ( J. Haun in TB 49, S. 222, und M. Schloemann, Problemanzeige. In: N. Hasselmann [Hrsg.], Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, Bd. 1, Hamburg 1980, S. 124). Der Begriff „Zwei-Regimenten-Lehre“ ist jünger, aber in jedem Fall bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nachweisbar. Vgl. dazu C. H. Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. NZSTh 1/1959, S. 44. Nach allgemeiner Überzeugung wurde diese Formel durch K. Barth geprägt: Grundfragen der christlichen Sozialethik (1922), in: J. Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, München 19855, S. 156. Dies ist offenbar die älteste der vier Formeln. Sie taucht jedenfalls schon bei E. Billing, Luthers lära om staten, Uppsala 1900, 198 auf: „lära om ,de två regementena‘“. WA 11, 245 – 281 (1523). WA 19, 623 – 662 (1526). WA 32, 299 – 544 (1530 – 32).
Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes?
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vitas Dei und civitas diaboli gelöst hat, der sich nach 1516 bei ihm nachweisen lässt8. Im Hinblick darauf hat F. Lau konstatiert: „Dass Luther nur von zwei Reichen Gottes redet und nicht von einem regnum Dei und einem regnum diaboli, ist eines der eindeutigsten Daten innerhalb Luthers Lehre!“9. Das schließt freilich keineswegs aus, dass Luther mit der realen Existenz und Macht des Satans rechnet. Aber gerade gegen diese Macht des Bösen (neutr. und masc.), die stets als Macht unter Gott gedacht werden muss, richten sich die regna bzw. regimenta Gottes.10 Die intensive Beschäftigung mit Luthers Lehre von den zwei Reichen bzw. Regimenten (auf den terminologischen Unterschied und dessen sachliches Gewicht wird gleich einzugehen sein), setzt in den Jahren 1938 – 4011 durch die Arbeiten von Harald Diem12, Gustaf Törnvall13 und Ernst Kinder14 schlagartig ein und erreichte Mitte der 50er Jahre einen Höhepunkt. In den darauf folgenden Jahrzehnten hat die Beschäftigung mit der Zwei-Regimenten/Reiche-Lehre, die in hohem Maße von der Auseinandersetzung mit dem „Gegenkonzept“ der „Königsherrschaft Jesu Christi“ lebte, merklich nachgelassen. Hans8 So WA 1, 89 – 94. 9 RGG3, Bd. VI, Sp. 1946. Gegenüber dieser generellen Behauptung ist freilich daran zu erinnern, dass Luther es z. B. als Wissen und Bekenntnis aller Christen bezeichnen kann, „duo esse regna in mundo, mutuo pugnantissima, in altero Satanam regnare, … in altero regnat Christus … „ (WA 18, 782,30 – 35/ LDStA 1, 648, 2 – 8 (dt. „dass es zwei Reiche in der Welt gibt, die untereinander im heftigsten Widerstreit liegen. In dem einen regiert Satan, … In dem anderen regiert Christus“ [LDStA 1, 649, 2 – 11]). Gerade die Formulierung, dies wüßten alle Christen („vulgo cuncti Christiani“ bzw. „vulgus novit“) (beides a. a. O.) drückt aber möglicherweise zugleich eine gewisse Distanzierung Luthers von dieser volkstümlichen Anschauung aus. 10 Vgl. hierzu G. Müller, Ulrich Duchrows Darstellung und quellenmäßige Belegung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, in: Gottes Wirken in seiner Welt (s. o. Anm. 2) 33; sowie grundsätzlich: H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen 1967. 11 Es ist sicher kein Zufall, dass dies auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und im Umfeld des Beginns des 2. Weltkriegs geschah, stellten sich hier doch die Fragen nach dem Verhältnis von Politik, Gottes Wirken und christlicher Verantwortung in äußerster Schärfe. 12 S. o. Anm. 2. 13 G. Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther. Studien zu Luthers Weltbild und Gesellschaftsverständnis, München 1947. Die schwedische Originalausgabe erschien bereits 1940 in Stockholm unter dem Titel: „Andligt och världsligt regemente hos Luther“. 14 E. Kinder, Geistliches und weltliches Regiment nach Luther, Weimar 1940.
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Walter Schütte hat dieser Kontroverse 1978 die akademische Grabrede gehalten.15 Eine nur selten16 als solche bemerkte und angesprochene Besonderheit der Zwei-Regimenten/Reiche-Lehre ist es, dass sie fast ausschließlich als (sozial-)ethische Theorie interpretiert wurde und wird. Diese Besonderheit der ethischen Interpretation – obwohl doch von zwei Reichen bzw. Regimenten Gottes die Rede ist – erklärt sich vermutlich daraus, dass Luthers einschlägige Hauptschriften von ethischen Fragestellungen aus an die Grundelemente der Zwei-Regimenten/Reiche-Lehre heranführen. Dabei geht es Luther um folgende Fragenkomplexe: Wie ist weltliche Obrigkeit (samt dem ihr verliehenen „Schwert“) christlich zu verstehen? Inwieweit kann und soll der Christ Aufgaben und Ämter im Bereich der weltlichen Obrigkeit übernehmen? Inwiefern untersteht der Christ als Christ der politischen Obrigkeit? Und welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die Gebote der Bergpredigt? Gerade diese letzten Fragen und die von Luther dazu 1523 bezogene Position bieten einen relativ guten Zugang zum Verständnis, zur Problematik und zu den terminologischen Verschiebungen der Zwei-Regimenten/Reiche-Lehre. Deswegen wähle ich diese Fragen und ihre Behandlung durch Luther in der Obrigkeitsschrift von 1523 als Einstieg.
1.1 Christliche Existenz und weltliche Obrigkeit bei Luther (1523) Das Thema, über das er (aufgrund des Verbots in Bayern, Brandenburg und Herzogtum Sachsen, seine Übersetzung des Neuen Testaments zu verkaufen) zu schreiben sich gezwungen sehe, beschreibt Luther mit den Worten, er wolle „schreiben von der weltlichen Obrigkeit und 15 H.-W. Schütte, Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien und Gütersloh 1978, S. 339 – 353. 16 Zu den wenigen, die dies bemerkt und als „unstatthafte Verengung“ (so Ebeling) bzw. als Verschiebung des Themas gekennzeichnet haben, gehören G. Ebeling (Wort und Glaube, Bd. I, Tübingen 19673, S. 409) und G. Müller (s. o. Anm. 10, S. 38). Aber Ebeling lässt diese Verengung seinerseits nicht weit genug hinter sich, wenn er statt dessen die Zwei-Reiche-Lehre definiert als „Anleitung, das Verhältnis des Christen zur Welt gesamttheologisch zu bedenken“ (Wort und Glaube, Bd. III, Tübingen 1975, S. 574). S. dazu auch u. Anm. 29.
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ihrem Schwert, wie man dasselbe christlich gebrauchen soll und wie weit man ihm Gehorsam schuldig sei“.17 Dabei verfolgt Luther das Ziel, „die Fürsten und die weltliche Obrigkeit so … (zu) unterrichten, dass sie Christen und Christus ein Herr bleiben sollen und dennoch Christi Gebote um ihretwillen nicht zu Räten machen dürfen“.18 D. h., Luther will zeigen, dass und wie man auch als Christ die weltliche Obrigkeit wahrnehmen bzw. wie man als Funktionsträger dieser Obrigkeit Christ sein kann, ohne die dem allem Anschein nach entgegenstehenden Gebote der Bergpredigt (bes. Mt 5,38 f. und 44) sowie entsprechende Aussagen in Röm 12,19 und 1 Petr. 3,9 abzuschwächen zu bloßen „evangelischen Räten“ für die Vollkommenen.19 Eine solche ZweiStände-Ethik ist für Luther deswegen nicht akzeptabel, weil sie die Gebote Christi in ihrem klaren Wortlaut und ihrer Verbindlichkeit nicht ernstnimmt. Luther steht damit vor einer dreifachen Aufgabe: 1.) Er muss und will zeigen, dass die weltliche Obrigkeit (samt dem Schwert) durch Gottes Willen und Anordnung in der Welt ist. Hierzu verweist er nicht nur auf die entsprechenden Aussagen in Genesis und Exodus sowie im Römer- und l. Petrus-Brief, sondern auch auf die Bestätigung des weltlichen Regiments durch Johannes den Täufer (Lk 3,14) sowie durch Christus selbst (Mt 26,52). 2.) Luther will die Gebote der Bergpredigt, die den Widerstand gegen das Übel oder die Vergeltung des Bösen untersagen, uneingeschränkt ernstnehmen. Das ist nach seiner Meinung aber nur möglich, wenn man (an-)erkennt, dass sie „eigentlich … nur seinen lieben Christen“ gelten. „Die nehmen’s auch alleine an und tun auch danach, … sind im Herzen durch den Geist so beschaffen, dass sie niemandem übel tun und von jedermann willig Übel erleiden. Wenn nun alle Welt Christen wäre, so gingen diese Worte alle an und täten sie danach. Nun sie aber Nichtchristen sind, gehen sie die Worte nichts an, und sie tun auch nicht so …“.20 3.) Luther will zeigen, dass und wie trotzdem die Wahrnehmung der (von Gott eingesetzten) weltlichen Obrigkeit auch für Christen (die 17 Ich zitiere hier und im folgenden nach der leicht zugänglichen Ausgabe von K. Bornkamm/G. Ebeling: Martin Luther – Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/Main 1982, S. 37. Der Originaltext findet sich außer in WA 11, 245 – 281 auch in der Bonner Ausgabe von Clemen, Bd. 2, S. 360 – 394. 18 Bornkamm/Ebeling, S. 38. 19 So auch a. a. O., S. 42. 20 A. a. O., S. 47, ähnlich S. 49.
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doch unter den Geboten der Bergpredigt leben) möglich, ja sogar geboten ist. Um diese dreifache Aufgabe zu bewältigen, führt Luther nun die Unterscheidung zweier Reiche oder Regimente ein: „Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen teilen in zwei Teile: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus … diese Leute bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts … Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind. Denn da wenige glauben und der kleinere Teil sich nach christlicher Art hält, dass er nicht widerstrebe dem Übel, ja dass er nicht selbst Übel tue, hat Gott diesen außer dem christlichen Stand und Gottes Reich ein anderes Regiment verschafft und sie dem Schwert unterworfen, so dass sie, auch wenn sie gerne wollten, doch ihre Bosheit nicht tun könnten, und wenn sie es tun, dass sie es doch nicht ohne Furcht, noch mit Friede und Glück tun können … Darum hat Gott zwei Regimente verordnet: das geistliche, welches Christen und fromme Leute macht durch den heiligen Geist, unter Christus, und das weltliche, das den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie äußerlich Frieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht.“21 Von daher sieht sich Luther nun in der Lage, das eigentliche Problem zu lösen, wobei es für ihn keine Lösung wäre, wenn man „die Welt nach dem Evangelium regieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben … wollte“22, denn damit würde gerade das weltliche Regiment und seine spezifische Funktion (die sich aus der Beschaffenheit der Adressaten ergibt) zerstört. Die Lösung ergibt sich für Luther vielmehr aus der Feststellung, „dass die Christen untereinander und bei sich und fr sich selbst (Hervorhebung von W. H.) keines Rechtes noch Schwertes bedürfen; denn es ist ihnen nicht nötig noch von Nutzen. Aber weil ein rechter Christ auf Erden nicht sich selbst, sondern seinem Nächsten lebt und dient, so tut er der Art seines Geistes entsprechend auch das, dessen er nicht bedarf, sondern das seinem Nächsten von Nutzen und nötig ist. Nun aber das Schwert aller Welt ein großer nötiger Nutzen ist, damit Friede erhalten, Sünde bestraft und den Bösen gewehrt werde, so ergibt er sich aufs allerwilligste unter des Schwertes Regiment, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann, das der Gewalt för21 A. a. O., S. 42 – 45. 22 A. a. O., S. 45.
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derlich ist, damit sie im Schwang und in Ehren und Furcht erhalten werde; obwohl er davon für sich nichts bedarf, noch es ihm nötig ist. Denn er sieht danach, was andern von Nutzen und gut ist, …“23. Umgekehrt kommt Luther zu einer klaren Begrenzung der Befugnisse weltlicher Obrigkeit: Sie kann und darf nicht über die Seelen regieren wollen. Denn: „Der Seele soll und kann niemand gebieten, er wisse ihr denn den Weg zum Himmel zu weisen. Das aber kann kein Mensch tun, sondern Gott allein. Darum soll in den Sachen, die der Seele Seligkeit betreffen, nichts als Gottes Wort gelehrt und angenommen werden“.24 Luther wählt seinen Einstieg also bei einer Aufteilung aller Menschen in zwei Teilmengen, die er „Reich Gottes“ und „Reich der Welt“ nennt. Dieser Zugang erscheint zunächst als ganz angemessen, weil damit die beiden Menschengruppen unterschieden werden, für die einerseits die Gebote der Bergpredigt und andererseits das weltliche Regiment gelten. Aber schon in diesen kurzen Textpassagen zeigt sich, dass dieser Einstieg in die Lehre von den beiden Reichen oder Regimenten tatsächlich ungeeignet, jedenfalls aber missverständlich ist. Das wird an folgenden Punkten sichtbar. a) Terminologisch erweckt die Unterscheidung von Reich Gottes und Reich der Welt den – sich im Text selbst als irrig erweisenden – Eindruck, als sei das Reich der Welt kein Reich Gottes. b) Die Unterscheidung der Reiche im Sinne zweier Teilmengen von Menschen (nämlich den Gläubigen und den Ungläubigen) ist deswegen kein geeigneter Ausgangspunkt, weil die Konstitutionsbedingung für das Reich Gottes erst mit dem Begriff „geistliches Regiment“ zur Sprache gebracht wird. Erst durch das geistliche Regiment gibt es das, was Luther am Beginn des Textes „Reich Gottes“ nennt. c) Wenn (mit Luther) davon auszugehen ist, dass ein Mensch nicht als Glaubender geboren, sondern „durch den heiligen Geist“ dazu „gemacht“ wird25, dann richtet sich offenbar dieses geistliche Regiment nicht nur an die Menschen, die schon dem „Reich Gottes“ angehören, sondern auch und gerade an diejenigen, die dem „Reich der Welt“ angehören, um sie zu Gliedern des Reiches Gottes zu machen. Durch den Text entsteht jedoch leicht der (irrige) Eindruck, die beiden Reiche 23 A. a. O., S. 48. 24 A. a. O., S. 61. 25 A. a. O., S. 45.
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seinen diejenigen Größen (Bereiche), auf die sich die jeweiligen Regimente bezögen. d) Im Text selbst ist zu bemerken, dass Luther sich genötigt sieht, die Begrifflichkeit der zwei Reiche immer wieder (und in zunehmendem Maß) durch die der zwei Regimente zu ersetzen oder zu ergänzen (ohne dass es zu einer vollständigen Ersetzung oder zu einer Klärung der Beziehung beider Begriffe kommt). e) In seinen späteren Hauptschriften zur Zwei-Reiche/Regimenten-Lehre hat Luther die Unterscheidung zweier Teilmengen von Menschen sukzessive ersetzt durch eine Unterscheidung, die durch einund denselben Menschen hindurchgeht: die Unterscheidung des Christen als Christperson und Weltperson oder auch als Privatperson und Amtsperson.26 f) Obwohl Luther in den späteren Schriften durch diese terminologischen Veränderungen das Modell der zwei Reiche als Teilmengen von Menschen faktisch durchbrochen, ja aufgehoben hat, bleibt sein sachlicher Lçsungsansatz für das zugrundeliegende Problem identisch: Der Christ als Christ braucht fr sich keine weltliche Obrigkeit, weil ihn erstens das Evangelium am Tun des Bösen hindert und zum Tun des Guten befreit und ermächtigt und er zweitens für seine Person das Böse willig leiden kann. Aber der Christ als Weltperson, im Amt braucht und gebraucht aus Liebe um des Nchsten willen weltliche Obrigkeit und stellt sich ihr bei Bedarf bereitwillig zur Verfügung. Von all diesen Beobachtungen her legt es sich m. E. nahe, Luthers Denkansatz nicht (in Anlehnung an die Obrigkeitsschrift von 1523) vom Begriff der zwei Reiche, sondern vom Begriff der zwei Regimente her zu rekonstruieren. Es wird zu prüfen sein, ob sich dadurch eine stimmigere Konzeption ergibt.
1.2 Zwei Regimente und/oder Reiche Der Begriff des Reiches verbindet zwei Vorstellungen in sich: den Bereich, auf den sich eine (politische) Herrschaft erstreckt und/oder die Gesamtheit der Menschen, die einer Herrschaft unterstehen (die „Reichsgenossen“). Beides braucht sich nicht auszuschließen, da je-
26 Siehe dazu H. Graß, Luthers Zwei-Reiche-Lehre, ZevKR 31/1986, 145 – 176.
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denfalls zum Herrschaftsbereich (Hoheitsgebiet) immer auch Menschen gehören.27 Der Begriff des Regiments bezeichnet demgegenüber die Herrscheroder Regierungsgewalt und/oder die Art, wie sie ausgebt wird. Auch hier besteht kein Ausschließungsverhältnis, weil jede Regierungsgewalt auf eine bestimmte Art und Weise ausgeübt wird, und jede Ausübung das Vorhandensein von Regierungsgewalt voraussetzt. In der ZweiRegimenten-Lehre liegt der Akzent (naturgemäß) auf der ( jeweils unterschiedlichen) Art der Ausübung beider Regimente, während die Voraussetzung, dass es Gott ist, der sie innehat und ausübt, als (fast selbstverständliche) Voraussetzung eher im Hintergrund bleibt. Von daher bekommt der Begriff „Regiment“ in der Zwei-RegimentenLehre überwiegend die Bedeutung von „Regierweise“.28 Versteht man die Zwei-Regimenten-Lehre aber von da aus, so erweist sich der (sozial-)ethische Interpretationsansatz als ganz missverständlich, dann ist aber auch eine fundamental-anthropologische Interpretation (wie Ebeling sie intendiert) unzureichend; denn dann geht es in der Zwei-Regimenten-Lehre grundlegend um eine Theorie vom Wirken Gottes. Diese Einsicht ist an einigen wenigen Stellen in der Lutherforschung bereits angedeutet worden29, aber, wenn ich recht 27 Während Luther in der Obrigkeitsschrift offensichtlich bei „Reich“ eher an „Reichsgenossen“ denkt, überwiegt in der Wirkungsgeschichte der ZweiReiche-Lehre das Verständnis der Reiche als Herrschaftsbereiche oder -gebiete. Exemplarisch hierfür ist die Aussage A. Harnacks: „Gott und der Kaiser sind die Herren zweier ganz verschiedener Gebiete“ (Das Wesen des Christentums, 1900 [GTB 229], Gütersloh 1977, S. 69). 28 So durchgängig in den Thesen des Theologischen Ausschusses der VELKD vom 8. März 1979 über „Die beiden Regierweisen Gottes“. In: Gottes Wirken in seiner Welt (s. o. Anm. 2), Bd. II, Hamburg, 1980, S. 162 – 172. Vgl. dazu auch H. Ph. Meyer, Predigt und politische Verantwortung nach der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934, Hannover 1984. 29 G.Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, München 1947, S. 10: „Die Regimentenlehre gibt in erster Linie dem Gedanken von Gottes Gegenwart auf eine konkrete und unmittelbare Weise Ausdruck. Sie schließt in sich, dass Gott sowohl im geistlichen als auch im weltlichen Leben mit der Welt und dem Menschen durch geschaffene und gestiftete Mittel handelt, durch welche die göttliche Wirklichkeit in konkreter Gestalt hervortritt“. Ähnlich C. H. Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes, in: NZSTh 1, 1959, S. 43 f.; G. Ebeling, Luther, Tübingen 1964, S. 209, und G. Müller (s. o. Anm. 10), S. 38: Es „muss doch pointiert gefragt werden, ob es tatsächlich in Luthers Reiche- und Regimentenlehre … um das Verhalten des Menschen zu Gott und Welt geht? Geht es nicht vielmehr in dieser seiner Lehre um das
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sehe, ist diese Interpretationsmöglichkeit bisher noch nicht konsequent ausgearbeitet worden.
1.3 Grundzüge der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers Zeigt sich, dass der Interpretationsansatz, der vom Begriff der „Reiche“ ausgeht, durch den Regimenten-Begriff gesprengt wird, so fragt sich, ob beim Regimenten-Begriff ansetzend eine Rekonstruktion möglich wird, die auch den Reichs-Gedanken voll integrieren kann. Das ist m. E. der Fall. Ausgangspunkt ist dann folgender Gedanke: Gott regiert die Welt auf zweierlei Weise, d. h., das göttliche Regiment ist ein zweifaches: ein geistliches und ein weltliches. Das erstere übt Gott aus durch Christus, den Heiligen Geist, das Evangelium. Das Ziel dieses geistlichen Regiments ist es, Glauben zu wecken und damit die Macht des Bösen von innen, von der Wurzel her zu überwinden. Das weltliche Regiment übt Gott aus durch Obrigkeit, Schwert, Gesetz. Sein Ziel ist es, die Auswirkungen des Bösen von außen einzudämmen („unter Androhung und Ausübung von Gewalt“, wie die Barmer Theologische Erklärung es in ihrem 5. Artikel formuliert). Das weltliche Regiment ist deswegen „nur“ Ausdruck des göttlichen Erhaltungswillens, während das geistliche Regiment Ausdruck seines Erlçsungswillens ist. Von da aus werden zwei Besonderheiten verständlich: a) Zwischen beiden Regimenten besteht keine Gleichwertigkeit oder Gleichrangigkeit. Das geistliche Regiment ist Gottes eigentliches Werk (opus proprium), das weltliche Regiment ist sein fremdes Werk (opus alienum). Und dieses opus alienum ist dem opus proprium funktional und dienend (als eine vorübergehende, limitierte Hilfsmaßnahme) zugeordnet. b) Dort, wo das geistliche Regiment zum Ziel gekommen ist, macht es das weltliche Regiment berflssig. Ist die Macht des Bösen von innen, von der Wurzel her überwunden, dann ist seine äußere Eindämmung funktions-, weil gegenstandslos geworden. Aber das geistliche Regiment Gottes kommt erst eschatisch (ganz) ans Ziel; deshalb bleibt das weltliche Regiment notwendig und in Kraft „in hac vita“. (Nur beiläufig sei darauf hingewiesen, dass lediglich ein statischer und perfektioVerhalten Gottes zum Menschen und seiner Welt? … Gott handelt – das ist doch wohl ,der tiefste Sinn‘ von Luthers Reiche- und Regimentenlehre“.
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nistischer Glaubensbegriff die These nach sich zöge, dass Christen in keiner Hinsicht mehr des weltlichen Regiments bedürften). Von daher erschließt sich auch der Zugang zur Rede von den zwei Reichen. Van Laarhoven hat den Zusammenhang wie folgt formuliert: „Das Regiment ist der modus quo, das Reich ist der locus quo oder das effectum quod“.30 Ich würde den Begriff „effectum“ allerdings ergänzen durch bzw. interpretieren im Sinne von „coetus“, um deutlich zu machen, dass das geistliche und weltliche Regiment Gottes sich auf Menschen bezieht. Damit würde man sich auch Luthers Verständnis der Reiche im Sinne von zwei Teilmengen der Menschheit annähern. Man könnte dann folgende Verhältnisbestimmung vornehmen: „Reich Gottes“ im Sinne von Herrschaftsbereich des geistlichen Regiments ist der Raum, in dem das Evangelium ergeht und Menschen erreicht, damit sie zu Glaubenden werden. „Reich Gottes“ im Sinne einer Menschengemeinschaft ist dann die (verborgene) Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden, die durch das geistliche Regiment Gottes selbst begründet und erhalten wird. Dieses geistliche Regiment bedarf jedoch der äußeren Mittel (Heilsmittel), und der sichtbaren, leibhaften Gemeinschaft der Hörenden und Bekennenden (sichtbare Kirche). Damit zeigt sich aber, dass die Kirche unter beiden Regimenten Gottes steht: als Gemeinschaft der Glaubenden ist sie der effectus des geistlichen Regiments, als Gemeinschaft der Hörenden und Bekennenden ist auch sie stets vom Bösen bedroht und bedarf deshalb des weltlichen Regiments (Kirchenordnung, Kirchenrecht). Das ist beides zugleich: Aufwertung und Relativierung der (sichtbaren) Kirche. Ihre Aufwertung besteht darin, dass sie und nur sie sowohl das äußere Mittel wie den Lebensraum des göttlichen Erlçsungswirkens darstellt. Ihre Relativierung besteht darin, dass sie als menschlich-irdische Einrichtung selbst Ausdruck des göttlichen Erhaltungswillens ist und unter dem weltlichen Regiment steht, also keineswegs mit dem geistlichen Regiment Gottes identisch ist. Im Unterschied dazu kann man aber im Anschluss an Luther sagen, dass zum Reich Gottes (im Sinne der von Jesus verkündigten und gebrachten Gottesherrschaft) tatsächlich (nur) diejenigen gehören, bei denen das Evangelium zum Ziel gekommen ist, also Glauben geweckt und gefunden hat. 30 J. van Laarhoven, Luthers Lehre von den zwei Reichen (1966), in: H.-H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt, Darmstadt 1969, S. 85 – 97. Das Zitat findet sich auf S. 86.
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Aber auch dort, wo das geistliche Regiment (noch) nicht zum Ziel gekommen ist, überlässt Gott die Welt (einschließlich der sichtbaren Kirche) nicht sich selbst, und das heißt, dem in ihr anwesenden Bösen, sondern übt sein weltliches Regiment aus. Äußere Mittel dieses Regiments sind für Luther die politische Obrigkeit, der Staat, das Recht, aber auch die Stände, Ordnungen und Ämter der Gesellschaft, kurz: alles, wodurch dem Bösen Einhalt geboten werden kann. In der Regel fasst Luther dies alles im Begriff „Gesetz“ zusammen. Von diesem Ansatz her kann man nun Luthers Gedanken der Einteilung der Menschheit in zwei Reiche aufnehmen und der Regimentenlehre wie folgt zuordnen: Die Ungläubigen existieren nicht in einem Raum ohne Gottes Wirken, sondern auch dann, wenn und solange das geistliche Regiment Gottes bei ihnen (noch) nicht zur Wirkung gelangt ist, erhält Gott sie durch sein weltliches Regiment, das ihrer eigenen und fremder Bosheit einen Riegel vorschiebt. Aber gerade weil das weltliche Regiment als das opus alienum dem opus proprium des geistlichen Regiments dienend zugeordnet ist, kann die Zugehörigkeit zu der (Teil-) Menge der Ungläubigen nicht als Festschreibung verstanden werden, sondern ist offen für das Wirksamwerden des geistlichen Regiments. Dieser kurze Rekonstruktionsversuch sollte zeigen, dass Luthers Zwei-Reiche/Regimenten-Lehre nicht missdeutet wird, wenn man sie vom Regimenten-Begriff aus rekonstruiert und von da aus den ReichsBegriff einbezieht. Insofern würde ich über H. Bornkamm hinausgehen, wenn dieser feststellt, „dass man bei Luther weder allein mit der Perspektive von den ,zwei Reichen‘ noch allein mit der Perspektive von den ,zwei Regimenten‘ auskommt. Luthers Originalität liegt in ihrer Zusammenordnung“31. Ich würde ergänzen: in ihrer Zusammenordnung, die aus der Perspektive der Regimente gedacht ist bzw. gedacht werden muss. Es ist jedoch ausdrücklich einzuräumen, dass Luther selbst hier terminologisch nicht genau unterscheidet, sondern beide Begriffe auch promiscue gebrauchen kann.32 Das bisher Vorgetragene ist deshalb nicht einfach als Referat Luthers, sondern bereits als Rekonstruktionsversuch zu verstehen. 31 H. Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen (19602), in: Schrey (s. o. Anm. 30), S. 165 – 195. Das Zitat findet sich auf S. 178. 32 Dies konstatiert auch Bornkamm, a. a. O., S. 171 und 177 f.
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2. Inwiefern besteht die Aufgabe, die Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes zu entfalten? 2.1 Ansatzpunkte für eine Theorie des Wirkens Gottes In diesem Abschnitt soll nicht noch einmal begründet werden, dass die Zwei-Regimenten-Lehre als Theorie des Wirkens Gottes verstanden und rekonstruiert werden kann, sondern welche Strukturmomente dabei übernommen, hinzugefügt oder ausgeblendet werden. Ich beginne mit dem letzteren: Ausgeblendet werden können und sollen alle Elemente, die bisher unter dem Begriff „zwei Reiche“ verhandelt wurden. Sie thematisieren ja nicht das Wirken Gottes selbst, sondern seinen Ort, seine Wirkung, seine Adressaten. Um einer möglichst reinen Theorie des Wirkens Gottes willen erscheint es mir als sinnvoll, diese Aspekte hier nicht weiter zu verfolgen. (Wie sie sich mit der Theorie verbinden lassen, wurde ja bereits angedeutet.) Von dieser Regimenten-Lehre übernehme ich – teils in modifizierter oder erweiterter Form – folgende Strukturelemente: a) Die Regimente werden gedacht als die Regierweisen Gottes in Beziehung zur Welt. In diesem Satz steckt (durch den bestimmten Artikel „die Regierweisen“) die Behauptung, die Regimentenlehre sei als vollständige Beschreibung und Disjunktion zu verstehen, freilich bloß „in Beziehung zur Welt“. Die ( jedenfalls denkbare) Dimension eines Wirkens Gottes in Beziehung zu sich selbst, wie sie etwa in der sog. immanenten Trinitätslehre thematisiert wird, bleibt hier außer Betracht. b) Als vollständige Beschreibung und Disjunktion des Wirkens Gottes in Beziehung zur Welt können die beiden Regimente allerdings nur verstanden werden, wenn eine implizite Begrenzung in Luthers Lehre gesprengt wird, nämlich die Interpretation der Regimente als Reaktionen auf die Realität des Bösen. Luthers Zwei-RegimentenLehre ist konsequent infralapsarisch gedacht. Will man sie als Lehre vom Wirken Gottes in Beziehung zur Welt überhaupt denken, so muss man diese „reaktive“ Interpretation durchbrechen. D. h. nicht, dass die Universalität des Bösen in der Welt post lapsum Adae in Frage gestellt
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würde, wohl aber, dass Gottes Regierung der Welt nicht als durch die Existenz des Bösen bedingt gedacht werden kann.33 c) Der Unterschied der Regimente wird bestimmt von ihren jeweils intendierten Effekten her: Erlösung im einen, Erhaltung im anderen Falle. Dabei umfasst der Begriff der Erlösung das Heilswirken Gottes in allen seinen Dimensionen (also Soteriologie wie Eschatologie), und der Begriff der Erhaltung umfasst das Weltwirken Gottes in allen seinen Dimensionen (also Schöpfungslehre wie Vorsehungslehre). Die Einbeziehung der Schöpfungslehre geht im Gefolge der unter b genannten Ausweitung ebenso über Luther hinaus wie die der Eschatologie. d) Zur Bezeichnung der Instrumente und Mittel beider Regimente übernehme ich von Luther die Begriffe „Evangelium“ und „Gesetz“, wobei „Evangelium“ eindeutig der Erlösungsordnung (also dem geistlichen Regiment), „Gesetz“ eindeutig der Erhaltungsordnung (also dem weltlichen Regiment) zugeordnet ist. Das Gesetz dient freilich in seinem usus elenchticus indirekt auch dem geistlichen Regiment. Das Evangelium hingegen dient direkt dem geistlichen Regiment, ist diesem Verständnis nach also nicht Mittel zur Erhaltung der Welt und gehört nicht ins weltliche Regiment; es dient aber auf höchst wirksame Weise auch dieser Erhaltung, indem es seine eigene (erlösende) Funktion erfüllt und zum verantwotlichen Handeln motiviert. e) Dementsprechend ist auch die Ungleichwertigkeit und Ungleichgewichtigkeit beider Regimente zu übernehmen, wie sie sachgemäß in Luthers Charakterisierung als opus proprium und opus alienum zur Geltung kommt. Damit wird dem zeitgenössischen theologischen Denken die als unzeitgemäß und schwer akzeptierbar geltende These zugemutet, die Vermittlung ethischer Werte, die der Erhaltung der Welt dienen, und die ihr korrespondierende menschliche Aufgabe der Bewahrung der Erde stellen keinen Selbstzweck dar, sondern stehen ihrerseits im Dienst der soteriologischen und eschatologischen Bestimmung von Mensch und Welt. In bezug auf das weltliche Regiment muss deshalb dessen mehrfache (z. B. soteriologische und eschatologische) Begrenzung mitgedacht werden. f) Im Blick auf das geistliche Regiment hat Luther ausdrücklich mit der Unterscheidung von Wort und Geist, äußerer und innerer Klarheit, 33 Daraus ergibt sich die – hier nicht zu leistende – anthropologische Aufgabe, diejenigen Aspekte des Menschseins (in ihrer Unterscheidung und Zusammengehörigkeit) auszuarbeiten, auf die sich die beiden Regimente beziehen – also eine Theorie des inneren und äußeren Menschen zu entwickeln.
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äußerem und innerem Wort gearbeitet. Dabei ist ihm die Zusammenordnung beider Größen mindestens ebenso wichtig wie ihre Unterscheidung,34 und zwar derart, dass Geist und innere Klarheit sowie inneres Wort an das äußere Wort gebunden sind, ohne dass das Umgekehrte gilt. Diese Unterscheidung soll als ein wesentliches Strukturmoment einer Lehre vom Wirkens Gottes übernommen werden, wobei m. E. zu prüfen ist, ob diese Unterscheidung (wie bei Luther) nur auf das Evangelium oder auch auf das Gesetz anzuwenden ist. g) Jedenfalls als Ansatz ist bei Luther die hier vertretene These vorhanden, dass die beiden Regimente Gottes sich nicht auf zwei distinkte Klassen von Menschen richten, sondern prinzipiell jeden Menschen angehen und betreffen. Weder die universale Geltung der Schöpfungsaussagen, noch die universale Geltung der Heilsaussagen könnte andernfalls festgehalten werden.
2.2 Klärungsbedürftige Elemente in Luthers Zwei-Regimenten-Lehre Von einigen solchen klärungsbedürftigen Elementen war bereits in Unterabschnitten von 2.1 die Rede. Als weiteres Gravamen erweist sich Luthers Verständnis des Gesetzes, wie es insbesondere in der Zusammenordnung von weltlichem Regiment Gottes und politischer Obrigkeit zum Ausdruck kommt. H. Graß hat gefragt, ob Luthers obrigkeitliches Denken (mit seinen problematischen Konsequenzen in der Geschichte der evangelischen Kirche bis ins 20. Jahrhundert hinein) nicht weitgehend damit zusammenhänge, dass er Gott in der politischen Obrigkeit unmittelbar am Werke sah. Damit hätten staatliche Gesetze und Maßnahmen einen sakrosankten Charakter bekommen.35 Tatsächlich ist die These vom Weltregiment Gottes durch das Gesetz als solche nicht hinreichend gegen die Gleichsetzung von Volks- oder Staatsgesetz mit Gottes Gesetz geschützt.36 Hier ist genaueres Nachdenken über den Begriff des Gesetzes erforderlich. Im Anschluss daran wird zu überlegen sein, ob die These Luthers, der Christ (als Christ) bedürfe des weltlichen Regiments Gottes fr sich nicht, theologisch sachgemäß ist. Wenn ich recht sehe, hat Luther sich 34 Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz: Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen, s. o. S. 240 – 256, bes. S. 244 – 246. 35 So Graß (s. o. Anm. 26), S. 171. 36 Siehe dazu unten Anm. 55.
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hier im Laufe der Zeit selbst behutsam korrigiert, indem er dem Christen immerhin die Mçglichkeit einräumte, legitimerweise das weltliche Regiment auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Luthers Letztbegründung für diese Möglichkeit ist jedoch immer wieder die Aufrechterhaltung des weltlichen Regiments zum Wohle der anderen und der Allgemeinheit. Das ist m. E. auch sachlich richtig; denn nur so kann die Gefahr (wenigstens) begrenzt werden, dass die Inanspruchnahme der Rechtsordnung der eigenmächtigen Durchsetzung persönlicher Interessen und der Stillung des Rachedurstes dient.37
3 Grundzüge einer aus der Zwei-Regimenten-Lehre entwickelten Lehre vom Wirken Gottes 3.0 Formulierung und allgemeine Begründung der These Die These, die ich in diesem Abschnitt entfalten und erläutern will, lautet: Gottes Wirken (in Beziehung zur Welt) geschieht (ausschließlich) durch sein geistliches und weltliches Regiment, d. h. durch Gesetz und Evangelium. Diese Grundthese ist in mehrfacher Hinsicht der Differenzierung bedürftig: 1) Das Wirken Gottes durch das Gesetz, also sein weltliches Regiment, hat die Doppelgestalt des Wirkens durch Naturgesetz und Sittengesetz. 2) Das Wirken Gottes durch das Evangelium, also sein geistliches Regiment, schafft Glaubensgewissheit, die vom Glaubensakt zu unterscheiden ist. 3) Das Wirken Gottes durch Gesetz und Evangelium, also sein weltliches und geistliches Regiment hat die Doppelgestalt des Handelns durch ußeres und inneres Wort. Ich will zunächst die Notwendigkeit dieser Differenzierungen in allgemeiner Form begrnden, bevor ich im restlichen Kapitel (3.1 – 3.3) das so Differenzierte im einzelnen entfalte und erläutere. Ad 1) Die Differenzierung des Gesetzes in Natur- und Sittengesetz Wenn bei Luther und im Anschluss an Luther von „Gesetz“ die Rede ist, so wird dabei stets an Gesetze gedacht, die den Charakter von Sollens-Vorschriften haben, also an deontologische Normen – seien sie ethischer oder rechtlicher/politischer Art. Und es macht zweifellos 37 An dieser Stelle revidiere ich meine in der ursprünglichen Fassung dieses Aufsatzes artikulierte Kritik an Luther.
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guten Sinn zu behaupten, Gott regiere und erhalte die Welt durch solche deontologischen Gesetze, ohne dass damit die Umkehrung verbunden sein kann: Alle deontologischen Gesetze seien Mittel der Weltregierung Gottes. Ebenso wenig kann man aber auch sagen, Gott regiere und erhalte die Welt nur durch solche deontologischen Gesetze. Auch die sog. Naturgesetze sind ja Ordnungen, durch die Gott die Welt regiert und erhält, und zwar auf ganz fundamentale Weise. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, innerhalb des weltlichen Regiments zu differenzieren zwischen einem Erhaltungswirken Gottes durch die (Natur-)Gesetze, deren Wirksamkeit allem menschlichen Handeln zugrunde liegt und durch dieses nicht aufgehoben werden kann, und dem Erhaltungswirken Gottes durch die (deontologischen) Gesetze, deren Wirksamwerden durchaus von menschlichem Handeln abhängig ist. Aus später zu entfaltenden Gründen (s. u. 3.2 d) empfiehlt es sich, diese deontologischen Gesetze, wenn sie als Weise des Wirkens Gottes verstanden werden sollen, auf den Begriff des Sittengesetzes zu konzentrieren. Daraus ergibt sich die erste Differenzierung des weltlichen Regiments Gottes in die Doppelgestalt des Wirkens durch Naturgesetz und Sittengesetz. Ad 2) Die Unterscheidung zwischen Glaubensgewissheit und Glaubensakt Wenn in der christlichen Lehre vom Wirken Gottes die Rede ist, so ist in sachlicher Hinsicht das Wirken Gottes, das den Glauben bedingt und ermöglicht, das Fundamentale. Der in der christlichen Lehre begrifflich und argumentativ artikulierte christliche Glaube ist nicht als Resultat eigenständigen menschlichen Handelns zu verstehen, sondern so, dass er sich Gottes Wirken verdankt.38 Das heißt freilich nicht, dass der Glaube dem Menschen von Gott her widerfahre, ihm sozusagen unabhängig von seiner personalen Beteiligung „zugeteilt“ würde.39 Das Wirken Gottes ist für den Glauben des Menschen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Gott – und Gott allein – kann die Gewissheit schenken, ohne die Glaube (fiducia) unmöglich ist. Aber die Gewissheit des Glaubens ist selbst noch nicht der Akt des Vertrauens auf das, was sich als gewiss erschlossen hat. Der Mensch kann – und das ist die 38 Exemplarisch kommt diese Erkenntnis zum Ausdruck in Luthers Auslegung des 3. Artikels im Kleinen Katechsimus (BSLK 511,39 – 512,14). 39 Sie hierzu die Konkordienformel, SD, Art. II. (BSLK 894 – 912). In der Argumentation der Konkordienformel wird auch erkennbar, dass andernfalls im Umkehrschluss auch die Sünde als Werk Gottes gedacht werden müsste.
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bedrückende Möglichkeit der Sünde als Schuld – dem, was ihm gewiss geworden ist, das Vertrauen und damit den Gehorsam verweigern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zwischen dem Glaubensakt (als menschlichem Vertrauen) und der den Glaubensakt ermöglichenden Glaubensgewissheit (als Werk Gottes) zu unterscheiden. Ad 3) Die Differenzierung zwischen äußerem und innerem Wort In einem weiteren Schritt ergibt sich von da aus die Notwendigkeit, zwischen äußerem und innerem Wort zu unterscheiden. Die Gewissheit, die sich einem Menschen durch Gottes Wirken erschließt, ist ja das Gewisswerden von etwas, und zwar die Gewissheit von Gottes erhaltendem und erlösendem Willen und Wirken. Es gibt generell und so auch in diesem Fall keine „Gewissheit an sich“. Dasjenige, was gewiss wird, bezeichne ich in reformatorischer Terminologie als das ußere Wort, wobei der Begriff „Wort“ in dem weiten Sinn zu verstehen ist, der auch nichtsprachliche Zeichen (Ereignisse, Gesten, Handlungen, Bilder etc.) umfasst. Wenn nun Gottes Wirken als ein erhaltendes und erlösendes Wirken an und mit der Welt verstanden wird, dann kann das Wirken nicht auf den Akt des Gewissmachens beschrnkt (also bloß pneumatologisch interpretiert) werden, sondern ist auch für das „Wort“ in Anspruch zu nehmen, das der Erhaltung und der Erlösung der Welt dient. D. h., es ist auch schçpfungstheologisch und christologisch – mithin insgesamt trinittstheologisch – zu verstehen. Erst von daher wird es möglich, von einem Wirken Gottes und damit von einer Selbstbezeugung Gottes auch dort zu sprechen, wo Gewissheit und dadurch ermöglichte Erkenntnis dieses Wirkens Gottes sich noch nicht eingestellt haben. Und dies gilt nicht nur für die Heilsbotschaft, die man „mit sehenden Augen nicht erkennen und mit hörenden Ohren nicht verstehen“ kann (Mk 4,12) 40, sondern es gilt auch für das Wirken Gottes in Natur- und Sittengesetz, deren Wirklichkeit und Geltung (ebenfalls) nicht mit ihrem Gewisswerden identisch sind oder in ihm aufgehen. Evident ist dies am Naturgesetz, aber es gilt auch – wie zu zeigen sein wird41 – für das Sittengesetz. So ergibt sich für das geistliche wie für das weltliche Regiment die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Gottes Wirken im ußeren und inneren Wort.
40 Mit diesem Schriftzitat ist nicht meine Zustimmung zu der markinischen These verbunden, dies sei die Intention der Verkündigung Jesu im allgemeinen oder seiner Gleichnisse im besonderen gewesen. 41 S. u. Abschnitt 3.2 c.
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1 – 3) Schematische Übersicht Das bisher Gesagte lässt sich in der folgenden schematischen Übersicht zusammenfassend darstellen. Dabei erschließt sich die Sachlogik der Differenzierung erst dann, wenn man das Schema als von rechts nach links und von unten nach oben konstruiert versteht. Sachlicher Ausgangspunkt ist also die „Glaubensgewissheit“. Wenn in der folgenden Darstellung die umgekehrte (und vom Credo her vertraute) Reihenfolge gewählt wird, so deshalb, weil der sachliche Ausgangspunkt zugleich der Zielpunkt des Wirkens Gottes ist. Gesetz
Evangelium
äußeres Wort Naturgesetz
Sittengesetz
Heilsbotschaft
inneres Wort Weltgewissheit (= Erschlossensein der Naturgesetze)
Sittliche Gewissheit (= Erschlossensein des Sittengesetzes)
Glaubensgewissheit (= Erschlossensein der Heilsbotschaft)
3.1 Gott wirkt durch Naturgesetze a) Der scheinbare Gegensatz zwischen Naturgesetz und Wirken Gottes Die meisten Schwierigkeiten, die sich für das neuzeitliche Denken im Blick auf ein Wirken Gottes ergeben, haben ihre Wurzeln in der (scheinbaren) Unvereinbarkeit der Vorstellung eines Wirkens Gottes mit dem (lückenlosen) Funktionieren der Naturgesetze. Der Begriff des Naturgesetzes (und dies gilt m. E. auch angesichts der Quantenphysik und der damit möglicherweise verbundenen teilweisen Ablösung des Kausalitätsprinzips durch das Prinzip der Wahrscheinlichkeit) ist inkompatibel mit der Vorstellung eines in den Ablauf der Natur eingreifenden göttlichen Wirkens. Aber wenn das Wirken Gottes so, als Eingriff in die Naturgesetze gedacht wird, dann erscheinen die Naturgesetze im Verhältnis zu Gott als Größen eigenen Ursprungs und Rechts. D. h. aber, nur wenn man die Existenz von Naturgesetzen „gott-los“ denkt, entsteht die Tendenz, Gottes Wirken als ihre Durchbrechung oder Aufhebung denken zu müssen. Eine theo-logisch durchdachte Interpretation der Naturgesetze kann gar nicht umhin, diese selbst als Werk Gottes, d. h. als eine Weise seines Wirkens zu verstehen. Die am Beginn dieses Unterabschnitts angedeutete Problematik verschwindet dadurch aber nicht gänzlich, sondern sie stellt sich in
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differenzierterer Form neu, nämlich: erstens als das Deismus-Problem und zweitens als Frage nach der Flexibilität göttlichen Wirkens durch Naturgesetze und im Verhältnis zu den Naturgesetzen. b) Das Deismus-Problem Was die Deismus-Problematik betrifft, so besteht sie m. E. in einer Mechanisierung und Historisierung des Wirkens Gottes als prima causa, nicht aber in dem Grundgedanken, dass die Naturgesetze selbst Wirkweisen Gottes sind. Diese Mechanisierung und Historisierung lässt sich aber aufbrechen, indem Schöpfung nicht (nur) als Initialakt, sondern als creatio continua gedacht wird42, die fr uns die Gestalt der creatio continuata hat.43 Die deistische Horrorvorstellung des weggegangenen Uhrmachers (namens Godot?) ist von daher jedenfalls überwind- oder sogar vermeidbar. c) Die Flexibilität der Naturgesetze Aber auch dann stellt sich das Problem der Flexibilität des naturgesetzlichen Wirkens Gottes oder eines in seine eigenen Gesetze gelegentlich eingreifenden und sie suspendierenden Wirkens Gottes. Durchdenkt man das Problem jedoch genauer, so zeigt sich bald, dass der Gedanke des Eingreifens oder der Selbstsuspendierung zu einem inneren Widerspruch in Gott führt – er ist weder mit der Weisheit noch mit der Allmacht Gottes widerspruchsfrei zusammenzudenken.44 Dieses Problem stellt sich allerdings so nicht im Blick auf eine Flexibilität der 42 So bekanntlich schon Luther, WA 12, 441,6; 21, 521,20 und 46, 558,20. 43 Die Prozessphilosophie und -theologie (etwa bei A. N. Whitehead, Ch. Hartshorne und J. Cobb) bietet leistungsfähige Mittel der gedanklichen Durchdringung des so beschriebenen Sachverhalts, wobei allerdings noch zu prüfen ist, welche der unterschiedlichen prozessphilosophischen Aussagen über Gott (z. B. Gott als „primordial, non-temporal accident“ von „creativity“ [A. N. Whitehead, Process and Reality, London 1978, S. 7] oder als „aboriginal instance of this creativity“ [S. 225]) theologisch akzeptiert werden können. Vgl. hierzu I. U. Dalferth, Die theoretische Theologie der Prozessphilosophie Whiteheads. Ein Rekonstruktionsversuch, in: W. Härle/E. Wölfel (Hrsg.), Religion im Denken unserer Zeit, Marburg 1986, 127 – 191 sowie E. Orf, Religion, Kreativität und Gottes schöpferische Aktivität in der spekulativen Metaphysik Alfred North Whiteheads, Egelsbach u. a. 1996. 44 Merkwürdigerweise wird in der neueren Diskussion über Evolutionstheorie und Schöpfungsglauben die Hypothese von einem „Intelligent Design“ insbesondere seitens deren Bestreiter mit der Vorstellung von einem Eingreifen Gottes in den natürlichen Ablauf der Welt in Verbindung gebracht, während sie doch ihrem Wortlaut und Sinn nach „nur“ auf eine im Gesamtprozess und seinen Regeln erkennbar werdende Intelligenz verweist, die sich aus reinem Zufall nicht oder nur schwer erklären lässt.
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Naturgesetze. Dies ist deshalb der Fall, weil der Begriff des Naturgesetzes, worauf z. B. E. Wölfel hingewiesen hat, nicht mit dem durch strenge Allgemeingültigkeit und Ausnahmslosigkeit definierten Gesetzes-Begriff identifiziert werden kann. Der Begriff des Naturgesetzes ist vielmehr – so Wölfel – zu verstehen „als eine aus vielen Einzelfällen erschlossene Universalhypothese“.45 Nun kommen aber im Begriff der Universalhypothese zwei Sachverhalte zusammen: einerseits die Formulierung einer vermuteten (universal-gültigen) Regelmäßigkeit in Gestalt einer Hypothese, andererseits die universal-gltige Regel, die durch die Hypothese formuliert werden soll. Konzentrieren wir uns zunächst auf die unterstellte, gesuchte Regel selbst: Für die Existenz solcher Naturgesetze (im Sinne stabiler Verlaufsregeln) sprechen sowohl massenhafte Alltagserfahrungen als auch gelingende naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse und ihre Anwendung. Für sie sprechen aber auch theo-logische und schöpfungstheologische Gründe, die sich zusammenfassen lassen im Begriff der Treue und Verlsslichkeit Gottes. Diese Gründe sind hinreichend, um das Vorhandensein von Naturgesetzen im Sinne verlässlicher Verlaufsregeln anzunehmen, aber – und das ist von großer Bedeutung – sie sind nicht hinreichend, um diese verlässlichen Verlaufsregeln mit letzter Sicherheit zu erfassen und zu beschreiben. Und hier bekommt der Begriff der Universalhypothese seine Bedeutung und sein Gewicht. d) Naturgesetze als Hypothesen Die Unterscheidung zwischen dem Naturgesetz als einer Verlaufsregel und dem Naturgesetz als einer Hypothese kann gut verdeutlichen, weshalb die Differenzierung von äußerem und innerem Wort auch auf das Wirken Gottes durch Naturgesetze anzuwenden ist. Es ist ja ein Unterschied, ob etwas im „Buch der Natur“ geschrieben steht oder ob wir etwas in diesem Buch lesen kçnnen. 46 Naturgesetze funktionieren auch dort, wo wir sie (noch) nicht erkennen. Und sie stellen schon als solches äußeres Wort die unerlässliche Voraussetzung dafür dar, dass die Kreatur überhaupt Bestand hat. Aber erst dort, wo es zur Erkenntnis dieser Gesetze kommt, wo das äußere (geschriebene) zum inneren (verstandenen und als wahr erkannten) Wort wird, erbringen sie die für alles bewusste, planende menschliche Wirken unerlässliche Voraussetzung der (relativen) Kenntnis der Handlungsbedingungen und -zu45 E. Wölfel, Der Positivismus als Frage an die Theologie, in: Humanismus – Christianitas, FS W. von Loewenich, Witten 1968, S. 260. 46 Siehe dazu O. Bayer, Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986, S. 9.
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sammenhänge. Insofern kann die Existenz und Erkenntnis der Naturgesetze als Schöpfungs-Wohltat verstanden werden. Damit ist nicht aus-, sondern eingeschlossen, dass diese Gesetze gnadenlos funktionieren und uns schmerzhaft zuschlagen und treffen können. Das gilt sowohl für das malum metaphysicum und physicum, als hinsichtlich der Folgen des malum morale47 für das menschliche Ergehen, also für den sogenannten Tun-Ergehen-Zusammenhang. e) Die Bedeutung des naturgesetzlichen Wirkens Gottes a) Das Verständnis der Naturgesetze als derjenigen Regeln, nach denen und durch die Gott die Welt erschafft, erhält und (äußerlich) regiert, kann ein schçpfungsvergessenes Reden vom Wirken Gottes überwinden, das Gottes Wirken nur oder vor allem in der Durchbrechung der Schöpfungsstrukturen zu erkennen vermag. Es überwindet auch ein mythologisches Reden vom Wirken Gottes, das Gott auf derselben Ebene agierend denkt, auf der seine Werke existieren und agieren, und es zeigt, wo Gottes Wunder tatsächlich zu suchen und zu finden sind, nämlich z. B. im Erkennbarwerden der Naturgesetze, das ein zielstrebiges und verantwortliches menschliches Wirken überhaupt erst ermöglicht. b) Das Verständnis der Ermöglichung der Erkenntnis der Naturgesetze als Werk Gottes, nämlich als das Erschließen der Naturgesetze für den Menschen, zeigt, dass Gottes Wirken nicht in Konkurrenz zum menschlichen Wirken gedacht werden kann, sondern als dessen Ermöglichung (und Begrenzung) gedacht werden muss48, und es ruft erneut in Erinnerung, dass wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit auf die ihr zugrundeliegenden Gesetze, Ordnungen und Regeln hin (teilweise auch in der abendländischen Wissenschaftsgeschichte) nicht Ausdruck des Unglaubens ist (und war), sondern Konsequenz des Schçpfungsglaubens.49 47 So die von Leibniz geprägten begrifflichen Unterscheidungen im Blick auf das Übel (G. W. Leibniz, Die Theodizee [1710]; PhB 71, Hamburg 19682, S. 110 f.). Im biblischen Kanon taucht dieser Zusammenhang auf in Ex 20,5 f.; 34,7; Dtn 5,9 f. und 7,9 f. u. ö. Er wird auch durch die Aussagen aus Jer 31,29 f. und Ez 18 nicht aufgehoben, sondern nur begrenzt. 48 Siehe dazu W. Härle, Werk Gottes – Werk des Menschen, in: NThT 34/1980, S. 213 – 224. 49 Die neuzeitlichen Naturwissenschaften wurden u. a. durch den Schöpfungsglauben stimuliert, und ihre Ergebnisse wurden in der Physikotheologie als Belegmaterial (sozusagen als Zettelkasten) für den Schöpfungsglauben ausgewertet.
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3.2 Gott wirkt durch das Sittengesetz a) Der Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz Die Naturgesetze, von denen bisher die Rede war, funktionieren und wirken, ob wir sie (an)erkennen und respektieren oder nicht. Ihre Notwendigkeit ist modallogisch-ontologischer Art. D. h., unser Widerspruch oder Ignorieren macht sie nicht wirkungslos. Anders das Sittengesetz, von dem nun die Rede ist: seine Notwendigkeit ist deontologischer Art, sie handelt von einem Sollen, nicht von einem Müssen. Nach einer äußerst geistreichen Bemerkung des viel zu früh verstorbenen niederländischen Theologen und Religionsphilosophen H. G. Hubbeling lässt sich das (eschatologisch verstandene) Reich Gottes rein logisch definieren als der Zustand, in dem alle Axiome der Modallogik auch für die deontische Logik gelten, d. h., als der Zustand, in dem nicht nur gilt Np!p und p!Mp (wenn p notwendig ist, dann ist p auch der Fall, und wenn p der Fall ist, dann ist p möglich), sondern ebenso Op!p und p!Pp (wenn p geboten ist, dann wird p auch getan, und wenn p getan wird, ist p auch erlaubt).50 Menschliches Ignorieren oder Bestreiten macht das Sittengesetz zwar nicht ungültig, wohl aber für den Ignorierenden oder Bestreitenden unwirksam (was nicht heißt: folgenlos). Der Nötigung des Sittengesetzes kann man sich (als freies Geschöpf) entziehen, während dies beim Naturgesetz nicht der Fall ist, aber die Folgen solchen Sich-entziehens muss man – zumindest gelegentlich – selbst tragen, und häufig müssen andere sie tragen. b) Der Zusammenhang zwischen Naturgesetz und Sittengesetz Trotz des bisher Gesagten sind beide Größen nicht ohne Beziehung zueinander oder bloß durch einen (äquivokationsverdächtigen) Gesetzesbegriff miteinander verbunden. Gerade indem man das Naturgesetz und das Sittengesetz als Regierweise Gottes mit dem Ziel der Erhaltung der Welt versteht, wird der zwischen beiden Größen bestehende Zusammenhang erkennbar. Dieser besteht – zunächst negativ in der Nichtwidersprüchlichkeit beider Gesetzesordnungen zueinander; – sodann parallelisierend in ihrer Nicht-Beliebigkeit, d. h., beide gelten nicht aufgrund willkürlicher menschlicher Setzung (h]sei), sondern sind allem menschlichen Setzen und Formulieren (¦}sei) vorgegeben; 50 So in H. C. M. de Swaart/H. G. Hubbeling, Inleiding tot de symbolische logica, Amsterdam 1976, S. 114.
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– schließlich verknpfend: Das Sittengesetz gebietet die Anerkennung der Strukturen und Sachverhalte, die durch das Schöpfungswirken Gottes gesetzt und erhalten werden. Es orientiert sich an den ontologischen Strukturen der Wirklichkeit und ist an ihnen auch zu überprüfen.51 Dieser Übergang vom Naturgesetz zum Sittengesetz ist deswegen kein (naturalistischer) Fehlschluss52, weil das Naturgesetz, indem es als Werk und Regierweise Gottes verstanden wird, damit selbst schon die positive Wertigkeit hat, die im Sittengesetz normativ zum Ausdruck kommt. c) Geltung und Erkenntnis des Sittengesetzes Mit dem zuletzt Gesagten ist implizit auch beantwortet, in welcher Form das Sittengesetz vor allen menschlichen Gebotsformulierungen Realität und Geltung besitzt, die in dem „du sollst (nicht) …“ zum Ausdruck kommt: als (stummes) 53 Strukturmoment der Welt (als Schöpfung Gottes). Aber als solches (stummes) Strukturmoment scheint ihm die Funktion und Wirkungsmöglichkeit noch gänzlich zu fehlen, die dem Naturgesetz vor aller menschlichen Erkenntnis eignet. Das ist in gewisser Hinsicht richtig. Trotzdem muss man im obigen Schaubild das Feld „Sittengesetz“ nicht freilassen und das diesbezügliche Wirken Gottes auf die sittliche Gewissheit beschränken; denn das Sittengesetz kann auch dort faktisch zur Geltung kommen und beachtet werden, wo es als solches nicht erkannt und bewusst geworden ist. Es ist ja kei51 Dies lässt sich am Dekalog, wie am Liebesgebot, wie an der transzendentalen Begründung des kategorischen Imperativs zeigen. 52 Der Sache nach geht die Kritik an einem (unzulässigen) Schluss vom Sein auf das Sollen auf D. Hume zurück. Den Begriff „naturalistischer Fehlschluss“ hat G. E. Moore geprägt und in die Diskussionen der Analytischen Ethik eingebracht (Principia Ethica, dt. Stuttgart 1970, S. 41 u. o.). Moore meint damit die (nicht zulässige) Definition moralischer durch nichtmoralische Begriffe. Die Rede vom „naturalistischen Fehlschluss“ spielt in der Analytischen Ethik weithin die Rolle eines Schreckgespenstes. Siehe dazu auch den erhellenden Aufsatz von W. K. Frankena, Der naturalistische Fehlschluss (1939), in: G. Grewendorf/U. Meggle (Hrsg.), Seminar: Sprache und Ethik (stw 91), Frankfurt 1974, S. 83 – 99. Zur Kritik an diesem angeblichen Schreckgespenst siehe W. Härle, „Lehrt euch nicht auch die Natur …?“ – Was wir (nicht) von der Natur lernen können, in: ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig 2007, S. 168 – 183. 53 Der Anklang an die „stumme Forderung“ in der Ethik von K. E. Løgstrup, (Die ethische Forderung, Tübingen 19682, S. 7 – 30) ist nicht zufällig, sondern beabsichtigt.
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neswegs so, dass das Sittengesetz dort, wo es nicht erkannt wird, deswegen laufend missachtet würde. Es kann auf vorbewusste Weise wirksam werden. Vor allem aber: Das Sittengesetz wird auch gegenüber demjenigen, der es nicht erkennt, auf höchst eindrucksvolle, erhaltende Weise wirksam, und zwar dadurch, dass andere Menschen es erkennen und (in der Beziehung zu ihm) respektieren. Hier ist an die Segenswirkungen des Handelns früherer Generationen, aber darüber hinaus an den gesamten sozialen Zusammenhang zu erinnern, in dem und durch den das Sittengesetz wirksam wird (oder doch werden kann). d) Sittengesetz und politische Obrigkeit Wir sahen, dass es bei Luther eine ungedeckte Flanke gibt, die sich aus einer Tendenz der Gleichsetzung von Gesetz, weltlichem Regiment Gottes und politischer Obrigkeit ergab. Der hier vorgetragene Interpretationsversuch bietet dafür eine Lösungsmöglichkeit, die aus folgenden drei Teilschritten besteht: a) Nicht irgendein formuliertes ethisches, rechtliches, staatliches Gesetz ist selbst und unmittelbar Instrument des weltlichen Regiments Gottes, sondern das Sittengesetz, das nicht als Kodex gegeben ist, sondern sich dem Prüfen und Suchen des Menschen erschließen muss (Röm 12,2). b) Dieses Sittengesetz wird aber individuell und gesellschaftlich handhabbar und wirkungsvoll erst dort, wo es die Gestalt sittlicher Erkenntnis und gelebter Sittlichkeit annimmt, die von ihrem Wesen her die Entwicklung von Institutionen, Sitte und Rechtsordnung einschließt bzw. gebietet.54 Insofern ist die Verbindung zwischen Sittengesetz und staatlichem Gesetz durchaus sachgemäß. c) Diese Verbindung darf aber nie als Identifikation verstanden werden. Das Sittengesetz ist und bleibt immer zugleich kritische Instanz gegenüber allen faktischen, geschichtlich gewordenen sittlichen Formen, Lebensäußerungen und Institutionalisierungen. Dieses kritische Moment, das bei Luther nicht fehlt, aber stark zurücktritt, verbietet die tendenziell verhängnisvolle Gleichsetzung von Volksnomos und Gottesgesetz55 und bringt Apg 5,29 neben Röm 13,1 – 7 angemessen zur Geltung. 54 Siehe dazu E. Herms, Das Kirchenrecht als Thema der theologischen Ethik, in: ZevKR 28/1983, S. 199 – 277, bes. S. 209 – 236. 55 Diese These wurde zu Anfang der 30er Jahre von W. Stapel programmatisch vertreten (Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932, bes. S. 216 – 246 sowie: Einheit von Evangelium und Volkstum, in: Volkstum, Heft 2, 1933) und von F. Gogarten übernommen (Einheit von Evangelium und Volkstum? Hamburg 1933, und: Ist Volksgesetz Got-
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3.3 Gott wirkt durch das Evangelium a) Die Grenzen des Gesetzes Das Gesetz in seinen verschiedenen Formen als Instrument des weltlichen Regiments Gottes zu verstehen, heißt, seine Auszeichnung, Bedeutung und Würde zu erkennen und anzuerkennen. Es ist „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12). Aber wiewohl es zum Leben (fy^) gegeben ist, ist es faktisch und prinzipiell nicht in der Lage, dieses Leben zu geben (es kann nur – befristet – den b_or erhalten), sondern es wirkt letztlich den Tod. Das liegt nicht am Gesetz selbst, sondern daran, dass es eine Welt regiert, die die Signatur der Snde trägt (Röm 7,7 – 13). Freilich liegt es insofern auch am Gesetz, als sich darin eine spezifische Schwäche und Begrenzung des Gesetzes zeigt: Es ist außer Stande, die Sünde zu überwinden. Es kann sie nur eindämmen, in Schranken halten, als solche erkennbar machen, ja – gegen seine Intention – anstacheln;56 aber es ist nicht in der Lage, das Böse mit Gutem zu überwinden. Dass dies nicht nur faktisch, sondern prinzipiell so ist, wird einleuchtend, wenn man sich klarmacht, dass die Sünde nicht bloß bestimmte Handlungen der Person, sondern das Personzentrum selbst, die „Schaltzentrale des Menschen“, sein Gesinntsein bestimmt. Der Mensch als Sünder ist „fleischlich gesinnt“ (Röm 8,5 – 11), d. h., er kreist um sich selbst, und deshalb ist er der Sünde Knecht und tut notwendigerweise auch die „Werke des Fleisches“, die jedenfalls alle dadurch gekennzeichnet sind, dass sie mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten unvereinbar sind (Gal 5,16 – 21). Die entscheidende Schwäche des Gesetzes als Naturgesetz und als Sittengesetz besteht nun darin, dass es außerstande ist, die erforderliche Verwandlung der fleischlichen in eine geistliche Gesinnung zu vollbringen. Das Naturgesetz kann dies tesgesetz?, Hamburg 1934). E. Hirsch hat diese Gleichsetzung der Sache nach schon vor Stapel vertreten und auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus festgehalten: „Gott … ist es, der uns das Volk heilig macht als seine Gabe, seinen Ruf, seine unerbittliche Fügung“ (Christliche Rechenschaft, 2. Bd., Berlin/Schleswig-Holstein 1978, S. 255). 56 Dies verdeutlicht Paulus sehr anschaulich und einleuchtend am Verbot „Du sollst nicht begehren …“, durch das das Begehren erst geweckt werden kann (Röm 7,7 f.). Ähnlich beschreibt schon Gen 3, wie es zur Übertretung des ersten Verbotes kommt, nur dass hier noch die verführerische Stimme der Schlange zwischengeschaltet ist. Ob das für alle Gebote gilt, wäre jedoch erst noch zu prüfen. In der Volksweisheit, die sich in Mrchen artikuliert, ist es jedenfalls regelmäßig so, dass das Verbot ein Begehren oder Gelüsten weckt, das sich als letztlich unwiderstehlich erweist.
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nicht, weil es keine Evolution vom Fleisch zum Geist gibt, und das Sittengesetz vermag dies nicht, weil es an eine Instanz appelliert, die schon geistlich gesinnt sein müsste, um tatsächlich das vollbringen zu können, was das Gesetz fordert.57 Ja, das Sittengesetz – und darin liegt seine gefährlichste Möglichkeit – kann im fleischlich gesinnten Menschen noch den Wahn hervorrufen, er könne als der, der er ist, durch das Tun des vom Sittengesetz Gebotenen seine Erneuerung und Rettung, also seine Erlösung, selbst ins Werk setzen. Das ist insofern der absolute Triumph der Sünde in Gestalt der fleischlichen Gesinnung, als nun nicht einmal mehr die eigene Erlösungsbedrftigkeit erkannt werden kann. Der durch das Gesetz suggerierte Wahn des „Du kannst, wenn Du nur willst, (weil Du sollst)“ führt entweder in diese (wahnhafte) Hybris oder in die (realistische aber heillose) Verzweiflung, die sich einstellt, wenn Wollen und Können (sozusagen „beim besten Willen“) nicht zur Deckung zu bringen sind.58 b) Die kategoriale Differenz des Evangeliums zum Gesetz Das Wirken Gottes durchs Evangelium unterscheidet sich dadurch kategorial vom weltlichen Regiment Gottes (also vom Gesetz), dass es das Herz, die Gesinnung des Sünders selbst erreicht und verwandelt. Es macht aus dem fleischlich gesinnten einen geistlich gesinnten Menschen, indem es ihm den Geist Gottes bzw. Christi gibt (Röm 8,9; Gal 4,6), der in ihm den Glauben erweckt, der in der Liebe tätig ist (Gal 5,6) und damit das tut, was vom Gesetz intendiert aber durch es nicht erreicht wird. Dementsprechend bewirkt das Evangelium Leben (fy^), das auch durch den Tod dieses Leibes und das Ende der Welt nicht zerstört wird: ewiges Leben. Dieser Übergang von dem durch Sünde und Tod beherrschten in den durch Glauben und Leben bestimmten Äon hat alle Merkmale einer wirklichen und effektiven Befreiung aus Knechtschaft: Es ist Erlçsung. D. h. aber zugleich: Das (rein passive) Widerfahrnis des Evangeliums bewirkt Befreiung und befähigt damit zum Tun des Guten. Und das zeigt: Das Widerfahrnis des Wirkens Gottes durch das Evangelium geschieht an ihm nicht als oder wie an einem „Stein oder
57 Diese tiefe Einsicht steht hinter Luthers oben (bei Anm. 20) zitierter, zunächst überraschend klingender These, Christus wende sich in der Bergpredigt eigentlich nur an die Christen. 58 Das ist die Situation, die in Röm 7,18 – 24 unübertrefflich geschildert ist. Auf bedrückend-unbewusste Weise spiegeln z. B. auch die Tagebücher L. Tolstois diese Erfahrung wider (L. Tolstoi, Tagebücher, Bd. 1 – 3, Berlin 1978).
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Baumstumpf“59, sondern so, dass es in ihm Glauben weckt und ihn damit zur Freiheit befreit (Gal 5,1). c) Das Evangelium als äußeres und inneres Wort Fragt man, wie dieses Befreitwerden zum Glauben zustande kommt, so kann knapp mit Paulus geantwortet werden: durch die Predigt (Röm 10,14 – 17) oder ausführlicher mit CA V: „per verbum et sacramenta tamqam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in his, qui audiunt evangelium“60. Beide Aussagen lassen aber noch nicht hinreichend erkennen, worauf Predigt, Wort, Sakramente und Evangelium ihrerseits bezogen sind, welches ihr Inhalt und Ursprung ist. Dies wird Röm 10,17 beschrieben durch die Formel „Wort Christi“ und in CA III und IV als das Heilswerk Christi, die iustificatio „propter Christum per fidem“. Die Botschaft von Jesus Christus als dem Erlöser erweist sich so als der Inhalt und Ursprung des Evangeliums, durch das Gott sein geistliches Regiment ausübt. Dabei wird an beiden klassischen Textstellen zu recht zweierlei betont: a) Das Wirksamwerden des Evangeliums ist gebunden an dessen Verkndigung, d. h., das äußere Wort ist notwendige Bedingung für das Entstehen des Glaubens.61 b) Die Verkündigung des Evangeliums wirkt nicht immer und berall Glauben, sondern nur „wo und wenn Gott will“, d. h., das äußere Wort ist keine hinreichende Bedingung für das Entstehen des Glaubens. Hinreichende Bedingung ist erst das Wirksamwerden des heiligen Geistes, also die Bewahrheitung des äußeren Wortes durch das innere Wort. Die Heilsbotschaft bildet also zusammen mir der Gabe des Geistes, der Glaubensgewissheit schafft, das geistliche Regiment, durch das die Welt von Gott mit Gott versöhnt und so von der Knechtschaft der Sünde erlöst wird.
59 Mit diesem Begriffspaar („lapis et/aut truncus“) operiert vor allem die Konkordienformel (vgl. BSLK 879 – 882) und lehnt ein solches Menschenbild ab. 60 BSLK 58, 4 – 8, dt. Fassung: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er als durch Mittel den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket“. 61 So Röm 10,14 und in der Damnatio von CA V gegen diejenigen, „qui sentiunt spiritum sanctum contingere hominibus sine verbo externo per ipsorum praeparationes et opera“ (BSLK 58,14 – 17, dt.: „Und werden verdammt … so lehren, dass wir ohn das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen“).
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d) Die Erhaltungswirkung des Evangeliums Das Ziel des Evangeliums ist nicht Erhaltung dieser Welt, sondern die Verwandlung (bis hin zur Vollendung) des Menschen (und der Welt).62 Solche Verwandlung widerstreitet nicht der Erhaltung, sondern setzt sie in gewisser Hinsicht (freilich nur als eine befristete) voraus. Ja, mit der Verwandlung der fleischlichen in eine geistliche Gesinnung tut Gott mittels des Evangeliums, was dem Gesetz unmöglich war und ist (Röm 8,3), was aber vom Gesetz intendiert war und ist: das Tun des Guten. So bewirkt das Evangelium faktisch (als Konsequenz) eine sittliche Haltung (und die Entwicklung entsprechender Sitte und Rechtsordnung), die vom Gesetz allenfalls äußerlich aufgerichtet und aufrecht erhalten werden kann. Das ist das unaufgebbare Wahrheitselement von Luthers These, dass der an Christus Glaubende (als Christ und für sich) das weltliche Regiment Gottes nicht mehr brauche. Jedenfalls ist dies richtig, wenn man das Wort „brauchen“ in einem strengen Sinn versteht (und wenn man zugleich vom simul abstrahiert). Es würde jedoch tendenziell schwärmerisch, wenn sich damit ein Verachten dessen verbinden würde, was auch dem Christen (sozusagen dem Christen als Mensch, für sich selbst und für andere) als gute Gabe Gottes „nutzt und frommt“. Die angemessene Haltung des Christen gegenüber dem weltlichen Regiment ist wohl (mit Luther), dass er es um des Nächsten willen mit allem Nachdruck in Ehren hält und vor Verfälschung und Zerstörung zu bewahren sucht, und (über Luther hinaus), dass er es auch für sich selbst dankbar als gute Gabe Gottes annimmt und sich dessen freut – „solange das Lämpchen noch glüht“.
62 „Sermo enim Dei venit mutaturus et innovaturus orbem, quoties venit“ (WA 18, 626,26 f./LDStA 1, 270,7 f., dt.: „Denn das Reden Gottes kommt, sooft es kommt, als eines, das die Welt verändert und erneuert“ [LDStA 1, 271,8 – 10]).
Den Mantel weit ausbreiten. Theologische Überlegungen zum Gebet In der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften hat Luther die „rechte weise in der Theologia zu studirn“ mit drei Begriffen, bzw. – wie er sagt – „drey Regel“ beschrieben: „Oratio, Meditatio, Tentatio“.1 In einem Aufsatz, der sich thematisch mit dem Gebet beschäftigt,2 kommen diese drei Grundvollzüge theologischer Existenz noch deutlicher zum Vorschein, als dies bei der Arbeit an anderen theologischen Themen der Fall ist. Denn das Nachdenken (meditatio) über das Gebet (oratio) kann gar nicht vorbeisehen an der Anfechtung (tentatio), die sich mit diesem Thema existentiell und theologisch verbindet. Dabei geht es in diesem Aufsatz nicht – jedenfalls nicht vorrangig – um die Form der Anfechtung, die durch das Ausbleiben von Gottes Antwort und Hilfe ausgelöst wird, sondern vor allem um die Anfechtung des Denkens, die sich ergibt, wenn wir versuchen, das Gebet mit dem Glauben an Gott zusammenzudenken. Ich will so vorgehen, dass ich zunächst eine Analyse des Gebetsbegriffs vornehme, sodann eine Problembeschreibung gebe, danach einen Lösungsvorschlag unterbreite und schließlich auf zwei naheliegende Einwände eingehe.
1 2
WA 50, 658, 29 – 659,4. Siehe hierzu O. Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, S. 55 – 106. Vgl. dazu jetzt auch E. Harasta, Lob und Bitte. Eine systematisch-theologische Untersuchung über das Gebet, Neukirchen-Vluyn 2005 und R. Preul, Die Anrede Gottes im Gebet, in: MJTh XIX/2007, S. 99 – 122, die sich beide im Gespräch und Austausch mit diesem Aufsatz in seiner ursprünglichen Fassung befinden.
Das Gebet als symbolisierende Handlung in Beziehung zu Gott
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1. Das Gebet als symbolisierende Handlung des Menschen in Beziehung zu Gott – Begriffsanalyse Der Begriff „Gebet“ ist ein relationaler Handlungsbegriff. Zur Definition dieses Begriffs ist es nötig, zumindest folgende drei Elemente zu analysieren: die beiden Relate (Betender und Adressat des Gebets) sowie die zwischen beiden stattfindende Handlung (das Beten). Ich beginne die Analyse des Gebetsbegriffs mit der Analyse dieser Handlung und versuche danach zu klären, welche Instanzen als Relate in Frage kommen und was über sie zu sagen ist.
1.1 Die Handlung des Gebets (das Beten) a) Beten ist eine Handlung, und zwar eine symbolisierende Handlung, d. h. es ist eine Handlung, für die der Gebrauch von Zeichen konstitutiv ist. Als solche Zeichen kommen vor allem Worte, aber auch Gesten in Frage. Dabei gibt es sowohl das Beten, das nur aus Worten besteht (Stoßgebet, stilles Gebet etc.), als auch das Gebet, das nur aus Gesten besteht (SichNiederwerfen, Erheben der Hände etc.), als auch das Beten, bei dem sowohl Worte als auch Gesten eine Rolle spielen (gottesdienstliches Gebet oder Tischgebet mit gefalteten Händen und geneigtem Haupt etc.). Im Blick auf alle drei Formen des Betens lässt sich dann noch einmal unterscheiden zwischen dem Beten als ußerem Handlungsvollzug (Worte, Gesten) und dem Beten als Akt innerer Ausrichtung (Gebet der Gedanken oder des Herzens). Dort, wo es sich um das Beten als einen Akt innerer Ausrichtung handelt, kann nicht nur auf Gesten, sondern auch auf das Aussprechen von Worten verzichtet werden. In diesem Fall ist u. U. für andere äußerlich nichts von der Handlung des Betens wahrnehmbar, und trotzdem kann sie stattfinden. So gilt also: Beten ist eine Handlung, für die der Gebrauch von Zeichen, und zwar von Worten und/oder Gesten, in gesprochener Sprache oder in unausgesprochenen Gedanken konstitutiv ist. b) Als symbolisierendes Wirken hat das Beten expressiven und/oder kommunikativen Sinn, d. h. es geschieht, um etwas, das den Betenden bewegt, auszudrcken und/oder es einem Gegenüber (nämlich dem Adressaten des Gebets) mitzuteilen. Dabei kann das „Mitteilen“ in einem sehr weiten Sinn verstanden werden: Es bedeutet nicht nur ein Sagen und Aussprechen, sondern unter Umständen auch ein Übergeben,
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Anteil geben, Abladen3. Der kommunikative Sinn des Betens kann darüber hinaus – und das wird sich noch als außerordentlich wichtig erweisen – darin bestehen, dass der Betende im Gebet mit dem Adressaten in einen Austausch (also in ein Mitteilen und Empfangen) eintritt.4 So gilt also: Der Sinn des Betens besteht darin, dass der Betende etwas, das ihn bewegt, ausdrückt und/oder dem Adressaten des Gebets mitteilt, wobei die Mitteilung als (einseitiges) Anteilgeben und/oder Übergeben oder als (zweiseitiger) Austausch verstanden werden kann. Der Sinn des Betens besteht in jedem Fall darin, dass der Betende sich dem Adressaten des Gebets gegenüber çffnet. c) Aber mit dem bisher Gesagten ist die besondere Qualitt des Betens im Vergleich zu anderen symbolisierenden, expressiven und kommunikativen Handlungen noch nicht erfasst. Sie wird erst sichtbar, wenn man sich bewusst macht, welche Relevanz die beim Beten verwendeten Zeichen, also Worte und Gesten und das expressive und/oder kommunikative Geschehen des Betens, für den Betenden haben. Beten ist eine Handlung, die – wenn sie angemessen vollzogen wird – stets ernsthaft geschieht.5 Wer beim Beten scherzt, herumalbert, sich lässig verhält, hat vermutlich nicht verstanden, was es heißt zu beten, oder ist nicht willens bzw. nicht in der Lage, sich gegenüber dem Gebet angemessen zu verhalten. Die Attitüde der Ernsthaftigkeit resultiert daraus, dass sich das Gebet stets an eine dem Betenden berlegene Instanz, und zwar an eine schlechthin berlegene Instanz (s. 1.2) richtet. Diese schlechthinnige Überlegenheit hat zur Folge, dass das Beten ein Akt der Unterordnung ist, der in dem Wissen geschieht, dass der Betende dem Adressaten des Gebets nichts vormachen und vor ihm nichts verbergen kann. Folglich kann der obige Satz ergänzt und präzisiert werden: Der Sinn 3 4
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Etwa im Sinn von 1 Petr 5,7: „Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch“. Dies hat O. Bayer, Erhörte Klage, in: NZSTh 25/1983, S. 262 – 265 zu Recht hervorgehoben. Eine andere Frage ist es, ob bei Bayers Rede von der „Wechselwirkung“ die kategoriale Differenz und Asymmetrie zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf hinreichend zur Sprache kommt. Zu dieser Ernsthaftigkeit gehört ganz entscheidend das Sich-sammeln aus der Zerstreuung, das Zur-Ruhe-kommen aus Lärm und Hektik, das Sich-konzentrieren aus der Ablenkung. Vermutlich gab es noch nie eine Zeit, die all das dadurch so schwer gemacht hat, dass sie eine solche Fülle interessanter Zerstreuungs- und Ablenkungsmöglichkeiten geboten hat. Das macht das Beten für die meisten Menschen nicht leicht. Aber vielleicht macht das auch das Beten für viele Menschen wichtig.
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des Betens besteht darin, dass der Betende sich dem Adressaten des Gebets gegenüber vorbehaltlos öffnet. Deswegen haben im Gebet auch die tiefsten Empfindungen, die letzten Geheimnisse, die quälendsten Ängste und Sorgen ihren legitimen Platz, die man vielleicht keinem Menschen gegenüber jemals aussprechen würde. So gilt also: Die Qualitt des Betens ist dadurch gekennzeichnet, dass der Betende die schlechthinnige Überlegenheit des Adressaten anerkennt, indem er sich ihm im Gebet mit seinen innersten und tiefsten Empfindungen anvertraut. d) Der generelle Sinn des Gebets (s. o. b) gewinnt seinen Ausdruck stets in bestimmten konkreten Formen des Betens, die sich einander zuordnen lassen. Ein gut geeigneter Ausgangspunkt für die Analyse und Bestimmung dieser verschiedenen Formen ist die Frage nach dem Verhältnis, genauer: nach der Nichtübereinstimmung oder Übereinstimmung zwischen dem Anliegen des Betenden und seiner Erfahrung der Wirklichkeit. Bezogen auf das expressive Element des Betens ist dabei an die Formen der Klage und des Lobes zu denken. In Klage und Lob wird vom Betenden die (Nicht-)Übereinstimmung zwischen seinem Anliegen und seiner Erfahrung zum Ausdruck gebracht. Bezogen auf das kommunikative Element des Betens ist auf die Formen der Bitte 6 und des Danks zu verweisen. In Bitte und Dank wird vom Betenden das ZurÜbereinstimmung-Kommen von Anliegen und erfahrener Wirklichkeit erbeten bzw. (dankbar) anerkannt. Zwischen den expressiven und den kommunikativen Elementen und Formen des Betens besteht dabei insofern ein enger Zusammenhang, oft auch ein nahtloser Übergang, als die Klage dazu tendiert, (konkretisierend) in die Bitte überzugehen, und der Dank dazu tendiert, (generalisierend) ins Lob überzugehen. So gibt es eine mögliche7 Bewegung des Gebets, die bei der Klage anhebt, in die Bitte übergeht und in Dank und Lob einmündet.
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Das wichtige Element „Fürbitte“ gehört unter Formgesichtspunkten zur Bitte und muss deshalb hier nicht gesondert erwähnt werden. In inhaltlicher Hinsicht wird uns die Fürbitte aber noch in Abschn. 4.2 beschäftigen. Ursprünglich habe ich an dieser Stelle von einer „originären Bewegung“ gesprochen. Der Einwand von R. Preul: „Es gibt auch gute Gründe, mit dem Dank zu beginnen“ (Die Anrede Gottes, s. o. Anm. 2, S. 118), hat mich auch auf Grund eigener Erfahrung überzeugt und zu dieser sprachlichen Korrektur veranlasst.
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1.2 Der Adressat des Gebets: die göttliche Instanz Schon der zurückliegende Abschnitt zeigte, dass die Handlung des Betens nicht angemessen beschrieben werden kann, wenn dabei nicht (implizit) bedacht wird, an wen Gebete sich richten (können). Dabei ergab sich bisher: Gebete richten sich an eine dem Beter gegenüber schlechthin berlegene Instanz. Eine schlechthin, d. h. in jeder Hinsicht überlegene Instanz ist eine Instanz, der der Betende sich schlechthin unterlegen, von der er sich schlechthin abhängig weiß. Eine solche schlechthin überlegene Instanz ist aber stets eine gçttliche Instanz. Adressat des Gebets kann also nur eine göttliche Instanz sein – d. h. unter den Bedingungen des Monotheismus: Nur Gott kann Adressat des Gebets sein. 8 Diese Begriffsbestimmung wird auch durch folgende Einwände nicht in Frage gestellt, sondern sogar bestätigt: a) Umgangssprachlich wird davon gesprochen, dass Menschen oder Dinge „angebetet“ werden. Zeigt das nicht, dass auch andere (als göttliche) Instanzen als Adressaten des Gebets in Frage kommen? b) Gibt es nicht z. B. im katholischen Heiligenkult die Möglichkeit von Gebeten zu Instanzen, die – unter monotheistischen Bedingungen – doch nicht mit Gott identisch sind, sondern neben und unter ihm als Adressaten von Gebeten existieren? Ad a) Bei Redewendungen von der Form „x betet y an“ ist zu unterscheiden zwischen einem laxen, uneigentlichen und einem strengen, eigentlichen Gebrauch. Nur der letztere kommt als ernsthafter Einwand in Betracht. Gerade hierfür gilt dann aber: Wird jemand oder etwas tatsächlich angebetet, dann wird es zu einem Gott gemacht. Nach christlichem bzw. nach monotheistischem Verständnis erfüllt das, wenn es sich dabei nicht um den Schöpfer der Welt handelt, stets den Tatbestand der Abgötterei oder des Aberglaubens. Aber gerade das bestätigt ja nur die These: Adressat des Gebets kann nur eine göttliche Instanz sein.9 8
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Das schließt nicht aus, sondern ein, dass dieser Satz auch – aus heuristischen Gründen – umgekehrt werden kann: „Was du anbetest, das ist dein Gott“. Die Nähe und Analogie zu Luthers „Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist dein Gott“ (BSLK 560,22 – 24), ist unverkennbar und sachlich unvermeidlich. Vgl. dazu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus (BSLK 560 – 572) und P. Tillich, Systematische Theologie Bd. I, 19878, S. 247.
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Ad b) Die römisch-katholische Lehre legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Gebet, das sich nur an den dreieinigen Gott wenden kann, und der Anrufung der Heiligen (inklusive Maria).10 Die Heiligen sind nach offiziellem Verständnis der römisch-katholischen Kirche gerade keine Adressaten des Gebets, eben weil dies nur Gott selbst sein kann. Die Anrufung der Heiligen ist selbst nicht Bitte oder Fürbitte, sondern Bitte um Fürbitte. So bestätigt auch die Anrufung der Heiligen, die vom Gebet zu unterscheiden ist, die oben aufgestellte These. Ist Gott der einzig mögliche Adressat des Gebets, so wird verständlich, dass und inwiefern das Gottesverständnis sich unmittelbar auf das Gebetsverständnis auswirkt – und umgekehrt.11 Dies näher zu betrachten, wird Aufgabe von Abschnitt 2 sein, gehört jedoch nicht mehr in die Analyse des Gebetsbegriffs hinein.
1.3 Das Subjekt des Gebets: der Betende Ist das Gebet eine symbolisierende Handlung, so kommen als Subjekte des Betens nur Wesen in Frage, die zu symbolisierenden Handlungen fähig sind, d. h. personale Wesen. In unserem irdischen Lebensbereich sind Menschen die einzigen uns bekannten personalen Wesen. Ob es außerhalb dieses Lebensbereiches noch andere personale Wesen gibt, die als Subjekte von Gebeten in Frage kommen (z. B. Engel, Seraphen, Cheruben), kann hier offen bleiben.12 Wichtig ist jedoch eine andere Abgrenzung: Da das Gebet nach der hier zur Diskussion gestellten Definition als ein „Akt der Unterordnung“ und zwar unter Gott zu verstehen ist (1.1 c in Verbindung mit 1.2), ergibt es keinen Sinn anzunehmen, Gott selbst (verstanden als personales Wesen) sei ein mögliches Subjekt von Gebeten. Da Gott der einzig mögliche Adressat von Gebeten ist, wären Gebete, die von Gott ausgehen, nicht nur Selbstgespräche Gottes (was an sich sinnvoll und 10 So z. B. im Decretum de invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum des Konzils von Trient (DS 1821), in dem zwischen invocatio und oratio betont unterschieden wird. 11 R. Schäfer (Gott und Gebet. Die gemeinsame Krise zweier Lehrstücke, in: ZThK 65/1968, S. 117 – 128) hat diese Zusammenhänge thematisiert und reflektiert. 12 Die Bibel setzt dies allem Anschein nach voraus (siehe z. B. Jes. 6,1 – 4) und damit deren Fähigkeit zum Gebet.
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möglich ist; s. Gen 1,26 und 3,22), sondern Akte der Unterordnung unter sich selbst, was sinnlos ist. Gebete sind auch keine indirekten, den Menschen lediglich als Medium gebrauchende Selbstgespräche Gottes, sondern menschliche bzw. geschöpfliche Handlungen. Die Aussage Röm 8,26: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern sein Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ besagt nicht, dass Gottes Geist uns als Subjekte im Gebet vertritt, sondern sie besagt nur, dass Gottes Geist uns dann, wenn uns die Worte fehlen, sein Seufzen als Sprache des Betens zur Verfügung stellt. Diese Aussage enthält dementsprechend auch keine allgemeine Theorie des Gebets als innertrinitarisches Sprachgeschehen.13 Zusammenfassend ist also zu sagen: Als Subjekte des Betens können nur Gott untergeordnete, also geschçpfliche Wesen, und zwar Wesen, die zu symbolisierenden Handlungen fähig sind, also personale Wesen gedacht werden.14
2. Gebet und Gottesverständnis – Problembeschreibung Die Frage nach einem theologisch verantwortbaren Verständnis des Gebets kann nicht auf der Basis des Gebetsbegriffs alleine beantwortet werden. Dazu muss zumindest auch das vorausgesetzte Gottesverstndnis angesprochen werden. Ich gehe so vor, dass ich in diesem Abschnitt skizziere, welches Gottesverständnis ich als christlicher Theologe voraussetze und inwiefern dieses Gottesverständnis zu dem unter 1 definierten Gebetsbegriff, insbesondere dem Begriff des Bittgebets, in Spannung steht.
13 Damit grenze ich mich ab von der Gebetstheorie, die H.-M. Barth in seinem Buch: Wohin – woher mein Ruf ? Zur Theologie des Bittgebets (München 1981) vertreten hat. 14 In einer ausgeführten Theologie des Gebets müßte sowohl der Frage nach der Angelologie nachgegangen als auch darüber reflektiert werden, welche anthropologische Relevanz das Gebet hat. Dabei ist an die Bedeutung sowohl von Religion wie von Sprache für das Menschsein zu denken.
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2.1 Gottesverständnis und Gottesbeziehung im Gebet Gott als Schöpfer, Versöhner, Erlöser und Vollender der Welt ist als personales Gegenber zu denken, das zu Menschen in einer personalen Beziehung steht. Dies zeigt sich von Gottes Seite aus darin, dass Gott nicht nur schafft, gibt, erhält, sondern dass er den Menschen durch sein Wort (als Gesetz und Evangelium) anspricht und sich ihm als Liebe mitteilt.15 Dem korrespondiert von menschlicher Seite das Angesprochenwerden des Menschen als personales Wesen, das hören und verstehen kann und dadurch eingeladen und aufgerufen wird zu unbedingtem Vertrauen, d. h. zum Glauben. In dieser personalen Beziehung hat das Gebet einen zentralen Platz. Es ist selbst (insbesondere als Bitt- und Fürbittgebet) Ausdruck des unbedingten Vertrauens, zu dem der Mensch Gott gegenüber eingeladen und aufgerufen ist. Indem sich dieses Vertrauen im Gebet (als Klage, Bitte, Dank und Lob) sprachlichen Ausdruck verschafft, findet allerdings eine bemerkenswerte Ausweitung und Ergänzung der personalen Beziehung zwischen Gott und Mensch statt. Nun ist es (auch) der Mensch, der Gott anspricht, und nun ist es (auch) Gott, der den Menschen hçrt. Die GottMensch-Beziehung bekommt dadurch – unbeschadet ihres ganz einseitigen Konstitutionsgefälles – einen dialogischen Charakter, wird aber keineswegs symmetrisch (der Mensch ist aufgerufen zu unbedingtem Vertrauen – Gott wird angerufen um Hilfe etc.). Das Asymmetrische resultiert daraus, dass der allmächtige, allwissende, vollkommen gute Schöpfer16 in eine Beziehung tritt zu seinem begrenzten, irrtumsfähigen, fehlsamen Geschöpf. Und das hat unmittelbare Konsequenzen für das Verständnis des Gebets, insbesondere für die zentrale Frage, ob und
15 Die hier angedeutete Lehre vom Wirken Gottes habe ich genauer ausgeführt in dem vorangegangen Aufsatz: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes, in diesem Band S. 257 – 285, sowie in meiner Dogmatik, Berlin/New York 20073, S. 282 – 296. 16 Wenn gelegentlich – unter Berufung auf B. Pascal – behauptet wird, der „allmächtige, allwissende, vollkommen gute Gott“ sei nicht der Gott der Bibel, sondern der „Gott der Philosophen“ (Leibniz’scher Provenienz), dann lassen sich demgegenüber eine Fülle von biblischen Aussagen anführen. die alle zeigen, dass die Bibel sehr wohl Gott diese Eigenschaften zuspricht. Die Tatsache, dass die (abstrakten) Substantive „Allmacht“, „Allwissenheit“, „Gutheit“ in der Bibel nicht vorkommen, hebt nicht die Tatsache auf, dass Gott durchgehend in ihr als allmächtig, allwissend und gütig bezeichnet wird.
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inwiefern es denkbar ist, dass ein Gebet seinerseits ein göttliches Wirken bewirkt.
2.2 Spannungen zwischen Gottesverständnis und Bittgebet V. Brümmer17 hat detailliert die Probleme analysiert, die entstehen, wenn man das Bittgebet zu diesem Gottesverständnis in Beziehung setzt. Ich kann mich deshalb hier auf eine kurze Zusammenfassung dieser Analyse beschränken: a) Wird Allmacht nicht nur als unbegrenzte Fhigkeit Gottes gedacht (also als Potenz), sondern als aktuelle Allwirksamkeit, wie das theologisch angemessen ist, dann stellt sich folgendes Problem: Gott wäre nicht allwirksam, also nicht Gott, wenn er sich zu seinem Wirken durch etwas anderes als durch sich selbst, also z. B. durch ein menschliches Gebet, bestimmen ließe. Das Gebet kann folglich nicht den Sinn haben, auf Gott einzuwirken, um ihn zu veranlassen, etwas anderes zu tun, als er von sich aus tut.18 Aber ist nicht gerade das der (oder ein wesentlicher) Sinn des Bitt- und Fürbittgebets? Mit der Allmacht Gottes ist offenbar ein Gebet unvereinbar, das als Gebet des Menschen den Sinn hätte, Gott zu veranlassen, etwas anderes zu tun, als er von sich aus tut. Ist dann aber überhaupt das Bittgebet mit der Allmacht Gottes vereinbar? b) Wenn Gott allwissend ist, dann ist das Bittgebet offenbar berflssig; denn Gott weiß ohne unser Gebet, worum wir ihn bitten – ja er weiß sogar besser als wir, wessen wir wirklich bedürfen. Wenn wir darüber hinaus die Allwissenheit Gottes so verstehen, dass wir annehmen, Gott wisse die Zukunft nicht nur als Zukunft (also als einen Inbegriff von Möglichkeiten), sondern wie die Gegenwart und die 17 V. Brümmer, Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung, Marburg 1985, bes. Kap. 3 und 4 (S. 29 – 58). 18 Damit grenze ich mich ab gegen die Aussage von V. Brümmer (a. a. O., S. 71), „dass das Bittgebet darauf abzielt, Gott zu beeinflussen. Es veranlasst Gott, Dinge zu tun, die er nicht getan hätte, wenn er nicht darum gebeten worden wäre“. Mit diesem Satz fasst Brümmer seine Ausführungen von a. a. O., S. 45 – 47 in einer Weise zusammen, der m. E. widersprochen werden muss. Die Ausführungen auf S. 45 – 47 sind demgegenüber wesentlich vorsichtiger und differenzierter und berühren sich weitgehend mit der Auffassung, die ich in Abschn. 3 darstellen werde. Ähnliche Bedenken habe ich im Blick auf Bayers Bezeichnung der Klage und Bitte als „,Einwirkung‘ auf Gott“ (Erhörte Klage, s. o. Anm. 4, S. 264). Auch hier sehe ich allerdings im Blick auf das damit offenbar Gemeinte gute Verständigungsmöglichkeiten.
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Vergangenheit (also als einen Inbegriff bereits gewählter, realisierter Möglichkeiten), dann ergibt sich hieraus, dass die Zukunft im Wissen Gottes bereits festgelegt ist, jede Bitte um eine andere Zukunft als die, die Gott weiß, also sinnlos ist. Diese Argumentation ließe sich unterlaufen, indem man folgendermaßen argumentiert: Wenn Gott alles (voraus-)weiß, dann kennt er auch jedes Gebet und dessen mögliche Einwirkung auf den Ablauf der Ereignisse. Folglich verliert das Gebet keineswegs seinen Sinn; denn es ist ebenso von Gott gewusst wie dessen mögliche Auswirkung. Der Pferdefuß dieser Argumentation liegt darin, dass in ihr „Sinn“ jedenfalls nicht mehr als Qualifikator für die Wahl einer Handlung fungiert, sondern – wenn überhaupt – sich nur noch auf das faktische Geschehen von Ereignissen beziehen kann. Die hierbei erkennbar werdende deterministische Sichtweise verbietet es, zwischen sinnvollen und sinnlosen Handlungen in einem qualifizierenden Sinn zu unterscheiden. Und so gesehen macht sie auf ihre Weise das Gebet „sinnlos“, weil „das Bittgebet in einem deterministischen Universum bedeutungslos wäre. Das wäre die Art von Universum, das bestehen würde, wenn Gott jedes Ereignis und jede menschliche Handlung im voraus wissen würde“.19 c) Wenn Gott vollkommen gut ist, dann erscheint es – gemäß der Argumentation von E. Stump20 – ebenfalls nicht als sinnvoll, ihn um etwas zu bitten; denn: – Alles, was in einem Bittgebet erbeten wird, macht die Welt entweder besser oder schlechter, als sie ohne dieses Ereignis wäre. – Wenn die Welt schlechter würde, würde ein vollkommen guter Gott die Bitte nicht erfüllen. – Wenn die Welt besser würde, würde ein vollkommen guter Gott den Zustand auch ohne Gebet herbeiführen. Bittgebete an einen vollkommen guten Gott bewirken folglich keine Veränderung, sind also zwecklos. a)-c) Alle drei Gedankengänge führen also zu dem Ergebnis, dass das Bittgebet jedenfalls dann in einer starken (vielleicht unauflöslichen) Spannung zum Glauben an einen allmächtigen, allwissenden, vollkommen guten Gott steht, wenn es im Sinne einer Aktivität verstanden wird, durch die der Betende auf Gott einwirken und ihn zu einem bestimmten Wirken veranlassen will. Ein so verstandenes Bittgebet wäre 19 So V. Brümmer a. a. O., S. 40 f. 20 E. Stump, Petitionary Prayer, in: American Philosophical Quarterly 16/1979, S. 81 – 91.
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geradezu ein Akt des Unglaubens, weil es davon ausginge, dass Gott ohne unser Gebet das Gute nicht kennt oder nicht tun kann oder nicht tun will. Damit ergibt sich aber ein scheinbar widersprüchliches Resultat: Das Bittgebet, in dem ein Mensch sich mit seinen Sorgen, Ängsten, Wünschen, Hoffnungen Gott zuwendet, erscheint einerseits als ein elementarer Akt und Ausdruck des Gottvertrauens. Andererseits erscheint dieser selbe Akt, wenn er (naheliegenderweise) verstanden wird als ein Versuch, Gott zu einem Wirken zu veranlassen, das ohne das Gebet nicht geschehen würde, als ein Akt und Ausdruck mangelnden Gottvertrauens. Dieser (scheinbare oder wirkliche) Widerspruch schreit nach einer Auflösung.
2.3 Kriterien für das Gebetsverständnis Die Analyse des Gebetsbegriffs und die Reflexion über Gebet und Gottesverständnis ergeben, dass das für das Gebetsverständnis essentielle Bittgebet mit den für das Gottesverständnis essentiellen Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und vollkommenen Güte sowie mit der für die Gottesbeziehung essentiellen Attitüde des Vertrauens nur dann widerspruchsfrei zusammengedacht werden kann, wenn das Gebetsverständnis folgenden drei Kriterien genügt: a) Das Bittgebet, verstanden als Bitte um etwas, das ohne diese Bitte nicht geschhe, hat einen legitimen Platz in diesem Gebetsverständnis. b) Das, was durch das Bittgebet erbeten wird, wird vom Wirken des Adressaten des Gebets, also von Gott, erwartet, es ist nicht vom Betenden selbst zu leisten. c) Das Bittgebet wird nicht verstanden als Einwirkung auf Gott, die ihn veranlasst, etwas zu tun, das er ohne das Gebet nicht getan hätte. Es erscheint – zumindest auf den ersten Blick – als unmöglich, ein Gebetsverständnis zu formulieren, das diesen drei Kriterien gleichzeitig genügt. Ich werde im folgenden Abschnitt trotzdem diesen Versuch unternehmen und zugleich zeigen, dass dieses Gebetsverständnis in zentralen Texten der christlichen Überlieferung bereits vorgeformt ist. Wie Brümmer setze ich dabei an bei der relationalen Struktur des Gebets, mache aber nicht Gebrauch von der m. E. problematischen Annahme, dass es sich bei der Gott-Mensch-Beziehung in gewisser
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Hinsicht um eine „symmetrische Beziehung“21 handle, in der beide Partner (unter Verzicht auf Zwang) aufeinander einwirken (können). Ich versuche demgegenüber konsequent daran festzuhalten, dass es sich um eine – in jeder Hinsicht – asymmetrische Beziehung handelt.
3. Beten als Bitten und Empfangen – ein Vorschlag 3.1 Skizzierung des Vorschlags Die drei genannten Kriterien sind dann miteinander unvereinbar, wenn man die Formulierung „Bitte um etwas, das ohne diese Bitte nicht geschähe“ (2.3 a) identifiziert mit der (negierten) Formel „Einwirkung auf Gott, die ihn veranlasst, etwas zu tun, das er ohne das Gebet nicht getan hätte“ (2.3 c). Eine solche Identifizierung erscheint aber gerade aufgrund des mittleren Kriteriums (2.3 b) unumgänglich zu sein, wenn das, was durch das Gebet erbeten wird, von Gott erwartet wird. Lässt sich sinnvoll unterscheiden zwischen dem, was ohne Gebet nicht geschhe, und dem, was Gott ohne Gebet nicht getan htte, wenn gleichzeitig gilt: Was der Betende erwartet, erwartet er vom Wirken Gottes? Diese Unterscheidung ist in der Tat möglich, wenn man das Bittgebet selbst nicht nur als Ausdruck und Mitteilung Gott gegenüber versteht, sondern zugleich als das (oder als ein) Mittel, durch das Gottes Wirken den Menschen erreicht und in ihm zur Wirkung kommt. Dabei ist vorausgesetzt, dass das Gebet weder den Sinn noch die Funktion hat, Gott zu irgendeinem (anderen) Wirken zu veranlassen, dass aber (obwohl Gott nichts tut, was er ohne Gebet nicht getan hätte) doch etwas (beim Menschen) geschieht, was ohne das Gebet nicht geschähe oder geschehen wäre. Beispiel: Ein Mensch bittet im Gebet darum, die Geduld zu bekommen, die er braucht, um eine schwere Krankheit oder Behinderung zu ertragen, und er erfährt das Gebet als den Ort, an dem ihm (z. B. durch Erinnerung an Bibelworte oder an ermutigende Erfahrungen) die Geduld zuteil wird, um die er gebetet hat. Hier geschieht etwas, das ohne Gebet nicht geschehen wäre, ohne dass Gott etwas getan hätte, was er ohne Gebet nicht getan hätte. Aber bei diesem Beispiel ist allem Anschein nach das zweite Kriterium (b) auf der Strecke geblieben. Muss man nicht sagen: Der Be21 So V. Brümmer, Was tun wir, wenn wir beten? (s. o. Anm. 17), S. 52 und 73.
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tende beschafft sich durch sein Gebet diese Geduld? Das Gebet wäre demnach also im Sinne einer therapeutischen Meditation22 zu verstehen? Nein, gerade das kann man nicht sagen; denn es ist ja keineswegs so, dass der Vollzug des Gebets an sich oder irgendeine Technik des Betens die Gewähr dafür bieten würde, dass sich der intendierte Effekt (z. B. Geduld) einstellt. Das Empfangen von Geduld wird vielmehr – ganz zu Recht – als ein Widerfahrnis erlebt, das dem Menschen als Geschenk (von Gott her) zuteil wird. Damit geraten wir aber scheinbar in folgendes Dilemma: Entweder ist der Ausdruck „Geschenk Gottes“ bloß der überhöhte Ausdruck für etwas, das der Betende doch selbst bewerkstelligt (wenn wir vielleicht auch die Technik dafür noch nicht genau kennen) – oder das Gebet ist doch zu denken als etwas, ohne das Gott dieses Geschenk nicht gegeben hätte. Im ersten Falle wäre Kriterium b, im zweiten Falle Kriterium c verletzt. Meines Erachtens kann man die erste Möglichkeit relativ leicht widerlegen, indem man sich klar macht, dass Geduld (wie z. B. auch Liebesfähigkeit, Mut, Lebensfreude, Zuversicht) eine den ganzen Menschen betreffende und bestimmende Verfassung ist, die ein Mensch sich nur dann selbst geben könnte, wenn er einen archimedischen Standpunkt außerhalb seiner selbst hätte. Aber den hat er nicht. Schwieriger ist die zweite Möglichkeit zu widerlegen. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass das Verleihen von Geduld etc. etwas ist, wozu Gott nicht durch unser Gebet veranlasst wird, sondern wozu er die Mittel in der Welt schon bereitgestellt hat; wenn wir aber weiter davon ausgehen, dass nicht jedes solches Gebet erhört wird, taucht ja die Frage auf: Ist dann nicht doch das Gebet jedenfalls insofern ein Faktor, der auf Gott einwirkt, als davon abhängig ist, zu welchem Zeitpunkt Gott einem Menschen das gibt, was er ihm ohnehin gehen will und wozu er ohnehin die Mittel bereitgestellt hat? Das kann man so sagen, gerät dann aber nicht nur in Widerspruch mit Kriterium c, sondern trägt damit in ganz problematischer Weise zeitliche Kategorien in das Gottesverständnis hinein. Man muss das aber nicht so sagen, sondern es ist ebenso (und mit besseren Gründen) möglich, davon auszugehen, dass Gott in seiner Weisheit und Güte nicht nur weiß, was für uns das Beste ist, sondern auch, wann es für uns das Beste ist. Das Gebet wäre dementsprechend das Mittel, Gottes gute Gaben dann anzunehmen und zu 22 Vgl. V. Brümmer a. a. O., S. 17 – 28.
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empfangen, wenn Gott sie uns geben will, weil er das in seiner Weisheit, Güte und Macht so geordnet hat. Wird das Bittgebet so verstanden, dann lässt sich von ihm sagen: a) Es ist Bitte um etwas, das ohne diese Bitte nicht geschähe – weil die Bitte selbst das Mittel ist, ohne das der Beter das Erbetene nicht empfangen würde. b) Es erbittet, erwartet und empfängt das Erbetene von Gott – weil der Mensch selbst nicht in der Lage ist, sich hinsichtlich der Grundbefindlichkeit seines Daseins zu verändern. c) Es ist nicht eine Einwirkung auf Gott, die Gott erst zu einem Wirken veranlasst – weil in der Erhörung des Gebets nichts anderes geschieht, als dass Gottes ewiger Wille zu der von ihm ersehenen Zeit zur Erfüllung kommt. D. h. aber: Das Gebet bewirkt nicht, dass Gott das Erbetene gibt, sondern im Gebet empfngt der Mensch das, was Gott ihm geben will. Umgekehrt gilt jedoch: Die Unterlassung des Gebets verhindert jedoch, dass Gott dem Menschen das Verheißene gibt, weil der Mensch nicht empfngt, was Gott ihm geben will.23 Das gilt freilich – wie sich im folgenden Abschnitt noch einmal zeigen wird – nur für die Gaben Gottes, die uns „innerlich“ angehen, d. h.: an denen wir mit unserer Personalität unverwechselbar beteiligt sind.
23 Dass die hier vorgeschlagene theologische Deutung des Gebets nicht nur in klassischen Texten der Überlieferung vorformuliert ist, sondern auch in der zeitgenössischen Theologie Entsprechungen hat, belegen die einschlägigen Aussagen in dem theologisch wie geistlich gleichermaßen wertvollen Buch von T. Koch: Mit Gott leben, Tübingen 1989, bes. S. 38 – 42 (vgl. dazu oben S. XI). Einschlägig sind hier einerseits Beschreibungen des Betens, wie z. B.: „sich sammeln auf den Gehalt, den Fundus und die Quelle des Lebens“; „gesammeltes Sichaussprechen und Bitten“ (a. a. O., S. 39). Vor allem aber die das ganze Buch durchziehende Gedankenfigur des „Umschlagens“ bzw. „Subjektwechsels“ (a. a. O., S. 40 f.) ist hier zu nennen. Das Widerfahrnis des „Umschlagens“ im Gebet beschreibt Koch mit der Formulierung: „bis dem Beter vermehrt zurückströmt, was er verlangend ins Beten hineingelegt hat … In jenem ,Umschlagen‘, in dem Gott sich mir erschließt, geht mir auf, dass Gott immer schon da ist für mein Leben“ (a. a. O., S. 40).
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3.2 Die Vermittelbarkeit dieses Vorschlags mit der christlichen Tradition Bevor ich auf zwei naheliegende Einwände gegen dieses Gebetsverständnis eingehe, will ich kurz darauf hinweisen, wie es implizit in der christlichen Überlieferung verankert ist. Man kann z. B. schon durch die Analyse von Agenden-Gebeten feststellen, dass in einem hohen Maße Bittgebete so formuliert sind, dass sie nicht nur Bitten artikulieren (expressiv), sondern sich selbst auch als Ort und Mittel der Erfüllung verstehen (rezeptiv). Beispiele: „Erleuchte uns …“ , „lehre uns …“, „lass uns erkennen …“, „öffne unsere Herzen …“, „gib uns die Kraft und den Mut …“ etc., wobei nirgends vorauszusetzen ist, dass die Bitten den Sinn haben, Gottes Willen zu beeinflussen oder sein Wirken zu veranlassen. Vielmehr geht es offensichtlich darum, dass Menschen sich in solchen Gebeten so auf Gott ausrichten und sich so für ihn empfnglich machen, dass er ihnen geben kann, was er ihnen aus seiner Liebe heraus geben will. Ebenso könnte man durch eine Analyse von Mt 6,6 – 13, wo das Vaterunser (das ja durch und durch ein Bittgebet ist) eingeleitet wird mit den Worten: „Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet“, zeigen, dass offenbar gerade in diesem christlichen Gebet schlechthin ein Verständnis des Bittgebets vorausgesetzt ist, das allen drei Kriterien genügt. Am deutlichsten (weil explizit) wird dies aber an Luthers Auslegung des Vaterunsers im Kleinen Katechismus, insbesondere an den ersten vier Bitten: „Geheiligt werde dein Name. Was ist das? Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns heilig werde“. „Dein Reich komme. Was ist das? Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme“. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Was ist das? Gottes guter, gnädiger Wille geschieht auch ohne unser Gebet; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschehe“. „Unser tägliches Brot gib uns heute. Was ist das? Gott gibt das tägliche Brot, auch ohne unsere Bitte, allen bösen Menschen; aber wir
Wird dieses Gebetsverständnis der Wirklichkeit des Gebets gerecht?
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bitten in diesem Gebet, dass er’s uns erkennen lasse und wir mit Danksagung empfangen unser tägliches Brot“.24 Man beachte dabei: a) das durchgängige geradezu provozierend klingende „ohne unser Gebet“ bzw. „ohne unsere Bitte“, d. h. das Gebet verursacht nicht Gottes Wirken; b) das durchgängige „auch bei uns“ bzw. „auch zu uns“, d. h. durch das Gebet werden uns Gottes Gaben zuteil. In seinem „Großen Katechismus“ hat Luther dieses Gebetsverständnis zusammengefasst und in ein treffendes Bild gebracht, wenn er schreibt: „Darum auch Gott haben will, dass Du solche Not und Anliegen klagest und anziehest [d. h. zur Sprache bringst], nicht dass er’s nicht wisse, sondern dass du dein Herz entzündest, desto stärker und mehr zu begehren, und nur den Mantel weit ausbreitest und auftuest, viel zu empfangen“.25 Das Bild von dem weit ausgebreiteten Mantel ist eine besonders schöne und angemessene Veranschaulichung des hier vorgetragenen Gebetsverständnisses.
4. Wird dieses Gebetsverständnis der Wirklichkeit des Gebets gerecht? – zwei Einwände Ich will mich auf zwei m. E. besonders naheliegende Einwände konzentrieren: – Wie kommen in diesem Gebetsverständnis „Gebete um äußerliche Dinge“ vor – haben sie überhaupt einen Platz? – (Wie) Ist dieses Gebetsverständnis anwendbar auf das Fürbittgebet?
4.1 Gebete um äußerliche Dinge Wenn nur ein Verständnis des Bittgebets legitim (weil widerspruchsfrei) ist, in dem das Bittgebet selbst als Ort und Medium des Wirkens Gottes (und damit der Erhörung) gedacht wird, dann entfallen allem Anschein nach alle Gebete um äußerliche Dinge als sinnlos oder illegitim; denn sie empfangen wir nicht im Gebet und durch das Gebet. Aber dem ist nicht so. 24 BSLK 512 f., zitiert nach der neubearbeiteten Ausgabe von 1986, S. 15 – 17. 25 BSLK 668,34 – 40.
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a) Legitim und sinnvoll sind im Gebet die Bitten (auch die Bitten um Dinge), die mit dem Wissen um die Allmacht, Weisheit und Güte Gottes vereinbar sind, d. h. die Bitten, die nicht den Charakter von Forderungen haben, sondern unter dem Vorbehalt stehen: „Wenn es dein Wille ist“ oder die (ausdrücklich oder stillschweigend) verbunden sind mit dem Satz: „Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lk 22,42 parr.). Trifft etwas ein, um das der Beter gebetet hat, so wird er nicht sagen: Das ist geschehen, weil ich darum gebetet habe, sondern: Das ist geschehen, weil Gott es gegeben hat, weil es so Gottes Wille war. Das Gebetsverständnis ist in dieser Hinsicht die Nagelprobe für das Gottesverhältnis und für die Rechtfertigungslehre. b) Die Gebete um (äußerliche) Dinge haben einen anderen Status als die Gebete um (innere) Veränderungen des Beters. Sie sind zwar – wie die letzteren – legitimer Ausdruck menschlichen Wünschens und Hoffens, aber sie sind – im Unterschied zu den letzteren – nicht selbst Ort und Mittel der Erhörung. Der Satz: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“, der die Klammer um alle Bittgebete im Namen Jesu bildet, ist jedoch selbst zu verstehen als Einverständniserklärung oder als Bitte um die innere Veränderung, aufgrund deren der Beter den Willen Gottes auch dann akzeptieren kann, wenn er nicht mit den eigenen Anliegen übereinstimmt. Insofern werden von diesem Gebetsverständnis alle Bitten um äußerliche Dinge mitbetroffen, nämlich sofern es um die Einstellung zu ihnen und zu ihrer möglichen (Nicht-)Erfüllung geht. 4.2 Fürbittgebet Als besonders schwerwiegend, aber auch schwierig empfinde ich den möglichen Einwand, dieses Gebetsverständnis sei nur auf Bittgebete (für den Betenden selbst), nicht aber auf Frbittgebete anzuwenden. Schwerwiegend ist dieser Einwand deswegen, weil das Fürbittgebet ja eine ganz zentrale (sowohl biblisch gebotene als auch ethisch wichtige) Form des Gebets ist. Im Fürbittgebet kann ein Mensch davon frei werden, um sich selbst zu kreisen, und ganz für andere vor Gott eintreten. Die Fürbitte kann aber offenbar nicht im Sinne des skizzierten rezeptiven Verständnisses als Ort und Mittel der Gebetserhörung aufgefasst werden. Davon gibt es jedoch mindestens eine Ausnahme, von der zuerst (a) die Rede sein soll, bevor zwei weitere Gesichtspunkte (b und c) erwogen werden. Zuvor aber sei generell darauf hingewiesen,
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dass alles, was über das Gebet um äußerliche Dinge (4.1) gesagt wurde, mutatis mutandis auch für das Fürbittgebet gilt. Auch das Fürbittgebet ist (nur) insoweit legitim, als es (implizit oder explizit) eingeklammert ist durch den Vorbehalt: „Dein Wille geschehe“. a) Es ist längst erkannt worden, dass das Fürbittgebet jedenfalls auch, als Ort der Reflexion über eigene Handlungsmöglichkeiten zugunsten der Mitmenschen verstanden werden kann und tatsächlich auch diese Funktion hat. Ja, die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit eines Fürbittgebets ist sogar daran zu messen, ob der Beter willens ist, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zugunsten der Mitmenschen, für die er betet, in Pflicht nehmen zu lassen. Die Tatsache, dass es in der Fürbitte zu einem solchen verantwortlichen Nachdenken und einer Selbstverpflichtung kommt (oder jedenfalls kommen kann), rechtfertigt das Fürbittgebet aber nur als Fürbitte. Es rechtfertigt jedoch gerade nicht die Form des Gebets, das ja das Erbetene von Gott erwartet.26 Das heißt aber: Das Fürbittgebet ist durch das, was aus ihm ethisch resultiert, keineswegs hinreichend legitimiert. Das Wahrheitsmoment, das in der ethischen Deutung liegt, kommt z. B. zum Ausdruck in der Bitte an Gott um Weisheit, Mut, Tatkraft, damit wir das zugunsten der Mitmenschen tun können, was zu unseren Aufgaben gehört und was uns möglich ist. Insoweit lässt sich das Fürbittgebet vollständig unter das oben skizzierte Gebetsverständnis subsumieren. Aber dabei bleiben (vom Wesen des Gebets her notwendig) die Elemente des Fürbittgebets übrig, in denen wir Gott zugunsten von Mitmenschen um etwas bitten, was wir ihnen nicht geben kçnnen. Sind auch solche (echten) Fürbittgebete, gemessen an dem hier vorgetragenen Gebetsverständnis und seinen Kriterien, legitim? b) Es gibt im Kontext von Fürbittgebeten etwas, das m. W. bisher in der Forschung über das Thema „Gebet“ noch kaum beachtet wurde 26 Von Kritikern des Gebets wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass gerade das Fürbittgebet dazu missbraucht werden könne, die ethische Verantwortung des Menschen auf Gott zu übertragen, gewissermaßen an ihn zu delegieren. (Klassischer Text: B. Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“). Demgegenüber ist zu betonen, dass wir ebensowenig an Gott delegieren dürfen, was unsere Aufgabe ist, wie wir uns anmaßen dürfen, was Gottes Sache ist. Das Gebet kann und soll der Ort sein, an dem wir diese Unterscheidung immer wieder erkennen, anerkennen, einüben und ernst nehmen. Und nach Luthers Überzeugung (s. WA Br 5, 415,45) ist diese Unterscheidung „die summa“ des Glaubens und Lebens (siehe dazu in diesem Band den Aufsatz: Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen, bes. S. 252 f.).
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und das doch offenbar sehr oft das Fürbittgebet begleitet. Ich meine die Mitteilung an die Menschen, für die gebetet wird: „Wir beten für euch“ oder „Wir denken an euch“. Nicht so sehr diese Mitteilung, wohl aber das durch sie ausgelöste Wissen – „jemand betet für mich“ – ist offenbar ein wichtiges Element im Zusammenhang des Fürbittgebets. Das heißt aber: Im Fürbittgebet geht es nicht nur um das Aussprechen von Bitten zugunsten eines Mitmenschen vor Gott, sondern auch um die Herstellung eines Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühls und -bewusstseins zwischen den Menschen. Neben der petitiven Funktion hat das Fürbittgebet insofern auch eine expressive Funktion, nämlich zu zeigen, wie ein Mensch zum anderen steht, ja wie er für ihn einsteht. Möglicherweise geschieht das sogar stellvertretend, wenn nämlich der andere Mensch gar nicht in der Lage ist, seine Bedürftigkeit vor Gott (so) zu artikulieren, wie das der tut, der Fürbitte leistet. Von hier aus kann man noch einen kleinen Schritt weitergehen: Nach christlichem Verständnis wird durch die Fürbitte Gemeinschaft und Verbundenheit zwischen den Menschen nicht konstituiert, sondern als (von Gott her bestehende Gemeinschaft und Verbundenheit) anerkannt. Alle Menschen sind ja – zumindest – dadurch untereinander verbunden, dass sie Geschöpfe Gottes sind und von Menschen abstammen, also, wie das Alte Testament schön sagt, „Menschenkinder“ sind. Sie haben einen gemeinsamen Schöpfer und sind Teil einer großen Menschenfamilie, das macht sie zu Mitmenschen und zu Brüdern und Schwestern. Konstituiert wird diese Geschwisterbeziehung ausschließlich durch den gemeinsamen Ursprung in Gott (nicht durch Sympathie oder Interessengleichheit). Deshalb findet sie auch im Fürbittgebet (vor Gott) ihren tiefsten Ausdruck. Aus dieser Gemeinschaft kann und darf kein Mensch ausgeklammert werden. Deswegen betont das Neue Testament die Wichtigkeit des Fürbittgebets auch und gerade für die Feinde (Mt 5,44 f.; Lk 6,27 f.; 23,24; Apg 7,29 f.). c) Einen letzten Schritt in diese Richtung will ich nur vorsichtig andeuten, weil er spekulativen Charakter hat. Das zuletzt Gesagte (b) zeigt, dass es nach christlichem Verständnis eine unaufhebbare Zusammengehörigkeit aller Menschen (letztlich sogar aller Geschöpfe) vor Gott gibt, die im Fürbittgebet, das auch den Feind einschließt, zum Ausdruck kommt. Aber lässt sich daraus auch im Sinne des oben genannten Gebetsverständnisses folgern, das Fürbittgebet könne ein Mittel sein, wie wir stellvertretend füreinander das empfangen können, worum wir bitten? Können wir uns nicht nur zugunsten, sondern auch stellvertretend für einen anderen vor Gott öffnen (und empfangen)? Ich
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wage an dieser Stelle keine Behauptung, auch nicht in negativer Hinsicht. Aber könnte es nicht sein, dass wir als Menschen untereinander in einer Weise verbunden sind, von der wir noch keine genaue Vorstellung haben? Möglicherweise ist dies ein Feld, auf dem künftige Forschung noch eine Fülle staunenswerter Resultate zutage fördert. An deren Ende könnte die Erkenntnis stehen, dass der „Mantel“ des Gebets, von dem Luther spricht (s. o. 3.2), ein Mantel ist, der alle Menschen umschließt, so dass, was ein Mensch in ihm auffängt, den anderen Menschen (in irgendeiner Weise) mit zugute kommt. Zumindest gelegentlich kann man das tatsächlich auf überraschende und beglückende Weise erleben.
Religion als Horizont und Element der Bildung Bildung ist – egal ob man dabei eher an informelle oder an institutionalisierte Prozesse denkt – eine Aufgabe und Investition der Gesellschaft im ganzen, nicht bloß der Kirchen oder gar nur der Theologie. Deswegen ist es wichtig, auch nicht beim Nachdenken über Religion als Horizont und Element der Bildung die gesamtgesellschaftliche Perspektive der Bildungsthematik mit in den Blick zu nehmen. Würde man im Rahmen einer demoskopischen Untersuchung hierzulande die Frage stellen: „Was würde Ihrer Meinung nach der Erziehung und Bildung in Familie und Schule fehlen, wenn in ihr Religion nicht mehr vorkäme?“, dann müsste man wohl mit sehr unterschiedlichen Antworten rechnen. Ich würde in wahlloser Reihung zumindest die folgenden erwarten: – „…nichts Wesentliches“ – „…ein Teil unseres kulturellen Erbes“ – „…die Möglichkeit, für sich einen Glauben zu finden“ – „…eine Vernebelung, durch die man von den wichtigen Problemen abgelenkt wird“ – „…ein spezielles Bildungsangebot für religiös Interessierte“ – „…die Erziehung zum christlichen Glauben“ – „…ein Machtinstrument der Kirchen“ – „…die Bindung an grundlegende Normen und Werten“. Ich wage keine Prognose, welche anderen Antworten noch auftauchen würden und wie die Häufigkeitsverteilung zwischen diesen Antworten wäre. Mit Sicherheit darf man aber wohl erwarten, dass hierzulande ein regional sehr unterschiedliches, in jedem Fall aber in sich diffuses Gesamtbild entstünde. In diesem (vermuteten) Kontext ist die Frage nach der Religion als Horizont und Element der Bildung in der heutigen Bundesrepublik Deutschland zu reflektieren. Ich möchte dies in drei Schritten tun, indem ich zunächst aus meiner Sicht zu beantworten versuche, was der Bildung ohne Religion fehlen würde. Sodann will ich erwägen, ob nicht andere Bildungselemente an die Stelle der Religion treten und deren Funktion(en) übernehmen könnten. Schließlich möchte ich einige Folgerungen zur Diskussion
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stellen, die sich m. E. aus dem in Abschn. 1 und 2 Gesagten im Blick auf die Frage nach der Religion als Element der Bildung ergeben. Zuvor jedoch noch zwei kurze aber, wie ich denke, unerlässliche Vorbemerkungen zu dem von mir verwendeten Religionsbegriff. Welche Religion ist bei alledem gemeint? Die christliche? Ja, vor allem, aber nicht nur. Die jüdische, islamische und die anderen Weltreligionen? Ja, auch, aber nicht nur. Denn ich möchte auch die bunte, manchmal skurril wirkende Vielfalt religiösen Suchens und Experimentierens nicht ausschließen, sondern ausdrücklich einbeziehen, wie sie z. B. in den selbst gebastelten oder zusammengestellten sog. Patchwork- oder Cafeteriareligionen nicht nur Jugendlicher, sondern auch einer beträchtlichen Zahl von Erwachsenen zum Ausdruck kommt. Ich beziehe das nicht deswegen ein, weil ich der Meinung wäre, im Bereich der Religion sei alles gleich-gültig, und jeder solle eben – gut Fritzisch – nach seiner Façon selig werden, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass die auf diesem Feld nötigen Abgrenzungen nicht durch Ausgrenzungen, sondern nur durch argumentative Auseinandersetzung gelingen können. Dazu muss man sich aber erst einmal auf die Phänomene einlassen. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Frage, welche Merkmale oder Elemente für Religion maßgeblich sind, woran man also erkennen kann, ob man es mit Religion (z. B. statt mit Magie, Moral bzw. Ethik oder mit einer nicht-religiösen Weltanschauung) zu tun hat. Ich wähle hier einen bescheidenen, theoretisch angreifbaren,1 aber gesellschaftlich relevanten Zugang, indem ich den Glauben an (einen) Gott als Indikator für das Vorhandensein von Religion bei einem Menschen, einer Gruppe oder in einer Gesellschaft nehme. In diesem Sinne nun zum ersten angekündigten Schritt:
1
Diese Angreifbarkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass es Religionen, wie etwa den Buddhismus, gibt, in denen der Glaube an (einen) Gott keine oder keine entscheidende Rolle spielt. Und man könnte auch auf den Religionsbegriff verweisen, den Schleiermacher in seinen Reden „Über die Religion“ (1799) vorgestellt hat, wobei er Religion vom Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit der Seele unterscheidet.
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1. Was würde der Bildung fehlen, wenn in ihr Religion nicht mehr vorkäme? 2 Es geht primär um das, wofür das zentrale religiöse Wort „Gott“ steht, was es zu denken gibt und worauf es verweist. Damit will ich noch nicht vorentscheiden, ob nicht manches, was traditionell mit der Frage nach Gott verbunden ist, auch anders Ausdruck finden könnte; deshalb füge ich zunächst das Wort „möglicherweise“ ein. Fünf 3 Antworten möchte ich geben und jeweils kurz entfalten:
1.1 Es fehlte möglicherweise die Kommunikation über den Sinn des Lebens und der Welt Wilhelm Weischedel, der Philosoph, der sich selbst als konsequenter Skeptiker verstand, ist in seinem Werk „Der Gott der Philosophen“4 intensiv dem Zusammenhang zwischen der Sinnfrage und der Gottesfrage nachgegangen und hat dabei folgenden Gedankengang entwickelt: Die Frage nach dem Sinn von irgend etwas lässt sich generell nur beantworten durch Verweis auf etwas Sinngebendes. So besteht der Sinn eines Füllfederhalters im Schreiben, der Sinn des Schreibens in der Kommunikation, der Sinn der Kommunikation im zwischenmenschlichen Austausch, der Sinn dieses Austauschs im menschlichen Dasein usw. Das jeweils als zweites Genannte ist nach Weischedel das „Sinngebende“, von dem her das jeweils Erstgenannte, als das „Sinnhafte“, seinen Sinn empfängt, wenn, ja wenn das Sinngebende selbst sinnhaft ist. Da aber liegt, wie Weischedel auf eine leicht nachvollziehbare Weise zeigt, das Problem. Denn das Sinngebende empfängt seinen Sinn ja wiederum von einem Sinngebenden, und die Glieder dieser „Sinnkette“ werden immer umfassender, bis zuletzt in jedem Fall ein nicht 2
3 4
Mit der Frage, was den Menschen und der Gesellschaft fehlen würde, wenn das Reden von Gott verschwände, habe ich mich grundsätzlich und ohne explizite Bezugnahme auf die Bildungsthematik beschäftigt in dem Aufsatz: Welchen Sinn hat es, heute noch von Gott zu reden? In: Marburger Jahrbuch Theologie II/1988, S. 43 – 68. Dass und wodurch sich die Zahl seit dem ersten Erscheinen dieses Aufsatzes bei mir von vier auf fünf erhöht hat, wird im Abschnitt 1.5 eigens erläutert. Darmstadt 1972. Ich beziehe mich auf Bd. II, S. 165 – 174, dieses Werkes. Die im folgenden Text in Anführungszeichen gesetzten Begriff entstammen diesem Abschnitt.
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mehr zu erweiternder, universaler „Sinnzusammenhang“ erreicht ist, den Weischedel als „Wesen des Daseins“ bezeichnet. Woher aber empfängt dieser universale Sinnzusammenhang seinerseits seinen Sinn? Der skeptische Philosoph kennt natürlich die religiöse Antwort, die im Verweis auf Gott als den Schöpfer und Vollender der Welt besteht, aber er kann sie sich als Skeptiker nicht zu eigen machen, weil sie Glauben voraussetzt. Er muss und will deshalb die Beantwortung der Sinnfrage offenlassen und in der Schwebe halten. Aber er anerkennt, ja er weist geradezu nach, dass erst auf der Ebene, auf der sich die Frage nach Gott stellt, die Frage nach dem Sinn des Ganzen beantwortet werden kann, und zwar dadurch, dass das Ganze sich als verstehbar, gerechtfertigt und fraglos zeigt. Und nun das Entscheidende bei Weischedel: Wenn die Sinnfrage nicht in diesem universalen Horizont gestellt und beantwortet wird, dann kann sie auch im Blick auf kein einzelnes Wesen, Ereignis oder Ding beantwortet werden. Mit dem Sinn des Ganzen, steht der Sinn alles einzelnen auf dem Spiel. Hat das Dasein keinen Sinn, dann auch nicht das Menschenleben, dann auch nicht die Kommunikation etc. Weischedel will hier ganz konsequent sein, und deshalb lehnt er eine naheliegende Lösung ab, die darin bestünde, auf irgendeine Erfahrung zu verweisen, die man als unmittelbar sinnvoll empfindet, z. B. die Geburt eines Kindes, das Lesen eines Gedichtes oder das Feiern eines Festes, um dann zu folgern: Wenn es so etwas Sinnvolles im einzelnen gibt, dann muss auch angenommen werden dürfen, dass das Ganze der Wirklichkeit sinnvoll ist. Weischedels Einwand gegen dieses Argument lautet: Das unmittelbare Empfinden von Sinnhaftigkeit kann kein gültiges Kriterium für die Beantwortung der Sinnfrage sein; denn dieses Empfinden wird immer wieder in Frage gestellt durch die Erfahrung von Sinnlosem. Und darum muss die Sinnfrage im Horizont des Gesamtsinnes, also im Horizont der Gottesfrage gestellt und beantwortet oder, wenn da keine Antwort gefunden werden kann, offengelassen werden. Und damit muss dann offenbleiben, ob überhaupt irgend etwas in unserem Leben und in dieser Welt sinnvoll oder ob nicht alles sinnlos ist, ob also der Nihilismus recht hat. Und für diese grundlegende und umfassende Perspektive steht die Frage nach Gott. Soviel zur ersten Antwortmöglichkeit.
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1.2 Es fehlte möglicherweise das Bewusstwerden dessen, woran Menschen ihr Herz hängen5 Habe ich mich bei der ersten Antwort an den skeptischen Philosophen Weischedel gehalten, so orientiere ich mich nun an Luthers Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus.6 Luther fragt dort: „Was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott?“, und er antwortet überraschenderweise nicht, indem er das Glaubensbekenntnis entfaltet oder auf einen allgemeinen philosophischen Gottesbegriff verweist, sondern indem er sagt: „Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“. Die vertraute Beziehung zwischen Gott und Glaube wird damit umgekehrt: Nicht ist da erst (ein) Gott, an den der Mensch glauben soll, sondern das, woran ein Mensch glaubt, woran er sein Herz hängt, das ist sein Gott, ja, das macht er damit zu seinem Gott7 Diese Umkehrung, die Luther immer wieder ganz bewusst vollzogen hat, ist in mehrfacher Hinsicht von kaum zu überschätzender Bedeutung. Ich konzentriere mich in unserem Zusammenhang auf einen einzigen Punkt. Wenn der Glaube, also das lebensbestimmende Vertrauen eines Menschen etwas für ihn zum Gott macht, dann ist es zum Verstehen der eigenen Person (vielleicht auch zum Verstehen der Gesellschaft, in der wir leben) geradezu unerlässlich, sich zu fragen: Gibt es eigentlich etwas, an das ich mein Herz hänge (an das wir unser Herz hängen), und was ist das? Habe ich, haben wir also einen Gott und – wenn ja – was für einen? Das wäre dann ja zugleich die Instanz, von der ich – vielleicht unbewusst – abhängig bin, für die ich gerne Zeit und Geld „opfere“, für die ich mich ereifere und engagiere. Und wenn es eine solche Abhängigkeit gibt, dann ist es doch ein immenser Gewinn, sich ihrer bewusst zu sein oder bewusst zu werden. Und eben für dieses Bewusstwerden ist die Frage nach Gott ein entscheidender, vielleicht unentbehrlicher Zugang.
5 6 7
S. dazu meinen Aufsatz: Woran du dein Herz hängst … , Hanns-Lilje-Stiftung, Hannover 1996. Der Text steht gleich am Beginn des Großen Katechismus (BSLK 560 – 567, bes. 560,5 – 24). Vgl. unten Anm. 15.
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1.3 Es fehlte möglicherweise die ethische Orientierung, die dem Leben das rechte Maß gibt Noch stärker als bei der vorigen Antwort ist hier über den Einzelmenschen hinaus die Gesamtgesellschaft im Blick, denn bei der Frage nach der ethischen Orientierung und dem rechten Maß geht es auch und sogar vorwiegend um diejenigen Normen, Werte und Verhaltensweisen, durch die Menschen miteinander verbunden sind und durch die ihr gegenseitiges sowie ihr gemeinsames Tun und Lassen bestimmt wird. Die Frage nach Gott steht – wenn ich recht sehe: in fast allen Religionen – immer auch für die ethische Orientierung an solchen für das Leben und Zusammenleben der Menschen grundlegenden Normen und Werten, genauer gesagt: für die Verbindlichkeit und die unverfgbare Gltigkeit solcher Normen und Werte. Am 19. Mai 1994 hat im Niedersächsischen Landtag eine bemerkenswerte Debatte stattgefunden8, in der es um die nachträgliche Einfügung einer Präambel in die Landesverfassung ging, die den Wortlaut haben sollte (und dann auch bekam): „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben“. Einer der Parlamentarier brachte damals das Anliegen, um das es ging, auf den Punkt, indem er sagte: „Die Befürworter des Gottesbezugs in der Verfassung wollen … ausgedrückt wissen, dass auch die Verfassung als das höchste von Menschen gesetzte Recht für die sittliche Verantwortung des Menschen nur die vorletzte und nicht die letzte Instanz sein darf“9. Im Blick auf dieses Anliegen standen sich die Befürworter und die Gegner einer Verankerung des Gottesbezugs in der Verfassung nicht fern. Der Streit entzündete sich insbesondere an der Frage, ob der Verweis auf die Verantwortung vor Gott in unserer pluralistischen Gesellschaft eine geeignete und auch Atheisten zumutbare Form sei, um die Unverfügbarkeit der Menschenwürde und die unverbrüchliche Geltung der Menschenrechte anzuerkennen und sicherzustellen, zu denen Art. 3 dieser Landesverfassung sich bekennt10. Diese Frage wird 8 Der volle Wortlaut der Debatte ist veröffentlicht in dem vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtags hrsg. Heft: „Die Debatte des Niedersächsischen Landtages zur Verfassungspräambel am 19. Mai 1994“, Hannover 1994. 9 So der Abgeordnete Bruns, a. a. O., S. 10003, der freilich selbst gegen die Aufnahme einer solchen Präambel stimmte. 10 Art. 3 (1) der Niedersächsischen Verfassung lautet: „Das Volk von Niedersachsen bekennt sich zu den Menschenrechten als Grundlage der staatlichen
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uns später noch einmal beschäftigen. Hier ging es zunächst nur um die These, dass die Frage nach Gott jedenfalls für die Verbindlichkeit und Unverfügbarkeit der ethischen Orientierung steht und dass deshalb mit ihrem Wegfall auch diese Orientierung, insbesondere aber ihre Verbindlichkeit und Unverfügbarkeit verlorengehen könnte. Zuvor möchte ich aber noch kurz begründen, warum ich hier nicht nur von ethischer Orientierung, sondern zusätzlich vom „rechten Maß“ spreche11. Die Rede von ethischen Normen in Verbindung mit der Frage nach Gott hat etwas durchaus Zwiespältiges, weil damit auch die Vorstellung von Gott als dem Gesetzgeber und Richter festgeschrieben wird, die schon bei vielen Menschen schweren Schaden angerichtet und das Gottesbild nachhaltig belastet hat. Diese Gefahr ist weitaus geringer, wenn die Frage nach Gott in Verbindung gebracht wird mit dem für den einzelnen Menschen und für die menschliche Gesellschaft bekömmlichen, rechten Maß, das einerseits bewusst macht, welche Grenzen wir um unser selbst und um unserer Nachkommen willen nicht überschreiten dürfen, sondern beachten und bewahren sollten, und das andererseits dem menschlichen Leben eine innere Mitte und ein Orientierungszentrum gibt, von dem her die Dinge und Anforderungen in unserem Lebens in das rechte, uns guttuende Verhältnis zueinander gebracht werden, und das schließlich auch vor Maßlosigkeit bewahren könnte. Das alles könnte verlorengehen, wenn die Frage nach Gott in der Bildung nicht mehr vorkommt – so lautet meine dritte Vermutung.
1.4 Es fehlte möglicherweise die Erkenntnis dessen, was für uns unverfügbar ist Der Begriff „Unverfügbarkeit“ tauchte bereits im vorigen Abschnitt mehrmals auf, und zwar dort, wo es um die Sicherung der Menschenwürde und der Menschenrechte gegenüber der Entscheidungskompetenz des Parlaments und um die Verbindlichkeit ethischer Orientierung ging. Bei genauerer Betrachtung kann man sogar sagen, dass auch der Sinn des Lebens und der Welt zu dem Unverfügbaren gehört, denn ihn können wir nicht machen oder herstellen, sondern nur entdecken und anerkennen oder ignorieren bzw. bestreiten. Ja, selbst Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit“ (Verfassungen der deutschen Bundesländer, München 19955, S. 438). 11 Die Anregung dazu habe ich aus Rundfunksendungen der Marburger Religionspädagogin und Studienleiterin Sigrid Glockzin-Bever empfangen.
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dasjenige, das so unser Vertrauen weckt, dass wir daran unser Herz hängen, ist letztlich etwas uns Unverfügbares. Damit wird sichtbar, dass die Frage nach Gott in allen bisher genannten Aspekten (und ich vermute sogar in allen denkbaren Aspekten) mit dem zu tun hat und auf das verweist, was für uns als Menschen unverfügbar ist. Bevor wir weiterfragen, was denn für uns überhaupt unverfügbar ist, sind zwei Differenzierungen im Blick auf den Begriff „Unverfügbarkeit“ erforderlich, die zugleich den Charakter von Präzisierungen haben: Einerseits gibt es an dieser Stelle eine merkwürdige, nachdenklich machende Asymmetrie: Wir können über viel mehr „Dinge“ negativ verfügen als positiv. D. h.: Wir können viel mehr zerstören, als wir schaffen können. Das eklatanteste Beispiel ist das eigene Leben12, das wir uns zwar nicht geben, wohl aber nehmen können. Aber darauf ist das negative Verfügenkönnen nicht (mehr) beschränkt. Es reicht heute bereits bis zur Möglichkeit der ökologischen oder militärischen Zerstörung der Lebensbedingungen auf der Erde. Entscheidend ist freilich im Blick auf unsere Fragestellung die Erkenntnis, dass solch negatives Verfügen – sei es aus Gedankenlosigkeit, Leichtfertigkeit, Zynismus oder aus Verzweiflung angesichts des vermeintlichen Fehlens von positiven Alternativen – als solches zugleich das Ende alles VerfügenKönnens darstellt. In negativer Hinsicht gibt es also zwar ein VerfügenKçnnen, das nur durch ein Nicht-Verfügen-Drfen begrenzt ist; aber dieses negative Verfügen-Können hat selbst-zerstörerischen Charakter und hebt sich deshalb selbst auf, wenn es praktiziert wird. Die zweite Differenzierung, die hier erforderlich ist, bezieht sich darauf, dass keine Beziehung, in der wir existieren, ausschließlich rezeptiv ist, sondern jede Beziehung auch produktive Elemente enthält – und seien sie noch so unscheinbar. Hier könnte man einwenden: Das gelte zwar möglicherweise für alle innerweltlichen Beziehungen, aber gerade nicht für die Beziehung zu Gott; denn diese Beziehung habe – mit Schleiermacher gesprochen13 – den Charakter der schlechthinnigen Abhängigkeit. Dieser Einwand ist sehr gewichtig, aber durchschlagenden Charakter hätte er m. E. nur dann, wenn man einen konsequenten (religiösen) Determinismus verträte, also jedes menschliche Tun und 12 Genau genommen gilt dies natürlich auch für jedes fremde Leben – auch das der eigenen Kinder. Auch deren Leben können wir nicht erschaffen, sondern nur zeugen oder empfangen. Und darum sind wir eben auch nicht die Schöpfer unserer Kinder, sondern „nur“ ihre Eltern. 13 Der christliche Glaube, 1830/312 § 4.
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Lassen ausschließlich als von Gott verursacht verstünde. Sieht man den Menschen aber als antwortfähiges und zur Verantwortung gerufenes Geschöpf Gottes, dann muss man wohl einräumen, dass es auch in der Beziehung zum Unverfügbaren von Gott verliehene produktive Elemente gibt. Luther hat das – zur Freude von Ludwig Feuerbach – immer wieder zum Ausdruck gebracht durch die berühmte Formel: „Wie du glaubst, so hast du“14 oder sogar durch die kühne These, der Glaube sei ein Schöpfer der Gottheit, wobei er freilich hinzufügt: „nicht in (seiner) Person, sondern in uns“15. Insofern und in dieser Hinsicht gibt es also tatsächlich so etwas wie eine menschliche Einwirkung auf das uns prinzipiell Unverfügbare. Soweit die beiden Differenzierungen. Nun die vorhin zunächst zurückgestellte Frage: Was ist in diesem Sinne unverfügbar? Grundsätzlich gilt: Das Unverfügbare zeigt sich an den Voraussetzungen und an den Grenzen unseres Handelns. Und deshalb haben wir es mit dem Unverfügbaren permanent zu tun: und zwar in Gestalt der natürlichen und der geschichtlichen Rahmenbedingungen unseres Handelns (z. B. Naturgesetze, Herkunft, geschichtlicher Ort), aber auch und vor allem in der Art und Weise, wie die Wirklichkeit sich uns zeigt, wie in uns die lebensbestimmenden Überzeugungen und Gewissheiten (einschließlich der Zweifel und Unsicherheiten) entstehen, nämlich so, dass sie uns zuteil werden16. Oft besteht die Gefahr, dass das Unverfügbare übersehen wird, aber nicht deswegen, weil es so selten in unserem Leben vorkäme, sondern weil es allgegenwrtig ist und uns gerade deswegen erst bewusst gemacht werden muss. Und das ist eine entscheidende Funktion der Religion bzw. der Frage nach Gott. Mit alledem lässt die Frage nach Gott den Horizont erkennen, in dem wir uns immer schon bewegen und orientieren, den wir bei allem Planen und Handeln voraussetzen und notwendigerweise in Anspruch nehmen (müssen), der aber eben deshalb nicht durch unser Planen und Handeln gesetzt oder geschaffen wird. Die äußerste Möglichkeit ist auch hier die Negation, die der Religionskritiker Nietzsche beschreibt als das 14 So z. B. WA 2, 249,7 und 8, 8,18. 15 So WA 40/I,360,5: „Fides est enim creatrix divinitatis, non in persona, sed in nobis“. 16 Das hat E. Herms, dessen Arbeiten ich viele Anregungen auch für diesen Vortrag verdanke, in eindrucksvoller Weise in seiner Predigt über Hebr 11,1 – 12,4 gezeigt, die im Marburger Jahrbuch Theologie VIII/1996, S. 139 – 148 veröffentlicht ist.
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Wegwischen des Horizonts durch die Ermordung Gottes17. Wer sich diese Deutung Nietzsches nicht zu eigen machen kann, wird eher davon sprechen, dass der dem Menschen gegebene und vorgegebene Horizont von ihm ignoriert werde und er statt dessen immer neue Versuche unternehme, sich das Unverfügbare doch verfügbar zu machen.
1.5 Es fehlte möglicherweise ein Adressat für unsere Dankbarkeit und unserer Klage Im Rahmen eines Pastoralkonvents, an dem ich als Referent teilnahm, stellten wir uns die Aufgabe, einmal zu notieren (und dann auch auszusprechen), was uns an Wichtigem verloren ginge, wenn wir unseren Glauben verlören. Ich habe mich auch selbst an dieser Übung beteiligt und dabei – für mich selbst überraschend – festgestellt, dass an erster Stelle zu Stehen kam: „ein Adressat für meine Dankbarkeit“. Als ich diesen Aufsatz ursprünglich verfasst hatte, fehlte dieses Element noch ganz. Nun stand es auf Platz 1. Darin kommt sicher (auch) eine Veränderung im Lebensgefühl zum Ausdruck, die aber wohl nicht rein individuell ist. Vielmehr stelle ich im Gespräch mit vielen Menschen fest, dass sie dem gut zustimmen könnten: Es fehlte auch ihnen ein Adressat für meine Dankbarkeit. Dagegen lässt sich natürlich leicht einwenden: „Schau dich doch nur um und du wirst unter deinen Mitmenschen reichlich Adressaten für deine Dankbarkeit finden, die sich darüber auch sehr freuen würden 17 So in: Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Nr. 125 (1882/87), in: Nietzsche Werke, KGA, Bd.V,2, Berlin/New York 1973 , S. 158 f.: „Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ,Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? … Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? … Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? …‘“.
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und vielleicht schon lange darauf warten, dass das, was sie (dir) an Gutem getan haben, endlich wahrgenommen und auch entsprechend gewürdigt wird.“ Dem stimme ich (natürlich) gerne zu, und wenn es so ist, dass Gott – aus welchen Gründen auch immer – in die Rolle einrückt, in die Menschen gehören, dann wird es problematisch. Recht verstanden kann eigentlich keine solche Konkurrenz zwischen dem Dank an Gott und an Menschen auftreten; denn Gott und Mensch sind in unterschiedlichen Hinsichten Adressaten für unsere Dankbarkeit: Gott für sein schöpferisches, versöhnendes, inspirierendes Wirken, das Lebensraum und Lebenszeit gibt und Menschen zu dem befähigt, was sie einander an Gutem tun. Menschen für ihr Wählen und Handeln, durch das sie sich von Gott in Dienst nehmen lassen und so zu „Händen, Rohren und Mitteln“18 werden, durch die Gott Gutes gibt. Deshalb ist der Dank an Gott wohl stets grundlegender und umfassender, als es der Dank an Menschen sein kann und soll. Ein zweiter, schärferer Einwand lautet: „Dies ist aus der Situation eines gut situierten mitteleuropäischen Hochschullehrers gesprochen (und verständlich), der reichlich Grund zur Dankbarkeit hat, weil es ihm an nichts Lebensnotwendigem fehlt. Aber wie stellt sich das aus der Lebenssituation eines Arbeitslosen, eines erfolglosen Asylbewerbers oder einer alleinerziehenden Mutter in Bangladesch dar? Ob denen auch ein Adressat für ihre Dankbarkeit fehlt? – Dankbarkeit wofür?“ Auf diesen berechtigten Einwand authentisch zu reagieren, fällt mir schwer. Ich tue es zunächst in Form einer Anekdote, die sich auf einer Tagung für Theologiestudierende abgespielt hat. Einer der Teilnehmer sagte: „Ich finde es geradezu gotteslästerlich, dass wir hier auch noch ein Tischgebet vor dem Essen sprechen und Gott für seine Gaben danken, während in der Welt täglich Tausende verhungern“. Darauf sagte ein anderer spontan in breitestem Schwäbisch“ „Ha, do derfsch net uffhere z’bete, do musch uffhere z’esse“. Diese Antwort bringt ziemlich genau auf den Punkt, worum es dabei aus unserer Perspektive geht: um die Frage, wie wir mit dem, was uns zuteil geworden ist, im Blick auf die Notleidenden in unserer Gesellschaft und in unserer Welt (individualethisch und sozialethisch) umgehen. Aber das beantwortet noch nicht die Frage, ob der Arbeitslose, der Asylbewerber, die alleinerziehende Mutter Grund zur Dankbarkeit Gott gegenüber haben. Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich würde mich jedenfalls eher auf die Zunge 18 So Luther im Großen Katechismus in seiner Auslegung des 1. Gebots (BSLK 566,21).
Was würde der Bildung fehlen, wenn in ihr Religion nicht mehr vorkäme?
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beißen, als mir Antworten von der Art zu gestatten, sie seien ja immer noch am Leben und könnten doch dafür dankbar sein, oder irgendetwas werde es auch in ihrem Leben sicher geben, wofür sie dankbar sein könnten (insbesondere wenn sie sich mit anderen verglichen, denen es noch schlechter gehe). Das wären ungeistliche, unchristliche, noch schlimmer: unmenschliche Antworten, die ich für indiskutabel halte. Es bleibt für mich dabei: Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass in solchen Lebenssituationen das Reden von Gott und der Glaube an Gott eine andere (wichtige) Funktion hat: für den Adressaten der Klage und der Anklage zu stehen, die authentischer Ausdruck des Lebensgefühls und Schrei um Hilfe zugleich ist. Mit alledem befinden wir uns dann mitten im Theodizeeproblem,19 für das wir meiner Überzeugung nach keine Antwort haben (können), bei dem aber theologisch (und seelsorglich) alles darauf ankommt, dass „der Horizont offengehalten wird, in dem sich für die Betroffenen selbst eine Antwort oder eine Perspektive der Hoffnung einstellen kann“.20
1.1 – 5 Fazit Es ist die – möglicherweise unersetzliche – Bedeutung von Religion, auf die Dimension der Wirklichkeit hinzuweisen, oder sagen wir es vorsichtiger: nach der Dimension der Wirklichkeit zu fragen, die – als Sinn des Daseins, als das, was uns unbedingt angeht, als ethisches Orientierungszentrum für das rechte Maß des Lebens, als das allgegenwärtig Unverfügbare und als Adressat von Dankbarkeit, Klage und Anklage – den Horizont bildet, in dem wir uns immer schon bewegen, auch wenn uns das nicht bewusst ist und wir ihn als solchen möglicherweise gar nicht wahrnehmen. Aber bedarf es dazu tatsächlich der Frage nach Gott bzw. der Religion? Kann diese Aufgabe nicht auch von anderen Begriffen und Zugangsweisen übernommen und erfüllt werden?
19 Siehe dazu W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York (1995) 20073, S. 439 – 455. 20 A. a. O., S. 455.
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2. Ist die Frage nach Gott bzw. ist die Religion unersetzlich? Es scheint21 sich um eine einzige Frage zu handeln, wenn hier von der „Frage nach Gott“ bzw. von der „Religion“ die Rede ist. Geht man von Luthers bereits22 genanntem Gottesverständnis aus, dann ist das auch richtig, denn dann ist ja alles, woran ein Mensch im religiösen Sinn des Wortes sein Herz hängt, also glaubt, (sein) „Gott“. Aber dieses Gottesverständnis Luthers können wir in der allgemeinen Kommunikation unserer Gesellschaft nicht voraussetzen. Da verstehen die meisten Menschen unter „Gott“ ein jenseitiges, vollkommenes Wesen, das mit personalen Eigenschaften ausgestattet ist und zu dem man als Mensch eine Beziehung aufnehmen kann oder nicht. Im Blick auf ein solches, sog. theistisches Gottesverständnis kann man nun aber gewiss nicht sagen, es sei ein notwendiges Element von Religion. Es gab in der Geschichte und es gibt auch heute viele Menschen, die von sich sagen können, sie seien religiös, aber sie stünden gleichwohl dem Glauben an Gott oder an „einen Gott“ reserviert, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber. Macht man sich bewusst, dass alle unsere Begriffe, Vorstellungen und Bilder, die wir von Gott haben, menschliche Versuche sind, die für uns unfassbare Wirklichkeit Gottes zu umschreiben und zu benennen, dann ist der Schritt nicht groß, auch dort Gemeinsamkeiten und Verständigungsmöglichkeiten zu sehen, an die sich anknüpfen lässt, wo Menschen nicht von „Gott“ sprechen, sondern z. B. vom „Absoluten“, von der „Transzendenz“, von der „Natur“, vom „Leben“, vom „Schicksal“ oder heute oft von der „Kraft des Guten“. D. h. freilich nicht, dass jedes Wort oder Bild (in jeder Zeit) geeignet wäre, um von der Wirklichkeit Gottes zu sprechen23. Dabei könnte es geradezu ein Prüfstein für die Eignung sein, ob auch mit solchen anderen Worten und Bildern das zur Sprache gebracht werden kann, was im ersten Abschnitt als die spezifische Funktion und Bedeutung der Frage nach Gott beschrieben wurde. Wichtig ist aber m. E., dass von denen, die das Wort „Gott“ bewusst verwenden, die Offenheit und Weite und die kommunikative Leis21 Dass dieser Schein trügen könnte, habe ich bereits dort angemerkt (s. o. Anm. 1), wo es um die Verständigung über den Religionsbegriff ging. 22 Siehe oben bei Anm. 6 und Anm. 15. 23 So ist m. E. z. B. das Wort „Vorsehung“ – zumindest in Deutschland seit 1933 – noch für lange Zeit als mçgliche Gottesbezeichnung disqualifiziert.
Ist die Frage nach Gott bzw. ist die Religion unersetzlich?
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tungsfähigkeit des Gottesbegriffs bewusstgemacht und neu zur Geltung gebracht wird. Von seiner langen Geschichte in Religion und Philosophie her eignet dem Reden von Gott eine Bedeutungsvielfalt und ein Verständigungspotential, auf das wir nicht verzichten sollten, sondern das wir für die dringend anstehende çffentliche Kommunikation über die weltanschaulich-religiösen Voraussetzungen und Grundlagen unseres Handelns in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – nicht zuletzt in der Bildung – nutzen könnten. Hierfür scheint mir aber die beiderseitige Öffnung und ein Prozess des Sich-aufeinander-zu-Bewegens erforderlich zu sein, in dem es zu einer Vermittlung zwischen dem Reden von Gott und den anderen religiösen Worten und Bildern für das Göttliche kommt. Man kann sich hierfür durchaus Luthers Grundsatz zu eigen machen: „Rem [also: die Sache] mussen wir behalten, wir redens mit Vocabln, wie wir wöllen“24. Aber was ist die Sache, die es hier zu „halten“ gilt? Diese Sache wird mit dem Begriff des Unverfügbaren m. E. am genauesten beschrieben; denn Religion lässt sich geradezu definieren als „Ausrichtung auf das Unverfügbare“25. Sie unterscheidet sich damit von all dem, was wir als Menschen beherrschen und machen können, was wir methodisch oder technisch bewältigen können oder bewältigt haben und auf das wir in unserem Leben permanent angewiesen sind. Es kann deshalb übrigens nicht darum gehen, das Verfügen (-Wollen) des Menschen generell zu ächten oder verächtlich zu machen, wohl aber seine Grenzen zu erkennen und es vom Religiösen deutlich zu unterscheiden. Gerade damit aber stoßen wir heute nicht auf breite Zustimmung, sondern eher auf Unverständnis und Widerstand. Denn was neuerdings unter der Überschrift „Religion“ angeboten wird, bezieht zu einem Gutteil seine Faszination und Attraktivität gerade aus dem Versprechen, methodisch erlernbar und technisch machbar zu sein – gewissermassen als Trainingsprogramm unter der Überschrift: „Religiös in 30 Tagen“. Aber solche ethischen, esoterischen, psychologischen oder psychosomatischen Lern- und Trainingsprogramme überspielen gerade die grundlegende religiöse Einsicht, dass dem Menschen wirksame Hilfe, die den Charakter von Befreiung, Versöhnung, Orientierung oder Heilung haben kann, zuteil werden muss und nicht von ihm selbst her24 WA 39/2, 305,22 f. Das bezieht sich dort auf „Trinität“ und „Erbsünde“. 25 So im Anklang an Paul Tillichs Definition von „Religion“ als „Richtung auf das Unbedingte“ ders., Religionsphilosophie (1925), in: ders., Mainworks/Hauptwerke Bd.4, Berlin/New York 1987, S.134. Vgl. dazu o. S. 135 f.
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vorgebracht werden kann, weil er dazu schon ein befreiter, versöhnter, erleuchteter oder geheilter Mensch sein müsste. Jedoch: Wie kann er das werden, und was kann Bildung dazu beitragen?
3. Religion als Element der Bildung Eine der Bildungsaufgaben im Blick auf Religion, wie sie in Familien, Kindertagesstätten, Schulen, Medien und Kirchen heute zu bewältigen sind, besteht m. E. darin, Sensibilität zu wecken und zu erhalten für das Unverfügbare, gerade weil unsere für den Aberglauben von der Machbarkeit aller Dinge anfällige Zeit sich besonders schwertut, das auszuhalten und sich dem auszusetzen, was für uns unverfügbar ist und was gleichwohl die Grundlage und den Horizont des Daseins bildet. Diese Aussage erscheint möglicherweise als ein Dilemma oder sogar als ein Widerspruch: Wie kann es eine Bildungsaufgabe, also etwas zweifellos von Menschen zu Leistendes und für sie Verfügbares sein, Sensibilität zu wecken und zu erhalten für das Unverfügbare? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, auch wenn sie auf eine Problemkonstellation verweist, die schon seit Jahrtausenden26 bekannt ist und immer wieder reflektiert wurde. Es würde sich bei dem eben Gesagten tatsächlich um einen Widerspruch handeln, wenn die These hieße: Ziel der Bildungsarbeit in religiöser Hinsicht sei es, Menschen Religion beizubringen oder sie zu religiösen Menschen zu machen. Diese These halte ich jedoch aus mehreren Gründen für falsch, um nicht zu sagen: für unsinnig. Sie ließe sich zwar scheinbar mit den Erziehungszielen in Einklang bringen, wie sie z. B. die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vorgibt: „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung“27, aber schon da ist nur davon die Rede, dass solche Ehr26 Ich denke dabei einerseits an die Platonischen Dialoge über die Möglichkeit von (begrifflicher) Erkenntnis, andererseits an die biblischen Aussagen über das (erleuchtende) Wirken des Heiligen Geistes, schließlich an die reformatorische Verhältnisbestimmung von äußerer und innerer Klarheit, wie sie sich etwa in Luthers „De servo arbitrio“ (WA 18, 609,6 – 14/LDStA 1, 219 – 661) oder als Unterscheidung von äußerem Wort und Heiligem Geist in CA V (BSLK 58,1 – 17, bes. Z. 15 – 17) findet. 27 So in Art. 7 (1) der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28 Juni 1950, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. November 1992, in: Verfassun-
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furcht vor Gott durch die Erziehung geweckt werden solle. Sie ist offenbar als etwas Schlafendes oder latent Vorhandenes schon da. Und man kann doch tatsächlich kaum bestreiten, dass die religiösen Fragen nach Ursprung und Ziel der Welt, nach Tod und Leben, nach Diesseits und Jenseits schon im Kindesalter aufbrechen und zwar aus den Kindern selbst28 D. h. aber, die Quelle, aus der die Frage nach Gott und die anderen religiösen Fragen entspringen, ist im Menschen vorhanden und braucht nicht erst geschaffen oder ihm durch Bildung vermittelt zu werden. Aber wenn diese Quelle nicht gefasst wird, erzeugt sie, wie jede ungefasste Quelle, einen Sumpf 29. Auf die damit angedeutete Aufgabe von Bildungsarbeit will ich gleich zurückkommen. Zuvor aber sei auf den zweiten Grund hingewiesen, warum der religiöse Bildungsauftrag nicht darin bestehen kann, Menschen Religion beizubringen (wie man ihnen z. B. eine Fremdsprache beibringen kann): Mit einer solchen Zielsetzung würden die Erziehenden bzw. Lehrenden hoffnungslos berfordert. Das wäre ja nur möglich, wenn nicht nur die Planung und Initiierung von Bildungsprozessen, sondern auch ihr Gelingen und damit ihr Erfolg in die Verantwortung der Pädagogen fiele. Aber gerade das ist nicht der Fall. Und hier meldet sich mitten in der Bildungsarbeit selbst das religiöse Element der Unverfügbarkeit an. Das kann man als Enttäuschung oder gar als Kränkung, man kann es aber auch als große Entlastung erleben, weil damit auch die Bildungsaufgabe und ihre Erfüllung selbst ihr menschliches und dem Menschen bekömmliches Maß30 erhält. Sogar wenn es möglich wäre, Menschen psychologisch, pädagogisch, medikamentös oder genetisch so zu konditionieren, dass sie so etwas wie religiöse Verhaltensweisen zeigen, wäre dies doch aus sachlichen, d. h. im Wesen des Menschen und im Wesen der Religion liegenden Gründen strikt abzulehnen. Religion ist mit Indoktrination oder gen der deutschen Bundesländer, München 19955, S. 470). Ähnliche, fast gleichlautende Bestimmungen finden sich in den Verfassungen der Bundesländer Baden-Württemberg (a. a. O., S. 100 [Art. 12]), Bayern (a. a. O., S. 156 [Art. 131]) und Rheinland-Pfalz (a. a. O., S. 510 [Art. 33]). 28 Erich Kästner, der m. E. wirklich etwas vom Kindsein verstanden hat, weil er es selbst intensiv erlitten hat, soll dies einmal so formuliert haben: „Dass Kinder erwachsen werden, merkt man daran, dass sie anfangen, Fragen zu stellen, die man beantworten kann“. 29 Diesen Gedanken habe ich aus der kleinen aber gehaltvollen Glaubenslehre von R. Schäfer übernommen (Der Evangelische Glaube, Tübingen 1973, S. 1). 30 Siehe oben Abschn. 1.3.
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Zwang unvereinbar. Positiv formuliert: Religion kann nur in einer Atmosphäre der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und Freiheit gedeihen. Welchen Sinn und welche Aufgabe hat dann aber die Bildung im Bereich der Religion? Was heißt es also, dass Religion nicht nur der Horizont, sondern auch ein Element der Bildung sei? Ich knüpfe nun wieder an das Bild von der Quelle an, die gefasst werden muss, damit sie nicht zum Sumpf verkommt. Meine diesbezüglichen Überlegungen fasse ich abschließend in drei Thesen zusammen:
3.1 Religion ist als Element der Bildung notwendig, damit Menschen in religiöser Hinsicht sprachfähig werden Bei Schleiermacher kann man lernen, dass religiöse Bildung Sprachbildung 31 ist. Es wäre freilich ein Missverständnis Schleiermachers und eine sachliche Engführung, wenn bei „Sprache“ nur an die Sprache der Worte und nicht auch an die Sprache der Bilder, Töne, Gesten und Gebärden gedacht würde. Sprachbildung in diesem umfassenden Sinn dient als solche der religiçsen Kommunikation wie der davon zu unterscheidenden – sei es privaten, sei es öffentlichen – Kommunikation ber Religion. Erst durch (eine) Sprache kann das religiöse Gefühl und Empfinden zum Ausdruck kommen, mit anderen ausgetauscht und gedanklich geklärt werden. Es stellt einen häufig beklagten Mangel unseres Bildungssystems dar, dass die schulische wie die kirchliche religiöse Bildung vieler Menschen kurz nach der Pubertät endet, genauer gesagt: abbricht, und dass deswegen ihr Sprachvermögen in religiösen Dingen nicht oder nur ansatzweise erwachsen werden und mitreifen kann32. 31 Vgl. Die christliche Sitte, hg. v. L. Jonas, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke I, Bd. 12, Berlin 1884, S. 400, wo Schleiermacher konstatiert, dass die Kirche „selbst die populäre Form der Sprache nicht der Familie allein überlässt, sondern auch dafür einen vom Hauswesen unabhängigen gemeinschaftlichen Unterricht anordnet und denselben nur denen anvertraut, die sich ihr dazu als besonders bewährt empfohlen haben, d. h. als solche, die auch in der Sprache so durchgebildet sind, daß sie als tüchtige Organe zur Bildung der reinen christlichen Sprache dienen können“. Den Hinweis auf diesen wichtigen Gedanken Schleiermachers und die Formulierung der These: „Religiöse Bildung ist Sprachbildung“ verdanke ich meinem ehemaligen Assistenten, Dr. J. Dittmer, Darmstadt. 32 Vgl. zu dieser Problematik den wichtigen analytischen und konstruktiven Beitrag von K. E. Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im
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Dieser Mangel wirkt sich sowohl im Blick auf die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zur çffentlichen Kommunikation über Religion aus, als auch in einer zumindest stark eingeschränkten Befähigung zur religiösen Erziehung im familiren Bereich. Hier zeigt sich, dass die törichte – oder jedenfalls überwiegend törichte – Formel: „Religion ist Privatsache“ sich selbst insofern langfristig ad absurdum führt, als sie mit der Bestreitung der öffentlichen Relevanz von Religion dieser genau die Bildungsvoraussetzungen, und d. h. auch: die Kommunikationsbedingungen entzieht, die für ihr Wirksamwerden und ihre Entfaltung im privaten Bereich unerlässlich sind und deshalb dort benötigt werden33. Wir stehen heute vor dem Dilemma, dass wir die Befähigung zur dringend notwendigen34 öffentlichen Kommunikation über Religion von einem Bildungssystem erwarten und erhoffen müssen, das seinerseits im Zeichen der Privatisierung und Marginalisierung von Religion „gebildet“ richtiger: „verbildet“ worden ist. In dieser Situation darf und muss von den Kirchen und ihren Bildungseinrichtungen ein deutlicher, die allgemeine Kommunikation anregender und eröffnender Beitrag erwartet werden. Ob ein solcher Beitrag freilich, wenn er kommt, aufgenommen werden wird, bleibt erst noch abzuwarten.
Lebenslauf, München 1987. Nipkow bezieht sich auf Kindheit, Jugend- und Erwachsenenalter, greift also über die Thematik dieses Aufsatzes erheblich hinaus. Zur Thematik dieses Aufsatzes insgesamt vgl. das grundlegende Werk von Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh (1990) 19922. 33 Siehe dazu in diesem Band oben S. 99 – 101. 34 Diese Notwendigkeit ergibt sich, wie bereits oben angedeutet, aus der Tatsache, dass alles individuelle wie gesellschaftliche Handeln (in Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Publizistik etc.) von weltanschaulich-religiösen Voraussetzungen abhängt, die dadurch, daß sie nicht bewusst gemacht, offengelegt und zum Gegenstand der Kommunikation gemacht werden, zwar nicht verschwinden, wohl aber den bei Anm. 29 genannten „Sumpf“ erzeugen (können). Darauf beharrlich und mit dem ihm zu Gebote stehenden Nachdruck hingewiesen zu haben und immer wieder hinzuweisen, ist eines der großen Verdienste von E. Herms. (Vgl. dazu insbesondere seine Aufsatzbände: Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991, Kirche für die Welt, Tübingen 1995 und Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen 2007).
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3.2 Religion ist als Element der Bildung notwendig, damit Menschen in religiöser Hinsicht urteils- und kritikfähig werden Nicht alles, was an Gefühlen und Empfindungen in einem Menschen aufsteigt, und nicht alles, was in religiöser Hinsicht in unserer Gesellschaft angeboten wird, dient der Orientierung und Reifung des Menschen. Und das gilt nicht nur für außerchristliche Elemente, sondern auch für solche, die im christlichen Traditionszusammenhang stehen. Deswegen ist es erforderlich, das zu prüfen, was mit dem Anspruch von Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit begegnet, um den Glauben vom Aberglauben, die Wahrheit vom Irrtum und von der Täuschung zu unterscheiden. Diese Einübung der Urteils- und Kritikfähigkeit in Fragen der Religion ist ihrerseits eine Konsequenz aus der Einsicht, dass Religion nur in einer Atmosphäre der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und der Freiheit, also auch der Freiheit des Denkens und Prüfens gedeihen kann. Gegenüber dem verbreiteten Missverständnis, Glaube sei eine blinde Übernahme von Lehrmeinungen oder gar eine Zustimmung zu kirchlichen Lehrsätzen gegen die eigene Überzeugung, muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Glaube – jedenfalls im christlichen Sinn des Wortes – ein lebensbestimmendes Vertrauen ist, das die vernünftige Reflexion und kritische Prüfung der Vertrauenswürdigkeit des Geglaubten nicht ausschließt, sondern im Gegenteil sogar voraussetzt35. Deswegen hat der Glaube auch keinen Grund, die öffentliche kritische Kommunikation zu scheuen, sondern er kann sie sogar bewusst suchen – nicht nur im Sinne der öffentlichen Bezeugung, sondern auch im Sinne der kritischen (Selbst-) Prüfung und Bewährung.36
35 Der klassische biblische Beleg hierfür ist die paulinische Aufforderung: „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21). Vgl. auch Röm 12,2 und Phil 1,10. Die Zusammengehörigkeit von Glauben und Vernunft versucht W. Huber in seinem Buch: Der christliche Glaube. Eine evangelische Orientierung (Gütersloh 2008) von seiner Position aus zu zeigen. 36 Diese These berührt sich mit der inzwischen populär gewordenen Parole, Religionsunterricht (auch an den öffentlichen Schulen) sei notwendig, damit die Schülerinnen und Schüler nicht am Ende alles glauben.
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3.3 Religion kommt als Element der Bildung nur dann zur Geltung, wenn in ihr neben und mit dem Reden über Religion auch das religiöse Reden selbst Raum hat Religiöse Bildung berührt sich mit religionskundlicher Bildung im Sinne einer möglichst neutralen Information über Religion und Religionen, aber religiöse Bildung ist mit solcher religionskundlichen Bildung nicht identisch und geht keinesfalls in ihr auf. Das ergibt sich schon aus dem, was über die gefühlsmäßige Verwurzelung und die je individuelle Prägung von Religion gesagt wurde. Es ergibt sich aber auch aus allgemeinen pädagogischen Überlegungen. Würde man die religiöse Bildung auf Religionskunde beschränken, so wäre das so, als würde man den Englischunterricht auf die Beschäftigung mit der Grammatik und den Musikunterricht auf die Behandlung von Musiktheorie reduzieren, auf keinen Fall aber im Unterricht selbst englisch sprechen oder Musik hören geschweige denn selbst singen und musizieren. Dass es zwischen diesen Fächern und dem Religionsunterricht nach allgemeiner Überzeugung einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gibt, nämlich die angeblich unaufgebbare Privatheit des Religiösen, ist mir wohl bewusst. Aber genau das stelle ich dann in Frage, wenn damit etwas anderes gemeint ist als das Recht jedes Menschen, seine religiösen Überzeugungen ganz für sich zu behalten und sein religiöses Verhalten (im Rahmen der für alle geltenden Gesetze) frei zu wählen. Dieses Grundrecht der negativen und positiven Religionsfreiheit ist wie ein Heiligtum zu hüten und zu achten. Aber daraus folgt keineswegs, dass die religiöse Sprache selbst nicht Bestandteil öffentlich verantworteter Bildungsprozesse sein dürfte. Wohl aber ist streng darauf zu achten, dass niemand gençtigt wird, eine religiösen Sprache oder religiöse Zeichen zu gebrauchen, die er sich nicht aus Überzeugung zu eigen machen kann. Zu akzeptieren ist ferner der Hinweis, dass die Funktion des schulischen Religionsunterrichts heute vor allem darin bestehe, „religiösen Schutt“, d. h. Verstehenshindernisse, die einem Zugang zur Religion im Weg stehen, beiseite zu räumen, bevor es in ihm selbst – behutsam – um religiöse Kommunikation gehen könne. Aber gerade diese Aufräumungsarbeiten geschehen doch im Interesse der Freilegung eines solchen Zugangs, sind also selbst so etwas wie eine religiçse (und nicht nur religionskundliche!) Propädeutik.
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Rudolf Bultmann37 hat mit seinem Aufsatz über den Sinn des Redens von Gott der Theologie eingeschärft, dass man von Gott nur sinnvoll reden könne, wenn und indem man vom Menschen, genauer: von sich selbst redet, weil die Wirklichkeit Gottes mit Sicherheit verfehlt werde, wenn die Redenden versuchen, abstrakt ber Gott zu reden, statt aus persönlicher Betroffenheit von Gott zu reden. Wenn die Argumentation Bultmanns stimmig ist, dann zeigt das nicht nur das prinzipielle Defizit jedes bloß „distanziert-informierenden“ Religionsunterrichts, sondern dann gilt auch, dass man, um vom Menschen zu reden und ihn zu verstehen, offenbar auch – sei es mit diesem Wort oder mit einem anderen – von Gott reden muss, oder sagen wir’s bescheidener: dass etwas Wesentliches am Menschen noch nicht in den Blick gekommen oder diesem Blick wieder entschwunden ist, wenn die Frage nach Gott nicht (mehr) vorkommt. Und nicht zuletzt deshalb ist Religion ein notwendiges Element der Bildung.
37 Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 19645, S. 26 ff.
Spurensuche. Theologie nach 1945 im Ringen mit der Verborgenheit Gottes Der Titel dieses Beitrags ist eine These, die vielleicht nicht sofort auf allgemeine Zustimmung stoßen wird, die ich aber in diesem Text entfalten und damit begründen möchte. Die These lautet – etwas ausführlicher formuliert – folgendermaßen: Wenn es so etwas wie ein gemeinsames Merkmal oder ein verbindendes Element zwischen den verschiedenen Theologien seit 1945 und in diesem Sinne nach 1945 gibt, dann ist es die „Spurensuche“ nach Gott, die sich darstellt als ein „Ringen mit der Verborgenheit Gottes“. Ich werde mich aus Zeitbzw. Raumgründen überwiegend auf die deutschsprachige evangelische Theologie beschränken, bin aber der Auffassung, dass diese These auch über Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg eine gewisse Gültigkeit hat oder jedenfalls heuristischen Wert besitzt. Sollte diese These zutreffen, dann hieße das für mich zugleich: Die Theologie seit 1945 war im besten Sinn des Wortes zeitgemß; denn sie hat mit ihrer Spurensuche nach Gott und im Ringen mit der Verborgenheit Gottes den Aspekt der Gottesfrage, oder allgemeiner gesagt: der religiösen Frage aufgenommen, der in unserer Zeit die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen vor allem bewegt, wenn sie versuchen über „die Sache mit Gott“, wie es Heinz Zahrnt genannt hat,1 Klarheit zu gewinnen. Es ist freilich eine andere Frage, ob es der Theologie, insbesondere der deutschsprachigen Universitätstheologie gelungen ist, den Menschen unserer Zeit diese Gemeinsamkeit des Ringens, Suchens und Fragens bewusst zu machen und zu vermitteln. Sollte diese Vermittlung nicht gelungen sein, so könnte dies allerdings insofern nicht nur einen methodischen, sondern auch einen sachlichen Grund haben, als gelegentlich erst im Rückblick etwas deutlich und beschreibbar wird, was im geschichtlichen Prozess zwar gelebt, aber
1
H. Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München (1966) 19902.
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mangels Abstand noch nicht erkannt werden kann.2 Und darum mag der Rückblick vom Beginn des 21. Jahrhunderts aus vielleicht mehr erkennen und formulieren lassen, als auf der Wegstrecke wahrgenommen werden konnte. Dabei muss ich sofort einräumen, dass die These von der Theologie als Spurensuche im Ringen mit der Verborgenheit Gottes an kaum einer Stelle so schwer zu begründen ist wie am Anfang dieser Epoche, also unmittelbar nach 1945. Das ist merkwürdig und überraschend; denn man sollte eigentlich vermuten, dass nach den Schrecken des Krieges und seinen Folgen, nach den Verbrechen des Holocaust und nach dem Bewusstwerden eigener Mitschuld und Mitverantwortung sich kaum eine Frage so bedrängend gestellt hätte, wie die Frage: Wie konnte das geschehen? Wie konnte Gott das zulassen? Wo war Gott in alledem? Solche Fragen wurden damals durchaus gestellt, und viele werden die Worte noch im Gedächtnis haben und schnell wiedererkennen: „Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott?… Warst du in Stalingrad lieb, lieber Gott, warst du da lieb, wie? Ja? Wann warst du denn eigentlich lieb, Gott, wann? Wann hast du dich jemals um uns gekümmert, Gott?… Wir haben dich gerufen, Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott?… Wo bist du?… Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht!!… Gibt denn keiner, keiner Antwort???“3. Das waren die bekannten Sätze aus „Draußen vor der Tür“, die der an Leib und Seele todkrank aus dem Krieg heimgekehrte 25jährige Wolfgang Borchert im Spätherbst 1946 schrieb und die in den folgenden Jahren auf fast allen deutschen Bühnen zu hören waren und dem Lebensgefühl vieler Menschen Ausdruck gaben – vielleicht auch deshalb, weil sie es erlaubten, sich in der Rolle des unglücklichen Opfers zu erleben und (noch) nicht das Unrecht anschauen zu müssen, das anderen von uns Deutschen angetan worden war. In der Theologie nach 1945 finden sich solche Töne der Klage und Verzweiflung und des Schreiens nach dem verborgenen Gott ausge2 3
Gemäß der klugen Einsicht Kierkegaards, dass das Leben nur nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden werden kann (S. Kierkegaard, Die Tagebücher, 1. Bd. Düsseldorf, 1962, S. 318 [IV A 164]). W. Borchert, Draußen vor der Tür, in: Das Gesamtwerk, Hamburg 1959, S. 148 f. und 165 – als einer der profiliertesten (und persönlich betroffensten) Repräsentanten der sog. Trümmerliteratur.
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sprochen selten. Eine der wenigen Ausnahmen, die ich kenne, ist die Flugschrift des Heidelberger Neutestamentlers Günther Bornkamm aus demselben Jahr 1946, in der er die ergreifende „Rede des toten Christus, vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, die Jean Paul 17964 verfasst hatte, erneut veröffentlichte und mit einem Nachwort versah5. In Jean Pauls Albtraum verkündigt der tote Christus die Botschaft des Atheismus als eine Schreckensnachricht: „Es ist kein Gott“! Und der tote Christus malt zugleich aus, was das für das Dasein des Menschen bedeutet: das Grauen der Sinnlosigkeit und der unendlichen Einsamkeit: „Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir. … Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgeengel sein?…“.6 Zugleich wird aber bei Jean Paul die rettende Kehrseite gezeigt: Der Träumende, der die Schrecken einer Welt ohne Gott durchlitten hat, erwacht und kann nun von sich sagen: „Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte.“7 In seinem Nachwort begründet Bornkamm, warum er am Ende des Zweiten Weltkriegs den Menschen diesen Text nahebringen möchte. Er schreibt: „Ungezählte Menschen unserer Tage sind heute in eben der Lage, die Jean Paul in seiner Dichtung als bedrohliche Möglichkeit über seinem Leben heraufziehen sieht. Ihr Herz ist ‘so unglücklich und ausgestorben, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstört’ sind. Wir alle kennen heute dieses ‘Aussterben’ des Herzens, das unter der erdrückenden Last und Fülle des Erlebten schier nichts mehr erlebt, so arm geworden, dass es nicht einmal mehr trauern kann…“.8 Bornkamm teilt aber nicht die Zuversicht Jean Pauls, dass der Atheismus schon durch die „Erfahrung seiner eigenen Unerträglichkeit“9 überwunden werden könne. Nein: Die Schreckensbotschaft des toten Christus kann seiner Überzeugung zufolge nur durch das Wort des lebendigen Christus außer Kraft gesetzt werden: „Der Glaube hat 4 5 6 7 8 9
J. Paul, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs, in: ders. Werke Bd. II, München 1959, S. 266 – 271. G. Bornkamm, Anhang, in: Studien zu Antike und Urchristentum, Bd. II, München 1963, S. 245 – 252. A. a. O., S. S. 248. A. a. O., S. 249. A. a. O., S. 250. Ebd.
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für sie [sc. die Wirklichkeit Gottes] keine andere Bürgschaft als den, der die Liebe des Vaters selbst ist und über Lebendigen und Toten das Licht der Hoffnung entfacht, Jesus Christus10 Mit diesem Satz nimmt Bornkamm der Sache nach die Antwort auf, die die Barmer Bekenntnissynode im Jahre 1934 gegeben hatte und mit der sie im damaligen Kampf gegen die deutsch-christliche Bewegung (und damit indirekt mit dem Nationalsozialismus) ihre Antwort auf die Frage nach der Spur des verborgenen Gottes in der Welt gegeben hatte. Und diese Antwort lautete: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“11. Im Rückblick auf die zwölf Jahre von 1933 – 45 und vor allem im Blick auf den katastrophalen Ausgang dieses Abschnittes deutscher Geschichte erwies sich nun offenkundig, dass diejenigen das gute Teil erwählt hatten, die sich damals von der deutsch-christlichen Deutung der nationalsozialistischen Machtergreifung und der nationalen Bewegung als einer (normgebenden) Gottesoffenbarung nicht hatten anstecken und mitreißen lassen. Zwar sahen sich auch und gerade die Repräsentanten der Bekennenden Kirche nach 1945 veranlasst, zu dem Schuldbekenntnis, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt“ zu haben12, aber dass die ausschließliche Orientierung an Jesus Christus als dem Wort Gottes sich gerade in der Situation nach 1933 bewährt hatte, daran konnte kein Zweifel sein. Die von Karl Barth geprägte christozentrische Theologie des Wortes Gottes ging gestärkt, fast möchte man sagen: siegreich aus dem Kirchenkampf und aus dem Desaster des Nationalsozialismus hervor und machte in den Jahren des Wiederaufbaus der Theologischen Fakultäten ihren Anspruch und Einfluss erfolgreich geltend.13 Mit alledem kam es dazu, dass die Frage, wer Recht behalten hatte und wer durch die geschichtlichen Ereignisse widerlegt worden war, die theologische Situation und Diskussion nach 1945 weit mehr beschäftigte und bestimmte als die Borchert-Frage: „Wo bist du, Gott?“ Die Theologie – jedenfalls die in der Bekennenden Kirche versammelte 10 Ebd. 11 Art. I der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Siehe im Anhang des EG. 12 So in der Stuttgarter Erklärung vom 19. Oktober 1945, in: Kundgebungen. Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945 – 1959, Hg. F. Merzyn, Hannover 1993, S. 14. 13 Insbesondere in der Person von Ernst Wolf.
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Theologie – schien die Antwort darauf ja längst gefunden zu haben: Gott ist in Jesus Christus zu finden – nirgends sonst! Welche Folgerungen aus dieser Erkenntnis nun in kirchenpolitischer, theologiepolitischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht zu ziehen seien, das waren die Fragen, von denen die theologische Diskussion nach 1945 (etwa unter dem Stichwort: „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ oder „Königsherrschaft Jesu Christi contra Zwei-Reiche-Lehre“14 vor allem bestimmt wurde. Und doch gab es da noch eine ganz andere Fragestellung, die ebenfalls aus den Reihen der Bekennenden Kirche kam und die bald eine ungeheure Dynamik und Sprengkraft entwickeln sollte. Sie ergab sich auch aus dem ersten Artikel der Barmer Theologischen Erklärung15, und zwar aus dem Hinweis, dass nicht Jesus Christus an sich das eine Wort Gottes ist, sondern „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird“. Er ist das Wort Gottes, das nur dadurch für uns hörbar ist, dass es durch Menschen bezeugt wurde und wird, durch Menschen, die in ihrer Zeit und unter ihren weltanschaulichen Bedingungen leben, die auch als Verfasser biblischer Schriften nicht aufhören, am jeweiligen Weltbild zu partizipieren, in ihm zu denken und in ihm die Botschaft von Jesus Christus darzustellen. Diese allgemeinen und in ihrer Allgemeinheit kaum bestrittenen Aussagen wurden nun von Rudolf Bultmann konkretisiert und zugespitzt in dem Satz: „Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches“16. So hatte Bultmann es bereits 1941 gesagt, ohne dass das damals von vielen beachtet oder beanstandet worden wäre. „Neues Testament und Mythologie“ hieß der Vortrag, den Bultmann erstmals am 21. April 1941 auf einer Tagung der Gesellschaft für evangelische Theologie in Frankfurt am Main gehalten hatte. Und darin vertrat er die These, das mythische Weltbild des Neuen Testaments sei mit der antiken Welt hinfällig geworden und mit ihm die Vorstellung von einem Eingreifen Gottes in die Kausalzusammenhänge dieser Welt. Und es sei weder möglich noch sinnvoll, dieses vergangene 14 Vgl. dazu K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (ThSt 20) Zollikon-Zürich 1946; Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Hg. H.-H. Schrey, Darmstadt 1969 sowie H.-W. Schütte, ZweiReiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, in: Handbuch der christlichen Ethik Bd. 1, Freiburg u. a. 1978, S. 339 – 353. Vgl. in diesem Band S. 257 – 285. 15 Siehe oben bei Anm. 11. 16 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), Hg. E. Jüngel München 1985, S. 12.
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Weltbild zu erneuern. Deswegen seien viele Aussagen und Vorstellungen des Neuen Testaments unwiderruflich „erledigt“17. Freilich, nicht in dieser Negation bestand das Ziel und die Absicht von Bultmanns Programm, obwohl der irreführende, aber sich immer mehr durchsetzende Ausdruck „Entmythologisierung des Neuen Testaments“ genau dies suggerieren konnte, sondern sein Hauptziel war es, hinzuführen zu jener rettenden und befreienden Botschaft, zu dem Kerygma von Jesus Christus, das im neutestamentlichen Mythos enthalten ist und das erst zur Sprache kommt, wenn der Mythos auf das in ihm enthaltene Verständnis des Menschseins hin, also existential interpretiert wird. Wer dieser Botschaft begegnet, wird mit der schmerzlichen, aber heilsamen Zumutung konfrontiert, über sein Dasein nicht selbst verfügen zu können, sondern nur aus dem leben zu können, was ihm – unverfügbar – je neu zuteil wird. Das ist das Ärgernis der christlichen Botschaft, das Bultmann sich und seinen Zeitgenossen vor Augen rücken will, um ihnen dabei zugleich die falschen Anstöße zeitbedingter biblischer Aussagen und Denkformen – etwa in Gestalt biblischer Wunderberichte oder bestimmter Deutungen der Heilsgeschichte – aus dem Weg zu räumen. Und diese Leistung, oder vorsichtiger gesagt: diese Absicht Bultmanns kann man kaum hoch genug veranschlagen, zumal sich damit eine zweite, bei Barth notorisch gering geachtete Erkenntnis verbindet: die Erkenntnis, dass wir auch zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes keinen Zugang gewinnen abseits von den menschlichen Bildern, Worten und Überlieferungen, durch die er bezeugt wird, sondern nur vermittelt durch sie. Die Verborgenheit Gottes ist nicht nur als geschichtliche (etwa unter dem Elend des Kreuzes), sondern in ihrer Geschichtlichkeit dann noch einmal als „hermeneutische Verborgenheit“ zu denken (also vermittelt durch das Wort vom Kreuz). Die Spuren Gottes müssen ihrerseits als solche entdeckt, erkannt, gelesen und bezeugt werden. Diesen wichtigen Gedanken Bultmanns haben dann je auf ihre Weise Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel aufgenommen (letzterer in enger Verbindung mit dem christozentrisch-biblischen Ansatz Barths). Und sie haben dadurch dem Moment des Wortes oder der Sprache noch größere theologische Aufmerksamkeit gewidmet, als dies bei Bultmann schon der Fall war. Zugleich erfolgte damit bei ihnen eine theologische Öffnung hin zum Menschenbild, zur Verfassung des Menschen (ähnlich übrigens gleichzeitig bei Karl Rahner), eine Öff17 A. a. O., S. 15 f.
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nung zur Bedeutung der Sprache für das Menschsein, mit der zugleich an zentrale reformatorische Einsichten angeknüpft wird, insbesondere an die Einsicht, dass der Mensch entscheidend durch das ihm begegnende, zugesprochene Wort (des Gesetzes und/oder des Evangeliums; der Forderung und/oder des Zuspruchs) sowie durch den dadurch geweckten Glauben konstituiert wird. D. h.: Was und wer der Mensch ist, entscheidet sich letztlich nicht an dem, was an ihm als Eigenschaften und Fähigkeiten abzulesen ist oder was er als Qualität und Leistung vorzuweisen hat, sondern an den Beziehungen, die ihm zuteil werden, aus denen und in denen er existiert. Das sind Einsichten, die geeignet sind, unsere an Substanzen und Aktivitten orientierten Denkgewohnheiten tiefgreifend zu erschüttern und in Frage zu stellen. Ich lasse diesen außerordentlich wichtigen Strang der theologischen Entwicklung jetzt liegen, um ihn gegen Ende dieses Beitrags noch einmal aufzunehmen. Im Übergang von den 50er zu den 60er Jahren, als die heftigen Auseinandersetzungen um Bultmann innerhalb der Theologie (freilich noch längst nicht innerhalb der Kirche) allmählich nachließen, weil Bultmanns Theologie sich weitgehend durchgesetzt hatte, tauchen nun aber zwei neue theologische Richtungen auf, die zwar durch ein gemeinsames Stichwort miteinander verbunden sind, nämlich durch den Begriff „Zukunft“, aber sich in ihrer Ausprägung (bis heute) erheblich voneinander unterscheiden. Ich meine einerseits die universalgeschichtliche Konzeption Wolfhart Pannenbergs und seiner Freunde, andererseits Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung, die von ihm alsbald als die politische Theologie ausgearbeitet wurde, die in ihr von Anfang an impliziert und intendiert war. Pannenbergs Konzeption ist ausgespannt zwischen der Überlieferungsgeschichte des Alten Testaments und der jüdisch-christlichen Zukunftshoffnung auf die allgemeine Totenauferstehung. Zusammengehalten wird sie anfangs durch das sog. apokalyptische Weltbild, später durch eine Kohärenztheorie der Wahrheit, die beide ihren vornehmsten Ahnherrn und Zeugen in der Philosophie Hegels haben. Der Grundgedanke von Pannenbergs Konzept ist erstaunlich einfach. Er besagt, dass Gott sich in der Geschichte fortschreitend offenbare (und zwar nicht [primär] in Worten, sondern [primär] in geschichtlichen Taten), und dass deshalb die endgültige Selbstoffenbarung Gottes erst am Ende der Geschichte stattfinde: und zwar eben in der allgemeinen Auferstehung der Toten. Der christliche Glaube hat diese Gewissheit, weil sich in der Auferstehung Jesu von den Toten (die Pannenberg als eine geschicht-
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liche Tatsache versteht) dieses Ende bereits vorweg ereignet hat. Die Auferstehung Jesu ist bei ihm also die zentrale und richtungweisende Spur des noch verborgenen Gottes in der Weltgeschichte. Letzteres kann auch Moltmann so sagen, aber bei ihm ist das Richtungweisende viel weniger auf das Wahrnehmen, Deuten und Erkennen bezogen, als vielmehr auf die Aktivitt der Christen und der christlichen Kirche. Gottes Kommen (aus der Zukunft) soll uns zum Aufbruch in die Zukunft motivieren. „Ihr müsset ihm entgegengehn“, so könnte man mit Philipp Nicolai sagen oder singen18, und erst in diesem Entgegengehen werden wir Spuren des kommenden Gottes entdecken – oder sind es sogar wir, die diese Spuren erst legen oder darstellen? Jedenfalls spielt das appellative Moment bezogen auf das politische Engagement in dieser Theologie nun (ähnlich bei dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz) eine viel größere Rolle als in allen bisher besprochenen Theologien. Überboten wird dies dann nur noch von der sog. Gott-ist-tot-Theologie, von der gleich noch die Rede sein muss und die ebenfalls in den 60er Jahren von Nordamerika aus einen gewissen Einfluss in der deutschsprachigen Theologie gewann. Aber zuvor hatte die nordamerikanische Theologie bereits in der Gestalt von Paul Tillich äußerst erfolgreich auf die deutschsprachige theologische Szene eingewirkt und in relativ kurzer Zeit die bis dahin dominierenden Theologien Barths und Bultmanns aus ihrer Spitzenstellung verdrängt – oder sich doch zumindest neben ihnen platziert. Dass es sich bei Tillich, der ja erst 1933 in die USA emigriert war, gewissermaßen um einen theologischen Rckimport handelte, ändert nichts daran, dass die Konzeption seiner Systematischen Theologie entscheidend durch die Begegnung mit der sog. Neuen Welt mitgeprägt war. Insbesondere der unbefangene Gebrauch des Religionsbegriffs auch in Anwendung auf das Christentum, sodann das Ernstnehmen der zeitgeschichtlichen Situation als ein Pol des theologischen Denkens und Argumentierens sowie schließlich (vor allem) der intensive wechselseitige Austausch mit Philosophie und Religionswissenschaft – das alles waren und sind Elemente, die in den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1951 und 1966, in denen Tillichs Systematische Theologie (zunächst englisch dann deutsch) erschien, so in Deutschland kaum möglich gewesen wären. Und eben diese Elemente verliehen Tillichs Theologie eine Weite und Offenheit, an die ich mich aus meinem ersten Tillich18 EG 147,1 (Philipp Nicolai).
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Seminar bei Wilfried Joest (vermutlich 1963) noch heute wie an die wohltuende Öffnung eines großen Fensters in einem stickigen Raum erinnere. Nicht einmal den Offenbarungsbegriff reserviert Tillich ausschließlich für das Christentum, und er hat darum keine Schwierigkeiten, auch im Blick auf andere Religionen mit der Anerkennung von Spuren Gottes zu rechnen. Aber trotzdem hält er mit gutem Grund daran fest, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus der Sicht des christlichen Glaubens als „letztgltig“ und „normgebend“ 19 zu bezeichnen ist. Es war jedoch vor allem Tillichs (gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit simplifizierte) Korrelationsmethode, die ihm eine breite Rezeption nicht nur in der Systematischen Theologie, sondern z. B. auch in der Praktischen Theologie und vor allem in der kirchlichen Praxis sicherte. Mit dieser Methode zog die Welt (unter den Begriffen: „Vernunft“, „Sein“, „Existenz“, „Leben“ und „Geschichte“) wieder als eine konstitutive, also als eine unverzichtbare Größe in die theologische Arbeit ein: nicht als die Instanz, die die Antworten auf die Lebensfragen, z. B. auf die Frage nach Gott zu geben hat, wohl aber als die Instanz, die für die relevanten Fragen zuständig ist, und das ist nicht wenig. Dabei muss oder sollte man Tillich nicht in dem engen Sinne interpretieren, als seien in der Theologie (oder kirchlichen Verkündigung) nur solche Aussagen zulässig, die sich als Antworten auf Fragen ausweisen ließen, die in der jeweiligen Zeitsituation tatsächlich und explizit gestellt werden. Aber auch wenn man all die Fragen hinzunimmt, die unausdrücklich, also implizit vorhanden sind und erst noch artikuliert und bewusst gemacht werden müssen, gewinnt die Situationsanalyse damit für die Theologie eine beachtliche Rolle, zumal dann, wenn man Tillichs Aufgabenteilung mit übernimmt, die besagt, dass die Analyse der situativen Fragen eine philosophische Aufgabe ist, selbst wenn sie (in Personalunion) von einem Theologen mit wahrgenommen wird. Als noch größer erweist sich die Bedeutung der Situation, wenn man sich ansieht, in wie starkem Maße in Tillichs eigener Systematischer Theologie die Antworten der christlichen Botschaft faktisch durch die Fragen präformiert sind. Ist damit schließlich doch passiert, was Karl Barth als die große Gefahr von Tillichs Programm einer apologetischen Theologie oder schon 1934 von Emil Brunners Ansatz einer eristischen Theologie befürchtet
19 P. Tillich, Systematische Theologie Bd. I, Berlin/New York 19878 S. 159.
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hatte,20 dass nämlich die argumentative Auseinandersetzung mit Anfragen und Angriffen, die von außerhalb des Glaubens erfolgen, de facto immer auf einem Boden außerhalb des Glaubens stattfindet, also ihr Fundament schon verlassen und verraten hat? Aber wie anders soll denn der Aufweis von Spuren Gottes in der Welt und wie anders soll die Hinführung zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes erfolgen, wenn der Weg „hinaus aus dem Lager“ (Hebr 13,13) zu den von der „Herde“ Getrennten (Lk 15,4 – 7) nicht gewagt wird? Auf der methodischen Basis Tillichs haben sich in der Folgezeit eine ganze Reihe von Theologien entwickelt, die jeweils ausgehend von spezifischen Situationserfahrungen neue Zugänge zur christlichen Botschaft gesucht und erschlossen haben: z. B. als Theologie der Revolution oder als Befreiungstheologie, die ausgehen von den Erfahrungen der ökonomisch und politisch Unterdrückten; als Black Theology, die ihren Ausgang nimmt bei den Erfahrungen von Menschen, die ihrer Abstammung und Hautfarbe wegen benachteiligt oder gedemütigt werden sowie schließlich in den vielfältigen Formen Feministischer Theologie, die ausgehen von den Erfahrungen von Frauen in unterschiedlichen geschichtlichen und gegenwärtigen (Benachteiligungs-) Situationen. Durch alle diese Neuansätze wurden zugleich Verengungen und Einseitigkeiten im theologischen Denken bewusstgemacht, die bis dahin unbemerkt geblieben waren. Übersehene oder verdrängte Überlieferungselemente wurden ans Licht gehoben. Es wurden aber auch jeweils dadurch Neuakzentuierungen vorgenommen, die bei Beobachtern und Kritikern die Frage wachriefen, ob damit nicht die christliche Botschaft verfälscht werde. M. E. lässt sich schon heute rückblickend konstatieren, dass es bei der Entdeckung und Behebung solcher „blinder Flecken“, die ja meist gegen Widerstand erfolgt und darum erhebliche Kraftanstrengung erfordert, in der Anfangsphase regelmäßig zu Verabsolutierungen (im Sinne von Einseitigkeiten in der entgegengesetzten Richtung) kommt, die dann übrigens den Widerstand noch erleichtern und verstärken, weil sie ihn gewissermaßen nachträglich legitimieren. Aber in dem Maße, in dem die Machtfrage in die Wahrheitsfrage überführt werden kann, zeigt sich ebenso regelmäßig 20 Siehe dazu K. Barth, Von der Paradoxie des „positives Paradoxes“ (1923), in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, Hg. J. Moltmann, München 1962, S. 175 – 189 sowie ders., Nein! Antwort an Emil Brunner (1934), in: W. Fürst (Hg.), Dialektische Theologie in Scheidung und Bewährung 1933 – 1936, München 1966, S. 208 – 258.
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nach einiger Zeit, welcher Gewinn im Sinne einer reineren und vollständigeren Darstellung des christlichen Glaubens21 auf diese Weise erzielt werden kann. Und das hat in der Regel auch zur Folge, dass Spuren des verborgenen Gottes an Stellen wahrgenommen werden können, wo sie bisher übersehen wurden. Die radikalste Infragestellung der christlichen Theologie ( jedenfalls von innen heraus) erfolgte freilich nicht auf der Basis von Tillichs Theologie, sondern von unterschiedlichen Zugangsweisen her auf der Basis der Theologie Barths, Bultmanns und Gogartens. Ich meine die sog. Tod-Gottes-Theologie oder genauer – mit Dorothee Sölle, einer ihrer Hauptvertreterinnen in Deutschland formuliert – die „Theologie nach dem Tode Gottes“22. Auch wenn inzwischen längst eingetreten ist, was scharfsinnige oder scharfzüngige Kritiker von Anfang an prophezeit hatten, dass nämlich diese Theologie eher tot sein werde als ihr totgesagter Gegenstand, darf doch diese Episode nicht übergangen werden, und zwar schon deshalb nicht, weil aus ihr die Beschäftigung mit theologischen Fragestellungen resultierte, die bis heute die Diskussion mitbestimmen. Die Theologie nach dem Tode Gottes beerbte die philosophische Tradition sowohl Hegels, bei dem der Tod Gottes nur eine (spekulativ gedachte) Durchgangsstufe ist, als auch Nietzsches, bei dem der Tod Gottes ein definitives (in der Neuzeit stattfindendes) Ereignis ist, das den Menschen, der Gott getötet hat, zwingt, nun selbst als Übermensch Gottes Rolle zu übernehmen. Ausgangspunkt der Theologie nach dem Tod Gottes ist in beiden Fällen die Erfahrung einer wachsenden Religionslosigkeit, Säkularisierung, Mündigkeit, eines Ohne-Gott-Zurechtkommens, wie es Bonhoeffer schon in den 40er Jahren teils wahrnahm, teils prognostizierte,23 und wie es andere (z. B. Th. Altizer, P. van Buren, W. Hamilton oder eben D. Sölle) in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts konstatierten. Dabei ist das Neue an der Theologie nach dem Tode Gottes nicht diese – inzwischen kaum noch von jemandem mehr geteilte – Zeitdiagnose einer zunehmenden Sä21 Das ist Schleiermachers Zielbestimmung für die christliche Theologie, wie er sie in seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums … (1811/1830), Hg. D. Schmid, Berlin/New York 2002, S. 172 (§ 84); S. 233 (§263) sowie S. 250 (§313) gibt. Vgl. dazu o. S. 177 – 183. 22 D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem >Tode Gottes<, Stuttgart/Berlin (1965) NA 1982. 23 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Hg. E. Bethge, München 1985, S. 305.
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kularisierung und Religionslosigkeit, sondern das Neue ist die positive Bewertung dieser Diagnose. Genau diese Haltung der Religionslosigkeit und Mündigkeit entspreche dem christlichen Glauben – jedenfalls in der Moderne. Ein Gott, der die Welt lenkt, der in ihr wirkt, der als der Allmächtige zu bezeichnen und zu verehren sei, sei auch aus der Sicht der christlichen Theologie als „tot“ zu bezeichnen. Zwar habe sein Tod eine Lücke – und insofern eine sozusagen negative Spur – hinterlassen, nämlich die noch unabgegoltene Verheißung einer Welt, in der menschliche Identität möglich ist, aber diese Verheißung hätten nun wir als Gottes Stellvertreter in der Nachfolge Jesu und an seiner Statt zu übernehmen. Man wird der Theologie nach dem Tode Gottes und der zeitgleichen politischen Theologie freilich nicht gerecht, wenn man ignoriert, in welchem Maße sie dazu beigetragen hat, die 1945 noch kaum gestellte Frage nach der Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ins Bewusstsein zu rücken, und in welchem Maße sie – insbesondere in Gestalt der Befreiungstheologie – die Sensibilität für das Elend und Leiden in der sog. Dritten Welt geweckt und gestärkt hat. Dabei mag man es als „typisch menschlich“ beurteilen, dass die Vergangenheitsbewältigung eher seitens der selbst nicht beteiligt-gewesenen nachwachsenden Generation der Söhne und Töchter von ihren Eltern eingefordert wurde, als dass sie von diesen selbst geleistet worden wäre. Aber im Blick auf das nun neu geschehende Unrecht im Verhältnis zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern kam es durchaus zu einem Verantwortungsbewusstsein, das ethisch nicht folgenlos blieb. In beiden Zusammenhängen gewann jetzt ein Gedanke Bedeutung, der sich in der allgemeinen Vorstellung mit den Namen Bonhoeffer und Moltmann verbindet, tatsächlich aber auf den lutherischen Theologen Werner Elert zurückgeht: der Gedanke vom leidenden und mitleidenden Gott,24 der in die Ohnmacht der Welt eingeht, um das Los der Leidenden, Unterdrückten und Schwachen zu teilen, um also mit ihnen solidarisch zu werden. Dichterischen Ausdruck fand 24 W. Elert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie. Eine Untersuchung über Theodor von Pharan und seine Zeit, Berlin 1957, bes. S. 71 – 75. Es gereicht J. Moltmann zur Ehre, dass er in seinem Werk: Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972, S. 200 und 214 – 216 darauf hingewiesen hat, dass dieser Gedankenanstoß von W. Elert, der nun wirklich nicht in Moltmanns theologische Ahnenreihe gehört, stammte.
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dieser Gedanke in Bonhoeffers Gedicht „Christen und Heiden“25, insbesondere in der Zeile: „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden“. Hierzu passte genau die erschütternde Erzählung Elie Wiesels von der Hinrichtung eines Jungen im KZ, die einem Mithäftling die verzweifelte Frage entreißt: „Wo ist Gott?“ und er bekommt von einem anderen die Antwort: „Dort – dort hängt er, am Galgen…“26. Teilweise wurden diese Gedanken in der theologischen Diskussion der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts so verstanden oder gedeutet, als würde mit der These von der Ohnmacht Gottes das Theodizeeproblem gelöst. In Wirklichkeit wird es dadurch aber nur auf den Menschen verschoben. Der Gießener Philosoph Odo Marquard hat den Vorgang, der sich hier abspielt, einfühlsam und geistreich interpretiert – zwar nicht unter Bezugnahme auf die Theologie wohl aber unter Bezugnahme auf die Philosophie nach dem Tode Gottes, wie sie bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aufkam. Marquard wählt als Paradigma eben jenes Theodizeeproblem, das auch durch die Theologie nach dem Tode Gottes wieder zu einem Zentralthema wurde. Er konstatiert zunächst, dass unter der Voraussetzung des Todes Gottes bzw. bei Bestreitung seiner Existenz die überzeugendste Entschuldigung oder Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt möglich geworden sei, nämlich ein Freispruch aufgrund erwiesener Nichtexistenz.27 Aber Marquard denkt und fragt weiter, und er kommt zu dem philosophisch wie theologisch gleichermaßen überzeugenden Resultat: Da die Übel nicht verschwinden und auch unser Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf nicht verschwindet, löst sich das Theodizeeproblem durch die Behauptung der Ohnmacht oder Nichtexistenz Gottesnicht auf, sondern es verwandelt sich in das Problem der Anthropodizee: Nun ist der Mensch der – und zwar gnadenlos – Angeklagte angesichts der Übel in der Welt. Der zweifache Vorgang, den Marquard damit beschreibt: die Übertragung der Verantwortung von Gott auf den Menschen und der Verlust der Gnade macht es für den Menschen letztlich unmöglich, diese Situation zu ertragen, ohne unter ihr zu zerbrechen. 25 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (s. o. Anm. 23). 26 E. Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elisha (1958), Frankfurt am Main/Berlin 19966, S. 94. 27 So O. Marquard, Rechtfertigung, in: Giessener Universitätsblätter Heft 1, 1980 S. 82 sowie ders., Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 48.
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Und dasselbe gilt im Hinblick auf die Theologie nach dem Tode Gottes. Dass wir Menschen nun die Stelle Gottes vertreten sollen, das mag uns für einen Moment schmeicheln und uns auch motivieren, aber längerfristig und bei Licht besehen ist es ruinös. Daran können Menschen nur scheitern, und wenn sie sich dann nicht neu orientieren, können sie daran nur zugrunde gehen. Es spricht für D. Sölle, dass sie nicht lange auf der Position ihres Stellvertretungsbuches und damit auf einer konsequenten Theologie nach dem Tode Gottes beharrte. Eines ihrer nächsten Bücher (m. E. ihr schönstes und substantiellstes) trägt den Titel „Hinreise“28 und handelt von der inneren Reise des Menschen zu den Quellen, aus denen ihm die Kraft und Inspiration zuteil wird, die ihn befähigt, seinen Teil an Verantwortung in der Welt zu übernehmen – einen Teil, der immer noch groß genug ist, um ein Menschenleben auszufüllen. Mit der „Hinreise“ unternimmt Sölle den Weg zu den Symbolen, Riten und Mythen, die ihrerseits Spuren der verborgenen Anwesenheit Gottes und damit Spuren seines Lebens sind. Diesen Weg sind seitdem – jedenfalls gedanklich – viele Theologen in ihrer Arbeit gegangen und dabei stoßen sie bewusst oder unbewusst auf den hermeneutischen Weg, von dem bereits die Rede war, als ich Fuchs, Ebeling und Jüngel erwähnte. Freilich verändern sich beide Wege bei ihrem Zusammentreffen: Die „Hinreise“ ist nicht mehr länger bloß ein Anmarschweg oder Auftakt zum Eigentlichen, nämlich zu einem aktiven, politisch verantwortlichen Leben, und die Theologie des „Wortgeschehens“ wird weiter und offener, indem sie neben dem Wort auch das Bild, die Geste, den Ritus, den Mythos, die Musik, kurz die Fülle der Zeichen in den Blick fasst. Aus ganz unterschiedlichen Traditionen haben Systematiker, Praktische Theologen und Exegeten so in den letzten Jahre die Bedeutung von Zeichen und Zeichentheorien für die theologische Arbeit und für das theologische Nachdenken entdeckt. (Ich nenne exemplarisch nur: Eilert Herms, Ingolf Dalferth, Hermann Deuser, Hans Weder, Rainer Volp, Michael Meyer-Blank und Wilfried Engemann). Diese Beschäftigung mit Zeichentheorien könnte die Befürchtung wecken, die Theologie hätte ihre eigentliche Aufgabe vergessen, nämlich nach den Spuren des verborgenen Gottes in der Welt zu suchen, um statt dessen darüber zu diskutieren, was denn überhaupt eine Spur sei. Ich halte diese Befürchtung für unbegründet. Vielmehr sehe ich in dieser Zu28 D. Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 19763.
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spitzung der theologischen Fragestellung das Ernstmachen mit einer Erkenntnis, die aus der Verkündigung Jesu selbst gewonnen werden kann, wenn man die Gleichnisse Jesu (ebenso wie seine Tischgemeinschaften und Heilungen) versteht als zeichenhafte Kommunikation, die nicht nur auf Gott verweist, sondern durch die und in der Gott gegenwrtig ist. Wenn das so ist – richtiger gesagt: Wenn das so geschieht, dann sind solche Zeichen als Spuren Gottes selbst die Weise, in der Gott gegenwärtig ist. Vom Abendmahl hat das die lutherische Reformation schon immer so gelehrt, vom geschriebenen und verkündigten Wort konnte sie es ebenfalls sagen – von der Musik in ihren verschiedenen Formen gilt es übrigens nicht weniger. Aber es gilt natürlich nicht von jeder Musik, nicht von jedem Wort, nicht von jedem Essen und nicht von jedem Zeichen. Und darum war und ist die Theologie – vor und nach 1945 – aufgefordert, nach Kriterien zu suchen, anhand deren sich entscheiden und unterscheiden lässt, ob die Spuren, die wir finden, Spuren der Wahrheit, des Lebens und der Liebe und mit alledem Spuren Gottes sind oder Spuren der Lüge, des Todes, der Gleichgültigkeit oder des Hasses und damit Spuren des Verderbens. An der Eindrücklichkeit oder Eindringlichkeit der Zeichen lässt sich das nicht ablesen, sondern nur an dem, was sie bedeuten und bewirken. Und aus christlicher Sicht ist sogar zu sagen, dass alle Zeichen, die mit dem unansehnlichen Zeichen des Kreuzes nicht vereinbar sind, keine Spuren des Gottes sein können, der nur als der Verborgene anwesend ist und wirkt: als der Mitleidende, als der Vorübergegangene, als der Kommende, als der Unverfügbare. Und was besagt dies für das Theodizeeproblem, wenn es nicht dem Menschen aufgeladen werden soll? Das Theodizeeproblem bleibt bestehen, ja es wird durch die Rede von Gott und durch die Spurensuche nach Gott überhaupt nur am Leben erhalten, denn ohne dieses Suchen und Reden würde es gegenstandslos. Als Alternative bliebe dann wohl nur der Versuch, das Leiden und das Böse als das Unabänderliche hinzunehmen, mit dem man sich eben abzufinden hat. Die christliche Theologie – und noch ursprünglicher der christliche Glaube – kann und will sich damit nicht abfinden. Er kann und will das Elend und die Sinnlosigkeit des Lebens und der Welt nicht als etwas Unabänderliches hinnehmen. Er ist – wie Henning Luther29 es sinngemäß formuliert hat – unterwegs mit einer Verheißung, nämlich mit 29 S. H. Luther, Glauben heißt aufbrechen, in: ders.: Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Spätmoderne Predigten, Stuttgart (1991) erweiterte Neuausgabe 2008, S. 145 – 150.
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der Verheißung der zum Heil der Welt kommenden Gottesherrschaft. In der Klage, und zwar in der gesprochenen, gesungenen, geschrienen oder stumm gewordenen Klage appelliert der Glaube (im Bunde mit dem Zweifel) an diese Verheißung, damit um des Menschen willen nicht Gott vergessen werde und um Gottes willen nicht der Mensch.
Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes Lässt man sich auf dieses Thema ein, so merkt man schnell, dass es seine Spannung und Anziehungskraft ganz dem Begriff „Zorn“ verdankt. Ich habe mich dabei ertappt, dass ich den biblischen Befund, die Aussagen der Bekenntnisschriften und die dogmatische Literatur anfangs ausschließlich unter dem Aspekt „Zorn“ befragt habe. Die Liebe erscheint als das Bekannte, Vertraute, Selbstverständliche, Nicht-Aufregende, vom Zorn dagegen geht eine merkwürdige Dynamik aus. Er ist tremendum und fascinosum zugleich, d. h. er erschreckt, stößt ab, wirkt fremd und zieht zugleich fast unwiderstehlich an. Wer dieses faszinierende Moment der Rede vom Zorn Gottes nicht sähe oder sich nicht zugestände, würde m. E. diesem Thema nicht gerecht. Ich halte es für einen der großen und gefährlichen theologischen Irrtümer unserer Zeit1, dass die Rede vom Zorn Gottes so etwas wie ein archaisches oder mittelalterliches Fossil darstelle, von dem Theologie und Verkündigung sich möglichst klar, aber auch möglichst unauffällig zu distanzieren oder zu verabschieden hätten. „Archaisch“ oder „mittelalterlich“ mag ja durchaus stimmen – „biblisch“ müsste man jedenfalls hinzufügen – , aber „Fossil“ stimmt ganz gewiss nicht. Keine Versteinerung, sondern etwas theo-logisch und anthropologisch höchst Lebendiges wird angesprochen, wenn vom Zorn Gottes die Rede ist. Ein auch nur kurzer Blick auf den heutigen Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten belehrt ja rasch darüber, welche christlichen und außerchristlichen Richtungen da gefragt sind und Konjunktur haben, jedenfalls neben der sog. Wellness-Religion in auffälligem Maß solche Angebote, in denen die dunkle Seite am Göttlichen, in denen Drohung und Forderung, in denen Gericht und 1
Man vergleiche dazu z. B. die bedrückende Artikelserie zur Kreuzestheologie, die im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ in der Zeit von Dezember 1988 bis April 1989 unter dem Titel „Ein sanfter Gott?“ veröffentlicht wurde. Demgegenüber deuten Arbeiten wie die von W. Dietrich/Ch. Link (Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt, Neukirchen [1995] 19972) sowie von S. Volkmann (Der Zorn Gottes. Studien zur Rede vom Zorn Gottes in der evangelischen Theologie, Marburg 2004) auf eine verheißungsvolle Wandlung hin.
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Verdammnis ( jedenfalls Gericht und Verdammnis der anderen) eine herausragende Rolle spielen. Wir dürfen solche Phänomene gewiss nicht zum inhaltlichen Maßstab oder gar zur Quelle unserer Verkündigung und Theologie machen, aber als eine Beobachtung und·Frage möchte ich jedenfalls die Überlegung aufnehmen, ob religiöse Phänomene, wie wir sie in der Gegenwart wahrnehmen, nicht ein Indiz dafür sein könnten, dass ein Reden von der Liebe Gottes, bei dem der Zorn Gottes abhanden gekommen ist, weil er verdrängt, unterdrückt oder gar geleugnet wird, in der Gefahr steht, oberflächlich und belanglos (um nicht zu sagen: langweilig) zu werden. D. h., solche Beobachtungen könnten zum Anlass werden, erneut und gründlich darüber nachzudenken, wie angemessen von Gott und vom Evangelium zu reden ist. Dass christliche Theologie und Verkündigung nicht angemessen vom Zorn Gottes reden können, wenn sie nicht auch und zugleich von seiner Liebe reden, hat den Charakter einer allgemein anerkannten Überzeugung. Ich möchte hier jedoch (zumindest implizit) der Frage nachgehen, ob und inwiefern auch das Umgekehrte gilt, dass also christliche Theologie und Verkündigung nicht angemessen von der Liebe Gottes reden können, wenn sie nicht auch und zugleich von seinem Zorn reden, so wie sie nicht angemessen vom Evangelium reden können, wenn sie nicht auch vom Gesetz reden, weil nur auf dem dunklen Hintergrund von Gesetz und Zorn das Evangelium und die Liebe Gottes als Licht erstrahlen. Bei der Einarbeitung in dieses Thema bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes auf fünf Ebenen eine Rolle spielt, die man wohl alle – wenigstens kurz – ansprechen muss, wenn man dem Thema halbwegs gerecht werden will. Diese fünf Ebenen erscheinen mir wie fünf Stufen, die in die Tiefe führen, und mit Tiefe meine ich dabei sowohl das Fundamentale als auch das Dunkel-Belastende. Diese fünf Stufen sind die Stufe der Ethik (1), der Gotteslehre (2), der Christologie (insbesondere der Lehre von der Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi) (3), der Eschatologie (4) und der Prädestinationslehre (5). Sie sollen der Reihe nach betreten werden.
Gibt es berechtigten menschlichen Zorn?
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1. Gibt es berechtigten menschlichen Zorn? (Die Stufe der Ethik) 1.1 Biblische Aussagen zum menschlichen Zorn Es erscheint vielleicht als weit hergeholt, wenn ich mit dem neutestamentlichen Doppelgebot der Liebe als dem Inbegriff der christlichen ethischen Forderung einsetze, und doch wird sich zeigen, dass wir von hier aus ganz schnell ins Zentrum der Thematik gelangen. Der biblische Befund ergibt nämlich, dass das Liebesgebot immer wieder flankiert und begleitet wird von dem Verbot des Zrnens. So schon Lev 19,18. Und im Neuen Testament gilt dann bekanntlich: Nicht erst, wer seinen Bruder tötet, ist des Gerichtes (Gottes) schuldig, sondern der, der mit ihm zürnt (Mt 5,22), Zorn ist ein Werk des Fleisches (Gal 5,20), er tut nicht, was vor Gott recht ist ( Jak 1,20), und gehört deshalb zu dem, was die Gläubigen ferne von sich sein lassen bzw. von sich ablegen sollen (Eph 4,31 und Kol 3,8). Und mit dem Wesen der Liebe, wie es 1 Kor 13,4 – 7 beschrieben wird, ist Zorn offensichtlich unvereinbar. An diesem Befund ändern auch die beiden sogenannten „Konzessionen“ nichts Grundsätzliches: Eph 4,26 („Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen“) und Jak 1,19 („ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn“); denn auf beide „Konzessionen“ folgt unmittelbar (Eph 4,31 und Jak 1,20) die generelle negative Bewertung des Zornes, und beide „Konzessionen“ weisen zudem selbst ausdrücklich auf die Gefährlichkeit des Zornes hin. Aber diese beiden Stellen sind nun doch insofern wichtig, als sie andeutungsweise erkennen lassen, dass Zorn nicht an sich und notwendigerweise einen Gegensatz zur Liebe bildet und folglich Sünde ist.
1.2 Biblische Aussagen über den Zorn Gottes und Jesu Das wird explizit durch zwei andere Aussagenzusammenhänge deutlich: a) durch die Aussagen über den Zorn und die Rache Gottes, denen anstelle menschlicher Rachegelüste Raum zu geben ist (Röm 12,19: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes“; vgl. auch Dtn 32,35; 1 Sam 24,13 u. ö.). Hier zeigt sich, dass nach biblischer Vorstellung zwischen dem Zorn Gottes und dem Zorn des
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Menschen offenbar ein grundlegender Unterschied besteht. Gustav Stählin hat diesen Unterschied auf die Formel gebracht: „Gottes Zorn ist der der verletzten Liebe, des Menschen Zorn der der empörten Selbstsucht“2. b) Der andere Aussagenzusammenhang, der hier zu bedenken ist, handelt vom Zorn Jesu (z. B. Mk 3,5; Joh 11,33 und 38, aber auch die Erzählung von der Tempelreinigung – Mk 11,15 – 19 parr – gehört natürlich hierher), der als Zorn gegen die widergöttlichen Mächte der Verstockung, des Unglaubens und des Todes selbst Ausdruck seines Heilswillens ist, nämlich dessen dem Negativen zugewandte negative Seite3. So wird von den biblischen Aussagen her deutlich, dass es offenbar zweierlei Zorn gibt, einen heiligen (göttlichen) Zorn, der sich gegen das Widergöttliche richtet, und einen sündhaften (fleischlichen) Zorn, den man als „empörte Selbstsucht“ bezeichnen kann. Auf der Linie dieser Unterscheidung weiterdenkend, wäre dann – etwa mit Luther – zu sagen, dass dort, wo ein Mensch auf Gottes Befehl (im Amt) dem Bösen widersteht oder aus christlicher Liebe dem Bösen zürnt, keine Sünde begangen wird, sondern Gottes Wille geschieht. Das wäre dann offenbar kein fleischlich-menschlicher, sondern heiliger göttlicher Zorn oder, wie Luther schön sagt: „der gemeine Christlichen liebe zorn“4.
1.3 Schließt die Liebe notwendig Elemente des Zornes ein? Die zuletzt genannte – gefährliche, weil leicht missdeutbare und noch leichter missbrauchbare – Einsicht führt nun aber noch weiter: Wenn der heilige Zorn (auf eine noch zu bedenkende Weise) zur Liebe Gottes und zur Liebe Jesu Christi hinzugehört, dann ist zumindest die Frage unumgänglich, ob nicht auch christliche Liebe Elemente des Zornes einschließen kann oder sogar muss. Auch zur Beantwortung dieser Frage gibt Luther in der zitierten Predigt zwei wichtige Hinweise:
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Art. aqc^ jtk., in: ThWBNT Bd. V/1954, S. 420. Ähnlich ist wohl Apg 17,16 zu verstehen, wo geschildert wird, wie der Geist des Paulus angesichts der vielen Götzenbilder „ergrimmte“. WA 41, 749,24 f (Predigt über Mt 5,20 – 22 vom 16. 4. 1534).
Gibt es berechtigten menschlichen Zorn?
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a) Der Zorn sei, so sagt er, uns Menschen darum und insofern untersagt, als er einen Eingriff in Gottes Macht, Ehre und Hoheit darstellt5. D. h., wenn der Mensch in seinem Zürnen versucht, so etwas wie Gottes Gericht auszuüben und vorwegzunehmen, also in Gottes Weltregierung einzugreifen, dann wird daraus unvermeidlich „Teufelszorn“, wie Luther das nennt; denn kein Mensch ist in der Lage, ein letztes gerechtes Gericht auszuüben. Das kann nur der „Herzenskündiger“, Gott, selbst. Und darum ist aller Zorn, der diesen in Gottes „Amt“ eingreifenden Sinn hat, selbst Sünde, nämlich Hybris. b) Wohl aber gibt es einen Zorn aus Liebe, der nicht den anderen richten, verurteilen, verdammen, sondern ihn retten, ihm helfen und beistehen will: „Das ist … ein … brüderlicher zorn, der … aus der liebe gehet, Als wenn ich also zürne mit einem menschen (denn ich hertzlich lieb habe und jm alles guts gan) und verdreusst mich, das er nicht von sunden lesst und sich bessert, Also das ich alda unterscheide die person und die sunde, der person zu helffen und dem laster zu wehren … „6. Diese wichtige Unterscheidung zwischen Person (der die Liebe gilt) und Snde (gegen die sich der Zorn richtet) wird uns im folgenden Abschnitt erneut beschäftigen. Was folgt aus alledem für die Frage, ob nicht auch christliche Liebe notwendig Elemente des Zorns einschließt? Zweierlei lässt sich dazu m. E. sagen: Einerseits: „Liebe“, die nicht ( jedenfalls als Möglichkeit) den Zorn über das einschließt, wodurch dem geliebten Menschen geschadet wird oder wodurch er sich selbst schadet, wäre nicht Liebe, sondern im besten Fall Nettigkeit, im schlimmsten Fall freundliche Gleichgültigkeit. Andererseits: Jeder Zorn, der mit dem Anspruch eines endgültigen Urteils über Menschen auftritt, und jeder Zorn, dessen Motivation nicht Liebe ist, sondern tendenziell darauf zielt, den anderen zu erledigen, ist selbst Ausdruck von Hybris, also Snde. Insofern lässt sich die Frage nach der Zugehörigkeit von Zornelementen zur christlichen Liebe nicht nur positiv beantworten, sondern es 5
6
„Also das aller zorn rein von uns sol genomen sein, und Gott allein zürnen sol, sonst wird es des Teuffels zorn und gehet gewislich nicht one sunde abe, Gleich wie auch diese stück alle drey, Richten, Rechen und Rhümen uns genomen sind, und kein mensch sich der annemen sol, ob er noch so gut recht und grosse heiligkeit hette, Sondern Gott sol allein haben Ehre, Gericht und Rache, also auch den Zorn“ (WA 41, 745,37 – 746,3). WA 41, 749,11 – 16.
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lässt sich auch ziemlich genau unterscheiden, welche Elemente hinzugehören und welche nicht.
2. Wie gehören Liebe und Zorn in Gott zueinander? (Die Stufe der Gotteslehre) 2.1 Gottes Liebe und Gottes Zorn Es gibt in der ganzen heiligen Schrift und in sämtlichen Bekenntnissen aller Kirchen m. W. kein negatives Pendant zu dem Satz: „Gott ist (die) Liebe“ (1 Joh 4,8 und 16). Gott ist nicht Zorn. Aber Gott zrnt. Und das heißt doch: Zorn gehört nicht zu den Wesenseigenschaften Gottes. Er gehört nicht von Haus aus zu Gott. Er ist nicht Gottes opus proprium, sondern ein opus alienum7. Gottes Zorn ist Reaktion auf die Sünde des Menschen. Gottes Heiligkeit wird durch den Ungehorsam des Menschen verletzt, und darum zürnt Gott. Mehr noch: Es ist gerade Gottes Liebe, die durch die menschliche Sünde verletzt wird und seinen Zorn auf den Plan ruft. Und in Verlängerung und Steigerung dessen betont die heilige Schrift, dass Gottes Langmut und Geduld, mit der er seinen Zorn zurückhält, diesen Zorn sogar noch steigert, wenn und wo die erhoffte Buße des Menschen ausbleibt (Röm 2,4 f; 9,22 sowie Mt 18,23 – 35).
2.2 Ist ein Affekt wie Zorn mit dem biblisch-christlichen Gottesverständnis vereinbar? Kann man, darf man so menschlich, so anthropopathisch von Gott reden? Diese Frage lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: Zunächst: Ist es überhaupt zulässig, personale Begriffe wie Liebe und Zorn auf Gott anzuwenden? Lässt sich das damit Gemeinte nicht angemessener apersonal (nichttheistisch) aussagen? Sodann: Ist es zulässig, von Gott, dessen Wesen die Liebe ist, eine so problematisch-menschliche, ambi7
So auch P. Althaus, Die christliche Wahrheit, Gütersloh 19626, S. 398: „Der Zorn setzt die Liebe voraus, und er steht im Dienste des Liebeswillens; er ist – um mit Luther zu reden – Gottes ,fremdes Werk’, mit dem er auf sein ,eigentliches’ abzielt“.
Wie gehören Liebe und Zorn in Gott zueinander?
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valente Gefühlsregung wie „Zorn“ auszusagen? Ist Gottes „verletzte Liebe“ nicht selbst auch so etwas wie „empörte Selbstsucht“8 ? Beide Fragen verdienten eine sorgfältigere und ausführlichere Behandlung, als es hier möglich ist. Ich will aber wenigstens kurz auf beide Fragen eingehen, wobei das Schwergewicht auf der zweiten Frage liegen wird. a) Sind personale Begriffe auf Gott anwendbar? Es gibt einen breiten theologischen Konsens darüber, dass alle unsere Aussagen von Gott symbolischen bzw. metaphorischen Charakter haben. Das lässt sich besonders gut einsichtig machen an der Fundamentalaussage „Gott existiert“ oder „Gott ist“ oder „es gibt Gott“9. Sowohl der Existenz- als auch der Seinsbegriff (von dem laxen „es gibt“ ganz zu schweigen) sind deshalb nur uneigentlich auf Gott anzuwenden, weil Gott der Schöpfer des Sichtbaren und Unsichtbaren ist, d. h. derjenige, der allem, was ist, überhaupt erst Existenz, Sein, Wirklichkeit verleiht. Die Rede von der Existenz etc. Gottes rückt aber (unvermeidlich, wenn auch wider Willen) Gott auf die Ebene des Existierenden, Daseienden, Wirklichen etc. Sie spricht von Gott, als sei er ein Geschöpf, und insofern ist sie unangemessen. Aber wir haben keine andere Sprache als eine solche, mit der wir Geschaffenes (sei es Wirkliches oder Erdachtes) bezeichnen können. Wir haben von Gott aber auch nur Kunde, weil und sofern er sich im geschöpflichen Bereich kundgibt – in den Werken der Schöpfung, die Spuren sind, aus denen Gottes Wesen ersehen werden kann (Röm 1,20), in geschichtlichen Taten, die gleichfalls Gottes Spuren erkennen lassen, und letztlich und authentisch in Jesus Christus, dem Ebenbild und damit der sichtbaren Spur des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15 und Hebr 1,1 f.) in unserer Welt. Und eben dies ist zugleich die Begründung dafür, dass wir die Worte, Begriffe, Bilder, mit denen wir Geschöpfliches bezeichnen, trotz ihrer Unangemessenheit auf Gott anwenden dürfen. Und dabei sind gerade die personalen Symbole und Metaphern
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S. o. Anm. 2. Vgl. hierzu W. Härle, Welchen Sinn hat es, heute noch von Gott zu reden?, in: MJTh 2/1988, S. 43 – 68) sowie grundsätzlich und wesentlich umfassender: C. H. Ratschow, Gott existiert, Berlin (1966) 19682, und I. U. Dalferth, Existenz Gottes und christlicher Glaube. Skizzen zu einer eschatologischen Ontologie, München 1984.
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dem Wesen des göttlichen Heilshandelns besonders angemessen10. Durch die personalen Begriffe wird deutlich, dass Gott uns nicht nur dinglich oder mechanisch, sondern worthaft (nämlich durch Gesetz und Evangelium) begegnet, anredet, ruft und eben so mit uns als Personen verkehrt. Es wäre umgekehrt gewiss falsch, nur personale Begriffe (Symbole, Metaphern) zu gebrauchen. Gott begegnet uns auch in der Verlässlichkeit und „Gnadenlosigkeit“ der Naturgesetze, der Tat- und Tatfolgenzusammenhänge, in denen Liebe und Zorn Gottes auch erfahrbar werden. Aber ein Reden, das sich nur auf dieser Ebene bewegte, wäre nicht in der Lage, das Wesen des biblisch-christlichen Gottesverständnisses zu erfassen oder auch nur zu umschreiben. Tillich hat wohl recht: Die Rede vom persönlichen Gott und der Gebrauch personaler Symbole beim Reden von Gott sind zwar missverständlich, ja sogar „irreführend“, zugleich und nichtsdestoweniger aber „unbedingt fundamental“11, also nicht ersetzbar. Aber gehört zu den legitimen personalen Aussagen von Gott auch die Rede vom Zorn Gottes? b) Ist die Rede vom Zorn Gottes legitim? 12 Untersucht man den biblischen Sprachgebrauch, so muss man feststellen, dass im Alten Testament und im Neuen Testament und hier wiederum in allen Traditionssträngen (bei den Synoptikern, bei Johannes, im Corpus Paulinum, in den Deuteropaulinen, in den Katholischen Briefen wie in der Apokalypse) vom Zorn Gottes die Rede ist – wenn auch mit unterschiedlicher Häufigkeit13. Durch eine Marginalisierungsstrategie oder eine Entwicklungstheorie ist das Problem jedenfalls nicht aus der Welt zu schaffen; ebensowenig durch den Versuch, die Zornaussagen so zu interpretieren, als sei dabei nur vom Zor10 Vgl. hierzu die grundlegenden, klärenden Ausführungen von Ch. Schwöbel, Das Handeln Gottes im christlichen Glauben, in: MJTh 1/ 1987, S. 56 – 81, bes. S. 71 – 78. 11 P. Tillich, Systematische Theologie Bd. I, Berlin/New York 19878, S. 283. Vgl. ebd.: „’Persönlicher Gott’ bedeutet nicht, dass Gott eine Person ist. Es bedeutet, dass Gott der Grund alles Personhaften ist und in sich die ontologische Macht des Personhaften trägt. Er ist nicht eine Person, aber er ist auch nicht weniger als eine Person.“ 12 Zu Recht weist P. Althaus, Die christliche Wahrheit (s. o. Anm. 7), S. 397 darauf hin, dass die Rede von der Liebe Gottes nicht weniger anthropopathisch ist als die vom Zorn Gottes. Man könnte aber sagen: Das fällt und stößt uns meist weniger auf. 13 Die Johannesapokalypse und das Corpus Paulinum – und hier der 1Thess und der Röm – bilden die Spitze.
Wie gehören Liebe und Zorn in Gott zueinander?
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neswirken im Sinne eines Strafgeschehens die Rede und nicht auch von einem Zornesaffekt in Gott14. Zwar dominiert im Neuen Testament die Bedeutung von aqc^ als Zorneswirken, aber das Verständnis von Zorn (aqc^ und hul|r) als leidenschaftlicher Widerwille Gottes ist doch aus vielen Aussagen gar nicht herauszuhalten (so z. B. Mt 18,34; Röm 1,18 – 32; 2,4 f; 1 Thess 2,16; Apk 6,16 f). Für das Alte Testament gilt das ohnehin; denn hier verweisen schon die Wurzeln der Hauptbegriffe für Zorn ( a˘p; hema¯ ; harn; æbra¯ ; qæsæp; za˘ea˘m) unmittelbar in den ˙ ˙ ˙ psychosomatischen Bereich der Affektäußerung: schnauben, brünstig sein, entbrennen, sich ereifern, ausbrechen, anfahren, toben, stürmen15. Es ist jedoch bemerkenswert, dass weder in der Septuaginta noch im Neuen Testament die Begriffe l^mir und w|kor, die in der griechischen Mythologie den unversöhnlichen Zorn oder die Wut einer Gottheit bezeichnen, jemals auf Gott angewandt oder ihm zugesprochen werden. Trotz der großen begrifflichen Vielfalt ist das biblische Reden vom Zorn Gottes keineswegs wahllos und unreflektiert, sondern im Gegenteil theologisch außerordentlich diszipliniert. Von einigen wenigen Ausnahmen (von denen noch zu sprechen sein wird) abgesehen, ist in der biblischen Botschaft das Reden vom Zorn Gottes stets das notwendige Pendant zur Rede von seiner Liebe. Dabei meint der Begriff „Pendant“ hierbei nicht ein Gegengewicht, das die Liebe in einem gewissen Mittelmaß hält, sondern ganz im Gegenteil das zugehörige Element, durch das die Ernsthaftigkeit, die streitbare Entschlossenheit und der brennende Gemeinschaftswille der Liebe Gottes zum Ausdruck gebracht wird. Das lässt sich in drei Gedankengängen aufzeigen: a) Weil Gott den Menschen brennend liebt, d. h., weil er das Heil des Menschen will, darum richtet sich sein Zorn (ebenso wirklich und brennend) gegen alles, was dieses Heil bedroht, in Frage stellt oder zerstört.16 Der Zorn Gottes ergeht „über alles gottlose Wesen und alle 14 Der prominenteste Vertreter dieses Lösungsversuchs ist A. Ritschl gewesen. S. dazu sein Hauptwerk: Die Christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. II, Bonn 19004, S. 119 – 156. 15 Und gerade deshalb ist es auffällig, dass im Alten Testament ganz selten (nur Ps 78,49 und Jes 30,30) und im Neuen Testament nie von der Wut Gottes oder vom Hass Gottes gegen Menschen die Rede ist. 16 Ähnlich sagt Tillich, „dass die Erfahrung des Zornes Gottes der Weg war, auf dem sich die göttliche Liebe des Menschen annahm. Die göttliche Liebe steht gegen das, was gegen die Liebe steht. Sie überlässt es der Selbstzerstörung, um die zu retten, in denen es zerstört wird“ (Systematische Theologie Bd. I [s. o. Anm. 11], S. 86).
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Ungerechtigkeit der Menschen“ (Röm 1,18) 17. Was von der menschlichen Liebe zu sagen war, gilt auch und erst recht von Gottes Liebe, die das Urbild und der Ermöglichungsgrund allen menschlichen Liebens ist: Eine Liebe, die nicht zornig wäre über das, was dem Geliebten Schaden zufügt oder wodurch der Geliebte sich selbst Schaden zufügt, wäre nicht größere, sondern geringere Liebe. Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe als ernsthafte, als wirkliche Liebe. b) Insbesondere aus dem Alten Testament ist der Gedanke bekannt, dass aus der Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk der Zorn gegen alle Feinde und Widersacher dieses Volkes resultiert. Wer Gottes Augapfel antastet, gegen den wendet sich Gottes Zorn und zwar wiederum aus Liebe zu seinen Auserwählten. Der Unterschied zum ersten Gedankengang besteht darin, dass es nun nicht auf die Unterscheidung zwischen der Person (also dem Sünder) und der Sünde, sondern auf die Unterscheidung zwischen Erwählten und ihren Feinden ankommt. D. h., der Zorn richtet sich hier nicht nur gegen das Widergöttliche, sondern gegen die Widergöttlichen, also gegen Menschen, und zwar mit der ganzen bedrohlichen, ja zerstörenden Kraft, die dem Zorn Gottes stets zu eigen ist und ihn charakterisiert. D. h., hier wird denkbar, dass Zorn und Liebe so zusammengehçren, dass gleichwohl der Zorn vernichtend über Menschen ergeht. Das ist freilich nur denkbar, weil und solange Erwählung als eine partikulare, also nicht alle Menschen meinende Erwählung gedacht wird. Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe hier als kmpferische, streitbare Liebe für sein auserwähltes Volk Israel. c) Noch einen entscheidenden Schritt weiter führt der dritte Gedankengang, der in gewisser Hinsicht die beiden bisherigen Gedankenreihen miteinander verbindet. Der wird sichtbar, wenn man sich fragt, was es bedeutet, wenn ein Mensch oder eine Menschengruppe, z. B. ein ganzes Volk, sich seiner bzw. ihrer Erwählung durch Gott und damit den Liebeserweisen Gottes beharrlich und konsequent verweigert, wenn er oder sie sich selbst mit seiner bzw. ihrer Sünde so identifiziert, dass die Unterscheidung zwischen der Person (d. h. dem Snder, dem Gottes Liebe gilt) und der Snde (die von Gottes Zorn getroffen wird) gar nicht mehr möglich ist? Müssen wir nicht sagen: Wer sich dem Licht 17 Und im Blick auf dieses Heillose und Unheilige kann dann auch im Neuen Testament vom Hassen Gottes die Rede sein (Hebr 1,9; Jud 23; Apk 2,6) und können die Glaubenden zum Hassen aufgefordert werden (Lk 14,26; Röm 12,9; Apk 2,6).
Wie gehören Liebe und Zorn in Gott zueinander?
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der Liebe Gottes so konsequent entzieht, der stellt sich selbst in das Dunkel seines Zornes18 ? Zum Wesen der Liebe gehört ja zweierlei: das unbedingte Wohlwollen, das nur das Beste für den Geliebten sucht, und der Gemeinschaftswille, der darauf aus ist, vom Geliebten angenommen und erwidert zu werden. Dabei ist die Hoffnung auf Erwiderung weder der geheime Zweck noch eine Art nachträgliche Bedingung, wohl aber eine innere Konsequenz, die im Wesen der Liebe als personaler Gemeinschaftsbeziehung liegt. In der Erwartung der Liebeserwiderung (die freilich viele Enttäuschungen ertragen kann, sich also mit Geduld wappnet) kommt zum Ausdruck, dass der Partner als Person ernst genommen wird und nicht etwa den Status eines neutralen Zuneigungsoder Liebesobjekts hat. Die Liebe Gottes zu seinem menschlichen Gegenüber hat diesen personalen Partnerschaftscharakter. Sie ist in souveräner Einseitigkeit schenkend, und sie nimmt zugleich den Menschen als Partner ernst. Die Rede vom Zorn Gottes qualifiziert Gottes Liebe so als gemeinschaftssuchende Liebe19. Aber was resultiert daraus? Wie endet der Konflikt in Gott zwischen seinem unbedingten Wohlwollen und seinem beharrlichen Gemeinschaftswillen gegenüber dem Menschen, der sich als (sei es hybrider oder verzweifelter) Sünder der Liebe Gottes beharrlich entzieht oder verweigert? 18 Vgl. dazu P. Tillich, Systematische Theologie Bd. I (s. o. Anm. 11), S. 326: „Der ,Zorn Gottes’ ist weder ein Affekt, der mit seiner Liebe stritte, noch die Ursache von Handlungen, die aus der Vorsehung herausfallen. Er ist das Gefühlssymbol für das Tun der Liebe, die verwirft und der Selbstzerstörung überlässt, was sich ihr widersetzt. Die Erfahrung des ,Zornes Gottes’ ist ein Bewusstwerden der selbstzerstörerischen Natur des Bösen, nämlich bei solcher Haltung und in solchen Akten, in denen das endliche Geschöpf sich vom Seinsgrund trennt und sich Gottes auf Wiedervereinigung zielender Liebe widersetzt. Solch eine Erfahrung ist Wirklichkeit, und das Symbol des Zornes Gottes ist nicht zu vermeiden.“ 19 Ebenso P. Althaus, Die christliche Wahrheit (s. o. Anm. 7), S. 286: „Gott will in seiner Liebe die Menschen zur Gemeinschaft mit sich. Er gibt sich, damit die Geliebten sich ihm geben. Die Hingabe kommt zum Ziele in der Aneignung. Auch so ist die Liebe Gottes auf nichts anderes als auf das wahrhaftige Leben der Geliebten gerichtet. Denn sie haben das Leben nur in der Gemeinschaft mit ihm, in der Hingabe an seine Liebe …. Weil Gott so liebt, wird sein Leben zur Störung für den Menschen, der sein Leben anderswo sucht als in der Gemeinschaft mit Gott. Eben als Liebe widersteht Gott dem Menschen, der ihm widerstrebt. Diesen Willen will die Liebe brechen. Ihm gegenüber muss die Liebe Zorn werden, Widerwille, eben als Liebe. Sie wäre keine wirkliche Zuwendung zu uns, wenn sie uns mit unserem Eigenwillen gewähren ließe.“
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Damit sind wir auf die zentrale Fragestellung gestoßen, die uns in den folgenden Abschnitten unter verschiedenen Aspekten weiterbeschäftigen wird. Wie Gottes Liebe und sein Zorn, die doch untrennbar zusammengehören, zugleich miteinander im Streit liegen und miteinander ringen, davon legt schon das ganze Alte Testament beredtes Zeugnis ab, und zwar sowohl in seinen geschichtlichen Büchern (man denke nur an die Exodus- und Landnahmeerzählungen) als auch in seiner prophetischen Überlieferung (besonders eindrucksvoll in Hos 11) oder in den Texten des Hiobbuches und der Psalmen. Dort, wo die Liebe Gottes auf die Abkehr des von ihm geliebten Menschen stößt, da geraten Liebe und Zorn in einen tiefen Kampf und Streit. Handelt es sich dabei um einen ewigen Streit, oder ist er auflösbar oder gar schon aufgelöst?
3. Ist im Tode Jesu Christi der Streit zwischen Gottes Liebe und Zorn endgültig entschieden? (Die Stufe der Christologie) 3.1 Der Tod Jesu Christi und der Zorn Gottes Die christliche Lehre weiß, dass die Abkehr des Menschen von dem ihn liebenden Gott nicht bloß eine Mçglichkeit, sondern die Wirklichkeit darstellt, von der wir individuell und kollektiv immer schon herkommen. Die Gegenliebe, die Gott zu Recht von uns erwartet, erbringen wir von Hause aus nicht, sondern bleiben sie schuldig. Und es gibt keinerlei menschlichen Rechtsanspruch darauf, dass Gott den seine Liebe verletzenden Menschen unbeirrt weiterlieben müsste. Das Gegenteil wäre zu erwarten und wäre der verdiente Ausgang: das Umschlagen der Liebe in vernichtenden Zorn. Das wäre menschlich verständlich. Aber schon in Hos 11,9 heißt es als ein Wort Jahwes: „Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn noch Ephraim wieder verderben. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren.“ Das Gottsein Gottes erweist sich hier gerade in der Zurückhaltung seines vernichtenden Zornes. Und im Neuen Testament ist dies die Zentralaussage des Evangeliums: Gott nimmt sich in Jesus Christus des schuldhaft verlorenen Menschen an, er wendet sich dem Sünder zu, um ihn zu retten, und zwar eben vor dem künftigen Zorngericht (1 Thess 1,10; 5,9; Röm 5,9; Lk 5,31 f.; Joh 3,36).
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Angesichts dieser eindeutigen Aussage muss es auffallen, dass im neuen Testament nirgends explizit die Passion Jesu mit dem Erleiden des göttlichen Zornes in Verbindung gebracht wird, wie dies z. B. die Confessio Augustana und vor allem die Apologie der Confessio Augustana reichlich tun20. Indessen dürfte die Erklärung für diese neutestamentliche Fehlanzeige naheliegen: Im Neuen Testament (wie im allgemeinen Sprachgefühl) ist der Begriff „Zorn“ untrennbar verbunden mit einem negativen Affekt (Widerwille, Missfallen, Unmut). Gerade das kann aber im Blick auf Jesus Christus so von Gott nicht (oder nur mit größtem Vorbehalt) gesagt werden. Jesus Christus ist nicht Gegenstand göttlichen Zornes, sondern seines Wohlgefallens 21. Was sich jedoch sagen lässt, ist dies: Jesus Christus hat freiwillig die durch Gottes Zorn verhängten Folgen menschlicher Sünde, also das Strafgericht über die Sünde, ertragen. Er, der Sündlose, hat sich mit den Sündern solidarisch gemacht, ja, er ist an ihre Stelle getreten und ist so „um der Sünde willen“ und damit zugleich „für die Sünder“ gestorben (1 Kor 15,3; Röm 5,8; 1 Joh 4,10). Deshalb erkennt die Urgemeinde in dem alttestamentlichen Gottesknecht aus Jesaja 53 Jesus Christus wieder, von dem gilt: „er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ ( Jes 53,5) 22.
20 CA 3: „dass Gott der Sohn … Gottes Zorn versohnet“ (in der lateinischen Fassung kommt allerdings der Begriff des Zornes nicht vor); Apol 4 (BSLK, 169,46 f.; 176,80 f.; 201,93; 218,291; 219,300); Apol 12 (269,84; 283,49 f.); Apol 27 (383,17) mit der für Melanchthon typischen Standardformel: „quod Christum mediatorem (et propitiatorem) debeamus opponere irae Dei“ (dt. „dass wir Christus als Mittler (und Versöhner) dem Zorn Gottes entgegenstellen müssen“). Eine ähnlich zentrale, allerdings inhaltlich anders akzentuierte Rolle spielt die Rede vom Zorn Gottes in der Theologie K. Barths (Kirchliche Dogmatik Bd. II/l, Zollikon-Zürich 19826, S. 443 – 450 und 475). 21 Hier ist vor allem an die Aussagen von der eqdoj_a bzw. vom eqdoje?m Gottes an seinem Sohn zu erinnern, wie sie sich in den Tauf- und Verklärungserzählungen finden: Mk 1,11 parr; Mt 12,18; 17,5; 2 Petr 1,17. 22 Ebenso lassen sich auch die Taufe Jesu durch Johannes, der Kampf Jesu in Gethsemane und die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz theologisch als ein Aufsich-Nehmen des Zorngerichtes deuten. Vgl. dazu ThWBNT V, S. 447 f. (s. o. Anm. 2).
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3.2 Der liebende Gott als Subjekt der Versöhnung In einer gewissen Spannung zu den Aussagen vom stellvertretenden (Straf-)Leiden Christi stehen allerdings zwei andere Aussagenzusammenhänge, die im Neuen Testament tief verankert sind: a) Gott bzw. Jesus Christus vergibt die Sünde, d. h., er rechnet sie nicht zu (Mk 2,5 – 10 parr; Lk 11,4 par; Röm 3,25 f.; 2 Kor 5,19; Kol 2,13; 1 Joh 1,9; 2,12). b) Gott bzw. Gottes Liebe ist Subjekt und Initiator (und nicht etwa Adressat oder Resultat) des Heilswerkes Christi ( Joh 3,16 f.; Röm 5,8; Gal 4,4; 1 Joh 4,9 u. ö.). Beide Aussagenzusammenhänge müssen in diesem Zusammenhang bedacht werden: Ad a) Vergebung scheint sich mit Zorn nicht zusammenzureimen. Wer Sünde vergibt, verzichtet doch darauf, seinen Zorn zur Wirkung kommen zu lassen oder ihn auch nur zu bewahren (das berüchtigte Nachtragen). Und doch gibt es – gerade von dieser Überlegung her – einen inneren Zusammenhang zwischen Zorn und Vergebung, der sichtbar wird, wenn wir fragen: Wo bleibt eigentlich der Zorn über die Verletzung der Liebe, was geschieht mit ihm, wenn Vergebung erteilt wird? Ich möchte dazu folgende These vertreten23 : Vergebung ist die Art des Umgangs mit fremder Sünde oder Schuld, in der der Vergebende den Zorn selbst trgt und ertrgt, ihn mit sich selbst abmacht, in der sich also der Zorn nicht gegen den Schuldigen richtet, sondern vom Vergebenden selbst erlitten, ausgelitten wird. Abgesehen davon, dass diese These m. E. einige psychologische Plausibilität besitzt, lässt sich mit ihrer Hilfe zeigen, warum das Neue Testament so souverän und zugleich so todernst von Vergebung redet. Damit ließe sich vielleicht auch die längst erkannte Schwäche und Oberflächlichkeit der sogenannten subjektiven Versöhnungstheorien überwinden24, ohne dass man das Berechtigte dieser Theorie über Bord werfen müsste. Schließlich würde dieses Verständnis von Vergebung es erlauben, die 23 Wesentliche Elemente dieser These finden sich bereits bei G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, Tübingen 19893, S. 198. 24 Für eine erste Orientierung ist immer noch brauchbar G. Aulén, Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 8/1931, S. 501 – 538). Gründliche Information bietet jetzt G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. I/II, München 1984/86. Zur Kritik an den subjektiven Versöhnungstheorien siehe z. B. Tillich, Systematische Theologie (s. o. Anm. 11) Bd. II, S. 185 – 187.
Der Streit zwischen Gottes Liebe und Zorn im Tode Jesu Christi
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Aussagen über den Heilstod Christi zusammenzudenken mit dem Wissen darum, dass Gott, und zwar der liebende Gott, selbst das handelnde Subjekt des Heilsgeschehens ist. Davon soll nun die Rede sein. Ad b) In der christlichen Volksfrömmigkeit ist eine Vorstellung tief verankert, die am Neuen Testament keinen Anhalt hat, der aber leider durch die melanchthonischen Formulierungen aus der Confessio Augustana und der Apologie Vorschub geleistet wird: nämlich die Vorstellung von dem zornigen Gott, der durch das Opfer Jesu Christi versçhnt und so erst gnädig gestimmt wird. Ihren prägnanten Ausdruck findet diese Vorstellung im alten Quempas aus dem 9. bzw. 14. Jahrhundert: „Gottes Sohn ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn“ (EG 29). D. h. doch, dass nicht Gott seinen Sohn sandte, um die Welt mit sich zu versöhnen, sondern dass der Sohn – gewissermaßen von sich aus – (als) „Mensch geborn“ ist, und das Ergebnis seiner Menschwerdung und seines Leidens wäre die Versöhnung des Zornes des Vaters. Demgegenüber betont das Neue Testament einmütig: Gott selbst sendet aus Liebe und Barmherzigkeit Jesus Christus zu unserer Rettung in die Welt. Gott ist Subjekt, nicht Objekt des Heilsgeschehens. D. h. aber doch: Gott lässt in Jesus Christus seinen Zorn über alles gottlose Wesen so offenbar werden (Röm 1,18), dass die vernichtende Wirkung dieses Zornes nicht (verdientermaßen) dem Menschen aufgeladen, sondern (unverdientermaßen) von Gott in Christus selbst ertragen wird. Dass „Gott in Christus seiend“ die Welt mit sich versöhnte, indem er ihnen ihre Sünden nicht zurechnete, sondern den fr uns zur Sünde machte, der von keiner Sünde wusste (2 Kor 5,19 – 21), das ist die Botschaft des Neuen Testaments, die zeigt, dass Jesus Christus Gott nicht seine Gnade oder Liebe abringen oder abverdienen musste, sondern dass das Kommen, Leiden und Sterben Jesu Christi selbst Ausdruck dieser Gnade und Liebe Gottes ist. Dies ist freilich seinerseits gründlich missverstanden, wenn man es interpretiert als die Zeugung und/oder Sendung eines Sohnes, der nun von Gott für die Sünden der Menschen geopfert wird, so dass dem Vater Genugtuung widerfährt, sondern es ist so zu verstehen, dass Gott selbst in Jesus Christus Mensch wird und die zerstörerischen Folgen des Bösen auf sich nimmt und erleidet. Nicht Gott lässt seinen Sohn leiden, sondern Gott selbst leidet in seinem Sohn. c) So wäre also der Streit und Kampf zwischen Gottes Liebe und Zorn gegenüber dem Sünder ausgetragen und ausgestanden auf Golgatha? Ja, so ist es25 ! Aber das, was in Gott und durch Gott so ausgetragen und 25 So auch P. Althaus, Die christliche Wahrheit (s. o. Anm. 7), S. 288 und 477.
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ausgestanden ist, wird wirksam fr uns nicht mechanisch über unsere Herzen und Köpfe hinweg, sondern nur so, dass das Wort von der Versöhnung (verkündigt, gehört und) geglaubt wird (2 Kor 5,18 und 20; Röm 10,9 – 17). Gott geht so respektvoll mit seinem geschöpflichen Ebenbild um, dass er ihm nicht einmal aus Liebe Gewalt antut oder es gegen seinen Willen zum Heil zwingt. Und darum ist – obwohl der Streit zwischen Gottes Liebe und Zorn in Gott auf Golgatha entschieden ist – die Rede vom Zorn Gottes durch Christus nicht abgetan, erledigt und bloßer Gegenstand der Erinnerung, sondern die Errettung vor dem zukünftigen Zorn bleibt auch Gegenstand der Hoffnung (1 Thess 1,19), und die Möglichkeit des Bleibens unter dem Zorn Gottes ist Gegenstand der Warnung ( Joh 3,36). Damit betreten wir die vierte und vorletzte Stufe.
4. Gibt es einen ewigen Zorn Gottes? (Die eschatologische Stufe) 4.1 Sinn und Möglichkeit eschatologischer Aussagen Wenn wir das Gebiet der Eschatologie betreten, ist besondere Behutsamkeit angebracht. Nirgends ist die Gefahr größer, dass Theologen – so oder so – aus ihrer menschlichen Weisheit vorschnell auf Gottes Wege schließen. Und doch wäre es ebenso unverantwortlich, daraus abzuleiten, eschatologisches Schweigen sei eine theologische Tugend. Ein solches Schweigen ist darum nicht verantwortbar, weil es den Eindruck erwecken müsste, in Jesus Christus habe Gott doch noch nicht sein letztes und endgültiges Wort gesprochen; es könnten im Jüngsten Gericht Gottes vielleicht doch noch ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Das wäre das Ende jeder Heilsgewissheit, das wäre die Bestreitung der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus und damit wirklich „ein anderes Evangelium“. Von daher ergibt sich aber auch, wie angemessen eschatologisch zu reden ist: in beharrlicher Orientierung am Evangelium von Jesus Christus und in behutsamem Ausziehen der darin gegebenen Grundlinien. Was ergibt sich daraus für unser Thema?
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4.2 Jesus Christus als der kommende Weltenrichter Das Apostolische Glaubensbekenntnis bringt die daraus abzuleitende Erwartung auf die Formel, dass Jesus Christus kommen werde, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, dass dieser Gedanke schrecklich sein und eine ganze Kindheit und Jugend, vielleicht ein ganzes Leben vergiften kann. Und es ist E. Jüngel darin zuzustimmen, dass der Gerichtsgedanke nicht als Drohmittel (sei es zum Zweck der Disziplinierung oder der Bekehrung) eingesetzt werden darf.26 Aber drohen kann mit dem Gericht ja nur der, der es heraufführt und der der Herr des Gerichts ist. Gegen ein unsachgemäßes, vergiftendes, drohendes Reden vom Gericht hilft aber nicht dessen Verschweigen, Leugnen oder Verharmlosen, sondern nur das rechte, evangeliumsgemäße Reden vom Gericht27. Und dessen Zentralsatz lautet: Jesus Christus, der Retter und Heiland der Welt, ist der Richter der Welt28. Dieser Satz lässt sich zweifach akzentuieren: „Der Retter kommt auch noch als Richter“ oder: „Der als Richter Kommende ist niemand anderer als der Retter“. Beide Interpretationen sind berechtigt. Die erste sagt aber nur, was sowieso jeder unbewusst oder bewusst weiß: Es gibt – in welcher Form auch immer – ein letztes, unfehlbares, inappellables Gericht. Und dass es ein solches Gericht gibt, in dem alle Lge, Verstellung und Tuschung abgetan wird und die Wahrheit ans Licht kommt, ist schon an sich eine Wohltat 29. Aber die zentrale christliche Botschaft kommt erst zur Geltung in jener anderen Interpretation: Jesus Christus, der sich selbst für uns dahingegeben hat, wird auch der Richter
26 Vgl. E. Jüngel, Das jüngste Gericht als Akt der Gnade (1989), in: ders., Anfänger, Stuttgart 2003, S. 45 – 52. 27 Das ist nicht gegen, sondern mit Jüngel gesagt, richtet sich aber dagegen, dass bei Jüngel die Kategorie der „Warnung“ neben der der „Drohung“ nicht zur Sprache kommt. 28 Selbst in den vermutlich alten Überlieferungsschichten des Neuen Testaments, in denen der historische Jesus noch nicht mit dem zum Gericht kommenden Menschensohn identifiziert, sondern von diesem unterschieden wird (Lk 12,8 f.), ist doch die Pointe der Aussage, dass die Entscheidung des kommenden Menschensohnes davon abhängt, wie die Menschen sich Jesus gegenüber verhalten haben. Er ist also auch da schon die geheime Gerichtsinstanz. 29 Diesen ungewöhnlichen, aber wichtigen Gedanken hebt in Aufnahme Barthscher Aussagen (KD IV/1, S. 238) Jüngel (s. o. Anm. 26), S. 58, hervor.
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sein. Kann da im Jüngsten Gericht ein anderes Urteil erwartet werden als: Freispruch wegen erwiesener, aber vergebener Schuld30 ?
4.3 Doppelter Ausgang oder Allerlösung? Aber nun taucht ja die quälende Frage auf: Was ist mit den Menschen, die sich im Leben und Sterben dem Evangelium konsequent verschlossen haben, denen die Möglichkeit zu glauben nicht zuteil wurde oder die dieses Gnadengeschenk achtlos weggeworfen haben? Was ist mit den Unglubigen? Wenn ich das Neue Testament richtig verstehe, so ist zu sagen: Vergebung, die nicht angenommen wird, an die der Sünder nicht glaubt, bleibt unwirksam; und wer sich selbst außerhalb der Vergebung stellt, indem er sich mit seiner Sünde (also mit seiner Feindschaft gegen die Liebe Gottes) identifiziert, der stellt sich dorthin, wo ihn nur Gottes Zorn treffen kann. Einen Erlösungsautomatismus im Sinne einer notwendigen Allerlösung31 (Apokatastasis panton) werden wir verantwortlicherweise nicht theologisch lehren und darum auch nicht kirchlich verkndigen dürfen – nicht etwa, weil das moralisch oder religiös „gefährlich“ wäre, sondern weil uns eine solche Aussage über Gottes Gericht nicht zusteht. Wir sind sicher gut beraten, wenn wir die in allen Überlieferungsschichten des Neuen Testaments anzutreffende Doppelaussage ernst nehmen: a) Gottes Heilswille in Jesus Christus ist universal (Mk 10,45; Joh 3,17; Röm 11,32; 1 Tim 2,4; 1 Joh 2,2) und b) nur den an Jesus Christus Glaubenden wird das Heil zuteil (Mk 16,16; Joh 3,18 und 36; Röm 11,20 – 23; 2 Thess 2,12; 1 Petr 2,8; 4,17; Hebr 4,2). Die erste dieser beiden Aussagen repräsentiert das reformatorische „sola gratia“, die zweite das „sola fide“. Und nun entsteht offenbar zwischen diesen beiden Aussagen dann ein Konflikt, wenn nicht alle Menschen an Jesus Christus glauben. Wird dann Gottes universaler Heilswille unerfüllt bleiben? Oder wird die Bedingung des Glaubens 30 Diesen Gedanken habe ich vertreten in dem Aufsatz: Hoffnung über den Tod hinaus, in: DtPfrBl 87/1987, Sp. 448 f.). Ähnlich formuliert Jüngel, a. a. O., S. 57 f. 31 Diesen Begriff hat J. Ch. Janowski zu recht als bessere Alternative gegenüber dem missverständlichen Begriff „Allversöhnung“ in die Diskussion gebracht. Siehe dazu: J. Ch. Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen 2000.
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entfallen? Oder wird Gottes Liebe und Weisheit Wege finden, wie – auf eine uns unvorstellbare Weise – schließlich und endlich alle Menschen zum Glauben an Jesus Christus geführt werden? Ich wüsste nicht, mit welchen theologischen Mitteln ich diese Fragen beantworten und also die Aporie auflösen sollte. Ich sehe aber auch gar nicht, dass das meine oder irgendeines Menschen Aufgabe ist. Wenn wir beharrlich, verständlich und einladend die in Joh 3,16 exemplarisch zusammengefasste Botschaft verkündigen, dann tun wir ganz gewiss auch der Welt einen besseren Dienst, als indem wir darüber nachdenken, wie voll oder leer die Hölle sein wird oder mit welchem Härtegrad an Unglauben jemand im Jüngsten Gericht noch „durchkommen“ kann.
4.4 Grundsätze für die eschatologische Verkündigung Vielleicht ist es aber zulässig und ratsam, im Blick auf die eschatologische Verkündigung daraus wenigstens einige Grundstze abzuleiten: a) Es ist gut, wenn wir auch im Blick auf das Jüngste Gericht davon ausgehen, dass Gott unendlich weiser, gerechter und barmherziger ist, als wir es selbst in unseren besten Augenblicken sind. Gott braucht keinen Nachhilfeunterricht von uns in Sachen eschatologischer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. b) Die Aussagen der Bibel und der Bekenntnisschriften, die scheinbar definitiv aussagen, dass es ewig Verdammte geben werde32, sind mit großer Zurückhaltung zu behandeln. Sie können keinesfalls von mehr sprechen als von einer schrecklichen Mçglichkeit. Zu behaupten, es gebe mit Sicherheit Menschen, für die diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werde, steht keinem von uns zu. Die Ausschmückung ewiger Qualen schließlich ist kein Zeichen theologischer Reife, sondern offenbart einen Sadismus, der von Gottes Liebe noch nicht ergriffen, geläutert und geheilt worden ist. c) Weil in der Frage nach dem eschatologischen Konflikt zwischen Apokatastasis und doppeltem Ausgang Gottes Gnade (sola gratia) unserem von Gottes Gnade abhngigen Glauben (sola fide) gegenübersteht, haben wir gute theologische Gründe, darauf zu hoffen, dass Gottes Gnade nicht nur das erste, sondern das universale letzte Wort haben wird. Das kann nicht mehr sein als eine begrndete Hoffnung – es darf aber 32 Mt 25,41 und 46; Apk 20,10 – 15; 21,8; CA 2 und 17.
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auch nicht weniger sein, wenn wir uns nicht als theologische Schalksknechte gebärden wollen33. d) Die letzte eschatologische Offenheit, die hier trotz allem bleibt, ist nicht taktisch, sondern sachlich begründet. Sie ist als solche auch homiletisch zu vertreten und bietet zugleich den notwendigen seelsorglichen Spielraum, um Selbstsichere zu warnen und Angefochtene zu trösten. Dieser Trost ist besonders dort nötig, wo Menschen von sich glauben oder befürchten, ein „Gefäß des Zornes“ zu sein, also unter Gottes ewiger Verwerfung zu stehen. Damit betreten wir die letzte und tiefste Problemebene.
5. Gibt es Menschen, die durch Gottes Zorn von Ewigkeit her verworfen sind? (Die Stufe der Prädestinations- und Vorsehungslehre) 5.1 Gottes Zorn als mögliche Ursache der Verwerfung? Im Alten Testament taucht immer wieder einmal der Gedanke auf, Gottes Zorn sei nicht bloß Reaktion seiner heiligen Liebe auf die Sünde, sondern dieser Zorn sei auf eine geheimnisvolle, fast dämonisch zu nennende Weise selbst die Ursache der menschlichen Sünde, um dann angesichts dieser Sünde um so heftiger zu entbrennen. Klassisches Beispiel dafür ist 2 Sam 24, 1, wo Jahwes Zorn gegen Israel entbrennt, so dass er David zur Volkszählung reizt, für die dieser und das Volk dann von Gott bestraft werden34. Im Neuen Testament konzentriert sich, d. h. reduziert und verschärft sich diese Art der Rede vom Zorn Gottes auf einen Punkt, nämlich zu der Frage: Gibt es Menschen (z. B. Judas oder das Volk Israel), die von Gott dazu bestimmt sind, Gefäße des Zornes zu werden, also von seinem Heilsratschluss ausgeschlossen sind
33 In Anspielung auf das Gleichnis von Mt 18,21 – 35, das ja auch für Theologen gilt. 34 Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören wohl Jahwes „Überfall“ auf Jakob (Gen 32,25 ff.) und auf Mose (Ex 4,24 f.) oder die Erzählungen von Jahwes vernichtendem Zorn gegen alles, was – selbst in bester Absicht – seiner Heiligkeit zu nahe kommt (Ex 19,9 – 25; 20,18 – 21; Num 1,53; 2 Sam 6,6 f.), oder die Klagen des Gerechten, den Gottes Zorn verfolgt (Ps 88,16 f.; Hi 16,9; 19,11).
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und denen darum die Möglichkeit zu glauben von Gott her verschlossen ist? 5.2 Die Verschärfung des Theodizeeproblems Wie Luther am Ende von „De servo arbitrio“ eindrucksvoll zeigt, ist diese Frage der eigentliche und tiefste Stachel des Theodizeeproblems35. Luther meint zu sehen, dass das irdische Wohlergehen der Gottlosen und das Unglück der Frommen, die dem natürlichen Licht der Vernunft so ungerecht erscheinen, im Licht der Gnade ertragen werden können aufgrund der Gewissheit, dass es ein ewiges Leben gibt, in dem alles, was hier nicht belohnt oder bestraft wurde, seine gerechte Belohnung oder Bestrafung empfängt. Wie aber, fragt Luther weiter, sollen wir die Frage beantworten, mit welchem Recht Gott den verdammen kann, dem er den Glauben vorenthält, der aus seiner eigenen Kraft doch gar nichts anderes tun kann als sündigen und schuldig werden?
5.3 Sind Nicht-Glaubende von Gott verworfen? Damit taucht das Problem auf, ob die Nicht-Glaubenden etwa zu betrachten sind als von Gott (von Ewigkeit her) Verworfene. Dieser Auffassung scheinen 1 Thess 5,9, vor allem aber Röm 9,22 Vorschub zu leisten, wenn es dort heißt: „Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren …“. Aber der Text sagt nur scheinbar, d. h. bei oberflächlicher Lektüre, dass Gott aus seinem Zorn heraus Menschen zu Gefäßen seines Zornes und damit zum Verderben bestimmt habe. Er sagt vielmehr, dass Gott die Gefäße des Zorns in großer Geduld ertragen habe. Aber die Anschauung einer ewigen Prädestination zur Verdammnis ergibt sich (zumindest scheinbar) aus den neutestamentlichen Aussagen über die Erwählung (Mt 20, 16 par 22,14; Röm 8,28 ff.; 1 Petr 2,9) sowie aus den reformatorischen Aussagen über den Glauben als Werk Gottes in uns36 – wenn man sie umkehrt und aus der Erwählungsaussage eine korrespondierende Ver35 Sie dazu WA 18, 784 – 786/LDStA 1, 652,29 – 657,13. 36 So z. B. in Luthers Vorrede zum Römerbrief: „Aber Glaube ist ein göttlich werck in uns, das uns wandelt und new gebirt aus Gott“ (WA DB 7, 11,6 f.).
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werfungsaussage ableitet. Diese Ableitung hat folgende logische Form: Wenn Gott bestimmte Menschen nicht erwählt hat, um in ihnen Glauben zu wirken, wenn dieser Unglaube aber zugleich die Ursache für Gottes Zorn ist, dann ist doch Gottes Nicht-Erwählen oder sein Verwerfen selbst die Ursache dieses Zornes. Das ist oder wäre ein echter Teufelskreis. Kann er, wie kann er durchbrochen werden?
5.4 Ein Lösungsansatz aus der Konkordienformel Auch hier ist wieder größte Zurückhaltung geboten, wenn wir nicht der Gefahr erliegen wollen, uns in Gottes Geheimnisse hineinzudrängen, um Gottes verborgenes Wesen zu enträtseln. Größte Behutsamkeit und beharrliche Orientierung am Evangelium sind darum auch hier angezeigt. Aber von daher lässt sich abschließend doch viererlei sagen: a) Wie gezeigt ist selbst in Röm 9,22, obwohl der Zusammenhang mit der vorangegangenen Aussage vom Töpfer es nahelegen würde, nicht gesagt, dass Gott Israel zum Gefäß des Zorns gemacht oder vorherbestimmt habe – geschweige denn zu einem Gefäß ewigen Zorns. Gesagt wird vielmehr, dass Gott diese Gefäße, die in der Tat zum Zorn und Verderben bestimmt sind, in großer Geduld ertragen habe. Die Konkordienformel bemerkt dazu m. E. ganz zu Recht: „Da … der Apostel deutlich sagt, Gott habe ,die Gefäß des Zorns mit großer Geduld getragen’, und saget nicht, er habe sie zu Gefäß des Zorns gemacht; dann da es sein Wille gewesen wäre, hätte er keiner großen Geduld darzu bedorfet. Dass sie aber bereitet sein zur Verdammnus, daran seind … die Menschen selbst, und nicht Gott schuldig“37. Von dem Gott, der will, dass allen Menschen geholfen werde, kann nicht gesagt werden, er habe einige von diesem Heilswillen ausgeschlossen und von Ewigkeit her dazu bestimmt, Objekte seines Zorns zu sein. b) Mit der Konkordienformel ist weiter zu sagen, dass auch das Böse unter Gottes Vorsehung (praescientia) geschieht und steht, aber dass es nicht durch Gottes ewige Wahl (praedestinatio) geschieht. Wohl „ordnet“ Gott auch das Böse. Er gebraucht und erträgt die Gefäße des Zorns, und zwar in großer Geduld. Ursache des Bösen ist aber nicht Gottes
37 SD XI (BSLK, 1086,80).
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Wille, sondern Ursache ist der ihm widerstehende Unwille oder Widerwille der Geschöpfe38. c) Es gibt – nach lutherischem Schriftverständnis – eine Prädestination Gottes nur zum Heil, und sie gilt in Jesus Christus grundsätzlich allen Menschen, freilich nicht so, dass sie unwiderstehlich oder unverlierbar wäre39. Hier zeigt sich erneut: Gottes Zorn ist kein zweites, unabhängiges oder selbständiges Prinzip neben seiner Liebe, sondern wirklich nur deren Qualifizierung als heilige, göttliche, gemeinschaftssuchende Liebe, und auch insofern gehört der Zorn notwendig zur Liebe Gottes hinzu. d) Aber was ist, wenn diese Gewissheit sich nicht einstellen will? Wenn ein Mensch trotzdem von dem Gedanken gequält wird, er sei von Gott verworfen? In seiner Römerbrief-Vorlesung (zu Röm 9) hat Luther sich diesen Fragen auf eine zugleich eindrucksvolle und ungeheuer kühne Weise gestellt. Er kann hier so weit gehen, dass er vom reifen Christen erwartet, er solle sich aus Respekt vor der unerforschlichen Majestät Gottes ernsthaft auf die Möglichkeit einstellen, von Gott verworfen zu sein. Und dann? Dann, sagt Luther, sollen wir uns – wenn es Gott so gefällt – in seinen Willen fügen, also seinen Willen als gerecht annehmen40. Also mystische „resignatio ad infernum“, ein sich sogar in die Hölle schicken, wenn es Gottes Wille ist? Ja, und doch zugleich etwas ganz anderes. Es geht um die Einsicht, dass wahre Seligkeit in nichts anderem besteht als darin, sich dem Willen Gottes bedingungslos und vertrauensvoll anheimzugeben, und sei es, indem wir die Hölle ertragen, wenn dies Gottes Wille ist41.
38 So BSLK, 817,3 f. Ebenso W. Elert, Der christliche Glaube, Berlin 1940, S. 563: „Die Verstockung ist Strafe und als Strafe gegenwärtiger Akt Gottes. Nirgends wird sie auf ein ewiges Dekret zurückgeführt … Und wer Gott auf ein vorzeitlich gefasstes Verstockungs- und Verwerfungsdekret festlegen möchte, der bezweifelt, dass Gott jeder seiner Kreaturen in dem geschichtlichen Augenblick, wo er ihr begegnet, in unbedingter Freiheit gegenübersteht. Mit diesem gottlosen Zweifel hat evangelische Theologie nichts zu schaffen.“ 39 BSLK, 817,5 und 189,12. 40 WA 56, 391,9 f.: „Libere sese offerunt in omnem Voluntatem Dei, etiam ad infernum et mortem eternaliter“ (dt. „Solche fügen sich freiwillig in jeglichen Willen Gottes, auch auf ewig in die Hölle und den Tod“). Vgl. hierzu und zum Folgenden K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte Bd. I, Tübingen 19487, S. 111 – 154, bes. S. 148 – 154. 41 „Cum sit hoc esse Beatum, Voluntatem Dei et gloriam eius in omnibus Velle et suum nihil optare, Neque hic neque in futuro“ (WA 56, 391,4 – 6) (dt. „Da das
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Aber dieser abgründige Gedanke bleibt nicht Luthers letztes Wort, kann es nicht bleiben. Denn wenn die Ergebung in den Willen Gottes (sogar in den Willen Gottes, der uns in die Hölle verdammt) wahre und höchste Seligkeit ist, kann dann eigentlich die Hölle noch Hölle – Ort der Unseligkeit und Verdammnis – sein? Und so stellt sich für den Theologen Luther ebenso wie für den angefochtenen, die resignatio bis zum bittersten Grund durchleidenden Menschen Luther eine ganz unerwartete befreiende Erkenntnis ein: „Doch, wie sie sich selbst dem Willen Gottes so vorbehaltlos gleich gestalten, so ist es unmöglich, dass sie in der Hölle blieben. Weil es unmöglich ist, dass außerhalb von Gott bleibt, wer sich so vollständig in den Willen Gottes hineinbegibt. Weil er will, was Gott will, gefällt er Gott; gefällt er, so ist er geliebt; ist er geliebt, so ist er selig“42. Das ist kein theologischer Taschenspielertrick, mittels dessen die Hölle zum Ort der Seligkeit umdefiniert würde, sondern es ist die tiefste und zugleich hoffnungsvollste Weise, wie Gottes Zorn erlitten, angenommen und gerade so als Gestalt seiner Liebe erfahren werden kann. Wer so radikal den Zorn Gottes durchlebt, durchlitten und durchdacht hat und gerade darin des von Gott bereiteten Heiles gewiss geworden ist, der kann dann mit dem Apostel Paulus sprechen: „Ich bin gewiss, dass nichts (wirklich nichts, nicht einmal Gottes verwerfender Zorn, wenn es einen solchen gäbe) mich scheiden kann von der Liebe Gottes“ (Röm 8,38 f.). Ich bin mir allerdings auch gewiss, dass solche Gewissheit nicht konservierbar ist, nicht ein für allemal errungen werden kann, nicht zu dem gehört, was man „Verfügungswissen“ nennt, sondern uns nur im immer neuen Ringen, Leiden, Fragen, Suchen, Denken zu-fallen – oder besser gesagt: zu-wachsen – kann. Insofern gilt auch von solchen tiefen Einsichten, wie wir sie einem Martin Luther verdanken, das Wort des Apostels Paulus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (l Kor 13,12).
glückselig zu sein heißt: den Willen Gottes und die Ehre Gottes in allen Dingen zu wollen und nichts Eigenes wünschen, weder hier noch in der Zukunft“). 42 WA 56, 391,12 – 16.
Leiden als Fels des Atheismus? Analysen und Reflexionen zum Philosophengespräch in „Dantons Tod“ 1. Ortsbestimmung Das Verständnis der „Welt als Schöpfung“1 war vermutlich nie selbstverständlich, unter neuzeitlichen Lebensbedingungen wird seine Plausibilität öffentlich in Frage gestellt, ja bestritten. Dabei scheinen es vor allem zwei Begründungszusammenhänge zu sein, von denen aus diese Bestreitung erfolgt: einerseits der ungeheuere2 Fortschritt naturwissenschaftlicher Welterklärung; andererseits die umfassendere und geschärftere Wahrnehmung des Übels bzw. Leidens in der Welt. Gegen beide Erklärungsversuche für den Plausibilitätsschwund des Schöpfungsglaubens lassen sich freilich auch Einwände geltend machen: Was den Aufschwung der Naturwissenschaften betrifft, wird immer wieder zurecht darauf hingewiesen3, dass die naturwissenschaftliche Forschungsaktivität nicht nur eine ihrer Wurzeln im biblischen Schöpfungsglauben hat,4 sondern dass sie selbst auch zur Quelle einer ausgedehnten und intensiven Schöpfungsfrömmigkeit und -theologie ge1 2 3
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E. Wölfel, Welt als Schöpfung. Zu den Fundamentalsätzen der christlichen Schöpfungslehre heute (ThExh Nr. 212), München 1981. Ich wähle bewusst dieses doppeldeutige Adjektiv, das dem Gefühl der Bewunderung und der Bedrohung gleichermaßen Ausdruck verleiht. Siehe hierzu etwa die Aussage von G. Süßmann im Art. „Naturwissenschaft und Christentum“, in RGG3, Bd. IV, Sp. 1377: „Die meisten Begründer der neuzeitlichen N(aturwissenschaft) hatten ein ausgesprochen positives Verhältnis zum Chr(istentum) … Um 1700 war die Auffassung weit verbreitet, die n(aturwissenschaftlich)e Forschung sei ähnlich wie die Schriftauslegung Gottesdienst: Die N(aturwissenschaft) studiert in der ,biblia naturae‘ die Offenbarung Gottes in der Schöpfung, wie die Theologie in der Hl. Schrift die Offenbarung Gottes in der Geschichte studiert … „. Vgl. auch E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. I, Gütersloh 19755, S. 170 – 174. Dass dies auch schon für Luther gilt, hat E. Wölfel, Luther und die Skepsis. Eine Studie zur Kohelet-Exegese Luthers, München 1958, S. 212 gezeigt: „Hier regt sich nichts anderes, als der auf die Erforschung der Welt und Menschheit gerichtete empirische Wissenschaftsbegriff der Neuzeit“.
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worden ist5. Neuzeitliche Naturwissenschaft hat – und zwar nicht nur in ihren Anfängen – den Schöpfungsglauben weniger in Frage gestellt als vielmehr bestätigt und vertieft. Die Ambivalenz von Infragestellung und Bestätigung lässt sich verdeutlichen anhand des Begriffs „naturwissenschaftliche Welterklärung“. Er kann genommen werden als Programm für eine Letzterklärung der Welt aus naturwissenschaftlichen Prinzipien, das – jedenfalls seiner Intention nach – jeden Rekurs auf transzendente Instanzen überflüssig macht bzw. ausschließt; oder er steht für das Unternehmen einer Welterklärung, die sich bewusst auf die innerweltlichen und als solche naturwissenschaftlich fassbaren Zusammenhänge beschränkt, die Möglichkeit einer transzendenten Fundierung dieser Zusammenhänge jedoch offen lässt oder sogar ausdrücklich als philosophische bzw. theologische Frage formuliert. Eine methodologisch reflektierte Naturwissenschaft hat gute Gründe für eine solche – nicht taktische, sondern prinzipielle – Selbstbegrenzung. Was andererseits die in der Theodizeefrage zum Ausdruck kommende umfassendere und geschärftere Wahrnehmung des Übels bzw. Leidens in der Welt betrifft, lässt sich unschwer zeigen, dass es sich um kein spezifisch neuzeitliches Phänomen handelt. Nicht nur der Verweis auf die biblischen Klagepsalmen oder auf das Hiobbuch, sondern zahllose weitere Belege für vorneuzeitliche Leidenswahrnehmung sind dazu angetan, zumindest die Rede von der geschrfteren Wahrnehmung des Übels bzw. Leidens in der Welt zu relativieren. Zudem ist auch hier wieder ein durchaus ambivalenter Befund zu konstatieren: Die Neuzeit bringt ja nicht nur Leibniz’ Essais de Théodicée6 hervor, sondern auch Voltaires Candide7; nicht nur Kants Schrift „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“8, sondern auch Hegels Inthronisierung der Philosophie als „wahrhaftige Theodizee“9. 5 6 7 8 9
Auf seine Weise hat K. Barth diese Schöpfungsfrömmigkeit ausführlich dokumentiert und gewürdigt in KD III/l, S. 454 – 474. G. W. Leibniz, Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de I’homme et l’origene du mal (1710), in: ders., Philosophische Schriften, Bd. II, 1. und 2. Hälfte, hg. und übs. von H. Herring, Darmstadt 1985. F. M. Arouet-Voltaire, Candide ou l’optimisme (1759; dt. 1776), Genf 1990. I. Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791), in: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin und Leipzig 1923, S. 253 – 271. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1805/6; 1816/7), in: Werke in zwanzig Bänden, Band 20, Frankfurt/Main 1971, S. 455. Die Philosophie ist für Hegel die wahrhafte Theodizee, weil und sofern
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Und doch ist nicht zu bestreiten, dass die Neuzeit im Hinblick auf das Verständnis der Welt als Schöpfung einen neuen Befund erbringt, der die Überzeugungskraft dieses Verständnisses in Frage stellt. Wenn ich es recht sehe, besteht dieser neue Befund in den – partiell gezogenen – atheistischen Konsequenzen aus der naturwissenschaftlichen Welterklärung und/oder der umfassenderen und geschärfteren Wahrnehmung des Übels bzw. Leidens in der Welt. Als eines der frühesten Dokumente hierfür kann das sogenannte „Philosophengespräch“ in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“10 aus dem Jahre 1835 gelten, in dem der 22jährige medizinisch-naturwissenschaftlich gebildete junge Schriftsteller seine literarischen Figuren im Medium eines Diskurses einen Beweis für die Nicht-Existenz Gottes führen lässt, also sozusagen einen Gottesbeweis mit umgekehrtem Vorzeichen11. Die Bedeutung dieses Textstücks für den Autor zeigt sich u. a. gerade an der vergleichsweise isolierten Stellung des Philosophengesprächs im Aufbau des Dramas. Büchner benötigt diese Szene nicht um des Handlungsablaufs willen, sondern er fügt sie um ihrer selbst willen ein12. Trotzdem wird man vorsichtig sein müssen, die im Text vertretene atheistische Position einfach mit Büchners eigener Auffassung zu identifizieren13. Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, den
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sie die „Versöhnung des Geistes“ ist, „und zwar des Geistes, der sich in seiner Freiheit und in dem Reichtum seiner Wirklichkeit erfasst hat“ (a.a.O.). G. Büchner, Dantons Tod. Ein Drama, in: G. Büchner, Sämtliche Werke, hg. von P. Stapf, Wiesbaden o. J., S. 48 – 50. Diese Eigenart des Textes ist einer der Gründe, warum ich ihn bei seiner Entstehung als Sujet für die Festschrift zu Ehren von E. Wölfel gewählt und veröffentlicht habe, hat dieser sich doch (in enger Verbindung mit seinem frühverstorbenen Freund und Kollegen H. G. Hubbeling) auf höchst anspruchsvollem Niveau mit dem Thema „Gottesbeweise“ beschäftigt. Vgl. vor allem E. Wölfel, Was heißt: ,Gott existiert’? Zum Sinn des Wortes ,Gott’ und zur Bedeutung der Lehre vom Gottesbeweis, in: Das Wort und die Wörter. FS für G. Friedrich, hg. v. H. Balz und S. Schulz, Stuttgart 1973, S. 181 – 191, sowie ders., Fides quaerens Intellectum. On the range of a principle – Once and Now, in: Belief in God and Intellectual Honesty, hg. v. R. Veldhuis, A. F. Sanders und H. G. Siebrand, Assen (Maastricht) 1990, S. 59 – 81. So auch J. Kahl (unter Verweis auf ältere Literatur): „Büchner verleiht dem Philosophengespräch bereits durch seine äußere Anordnung inhaltliches Gewicht. Die Szene besitzt keinerlei dramaturgische Notwendigkeit im sonstigen Handlungsgeschehen“ („Der Fels des Atheismus“. Epikurs und Georg Büchners Kritik an der Theodizee, in: Georg Büchner Jahrbuch 2/1982, S. 112). Vor einer solchen Identifikation warnt W. Wittkowski, Georg Büchner. Persönlichkeit – Weltbild – Werk, Heidelberg 1978, S. 217. Demgegenüber tritt Kahl (a. a. O., S. 112 ff.) für sie ein. Die Parallelen zum Philosophengespräch,
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argumentativen Gehalt und die Bedeutung des Philosophengesprächs zu analysieren, so nicht mit der Absicht, einen Beitrag zur Büchner-Forschung zu leisten, sondern mit dem Interesse, die Tragfähigkeit und das Gewicht des hier exemplarisch durchgeführten Gedankenganges zu überprüfen und die darin enthaltene theologische Herausforderung wahrzunehmen. Dazu sei zunächst der Text dieser Szene im vollen Wortlaut wiedergegeben14.
2. Der Text des Philosophengesprächs Dantons Tod, Dritter Akt. Das Luxembourg. Ein Saal mit Gefangenen (Chaumette, Payne, Mercier, Hrault-Schelles und andere Gefangene) Chaumette zupft Payne am rmel. Hören Sie, Payne, es könnte doch so sein, vorhin überkam es mich so, ich habe heute Kopfweh, helfen Sie mir ein wenig mit Ihren Schlüssen, es ist mir ganz unheimlich zumut. 5 Payne. So komm, Philosoph Anaxagoras, ich will dich katechisieren – Es gibt keinen Gott, denn: Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht. Hat er sie nicht geschaffen, so hat die Welt ihren Grund in sich, und es gibt keinen Gott, da Gott nur dadurch Gott wird, dass er den Grund alles Seins enthält. Nun 10 kann aber Gott die Welt nicht geschaffen haben; denn entweder ist die Schöpfung ewig wie Gott, oder sie hat einen Anfang. Ist letzteres der Fall, so muss Gott sie zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen haben, Gott muss also, nachdem er eine Ewigkeit geruht, einmal tätig geworden sein, muss also einmal eine
die sich in Büchners Spinoza-Notizen finden (s. u. Anm. 30) sprechen für eine große Nähe zwischen Büchners und „Paynes“ Position – jedenfalls zur damaligen Zeit. Büchners letztes Wort zur Gottesfrage und zur Religion war dies aber offenbar nicht. Vgl. G. Büchner, Sämtliche Werke (s. o. Anm. 10), S. 488. 14 Wir zitieren nach der in Anm. 10 genannten Ausgabe, die von der ältesten Druckfassung (Frankfurt 1835) und vom Text der Hamburger Ausgabe (G. Büchner, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Hamburg o. J. S. 47 – 49), abgesehen von einer Ausnahme (s. u. Anm. 15), nur in orthographischer Hinsicht abweicht. Die in Klammern gesetzten Zahlenangaben im folgenden Text beziehen sich stets auf die Zeilen des zitierten Philosophengesprächs.
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15 Veränderung in sich erlitten haben, die den Begriff Zeit auf ihn anwenden lässt, was beides gegen das Wesen Gottes streitet. Gott kann also die Welt nicht geschaffen haben. Da wir nun aber sehr deutlich wissen, dass die Welt oder dass unser Ich wenigstens vorhanden ist, und dass sie dem Vorhergehenden nach also auch ihren 20 Grund in sich oder in etwas haben muss, das nicht Gott ist, so kann es keinen Gott geben. Quod erat demonstrandum. Chaumette. Ei wahrhaftig, das gibt mir wieder Licht; ich danke, danke! Mercier. Halten Sie Payne! Wenn aber die Schöpfung ewig ist? 25 Payne. Dann ist sie schon keine Schöpfung mehr, dann ist sie eins mit Gott oder ein Attribut desselben, wie Spinoza sagt; dann ist Gott in allem, in Ihnen, Wertester, im Philosoph Anaxagoras und in mir. Das wäre so übel nicht; aber Sie müssen mir zugestehen, dass es gerade nicht viel um die himmlische Majestät ist, 30 wenn der liebe Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Tripper haben, lebendig begraben werden oder wenigstens die sehr unangenehmen Vorstellungen davon haben kann. Mercier. Aber eine Ursache muss doch da sein. Payne. Wer leugnet dies? Aber wer sagt Ihnen denn, dass diese 35 Ursache das sei, was wir uns als Gott, d. h. als das Vollkommene15 denken? Halten Sie die Welt für vollkommen? Mercier. Nein. Payne. Wie wollen Sie denn aus einer unvollkommenen Wirkung auf eine vollkommene Ursache schließen? – Voltaire wagte es 40 ebensowenig mit Gott als mit den Königen zu verderben, deswegen tat er es. Wer einmal nichts hat als Verstand und ihn nicht einmal konsequent zu gebrauchen weiß oder wagt, ist ein Stümper. Mercier. Ich frage dagegen: kann eine vollkommne Ursache eine vollkommne Wirkung haben, d. h. kann etwas Vollkomm45 nes was Vollkommnes schaffen? Ist das nicht unmöglich, weil das Geschaffne doch nie seinen Grund in sich haben kann, was doch, wie Sie sagten, zur Vollkommenheit gehört? Chaumette. Schweigen Sie! Schweigen Sie! Payne. Beruhige dich, Philosoph! – Sie haben recht; aber muss
15 In der Druckfassung von 1835 heißt es stattdessen „Vollkommenste“ (a. a. O., S. 91). Diese Lesart bietet auch der auszugsweise Textabdruck im „Phönix“ Jg. 1835, Heft vom 30. März, S.302.
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50 denn Gott einmal schaffen, kann er nur was Unvollkommnes schaffen, so lässt er es gescheuter ganz bleiben. Ists nicht sehr menschlich, uns Gott nur als schaffend denken zu können? Weil wir uns immer regen und schütteln müssen, um uns nur immer sagen zu können: wir sind! müssen wir Gott auch dies elende Be55 dürfnis andichten? – Müssen wir, wenn sich unser Geist in das Wesen einer harmonisch in sich ruhenden, ewigen Seligkeit versenkt, gleich annehmen, sie müsse die Finger ausstrecken und über Tisch Brotmännchen kneten? aus überschwenglichem Liebesbedürfnis, wie wir uns ganz geheimnisvoll in die Ohren sagen. 60 Müssen wir das alles, bloß um uns zu Göttersöhnen zu machen? Ich nehme mit einem geringern Vater vorlieb; wenigstens werd ich ihm nicht nachsagen können, dass er mich unter seinem Stande in Schweineställen oder auf den Galeeren habe erziehen lassen. Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott de65 monstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke es dir, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, 70 macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten. Mercier. Und die Moral? Payne. Erst beweist ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott! – Was wollt ihr denn mit eurer Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was Gutes gibt, und habe 75 deswegen doch nicht nötig, meine Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur gemäß; was ihr angemessen, ist für mich gut und ich tue es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt. Sie können, wie man so sagt, tugendhaft blei80 ben und sich gegen das sogenannte Laster wehren, ohne deswegen ihre Gegner verachten zu müssen, was ein gar trauriges Gefühl ist. Chaumette. Wahr, sehr wahr! Herault. O Philosoph Anaxagoras, man könnte aber auch sagen: damit Gott alles sei, müsse er auch sein eignes Gegenteil sein,
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85 d. h. vollkommen und unvollkommen, bös und gut, selig und leidend; das Resultat freilich würde gleich Null sein, es würde sich gegenseitig heben, wir kämen zum Nichts. – Freue dich, du kömmst glücklich durch; du kannst ganz ruhig in Madame Momoro das Meisterstück der Natur anbeten, wenigstens hat sie dir 90 die Rosenkränze dazu in den Leisten gelassen. Chaumette. Ich danke Ihnen verbindlichst, meine Herren! Ab. Payne. Er traut noch nicht, er wird sich zu guter Letzt noch die Ölung geben, die Füße nach Mekka zu legen und sich beschneiden lassen, um ja keinen Weg zu verfehlen.
3. Analyse des Philosophengesprächs Die These, die Payne16 zu beweisen ankündigt, wird in dem (im ganzen Drama als einzigem gesperrt gedruckten) Satz formuliert: „Es gibt keinen Gott“ (6). Nach Abschluss des ersten Beweisganges behauptet Payne freilich implizit, noch mehr bewiesen zu haben, nämlich: Es „kann … keinen Gott geben“ (21). Demzufolge wäre nicht nur die Nicht-Existenz Gottes, sondern sogar die Unmöglichkeit der Existenz, also die notwendige Nicht-Existenz Gottes bewiesen. Will man die Schlüssigkeit und Bedeutung dieses Beweisganges analysieren, so empfiehlt es sich, nicht nur die einzelnen Schlussfolgerungen und die verwendeten Prämissen herauszupräparieren, sondern sich zunächst die angewandte Argumentationsstrategie zu vergegenwärtigen.
16 Pate steht hierfür der Anglo-Amerikaner Thomas Paine (1737 – 1809), der in den nordamerikanischen Kolonien dem Unabhängigkeitsgedanken zum Durchbruch verholfen hatte, später französischer Staatsbürger (Verleihung des Titels „französischer Bürger“ am 26. 8. 1792) und Abgeordneter wurde. 1793 – 94 war Paine (auf Betreiben Robespierres) im Luxembourg in Haft. Danach veröffentlichte er sein im Geist des Deismus verfasstes Werk „The Age of Reason“ (2 Bde. 1794 – 95; dt.: Das Zeitalter der Vernunft, 1794 – 96). Zu Recht weisen A. Behrmann und J. Wohlleben (Büchner. Dantons Tod. Eine Dramenanalyse, Stuttgart 1980, S. 110) darauf hin, dass Büchners Inanspruchnahme des Deisten Paine für die Sache des Atheismus „nicht historisch“ sei: „vermutlich sollte der Atheismus durch eine Person von geschichtlicher Bedeutung, die zudem als philosophischer Schriftsteller einen Namen hatte, vertreten werden“.
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3.1 Die Argumentationsstrategie des Beweisganges Payne steht mit seinem Beweisvorhaben vor einem schwierigen grundsätzlichen Problem: Wie kann überhaupt eine negierte ExistenzAussage bewiesen werden? Setzt nicht die Behauptung: „Es gibt kein(e/ n) …“, wenn sie nicht durch Zeit- und Ortsangaben eingeschränkt ist, ein prinzipiell unbegrenztes Wissen über alles, was es im Universum zu irgendeinem Zeitpunkt oder an irgendeinem Ort gibt, voraus, das keinem Menschen und auch nicht der Menschheit als ganzer zur Verfügung steht? Das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Freilich läuft dieser Einwand im Blick auf den negativen Gottesbeweis auf eine leicht nachvollziehbare Weise ins Leere. Denn es fällt außerordentlich schwer, ja ist letztlich unmöglich, „Gott“ unter dasjenige zu subsumieren, „was es im Universum zu irgendeinem Zeitpunkt oder an irgendeinem Ort gibt“. Und selbst wenn man formulierte, Gott sei eben dasjenige Wesen, das es im Universum immer und überall gebe, so bliebe doch die Frage, in welchem Sinn es eigentlich angemessen sein könne, von Gott zu sagen: „Es gibt ihn im Universum“. All diese Probleme lassen sich – wenn schon nicht eliminieren, so doch – relativieren, indem die Frage nach der Existenz Gottes transformiert wird in die nach der Unmçglichkeit oder Notwendigkeit der Existenz Gottes. Aus der erwiesenen Unmöglichkeit lässt sich dann – modallogisch gültig17 – auf die Nicht-Existenz Gottes schließen. Insofern ist es kein Zufall, dass auch Payne den zu beweisenden Satz: „Es gibt keinen Gott“ unter der Hand verwandelt in den Satz: „so kann es keinen Gott geben“. Dieser modallogische „Umweg“ ist strategisch erforderlich, um überhaupt das Beweisziel erreichen zu können. Aber wie kann es gelingen, die Unmçglichkeit der Existenz Gottes zu beweisen? Dafür böte sich der Aufweis der inneren Widersprüchlichkeit des Gottesbegriffs an. Diesen Weg beschreitet Payne jedoch nicht. Er wählt stattdessen eine andere Strategie: Er geht von der grundlegenden Aussage über Gott bzw. den Gottesbegriff aus: „Gott [wird] nur dadurch Gott …, dass er den Grund alles Seins enthält“ (8 f.). Die Formel: „den Grund alles Seins enthalten“ wird dabei von Payne ( jedenfalls im Anfangsteil seiner Rede) implizit gleichgesetzt mit „die Welt 17 Vgl. H. E. Hughes/M. J. Cresswell, Einführung in die Modallogik, Berlin/ New York 1978, S. 22 – 26. Da diese elementare Operation nur auf der Anwendung des im Standardsystem T gültigen Notwendigkeitsaxioms Np!p basiert, ist sie auch in jedem anderen modallogischen System gültig.
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schaffen bzw. geschaffen haben“ (6 f.). Und nun untersucht Payne, ob gesagt werden kçnne, dass Gott die Welt geschaffen hat. Sollte der Beweisgang die Unmçglichkeit des Schöpferseins Gottes ergeben, so ließe sich daraus schließen, dass es Gott nicht geben kann, ihn also auch nicht gibt. Die gewählte Strategie lässt also nicht den Ausweg zu, nach Widerlegung des Satzes: „Gott hat die Welt geschaffen“, auszuweichen auf die Behauptung: Aber Gott könnte trotzdem (z. B. als Garant der moralischen Weltordnung oder als coincidentia oppositorum) existieren. Wenn einerseits die Aussage gilt: „Gott wird nur dadurch Gott, dass er den Grund alles Seins enthält“ bzw. „dadurch, dass er die Welt geschaffen hat“; und wenn sich andererseits zeigen lässt, dass Gott nicht den Grund alles Seins enthalten kann bzw. die Welt nicht geschaffen haben kann; dann ist gültig erwiesen, dass Gott nicht existieren kann, also nicht existiert. Diese philosophische Argumentationsstrategie liegt dem Beweisgang von Payne offenbar zugrunde. Von daher erweisen sich die abschließenden Erwägungen zum Gottesbeweis aus der Moral (70 – 81) und zu Gott als complexio oppositorum (82 – 86) für das ganze Beweisunternehmen als unerheblich18. Vielleicht ist ihre Anfügung ein Indiz dafür, dass für alle Beteiligten gilt, was zum Schluss von Chaumette19 gesagt wird: „Er traut noch nicht“ (91), und dass sie darum von den Versuchen, Gott oder die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen, nicht recht loskommen.
3.2 Die Argumentationsstruktur des Philosophengesprächs In diesem Abschnitt soll eine Rekonstruktion der im Philosophengespräch vorliegenden Argumentation versucht werden. Unter einer Rekonstruktion verstehe ich dabei nicht ein Referat, sondern den expliziten Aufweis der Schritte, die Payne (im Zusammenspiel mit Mer18 Sie werden darum in der weiteren Analyse nicht berücksichtigt, obwohl sie in sich durchaus interessante Gedankengänge enthalten. 19 Es handelt sich um Pierre-Gaspard Chaumette (1763 – 94), der sich Anaxagoras genannt hatte und deswegen auch im Philosophengespräch immer wieder so tituliert wird. Nähere Angaben zu Chaumette finden sich bei Behrmann/ Wohlleben (s. o. Anm. 16) S. 30. Dort (S. 36 ff.) finden sich auch biographische Angaben über die beiden anderen Gesprächsteilnehmer: Hérault de Séchelles (1759 – 94) und Mercier (1740 – 1814).
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cier) vollzieht, um seinen Beweis erfolgreich voranzubringen. Für eine solche Rekonstruktion ist es sinnvoll, ggf. eine andere Anordnung zu wählen, als sie im literarischen Text vorkommt. Teilweise ist es auch nötig, Gedankenschritte zu ergänzen, die von Payne offenbar vorausgesetzt, aber nicht oder erst an späterer Stelle benannt werden. Dem Wortlaut des Textes nach setzt der Argumentationsgang ein mit der Alternative: „Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht“ (6 f.). Analysiert man den Text jedoch gründlich, so zeigt sich, dass dabei schon eine ganze Reihe von Prämissen, Definitionen und Gedankenschritten vorausgesetzt sind, die erst im Laufe des Gesprächs expliziert werden. An erster Stelle ist hier zu nennen die Wesensaussage über Gott mit definitorischem Charakter für den Gottesbegriff: „Gott [wird] nur dadurch Gott …, dass er den Grund alles Seins enthält“ (8 f.). Das, was Payne hier (und ebenso 20) als „Grund“ bezeichnet, kann er an anderer Stelle auch „Ursache“ nennen (35 u. 39) 20. Um diese definitorische Bestimmung jedoch für den negativen Gottesbeweis verwenden zu können, braucht Payne noch zwei weitere Annahmen, die ausdrücklich benannt werden. Einerseits: Wir wissen „sehr deutlich …, dass die Welt oder dass unser Ich wenigstens vorhanden ist“ (17 – 19). Andererseits: Es muss eine Ursache bzw. einen Grund der Welt geben (33 f.). Mit der ersten Annahme schneidet Payne dem Gegner seiner Argumentation die Ausflucht ab, die Welt habe gar kein Sein, sei also bloße Illusion. Wenn es kein Sein der Welt gäbe, so müsste und könnte Gott auch nicht den Grund (des Seins) der Welt enthalten21. Folglich könnte aus dem Nachweis, dass Gott nicht den Grund (des Seins) der Welt enthalte, auch nicht auf die Nicht-Existenz Gottes geschlossen werden. Diesem möglichen Gegenargument schiebt Payne mit der ersten Annahme einen Riegel vor. Auch die zweite Annahme dient teilweise diesem Ziel. Sie verwehrt nämlich das Gegenargument, die Frage nach dem Grund oder der Ursache des Seins sei sinnlos, da sie sich auf nichts beziehe. Indem Payne 20 Auch in Merciers Argumentation in Z. 43 – 47 werden beide Begriffe promiscue gebraucht. 21 Die Behauptung, dass es zum Gottsein Gottes gehöre, den Grund alles Seins zu enthalten, würde dadurch nicht sinnlos; sie würde sich allerdings nur auf das Sein Gottes selbst beziehen können. Die Aussage: „Gott enthält den Grund alles Seins“ wäre dann identisch mit der – weder sinnlosen noch trivialen – Aussage: „Gott enthält den Grund seines Seins“, also mit der Behauptung der Aseität Gottes.
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die These Merciers: „Aber eine Ursache muss doch da sein“ (33) akzeptiert, schneidet er freilich nicht nur einen Ausweg ab, sondern schafft für seine eigene Position ein Problem, von dem später noch die Rede sein muss. Aus den bisher rekonstruierten Prämissen: – Gott enthält (notwendigerweise) den Grund alles Seins; – es gibt das Sein der Welt (bzw. des Ich); – das Sein der Welt hat einen Grund; lässt sich bereits zwingend folgern: Gott enthält (notwendigerweise) den Grund des Seins der Welt. Diese Formulierung lehnt sich zwar eng an den Wortlaut des Dramas an, gibt aber die Intention Paynes nur missverständlich wieder. Diese wird genauer erfasst durch folgende Formulierung: Wenn es Gott gibt, dann enthlt er (notwendigerweise) den Grund des Seins der Welt. Erst die so formulierte Implikation zeigt, dass die Widerlegung des Consequens die Falschheit des Antecedens erweist22. Nun ist nur noch ein kleiner Zwischenschritt nötig, um zur Ausgangsformulierung des Beweisganges zu gelangen. Dieser Schritt besteht darin, dass die Formel „Grund des Seins der Welt“ zur Formel „Schöpfung der Welt“ in Beziehung gesetzt wird. Die naheliegende Vermutung, beide Formeln seien äquivalent, erweist sich bei näherem Zusehen als unzutreffend. Es gibt für Payne die Möglichkeit, auch dort noch vom „Grund“ oder von der „Ursache“ der Welt zu sprechen, wo er den Begriff „Schöpfung“ ablehnt23. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht. Zwischen „Schöpfung“ einerseits und „Grund“ bzw. „Ursache des Seins der Welt“ andererseits besteht also ein Implikations-, aber kein Äquivalenzverhältnis. Dass dies so ist, wird freilich erst im Verlauf des Diskurses deutlich. Zunächst erweckt Payne den Eindruck, mit der Widerlegung des Satzes: „Gott hat die Welt geschaffen“, sei bewiesen, dass es Gott nicht gibt, ja nicht geben kann24. Um dies zu zeigen, argumentiert er wie folgt: Er formuliert zunächst die Disjunktion: „Entweder ist die
22 Dieser Nachweis erfolgt durch die Anwendung des „modus (tollendo) tollens“. Vgl. dazu W Härle, Systematische Philosophie, München 19872, S. 103. 23 Siehe dazu den Dialog zwischen Mercier und Payne Z. 24 – 26 und 33 – 36. 24 Man beachte das triumphierende: „Quod erat demonstrandum“ (21), das freilich, wie schon die nächste Zeile zeigt, viel zu früh kommt und später nicht mehr wiederholt wird.
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Schöpfung25 ewig wie Gott oder sie hat einen Anfang“ (10 f.). Den ersten Teil dieser Alternative lässt Payne aber im Fortgang zunächst ganz außer acht und konzentriert sich auf die Widerlegung des zweiten Teiles. Dabei argumentiert er folgendermaßen: Wenn die Schöpfung einen Anfang hat, dann muss Gott (dadurch, dass er nach ewiger Ruhe tätig geworden ist) „einmal eine Veränderung in sich erlitten haben, die den Begriff Zeit auf ihn anwenden lässt“ (14 – 16). Da dies beides (das Erleiden einer Veränderung wie die Anwendbarkeit des Zeitbegriffs) jedoch „gegen das Wesen Gottes streite(t)“ (16), könne Gott die Welt nicht geschaffen haben (16 f.). Dass diese Folgerung (trotz des „Quod erat demonstrandum“ [21]) logisch nicht gültig ist, zeigt der Fortgang des Textes selbst. Aus den bisher von Payne eingeführten Prämissen folgt nur: Also kann die Schöpfung (= Welt) keinen Anfang haben. Während Chaumette auf den Scheinbeweis hereinfällt26, weist Mercier präzise auf die Argumentationslücke hin: „Halten Sie, Payne! Wenn aber die Schöpfung ewig ist?“ (24). Paynes Einwand, dass sie dann „schon keine Schöpfung mehr“ sei (25), hilft hier nicht weiter und wird auch von ihm selbst gleich übergangen mit Hilfe des Hinweises auf Spinoza, demzufolge die Welt (die „natura naturata“) als ewiges Attribut Gottes (der „natura naturans“) zu denken ist. Jetzt erst kommt der Argumentationsgang auf die entscheidenden Fragen und Beweisgründe zu sprechen. Sie spitzen sich – nach einem deftig-vulgären Intermezzo (26 – 32) – zu in den beiden von Payne und Mercier vertretenen Thesen. Payne: Aus der unvollkommenen Welt kann nicht auf (Gott als) eine vollkommene Ursache geschlossen werden (35 – 39). Dagegen Mercier: (Auch) eine vollkommene Ursache kann nur eine unvollkommene Wirkung haben (43 – 47). Die These von Mercier zeigt sich, weil logisch begründet, als überlegen; denn allein die Tatsache, dass etwas die Wirkung eines anderen ist, also „nie seinen Grund in sich haben kann“ (46), erweist sich als Element der Unvollkommenheit. Das heißt, eine Welt, die – wie Payne zugestanden hat – ihren Grund nicht in sich selbst hat, ist notwendigerweise unvollkommen. Dies schließt also nicht aus, dass sie in etwas Vollkommenem gründen könnte. 25 Den Begriff „Schöpfung“ gebraucht Payne hier offensichtlich nicht im Sinne von „creatio“, sondern gleichbedeutend mit „creatura“ bzw. genauer: mit „Welt“. 26 „Ei wahrhaftig, das gibt mir wieder Licht; ich danke, danke!“ (22 f.).
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Payne konzediert die Schlüssigkeit dieses Einwandes27, gibt der Argumentation aber nun eine ganz neue Wendung: Wenn es so ist, dass (auch) Gott „nur was Unvollkommenes schaffen [kann], so lässt er es gescheuter ganz bleiben“ (50 f.). Damit hat Payne faktisch das Thema des Beweisganges verlassen. Es geht nun nicht mehr um die Frage: Kann Gott als den Grund des Seins der Welt enthaltend (und also als existierend) gedacht werden? Sondern um die ganz andere Frage: Warum sollte ein vollkommener Gott eine (notwendigerweise) unvollkommene Welt geschaffen haben? An dieser Stelle wird die logische Argumentation zugunsten einer psychologischen Argumentation verlassen, und zwar in dreifacher Hinsicht: – Die Frage nach Gott als dem existierenden Grund alles Seins wird ersetzt durch die Frage nach dem möglichen Motiv Gottes für die Erschaffung der Welt (54 – 59). – Die Frage nach der Denkbarkeit Gottes als Grund alles Seins wird transformiert in die Frage nach den Motiven der Menschen, sich Gott als Grund des Seins bzw. als Schöpfer zu denken (51 – 54 und 59). – Die Frage nach der gedanklichen Vereinbarkeit einer unvollkommenen Welt mit einem vollkommenen Schöpfer wird zur Frage nach dem gefhlsmßigen Ertragenkçnnen dieser Spannung (63 – 69). Es scheint zunächst so, als würde Payne seine gegebene Zustimmung (49) zur notwendigen Unvollkommenheit einer von Gott geschaffenen Welt revozieren, wenn er trotzig darauf beharrt: „Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren“ (63 f.). Aber schon der übernächste Halbsatz zeigt, dass hier eine metabasis eis allo genos vollzogen wurde: „nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen“ (65 f.). Und dieses Gefhl, in dem das Leiden, der Schmerz empfunden wird, ist für Payne „der Fels des Atheismus“ (67).
27 „Sie haben recht“ (49).
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3.3 Sinn und Ertrag des Argumentationsganges Für den Versuch, diesen „negativen Gottesbeweis“ aus dem Philosophengespräch kritisch zu würdigen, bieten sich mehrere28 Möglichkeiten an. Man kann den Beweis zunächst an seinem eigenen Beweisanspruch messen und von da aus die Plausibilität der vorausgesetzten Prämissen und die Schlüssigkeit der logischen Verknüpfungen untersuchen. Dabei werden sehr schnell (über das bereits im vorigen Abschnitt hinaus Angemerkte) einige gravierende Schwachstellen erkennbar: So ist z. B. darauf hinzuweisen, dass aus der Nicht-Ewigkeit der Welt keineswegs notwendig die Anwendung des Zeitbegriffs auf Gott resultiert, wenn man nämlich – mit Augustin29 – die Zeit als mit der Welt geschaffen versteht. Ebenso lässt sich zeigen, dass Spinozas Verständnis der Welt als Attribut Gottes keineswegs die von Payne persiflierend angedeuteten Konsequenzen für das Gottesverständnis hat30. 28 Eine sachlich ergiebige, hier aber nicht weiter verfolgte Fragestellung besteht m. E. darin, anhand der Struktur der Argumentation das Verhltnis zu untersuchen, das zwischen dem syntaktischen, dem semantischen und dem pragmatischen Aspekt eines solchen Beweisganges besteht (vgl. dazu neuerdings I. U. Dalferth, Umgang mit dem Selbstverständlichen. Anmerkungen zum ontologischen Argument, in: Archivio di Filosofia 58/1990, S. 631 – 664). Dabei lässt sich gerade am Philosophengespräch zeigen, dass die (syntaktische) Korrektheit der Schlussfolgerungen und die (semantische) Wahrheit der Prämissen auch zusammengenommen noch keine Beweiskraft besitzen, wenn und solange beides nicht als solches (pragmatisch) gewusst wird, also evident geworden ist. Zugleich zeigt sich, dass diese Gewissheit offenbar in eine noch tiefere Schicht reichen muss, als sie durch Argumente als solche erreicht wird. Die Argumente bleiben freilich – reformatorisch gesprochen – unverzichtbares „verbum externum“ (CA V). 29 Augustin, De civitate Dei – Vom Gottesstaat, Buch XI, Kap. 6. Vgl. dazu die instruktive Studie von I. U. Dalferth, Zeit der Zeichen. Vom Anfang der Zeichen und dem Ende der Zeiten, in: Unsere Welt – Gottes Schöpfung. FS für E. Wölfel, Hg. W. Härle, M. Marquardt, W. Nethöfel, Marburg 1992, S. 161 – 179. 30 Büchner kannte, wie seine ausführlichen Exzerpte und Notizen beweisen (vgl. Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Darmstadt 1971, S. 227 – 290), Spinoza viel zu gut, um das nicht selbst zu wissen. Es ist freilich eine kuriose Argumentation, wenn Kahl formuliert: „Wie der Entwurf zur Spinoza- Vorlesung ausweist, war Büchner ein zu guter Spinoza-Kenner als dass ihm dieses anthropomorphistische Missverständnis, das er Payne in den Mund legt, selbst anzulasten wäre“ („Der Fels des Atheismus“, [s. o. Anm. 12], S. 114, Anm. 52). Wem denn sonst? – muss man fragen – doch nicht etwa Payne? Vermutlich meint Kahl,
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Schließlich lässt sich (mit Leibniz31) zeigen, dass die prinzipielle Unvollkommenheit der Welt kein durchschlagendes Argument gegen ihr Geschaffensein von einem vollkommenen Gott darstellt. Aber zumindest dies letzte sieht und sagt der Text selbst, ja er macht kein Hehl daraus, dass der rationale Beweis für die Nicht-Existenz Gottes gescheitert ist, indem er – etwas überraschend konzediert und konstatiert: „nur der Verstand kann Gott beweisen“ (65 f.) 32. Man kann den (negativen) Beweis aber auch auf die von ihm vorausgesetzte positive Alternative hin befragen. Diese wird von Payne an zwei Stellen zumindest angedeutet. Einerseits in der rhetorischen Frage: „Aber wer sagt Ihnen denn, dass diese Ursache [sc. der Welt] das sei, was wir uns als Gott, d. h. als das Vollkommenste denken?“ (34 – 36). dass Büchner dieses Missverständnis selbst nicht geteilt habe. In seinen Notizen zu Spinoza erhebt Büchner übrigens gegen Spinozas Gottesbeweis dieselben Einwände wie Payne gegen Mercier: „Wir sind durch die Lehre von dem, was in sich oder in etwas Anderm ist freilich gezwungen auf etwas zu kommen, was nicht anders als seyend gedacht werden kann; was berechtigt uns aber desswegen aus dießem Wesen das absolut Vollkommne, Gott, zu machen? – Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, so muss man auch das Daseyn Gottes zugeben. Was berechtigt uns aber, dieße Definition zu machen? – Der Verstand? – Er kennt das Unvollkommne. – Das Gefhl? – Es kennt den Schmerz“ (Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 236 f). Diese Argumentation lässt noch einmal erkennen, warum der Beweis für die Nicht-Existenz Gottes nach Büchners eigener Einsicht gar nicht gelingen kann: Er ist ja nur möglich, „wenn man auf die Definition von Gott eingeht“. Hat man das aber getan, „so muss man auch das Daseyn Gottes zugeben“. Der „insipiens“ (Ps 14,1 u. 53,2) kann also Anselms Argumentation nicht entrinnen. 31 Essais de Théodicée (s. o. Anm. 6) Bd. II/1, S. 240 ff. 32 Insofern ist es zumindest missverständlich, wenn Kahl (s. o. Anm. 12) im Blick auf die „unzweideutig atheistische These“: „Es gibt keinen Gott“, sagt, Payne habe für sie „die durchschlagende Argumentation“ (a. a. O., S. 112) geliefert. Sehr viel differenzierter und genauer äußern sich hierzu Behrmann/Wohlleben (s. o. Anm. 16), S. 111 f.: „Wie sich Denknotwendigkeit (oder das, was sich dafür ausgibt) und Gefühl in den Demonstrationen Paynes durchdringen, wie das Gefühl dabei überwiegt, geht am deutlichsten aus dem Schluss … hervor: nur der Verstand kann Gott beweisen, sagt er da, das Gefhl empçrt sich dagegen. Eben noch hatte er dargelegt, dass der Verstand Gott nicht beweisen, vielmehr: beweisen könne, dass Gott nicht sei. Warum diese Berufung auf das Gefühl, da der Verstand die Sache bereits entschieden hat? Weil Payne kein Philosoph ist, dem der Verstand die letzte Instanz wäre, sondern jemand, dem die philosophische Argumentation zum Ausdruck eines Gefühls dient, das ihn entscheidend beherrscht. Dies Gefühl ist die Sehnsucht nach einer Vollkommenheit, die durch nichts verdunkelt oder entstellt wird“. Wohl wahr, kann ich dazu nur sagen.
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Andererseits in dem Bekenntnis: „Ich nehme mit einem geringern Vater vorlieb; wenigstens werd ich ihm nicht nachsagen können, dass er mich unter seinem Stande in Schweineställen oder auf Galeeren habe erziehen lassen“ (60 – 62). Der gemeinsame Nenner beider Aussagen ist darin zu sehen, dass Payne die Frage nach einer Ursache (einem „Vater“) zwar akzeptiert, dieser Ursache aber keine Vollkommenheit zuschreiben kann und will. Es bleibt ganz unbestimmt, welche Größe in Frage kommen könnte, zwar als ens necessarium der Grund bzw. die Ursache der Welt zu sein, zugleich aber nicht als ens perfectissimum gelten zu können. Irgendeine welthafte Instanz scheidet dafür per definitionem aus. Was für eine Art von „Gottheit“, Dämon oder Prinzip könnte an diese Stelle treten? Möglicherweise denkt Payne dabei an die von ihm selbst (75) und von Hérault (88) herangezogene „Natur“. Aber wie sollte die Natur als die (unvollkommene) Ursache der Welt gedacht werden können? Doch allenfalls im Sinne Spinozas als „natura naturans“, die aber dann als unvollkommen gedacht werden müsste. Hier darf und muss nun umgekehrt die (psychologische) Frage gestellt werden, welches Motiv Payne veranlasst, auf einem unvollkommenen Weltgrund zu insistieren, obwohl sich logisch bereits die Vereinbarkeit eines vollkommenen Weltgrundes mit einer unvollkommenen Welt erwiesen hatte. Beim Bedenken dieser Frage zeigt sich einerseits ein klassisches Theodizeemotiv in modifizierter Gestalt, andererseits – und damit verbunden – das Motiv der menschlichen Selbstachtung. Einem vollkommenen Vater, so darf man gewiss das Argument verstehen, würde Payne „nachsagen“ mssen, dass er ihn (sc. Payne) – erheblich – „unter seinem [sc. des Vaters] Stande … habe erziehen lassen“. Dieser Vorwurf bliebe als Makel an dem Vater, der eigentlich besser könnte, hängen, aber nun eben doch auch am Sohn, der dem Vater offenbar nicht mehr wert ist. Dagegen rechtfertigt und entlastet die Unvollkommenheit des Weltgrundes diesen, und sie stabilisiert die Selbstachtung des Sohnes: Der Vater kann, weil er selbst unvollkommen ist, eben nicht besser33 ! Man kann den Argumentationsgang des Philosophengesprächs aber schließlich auch daraufhin befragen, ob und inwiefern er das Lebens33 Es handelt sich also um eine etwas schwächere Variante des von Odo Marquard (Rechtfertigung, in: Gießener Universitätsblätter 1980, Heft 1, S. 82) konstatierten Freispruchs Gottes „wegen der erwiesensten jeder möglichen Unschuld: der Unschuld wegen Nichtexistenz“, nämlich hier um den Freispruch Gottes wegen erwiesener Unvollkommenheit.
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gefühl des neuzeitlichen Menschen angemessen erfasst und zum Ausdruck bringt. Dabei wäre es m. E. eine einseitige und folglich abstrakte Betrachtungsweise, lediglich in dem Skeptiker oder Atheisten Payne den Anwalt des nachaufklärerischen Menschen zu sehen. Verkörpern nicht auch der scharfsinnig-ruhig argumentierende Mercier und der verunsicherte, hin- und hergerissene Chaumette, der in seinem Unglauben angefochten ist, Seiten dieses Menschen? Gewiss kann es keine Frage sein, dass Payne dabei die Mittelpunktstellung innehat. Er artikuliert mit seinem empörten: „warum leide ich?“ (67) den Protest des Menschen, der nicht nur gegen das unsägliche Leid geschundener und gequälter Opfer aufbegehrt, sondern – aus seiner Sicht völlig konsequent – schon das „leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom“ als „Riss in der Schöpfung von oben bis unten“ (68 f.) anprangert und sich nicht damit abfinden kann, weil sich eben „das Gefühl“ (66) dagegen auflehnt. In der Artikulation dieses Lebensgefhls, in dem sich so etwas wie ein Anspruch des Menschen auf Leidensfreiheit und Glck Ausdruck verschafft, liegt wohl die eigentliche Bedeutung des Philosophengesprchs, wobei die Form des philosophischen Beweisganges, in die dies eingebettet ist, m. E. keineswegs unerheblich ist, sondern als Rationalisierung wiederum ein spezifisch neuzeitliches Element darstellt. Erst auf dieser dritten Ebene der Würdigung verzichtet man bewusst darauf, die argumentativen Schwächen des Philosophengesprächs dazu zu benutzen, sich das vom Text präsentierte Sachproblem vom Leibe zu halten. Positiv formuliert: Von hier aus wird die Frage dringlich, in welcher Weise die christliche Theologie sich mit den von Büchner artikulierten Positionen, Anfragen und Einwänden konstruktiv auseinandersetzen kann.
4. Die Realität des Leidens und der Glaube an Gott34 Das Philosophengespräch aus „Dantons Tod“ ist insofern eine gewichtige Herausforderung an die Theologie, als es den Finger auf den Aspekt des Theodizeeproblems legt, der im Bewußtsein der meisten Menschen den entscheidenden Stein des Anstoßes, wenn nicht sogar den Felsen des Atheismus bildet. Während man im Blick auf das metaphysische Übel (die Endlichkeit) mit gutem Grund sagen kann, es gehöre 34 Siehe dazu W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York (1995) 20073, S. 439 – 455.
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notwendig zum Kreatursein, und während man im Blick auf das moralische Übel (das Böse, die Sünde) sagen kann, seine Mçglichkeit gehöre notwendig zur personalen Freiheit, kann man beim physischen Übel (dem Leiden) eine solche Notwendigkeit nicht ohne weiteres erkennen. Es ist offensichtlich „der härteste Brocken“. Lässt er sich sprengen, beiseiteschaffen oder durch geduldiges Nachdenken auflösen?
4.1 Die Bedeutung des Leidens für das menschliche Leben Wer sich Leiden wünscht, ist entweder seelisch krank oder hybride, also geistlich übermütig. Christen bitten auf Jesu Geheiß um Erlçsung vom Übel bzw. vom Bösen. Etwas ganz anderes ist es jedoch, dass Menschen sehr oft Leiden bewusst in Kauf nehmen, um eines anderen (vielleicht höheren) Gutes willen. In solchen, aber auch nur in solchen Fällen halten wir es darum auch für gerechtfertigt, anderen Menschen mit deren Zustimmung und in deren Interesse Leiden zuzufügen oder zuzumuten. Von daher könnte es so scheinen, als sei es menschlich und christlich geradezu geboten, Leiden, das nicht einem anderen, höheren Zweck dient, zu vermeiden und einen möglichst leidensfreien Zustand für sich und andere anzustreben. Aber stimmt das wirklich? Wer sich auch nur einen oberflächlichen Rückblick auf sein Leben gestattet, wird in der Regel entdecken, dass Zeiten des Leidens (Krisen, Konflikte, Verluste, Krankheiten, Misserfolge etc.) für die menschliche Reifung und Entwicklung besonders wichtige Zeiten waren. Das rührt vermutlich daher, dass die wirklich wichtigen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse im menschlichen Leben kaum einmal ohne Schmerzen, insbesondere nicht ohne den Abschiedsschmerz von Vertrautem und Liebgewordenem abgehen35. Man kann von da aus einen Schritt weitergehen und versuchen, sich einmal ein menschliches Leben – sei es eigenes oder fremdes – ohne jedes Leiden vorzustellen. Was wäre das Resultat? Wäre ein solches Leben das Paradies auf Erden?
35 Vgl. dazu bes. V. E. Frankl, Homo patiens (Versuch einer Pathodizee), in: ders., Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Stuttgart 1975, S. 241 – 377, bes. S. 310 – 377.
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Bekanntlich hat Aldous Huxley in seinem Zukunftsroman „Brave new World“36 diese Fiktion eines leid- bzw. leidensfreien Lebens durchgespielt, bei dem die Abwesenheit von Leiden genetisch, erzieherisch und medikamentös durchgehend gesichert ist. Huxleys schöne, neue Welt ist insofern eine Welt, die den Ansprüchen Paynes genügt, in der nämlich auch „das leiseste Zucken des Schmerzes“ vermieden ist und in der niemand Grund hat zu fragen: „warum leide ich?“ – es sei denn, er wäre als einziger zufällig den Bedingungen dieser Welt entkommen. Huxley wollte mit diesem Buch ursprünglich ein Plädoyer für eine solche – allmählich technisch möglich werdende – leidfreie Welt im Sinne Büchners verfassen, aber während des Schreibens kommt er zu dem – auch mich als Leser – immer mehr überzeugenden Ergebnis: Eine solche Welt ohne Leiden (und Böses) ist keine menschliche Welt, sondern eine Form der Dehumanisierung, ja geradezu eine Hölle37. Das scheint nun – im Umkehrschluss – die überzeugendste Rechtfertigung fr das Leiden in der Welt zu sein: Ohne Leiden keine Menschlichkeit und Reife, also ist das Leiden der notwendige Preis für menschliche Reifung und personale Entwicklung und somit generell gerechtfertigt. Aber man spürt sofort: Wenn man es so sagt, wird es hochproblematisch, weil dann eine Teilwahrheit generalisiert und verabsolutiert wird. Es ist richtig, dass Menschen oftmals im Rückblick den Sinn und die Bedeutung von Leiden erkennen. Aber gilt das denn immer? Und was ist in den Fällen, in denen es gar keinen Rückblick mehr gibt? Was ist dort, wo Menschen am Leiden irre werden, zerbrechen, den Lebensmut und die Kraft zum Leben endgültig verlieren? Es ist zwar richtig, dass Menschen oftmals durch erlebtes und erlittenes Leiden einfühlsam und mitfühlend, dass sie geduldig und barmherzig werden, und es ist ebenfalls richtig, dass äußeres Wohlergehen Menschen keineswegs notwendig zu besseren Menschen macht. 36 A. Huxley, Brave new World, 1932; dt.: Schöne neue Welt (1953), Frankfurt a. M. 1990. 37 An dieser Stelle wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Theodizeeproblem und aktuellen ethischen Fragestellungen erkennbar. Für die christliche (und nicht nur für die christliche) Ethik ist jeder gentechnische Eingriff in die menschlichen Erbanlagen bzw. in die Keimbahn unter Berufung auf die Menschenwürde, und das heißt, auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen abzulehnen. Das gilt auch dann, wenn durch solche gentechnischen Eingriffe alles krankheitsbedingte Leiden ausgeschaltet oder abgeschafft werden könnte. Aber das ist hier und in dieser Form natürlich nur eine Behauptung, noch kein Argument.
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Aber ist das immer so? Gibt es nicht auch Menschenschicksale, in denen das Leiden Bitterkeit, Härte, Gefühllosigkeit, Hass hervorgerufen und dauerhaft erhalten hat? Lehrt Not nur das Beten und Teilen oder nicht auch das Fluchen, Stehlen und Raffen? Was sich mit gutem Grund sagen lässt, ist, dass eine irdische Welt oder ein Leben ohne Leiden wohl keine menschlichere, sondern eine unmenschlichere Welt oder ein unmenschlicheres Leben wären. Aber das ist keine ausreichende Rechtfertigung für alles mögliche oder wirkliche physische Übel in der Welt. Es zeigt nur einen Denkansatz und eine Mçglichkeit – aber die zeigt es immerhin.
4.2 Die Bedeutung des Leidens für den christlichen Glauben Als einen besonders schweren Anstoß empfinden viele Menschen das Leiden in den Fällen, in denen wir geneigt sind oder guten Grund dazu haben, die Opfer des Leidens als „unschuldig“ zu bezeichnen. Immer wieder in Literatur38 und Theologie39 ist darum das Leiden der Unschuldigen als massivste Anfrage an die Gerechtigkeit, Güte oder Existenz Gottes zur Sprache gebracht worden. Dabei wird jedoch nicht immer bedacht, wie nahe man sich mit diesem Einwand am Zentrum des christlichen Glaubens befindet. Tangiert wird damit die paulinischreformatorische Einsicht40, dass christliche Theologie wesentlich und unaufgebbar Kreuzestheologie („theologia crucis“) ist. Dass Gott einen, ja den Unschuldigen leiden lässt, heißt nicht, dass er ihm das Leiden zufügt, wohl aber, dass er dieses Leiden zulässt. Aber gerade dieses Leiden ist für den christlichen Glauben das Geschehen, in dem Gott sein innerstes Wesen offenbart und zwar als Liebe. Das Kreuz Christi gilt für den christlichen Glauben als der Ort der tiefsten Erniedrigung Gottes 38 Besonders eindrucksvoll geschieht dies bei F. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, II. Teil, 5. Buch, Abschn. 4 „Die Auflehnung“. 39 So z. B. J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980, 5. 63: „Das Leiden eines einzigen unschuldigen Kindes ist eine unbestreitbare Widerlegung der Vorstellung des allmächtigen und gütigen Gottes im Himmel. Denn ein Gott, der Unschuldige leiden lässt, der sinnlosen Tod zulässt, ist es nicht wert, Gott genannt zu werden.“ Das ist ein Satz ganz im Sinne und in der Sprache des Philosophengesprächs. 40 Für Paulus finden sich die Hauptbelege in 1 Kor 1 und 2, für Luther in den Thesen 19 – 24 seiner Heidelberger Disputation (WA 1, 353 – 374/LDStA 1, 35 – 69, bes. 52,1 – 57,36).
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und gerade so als der Ort, an dem Gott sein Herz enthüllt. Anders gesagt: Das Leiden Jesu Christi ist der Ort der Selbstoffenbarung Gottes; denn niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben gibt für seine Freunde, ja für seine Feinde ( Joh 15,13; Röm 5,10). An dieser Stelle wird erkennbar, dass gerade die Liebe, die das größte ist, was es im menschlichen Leben gibt (1 Kor 13,13), und die das Wesen Gottes selbst beschreibt (1 Joh 4,16), die Bereitschaft zum Leiden, ja das Leiden um der Liebe willen notwendig mit einschließt. Vielleicht gilt sogar generell (vom körperlichen Schmerz abgesehen), dass man nur an dem leiden kann, was man liebt. Beim Verlust und Tod eines Menschen wird das jedenfalls evident. Deswegen wird man Luther, Bonhoeffer und anderen durchaus Recht geben müssen, wenn sie im deutlichen Gegensatz zum Philosophengespräch in „Dantons Tod“ das Leiden nicht von Gott trennen, sondern ausdrücklich vom Leiden oder Mitleiden Gottes sprechen. Am einprägsamsten hat dies wohl Bonhoeffer in seinem bekannten Gedicht „Christen und Heiden“41 formuliert. Mit Gewissheit lässt sich sagen: Wer das Theodizeeproblem nicht im Horizont der theologia crucis reflektiert, der bedenkt es jedenfalls nicht im Kontext des christlichen Glaubens. Vom Kreuz Christi her deutet sich ein Zusammenhang von Leiden und Liebe an, der das Tragfähigste sein könnte, was in diesem Zusammenhang überhaupt zu sagen ist. Aber diese Tragfähigkeit ist eschatologisch offen. Das heißt, sie kann geglaubt, aber sie kann (noch) nicht aufgewiesen und verifiziert werden. Dass die Liebe die größte unter den Gaben ist, die bleiben (1 Kor 13, 13), ist eine Verheißung. Und dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes (Röm 8,38 f.), ist ein Satz hoffender Gewissheit. Wir müssten, und darin hat Kant42 recht, Gottes Weisheit und damit auch das Ende der Wege Gottes mit der Welt jetzt und hier schon so erkennen können, wie wir von Gott erkannt sind, um die Rätsel des Theodizeeproblems definitiv lösen zu können. Das ist uns verwehrt. Und diese Begrenzung ist selbst eines der metaphysischen bel, die notwendig zur kreatrlichen Existenz gehçren.
41 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 19853, S. 382. Vgl. dazu W. Huber, Theodizee (1982), in: ders., Konflikt und Konsens, München 1990, S. 99 – 132, bes. S. 130 – 132. 42 S. o. Anm. 8.
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4.3 Begründete Hoffnung Was haben die beiden (anthropologischen und christologischen) Überlegungen, die in den beiden zurückliegenden Abschnitten entwickelt wurden, im Blick auf die durch Büchner formulierte Herausforderung erbracht? Sie haben Denkmöglichkeiten und existentielle Gewissheiten gezeigt, aber sie konnten zu keiner restlosen Lösung oder Auflösung des Theodizeeproblems führen. Mehr noch: Sie haben beide gezeigt, dass und warum eine solche Lösung unter endlichen, geschichtlichen Bedingungen gar nicht mçglich ist.43 Beide Ansätze haben damit gezeigt, dass ohne eine eschatologische Perspektive, das heißt, ohne eine gehaltvolle Hoffnung über den Tod hinaus das Theodizeeproblem unlösbar bleibt und bleiben muss. Ohne Eschatologie gibt es keine Theodizee 44. Die beiden Gedankengänge haben aber mit dem Aufweis von Denkmöglichkeiten und existentiellen Gewissheiten auch ergeben, dass die Hoffnung auf eine eschatologische Lösung des Theodizeeproblems eine begrndete Hoffnung ist. Sie hat Anhaltspunkte in der menschlichen Lebenserfahrung, und sie hat im Kreuz Christi ihren tragenden Grund. Wem eine solche begründete Hoffnung auf eine Lösung des Theodizeeproblems nicht genügt, wer an dieser Stelle also mehr will, nämlich hier und jetzt schon eine Lösung und Antwort, der will (ob er es weiß oder nicht) sein wie Gott. Und das kann in Rückerinnerung an Gen. 3 eigentlich kein erstrebenswertes Ziel, sondern nur eine zu vermeidende Gefahr sein. Ob freilich der bewusste Verzicht auf eine Lösung des Theodizeeproblems hier und jetzt und ob das Leben mit einer begründeten Hoffnung auf eine eschatologische Lösung den Verstand und das Gefühl eines Menschen befriedigen, kann jeder nur für sich selbst beantworten.
43 Dass dies für „das empirisch-probabilistische Theodizeeproblem im Unterschied zum logischen“ gilt, ist auch das Ergebnis der Studie über „Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung“ (Gütersloh 2002) von F. Hermanni. 44 Das hat in eindrucksvoller Weise Luther am Ende von De servo arbitrio in der Rede von den drei Lichtern, dem lumen naturae, gratiae und gloriae gezeigt (WA 18, 784 f./LDStA 1, 652,29 – 657,13).
„Christus factus est peccatum metaphorice“ Zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi „haec res magis affectibus quam verbis tractari et capi velit“.1
In der 1992 erschienenen Festschrift für Martin Seils hat Gerhard Ebeling in einer umsichtigen und anregenden Studie2 den als Überschrift dieser Abhandlung zitierten Satz aus Luthers Schrift gegen den Löwener Theologen Latomus3 in Erinnerung gerufen mit dem Ziel, „das Thema erneut in die Diskussion zu bringen“.4 Im folgenden soll dieser Anstoß aufgenommen und die Diskussion weitergeführt werden. Dabei geht es nicht im strengen Sinn um einen Beitrag zur Interpretation dieser Luther-Stelle, auch nicht um eine exegetische Studie zur angemessenen Interpretation der Aussage aus 2 Kor 5,21: „Denn er [sc. Gott] hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht …“,5 auf die Luther sich hier bezieht. Es geht hier vielmehr um den Versuch, diese von Paulus formulierte und von Luther interpretierte Dimension des Kreuzestodes Jesu Christi in systematisch-theologischer Hinsicht zu reflektieren. Es soll also bedacht werden, was die These Luthers, dass Christus auf metaphorische Weise zur Snde gemacht worden ist, am Kreuzestod Jesu Christi zu sehen und zu bedenken gibt. Damit ist keineswegs die Meinung verbunden, dies sei die einzig mögliche, sinnvolle und angemessene Perspektive auf den Kreuzestod Jesu. Ich gehe im Gegenteil davon aus, dass nur eine Betrachtung aus mehreren Perspektiven und mit unterschiedlichen Bildern, Metaphern und Kate1 2 3 4 5
WA 8, 88,2 f./LDStA 2, 296,11 f. (dt. „diese Sache will mehr mit Empfindungen als mit Worten behandelt und erfasst werden“ [LDStA 2, 297,13 f.]). Im Zusammenhang wird diese Aussage zitiert unten in Anm. 8. G. Ebeling, „Christus … factus est peccatum metaphorice“, in: Tragende Tradition. FS M. Seils, Frankfurt/Main u. a. 1992, S. 49 – 73. Rationis Latomianae … confutatio (1521), in: WA 8, 43 – 128/LDStA 2, 187 – 399. Der als Titel zitierte Satz findet sich in WA 8, 86,31 f./LDStA 2, 292,27 f. G. Ebeling, (s. o. Anm. 2) S. 73. Vgl. dazu R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, Göttingen 1976, S. 166 – 168 sowie O. Hofius, Paulusstudien, Tübingen 1989, S. 45 – 48.
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gorien der Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi angemessen sein kann.6
1. Problemexposition zur Interpretation von 2 Kor 5,21 1.1 Zum biblischen Befund7 Die paulinische Aussage aus V. 21 a beschreibt den Tod als Versöhnungsgeschehen, das von Gott ausgeht (s. V. 19 f.). Auf dieses Versöhnungsgeschehen beziehen sich das „Amt, das die Versöhnung predigt“ und „das Wort von der Versöhnung“ (V. 18 f.), das von den „Botschaftern an Christi Statt“ (V. 20) ausgerichtet wird und dessen Inhalt lautet: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (V. 20). Inwiefern der Kreuzestod Christi als ein Sterben „für alle“ (V. 15) zu verstehen (und zu verkündigen) ist, inwiefern also dieser Tod den Charakter eines Versöhnungsgeschehens zwischen Gott und Mensch hat, ergibt sich aus dem abschließenden Begründungssatz: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“. Das scheint zu bedeuten, dass die Sünde (aller übrigen Menschen) dem aufgeladen oder angerechnet wurde, der selbst sündlos war. Denkt Paulus dabei an einen Vorgang der bertragung (griech.: metaphora; lat.: translatio)? Aber wie wäre diese Übertragung der Sünde zu denken, aufgrund deren gesagt werden kann, Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht?
1.2 Zu Luthers Interpretationsansatz Der als Titel dieser Abhandlung zitierte Satz Luthers steht innerhalb der Schrift gegen Latomus in einem „biblisch-theologischen Exkurs zum Sündenbegriff“,8 in dem es Luther sowohl um das rechte Verständnis
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Siehe dazu in diesem Band den Schlussabschnitt des Aufsatzes „,… gestorben für unsere Sünden‘. Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi“ (s. u. S. 415 – 421). Die im Text des folgenden Abschnitts angegebenen Zahlen beziehen sich stets auf die Verse in 2 Kor 5. So G. Ebeling (s. o. Anm. 2), S. 56. Die entscheidenden einschlägigen Passagen aus dem Luthertext seien hier mit Seiten- und Zeilenangabe aus der Weimarer
Problemexposition zur Interpretation von 2 Kor 5,21
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Ausgabe (WA) und aus der Lateinisch-Deutschen Studienausgabe (LDStA) wiedergegeben: WA 8, 86,31 – 91,23/LDStA 2, 292,27 – 304,22: „Et ut ad institutum veniamus, Christus dum offerretur pro nobis, factus est peccatum metaphorice, cum peccatori ita fuerit per omnia similis, damnatus, derelictus, confusus, ut nulla re differet a vero peccatore, quam quod reatum et peccatum, quod tulit, ipse non fecerat… Et in hac translatione non solum est verborum sed et rerum metaphora. Nam vere peccata nostra a nobis translata sunt et posita super ipsum, ut omnis qui hoc ipsum credit, vere nulla peccata habeat, sed translata super Christum, absorpta in ipso, eum amplius non damnent. Quia ut dixi, Christus similis peccato fuit per omnia, nisi quod peccatum non fecit. Nam omne illud malum, quod post actum peccati in nobis est, scilicet timor mortis et inferni, sensit et tulit Christus, illud vero figmentum illorum de reatu et deputatione ad poenam ipsi non intelligunt. Christus enim sensit deputationem illam et similis erat illi, qui sic deputatur, licet absque culpa. Quae vero est deputatio, quam non sentias ? prorsus nihil. Itaque Christus tunc (ut dixi) nihil differebat a novissimo peccatore, qui accepta iam mortis et inferni sententia damnandus esset. Vigebat illa deputatio, solum hoc aberat, quod talem deputationem non meruerat, et sine opere in illam pro nobis traditus erat, quanquam haec res magis affectibus quam verbis tractari et capi velit… diximus Christum esse peccatum factum pro nobis, sicut dicit ij. Corint. vi. Eum qui non noverat peccatum, pro nobis peccatum fecit, ut iustitia dei essemus in illo. Hic utrunque peccatum utroque loco ponit. Metaphoricum vel allegoricum est Christus, de quo peccato damnavit nostrum verum peccatum. Nam quod peccatum nostrum tollatur, unde habemus, nisi de Christo facto peccato pro nobis? non utique de nostris viribus aut meriris, sed de peccato dei, id est, quem deus peccatum fecit. Rogo cur non dixit extinxit peccatum, sed vigilanter ponit damnavit peccatum? Non enim nos credimus cum Lovaniensibus sophistis, Paulo defuisse verba, qui sit vas electionis, electis et propriis verbis locuturus praevisus. Quis enim est damnatus? deinde addit in carne, omnino asserens peccatum in carne, sed damnatum. Damnatus utique is est, qui non modo a latrocinio aut malo scelere prohibitus, non modo captus et incarceratus, sed iudicatus et lata sententia mortis ductus est ad mortem, ut nihil aliud cum eo fiat, quam ut tollatur de medio, etiam si necdum sit sublatus. Quae est enim virtus talis latronis? (dt. : „Und um zur Sache zu kommen: Als Christus für uns geopfert wurde, ist er metaphorisch zur Sünde gemacht worden, da er so in allem einem Sünder ähnlich war: verdammt, verlassen, zuschanden gemacht, dass er in nichts sich von einem wahren Sünder unterschied als darin, dass er die Schuld und Sünde, die er trug, nicht selbst getan hatte… Und in dieser Übertragung gibt es nicht nur eine Metaphorik der Worte, sondern auch der Dinge. Denn wahrhaftig sind unsere Sünden von uns übertragen und auf ihn gelegt worden, so dass jeder, der eben dies glaubt, wirklich keine Sünden [mehr] hat, sondern auf Christus übertragen, in ihm selbst verschlungen, können sie ihn nicht mehr verdammen… Weil, wie ich sagte, Christus in allem der Sünde gleich war, außer dass er keine Sünde beging. Denn jenes ganze Unheil, das nach der Sündentat in uns ist, nämlich Furcht des Todes und der
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„Christus factus est peccatum metaphorice“
von Metaphern in der Bibel als auch um das rechte Verständnis von Snde geht. Der Satz: „Christus … factus est peccatum metaphorice“ liegt im Schnittpunkt beider Fragestellungen und dient der Erhellung sowohl des Metaphern- als auch des Sündenverständnisses. Luther grenzt sich in diesem Zusammenhang vehement gegen die These Latomus’ ab, es gebe vier verschiedene biblisch-theologische Begriffsbedeutungen von „Sünde“ („Sünde“ als „Sündenursache“, als „Strafe“, als „Sündopfer“ und als „Schuld“9). Demgegenüber insistiert Luther darauf, dass es nur eine einzige Bedeutung von „Sünde“ gebe, nämlich „das, was nicht dem Gesetz Gottes entspricht“.10 Um aber das Wesen der Sünde zu verstehen, müsse (auch) metaphorisch von ihr gesprochen werden, ohne dass die Metapher dadurch zu einer (zusätzlichen) Begriffsbedeutung werde. Von diesem Ansatz aus kommt Luther zu seiner Hölle, hat Christus gefühlt und getragen. Jene Erdichtung von ihnen über Schuld und Verurteilung zur Strafe aber verstehen sie selbst nicht. Christus nämlich hat jene Verurteilung gefühlt, und er war dem gleich, der so verurteilt wird, freilich ohne Schuld. Was ist aber eine Verurteilung, die du nicht fühlst? Überhaupt nichts. Daher unterschied sich Christus da, wie ich gesagt habe, in nichts von dem letzten Sünder, der, nachdem er schon das Todes- und Höllenurteil empfing, in die Verdammnis gehört hätte. Jene Verurteilung war in Kraft; nur das fehlte, dass er solche Verurteilung nicht verdient hatte und ohne sein Tun ihr für uns ausgeliefert worden war. Jedoch, diese Sache will mehr mit Empfindungen als mit Worten behandelt und erfasst werden… Wir haben gesagt, dass Christus zur Sünde gemacht wurde für uns, wie 2 Kor 5,21 sagt: ,Ihn, der keine Sünde kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm‘. Hier setzt er beiderlei Sünde an beide Stellen. Metaphorisch oder allegorisch ist es Christus; über diese Sünde hat er unsere wahre Sünde verdammt. Denn dass unsere Sünde weggenommen werde – woher haben wir das, wenn nicht von Christus, der für uns zur Sünde gemacht ist? Nicht jedenfalls von unseren Kräften und Verdiensten, sondern von der Sünde Gottes, das heißt von dem, den Gott zur Sünde gemacht hat. Ich bitte dich: Warum sagt er nicht, er hat die Sünde ausgelöscht, sondern setzt mit Vorbedacht, er hat die Sünde verdammt? Wir nämlich glauben nicht mit den Löwener Scholastikern, es hätten Paulus die Worte gefehlt, der ein erwähltes Gefäß sein sollte, dazu ausersehen, mit gewählten und treffenden Worten zu sprechen. Wer nämlich ist verdammt? Da fügt er noch hinzu: im Fleisch, um völlig zu bekräftigen, die Sünde sei im Fleisch, doch als verdammte. Verdammt jedenfalls ist jemand, der nicht nur an einem Raub oder schlimmen Verbrechen gehindert, nicht nur gefangen und eingekerkert, sondern abgeurteilt und mit gefälltem Todesurteil zur Hinrichtung geführt wurde, damit nichts anderes mit ihm geschehe, als beseitigt zu werden, mag er auch noch nicht beseitigt sein. Was ist denn die Kraft eines solchen Räubers?“ [LDStA 2, 293,34 – 305,28]). 9 So WA 8, 82,21 f./LDStA 2, 282,22 – 24. 10 WA 8, 83,28 f./LDStA 2, 287,3 f.: „id quod non est secundum legem dei“.
Problemexposition zur Interpretation von 2 Kor 5,21
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These, mit der er 2 Kor 5,21 im passivum (divinum) wiedergibt und zugleich interpretiert: „Christus factus est peccatum metaphorice“. Wie ist dieser Satz zu verstehen? Im Sinne Luthers ist es durchaus zulässig, wenn auch nicht erschöpfend, den Satz so zu interpretieren, dass man sagt: 2 Kor 5,21 ist als eine metaphorische Aussage zu verstehen, weil dieser Satz – wie alle Metaphern – nach dem Prinzip der Ähnlichkeit („secundum similitudinem“11) gebildet ist, und d. h., nicht im wçrtlichen Sinn verstanden werden darf.12 Worin besteht aber die Ähnlichkeit? Darin, sagt Luther, dass Christus „einem Sünder in jeder Hinsicht so ähnlich war, verdammt, verlassen, verstoßen, dass er sich durch nichts von einem wirklichen Sünder unterschied, außer dass er die Schuld und Sünde, die er trug, selbst nicht getan hatte“.13 Man muss freilich hinzufügen, dass dies der entscheidende (qualitative) Unterschied zwischen einem Sünder und einem Nicht-Sünder ist. Die Ähnlichkeit ist also keine partielle Identität. Bedenkt man dies genauer, so erweist sich aber die Interpretation des Satzes im Sinne einer metaphorischen Aussage als unzureichend. Hinter der metaphorischen Aussage tut sich eine ganz andere „Metaphorik“ auf: so etwas wie eine reale bertragung der Sünde auf Christus. Und weil diese Übertragung („translatio“) nicht bloß eine der Worte, sondern real ist („rerum metaphora“) 14, darum gilt: „Unsere Sünden sind wirklich von uns fortgetragen und ihm auferlegt, so dass jeder, der dies glaubt, wirklich keine Sünden hat, sondern sie sind auf Christus übertragen“.15 Überblickt man diese Aussagen, dann könnte es so scheinen, als würde hier mit dem Begriff „metaphora“ gespielt, indem er auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Das Metaphorische würde sich damit selbst als unpräzise, ja als unernst und damit als der Sache gänzlich unangemessen erweisen. Was Luther jedoch zeigen will, ist das genaue Gegenteil: Nur wegen der todernsten, ja tödlichen bertragung der Sünde auf Christus ist es zulässig, die metaphorische Aussage zu bilden: Christus wurde zur 11 WA 8, 87,3 f./LDStA 2, 294,3. 12 WA 8, 87,2 – 4/LDStA 2, 294,2 f. 13 WA 8, 86,32 – 34/LDStA 2, 293,36 – 39 (s. o. Anm. 8). Ähnlich: WA 8,87,33 f./LDStA 2, 296,1 f. und 87,39 – 88,2/LDStA 2, 296,9 – 11 (s. o. Anm. 8). 14 WA 8, 87,6 f./LDStA 2, 294,7 (s. o. Anm. 8). 15 WA 8, 87,7 – 9/LDStA 2, 295,11 f. (s. o. Anm. 8).
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„Christus factus est peccatum metaphorice“
Sünde gemacht. Die sprachliche Metapher, die das beschreibt, bewegt sich nicht im Uneigentlichen, sondern sagt das ,Eigentlichste‘ und ,Wahrste‘, was über das Kreuz Christi, über die Sünde und über die Befreiung des Menschen von der Sünde gesagt werden kann. Aber wie ist diese Übertragung der Sünde auf Christus vorzustellen und zu denken? 1.3 Auswertung des Befundes Die beiden zurückliegenden Abschnitte endeten mit derselben Frage, von der man sagen kann: Sie ist die crux dieser Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi. Hat also Luthers Deutungsversuch nichts oder jedenfalls nicht mehr erbracht, als dass der Vorgang, den Paulus mit den Worten beschreibt: „zur Sünde machen“ nun mit dem Begriff „metaphora“ bzw. „Übertragung“ bezeichnet werden kann? Nun, er hat insofern mehr erbracht, als er auf einen Unterschied und Zusammenhang von Sache und Sprache hinweist, der bei Paulus ebenfalls vorhanden ist, aber nicht so pointiert mit einem Wort ausgedrückt wird, nämlich der Unterschied und Zusammenhang von „Versöhnung“ und „Wort von der Versöhnung“. Aber indem „metaphora“ bei Luther sowohl ein sprachliches Phänomen als auch ein ontisches Phänomen bezeichnet,16 wird „metaphora“ zumindest in einer der bei den Bedeutungen selbst metaphorisch. Das ist in der Literatur auch bereits erkannt worden.17 Hier tut sich scheinbar folgende Interpretationsalternative auf: Entweder meinen Paulus und Luther eine reale, wörtlich zu verstehende Übertragung der Sünde auf Christus, dann ist die Aussage „Christus ist zur Sünde gemacht“ allem Anschein nach keine Metapher, da ja die Beschreibung einer Übertragung selbst nichts Übertragenes ist, oder Paulus und Luther meinen im metaphorischen Sinn eine „Übertragung der Sünde auf Christus“ – wie kann man dann zugleich von einer realen Übertragung im wçrtlichen Sinne sprechen? 18 (Nur) Dann, wenn die
16 WA 8, 87,7/LDStA 2, 294,7 (s. o. Anm. 8). 17 So z. B. von E. Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen, München 19913, S. 48: „Die grammatische metaphorá wird sozusagen ontologisch redupliziert. Luther verwendet die Figur der Metapher ihrerseits metaphorisch …“. Ähnlich G. Ebeling (s. o. Anm. 2), S. 71. 18 Darauf verweist auch G. Bader in seinem abgründigen Werk: Symbolik des Todes Jesu, Tübingen 1988, S. 101.
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sprachlich-metaphorische Übertragung als solche auch eine reale Übertragung ist bzw. bewirkt. Sowohl die paulinische Rede: „zur Sünde gemacht“, als auch Luthers oben zitierte Aussage, es handle sich (auch) um eine tatschliche Übertragung („et rerum metaphora“) scheinen die Alternative eindeutig zugunsten der ersten Möglichkeit zu entscheiden. Demzufolge wäre der Sinn von 2 Kor 5,21 so wiederzugeben: Die Sünde aller Menschen ist so von Gott auf Christus übertragen worden, dass diese Sünde in Christi Tod mitgestorben, also vernichtet worden ist. Umso erstaunlicher ist es, dass Luther (unter durchgängiger Berufung auf Paulus19) gegen Latomus die These vertritt, die Sünde sei durch die Taufe nicht verschwunden, sondern „nur“ verdammt, und die nach der Taufe im Christen verbliebene Sünde sei deshalb wirkliche Sünde.20 Und er argumentiert dabei erneut mit dem Begriff des Metaphorischen, ganz analog zur Deutung von 2 Kor 5,21, wenn er schreibt: „Metaphorisch oder allegorisch ist es Christus, durch den als Sünde er [sc. Gott] unsere wirkliche Sünde verdammt hat. … Ich frage: Warum sagt er [sc. Paulus] nicht, er hat die Sünde ausgelöscht, sondern setzt mit Vorbedacht, er hat die Sünde verdammt?“21 In Übereinstimmung mit diesen Aussagen betont Luther durchgängig, die Sünde werde durch die Taufe zwar vollständig verdammt und entmachtet, und deshalb dem Menschen vergeben, d. h. nicht mehr angerechnet, aber sie sei nicht gänzlich verschwunden. Anders gesagt: Die nach der Taufe verbleibende Konkupiszenz sei wirklich Sünde, die aber von Gott um Christi willen nicht angerechnet werde. Das alles spricht offenbar gegen eine reale bertragung im wörtlichen Sinne, also gegen eine Wegnahme vom einen und Auferlegung auf einen anderen (analog dem Sündenbock-Ritus). Die „rerum metaphora“ ist offenbar doch nicht als quasi-dingliche Übertragung zu interpretieren – und trotzdem soll gelten, „dass jeder, der eben dies glaubt, wirklich keine Sünden [mehr] hat, sondern [sie sind] auf Christus übertragen“!? 22 Es könnte angesichts dieses komplizierten Befundes wie eine zusätzliche Problemverknotung wirken, wenn darauf hingewiesen wird, dass bei alledem eine Form der „Metaphorik“, die in 2 Kor 5,21 enthalten ist, überhaupt noch nicht angesprochen, also noch zusätzlich zu 19 20 21 22
Besonders auf Röm 6,12 und 9,3 f. WA 8, 89,10 – 97,33/LDStA 298,23 – 320,25. WA 8, 91,11 – 16/LDStA 2, 305,11 – 18 (s. o. Anm. 8). WA 8, 87,8 f./LDStA 2, 295,10 – 12 (s. o. Anm. 8).
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bedenken ist. Es handelt sich um die Metapher, Christus sei zur Snde (und nicht etwa: zum Snder) gemacht. Erstaunlicherweise gehen weder Luther selbst in seiner Schrift gegen Latomus noch die Mehrzahl der Interpreten auf diese merkwürdige paulinische Redeweise ausdrücklich ein.23 Aber sollte es tatsächlich ohne sachliche Bedeutung sein, dass Paulus sagt, Christus sei zur Snde gemacht, und im zweiten Halbsatz entsprechend: „damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“? Warum sagt er nicht, Christus sei für uns zum Snder gemacht (und als solcher getötet worden), damit wir in ihm die vor Gott Gerechten würden? Liegt hier nicht doch noch eine zustzliche Übertragung bzw. Metaphorik vor, die darin besteht, dass ein Mensch als „Snde“ oder „Gerechtigkeit“ bezeichnet wird? Handelt es sich also um so etwas wie eine potenzierte Metapher?
2. Zur metaphorischen Interpretation von 2 Kor 5,21 2.1 Die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde Ich setze mit meinem Interpretationsversuch an dem zuletzt genannten Punkt an: bei der Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde. Dabei versuche ich, mich von der gängigen Vorstellung zu lösen, Jesus habe die Sünde(n) der Menschheit von Gott übertragen bekommen und sei so (scheinbar) selbst zu einem Sünder, ja zu dem Sünder schlechthin geworden, der diese Sünden büßt und so erst Gottes Vergebung 23 Luther geht z. B. anstandslos von „Sünde“ zu „Sünder“ über, indem er schreibt: „Christus … factus est peccatum metaphorice, cum peccatori ita fuerit per omnia similis …, ut nulla re differet a vero peccatore, quam quod reatum et peccatum quod tulit, ipse non fecerat“. (WA 8, 86,31 – 34 dt.: „Christus … ist … metaphorisch zur Snde gemacht, da er so in allem einem Snder ähnlich war …, dass er in nichts sich von einem wahren Snder unterschied als darin, dass er Schuld und Snde, die er trug, selbst nicht getan hatte“ [LDStA 2, 293,35 – 39, Hervorhebung von WH]). Ähnlich Jüngel (s. o. Anm. 17) S. 46 f.: „Die traditionelle Regel der Metaphernbildung … ist also erfüllt, wenn Christus als Sünde oder Sünder bezeichnet wird …“ Ebenso aber auch R. Bultmann in seiner Auslegung der Paulus-Stelle (Der zweite Brief an die Korinther, Göttingen 1976, S. 166): „Denn das ist gerade die Paradoxie, dass der Sündenlose als solcher zum Sünder gemacht wurde“. Eine Ausnahme bildet O. Hofius (s. o. Anm. 5), der auf die hier vorliegende „Metonymie“ (S. 47) verweist, sie aber nur im Sinne eines verschärfenden Ausdrucks für das versteht, wodurch das Sein des sündigen Menschen qualifiziert ist.
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möglich macht. Ich versuche statt dessen, die paulinische Aussage wörtlich zu nehmen: Christus ist zur Snde gemacht und diese Snde ist am Kreuz Christi gerichtet, verdammt, entmachtet worden, und so geschieht Versöhnung. Wie könnte das verstanden werden? Die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde ist für den christlichen Glauben grundlegend24. Das wird dadurch deutlich, dass es zentrale Aussagen über den Sünder gibt, die falsch und gefährlich werden, wenn man sie zur Aussage über die Sünde umformuliert. Das gilt z. B. für die Aussage: „Gott liebt den Sünder“. Die Umformulierung: „Gott liebt die Sünde“ stellt eine eindeutig falsche, ja häretische Aussage dar. Entsprechendes gilt umgekehrt für die Aussage: „Gott hasst die Sünde“. Ja, man kann ohne Übertreibung sagen: Es stellt ein Spezifikum des christlichen Glaubens dar, dass für ihn diese beiden Aussagen miteinander gelten: „Gott hasst die Sünde“ und „Gott liebt den Sünder“. Das heißt: Beide Aussagen interpretieren sich gegenseitig so, dass erst dann, wenn beide gedacht oder gesagt werden, auch jede einzelne richtig verstanden werden kann.25 Nun gehören aber Sünder und Sünde – jedenfalls in gewisser Hinsicht – untrennbar zusammen; denn Snde ist das, was Menschen zu Sündern macht, und Snder sind Menschen, die sich von Sünde bestimmen lassen. Anders gesagt: Es gibt keine Sünde ohne Sünder und keine Sünder ohne Sünde. Wie kann aber unterschieden werden, was untrennbar ist? Nur durch Sprache oder allgemeiner: durch Zeichen. Deshalb beweist – gewissermaßen wider Willen – schon die (sprachlich) aufgezeigte Untrennbarkeit von Sünder und Sünde durch ihren Vollzug die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen „Sünder“ und „Sünde“. Die gesetzten Anführungszeichen erinnern freilich daran, dass damit (bislang) nur eine sprachliche Differenz gelungen ist. Also bloße Worte, nichts als Worte? Was diese – „bloß verbale“ – Unterscheidung bedeuten kann, soll an zwei – scheinbar gegenläufigen – biblischen Beispielen und an ihrer tatsächlichen Zusammengehörigkeit verdeutlicht werden: 24 Vgl. hierzu und zum Folgenden o. S. 240 – 244 u. 250. 25 Beide Aussagen sind schon enthalten in Luthers Heidelberger Disputation von 1518, und zwar in der Erläuterung zu These 28. Dort sagt Luther: „… amor Dei diligit peccatores, malos, stultos, infirmos, ut faciat iustos, bonos, sapientes, robustos“ (WA 1, 365,9 f./LDStA 1, 60,14 – 16). In der Formulierung „ut faciat iustos …“ ist die Erkenntnis enthalten, dass die Liebe zu den Sündern keine Liebe zu den Sünden ist und dass sie deshalb darauf zielt, aus Sündern Gerechte zu machen.
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– Ein Mensch erkennt mit tiefem Erschrecken, dass die Sünde, die er bei anderen aufspürt und gnadenlos verurteilt, (auch) seine eigene ist. Der eindrücklichste biblische Beleg für diese Erfahrung ist wohl die Erzählung von David und Nathan (2 Sam 12,1 – 25, mit den beiden Schlüssel-Versen 7 und 13). Die eigene Snde und damit das eigene Sündersein wird hier so erkannt, dass die Sünde zunächst wie etwas erkannt wird, das nicht zur eigenen Person gehört. Die Unterscheidung ist hier der Weg zur Identifikation. – Ein Mensch erlebt als unsagbare Befreiung, dass er nicht festgelegt wird auf seine Sünde, sondern dass zwischen ihm und seiner Sünde so unterschieden wird, dass zwar seine Snde abgelehnt, er aber als Person angenommen wird. Ein besonders eindrücklicher biblischer Beleg für diese Erfahrung ist m. E. die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin ( Joh 8,1 – 11, mit den Schlüssel-Versen 7 und 11). Indem hier alle Mitbeteiligten genötigt werden, ihre eigene Sünde anzuerkennen, wird es ihnen unmöglich gemacht, die angeklagte Frau als „Snde in Person“ zu behandeln, d. h. in diesem Fall: zu steinigen. Die Identifikation ist hier der Weg zur Unterscheidung. – Dass und wie beide Beispiele zusammengehören, wird generell dadurch deutlich, dass nur ein Mensch, der um die eigene Sünde weiß, in der Lage ist, auch bei anderen zwischen Person und Sünde zu unterscheiden, und dass die Erfahrung von Vergebung mit innerer Notwendigkeit zur Gewährung von Vergebung drängt. Dies wird – via negationis – besonders deutlich in der biblischen Parabel vom sog. „Schalksknecht“ (Mt 18,21 – 35, mit den Schlüssel-Versen 27 und 33). Die Zusammengehörigkeit beider Aspekte wird aber auch positiv deutlich durch die Aussage in 2 Sam 12,13: „Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den Herrn. Nathan sprach zu David: So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen“. Das Bekenntnis Davids, mit dem er seine Sünde bernimmt, wird hier zur Begrndung („So …“) für die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde, ja für die Wegnahme der Sünde Davids. Dabei ist in allen genannten Beispielen die verbale Unterscheidung weder ein bloßes „Spiel mit Worten“ noch etwas gegenüber dem Vorgang der Vergebung Nebensächliches oder gar Überflüssiges. Nur durch Worte (oder andere Zeichen), also durch eine „verborum metaphora“, durch die Sünde einem Menschen folgeträchtig zugerechnet wird, werden Verurteilung und Verdammung mitgeteilt und damit wirksam, ja wirklich, und nur durch Worte (oder andere Zeichen), also durch eine „verborum metaphora“ werden Vergebung oder Versöhnung mitgeteilt
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und damit wirksam, ja wirklich. Erst wenn man es so scharf und deutlich formuliert, bekommt man die von Luther gemeinte wirklichkeitssetzende und -verndernde, also ontologische Wirkung von Sprache in den Blick, um die es in seinen Aussagen über „verborum et rerum metaphora“ geht. Dann wird erkennbar, dass es weder so ist, dass eine metaphora rerum der Sprache voranginge und von ihr nur benannt wird, noch so, dass eine metaphora verborum stattfindet, die keine realitätsverändernde Wirkung hat, sondern dass die metaphora verborum eine metaphora rerum bewirkt – freilich nur unter einer, von Luther ausdrücklich benannten Bedingung: wenn sie Glauben schafft und findet.26 Dem ist freilich sofort hinzuzufügen, dass es nichts anderes als die durch den Geist Gottes beglaubigte metaphora verborum ist, die diesen Glauben wecken und schaffen kann. Die Vergebung, die Glauben wirkt, muss dem Menschen zugesprochen werden. Daraus erklärt sich auch, warum wir uns nicht selber vergeben kçnnen. Die Unterscheidung zwischen uns und unseren Taten muss uns erst zugesprochen werden, bevor wir sie für uns gelten lassen können. Wir können uns allerdings weigern, uns diese Unterscheidung und damit Vergebung zusprechen zu lassen nach dem Motto: „Das mögen andere und das mag Gott mir verzeihen, ich kann es mir nicht verzeihen“. Aber hat der Mensch, der sich auf diese Selbstunterscheidung nicht einlassen will, nicht recht? Ist er nicht Anwalt der Wahrheit, weil er darauf insistiert, dass er in re als Sünder von seiner Sünde gar nicht zu trennen ist? Ja, in gewisser Hinsicht hat er nicht nur recht, sondern bringt eine ganz wichtige Einsicht zur Geltung: Ich bin wirklich der Täter meiner Sünde. Wo die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde so (miss-)verstanden würde, als solle damit suggeriert werden: „Das war (oder bin) ja gar nicht ich“, da würde nicht Vergebung, sondern Verdrngung praktiziert – und die ist immer unwahrhaftig und darum gefährlich, ja tödlich. Das: „Ich habe gesündigt“ (2 Sam 12,13) ist nicht an sich die Weigerung, Vergebung anzunehmen, sondern es ist an sich sogar die Voraussetzung dafür. Zur Weigerung wird es erst dann, wenn dieses „Bekenntnis“ den Charakter der Selbstfestlegung annimmt: „So bin ich eben. Ich kann und will auch nicht anders.“ Gerade diese Festlegung soll durch die Vergebung aufgesprengt werden, indem dem (tatsächlichen) Sünder durch die (verbale) Unterscheidung zwischen ihm und seiner Sünde die Mçglichkeit des Neubeginns, also der Umkehr 26 „so dass jeder, der eben dies glaubt, wirklich keine Sünden [mehr] hat“ WA 8, 87,9/LDStA 2, 295,10 f.
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zugesprochen wird. Und nun erst wird deutlich, warum und inwiefern Luthers Satz gilt: „in dieser Übertragung (,translatione‘) gibt es nicht nur eine Übertragung (,metaphora‘) der Worte, sondern auch der Dinge“.27 So, wie es das Wesen der Metapher generell ist, dadurch neue Ausdrucksmçglichkeiten zu erschließen,28 dass ein Wort in einen neuen, ja fremden sprachlichen Kontext gestellt wird, so ist es das Wesen dieser Metapher, dadurch neue Lebensmçglichkeiten zu erschließen, dass ein Mensch in einem neuen, fremden Licht gesehen wird, nämlich im Lichte Jesu Christi. Und „im Lichte Jesu Christi“ heißt: „im Lichte des Kreuzes Jesu Christi“, an dem der im Namen des Gesetzes Gottes ( Joh 19,7; Gal 3,13) Verurteilte als Gotteslästerer (Mt 26,65) hängt und stirbt. Dort wird die Sünde verdammt, damit der Sünder lebe. Und diese Lebensmçglichkeit wird geschaffen, indem sie zugesprochen wird. 29 Das Verhältnis von Wort- und Sachübertragung kehrt sich also, gemessen an unserem normalen Denken, um. Nicht ist es so, dass zunächst eine „metaphora rerum“ und daraufhin eine „metaphora verborum“ stattfindet, sondern die „metaphora verborum“ ist ihrerseits die Bedingung für die „rerum metaphora“, genauer: die Weise, wie die „metaphora rerum“ stattfindet. Was verbal-metaphorisch gesagt wird, wird dadurch, dass es Glauben findet, also das Leben eines Menschen bestimmt, real-metaphorisch wahr. Die Wahrheitsfrage wird also keineswegs suspendiert, aber sie lässt sich nicht beantworten unabhngig von dem Ereignis der Zusage. Und diese Zusage wird wahr, indem sie ergeht und glaubend angenommen wird. Ihre Wahrheit kann also nicht von einem neutralen Ort „außerhalb“ dieses Geschehens her konstatiert (oder bestritten) werden. Von diesem Ort „außerhalb“ her ist nur wahrnehmbar, dass Sünder und Sünde eine untrennbare Einheit bilden. Diese banale und letzten Endes tödliche Wahrheit wird aber überholt durch die Zusage der Vergebung, die die Festlegung des Menschen auf seine Sünde aufbricht und ihm 27 WA 8, 87,6 f./LDStA 2, 295,8 f. (s. o. Anm. 8). 28 Vgl. dazu P. Ricoeur/E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, bes. S. 45 ff. und 71 ff. Diese erschließende Funktion von Metaphern wird auch von J. Werbick (Bilder sind Wege, München 1992, S. 66 – 69) eindrücklich beschrieben. 29 So auch E. Jüngel (s. o. Anm. 17), S. 85: „Denn das Evangelium redet vom Sein Jesu Christi als der Geschichte des sogenannten fröhlichen Wechsels. Und es gibt, indem es davon redet, dem Glaubenden Anteil an dem, wovon es redet“ (Hervorhebung von WH).
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eine neue Zukunft eröffnet. Und im Blick darauf gilt: „jeder, der dies glaubt, hat wirklich keine Sünden“.30
2.2 Die Entmachtung der Sünde durch das Kreuz Christi Was aber geschieht bei der Vergebung mit der menschlichen Sünde? Es könnte so scheinen, als sei schon diese Frage falsch gestellt und schaffe durch die sprachliche Formulierung künstlich ein Problem, das in der Realität nicht auftaucht, weil Sünde kein Ding, keine unabhängig vom Mensch existierende Sache ist, die in irgendeiner Weise „entsorgt“ oder vernichtet werden müsste. Aber auch wenn Sünde keine dingliche Realität ist, so ist sie doch eine (z. B. schmerzliche, quälende, folgenreiche, machtvolle) Realitt. Sie ist ja geschehen, hat als solche gewirkt und wirkt u. U. noch weiter. Sie wird (gewollt oder ungewollt) erinnert, weil sie Spuren hinterlassen hat, und sie kann darum – auch wenn sie vergeben wird – nicht in jedem Fall vergessen werden. Die Frage: „Was geschieht bei der Vergebung mit menschlicher Sünde?“ ist also eine sachgemäße und sie ist – theologisch wie psychologisch – sogar eine notwendige Frage. Solange sie nicht überzeugend beantwortet ist, bleibt die Sünde eine potentiell bedrohliche, weil unverarbeitete Größe. Die biblischen Formulierungen, die besagen, dass die Sünde „nicht an- bzw. zugerechnet“31 wird oder dass ihrer „nicht (mehr) gedacht“32 wird, beschreiben einen wichtigen Aspekt, der auch gefühlsmäßig gut nachvollziehbar ist – aber sie beschreiben nur eine Negation. Die Frage bleibt: Was geschieht mit dem, das nicht angerechnet oder dessen nicht gedacht wird? Ist es irgendwo aufbewahrt, liegt es sozusagen „bei den Akten“ und kann jederzeit wieder hervorgeholt oder abgerufen werden? Gerade das wäre jedoch allenfalls eine Stundung der Sünde, aber keine Vergebung. Zu ihr gehört, dass die Sünde „(aus-)getilgt“ (Ps 51,3; 109,14; Jes 44,22) ist oder – mit einem anderen, anschaulichen Bild gesagt, dass sie „in die Tiefe des Meeres“ geworfen wird (Mi 7,19). 30 WA 8, 87,8 f./LDStA 2, 295,10 f. (s. o. Anm. 8). 31 So z. B. Ps 79,8; 130,3; Apg 7,60; Röm 4,8; 5,13; 1 Kor 13,5; 2 Kor 5,19; 2 Tim 4,16. Zur Thematik der (Nicht-)Anrechnung siehe jetzt S. Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008. 32 So z. B. Ps 25,7; Jes 43,25; 64,8; Jer 31,34; Hes 13,16; Hebr 8,12 und 10,17.
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Dem neutestamentlichen Kerygma zu Folge hat die unbestimmte „Tiefe des Meeres“ im Kreuz Christi ihre konkrete Gestalt gefunden: Der Gekreuzigte ist zur Snde gemacht worden. Die vom Menschen unterschiedene Sünde findet hier ihren Haftpunkt – nicht um aufbewahrt und erhalten, sondern um verdammt und entmachtet zu werden.33 Wenn das nicht nur formelhafte Wendungen bleiben sollen, dann muss zweierlei verständlich gemacht werden: einerseits, inwiefern es sinnvoll ist, von Christus als dem Sündlosen zu sagen, er sei zur Sünde gemacht worden, und andererseits, inwiefern man sagen kann, die Sünde sei durch das Kreuz Christi verdammt und entmachtet? An der entscheidenden Stelle, an der Luther zu verstehen und verständlich zu machen versucht, inwiefern Christus zur Sünde gemacht ist,34 gebraucht er weder ,imputatio‘ noch ,reputatio‘, sondern mehrfach den Ausdruck ,deputatio‘, den man wörtlich mit ,Abordnung‘ oder ,Bestimmung‘ übersetzen müsste, sinngemäß aber wohl mit ,Verurteilung‘.35 Das scheint zu einer rein verbal verstandenen Metaphorik zu tendieren. Aber dem wehrt Luther, indem er sagt: „Was ist aber eine Verurteilung, die du nicht fühlst? Überhaupt nichts!“36 Der entscheidende Punkt, an dem es zu einer realen Übertragung kommt, ist also das Fühlen („sentire“) Christi. Durch dieses Fühlen wird die Verurteilung wirksam, ja wirklich („vigebat“). Was hat Christus gefühlt? Die „Furcht des Todes und der Hölle“.37 Er bekommt also das zu spüren, was der Snde zu recht zukommt. Diese Todes- und Höllenangst Christ, die im Todesschrei nach Gott ihren tiefsten Ausdruck findet, ist für Luther das Fühlen, das zeigt, das hier tatsächlich eine „rerum metaphora“ und nicht nur eine „verborum metaphora“ stattfindet. Aber inwiefern kann man sagen, dass in diesem Geschehen, genauer: in der Verkndung dieses Geschehens die Sünde entmachtet werde? Wie oben (1.3) gezeigt, ist es für Luther wichtig zu unterscheiden einerseits zwischen der Verdammung (und Entmachtung) der Sünde, die im Kreuz Christi stattgefunden hat, und andererseits ihrer Auslçschung oder 33 Dieser Gedanke kommt auch sehr anschaulich zum Ausdruck in Kol 2,14: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet“. 34 WA 8, 87,33 – 88,3/LDStA 2, 296,2 – 11 (s. o. Anm. 8). 35 Rudolf Mau übersetzt in LDStA 2, 297,5 – 12 ,deputatio‘ jeweils mit ,Verurteilung‘. Das ist sehr frei, passt aber in den Kontext. 36 WA 8, 87,38 f./LDStA 2, 297,7 f. (s. o. Anm. 8). 37 WA 8, 87,35 und 40/LDStA 2, 297,3 f. und 10 (s. o. Anm. 8). Man wird dabei an Bibelstellen wie Mk 14,33 – 36 und 15,34 sowie Gal 3,13 denken müssen.
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Beseitigung, die erst vom Eschaton zu erhoffen ist.38 Was darin zum Ausdruck kommt, ist nicht übertriebener Sündenernst oder mangelndes Zutrauen zu Gottes Gnade, wie dies gelegentlich der reformatorischen Theologie nachgesagt wird, sondern nüchterner Realismus, der um die Wirklichkeit des alten Menschen und der bleibenden Anfechtung weiß. Ihre tyrannische Macht kann die Sünde ausüben, weil sie ihren Platz im Herzen des Menschen, also im Personzentrum eingenommen hat.39 Und deswegen ist der Sünder unfähig, durch seine Kräfte oder Verdienste die Sünde zu besiegen. Das kann nur durch den geschehen, über den sie keine Macht hat: Christus. Er erleidet das Verdammungsurteil (zum Tod, ja zur Hölle), das – wie Luther sagt – über den „letzten Sünder“40 gefällt ist. Theologisch genauer ist es freilich, im Anschluss an Paulus zu sagen: das über die Snde gefällt ist; denn auch dem letzten Sünder (und gerade ihm!) gilt Gottes Gnade. Ausgenommen ist nur die Sünde. Und dadurch wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Paulus hier von „Sünde“ (als Macht) und nicht vom „Sünder“ spricht. Indem Christus metaphorisch zur Sünde gemacht wird und den Fluchtod des Kreuzes erleidet, wird nicht irgendein Sünder, sondern „die Sünde verdammt“, wie Luther immer wieder unter Verweis auf Röm 8,3 sagt.41 Dass sie verdammt ist, heißt: Sie ist gefangengenommen und zum Tode verurteilt.42 Das heißt: Gott selbst hat ihr das Daseinsrecht abgesprochen, und darum wird sie den Gerechtfertigten nicht angerechnet43 und soll von ihnen – immer neu – getötet werden (Röm 6,12).44 Von woher gewinnen wir diese Gewissheit, dass am Kreuz Christi die Sünde verdammt und damit entmachtet ist? Nicht vom Kreuz als solchem her, sondern erst aus dem Glauben an die Auferweckung Jesu Christi von den Toten. In der Auferweckung des Gekreuzigten legitimiert Gott Person und Werk Jesu Christi, ja er identifiziert sich mit dem, der in Gottes Namen verflucht wurde (Gal 3,13). Damit wird die Sünde, wie Luther in einer überaus kühnen Formel sagen kann, zur
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WA 8, 89,9 f. und 96,10/LDStA 2, 298,23 – 27 und 316,17 f. WA 8, 88,33/LDStA 2, 298,11: „situm suum in corde posuerat“. WA 8, 87,40/LDStA 2, 297,9 f. (s. o. Anm. 8). WA 8, 91,16; 92,40 f./LDStA 2, 304,10; 308,18 (s. o. Anm. 8) u. ö. WA 8, 91,21 f./LDStA 2, 305,25 f. Siehe dazu S. Rolf, Zum Herzen sprechen (s. o. Anm. 31), S. 48 – 56. So WA 8, 91,22 – 28; 92,42 und 93,11/LDStA 2, 305,29 – 35; 309,25 und 37.
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„Sünde Gottes“45 Aber eben damit wird sie von Gott – als Sünde – verdammt. Von daher ergibt sich auch ein Zugang zum Verständnis der Taufe, wie Paulus es Röm 6 entfaltet. Taufe ist ein – symbolisches – Sterben mit Christus, durch das der Getaufte „der Snde gestorben“ ist (Röm 6,10).46 Damit findet eine gewissermaßen gegenläufige „metaphora“ statt, durch die der Getaufte Anteil erhält an dem Entmachtungsgeschehen das außerhalb seiner selbst stattfinden muss, ihm aber zeichenhaft zugeeignet wird.
2.3 Das metaphorische Verständnis des Kreuzestodes Jesu Das alles ist freilich nicht am Kreuzestod Jesu als solchem abzulesen. Er ist „als solcher“ die – grausamer Phantasie entspringende – Hinrichtung eines Wanderpredigers, der als Aufrührer und Gotteslästerer qualvoll zu Tode gebracht wird. Dass in diesem Tod Christus zur Sünde gemacht und damit die Sünde verdammt ist, ist eine Dimension dieses Kreuzestodes, die sich erst zeigt, wenn man den Zusammenhang des Kreuzestodes mit dem Leben und Wirken Jesu einerseits und mit dem Glauben an die Auferweckung des Gekreuzigten andererseits wahrnimmt. Verkennt man dabei das metaphorische Element, so ergeben sich absurde Konsequenzen – dann wäre z. B. die Auferstehung des Gekreuzigten die Auferstehung der Sünde. Das metaphorische Verständnis indessen erschließt den Aspekt der Heilsbedeutung des Kreuzestodes, der besagt, dass die Befreiung des Menschen von der Sünde mçglich ist, indem sie ihm von Gott her zugesprochen wird, ohne dass der Mensch selbst diese Befreiung durch sein Kämpfen und Leiden ermöglichen könnte oder müsste.47 45 WA 8, 91,14 f./LDStA 2, 304,12 f.: „de peccato dei, id est, quem deus peccatum fecit“. Die (mehrfache) Umkehrung zwischen „menschlicher Sünde“ und „göttlicher Sünde“ sowie zwischen dem, was in der Sicht der Menschen und was in der Sicht Gottes Sünde ist, hat ein eindrucksvolles Vorbild in den paulinischen Aussagen über die Weisheit und Torheit der Welt und Gottes (bzw. des Kreuzes) sowie der Schwachheit und Kraft der Welt und Gottes (bzw. des Kreuzes, wie sie sich 1 Kor 1 und 2 finden. 46 So – unter Verwendung des Begriffs „Symbol“ – WA 8, 96,6 f./LDStA 2, 317, 15 f. 47 Von dieser Deutung her eröffnet sich auch ein Zugang zu anderen Bildern und Metaphern, die die Heilsbedeutung des Kreuzes zur Sprache bringen, wie z. B.
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Das Kreuz bekommt diese Heilsbedeutung nur dadurch, dass es als Heilsgeschehen erkannt und verkndigt wird – insoweit hat Bultmann recht.48 Und deshalb gehört aus der Sicht des Glaubens das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18) unablösbar zum Kreuz hinzu, und darum ist die Versöhnung konstitutiv auf das „Wort von der Versöhnung“ (2 Kor 5,19) angewiesen. Und das gilt ja wiederum generell: Vergebung bedarf des vergebenden Wortes (oder Zeichens), um wirksam werden zu können und um den Glauben zu wecken und zu finden, der tatsächlich von Sünde befreit, weil er die Erfüllung des ersten Gebots und damit implizit aller Gebote ist. Und darum gilt auch – mit Luther –, „dass jeder, der eben dies glaubt, wirklich keine Sünden [mehr] hat, sondern auf Christus übertragen, in ihm selbst verschlungen, können sie nicht mehr verdammen“.49 Muss man dann nicht noch einen Schritt weitergehen und sagen: Wir haben und brauchen nur das Wort der Vergebung und das Wort vom Kreuz, das Kreuz also nur als Metapher und nicht als (in sich ohnehin stumme) Wirklichkeit? Diese Preisgabe des wirklichen Kreuzes würde jedoch mit Notwendigkeit das Kreuz als Metapher zerstçren; denn nur als das brutale, kontingente Faktum kann das Kreuz Christi zum Haftpunkt der Sünde, zu dem Ort, an dem der Schuldbrief angeheftet ist, und d. h. zur Metapher werden. 50 Ohne die Wirklichkeit des Kreuzes würde die Metapher des Kreuzes allenfalls zur Idee vom Kreuz; so wie das bloße Wort der Vergebung, dem kein reales Verhalten entspricht, bloß die Idee von Vergebung darstellt. Das Kreuz als brutale Realität und als Metapher sind und bleiben unaufhebbar aneinander verwiesen und aufeinander angewiesen. Nur miteinander haben sie Heilsbedeutung. Aber auch in dieser Zusammengehörigkeit als verkündigtes Ereignis begründen sie keine Heilssicherheit, weil nichts uns die Garantie geben kann, dass diese Verkündigung diesem Ereignis angemessen ist. Wir bewegen uns also mit diesen Überlegungen nicht außerhalb, sondern innerhalb des Glaubens. Aber wo sonst und wie sonst sollte angemessen von der Heilsbedeutung der ,Gottesknecht‘, der um unserer Sünde willen zerschlagen ist ( Jes 53,5; Röm 4,25; 1 Petr 2,24) oder das ,Lamm Gottes‘, das der Welt Sünde trägt ( Joh 1,29). 48 Neues Testament und Mythologie (1941) München 1985, S. 61: „Wie kommen wir dazu, an das Kreuz als das Heilsgeschehen zu glauben? – Hier scheint es nur eine Antwort zu geben: weil es als solches verkündigt wird …“. 49 WA 8, 87,8 – 10/LDStA 2, 295,10 – 13 (Hervorhebung von W. H.) (s. o. Anm. 8). 50 Ähnlich G. Bader (s. o. Anm. 18) S. 100 f.
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„Christus factus est peccatum metaphorice“
des Kreuzes Christi gesprochen werden? – und zwar so, dass dadurch Gewissheit entstehen und Glaube geweckt werden kann.
„… gestorben für unsere Sünden“ Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi 1. Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung „Etwas herausfordernd könnte man sie [sc. die Evangelien] Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung nennen“.1 So hat es der große Bibeltheologie Martin Kähler an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert formuliert, und dieser Satz hat seitdem nichts von seiner Gültigkeit verloren. Die Wahrheit diese Aussage ergibt sich nicht nur daraus, welch großen Anteil die Passionserzählungen am Gesamttext der Evangelien haben, sondern auch – und m. E. mehr noch – daraus, dass das Passionsmotiv die Evangelien von Anfang an durchzieht. Am sichtbarsten ist das bei Matthäus, wo schon im 2. Kapitel die Tötungsabsicht des Königs Herodes gegen den „neugeborenen König der Juden“ (Mt 2,2) in die Tat umgesetzt wird, deren Ausführung sich grausam gegen die damaligen Säuglinge und Kleinkinder Bethlehems richtete. Auch in den Evangelien, die keine Kindheitserzählungen haben (Mk und Joh), taucht die Tötungsabsicht der Gegner (Mk 3,6 parr.) und die Ankündigung des Todesgeschickes Jesu ( Joh 1,29) schon ganz früh auf. Die Pläne der jüdischen religiösen und politischen Eliten (Hohepriester, Schriftgelehrte, Pharisäer, Herodes), Jesus umzubringen, durchziehen alle vier Evangelien wie ein roter Faden2 und münden schließlich übereinstimmend in seine Gefangennahme, Verurteilung und Hinrichtung am Kreuz. Dass diese Tötungsabsicht nicht schon früher verwirklicht wird, erklären die Evangelien wiederholt aus der Furcht der Oberen vor dem Volk, das mit Jesus sympathisiert, auf seiner Seite steht oder ihm sogar nachfolgt. Dass der Plan, Jesus zu töten, so früh und so konsequent und schließlich so erfolgreich verfolgt wird, versteht sich nicht von selbst. 1 2
M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), München 19562, S. 60. Mk 3,6, parr. Mt 12,14 und Lk 6,11; Mk 11,18, par. Lk 19,47; Mk 12,12, parr. Mt 21,46 und Lk 20,19; Joh 5,16 und 18; Joh 7,25; Joh 11,50 – 53. Hinzu kommen die Leidensankündigungen Jesu in Mk 8,31; 9,31; 10,33 parr. sowie Mk 10,45.
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Denn Jesu Auftreten war keine Kampfansage gegen die Mächtigen, seine Botschaft enthielt keine Aufforderung zum Umsturz, zur Rebellion oder Revolution, nicht einmal mit der römischen Besatzungsmacht legte Jesus sich an, wie die sog. Perikope vom ,Zinsgroschen‘ über das Steuerzahlen (Mk 12,12 – 17 parr.) exemplarisch zeigt.. Deshalb stellt sich die Frage, warum Jesus den jüdischen und römischen Eliten in Religion und Gesellschaft so sehr ein Dorn im Auge war. Oder sollte er als Prophet oder als der zur Erlösung bestimmte Sohn Gottes eines gewaltsamen Todes sterben? War dieses Todesgeschick Gottes Plan und Wille, der von Menschen nur ausgeführt wurde, dessen blinde Werkzeuge sie also waren. Und suchte Jesus darum diesen Tod und forderte ihn geradezu heraus? Aus den Leidensankündigungen Jesu wird erkennbar, dass er dieses Todesgeschick zwar sehenden Auges in Kauf nimmt, aber nicht sucht oder provoziert. Und dazu passt schließlich auch die Bitte in Gethsemane: „mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk 14,36 parr. Mt 26,39 und Lk 22,42). So betet nicht, wer den Tod sucht. An zwei Stellen berichten die Evangelien davon, dass es Versuche gab, Jesus vor diesem bevorstehenden Todesschicksal zu warnen und ihn zu veranlassen, dieser Gefahr auszuweichen. Die eine – sehr bekannte – Stelle ist die Intervention des Petrus nach der ersten Leidensankündigung Jesu: „Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren“ (Mk 8,32; bei Mt 16, 22 noch deutlicher: „Und Petrus nahm ihn beiseite und fuhr ihn an und sprach: Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!“) – mit der scharfen Erwiderung Jesu: „Geh weg von mir, Satan! denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Mk 8, 33, bei Mt 16,23 wortgleich, aber zusätzlich eingefügt: „Du bist mir ein Ärgernis“). Die andere – weniger bekannte – Erzählung ist nur bei Lukas überliefert (Lk 13,31 – 33) und hat folgenden Wortlaut: „zu dieser Stunde kamen einige Pharisäer und sprachen zu ihm: Mach dich auf und geh weg von hier; denn Herodes will dich töten. Und er sprach zu ihnen: Geht hin und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe böse Geister aus und mache gesund heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet sein. Doch muss ich heute und morgen und am folgenden Tage noch wandern; denn es geht nicht an, dass ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem.“ Hier sind es also nicht Jünger, sondern – vermutlich mit Jesus sympathisierende – Pharisäer, die ihn vor der Tötungsabsicht des Königs Herodes warnen. Es wird in dem Text zwar nicht gesagt, dass Jesus sich dadurch
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warnen oder zur Änderung seiner Pläne veranlassen lässt, wohl aber, dass er unter Verweis auf seine noch nicht vollendete Aufgabe und in der Erwartung des Märtyrertodes in Jerusalem dem Herodes eine (sehr selbstbewusste) Botschaft zukommen lässt. Diesen Weg nach Jerusalem tritt Jesus dann auch an, gerät durch seine Verkündigung und seine Wunder, aber auch durch die Zeichenhandlung der Tempelreinigung3 in Konflikt mit den religiösen Obrigkeiten in Jerusalem, wird dort verhaftet, verurteilt und durch die Römer als „König der Juden“ am Kreuz hingerichtet. Das ist und wäre an sich nichts anderes als das Schicksal eines Märtyrers, der seinem ihm von Gott gegebenen Auftrag und seiner ihm aufgetragenen Botschaft (der Verkündigung der anbrechenden Gottesherrschaft) von Anfang bis zum Ende treu geblieben ist, sich weder durch Todesdrohungen noch durch Warnungen von seinem Weg abbringen und in seiner Sendung unsicher machen ließ und darum in Konsequenz seiner Sendung den Tod am Kreuz gestorben ist, wodurch er zugleich die Ernsthaftigkeit und Geltung seiner Botschaft im höchstmöglichen Maß subjektiv unterstrichen und bekräftigt hat. Ein bewunderns- und verehrungswürdiger Prophet, für diejenigen, die an ihn als den von Gott Auferweckten glauben, freilich viel ,mehr‘ als ein Prophet, nämlich der verheißene und erhoffte Messias, der Sohn Gottes, der Kyrios, von dem Christen ihr Heil in Zeit und Ewigkeit erhoffen und erwarten. Bis dahin dürften die meisten Christenmenschen und Theologen meiner Beschreibung und Analyse des neutestamentlichen Befundes zustimmen, aber genau hier teilen sich dann auch die Wege hinsichtlich der Frage nach der Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi: Für die einen ist mit dem bisher Gesagten im Wesentlichen alles gesagt, was es hierzu zu sagen gibt, für die anderen ist das bisher Gesagte nur so etwas wie das Rohmaterial oder ein historischer Unterbau, auf den nun die Aussagen über die Heilsbedeutung dieses Todes erst aufgebaut werden müssen. Ich bin der Überzeugung, dass es sich nicht nur lohnt, sondern dringend geboten ist, an dieser Stelle weder die Akten über die Frage nach der Heilsbedeutung dieses ,Märtyrertodes‘ zu schließen, noch von hier aus umstandslos in die traditionelle kirchliche Lehr- und Dogmenbildung zu springen, sondern – von hier ausgehend – Schritt für 3
In diesen Zusammenhang könnte auch das Wort vom Abbruch (und Wiederaufbau) des Tempels gehören, das anscheinend im Rahmen des Prozesses gegen Jesus eine Rolle spielte (Mk 14,58; 15,29 par. Mt 27,40; Mt 26,61; Joh 2,19 f.).
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Schritt nach einer gedanklichen Klärung und Antwort auf die Frage zu suchen, ob und inwiefern über das bisher Gesagte hinaus diesem Tod am Kreuz (auch für uns heute) Heilsbedeutung zukommt. Alle ernsthaften und wichtigen theologischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem mir gestellten Thema liegen also noch vor uns. Dabei will ich nun zunächst nicht biblische oder kirchliche Begriffe und Vorstellungen von der Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi auf den bisher erhobenen biblisch-exegetischen Befund anwenden und auf ihre Vereinbarkeit mit diesem Befund hin überprüfen (das soll im Schlussteil folgen), sondern noch einmal bei diesem biblisch-exegetischen Befund ansetzen und ihn genauer zu verstehen versuchen.
2. Analyse der Konflikte, die zur Tötungsabsicht führen Alle vier Evangelien stimmen an einem Punkt hinsichtlich unserer Thematik völlig überein: Die Tötungsabsicht gegen Jesus entsteht aufgrund eines Konfliktes um das Sabbatgebot. Im Markusevangelium, als dem ältesten, sind es sogar zwei Sabbatkonflikte, die in den Satz münden: „Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald Rat über ihn mit den Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbrächten“ (Mk 3,6). Bei Lukas wird das noch drastischer und dramatischer ausgedrückt: „Sie aber wurden ganz von Sinnen und beredeten sich miteinander, was sie Jesus tun wollten“ (Lk 6,11). Die beiden Konflikte sind einmal das Ährenausraufen der Jünger an einem Sabbat, um ihren Hunger zu stillen, andererseits die Heilung eines Menschen mit einer ,verdorrten‘ Hand ebenfalls an einem Sabbat. Bei Matthäus und Lukas sind diese beiden Erzählungen jeweils zu einer einzigen zusammengefügt worden. In diesen beiden Sabbaterzählungen finden sich drei Aussagen, die man als ausgesprochen pointiert und grundsätzlich bezeichnen muss: – Das erste ist die Aussage Jesu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27). – Die zweite pointierte Aussage Jesu lautet: „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat“ (Mk 2,28). – Die dritte Aussage ist schließlich eine (rhetorische) Frage, die Jesus stellt: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten?“ (Mk 3,4). Im Johannesevangelium wird die Tötungsabsicht ebenfalls – und ebenfalls in sehr massiver Form – im Anschluss an eine Heilung Jesu am
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Sabbat erwähnt: „Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch. Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich“ ( Joh 5,15 – 18). Dieser Befund ist beeindruckend einmütig, sogar über die Grenzen der Synoptiker hinweg. Er besagt, dass es Jesu Einstellung zum Sabbatgebot war, wie sie durch seine Taten und Worte zum Ausdruck kam, die zur Tötungsabsicht gegen ihn führte. Das ist insofern nachvollziehbar, als Jesus sich mit diesen Aussagen und mit dieser Praxis in Konflikt mit der damals gültigen, allgemein anerkannten Auslegung eines Dekaloggebotes brachte, also eines Gebotes, das dem Volk Israel durch Mose von Gott selbst gegeben worden war. Damit entlarvte sich Jesus entweder selbst als Gesetzesbrecher und Gotteslästerer, oder er stellte damit die jüdische Auslegungstradition und die hinter ihr stehenden Autoritäten radikal in Frage. Auf dieser Linie lag ja auch der Autoritätsanspruch, der in der Aussage zum Ausdruck kommt, der Menschensohn sei ein Herr auch über den Sabbat (gleichgültig, ob mit ,Menschensohn‘ hier im umgangssprachlichen Sinn ,jeder Mensch‘ oder der in Jesus Christus verkörperte endzeitliche Richter und/oder Heilsbringer gemeint ist, von dem Dan 7, 13 – 15 spricht). Schließlich wird in dem Fundamentalsatz, dass der Sabbat um des Menschen willen gemacht sei und nicht der Mensch um des Sabbats willen, eine Sinndeutung nicht nur des Dekalogs, sondern überhaupt des Gesetzes Gottes gegeben, deren Bedeutung man schwerlich überschätzen kann.4 Diese Sinndeutung kommt zusammengefasst zum Ausdruck in dem wiederholt im Neuen Testament ausgesprochenen Gedanken, dass der (gesamte) Wille Gottes und das (gesamte) Gebot Gottes seinen Ausdruck findet im Doppelgebot der Liebe (Mk 12,30 f., parr. Mt 22,37 – 39 und Lk 10, 27; Röm 13,9 f.). Im Streit um den Sinn und die Bedeutung des Sabbatgebotes kommt der Zusammenhang zum Liebensgebot zum Ausdruck in der bereits zitierten rhetorischen Frage Jesu an seine Gesprächspartner: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten?“ (Mk 3,4). Dabei ist die Selbstliebe (nicht die Selbstsucht oder der Egoismus!) bei Jesus im Gebot der Nächstenliebe 4
Diese Deutung findet sich übrigens in nachchristlicher Zeit auch bei einigen Rabbinen.
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(zumindest implizit) mit eingeschlossen: So rechtfertigt Jesus die Tatsache, dass seine Jünger am Sabbat Ähren ausraufen, um ihren Hunger zu stillen, mit den Worten: „Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes … und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?“ (Mk 2,25 f. parr. Mt 12,3 f.; Lk 6,3 f.). Und darauf folgt dann unmittelbar das schon zitierte Wort: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ bzw. „Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat“. In diesem grundsätzlichen und radikalen Form kommt zum Ausdruck, dass der Sinn des Gesetzes Gottes nicht schon in der Befolgung der Einzelgebote (unabhängig von der Handlungsmotivation) erfasst und erfüllt ist, sondern erst im Liebesgebot zum Ausdruck gebracht ist und erfüllt wird. Das heißt nicht etwa (bloß): Das Liebesgebot sei die Zusammenfassung des Dekalogs und der anderen Gebote. Damit wäre noch zu wenig gesagt, sondern es heißt, dass das, worauf es im Gesetz ankommt, was sein Sinn ist, erst im Liebesgebot erfasst und zur Geltung gebracht wird. Einen eindrucksvollen Beleg hierfür finden wir im sog Hohen Lied der Liebe 1 Kor 13, wo Paulus in mehreren Anläufen große charismatische Begabungen („mit Engelzungen reden“), große prophetische Fähigkeiten („wüsste alle Geheimnisse“) und schließlich große soziale Taten („alle meine Habe den Armen gäbe“) dreimal kontrastiert mit dem möglichen Fehlen der Liebe („und hätte die Liebe nicht“), und daraufhin dreimal zum selben Schluss kommt: Es wäre nichts und würde mir nichts ntzen. Dabei wären die Worte des Paulus ebenso wie die Worte und Taten Jesu m. E. gründlich missverstanden, wenn man sie als Ausdruck eines laxen oder liberalen Gesetzesverständnisses interpretieren würde nach dem Motto: Das muss man alles nicht so eng sehen und nicht so ernst nehmen. Sie sind das Gegenteil: eine ungeheuere Radikalisierung und Vertiefung des Gesetzes. Denn sie zielen auf eine Schicht unseres Handelns, Lebens und Seins, auf der es keine Tricksereien und faulen Kompromisse gibt, sondern auf der wir uns als die zeigen (müssen), die (und wie) wir sind. Diese Schicht unseres Personseins haben wir nicht in der Hand, über sie verfügen wir nicht. Diese Radikalisierung lebt theologisch von der Überzeugung, die Paulus in Röm 7, 10 – 12 dadurch zum Ausdruck bringt, dass er sagt, das Gesetz sei (von Gott) „zum Leben gegeben“, und als solches sei es „heilig, gerecht und gut“.
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Man muss freilich genauer zusehen, worin diese Radikalisierung besteht und worin nicht. Der frühere Heidelberger Neutestamentler Günther Bornkamm hat das in seinem Jesusbuch5 m. E. treffend zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt, „dass die Weisungen Jesu in ihrer Konkretheit nichts zu tun haben mit … Kasuistik … Diese hat ihr Kennzeichen darin, dass sie immer engere Maschen eines Netzes knüpft in dem Bestreben, das ganze Leben des Menschen einzufangen. Aber sie lässt mit jeder neuen Masche ein neues Loch und spart mit ihrem Eifer, konkret zu werden, doch in Wahrheit das Herz des Menschen aus … Die konkreten Weisungen Jesu dagegen greifen durch die Lücken und Löcher nach dem Herzen des Menschen und treffen dorthin, wo sein Dasein gegenüber dem andern und gegenüber Gott wirklich auf dem Spiel steht“. Sie sind also radikal in dem wörtlichen Sinne, dass sie dem Bösen an die Wurzel gehen: an die Lieblosigkeit und den Mangel an Liebe, und nach der Wurzel des Guten fragen: nach der Befähigung zur Liebe und zu ihrem Tun. Und beides hat seinen Ort im Herzen des Menschen, also dem Zentrum seines Fühlens, seines Denkens und seines Wollens. Erst wenn man das Gesetz so und von da aus versteht, begreift man einerseits, dass es alles andere als eine willkürliche Gehorsams- oder Unterwerfungsforderung darstellt, sondern die Grundordnung heilvollen Lebens ist, und dass darum andererseits die Übertretung und Verletzung des Gesetzes ein Sich-Vergehen und Sich-Vergreifen am Leben selbst darstellt. Der Prophet Jeremia bringt das mit folgenden Worten eindrücklich und anschaulich zum Ausdruck: „Denn mein Volk tut eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch rissig sind und kein Wasser geben“ ( Jer 2,13). Hier wird auch der innere Zusammenhang zwischen Sünde und Tod erkennbar, der die ganze Bibel durchzieht. Er ist völlig falsch verstanden, solange die Sünde als eine Gesetzesübertretung interpretiert wird, die Gott in äußerster Strenge und Härte mit der Verhängung der Todesstrafe bedroht und ahndet. In ihrem Sachgehalt wird sie jedoch zutreffend verstanden, wenn erkannt wird, dass die Hinwendung zur Sünde Abwendung von Gott als dem Grund und der Quelle des Lebens ist. Gott verlassen, heißt den Tod wählen. Und weil das so ist, darum kann auch die Übertretung des Gesetzes Gottes nicht bagatellisiert, nicht für gleichgültig oder unwichtig erklärt werden. Sie ist ein Vergehen 5
Jesus von Nazareth, Stuttgart u. a. (1956) 198012, S. 93.
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gegen das Leben, das – so oder so – sowohl die Opfer als auch die Täter zu spüren und zu erleiden bekommen. Und darum geben auch die Worte Jesu aus der Bergpredigt zum Gesetz, selbst wenn sie wohl erst vom Verfasser des Matthäusevangeliums so formuliert worden sind, doch Jesu Stellung zum Gesetz sachlich zutreffend wieder: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Und der Weg Jesu ist schon seit alters von der Christenheit verstanden worden als der Weg der konsequenten Gesetzeserfüllung – nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist nach und darum in Erfassung seines tiefsten Sinnes und Gehaltes. Die altprotestantische Theologie spricht in diesem Zusammenhang von dem aktiven Gehorsam Jesu, der darin besteht, dass er in seinem Reden, Handeln, Sein den Willen Gottes erfüllt. Und sie stellt diesem aktiven Gehorsam den passiven Gehorsam Jesu an die Seite, der darin besteht, dass er, der so gelebt und gehandelt hat und (dennoch) im Namen des Gesetzes zum Tod verurteilt wird, diesen Tod am Kreuz erduldet und erleidet. Damit nähern wir uns dem Zentrum dessen, worin nach biblischchristlichem Verständnis die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi zu suchen und zu finden ist.
3. Versöhnung und Vergebung als spezifische Form des Heilwerdens Die Abwendung von Gott und damit die Abwendung vom Grund und von der Quelle des Lebens ist der biblischen Botschaft zufolge, die durch unsere Erfahrungen bestätigt wird, nicht bloß eine Mçglichkeit des Menschen, sondern eine Wirklichkeit, die er schon vorfindet, wenn er in diese Welt hineingeboren wird, und die er auch schon in sich vorfindet, wenn er dazu fähig wird, sich selbst wahrzunehmen und zu erkennen. Dass „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf“ (Gen 8,21), darin sind sich das Alte und das Neue Testament (Mk 7,14 – 23) einig. Aber dort, wo diese Realität des Bösen erkannt, anerkannt, betrauert und bereut wird, da heißt die biblische
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Reaktion Gottes nicht Strafe und Forderung nach Wiedergutmachung, sondern Vergebung 6. Aber was heißt ,Vergebung‘? – Vergebung hat nichts damit zu tun, eine böse Tat zu bagatellisieren. Wenn etwas ,halb so schlimm‘ war oder ,nichts ausmacht‘, dann gibt es auch nichts zu vergeben. – Vergebung hat auch nichts damit zu tun, dass etwas, was geschehen ist, ungeschehen gemacht würde. Das ist unmöglich, selbst wenn wir es uns sehnlichst wünschen (würden). – Vergebung ist nicht einmal dasselbe wie Vergessen. Manche Dinge können wir nicht vergessen, und sie stehen uns vielleicht umso deutlicher vor Augen, je mehr wir uns bemühen, sie zu vergessen. – Vergebung ist etwas ganz anderes. Vergebung heißt, dass etwas, das geschehen ist und einen anderen oder die Beziehung zu ihm verletzt hat, nicht mehr angerechnet wird. Es ist geschehen und bleibt geschehen, aber es steht nicht mehr trennend zwischen den Beziehungspartnern. D. h.: In der Vergebung machen oder erhalten wir das Angebot und die Zusage, dass die Beziehung zu einem Menschen für uns wichtiger ist als das, was er uns oder wir ihm angetan haben. Das ist eine Unterscheidung zwischen dem Menschen und seinem Tun (zwischen ’Person und Werk‘) 7, die oft nicht leicht, sondern manchmal sogar bitter schwer fällt. Und genau damit berühren wir das Geheimnis dessen, was im Neuen Testament ,Vergebung‘ und ,Versöhnung‘ heißt. In der Beziehung zu Gott, aber oft genug auch in der Beziehung zu Mitmenschen sind wir darauf angewiesen, dass uns nicht vergolten wird, wie wir getan haben, und nicht nachgetragen wird, was wir getan haben, und nicht vorgehalten wird, was wir noch schuldig sind, sondern dass das geschehene Böse nicht mehr angerechnet wird. Damit passiert etwas Unerwartetes, fast Unvorstellbares: Das göttliche oder menschliche Gegenüber, das zum Opfer des Bösen geworden ist, trägt und erträgt selbst die Folgen der Sünde, es erleidet sie in sich selbst. Es wird damit zum „Sündenbock“(Lev 16,7 – 22), und zwar nicht unwillig oder widerwillig, sondern bereitwillig. Das ist es, was die älteste Christenheit im Nachdenken über den Kreuzestod Jesu entdeckt. Sie sieht diesen Tod, den Tod dessen, der für Gottes Liebe in dieser Welt eingetreten ist, der kein Unrecht getan, sich 6 7
So exemplarisch in 2 Sam 12,13; Ps 103,3; Jon 3,4; Mt 8,27; Mk 2,5; Lk 5,8 – 10; 15,21 – 24; 19,8 – 10; Joh 8,7 – 11; 2 Kor 5,19; 1 Joh 2,1 f. S. dazu o. S. 248 – 250.
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nicht der Lüge oder Gewalt verschrieben hat, im Licht jenes rätselhaften „Gottesknechtes“, von dem bei Jesaja gesagt wird: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ ( Jes 53,4 f.). Wohl gemerkt: Hier wird nicht gesagt, Gott habe ihn geschlagen und gemartert, erst recht nicht wird gesagt, Gott habe dieses Leiden, dieses Blut, diesen Tod gebraucht, um sich unser zu erbarmen, sondern es wird gesagt, dass wir Menschen ihn für einen gehalten haben, der von Gott geschlagen und gemartert wurde. Irrtümlich! Jesus Christus bekommt nicht Gottes Zorn (den es sehr wohl gibt) 8 zu spüren und zu tragen, sondern er bekommt unsere Lieblosigkeit, unsere Unwahrhaftigkeit, unsere Lebensfeindlichkeit und deren Konsequenzen zu tragen und zu spüren. Wenn es richtig ist, dass in Jesus Christus Gottes Liebe menschliche Gestalt genommen hat, und diese Überzeugung steht im Zentrum des christlichen Glaubens, dann besagt der Kreuzestod Jesu Christi, dass diese menschgewordene Liebe Gottes ans Kreuz geschlagen wurde, aber auch dabei nicht umschlägt in Hass, Vergeltung oder Rache, sondern diese gesammelte Bosheit auf sich nimmt, bis zum bitteren Ende trägt und noch für seine Peiniger betet (Lk 23,34). Was im Kreuzestod Jesu Christi geschieht, lässt sich erahnen und erspüren. Es ist das unschuldige, unverschuldete Erleiden und Ertragen des Bösen, das samt seinen Auswirkungen in dieser Welt eine bittere Realität ist. Was damit geschieht, entzieht sich weitgehend einer theoretischen Beschreibung durch unsere begriffliche Sprache. Deswegen verwendet schon das Neue Testament Vergleiche, Bilder, Metaphern, Symbole, wenn es vom Tod Jesu Christi und von dessen Heilsbedeutung spricht. Und es verwendet mehrere, zahlreiche, ganz unterschiedliche Vergleiche, Bilder, Metaphern, Symbole, um das nicht beschweigen und verschweigen zu müssen, was im Tod Jesu Christi geschehen ist.
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S. dazu o. S. 343 – 366, bes. 348 – 354.
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4. Metaphern für die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi 4.1 Sühnopfer Unter den Metaphern, die im Neuen Testament verwendet werden, hat sich eine mit besonderem Nachdruck in das kollektive Gedächtnis der Christenheit eingeprägt: das Shnopfer. Diese Vorstellung kommt zum Ausdruck in Röm 3,25.9 Aber auch die sich an Jesaja 53 anlehnende Rede von „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ ( Joh 1,29) sowie die im Hebräerbrief mehrfach auftauchende Vorstellung von Jesus Christus als dem Hohenpriester, der sich selbst geopfert hat (Hebr 9 f.) gehören in diesen Zusammenhang. Die Stärke dieser Metapher vom ,Sühnopfer‘ liegt darin, dass in ihr vorausgesetzt wird, dass es für das menschliche Leben und Zusammenleben einer Ordnung bedarf, deren Missachtung oder Verletzung nicht folgenlos bleibt, sondern zerstörerische Konsequenzen hat. In der Sühnopfer-Metapher wird die Verletzung der von Gott gegebenen Ordnung des Lebens samt deren verheerenden Folgen ganz ernst genommen, indem bewusst gemacht wird, dass diese Verletzung ein Wieder-gut-machen (im wörtlichen Sinn) erfordert. Und Paulus verbindet in Röm 3,25 in diesem Sinn den Sühnegedanken mit dem Gedanken der Sündenvergebung. Wird diese Verbindung aufgelöst und die Sühnevorstellung vom Vergebungsgedanken isoliert, dann besteht die große Gefahr, dass sie den Eindruck erweckt, Gott sei es, der eine Sühne brauche und fordere, weil seine Ehre verletzt10 oder seine Liebe missachtet worden sei. Immer dann aber, wenn Aussagen über die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi den Eindruck erwecken, durch den Kreuzestod Jesu Christi sei Gott erst versçhnt worden, hat das mit der neutestamentlichen Botschaft nichts mehr zu tun. Gott ist das Subjekt des Versçhnungsgeschehens, nicht ihr Objekt. Gott muss nicht versöhnt werden, sondern er war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst (2 Kor 5,19). Dass das Böse (s)ein Opfer fordert, ist richtig, aber das Besondere 9 „Den [sc. Jesus Christus] hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus“. Der Sühnegedanke wird hier von Paulus interpretiert als Erweis der göttlichen Gerechtigkeit, d. h. als Erweis seiner Bundes- und Gemeinschaftstreue durch Vergebung der Sünden. 10 So Anselm von Canterbury, Cur Deus homo.
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und Charakteristische der Rede vom (Sühn-)Opfer im Neuen Testament besteht gerade darin, dass nicht (mehr) wir Menschen Gott Opfer bringen, um ihn gnädig zu stimmen, sondern dass Gott sich in Jesus Christus zu unseren Gunsten, uns zu Liebe opfert. Was für eine Vertauschung! Hier wird die religionsgeschichtliche Institution des Opfers auf den Kopf gestellt und damit – ein für alle Mal – abgetan, also selbst „geopfert“.11 4.2 Versöhnung Im Deutschen wirkt das Wort ,Versöhnung‘ so, als sei es dem Wort ,Sühne‘ nahe verwandt. Betrachtet man die griechischen Wurzeln dieser Begriffe ( jatakk… vs. Rkas…), so wird schon optisch deutlich, dass beide Vorstellungen nichts miteinander zu tun haben. Versöhnung – und das ist die zweite Metapher, die wir nun betrachten und bedenken – ist die Wiederherstellung einer gestörten, beschädigten oder zerbrochenen Beziehung, die durch die Schuld eines der Partner oder durch beiderseitige Schuld Schaden gelitten hat: durch böse oder verleumderische Worte, durch betrügerische Machenschaften, durch Anfeindungen oder Nachstellungen, durch Treulosigkeit oder Verrat u. Ä. „Versöhnung“ meint die Wiederherstellung einer Beziehung, und als eine solche ist sie eine gut geeignete Metapher, um die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi zum Ausdruck zu bringen. Freilich muss hier sofort hinzugefügt werden: Es handelt sich nicht um eine Versöhnung zwischen zwei zerstrittenen oder verfeindeten Parteien auf gleicher Augenhöhe, sondern es handelt sich um die Versöhnung, die paradoxerweise12 von dem ausgeht, der verletzt, verlassen, verleugnet wurde. Nicht der Täter, sondern das Opfer reicht die Hand und lädt zur Versöhnung ein: „so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2 Kor 5,20).
11 Das hebt nicht auf, dass es auch im Christentum das lebendige Lobopfer für Gott gibt, das darin besteht, dass wir uns für den Dienst Gottes zur Verfügung stellen (Röm 12,1; 1 Petr 2,5; EG 449,3). 12 Ich halte es aber für psychologisch plausibel, dass generell der Verletzte, das Opfer eher die innere Möglichkeit und Kraft hat, den Schritt zur Versöhnung zu tun – wenn auf der anderen Seite Versöhnungsbereitschaft besteht.
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4.3 Loskauf Eine Metapher, die auch schon in der synoptischen Verkündigung Jesu vorkommt, ist die vom ,Lösegeld‘ bzw. ,Loskauf‘: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Die Metapher setzt nicht eine Verletzung der Ordnung des Lebens oder eine gestörte Beziehung, sondern eine Situation der Abhängigkeit, der Gefangenschaft oder der Sklaverei voraus. Hier wird Sünde im Sinne von Joh 8,34 als Knechtschaft verstanden: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht“. In Luthers Katechismen ist dies die dominierende Metapher.13 Mit ihr ist in der Geschichte der christlichen Kirche und Theologie gelegentlich der Gedanke verbunden worden, der Sünder habe sich zum Sklaven des Teufels gemacht, der nun einen Rechtsanspruch auf ihn habe, der nur durch Zahlung eines Lösegeldes „abgelöst“ werden könne. Wo diese Metapher so verstanden wird, besteht die Gefahr, dass der Satan wie ein gleichrangiges Gegenüber zu Gott verstanden wird, das Gott gegenüber Rechtsansprüche hat und mit dem Gott einen Handel machen muss und macht. Das ist wohl eher ein Abweg. Aber zutreffend und ansprechend an dieser Lösegeld-Metapher ist der Gedanke, dass wir uns durch das Tun des Bösen nicht etwa Freiheit erwerben, sondern unsere Freiheit verlieren und in die Abhängigkeit vom Bösen geraten und darum der Befreiung durch Christus bedürfen. 4.4 Stellvertretung Noch einmal anders ist die Metapher von der Stellvertretung, die sich ebenfalls an Jesaja 53 anlehnt, wo es heißt, dass der Gottesknecht „um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen“ wurde, dass die Strafe auf ihm liegt, damit wir Frieden hätten. Hier wird vorausgesetzt, dass Jesus Christus durch seinen Kreuzestod etwas erleidet, was eigentlich uns treffen müsste, was wir verdient haben. Das ist vielen Menschen schwer nachvollziehbar, zumal in einer Gesellschaft, die schon lange die Todesstrafe abgeschafft hat. Aber viel13 Siehe dazu BSLK 511,22 – 38 und 650,42 – 653,24 – mit der interessanten Pointe, dass der Sünder unter der Gewalt des Teufels „keinen Herrn noch König gehabt“ hat, sondern erst durch Christus eine Herrn bekommt (BSLK 651,31 – 40).
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leicht kann sich die Bedeutung dieser Metapher dann eher erschließen, wenn wir das Elend und den Tod nicht als eine von Gott verhängte Strafe, sondern als eine innere Folge der Sünde wahrnehmen und begreifen und wenn wir es dann auf uns wirken lassen, was es heißt, dass wir Gott gegenüber nicht das auszulöffeln haben, was wir uns eingebrockt haben, sondern dass Jesus Christus für uns einsteht und eintritt, so dass er in der Beziehung zu Gott die Sündenfolgen, insbesondere die Gottverlassenheit und Einsamkeit erträgt14, die der Mensch durch seine Sünde verursacht hat. 4.5 Fröhlicher Wechsel Noch einen Schritt weiter in diese Richtung geht Paulus im Galaterbrief, wo er eine Vorstellung aufnimmt, die in der mittelalterlichen Mystik weiterentwickelt worden ist zum Gedanken des ,fröhlichen Wechsels‘ oder ,Tauschs‘. Paulus sagt in Gal 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben“. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi wird hier verstanden geradezu als ein Identittstausch zwischen Christus und dem sündigen Menschen. Im Römerbrief kann Paulus dem so Ausdruck geben, dass er sagt: Wir sind mit Christus gestorben und begraben (Röm 6,1 – 11), und darum kann nun auch gesagt werden: Der auferweckte „Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Luther hat diesen Gedanken – schon in seinem Freiheitstraktat von 152015 – so aufgenommen, dass er sagt, Christus übernimmt unsere Sünde, erleidet sie, als sei er ihr Täter, und schenkt uns dafür seine Gerechtigkeit. Diese mystische und auch mythologische Ausdrucksform sollte nicht verstellen, dass das, was damit beschrieben wird, eine existentielle Erfahrung mit großer, befreiender Wirkung ist: Dort, wo ein 14 Dafür steht der – sicher authentisch überlieferte – Kreuzesschrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk16,34 par.). 15 Siehe WA 7, 25,26 – 26,12; WA 7, 54,31 – 55,36; LDStA 2, 134,14 – 137,40. Siehe dazu W. Allgaier, Der „fröhliche Wechsel“ bei Martin Luther, Diss. Erlangen-Nürnberg 1966; R. Gebhardt, Heil als Kommunikationsgeschehen. Analysen zu dem in Luthers Rechtfertigungslehre implizierten Wirklichkeitsverständnis, Marburg 2002, sowie S. Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008.
Metaphern für die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi
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Mensch auf den Gott zu vertrauen lernt, dessen Liebe in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat, da ereignet sich Befreiung, Ermutigung, ein neues Selbstverständnis, von dem Gefühl, Wille und Vernunft eines Menschen erfasst und durchdrungen werden. Die Metapher vom fröhlichen Wechsel hat sich längst nicht so in der Christenheit durchgesetzt, wie sie das verdient, aber auch sie ist nur eine Metapher mit einer begrenzten Aussagekraft und Leistungsfähigkeit. Und wie alle anderen Metaphern und Symbole, die wir hier bedacht haben, erzeugt sie Missverständnisse und Verwirrungen, wenn sie isoliert und verabsolutiert oder als Begriff mit einer klaren, eindeutigen Definition aufgefasst und gebraucht wird.
4.1 – 5 Unterschiede und Gemeinsamkeiten Wer nach der Erklärung der Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi sucht, nach der angemessenen theologischen Theorie, nach der richtigen, treffenden Metapher, wird entweder eine Erklärung, Theorie oder Metapher ergreifen und für die einzig richtige erklren, oder er wird mit seiner Suche nicht an ein Ende kommen. Diese Offenheit ist verheißungsvoll, wenn und solange sie nicht als Beliebigkeit missverstanden oder missbraucht wird.16 Vor einer solchen Beliebigkeit kann uns aber 16 Zu solcher Beliebigkeit tendiert leider die im März 2008 veröffentlichte „Stellungnahme des Leitenden Geistlichen Amtes der EKHN zur umstrittenen Deutung des Todes Jesu als ein Gott versöhnendes Opfer“ an zumindest einer, allerdings entscheidenden, Stelle, wenn nämlich das „Fazit“ (Ziff. 20) lautet: „Niemand muss die Heilsbedeutung des Todes Jesu mit Hilfe der Metaphorik des Sühnopfers auslegen (Ingolf U. Dalferth, Gerd Theissen). Aber man kann sie auch in der Moderne als theologische Zentralidee verwenden, weil sie in ganz besonderer Weise dem christlichen Wirklichkeitsverständnis und dem Gottesbild entspricht, das von dem Gott herkommt, der im Leben begegnet und dessen Willen mit Hilfe der biblischen Überlieferung gedeutet werden kann (Carl Heinz Ratschow, Gerd Theissen)“. Bei dieser Aussage ist die Einsicht auf der Strecke geblieben, dass die Metapher des Sühnopfers an die durch die Sünde erfolgte und permanent erfolgende Verletzung des von Gott gegebenen Gesetzes (als notwendige, gute Ordnung für das Leben) erinnert und den Tod Jesu dazu in Beziehung setzt. Das kann nicht nur, sondern das muss theologisch durchdacht und zur Sprache gebracht werden, wenn nicht ein gravierendes theologisches und kirchliches Defizit entstehen (richtiger: weiterbestehen) soll. Der Hauptmangel des Textes besteht freilich m. E. in einer schon verkehrten Fragestellung im Titel, als gehe es im Neuen Testament irgendwo darum, den „Tod Jesu als ein Gott versöhnendes Opfer“ zu verstehen,
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die neutestamentliche Botschaft bewahren, indem sie uns drei Orientierungspunkte gibt, die in jedem Fall im Blick zu behalten sind. Mit ihnen will ich schließen: a) Nicht Gott wird durch Jesus Christus versöhnt, sondern Gott versöhnt durch Jesus Christus die Welt mit sich selbst. Gott braucht kein Opfer und schon gar ein Blut, sondern er macht sich die Sache des verlorenen Menschen aus Liebe zu eigen. Geht diese Einsicht verloren, wird alles vom Ansatz her falsch. Wird diese Einsicht festgehalten, kann das Reden über die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi nicht mehr grundsätzlich verkehrt werden. b) Die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi besteht darin, dass von Gott her Vergebung, Versöhnung, Befreiung, neues Leben zugesagt und gestiftet wird. Das erreicht dort sein Ziel und kommt zur Wirkung, wo Menschen ihren Glauben, d. h. ihr Vertrauen im Leben und im Sterben auf den Gott richten, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat und sich ihnen so zuwendet. c) Die menschliche Sünde und Bosheit, die die von Gott gegebene heilsame Ordnung des Lebens verletzt und zerstört, ist eine Realität, die verarbeitet und durchlitten werden muss, wenn das Böse nicht bagatellisiert oder verdrängt werden soll. Das Kreuz Jesu Christi steht für die „Arbeit“ und „Mühe“ ( Jes 43,24 f.), die wir Gott mit unseren Sünden machen, die Gott um seinetwillen tilgt und ihrer nicht mehr gedenkt. Und damit steht das Kreuz Jesu Christi für die göttliche Möglichkeit und Wirklichkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, „damit wir Frieden hätten“ ( Jes 53,5).
während es in Wahrheit darum geht, den Tod Jesu als ein uns mit Gott versçhnendes Opfer zu verstehen.
Braucht der Osterglaube das leere Grab? Wieder einmal haben Forscher eine angeblich sensationelle Entdeckung gemacht: das Grab Jesu, seiner Mutter Maria und seines Vaters Josef, seiner Ehefrau Maria Magdalena sowie des gemeinsamen Sohnes Juda. Und das Grab ist nicht leer, sondern angefüllt mit menschlichen Knochen, unter denen flugs auch die Gebeine Jesu identifiziert wurden. Über die Methoden, die dabei auf einen seit über zwanzig Jahren bekannten Grabesfund in Jerusalem angewandt werden, schütteln Fachleute den Kopf. Aber die Medien haben eine neue Sensation, und der Rubel rollt.1 Es gibt aber auch viele Christen, die sich von solchen Nachrichten beunruhigen lassen. Kaum ist die Aufregung über die Bestreitung der Auferstehung Jesu durch den Göttinger Neutestamentler Lüdemann2 abgeklungen, taucht eine neue Nachricht auf, die geeignet zu sein scheint, den christlichen Glauben an die Auferweckung3 Jesu Christi 1 2
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Dieser Einstieg bezieht sich auf einen am Karfreitag 2007 in Pro7 ausgestrahlten Film, der zu suggerieren versuchte, die Gebeine Jesu seien in einem Grab in Jerusalem entdeckt worden. G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Göttingen 1994. Dieses methodisch und inhaltlich gleichermaßen konfuse Buch hat Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Zeit lang die theologische und – vor allem – die kirchliche Diskussion in Deutschland mitbestimmt. Seine Konfusion besteht einerseits darin, dass es aus literaturgeschichtlichen Einsichten historische Konsequenzen ziehen will, diese aber faktisch aus weltanschaulichen Prämissen ableitet. Das Neue Testament und die ganze christliche Überlieferung kennt sowohl die Rede von der Auferstehung als auch die von der Auferweckung, und zwar sowohl in Bezug auf Jesus Christus, als auch in Bezug auf die übrigen Menschen. Während „Auferstehung“ eher an ein Geschehen denken lässt, das von dem Toten ausgeht (er steht auf), spricht „Auferweckung“ eher von einem Geschehen, das an dem Toten geschieht (er wird aufgeweckt bzw. auferweckt). Im Begriff (oder in der Metapher) „Auferweckung“ kommt stärker zum Ausdruck, dass der Tod das Ende aller menschlichen Möglichkeiten ist und dass unsere Hoffnung über den Tod hinaus sich auf Gottes Treue und sein Wirken richtet; deshalb bevorzuge ich die Rede von der Auferweckung, ohne deswegen die Rede von der Auferstehung gänzlich auszuschließen oder für unsachgemäß zu halten. In ihr kommt die johanneische Erkenntnis zum Ausdruck, dass „der
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Braucht der Osterglaube das leere Grab?
von den Toten in Frage zu stellen. Was kann man, was soll man eigentlich noch glauben? 4
1. Auferweckung Jesu und leeres Grab Die Frage, die ich in diesem Text stelle und so gut wie möglich beantworten will, lautet: ,Braucht der Osterglaube das leere Grab?‘ Ist der Osterglaube also widerlegt und als Irrglaube erwiesen, wenn das Grab Jesu nach Ostern nicht leer war? Ich frage nicht, ob Gott den Gekreuzigten in der Weise auferwecken konnte, dass sein Grab leer war. Ich frage auch nicht, ob das Grab Jesu nach nach Ostern tatschlich leer war. Ich frage als Systematischer Theologe vielmehr danach, ob die Überzeugung vom leeren Grab ein notwendiger Bestandteil oder eine notwendige Voraussetzung des christlichen Osterglaubens an die Auferweckung Jesu Christi von den Toten ist. Und darüber gehen unter Christen und auch unter Theologen die Meinungen auseinander. Der älteste Theologe, der sich uns selbst durch seine Briefe als Auferstehungszeuge zu erkennen gibt, schreibt bekanntlich an die Gemeinde in Korinth „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden; so sind auch die, die in Christus entschlafen sind, verloren. Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen“ (1 Kor. 15,17 – 19). Und damit sagt Paulus doch: Mit dem Glauben an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten steht oder fällt der christliche Glaube. Aber steht oder fällt er deshalb auch mit dem leeren Grab? Ist es Zufall, dass Paulus an keiner Stelle das leere Grab erwähnt oder muss das daraus erschlossen werden, dass er doch ausdrücklich sagt, dass der für unsere Sünden Gestorbene „begraben worden ist“ (1 Kor. 15,4)? Ist es ein Taschenspielertrick, wenn Theologen die Auffassung vertreten, der Osterglaube brauche das leere Grab nicht, obwohl dieses doch von allen Evangelien bezeugt wird? Was soll denn der Glaube an die Auferweckung oder Auferstehung Jesu Christi von
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Vater … auch dem Sohn gegeben [hat], das Leben zu haben in sich selber“ ( Joh 5,26). Wer diese Frage im Blick auf die Auferweckung Jesu Christi aufgrund einer umfassenden und soliden Information und Argumentation für sich beantworten will, findet alles Erforderliche bei J. Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007.
Auferweckung Jesu und leeres Grab
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den Toten besagen, wenn der Leichnam Jesu im Grab geblieben und verwest sein sollte wie jeder andere Leichnam auch? Und widerspräche das nicht den Aussagen aus Apg. 2,27 und 31 f. sowie 13,32 – 37, wonach Jesus so auferweckt wurde, dass er bzw. sein Leib „die Verwesung nicht gesehen“ (Apg 2,31 und 13,37) hat? Zunächst ist zu sagen: Ja, das widerspricht eindeutig diesen Texten, und es unterstreicht zusätzlich, dass die vier Evangelien einmütig der Überzeugung sind, dass der tote Leib Jesu nicht im Grab geblieben ist, sondern dass das Grab am Ostermorgen leer war. Es zeigt darüber hinaus, dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte (ebenso wie das Johannesevangelium) großen Wert darauf legen, dass der Auferweckte kein ,Geist‘, also kein Gespenst war, sondern körperlich zu den Seinen zurückgekehrt ist, sich von ihnen betasten ließ und vor ihren Augen zum Beweis seiner physischen Realität Fisch aß (Lk 24,36 – 43; Joh 20,24 – 29 und 21,4 – 14). Die Aussagen aus der Apostelgeschichte können aber (oder müssen sogar) darüber hinaus so verstanden werden, dass das Nicht-Verwesen des Leichnams Jesu von den Verfassern dieser Bibeltexte als Erfüllung einer Verheißung Gottes verstanden wurde und damit den Charakter eines notwendigen Bestandteils des Osterglaubens hatte. Denn mit ihr wird allem Anschein nach gesagt: Das Nicht-Verwesen des Leichnams Jesu ist ein Element oder sogar die Weise, wie Gott gemäß seiner Verheißung Jesus von den Toten auferweckt hat. Stimmt das? Um diese Frage beantworten zu können, muss der alttestamentliche Hintergrund von Apg 2,24 – 32. sowie 13,32 – 37 herangezogen werden, auf den die Petrusrede ausdrücklich Bezug nimmt. Der alttestamentliche Text, auf den hier zitierend Bezug genommen wird, steht in Psalm 16, 8 – 11. Dabei handelt es sich eine von David im Blick auf sich selbst ausgesprochene Gewissheit hinsichtlich dessen, was Gott ihm gegenüber nicht zulassen werde: „Denn du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe“. David bringt also in diesem Psalm die Gewissheit zum Ausdruck, dass Gott ihn nicht sterben, begraben und verwesen lassen werde. Nun weiß natürlich die Apostelgeschichte, dass David „gestorben und begraben“ ist und dass sogar sein Grab erhalten geblieben war (Apg 2,29). Aus dieser Nichterfüllung der Erwartung Davids (oder Verheißung Gottes) schließt die Apostelgeschichte nicht, dass David sich getäuscht habe, sondern dass er prophetisch von seinem von Gott verheißenen Nachkommen, Jesus Christus, geredet habe (Apg 2,30 f.).
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Braucht der Osterglaube das leere Grab?
Nun ist aber auch Jesus gestorben und begraben worden, so dass diese Übertragung der Verheißung das Problem nicht lösen kann. Hier kommt dem Verfasser der Apostelgeschichte zur Hilfe, dass der hebräische Text von Psalm 16,10 („nicht die Grube sehe“) von der Septuaginta mit den Worten „nicht verwese“ ins Griechische übersetzt worden war. Auf diese (irrtümliche) Übersetzung von Psalm 16,10 stützt die Apostelgeschichte ihre Argumentation, und ihr ist auch Luther in seiner Bibelübersetzung der Psalmstelle gefolgt. Wenn man also im Blick auf Apg 2,24 – 32. und 13,32 – 37 sowie deren alttestamentlichen Hintergrund die Notwendigkeit des leeren Grabes für den Osterglauben behaupten will, muss man einerseits mit Apg 2,30 f. die Psalmaussage gegen ihren Wortlaut als Weissagung über das Geschick Jesu Christi (und nicht Davids) interpretieren, und man muss andererseits mit Apg 2,27 und 13,35 (und Luther) die Fehlübersetzung von Psalm 16,10 aus der Septuaginta übernehmen. Selbst wenn man nicht bestreitet, dass Gott sich auch durch Übersetzungsfehler offenbaren kann, ist dies doch eine denkbar schwache und brüchige Begründung für die These von der Notwendigkeit des leeren Grabes für den Osterglauben.
2. Wiederbelebung oder Überwindung des Todes? Es gibt jedoch scheinbar eine tragfähige Brücke zum Verständnis dessen, was „Auferweckung Jesu Christi“ meint, die sich sehr gut mit der Überlieferung vom leeren Grab verbinden lässt: Ich meine die neutestamentlichen Erzählungen von Totenauferweckungen, wie sie von Jesus (Töchterlein des Jairus, Mk 5,21 – 43 parr. Mt 9,18 – 26 und Lk. 8,40 – 56; Jüngling zu Nain, Lk 7,11 – 17; Lazarus, Joh 11,1 – 45), aber auch von Petrus (Tabita, Apg 9,36 – 43) und Paulus (Eutychus 20,6 – 12) 5 überliefert sind. In all diesen Fällen lässt sich das erzählte Geschehen überhaupt nur verstehen, wenn man davon ausgeht, dass der Körper bzw. Leichnam der Verstorbenen nicht tot blieb und verweste, sondern wiederbelebt wurde und – im Falle des Lazarus – das Grab lebendig verließ. Aber schon die Rede von einer Wiederbelebung von gestorbenen Menschen zeigt, dass diese Auferweckungswunder nichts 5
Ergänzend sei hingewiesen auf die „viele(n) Leiber der entschlafenen Heiligen“, die gemäß dem Matthäusevangelium nach dem Kreuzestod oder nach der Auferweckung Jesu auferstanden und in die heilige Stadt ( Jerusalem) kamen und vielen erschienen (Mt 27,52 f.).
Kann die Auferweckung Jesu ein historisches Ereignis sein?
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mit der Auferweckung Jesu Christi von den Toten zu tun haben. Jesus ist nicht wiederbelebt worden, er ist nicht in sein bisheriges Leben zurckgekehrt, seinem irdischen Leben ist nicht eine weitere Spanne hinzugefgt worden, er hat (nach Ostern) das Sterben und den Tod nicht (noch einmal) vor sich, wie das für alle eben genannten Personen gilt, sondern er hat den Tod berwunden und besiegt, er ist ein für allemal durch den Tod hindurch gegangen, er ist durch die Auferweckung hindurch erhçht zur ewigen Gemeinschaft und Herrschaft mit Gott. Die Auferweckung Jesu Christi, auf die sich der Osterglaube bezieht, ist die Anteilgabe und Anteilhabe Jesu Christi an Gottes Leben, an seiner Ewigkeit, Herrlichkeit und Macht. Ließe sich die Auferweckung Jesu Christi analog zu den biblischen Wiederbelebungen bestimmter Menschen begreifen, so hätte sie auch mit unserem ewigen Heil und folglich mit der Hoffnung auf das ewige Leben nichts zu tun. Sie wäre aus der Sicht der Einen eine Täuschung oder ein paranormales, rational nicht erklärbares medizinisches Phänomen. Für andere wäre sie eine beeindruckende Wundertat Gottes. Aber sie wäre jedenfalls nicht die Entmachtung des Todes, nicht der Anbruch ewigen Lebens und darum auch nicht der Grund für unser ewiges Heil.
3. Kann die Auferweckung Jesu ein historisches Ereignis sein? Genau davon aber, vom Sieg über den Tod, vom ewigen Leben und Heil spricht der Osterglaube. Und dieser Glaube kann die Gewissheit, dass Gott den Tod endgültig besiegt, und die Zuversicht der Auferstehungshoffnung nur dann begründen, wenn es sich bei der Auferweckung Jesu Christi von den Toten gerade nicht um ein historisches Geschehen handelt, das in Raum und Zeit stattfand und sich unter den Bedingungen der Endlichkeit ereignete, sondern wenn in diesem Geschehen die irdische Welt durchbrochen wird, wenn darin der Tod ein für alle mal verschlungen ist. Wenn die Auferweckung Jesu Christi von den Toten selbst ein zeitliches, geschichtliches (historisches), irdisches Geschehen wäre, dann wäre sie ein Teil der todverfallenen Welt, die noch nicht zum ewigen Leben hindurchgedrungen ist. Ein historisches Ereignis ist der Tod Jesu am Kreuz. Ein historisches Ereignis ist auch der Osterglaube der Jüngerinnen und Jünger. Ein historisches Ereignis sind auch die Erscheinungen, die den Jüngerinnen und Jüngern so zuteil geworden sind, dass in ihnen die Gewissheit
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Braucht der Osterglaube das leere Grab?
entstand: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden“ (Lk 24,34). Aber das, worauf sich dieser Glaube richtet: die Auferweckung Jesu Christi von Toten, kann selbst kein historisches Ereignis sein, weil es andernfalls gebunden wäre an die Grenzen von Raum und Zeit, von Endlichkeit und Vergänglichkeit. Wohl aber lässt sich sagen: „das uns zugängliche Ereignis der Auferweckung Jesu [ist] in menschlicher Sprache nur an der Grenze von Zeitlichkeit und Ewigkeit sagbar“6. Aber spricht dagegen nicht die Tatsache, dass die Auferweckung Jesu sowohl im neutestamentlichen Zeugnis als auch im kirchlichen Bekenntnis durch den Verweis auf den „dritten Tag“ bzw. auf die „drei Tage“ nach der Kreuzigung ebenso fest mit Zeit und Geschichte verbunden wird wie die Erzählungen von der Geburt Jesu durch ihren Bezug zu Kaiser Augustus und zum Statthalter Quirinius (Lk 2, 1 f.) oder zu König Herodes (Mt 2,1 ff.) und die Kreuzigung durch ihren Bezug zu Pontius Pilatus (Mk 15,1 parr.)? Für diese Datierung gibt es zwei biblische Anhaltspunkte: einerseits die Erzählungen vom Auffinden des leeren Grabes durch die Frauen bzw. durch Petrus „am ersten Tag der Woche“ (Mk 16,2; Joh 20,1) in Verbindung mit der Aussage, dass der Tod und die Grablegung Jesu am „Tag vor dem Sabbat“ (Mk 15,42) stattgefunden hatten, andererseits der Verweis darauf, dass Jesus „auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift“ (1 Kor 15, 4), womit offenbar (auch) auf Hos 6,2 angespielt wird: „Er macht uns lebendig nach zwei Tagen, er wird uns am dritten Tage aufrichten, dass wir vor ihm leben werden“7. Dem Wortlaut nach werden beide zeitlichen Aussagen tatsächlich bezogen auf die Auferweckung bzw. Auferstehung Jesu. Nun gibt es aber im Neuen Testament keinerlei Aussagen darüber, dass irgendein Mensch Augenzeuge des Auferweckungsgeschehens gewesen wäre. Das ,Wann‘ dieses Geschehens bleibt ebenso Geheimnis wie das ,Wie‘? Es entzieht sich dem menschlichen Blick nicht nur, weil es nicht gesehen wird, sondern weil es, wie Gott selbst (Kol 1,15 f.), 6 7
So K. Lehmann, Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift, Freiburg/Basel/ Wien 19692, S. 344. Vgl. auch hierzu die eben genannte, erhellende Arbeit von K. Lehmann, die nicht nur behauptet, sondern anhand genauer Textanalysen zeigt, dass es bei der Rede vom „’dritten Tag (nach der Schrift)‘ zunächst gar nicht um eine geschichtliche Datierung [geht], wie meist angenommen wird“ (a. a. O., S. 349), sondern dass damit die Auferweckung Jesu Christi – unter mehrfachen Bezugnahmen auf alttestamentliche und frühjüdische Überlieferungen – dem Heilswirken Gottes zugeordnet und so in ihrer „Heilsbedeutung“ (ebd.) zur Sprache gebracht wird.
Auferweckung und Leiblichkeit
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unsichtbar aber gleichwohl wirklich ist. Wenn das so ist, dann können die biblischen Aussagen über den dritten Tag bzw. die drei Tage aber nur verstanden werden einerseits als Hinweise auf das Wirken Gottes am und durch den Gekreuzigten, andererseits als Aussagen über den Zeitpunkt, an dem den Jüngerinnen und Jüngern erstmalig die Widerfahrnisse der Ostererscheinungen oder des leeren Grabes samt den Jünglingen bzw. Engeln in ihm zuteil geworden sind. Die Aussage, dass Christus „auferstanden ist am dritten Tage“ (1 Kor 15,4) ist also eine abduktive Schlussfolgerung8 derer, die solche Erfahrungen gemacht oder von ihnen gehört haben.
4. Auferweckung und Leiblichkeit Aber braucht der Glaube an die Auferweckung Jesu Christi nicht doch insofern das leere Grab, als es der Leib des Gekreuzigten ist, der auferweckt und damit in irgendeiner Weise verwandelt wird? Ist der Leib des Gekreuzigten nicht so etwas wie der ,Rohstoff‘, an dem sich die Auferweckung – im Unterschied zu der Erschaffung eines neuen Geschöpfes oder zu einem Fantasiebild – vollzieht? Paulus spricht einerseits von der Auferstehung der Toten als einer ,Verwandlung‘ (1 Kor 15,51 f. und Phil 3,21), und hierzu passt die Vorstellung vom leeren Grab gut. Paulus und der Verfasser des 2. Petrusbriefe gebrauchen aber auch das Bild vom irdischen Leib als einer ,Hütte‘, die abgebrochen und durch ein eine von Gott errichteten Bau ersetzt werden wird (2 Kor 5,1 und 4; 2 Petr 1,13 f.). Paulus spricht aber schließlich in diesem Zusammenhang auch von der Auferstehung als einem berkleidetwerden (2 Kor 5,2 ff.), und dies setzt eher die Vorstellung voraus, dass der sterbliche bzw. verstorbene Leib erhalten bleibt und von Gott ein neues, himmlisches ,Gewand‘ erhält. Ganz im Sinne dieser beiden letztgenannten Vorstellungen zieht Paulus auch in 1 Kor 15 in dieser Frage eine auffallend scharfe Grenze zwischen dem irdischen Menschen und dem neuen himmlischen Menschen: „Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der zweite Mensch ist vom Himmel. Wie der irdische ist, so sind auch die irdischen; und wie der himmlische ist, so sind auch die himmlischen“ (1 Kor 15,47 f.). Der menschliche Leib steht in den zwei Formen des 8
Damit schließe ich mich I. U. Dalferth (Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: ZThK 95/1998, S. 387 f.) an.
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natürlichen, irdischen und des geistlichen, himmlischen Leibes bei Paulus demnach gerade nicht für eine substantielle oder materielle Kontinuität, sondern für scharfe Diskontinuität. Das ist jedoch noch nicht die ganze Wahrheit. Es ist doch der Leib des Gekreuzigten, an dem die Jünger ihn (mit seinen Wundmalen und damit unverwechselbar ihn selbst) als den Auferweckten wiedererkennen und ihn von einem Gespenst oder einer Fata Morgana unterscheiden können. Ist das leere Grab also nicht doch für den Osterglauben unverzichtbar, weil nur so die Identitt des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten ausgesagt und festgehalten werden kann, und weil nur so die Realitt der Auferweckung Jesu ausgesagt und festgehalten und von einem bloßen Wunschtraum, einer Projektion aufgrund menschlicher Schuldgefühle oder Sehnsüchte unterschieden werden kann? In der Tat: Der Leib ist unverzichtbar, sei es als natürlicher oder als geistlicher Leib. Aber was meinen wir, wenn wir hier mit dem Neuen Testament von ,Leib‘ sprechen? Leib ist jedenfalls nicht notwendigerweise ein materieller Körper nicht der natürliche, verwesliche Leib, nicht ,Fleisch und Blut‘. Von alledem sagt Paulus: Sie erben nicht die Unverweslichkeit und das Reich Gottes, sie kçnnen es nicht einmal erben (1 Kor 15,50), und darum garantieren sie auch nicht die Kontinuität und Identität des gestorbenen und des auferweckten Menschen. Dies können sie nicht, weil sie selbst zu der alten, vergänglichen Welt gehören. Aber was sollen wir uns dann unter einem ,Leib‘ vorstellen? Eine Hilfe zur Beantwortung dieser Frage und eine Brücke zur Annäherung an ein angemesseneres Leib-Verständnis kann es sein, wenn wir uns klarmachen, wie für uns ein konkreter Mensch präsent ist oder präsent sein kann, der nicht physisch, stofflich, materiell anwesend ist, wohl aber z. B. in der Erinnerung oder in der Erwartung. Solche Erinnerung oder Erwartung kann sich nur dann auf einen bestimmten Menschen in seiner unverwechselbaren Identität beziehen, wenn sie verbunden ist mit einer Gestalt, sei es einem Gesicht, einem Körper, einer Geste, einer Szene. In solchen Gestalten ist ein Mensch uns leibhaft gegenwärtig, auch wenn er physisch, körperlich abwesend ist. So bietet die gestalthafte, szenische Erinnerung zumindest eine Vorstellungsmöglichkeit für das, was ,Leib‘ ist, aber nicht physischer Körper sein muss. Und dass Gott der Toten gedenkt, ist dann ein möglicher Ausdruck der Hoffnung dafür, dass zwar keine materielle oder immaterielle Substanz unseren Tod überdauert, dass aber Gott unser gedenkt und so unsere leibhafte,
Das leere Grab als mehrdeutiges und rückwärtsgewandtes Zeichen
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gestalthafte Identität über den Abgrund des Todes hinweg trägt. Wir können dann zwar nicht sagen, dass wir unseren Leib auch im Tod in verwandelter Form behalten, wohl aber – mit Paulus –, dass Gott einem jeden einen Leib gibt, wie er will (1 Kor 15,38). Tatsächlich gebraucht auch Paulus, bevor er die Vorstellung vom Leib als Körper aus Fleisch und Blut im Blick auf die Auferstehungshoffnung definitiv zurückweist (1 Kor 15,50), Begriffe und Bilder für ,Leib‘, die auf die gestalthafte Erscheinungsweise hindeuten und optischen Charakter haben, indem er von der ,Herrlichkeit‘ und vom ,Glanz‘ unterschiedlicher Körper spricht und sie so unterscheidet (1 Kor 15, 40 f.).
5. Das leere Grab als mehrdeutiges und rückwärtsgewandtes Zeichen Aber braucht der Osterglaube zu seinem rechten Verständnis oder zu seiner Verbürgung nicht doch auch das leere Grab? Das leere Grab, von dem die Evangelien einmütig berichten, war und ist für viele Christenmenschen von Anfang an bis heute ein Zeichen für die Wahrheit des Osterglaubens. Es vergewissert sie, dass die Auferweckung Jesu nichts bloß Erdachtes, Eingebildetes, sondern Wirklichkeit ist. Das leere Grab ist jedoch – wie schon das Neue Testament weiß (Mt 28,11 – 15) – ein mehrdeutiges, missdeutbares Zeichen; denn es ermöglicht zumindest folgende vier Deutungen: – Jesus war gar nicht wirklich tot, sondern nur scheintot, und nach seiner Kreuzabnahme und Grablegung kam er wieder zu sich, verließ das Grab und begab sich irgendwohin, wo er bis zu seinem Tode weiterlebte. Deshalb war das Grab leer. – Jesus war zwar wirklich tot, wurde aber von Gott auf wundersame Weise wiederbelebt, verließ das Grab, begab sich anschließend irgendwohin, wo er bis zu seinem Tode weiterlebte. Deshalb war das Grab leer. – Jesus war zwar wirklich tot, aber sein toter Leib wurde von irgendjemandem aus irgendwelchen Gründen aus seinem Grab entfernt und an eine andere, uns unbekannte Stelle verbracht. Deshalb war das Grab leer. – Jesus war wirklich tot, wurde aber von Gott so auferweckt, dass sein irdischer Leib dabei verschwand bzw. in einen himmlischen, geistlichen Leib verwandelt wurde. Deshalb war das Grab leer.
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Das sind vier Grundtypen von Deutungsmöglichkeiten des leeren Grabes, von denen die ersten drei dem christlichen Osterglauben fundamental widersprechen, während die vierte gut mit dem Osterglauben verbunden werden kann, ebenso gut wie die Annahme, das Grab Jesu sei nach Ostern nicht leer gewesen, weil sein Leib zwar von Gott verwandelt (,verklärt‘) wurde, aber als fleischlicher Leib nicht aus dem Grab verschwand. Insofern muss man sagen, das leere Grab ist ein undeutliches, weil mehrdeutiges und missdeutbares Zeichen. Das leere Grab ist jedoch nicht nur ein mehrdeutiges, missdeutbares Zeichen, sondern im Unterschied zu den Ostererscheinungen auch ein rckwrtsgewandtes, negatives Zeichen. Nun ist die Tatsache, dass ein Zeichen eine negative Bedeutung hat und nach rückwärts verweist, keine Diskreditierung. Alle Zeichen, die darauf hinweisen, dass etwas vergangen ist oder überwunden wurde, sind in diesem Sinne negative, rückwärtsgewandte Zeichen. Aber das, was der Osterglaube besagt, ist keine negative, rückwärtsgewandte Botschaft, sondern positiv und vorwärtsgewandt. Der Inhalt ist nicht die Negation oder Überwindung des Todes an sich. Die würde auch eintreten, wenn alles zu nichts geworden und in nichts aufgelöst wäre, weil es dann weder Leben noch Tod, weder Lebendiges noch Totes gäbe. Sondern die Osterbotschaft ist die Botschaft vom endgültigen, eschatischen Sieg des Lebens durch die Auferweckung Jesu Christi. Ohne die Erscheinungen des lebendigen Christus ist das leere Grab ein undeutliches Zeichen, das für sich genommen nicht das zum Ausdruck bringen kann, worauf es ankommt: die Gewissheit und das Bekenntnis: ,Er ist wahrhaftig auferstanden‘. Und auch für unsere christliche Auferstehungshoffnung über den Tod hinaus ist das leere Grab nur ein undeutliches Zeichen, denn diese richtet sich ja nicht darauf, dass einmal unsere Gräber leer sein werden, sondern darauf, dass wir bei dem Herrn sein werden allezeit (1 Thess 4,17).
6. Die Bedeutung der Erscheinungen des Auferstandenen Der Osterglaube entsteht dem Neuen Testament zufolge nicht durch das Auffinden des leeren Grabes, sondern durch die Verkündigung der Engel oder Jünglinge im Grab und – vor allem – durch die Erscheinungen des Auferstandenen. Paulus beschreibt die Erfahrung, die für ihn den Osterglauben begründet, mit den Worten: „Als es aber Gott gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn durchs Evangelium
Die Bedeutung der Erscheinungen des Auferstandenen
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verkündigen sollte unter den Heiden, da besprach ich mich nicht erst mit Fleisch und Blut“ (Gal 1,15 f.) und: „Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden“ (1 Kor 15,8). Das heißt zunächst: Der Osterglaube wird geweckt durch die Gewissheit, dass Gott den Gekreuzigten nicht dem Tode überlassen hat, sondern sich im auferweckten Gekreuzigten zum Heil der Welt offenbart. Deshalb braucht der Osterglaube das leibhafte Sehen des lebendigen Christus, oder er braucht das Hören (oder Lesen) der Verkündigung, durch die dieses Sehen bezeugt wird. Und es heißt sodann: Osterglaube ist dort entstanden, wo ein Mensch sowohl die Wirklichkeit Gottes und der Welt als auch sein eigenes Leben im Licht des Ostergeschehens neu versteht und sich in den Dienst ihrer Bezeugung und Verkündigung nehmen lässt.9 Aber dagegen kann man einwenden: Sind nicht auch die Erscheinungen undeutliche, missdeutbare Zeichen? Auch angesichts der Erscheinungen des Auferstandenen zweifeln die Jünger (Mt 28,17). Zeigt das nicht, dass auch die Erscheinungen des Auferstandenen mehrdeutig waren und sind, etwa als Ausgeburten ihrer Fantasie, ihrer Hoffnungen oder ihrer Schuldgefühle angesichts der Tatsache, dass sie ihn verleugnet und verlassen hatten? In diesem Zusammenhang wird gerne darauf verwiesen, dass – jedenfalls einigen Überlieferungen zufolge – ausgerechnet der Verleugner Petrus derjenige war, der als erster solche Erscheinungen des Auferstandenen hatte. Aber die Erscheinungen werden ja nicht nur dem Petrus und den anderen Jüngern zuteil, die ihren Herrn verleugnet und verlassen hatten, sondern auch den Frauen, die ihm die Treue gehalten hatten. Sie werden nicht nur seinen Anhängern, sondern auch einem Verfolger wie Paulus zuteil. Nicht nur einzelne, sondern große Gruppen von Menschen erleben solche Erscheinungen (1 Kor 15,6). Nimmt man die unterschiedlichen Berichte von den Ostererscheinungen zusammen und liest man sie auf dem Hintergrund der nicht erst seit der Aufklärung, sondern auch schon im Neuen Testament durchgängig bezeugten Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Auferweckung von den Toten (Mt 28,17; Mk 16, 11 und 13; Lk 24,11; Joh 20,25), dann muss man sagen, dass man es hierbei mit gut bezeugten, glaubwürdigen Überlieferungen zu tun hat. 9
Auf die Bedeutung dieses Aspekts verweisen sowohl Dalferth (s. o. Anm. 8, S. 403 – 405) als auch Becker (s. o. Anm. 4, S. 273 – 287) mit dem gebührenden Nachdruck.
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Braucht der Osterglaube das leere Grab?
Aber diese Überlieferungen werden nur dann Glauben wecken, wenn Menschen auch heute in der Begegnung mit der Verkündigung und Bezeugung des auferweckten Gekreuzigten die Gewissheit gewinnen, dass in ihm und durch ihn die Macht des Todes durchbrochen und ewiges Leben Wirklichkeit geworden ist. Deshalb spricht das Neue Testament an manchen Stellen (vor allem im johanneischen Schrifttum) sogar davon, dass die an Jesus Christus Glaubenden bereits hier und jetzt – im Glauben und in der Liebe – vom Tod zum Leben hindurchgedrungen sind und bereits hier und jetzt am Auferstehungsleben Jesu Christi Anteil haben ( Joh 5,24; 1 Joh 3,14). So wie Gott auf dem Angesicht des Gekreuzigten seine lebenschaffende Herrlichkeit offenbart hat (2 Kor 4,6), so nimmt er die an ihn Glaubenden durch die Taufe (und damit durch den Tod des alten Menschen) in die Gemeinschaft des Leibes Christi hinein und lässt sie damit schon jetzt, also in ihrer irdischen Leiblichkeit an der Wirklichkeit seiner Auferstehung Anteil haben. Und so wird der Auferstehungsglaube zum Zentrum der hier und jetzt gelebten christlichen Existenz.
1.–6. Fazit Die Erzählungen vom leeren Grab kçnnen dazu verleiten, die Auferweckung Jesu mit der Wiederbelebung eines Verstorbenen zu verwechseln oder allerhand alten oder neuen Scheintodhypothesen (mit Fortsetzungen in Indien oder anderswo) Nahrung geben. Wenn das passiert, dann stellen sie den Osterglauben selbst in Frage. Die Erzählungen vom leeren Grab mssen aber nicht dazu verleiten. Und sie tun dies umso weniger, je klarer sie der Verkündigung von den Erscheinungen des auferweckten Gekreuzigten zu- und untergeordnet werden. Die christliche Osterbotschaft lautet nicht: „Das Grab ist leer“, sondern: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen“ (Lk 24,34; 1 Kor 15,4 f.). Der Osterglaube ist von zwei Gefahren bedroht, die dieselbe Wurzel, aber eine gegensätzliche Form haben: Er ist bedroht, wenn er durch die Behauptung des leeren Grabes begrndet werden soll, und er ist bedroht, wenn er aufgrund der Bestreitung des leeren Grabes bestritten werden soll. Aber beides ergibt sich nur aus einem Missverständnis des Osterglaubens, nicht aus dem Osterglauben selbst. Der Osterglaube lebt nicht vom leeren Grab und darum stirbt er auch nicht daran, dass bzw. wenn das Grab nicht leer war.
Warum ausgerechnet drei? Grundsätzliche Überlegungen zur Trinitätslehre 1. Konsense und offene Fragen in der Trinitätslehre Die Trinitätslehre hat Konjunktur. Das war in der evangelischen Theologie nicht immer so. In der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts war es vor allem Karl Barth, der durch die Verankerung der Trinitätslehre in den Prolegomena seiner Kirchlichen Dogmatik und durch deren damit zum Ausdruck gebrachte Zentral- und Fundamentalstellung entscheidend dazu beigetragen hat, dass der Trinitätslehre besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Ihm sind – in einem gewissen zeitlichen Abstand, aus unterschiedlichen theologischen Begründungszusammenhängen und mit unterschiedlichen Akzentuierungen – Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel und viele andere gefolgt. Die dabei bisher erzielten Klärungs- und Verständigungsbemühungen haben freilich bisher keine einhelligen, sondern vielspältige Ergebnisse zu Tage gefördert, und dies wiederum hat die Rezeption der Trinitätslehre in Kirche und Schule, insbesondere in der Pfarrer- und Lehrerschaft nicht nur gefördert, sondern auch behindert. Kommt in der Fortbildung für Pfarrer oder Lehrer die Rede auf die Trinitätslehre, so macht sich in der Regel Ratlosigkeit breit, die freilich heutzutage seltener als früher dazu führt, die Trinitätslehre als „spekulativ“ oder „verkopft“ und damit als „für die Praxis ohnehin nicht relevant“ beiseite zu schieben. Insbesondere angesichts der Intensivierung des Gesprächs oder zumindest der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Islam fällt ein solches großzügiges Desinteresse erfreulicherweise heute schwerer, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Wir werden von Muslimen und von Gemeindegliedern, die im Kontakt mit Muslimen stehen, aber auch von Menschen, die einfach wissen wollen, was es um den christlichen Glauben ist, nach der Bedeutung, dem Sinn und der Sagbarkeit des Glaubens an einen dreieinigen Gott gefragt. Diese Frage verbindet sich, wo nicht mit der Erwartung, so doch mit der Hoffnung auf eine klare, verständliche, weitergebbare Antwort. Das Interesse an fundierten und verständlichen Antworten ist daher groß.
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Dabei gibt es erfreulicherweise in drei Hinsichten durchaus trinitätstheologische Konsense, die sowohl gut zu begründen als auch gut zu vermitteln sind, auch wenn sie in sich nicht völlig konsistent sind. a) Der erste Konsens besteht darüber, dass die Trinitätslehre jedenfalls keinen Tritheismus meint oder impliziert, sondern den Glauben an den einen Gott nicht aufhebt oder auch nur in Frage stellt, sondern voraussetzt und ihn konkret entfalten will. Selbst die an dieser Stelle relativ weit vom theologischen Mainstream abweichenden kritischen Ausführungen Jürgen Moltmanns gegen den „christlichen Monotheismus“ bzw. die „trinitarische Monarchie“1 bei Karl Barth wollen doch – bei Lichte besehen – den Glauben an den einen, einzigen Gott nicht aufheben oder in Frage stellen, sondern ihm eine konkretere, den biblischen Aussagen angemessenere Fassung geben. Und in der Tat: Die christliche Trinitätslehre ist konkreter Monotheismus. b) Die zweite Übereinstimmung bezieht sich auf den in seiner theologiegeschichtlichen Herkunft nicht völlig aufgeklärten altkirchlichen Grundsatz: „Opera trinitatis ad extra sunt indivisa“, der seiner Herkunft nach der augustinischen Tradition2 zugeordnet wird. Mit dieser negativen Aussage über das Ungeteiltsein der Werke des dreieinigen Gottes nach außen, also in Gottes Weltverhältnis, wird deutlich, dass jedenfalls trinitätstheologisch nicht so verfahren werden darf, dass dem Vater das Werk der Schöpfung, dem Sohn das Werk der Versöhnung oder Erlösung, dem Heiligen Geist das Werk der Heiligung, Erleuchtung und Vollendung exklusiv zugeordnet werden. Zwar wird dieser strenge trinitätstheologische Grundsatz dadurch abgemildert, dass eine solche Zuordnung „per appropriationem“, also näherungsweise für möglich und zulässig gehalten wird, aber dabei muss eine Teilung der Werke Gottes in seinem Weltverhältnis und deren Zuordnung zu je einer trinitarischen Person oder Seinsweise strikt vermieden werden und ausgeschlossen bleiben. Die theologische Pointe und Wichtigkeit dieses Grundsatzes wird freilich erst dann erkennbar, wenn man die Aufmerksamkeit auf seinen positiven Sinn richtet: die Beteiligung aller Personen bzw. Seinsweisen der Trinität an Gottes Wirken in seinem 1 2
Siehe Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, S. 78 – 80 und 154 – 161. Bei Augustin selbst heißt es: „Sicut inseparabiles sunt, ita inseparabiliter operantur“ (De trinitate I,4). Als kirchliche Lehrentscheidung findet sich die Formel der Sache nach auf dem Konzil von Toledo im Jahre 675: „Inseparabiles enim inveniuntur in eo … quod faciunt“ (DS 531).
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Weltverhältnis. Nur durch sie wird festgehalten, dass „schon“3 im Werk der Schöpfung der Vater nicht alleine, nicht ohne den Sohn und den Geist wirkt, sondern in ausdrücklicher Einheit und Mitwirkung mit ihnen.4 So werden einerseits die biblischen Aussagen über die Schöpfungsmittlerschaft des Gottessohnes (Kol 1,16 und Hebr 1,2) oder des Logos ( Joh 1,3.10) und über die Anwesenheit und Mitwirkung des Geistes bei der Schöpfung (Gen 1,2) theologisch eingeholt, andererseits wird so die Einheit des dreieinigen Gottes konsequent gedacht und festgehalten – und das kann wohl auch nur so gelingen. c) Die dritte Einmütigkeit bezieht sich auf die These oder Einsicht, dass der trinitarische Glaube nicht aus dem Gottesbegriff abzuleiten oder aus einer Gottesidee heraus zu konstruieren ist, sondern dass er am Wirken Gottes abzulesen und aus ihm zu gewinnen ist. D. h.: Die Erkenntnis der Trinität hat demzufolge ,unten‘, also bei der geschichtlichen Wirklichkeit des Wirkens und der Offenbarung Gottes einzusetzen.5 Damit ergibt sich als dritte gemeinsame Einsicht neben dem Festhalten am Monotheismus und der Unteilbarkeit der Werke Gottes in seinem Weltverhältnis das alternativlose Verwiesensein auf Gottes geschichtliches Wirken als Quelle der Erkenntnis des dreieinigen Gottes und damit auch der Trinitätslehre. Dieses harmonisch wirkende Bild einer breiten Übereinstimmung hinsichtlich dreier Grundüberzeugungen mit großer trinitätstheologischer Relevanz trübt sich jedoch dann zumindest ein wenig ein, wenn man genauer über das Verhältnis der zweiten und der dritten Einsicht zueinander nachdenkt. Das geschichtliche Wirken Gottes, von dem in der dritten Einsicht die Rede ist, gehört jedenfalls zu den Werken Gottes in seinem Weltverhältnis, also zu den ,opera trinitatis ad extra‘. Sind diese nun im strengen Sinn ungeteilt (,indivisa‘, ja sogar ,insepa3 4 5
Die Anführungszeichen bei dem Wort „schon“ sollen ein zeitliches, gewissermaßen prähistorisches Schöpfungsverständnis problematisieren bzw. ausschließen. Und dasselbe gilt natürlich für die übrigen Werke Gottes sinngemäß. Siehe dazu die exemplarische Aussage von W. Pannenberg (Der offenbarungstheologische Ansatz in der Trinitätslehre, in: Der lebendige Gott als Trinität, Hg. M. Welker/M. Volf, Gütersloh 2006, S. 16): „Die Begründung der Trinitätslehre aus der Selbstoffenbarung Gottes muss bei der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Selbstoffenbarung einsetzen, wie sie in den biblischen Schriften bezeugt ist. Im Zentrum wird dabei die Person des Sohnes stehen müssen, weil das urchristliche Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als Sohn Gottes und seiner Einheit mit der ewigen Gottheit des Vaters zum Ausgangspunkt für die Entwicklung der Trinitätslehre geworden ist“.
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rabiles‘6), so stellt sich die Frage, ob und wie aus diesen Werken bzw. aus diesem Werk die Dreieinigkeit Gottes erkannt werden können soll. Gerät man bei der Verhältnisbestimmung der zweiten und dritten Einsicht nicht in einen letztlich unauflösbaren Widerspruch, entweder die Ungeteiltheit des Wirkens Gottes in seinem Weltverhältnis ernst zu nehmen, dann aber aus dem geschichtlichen Wirken Gottes auch nicht eine Dreiheit in Gott erkennen oder erschließen zu können, oder doch an dem Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis, also an den geschichtlichen Werken Gottes eine solche Dreiheit erkennen zu können, dann aber nicht die ungeteilte Einheit der opera trinitatis ad extra und damit die Einheit des Wirkens Gottes in seinem Weltverhältnis festhalten zu können? Dieses ganz naheliegende, aber nicht leicht zu lösende Problem kommt in den Darstellungen der Trinitätslehre in der Regel deshalb nicht zum Vorschein, weil die Trinitätslehre in ihnen nicht ab ovo entwickelt, sondern schon als gegeben vorausgesetzt und als solche expliziert wird. Dabei wird auch immer schon mit den drei Begriffen ,Vater‘, ,Sohn‘ und ,Heiliger Geist‘ operiert und damit das theologische Ergebnis bereits vorausgesetzt, das doch erst aus der genauen Betrachtung des Wirkens Gottes in seinem Weltverhältnis erkannt und gewonnen werden soll. So zu verfahren, ist aber eine klassische Petitio principii, die zur Rekonstruktion der Trinitätslehre nur scheinbar taugt. Aber auch der andere, sich u. U. anbietende Ausweg ist letztlich nicht gangbar, nämlich die Inanspruchnahme des Gedankens, dass ja doch eine gewisse Zueignung (,appropriatio‘) der opera trinitatis ad extra zu den einzelnen Personen bzw. Seinsweisen möglich sei. Auch dieser Zugang setzt – sogar noch in gesteigertem Maße – bereits die Beantwortung bzw. Lösung der trinitätstheologischen Frage und Problematik voraus, nämlich nicht nur die Unterscheidung von Vater, Sohn und Geist, sondern auch noch eine gewisse, uneigentliche Zuordnungsmöglichkeit der opera ad extra zu den drei Personen bzw. Seinsweisen Gottes. Auch hier haben wir es also mit einer Petitio principii zu tun, die das methodische, genauer: das erkenntnistheoretische Grundproblem der Trinitätslehre nicht lösen kann, sondern eher verdeckt, wenn sie als eine solche Lösung angeboten oder in Anspruch genommen wird. Damit hängt zusammen, dass die Leitfrage dieses Aufsatzes: „Warum ausgerechnet drei?“ kaum an irgendeiner Stelle in der theologischen 6
So die Konzilsaussage von Toledo (s. o. Anm. 2), also nicht nur ungeteilt, sondern unteilbar.
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Literatur auftaucht. Das ist auffällig; denn aus einer unbefangenen Sicht müsste dieser Frage mindestens soviel Aufmerksamkeit geschenkt werden wie der nach der unaufgebbaren Einheit und Einzigkeit Gottes innerhalb der Trinitätslehre. Denn wenn man die Trinitätslehre ernst nimmt, muss doch mit überzeugenden Gründen angegeben werden können, warum nicht von einer Zweiheit, sondern von einer Dreiheit, warum von einer Dreiheit und nicht von einer Vierheit oder gar von einer Vielheit ausgegangen wird. Warum also ausgerechnet drei? Warum ist also eine Trinittslehre charakteristisch, ja unverzichtbar für das christliche Gottesverständnis?
2. Herkömmliche Zugänge zur Trinitätslehre Zur Beantwortung dieser Frage können wir uns jedenfalls nicht auf den biblischen Befund berufen; denn neben den beiden triadischen Formeln (Mt 28,19 und 2 Kor 13,13) sowie neben den zahlreichen Aussagen, in denen Christus als der Logos oder Sohn Gottes bezeichnet und der Heilige Geist zu Gott als dem Vater in ein enges Verhältnis gesetzt werden, gibt es ja zahlreiche biblische Aussagen, in denen andere Größen, Begriffe und Metaphern (z. B. Leben, Licht, Wahrheit, Weisheit, Wort) in ein ganz enges Verhältnis zu Gott gesetzt werden.7 Die Dreizahl ist jedenfalls nicht so durch den biblischen Kanon vorgegeben, dass dies als Begründung ausreichen könnte. Und wie sieht es mit den in der Schrift bezeugten Werken Gottes in seinem Weltverhältnis aus? 8 Orientiert man sich an den Werken Gottes, die im biblischen Kanon bezeugt werden, so kommen wir zu einer Reihung, die zumindest folgende Elemente enthält: – Gott erschafft und erhält die Welt, – Gott wirkt in der Geschichte, – Gott gibt seinem Volk das Gesetz; – Gott straft einzelne Menschen sowie ganze Gruppen und Völker, – Gott redet durch die Propheten, – Gott offenbart sich in Jesus Christus, – Gott erweckt Jesus von den Toten, – Gott sendet den Heiligen Geist auf Menschen, 7 8
Siehe Hi 12,13; Ps 36,10; 43,3; Dan 4,34; Lk 11,49; Joh 1,1.4.9; 1 Kor 1,21.24; 1 Joh 5,6. Vgl. zum Folgenden W. Härle, Dogmatik (1995) 20073, S. 392 f.
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– Gott sammelt und erhält die Kirche, – Gott erhört Gebete, – Gott regiert die Welt, – Gott vollendet seine Schöpfung. Diese Aufzählung ließe sich ohne Mühe ergänzen und würde dadurch noch reichhaltiger und unübersichtlicher. Aber schon in der vorliegenden schlichten Fassung ist nicht zu erkennen, wie man hier so strukturieren und ordnen könnte, dass sich dabei eine Dreiteilung ergibt. Im Übrigen bestünde stets die bereits genannte Gefahr, dass aus der Ableitung der Trinitätslehre aus den Werken Gottes in seinem Weltverhältnis implizit oder explizit eine Trennung dieser Werke folgen oder in einer solchen Ableitung bereits vorausgesetzt würde, durch die der Grundsatz der Unteilbarkeit der opera trinitatis ad extra und damit – was das eigentliche Problem ist – die Einheit Gottes in seinem Wirken in Frage gestellt, möglicherweise sogar verletzt oder aufgehoben werden könnte. Trotz dieses diffusen Befundes und dieser methodischen Schwierigkeit gibt es auch in dieser Hinsicht so etwas wie einen trinittstheologischen Common Sense, der sich zwar nicht ganz präzise formulieren lässt, der aber doch in der Regel in irgendeiner Form hinter trinitätstheologischen Überlegungen steht. Dieser trinitätstheologische Common Sense lässt sich m. E. wie folgt formulieren: Wir können im Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis einen schçpferischen Aspekt identifizieren, der gelegentlich auch als ,erhaltend‘ oder ,daseinskonstituierend‘ oder ,formgebend‘ bezeichnet wird. Das Gemeinsame wäre demnach ein Wirken Gottes, das sich in begründender bzw. grundlegender Hinsicht auf das Dasein und Sosein der Welt im Ganzen und aller in ihr existierenden Geschöpfe bezieht. Fügt man zu dieser Einsicht nun ausdrücklich hinzu, dass an diesem schöpferischen Wirken auch der Sohn und der Geist beteiligt sind, so hat man offenbar alle drei in Abschnitt 1 genannten gemeinsamen Überzeugungen festgehalten und trotzdem einen entscheidenden ersten Schritt in Richtung auf eine Differenzierung getan, aus der schließlich eine Dreiteilung werden kçnnte. Ebenso ist es möglich, im Blick auf Gottes Wirken in und durch Jesus Christus von einem versöhnenden, zurechtbringenden, erlösenden, rettenden oder heilenden Wirken Gottes zu sprechen, dessen Besonderheit darin besteht, dass es das Elend, die Bosheit, Sünde, Schuld, Entfremdung des Menschen Gott gegenüber voraussetzt und deren Überwindung durch Gottes Wirken zum Gegenstand hat. Auch
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hier ließe sich unschwer der trinitätstheologisch wichtige Zusatz machen, dass an diesem zurechtbringenden göttlichen Wirken Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist gleichermaßen beteiligt sind, so dass auch hierdurch und hierbei nicht die ungeteilte Einheit der opera trinitatis ad extra verletzt würde. Die größten Schwierigkeiten bekommt man bei der Anwendung dieses Verfahrens im Blick auf den dritten Aspekt, der – je nach Zugang und Sichtweise – als Gottes heiligendes, erleuchtendes, erlösendes, erhebendes oder vollendendes Wirken bezeichnet werden kann. Was ist hier das Gemeinsame und Verbindende, aufgrund dessen es möglich ist oder möglich sein soll, dies als einen dritten Aspekt am Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis zu unterscheiden? Gemeinsam ist, dass in jedem Fall ein Wirken am Menschen, man kann wohl auch sagen: im Menschen gemeint ist. Während das ,am‘ auch für den ersten und zweiten Aspekt gilt, ist das ,im‘ offenbar etwas, das charakteristisch für den dritten Aspekt ist. Dabei geht es einerseits, aber nicht nur, um den durch Gottes Wirken erschlossenen Zugang zur Erkenntnis des Heilswirkens Gottes, andererseits um die Teilhabe daran bis hin zur Vollendung.9 Diese relativ unbestimmten Aussagen spiegeln das wider, was im dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses unter den Formulierungen „heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ zusammengefasst ist. Man kann diesen dritten Aspekt vielleicht am besten auf einen Nenner bringen, indem man vom heilszueignenden Wirken Gottes spricht und dabei wieder ausdrücklich hinzufügt: Das ist nicht das Wirken des Heiligen Geistes allein, sondern es ist das Wirken des Heiligen Geistes in der Einheit und Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Was ist mit alledem gewonnen? Gewonnen ist ein mçglicher Zugang zur Trinitätslehre, der die Einheit und Einzigkeit Gottes nicht in Frage stellt, der seinen Ausgang nimmt beim geschichtlichen Wirken Gottes und der die ungeteilte trinitarische Einheit jedes dieser drei Aspekte in sich und für sich festzuhalten erlaubt. Ob man diese Aspekte mittels der Trias 9
In seinem Kleinen und Großen Katechismus hat Martin Luther diese unterschiedlichen Aspekte beschrieben mit den Verben ,berufen‘, ,sammeln‘, ,erleuchten‘, ,heiligen‘ und ,erhalten‘, wobei ,heiligen‘ bzw. ,heilig machen‘ für ihn zugleich die Zusammenfassung all dieser Aspekte ist (s. BSLK 512,2 – 13 sowie 653,32 – 654,17).
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,schöpferisch‘, ,versöhnend‘ und ,heiligend‘ oder mittels der Trias ,daseinskonstituierend‘, ,zurechtbringend‘ und ,zueignend‘ oder durch irgendeine andere Trias zum Ausdruck bringt, ist dabei zweit- oder drittrangig.10 Wo liegt also das Problem oder wo liegen die Probleme dieses üblichen Zugangs zur Trinitätslehre? Das erste Problem im Blick auf diesen üblichen Zugang zur Trinitätslehre liegt einerseits darin, dass es keineswegs als zwingend oder auch nur überzeugend erscheint, dass aus diesen Überlegungen eine Trinittslehre abzuleiten ist. Anders gesagt: Das große Problem liegt darin, dass sich von da aus keine plausible Antwort geben lässt auf die Frage: „Warum ausgerechnet drei?“ Man könnte unschwer eine andere Anordnung und Zusammenordnung vornehmen, bei der man möglicherweise auf weniger oder mehr als drei Personen bzw. Seinsweisen kommt. Das zweite Problem ist sachlich nicht weniger gravierend: Zwar lässt sich zeigen, dass diese Überlegungen im Blick auf jeden der drei Aspekte für sich genommen an der (trinitarischen) Einheit des Wirkens Gottes festhalten, also den Satz „Opera trinitatis ad extra sunt indivisa“ nicht verletzen, aber es wird nicht deutlich, dass und inwiefern die drei Aspekte untereinander und miteinander eine Einheit bilden, der zufolge auch in dieser Hinsicht behauptet werden kann: „sunt indivisa“. Im Gegenteil: Das schöpferische, versöhnende und heiligende oder das daseinskonstituierende, zurechtbringende und zueignende Wirken Gottes scheinen – zumindest an einer Stelle – geradezu auseinander zu fallen. Diese eine Stelle ist die Unterscheidung zwischen dem schöpferischen bzw. daseinskonstituierenden Wirken einerseits und dem versöhnenden und heiligenden bzw. zurechtbringenden und zueignenden Wirken Gottes andererseits. Denn Gottes schöpferisches Wirken ist (noch) nicht sein versöhnendes und heiligendes Wirken, Schöpfung ist (noch) nicht Versöhnung und Vollendung. Und im Blick auf diese Unterscheidung kann sogar rückblickend fragwürdig werden, ob es durchgehend angemessen ist, von einer Unterscheidung dreier Aspekte am Wirken Gottes (ad extra) zu sprechen, ob man im Blick darauf nicht
10 Hier gilt Luthers Grundsatz, den er im Blick auf die Trinitätslehre formuliert hat, der aber ganz umfassend gilt: „Rem mussen wir behalten, wir redens mit Vocabln, wie wir wöllen. Es bleyben auch die vocabl, wie sie wöllen.“ (WA 39/2, 305,22 – 24).
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vielmehr von unterschiedlichen Formen oder Weisen des Wirkens Gottes (ad extra) sprechen müsste. Von daher wird man sagen dürfen: Wenn es eine Gestalt der Trinitätslehre gibt, die es sowohl erlaubt, auf die Frage: „Warum ausgerechnet drei?“ eine plausible(re) Antwort zu geben, als auch die Unterschiedenheit und Einheit der Werke Gottes in seinem Weltverhältnis so auszusagen, dass diese als Aspekte eines einheitlichen Wirkzusammenhanges verstanden werden können, dann verdient eine solche Gestalt der Trinitätslehre zumindest ernsthafte Erwägung, wenn nicht sogar den Vorzug gegenüber den herkömmlichen Zugängen.11
3. Semiotischer Zugang zur Trinitätslehre Um gleich ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden: Der folgende Abschnitt ist mit keinerlei Originalitätsanspruch verbunden. Abgesehen davon, dass ich Originalität ohnehin nicht für eine theologische Tugend halte, liegen die Muster und Werkzeuge, mit denen in diesem Abschnitt gearbeitet wird, seit Augustin,12 Hegel,13 Peirce14 und Barth15 (einschließlich deren Interpreten) längst bereit, wurden und werden auch reichlich genutzt. Sie sollen hier nur knapp zusammengefasst und abschließend dann (s. u. Abschn. 4) für den theologischen, kirchlichen und schulischen Gebrauch empfohlen werden. Die Kriterien für die Trinitätslehre liegen aufgrund der in den beiden ersten Abschnitten dieses Aufsatzes formulierten Einsichten und Fragen bereit. Dabei zeigte es sich, dass die Verbindung des altkirchlichen Grundsatzes „Opera trinitatis ad extra sunt indivisa“ mit dem methodischen Grundsatz, die Trinitätslehre aus dem geschichtlichen Wirken 11 Für theologisch weniger geübte Leserinnen und Leser könnte es sich empfehlen, die Lektüre der beiden folgenden Absätze umzukehren, also zunächst den vierten und dann erst den dritten Abschnitt zu lesen. 12 Augustin, De trinitate (404-ca.420), in: MPL 42, dt. BKV 11 f., Kempten/ München 1935/36. 13 Phänomenologie des Geistes VII/C: Die offenbare Religion (1807), in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, Frankfurt/Main 1970, S. 545 – 574. 14 Ch. S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (1903), hg. und übs. von Helmut Pape, Frankfurt/Main (1983) 19932 sowie ders., Religionsphilosophische Schriften, hg. und übs. unter Mitarbeit von Helmut Maaßen von Hermann Deuser, Hamburg 1995. 15 Die Kirchliche Dogmatik I/1, Zürich (1932) 19648, S. 311 – 514.
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Gottes abzuleiten und zu begründen, eine gravierende Spannung bildet, die Beachtung verdient. Ebenso zeigte sich, dass nach einer Antwort auf die Frage: „Warum ausgerechnet drei?“ gesucht werden muss, die gleichzeitig sowohl die ungeteilte Einheit der Opera trinitatis ad extra als auch ihre irreduzible Unterscheidbarkeit im Sinne der Triadizität festhält. In beiden Fällen zeigt sich also das klassische Grundproblem der Trinitätslehre, wie Einheit und Dreiheit unreduziert als miteinander vereinbar und verbunden gedacht werden können. Um zu einer solchen Gestalt der Trinitätslehre zu kommen, ist ein Zwischenschritt erforderlich, der in vielen Trinitätstheologien faktisch unternommen wird, aber nur selten in seiner grundlegenden Bedeutung kenntlich gemacht wird. Ich formuliere diesen Zwischenschritt als These: Um zu einer fundierten Trinittslehre zu kommen, muss das Wirken Gottes in seinem Weltverhltnis, von dem die trinittstheologische Reflexion ihren Ausgang nimmt, als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden. Ich möchte diese These erläutern, indem ich ihren Sinn zunächst gegen zwei mögliche Missverständnisse abgrenze: Die These besagt nicht, Gottes Wirken in seinem Weltverhältnis könne, dürfe oder solle nur als Selbstoffenbarung verstanden werden, sondern sie besagt, dass das Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden muss, wenn es auf seine trinittstheologischen Implikationen hin betrachtet und bedacht werden soll. Gegen diese These spricht nicht die Tatsache, dass es ein jedem menschlichen Erkennen verborgenes Wirken Gottes geben könnte, das nicht als Selbstoffenbarung Gottes an den Menschen verstanden werden kann. Denn ein solches Wirken könnte von uns Menschen gar nicht als Wirken Gottes verstanden werden, da es sich voraussetzungsgemäß dem menschlichen Erkennen entzieht.16 Gesagt wird mit der These also nur: Wo immer ein Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis von Menschen erkannt wird, da kann und muss es aus trinitätstheologischen Gründen17 als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden. 16 Das schließt nicht die Möglichkeit aus, dass es sich um ein fr Gott erkennbares Wirken Gottes handeln könnte. Aber diesen Fall eines nur für Gott selbst erkennbaren Wirkens Gottes können wir hier, wo es um die Grundlegung der Trinitätslehre als eines menschlich-theologischen Reflexionsproduktes geht, beiseite lassen. 17 Um zu vermeiden, dass auch hiermit schon ein Petitio principii erfolgt, müsste und könnte man den Satz noch etwas umständlicher, aber genauer formulieren: „Wo immer ein Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis von Menschen erkannt wird, da kann und muss es, um die darin erkennbar werdende Wirk-
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Das andere mögliche Missverständnis könnte darin bestehen, ,Selbstoffenbarung‘ so zu verstehen, als würde Gott seinem Wirken in seinem Weltverhältnis jeweils als Ergänzung eine spezifische Botschaft mit Offenbarungscharakter hinzufgen, etwa so, wie ein Maler seine Werke mit seinem Namen signiert. Demgegenüber meint die These, dass das Wirken selbst und als solches, wenn es als Wirken Gottes erkannt und verstanden wird, damit eo ipso auch als Selbstoffenbarung Gottes zu verstehen ist. Indem Gott die Welt schafft und erhält, sein Volk aus Ägypten herausführt etc., offenbart er sich als der Gott, der dies tut und ein solcher Gott ist. Jedes für Menschen erkennbare Wirken Gottes hat also Offenbarungscharakter, ohne in diesem Offenbarungscharakter aufzugehen und ohne seine konkrete Bestimmtheit zu verlieren. Der Sinn der These besteht demzufolge darin, dass zwar nicht die Begriffe ,Wirken Gottes‘ und ,Selbstoffenbarung Gottes‘ ihrer Bedeutung nach (also intensional) miteinander identifiziert werden, dass aber mit ihr sehr wohl gesagt wird, dass jedes erkennbare Wirken zugleich als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden kann und zu verstehen ist,18 wenn die Bedeutung des Wirkens Gottes für das (trinitarische) Sein Gottes und für dessen Erkenntnis erfasst werden soll. Der Charakter als Selbstoffenbarung ist also ein, und zwar ein fundamentaler, unaufgebbarer Aspekt an jedem Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis, sofern es als solches (von Menschen) erkannt und verstanden wird. Was ist damit gewonnen? Gewonnen ist damit die Verbindung zwischen der Orientierung an den vielfältigen unterschiedlichen Weisen des welthaften Wirkens Gottes als Grund und Quelle aller Gotteserkenntnis und der Selbstoffenbarung Gottes als dem sie einenden Element. Dadurch wird sowohl der Grundsatz „Opera trinitatis ad extra sunt indivisa“ festgehalten als auch eine Basis für eine präzisere trinitätstheologische Reflexion geschaffen. Die Aussage, dass die Erkenntnis (des dreieinigen) Gottes aus nichts anderem als aus seinem geschichtlichen Wirken abzuleiten ist, muss demgemäß nur insofern korrigiert werden, als sie przisiert werden muss: Die Erkenntnis (des dreieinigen) Gottes ist aus nichts anderem als aus seinem geschichtlichen Wirken als Selbstoffenbarung, d. h., sofern es immer auch den Charakter einer Selbstoffenbarung Gottes hat, abzuleiten. Dabei ist vorauszusetzen, dass an jedem Akt oder Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes die drei Aslichkeit Gottes möglichst angemessen zu erfassen, als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden.“ 18 Insofern könnte man von einer extensionalen Kongruenz sprechen.
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pekte vorhanden sein müssen, aus denen die Trinitätslehre abgeleitet werden kann. In traditioneller Terminologie gesagt: Es muss vorausgesetzt werden, dass an jedem Akt der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes der Vater, der Sohn und der Heilige Geist in unterschiedlicher Weise beteiligt sind. Aber woraus ist diese Voraussetzung gewonnen? Und wie kann sie aus der Erkenntnis des geschichtlichen Wirkens Gottes als Selbstoffenbarung abgeleitet werden, ohne dass es sich dabei ebenfalls um eine Petitio principii handelt? Auf diese Frage versucht die zweite These meines Aufsatzes eine Antwort zu geben: Aus dem als Selbstoffenbarung verstandenen Wirken Gottes in seinem Weltverhltnis kann die Trinittslehre dann abgeleitet werden, wenn die Selbstoffenbarung Gottes als genuin triadischer Zeichenprozess betrachtet und verstanden wird. Auch diese zweite These bedarf einer kurzen Erläuterung und Abgrenzung gegenüber möglichen Missverständnissen: Sie besagt nicht, dass Gottes Wirken als Selbstoffenbarung nur als Zeichenprozess erkannt, verstanden oder interpretiert werden kann.19 Und die These besagt auch nicht, dass das Wirken Gottes nur dann als Gottes Selbstoffenbarung wahrgenommen, verstanden und interpretiert werden könnte, wenn es als Zeichenprozess erkannt, verstanden und interpretiert wird. Wohl aber besagt die These, dass Gottes Wirken als Selbstoffenbarung Gottes stets auch als Zeichenprozess erkannt, verstanden und interpretiert werden kann. Und sie besagt weiter, dass dann, wenn dies geschieht, eine nicht zirkuläre Basis für die Ableitung der Trinitätslehre aus dem Wirken Gottes als Selbstoffenbarung gewonnen ist. Dies ist freilich nur dann und deshalb möglich, wenn und weil jeder Zeichenprozess eine irreduzibel dreistellige Struktur hat.20 Und das ist in der Tat der Fall. Dabei steht gewissermaßen in der ,Mitte‘ jedes Zei19 Andere Interpretationsmöglichkeiten sind z. B. das Verständnis der göttlichen Selbstoffenbarung als personales Begegnungs- oder Kommunikationsgeschehen oder als geschichtliches Ereignis. 20 Wichtige Beiträge zu einem semiotischen Zugang zur Trinitätslehre bietet Hermann Deuser, z. B. in seinem Band „Gott: Geist und Natur“, Berlin/New York 1993 (S. 154 – 173) sowie in seinen Aufsätzen in MJTh VI/1994 (S. 45 – 67) und MJTh X/1998 (S. 95 – 128). Eine hervorragende, sehr empfehlenswerte Einführung in die Semiotik (von Charles Sanders Peirce) aus theologischer Sicht (und für Theologen) bietet Martin Vetter: Zeichen deuten auf Gott, Marburg 1999, S. 1 – 146.
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chenprozesses ein ,Zeichen‘21. Jedes Zeichen verweist auf ein ,Objekt‘. Dass ein ,Objekt‘ im semiotischen Sinne auch ein Mensch oder Gott, eine Eigenschaft oder ein Ereignis sein kann und nicht nur das, was wir normalerweise als ,Ding‘ bezeichnen, sei hierzu ausdrücklich angemerkt. ,Objekt‘ in semiotischer Hinsicht ist alles, worauf ein Zeichen verweist. Der Zeichenprozess kommt jedoch nur dadurch zustande, dass das Zeichen als solches erkannt und interpretiert wird. Dieses Element wird in semiotischer Terminologie als ,Interpretant‘ bezeichnet, und damit ist jedes Element gemeint, das in einem Zeichenprozess ein Zeichen als solches, d. h. in seinem Verweischarakter auf ein Objekt, interpretiert.22 Ein solcher Interpretant kann im Zeichenprozess alsbald zum Zeichen (in Relation zu einem Objekt) werden, das seinerseits einen Interpretanten bestimmt usw. Deswegen ist der Zeichenprozess unter zeitlichen Bedingungen prinzipiell unabschließbar. Wichtig zum Verständnis dieses irreduzibel dreistelligen semiotischen Modells ist, dass die drei in ihm vorkommenden Elemente als Trger von Funktionen verstanden werden und nicht als Klassen von bestimmten Seienden. So sind ,Zeichen‘ nicht nur Buchstaben, Wörter, Ziffern, graphische Darstellungen etc., sondern Zeichen kann alles sein, sofern es auf ein Objekt verweist und als solches erkannt und interpretiert wird. Deshalb kann z. B: auch ein Mensch, wie Jesus von Nazareth, semiotisch betrachtet nicht nur ein Objekt, sondern auch ein Zeichen sein, das auf Gott oder auf das Kommen der Gottesherrschaft verweist. Dieser Zeichenprozess kommt aber erst dadurch zustande, dass seine Person, sein Wirken und sein Lebenszeugnis in ihrem Zeichen21 Dazu die inzwischen klassisch gewordene Definition von Ch. S. Peirce (Spekulative Grammatik, in: ders., Phänomen und Logik der Zeichen [s. o. Anm. 14], S. 64): „Ein Zeichen oder Reprsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, dass es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht“. Vom Zeichen ist der Zeichenprozess sorgfältig zu unterscheiden, der das Ganze von Zeichen, Objekt und Interpretant in ihrer (unabgeschlossenen) dynamischen Relation zueinander bezeichnet. 22 Diese Aussage ist noch mehrdeutig, weil die Rede von dem „Element …, das in einem Zeichenprozess ein Zeichen als solches, d. h. in seinem Verweischarakter auf ein Objekt, interpretiert“ sowohl eine Interpretation im Sinne einer Deutung bezeichnen kann, als auch einen Interpreten im Sinne einer deutenden Instanz. Nur das erste Verständnis ist mit der Semiotik kompatibel und deshalb hier gemeint. Dass genau das aber Probleme bei der Anwendung auf die Trinitätslehre erzeugen kann, wird sich noch zeigen.
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bzw. Verweischarakter erkannt und verstanden, also interpretiert werden. Gegenüber dem naheliegenden Einwand, mit diesem Interpretationsansatz würde die Trinitätslehre auf modernistische Weise der Semiotik unterworfen, von ihr vereinnahmt und fremdbestimmt, kann man zunächst daran erinnern, dass die zeichentheoretische Betrachtungsweise und Sprache sowohl in der Bibel fest verankert ist als auch in der theologiegeschichtlichen Überlieferung seit der Alten Kirche eine zentrale Rolle spielt. So taucht nicht nur im Johannesevangelium das Verständnis der Wunder Jesu als Zeichen reichlich auf,23 sondern in den Schöpfungspsalmen und in Röm 1,18 – 27 hat der Gedanke zentrale Bedeutung, dass die Kreaturen auf Gott als ihren Schöpfer verweisen, wenn man sie nur richtig, d. h. als solche Zeichen wahrnimmt und deutet. Zugleich lässt sich bezogen darauf semiotisch formulieren, worin nach paulinischer Auffassung das Wesen der Sünde besteht: im Vertauschen der Zeichen mit dem Objekt, inhaltlich gesagt: der Geschöpfe mit dem Schöpfer. Lässt sich nun das Wirken Gottes in seinem Weltverhältnis als Selbstoffenbarung mit Hilfe eines solchen semiotischen Strukturmodells so interpretieren, dass dadurch – ohne Petitio principii – die Trinitätslehre als angemessene Interpretation des Wirkens und Seins Gottes erkennbar wird? Das ist möglich; denn die Erkenntnis des unsichtbaren Gottes aus seinen Werken bedarf stets der Zeichen, die auf Gott verweisen, und anhand deren Gott erkannt werden kann. Dabei finden aus der Sicht des Neuen Testaments und des christlichen Glaubens alle anderen möglichen Zeichen ihre Mitte und ihr Maß in Jesus Christus als dem „Sohn“, der „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15; s. a. Hebr 1,3) ist,24 und zwar in der Gesamtheit seiner Existenz als der Verkündiger, der Gekreuzigte und Auferweckte. Joh 14,9 bringt dies in Form einer Selbstaussage komprimiert zum Ausdruck: „Wer mich sieht, der sieht den Vater!“ Dabei kann all dies nur dann wahrheitsgemäß gesagt werden, wenn der Sohn und der Vater ,wesenseins‘ sind, d. h., 23 Joh 2,11.18.23; 3,2; 4,48.54; 6,2.14.26.30; 7,31; 9,16; 10,41; 11,47; 12,18.37; 20,30. Aber auch im übrigen Schrifttum des Neuen Testaments ist der Zeichenbegriff reichlich belegt. 24 Diese Zentralstellung der Person Jesu Christi bringt Paul Tillich in einer glücklichen Wendung zum Ausdruck, indem er die Christusoffenbarung als die „letztgültige Offenbarung“ (Systematische Theologie Bd. I, S. 158 ff.) bezeichnet und sie damit sowohl von der ,einzigen‘, als auch von ,einer unter mehreren‘, als auch von der ,letzten‘ unterscheidet.
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wenn an Jesus Christus das Wesen Gottes abgelesen werden kann. Dies hat die altkirchliche Christologie, insbesondere unter Rückgriff auf die im Johannesprolog angelegte Logos-Lehre in den ersten Jahrhunderten nach Christus Schritt für Schritt ausformuliert. Und sie hat dies sachlich zu recht als Auslegung der biblischen Botschaft von Jesus Christus verstanden. Aber das bisher Gesagte führt nur zu einer Binitt, die aus Vater und Sohn besteht, deren Wesenseinheit und zugleich ihre Unterschiedenheit als „Objekt“ und „Zeichen“ impliziert. Die Notwendigkeit der Erweiterung zur Trinittslehre ergibt sich dann – erst dann, dann aber notwendig –, wenn sich die Frage stellt, wem die Christenheit diese Einsicht verdankt, die sie in ihrer Lehre und ihrem Bekenntnis formuliert. Dabei wäre es logisch möglich, aber mit dem Inhalt der Selbstoffenbarung Gottes unvereinbar, diese Erkenntnis auf die eigene Anstrengung und Leistung des Menschen zurückzuführen und damit sich selbst den entscheidenden Anteil an der Erkenntnis der Selbstoffenbarung Gottes zuzuschreiben. Nimmt man hingegen das ernst, was durch Jesus Christus inhaltlich – in der Botschaft von der nahe herbeigekommenen Gottesherrschaft und von der bedingungslos zugesprochenen Treue Gottes – laut wird, und beschreibt man den Prozess, wie ein Mensch zur Gotteserkenntnis kommt, phänomenologisch genau, dann muss man sagen: Auch dies ist Gottes Wirken. Aber es ist ein anderes Wirken, als das Wirken in Jesus Christus. Es ist das die Erkenntnis des Menschen weckende, ihm Gewissheit schenkende, in ihm Glauben weckende Wirken des Heiligen Geistes, der der Geist Gottes und damit ebenfalls eines Wesens mit dem Vater ist. In großer Klarheit hat Luther dies bekanntlich in der Auslegung des dritten Artikels im Kleinen Katechismus zum Ausdruck gebracht mit den Worten: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten …“25. Dabei muss, um den inneren Zusammenhang dieser drei Elemente als eine unauflösbare Einheit bewusst zu machen, hinzugefügt werden, dass der Sohn nur als der Sohn, der vom Vater in Ewigkeit „gezeugt und geboren“ ist, in Jesus Christus zu dem Zeichen wurde, an dem Gottes Wesen erkennbar geworden ist, und dass der Heilige Geist nur als der Geist, der „vom Vater und vom Sohn ausgeht“, der Geist ist, durch den 25 BSLK 511,46 – 512,5 in leicht modernisierter Orthographie.
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Jesus Christus als der Sohn Gottes und damit als „ein Spiegel des väterlichen Herzens“26 und Wesens Gottes erkannt werden kann. Dieser letztgenannte Gedanke wirft jedoch ein Problem auf, das eine trinitätstheologische Entscheidung fordert, nämlich die zwischen einem personalistischen und einem dynamistischen Geistverständnis. Entscheidet man sich dafür, den Heiligen Geist als personale Instanz mit einem eigenständigen Willen zu verstehen, so verlässt man das semiotische Modell an dieser Stelle in Richtung auf ein Kommunikationsmodell, das sich an der Vorstellung von Sender und Empfänger orientiert. Man kann dies zum semiotischen Modell in Beziehung setzen, es aber nicht ins semiotische Modell integrieren. 27 Die Integration der Pneumatologie in die (nach dem semiotischen Modell verstandene) Trinitätslehre ist nur möglich, wenn man den Heiligen Geist – semiotisch betrachtet und gesprochen – als Interpretanten im Geschehen der Selbstoffenbarung Gottes und damit dynamistisch versteht. Der Heilige Geist ist demzufolge die Erleuchtung, durch die der Sohn als der Sohn erkannt und verstanden wird. Nur mit dieser pneumatologischen Entscheidung für ein dynamistisches Geistverständnis kann das semiotische 26 So die schöne Formulierung Luthers aus dem Großen Katechismus (BSLK 660,41 f.). 27 In einer ersten Fassung dieses Aufsatzes war ich noch der Meinung, das Reden vom Heiligen Geist lasse sich umstandslos in das semiotische Modell integrieren. In einer zweiten Fassung habe ich mich bewusst für ein personalistisches Geistverständnis und infolge dessen eine kommunikationstheoretische Erweiterung des semiotischen Modells entschieden. Genaueres Nachdenken über das Geistverständnis, wie es insbesondere in CA V vorausgesetzt ist, veranlasst mich nun jedoch, für eine dynamistische Geistinterpretation zu plädieren und damit die Trinitätslehre doch vollständig (aber eben nicht mehr umstandslos) in das semiotische Modell zu integrieren. Maßgeblich für diesen (neuerlichen) Sinneswandel war die Erkenntnis, dass die höchst präzise Beschreibung der Glaubenskonstituierung in CA V das entscheidende „ubi et quando visum est“ (BSLK 58,7) nicht dem Geist, sondern Gott (dem Vater) zuschreibt. Damit (und nur damit) lässt sich auch festhalten, dass der Geist, wie es CA V sagt, durch Wort und Sakrament als durch Instrumente (bzw. Mittel) gegeben wird („per verbum et sacramentum tamquam per instrumenta donatur“ [BSLK 58,4 – 6]) und gleichwohl nicht automatisch mit dem Hören des Evangeliums oder dem Empfang des Sakraments Glauben wirkt, sondern eben „ubi et quando visum est Deo“ (BSLK 58,7 f.). Die Formulierung von CA V ist daher m. E. insofern genauer als Luthers Auslegung des Dritten Artikels im Kleinen Katechismus, als dort der Heilige Geist als wirkendes personales Subjekt vorausgesetzt zu sein scheint, hier hingegen als gewissmachende Kraft, über die Gott selbst verfügt.
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Modell unverändert auf die Trinitätslehre angewandt werden und damit seine orientierende Funktion entfalten. Diese dynamistische Interpretation wird zwar nicht der johanneischen Vorstellung von einem eigenständigen „Parakleten“28 gerecht, der nach Jesus kommt und die an Jesus Christus Glaubenden auch Neues lehrt, das die Glaubenden in der Zeit der Gegenwart des Sohnes noch nicht ertragen können ( Joh 16,12 f.) 29, aber sie wird sehr wohl der Geistvorstellung gerecht, wie sie im paulinischen Schrifttum und in den synoptischen Evangelien vorherrscht.
4. Einwände und Erwiderungen Gegen diese Gesamtinterpretation der Trinitätslehre in einem semiotischen Strukturmodell lassen sich jedoch drei Einwände erheben: a) Der erste Einwand kann sich auf das Element ,Zeichen‘ beziehen und folgende Form annehmen: Wenn nicht nur Jesus Christus als der Sohn bzw. inkarnierte Logos Gottes Zeichen ist, sondern jedes Geschöpf ein solcher Zeichen sein kann, droht dann nicht an dieser Stelle ein Pansemiotismus und eine Wahllosigkeit, die alles Mçgliche, aber nichts Spezifisches von Gott zu sagen erlaubt. Meine Antwort auf diesen Einwand lautet: Dies ist so lange nicht möglich, als die Christenheit an der Einsicht festhält, dass Jesus Christus der einziggeborene Sohn des Vaters ist, der mit dem Vater wesenseins und darum nicht geschaffen, sondern von Gott „gezeugt“ und aus Gott „geboren“ ist, wie es im altkirchlichen Bekenntnis bildhaft heißt, um die Wesenseinheit zwischen Vater und Sohn (und Geist) zum Ausdruck zu bringen. Als der Sohn ist Jesus Christus darum von allen Geschöpfen, die nicht von Gott „gezeugt“ und „geboren“, sondern geschaffen sind, kategorial unterschieden. Zwar gilt, dass die ganze Welt im Logos und durch den Logos – nach älterer Tradition: in der Sophia und durch die Sophia – geschaffen ist, aber das heißt gerade nicht, dass die Welt selbst Logos oder Sophia wre. Das gilt nur von Jesus Christus. Wir können sehr wohl anhand einzelner Geschöpfe – wenn und wo es Gott gefällt – Gottes 28 Das trifft sich mit der exegetischen Zurückhaltung gegenüber einer Identifikation des ,Parakleten‘ mit dem ,(Heiligen) Geist‘ (so z. B. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Gütersloh/Würzburg (1981) 19913, S. 563 – 568, Lit!). 29 Freilich wird auch hier gleich hinzugefügt, dass der Paraklet nicht aus sich selbst reden werde, sondern dass er reden werde, was er (vom Vater und vom Sohn?) hçrt (so Joh 16,13).
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Wirken erkennen, aber nur in Jesus Christus hat Gott sein Wesen so erschlossen, dass wir es in ihm erkennen können. b) Der zweite Einwand richtet sich darauf, dass wegen der Universalität der semiotischen Struktur offenbar alles, was über Gottes Selbstoffenbarung in semiotischer Hinsicht gesagt wird, auch für jeden anderen Bezeichnungsakt, also für jede Semiose gilt. Von daher scheint es möglich, alles als trinitarisch zu interpretieren. Verschwindet die Trinitätslehre auf diese Weise nicht in der Semiotik? Antwort: Das ist deshalb nicht der Fall, weil nur von der Trinitätslehre gilt, dass es ein und derselbe Gott ist, der in Jesus Christus Mensch wird, den darum Jesus Christus als der Sohn und Logos innerweltlich vergegenwärtigt und auf den er zugleich als der Sohn und Logos verweist. Und nur der Gott, der sich hier offenbart, ist auch das Subjekt der Erleuchtung, durch die Jesus als der Christus, Sohn und Logos erkannt wird. Man könnte im Blick darauf von der (auch) semiotischen Allmacht und Allgegenwart Gottes sprechen, die sich in seiner Selbstoffenbarung erkennbar macht und diese von jedem anderen Zeichenprozess und auch von jedem anderen Akt des Sich-zeigens unterscheidet, weil kein anderer Zeichenprozess selbst über die „Erleuchtung“ verfügt, die ihn zum Gelingen bringt. Das unterscheidet den Zeichenprozess der Selbstoffenbarung Gottes von jedem anderen Zeichenprozess. c) Der dritte mögliche Einwand knüpft an die Rede von der irreduziblen Triadizität an, konzediert sie als Minimalbedingung, fragt aber in die umgekehrte Richtung: Können wir definitiv ausschließen, dass es nicht noch ein viertes Element im Zeichenprozess gibt, das für sein Zustandekommen und Verstehen konstitutiv ist, uns aber bisher verborgen geblieben ist? Anders gefragt: Was würde es für die so interpretierte Trinitätslehre besagen, wenn wir zu der Erkenntnis kämen, dass es im Zeichenprozess ein weiteres, bisher übersehenes, konstitutives Element gibt? 30 Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Semiotik, so wird man sagen müssen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich in irgendeiner Zukunft eine solche Einsicht anmelden könnte. Das zeigt, die Frage nach der Dreizahl ist wichtig, weil sie geeignet sein könnte, die Leistungsfähigkeit des vorgestellten Modells und der vorgetragenen Überlegungen noch einmal zu überprüfen und gegebe30 Diese Frage hat mir Superintendent Hans Georg Furian auf einer Tagung in Pullach gestellt, als ich zum erstenmal eine Vorform dieses Modells der Trinitätslehre vorgestellt habe. Ich danke ihm auch noch nachträglich für diese konstruktive Frage.
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nenfalls zu präzisieren. Würde sich dabei die Einsicht in den irreduziblen mehr-als-dreistelligen Charakter jedes Zeichenprozesses aufdrängen, so müsste(n) diese(s) zusätzliche(n) Element(e) auch schon in der Offenbarungsgeschichte Gottes mit seiner Welt präsent gewesen sein, und wir hätten es bzw. sie bisher nur notorisch übersehen. Und dann wäre es in der Tat die Aufgabe der christlichen Theologie und Kirche, diese(s) bisher übersehene(n), aber sachlich konstitutive(n) Element(e) in die Trinitätslehre zu integrieren und diese damit zu erweitern. Das sind spekulative Fragen und Überlegungen, aber als Probe aufs Exempel sind sie nützlich und wichtig. Das heißt zugleich, dass die Antwort auf die Frage: „Warum ausgerechnet drei?“ auch in diesem Text nur auf dem Stand gegenwärtiger, geschichtlich bedingter Erkenntnismöglichkeiten gegeben werden kann und nicht mit dem Anspruch, unüberholbar zu sein. Aber mit diesem Vorbehalt kann man die gestellte Frage in der hier vorgetragenen Form durchaus beantworten.
5. Vermittlung der Trinitätslehre Wer den bisherigen Ausführungen zumindest vorläufig oder bedingt etwas abzugewinnen vermag, könnte immer noch fragen, ob damit tatsächlich ein Beitrag dazu geleistet werde, die Trinitätslehre auf verstndliche Weise zu vermitteln. Wird durch den zweifachen Umweg über den Begriff der Selbstoffenbarung und durch das Modell der Zeichentheorie nicht alles noch (viel) komplizierter und unverständlicher? Im Blick auf die theoretische Entfaltung, wie sie hinter uns liegt, kann ich das nicht bestreiten. Ich wäre im Moment auch nicht in der Lage, das bisher Gesagte wesentlich einfacher und verständlicher auszudrücken. Das schließt aber nicht aus, dass man aufgrund dieser theoretischen Klrung in der Lage sein könnte, den Grund, Sinn und Inhalt der Trinitätslehre ganz verständlich an theologisch nicht oder wenig vorgebildete Erwachsene, Jugendliche oder Kinder zu vermitteln.31 Dieser Aufgabe möchte ich mich in dem abschließenden vierten Teil dieses Aufsatzes 31 Damit verbinde ich nicht die Empfehlung, dies bezogen auf Kinder oder Jugendliche – etwa im schulischen Religionsunterricht – auch tatsächlich zu tun. Dazu müsste bei den Schülern erst ein diesbezügliches Frageinteresse – etwa aufgrund von einschlägigen Begegnungen und Auseinandersetzungen – vorhanden sein. Mein diesbezüglichen Versuche endeten jedenfalls mit der Feststellung und Frage eines etwa 12 – 13jährigen Schülers: „Das haben wir schon verstanden, aber wofür soll das gut sein?“
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widmen. Dabei werde ich an zwei Stellen auf eine schlichte Interpretation biblischer Texte rekurrieren. Will man die so modellierte Trinitätslehre in der Verkündigung oder im Unterricht vermitteln, so empfiehlt es sich, den Zugang in zwei Schritten, die in gewisser Weise dem altkirchlichen Dogmenbildungsprozess parallel laufen, zu unternehmen. Dabei setze ich voraus, dass nach allem, was wir wissen, Jesus nicht mit dem (expliziten) Anspruch aufgetreten ist, der Christus oder Messias, der Sohn oder inkarnierte Logos Gottes, des Vaters zu sein, sondern dass er durch seine Verkündigung von der in seinem Wirken anbrechenden Gottesherrschaft, durch sein Sterben am Kreuz und durch seine Auferweckung von den Toten einigen Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, schließlich die Einsicht und das Bekenntnis abgewann: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Mk 16,39) oder: „Mein Herr und mein Gott!“ ( Joh 20,28). Wie lässt sich der Prozess und Weg dorthin nachvollziehbar und verständlich beschreiben? a) In Mk 8,27 – 30 parr., einem Abschnitt, der im Markusevangelium eine tiefe Zäsur bildet, weil damit der Weg nach Jerusalem und zum Kreuz beginnt, wird eine Szene überliefert, die auf dem Weg von Betsaida in die Dörfer bei Cäsarea Philippi hoch im Norden spielt. Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs und fragt sie: „Wer sagen die Leute, dass ich sei?“ (Mk 8,27). Er will also wissen, für wen die Menschen ihn halten und als wer er von denen eingeschätzt wird, die mit ihm zu tun bekommen haben. Drei Antworten werden daraufhin seitens der Jünger referiert: „Einige sagen, du seist Johannes der Täufer; einige sagen, du seist Elia; andere, du seist einer der Propheten“ (Mk 8,28). Diese Antworten stimmen in etwas verkürzter Form ganz mit dem überein, was bereits in Mk 6,14 f. als Meinung der Leute über Jesus wiedergegeben wurde. Mit der Vorstellung, Jesus sei der wiedergekehrte Elia wird offensichtlich an die das Alte Testament abschließende Weissagung von Mal 3,23 f. angeknüpft: „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, auf dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.“ Elia, als der gen Himmel entrückte Prophet32 wird also vor dem Gerichtstag wiedererwartet als derjenige, der dem Volk eine letzte Möglichkeit der Umkehr und Rettung eröffnet. In der neutestamentlichen Überlieferung wird mehrfach Johannes der Täufer 32 Siehe 2 Kön 2,1 – 18.
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als dieser wiedergekommene Elia bezeichnet.33 Hier nun, ebenso wie in Mk 6,14 f., wird Jesus von den Menschen teilweise als der Elia redivivus, teils aber auch als der getötete und wieder ins Leben zurückgerufene Täufer verstanden – oder eben als irgend ein anderer der Propheten. Da alle diese Aussagen den Kontrast bilden sollen zu dem, was die Jnger von oder an Jesus erkannt haben, darf man die Antworten der Leute zusammenfassen in der Vermutung, Jesus sei einer der endzeitlich bedeutenden Propheten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Daran knüpft nun Jesu kontrastierende Frage an: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ (Mk 8,29) Diese Frage macht nur Sinn, wenn mit den Antworten der Leute noch nicht das Entscheidende, Treffende, Wahre gesagt worden ist. Und sie hat den Sinn, diesen vorläufigen, unzureichenden, das Wesentliche nicht erfassenden Antworten die Jüngerantwort gegenüberzustellen, die sagt, wer Jesus wirklich ist: „Du bist der Christus!“ (ebd.) bzw. „Du bist der Christus Gottes!“ (Lk 9,20) bzw. „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt 16,16). Schon in der markinischen Fassung, erst recht aber bei Lukas und Matthäus wird deutlich, dass der Titel „Christus“ nicht auf dieselbe Ebene wie „Prophet“ gehört. Zwischen dem höchsten Propheten und dem Christus bzw. Messias besteht kein quantitativer, sondern zumindest ein qualitativer, wenn nicht sogar ein kategorialer Unterschied, aufgrund dessen Jesus als der Christus nicht nur seiner Menschheit nach mit allen anderen Menschen wesensgleich ist, sondern auch seiner Gottheit nach mit Gott wesensgleich, ja sogar wesenseins ist. Und hier wird nun der oben angesprochene Befund relevant, dass Jesus nicht mit einem expliziten christologischen Anspruch aufgetreten ist. Denn das heißt ja, dass Menschen in der Begegnung mit Jesus von Nazareth zu der Erkenntnis kommen: In diesem Menschen begegnen wir mehr und jemand anderem als einem Propheten. Dieser Mensch verkörpert die Art und das Wesen Gottes selbst. In ihm bekommen wir es mit Gott selbst zu tun; in ihm begegnen wir Gott selbst; nicht etwa, weil Jesus allmächtig, allwissend, allgegenwärtig und ewig gewesen wäre, sondern weil in ihm das dem Menschen zugewandte allmächtige, allwissende, allgegenwärtige, ewige liebende Wesen Gottes menschliche Gestalt angenommen hat. Um dies auszudrücken oder anzudeuten, kann schon das Neue Testament neben dem Titel „Christus“ reichlich auch den Titel „Sohn (Gottes)“ (Mk 15,39; Joh 1,34; Röm 1,4 u.o.) 33 Mk 9,11 – 13 par. Mt 17,10 – 13; Mt 11,14; Lk 1,17. Verneint wird dies in Joh 1,21.
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und ,Logos‘ ( Joh 1,1 – 18) verwenden. So wird er erkannt als das Zeichen, das auf das Wesen Gottes verweist. Was wir mit diesem ersten Schritt erreicht haben, ist eine Form von Binitt oder Zweifaltigkeit. Vorsichtiger ausgedrückt: Was sich aufgrund der bisherigen Überlegungen anhand biblischer Texte ergeben hat, ist die Aufgabe, eine Binitätslehre oder Zweifaltigkeitslehre zu entwickeln oder zu entfalten.34 In ihr muss das Verhältnis von ,Vater‘ und ,Sohn‘ so durchdacht und begrifflich dargestellt werden, dass sowohl die Wesenseinheit von ,Vater‘ und ,Sohn‘, also die sie verbindende Gottheit, als auch der Unterschied der Seinsweisen von ,Vater‘ und ,Sohn‘ klar zum Ausdruck kommen. Dieser Stand der Lehrbildung ist in der Alten Kirche endgültig mit dem Konzil von Nicäa 325 erreicht.35 b) Der zweite Schritt wird getan mit Hilfe der Frage, wie die Christenheit – und wie jeder einzelne Christenmensch – zu dieser Erkenntnis kommen konnte und gekommen ist.36 Diese zusätzliche erkenntnistheoretische Fragestellung und ihre Beantwortung sind von größter Bedeutung für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens. Und schon im Neuen Testament lautet die Antwort: Diese Erkenntnis haben wir nicht aus uns selbst, sondern sie ist uns von Gott bzw. durch Gottes Geist gegeben. Die einschlägige Fortsetzung der Perikope, die als ,Petrusbekenntnis‘ bekannt ist, findet sich freilich nicht bei Markus und Lukas, sondern 34 Ich wiederhole damit in anderen Worten und von einem anderen methodischen Zugang aus eine These, die ich in dem Aufsatz: Die Basileia-Verkündigung Jesu als implizite Gotteslehre, in: MJTh XI/1999, S. 26 f. in Form der Behauptung aufgestellt habe, dass die in der Basileia-Verkündigung Jesu implizierte Gotteslehre und Christologie diejenigen Explikationen unverzichtbar gemacht hat, mittels deren „die Alte Kirche in den ersten Jahrhunderten … die unvermeidlichen christologischen Konsequenzen aus der in der Basileia-Verkündigung Jesu implizierten Gotteslehre gezogen hat.“ 35 Zwar wird hier auch schon der Glaube an den Heiligen Geist bekannt, aber die Aussagen über die Wesenseinheit beziehen sich nur auf das Verhältnis von Vater und Sohn (siehe DH 125 f. sowie Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 1, hg. von J. Wohlmuth, Paderborn u. a. 19733, S. 5). 36 Ich skizziere damit die Lösung der Aufgabe, die ich in dem in Anm. 34 zitierten Aufsatz nur angekündigt, aber nicht bearbeitet habe, indem ich dort sage: Ich verzichte darauf, „zu zeigen, dass und inwiefern alles Gesagte mutatis mutandis auch für das Verhältnis der Gotteslehre zur Pneumatologie gilt, und darum dann (natürlich) auch für die Trinitätslehre. Aber ich stehe nicht an, wenigstens anmerkungsweise zu behaupten, dass die Basileia-Verkündigung Jesu die Trinitätslehre impliziert – andernfalls würde sie ja auch nicht die christliche Gotteslehre implizieren“ (a. a. O., S. 27, Anm. 35).
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nur in Mt 16,17: „Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ Hier taucht bereits implizit die Frage auf, woher Petrus das weiß, was er soeben bekannt hat, woher er also die Wahrheit über Jesus als den Christus hat. Und die Antwort ist eine zweifache. Zunächst wird negativ gesagt: nicht durch Fleisch und Blut, d. h. nicht durch Menschen, weder durch andere, noch durch sich selbst. Sodann wird positiv gesagt: durch meinen Vater im Himmel. Hier taucht also (noch) nicht der Geistbegriff auf, sondern es ist nur die Rede vom Vater als dem wirkende Subjekt. Insofern könnte man vermuten, man befinde sich noch auf binitarischer Ebene. Aber schon mit der Frage wird eine neue Ebene betreten, und damit kommt eine dritte Größe ins Spiel, der Interpretant, durch den Petrus und die übrigen Jünger erleuchtet worden sind, so dass sie zu dieser Erkenntnis kommen konnten. Diese dritte Größe wird teilweise schon im Neuen Testament, vor allem aber in der späteren kirchlichen Lehrbildung als der ,Geist‘ bzw. ,Geist Gottes‘ bzw. ,Heilige Geist‘ bezeichnet. Das wird schon in der Bibel durch zahlreiche zu Mt 16,17 parallele Aussagen deutlich. So findet sich in Mt 11,25 – 27 das Jesus-Logion: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“ Hier wird das Offenbaren einerseits (V. 25) dem Vater zugeschrieben, andererseits (V. 27) dem Sohn. Und als neuer, das bisher Gesagte ergänzender Gedanke kommt hinzu, dass auch das Verbergen von Erkenntnis auf Gott zurückzuführen ist. Das ist ein Überlieferungsstrang, der im Markusevangelium im Zusammenhang mit dem Geheimnis-, Verblendungs- oder Verstockungsmotiv eine große Rolle spielt.37 Insbesondere in der paulinischen und johanneischen Theologie ist jedoch der Gedanke fest verankert und teilweise auch schon begrifflich ausgearbeitet, dass es zur Anteilhabe des Menschen an dem, was Gott ihm zu erkennen geben will, des ,Geistes‘38 (teilweise auch des ,Pa37 Siehe dazu vor allem Mk 4,10 – 12 parr. Mt 13,10 – 17 und Lk 8,9 f. 38 Siehe 1 Kor 2,10 – 16; 12,3; 2 Kor 3,3.17 f. Ohne Verwendung des Geistbegriffs wird dieser Zusammenhang von Paulus 2 Kor 4,1 – 6 in beeindruckender Klarheit dargestellt.
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rakleten‘39) bedarf, den Gott selbst gibt bzw. sendet. Dogmengeschichtlich ist diese Reflexionsstufe mit dem sog. Nicänokonstantinopolitanum aus dem Jahre 381 (samt nachträglicher Ergänzung des ,filioque‘) erreicht, wo nun explizit bekannt wird, dass der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht und zugleich mit beiden angebetet wird, womit das Modell des einen, gemeinsamen göttlichen Wesens und der unterschiedlichen Seinsweisen von „Vater“, „Sohn“ und „Heiligem Geist“ vorausgesetzt und angewandt worden ist.40 Das Resultat dieses zweiten Gedanken- und Entwicklungsschrittes sind nicht drei Götter, sondern es ist dreimal ein und derselbe Gott, der sich in Jesus Christus durch seinen Heiligen Geist seinem Wesen nach offenbart und so erkennen lässt. Und da dieser Offenbarungs- bzw. Zeichenprozess überhaupt nur dort stattfindet, wo alle drei Elemente gegeben sind bzw. sich ereignen41, darum ist dieser Prozess irreduzibel dreistellig, und darum ist die Trinitätslehre eine angemessene Entfaltung der Aussagen über das Wesen Gottes, wie sie sich aus Gottes weltzugewandtem Wirken, das als Selbstoffenbarung Gottes verstanden wird, ergeben. Kann man so (oder so ähnlich) auf verständliche Weise zum Ausdruck bringen, was „Trinität“ bzw. „Trinitätslehre“ bedeutet? Das ist insofern eine Doppelfrage, als es einerseits darum geht, ob das, was damit vermittelt wird, eine angemessene Gestalt der christlichen (Gottesbzw. Trinitäts-)Lehre ist, und andererseits darum, ob es auf verstndliche Weise vermittelt wird. Beides zu beantworten steht aber nicht dem Autor eines solchen Textes zu, sondern nur seinen Rezipienten.
39 Siehe Joh 14,16 f. u. 26; 15,26; 16,7. 40 Siehe DH 150 sowie Dekrete der ökumenischen Konzilien; Bd. 1 (s. o. Anm. 35), S. 24. 41 Weil andernfalls nichts erkannt würde und keine Offenbarung stattfände.
Das Eschaton predigen Die Predigt vom Eschaton ist in zweierlei Hinsicht zentral: für die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus als Osterkerygma1 und für das christliche Verständnis der menschlichen Existenz und ihre ewige Bestimmung 2. Schnittpunkte von beidem markieren – die Ausrichtung auf das von Jesus Christus verkündigte Reich Gottes (verstanden als Gottesherrschaft), – der Glaube an die Auferweckung (oder Auferstehung) von den Toten und – die Hoffnung auf das ewige Leben als Inhalt und Endpunkt des christlichen Glaubensbekenntnisses. Diesen drei Grundbegriffen bzw. -metaphern lassen sich die anderen Ausdrücke, die dabei eine Rolle spielen, zuordnen: – der Tod als kreatürliches Ende und/oder als der Sünde Sold; – das Kommen („die Wiederkunft“) Christi als Richter und als Herrscher in der vollendeten Welt; – das Jngste Gericht mit doppeltem Ausgang und/oder die Rettung aller Geschöpfe; – Himmel und Hçlle als Orte ewiger Seligkeit (Gottesgemeinschaft) und ewiger Qual (Gottesferne); – die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde als verwandelte oder als neue Schöpfung. Alle diese Vorstellungen (und noch mehr) kommen bekanntlich in der Bibel vor. Die Perikopenordung, das Kirchenjahr und anfallende Kasualien nötigen regelmäßig, darüber zu predigen. In der Seelsorge – insbesondere an Sterbebetten und bei Hinterbliebenen – spielen sie häufig eine Rolle und fordern uns theologisch heraus zur Beantwortung der Frage: Was haben wir in eschatologischer Hinsicht redlich zu sagen und zu verkündigen? Als Hilfe zur Beantwortung dieser Frage möchte ich in diesem Text zunächst (1) einen Überblick über die wichtigsten eschatologischen Positionen aus der Theologie des 20. Jahrhunderts 1 2
Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz: Braucht der Osterglaube das leere Grab? (s. o. S. 423 – 434). Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz: „Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ (s. u. S. 478 – 487).
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Das Eschaton predigen
geben, sodann (2) auswertend und abschließend einige Thesen formulieren.
1. Überblick über eschatologische Positionen aus dem 20. Jahrhundert Im Jahr 1957 begann der eigenwillige, geistvolle katholische Theologe H. U. von Balthasar in einem Sammelband3 seinen Beitrag zum Thema ,Eschatologie‘ mit folgenden Worten: „Die Eschatologie ist der ,Wetterwinkel‘ in der Theologie unserer Zeit. Von ihr her steigen jene Gewitter auf, die das ganze Land der Theologie fruchtbar [!] bedrohen: verhageln oder erfrischen. Wenn für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts das Wort von Troeltsch gelten konnte: ,Das eschatologische Bureau ist meist geschlossen‘, so macht dieses im Gegenteil seit der Jahrhundertwende Überstunden“.4 Mit der Rede von der „Jahrhundertwende“ weist Balthasar auf den theologischen Umbruch hin, der forschungsgeschichtlich von allem mit den Namen Johannes Weiß 5 (1863 – 1914) und Albert Schweitzer 6 (1875 – 1965) verbunden ist. Beide erkannten – eher widerwillig als begeistert –, dass die von der Aufklärung und von der liberalen Theologie geprägte Vorstellung vom Reich Gottes als einer sittlichen Idee, die durch das Wirken Jesu anfänglich verwirklicht wurde und der Kirche bzw. Christenheit zur Weiterführung und Vollendung aufgetragen worden sei, herzlich wenig mit der Verkündigung, dem Wirken und der Person 3
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Fragen der Theologie heute, Hg. J. Feiner, J. Trütsch und F. Böckle, Einsiedeln 1957, S. 403 – 422. Die Tatsache, dass ich mit einem Zitat eines katholischen Theologen beginne, ist auch gedacht als kleine (wenn auch völlig unzureichende) Kompensation dafür, dass im folgenden Text nur evangelische Positionen zur Darstellung kommen. A. a. O., S. 403. In Troeltschs posthum herausgegebener „Glaubenslehre“ (München/Leipzig 1925, S. 36) wird die Rede vom meist geschlossenen eschatologischen Bureau von ihm selbst einem anderen, ungenannten Theologen zugeschrieben mit den Worten: „Ein moderner Theologe sagt: Das eschatologische Bureau sei heutzutage zumeist geschlossen“. Und Troeltsch fügt an: „Es ist geschlossen, weil die Gedanken, die es begründeten, die Wurzel verloren haben“. J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen (1892, 19002) 19643 (mit einem Geleitwort von R. Bultmann, Hg. F. Hahn). A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen (1906, 19132) 19849.
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Jesu zu tun hatte. Damit entzogen diese beiden Neutestamentler durch ihre Forschung der aufklärerischen und liberalen Theologie faktisch den theologischen, jedenfalls aber den biblischen Boden. Ich sagte, dass Weiß und Schweitzer das eher widerwillig als begeistert getan haben und will das kurz erläutern. Johannes Weiß war der Schwiegersohn von Albrecht Ritschl (1822 – 1889), dem theologischen Ahnherren des Liberalismus (nach Schleiermacher). Weiß schrieb im Vorwort zu 2. Auflage seines Hauptwerkes im Jahre 1900: „Die erste Auflage dieser Schrift [von 1892] ist entstanden als Ergebnis eines mich bedrängenden persönlichen Conflictes. In der Schule Albrecht Ritschls habe ich mich von der ungemeinen Bedeutung des systematischen Gedankens vom Reiche Gottes, welcher den organischen Mittelpunkt seiner Theologie bildet, überzeugt. Ich bin noch heute der Meinung, dass sein System und gerade dieser Centralgedanke diejenige Form der Glaubenslehre darstellt, welche am Meisten geeignet ist, unserem Geschlecht die christliche Religion nahezubringen … Aber schon früh beunruhigte mich die deutliche Empfindung, dass Ritschls Gedanke vom Reiche Gottes und die gleichnamige Idee in der Verkündigung Jesu zwei sehr verschiedene Ideen seien. Meine im Jahre 1892 erschienene Schrift war ein Versuch, diesen Unterschied scharf und energisch hervorzuheben. Die zugespitzte Form, in der sie auftrat, hat Viele verletzt und erschreckt. Aber ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, dass der eigentliche Grundgedanke heute im Wesentlichen anerkannt ist. Das moderne Theologumenon ist von einer völlig anderen Form und Stimmung, als jener urchristliche Glaubensgedanke. Weitere Studien haben mich überzeugt, dass die eigentlichen Wurzeln der Idee Ritschls bei Kant und in der Aufklärungstheologie liegen“.7 Man sieht, es sind nicht nur die engen familiären Bande zu Ritschl, die Weiß seine Einsichten unbequem und unangenehm machen, sondern mindestens ebenso die Überzeugung, dass gerade Ritschls Grundgedanke „diejenige Form der Glaubenslehre darstellt, welche am Meisten geeignet ist, unserem Geschlecht die christliche Religion nahezubringen“ (s. o.). Darauf verzichtet man als Theologe ungern. In ganz ähnlicher Weise hat auch Albert Schweitzer seine exegetischen Forschungsergebnisse von dem durch und durch eschatologischen bzw. apokalyptischen Charakter der Verkündigung und des Wirkens Jesu als etwas wahrgenommen, was seinen eigenen theologischen Intentionen grundsätzlich zuwider lief. Und er hielt auch nach seiner 7
Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (s. o. Anm. 5) S. XI.
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„Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ unbeirrt an seiner theologischen Intention fest, die (ethische) Eschatologie, die Jesus verkündigt hatte, in eine (eschatologische) Ethik, durchaus im Sinne Ritschls, zu verwandeln – aber eben zu verwandeln und nicht das eigene theologische Programm in das Neue Testament und in die Botschaft Jesu hineinzuinterpretieren. Das beeindruckt mich – in seiner Redlichkeit – immer wieder neu. Aber worin bestand denn nun „der eigentliche Grundgedanke“, von dem Weiß spricht, der sich ihm und Schweitzer und mehr oder weniger der ganzen Theologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erschlossen hatte? Er bestand – kurz und schlicht gesagt – in der Einsicht, dass das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, nicht durch menschliches, kirchliches, christliches Handeln gebaut und (allmählich) verwirklicht wird, sondern dass es von Gott her kommt, und zwar nicht als ein sukzessiver Entwicklungs- und Verwandlungsprozess, sondern als der (plötzliche, unberechenbare) Einbruch und Anbruch einer von Gott geschaffenen und heraufgeführten neuen Wirklichkeit. In der Systematischen Theologie am Beginn des 20. Jahrhundert wurde dies fast gleichzeitig im Jahr 1922 von zwei sehr unterschiedlichen Theologen aufgenommen und auf durchaus ähnliche Weise fruchtbar gemacht: von Paul Althaus (1888 – 1966) in der ersten Auflage seiner Schrift „Die letzten Dinge“8 sowie von Karl Barth (1886 – 1968) in der zweiten Auflage seiner Römerbriefauslegung.9 Dabei verweist Althaus gleich in der Einleitung auf den nicht nur theologiegeschichtlichen, sondern auch zeitgeschichtlichen Hintergrund dieser neuen Zuwendung zur Eschatologie: „Wie seit langem nicht, bewegt die Frage nach dem Letzten unser Geschlecht. Das Massensterben im Kriege hat aufs neue zu dem uralten Problem des Jenseits der Seele gedrängt“.10 Dass Althaus auf die erschreckenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verweist, ist naheliegend und einleuchtend, aber die Worte, die er dabei verwendet, wirken überraschend, wenn nicht sogar befremdlich. Es gehe um die Frage nach dem Letzten, um das uralte Problem des Jenseits der Seele. Diese Formulierungen sind natürlich nicht zufällig, sondern
8 P. Althaus, Die letzten Dinge. Entwurf einer christlichen Eschatologie, Gütersloh (1922), ganz neu gestaltet 19334, zehnte und letzte Auflage 1970. 9 K. Barth, Der Römerbrief, Zollikon-Zürich (1919) neue Bearbeitung 19222, neunter Abdruck der neuen Bearbeitung 1954. 10 Die letzten Dinge (s. o. Anm. 8) S. 9.
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haben ganz wesentlich mit Althaus’ neuem Verständnis der Eschatologie zu tun. Um dieses neue Verständnis seinerseits zu verstehen, ist es wichtig, sich zwei Unterscheidungen klar zu machen, die Althaus in seinem Entwurf einführt und die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (ausdrücklich oder implizit) viele, wenn nicht sogar die meisten eschatologischen Entwürfe bestimmt haben. Althaus unterscheidet zunächst zwischen einer axiologischen und einer teleologischen Eschatologie, die er auch als zwei Aspekte oder Perspektiven bezeichnen kann. Worum geht es dabei? Im Horizont der axiologischen Eschatologie versteht Althaus das „Eschaton“ nicht als das zeitlich Letzte, sondern als das Letztgltige, das den denkbar höchsten Wert (axia) darstellt. Es ist das Hçchste, mit dem ein Mensch es zu tun bekommen kann. So verstanden ist die Gottesbegegnung, und zwar die gegenwrtige Gottesbegegnung und Gotteserfahrung, selbst schon das Eschaton11. Die traditionelle horizontale Vorstellung vom (zeitlich) Letzten wird damit gewissermaßen in die Vertikale gekippt und unmittelbar mit dem Gottesgedanken verbunden. Gott selbst ist letztgültige Wirklichkeit. (Barth wird – im Anschluss an Rudolf Otto12 – sagen: Gott ist ,der bzw. das ganz Andere‘13). Auf diese Weise gelingt es Althaus ebenso wie Barth die Eschatologie aus ihrer Stellung am Ende der Dogmatik herauszunehmen und mit allen wichtigen theologischen Inhalten zu verbinden. Durch die axiologische Eschatologie wird die Eschatologie zu einer Dimension der ganzen Theologie. Aber ist dabei nicht ein wesentliches Element der Eschatologie – nämlich ihre Ausrichtung auf die Zukunft – verlorengegangen? Das verneint Althaus, indem er auf den zweiten Pol verweist: auf die teleologische Eschatologie. Sie hat bei ihm keinen eigenen Ursprung und auch keine eigenständige Begründung in der Gottesbegegnung, sondern wird durch „Reflexion“ begründet und hat „die logische Form von Postulaten“. 14 Das ist so zu verstehen, dass der Mensch in der Gottesbegegnung zwar unmittelbar gewiss wird, dass er damit dem Letztgültigen begegnet (ist), aber dass sich erst aus der theologischen 11 Im Anschluss an die präsentische johanneische Eschatologie, wie sie sich in Joh 5,24 ausgesagt findet. 12 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München (1917) NA 1963, S. 28 – 37. 13 Der Römerbrief (s. o. Anm. 9) S. 17, 139, 351, 371 u. ö. 14 P. Althaus, Die letzten Dinge (s. o. Anm. 8) S. 52 und 56.
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Reflexion die Einsicht ergibt, dass diese Begegnung auch eine Hoffnungsdimension hin auf Vollendung und Vollkommenheit hat, sofern sie die Hoffnung weckt, auf letztgltige Weise dem Letztgültigen zu begegnen. Ist in der ersten Hinsicht das Eschaton „Gegenwartsbesitz, in dem die Seele selig ruht“, so ist es „im anderen Falle Hoffnungsziel, dem unser weltgebundenes Christenleben in hoher Spannung der Sehnsucht entgegendrängt“.15 Es scheint so, als hätte Althaus damit das vermeintliche Defizit an Hoffnung und Zukunft wieder in sein Eschatologiekonzept, wenn auch nachrangig, eingeholt, aber das ist nur in gewisser Hinsicht der Fall. Denn nachdem Althaus die Unterscheidung und Zusammengehörigkeit von axiologischer und teleologischer Eschatologie skizziert hat, führt er eine zweite Unterscheidung ein, die nicht mehr im Sinne einer polaren Zusammengehörigkeit, sondern eines scharfen Gegensatzes zu verstehen ist. Es ist die „Abgrenzung“16 jeder theologisch verantwortbaren Eschatologie – auch und gerade jeder teleologischen Eschatologie – von jeder Form einer endgeschichtlichen Eschatologie. Darunter versteht Althaus eine Eschatologie, die den Anspruch erhebt oder auch nur den Versuch unternimmt, theologisch begründete Aussagen über den zeitlichen Endzustand oder die Endphase der Geschichte zu machen. Zwar geht es Althaus in teleologischer Hinsicht auch um die Vollendung des Einzelnen und der Welt, „(a)ber der Ertrag der Geschichte liegt nicht in ihrem zeitlichen Endzustande vor, sondern wird in dem Jenseits der Geschichte erhoben. Und die Vollendung der Geschichte ist weder als ein geschichtlicher Endzustand zu denken noch in besondere Beziehung zu diesem zu setzen. Die ,letzten Dinge‘ haben mit der letzten Periode der Geschichte nichts zu tun. Die Eschatologie ist an der Frage nach einem geschichtlichen Endzustande nicht interessiert“.17 Um es einfach und deutlich zu sagen: Auch die teleologisch ausgerichteten eschatologischen Aussagen werden von Althaus nicht auf die Zukunft, sondern 15 A. a. O., S. 58. 16 A. a. O., S. 64. 17 Ebd. Althaus hat in der vierten Auflage von 1933 seine Schrift tiefgreifend überarbeitet und wesentlich ausgebaut. Dabei gewinnt der teleologische Aspekt größere Bedeutung als in den ersten Auflagen, aber die Kritik an einer endgeschichtlichen Eschatologie, die für ihn nicht nur Millenniumsvorstellungen umfasst, sondern alle möglichen Aussagen, die sich auf eine zeitliche Zukunft der Welt beziehen, hat er auch in dieser Überarbeitung und in den auf sie folgenden Auflagen beibehalten.
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auf das Jenseits bezogen. Und damit ist das Eschaton insgesamt im Jenseits verortet. Hiermit verbindet sich bei Althaus, Barth und vielen anderen die klare Absage an die – noch bei Kant und Schleiermacher wichtige – Vorstellung von einer unsterblichen Seele, die den Tod des Menschen überdauert. An die Stelle der schon in der griechischen Philosophie geprägten Vorstellung vom Tod als Trennung von (sterblichem) Leib und (unsterblicher) Seele, die auch in der römisch-katholischen Anthropologie und Eschatologie immer beibehalten wurde, tritt nun die sog. Ganz-Tod-Theorie in Verbindung mit der biblisch begründeten Hoffnung auf die Auferstehung der Toten durch Gottes souveränes Schöpferhandeln. Dabei muss man fairer Weise anmerken, dass Althaus bereits in der überarbeiteten Fassung seiner Eschatologie von 1933 gleichwohl „Auferweckung“ ausdrücklich unterscheidet von einer (zweiten) Erschaffung der Kreatur aus dem Nichts, und folglich unterscheidet er auch (anders als Karl Barth) zwischen „Tod“ und „Nichtsein“. Dieser Unterschied wird bei Althaus aber nicht begründet durch irgendetwas am oder im Geschöpf Liegendes, das seinen Tod überdauern würde, sondern allein durch Gottes Beziehung zum verstorbenen Geschöpf, also durch „Gottes Willen“.18 Dabei bestätigt die Absage an den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele bei Althaus die Absage an jede Form einer endgeschichtlichen Eschatologie. Der Tod wird hier als Tod des ganzen Menschen radikal ernst genommen. Das gilt grundsätzlich auch für Karl Barth, und zwar nicht nur für seine Römerbriefauslegung von 1922 (das Grunddokument der Dialektischen Theologie), sondern grundsätzlich auch noch in der Kirchlichen Dogmatik (1932 – 1968), jedenfalls in den Teilen der Schöpfungslehre, in denen Barth sein Zeit- und Ewigkeitsverständnis expliziert hat.19 Besonders scharf fallen aber in seiner Römerbriefauslegung 18 Die letzten Dinge, Gütersloh 19334, S. 108 f. 19 K. Barth, KD III/2, S. 524 – 780, bes. 714 – 780. Dem Paragraphen steht auf S. 524 folgender Leitsatz voran: „Der Mensch ist in der ihm gegebenen Frist seines vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Lebens. Der vor ihm war und nach ihm sein wird und also sein Sein begrenzt, ist der ewige Gott, sein Schöpfer und Bundesgenosse. Er ist die Hoffnung, in der der Mensch in seiner Zeit leben darf“. Und die Explikation dieses Leitsatzes gipfelt auf S. 770 in der Aussage: „Der Mensch als solcher hat also kein Jenseits, und er bedarf auch keines solchen; denn Gott ist sein Jenseits“. Im Unterschied zu Althaus versteht Barth freilich hier den Begriff „Jenseits“ selbst nicht axiologisch, sondern teleologisch bzw. futurisch. Tod ist darum für Barth „Nichtsein“ (so a. a. O., S. 715, 724
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die Abgrenzungen gegenüber jeder zeitlich, futurisch oder endgeschichtlich verstandenen Eschatologie aus: „Will das unnütze Gerede von der ,ausgebliebenen‘ Parusie denn gar nicht aufhören? Wie soll denn ,ausbleiben‘ was seinem Begriff nach überhaupt nicht ,eintreten‘ kann? Denn kein zeitliches Ereignis, kein fabelhafter ,Weltuntergang‘ … ist das im neuen Testament verkündigte Ende, sondern wirklich das Ende, so sehr das Ende, dass die neunzehnhundert Jahre nicht nur wenig sondern nichts zu bedeuten haben, was seine Nähe oder Ferne betrifft, so sehr das Ende, dass schon Abraham diesen Tag sah und sich freute“.20 Freilich rückt Barth – anders als Althaus – an die Stelle einer endgeschichtlichen Eschatologie nicht eine axiologische, die auf die gegenwärtige, unmittelbare Gottesbegegnung und -beziehung begründet ist, sondern – geradezu entgegengesetzt – eine kritische, dialektische Eschatologie, in der Gott nicht greifbar und erfahrbar wird, sondern in Form der indirekten Mitteilung, d. h. in Form des Gerichts und der Verborgenheit den Menschen und die Welt radikal in Frage stellt: „Direkte Mitteilung von Gott ist keine Mitteilung von Gott. Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“.21 Einer Variante dieser universal-theologischen, dezidiert nicht endgeschichtlichen Eschatologie begegnen wir schließlich bei Rudolf Bultmann (1884 – 1976), der vom Eschatologie-Begriff nicht weniger, sondern eher noch mehr Gebrauch gemacht hat als Althaus und Barth – vor allem in Form der Rede von der „eschatologischen Existenz“22 des Christenmenschen im Hier und Jetzt der Offenheit für die Anrede durch das Kerygma, die je neu auf den Menschen zukommt und ihn vor die Entscheidung für den Glauben (= Offenheit, Wagnis) oder Unglauben (= Verschlossenheit, Verfügenwollen) stellt.23
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u.o.). Vgl. hierzu G. Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, Neukirchen 1988. Der Römerbrief (s. o. Anm. 9) S. 484. A. a. O., S. 298. Siehe dazu R. Bultmann,Geschichte und Eschatologie, Tübingen (1957) 19642 sowie im Register zu ,Glauben und Verstehen II-IV‘ (Tübingen 1984) die Belegstellen unter dem Stichwort ,Eschatologische Existenz‘. Im ersten Band von GuV spielt dieser Terminus noch keine Rolle. Inwiefern es auch bei Bultmann eine Hoffnung über den Tod hinaus gibt, untersucht die Arbeit von M. Dorhs, Über den Tod hinaus. Grundzüge einer Individualeschatologie in der Theologie Rudolf Bultmanns, Frankfurt/Main u. a. 1999.
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Insofern kann hinsichtlich der „Überstunden des eschatologischen Bureaus“ und hinsichtlich einer ganzen Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den bedeutendsten evangelischen Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (zu Tillich komme ich gleich noch) eine große Übereinstimmung im Grundsätzlichen festgestellt werden, die sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen lässt: a) Das „Eschaton“ bzw. „das Letzte“ wird nicht verstanden als das jetzt noch Ausstehende, dessen Kommen erwartet wird, sondern als das jetzt schon gegenwärtige Letztgültige, das dem Menschen als Gericht und/oder Gnade Gottes begegnet. b) Die Eschatologie ist nicht ein Teilstück der christlichen Dogmatik oder Glaubenslehre, das diese abschließt, sondern sie ist eine durchgängige Dimension, ein Aspekt der ganzen Theologie, und zwar derjenige, der ihren spezifisch christlichen Charakter und ihre existentielle Dringlichkeit zur Geltung bringt. c) Die Fragen nach dem, was Christen (und andere Menschen) im Tod, durch den Tod hindurch und nach dem Tod zu erhoffen und zu erwarten haben, treten demgegenüber ganz zurück, werden oftmals gar nicht (mehr) gestellt oder sie werden sogar für illegitim erklärt. d) Ebenso tritt der gesellschaftliche, geschichtliche, kosmische Aspekt der Eschatologie ganz in den Hintergrund. Er spielt in diesen Jahrzehnten kaum irgendeine Rolle. Das ändert sich fast schlagartig, als Anfang bis Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts mehrere Bücher erscheinen, die sich ihrem Anspruch und ihrer Wirkung nach als unterschiedliche Neukonzeptionen zur Eschatologie erweisen, die sich schnell großer (und weit über Deutschland und Europa hinausreichender) Resonanz und Beachtung erfreuen. Ich meine vor allem den von Wolfhart Pannenberg (*1928) (in Verbindung mit Rolf und Trutz Rendtorff sowie Ulrich Wilckens) herausgegebenen Band: „Offenbarung als Geschichte“24 sowie das von Jürgen Moltmann (*1926) verfasste Werk „Theologie der Hoffnung“.25 Beide Konzeptionen grenzen sich in mehrfacher Hinsicht von den bisher besprochenen Positionen (aber auch voneinander) ab, stimmen 24 Göttingen (1961) 19825. 25 München (1964) 198512, Taschenbuchausgabe 1997. Neben Pannenberg und Moltmann kann man noch an Walter Kreck (Die Zukunft des Gekommenen, 1961) und Gerhard Sauter (Zukunft und Verheißung, 1965) erinnern, die zur selben Zeit eschatologische Konzeptionen publizierten, die jedoch hinsichtlich ihrer Wirkung bei weitem nicht an Pannenberg und Moltmann heranreichten.
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ihnen aber an einem Punkt ausdrücklich zu: Eschatologie darf nicht als Teilstück der Dogmatik verstanden und behandelt werden, sondern betrifft und durchzieht die christliche Verkündigung und Theologie im Ganzen. Pannenbergs Ansatz kann man als eine universalgeschichtliche Konzeption bezeichnen, in die Einflüsse von Hegel und Karl Löwith, Gerhard von Rad und Hans von Campenhausen eingegangen sind. Im Zentrum dieser Konzeption steht die Überzeugung von der Auferstehung Jesu Christi von den Toten als diejenige historische Tatsache, durch die der christliche Glaube begründet und getragen wird. Ihren theoretischen Rahmen bildet das Welt- und Geschichtsbild der jüdischen Apokalyptik, das zwischen dem Babylonischen Exil und der Zeitenwende im Frühjudentum entstanden ist und das abendländische Denken bis in die Gegenwart hinein mitbestimmt. Diese Konzeption – so Pannenberg – geht davon aus, dass die Geschichte ein sinnhaftes Ganzes ist, das einen Anfangs- und einen Endpunkt hat, der nach jüdisch-christlicher Vorstellung durch die Begriffe „Schöpfung“ und „Auferstehung der Toten“ bezeichnet werden kann. Man sieht sofort, dass das Zentrum dieses theologischen Ansatzes und sein theoretischer Rahmen einen gemeinsamen Berührungspunkt haben: die Auferstehung von den Toten. Das ist es, was das Frühjudentum von Gottes endzeitlichem Wirken erhofft und erwartet, und wodurch der angenommene, erhoffte, geglaubte Sinn des ganzen Weltprozesses zur Erscheinung kommen wird. In diese Erwartungssituation hinein verkündigt zunächst die Jüngerschar, sodann die ganze christliche Kirche, dass dieses Ereignis vorwegnehmend – „proleptisch“, wie Pannenberg gerne sagt – an der Person Jesu von Nazareth bereits stattgefunden hat. Durch das Ereignis seiner Auferstehung ist bereits jetzt das Ende der Geschichte und damit zugleich der Sinn der Geschichte verbürgt – jedenfalls für die Glaubenden. Als Christ zu leben, heißt darum für Pannenberg: von der Auferstehung Jesu Christi her auf die allgemeine Auferstehung der Toten hin zu leben. Dieser Konzeption Pannenbergs hat Jrgen Moltmann in seiner Theologie der Hoffnung deswegen widersprochen, weil seiner Meinung nach hier die Tendenz besteht, aus der Zukunft das Unbekannte, Überraschende, Kontingente in einer problematischen Weise herauszunehmen oder jedenfalls es zurückzudrängen. Das aber entspreche der christlichen Botschaft nicht, sondern widerspreche ihr. Die Zukunft werde von Pannenberg nur als „Futurum“ verstanden (als das, was sein wird), nicht dagegen als „Adventus“ (als das, was in nicht berechenbarer Weise auf uns zukommen wird). Bei Moltmanns Konzeption steht vor
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allem Ernst Bloch mit seinem großen Werk „Prinzip Hoffnung“26 Pate. Das hat Moltmann auch nie verleugnet oder bestritten. Das heißt aber auch, man hat die Pointe seines Ansatzes noch nicht hinreichend verstanden, wenn man sie nur im Gegensatz zwischen „Futurum“ und „Adventus“ sieht, sondern erst dann, wenn man sich bewusst gemacht hat, wie stark dabei die Bedeutung des menschlichen Handelns, und zwar vor allem des gesellschaftlichen und politischen Handelns ist. Denn das, was von Gott her kommt, kommt nicht ohne menschliches Zutun, sondern so, dass Menschen sich als Anwälte und Täter der Hoffnung in Dienst und Pflicht nehmen lassen. Deshalb tritt nun bei Moltmann auch das Interesse an den Fragen der individuellen Eschatologie – zumindest für einige Jahrzehnte27 – ganz in den Hintergrund, und wesentliche Impulse seiner Theologie der Hoffnung gehen in die neuentstehende Politische Theologie und Theologie der Revolution ein (ähnlich ist es bei Dorothee Sölle). Einen ganz anderen philosophisch-theologischen Denkweg beschreitet Paul Tillich (1886 – 1965) in dem fünften, eschatologischen Teil seiner Systematischen Theologie.28 Tillich ist stark von Schellings Philosophie beeinflusst – auch und gerade in seinem eschatologischen Denken. Um dies zu verstehen, muss man kurz zurückblicken auf zwei Grundbegriffe, die schon in Tillichs Schöpfungslehre und in seiner Christologie eine tragende Rolle spielen: die Begriffe „Essenz“ und „Existenz“. Beide gebraucht er etwas anders, als wir das aus der normalen Bildungssprache gewohnt sind. Die „Essenz“ bzw. das „essentielle Sein“ der Kreaturen ist nicht einfach ihr Wesen oder Sosein, sondern viel eher ihre Bestimmung im Sinne ihres eigentlichen, ihnen von Gott zugedachten Wesens. In diesem essentiellen Sein haben die Kreaturen Anteil am Sein-Selbst, und das heißt: an Gott. Diese Anteilhabe verschwindet auch im Zustand der Existenz nicht ganz, sondern dauert in pervertierter, entfremdeter Form fort. Daran zeigt sich schon, dass Tillich unter „Existenz“ oder „existentiellem Sein“ nicht einfach das Dasein oder Vorhandensein der Kreaturen meint, sondern ihr Dasein im Modus der Entfremdung, in der Weise der Uneigentlichkeit. Bei26 Bd. 1 – 3, geschrieben 1938 – 1947 in den USA, veröffentlicht Frankfurt/Main 1959. 27 Es taucht in erstaunlicher Breite wieder auf in J. Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatololgie, Gütersloh 1995, S. 65 – 149. 28 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III (1963) (dt. Stuttgart 1966) Berlin/ New York 19874.
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des, essentielles und existentielles Sein folgen nicht historisch aufeinander, sie stehen auch nicht unverbunden nebeneinander, sondern im konkreten „Leben“ des Christenmenschen durchdringen sie sich gegenseitig, stehen aber auch miteinander im Widerstreit. Aber dieser Streit währt nicht ewig. Das existentielle Sein ist dazu besteht, zu vergehen, genauer gesagt, sich selbst zu vernichten. Demgegenüber ist das essentielle Sein dazu bestimmt, in Ewigkeit zu bleiben, in das SeinSelbst, also in Gott einzugehen und aufzugehen und so sogar das göttliche Sein anzureichern und zu erfüllen. Mit einem von Schelling übernommenen Begriff nennt Tillich dies „Essentifikation“.29 Von dieser Essentifikation sagt Tillich: „Man könnte von einer ,Anreicherung‘ des göttlichen Lebens durch die geschichtlichen Prozesse sprechen. Dieser Gedanke gibt, wenn auch noch so metaphorisch und unangemessen ausgedrückt, jeder Entscheidung und jeder Schöpfung in Raum und Zeit unendliches Gewicht und bestätigt die Ernsthaftigkeit dessen, was mit dem Symbol des Jüngsten Gerichts gemeint ist“.30 Zu dessen Verständnis hat auch Eberhard Jngel (*1934) auf dem Berliner Kirchentag im Jahr 1989 einen wichtigen Beitrag geleistet,31 von dem gleich die Rede sein soll. Aber man kann diesen Beitrag kaum richtig verstehen, wenn man ihn nicht auf dem Hintergrund und im Zusammenhang mit den Aussagen liest und versteht, die Jüngel schon mit seinem Buch „Tod“32 zur eschatologischen Diskussion beigetragen hat. Jüngel ist theologisch geprägt von Barth, Bultmann und Fuchs. Mit ihnen teilt er die Absage an eine endgeschichtliche Eschatologie und an die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele. Nicht weniger radikal als Barth, sondern – wenn das geht – noch radikaler bestreitet Jüngel in diesem Buch, dass es für den endlichen Menschen eine Existenz über seinen Tod hinaus geben könne. Tod ist „Verhältnislosigkeit“, genauer gesagt: „der Tod ist das Ereignis der die Lebensver29 A. a. O., S. 453. 30 Ebd. Diese eschatologische Konzeption weist eine gewisse Nähe zu den Überlegungen auf, die sich in der Prozessphilosophie von A. N. Whitehead finden und die über J. B. Cobb und D. R. Griffin Eingang in die ProzessTheologie gefunden haben (vgl. deren gleichnamiges Werk, Göttingen 1976, bes. S. 110 – 126). 31 E. Jüngel, Gericht und Gnade, in: epd-Dokumentation Nr. 29/89, S. 35 – 62, in überarbeiteter Form unter dem Titel „Das jüngste Gericht als Akt der Gnade“ veröffentlicht in: ders., Anfänger. Herkunft und Zukunft christlicher Existenz, Stuttgart 2003, S. 37 – 73. 32 E. Jüngel, Tod, Stuttgart 1971.
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hältnisse total abbrechenden Verhltnislosigkeit. Als dieses Ereignis der Verhältnislosigkeit ist er das Ende einer Lebensgeschichte, das Ende der Geschichte einer Seele und ihres Leibes, das Ende also der ganzen Person und eben darin Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Lebens. Der Mensch ist, wenn er gestorben ist, nur noch das, was er war. … Der Gestorbene ,ist‘ nur noch in der Weise des Gewesenseins“.33 D. h. aber mit einem anderen von Jüngel gern gebrauchten Begriff: der Tod ist „Verewigung gelebten Lebens“.34 Aber gibt es dann überhaupt irgendeine Hoffung oder eine positive Aussagemöglichkeit über den Tod hinaus? Was wird in dieser Eschatologie mit dem Glauben an die Auferstehung der Toten? Jüngels Antwort lautet: „Auferstehung von den Toten heißt Versammlung, Verewigung und Offenbarung gelebten Lebens“.35 Es ist kein Zufall, dass Jüngel in diesem Buch den Tod und die Auferstehung von den Toten mit derselben Formel charakterisieren, geradezu definieren kann: beide sind „Verewigung gelebten Lebens“36. Und doch kommt in der Definitionsformel für die Auferstehung ein neues Element hinzu: „Verewigung und Offenbarung gelebten Lebens“ (Hervorhebung von WH). Und dieses neue Element ist die Brücke, durch die Jüngels Thesen über Tod und Auferstehung (von 1971) mit seinen Aussagen über das Jüngste Gericht als Akt der Gnade (aus dem Jahr 1989) verbunden sind. In der herkömmlichen Vorstellung der meisten Menschen und auch in der kirchlichen Verkündigung ist der Gerichtsgedanke häufig verbunden mit negativen Vorstellungen und Gefühlen. Er wird zwar kaum noch irgendwo als Drohung eingesetzt, aber doch häufig als Warnung. Dieses Element fehlt auch bei Jüngel nicht ganz, aber es tritt doch deutlich in den Hintergrund, und das gelingt ihm dadurch, dass er (im Gefolge Karl Barths) das Gericht nicht als Entscheidung über das ewige Schicksal des Menschen (Himmel oder Hölle) versteht, sondern ebenso entmythologisiert wie bei Bultmann und Ebeling, als Aufdeckung der Wahrheit über das menschliche Leben. Dabei ist er der Auffassung, dass dieses Offenbarwerden der Wahrheit in jedem Fall ein Akt der Befreiung ist, auch wenn diese Wahrheit erschreckend sein sollte. Aber erschreckend ist die Wahrheit über das menschliche Leben nur dann, wenn man es ohne seine Bezogenheit auf 33 34 35 36
A. a. O., S. 145. Ebd. A. a. O., S. 153. A. a. O., S. 145 und 153.
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Gottes Heilswirken in Jesus Christus in den Blick fasst. Und das gilt von jedem menschlichen Leben. Aber eben diese von Christus abstrahierende Sichtweise wird dem Menschen in dem Gericht, in dem Jesus Christus selbst der Richter ist und zwar der an unserer Stelle gerichtete Richter37, verwehrt, erspart und unmöglich gemacht. Die Wahrheit, die im Jüngsten Gericht über jeden Menschen offenbar wird, ist die Wahrheit, die darin besteht, dass jeder Mensch in Jesus Christus von Gott zum Heil erwählt und bestimmt ist. Gegen diese Wahrheit könnte ein Mensch sich nur endgültig verschließen, wenn er sich sehenden Auges mit seinem Widerspruch gegen Gottes Gnade, also mit der Sünde, identifizieren würde. Aber Jüngels letztes Wort in dieser Sache ist die Hoffnung, dass Gott auch noch einen solchen Menschen retten könnte. Und er fügt dem an: „Man verharmlost mit einer solchen Erwägung keineswegs den Ernst des göttlichen Gerichtes. Man verharmlost vielmehr den Ernst der göttlichen Liebe, wenn man definitiv ausschließt, dass Gottes Gnade auch in der Hölle noch unserem selbstgewählten Verderben zuvorkommt“.38 Auf dieser Spur sind schließlich zwei neuere Arbeiten zur Eschatologie – unabhängig voneinander, aber sachlich parallel – vorangeschritten: die Habilitationsschriften von Hartmut Rosenau (*1957) mit dem Titel ,Allversöhnung‘39 und von J. Christine Janowski (*1945) mit dem Titel ,Allerlösung‘40. Rosenau verwendet den traditionellen Begriff ,Allversöhnung‘, um in konstruktiver Anknüpfung an (den späten) Fichte zu zeigen, dass aus biblischer, reformatorischer und idealistischer Perspektive nur eine Eschatologie überzeugend und tragfähig ist, die von der „soteriologischen Ohnmacht“41 des Menschen ausgeht. Wenn es aber so ist, dass der Mensch hinsichtlich seines Heiles sich nicht selbst helfen kann, dann ist eine Eschatologie, die das ewige Geschick des Menschen von dessen guten Werken oder von dessen Glauben abhängig macht, zumindest unplausibel, wenn nicht sogar selbstwidersprüchlich. Rosenau versteht die Allversöhnungslehre dementsprechend als ein „anthropologisches 37 So Karl Barth in KD IV/1, S. 231 – 311. 38 Das jüngste Gericht als Akt der Gnade (s. o. Anm. 31) S. 72. 39 H. Rosenau, Allversöhnung. Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, Berlin/New York 1993. Die Habilitation erfolgte 1991. 40 J. Ch. Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen 2000. Die Habilitation erfolgte 1993. 41 Allversöhnung (s. o. Anm. 39) S. 20 ff. u. o.
Überblick über eschatologische Positionen aus dem 20. Jahrhundert
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Postulat,“42 das sich aus den Aussagen des Neuen Testaments über das Evangelium von Jesus Christus als Heilsbotschaft und aus der Einsicht in die soteriologische Ohnmacht des Menschen ergibt. Dabei ist für ihn eine bloße Hoffnung auf Allversöhnung zu wenig – und zu wenig transzendentaltheologisch durchdacht. Allversöhnung ist ein notwendiges Postulat, wobei er die Denkmöglichkeit der ,doppelten Prädestination‘ deshalb ausschließt, weil sie nur vom Standpunkt Gottes aus begründet werden könnte, der uns Menschen (transzendentaltheologisch geurteilt) nicht zugänglich ist. Janowski geht theologisch einen anderen Weg zum selben Ziel. Sie kritisiert zunächst – zu recht – den Begriff ,Allversöhnung‘, weil er das Problem oder die Position nicht genau genug bezeichnet, um die es geht. Dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat (2 Kor 5, 19), und d. h. dass er „durch ihn alles mit sich versöhnte“ (Kol 1, 20), wird auch von Kritikern der sog. Allversöhnungslehre nicht (notwendigerweise) in Frage gestellt oder bestritten. Strittig ist jedoch die Frage, ob diese Versöhnung auch dazu führt, dass alle Menschen erlçst, also des ewigen Heils teilhaftig werden. Janowski kommt bei der ausführlichen (mehr als 600 Seiten umfassenden) Auseinandersetzung mit dieser Frage zu keiner einfachen, sondern zu einer höchst komplexen und differenzierten Antwort. Der innere Ausgangspunkt dieser Arbeit liegt – so scheint mir jedenfalls – beim Erschrecken über eine Aussage aus CA 17: „Auch wird gelehret, dass unser Herr Jesus Christus am jungsten Tag kummen wird, zu richten, und alle Toten auferwecken, den Glaubigen und Auserwählten ewigs Leben und ewige Freude geben, die gottlosen Menschen aber und die Teufel in die Helle und ewige Straf verdammen“.43 Im lateinischen Text heißt die letzte Zeile: „condemnabit, ut sine fine crucientur“, also: „er wird sie verdammen, so dass sie ohne Ende gemartert werden“. Diese Form einer – auf Jesus Christus zurückgeführten – ewigen „Dualisierung“ ist für Janowski der Stachel, gegen den ihre Eschatologie durchgehend löckt. Einer ihrer Kernsätze heißt darum: „Die mentale Operation strengen Dualisierens zwischen Menschen (nicht z. B. zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit) als Basisoperation des strengen eschatologischen Duals … ist nicht nur anthropologisch (hier speziell: rechtfertigungstheologisch) und ethisch … unangemessen. Sie widerspricht – zumal nach evangelischen 42 A. a. O., S. 19. 43 BSLK 72, 3 – 9.
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Grundprämissen – auch dem Zentrum des christlichen Glaubens …“.44 Das ist ein deutliches, klares und hartes Urteil. Es spricht jedoch für das denkerische Niveau dieser Arbeit bzw. ihrer Verfasserin, dass sie dieser Position (von CA 17) nun nicht eine eindeutige und undifferenzierte Lehre von der Allerlösung als Antithese entgegensetzt (und damit selbst in die Gefahr des Dualisierens verfällt), sondern sich mit vielfältigen Differenzierungen einer eschatologischen Konzeption annähert, die nicht von strikten Dualisierungen geprägt ist, sondern sie zu überwinden versucht. Die Autorin erhebt jedoch nicht den Anspruch, eine solche Konzeption schon in ausgeführter Form verlegen zu können. Was mir an diesen beiden neueren Arbeiten zur Eschatologie als bemerkenswert erscheint, ist – ihre erkenntnistheoretische Reflektiertheit und Besonnenheit, – ihre konsequente Zuspitzung der eschatologischen Fragestellung auf die Heilsfrage, – ihre gemeinsame Infragestellung der Lehre vom doppelten Ausgang als christliche Normallehre sowie – ihr Versuch einer (nicht simplifizierenden) Annäherung an eine Lehre von der Allerlösung, die den klassischen Einwänden gegen diese vielgeschmähte ,Häresie‘ gerecht zu werden versucht. Aus alledem lässt sich m. E. lernen und daran lässt sich anknüpfen.
2. Thesen Blickt man von da aus zurück auf den Überblick über die wichtigsten eschatologischen Konzeptionen aus der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts, den ich zu geben versucht habe, dann erscheinen mir folgende Einsichten lehrreich und weiterführend. a) Die am Beginn des 20. Jahrhunderts stehende – vor allem exegetisch begründete – Doppelthese von der umfassenden (also nicht partikularisierbaren) Bedeutung der christlichen Eschatologie und von deren rein apokalyptischer Bedeutung (das Eschaton als eine nicht durch menschliches Handeln, sondern alleine durch Gottes künftiges Handeln herbeizuführende Wirklichkeit) erscheint mir rückblickend geurteilt in ihrer Einseitigkeit nicht nur als weiterführend, sondern auch als irreführend. 44 Allerlösung (s. o. Anm. 40), S. 622.
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b) Richtig an der These vom umfassenden Charakter der Eschatologie ist, dass sie sich nicht von den andern Glaubensaussagen und Lehrstücken isolieren lässt, sondern mit ihnen allen zusammenhngt. Was an Sterbebetten oder an Gräbern gesagt wird, muss, wenn es glaubwürdig sein soll, mit dem übereinstimmen, was im Laufe der Kirchenjahres sonntags von der Kanzel gepredigt wird.45 Zieht man daraus aber die Konsequenz, deshalb dürfe die Eschatologie nicht als eigenes Lehrstück („am Ende der Dogmatik“) behandelt werden, so läuft man Gefahr, dass die Eschatologie mit ihren spezifischen Fragen und Denkansätzen gar nicht mehr hinreichend zur Geltung kommt. Wenn „Eschatologie“ alles und wenn alles „Eschatologie“ ist, dann ist am Ende nichts mehr Eschatologie. Die Radikalisierung der Eschatologie (wie auch anderer Lehrstücke) führt schließlich leicht zu ihrer Eliminierung. c) Richtig an der These vom apokalyptischen Charakter der christlichen Eschatologie ist m. E., dass die Annahme, das Eschaton werde durch menschliches Handeln (ganz oder zumindest teilweise) heraufgeführt, mit dem biblischen Gottesglauben und mit dem neutestamentlichen Kerygma nicht vereinbar ist. Aber einseitig und irreführend ist die Folgerung, deshalb sei das Eschaton nur als jetzt noch ausstehend und erst durch Gottes knftiges dramatisches Wirken im apokalyptischen Sinne hereinbrechend zu verstehen. Ganz im Gegenteil ist es eines der wesentlichen Elemente der neutestamentlichen Botschaft, dass Jesus die Nähe der Gottesherrschaft nicht nur – wie ein Prophet – verkündigt bzw. ankündigt, sondern dass in seinem Reden, Wirken und Sein die Gottesherrschaft bereits anbricht. Das ist nicht nur lukanische Theologie („mitten unter euch“ [Lk 17, 21] und das lukanische „heute“ [Lk 2,11; 4,21; 19,9; 23,43]), sondern das ist schon Element der Logienquelle (Mt 11, 2 – 6 par. Lk 7,18 – 23 [Täuferanfrage]; Mt 12, 28 par. Lk 11, 20 [ Jesus und die bösen Geister]), und es ist ebenso bei Markus vorausgesetzt (Mk 8, 27 – 30 [Petrusbekenntnis]). Nur aus der Erfahrung, dass Menschen es in der Person Jesu mit der heilschaffenden Wirklichkeit Gottes selbst zu tun bekommen, konnte der Glaube an Jesus Christus als den Sohn (Messias, Logos) Gottes entstehen.46 Dieser Glaube schließt die Erfahrung der Gegenwart des Heils ein, geht aber nicht in ihr auf. d) Die gelegentlich auftauchende Behauptung, es gehe in der biblisch-christlichen Eschatologie nur um das eschatische Heil oder Un45 Aber das gilt natürlich grundsätzlich für jedes theologische Lehrstück. 46 Siehe dazu in diesem Band den Schlussteil des Aufsatzes: Warum ausgerechnet drei? (s. o. S. 453 – 458).
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heil der Menschheit und des Kosmos, aber nicht um das ewige Schicksal des einzelnen Menschen, ist (ebenfalls) einseitig und verkürzend – ebenso wie es die entgegengesetzte These wäre. Die Balance oder Synthese zwischen beidem ist m. E. in der Theologie bzw. Eschatologie von Paul Tillich sowie in der Prozesstheologie (Cobb/Griffin) relativ am besten gelungen. Im Blick auf die Aufgaben der Verkündigung und Seelsorge wird man jedoch sagen müssen: Die Fragen der sog. individuellen Eschatologie haben das drängendere, vordringlichere Gewicht. Wer die Fragen von Sterbenden oder Trauernden nach ihrer möglichen und begründeten Hoffnung über den Tod hinaus für irrelevant oder unsachgemäß („egoistisch“ oder „kleinbürgerlich“) erklärt – oder sie so behandelt – macht sich an diesen Menschen schuldig. e) Es gilt jedoch, sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in inhaltlicher Hinsicht die Grenze des Todes als Grenze unseres Lebens, unserer Erfahrung und unseres Wissens ernst zu nehmen. Das geschieht einerseits dadurch, dass wir Schleiermachers Einsicht ernst nehmen, dass „unser christliches Selbstbewusstsein gradezu nichts über diesen uns ganz unbekannten Zustand aussagen kann“,47 andererseits dadurch, dass wir das Eschaton nicht als quantitative Verlängerung, sondern als – radikale – qualitative Veränderung bzw. Verwandlung des irdischen Lebens zu verstehen und zu verkündigen versuchen. Eschatologische Verkündigung und Seelsorge wird nicht dadurch glaubwürdig, dass sie mit kräftigen Farben und lauten Tönen operiert, sondern durch schlichte Bilder und leise Töne, die redlich sind, weil sie von persönlicher Überzeugung getragen sind. Modellhaft dafür ist für mich die älteste eschatologische Aussage, die wir im Neuen Testament haben: „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit“ (1 Thess 4, 17). Das sagt schon sehr viel – jedenfalls genug. f) Die eschatologische Verkündigung der christlichen Kirche hat dann ein solides Fundament, wenn sie sich orientiert an der Botschaft Jesu, in deren Zentrum das Herbeikommen der Gottesherrschaft als Heil für die Verlorenen steht. Die bedingungslose Zusage dieses Heils, die ihrerseits – wo und wenn Gott es will – Glauben weckt in denen, die das Evangelium hören (CA 5) ist die Grundlage und der Maßstab auch für die eschatologische Verkündigung der christlichen Kirche. Diese geht inhaltlich nicht über die Verkündigung des Evangeliums hinaus, sondern hat ihre Pointe darin, dass der Tod nicht die Grenze 47 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/312), Berlin 1960, Bd. 2, S. 409.
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oder das Ende des so verkündigten Heils ist. Das kommt besonders anschaulich in dem Luther-Wort zum Ausdruck, das in der eschatologischen Literatur des 20. Jahrhunderts besonders oft zitiert wird: „Wo also und mit wem Gott redet, sei es im Zorn oder in der Gnade, der ist gewiss unsterblich. Die Person des redenden Gottes und das Wort zeigen an, dass wir solche Kreaturen sind, mit denen Gott bis in Ewigkeit und auf unsterbliche Weise reden will“.48 g) Die eschatologisch-soteriologische Zentralfrage nach dem doppelten Ausgang oder der Allerlösung ist nicht zu umgehen, aber m. E. nur so konstruktiv zu bearbeiten, dass man diesen Dual durch Einbeziehung des annihilatio-Gedankens aufbricht.49 Diese Einbeziehung ermöglicht die Unterscheidung zwischen dem Sünder, dem Gottes rettende Liebe gilt, und der Sünde, die zum Vergehen bestimmt ist. Von da aus ist auch das Jüngste Gericht zu denken als der schmerzlichbefreiende Akt der Aufdeckung der Wahrheit über jedes Menschenleben und als der definitive Akt der Trennung zwischen dem Sünder und der Sünde, wie er im Zuspruch der Vergebung bereits vorweggenommen wird. Ob wir damit rechnen müssen, dass auch unter eschatischen Bedingungen Menschen sich dieser Aufdeckung und Trennung verschließen und verweigern können, entzieht sich unserer Erkenntnis. Das ist für mich der Grund, warum ich meine, die Allerlösung nicht lehren zu können. Aber mit mindestens eben so großem Nachdruck sage ich: Wer mit dem Evangelium Jesu Christi innerlich in Berührung gekommen ist, kann nicht anders als auf die Erlösung aller zu hoffen. Dass „Gott alle eingeschlossen hat in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (Röm 11,32) ist schließlich eine biblische Aussage zur Eschatologie, die den Geist des Evangeliums atmet.
48 WA 43, 481,32 – 35. 49 Siehe dazu W. Härle, Dogmatik Berlin/New York (1995) 20073, S. 610 – 628, bes. S. 620 – 623.
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ Auferstehung der Toten1 und ewiges Leben sind nicht das einzige, was Christen über den Tod hinaus glauben oder hoffen, aber sie sind das Entscheidende. Denn beide Begriffe und Bilder sind (nach rückwärts) in dem Glauben an Jesus Christus verwurzelt, der selbst von der Christenheit als der Auferstandene geglaubt und bekannt wird, der an Gottes Herrlichkeit und Macht Anteil hat („sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters“). Und sie bringen (nach vorwärts) die Hoffnung auf die Überwindung des Todes und auf die vollkommene Gemeinschaft mit Gott deutlich zum Ausdruck. Aber mehr noch als andere Aussagen des christlichen Glaubens begegnet das Bekenntnis zur Auferstehung der Toten und zum ewigen Leben der Skepsis, dem Zweifel, der Kritik. Kann das wahr sein? Wer tot ist, wird in unserem Kulturkreis normalerweise begraben und verwest, oder er wird verbrannt. Wie soll es da eine Auferstehung der Toten geben? Und ist nicht die Hoffnung auf ein ewiges Leben, in dem alles gut wird, eine altbekannte Vertröstung, vielleicht noch mit dem Nebeneffekt, dass die Menschen hier nicht aufbegehren gegen ein schweres Leben, sondern still halten, sich abfinden und sich – eben vertrösten lassen? Zu diesen alten, spätestens von Marx2 formulierten Einwänden und Bedenken kommen inzwischen neue hinzu, die sich vor allem aus einer 1
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„Auferstehung“ oder „Auferweckung“ der Toten meint hier und im Folgenden (auch bezogen auf die Auferstehung Jesu Christi von den Toten) etwas kategorial anderes als die Wiederbelebung eines Toten und seine (vorübergehende) Rückkehr ins irdische Leben, wie dies im Alten und Neuen Testament verschiedentlich erzählt wird (1 Kön 17,17 – 24; 2 Kön 4,18 – 37; Mk 5,21 – 43 parr. Mt 9,18 – 26 und Lk 8,40 – 56; Lk 7,11 – 17; Joh 11,1 – 45; Apg 9,36 – 43 und 20,6 – 12). Letztere gehören als Grenzformen in die Reihe der Heilungswunder, durch die für einen Menschen die Spanne seines irdischen Lebens auf wunderbare Weise verlängert wird, wobei er aber den (endgültigen) Tod noch vor sich hat. Erstere sprechen von der definitiven Durchbrechung und Überwindung des Todes. Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz: Braucht der Osterglaube das leere Grab? S. o. S. 423 – 434. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften, Hg. S. Landshut, Stuttgart 1968, S. 207 – 209.
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besseren Kenntnis anderer Religionen und ihrer Zukunfts- und Jenseitshoffnungen nähren. Dabei denke ich weniger an die – typisch männlichen – Paradiesvorstellungen im Islam, sondern viel eher an Reinkarnationsvorstellungen aus fernöstlichen Religionen, die mit der Vorstellung eines Karma operieren, das man im Leben erwirbt, und von dem die künftige Existenzform abhängt – bis hin schließlich zum begierdelosen Aufgehen im Nirwana. Viele – nicht zuletzt junge – Menschen empfinden die Vorstellungen von einem ewigen Leben, in dem man endlos Gott lobt, miteinander singt und (Manna) isst, eher „ätzend“, jedenfalls wenig attraktiv.3 Und so richtet sich die Hoffnung vieler Menschen weniger auf ein glückerfülltes Jenseits nach dem Tod als vielmehr darauf, in Ruhe gelassen zu werden und ungestört „schlafen“ zu dürfen. Solche Zweifel, Einwände und Bedenken wirken auf uns modern, d. h. wir haben in der Regel die Vorstellung, dass die Menschen der Antike keine oder nur geringe Schwierigkeiten hatten mit dem Glauben an eine Totenauferstehung bzw. -auferweckung und ewigem Leben. Aber da täuschen wir uns. Das Alte Testament kennt generell (von wenigen Andeutungen abgesehen) gar keine solche Hoffnung. Die Sadduzäer zur Zeit Jesu lehnten sie ab4. In der Christengemeinde in Korinth gab es offensichtlich eine Gruppierung, die die Auffassung vertrat: „Es gibt keine Auferstehung der Toten“ (1 Kor 15,12b). Aber auch die ersten Nachfolger Jesu hatten offensichtlich mit dieser Vorstellung große Schwierigkeiten. Geht man die Ostergeschichten im Neuen Testament durch, so staunt man, wie es da von Zweifel nur so wimmelt: – Mk 16,11 – 13: „Und als diese [sc. die Jünger] hörten, dass er lebe und sei erschienen, glaubten sie es nicht. Danach offenbarte er sich in anderer Gestalt zweien von ihnen unterwegs, als sie über Land gingen. Und die gingen auch hin und verkündeten es den andern. Aber auch denen glaubten sie nicht.“ – Mt 28,17: „Und als sie [sc. die Jünger] ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten“5. – Lk 24,11: „Und es erschienen ihnen [sc. den Jüngern] diese Worte, als wär’s Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht.“ 3 4 5
Ludwig Thoma hat dem mit seiner bekannten Persiflage vom „Münchner im Himmel“ deftigen Ausdruck verliehen. Siehe Mk 12,18 – 27; parr. Mt 22,23 – 33 und Lk 20,27 – 40. Man kann auch wörtlich übersetzen: „sie aber zweifelten“.
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– Joh 20,25 sagt der Jünger Thomas: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.“ Die Gründe für den Glauben an die Auferstehung Jesu von den Toten liegen nicht darin, dass es Augenzeugen für das Ereignis der Auferstehung bzw. Auferweckung gegeben hätte, sondern einerseits in der Entdeckung des leeren Grabes, andererseits in den (zahlreichen) Erscheinungen Jesu nach seinem Tod als Lebender. Diese Erscheinungen werden (auch in Verbindung mit dem leeren Grab) gedeutet durch die Aussage: „Er ist auferstanden“ (Mk 16,6 parr.) oder „Er ist auferweckt worden“ (Apg 2,32). Dabei sind, soweit wir wissen, die Berichte über Erscheinungen literarisch älter als die vom leeren Grab. Dass die Frauen, die das leere Grab entdeckten, lt. Mk 16,8 niemandem etwas davon sagten, weil sie sich fürchteten, könnte ein Erklärungsversuch dafür sein, dass die Überlieferung vom leeren Grab erst relativ spät bekannt geworden ist.6. Die Überlieferungen vom leeren Grab lassen mindestens drei7 ganz unterschiedliche Deutungen zu: – Jesus war gar nicht wirklich tot, als er vom Kreuz abgenommen und in ein Grab gelegt wurde, sondern nur scheintot; deshalb konnte er, als er wieder zu Bewusstsein gekommen war, das Grab verlassen und irgendwohin gehen (z. B. nach Indien, wie manche meinen). – Die Jünger Jesu haben seinen Leichnam heimlich entwendet (und anderswo bestattet), um sagen zu können, dass er auferstanden sei und lebe (so schon Mt 28,11 – 15). – Jesus wurde von Gott so auferweckt und verwandelt (1 Kor 15,51), dass dabei sein irdischer Leib verschwand. Nur diese letzte Deutung des leeren Grabes ist mit dem Glauben an die Auferweckung Jesu Christi von den Toten vereinbar. Die beiden anderen widersprechen ihr direkt. Das leere Grab ist insofern ein vieldeutiges (und überdies ein nur negatives) Zeichen. Es kann alleine und für sich genommen den Osterglauben nicht tragen. 6 7
Paulus jedenfalls erwähnt sie noch nicht, obwohl er ausdrücklich sagt, Jesus sei begraben worden (1 Kor 15,4). In dem Aufsatz „Braucht der Osterglaube das leere Grab?“ (s. o. Anm. 1) erwäge ich noch eine weitere Deutungsmöglichkeit (s. o. S. 431), die jedoch mit der oben (ebenfalls in Anm. 1) genannten kategorialen Unterscheidung zwischen Auferweckung und Wiederbelebung nicht vereinbar ist und deshalb hier entfällt.
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Die Überlieferungen von den Erscheinungen Jesu sind sehr breit und vielfältig belegt: – Es gibt Erscheinungen vor Einzelnen und vor ganzen Gruppen (bis zu 500 Personen [1 Kor 15,6]); – Es gibt Erscheinungen vor Jüngern, die ihn verleugnet und/oder verlassen haben, und vor Frauen, die ihn bis zu seinem Tod begleitet haben; – Es gibt Erscheinungen vor Anhängern und vor Gegnern Jesu, insbesondere Letztere sind durch die Augenzeugenaussagen des Paulus besonders gut belegt (1 Kor 15,8; Gal 1,16, s. a. Apg 9,3 – 5; 22,7 f.; 26,14 f.). Damit sind die Erscheinungen Jesu nach seinem Tod sehr gut bezeugt. Ihre Deutung als rein subjektive Visionen, mit deren Hilfe die Jünger ihre Schuldgefühle bearbeitet bzw. verdrängt hätten, ist folglich nicht einleuchtend. Weder die Frauen noch Paulus hatten ein Schuldgefühl zu bearbeiten und viele andere vermutlich auch nicht. Die Überzeugung, dass Jesus durch Gott von den Toten auferweckt wurde bzw. auferstanden ist, war von Anfang an ein fester Bestandteil der christlichen Verkündigung. Das ist fast allen Schriften des Neuen Testaments zu entnehmen. Besonders deutlich hat Paulus die Bedeutung des Osterglaubens in 1 Kor 15,14 und 17 formuliert: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. … Ist Christus … nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden“. Daraus folgte aber – auch für Paulus selbst – keineswegs automatisch die Überzeugung von der allgemeinen Totenauferstehung oder von der Auferstehung derer, die an Christus glauben. Vielmehr rechnete Paulus wohl anfangs (ebenso wie Jesus selbst) damit, dass die Parusie des auferstanden und erhöhten Christus zum Gericht und zur Vollendung der Gottesherrschaft in Bälde, jedenfalls noch zu Lebzeiten der ersten Generation geschähe (so Mk 9,1 und 1 Thess 4,15 – „mit einem Wort des Herrn“ –: „dass wir, die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.“) Dieser Satz stammt aus dem vermutlich ältesten Text des Neuen Testaments, in dem Paulus sich mit der überraschenden und irritierenden Erfahrung auseinander setzen musste, dass Christen starben bzw. gestorben waren vor der „Ankunft des Herrn“. Paulus ringt in diesem Brief förmlich um Worte, um zu beschreiben, was mit den Verstorbenen geschehen werden und dass die Verstorbenen bei der Ankunft Christi nicht im Nachteil sein würden gegenüber denen, die dann noch
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leben. Seine Hoffung über den Tod hinaus fasst er zusammen in dem tröstlichen Satz: „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit“ (1 Thess 4,17b). Den unlöslichen Zusammenhang zwischen der Auferstehung Jesu Christi und der allgemeinen Auferstehung der Toten hat Paulus dann im 1 Korintherbrief klar erkannt und in 1 Kor 15,12 – 28 so ausgedrückt: „Wenn aber Christus gepredigt wird, dass er von den Toten auferstanden ist, wie sagen dann einige unter euch: Es gibt keine Auferstehung der Toten? Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden dann auch als falsche Zeugen Gottes befunden, weil wir gegen Gott bezeugt hätten, er habe Christus auferweckt, den er nicht auferweckt hätte, wenn doch die Toten nicht auferstehen. Denn wenn die Toten nicht auferstehen, so ist Christus auch nicht auferstanden. Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden; so sind auch die, die in Christus entschlafen sind, verloren. Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm ,alle Feinde unter seine Füße legt‘. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn ,alles hat er unter seine Füße getan‘. Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem“. Daran schließt sich nun aber – nicht erst bei uns, sondern schon im 1. Korintherbrief – alsbald die Frage an: „Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leib werden sie kommen?“ (V. 35), und die erste Antwort des Apostels lautet: „Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden
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Samen seinen eigenen Leib“ (V. 36 f.). Und das führt schließlich hin zu der Aussage: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“ (V. 44). Damit stellt sich aber die Frage, was unter „Auferstehung des Leibes“ zu verstehen ist. Paulus verwendet zwei Hilfsbegriffe, um zu erläutern, was mit „Leib“ gemeint und wovon dabei die Rede ist: „Leib“ kann verstanden werden als „Fleisch“ (V. 39) oder als etwas, das (in unterschiedlicher Weise) mit „Herrlichkeit“ (V. 40) bzw. „Glanz“ (V. 41) ausgestattet ist.8 Der erste Begriff („Fleisch“ oder „Körper“) ist vermutlich der, an die meisten Menschen denken, wenn von „Leib“ die Rede ist. Aber Paulus sagt dazu ausdrücklich: „dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können; auch wird das Verwesliche nicht erben die Unverweslichkeit“ (V. 50). Das sind deutliche Worte, die bei ihm weiterführen zu dem Gedanken, dass in der Auferstehung alles Irdische, Natürliche, Fleischliche verwandelt werden muss in Unverweslichkeit und Unsterblichkeit – und zwar durch den Tod hindurch (1 Kor 15,51 und 1 Thess 4,15 – 17). Die Rede von „Herrlichkeit“ und „Glanz“ eröffnet jedoch einen Zugang zum Verständnis dessen, was mit „Leib“ (im Unterschied zu „Körper“) gemeint ist, der nicht physisch, stofflich, materiell geprägt ist wie die Rede vom „Fleisch“. „Herrlichkeit“ und „Glanz“ haben zu tun mit dem Sehen bzw. Schauen. Und so ist uns ja auch ein verstorbener, begrabener Mensch (nur) gegenwärtig: durch die Erinnerung, die stets den Charakter eines Bildes oder einer bildhaften Szene hat. Und das heißt: „Leib“ ist nicht Materie, sondern Gestalt. Die christliche Hoffnung über den Tod hinaus bringt Paulus zum Ausdruck durch den schon zitierten Satz: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“ (V. 44). Dabei wäre es ein Missverständnis, wenn man „geistlich“ als „geistig“ (etwa im Sinne eines Astralleibs) verstehen würde. Es geht nicht um einen vergeistigten Leib, sondern um einen vom Geist Gottes, vom Heiligen Geist (pneuma) vollkommen durchdrungenen und bestimmten Leib. Es handelt sich dann um eine menschliche Gestalt, die ganz und gar von Gottes Geist durchdrungen, durchglüht ist und die deshalb in keiner 8
Durch Luthers Übersetzung des griechischen Begriffs ,d|na‘ einmal mit ,Herrlichkeit‘ (V. 40) und dann mit ,Glanz‘ (V. 41) kann der irrige Eindruck entstehen, es handle sich um unterschiedliche Begriffe. Das ist jedoch nicht der Fall. Deshalb stehen bei Paulus nur ,s\qn‘ und ,d|na‘ einander als Veranschaulichungen für ,Leib‘ (,s~la‘) gegenüber.
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Weise von Gott getrennt ist. Bei der Frage danach, wie wir uns das konkret vorstellen sollen und können, kommen wir freilich ganz schnell an eine Grenze unserer Worte, Bilder und unseres Verstehens. Das NeueTestament ist in dieser Hinsicht jedenfalls ganz zurückhaltend, indem es nur von einem Fest oder Festmahl (zusammen mit Abraham), etwa nach Art einer Hochzeitsfeier (Mt 8,11; 25,1 – 13; Lk 16,22) spricht. Mit dem Begriff „ewiges Leben“, mit dem das apostolische Glaubensbekenntnis ausklingt, wird das Ziel christlicher Hoffnung formuliert. Aber was ist darunter zu verstehen? Es gibt mehrere Interpretationen von „Ewigkeit“ und von „Leben“, die dabei miteinander konkurrieren. So kann „Ewigkeit“ verstanden werden als – Unendlichkeit der Zeit, d. h. als eine Zeit, die weder Anfang noch Ende hat und darum in jeder Hinsicht endlos ist. In diesem Sinne heißt es in dem alten Kirchenlied „O Ewigkeit, du Donnerwort“: „O Ewigkeit, du machst mir bang, o ewig, ewig ist zu lang…“9. Dieses quantitative Verständnis ist vermutlich im allgemeinen Bewusstsein sehr verbreitet, gilt aber aus guten Gründen als problematisch, weil es ganz der Zeitlichkeit verhaftet bleibt. – Gleichzeitigkeit und damit als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man kann sich das an einem räumlichen Bild deutlich machen: So wie jemand, der sich auf einem hohen Aussichtsturm befindet, unter sich gleichzeitig die Orte sehen kann, an denen ein Wanderer seinen Ausgang genommen hat, an dem er sich jetzt befindet und wohin er unterwegs ist (was für den Wanderer selbst nur nacheinander sichtbar wird), so wäre Ewigkeit die gleichzeitige Erfassung des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen. Das ist ein ebenfalls stark zeitliches, aber doch umfassendes Verständnis von Ewigkeit. – Ursprung und Ziel von Zeit im Sinne dessen, woraus Zeit entspringt und wo hinein sie (wie in ein unermessliches Meer) mündet, wobei das linear gedacht werden kann (die Zeit entspringt in der Ewigkeit und mündet auch in der Ewigkeit, was die Vorstellung von „zwei Ewigkeiten“ wecken kann) oder zirkulär (wie ein Kreislauf, in dem Ursprung und Ziel ein und dasselbe sind).
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Dieses Lied ist nicht mehr im Stammteil des EG enthalten. Im früheren Evangelischen Kirchengesangbuch Kurhessen-Waldeck fand es sich – zusammen mit seinem Pendant „O Ewigkeit, du Freudenwort“ unter den Nummern 324 und 325.
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– Zeitlosigkeit, d. h. als eine Wirklichkeit, die von aller Zeit und Zeitlichkeit frei ist, auf die zeitliche Kategorien nicht anwendbar sind, so wie dies gelegentlich von dem Zustand unseres Universums „vor“ dem „Urknall“ behauptet wird. Hierbei bleibt die Frage ganz offen, wie Ewigkeit sich zu Zeit verhält, lediglich die Unterscheidung oder Trennung beider wird damit ausgesagt. – Erfllung oder Flle aller Zeit, d. h. als eine nicht quantitative, sondern qualitative Kategorie, die dem Begriff „Vollkommenheit“ sehr nahe kommt. Ewiges Leben wäre demnach keine quantitative Verlängerung sondern eine (radikale) qualitative Veränderung des irdischen Lebens. Vermutlich ist nur ein Begriff von „Ewigkeit“ brauchbar und leistungsfähig, der Elemente von mehreren dieser Ansätze in sich aufnimmt. Eine solche Definition von „Ewigkeit“ hat der spätantike (christliche) Philosoph Boethius (ca. 475-ca. 525) gegeben, die auf weitgehende Zustimmung gestoßen ist und immer wieder zitiert wird. Sie heißt: „Ewigkeit ist der ganze und zugleich vollkommene Besitz unbegrenzbaren Lebens“.10 In dieser Definition sind die Elemente der Unbegrenzbarkeit, der Ganzheit und Vollkommenheit enthalten und sie bezieht sich auf „Leben“. Deswegen empfiehlt sie sich zum besseren Verständnis dessen, was „ewiges Leben“ heißt. Dabei ist unter „Leben“ natürlich nicht der Prozess zu verstehen, der durch Stoffwechsel, Selbstbewegung, und Fortpflanzung bestimmt ist, also nicht „Leben“ im biologischen Sinn des Wortes. Sondern unter „Leben“ ist zu verstehen das Beziehungsgefüge (Selbstbeziehung, Weltbeziehung, Gottesbeziehung), in dem ein Mensch wird11 und in dem er nach seiner Bestimmung und nach dem Sinn seines Daseins fragt, sucht und sie auch finden kann. Diese Bedeutung des Wortes „Leben“ verwenden wir, wenn wir z. B. sagen „Das ist doch kein Leben (mehr)“ oder im positiven Sinne: „Das ist ein Leben“. Wir meinen dann: erfülltes, geglücktes Leben, oder „Leben in Fülle“. Wenn das gemeint ist mit „ewigem Leben“, dann kommt der Gedanke von Langeweile, Eintönigkeit oder unendlicher Dauer vermutlich gar nicht auf. Aber gibt es die Hoffung auf solches ewiges Leben, wenn es nicht gleichzeitig die Möglichkeit ewiger Verdammnis, absoluten Scheiterns, die 10 A. M. S. Boethius, De consolatione philosophiae V,6: „Aeternitas ergo est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“. 11 Ich spiele damit auf die programmatische und leistungsfähige Formel an, unter der E. Herms „Studien zu Schleiermacher“ veröffentlicht hat: „Menschsein im Werden“, Tübingen 2003.
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Realität eines „zweiten Todes“ (Apk 2,11; 20,6.14; 21,8) gibt? Braucht der Himmel nicht als Pendant die Hölle? 12 Es fällt zunächst auf, dass eine solche Verdammnis oder ein solcher zweiter oder ewiger Tod jedenfalls nicht im Glaubensbekenntnis vorkommt – ebenso wenig wie der Teufel. Christen glauben an das ewige Leben, nicht an das ewige Leben oder den ewigen Tod. Und weil das Glaubensbekenntnis das nennt, worauf wir unser Vertrauen im Leben und Sterben setzen, darum ist es auch ganz richtig, dass nur das ewige Leben und nicht der ewige Tod im Credo genannt wird. Weder für uns selbst noch für irgend einen anderen Menschen. Nicht einmal für Nero, Hitler oder Stalin – unsere drei Lieblingsbösewichte – können wir als Christen auf eine ewige Verdammnis oder einen ewigen Tod hoffen. Wer das täte, müsste sich fragen lassen, ob er wirklich in der Tiefe vom Evangelium erreicht worden ist und bestimmt wird. Aber das schließt nicht aus, dass wir mit der Möglichkeit der Hölle, der Verdammnis, des ewigen Todes als einer Gefahr rechnen, vor der wir uns und andere warnen (lassen). Der großartige katholische Schriftsteller Bruce Marshall hat das in seinem Priesterroman „Alle Herrlichkeit ist innerlich“13 so ausgedrückt: „Wir wissen, dass es eine Hölle gibt, weil Gott es uns gesagt hat, und Gott kann weder täuschen noch getäuscht werden. Aber wir sind nicht verpflichtet zu glauben, dass jemand darin ist“. Das ist eine gute, evangeliumsgemäße Einstellung, finde ich. Aber nimmt man damit die biblischen Aussagen genügend ernst, die von Christi Kommen zum Gericht sprechen? Sie verdienen es jedenfalls, ganz ernst genommen zu werden – um der Wahrheit willen und um der Opfer willen. Und so betont ja auch das Neue Testament immer wieder, dass Christus nicht nur der Retter, sondern auch der Richter ist, der Recht spricht, das Verborgene des Herzens aufdeckt, der die Wahrheit aufdeckt, im Bösen wie im Guten.14 Weil kein anderer als
12 So wird es in Mt 25,31 – 46 anschaulich und drastisch beschrieben. 13 Titel der englischen Ausgabe: All Glorious Within (amerikanische Ausgabe: The World, the Flesh and Father Smith), dt. Ausgabe Köln & Olten (1947), 19625, S. 11. 14 Dass auch Letzteres auf überraschende Weise der Fall sein und gelten könnte, ist mir erstmals durch den Satz unserer Tochter bewusst geworden: „Die Oma wird sich im Jüngsten Gericht einmal wundern, wie wenig sie falsch gemacht hat.“ Ich hätte das freilich auch schon von Paulus lernen können, der 1 Kor 4,5 schreibt: „Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der
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Christus der Weltenrichter ist, darum kann auch das Jüngste Gericht nur ein gnädiges Gericht sein, und gerade als solches bringt es die Gnade als Gottes erstes und letztes Wort zur Geltung. In einem Kirchentagsvortrag von 1989, der 2003 in gedruckter Fassung erschien,15 hat Eberhard Jüngel im Anschluss an Karl Barth auf überzeugende Weise die These vertreten, dass das Jüngste Gericht als Erkenntnis der Wahrheit und Gnade in Christus für den Menschen eine befreiende Wohltat ist, weil in diesem Gericht unsere Sünde im Licht der Gnade Gottes aufgedeckt aber auch abgetan wird. Läuft das nicht alles letztlich auf eine Lehre von der Allversöhnung hinaus, derzufolge am Ende sowieso jeder Mensch von Gott gerettet wird – wodurch das gesamte irdische Leben ( jedenfalls in dieser Hinsicht) gleichgültig zu werden scheint? Dass Gott „durch Christus alles mit sich versöhnte“, sagt tatsächlich schon das Neue Testament in Kol 1,20. Deshalb muss man, wie Christine Janowski gezeigt hat,16 genauer fragen nach der „Allerlösung“. Folgt aus dem Versöhnungswirken Gottes in Jesus Christus, das der ganzen Welt und allen Menschen ohne Ausnahme gilt, auch die Erlçsung der ganzen Welt und aller Menschen? Das könnten wir nur dann mit Gewissheit lehren, wenn wir wüssten, dass von allen Menschen in irgendeiner Form diese Versöhnung im Glauben angenommen wird oder dass der menschliche Glaube für die Erlösung gar keine Rolle spielt. Beides können wir aber nicht lehren, und deshalb geht eine Allerlösungslehre meiner Überzeugung nach einen entscheidenden Schritt zu weit. Aber wenn uns das Evangelium von Jesus Christus nicht nur an der Oberfläche sondern in der Tiefe erreicht und bestimmt, dann können wir jedenfalls nicht anders, als auf eine Allerlösung zu hoffen. Eine ziemlich rundlicher Psychologieprofessor brachte das einmal in einer Diskussion so zu Ausdruck: „Wenn das Himmelloch groß genug ist, dass ich hineinpasse, dann ist es bestimmt groß genug, dass auch alle anderen hineinpassen“. Das gefällt mir immer noch gut, und das passt m. E. auch gut zum christlichen Glauben
Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob (!) zuteil werden“. 15 E. Jüngel, Das jüngste Gericht als Akt der Gnade, in: ders.: Anfänger. Herkunft und Zukunft christlicher Existenz, Stuttgart 2003, S. 37 – 73. Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung in diesem Band in dem Aufsatz: Das Eschaton predigen, auf S. 470 – 472. 16 J. Chr. Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen 2000.
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und zur christlichen Hoffung auf die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Veröffentlichungsnachweise Das Wesentliche am Christentum aus evangelischer Sicht (bisher unveröffentlicht)
„Wesen des Christentums“ – Was ist das? Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums (hrsg. zus. mit Heinz Schmidt und Michael Welker) Gütersloh 2000, S. 9 – 20.
Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit aus reformatorischer Sicht in: Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre (hrsg. von Eilert Herms und Lubomir Zˇak) Tübingen 2008, S. 185 – 213.
Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität? in: Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken, Festschrift für Hermann Deuser zum 60. Geburtstag (hrsg. von Gesche Linde, Richard Purkarthofer, Heiko Schulz und Peter Steinacker) (= MThSt 90) Marburg 2006, S. 163 – 173.
Befreiende Gewissheit. Das vertiefte Verständnis der reformatorischen Theologie bei Eilert Herms in: Befreiende Wahrheit. Festschrift für Eilert Herms (hrsg. zus. mit M. Heesch und R. Preul). (= MThSt Bd. 60) Marburg 2000, S. 171 – 190.
Die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen in: ZMiss 24 Jg./1998, S. 176 – 189.
Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz in: Die religiösen Wurzeln der Toleranz (hrsg. von Christoph Schwöbel und Dorothee von Tippelskirch) Freiburg/Basel/Wien 2002, S. 77 – 97.
Religiöse Wurzeln der Toleranz und Intoleranz aus evangelischer Sicht in: Ökumenische Rundschau, 52. Jg., Juli 2003, H. 3, S. 319 – 335.
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Veröffentlichungsnachweise
Tradition und Schrift als Thema des interkonfessionellen Dialogs heute aus evangelischer Sicht in: Kircheneinheit und Weltverantwortung. Festschrift für Peter Neuner (hrsg. von Christoph Böttigheimer und Hubert Filser) Regensburg 2006, S. 617 – 632.
Wer hat die Kompetenz zur (richtigen) Schriftauslegung? Überlegungen im Anschluss an Luther und Schleiermacher (bisher unveröffentlicht)
Rechtfertigung heute in: Texte aus der velkd, Sonderausgabe, 60 Jahre VELKD (hrsg. vom Amt der VELKD) Hannover 2008, S. 27 – 41.
Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“ in: ZThK, 103/2006, Heft 3, S. 362 – 393.
Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen (bisher unveröffentlicht)
Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes, in: Marburger Jahrbuch Theologie I: Handeln Gottes (hrsg. von W. Härle und R. Preul) (= MThSt Bd. 22) Marburg 1987, S. 12 – 32.
Den Mantel weit ausbreiten. Theologische Überlegungen zum Gebet in: NZSTh 33/1991, S. 231 – 247.
Religion als Horizont und Element der Bildung in: Bildung, Welt, Verantwortung: Festschrift 50 Jahre Evangelisches Studienwerk Villigst, Gießen 1998, S. 158 – 178. Außerdem in: Scheilke Chr. Th., Schweitzer, F. (Hrsg.) Religion, Ethik, Schule. Bildungspolitische Perspektiven in der pluralen Gesellschaft, Münster u. a., 1999, S. 249 – 262.
Spurensuche. Theologie nach 1945 im Ringen mit der Verborgenheit Gottes (bisher unveröffentlicht)
Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes in: ZThK Beiheft 8/1990, S. 50 – 69.
Veröffentlichungsnachweise
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Leiden als Fels des Atheismus? Analysen und Reflexionen zum Philosophengespräch in „Dantons Tod“ Leiden als Fels des Atheismus? In: (s. o. B): Unsere Welt – Gottes Schöpfung. Festschrift für Eberhard Wölfel (hrsg. von W. Härle, M. Marquardt und W. Nethöfel). (= MThSt Bd. 32) Marburg 1992, S. 127 – 143.
„Christus factus est peccatum metaphorice“. Zur Heilsbedeutung des Kreuztodes Jesu Christi in: NZSTh 36/1994, S. 302 – 315.
„… gestorben für unsere Sünden“. Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi (bisher unveröffentlicht)
Braucht der Osterglaube das leere Grab? Eine kurze Vorform dieses Textes wurde veröffentlicht unter dem Titel: Doppelte Gefahr. Hängt der Auferstehungsglaube davon ab, ob das Grab Jesu leer war? in: Zeitzeichen 8 (2007), S. 12 – 14.
Warum ausgerechnet drei? Grundsätzliche Überlegungen zur Trinitätslehre in: Gegenwart des lebendigen Christus. Festschrift für Michael Welker (hrsg. von Günter Thomas und Andreas Schüle) Leipzig 2007, S. 245 – 259, in überarbeiteter Fassung unter dem Titel: Warum ausgerechnet drei? Spurensuche nach dem dreieinigen Gott, in: Religious Literacy und evangelische Schulen (hrsg. von Martin Schreiner) Münster 2008, S. 53 – 68.
Das Eschaton predigen (bisher unveröffentlicht)
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ (bisher unveröffentlicht)