Springer-Lehrbuch
David G. Myers
Psychologie 2., erweiterte und aktualisierte Auflage Übersetzung Matthias Reiss Deutsche Bearbeitung Svenja Wahl, Matthias Reiss Mit Beiträgen von Siegfried Hoppe-Graff und Barbara Keller
Mit 947 Abbildungen und 50Tabellen
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David G. Myers Deutsche Bearbeitung Dr. Svenja Wahl, Dr. Matthias Reiss (2. Auflage) Dr. Christiane Grosser, Dr. Svenja Wahl (1. Auflage)
Übersetzung Dr. Matthias Reiss, Angertorstr. 4, 80469 München, www.dr-reiss.com (2. Auflage) ÜTT - Übersetzerteam Tübingen, Sabine Mehl, Katrin Beckmann, Birgit Pfizer (1. Auflage)
Beiträge von Prof. Dr. Siegfried Hoppe-Graff Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät Karl-Heine-Straße 22b , 04229 Leipzig Dr. Barbara Keller, Universität Bielefeld, Institut für Evangelische Theologie Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
First published in the United States by WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke. Copyright 2007 by Worth Publishers. All rights reserved. Erstmals veröffentlicht in den USA von WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke. Copyright 2007 by Worth Publishers. Alle Rechte vorbehalten. ISBN-13 978-3-540-79032-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2004, 2008 Printed in Germany. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Einbandabbildung: Masterfile Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN: 11968856 Gedruckt auf säurefreiem Papier
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In Erinnerung an Phyllis J. Vandervelde (1939–2005) Vertraute über vier Jahrzehnte hinweg und unverzichtbare Hilfe bei der Texterstellung für alle acht Auflagen dieses Buchs, in tief empfundener Dankbarkeit für ihr Engagement, außerordentliche Leistungen zu zeigen
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Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage dieses Buchs sind rasch 2 Jahrzehnte im unaufhaltsamen Strom der Zeit vergangen. Und was für aufregende 2 Jahrzehnte es waren. Es geht kaum ein Tag vorüber, an dem ich nicht ein Gefühl der Dankbarkeit für das Vorrecht empfinde, unterstützend bei der Lehre tätig sein zu können, und zwar für so viele Studierende, in so vielen Ländern und in so vielen Sprachen. Dass ich mit der Aufgabe betraut werde, die Weisheit in diesem menschlich bedeutsamen Fach zu erkennen und sie weiterzugeben, ist sowohl eine aufregende Ehre als auch eine große Verantwortung. Was meine Motivation dazu aufrechterhält ist zum einen meine anhaltende Wertschätzung der Psychologie als Wissenschaft und ihrer sich immer stärker erweiternden Erklärungsmöglichkeiten und zum anderen meine Verpflichtung gegenüber den Studierenden und meinen Dozentenkollegen, mit denen ich aufgrund dieses Buchs viele anregende Gespräche führen kann. Ich mag das bewusstseinserweiternde Lernen, das mit meiner täglichen Lektüre der wissenschaftlichen psychologischen Literatur einhergeht, und ich mag es, mit so vielen Menschen Kontakt aufzunehmen (von denen mir einige Hundert geschrieben haben, um mir ihre Erfahrungen mitzuteilen, und mir in höflicher Form Ratschläge gegeben haben). Dieses Lehrbuch wird alle 3 Jahre neu aufgelegt. Doch auch in der Zeit zwischen den Auflagen vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht neues Wissen über das Fach, das mir am Herzen liegt, und dessen Anwendung auf das tägliche Leben erwerben kann. Allwöchentlich stoße ich auf Informationen über neue Entdeckungen, beispielsweise zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen unserer Stimmungen und Erinnerungen, über den Einflussbereich des adaptiven Unbewussten und über die formende Kraft unseres sozialen und kulturellen Kontexts. Kein Wunder also, dass sich dieses Buch dramatisch verändert hat seit dem Augenblick, als ich mich vor 23 Jahren an den Schreibtisch setzte und die Arbeit für die 1. Auflage begann. Heute interessiert sich die wissenschaftliche Psychologie v. a. für die Wechselwirkung von Anlage und Umwelt und für geschlechts- und kulturspezifische Unterschiede, für unsere bewusste und unbewusste Informationsverarbeitung sowie für die Biologie, die unserem Verhalten zugrunde liegt. Wir haben jetzt auch nach neuen Wegen für die Darstellung der Informationen gesucht, sowohl im Buch als auch auf der Lernwebsite zum Buch. Diese Veränderungen sind anregend. Wenn ich versuche, bei den neuen Entdeckungen auf dem Laufenden zu bleiben, ist mein Tag damit ausgefüllt, und dies verbindet mich mit vielen Kollegen und Freunden. Die Tausenden von Dozenten und die Millionen von Studierenden auf der ganzen Welt, die dieses Buch gelesen haben, trugen in ungeheurem Maße zu seiner Entwicklung bei. Viel davon findet spontan über Briefe, E-Mails und Unterhaltungen statt. In diese Auflage haben wir über 800 Forscher und Psychologiedozenten, aber auch viele Studierende einbezogen. Dies geschah in dem Bemühen, genaue und aktuelle Informationen über psychologische Inhalte, aber auch über die didaktischen Bedürfnisse von Dozenten und Studierenden eines Einführungsseminars zu sammeln. Zudem freuen wir uns über die ständigen Rückmeldungen, weil es uns in künftigen Auflagen darum geht, ein noch besseres Buch zu entwickeln.
Was ist so geblieben? Meine anfängliche Vision dieses Lehrbuchs zur Psychologie hat sich indessen von der 1. bis zur 8. amerikanischen Auflage (d.h. der 2. deutschen Auflage) nicht verändert: ein Buch zu schreiben, das sich im strengen Rahmen der Wissenschaft bewegt, gleichzeitig jedoch eine umfassende Sicht auf den Menschen bietet und damit Herz und Verstand anspricht. Mein Ziel war es, eine jeweils aktuelle Einführung in die Psychologie zu schreiben, unter besonderer Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse von Studierenden. Es ist mir ein Anliegen, die Studierenden auf ihrem Weg zum Verständnis der wichtigen Phänomene ihres Lebens helfend und erklärend zu begleiten und sie das Staunen zu lehren. Gleichzeitig will ich aber auch den kritischen Forschergeist vermitteln, mit dem Psychologen in ihrem Fach arbeiten. Es ist meine Überzeugung, dass das Studium der Psychologie dazu befähigt, der Intuition die Zügel des kritischen Denkens anzulegen, Rechthaberei durch Einfühlung abzubauen und Selbsttäuschungen mit Verständnis zu begegnen. Ich halte es mit Thoreau, der sagte, dass » sich alles Lebendige mühelos und ungekünstelt in normaler Sprache ausdrücken lässt«, und versuche deshalb, das akademische Wissen der Psychologie mit spannenden Berichten und lebendigen Geschichten aufzulockern. Ich bin der alleinige Autor dieses Buches und versuche deshalb, die Geschichte der Psychologie einerseits streng wissenschaftlich, andererseits aber auch aus meinem persönlichen Empfinden heraus darzustellen. Ich mache mir sehr gerne Gedanken darüber, in welcher Beziehung die Psychologie zu anderen Wissensbereichen steht, beispielsweise zu Literatur, Philosophie, Geschichte, Sport, Religion, Politik oder Populärkultur. Und es macht mir Spaß, andere zum Nachdenken zu bringen, ich spiele gerne mit Worten, und ich lache gerne. Obwohl diese neue Auflage durch zusätzliche Geschichten ergänzt wurde, wird der Ton der Vorgängerversionen, aber auch viel von ihren Inhalten und ihrer Gliederung beibehalten. Das trifft aber auch für die 8 Ziele – die leitenden Prinzipien – zu, die die vorigen 7 Auflagen mit Leben erfüllt haben: 1. Den Forschungsprozess beispielhaft darstellen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, den Studierenden nicht nur Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern sie gewissermaßen am Forschungsprozess teilhaben zu lassen. Viele Stellen des Buches wollen die Neugier des Lesers wecken. Er wird eingeladen, sich als Teilnehmer an klassischen Experimenten zu sehen. In manchen Kapiteln finden sich Erzählungen über die eine oder andere Untersuchung, die anfänglich mysteriös wirkt, dann aber allmählich ihr Geheimnis preisgibt, in dem Maße, wie jedes Mosaiksteinchen seinen richtigen Platz findet. 2. Kritisches Denken lehren. Ich präsentiere Forschungsprozesse gern als intellektuelle Detektivarbeit und möchte damit den fragenden und analysierenden Forschergeist beispielhaft darstellen. Ein Student mag seinen Schwerpunkt auf Entwicklungs- oder Kognitionspsychologie oder auf Statistik legen – in jedem Fall wird er mit kritischem Argumentieren und dessen positiven Wirkungen vertraut gemacht. Er wird auch entdecken, wie man mit Hilfe empi-
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rischer Forschung einander widersprechende Ideen bewerten oder wie man Behauptungen mit hoher Publikumswirkung entkräften kann. Ich denke dabei z. B. an Dinge, von denen man viel in der Regenbogenpresse liest: Das reicht von der subliminalen Beeinflussung, über außersensorische Wahrnehmungen und alternative Therapien bis hin zur Astrologie, zur hypnotischen Rückführung in ein früheres Leben sowie zu verdrängten und wieder aufgedeckten Erinnerungen. Fakten in Konzepte einordnen. Es ist nicht meine Absicht, die intellektuellen Schubladen der Studierenden mit Fakten anzufüllen; stattdessen möchte ich die großen Konzepte der Psychologie aufzeigen und die Studierenden lehren, psychologisch zu denken. Gleichzeitig möchte ich Ihnen die Vorstellungen der Psychologie nahebringen, bei denen sich das Nachdenken lohnt. Dabei bemühe ich mich immer, dem Satz Albert Einsteins zu folgen, der sagte: »Alles sollte so einfach wie möglich gehalten werden, aber nicht einfacher.« So aktuell wie möglich sein. Kaum etwas dämpft das Interesse von Studierenden so sehr wie das Gefühl, überholtes Wissen serviert zu bekommen. Deshalb stelle ich neben den traditionellen Studien und Konzepten auch die wichtigsten neuen Entwicklungen des Fachs dar. Nahezu 500 Literaturangaben in dieser Auflage stammen aus den Jahren 2004 bis 2008. Prinzip und Anwendung gemeinsam darstellen. Mit Hilfe von Anekdoten, Fallgeschichten und der Darstellung hypothetischer Situationen stelle ich im gesamten Buch immer wieder die Verbindung her zwischen der Grundlagenforschung, ihrer Anwendung und den Schlussfolgerungen daraus. In den Bereichen, in denen die Psychologie ein Licht auf drängende Menschheitsfragen werfen kann – seien es Rassismus und Sexismus, Gesundheit und Glück oder Krieg und Gewalt –, habe ich nicht gezögert, den Glanz der Psychologie strahlen zu lassen. Verständnis durch wiederholtes Aufgreifen übergeordneter Themen fördern. Viele Kapitel behandeln eine spezielle Fragestellung oder einen Gedanken, der sich durch das ganze Kapitel zieht und es zusammenhält. Das Kapitel »Lernen« vermittelt den Gedanken, dass kühne Denker zu intellektuellen Vordenkern werden können. »Denken und Sprache« behandelt die menschliche Rationalität und Irrationalität. In »Klinische Psychologie: Psychische Störungen« sollen Empathie und Verständnis für die Lebensläufe der Betroffenen vermittelt werden. Weil das Buch von nur einem Autor geschrieben wurde, ziehen sich bestimmte Themen wie Verhaltensgenetik und kulturelle Unterschiede zusätzlich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Lernschritte fördern. Beispiele aus dem Alltag und rhetorische Fragen sollen den Studierenden helfen, das Lernmaterial aktiv zu verarbeiten. Bereits eingeführte Konzepte werden häufig in späteren Kapiteln angewandt, wodurch der Vorgang des Erlernens und Behaltens gefestigt wird. In 7 Kap. 5 lernen die Studierenden beispielsweise, dass ein Großteil unserer Informationsverarbeitung außerhalb des Bewusstseins abläuft, ein Konzept, das in den darauf folgenden Kapiteln weiter ausgeführt wird. [Die didaktischen Elemente, die in diesem Buch eingesetzt wurden, um Ihnen das Lernen zu erleichtern, werden im 7 Abschnitt »Erfolgreich lernen«, S. XIII, ausführlich erläutert.]
8. Respekt vor den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Menschen vermitteln. Vor allem im neu überarbeiteten 7 Kap. 3 (»Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) und darüber hinaus im gesamten Buch wird der Leser auf Stellen im Text stoßen, die von der Menschheit als Familie sprechen: Es geht um das uns allen gemeinsame biologische Erbe, die Mechanismen des Sehens und des Lernens, die Motivation des Hungers, die Art, wie Menschen empfinden, und nicht zuletzt die Gefühle von Liebe und Hass. Dadurch entsteht auch ein besseres Verständnis für die Dimension unserer Verschiedenheit, auch für unsere individuellen Unterschiede in Entwicklung und Fähigkeiten, Temperament und Persönlichkeit, Gesundheit und Krankheit; es geht außerdem um unsere kulturspezifischen Unterschiede, die sich in Einstellungen und Ausdrucksweise, bei der Kindererziehung und der Fürsorge für die ältere Generation zeigen, vor allem aber auch in den Prioritäten, die wir in unserem Leben setzen.
Was ist neu? Trotz der großen Kontinuität gibt es Veränderungen auf jeder einzelnen Seite. Zusätzlich zu den Aktualisierungen überall im Buch und bei den 900 neuen Literaturangaben – das ist nahezu ein Viertel des Literaturverzeichnisses – habe ich bei der 8. Auflage der »Psychologie« die folgenden wesentlichen Veränderungen eingeführt:
Mehr zur kulturellen Vielfalt und zur Vielfalt der Geschlechterrollen Diese Auflage stellt eine sogar noch grundlegendere interkulturelle Sicht der Psychologie dar: Dies zeigt sich in den Befunden aus der Forschung, aber auch in den Text- und Fotobeispielen. Die Behandlung der Psychologie von Frauen und Männern ist gründlich eingearbeitet. Außerdem habe ich vor, für unsere studentischen Leser weltweit eine von einzelnen Ländern unabhängige Psychologie anzubieten. Daher suche ich ständig auf der ganzen Welt nach Forschungsbefunden sowie Textund Fotobeispielen; dies geschieht in dem Bewusstsein, dass meine potenziellen Leser vielleicht in Melbourne, Sheffield, Vancouver oder in Nairobi leben. Beispiele aus Amerika und Europa finde ich leicht, da ich in den Vereinigten Staaten lebe, Kontakt zu Freunden und Kollegen in Kanada habe, mehrere europäische Zeitschriften abonniert habe und zu bestimmten Zeiten in Großbritannien lebe. Diese Auflage beispielsweise enthält 145 Beispiele, die sich klar auf Kanada und Großbritannien beziehen; Australien und Neuseeland werden 82 Mal erwähnt. Aufgrund einer steigenden Zahl von Einwanderern und einer wachsenden Globalisierung der Wirtschaft sind wir alle Bürger einer schrumpfenden Welt. Daher profitieren auch amerikanische Studierende von Informationen und Beispielen, die ein stärker international orientiertes Weltbewusstsein vermitteln. Und wenn die Psychologie versucht, menschliches Verhalten (nicht nur amerikanisches, kanadisches oder australisches) zu erklären, dann ist unser Bild von den Menschen auf dieser Erde umso umfassender, je breiter die Vielfalt der dargestellten Studien ist. Mein Ziel besteht darin, alle Studierenden mit der Welt jenseits ihrer eigenen Kultur zu konfrontieren. Daher sind
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weiterhin Vorschläge und Empfehlungen in dieser Richtung von allen Lesern herzlich willkommen. Unser überarbeitetes 7 Kap. 3 (»Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) soll Studierende darin unterstützen, kulturelle und Geschlechtsunterschiede und -gemeinsamkeiten zu schätzen und das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu berücksichtigen. Die Eingangsseite zu jedem Kapitel enthält neben dem Kapitelinhaltsverzeichnis jetzt einen kurzen literarischen Text aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven. Diese Auszüge aus Büchern von Maya Angelou, Judith Ortiz Cofer, Jhumpa Lahiri, Faiz Ahmed Faiz, Gwendolyn Brooks und anderen bieten bezogen auf das Thema des Kapitels eine andere Perspektive aus einer anderen Kultur. Außerdem zeigen viele neue Fotos die Vielfalt der Kulturen innerhalb Nordamerikas, aber auch auf der ganzen Welt. Zusätzlich zu den bedeutsamen interkulturellen Beispielen und Forschungsbefunden, die in den Texten dargestellt werden, verschönern diese neuen Fotos mit ihren informativen Abbildungsbeschriftungen jedes einzelne Kapitel und verbreitern den Horizont der Studierenden, wenn sie die Psychologie als Wissenschaft auf ihre eigene Welt und die Welten auf der ganzen Erde anwenden wollen.
Ein überarbeitetes und gründlich durchdachtes didaktisches Konzept Zusätzlich zu den neuen literarischen Texten auf der ersten Seite jedes Kapitels enthält diese Auflage die folgenden neuen Lesehilfen: 4 Neu nummerierte Lernziele leiten die einzelnen Abschnitte des Texts ein und können dem Studierenden als Orientierungshilfe beim Lesen dienen. 4 In der neuen Zusammenfassung der Lernziele, die sich jeweils am Ende eines Abschnitts findet, werden die Lernziele wiederholt und in einer gut lesbaren Kurzzusammenfassung dargestellt. 4 Die Zusammenfassung der Lernziele enthält auch mindestens eine Frage in der Rubrik »Denken Sie weiter«, durch die die Studierenden lernen sollen, die gelernten Konzepte auf eigene Erfahrungen anzuwenden. 4 Am Kapitelende stehen jeweils auch 3 bis 5 Fragen in der Rubrik »Prüfen Sie Ihr Wissen« (die Antworten darauf befinden sich unter www.lehrbuch-psychologie.de), durch die erfasst wird, wie gut der Studierende etwas beherrscht, und die ihn dazu ermutigen, in großen Zusammenhängen zu denken.
Ansatz der Analyseniveaus Diese Auflage enthält jetzt eine systematische Behandlung der biologischen, psychologischen und soziokulturellen Einflüsse auf unser Verhalten. Ein wichtiger neuer Abschnitt im Prolog führt in den Ansatz der Analyseniveaus ein; dies schafft die Voraussetzungen für spätere Kapitel, und neue Abbildungen mit den Analyseniveaus helfen den Studierenden in den meisten Kapiteln, die Begriffe im biopsychosozialen Kontext zu verstehen.
Mehr Sensibilität für die klinische Sichtweise Mit hilfreicher Unterstützung durch Kollegen aus der klinischen Psychologie habe ich in dieser Auflage bei verschiedenen Begriffen innerhalb der Psychologie stärker auf die klinische Sichtweise geachtet; davon haben v. a. die Kapitel über »Persönlichkeit«, »psychische Störungen« und »Therapie« profitiert. Beispielsweise behandle ich im Kapitel »Stress und Gesundheit« nun die problemfokussierte und die emotionsfokussierte Bewältigungsstrategie. Und das Kapitel »Intelligenz« enthält jetzt mehrere Bezüge darauf, wie Intelligenztests in klinischen Settings eingesetzt werden.
Psychologie als Beruf Im Anhang finden Sie einen von Jennifer Lento geschriebenen Anhang »Psychologie als Beruf«, der als Ratgeber für Studierende dienen kann, die sich innerhalb des Psychologiestudium oder im Rahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung spezialisieren wollen. Zu den in diesem Anhang behandelten Themen gehören die Vorteile eines Psychologiestudiums und eines Abschlusses in Psychologie, die einem Psychologen zur Verfügung stehenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Arbeitsmarkt für Studienabsolventen sowie für promovierte Psychologen, Karrieremöglichkeiten innerhalb der Fachgebiete der Psychologie (z. B. klinische Psychologie, Psychologie in Beratung, Verwaltung und Schule, forensische Psychologie und Sportpsychologie) und Tipps zur rechtzeitigen Vorbereitung für diejenigen, die promovieren wollen.
Verbesserte Rubrik »Kritisch nachgefragt« Ich habe mir zum Ziel gesetzt, im gesamten Buch Studierende auf ganz natürliche Weise zum kritischen Denken anzuregen; das gilt sogar noch mehr bei den Geschichten, die dazu ermuntern sollen, die Schlüsselbegriffe der Psychologie aktiv zu lernen. Zusätzlich zu den neuen Lernzielen und der Zusammenfassung der Lernziele, die zum kritischen Lesen ermuntern soll, um ein Verständnis für wichtige Begriffe zu entwickeln, enthält die 8. Auflage die folgenden Möglichkeiten für Studierende, ihre Fähigkeit zum kritischen Denken zu entwickeln und einzuüben. 4 7 Kap. 1 verfolgt bei der Einführung der Studierenden in die Forschungsmethoden der Psychologie einen einzigartigen Ansatz zum kritischen Denken. Dabei werden die Fehlschlüsse unserer Alltagsintuition und des gesunden Menschenverstands hervorgehoben und damit die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft betont. Kritisches Denken wird als Schlüsselbegriff für dieses Kapitel eingeführt (7 Abschn. 1.1.2). Die Erörterungen zum statistischen Schlussfolgern sollen Studierende dazu ermutigen, lieber noch einmal nachzudenken und einfache statistische Grundsätze auf derartige Argumentationen anzuwenden (7 Abschn. 1.5). 4 Die Kästen »Kritisch nachgefragt« finden sich überall im Buch und sollen Studierenden ein kritisches Vorgehen bei einigen Schlüsselfragen der Psychologie modellhaft vorführen. Sehen Sie sich beispielsweise den neuen Kasten »Kritisch nachgefragt: ADHS – die Pathologisierung von Wildheit oder eine echte Störung?« an (7 Anfang von Kap. 6).
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4 Geschichten im Stil von Kriminalromanen sollen die Studierenden verstreut über den gesamten Text dazu verleiten, kritisch über Schlüsselfragen der psychologischen Forschung nachzudenken. 4 Aufforderungen im Stil von »Wenden Sie das an« und »Denken Sie darüber nach« sollen die Studierenden in jedem Kapitel aktiv bei der Sache bleiben lassen. 4 Kritisch prüfende Kommentare zur Psychologie in der Regenbogenpresse sollen das Interesse anregen und liefern wichtige didaktische Beiträge, um kritisch über Alltagsthemen nachzudenken.
Danksagung Wenn es stimmt, dass alle, die mit den Weisen gehen, selbst weise werden, kann ich wegen all der Weisheit und der Ratschläge, die ich von meinen Fachkollegen erhalten habe, kaum noch gehen. Aufgrund der Unterstützung, die in den letzten beiden Jahrzehnten von Tausenden Beratern und Gutachtern bekommen habe, ist dieses Buch besser und
genauer geworden, als es ein einzelner Autor hätte verfassen können (ich zumindest). Meine Lektoren und ich behalten immer Folgendes im Hinterkopf: Wir alle zusammen sind klüger als jeder Einzelne von uns. Ich bin weiterhin jedem der Dozenten zu Dank verpflichtet, deren Einfluss ich in den vorigen 7 Auflagen anerkannt habe, und auch den zahlreichen Forschern, die mir so bereitwillig ihre Zeit und ihre Fähigkeiten zur Verfügung gestellt haben, um mir dabei zu helfen, dass ich ihre Forschung genau darstelle. Diese neue Auflage hat auch vom kreativen Input und der Hilfe von Jennifer Peluso (Florida Atlantic University) bei der Überarbeitung der Kap. 9 (»Gedächtnis«) und 10 (»Denken und Sprache«) profitiert. Meine Dankbarkeit erstreckt sich auch auf die vielen Kolleginnen und Kollegen für ihre kritischen Anregungen, Korrekturen und kreativen Ideen zum Inhalt, der Didaktik und dem Format dieser neuen Auflage [detaillierte 7 Danksagung im Anhang]. David G. Myers
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Hinweise zur deutschen Bearbeitung Im Rahmen der deutschen Bearbeitung sollte das Lehrbuch an den Erfahrungsraum und das Hintergrundwissen der deutschen Leser angepasst werden. Deshalb wurden einige Beispiele aus dem amerikanischen Alltagsleben auf deutsche Verhältnisse übertragen. Beispielsweise wurden illustrierende Anekdoten zu amerikanischen Stars wie Michael Jordan durch entsprechende Beispiele deutscher Sportler ersetzt. Aber auch bei der Darstellung von Themenbereichen, die in beiden Ländern sehr unterschiedlich behandelt werden oder denen unterschiedliche nationale Gesetzgebungen zugrunde liegen, wurde die Darstellung um die deutsche Sichtweise erweitert. So wurde beispielsweise bei der Diagnostik psychischer Störungen die in Deutschland verwendete ICD-Klassifikation ergänzt, die David Myers als amerikanischer Autor nicht erwähnt. Statistische Informationen zu Bevölkerungsmerkmalen wurden wenn möglich durch entsprechende deutsche oder europäische Zahlen ergänzt. In den amerikanischen Einführungslehrbüchern zur Psychologie wird meist die Klinische Psychologie als Anwendungsfach in den Vordergrund gestellt. Um der Bedeutung weiterer großer Anwendungsfächer gerecht zu werden, wurden in die deutsche Ausgabe zwei zusätzliche Kapitel aufgenommen: Kapitel 19 »Pädagogische Psychologie« wurde von Siegfried Hoppe-Graff verfasst, Kapitel 20 »Arbeits- und Organisationspsychlogie« von Barbara Keller.
Da es sich bei der von David Myers zitierten Literatur weitgehend um englischsprachige Texte handelt, finden Sie am Ende jedes Kapitels deutschsprachige Literaturhinweise. Dabei handelt es sich meist um Lehrbücher, die einen umfassenden Überblick über das im jeweiligen Kapitel behandelte Thema geben und Ihnen damit einen tieferen Einstieg in die Thematik ermöglichen sollen. Noch ein Hinweis: Wegen der besseren Lesbarkeit wird im Text bei Personenbezeichnungen überwiegend nur die (eher gewohnte) männliche Form verwendet, sie schließt selbstverständlich auch weibliche Personen ein. Die Nennung von Studentinnen und Studenten, Probanden und Probandinnen etc. entspricht zwar gerade in der Psychologie sicherlich besser den realen Verhältnissen, hätte dem Textfluss jedoch geschadet. Ob Sie die Psychologie gerade kennenlernen oder sich schon ein wenig auskennen – wir wünschen Ihnen bei Ihrer Reise durch das spannende Gebiet der Psychologie viel Vergnügen und Erfolg! Matthias Reiss Svenja Wahl
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Erfolgreich lernen Die Psychologie lehrt uns, die richtigen Fragen zu stellen und kritisch zu denken, wenn wir einander widersprechende Vorstellungen oder populärwissenschaftliche Behauptungen überprüfen. Die Psychologie vertieft unser Verständnis dafür, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Die Psychologie vermittelt Ihnen also weitaus mehr als effiziente Lernmethoden. Trotzdem, der Myers wäre kein gutes Psychologielehrbuch, wenn wir Ihnen nicht auch ein paar Tipps für den optimalen Umgang mit dem Text und zu effektiven Arbeitstechniken geben würden.
Wie lerne ich mit dem Myers? Lernen mit Methode: SQ3R Eine einfache Arbeitstechnik für das Studium umfasst die folgenden Prinzipien: Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal durchsehen, darüber nachdenken (auf Englisch: survey, question, read, review und reflect oder SQ3R). Zuerst verschaffen Sie sich einen Überblick (survey) darüber, was Sie gleich lesen werden, z. B. anhand der Einführung ins Kapitel und Abschnittsüberschriften. Merken Sie sich das Hauptthema eines Abschnitts, wie es im Lernziel zu Beginn angegeben ist. Dadurch konzentrieren Sie sich beim Lesen und Lernen auf etwas. Behalten Sie das Lernziel als eine Frage (question) im Hinterkopf, die Sie beim Lesen (read) des Abschnitts zu beantworten versuchen. In der Regel wird ein einzelner Abschnitt eines Kapitels gerade die Textmenge sein, die Sie aufnehmen können, ohne zu ermüden. Behandeln Sie jeden Abschnitt so, als handele es sich um das gesamte Kapitel. Lesen Sie aktiv und kritisch. Stellen Sie Fragen. Machen Sie sich Notizen. Denken Sie über Schlussfolgerungen daraus nach: Wie stützt das, was Sie gelesen haben, Ihre Vorannahmen bzw. stellt sie infrage. Wie überzeugend sind die Befunde? In welcher Beziehung steht dies zu Ihrem eigenen Leben? Am Ende noch einmal durchsehen (review) und darüber nachdenken (reflect). Um die Gliederung eines Abschnitts stärker in Ihrem Gedächtnis zu verankern, gehen Sie erneut den Text und die Definitionen der Schlüsselbegriffe in der Randspalte durch. Lesen Sie den Text unter der Überschrift »Lernziele« am Ende eines jeden Abschnitts. Stellen Sie sich selbst Fragen anhand des Materials, das Sie unter der Überschrift »Prüfen Sie Ihr Wissen« am Ende jedes Kapitels finden; und nehmen Sie sich vielleicht die Fragen vor, die als Internet-Bonusmaterial unter www.lehrbuch-psychologie.de zu den einzelnen Kapiteln stehen. Werfen Sie einen Blick in Ihre Notizen, und sehen Sie sich das an, was Sie im Text durch Anstreichen hervorgehoben haben. Dann halten Sie inne und lassen es wirken. Besser noch: Fassen Sie die Informationen für einen Freund zusammen, oder halten Sie vor einem fiktiven Publikum eine Vorlesung darüber. Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal durchsehen, darüber nachdenken. Wir haben die Kapitel so gegliedert, dass es Ihnen leichter fallen sollte, die SQ3R-Arbeitstechnik zu verwenden. Die Kapitel sind in 3 bis 5 Abschnitte von lesbarer Länge eingeteilt, die in einer Sitzung bearbeitet werden können.
Lernen mit System: Didaktische Elemente Die im Folgenden aufgeführten didaktischen Elemente sollen Ihnen das Arbeiten mit dem Lehrbuch erleichtern und dazu führen, dass das Lernen Spaß macht. Lernziele. Im gesamten Text werden Sie Lernziele finden, die Ihnen helfen sollen, sich beim Lesen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und am Ende jedes großen Abschnitts wird der Kasten »Lernziele« Sie darin unterstützen, noch einmal zu wiederholen, was Sie gelesen haben. Definitionen. Durch das ganze Buch hindurch finden Sie die Definitionen wichtiger Konzepte in der Randspalte. Im Fließtext ist der Begriff immer blau hervorgehoben. Zusätzlich zum deutschen Fachbegriff ist auch jeweils die englische Übersetzung aufgeführt. Glossar. Am Ende des Buches (blauer Teil) sind alle Definitionen noch einmal in einem Glossar zusammengefasst. Dort haben wir auch die Übersetzungen der Fachbegriffe aufgenommen, so dass Sie ein kleines deutsch-englisches Psychologielexikon zum schnellen Nachschlagen zur Verfügung haben. Zitate. Der Randspalte können Sie neben den Definitionen noch zahl-
reiche andere Informationen entnehmen, u. a. Beispiele, provokante Fragen und Zitate. Zentrale Aussagen und Merksätze. Sie sind mit einem Ausrufezeichen
am Rand versehen und in roter Schrift hervorgehoben. Kritisch nachgefragt. Diese Kästen bieten Ihnen ein Modell für eine kritische Herangehensweise an einige wichtige Themen der Psychologie. Es handelt sich häufig um kontrovers diskutierte Themen. Unter der Lupe. In diesen Kästen werden Ihnen ausgewählte Konzepte der Psychologie näher vorgestellt. Denken Sie weiter. Eine solche anwendungsbezogene Fragestellung am
Ende jeder Lernzielbox soll Ihnen helfen, über die wesentlichen Themen noch einmal nachzudenken und sie in eine Beziehung zu Ihrem eigenen Leben zu setzen. Wenn Sie einen persönlichen Bezug zu den Themen entwickeln, werden Sie sich das Gelernte besser merken können. Hat der Lernstoff eine persönliche Bedeutung, dann erinnert man sich leichter daran. Prüfen Sie Ihr Wissen. Diese Fragen, die Sie immer am Ende des Kapitels finden, sind als Selbsttest gedacht, mit dessen Hilfe Sie feststellen können, ob Sie das Gelesene verstanden haben. Die Antworten zu diesen Fragen finden auf www.lehrbuch-psychologie.de. Zeitleiste: Eine Zeitleiste mit den zentralen Themen der Psychologie und ihrer Geschichte findet sich auf den Innenseiten des Einbandes.
Myers: Psychologie, 2. Auflage Ihr Wegweiser zu diesem Lehrbuch
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Trailer: Mit dieser Einführung startet das Kapitel
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Zitate, Übungen, Zusatzinfo finden Sie in der Randspalte
Wichtig: hervorgehobene Merksätze
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Anschaulich – Abbildungen und Tabellen
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Griffregister: zur schnellen Orientierung
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n Buchinhalte sowohl für Grundstudium/Bachelor-Studiengänge als auch für Hauptstudium/Master-Studiengänge relevant
Gehen Sie aktiv an den Lernstoff heran: Berücksichtigen Sie die Lernziele zu Beginn jedes Abschnitts. Eine Beispiellösung finden Sie am Abschnittsende!
Navigation: mit Seitenzahl und Kapitelnummer
Glossar: in der Randspalte zum Lernen, ab S. 947 zum Nachschlagen
Kritisch nachgefragt: Kontroverse Themen anschaulich dargestellt
Unter der Lupe: Infos für die, die es genau wissen wollen
Denken Sie weiter: Hier wenden Sie Ihr Wissen an!
Fit für die Prüfung? Prüfungsfragen – und die Antworten auf der Myers-Lernwebsite
Lesen Sie mehr: Tipps für die weitere Lektüre
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Erfolgreich lernen
Lernen im Netz: Weiterführende Materialien Im Internet stellen wir Ihnen auf einer interaktiven Lernwebsite Zusatzmaterialien zur Verfügung. Loggen Sie sich einfach mit E-MailAdresse und Passwort unter www.lehrbuch-psychologie.de ein und nutzen Sie die folgenden Tools: 4 »Prüfen Sie Ihr Wissen«: Hier sehen Sie die Beispielantworten auf die Prüfungsfragen, die am Ende jedes Buchkapitels aufgelistet sind. Lagen Sie richtig mit Ihrer Beantwortung? 4 Zusammenfassungen: Verschaffen Sie sich einen schnellen Überblick über die Kapitelinhalte. Kurze Zusammenfassungen stellen die wesentlichen Themen der einzelnen Kapitel verständlich dar. Wiederholen Sie so die Inhalte jeder Lerneinheit. 4 Memocards: Karteikarten sind mühsam zu erstellen, aber extrem hilfreich beim Lernen und zur Wissensprüfung. Auf unseren elektronischen Memocards finden Sie das komplette Glossar des Buchs, auf der einen Seite die Fachbegriffe, auf der anderen deren Definition. Lernen Sie und testen Sie auch gleich selbst, ob Sie die Begriffe parat haben. 4 Deutsch-englische Memocards: Auch Vokabelpauken ist möglich. Es wird auch im Psychologiestudium immer wichtiger, englische Texte lesen zu können – prüfen Sie mit diesen Memocards, ob Sie die Fachbegriffe auch auf Englisch beherrschen. 4 Quizfragen: Und noch ein Instrument, das Ihnen hilft, Ihr Wissen zu überprüfen. In Zeiten von »Wer wird Millionär« und anderen Fernsehquizsendungen wird Ihnen dieses sehr bekannt vorkommen. Zu jedem Kapitel liegen jeweils 2 Multiple-Choice-Quiz vor. Testen Sie sich selbst: Wenn Sie den Myers aufmerksam gelesen haben, sollten Sie die Quizfragen auf jeden Fall beantworten können. Und anhand der vielen Beispiele lernen Sie ganz nebenbei noch die Anwendung der Konzepte. 4 Links zu speziellen Themen: Haben Sie Geschmack an den Inhalten der Psychologie gefunden? Ob Sie mehr zu Psychologie als Wissenschaft und Beruf, zu Emotionen, Persönlichkeit oder Arbeitsund Organisationspsychologie wissen wollen – wir haben für Sie eine ganze Reihe von Links zusammengestellt und kommentiert. Starten Sie bei uns Ihre Suche im Netz.
Effiziente Arbeitstechniken im Studium Die Zeit und Mühe, die Sie für das Psychologiestudium aufwenden, sollte Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern. Obwohl viele der bedeutenden Fragen im Leben über die Psychologie hinausgehen, werden einige recht wichtige sogar schon in einem Seminar zur Einführung in die Psychologie behandelt. Durch sorgfältige Forschung haben Psychologen Einsichten zu Gehirn und Denken, zu Depression und Freude, zu Träumen und Erinnerungen gewonnen. Selbst die unbeantworteten Fragen können unser Leben bereichern, indem sie uns erneut das Gefühl vermitteln, wie geheimnisvoll »Dinge sind, die für uns zu wunderbar sind«, als dass wir sie verstehen könnten. Zudem kann Ihr Psychologiestudium dazu beitragen, dass Sie lernen, wie man wichtige Fragen stellt und beantwortet – wie man kritisch nachfragt, wenn man konkurrierende Gedanken und Behauptungen gegeneinander abwägt. Wenn Sie Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern (und ordentliche Noten bekommen) wollen, müssen Sie auf effektive Weise
studieren. Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, müssen Sie Informationen aktiv verarbeiten, wenn Sie sie behalten wollen. Ihr Denken ist nicht so wie Ihr Magen, der nur passiv befüllt werden möchte; es ist eher wie ein Muskel, der durch ein Training kräftiger wird. Zahllose Experimente zeigen, dass Menschen Inhalte besser lernen und erinnern, wenn sie sie in eigene Worte fassen, sie wiederholen und sie sich dann noch einmal durchsehen und erneut wiederholen. Hier sind 5 Tipps, damit Sie diese Erkenntnisse für ein effektives Arbeiten nutzen können.
5 Studientechniken Lernen Sie in Häppchen. Einer der ältesten Befunde der Psychologie
besteht darin, dass über die Zeit verteiltes Üben zu besserem Behalten führt als geballtes Üben. Sie werden Inhalte besser erinnern, wenn Sie Ihre Lektüre auf mehrere Zeitabschnitte aufteilen – vielleicht 1 Stunde pro Tag an 6 Tagen die Woche –, statt alles in einem langen Lektüremarathon abzuarbeiten. Wenn Sie Ihre Lernsitzungen auf mehrere Zeitabschnitte aufteilen, so erfordert das eine disziplinierte Vorgehensweise beim Zeitmanagement. Statt beispielsweise den Versuch zu unternehmen, in einer Lernsitzung ein ganzes Kapitel zu lesen, sollten Sie einfach nur einen Abschnitt lesen und sich dann etwas anderem zuwenden. Hören Sie in Lehrveranstaltungen aktiv zu. Der Psychologe William
James forderte schon vor mehr als 100 Jahren: »Keine Rezeption ohne Reaktion, kein Eindruck ohne ... Ausdruck.« Hören Sie sich in Vorlesungen die Hauptgedanken an. Schreiben Sie sie auf. Stellen Sie während und nach der Veranstaltung Fragen. Verarbeiten Sie die Informationen in einer Lehrveranstaltung, aber auch wenn Sie für sich alleine lernen, aktiv; dann werden Sie sie besser verstehen und behalten. Etwas noch einmal lernen. Die Psychologie sagt uns, dass man etwas besser behält, wenn man es noch einmal lernt. Je häufiger Studierende ein Kapitel lesen und je weniger Veranstaltungen sie verpassen, desto besser sind ihre Prüfungsnoten (Woehr u. Cavell 1993). Studierende schrecken häufig davor zurück, etwas noch einmal zu lernen, und überschätzen, wie viel sie wissen. Echtes Lernen erfordert mehr, als etwas momentan zu verstehen. Sie verstehen ein Kapitel vielleicht in dem Augenblick, in dem Sie es lesen, aber wenn Sie zusätzliche Zeit für die nochmalige Lektüre, für die Überprüfung Ihres Wissen und für die Überprüfung dessen, was Sie zu wissen glauben, einplanen, werden Sie die Inhalte tatsächlich lernen und Ihr neues Wissen länger behalten. Konzentrieren Sie sich auf die Hauptgedanken. Es ist hilfreich, in re-
gelmäßigen Abständen innezuhalten und sich die Hauptgedanken klarzumachen, damit man weiß, wie sich all die Fakten und Forschungsbefunde zu einem großen Bild zusammenfügen. Um die Lektionen, die uns die Psychologie aufgibt, zu verstehen und zu schätzen, ist es z. B. wichtig, etwas über die Forschung zu lesen, die die Informationsgrundlage darstellt. Aber es ist auch wichtig, nach den großen Konzepten und Themen Ausschau zu halten, die die Psychologen aus diesen kleinen Befunden aufbauen. Zu den großen Themen dieses Buchs gehören z. B. die folgenden: 4 Kritisches Denken und wissenschaftliches Überprüfen tragen dazu bei, dass wir über viele Dinge besser nachdenken. 4 Wir erlangen ein tieferes Verständnis, wenn wir ein Phänomen von einem biologischen, einem psychologischen und einem soziokul-
XVII Erfolgreich lernen
turellen Niveau aus sehen. Alles Psychologische ist gleichzeitig biologisch. Doch unser Verhalten steht oft unter dem Einfluss unser Umwelt und unserer Kultur. 4 Anlage (unsere Gene und unsere biologische Ausstattung) und Umwelt (die Kultur und die Welt um uns herum) wirken zusammen und formen dabei unsere Merkmale und Verhaltensweisen. 4 Wir sind Geschöpfe unserer Kultur und unseres Geschlechts; doch wir ähneln uns viel mehr, als wir uns unterscheiden. 4 Ein Großteil unserer menschlichen Informationsverarbeitung erfolgt unwissentlich, jenseits des Radarschirms unseres Bewusstseins. Seien Sie ein geschickter Klausurenschreiber. Wenn in einer Klausur Multiple-Choice-Fragen (MC-Fragen) vorgegeben werden, verwirren Sie sich nicht selbst dadurch, dass Sie sich vorzustellen versuchen, in welcher Weise jede Antwortmöglichkeit die richtige sein könnte. Versuchen Sie stattdessen, die Frage so zu beantworten, als handele es sich um einen Lückentext. Decken Sie zunächst die Antworten zu, rufen Sie sich in Erinnerung, was Sie wissen, und vervollständigen Sie den Satz in Gedanken. Dann lesen Sie sich die in der Klausur vorgegebenen Antworten durch, und finden Sie die Antwortmöglichkeit heraus, die am besten zu Ihrer Antwort passt. Wenn eine Klausur sowohl Multiple-Choice-Fragen als auch freie Antwortmöglichkeiten enthält, wenden Sie sich zunächst Letzteren zu. Lesen Sie die Frage sorgfältig durch, und arbeiten Sie genau heraus, was der Dozent wissen möchte. Notieren Sie auf der Rückseite des Blatts eine Liste von Punkten, über die Sie schreiben wollen, und gliedern Sie sie. Bevor Sie dann zum Schreiben übergehen, überspringen Sie diese Aufgabe, und gehen Sie die MC-Fragen durch. (Während Sie das tun, können Sie weiterhin über die Fragen zum freien Text nachgrübeln.
Manchmal lassen die objektiver auswertbaren MC-Fragen tiefer liegende Gedanken hochkommen.) Lesen Sie sich dann noch einmal die offenen Fragen durch, denken Sie erneut über Ihre Antwort nach, und beginnen Sie mit dem Schreiben. Wenn Sie fertig sind, lesen Sie Ihre Arbeit Korrektur, um Rechtschreib- und Grammatikfehler zu beseitigen, die Sie weniger kompetent erscheinen lassen, als Sie es in Wirklichkeit sind. **** Wenn Sie etwas über Psychologie lesen, werden Sie viel mehr lernen als nur effektive Arbeitstechniken. Die Psychologie zeigt uns, wie wir zu wichtigen Fragen kommen können – wie wir kritisch nachfragen können, während wir konkurrierende Gedanken und populäre Behauptungen gegeneinander abwägen. Wir werden die Art und Weise zu schätzen lernen, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Dabei erweitert sich unser Verständnis für das Leben und verbessert sich unser Einfühlungsvermögen. Mit Hilfe dieses Buchs hoffen wir, unseren Beitrag zu leisten, dass Sie auf dieses Ziel zusteuern. Der Hochschullehrer Charles Eliot sagte vor einem Jahrhundert: »Bücher sind die ruhigsten und beständigsten Freunde und die geduldigsten Lehrer.« Wir würden uns freuen, wenn dies auch für dieses Lehrbuch gilt und der Myers Ihnen ein wertvoller Begleiter auf Ihrer Reise durch die Psychologie wird. Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß und Erfolg.
Christiane Grosser Matthias Reiss Svenja Wahl
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Kapitelübersicht Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie – 1 1 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie – 17 2 Neurowissenschaft und Verhalten – 55 3 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen – 101 4 Entwicklung – 149 5 Wahrnehmung: Sinnesorgane
– 213
6 Wahrnehmung: Organisation und Interpretation – 257 7 Bewusstsein 8 Lernen
– 291
– 339
9 Gedächtnis – 379 10 Denken und Sprache – 429 11 Intelligenz
– 467
12 Motivation
– 511
13 Emotion
– 547
14 Persönlichkeit
– 587
15 Sozialpsychologie – 635 16 Stress und Gesundheit – 691 17 Klinische Psychologie: Psychische Störungen – 743 18 Klinische Psychologie: Therapie
– 795
19 Pädagogische Psychologie – 841 20 Arbeits- und Organisationspsychologie – 885
XXI
Inhaltsverzeichnis Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie . . . . . . Wurzeln der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwissenschaftliche Psychologie . . . . . . . . . . . Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie . Moderne Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Große Themen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie . . . Arbeitsfelder der Psychologie . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . .
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1
. . . . . . . .
2 3 5 7 9 10 11 13
1
Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie . .
17
1.1 1.1.1
Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? . . . . . . Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Korrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelation und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Illusorische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen . . Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursache und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängige und abhängige Variablen . . . . . . . . . . . . Grundlagen statistischer Argumentation . . . . . . . . . . . . Datenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufig gestellte Fragen zur Psychologie . . . . . . . . . . . .
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18
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18 22 24 26 26 27 29 30 32 34 35 36 36 37 38 40 41 43 45
1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6
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3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6
Zwillingsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoptionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien zum Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage-Umwelt-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung . . . . . . . Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik am evolutionspsychologischen Ansatz . . . . . . . . Eltern und Gleichaltrige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern und frühe Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturübergreifende Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . Zeitübergreifende Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des sozialen Geschlechts . . . . . . . . . . . . Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede . Biologische Grundlagen des Geschlechts . . . . . . . . . . . Soziale Einflüsse auf das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . .
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104 107 109 110 112 112
. . 115 . . 115 . . . . . . . . . . . . . . .
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118 120 122 123 126 128 129 130 131 133 136 136 139 141 145
4
Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2
Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen . . . . Zeugung und Empfängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pränatale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeiten des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . Kleinkindzeit und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergang ins Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie . Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung . . . . . Stabilität und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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150 150 151 153 155 155 158 166 178 179 181 184 187 189 190 196 201 209 210 210
2
Neurowissenschaft und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . .
55
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Neuronale Kommunikation . . . . . . . . Neuron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie Nervenzellen kommunizieren . . . . Wie uns Neurotransmitter beeinflussen . Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . Peripheres Nervensystem . . . . . . . . . . Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungswerkzeuge . . . . . . . . . . . Ältere Hirnstrukturen. . . . . . . . . . . . . Zerebraler Kortex . . . . . . . . . . . . . . . Zur Zweiteilung des Gehirns . . . . . . . .
57 57 60 60 65 66 66 70 71 72 75 80 90
3
Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen . . . . . . 101
5
Wahrnehmung: Sinnesorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
3.1
Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gene: Unsere Codes für das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.1 5.1.1 5.1.2
Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung . . . . . . . . . . 215 Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Sensorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
3.1.1
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XXII
Inhaltsverzeichnis
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizinput Lichtenergie . . . . . . . . . . . . . Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Informationsverarbeitung . . . . . . Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizinput Schallwellen . . . . . . . . . . . . . Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerhörigkeit und Gehörlosenkultur . . . Andere wichtige Sinne . . . . . . . . . . . . . Tastsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschmackssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . Geruchssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lage und Bewegung des Körpers im Raum
6
Wahrnehmung: Organisation und Interpretation . . . . 257
6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3
Selektive Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungstäuschungen . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsorganisation . . . . . . . . . . . . . Formwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungskonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsinterpretation . . . . . . . . . . . . Sensorische Deprivation und wiederhergestelltes Sehvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsadaptation . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung und der Faktor Mensch . . . . . . . Gibt es außersinnliche Wahrnehmung? . . . . . . . Was ist außersinnliche Wahrnehmung? . . . . . . . Vorahnungen oder Einbildungen? . . . . . . . . . . Außersinnliche Wahrnehmung auf dem Prüfstand
7
Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.3 7.3.1 7.3.2 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.5
Bewusstsein und Informationsverarbeitung . . . . . . Schlaf und Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu brauchen wir den Schlaf? . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakten und Fehlinformationen . . . . . . . . . . . . . . Ist Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand? . Drogen und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeit und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoaktive Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Faktoren beeinflussen den Drogenkonsum? . Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
8.1 8.2 8.2.1
Wie lernen wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Pawlows Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
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. . . . . . . . . . . . . .
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221 222 223 227 231 235 236 237 240 245 245 250 251 254
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258 261 263 264 265 269 270 275
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275 277 278 282 286 286 286 288
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292 295 295 296 302 307 309 315 316 319 322 322 324 331 336
8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.4 8.4.1 8.4.2
Aktuelle Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operante Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . Skinners Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Shaping (Verhaltensformung) . . . . . . . . . . . . . . Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Banduras Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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348 351 354 354 355 360 362 364
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367 369 371 372
9
Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
9.1 9.1.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3 9.6.4 9.6.5 9.7
Das Phänomen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enkodieren: Information in den Speicher überführen . . Wie wir enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wir enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speichern: Information aufbewahren . . . . . . . . . . . . Sensorisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Langzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn . . . . . . Abrufen: Informationen auffinden . . . . . . . . . . . . . . Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheitern der Enkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speicherzerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheitern des Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktion von Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination Quellenamnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echte und falsche Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . Kinder als Augenzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.2 10.2.1 10.2.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3
Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsfindung und Urteilsbildung . Überzeugungsbias . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Sprache auf das Denken . . . . . Denken in Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Sprache bei Tieren . . . . . . . . Können Tiere denken? . . . . . . . . . . . . . . Verfügen Tiere über Sprache? . . . . . . . . . Das Beispiel der Affen . . . . . . . . . . . . . .
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380 382 385 385 388 394 394 395 396 397 404 409 410 411 412 416 417 419 419 421
. . . 422 . . . 426
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430 431 433 436 442 446 447 448 455 455 458 460 460 462 462
XXIII Inhaltsverzeichnis
11
Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
11.1 Was ist Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder als verschiedene spezifische Fähigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Intelligenz und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Ist Intelligenz neurologisch messbar? . . . . . . . . . . . 11.2 Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeiten . . . . . . . . . 11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede . 11.3.1 Stabilität oder Veränderung? . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Intelligenzextreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Genetische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests . . . . . . . . 11.4.4 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests . . . . . . .
. . . . 468 . . . . . . . . . .
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469 476 478 481 481 484 486 490 490 492
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494 495 497 499 505
12
Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5 12.4 12.5
Sichtweisen der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . Instinkte und Evolutionspsychologie . . . . . . . . . . Triebe und Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optimale Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maslows Bedürfnishierarchie . . . . . . . . . . . . . . . Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
13.1 13.2 13.2.1 13.2.2
Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen und das autonome Nervensystem . . . . Physiologische Ähnlichkeiten zwischen spezifischen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Unterschiede zwischen spezifischen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognition und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nonverbale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Emotionsausdruck im kulturellen Kontext . . . . . . . Mimischer Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glücklichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.2.3 13.2.4 13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3
. . . . . . . . . . . . . . . .
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512 513 514 514 515 517 518 520 525 525 528 529 532 539 541 544
. . . . . 548 . . . . . 551 . . . . . 551 . . . . . 552 . . . . . . . . . .
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553 554 560 560 564 566 569 570 573 575
14
Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.2 14.1.4 14.2 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3
Psychoanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erforschung des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . Neofreudianische und psychodynamische Theorien . Erfassung unbewusster Prozesse . . . . . . . . . . . . . . Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes . . . . . . Humanistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz . . . . . . . . . . . Erfassung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung des humanistischen Ansatzes . . . . . . . . Trait-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exploration von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) . . . . . . . . Bewertung des Trait-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . Sozial-kognitiver Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung . . . . . . . . Persönliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten . Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes . . . . . . . . Das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorteile des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . . . . . Kultur und Selbstwertgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwertdienliche Verzerrung . . . . . . . . . . . . . .
15
Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
15.1 15.1.1 15.1.2 15.2 15.2.1 15.2.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6
Soziales Denken . . . . . . . . . Attribution von Verhalten . . . Einstellungen und Handlungen Sozialer Einfluss . . . . . . . . . . Konformität und Gehorsam . . Gruppeneinfluss . . . . . . . . . Soziale Beziehungen . . . . . . Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . Aggression . . . . . . . . . . . . . Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonale Anziehung . . . Altruismus . . . . . . . . . . . . . Frieden stiften . . . . . . . . . . .
16
Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3
Stress und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Herzkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Krankheitsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewältigung von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen
17
Klinische Psychologie: Psychische Störungen . . . . . . . 743
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589 590 594 595 597 603 603 604 605 605 607 609 610 613 614 619 619 620 625 626 627 628 629 629
636 637 639 644 644 651 658 658 664 673 675 682 685
693 693 698 701 706 707 712 720
17.1 Was sind psychische Störungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 17.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 17.1.2 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
XXIV
Inhaltsverzeichnis
17.1.3 17.1.4 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.3 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.5 17.6
Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . Probleme und Gefahren der Etikettierung . . . Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generalisierte Angststörung und Panikstörung Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . Prävalenz psychischer Störungen . . . . . . . .
18
Klinische Psychologie: Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 795
18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.3 18.3.1 18.3.2
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Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppen- und Familientherapien . . . . . . . . . . . . . Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wirksam ist die Psychotherapie? . . . . . . . . . . . Welche Therapie für welche Störung? . . . . . . . . . . Was bringen alternative Therapien? . . . . . . . . . . . Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen . . Kultur und Wertvorstellungen in der Psychotherapie Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimulation des Gehirns: Elektrokrampftherapie . . . transkranielle Magnetstimulation . . . . . . . . . . . . 18.3.3 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . . . . .
19
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749 753 756 757 758 758 759 762 767 767 768 769 779 779 781 782 788 791
797 797 801 802 807 810 813 813 818 819 822 824 826 827 und 832 835 837
Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen . . . . . . . . . . . . . 841
19.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie . . . . . . 19.1.1 Gegenstand und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . 19.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? . . . . . . . . .
. . . 842 . . . 842 . . . 845 . . . 847 . . . 849 . . . 849
19.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? . . . . . . . . . . 19.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung . . . . . . . . . . moralischen Regeln und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . 19.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen . . . . . . . . . . . . 19.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt 19.4.3 Das Early-Starter-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten . . . . . . . . . . . . . . 19.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung . . 19.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden . .
. 852 . von . 859 . 860 . 863 . 866 . . . .
867 869 870 872
. 874 . 877 . 878 . 880
20
Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . 885
20.1.1 20.1.2 20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.3 20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.4 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.5 20.5.1 20.5.2 20.5.3
Arbeitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderte Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? Arbeitszeit und Arbeitsplatz: Mehr Flexibilität . . . . . . . . Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisationsform und Organisationsstruktur . . . . . . . Teams, Gruppen und Qualitätszirkel . . . . . . . . . . . . . . Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen . Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer kommt wann voran? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . .
Anhang . . . . . . . . Psychologie als Beruf Glossar . . . . . . . . Danksagung . . . . . Über den Autor . . . Literaturverzeichnis Quellenverzeichnis . Namenverzeichnis . Sachverzeichnis . . .
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie Wurzeln der Psychologie – 2 Vorwissenschaftliche Psychologie – 3 Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie – 5 Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie – 7
Moderne Psychologie
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Große Themen der Psychologie – 10 Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie Arbeitsfelder der Psychologie – 13
– 11
Andere Kulturen, andere Perspektiven Ich träum mir eine Welt, wo kein Mensch den anderen niederdrückt, wo Liebe die Erde segnet und Friede die Wege schmückt. Ich träum mir eine Welt, wo alle wissen, wie süß die Freiheit taugt, wo nicht mehr Gier an den Seelen saugt, kein Geiz unseren Tag wie Mehltau frisst.
Ich träum eine Welt, wo Schwarz und Weiss, gleich, was du bist, teilhat an der Erde Geschenken und frei ist – wo die Niedertracht den Kopf senken muss und Freude, Perlenschimmer, die Menschen in ihren Nöten nicht verlässt. Von dieser meiner Welt träum ich immer.
Langston Hughes, aus »Ich träum mir eine Welt«, Zürich: Althea, 2002 (Original 1945)
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
»Ich habe mich unablässig bemüht, das Handeln der Menschen weder zu verspotten noch zu beklagen oder zu verachten, sondern zu verstehen.« Benedikt Spinoza (»Theologisch-politisches Traktat«, 1677)
> »Wie ist das eigentlich, wenn man mit einem Psychologen verheiratet ist?«, wird meine Frau manchmal gefragt. »Betrachtet er Sie als psychologisches Forschungsobjekt?« Und meine Kinder werden von Freunden häufig gefragt: »Analysiert dich dein Papa oder so was?« »Was denken Sie über mich?«, fragte mich einmal ein Friseur in der Hoffnung auf eine Blitzanalyse seiner Persönlichkeit, als er erfuhr, dass ich Psychologe bin. Wie die meisten Menschen beziehen die, die solche Fragen stellen, ihr Wissen über Psychologie aus Zeitschriften, Fernsehsendungen und Populärliteratur. Ein Psychologe analysiert demnach die Persönlichkeit, bietet Paarberatung an und gibt Ratschläge zur Kindererziehung. Sind das die Arbeitsfelder der Psychologie? Ja, durchaus, und noch viele weitere. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal Gedanken gemacht zu einigen der folgenden Fragen der Psychologie: 4 Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie auf eine Situation genauso reagieren wie Ihre biologischen Eltern reagiert hätten, vielleicht sogar so, wie Sie es nie von sich gedacht hätten? Und haben Sie sich dann gefragt, wie viel von Ihrer Persönlichkeit Sie durch Vererbung mitbekommen haben? Wie stark sind die Persönlichkeitsunterschiede zwischen einer Person und einer anderen von den Genen vorherbestimmt? Und wie stark sind sie durch Umwelt, Elternhaus und Nachbarschaft beeinflusst? 4 Haben Sie je mit einem 5 Monate alten Kind »Guckguck« gespielt und sich gefragt, warum das Baby dieses Spiel so hinreißend findet? Der Säugling verhält sich so, als ob Sie tatsächlich verschwinden, wenn Sie für einen Moment hinter die Tür gehen und dann wie aus heiterem Himmel gleich wieder auftauchen. Was kann ein Baby wahrnehmen? Was denkt es? 4 Sind Sie je aus einem Alptraum hochgeschreckt und haben sich dann erleichtert gefragt, warum Sie so etwas Verrücktes geträumt haben? Warum träumen wir? Und wie oft träumen wir? 4 Haben Sie sich je gefragt, worauf Erfolg in der Schule und im Arbeitsleben beruht? Sind manche Menschen einfach von Geburt an klüger? Wenn manche Menschen reicher werden, kreativer denken oder in Beziehungen einfühlsamer sind als andere: Lässt sich das nur durch Intelligenz erklären? 4 Waren Sie je in depressiver oder ängstlicher Stimmung und haben sich gefragt, ob Sie sich jemals wieder »normal« fühlen können? Wodurch wird eine schlechte – oder gute – Stimmung ausgelöst? 4 Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich in Gegenwart von Menschen verhalten sollen, die einem anderen Kulturkreis, einer anderen ethnischen Gruppe oder dem anderen Geschlecht angehören? Wo liegen die Ähnlichkeiten innerhalb der Menschenfamilie? Worin unterscheiden wir uns voneinander? Hier handelt es sich um die Fragen, um die es in der Psychologie geht; denn die Psychologie ist eine Wissenschaft, die nach Antworten auf alle möglichen Fragen sucht, die uns Menschen betreffen: wie wir denken, fühlen und handeln.
Wurzeln der Psychologie Ziel 1: Definieren Sie Psychologie.
In längst vergangenen Zeiten geschah es, dass auf unserem Planeten der Mensch entstand. Bald darauf begannen diese Geschöpfe, sich sehr intensiv für sich selbst und füreinander zu interessieren. Sie fragten: »Wer sind wir? Woher kommen unsere Gedanken? Unsere Gefühle? Unsere
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Wurzeln der Psychologie
Handlungen? Und wie können wir die anderen Geschöpfe, die auch hier leben, verstehen, beherrschen oder kontrollieren?« Die Antworten der Psychologie auf diese Fragen haben ihren Ursprung in vielen Ländern und in vielen Disziplinen: Aus der Philosophie und der Biologie entstand eine Wissenschaft, die beschreibt und erklärt, wie wir denken, fühlen und handeln. Wir definieren die Psychologie heute als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhalten und den mentalen Prozessen, häufig sagt man auch: vom Verhalten und Erleben. Wir wollen diese Definition etwas ausarbeiten. Verhalten ist alles, was ein Organismus macht – jede Handlung, die wir beobachten und registrieren können. Mentale Prozesse sind innere subjektive Erfahrungen, die wir aus dem Verhalten erschließen: Empfindungen, Wahrnehmungen, Träume, Überzeugungen und Gefühle. Das Schlüsselwort in der Definition von Psychologie ist wissenschaftlich. Bei der Psychologie handelt es sich, wie ich in 7 Kap. 1 und im ganzen Buch betonen werde, weniger um eine Aneinanderreihung einzelner Befunde, sondern um eine Methode, Fragen zu stellen und sie zu beantworten. Als Wissenschaft stellt die Psychologie miteinander konkurrierende Vorstellungen mit Hilfe sorgfältiger Beobachtung und exakter Auswertung auf den Prüfstand. Bei ihrem Versuch, den Kern dessen zu beschreiben und zu erklären, was den Menschen ausmacht, bedient sich die Psychologie als Wissenschaft gerne intuitiver Vorstellungen und plausibel klingender Theorien. Und sie überprüft sie. Wenn die Theorie zutrifft – wenn also die Befunde die Vorhersagen bestätigen –, umso besser für die Theorie. Wenn die Vorhersagen nicht zutreffen, wird man die Theorie überarbeiten oder verwerfen. Mein Ziel in diesem Text besteht dann darin, nicht nur Ergebnisse zu berichten, sondern auch zu zeigen, nach welchen Spielregeln sich die Psychologen richten. Sie werden sehen, wie Forscher einander widersprechende Meinungen und Vorstellungen bewerten. Und Sie werden erfahren, wie wir alle, seien wir nun Wissenschaftler oder nur neugierige Menschen, tiefgründiger denken können, wenn wir die Ereignisse in unserem Leben beschreiben und erklären. Aber lassen Sie uns zunächst auf die Wurzeln der heutigen Psychologie eingehen; dies wird uns dabei helfen, die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologen zu würdigen.
Vorwissenschaftliche Psychologie Ziel 2: Analysieren Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie, vom frühen Verständnis der Seele und des Körpers bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft.
Wir können viele der aktuellen Fragen der Psychologie in der Geschichte des Menschen zurückverfolgen. In diesen frühen Ansätzen fragte man sich: Wie funktioniert unsere Seele? In welcher Beziehung stehen unser Körper und unsere Seele zueinander? Wie viel von dem, was wir wissen, ist angeboren? Wie viel wird durch Erfahrung erworben? In Indien meditierte Buddha darüber, wie sich aus Empfindungen und Wahrnehmungen Vorstellungen bilden. In China betonte Kon-
Ein Lächeln ist überall auf der Welt ein Lächeln In diesem Buch werden Sie immer wieder Beispiele finden, die nicht nur aufzeigen, wie sich Menschen durch Kultur und Geschlechtszugehörigkeit unterscheiden, sondern auch, worin die Ähnlichkeiten bestehen, die die uns allen gemeinsame menschliche Natur kennzeichnen. Gelächelt wird in allen Kulturen, und ein Lächeln hat überall auf der Welt die gleiche Bedeutung, doch wann und wie oft man lächelt, hängt vom jeweiligen Kulturkreis ab
Psychologie (psychology): Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen.
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Bettmann/Corbis
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So stellte man sich die Nervenleitung im 17. Jahrhundert vor In seiner Schrift »Traité de l’Homme« bot Descartes das Prinzip der Hydraulik als Erklärung für die Reflexe an
fuzius die Kraft der Vorstellungen und die Macht eines beherrschten und gezügelten Geistes. Die alten hebräischen Schriften verbanden Emotionen und Geist mit dem Körper und nahmen damit ein Stück moderner Psychologie vorweg. Sie nahmen jedoch noch an, der Mensch denke mit dem Herzen und fühle mit dem Bauch. Im antiken Griechenland kamen der griechische Philosoph und Lehrer Sokrates (469–399 v. Chr.) und sein Schüler Platon (428–348 v. Chr.) zu dem Schluss, dass der Leib nicht von der Seele zu trennen sei und er weiter bestehe, nachdem der Körper abgestorben ist, und dass Wissen angeboren ist. Als Sokrates im Sterben lag, entwickelte in einem anderen Teil Griechenlands Platons künftiger Student, ein Jugendlicher namens Aristoteles (384–322 v. Chr.), einen scharfen Verstand. Sokrates und Platon hatten mit Hilfe der Logik auf Prinzipien geschlossen. Aristoteles jedoch hatte eine Vorliebe für Fakten. Er formulierte Prinzipien aufgrund aufmerksamer Beobachtungen und wurde so zum Begründer der modernen Wissenschaft. Aus Beobachtungen schloss er, dass »die Seele nicht vom Leib zu trennen ist, was auch für einzelne Teile der Seele gilt« (»Über die Seele«). Des Weiteren lehrte Aristoteles – im Gegensatz zu Sokrates und Platon –, dass Wissen nicht angeboren ist, sondern aus der Erfahrung erwächst, die wir in unserem Gedächtnis speichern. Die folgenden 2000 Jahre brachten nur wenige wirklich neue Einsichten in die menschliche Natur. Doch das änderte sich im 17. Jahrhundert, als die Blütezeit der modernen Wissenschaft begann. Ein kränklicher, aber brillanter Franzose namens René Descartes (1595–1650) vertrat wie Sokrates und Platon die Idee von der Existenz angeborener Vorstellungen. Für ihn war »die Seele eine eigene Einheit und vom Körper völlig getrennt« und würde nach dessen Tod weiterleben. Dieses Konzept des »Leib-Seele-Dualismus« führte Descartes – und die Menschen nach seiner Zeit – zwangsläufig zu Vermutungen darüber, in welcher Beziehung die nichtmaterielle Seele und der materielle Körper zueinander stehen. Descartes war Philosoph und zugleich Naturwissenschaftler. Er sezierte Tiere und kam zu dem Schluss, dass die Flüssigkeit in den Hohlräumen des Gehirns »animalische« Energie, d. h. Lebensenergie, enthielte. Diese Lebensenergie, so vermutete er, fließe vom Gehirn durch das, was wir Nerven nennen (die er sich als hohl vorstellte), zu den Muskeln und rufe dort eine Bewegung hervor. Erinnerungen in Form von Erfahrungen öffneten Poren im Gehirn, in die diese Flüssigkeit gleichfalls hineinfließe. Descartes hatte insofern Recht, als die Nervenleitungen bedeutsam sind und durch sie Reflexe erst möglich werden. Er war zwar ein genialer Denker und zog seine Erkenntnisse aus dem Wissen, das die Menschen im Laufe ihrer Geschichte angehäuft hatten. Obwohl jedoch vom heutigen Standpunkt aus bereits 99% der Menschheitsgeschichte hinter ihm lagen, waren zu seiner Zeit viele Fakten, die heute zum Allgemeinwissen zählen, nicht bekannt. Tatsächlich ist die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung unseres Selbst (dem Thema dieses Buches) noch sehr jung; sie wurde gleichsam im gerade vergangenen Augenblick der Menschheitsgeschichte geschrieben. Jenseits des Ärmelkanals nahm die Wissenschaft in England mittlerweile handfestere Formen an; man experimentierte und forschte, sammelte Erfahrungen und urteilte mit gesundem Menschenverstand. Francis Bacon (1561–1626) wurde zu einem der Begründer der modernen Wissenschaft, und sein Einfluss reicht bis hinein in die Experimente der heutigen wissenschaftlichen Psychologie. Auch Bacon war fasziniert vom menschlichen Geist und dessen Fehlleistungen. Er beschrieb damals bereits das, was wir heute als Bedürfnis unseres Geistes kennen, nämlich auch in zufälligen Ereignissen Muster zu erkennen: »Es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Verständnisses, dass es leichthin einen höheren Grad an Ordnung und Gleichheit in den Dingen anzunehmen geneigt ist, als es tatsächlich vorfindet« (»Novum Organum«). Er nahm auch Inhalte der späteren Forschung zum Wahrnehmen und Erinnern von Ereignissen, die unsere Vorannahmen bestätigen, vorweg. »Alle Formen von Aberglauben sind einander mehr oder weniger ähnlich, sei es Astrologie, Träume, Omen ...: In all dem sieht der verblendete Gläubige die Erfüllung seiner Vorstellungen; erfüllen sich seine Erwartungen jedoch nicht, dann nimmt er dies nicht zur Kenntnis oder übersieht es, obwohl dieser Fall viel häufiger eintritt.« Etwa 50 Jahre nach Bacons Tod schrieb der englische Philosoph und Politiker John Locke (1632–1704) für eine Diskussion mit Freunden einen kurzen Text über »Unsere Fähigkeiten«. Zwanzig Jahre und etliche hundert Seiten später schloss Locke eine Veröffentlichung ab (»Essay
5 Wurzeln der Psychologie
Concerning Human Understanding«, dtsch. »Über das menschliche Verstehen«), die zu den großartigsten und letzten Spätwerken der Geschichte gehört. Darin vertrat er die These, dass der menschliche Geist bei der Geburt eine Tabula rasa sei, ein »unbeschriebenes Blatt«, das von der Erfahrung beschrieben wird. Zusammen mit Bacons Vermächtnis entstand aus diesem Gedanken der moderne Empirismus, d.h. die Ansicht, dass Wissen auf Erfahrung zurückgeht und dass Wissenschaft deshalb auf Beobachtung und Experiment beruhen sollte.
Empirismus (empiricism): philosophische Lehre, dass Wissen (nur) auf Sinneserfahrungen zurückgeht und wissenschaftlicher Fortschritt durch Beobachtung und Experiment erreicht wird.
Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie
Bis zur Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, dachten die Philosophen weiterhin über das Denken nach. Es war im Jahr 1879 an einem Dezembertag in einem kleinen Raum im dritten Stock eines unansehnlichen Gebäudes, das zur Universität Leipzig gehörte. Zwei junge Männer halfen einem ernst dreinblickenden Professor mittleren Alters bei der Entwicklung eines Versuchsgeräts: Dieser Mann war Wilhelm Wundt. Eine Versuchsperson sollte die Taste eines Telegrafengeräts drücken, sobald sie den Aufprall eines Balles auf einer Rampe hörte; und das Gerät sollte den zeitlichen Abstand zwischen Hören und Tastendruck messen (Hunt 1993). Später verglichen die Forscher dieses Zeitintervall mit der Reaktionszeit, die für etwas komplexere Aufgaben benötigt wurde. Zu ihrem Erstaunen fanden sie, dass die Versuchsteilnehmer in ungefähr einem Zehntel einer Sekunde reagierten, wenn sie die Taste drücken sollten, sobald das Geräusch auftrat, dass sie aber zwei Zehntel einer Sekunde brauchten, wenn sie die Anweisung erhielten, die Taste erst in dem Augenblick zu drücken, in dem ihnen bewusst wurde, dass sie das Geräusch hörten (sich seiner Bewusstheit bewusst zu sein, dauert etwas länger). Wundt versuchte, »die Elemente des Seelenlebens« zu erfassen, nämlich die einfachsten und am schnellsten ablaufenden seelischen Prozesse. Damit begann das, was von vielen als das erste psychologische Experiment angesehen wird. Unter Wundts Leitung und unter Mitarbeit seiner Studenten war das erste psychologische Labor entstanden. Es dauerte nicht lange, bis sich verschiedene Subdisziplinen und Denkschulen dieser neuen Wissenschaft Psychologie entwickelten – begründet durch Vordenker und Pioniere. Zwei einflussreiche philosophische Schulen, der Strukturalismus und der Funktionalismus, werden im Folgenden beschrieben; auf die Gestaltpsychologie, den Behaviorismus und die Psychoanalyse kommen wir in späteren Kapiteln zurück.
Universitätsarchiv Leipzig
Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funktionen des Geistes zu verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führenden Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiteten.
Wilhelm Wundt Begründer des ersten psychologischen Labors an der Universität Leipzig; hier als »Versuchsperson« (rechts) neben seinen Mitarbeitern Dittrich und Wirth
Überlegungen zur Struktur der Seele Einer von Wundts Schülern, Edward Bradford Titchener, wurde nach seiner Promotion 1892 Professor an der Cornell University in New York und führte dort den Strukturalismus ein. So wie die Physiker und Chemiker die Struktur der Materie aufdeckten, wollte Titchener die Elemente des Geistes entdecken. Seine Methode bestand darin, Menschen zur Introspektion (Selbstbetrachtung) anzuregen. Er brachte ihnen bei, die Einzelheiten der Erfahrungen zu berichten, die sie machten, wenn sie eine Rose betrachteten, einem Metronom zuhörten, einen Duft rochen oder den Geschmack einer Substanz wahrnahmen. Welches waren ihre unmittelbaren Empfindungen, ihre Bilder, ihre Gefühle? Und welchen Zusammenhang gab es zwischen ihnen? Mit dem englischen Essayisten C.S. Lewis (1960, S. 18–19) teilte Titchener die Auffassung, dass es »nur ein einziges Ding im Universum gibt, über das wir mehr wissen, als wir durch äußere Beobachtung erfahren können«. Dieses einzige Ding, sagte Lewis, sind wir selbst. »Wir haben gewissermaßen Informationen von innen.« Doch der Strukturalismus verschwand und mit ihm die Introspektion. Zur Introspektion braucht man kluge, wortgewandte Menschen. Zudem erwies sich die Introspektion als unberechenbar: Sie führte bei jedem Menschen und bei jeder Erfahrung zu anderen Ergebnissen. Neuere Studien deuten darauf hin, dass die Erinnerung der Menschen häufig fehlerhaft ist. Ebenso verhält es sich mit ihren eigenen Berichten darüber, was sie beispielsweise veranlasst hat, einander
Strukturalismus (structuralism): vor allem in den USA vorherrschende psychologische Strömung, die – im Unterschied zur gleichzeitig vertretenen Richtung des Funktionalismus – die elementare Struktur der menschlichen Seele mit Hilfe der Introspektion (Selbstbeobachtung) erforschte.
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
»Sie kennen Ihren eigenen Geist nicht.« Jonathan Swift (»Polite Conversation«, 1738)
zu helfen oder zu verletzen (Myers 2002). Oft genug wissen wir einfach nicht, warum wir fühlen, was wir fühlen, und warum wir tun, was wir tun.
Überlegungen zu Funktionen der Seele
Funktionalismus (functionalism): zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA als Gegenrichtung zum Strukturalismus entstandene psychologische Schule, die hauptsächlich seelische Prozesse und Verhaltensprozesse untersuchte, um eine Antwort auf die Frage zu finden, auf welche Weise diese Prozesse den Organismus befähigen, sich anzupassen, zu überleben und zu gedeihen.
William James William James, legendärer Lehrer und Autor, war Mentor für Mary Calkins, aus der eine bahnbrechende Gedächtnisforscherin und Präsidentin der American Psychological Association wurde
Der Versuch, die Struktur der Seele einfach aus ein paar Elementen zu konstruieren, ist ungefähr so erfolgreich wie der Versuch, die Funktionsweise eines Autos anhand seiner Einzelteile verstehen zu wollen. Der Philosoph und Psychologe William James versprach sich mehr davon, die Funktionen unserer Gedanken und Gefühle zu betrachten. Riechen ist das, was die Nase macht, und Denken ist das, was der Geist tut. Doch warum tun sie das? Beeinflusst von dem revolutionären Denker Charles Darwin ging James von der Annahme aus, dass sich die Fähigkeit zum Denken – wie die Fähigkeit zum Riechen – entwickelt hatte, weil sie eine Anpassung darstellte und damit zur Überlebensfähigkeit unserer Vorfahren beitrug. Bewusstsein erfüllt eine Funktion: Es versetzt uns in die Lage, unsere Vergangenheit zu bedenken, sie im Licht unserer gegenwärtigen Umstände zu betrachten und unsere Zukunft zu planen. Als Vertreter des Funktionalismus und Pragmatiker forderte James dazu auf, ganz alltägliche Emotionen, Erinnerungen, die Willenskraft, Gewohnheiten und den momentanen Bewusstseinsstrom zu erkunden. Das wichtigste Vermächtnis von William James sind jedoch nicht so sehr die Forschungsergebnisse aus seinem Labor, sondern vielmehr seine Lehrtätigkeit und seine Publikationen. Wenn er nicht unter seinem schlechten Gesundheitszustand und unter Depressionen litt, war er ein nach außen gewandter und fröhlicher Mensch, der sich einmal daran erinnerte, dass »die erste Vorlesung zur Psychologie, die ich je gehört habe, meine eigene war«. Während einer seiner lebendigen und klugen Vorlesungen unterbrach ihn ein Student und bat ihn, wieder mit Ernst bei der Sache zu sein (Hunt 1993). Es wird auch berichtet, dass er einer der ersten amerikanischen Professoren war, der seine Studenten beim Abschluss des Studiums aufforderte, seine Lehrtätigkeit zu bewerten – ein früher Vorläufer der heute üblichen Evaluationen. Er mochte seine Studenten gern, liebte seine Familie und die Welt der Ideen; er verabscheute jedoch die Mühen des Korrekturlesens. »Schicken Sie mir keine Fahnen«, sagte er einmal einem Verleger. »Ich werde den Brief ungeöffnet zurückschicken und nie wieder mit Ihnen sprechen.« (Hunt 1993, S. 145) In ähnlicher Weise erwies sich James 1890 als ein Mann mit Ecken und Kanten, als er – trotz der Einwände des Universitätspräsidenten von Harvard – Mary Calkins in sein Graduiertenseminar aufnahm (Scarborough u. Furumoto, 1987). Als sie kam, gingen alle anderen Studenten. (Damals hatten die Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht.) Daher hielt James das Seminar allein mit ihr ab. Später erfüllte sie alle Voraussetzungen für einen Doktortitel in Harvard und war in ihrer Abschlussprüfung besser als die männlichen Studierenden. Trotzdem weigerte sich Harvard, ihr den Doktortitel zu verleihen. Man bot ihr stattdessen einen Abschluss am Radcliffe College an, einer kooperierenden Hochschule, bei der Frauen einen Bachelor-Abschluss machen konnten. Frau Calkins wehrte sich gegen die Ungleichbehandlung und lehnte den Abschluss ab. Mehr als ein Jahrhundert später setzten sich Studierende an der Harvard University dafür ein, dass ihr posthum der Doktortitel verliehen wurde, der ihr eigentlich schon viel früher zugestanden hätte (Feminist Psychologist 2002). Mary Calkins wurde dennoch eine bekannte Gedächtnisforscherin und 1905 die erste Präsidentin der American Psychological Association (APA). Wir haben es heute mit einer ganz anderen Welt zu tun als damals: Zwischen 1996 und 2005 waren mehr als zwei Drittel der frisch Promovierten in der Psychologie Frauen, und fünf von zehn gewählten Präsidenten der wissenschaftsorientierten American Psychological Society waren Frauen. Von 2004 bis 2006 war Hannelore Weber Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Die Psychologin Margret Wintermantel wurde 2006 zur Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz gewählt. In Kanada und in Europa werden in letzter Zeit die meisten Doktortitel an Frauen vergeben. Wenn die Harvard University Mary Calkins auch ihren Anspruch versagte, die erste Frau mit einem Doktortitel in Psychologie zu sein, so fiel diese Ehre Margaret Floy Washburn zu, die später ein einflussreiches Buch mit dem Titel »The Animal Mind« schrieb und 1921 als zweite Frau Präsidentin der APA wurde. Obwohl Wilhelm Wundt Floy Washburns Doktorarbeit als erste ausländische Untersuchung in seiner Zeitschrift veröffentlichte, hatte ihre Geschlechtszugehörigkeit zur Folge, dass sie nicht in die Organisation der Experimentalpsychologen aufgenommen wurde, deren Gründer Edward Titchener, der Betreuer ihrer Doktorarbeit, war (Johnson 1997).
7 Wurzeln der Psychologie
Durch seine zahlreichen, allgemein anerkannten Artikel breitete sich der Einfluss von William James immer weiter aus. Das bewog den Verleger Henry Holt, ihm einen Vertrag für ein Lehrbuch über diese neue Wissenschaft, die Psychologie, anzubieten. James nahm den Auftrag an; aber bald zeigte sich, dass sich die Arbeit an dem Buch unerwartet schwierig gestaltete: Er brauchte 12 Jahre, um es fertigzustellen (eigentlich gar nicht überraschend). Noch heute, mehr als hundert Jahre nach ihrem Erscheinen werden die »Principles of Psychology« immer noch gelesen, und die Leser haben ihre Freude an der brillanten, eleganten Art, mit der William James das gebildete Publikum in die Psychologie einführte. Die erste deutsche Auflage erschien übrigens unter dem Titel »Psychologie« 1909 in Leipzig.
Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie
Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft, die sich aus der Philosophie und der Biologie heraus entwickelt hat. Der Deutsche Wilhelm Wundt war Philosoph und Physiologe, der US-Amerikaner William James war Philosoph, der Russe Iwan Pawlow, ein Pionier der Lernpsychologie, war Physiologe. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud, der eine einflussreiche Persönlichkeitstheorie entwickelte, war Arzt in Österreich, und der Schweizer Jean Piaget mit seinen bahnbrechenden Beobachtungen an Kindern war Biologe. Die Liste der frühen Psychologen – »Magellane des Geistes«, wie Morton Hunt (1993) sie nannte – macht deutlich, dass die Psychologie ihren Ursprung in vielen Disziplinen und Ländern hat. Die restliche Geschichte der Psychologie – das Thema dieses Buchs – verläuft in vielen Bahnen. Psychologie lässt sich nicht leicht definieren. Denn die Betätigungsfelder reichen von der Psychotherapie bis zur Untersuchung der Aktivität von Nervenzellen. Wundt und Titchener konzentrierten sich auf die inneren Empfindungen, Bilder und Gefühle. Auch James legte seinen Schwerpunkt auf die Introspektion und wollte den Bewusstseinsstrom und die Emotionen untersuchen. Freud beschäftigte sich vor allem mit der Art und Weise, wie emotionale Reaktionen auf Kindheitserfahrungen und unbewusste Denkprozesse unser Verhalten beeinflussen. Somit wurde die Psychologie bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein als »die Wissenschaft vom Seelenleben« definiert. Von den 20er bis in die 60er Jahre prägten vor allem zwei Männer die amerikanische Psychologie: der provokative und etwas überspannte John B. Watson und der ebenfalls nicht mit Provokationen geizende Burrhus F. Skinner. Die Introspektion wurde für überflüssig erklärt, die Psychologie wurde neu definiert, und zwar als »die wissenschaftliche Untersuchung des beobachtbaren Verhaltens«. Letztendlich, sagten diese »Behavioristen«, wurzelt die Wissenschaft doch in der Beobachtung. Eine Empfindung, ein Gefühl oder einen Gedanken kann man nicht beobachten; das Verhalten von Menschen und ihre Reaktion auf verschiedene Situationen hingegen ist beobachtbar und beschreibbar. Die humanistische Psychologie war in den 60er Jahren eine weichere Antwort auf die Freud’sche Psychologie und auf den Behaviorismus; für ihre Pioniere Carl Rogers und Abraham Maslow waren diese beiden Schulen zu mechanistisch. Statt Kindheitserinnerungen hervorzulocken und sich auf erlerntes Verhalten zu konzentrieren, betonten sowohl Rogers als auch Maslow die Bedeutung der momentanen Umwelteinflüsse für unser Wachstumspotenzial und die Bedeutung der Tatsache, dass unsere Bedürfnisse nach Liebe und Akzeptanz erfüllt werden. In den 60er Jahren fand die Psychologie allmählich zu ihrem ursprünglichen Interesse an mentalen Prozessen zurück, und zwar durch Untersuchungen zur Informationsverarbeitung. Wie verarbeitet unser Gehirn Informationen, und wie speichert es sie? Durch diese kognitive Wende wurden Vorstellungen gestützt, die von frühen Psychologen entwickelt worden waren, wie etwa die Bedeutung innerer Denkprozesse; aber sie ging über diese Vorstellungen hinaus, indem sie die Art und Weise wissenschaftlich untersuchte, wie wir Informationen wahrnehmen, verarbeiten und erinnern. Wie wir in 7 Kap. 16 sehen werden, haben sich die kognitive Psychologie und in neuerer Zeit die kognitive Neurowissenschaft (die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Denk-
Cinetext Bildarchiv/HBA
Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute.
Sigmund Freud Berühmter Persönlichkeitstheoretiker und Therapeut, dessen kontrovers diskutierte Vorstellungen das Verständnis des Menschen vom Selbst beeinflussten Humanistische Psychologie (humanistic psychology): historisch bedeutsame Auffassung, bei der das Wachstumspotenzial gesunder Menschen betont wird; in der Hoffnung, das Wachstum der Persönlichkeit zu fördern, wurden hier Methoden, die auf die individuelle Person zugeschnitten waren, zur Untersuchung der Persönlichkeit genutzt.
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Sam Falk/Photo Researchers
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John B. Watson Zusammen mit Rosalie Rayner verfocht Watson die Idee von der Psychologie als der Wissenschaft vom Verhalten und demonstrierte konditionierte Reaktionen an dem »kleinen Albert«
Burrhus F. Skinner Einer der führenden Köpfe der Verhaltenspsychologie. Er lehnte die Introspektion ab und untersuchte, wie Verhalten durch Konsequenzen geformt wird
prozessen und Hirnfunktionen) als besonders vorteilhaft erwiesen, um besser neue Methoden entwickeln zu können, mit deren Hilfe man Störungen, etwa die Depression, erklären und behandeln kann. Um die Vorstellungen der Behavioristen über beobachtbare Verhaltensweisen mit den Vorstellungen über innere Gedanken und Gefühle unter einen Hut bringen zu können, brauchte die Psychologie eine neue Definition: ! Heute verstehen wir unter Psychologie die Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen.
Lernziele Wurzeln der Psychologie Ziel 1: Definieren Sie Psychologie. Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten (alles, was ein Organismus macht) und von den mentalen Prozessen (subjektive Erfahrungen, die wir aus dem Verhalten erschließen). Das Schlüsselwort in dieser Definition ist Wissenschaft. Ziel 2: Verfolgen Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie zurück, vom frühen Verständnis der Seele und des Körpers bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft. Die Wurzeln der Psychologie reichen weit zurück in die geschriebene Geschichte. Sie können zurückverfolgt werden nach Indien, China, in den Mittleren Osten und nach Europa, wo einige gelehrte Menschen ihr Leben lang danach strebten, ihre Mitmenschen zu verstehen. Ein besonderes Anliegen war für sie die Frage, wie unser Geist arbeitet und wie seine Funktionen mit den Funktionen unseres Körpers zusammenhängen.
Vor mehr als 2000 Jahren dachten Buddha und Konfuzius über die Macht des Geistes und die Entstehung von Ideen nach. Die Hebräer im Vorderen Orient, Sokrates, sein Schüler Platon und dessen Schüler Aristoteles in Griechenland gingen der Frage nach, ob Leib und Seele eigenständige Einheiten darstellen oder ob sie miteinander verbunden sind. Sie fragten sich, ob menschliches Wissen angeboren oder durch Erfahrung erworben ist. Im 18. Jahrhundert nahmen René Descartes und John Locke einige dieser alten Fragen wieder auf, und Locke schuf den berühmt gewordenen Begriff vom Geist als einem »unbeschriebenen Blatt«. Die Vorstellungen von Francis Bacon und von John Locke trugen wesentlich zur Entwicklung des modernen Empirismus bei, zur Auffassung also, dass Wissen auf Sinneserfahrung zurückgeht und dass die Wissenschaft auf Beobachtungen und Experimenten beruhen sollte. 6
9 Moderne Psychologie
Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funktionen der Seele zu verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führenden Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiteten. Die Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, schlug Ende des 19. Jahrhunderts in einem deutschen Laboratorium, in dem Wilhelm Wundt das erste echte psychologische Experiment im ersten psychologischen Labor durchführte. Schon bald bildeten sich Schulen: Edward Bradford Titchener und andere Strukturalisten suchten nach den grundlegenden Elementen der Seele, indem sie Menschen beibrachten, nach innen zu schauen und die kleinsten Einheiten ihres Erlebens zu beschreiben. In dem Versuch, zu verstehen, wie seelische Prozesse und Verhaltensprozesse dazu beitragen, dass wir uns anpassen, überleben und gedeihen, versuchten William James und anderen Funktionalisten, zu erklären, warum wir tun, was wir tun. James schrieb auch das erste Lehrbuch für diese neue Disziplin.
erforscht wurde. Die amerikanischen Behavioristen, angeführt von John B. Watson und später von B.F. Skinner, änderten den Fokus der Psychologie und beschränkten sich auf die Untersuchung beobachtbaren Verhaltens. In den 60er Jahren richteten die humanistischen Psychologen ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen, des persönlichen Wachstums und des Bedürfnisses, geliebt und angenommen zu werden. Auch in den 60er Jahren begann die kognitive Wende erneut den Fokus der Psychologie auf das Interesse an mentalen Prozessen zu legen; besondere Aufmerksamkeit widmete man der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung und dem Gedächtnis. Die kognitiven Neurowissenschaftler erweitern unser Verständnis dieser und weiterer Prozesse in der heutigen Psychologie, die sich selbst als »Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen« bzw. »vom Verhalten und Erleben« sieht.
> Denken Sie weiter: Wird sich die Psychologie verändern, wenn Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute. Bis in die 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hinein war die Psychologie eine »Wissenschaft vom Seelenleben«, die mit Hilfe der Introspektion
Menschen aus nichtwestlichen Gesellschaften ihre Ideen einbringen?
Moderne Psychologie Die heutigen Psychologen sind wie ihre Pioniere Bürger vieler Staaten. Der International Union of Psychological Science gehören 69 Staaten an, von Albanien bis Zimbabwe. Die nationalen psychologischen Gesellschaften entwickeln sich rapide – die American Psychological Association hatte im Jahr 1945 4183 ordentliche und assoziierte Mitglieder, heute sind es mehr als 160.000; Ähnliches geschah in Großbritannien (von 1100 auf 34.000). Der Berufsverband Deutscher Psychologen hatte 1946 bei seiner Gründung 22 Mitglieder, heute sind es mehr als 13.000 Mitglieder im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (Vereinigung der wissenschaftlich tätigen Psychologen) wurde 2004 100 Jahre alt; am 1. Januar 1953 gehörten ihr 118 Mitglieder sowie 13 Ehrenmitglieder an und heute etwa 2000 Mitglieder. In China gab es 1985 an fünf Universitäten psychologische Institute; am Ende des vorigen Jahrhunderts waren es 50 (Jing 1999). 1960 gab es in Deutschland 2000 erwerbstätige Psychologen (2000 Studierende), heute sind es bereits über 45.000. In Bezug auf die Studierenden lauten die Zahlen 2000 im Jahre 1960 und 32.500 im Jahre 2000 (Schneider 2005). Weltweit wurden mehr als 500.000 Menschen als Psychologen ausgebildet, und 130.000 von ihnen gehören europäischen Psychologenorganisationen an (Tikkanen 2001). Dank internationaler Publikationen, gemeinsamer Treffen und dem Internet überschreitet die Zusammenarbeit und die Kommunikation zudem häufiger als je zuvor die Ländergrenzen: »Wir bewegen uns rasch auf eine einzige Welt der Psychologie als Wissenschaft zu«, berichtete Robert Bjork (2000). Die Psychologie wächst und zwar in globalem Maßstab. Heute dreht sich die Debatte der Psychologen um Themen von zeitloser Aktualität. Verhalten wird von verschiedenen Blickwinkeln aus beobachtet. Psychologen lehren, arbeiten und forschen in vielen z. T. sehr unterschiedlichen Bereichen und Unterbereichen der Psychologie.
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Große Themen der Psychologie
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Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz zusammen, und beschreiben Sie das Prinzip der natürlichen Selektion.
Charles Darwin Behauptete, dass Körperformen und Verhaltensweisen durch natürliche Selektion ausgebildet werden Anlage-Umwelt-Debatte (auch: Erbe-UmweltDebatte, nature-nurture issue): alte Kontroverse darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbildung psychischer Merkmale und die Entwicklung von Verhaltensweisen ist.
Natürliche Selektion (natural selection): Prinzip, dass aus der Menge der ererbten Merkmalsvarianten diejenigen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, die am meisten zur Fortpflanzung und zum Überleben der Lebewesen beitragen.
Von Anfang an hat sich die Psychologie intensiv mit bestimmten zeitüberdauernden Themen befasst, auf die Sie auch in diesem Buch immer wieder treffen werden. Das wichtigste Thema, das uns immer wieder beschäftigt (und mit dem wir uns in 7 Kap. 3 intensiv befassen werden), betrifft die Frage, ob unsere Handlungen stärker von unserer biologischen Ausstattung bestimmt werden oder von unserer Erfahrung. Wir haben bereits gesehen, dass die Anlage-Umwelt-Debatte schon seit der Antike geführt wird. Entwickeln sich die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen durch Lernen und Erfahrung, oder bringen wir sie bereits mit auf die Welt? Diese Debatte wurde schon von den alten Griechen geführt, wobei Platon den Standpunkt vertrat, dass Charakter und Intelligenz weitgehend ererbt und dass sogar manche Ideen angeboren sind. Dagegen ging Aristoteles von der Annahme aus, dass es im menschlichen Geist nichts gibt, was nicht schon zuvor über die Sinne aus der Außenwelt aufgenommen wurde. Die Philosophen des 17. Jahrhunderts nahmen die Debatte wieder auf. Locke lehnte die Vorstellung von angeborenen Ideen ab und trug seine Auffassungen vom Geist als »unbeschriebenes Blatt« vor, das von der Erfahrung beschrieben wird. Descartes war anderer Meinung: Er glaubte, dass bestimmte Gedanken und Ideen angeboren seien. Zwei Jahrhunderte später wurde Descartes’ Auffassung durch einen neugierigen Naturforscher bestätigt. Ein Student, den das Studium langweilte, der jedoch ein leidenschaftlicher Sammler von Käfern, Weichtieren und Muscheln war, brach 1831 zu einer Seereise auf, die sich als historisch erweisen sollte. Der Reisende war der 22-jährige Charles Darwin, der nach seiner Reise darüber grübelte, wie es zu der unglaublichen Vielfalt von Arten gekommen ist, auf die er unterwegs gestoßen war. Wie kam es, dass die Schildkröten auf der einen Insel sich von denen auf einer anderen Insel in derselben Region unterschieden? 1859 erschien Darwins Buch »Origins of Species« (dtsch. »Die Entstehung der Arten«), in dem er darlegte, dass die Mannigfaltigkeit der Lebensformen durch einen evolutionären Prozess zustande gekommen ist. Er glaubte, dass die Natur aus zufällig entstandenen Veränderungen bei einem Lebewesen die Variation auswählt, die zum Überleben und zur Fortpflanzung eines Lebewesens in einer bestimmten Umwelt beiträgt. Darwins Prinzip der natürlichen Selektion – »Die beste Idee, die jemals jemand hatte«, so der Philosoph Daniel Dennett (1996) – ist auch heute noch, 150 Jahre später, ein Ordnungsprinzip der Biologie. Auch für die Psychologie des 21. Jahrhunderts ist das Evolutionsprinzip ein wichtiges Prinzip. Das hätte Darwin sicher gefreut; denn er glaubte, seine Theorie erkläre nicht nur Strukturen bei Lebewesen (z. B. die Frage, warum Eisbären ein weißes Fell haben), sondern auch das Verhalten von Lebewesen (beispielsweise den Ausdruck von Emotionen in Verbindung mit Lust oder Wut). Die Anlage-Umwelt-Debatte zieht sich wie ein roter Faden aus der fernen Vergangenheit bis in unsere Tage. Die Psychologen unserer Zeit führen die Diskussion weiter und stellen folgende Fragen: 4 Auf welche Weise haben die Erbanlagen bzw. die Umwelt einen Einfluss auf individuelle Unterschiede bezüglich Intelligenz, Persönlichkeit und psychischer Störungen? 4 Kommen Kinder i. Allg. mit einer »angeborenen Grammatik« zur Welt, oder wird die Grammatik durch Lernen und Erfahrung erworben? 4 Wird sexuelles Verhalten stärker durch die biologische Veranlagung angetrieben oder mehr durch äußere Anreize hervorgerufen? 4 Sollten wir Depressionen als Krankheit des Gehirns oder als Denkstörung – oder als beides – behandeln? 4 Worin sind wir Menschen uns gleich (dank unserer gemeinsamen Biologie und Evolutionsgeschichte), und worin unterscheiden wir uns (dank unserer unterschiedlichen Umwelten)? 4 Beruhen Geschlechtsunterschiede auf einer biologischen Prädisposition, oder werden sie durch die Gesellschaft hervorgebracht? Die Diskussion geht ständig weiter. Doch immer wieder werden wir herausfinden, dass sich in der modernen Wissenschaft der Gegensatz zwischen Anlage und Umwelt allmählich auflöst: ! Die Umwelt arbeitet mit dem, was durch die Anlage vorgegeben ist.
11 Moderne Psychologie
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Wie ein Ei dem anderen Eineiige Zwillinge haben die gleichen Gene und sind deshalb ideale Versuchspersonen in Untersuchungen zum Einfluss von Anlage und Umwelt auf Temperament, Intelligenz und andere Merkmale. Untersuchungen an eineiigen und zweieiigen Zwillingen liefern ein breites Spektrum an Resultaten (wir kommen später darauf zurück), die die Bedeutung von Anlage und Umwelt unterstreichen
Biologisch ist unsere Spezies mit einer enormen Lern- und Anpassungsfähigkeit ausgestattet. Außerdem ist alles, was sich psychisch abspielt (jeder Gedanke, jedes Gefühl), gleichzeitig auch ein physiologisches Ereignis. Deshalb kann Depression sowohl eine Denkstörung als auch eine Krankheit des Gehirns sein.
Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozialen Ansatz an, und erklären Sie, warum sich die diversen Sichtweisen der Psychologie gegenseitig ergänzen.
Jeder von uns ist ein komplexes System, ist aber auch Teil eines größeren sozialen Systems. Doch wir alle bestehen auch aus kleineren Systemen (wie etwa unserem Nervensystem oder den Organen des Körpers), die wiederum aus noch kleineren Systemen bestehen: Zellen, Molekülen und Atomen.
Biologische Einflüsse 5 genetische Prädispositionen 5 genetische Mutationen 5 natürliche Selektion einer angepassten Physiologie und angepasster Verhaltensweisen 5 Gene, die auf die Umwelt reagieren
Psychologische Einflüsse 5 erlernte Ängste und andere erlernte Erwartungen 5 emotionale Reaktionen 5 kognitive Verarbeitung und Wahrnehmungsinterpretationen
Verhalten und mentale Prozesse
Soziokulturelle Einflüsse 5 Anwesenheit anderer 5 Erwartungen der Kultur, der Gesellschaft und der Familie 5 Einflüsse vonseiten der Gleichaltrigen und einer anderen Gruppe 5 Rollenmodelle, denen man nicht widerstehen kann (wie etwa in den Medien)
. Abb. 1. Biopsychosozialer Ansatz Diese integrierte Sichtweise umfasst verschiedene Analyseniveaus und bietet ein vollständigeres Bild des jeweiligen Verhaltens oder mentalen Prozesses
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Analyseniveaus (levels of analysis): die unterschiedlichen sich gegenseitig ergänzenden Auffassungen zur Analyse irgendeines vorgegebenen Phänomens, die von der biologischen über die psychologische bis zur soziokulturellen Auffassung reichen. Biopsychosozialer Ansatz (biopsychosocial approach): eine integrierende Sichtweise, die biologische, psychologische und soziokulturelle Analyseniveaus berücksichtigt.
Diese unterschiedlichen Systeme legen nahe, auf unterschiedlichen Analyseniveaus zu arbeiten, die einander ergänzende Sichtweisen liefern. Es ist ein bisschen so, als wolle man erklären, warum Grizzlybären Winterschlaf halten. Tun sie es, weil der Winterschlaf das Überleben und die Fortpflanzung ihrer Vorfahren begünstigte? Oder weil ihre innere biologische Veranlagung sie dazu treibt? Oder weil die Futtersuche wegen der Kälte im Winter schwierig ist? All diese Sichtweisen ergänzen sich gegenseitig, denn »alles hängt mit allem zusammen« (Brewer 1996). Zusammen bilden die unterschiedlichen Analyseniveaus einen integrierten biopsychosozialen Ansatz, bei dem die Einflüsse biologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren berücksichtigt werden (. Abb. 1). Jedes Niveau liefert einen wertvollen Ansatzpunkt zur Beobachtung des Verhaltens; dennoch ist jeder für sich genommen unvollständig. Denken Sie beispielsweise einmal darüber nach, wie sich die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologie, die in . Tabelle 1 beschrieben werden, gegenseitig ergänzen können und wie sie Wut in einem anderen Licht erscheinen lassen. 4 Ein Psychologe mit einem evolutionstheoretischen Ansatz würde analysieren, wie Wut bei unseren Urahnen das Überleben der Gene förderte. 4 Ein Psychologe mit einem verhaltensgenetischen Ansatz würde untersuchen, auf welche Weise Anlage und Erfahrung die jeweils individuellen Temperamentsunterschiede beeinflussen. 4 Ein Psychologe mit einem neurowissenschaftlichen Ansatz würde die Hirnströme untersuchen, die den körperlichen Zustand der Wut hervorbringen: »gerötetes Gesicht« oder »der Kragen wird zu eng«. 4 Ein Psychologe mit einem psychodynamischen Ansatz würde einen Wutausbruch als Ventil für eine unbewusste Feindseligkeit betrachten. 4 Ein Psychologe mit einem verhaltenstheoretischen Ansatz würde den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung untersuchen, die mit Wut einhergehen, oder er würde herauszufinden versuchen, welche äußeren Reize zu wütenden Reaktionen oder aggressiven Handlungen führen. 4 Ein Psychologe mit einem kognitiven Ansatz würde untersuchen, wie unsere Interpretation einer Situation unsere Wut beeinflusst und wie die Wut auf unser Denken wirkt.
. Tabelle 1. Aktuelle Ansätze in der Psychologie
Zentrale Fragestellung
Typische Fragen
Neurowissenschaftlicher Ansatz
Auf welche Weise werden durch den Körper und das Gehirn Emotionen, Erinnerungen und sensorische Erfahrungen überhaupt erst möglich?
Wie werden Informationen im Körper weitergeleitet? Welche Verbindung gibt es zwischen der chemischen Zusammensetzung des Bluts und Stimmung bzw. Antrieb?
Evolutionärer Ansatz
Wie fördert die natürliche Selektion von Merkmalen die Weitergabe der eigenen Gene?
Auf welche Weise beeinflusst die Evolution bestimmte Verhaltenstendenzen?
Verhaltensgenetischer Ansatz
Wie stark beeinflussen unsere Gene und unsere Umwelt unsere individuellen Unterschiede?
Wie stark sind psychologische Merkmale wie Intelligenz, Persönlichkeit, sexuelle Orientierung oder Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt? Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt?
Psychodynamischer Ansatz
Wie entwickelt sich Verhalten aus unbewussten Trieben und Konflikten?
Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale oder die Störung eines Menschen in Begriffen wie Sexual- oder Aggressionstrieb oder als maskierten Ausdruck unerfüllter Wünsche und Kindheitstraumata erklären?
Lerntheoretischer Ansatz
Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen?
Wie lernen wir, vor bestimmten Objekten oder Situationen Angst zu haben? Welche wirksamen Methoden gibt es, unser Verhalten zu ändern, etwa abzunehmen oder nicht mehr zu rauchen?
Kognitiver Ansatz
Wie kodieren, verarbeiten und speichern wir Informationen, und wie rufen wir sie wieder ab?
Wie benutzen wir Informationen, wenn wir uns erinnern, argumentieren oder ein Problem lösen?
Soziokultureller Ansatz
Wie variiert Verhalten und Denken je nach Kultur und Situation?
Wir sind Afrikaner, Asiaten, Australier, Europäer oder Amerikaner. Worin gleichen wir uns als Mitglieder der einen menschlichen Familie? Worin unterscheiden wir uns voneinander als Angehörige verschiedener Umwelten?
13 Moderne Psychologie
Dieser Punkt, dass unterschiedliche Ansätze einander ergänzen können, ist wichtig, und gilt auch für unterschiedliche akademische Disziplinen. Jeder wissenschaftliche Ansatz hat seine spezifischen Fragen und seine Begrenzungen. Der Hersteller eines Parfüms braucht die Chemie, um Produkte zu kreieren, die Psychologie, um zu wissen, was sich gut verkauft, und die Betriebswirtschaft, um profitabel zu wirtschaften. Unterschiedliche wissenschaftliche Blickwinkel sind wie verschiedene zweidimensionale Perspektiven beim Betrachten eines dreidimensionalen Gegenstands. Jede der beiden zweidimensionalen Perspektiven ist hilfreich, zeigt jedoch nie das ganze Bild. Vergessen Sie deshalb nicht, dass die Psychologie ihre Grenzen hat. Erwarten Sie nicht, dass die Psychologie so grundsätzliche Fragen beantwortet wie die, die der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1904) gestellt hat: »Warum sollte ich leben? Warum sollte ich irgendetwas tun? Gibt es irgendeinen Lebenszweck, den der unausweichliche Tod, der uns alle erwartet, nicht ungeschehen macht und zerstört?« Stellen Sie sich stattdessen lieber darauf ein, dass die Psychologie Ihnen hilft, zu verstehen, warum Menschen so denken, fühlen und handeln, wie sie es tun. So gesehen werden Sie das Studium der Psychologie faszinierend und hilfreich finden.
Arbeitsfelder der Psychologie Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklären Sie den Unterschied zwischen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie.
Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe können Sie Grundlagenforschung oder angewandte Forschung betreiben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie arbeiten. Wenn Sie sich einen Chemiker vorstellen, dann haben Sie vor Ihrem inneren Auge wahrscheinlich das Bild eines Wissenschaftlers im weißen Kittel, umgeben von Glasgefäßen und Hightechgeräten. Stellen Sie sich einen Psychologen vor, und Sie liegen richtig, wenn Sie folgende Bilder vor Augen haben: 4 einen Wissenschaftler im weißen Kittel, der ein Rattenhirn untersucht; 4 einen Intelligenzforscher, der misst, wie schnell ein Säugling auf ein Bild, das er kennt, mit Langeweile reagiert (indem er wegschaut); 4 einen leitenden Angestellten, der ein neues Programm zum Thema »Lebensstil und Gesundheit« für Angestellte begutachtet; 4 eine Person, die am Computer sitzt und Daten auswertet, um herauszufinden, ob das Temperament von adoptierten Teenagern mehr Ähnlichkeit mit dem Temperament der Adoptiveltern aufweist oder eher dem der biologischen Eltern gleicht; 4 einen Therapeuten, der aufmerksam den depressiven Gedankengängen eines Patienten folgt; 4 einen Reisenden auf dem Weg zu einer anderen Kultur, um dort Daten über die unterschiedlichen Ausprägungen menschlicher Grundwerte und Verhaltensweisen zu sammeln; 4 einen Dozenten oder Autor, der anderen seine Freude an der Psychologie vermittelt. Die verschiedenen Arbeitsfelder, die unter den Begriff »Psychologie« fallen, sind weniger einheitlich, als es in anderen Wissenschaften der Fall ist. Doch das hat seine positiven Seiten: In der Psychologie begegnen sich verschiedene Disziplinen; deshalb ist sie das ideale Feld für Menschen mit weit gespannten Interessen. Im Rahmen der diversen Tätigkeitsfelder der Psychologie, die von biologischen Experimenten bis hin zu kulturvergleichenden Studien reichen, gibt es jedoch eine gemeinsame Fragestellung: die Beschreibung und Erklärung von Verhalten und der mentalen Prozesse, die ihm zugrunde liegen.
M. Barton
4 Ein Psychologe mit einem soziokulturellen Ansatz würde erforschen, welche Situationen die größte Wut bewirken und wie sich der Ausdruck von Wut von einer Kultur zur anderen unterscheidet.
Wut Wie würden die Vertreter der verschiedenen Ansätze in der Psychologie erklären, was hier vorgeht?
Grundlagenforschung (basic research): reine Wissenschaft zur Vermehrung des Wissens und der Kenntnisse.
Psychologen betreiben Grundlagenforschung und vergrößern damit die Wissensbasis der Psychologie. Auf den folgenden Seiten werden wir einige Forschungsgebiete der Grundlagenforschung kennen lernen: 4 Psychophysiologen erforschen die Verbindungen zwischen Gehirn und dem Mentalen. 4 Entwicklungspsychologen erforschen, wie sich unsere Fähigkeiten im Lauf unseres Lebens verändern. 4 Kognitionspsychologen machen Experimente, um festzustellen, wie wir wahrnehmen, denken und Probleme lösen. 4 Differentielle Psychologen untersuchen unsere überdauernden Persönlichkeitsmerkmale. 4 Sozialpsychologen erforschen, wie wir einander wahrnehmen und beeinflussen.
Angewandte Forschung (applied research): wissenschaftliche Untersuchungen zur Lösung konkreter Probleme.
Diese Psychologen können auch angewandte Forschung betreiben, die sich praktischen Problemen zuwendet. Das gilt beispielsweise für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, die das Verhalten am Arbeitsplatz untersuchen und Verbesserungen vorschlagen. Sie nutzen psychologische Konzepte und Methoden, um Organisationen und Firmen bei der Einstellung von Mitarbeitern zu helfen, und machen Vorschläge für eine wirkungsvollere Ausbildung der dort Beschäftigten. Sie fördern die Arbeitsmoral und die Produktivität, sie entwickeln ein Produktdesign oder führen ein neues Bewertungssystem ein. Die meisten Psychologielehrbücher konzentrieren sich auf die Psychologie als Wissenschaft, doch gehört sie auch zu den helfenden Berufen und berührt damit so konkrete Fragen, wie man
M. Barton
Psychologie: Wissenschaft und Beruf Psychologen beobachten, testen und behandeln Verhalten. Hier sehen wir einen Beobachtungsraum mit Einwegscheibe, hinter der ein Psychologe das Verhalten eines Kindes beobachtet, einen anderen Psychologen, der eine Versuchsperson testet, und eine Psychologin, die ein Therapiegespräch führt
Jürgen Hoyer
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Jürgen Hoyer
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15 Moderne Psychologie
Psychologische Beratung (counseling psychology): ein Zweig der Psychologie, der Menschen bei Problemen hilft, die sie im Leben (oft in Bezug auf Schule, Arbeit oder Ehe) und beim Erreichen eines besseren Allgemeinzustands haben.
Klinische Psychologie (clinical psychology): Teildisziplin der Psychologie; klinische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Patienten mit psychischen Störungen.
Psychiatrie (psychiatry): Teildisziplin der Medizin, wird von Ärzten mit Facharztausbildung (Psychiater) ausgeübt. Psychiater dürfen psychische Störungen mit Psychotherapie, aber auch mit Psychopharmaka behandeln.
»Hat sich der Geist erst einmal der Dimension einer größeren Idee geöffnet, kehrt er nie zu seiner früheren Größe zurück.« Oliver Wendell Holmes (1809–1894)
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eine glückliche Ehe führt oder wie man Ängste oder Depressionen überwindet. Psychologen, die in der Beratung tätig sind, helfen den Menschen dabei, Herausforderungen in ihrem Leben (Probleme beim Studium, im Beruf und in der Ehe) zu bewältigen, indem sie ihre Stärken und Ressourcen erkennen. Diese Fragen betreffen auch das Arbeitsfeld der klinischen Psychologen, die mentale, emotionale und Verhaltensprobleme diagnostizieren und behandeln (APA 2003). Sowohl psychologische Psychotherapeuten als auch klinische Psychologen testen Patienten, werten die Tests aus und kümmern sich um Beratung und Therapie; sie arbeiten aber manchmal auch in der Grundlagen- oder in der angewandten Forschung. Ein Psychiater dagegen, der auch Psychotherapie anbieten kann, ist Arzt und darf Medikamente verordnen und die physischen Ursachen psychischer Störungen auch auf andere Weise behandeln. (Seitens der klinischen Psychologen gibt es Bestrebungen, bei psychischen Störungen ebenfalls Psychopharmaka verordnen zu dürfen. In den USA hat New Mexico 2002 dieses Recht Psychologen mit Spezialausbildung eingeräumt.) Die Psychologie hat einen Bezug zu vielen anderen Disziplinen. Dies umfasst Bereiche von der Biologie bis zur Soziologie; die Palette der Arbeitsplätze für Psychologen reicht vom Labor bis zur Klinik. Immer häufiger kooperiert die Psychologie mit anderen Disziplinen: von der Mathematik über die Biologie bis hin zur Soziologie und Philosophie. Und immer öfter werden die Methoden und Resultate der Psychologie auch von anderen Fachrichtungen genutzt. Psychologen lehren an medizinischen und juristischen Fakultäten und sogar bei den Theologen; sie arbeiten in Krankenhäusern, Fabriken und den Büros der großen Konzerne. Sie arbeiten in interdisziplinären Studien mit (wie z. B. bei der psychologischen Analyse historischer Persönlichkeiten in der Geschichtswissenschaft oder in der Psycholinguistik, wo es um Sprache und Denken geht). Die Psychologie nimmt auch Einfluss auf die moderne Kultur. Wissen verändert die Menschen. Neue Erkenntnisse über das Sonnensystem oder die Theorie der Krankheitserreger verändern die Art, wie Menschen denken und handeln. Auch die Erkenntnisse der Psychologie bewirken Veränderungen bei den Menschen. Psychische Störungen werden nicht mehr so ohne weiteres als moralisches Fehlverhalten abqualifiziert, auf das man mit Bestrafung oder Ausgrenzung reagiert. Auch werden Frauen nicht mehr so oft als Menschen angesehen, die dem Mann unterlegen sind. Und in der Erziehung hält man Kinder nicht mehr unbedingt für willige, aber unwissende Tiere, die gezähmt werden müssen. »In all diesen Beispielen«, vermerkt Hunt (1990, S. 206), »hat Wissen zu einer veränderten Einstellung und damit zu einer Verhaltensänderung beigetragen.« Die Psychologie hat wohl fundierte und gründlich überprüfte Ideen zu bieten: in welcher Beziehung Körper und Geist zueinander stehen, wie sich das Denken eines Kindes allmählich entwickelt, wie wir unsere Wahrnehmungen konstruieren, wie wir uns an unsere Erfahrungen erinnern (und wie wir uns falsch erinnern), wie sich die Menschen dieser Welt voneinander unterscheiden bzw. einander ähnlich sind – und sobald Sie mit diesen Gedanken in Berührung gekommen sind, denken Sie nicht mehr so wie vorher.
Ich seh’ dich! Ein Psychophysiologe könnte in der entzückten Reaktion des Kindes ein Zeichen von Hirnreifung sehen. Ein kognitiver Psychologe sieht darin ein Anzeichen für das wachsende Verständnis des Kindes für seine Umwelt. Der Psychologe aus der kulturübergreifenden Forschung interessiert sich für die Rolle der Großeltern in verschiedenen Kulturen. Sie werden in diesem Buch immer wieder auf verschiedene, einander ergänzende Perspektiven stoßen
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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Lernziele Moderne Psychologie Die Psychologie breitet sich aus und wird global. In 69 Ländern auf der Erde arbeiten, lehren und forschen Psychologen in vielen Bereichen. Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz zusammen, und beschreiben Sie das Prinzip der natürlichen Selektion. Bei der wichtigsten der immer wieder diskutierten Fragen geht es um das Gleichgewicht zwischen dem Einfluss von Anlage (der Gene) und Umwelt (alle anderen Einflüsse, denen wir von der Zeugung bis zum Tod ausgesetzt sind). Philosophen haben lange darüber diskutiert, ob die Anlage (wie es Plato und Descartes meinten) oder die Umwelt (wie es Aristoteles und Locke meinten) wichtiger ist. Charles Darwin schlug einen Mechanismus vor – das Prinzip der natürlichen Selektion –, nach dem die Natur zufällige Variationen selegiert, die die Lebewesen in die Lage versetzen, in bestimmten Umwelten zu überleben und sich fortzupflanzen. Psychologen sind heute der Auffassung, dass in den meisten Fällen jedes psychische Ereignis gleichzeitig ein biologisch-körperliches Ereignis ist. Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen (dazu gehören auch Studien über eineiige und zweieiige Zwillinge) lässt die relative Bedeutung der drei Gruppen von Einflüssen auf solche Merkmale wie Persönlichkeit und Intelligenz in einem neuen Licht sehen. Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozialen Ansatz an, und erklären Sie, warum sich die diversen Sichtweisen der Psychologie gegenseitig ergänzen. Im biopsychosozialen Ansatz werden Informationen aus dem biologischen, dem psychologischen und dem soziokulturellen Analyseniveau miteinander vereint. Psychologen untersuchen das Verhalten des Menschen und seine mentalen Prozesse von unterschiedlichen Blickwinkeln
aus (dazu gehören die Sichtweise der Neurowissenschaft, der Evolutionstheorie, der Verhaltensgenetik, der Psychodynamik, der Lerntheorie, der Kognitionstheorie und der soziokulturellen Theorie). Wenn man die Informationen, die in diesen vielen Forschungssträngen gesammelt werden, zusammenführt, so ergibt sich ein umfassenderes Verständnis des Verhaltens und der mentalen Prozesse, als dies möglich wäre, wenn man sich auf eine einzelne Sichtweise beschränkte. Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklären Sie den Unterschied zwischen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie. Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe können Sie Grundlagenforschung oder angewandte Forschung betreiben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie arbeiten. Zu den Arbeitsfeldern der Psychologie gehören also Grundlagenforschung (meist ausgeübt von Psychophysiologen, Entwicklungs- und Kognitions-, Differentiellen und Sozialpsychologen), angewandte Forschung (u. a. praktiziert von Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen) sowie die klinische Anwendung (die Arbeit von psychologischen Beratern und von klinischen Psychologen). Klinische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Menschen mit psychischen Störungen (mit Hilfe der Psychotherapie); Psychiater untersuchen, testen und behandeln ebenfalls Menschen mit Störungen, aber sie sind Mediziner, die sowohl Medikamente verschreiben als auch Psychotherapie anbieten können. > Denken Sie weiter: Als Sie sich für diesen Studiengang einschrieben, was glaubten Sie da, worum es in der Psychologie geht?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Durch welche Ereignisse wurde die wissenschaftliche Psychologie begründet? 2. Welches sind die Hauptanalyseniveaus der Psychologie.
L Deutsche Literatur zum Thema Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Graumann, C.F. (1985). Psychologie im Nationalsozialismus. Heidelberg: Springer. Lück, H.E. (2002). Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen, 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Lück, H.E., Miller, R. (2002). Illustrierte Geschichte der Psychologie. Weinheim: Beltz. Lück, H.E., Grünwald, H., Geuter, U., Miller, R., Rechtien, W. (1987). Sozialgeschichte der Psychologie: eine Einführung. Opladen: Leske & Budrich. Pongratz, L.J. (1984). Problemgeschichte der Psychologie. München: UTB Francke. Schneider, W. (2005). Zur Lage der Psychologie in Zeiten hinreichender, knapper und immer knapperer finanzieller Ressourcen: Entwicklungstrends der letzten 35 Jahre. Psychologische Rundschau, 56, 2–19. Schönpflug, W. (2000). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: PVU. Volkmann-Raue, S., Lück, H.E. (2002). Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften. Weinheim: Beltz.
1 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie 1.1
Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? –18
1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes 1.1.2 Wissenschaftliches Denken – 22 1.1.3 Wissenschaftliche Methode – 24
1.2
Beschreibung
– 18
–26
1.2.1 Einzelfallstudie – 26 1.2.2 Befragung – 27 1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) – 29
1.3
Korrelation
–30
1.3.1 Korrelation und Kausalität – 32 1.3.2 Illusorische Korrelationen – 34 1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen
1.4
Experiment –36
1.4.1 Ursache und Wirkung – 36 1.4.2 Therapieevaluation – 37 1.4.3 Unabhängige und abhängige Variablen
1.5
– 35
– 38
Grundlagen statistischer Argumentation –40
1.5.1 Datenbeschreibung – 41 1.5.2 Inferenzstatistik – 43
1.6
Häufig gestellte Fragen zur Psychologie –45
Andere Kulturen, andere Perspektiven I note the obvious differences in the human family. Some of us are serious, some thrive on comedy.
I know ten thousand women called Jane and Mary Jane, but I’ve not seen any two who really were the same.
We seek success in Finland, are born and die in Maine, In minor ways we differ, in major we’re the same.
Some declare their lives are lived as true profundity, and others claim they really live the real reality.
Mirror twins are different although their features jibe, and lovers think quite different thoughts while lying side by side.
I note the obvious differences between each sort and type, but we are more alike, my friends, than we are unalike.
The variety of our skin tones can confuse, bemuse, delight, brown and pink and beige and purple, tan and blue and white.
We love and lose in China, we weep on England’s moors, and laugh and moan in Guinea, and thrive on Spanish shores.
We are more alike, my friends, than we are unalike. We are more alike, my friends, than we are unalike.
I’ve sailed upon the seven seas and stopped in every land, I’ve seen the wonders of the world, not yet one common man. Maya Angelou (geb. 1928), aus Human Family, 1994, The Complete Collected Poems of Maya Angelou
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1
> Viele Menschen finden »Psychologie« hochinteressant, weil sie neugierig auf andere Menschen sind und weil sie hoffen, mit psychologischem Wissen ihre eigenen kleinen Leiden heilen zu können. Sie hören sich Radiosendungen zu psychologischen Themen an, lesen Artikel über die Kräfte der Seele, nehmen an Hypnoseseminaren zur Raucherentwöhnung teil und verschlingen Selbsthilfebücher über die Bedeutung der Träume, den Pfad zur ekstatischen Liebe und darüber, wie man persönliches Glück erlangt. Andere wiederum fragen sich angesichts mancher psychologischer Wahrheiten: Stimmt es, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt entsteht? Können wir den Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch trauen, die ein Erwachsener in seinem Gedächtnis »freilegt«, und sollen wir daraufhin den angeblichen Täter gerichtlich verfolgen? Sind erstgeborene Kinder stärker leistungsorientiert? Sagt die Handschrift eines Menschen etwas über seine Persönlichkeit aus? Kann Psychotherapie heilen? Wie können wir bei solchen Fragen simple Meinungen, die nicht auf Informationen beruhen, von stichhaltigen Schlussfolgerungen unterscheiden? Wie können wir die Psychologie so sinnvoll einsetzen, dass wir verstehen, warum die Menschen so und nicht anders denken, fühlen und handeln?
»Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken.« Adolf Hitler, 1889–1945
1.1
Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
In dem Maße, wie wir uns die wissenschaftliche Herangehensweise der Psychologie zu Eigen machen und die zugrunde liegenden psychologischen Prinzipien in unser Alltagsdenken integrieren, werden wir scharfsinniger und ideenreicher, einfach cleverer denken. Zwei Phänomene – der Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) und die Überschätzung unserer Urteilsfähigkeit – machen deutlich, warum wir uns nicht nur auf Intuition und gesunden Menschenverstand verlassen können. Kritisches Hinterfragen aus einer quasi wissenschaftlichen Haltung heraus, gepaart mit Neugier, Skepsis und Bescheidenheit, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unterscheiden.
1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes
M. Barton
Die Grenzen der Intuition Personalchefs neigen dazu, ihren »Bauchgefühlen« bei der Beurteilung von Stellenbewerbern zu sehr zu vertrauen, zum einen, weil sie sich an die Fälle erinnern, in denen sich ihr guter Eindruck als richtig erwies, zum anderen, weil sie nicht wissen, dass ein von ihnen abgelehnter Bewerber in einer anderen Firma erfolgreich war
Manche Menschen sagen, Psychologie sei letztlich nichts anderes als in einen Fachjargon gepresstes Allgemeinwissen. »Gibt es etwas Neues unter der Sonne? Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr mit ausgefallenen Methoden das beweist, was meine Großmutter schon immer wusste.« Andere Menschen glauben an die intuitiven Fähigkeiten des Menschen und blicken voll Verachtung auf eine an der Wissenschaft orientierte Denkweise. Sie machen sich zum Anwalt des »intuitiven Managements« und fordern uns auf, auf die Vorhersagen der Statistik zu verzichten und uns bei Einstellungen, Entlassungen und Investitionen lieber auf unser Gefühl zu verlassen. Sollten wir nicht lieber wie Luke Skywalker in »Star Wars« unserer inneren Kraft vertrauen? Tatsächlich aber schreibt die Schriftstellerin Madeleine L’Engle (1972): »Der bloße Intellekt ist ein ausgesprochen ungenaues Werkzeug.« Unsere Intuition kann uns in die Irre führen.
19 1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
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? Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier 100-mal. Wie dick würde es dann etwa sein? (7 Antwort 1.1 am Ende des Kapitels) ? Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben, damit es überall 1 m über der Erdoberfläche schwebte? (7 Antwort 1.2 am Ende des Kapitels)
Mit dem gesunden Menschenverstand verhält es sich ebenso. Wir alle sind hinterher immer klüger: Weil wir jetzt wissen, was geschehen ist, gehen wir davon aus, wir hätten vorhersehen können, was geschehen würde.
War das nicht klar? Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) Ziel 1: Beschreiben Sie den Hindsightbias und erklären Sie, wie er die Menschen zu der Auffassung bringen kann, dass Forschungsbefunde allem Anschein nach nur etwas sind, was man sich mit dem gesunden Menschenverstand schon ausmalen konnte. »Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen es rückwärts.« Der Philosoph Søren Kierkegaard, 1813–1855
Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht): Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, man hätte es vorhersehen können (auch bekannt als »Rückschaufehler«).
»Geschichte wird mit dem Blick durch den Rückspiegel geschrieben, aber sie entfaltet sich durch eine trübe Windschutzscheibe.« Samuel Berger. Sicherheitsberater von Präsident Clinton vor einer Kommission zum 11. September (Bericht der Kommission, 2004)]
»Alles scheint ein Gemeinplatz zu sein, wenn es erst einmal erklärt ist.« Dr. Watson zu Sherlock Holmes
Tim Boyle/Getty Images
Es ist leicht, schlau zu sein und das Schwarze erst dann um den Pfeil zu malen, wenn er schon getroffen hat. Nach jedem Abwärtstrend der Börse sagen die Investmentgurus, die Börse sei doch ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. Nachdem am 11. September 2001 der erste Turm des World Trade Centers in New York getroffen worden war, hätten die Menschen im zweiten Turm sofort evakuiert werden müssen – sagten die Kommentatoren hinterher (dabei war zunächst gar nicht klar, dass es sich um einen Terrorangriff und nicht um einen Unfall handelte). Und wenn ein Arzt Informationen über einen Krankheitsfall plus einen Autopsiebericht in der Hand hat, ist seiner Meinung nach die Todesursache absolut eindeutig, und er schließt daraus, er hätte sie anhand der Symptome leicht vorhersagen können. Doch bevor der Pfeil die Scheibe trifft, die Börse einbricht, der Terrorangriff stattfindet oder der Tod eintritt, sind diese Folgen absolut nicht vorhersehbar. Für einen Arzt ist zum Beispiel eine Todesursache nicht so leicht zu erkennen, wenn er nur die Symptombeschreibung kennt, aber keinen Autopsiebericht zur Hand hat (Dawson et al. 1988). Diese nachträgliche Art, die Dinge zu sehen, nennen die Psychologen Paul Slovic und Baruch Fischhoff (1977) den Hindsightbias, auch bekannt als »Rückschaufehler«. Dieses Phänomen ist leicht zu demonstrieren: Geben Sie einer Gruppe einen angeblich wissenschaftlichen Befund, während Sie einer anderen Gruppe das genaue Gegenteil als wissenschaftlichen Befund präsentieren. Zu der ersten Gruppe sagen Sie: »Psychologen haben herausgefunden, dass Trennung die romantische Anziehung abschwächt. Das Sprichwort sagt es ja auch: ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹«. Dann bitten Sie die Teilnehmer, darüber nachzudenken, warum das so ist. Die meisten Menschen können und werden an diesem wahren Befund nichts Erstaunliches finden. Der zweiten Gruppe erzählen Sie das genaue Gegenteil, nämlich: »Psychologen haben herausgefunden, dass romantische Anziehung durch Trennung stärker wird. Wie das Sprichwort sagt: ›Trennung lässt die Liebe wachsen‹«. Die Teilnehmer werden auch dieses nicht richtige Resultat mühelos erklären, und die überwiegende Mehrheit wird darin den gesunden Menschenverstand sehen und nicht überrascht sein. Wenn demnach sowohl das eine Ergebnis als auch sein Gegenteil mit dem »gesunden Menschenverstand« erklärt werden kann, dann haben wir hier ganz offensichtlich ein Problem. Derartige Irrtümer bei unserem Erinnerungsvermögen und unseren Erklärungsversuchen machen deutlich, weshalb wir eine psychologische Forschung brauchen. Die Antwort auf die Frage, was ein Mensch gefühlt und warum er so und nicht anders gehandelt hat, kann irreführend sein, und zwar nicht deshalb, weil der gesunde Menschenverstand uns immer in die Irre schickt,
Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsight-Bias) Nach dem Schrecken des 11. September war klar, dass der amerikanische Geheimdienst Warnungen im Vorfeld der Anschläge hätte ernster nehmen sollen, dass der Sicherheitsdienst auf den Flughäfen auch an Terroristen mit Teppichmessern hätte denken müssen und dass die Menschen im zweiten Turm besser auf Nummer Sicher gegangen wären und den Turm verlassen hätten. Im Nachhinein wird alles völlig klar
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
sondern weil die Antwort nach dem Ereignis gegeben wird. So sagte der Physiker Niels Bohr angeblich: »Vorhersagen sind recht schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.«
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! Der gesunde Menschenverstand erklärt eher, was vorgegangen ist, als dass er vorhersagen könnte, was vorgehen wird.
C. Styrsky
Bei dem Hindsightbias handelt sich um ein weit verbreitetes Phänomen. Es wurde in mehr als 100 Studien sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen in vielen unterschiedlichen Ländern beobachtet (Bernstein et al. 2004; Guilbault et al. 2004). Dennoch hat der gesunde Menschenverstand häufig Recht. Yogi Berra sagte einmal: »Du kannst vieles beobachten, wenn du genau hinschaust.« Wir alle sind gute Beobachter und beobachten das Verhalten um uns herum. Deshalb wäre es schon erstaunlich, wenn nicht zumindest ein paar Ergebnisse der psychologischen Forschung schon vorher bekannt gewesen wären. Viele Menschen glauben, dass Liebe Glück hervorbringt – und sie haben Recht (wir alle haben ein »Bedürfnis, zu jemandem zu gehören«, wie wir in 7 Kap. 12 erfahren werden). Daniel Gilbert, Brett Pelham und Douglas Krull (2003) merken sogar an: »Gute Ideen aus dem Bereich der Psychologie kommen uns oft seltsam vertraut vor. Und in dem Augenblick, in dem wir auf sie stoßen, meinen wir, sicher zu sein, dass wir schon einmal nahe daran waren, das Gleiche zu denken, und es einfach nur nicht geschafft haben, den Gedanken niederzuschreiben.« Doch manchmal liegt der gesunde Menschenverstand und seine Intuition völlig daneben. Vielleicht sagt uns unsere Intuition, dass Aufdringlichkeit zu Geringschätzung führt, dass Träume die Zukunft vorhersagen oder dass emotionale Reaktionen mit der jeweiligen Menstruationsphase zusammenhängen. Dabei stützen wir uns auf die Informationen, die wir aus unzähligen beiläufigen Beobachtungen gewonnen haben. Wie wir in den späteren Kapiteln sehen werden, zeigen die Forschungsergebnisse, dass unsere Annahmen grundfalsch sind. Wissen Sie, welche populären Vorstellungen in . Tab. 1.1 durch die psychologische Forschung bestätigt und welche widerlegt wurden? Wir werden in diesem Buch immer wieder erfahren, wie die Forschung unsere lieb gewonnenen Vorstellungen vom Altern, von Schlaf und Träumen oder von dem, was wir unter Persönlichkeit verstehen, manchmal über den Haufen wirft und manchmal bestätigt. Wir werden auch sehen, welche Überraschungen uns die Forschung mit ihrer Entdeckung der chemischen Botenstoffe des Gehirns bereitet, die unsere Stimmungen und unsere Erinnerungen steuern, oder mit den Forschungsergebnissen dazu, über welche Fähigkeiten Tiere verfügen und wie sich Stress auf unsere Fähigkeit zur Krankheitsabwehr auswirkt.
. Tabelle 1.1. Wahr oder falsch? Die psychologische Forschung, die in den folgenden Kapiteln behandelt wird, wird jede Einzelne der folgenden Aussagen entweder bestätigen oder widerlegen. (Nach Furnham et al. 2003) 1.
Wenn Sie jemandem eine Gewohnheit beibringen wollen, die er dauerhaft beibehält, sollten Sie das erwünschte Verhalten jedes Mal und nicht nur intermittierend belohnen (7 Kap. 8).
2.
Patienten, deren Gehirn chirurgisch in der Mitte durchtrennt wurde, überleben die Operation und sind weitgehend so funktionstüchtig wie vor der Operation (7 Kap. 2).
3.
Traumatische Erfahrungen wie etwa sexueller Missbrauch oder das Überleben des Holocausts werden typischerweise aus dem Gedächtnis verdrängt (7 Kap. 9 und 15).
4.
Die meisten missbrauchten Kinder werden keine missbrauchenden Erwachsenen (7 Kap. 4).
5.
Die meisten Säuglinge erkennen gegen Ende des ersten Lebensjahrs ihr eigenes Bild im Spiegel (7 Kap. 4).
6.
Adoptierte Geschwister neigen nicht dazu, ähnliche Persönlichkeiten zu entwickeln, obwohl sie von denselben Eltern großgezogen werden (7 Kap. 3).
7.
Die Furcht vor harmlosen Objekten wie Blumen ist genauso schnell erlernbar wie die Furcht vor potenziell gefährlichen Objekten wie Schlangen (7 Kap. 13).
8.
Tests mit einem Lügendetektor sind oft trügerisch (7 Kap. 13).
Anmerkung: Die Antworten auf die Fragen finden Sie am Ende des Kapitels (1.3).
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Übertriebene Selbstsicherheit Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser Urteil trübt.
Unser Alltagsdenken stößt nicht nur mit dem nachträglichen gesunden Menschenverstand an seine Grenzen, sondern auch mit der allgemeinen menschlichen Tendenz, zu viel Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit zu haben. 7 Kap. 10 erklärt, wie wir dazu neigen, zu glauben, wir wüssten mehr, als wir tatsächlich wissen. Auf die Frage, wie sicher wir sind, die richtige Antwort auf eine Sachfrage zu wissen (z. B. Liegt Boston weiter nördlich oder weiter südlich als Paris?) antworten wir eher mit Selbstvertrauen als mit korrektem Wissen (Boston liegt weiter südlich als Paris). Schauen Sie sich einmal die drei folgenden Anagramme an: Serwas Tessmy Hartox
o o o
@ Witzige Anagramme von http: //www.anagramme.de: Universitaet = Niveaustreit Albert Einstein = etablierte Sinn Altes Testament = Tatenmesslatte Uli Hoeness = Sushi Leone Wolfgang Amadeus Mozart = A famous German waltzgod
Wasser System Thorax
Denken Sie einen Moment nach: Was glauben Sie, wie viele Sekunden Sie gebraucht hätten, um die Anagramme aufzulösen? Sobald man die Lösung kennt, sorgt die nachträgliche Einsicht dafür, dass sie uns absolut selbstverständlich erscheint. Das führt zu übertriebenem Selbstvertrauen. Wir glauben, wir hätten die Lösung in höchstens 10 Sekunden gefunden, während tatsächlich der Durchschnitt bei 3 Minuten liegt. Und diese 3 Minuten hätten Sie auch gebraucht, wenn Sie die Lösung nicht gekannt hätten. ? Probieren Sie es mit einem weiteren Anagramm aus: ACHENFI (7 Antwort 1.4 am Ende des Kapitels).
Sind wir besser, wenn es darum geht, unser soziales Verhalten vorherzusagen? Valone et al. (1990) ließen Studenten zu Beginn des Semesters vorhersagen, ob sie ein Seminar aus ihrem Plan streichen, sich an einer bevorstehenden Wahl beteiligen, ihre Eltern mehr als zweimal im Monat anrufen würden und dergleichen mehr. Im Durchschnitt fühlten sich die Studenten bei ihren Vorhersagen zu 84% sicher. Spätere Fragen zum tatsächlichen Verhalten ergaben, dass nur 71% ihrer Vorhersagen korrekt waren. Selbst wenn sie angaben, hundertprozentig sicher zu wissen, wie sie sich verhalten würden, lag ihre Irrtumsquote bei 15%. Nicht nur College-Studenten irren sich bei ihren Vorhersagen. Philip Tetlock von der Ohio State University sammelte 12 Jahre lang die Vorhersagen von Experten zur politischen, ökonomischen und militärischen Situation. So forderte er zum Beispiel in den 80er Jahren renommierte Professoren, Analytiker aus Denkfabriken, Regierungsexperten und Journalisten auf, eine Prognose zu stellen, wie die Regierung der UdSSR oder die Situation in Südafrika in 5 Jahren aussehen würde. Dabei sollten sie auch bewerten, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Als die 5 Jahre vergangen waren (und der Kommunismus in der Sowjetunion zusammengebrochen war und Südafrika sich in eine multiethnische Demokratie verwandelt hatte), bat Tetlock die Experten, sich an ihre Vorhersagen, die – wie in den Laborversuchen – weitaus mehr von Selbstsicherheit zeugten als von korrektem Wissen, zu erinnern und sie zu überdenken. Experten, die angegeben hatten, ihrer Sache zu über 80% sicher zu sein, hatten in weniger als 40% der Fälle Recht behalten. Trotz ihrer schlechten Trefferquoten tendierten die Experten mit den falschen Prognosen fast so sehr wie die mit den richtigen Prognosen dazu, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre anfängliche Analyse im Grunde genommen immer noch richtig war. Viele hatten das Gefühl, »beinahe Recht« gehabt zu haben. »Die Hardliner in der sowjetischen Regierung hätten mit ihrem Putschversuch gegen Gorbatschow ›beinahe‹ Erfolg gehabt.« – »Wären nicht gerade De Klerk und Mandela aufeinandergetroffen, wäre der Übergang zur schwarzen Mehrheitsregierung niemals so unblutig verlaufen.« Deshalb ist das übertriebene Selbstvertrauen von politischen Experten (und Börsenanalysten und Sportkommentatoren) schwer zu erschüttern, ganz gleich, wie das Ergebnis lautet. ! Hindsightbias und übertriebene Selbstsicherheit bringen uns dazu, unsere Intuition zu überschätzen. Aber die wissenschaftliche Forschung kann uns in Verbindung mit Skepsis und Bescheidenheit dazu verhelfen, Realität und Täuschung voneinander zu unterschieden.
»Ihr Sound gefällt uns nicht. Gitarrengruppen sind nicht mehr gefragt.« Erklärung von Decca Records, warum sie mit den Beatles 1962 keinen Plattenvertrag schließen wollten
»Die Computer der Zukunft werden wahrscheinlich nicht einmal eineinhalb Tonnen wiegen.« Die Zeitschrift »Popular Mechanics« (1949)
»Für unsere amerikanischen Vettern mag das Telefon ja eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für uns. Wir haben genügend Botenjungen.« Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfindung des Telefons
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1.1.2 Wissenschaftliches Denken Ziel 3: Erklären Sie, wie die wissenschaftliche Haltung kritisches Denken fördert.
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»Der Wissenschaftler muss die Freiheit haben, jede Frage zu stellen, jede Behauptung anzuzweifeln, immer um einen Beleg zu fragen, jeden Fehler zu korrigieren.« Der Physiker J. Robert Oppenheimer, »Life« am 10. Oktober 1949
Was aller Wissenschaft in erster Linie zugrunde liegt, sind hartnäckige Neugier und die Leidenschaft, Dinge zu erforschen und zu verstehen. Dabei will man weder Irrtümer in die Welt setzen noch ihnen erliegen. Manche Fragen gehen über die Wissenschaft hinaus (Gibt es ein Leben nach dem Tod?). Die Antwort auf solche Fragen erfordert auch ein Stück Glauben. Wie bei vielen anderen Ideen (Gibt es Menschen mit übersinnlicher Wahrnehmung? Und lässt sich dies nachweisen?) ist auch hier die Frage des Beweises ausschlaggebend. Ganz gleich, wie sinnvoll oder wie verrückt eine Idee auch sein mag: Die hartnäckige Frage lautet: Klappt es? Lässt sich das, was vorhergesagt wird, durch Überprüfung bestätigen? Das wissenschaftliche Denken hat eine lange Geschichte. Schon Moses machte davon Gebrauch. Wie bewertet man einen selbst ernannten Propheten? Seine Antwort lautete: Unterzieht ihn einer Prüfung. Tritt das vorhergesagte Ereignis nicht ein oder kann es nicht bewiesen werden, dann ist das Pech für den Propheten (5. Moses 18, 22). Der Zauberer James Randi bedient sich derselben Methode, wenn er die auf den Prüfstand stellt, die behaupten, die Aura des Menschen sehen zu können. Randi: Sehen Sie eine Aura um meinen Kopf? Aura-Seher: Ja, ich sehe tatsächlich Ihre Aura. Randi: Und wenn ich diese Zeitschrift vor mein Gesicht halte, können Sie die Aura dann immer noch sehen? Aura-Seher: Natürlich. Randi: Wenn ich mich also hinter diese Wand stelle, die kaum höher ist als ich, dann könnten Sie feststellen, wo ich stehe, weil die Aura über meinem Kopf zu sehen ist. Richtig?
»Ein Skeptiker ist ein Mensch, der bereit ist, Wahrheitsbehauptungen in Frage zu stellen. Er fordert eindeutige Definitionen, lückenlose Logik und überzeugende Beweise.« Der Philosoph Paul Kurtz (»The Sceptical Inquirer«, 1994)
Nach Randis Aussage war noch nie ein Aura-Seher bereit, sich dieser Prüfung zu unterziehen Manchmal finden verrückt klingende Ideen Unterstützung, wenn sie einer so genauen Prüfung unterzogen werden. Galileo Galilei, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts öffentlich für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus eintrat, musste 1633 »seinem Irrtum« abschwören, obwohl er nach der Legende bis zuletzt der Inquisition mit den Worten »Und sie [die Erde] bewegt sich doch« trotzte. Manchmal widerlegt dann die weitere wissenschaftliche Untersuchung die Skeptiker – und 1992 wurde Galileo Galilei schließlich auch von der römisch-katholischen Kirche rehabilitiert.Doch meistens werden verrückt klingende Ideen auf den Müllhaufen der vergessenen Behauptungen geworfen, wo sich bereits das Perpetuum mobile, das Wunderheilmittel gegen Krebs und die körperlosen Reisen in längst vergangene Jahrhunderte befinden! Wenn wir Phantasie von Wirklichkeit und Sinn von Unsinn unterscheiden wollen, brauchen wir die Einstellung eines Wissenschaftlers: Skepsis ohne Zynismus und Offenheit ohne Leichtgläubigkeit. Die wissenschaftlich tätigen Psychologen betrachten Verhalten mit neugieriger Skepsis. Sie stellen ständig zwei Fragen: »Was meinen Sie damit?« und »Woher wissen Sie das?«. Im Geschäftsleben lautet das Motto: »Zeig mir das Geld«, in der Wissenschaft lautet es: »Lass mich den Beweis sehen«. Übt das Verhalten der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer Kinder aus? Sagt der Lügendetektor die Wahrheit? Kann ein Astrologe aufgrund der Planetenposition im Augenblick Ihrer Geburt Ihren Charakter analysieren und Ihre Zukunft vorhersagen? In den folgenden Kapiteln werden Sie erfahren, dass eine genaue Überprüfung dieser Behauptungen die meisten Psychologen dazu gebracht hat, sie anzuzweifeln. In der Arena der miteinander konkurrierenden Ideen kann ein skeptischer Test aufzeigen, welche Idee am besten zu den Fakten passt. Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer Gewissheit im Glauben will, muss mit Zweifeln anfangen.« Die praktische Umsetzung dieser wissenschaftlichen Haltung erfordert nicht nur Skepsis, sondern auch Bescheidenheit, denn wir müssen vielleicht auch unsere eigenen Ideen verwerfen. Nicht meine oder Ihre Meinung zählt bei der abschließenden Analyse, sondern die Wahrheiten,
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die die Natur auf unser Forschen hin preisgibt. Wenn sich die Leute nicht so verhalten, wie unsere Vorstellungen das vorhersagen, dann ist das Pech für unsere Vorstellungen. Das ist die bescheidene Einstellung, die in einem frühen Motto der Psychologie zum Ausdruck kommt: »Die Ratte hat immer Recht.« Wissenschaftshistoriker sagen, dass die moderne Wissenschaft überhaupt erst durch diese neugierige, skeptische und gleichzeitig bescheidene Haltung möglich wurde. Viele der »Gründerväter« der modernen Wissenschaft – und dazu gehörten Kopernikus und Newton – waren Menschen, deren religiöse Überzeugungen sie demütig vor der Natur und skeptisch gegenüber menschlicher Autorität machten (Hooykaas 1972; Merton 1998). Tief religiöse Menschen von heute sehen die Wissenschaft, vor allem die wissenschaftliche Psychologie, als Bedrohung. Und doch merkt der Soziologe Rodney Stark (2003a, b) an, die wissenschaftliche Revolution sei meist von tief religiösen Menschen angeführt worden, die nach der religiösen Vorstellung handelten, dass man, »um Gott zu lieben und zu achten, die Wunder seiner Schöpfung auch ganz würdigen muss«. Natürlich haben Wissenschaftler, wie alle Menschen, ein großes Ego und hängen manchmal sehr an ihren vorgefassten Meinungen. Dennoch überprüft die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wieder die Befunde und Schlussfolgerungen der Kollegen. ! Das Ideal, das die Psychologen mit allen Wissenschaftlern teilen, ist die neugierige, skeptische und bescheidene Haltung bei der Prüfung der Gedanken und Vorstellungen, die miteinander konkurrieren.
Mit dieser wissenschaftlichen Haltung bereiten wir uns darauf vor, klüger zu denken. Kluges oder kritisches Denken bedeutet, Argumente und Schlussfolgerungen nicht blindlings zu akzeptieren. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst. Ob beim Lesen eines Berichts oder beim Anhören eines Gesprächs: Ein kritischer Denker stellt Fragen. Er verhält sich wie ein Wissenschaftler: Woher weiß man das, was man da berichtet? Aus welcher Quelle stammt die Information? Beruht die Schlussfolgerung auf persönlichen Gefühlen und anekdotischen Berichten, oder gibt es einen Beweis? Erlaubt dieser Beweis eine Schlussfolgerung auf Ursache und Wirkung? Welche alternativen Erklärungen wären möglich? Wird die gesunde Skepsis jedoch ins Extrem getrieben, dann ist das Ergebnis ein negativer Zynismus, der jeden nicht bewiesenen Gedanken herabsetzt. Besser ist eine kritische Haltung, die zu Bescheidenheit führt, nämlich dazu, dass wir uns unserer eigenen Fehlerhaftigkeit bewusst sind; daraus resultiert eine Haltung der Offenheit gegenüber unerwarteten Ergebnissen und neuen Perspektiven. Kann man sagen, dass die kritischen Fragen und Untersuchungen der Psychologie unerwartete Ergebnisse erbracht haben? Die Antwort ist ein klares Ja, wie auch die folgenden Kapitel zeigen werden. Hier ein paar Beispiele: 4 Ein größerer Verlust von Hirngewebe zu einem frühen Zeitpunkt des Lebens hat evtl. nur minimale Langzeiteffekte (7 Kap. 2). 4 Neugeborene können den Geruch und die Stimme ihrer Mutter innerhalb weniger Tage nach der Geburt erkennen (7 Kap. 4). 4 Nach einer Hirnverletzung kann ein Mensch neue Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht bewusst sein, dass er sie erlernt hat (7 Kap. 9). 4 Unterschiedliche soziale Gruppen – Männer und Frauen, Alte und Junge, Wohlhabende und Arbeiter, Behinderte und Nichtbehinderte – berichten über ein ungefähr vergleichbares Niveau persönlichen Glücks (7 Kap. 13). 4 Elektrokrampf-(»Elektroschock«-)Therapie (die Verabreichung elektrischer Stromstöße an das Gehirn) ist eine häufig sehr effiziente Therapiemethode bei schweren Depressionen (7 Kap. 17). Und haben die kritischen Fragen der Psychologie verbreitete Annahmen erschüttert? Auch hier lautet die Antwort »ja«, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Es lässt sich nachweisen, dass … 4 Schlafwandler nicht ihre Träume in Handlungen umsetzen und Sprechen im Schlaf keinen Zusammenhang mit dem Trauminhalt hat (7 Kap. 7).
Kritisches Denken (critical thinking): Art zu denken, die Argumente und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst.
»Der eigentliche Zweck der wissenschaftlichen Methode ist es, sich zu vergewissern, ob die Natur einen nicht zu der falschen Annahme verleitet hat, man wüsste etwas, was man in Wirklichkeit nicht weiß.« Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, 1978, S. 109
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
4 nicht alle Erfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens gemacht haben, als Worte im Gehirn gespeichert sind. Man kann durch Hirnstimulation oder Hypnose nicht einfach »das Tonband zurückspulen« und tief vergrabene oder verdrängte Erinnerungen wieder zum Leben erwecken (7 Kap. 9). 4 die meisten Menschen nicht unter einem unrealistisch geringen Selbstwertgefühl leiden und ein hohes Selbstwertgefühl nicht immer positiv ist (7 Kap. 15). 4 Gegensätze sich i. Allg. nicht anziehen (7 Kap. 18).
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Bei jedem dieser Beispiele und bei weiteren ist das, was man weithin glaubt, durchaus nicht das, was sich als wahr herausgestellt hat.
1.1.3 Wissenschaftliche Methode Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psychologischen Theorien leiten lässt.
Theorie (theory): auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beobachtungen in einen Zusammenhang stellt und Vorhersagen erlaubt.
Hypothese (hypothesis): meist aus einer Theorie abgeleitete überprüfbare Vorhersage.
Das Rüstzeug der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen sind ihre Kenntnisse der wissenschaftlichen Methoden und deren systematische Anwendung. Sie beobachten und formulieren Theorien, die dann im Licht weiterer Beobachtungen verfeinert werden. In unserer Alltagssprache verwenden wir den Begriff Theorie meist im Sinn von Vorstellung oder Gedanke, doch in der Wissenschaft geht es immer um den Zusammenhang von Beobachtung und Theorie. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein Erklärungsmodell, das auf bestimmten Prinzipien basiert. Mit Hilfe einer Theorie können Verhaltensweisen oder Ereignisse in ein System gebracht und Vorhersagen gemacht werden. Eine Theorie stellt Einzelbeobachtungen in einen Zusammenhang und vereinfacht damit die Arbeit. Es ist schwierig, die vielen Faktoren, die wir bei Verhaltensbeobachtungen berücksichtigen müssen, im Gedächtnis zu halten. Eine Theorie schafft einen Zusammenhang, verbindet Einzelfaktoren zu Prinzipien und ist eine hilfreiche Zusammenfassung. Sobald wir die einzelnen Punkte unserer Beobachtung miteinander verbinden, können wir ein kohärentes Bild erkennen. Eine gute Theorie der Depression fasst beispielsweise die unzähligen Beobachtungen in einer Liste zusammen. Stellen Sie sich vor, wir beobachten immer wieder, dass depressive Menschen sich selbst und ihr Leben in schwarzen Farben schildern. Wir könnten also daraus die Theorie ableiten, dass ein geringes Selbstwertgefühl zur Depression beiträgt. So weit, so gut: Ein geringes Selbstwertgefühl ist also durch eine lange Liste von Merkmalen gekennzeichnet, die auf depressive Menschen zutreffen. Doch eine Theorie kann noch so vernünftig klingen – und geringes Selbstwertgefühl scheint eine akzeptable Erklärung für Depression zu sein –, sie muss getestet werden. Eine gute Theorie darf nicht nur überzeugend klingen, sie muss auch zu überprüfbaren Vorhersagen führen, die wir Hypothesen nennen. Die Hypothesen ermöglichen es, die Theorie zu testen und dann entweder zu revidieren oder zu verwerfen und geben dadurch der Forschung die Richtung vor. Die Hypothesen geben an, welche Resultate die Theorie stützen und welche damit nicht vereinbar sind. Wenn wir unsere Theorie eines Zusammenhangs zwischen Depression und Selbstwertgefühl testen wollen, könnten wir das Selbstwertgefühl der betreffenden Menschen erfassen, indem wir fragen, ob sie mit Aussagen wie »Ich habe gute Einfälle« und »Ich bin jemand, mit dem die Leute gerne zusammen sind« übereinstimmen. Dann könnten wir sehen, ob unsere Vorhersage richtig ist, dass nämlich Menschen mit einem eingeschränkten Selbstbild höhere Werte auf einer Depressionsskala erreichen (. Abb. 1.1). Beim Testen unserer Theorie müssen wir darauf gefasst sein, dass die subjektive Beobachtung zu einer Verzerrung der Ergebnisse (Bias, Urteilsfehler) führen kann. Da unsere Theorie lautet, dass die Ursache der Depression ein geringes Selbstwertgefühl ist, lässt es sich nicht ausschließen, dass wir sehen, was wir erwarten zu sehen: Möglicherweise nehmen wir die neutralen Aussagen eines Depressiven als negativ wahr. Der Drang zu sehen, was wir erwarten zu sehen, ist für jeden von uns eine überall lauernde Versuchung. So verleiteten gemäß dem Bericht des parteienübergreifenden U.S. Senate Select Committee on Intelligence (2004) vorgefasste Er-
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. Abb. 1.1. Die wissenschaftliche Methode Eine sich selbst korrigierende Vorgehensweise, bei der Fragen gestellt und die Antworten beobachtet werden, die die Natur gibt
wartungen, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besäße, Auswerter der Geheimdienste dazu, mehrdeutige Beobachtungen fälschlich so deuten, dass sie diese Theorie bestätigten; und diese theoriegeleitete Schlussfolgerung führte dann zur präventiven Invasion der USA im Irak. Um diesen Bias zu kontrollieren, veröffentlichen Psychologen ihre Forschungsergebnisse so genau – mit eindeutigen operationalen Definitionen ihrer Konzepte –, dass andere Forscher ihre Beobachtungen replizieren (wiederholen) können. Führt ein anderer Wissenschaftler eine neue Untersuchung mit anderen Teilnehmern und anderem Testmaterial durch und kommt zu ähnlichen Ergebnissen, dann wächst das Vertrauen in die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Ergebnisse. Die erste Untersuchung zum Hindsightbias weckte die Neugier der Psychologen. Heute, nach vielen erfolgreichen Replikationen mit jeweils anderen Menschen und anderen Fragen, können wir die Bedeutung dieses Phänomens genau abschätzen. Unsere Theorie wird letztlich nur dann nützlich sein, wenn man mit ihrer Hilfe zum einen eine Reihe von persönlichen Berichten und Einzelbeobachtungen in eine effiziente Ordnung bringen kann und wenn man zum anderen anhand der Theorie klare Vorhersagen machen kann, die jeder überprüfen oder in der Praxis einsetzen kann. (Wenn wir das Selbstwertgefühl eines Menschen stärken, wird dann die Depression verschwinden?) Vielleicht führt uns die Forschung zu einer revidierten Theorie (7 Abschn. 18.1.4 über kognitive Therapien), die das, was wir über Depressionen wissen, in einen besseren Zusammenhang bringt und genauere Vorhersagen gestattet. ! Eine Theorie ist gut, wenn sie 4 beobachtete Fakten miteinander verbindet und ordnet und 4 Hypothesen impliziert, die überprüfbare Vorhersagen und manchmal praktische Anwendungen ermöglichen.
Wie wir als Nächstes erfahren werden, können wir mit Hilfe deskriptiver Methoden, Korrelationsberechnungen und Experimenten unsere Hypothesen überprüfen und unsere Theorien revidieren. Wenn wir verbreitete Behauptungen mit kritischem Verstand überprüfen wollen, müssen wir mit diesen Methoden vertraut sein und wissen, welche Schlussfolgerungen wir mit ihrer Hilfe ziehen können.
Operationale Definition (operational definition): Festlegung der Vorgehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als das, was ein Intelligenztest misst. Replikation (replication): Wiederholung der wesentlichen Parameter eines Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und andere Situationen übertragen lassen.
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Lernziele Abschnitt 1.1 Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
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Ziel 1: Beschreiben Sie den Hindsightbias und erklären Sie, wie er die Menschen zu der Auffassung bringen kann, dass Forschungsbefunde allem Anschein nach nur etwas sind, was man sich mit dem gesunden Menschenverstand schon ausmalen konnte. Der Hindsightbias, der Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (»Rückschaufehler«), ist die Tendenz, nachdem wir ein Ergebnis zur Kenntnis genommen haben, zu glauben, dass wir es vorhergesehen hätten. Wenn man also von einem Ergebnis erfährt, kann dies den Anschein erwecken, als hätte man schon mit dem gesunden Menschenverstand darauf kommen können. Die wissenschaftliche Untersuchung und kritisches Denken können dazu beitragen, dieser Tendenz zur Überschätzung unserer bloßen Intuition entgegenzuwirken. Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser Urteil trübt. Wir sind gewöhnlich viel zu sehr von unseren eigenen Urteilen überzeugt. Dies geht zum Teil auf unseren Bias zurück, nach Informationen zu suchen, mit deren Hilfe sich unsere Urteile als richtig erweisen. Die Wissenschaft mit ihren Methoden zum Sammeln und Sichten von Befunden, schränkt die Irrtumsmöglichkeiten ein, indem sie uns die Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstands überschreiten lässt.
Ziel 3: Erklären Sie, warum es das kritische Denken fördert, wenn man die Haltung eines Wissenschaftlers einnimmt. Obwohl ein wissenschaftlicher Ansatz auf überprüfbare Fragen beschränkt bleibt, die man mit seiner Hilfe beantworten kann, trägt er dazu bei, zwischen Realität und Täuschung zu unterscheiden. Wissenschaftliches Fragen beginnt mit einer bestimmten Haltung, nämlich einer neugierigen Bereitschaft zur skeptischen Prüfung miteinander konkurrierender Ideen; hinzu kommt eine Offenheit auch gegenüber empirischen Ergebnissen, die den eigenen Vorstellungen widersprechen. Diese Einstellung bringt kritisches Denken auch in unseren Alltag; es überprüft Annahmen, erkennt versteckte Werte, bewertet Befunde und ordnet Ergebnisse kritisch ein. Ideen, selbst wenn sie völlig verrückt klingen, auf den Prüfstand zu stellen, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psychologischen Theorien leiten lässt. Psychologische Theorien bringen Ordnung und System in Beobachtungen und führen zu Hypothesen, die eine Vorhersage erlauben. Nachdem die Wissenschaftler präzise operationale Definitionen ihrerVorgehensweisen entwickelt haben, überprüfen sie ihre Hypothesen (Vorhersagen), validieren und optimieren die Theorie und schlagen manchmal praktische Anwendungen vor. > Denken Sie weiter: Wie könnte die wissenschaftliche Haltung uns helfen, die Wurzeln des Terrorismus zu verstehen?
1.2
Beschreibung
Der Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist die Beschreibung. In unserem Alltag beobachten wir unsere Mitmenschen und beschreiben sie; daraus leiten wir ab, warum sie sich so verhalten und nicht anders. Im Wesentlichen tun professionelle Psychologen auch nichts anderes, nur gehen sie dabei systematisch vor und bemühen sich um Objektivität.
1.2.1 Einzelfallstudie Ziel 5: Geben Sie an, welche Vor- und Nachteile es hat, Fallstudien zur Verhaltensbeschreibung einzusetzen. Einzelfallstudie (case study): Beobachtungstechnik, bei der ein Individuum gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Weise universelle Prinzipien entdecken zu können.
»›Nun ja, mein Lieber‹, sagte Miss Marple, ›das Wesen des Menschen ist eigentlich an allen Orten gleich, aber natürlich hat man in einem Dorf bessere Möglichkeiten, es sich genauer anzusehen.‹« Agatha Christie, Der Dienstagabend-Club, 1999, Original 1937
Die Einzelfallstudie gehört zu den ältesten Forschungsmethoden überhaupt. In der Fallstudie wird ein Individuum gründlich studiert, in der Hoffnung, dabei Dinge zu entdecken, die für alle Individuen gelten. Viel von unserem Wissen über das Gehirn und seine Funktionen stammt aus Fallstudien mit Menschen, die nach der Schädigung einer bestimmten Hirnregion in bestimmten Bereichen beeinträchtigt waren. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beobachtete aufmerksam ein paar Kinder und befragte sie ausführlich; das Ergebnis waren bahnbrechende Informationen über die Art, wie Kinder denken. Untersuchungen, die mit nur wenigen Schimpansen durchgeführt wurden, erbrachten den Beweis, dass die Tiere über die Fähigkeit zum Verstehen von Sprache verfügen. Aus Fallstudien kann man Hypothesen für weitere Untersuchungen ableiten. Sie zeigen uns zudem, was geschehen kann. Im Alltag können uns individuelle Fälle aber auch manchmal in die Irre führen. Vielleicht ist das untersuchte Individuum untypisch. Eine nicht repräsentative Infor-
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mation kann zu irrtümlichen Beurteilungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Und auch Folgendes ist zu bedenken: Sobald ein Wissenschaftler einen Befund veröffentlicht (»Raucher sterben jünger: 95% der Männer über 85 sind Nichtraucher«), findet sich jemand, der widerspricht (»Nun, ich habe einen Onkel, der täglich zwei Päckchen rauchte und über 89 wurde«). Solche Einzelfälle – dramatische Geschichten, persönliche Erfahrungen und sogar psychologische Fallbeispiele – entwickeln eine überwältigende Macht und werden für unumstößliche Wahrheiten gehalten. Wenn an einer Schule geschossen wird, dann sorgt so ein Vorfall dank der enormen Publizität für besorgtes Fragen nach der Gewalt an Schulen, sogar zu einem Zeitpunkt, wo an den Schulen die Zahl der gewalttätigen Handlungen abnimmt. Zählen Sie nicht auf Zahlen, sie täuschen oft eine falsche Zuverlässigkeit vor (in einer Untersuchung mit 1300 Berichten über Träume, die das Schicksal eines entführten Kindes betrafen, sahen tatsächlich nur 5% den Tod des Kindes vorher und hatten damit Recht, 7 Kap. 6), und private Berichte wirken oft überzeugender als Statistik (»Aber ich kenne einen Mann, der träumte, dass seine Schwester einen Autounfall hätte, und drei Tage später wurde sie schwer verletzt.«) Der Psychologe Gordon Allport (1954, S. 9) drückte es so aus: »Einen Fingerhut voll dramatischer Ereignisse verallgemeinern wir schleunigst auf Badewannengröße.« ! Was auf uns alle zutrifft, kann man schon am Beispiel eines Einzelnen erkennen, und aus Einzelfällen können fruchtbare Hypothesen abgeleitet werden. Um aber die allgemeinen Wahrheiten in den Einzelfällen zu entdecken, müssen wir andere Methoden anwenden.
Der Fall des sprechenden Schimpansen In intensiven Fallstudien mit Schimpansen sind Psychologen der faszinierenden Frage nachgegangen, ob Sprache ein rein menschliches Phänomen ist. Hier macht Nim Chimpsky das Zeichen für »schmusen«, als sein Trainer, der Psychologe Herbert Terrace ihm die Puppe Ernie zeigt. Ist Nim tatsächlich fähig, Sprache anzuwenden? Wir werden dieses Thema in 7 Kap. 10 näher betrachten
1.2.2 Befragung Ziel 6: Arbeiten Sie heraus, welche Vor- und Nachteile es hat, Befragungen einzusetzen, um Verhalten und mentale Prozesse zu untersuchen, und erklären Sie, warum Formulierungen und Zufallsstichproben wichtig sind.
Bei der Methode der Befragung werden viele Fälle einbezogen, die Fragen bleiben aber eher an der Oberfläche. Bei einer Umfrage werden die Menschen gebeten, Auskunft über ihr Verhalten oder ihre Ansichten zu geben. Thema der Befragung kann alles sein, von sexuellen Praktiken bis hin zu politischen Meinungen. Es gibt wohl keine bedeutsame Frage, die von den Wissenschaftlern noch nicht in einer Umfrage gestellt wurde. So haben beispielsweise Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach in den Jahren 1998–2002 gezeigt, dass 57% der Deutschen mit ihrem Leben i. Allg. zufrieden sind, 61% glauben, Glück und Geld habe nichts miteinander zu tun, doch 77% sind der Ansicht, Geld mache frei. 72% der Deutschen halten sich für humorvoll und 59% glauben an die große Liebe. Für 79% sind Rechtextremisten die unliebsamsten Nachbarn, 61% der Deutschen glauben an Gott, und 95% der Amerikaner möchten etwas an ihrem äußeren Erscheinungsbild ändern. In Großbritannien sind sieben von zehn der 18- bis 29-Jährigen für die gleichgeschlechtliche Ehe; in der Altersgruppe der Über-50-Jährigen ist in etwa derselbe Prozentsatz dagegen (ein Generationenunterschied, wie man ihn in vielen westlichen Ländern findet). Aber die Fragen richtig zu stellen, ist eine heikle Sache; und die Antworten können auch von Formulierungen und von der Auswahl der Befragten abhängen.
Formulierungen Schon ganz leichte Abänderungen in der Wortstellung der Frage können eine große Wirkung haben. Sollte Zigarettenwerbung oder Pornographie im Fernsehen erlaubt sein? Die Leute werden viel eher »sollte nicht erlaubt sein« antworten, nicht aber »sollte man verbieten« oder »sollte zensiert werden«. In einer einzelnen landesweiten Befragung sprachen sich nur 27% der Amerikaner für eine »staatliche Zensur« von Sex- und Gewaltdarstellungen in den Medien aus, obwohl 66% für »mehr Restriktionen bei dem, was im Fernsehen gezeigt wird« stimmten (Lacayo 1995). Ebenso sprechen sich Befragte eher für »Hilfe für Bedürftige« aus als für »Sozialhilfe«; sie stimmen weit eher für »Förderung« als für »bevorzugte Behandlung« und befürworten eher eine »Ausweitung der Staatseinnahmen« als »Steuererhöhungen«. Vom Wortlaut der Frage hängt sehr viel ab, des-
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Susan Kuklin/Photo Researchers, Inc.
1.2 · Beschreibung
Befragung (survey): Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten Einstellungen oder Verhaltensweisen der Menschen ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe befragt.
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
halb hinterfragen kritische Denker immer, auf welche Weise die Fragestellung die Meinung der Befragten beeinflusst haben könnte.
Zufallsstichprobe
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This modern world by Tom Tomorrow, © 1991
Falscher Konsens oder Konsensüberschätzung (false consensus effect): Neigung, zu überschätzen, wie sehr andere unsere Vorstellungen teilen und das gleiche Verhalten zeigen.
In unserer alltäglichen Erfahrung haben wir es meist mit einer verzerrten Stichprobe zu tun, meistens mit Menschen, die unsere Einstellungen teilen und ähnliche Gewohnheiten haben wie wir selbst. Wenn wir uns also fragen, wie viele Menschen einer speziellen Glaubensrichtung anhängen, dann fallen uns zuerst die ein, die so denken wie wir. Diese Tendenz, die Übereinstimmung mit anderen Menschen in wichtigen Fragen zu überschätzen, heißt Verzerrung durch falschen Konsens bzw. Konsensüberschätzung (»false consensus effect«; Ross et al. 1977). So sind Vegetarier häufiger als Fleischesser geneigt, zu glauben, dass es sehr viele Vegetarier gibt, und Konservative sehen mehr Anhänger konservativer Ideen, als es die Liberalen tun. Für die Beschreibung menschlicher Erfahrungen können Sie Ihre Einschätzung anderer Menschen verwenden, die vielleicht durch dramatische Ereignisse und Ihre persönlichen Erfahrungen ergänzt werden. Wenn Sie sich aber ein genaues Bild von den Erfahrungen und Einstellungen einer ganzen Population machen wollen, dann ist die einzige Methode die repräsentative Stichprobe. Das lässt sich auch auf unser Alltagsdenken übertragen; denn wir generalisieren ständig aufgrund der Stichproben, mit denen wir zu tun haben, vor allem, wenn es um Fälle geht, die lebhaft vorgetragen werden. Nehmen wir folgendes Szenario: Dem Verwaltungsdirektor liegt die statistische Zusammenfassung der Bewertung eines Professors durch seine Studenten vor, und gleichzeitig hört er die heftigen Proteste zweier aufgebrachter Studenten, die sich von diesem Professor ungerecht beurteilt fühlen. Da kann der Eindruck des Verwaltungsdirektors ebenso von den beiden Pechvögeln beeinflusst werden wie von den vielen positiven Bewertungen dieses Professors, die in der Statistik aufgeführt sind. Oder Sie stehen im Supermarkt an der Kasse, und die Frau vor Ihnen bezahlt mit einem Warengutschein der Sozialhilfe. Und dann sehen Sie mit Bestürzung, wie dieselbe Frau auf dem Parkplatz in ein tolles Auto steigt. In beiden Fällen kann man der Versuchung, von ein paar intensiven, aber nicht repräsentativen Eindrücken zu verallgemeinern, kaum widerstehen.
Population (population): sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der eine Stichprobe für eine Studie gezogen wird.
Zufallsstichprobe (random sample): Stichprobe, bei der eine Zufallsauswahl aus einer bestimmten Population gezogen wird und die diese Population dann weitgehend repräsentiert.
! Die beste Basis für eine Generalisierung ist eine repräsentative Stichprobe.
Wenn Sie unter den Studierenden Ihrer Hochschule eine Umfrage machen wollen, wie könnten Sie dann eine Stichprobe befragen, die repräsentativ ist für die gesamte studentische Population – die gesamte Gruppe, die Sie untersuchen und beschreiben wollen? Typischerweise würden Sie eine Zufallsstichprobe ziehen, eine Stichprobe, bei der jede einzelne Person in der Gesamtgruppe die gleichen Chancen hat teilzunehmen. Um eine Zufallsstichprobe zu befragen, würden Sie nicht jedem Einzelnen einen Fragebogen zusenden. (Die gewissenhaften Menschen, die ihn zurückschicken, wären keine Zufallsstichprobe.) Stattdessen würden Sie eine repräsentative Stichprobe anstreben, indem Sie etwa eine Tabelle mit Zufallszahlen dazu verwenden, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Auflistung der Studierenden auszuwählen und dann sicherzustellen, dass so viele wie möglich mitmachen. Große repräsentative Stichproben sind besser als kleine; aber eine kleine repräsentative Stichprobe ist besser als eine nicht repräsentative Stichprobe von 500 Personen. ! Bevor man den Ergebnissen einer Umfrage Glauben schenkt, sollte man sie kritisch hinterfragen: Betrachten Sie die Stichprobe. Man kann die Nachteile einer nicht repräsentativen Stichprobe nicht dadurch wettmachen, dass man einfach weitere Personen hinzunimmt.
Das Prinzip der Zufallsstichprobe gilt auch für landesweite Umfragen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Fass voll Bohnen, und zwar 60 Mio. weiße Bohnen vermischt mit 40 Mio. roten Bohnen. Wenn Sie mit einer Schaufel eine Zufallsstichprobe von 1500 Bohnen herausholen und auszählen, dann besteht diese aus ca. 60% weißen und 40% roten Bohnen (±2 oder 3%). Eine Stichprobe für
29 1.2 · Beschreibung
1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Ziel 7: Geben Sie einen Vor- und einen Nachteil dafür an, dass man die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung dazu nutzt, Verhalten zu untersuchen.
Die dritte beschreibende Forschungsmethode der Psychologie umfasst die Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens von Organismen in ihrer natürlichen Umwelt. Beobachtungen in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtungen reichen von der Beobachtung von Schimpansengesellschaften im Dschungel bis zu nichtreaktiven Videoaufnahmen (und der späteren systematischen Auswertung) von Eltern-Kind-Interaktionen in verschiedenen Kulturen oder der Beschreibung der Platzwahl in der Cafeteria einer Schule, die von Schülern verschiedener Kulturen besucht wird. Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten, erklärt es aber nicht, ebenso wenig wie die Einzelfallstudie oder die Befragung. Trotzdem können die Beschreibungen ein Licht auf bestimmte Dinge werfen. Beispielsweise dachte man lange Zeit, dass nur Menschen Werkzeuge benutzen. Die Beobachtung von Schimpansen in ihrem natürlichen Umfeld hat indessen gezeigt, dass die Tiere manchmal ein Stöckchen in einen Termitenhaufen stecken und dann ablecken. Solche nichtreaktiven Beobachtungen der Tiere in ihrer natürlichen Umgebung, sagt die Schimpansenforscherin Jane Goodall (1998), bereiteten den Weg für spätere systematische Untersuchungen zum Denken und Fühlen der Schimpansen sowie ihrer Möglichkeiten zum Verständnis von Sprache. »Beobachtungen im natürlichen Habitat zeigten, dass Zusammenleben und Verhalten von Tieren weitaus komplexer sind, als wir bislang angenommen haben.« Wir müssen deshalb unser Bemühen um Verständnis auch auf unsere Mitgeschöpfe, die Tiere, ausdehnen. Es zeigte sich auch, dass Schimpansen und Paviane Täuschungsmanöver einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Psychologen Andrew Whiten und Richard Byrne (1988) beobachteten wiederholt, wie ein junger Pavian so tat, als sei er von einem anderen Pavian angegriffen worden, eine Taktik, mit der er seine Mutter dazu brachte, den anderen vom Futter wegzujagen. Auch bei Menschen werden Feldbeobachtungen durchgeführt. Im Folgenden finden Sie drei Beispiele dafür, an denen Sie, glaube ich, Spaß haben werden. 4 Ein witziges Ergebnis. In sozialen Situationen lachen wir Menschen 30-mal öfter, als wenn wir allein sind. (Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie selten Sie lachen, wenn Sie allein sind?) Wenn wir lachen, verziehen 17 Muskeln unseren Mund und drücken unsere Augen zusammen, und wir stoßen im Abstand von jeweils einer fünftel Sekunde eine Serie von vokalähnlichen Lauten von 75 Millisekunden Dauer aus (Provine 2001). 4 Aushorchen von Studenten. Was sagen und machen Erstsemester der Psychologie eigentlich den lieben langen Tag? Um das herauszufinden, statteten Matthias Mehl und James Pennebaker (2003) 52 Studierende der University of Texas bis zu vier Tage lang mit einem Kassettenrekorder aus, den sie an einem Gürtel trugen und der sich von früh bis spät alle 12,5 Minuten 30 Sekunden lang für eine Aufnahme einschaltete. So waren die Forscher imstande, mehr als 10.000 eine halbe Minute lange Ausschnitte aus dem Leben der Studierenden abzuhören. Was meinen Sie, wie viel Prozent der Zeit Studierende nach diesen Befunden mit jemandem sprachen? Und wie viel Prozent der Zeit befanden sich danach die Studierenden an der Tastatur eines Computers? Die Antwort lautet: 28 bzw. 9 Prozent der Zeit. (Wie viel Prozent der Zeit, in der Sie nicht schlafen, verbringen Sie mit diesen Aktivitäten?) 4 Kultur, Klima, Leben. Mit Hilfe der Feldbeobachtung konnten Robert Levine und Ara Norenzayan (1999) den Lebensrhythmus in 31 Ländern miteinander vergleichen. Zum einen wurde Lebensrhythmus operational definiert als das Tempo, in dem ein Postangestellter eine simple Bitte erfüllte, zum anderen galt die Genauigkeit der Normaluhren als operationale Definition. Die beiden Forscher (Feldbeobachtung) kamen zu dem Ergebnis, dass der Lebens-
Schätzungen mit sehr großen Stichproben sind recht zuverlässig (reliabel). Der Buchstabe E hat schätzungsweise einen Anteil von 12,7% an allen Buchstaben in englischsprachigen schriftlichen Texten. In Melvilles »Moby Dick« stellt E tatsächlich 12,3% der 925.144 Buchstaben des Textes, 12,4% der 586.747 Buchstaben in Charles Dickens’ »A Tale of Two Cities« und 12,1% der 3.901.023 Buchstaben, aus denen Mark Twains Gesamtwerk besteht (»Chance News« 1997).
Beobachtung in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtung (naturalistic observation): Beobachten und Erfassen von Verhalten in natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle der Situation.
Courtesy of Gilda Morelli
eine landesweite Wählerbefragung ergibt ein ähnliches Bild: 1500 zufällig ausgewählte Leute aus allen Teilen des Landes liefern ein bemerkenswert genaues Bild von den im Land herrschenden Meinungen. Ohne Zufallsstichprobe führen große Stichproben – und dazu gehören auch Telefonbefragungen und Website-Abstimmungen – zu irreführenden Ergebnissen.
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Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Die Psychologin Gilda Morelli hat über 20 Jahre mit den Efe in Zentralafrika gelebt und sie beobachtet. Sie studierte das Verhalten von Müttern und Vätern und die Entwicklung der Kinder.
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
rhythmus in Japan und Westeuropa am schnellsten ist und langsamer in wirtschaftlich weniger hoch entwickelten Ländern. In einem kühlen Klima leben die Menschen tendenziell in schnellerem Rhythmus (und mehr Menschen sterben an Herzkrankheiten). Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten eher, als dass sie es erklärt. Aber diese Studie zeigt uns, wie die Feldbeobachtung auch in der korrelativen Forschung, unserem nächsten Thema, angewandt wird.
1 Lernziele Abschnitt 1.2 Die Beschreibung
Ziel 5: Geben Sie an, welchen Vorteil und welchen Nachteil es hat, wenn man Fallstudien einsetzt, um Verhalten zu beschreiben. Forscher, die Fallstudien einsetzen, konzentrieren sich in starkem Maße auf ein Individuum; sie haben dabei die Hoffnung, dass sie universelle Prinzipien zutage fördern. Fallstudien beschreiben Verhalten. Mit ihrer Hilfe kann man zu Hypothesen kommen, aber die Untersuchung eines nicht repräsentativen Individuums kann zu falschen Schlussfolgerungen führen. Ziel 6: Arbeiten Sie heraus, welche Vorteile und welche Nachteile es hat, wenn man Befragungen einsetzt, um Verhalten und mentale Prozesse zu untersuchen, und erklären Sie, warum Formulierungen und Zufallsstichproben wichtig sind. Aufgrund von Befragungen lässt sich Verhalten beschreiben, indem man Informationen bei einer großen Anzahl von Personen sammelt. Diese Technik baut darauf, dass die Menschen ihre Einstellungen oder Verhaltensweisen korrekt selbst beschreiben. Auswirkungen von Formulierungen – subtile Einflüsse durch die Reihenfolge und den Wortlaut der Fragen – können sich auf die Antworten auswirken. Die Ziehung einer Zufallsstichprobe trägt dazu bei, dass die Forscher eine Stichprobe erhal-
1.3
ten, die einigermaßen repräsentativ für die Population ist, die untersucht werden soll. Weil bei einer Zufallsstichprobe Personen zufällig ausgewählt werden, hat jede Person in der Gesamtgruppe die gleiche Chance teilzunehmen. Ziel 7: Geben Sie einen Vorteil und einen Nachteil dafür an, dass man die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung dazu nutzt, Verhalten zu untersuchen. Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung ermöglicht es den Forschern, sich das Verhalten in natürlicherweise auftretenden Situationen anzusehen und es aufzuzeichnen. Wie bei anderen Formen der Beschreibung lassen sich Verhaltensweisen bei Beobachtung in einer natürlichen Umgebung nicht erklären. Aber sie kann unser Verständnis vertiefen und kann zu Hypothesen führen, die mit Hilfe anderer Methoden untersucht werden können. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an Beispiele für irreführende Befragungen erinnern, die Sie selbst erlebt oder über die Sie gelesen haben? Welche Prinzipien, die für eine gute Befragung unabdingbar sind, wurden dabei verletzt?
Korrelation
Ziel 8: Beschreiben Sie positive und negative Korrelationen und erklären Sie, wie Korrelationsmaße etwas zum Vorhersageprozess beitragen können. Korrelationskoeffizient (correlation coefficient): statistische Maßzahl, die das Ausmaß und die Richtung des Zusammenhangs zwischen zwei oder mehr Merkmalsvariablen angibt. Der Korrelationskoeffizient sagt aus, wie gut eine Variable die Veränderung der anderen Variablen angibt.
Streudiagramm oder Punktdiagramm (Scatterplot): Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt die Werte von zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie zwischen den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen den beiden Variablen an. Die Konzentration der Punkte verweist auf einen starken Zusammenhang (eng beieinanderliegende Punkte bedeuten hohe Korrelation).
Die Verhaltensbeschreibung ist der erste Schritt zur Verhaltensvorhersage. Zeigt sich bei Befragungen und Beobachtungen, dass ein bestimmtes Merkmal oder ein Verhalten immer mit einem anderen zusammen auftritt, dann sprechen wir von einer Korrelation. Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für einen Zusammenhang (. Abb. 1.2); er zeigt, wie eng zwei Faktoren miteinander verknüpft sind und sich gemeinsam verändern bzw. wie gut der eine Faktor das Auftreten des anderen vorhersagt. Wenn wir wissen, wie stark ein hoher Punktwert (Score) in einem Eignungstest mit Schulerfolg korreliert, dann wissen wir auch, wie gut diese Punktzahl Schulerfolg vorhersagt. In diesem Buch werden wir immer wieder die Frage stellen, wie stark der Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist. Wie eng hängen beispielsweise die Persönlichkeitsscores eineiiger Zwillinge zusammen? Wie genau kann man anhand der Punktzahl in einem Intelligenztest die Leistung vorhersagen? Wie eng hängt Stress mit Krankheit zusammen? . Abbildung 1.3 illustriert perfekte positive und negative Korrelationen, die allerdings in der realen Welt kaum vorkommen. Wir nennen diese Diagramme Scatterplots bzw. Punktoder Streudiagramme, denn jeder Punkt gibt den Wert von zwei Variablen an. Eine positive Korrelation bedeutet, dass zwei Wertereihen wie etwa Körpergröße und Gewicht jeweils gemeinsam größer bzw. kleiner werden. Eine negative Korrelation sagt nichts darüber aus, ob der Zusammenhang zwischen zwei Variablen stark oder schwach ist; zwei negativ korrelierende
31 1.3 · Korrelation
Perfekte positive Korrelation (+1,00)
Kein Zusammenhang (0,00)
Perfekte negative Korrelation (–1,00) . Abb. 1.2. So wird ein Korrelationskoeffizient gelesen
Variablen bedeuten, dass hier ein umgekehrter Zusammenhang vorliegt (die Punktzahl der einen Variable steigt, während die Punktzahl der anderen sinkt). Steigt die Punktzahl auf der Variable »Zähneputzen«, dann sinkt die Punktzahl auf der Variable »Karies«; Zähneputzen und Karies korrelieren (negativ) miteinander. Eine schwache Korrelation mit einem Koeffizienten nahe null zeigt an, dass kein oder fast kein Zusammenhang vorliegt. Im Folgenden finden Sie einige neuere Ergebnisse der korrelativen Forschung. Können Sie sagen, welche Studien über positive Korrelationen berichten und welche über negative: 4 Je mehr Fernsehgeräte sich in einem Haushalt befinden, desto weniger Zeit verbringen Kinder mit Lesen (Kaiser 2003). 4 Je mehr sexuell geprägte Inhalte sich Jugendliche im Fernsehen ansehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sexuell aktiv werden (Collins et al. 2004). 4 Je länger Kinder gestillt werden, desto besser ist ihre schulische Leistung (Horwood & Fergusson 1998). 4 Je stärker das Einkommen bei einer Stichprobe armer Familien anwuchs, desto weniger psychiatrische Symptome hatten ihre Kinder (Costello et al. 2003). (Hier handelt es sich jeweils um eine negative, eine positive, eine positive und um eine negative Korrelation.) Mit Hilfe der Statistik können wir Dinge erkennen, die wir sonst nicht sehen würden. Probieren Sie es doch einmal mit einem eigenen Projekt aus. Sie könnten sich fragen, ob hochgewachsene Männer gelassener oder nervöser sind als kleine. Zu diesem Zweck sammeln Sie zwei Datensätze: die Körpergröße der Männer und ihr Temperament. Sie messen die Körpergröße von 20 Männern und bitten einen unbeteiligten Kollegen, das Temperament dieser Männer zu bewerten (dabei bedeutet 0 »sehr ruhig« und 100 »extrem nervös«). Können Sie mit diesen Daten (. Tab. 1.2) vor Augen schon sagen, ob es eine positive oder eine negative Korrelation zwischen Körpergröße und Gelassenheit gibt? Oder ist die Korrelation schwach oder gar nicht vorhanden? Vergleicht man die beiden Zahlenreihen in . Tab. 1.2, dann kann man meistens kaum einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Temperament erkennen. Tatsächlich ist die Korrelation in diesem fiktiven Beispiel leicht positiv, nämlich +0,63. Das erkennen wir, wenn wir die Daten in einem Punktdiagramm anordnen. Verbindet man die Punkte wie in . Abb. 1.4 und verfolgt die gestrichelte nach oben führende Linie von links nach rechts, dann zeigt sich, dass die beiden Variablen (Körpergröße und Temperament) unseres fiktiven Untersuchungsbeispiels einen tendenziell parallelen Verlauf nehmen. Wenn wir schon bei der systematischen Darbietung der Daten in . Tab. 1.2 keinen Zusammenhang erkennen können, dann verstehen wir, dass wir mögliche Zusammenhänge, die
. Abb. 1.3. Streudiagramme (Scatterplots), die verschiedene Korrelationsmuster zeigen Korrelationskoeffizienten variieren zwischen +1,00 (die Werte einer Variablen wachsen direkt proportional mit den Werten der anderen Variablen) und –1,00 (die Werte einer Variablen sinken direkt proportional mit dem Ansteigen der anderen Variablen)
1
Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
32
. Tabelle 1.2. Körpergröße und Temperament von 20 Männern
1
Versuchsperson
Körpergröße in cm
Punkte auf Temperamentskala
1
200
75
2
158
66
3
165
60
4
195
90
5
185
60
6
173
42
7
155
42
8
183
60
9
188
81
10
151
39
11
163
48
12
189
69
13
178
72
14
165
57
15
182
63
16
175
75
17
159
30
18
180
57
19
171
84
20
175
39
. Abb. 1.4. Streudiagramm zum Zusammenhang von Körpergröße und Temperament Die dargestellten Daten von 20 fiktiven Personen (jede Person wird durch einen Punkt dargestellt) zeigen einen nach oben führenden Verlauf und weisen damit auf eine positive Korrelation hin. Die Punkte sind über das ganze Diagramm verstreut; das zeigt, dass die Korrelation deutlich unter +1, 0 liegt
uns im Alltag begegnen, leicht übersehen. Manchmal brauchen wir die Klarheit und Deutlichkeit der Statistik, um zu erkennen, was direkt vor unseren Augen liegt. Mit Hilfe von statistisch aufbereiteten Informationen über das Anforderungsniveau der beruflichen Tätigkeit, Führungspositionen, Leistung, Geschlecht und Einkommen können wir ohne Schwierigkeiten erkennen, wo Geschlechtsdiskriminierung vorliegt. Doch wir nehmen die Diskriminierung häufig nicht wahr, wenn die gleiche Information in Form von Einzelfällen präsentiert wird (Twiss et al. 1989). Die Korrelationsberechnungen der Psychologie sind informativ, trotzdem lassen sich viele Variablen des Zusammenlebens von Menschen nicht vorhersagen. So gibt es, wie wir später sehen werden, eine Korrelation zwischen elterlichem Missbrauch und Kindern, die als Erwachsene gleichfalls ihre Kinder missbrauchen. Doch das bedeutet nicht, dass die meisten Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, nun selbst auch ihre Kinder missbrauchen. Die Korrelation zeigt lediglich einen statistischen Zusammenhang. Die meisten Erwachsenen mit Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit, missbrauchen ihre Kinder nicht. Bei Erwachsenen, die keine eigenen Missbrauchserfahrungen haben, ist die Wahrscheinlichkeit eines Kindesmissbrauchs allerdings noch geringer. ! Der Korrelationskoeffizient kann uns helfen, die Welt dadurch deutlicher wahrzunehmen, dass wir die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren erkennen können.
1.3.1 Korrelation und Kausalität Ziel 9: Erklären Sie, warum es durch korrelative Forschung nicht gelingen kann, Belege für UrsacheWirkungs-Beziehungen zu liefern.
Korrelationen sind hilfreich bei der Vorhersage und setzen den illusorischen Vorstellungen unserer fehlbaren Intuition Grenzen. Das Anschauen von Gewaltszenen korreliert mit Aggression (und sagt sie demnach vorher). Bedeutet das aber, dass sie die Ursache für Aggression ist? Wird Depression durch geringes Selbstwertgefühl verursacht? Sollten Sie – aufgrund der evidenten Korrelation – der Meinung sein, dass das der Fall ist, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Einer der fast unvermeidbaren Denkfehler ist die Annahme, dass eine Korrelation der Nachweis für einen
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© falkjohann – Fotolia.com
1.3 · Korrelation
. Abb. 1.5. Drei mögliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung Menschen mit geringem Selbstwert werden eher von Depressionen berichten als Menschen mit hohem Selbstwert. Eine mögliche Erklärung für diese negative Korrelation könnte lauten: Ein schlechtes Selbstbild verursacht depressive Gefühle. Doch zeigt das Diagramm, dass auch andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge denkbar sind
Kausalzusammenhang ist. Doch ganz gleich, wie stark der Zusammenhang auch sein mag: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. Was ist beispielsweise von der negativen Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und Depression zu halten? Vielleicht verursacht geringer Selbstwert tatsächlich Depression. Doch wie aus . Abb. 1.5 ersichtlich ist, bekommen wir dieselbe Korrelation zwischen Selbstwert und Depression, wenn wir davon ausgehen, dass die Depression die Ursache dafür ist, dass die betroffenen Menschen nicht viel von sich halten. Eine weitere denkbare Erklärung für die Korrelation wäre ein dritter Faktor: Eine ererbte Veranlagung oder eine Störung der chemischen Botenstoffe im Gehirn könnte sowohl das geringe Selbstwertgefühl als auch die Depression erklären. Bei Männern korreliert die Dauer ihrer Ehe positiv mit Haarausfall: Beides hängt mit dem Alter als einem dritten Faktor zusammen. Und Menschen mit Hüten bekommen mit größerer Wahrscheinlichkeit Hautkrebs, weil beide Faktoren mit der hellen Haut dieser Menschen zusammenhängen; sie sind aufgrund ihrer Hellhäutigkeit anfälliger für Hautkrebs und tragen deshalb einen Hut als Lichtschutz. Dieser Punkt ist so wichtig und zeigt so grundlegend, wie durch die Anwendung psychologischen Wissens eine genauere Beurteilung möglich ist, dass ich noch das Beispiel einer Befragung von über 12.000 Jugendlichen anführen möchte. Je mehr sich Teenager von ihren Eltern geliebt fühlen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie schädliche Gewohnheiten annehmen: frühe sexuelle Beziehungen, Rauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder gewalttätiges Verhalten (Resnick et al. 1997). »Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten ihrer Kinder während der gesamten Highschool-Zeit«, schwärmte daraufhin eine Meldung der »Associated Press« über diese Studie. Doch die Korrelation beinhaltet nicht automatisch einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Anders ausgedrückt: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. Man hätte mit ebenso viel Berechtigung titeln können: »Jugendliche, die sich vernünftig verhalten, fühlen sich von ihren Eltern geliebt und anerkannt, während Jugendliche, die zu Grenzüberschreitungen neigen, ihre Eltern für verständnislose Trottel halten.« ! Eine Korrelation weist auf die Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs hin, doch sie ist kein Nachweis für einen Kausalzusammenhang. Wenn wir wissen, dass zwei Ereignisse miteinander korrelieren, dann sagt uns das nichts über den Kausalzusammenhang. Behalten Sie dieses Prinzip im Gedächtnis, und Sie werden, wenn Sie Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen in den Medien und auch hier in diesem Buch lesen bzw. hören, diese besser beurteilen können.
Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit Kausalität Die Dauer einer Ehe korreliert mit dem Verlust von Haaren bei Männern. Bedeutet das, dass die Ehe den Haarverlust verursacht (oder dass kahl werdende Männer die besseren Ehemänner sind)? In diesem Fall – und in vielen anderen – ist offensichtlich ein dritter Faktor für die Korrelation verantwortlich: Goldene Hochzeiten und Kahlheit treten beide im höheren Lebensalter auf
Ein Journalist berichtete in der »New York Times« von einer groß angelegten Umfrage, die folgendes Ergebnis erbrachte: »Bei Jugendlichen, deren Eltern rauchen, ist die Wahrscheinlichkeit für frühe sexuelle Aktivitäten um 50% höher als bei Jugendlichen, deren Eltern nicht rauchen.« Daraus schloss er (würden Sie dem zustimmen?), dass die Studie einen kausalen Zusammenhang aufzeigte, und zwar insofern, als »Eltern aufhören müssten zu rauchen, um die Wahrscheinlichkeit für frühe sexuelle Aktivitäten ihrer Kinder zu reduzieren« (O’Neil, 2002).
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1.3.2 Illusorische Korrelationen Ziel 10: Beschreiben Sie, wie Menschen auf illusorische Korrelationen kommen.
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Illusorische Korrelation (illusory correlation): Wahrnehmung eines nicht existierenden Zusammenhangs.
. Abb. 1.6. Illusorische Korrelation im Alltag Viele Menschen glauben, dass es bei unfruchtbaren Paaren mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Empfängnis kommt, wenn sie ein Baby adoptieren. Diese Überzeugung entsteht, weil solche Fälle die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Weniger aufmerksam werden die Fälle registriert, bei denen es trotz Adoption nicht zu einer Empfängnis kommt, oder die Fälle, bei denen es eine Empfängnis ohne Adoption gibt. Um entscheiden zu können, ob es tatsächlich eine Korrelation zwischen Adoption und Empfängnis gibt, brauchen wir die Informationen aus allen vier Zellen der Abbildung (Aus Gilovich 1991)
Korrelationen verdeutlichen Zusammenhänge, die wir andernfalls übersehen würden. Sie bewahren uns auch davor, nicht vorhandene Zusammenhänge zu »sehen«. Eine solche nicht existierende Korrelation, die aber als solche wahrgenommen wird, nennt man illusorische Korrelation. Sobald wir glauben, dass ein Zusammenhang zwischen zwei Faktoren besteht, bemerken wir Anzeichen und erinnern wir uns an Vorfälle, die uns in unserer Vermutung bestätigen (Troller u. Hamilton 1986). So mancher Aberglaube und so manche Fehlannahme lassen sich mit illusorischen Korrelationen erklären, zum Beispiel die Vermutung, dass bei Vollmond mehr Kinder zur Welt kommen oder dass bei ungewollt kinderlosen Paaren, die ein Kind adoptieren, die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis steigt (Gilovitch 1991). Die Paare, bei denen das so ist, erregen unsere Aufmerksamkeit. Die, die ein Kind adoptieren und trotzdem unfruchtbar bleiben, entgehen unserer Aufmerksamkeit. Anders gesagt: Bei einer illusorischen Korrelation verlassen wir uns zu sehr auf die Zelle links oben in . Abb. 1.6 und übersehen die gleichfalls sehr relevanten Informationen in den anderen Zellen. Auf illusorischen Korrelationen basieren zahlreiche Annahmen, an die die Menschen jahrelang geglaubt haben (und manche glauben noch heute daran), beispielsweise die Überzeugung, dass Kinder durch Zucker hyperaktiv werden, dass man sich eine Erkältung holt, wenn man nass und kalt wird und dass ein Wetterwechsel arthritische Beschwerden auslöst. Der Arzt Donald Redelmeier und der Psychologe Amos Tversky (1996) haben 18 arthritische Patienten 15 Monate lang begleitet. Die beiden Wissenschaftler erfassten sowohl die Berichte der Patienten über Schmerzen als auch das tägliche Wetter: Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck. Trotz der Überzeugungen der Patienten fand sich keine Korrelation zwischen dem Wetter und ihrem Leiden, weder am selben Tag noch an den beiden vorangegangenen oder folgenden Tagen. Aber auch CollegeStudenten sahen eine Korrelation, als man ihnen zufällig zusammengestellte Zahlenkolonnen mit der Überschrift »Arthritische Schmerzen« und »Luftdruck« vorlegte, obwohl es keinerlei Korrelation gab. Wir neigen anscheinend dazu, Muster wahrzunehmen, gleichgültig, ob sie nun vorhanden sind oder nicht. Wir sind empfänglich für dramatische oder ungewöhnliche Vorfälle, deshalb nehmen wir mit großer Wahrscheinlichkeit das Auftreten von zwei solchen Ereignissen hintereinander besonders aufmerksam zur Kenntnis und speichern sie im Gedächtnis. Genauso verhält es sich mit den Krebsheilungen bei positiv denkenden Menschen. Solche Fälle hinterlassen einen starken Eindruck bei Menschen, die glauben, dass eine positive Einstellung Krankheiten entgegenwirkt. Doch um zu erfassen, ob positives Denken tatsächlich eine Wirkung auf Krebs hat, brauchen wir drei weitere Arten von Informationen. Wir brauchen einen Schätzwert darüber, wie viele positiv denkende Menschen nicht geheilt wurden. Dann müssen wir wissen, wie viele Krebspatienten, die sich nicht auf positives Denken stützen, geheilt bzw. nicht geheilt wurden. Ohne diese Vergleichszahlen sagen die Heilungen in einigen wenigen Fällen nichts über die tatsächliche Korrelation zwischen Krankheit und Einstellung aus. (7 Kap. 14 behandelt die Einflüsse von Emotionen auf Gesundheit und Krankheit.) ! Beim zufälligen Zusammentreffen von zwei unabhängigen Ereignissen neigen wir dazu, zu übersehen, dass es sich um einen Zufall handeln kann, und wir nehmen schnell einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen an. Wir täuschen uns leicht, indem wir einen Zusammenhang sehen, der gar nicht da ist.
35 1.3 · Korrelation
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1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen Ziel 11: Erklären Sie, warum Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen Ordnung wahrzunehmen.
Illusorische Korrelationen haben ihren Ursprung in unserer naturgegebenen Bereitschaft, unserer Welt einen Sinn zu verleihen, eine Eigenschaft, die der Dichter Wallace Stevens unsere »Ordnungswut« nennt. Selbst in zufällig zusammengewürfelten Informationen suchen wir nach Bedeutung und Ordnungsmustern. Und meistens finden wir auch Regelmäßigkeiten, denn eine zufällige Abfolge von Daten sieht häufig nicht zufällig aus. Schauen Sie sich die Ergebnisse beim Münzenwerfen an: Wenn jemand 6-mal eine Münze wirft, welche der folgenden Resultate von Kopf (K) oder Zahl (Z) hat wohl die höchste Wahrscheinlichkeit: KKKZZZ oder KZZKZK oder KKKKKK? Kahneman u. Tversky (1972) fanden, dass den meisten Menschen eine Folge von KZZKZK am wahrscheinlichsten erscheint. Tatsächlich ist die Auftretenswahrscheinlichkeit für alle drei Sequenzen gleich (man könnte auch sagen: sie sind alle gleich unwahrscheinlich). Ein Bridge- oder Pokerblatt durchgehend von 10 bis As (und alles von der Farbe Herz) ist scheinbar ein außergewöhnliches Ereignis, tatsächlich ist es nicht mehr und nicht weniger außergewöhnlich als jede andere Sequenz (. Abb. 1.7). Tatsächlich treten in Zufallssequenzen Muster oder Reihen (wie wiederholte Ziffern) öfter auf, als die Menschen glauben. Um mir das einmal selbst zu demonstrieren – und Sie können das natürlich selbst auch probieren –, habe ich eine Münze 51-mal geworfen. Hier die Ergebnisse: K Z Z Z K K K Z Z
10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Z Z K K Z Z K Z Z
19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27.
K K Z Z K Z Z Z K
28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.
Z K Z Z Z Z Z Z K
37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45.
Z Z K Z K K K K Z
46. 47. 48. 49. 50. 51.
K K Z Z Z Z
Beim Anschauen dieser Ergebnisse springen einem Muster in die Augen: Die Würfe 10 bis 22 haben ein fast perfektes Muster von Paaren aus Kopf und Zahl. Von 30 bis 38 hatte ich eine »Pechsträhne« und warf bei acht Würfen nur einmal Kopf. Aber dann war mir Fortuna gnädig, und ich warf bei den nächsten zehn Würfen siebenmal Kopf. Ähnliche Pechsträhnen kommen in etwa so häufig, wie man es bei zufälligen Folgen erwarten würde, beim Basketball, beim Fußball und beim Zusammenstellen eines Portfolios von Kapitalanlagen vor (Gilovich et al. 1985; Malkiel 1989, 1995; Myers 2002). Ob es nun um den Münzwurf, um Basketball oder darum geht, die Leistung eines Anlageberaters zu überprüfen, Zufallsfolgen sehen oft nicht zufällig aus und werden deshalb oft überinterpretiert (»Er hat eine Glückssträhne, lassen wir ihn den Elfmeter ausführen.«). Was beweist nun dieses Muster von Pechsträhnen? Habe ich meine Münze auf irgendeine paranormale Art gesteuert? Bin ich aus meiner Glückssträhne mit Zahlwürfen in eine mit Kopftreffern gerutscht? Aber eine Erklärung ist gar nicht erforderlich, denn das sind genau die Zahlen, die man bei solchen vom Zufall gesteuerten Daten antrifft. Vergleicht man jeden Wurf mit dem nächsten, dann ergibt sich, dass 24 der 50 Würfe jeweils ein anderes Ergebnis erbrachten: Das ist genau das beinahe 50:50-Ergebnis, das beim Münzwurf zu erwarten ist. Trotz des scheinbaren Musters gibt das Ergebnis eines Wurfes keinerlei Hinweis auf das Ergebnis des folgenden Wurfes. Manche Dinge sind jedoch so ungewöhnlich, dass wir nicht ohne weiteres eine zufallsbezogene Erklärung akzeptieren können (wie es beim Münzenwerfen doch der Fall war). Statistiker finden das allerdings weniger geheimnisvoll. Als Evelyn Marie Adams zweimal die New-Jersey-Lotterie gewann, meldeten die Zeitungen, dass die Quote, dieses Kunststück zu vollbringen, bei 1 zu 17 Billionen liegt. Seltsam? Nun, die Chance von 1 zu 17 Billionen ist tatsächlich genau die Chance,
M. Barton
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
. Abb. 1.7. Zwei zufällige Kartenfolgen Die Chancen, das eine oder das andere Blatt zu bekommen, sind genau gleich groß, nämlich 1 zu 2.598.960
Bizarre Sequenz computergenerierter Zufallszahlen Sieht zwar merkwürdig aus, ist aber tatsächlich nicht unwahrscheinlicher als jede andere Zahlenfolge
36
Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
mit der eine bestimmte Person, die zwei Lose der New-Jersey-Lotterie kauft, zweimal gewinnt. Die Statistiker Stephen Samuels und George McCabe (1989) berechneten, dass bei den Millionen Menschen, die ein Los der staatlichen Lotterie kaufen, ziemlich sicher irgendeiner irgendwann zweimal den Jackpot knacken wird. Tatsächlich können die unglaublichsten Dinge geschehen, sagen die Statistiker Persi Diaconis und Frederick Mosteller (1989), »wenn die Stichprobe nur groß genug ist«. »Ein wirklich außergewöhnlicher Tag wäre ein Tag ohne außergewöhnliche Ereignisse«, fügt Diaconis hinzu. Ein Ereignis, das täglich nur einen Menschen aus einer Milliarde betrifft, kommt immerhin sechsmal täglich vor, das heißt, 2000-mal pro Jahr.
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Lernziele Abschnitt 1.3 Korrelation Ziel 8: Beschreiben Sie positive und negative Korrelationen und erklären Sie, wie Korrelationsmaße etwas zum Vorhersageprozess beitragen können. Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für die Stärke und Dauerhaftigkeit eines Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren. Bei einer positiven Korrelation (von größer als 0 bis +1,00) wachsen die beiden Faktoren zusammen an und nehmen zusammen wieder ab. Bei einer negativen Korrelation (von kleiner als 0 bis –1,00) nimmt eine Variable in dem Maße zu, wie die andere abnimmt. Streudiagramme (Scatterplots) zeigen eine mögliche Korrelation und damit einen Zusammenhang, den wir sonst nicht wahrgenommen hätten. Ziel 9: Erklären Sie, warum es durch Korrelationsforschung nicht gelingen kann, Belege für Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu liefern. Eine Korrelation ist ein Hinweis auf einen möglichen Ursache-WirkungsZusammenhang; aber sie ist kein Beweis für Kausalität oder, wenn Kausalität vorhanden ist, für die Richtung des Einflusses. Ursache für die Korrelation kann ein dritter Faktor sein.
1.4
Ziel 10: Beschreiben Sie, wie Menschen auf illusorische Korrelationen kommen. Illusorische Korrelationen sind zufällige Ereignisse, die wir bemerken und bei denen wir einen Zusammenhang zu erkennen glauben. Sie sind aus unserer Anfälligkeit für dramatische oder ungewöhnliche Ereignisse zu erklären. Glauben wir erst einmal, dass zwei Dinge zusammenhängen, dann neigen wir dazu, Beispiele zu beobachten und zu erinnern, durch die diese Überzeugung bestätigt wird. Ziel 11: Erklären Sie, warum Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen Ordnung wahrzunehmen. Bei dem Versuch, der Welt um uns herum einen Sinn zu geben, suchen wir nach Mustern. In Mengen zufälliger Daten kommen natürlich Muster und Sequenzen vor, aber wir neigen dazu, diese Muster als bedeutungsvolle Zusammenhänge zu interpretieren. > Denken Sie weiter: Sind Sie in letzter Zeit auf ein Beispiel für Korrelationsforschung gestoßen (Berichte von Freunden oder in den Medien)? Wurde da eine nicht gerechtfertigte oder unhaltbare Schlussfolgerung gezogen?
Experiment
»Glücklich ist, wer die Ursachen der Dinge erkennen kann«, sagte der römische Dichter Vergil. Wir führen endlose Debatten über die Frage, warum wir tun, was wir tun. Warum rauchen Menschen? Warum bekommt ein Mädchen ein Kind, während es selbst noch ein Kind ist? Warum machen wir Dummheiten, wenn wir betrunken sind? Warum gibt es Jugendliche, die so gestört sind, dass sie auf ihre Klassenkameraden schießen? Zwar kann die Psychologie keine direkte Antwort auf solche Fragen geben, doch kann sie helfen zu verstehen, wie es zum Drogenmissbrauch oder zu bestimmten sexuellen Verhaltensweisen kommt, was wir denken, wenn wir uns betrinken, oder wie Aggression entsteht.
1.4.1 Ursache und Wirkung Ziel 12: Erklären Sie, wie Experimente Forschern helfen, Ursache und Wirkung auseinander zu halten.
Viele Faktoren beeinflussen unser Verhalten im Alltag. Um Ursache und Wirkung auseinander zu halten – etwa bei der Suche nach den Ursachen der Depression –, kontrollieren Psychologen andere Faktoren statistisch. Ein Beispiel: Viele Untersuchungen ergaben, dass ge-
37 1.4 · Experiment
stillte Kinder in Intelligenztests etwas besser abschneiden als Flaschenkinder, die mit Kuhmilch ernährt wurden (Angelsen et al. 2001; Mortensen et al. 2002; Quinn et al. 2001). Muttermilch korreliert leicht positiv mit späterer Intelligenz. Bedeutet das, dass klügere Mütter (die häufiger stillen) klügere Kinder haben? Oder liegt es daran, wie manche Wissenschaftler glauben, dass die Nährstoffe in der Muttermilch die Gehirnentwicklung fördern? Um diese Frage zu beantworten, haben Forscher folgende Faktoren »kontrolliert«, d. h. die folgenden Unterschiede statistisch ausgeschaltet: Alter, Bildungsgrad und Intelligenz der Mutter. Und auch da zeigte sich, dass gestillte Kinder im Kleinkindalter eine etwas höhere Intelligenz aufwiesen. Will man Ursache und Wirkung voneinander trennen, dann ist der beste und sauberste Weg immer noch das Experiment. Mit Hilfe eines Experiments kann sich der Forscher auf die möglichen Wirkungen eines oder mehrerer Faktoren konzentrieren, indem er 4 den interessierenden Faktor manipuliert und 4 andere Faktoren konstant hält (»kontrolliert«). Es ist klar, dass bei Korrelationen zwischen der Ernährung des Kleinkindes und späterer Intelligenz nicht alle anderen möglichen Faktoren konstant gehalten (kontrolliert) werden können, deshalb entschloss sich ein britisches Forscherteam unter Alan Lucas zu einem Experiment mit 424 Säuglingen, die als Frühgeburten im Krankenhaus bleiben mussten. Mit Erlaubnis der Eltern wiesen die Wissenschaftler einen Teil der Säuglinge einer Gruppe zu, die mit Fertigmilch ernährt wurde, während die Kinder der anderen Gruppe gespendete Muttermilch erhielten. Im Alter von 8 Jahren wurden die Kinder einem Intelligenztest unterzogen. Dabei erzielten die Muttermilchkinder signifikant höhere Werte als die Kinder, die Fertigmilch erhalten hatten. Natürlich erlaubt ein einzelnes Experiment keine endgültige Schlussfolgerung, doch in diesem Fall konnten die Wissenschaftler durch die Randomisierung der Gruppen alle Faktoren mit Ausnahme der Ernährung konstant halten. Auf diese Weise konnte man andere Erklärungen ausschalten und gleichzeitig die Schlussfolgerung stützen, dass tatsächlich, soweit es um die Entwicklung der Intelligenz bei Frühgeburten geht, Stillen die bessere Art der Ernährung darstellt. (Anmerkung: Den anderen Kindern bei diesem Experiment wurde kein Schaden zugefügt; denn sie erhielten die normale Fertigmilch.) Verändert sich ein Verhalten (beispielsweise die Testleistung), wenn wir den Experimentalfaktor variieren (so wie bei der Ernährung dieser Kinder), dann wissen wir, dass dieser Faktor einen Effekt hat. ! Im Gegensatz zu Korrelationsstudien, die natürlich auftretende Zusammenhänge aufdecken, wird bei einem Experiment ein Faktor manipuliert, um seinen Effekt zu bestimmen. Wenn man sich kritisch mit der Psychologie als Wissenschaft auseinander setzen will, besteht ein zentraler Punkt darin, dass man versteht, was ein Experiment ist (7 die folgenden Experimente).
1.4.2 Therapieevaluation Ziel 13: Erklären Sie, warum unser Vertrauen in experimentelle Befunde auf dem Doppelblindverfahren und der zufälligen Zuweisung von Personen zu Versuchsbedingungen beruht.
Unsere Neigung, nach neuen Heilmitteln zu suchen, wenn wir krank oder niedergeschlagen sind, kann irreführende Belege hervorbringen. Wenn wir am dritten Tag einer Erkältung Vitamin C nehmen und feststellen, dass sich die Symptome bessern, dann führen wir das auf die Tabletten zurück und nicht darauf, dass die Erkältung automatisch nach ein paar Tagen abklingt. Wenn wir bei der ersten Prüfung beinahe durchfallen, daraufhin subliminal dargebotene »SuperlearningKassetten« anhören und in der nächsten Prüfung besser abschneiden, dann werden wir das wahrscheinlich eher der Wirkung der Kassette zuschreiben als der Tatsache, dass wir unser normales Leistungsniveau wiedergefunden haben. Im 18. Jahrhundert schien Aderlass ein wirksames Heilmittel zu sein. Manchmal ging es dem Kranken nach der Behandlung besser; war das nicht der Fall, dann schloss der Arzt daraus, dass die Krankheit schon zu weit fortgeschritten war (wir wissen heute natürlich, dass der Aderlass eine schlechte Form der Behandlung ist). Ganz gleich,
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Experiment (experiment): Forschungsmethode, bei der der Forscher einen oder mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert, um die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (abhängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer zu verschiedenen Gruppen (randomisierte Gruppen) können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden.
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Doppelblindversuch (double-blind procedure): experimentelles Vorgehen, bei dem sowohl die Teilnehmer an dem Versuch als auch die Mitarbeiter des Versuchsleiters nicht wissen (blind sind), ob die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Placebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der Evaluation von Studien zur Wirkung von Medikamenten angewandt.
Placeboeffekt (placebo effect): Ergebnis eines Experiments, bei dem die Wirkung ausschließlich durch die Erwartung einer Wirkung zustande kommt. Jede Auswirkung auf das Verhalten, die durch die Verabreichung einer unwirksamen Substanz hervorgerufen wird, von der der Versuchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie wirkt, ist auf den Placeboeffekt zurückzuführen.
Versuchsbedingung (experimental condition): Bedingung eines Versuchs, bei dem die Teilnehmer einer Behandlung unterzogen werden, die in diesem Fall die unabhängige Variable darstellt.
Kontrollbedingung (control condition): Bedingung eines Versuchs, die im Gegensatz zur Versuchsbedingung steht und bei der Evaluation der Wirkung als Vergleich herangezogen wird.
Randomisierung oder Zufallszuweisung (random assignment): Die Teilnehmer an der Versuchs- und an der Kontrollbedingung werden zufällig ausgewählt. Dadurch wird es höchst unwahrscheinlich, dass die beiden Gruppen sich vorher bereits unterscheiden und somit der Effekt nicht eindeutig auf die Versuchsbedingungen zurückgeführt werden kann.
ob ein Heilmittel tatsächlich heilt oder nicht, es wird immer begeisterte Anhänger finden. Um festzustellen, ob es tatsächlich heilt, müssen wir ein Experiment durchführen. In genau dieser Weise werden neue Medikamente und neue psychologische Therapiemethoden evaluiert (7 Kap. 17). Viele dieser Untersuchungen verwenden das Doppelblind-Versuchsdesign, bei dem die Teilnehmer nicht wissen, welche Behandlung sie erhalten oder ob sie überhaupt behandelt werden. Eine Gruppe erhält das Heilmittel, die andere erhält eine Pseudobehandlung, ein wirkungsloses Placebopräparat (z. B. eine Tablette ohne Wirkstoff). Oft wissen weder die Teilnehmer noch die Assistenten des Versuchsleiters, welche Gruppe das Medikament erhält. Mit Hilfe eines solchen Doppelblindversuchs können die Wissenschaftler die tatsächliche Wirkung einer Behandlung prüfen, unabhängig von der Begeisterung der Teilnehmer (oder des Versuchsleiters) für das Medikament oder die Behandlung und unabhängig von der heilenden Kraft des Glaubens. Der Placeboeffekt ist bei Schmerzen, Depression und Angststörungen gut dokumentiert (Kirsch u. Saphirstein 1998). Schon der bloße Gedanke, dass man behandelt wird, kann die Lebensgeister wieder wecken, den Körper entspannen und zu einer Verringerung der Symptome führen. Der Doppelblindversuch ist eine Möglichkeit, eine Versuchsbedingung zu schaffen, bei der die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Medikament bekommen, und eine Kontrollbedingung, bei der dies nicht der Fall ist. Da die Zuweisung zu der jeweiligen Gruppe nach dem Prinzip der Randomisierung erfolgt, können die Forscher einigermaßen sicher sein, dass die Gruppen in Bezug auf andere Faktoren – Alter, Einstellung und weitere Merkmale – ansonsten so ähnlich wie möglich sind. Dank einer Randomisierung, wie sie bei dem Versuch mit den Muttermilchbabys vorgenommen wurde, können wir auch gewährleisten, dass eventuelle spätere Unterschiede zwischen den Teilnehmern an der Experimentalgruppe und denen der Kontrollgruppe gewöhnlich das Ergebnis der Behandlung bzw. des Medikaments sind. Ein weiteres Beispiel: Auf den Rat ihres Arztes hin unterzogen sich Millionen von Frauen nach der Menopause einer Hormonersatztherapie. In Korrelationsstudien hatte man gefunden, dass Frauen, die Hormone nahmen, weniger häufig an Herzkrankheiten litten, einen Schlaganfall hatten oder Darmkrebs bekamen. Aber vielleicht waren diese Frauen auch gesundheitsbewusster, gingen öfter zum Arzt, trieben Sport und aßen vernünftig. Die Frage war demnach, ob die Hormone die Frauen gesünder machten oder ob sich gesunde Frauen eher dieser Therapie unterziehen. Die staatliche Gesundheitsbehörde der USA veröffentlichte 2002 das überraschende Ergebnis eines groß angelegten Versuchs, bei dem 16.608 gesunde Frauen per Zufallszuweisung entweder eine Hormontherapie oder ein Placebo erhielten. Das schreckliche Ergebnis war: Beim Vergleich mit den Frauen der Kontrollgruppe zeigte sich, dass die Frauen, die Hormone nahmen, mehr gesundheitliche Probleme hatten (Love 2002).
1.4.3 Unabhängige und abhängige Variablen Ziel 14: Erklären Sie den Unterschied zwischen unabhängiger und abhängiger Variable.
Unabhängige Variable (independent variable): Faktor im Experiment, der manipuliert wird und dessen Wirkung untersucht wird.
Die Viagrastudie ist ein noch überzeugenderes Beispiel. Viagra erhielt die Zulassung, nachdem das Präparat in 21 klinischen Versuchen getestet worden war. Zu diesen Versuchen gehörte auch ein Experiment, bei dem die Wissenschaftler 329 Männer, die an Impotenz litten, entweder einer Experimentalgruppe (die Viagra erhielt) oder einer Kontrollgruppe (die ein Placebo erhielt) zuwiesen. Das Experiment war als Doppelblindversuch angelegt, d. h. weder die Teilnehmer noch die Assistenten, die das Präparat austeilten, wussten, wer Viagra und wer das Placebo erhielt. Das Ergebnis: Mit der Höchstdosis Viagra war der Geschlechtsverkehr in 69% der Fälle erfolgreich; bei den Männern, die das Placebo erhalten hatten, waren es nur 22% (Goldstein et al. 1998). Viagra hatte demnach einen Effekt. Dieses einfache Experiment manipulierte nur das Präparat, also nur einen Faktor. Diesen Experimentalfaktor nennen wir die unabhängige Variable. Unabhängig deshalb, weil wir sie bei randomisierten Gruppen ohne Berücksichtigung anderer Faktoren variieren können wie etwa das Alter der Männer, ihr Körpergewicht oder ihre Persönlichkeit (dies sollte mit Hilfe der Zufallszuweisung kontrollierbar sein). Ein Experiment untersucht die Wirkung von einer oder mehreren
39 1.4 · Experiment
1
. Abb. 1.8. Experiment Um Kausalität festzustellen, weisen Psychologen einige Versuchsteilnehmer einer experimentellen Behandlung zu, andere einer Kontrollbedingung. Durch die Messung einer abhängigen Variable (Intelligenztestwert) wird die Wirkung der unabhängigen Variable bestimmt (Art der Milch)
unabhängigen Variablen auf ein messbares Verhalten. Das, was untersucht und gemessen wird (etwa eine bestimmte Verhaltensweise) wird abhängige Variable genannt, weil es sich unter dem Einfluss des Experiments verändern kann. Beide Variablen werden genauestens operationalisiert. Die operationale Definition der Variablen spezifiziert den Prozess, der die unabhängige Variable manipuliert (bei dem Viagraexperiment war das die Gabe von Viagra oder einem Placebo bzw. die Viagradosis) und die abhängige Variable misst (im Viagra-Experiment die Fragen, mit denen die Reaktionen der Männer erfasst wurden). Diese operationalen Definitionen der Variablen sind die Antwort auf die Frage an den Forscher »Was haben Sie gemacht?«. Sie werden so genau definiert, damit andere die Untersuchung wiederholen (replizieren) können (zu einem weiteren Versuchsdesign . Abb. 1.18). Experimente können auch hilfreich dabei sein, sozialpolitische Programm zu evaluieren. Lassen sich durch Bildungsprogramme für kleine Kinder die Chancen benachteiligter Menschen erfolgreich verbessern? Worin bestehen die Wirkungen unterschiedlicher Kampagnen gegen das Rauchen? Lässt sich durch Sexualerziehung in der Schule die Anzahl der Schwangerschaften unter Mädchen verringern? Um diese Fragen zu beantworten, können wir Experimente entwerfen: Wenn ein Programm allgemein gutgeheißen wird, aber die Ressourcen knapp sind, können wir ein Losverfahren dazu nutzen, einige Personen (oder Regionen) nach zufälligen Kriterien einem neuen Programm zuzuweisen und andere einer Kontrollbedingung. Sollten sich die beiden Gruppen später unterscheiden, wurde der Effekt der Intervention bestätigt (Passell 1993).
Abhängige Variable (dependent variable): Faktor im Experiment, der gemessen wird (in der Psychologie handelt es sich dabei i. Allg. um ein Verhalten oder einen mentalen Prozess). Diese Variable kann sich als Reaktion auf die Manipulationen der unabhängigen Variablen verändern.
! Merken Sie sich die Unterscheidung zwischen Zufallsstichprobe bei Befragungen und Zufallszuweisung bei Experimenten. Mit Hilfe der Zufallsstichprobe können wir die Ergebnisse der Befragung einer größeren Population generalisieren. Mit der Zufallszuweisung können wir äußere Einflüsse gering halten und den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlicher herausarbeiten.
Lassen Sie uns rekapitulieren: Eine Variable ist ein Faktor, den man variieren (verändern) kann: Säuglingsnahrung, Intelligenz, Fernsehkonsum – alles, was innerhalb der Grenzen des Möglichen und des ethisch Vertretbaren bleibt. Ein Experiment dient dazu, eine unabhängige Variable zu manipulieren, eine abhängige Variable zu messen und alle anderen Variablen zu kontrollieren. Ein . Tabelle 1.3. Forschungsmethoden im Überblick
Forschungsmethode
Forschungsziel
Praktische Durchführung
Manipuliert wird
Mögliches Problem
Beschreibung
Verhalten beobachten und beschreiben
Fallstudien, Befragungen oder naturalistische Beobachtung
Nichts
Nicht repräsentative Stichprobe; Urteilsfehler bei der Beobachtung
Korrelationsstudie
Aufdeckung naturgegebener Zusammenhänge
Statistische Berechnung der Zusammenhänge, dient manchmal zur Auswertung der Ergebnisse einer Befragung
Nichts
Macht keine Aussage über Ursache und Wirkung
Experiment
Erkundung von UrsacheWirkungs-Zusammenhängen
Ein oder mehrere Faktoren werden manipuliert; Zufallszuweisung
Die unabhängige(n) Variable(n)
Manchmal nicht durchführbar; Ergebnisse nicht immer generalisierbar
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Experiment besteht aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen: einer Versuchs- oder Experimentalgruppe und einer Vergleichs- oder Kontrollgruppe. Die Zufallszuweisung hat zur Folge, dass die Ausgangsbedingungen in beiden Gruppen so ähnlich wie möglich gehalten werden. Dadurch kann das Experiment Aufschluss über die Wirkung von mindestens einer unabhängigen Variable (dem, was wir manipulieren) auf mindestens eine abhängige Variable (dem Ergebnis, das wir erfassen) geben. In . Tab. 1.3 werden die wichtigsten Merkmale der psychologischen Forschungsmethoden miteinander verglichen.
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Lernziele Abschnitt 1.4 Das Experiment Ziel 12: Erklären Sie, wie Experimente etwas dazu beitragen, dass Forscher Ursache und Wirkung auseinander halten können. Psychologen führen Experimente durch, um Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung aufzudecken. Durch die Manipulierung eines oder mehrerer interessierender Faktoren und durch die Kontrolle anderer Faktoren lässt sich feststellen, ob die unabhängigen Variablen ein bestimmtes Verhalten oder einen mentalen Prozess beeinflussen. Ziel 13: Erklären Sie, warum unser Vertrauen in experimentelle Befunde auf dem Doppelblindverfahren und der zufälligen Zuordnung zu Versuchsbedingungen beruht. Beim Doppelblindversuch wissen weder die Forscher noch die Versuchsteilnehmer, ob die Versuchsteilnehmer die Behandlung oder ein Placebo bekommen. Dies wirkt der Möglichkeit entgegen, dass ein Placeboeffekt oder die Erwartungen des Forschers unabsichtlich die Ergebnisse der Studie beeinflussen. Durch eine Zufallszuweisung zu den Bedingungen
1.5
werden die vorher bestehenden Unterschiede zwischen den Gruppen möglichst gering gehalten. Die Teilnehmer werden per Zufall der Experimentalgruppe (der Gruppe, die die Behandlung bekommt) oder der Kontrollgruppe (einer Gruppe, die keine Behandlung oder eine andere Variante der Behandlung bekommt) zugewiesen. Ziel 14: Erklären Sie den Unterschied zwischen unabhängiger und abhängiger Variable. Die unabhängige Variable ist der Faktor, den man manipuliert, um den Effekt zu untersuchen. Die abhängige Variable ist der Faktor, den man misst, um etwaige Veränderungen aufzudecken, die in Reaktion auf diese Manipulationen auftreten. > Denken Sie weiter: Sollten Sie als Psychologe oder Psychologin in der Forschung arbeiten, welche Fragen würden Sie dann gern mit Hilfe von Experimenten näher erforschen?
Grundlagen statistischer Argumentation
Ziel 15: Erklären Sie, warum die Prinzipien der Statistik wichtig sind, und nennen Sie ein Beispiel dafür, wie sie im Alltag genutzt werden.
Nachdem wir die Daten gewonnen haben, müssen sie geordnet und zusammengefasst werden, damit man mit Hilfe statistischer Methoden Schlussfolgerungen ziehen kann. Die statistischen Methoden unserer Zeit sind Werkzeuge, mit deren Hilfe man Ergebnisse sehen und interpretieren kann, die ohne statistische Aufbereitung nicht erkennbar wären. Oft wird die Wirklichkeit durch spontane Schätzungen verfälscht, was wiederum dazu führt, dass die Öffentlichkeit falsche Informationen erhält. Jemand wirft eine große runde Zahl in die Diskussion. Andere nehmen sie auf, und in kürzester Zeit wird aus der großen runden Zahl eine Fehlinformation. Hier ein paar Beispiele: 4 10% der Bevölkerung sind homosexuell (Männer und Frauen). Oder sind es nur 2–3%, wie das Ergebnis verschiedener Befragungen lautet? 4 10% der Deutschen (8 Mio.) haben keine Wohnung. Oder sind es doch nur etwa 345.000, wie die Schätzung der BAG Wohnungslosenhilfe für das Jahr 2004 besagt? 4 Wir nutzen normalerweise nur 10% unseres Gehirns. Oder doch fast 100%? (7 Kap. 2; welche 90% – oder auch nur 10% – würden Sie denn opfern?) 4 Wir erinnern uns an 10% dessen, was wir lesen, an 20% dessen, was wir hören, an 30% dessen, was wir sehen, und an 80% dessen, was wir sagen. Dies berichtet zumindest die British Audio Visual Society (Genovese 2004). Oder sind es, wie es in einem Buch über Lernen heißt, 20% dessen, was wir lesen, 30% dessen, was wir hören, 40% dessen, was wir sehen, und 50% dessen, was wir sagen?
41 1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation
! Große runde Zahlen, die nicht belegt sind, sollten Sie immer mit Vorsicht betrachten. Statt solche Angaben einfach zu schlucken, sollten Sie lieber noch einmal nachdenken und einfache statistische Grundsätze auf derartige Argumentationen anwenden.
1.5.1 Datenbeschreibung Ziel 16: Erklären Sie, warum Daten durch Säulendiagramme eventuell irreführend dargestellt werden.
Sind die Rohdaten gesammelt, besteht die erste Aufgabe der Wissenschaftler darin, sie zu ordnen. Eine Möglichkeit dafür ist die Verwendung eines einfachen Säulendiagramms (. Abb. 1.9), das z. B. die Verteilung von Lastwagen verschiedener Marken zeigt, die nach 10 Jahren noch in Betrieb sind. Bei derartigen Diagrammen ist allerdings Vorsicht geboten. Je nachdem, was betont werden soll, kann das Diagramm so gezeichnet werden, dass Unterschiede gering oder groß ausfallen. Das kann man in der Abbildung leicht sehen. ! Lassen Sie sich also nichts vormachen. Wenn Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Abbildungen präsentiert werden, lesen Sie die Bezeichnung der Achsen und achten Sie auf den dargestellten Bereich (Variationsbreite, »range«).
Maße der zentralen Tendenz Ziel 17: Beschreiben Sie die drei Maße der zentralen Tendenz und geben Sie an, welches am meisten durch Extremwerte beeinflusst wird.
Der nächste Schritt bei der Bearbeitung der Rohdaten ist die Zusammenfassung mit Hilfe der Maße zur »zentralen Tendenz«, eines einziges Wertes, mit dessen Hilfe die Gesamtmenge der Werte dargestellt wird. Die einfachste Maßzahl ist der Modalwert, das ist der Wert, der am häufigsten auftritt (bzw. die Werte, die am häufigsten auftreten). Die bekannteste Maßzahl ist der Mittelwert, das arithmetische Mittel. Dabei werden sämtliche Werte addiert und durch die Anzahl der Werte dividiert. Der Median teilt die Menge der Daten genau in der Mitte, d. h., wenn Sie die Werte graphisch anordnen, liegt die eine Hälfte unter dem Median, die andere Hälfte darüber. Die Maße der zentralen Tendenz bringen die Daten in eine gewisse Ordnung. Doch achten Sie darauf, was mit dem Mittelwert geschieht, wenn die Verteilung nach einer Seite hängt, also schief ist. Wenn wir Daten betrachten, die das Einkommen beschreiben, dann berichten Median,
Modalwert (mode): der in einer Verteilung am häufigsten auftretende Wert. Mittelwert oder arithmetisches Mittel (mean): wird berechnet durch die Addition sämtlicher Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl der Werte dividiert. Median (median): teilt die Werte einer Verteilung genau in der Mitte. Eine Hälfte der Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes.
. Abb. 1.9a, b. Achten Sie auf die Skaleneinteilung Ein amerikanischer Lastwagenhersteller wollte die Haltbarkeit von Lastwagen verschiedener Marken – einschließlich seiner eigenen – graphisch darstellen (a) und dadurch die bessere Qualität seines Produktes hervorheben. Sie können jedoch leicht erkennen, dass die scheinbaren Unterschiede lediglich auf den dargestellten Skalenausschnitt zurückzuführen sind: Die Unterschiede verschwinden fast völlig, wenn die Skala verändert wird (b)
a
b
1
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1
1 Familie
Einkommen pro Familie in tausend Euro
. Abb. 1.10. Schiefe Verteilung Diese graphische Darstellung der Einkommensverteilung illustriert die drei Maße der zentralen Tendenz: Modalwert, Median und Mittelwert. Beachten Sie, wie einige wenige hohe Einkommen den Mittelwert – den Dreh- und Angelpunkt, der die Einkünfte oberhalb und unterhalb austariert – nach oben verschieben
Der Durchschnittserwachsene hat einen Eierstock und einen Hoden.
Modal- und Mittelwert jeweils sehr unterschiedliche Geschichten (. Abb. 1.10). Das liegt daran, dass der Mittelwert durch ein paar Extremwerte verfälscht wird. Wenn sich Bill Gates, der Gründer von Microsoft, in ein kleines Café setzt, steigt mit einem Mal das mittlere Einkommen (Mittelwert) der dort Versammelten enorm an: Der Durchschnittsgast wird zum Milliardär. Wenn Sie das verstanden haben, können Sie nachvollziehen, weshalb eine englische Tageszeitung mit folgender Schlagzeile erscheinen konnte: »Das Einkommen von 62% der Bevölkerung liegt unter dem Durchschnitt« (Waterhouse 1993). Weil die untere Hälfte der englischen Arbeitnehmer nur ein Viertel des gesamten Volkseinkommens erhält, liegt das Einkommen der meisten Engländer unter dem Mittelwert. Das gilt aber nicht nur für die Engländer, sondern ist in allen Ländern der Erde so. Auch die Einkommen von Profisportlern bilden eine schiefe Verteilung. So verdienten in der Spielsaison 1998/99 deutsche Fußballer im Durchschnitt 830.000 DM (420.000 EUR), wobei die Gehälter von 50% der Spieler unter 550.000 DM (280.000 EUR) und damit deutlich unter dem Mittelwert lagen (Swieter 2002). Die schiefe Verteilung ergab sich dabei aus den Spitzengehältern einiger Superstars, die damals bis zu 6,5 Mio. DM (3,3 Mio. EUR) verdienten. (Im Jahr 2003 soll laut dem französischen Fußballmagazin »France Football« das Gehalt von Oliver Kahn bereits bei 7,65 Mio. EUR gelegen haben, was sicher nicht zu einer gleichmäßigeren Verteilung geführt haben dürfte.) In den Vereinigten Staaten beschrieben die Befürworter und die Gegner die Steuerbefreiungen im Jahr 2003 mit Hilfe unterschiedlicher Statistiken, die aber beide stimmten. Das Weiße Haus erklärte, dass »92 Millionen Amerikaner eine durchschnittliche Steuerbefreiung von 1083 Dollar bekommen werden«. Die Gegner stimmten zu, merkten jedoch an, dass 50 Millionen Steuerzahler keine Steuerbefreiung bekämen und dass die Hälfte der 92 Millionen, die einen Nutzen von der Steuerreform hätten, weniger als 100 Dollar erhielten (Krugman 2003). Mittelwert und Median besagen beide etwas Wahres, aber eben auch etwas Unterschiedliches. ! Achten Sie immer darauf, welches Maß der zentralen Tendenz einem Bericht zugrunde liegt. Handelt es sich dabei um den Mittelwert, dann schauen Sie nach, ob nicht ein paar untypische Werte den Mittelwert verzerren.
Maße der Variabilität (Dispersionsmaße)
C. Styrsky
Ziel 18: Beschreiben Sie zwei Maße der Variabilität.
»Schatz, die Weltbevölkerung hat sich in den letzten 100 Jahren verdreifacht, während unsere natürlichen Ressourcen kontinuierlich abnehmen…«
Die Maße der zentralen Tendenz können uns bereits eine gewisse Menge an Informationen vermitteln. Es ist allerdings auch hilfreich, über die Variabilität (Streuung) innerhalb der Datenmenge Bescheid zu wissen, beispielsweise, ob die Werte dicht beieinander liegen oder sehr unterschiedlich ausfallen. Der Mittelwert einer Stichprobe mit geringer Variabilität sagt mehr aus als der Mittelwert von Daten mit hoher Variabilität. Nehmen wir einmal die Handballer als Beispiel: Von einer Spielerin, die in den ersten zehn Spielen der Saison jeweils zwischen vier und sechs Treffer erzielte, erwarten wir, dass sie in ihrem nächsten Spiel etwa fünfmal trifft. Hätte ihre Trefferquote zwischen zwei und zehn geschwankt, dann könnten wir unserer Prognose nicht allzu sehr vertrauen.
1
43 1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation
. Tabelle 1.4. Die Standardabweichung ist viel informativer als nur der Mittelwert Anmerkung: Beachten Sie bitte, dass die Testwerte in Klasse A und Klasse B denselben Mittelwert (80) aufweisen, aber ganz unterschiedliche Standardabweichungen. Beides zusammen sagt mehr darüber aus, welche Leistungen die Schülerinnen und Schüler in jeder der beiden Klassen wirklich zeigten.
Testwerte in Klasse A
Testwerte in Klasse B
Testwert
Abweichung vom Mittelwert
72
–8
64
60
–20
400
74
–6
36
60
–20
400
77
–3
9
70
–10
100
79
–1
1
70
–10
100
82
+2
4
90
+10
100
84
+4
16
90
+10
100
85
+5
25
100
+20
400
87
+7
49
100
+20
400
Summe der (Abweichungen)2 = 204
Summe = 640
Summe = 640
Quadrierte Abweichung
Testwert
Mittelwert = 640 : 8 = 80
Mittelwert = 640 : 8 = 80
Standardabweichung =
Standardabweichung =
Die Variationsbreite der Daten, d. h. der Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert, liefert nur eine grobe Schätzung der Variation, denn schon ein paar »Ausreißer« können eine sonst durchaus einheitliche Gruppe sprengen. Wir haben in . Abb. 1.10 gesehen, wie zwei Einkommen von 475.000 EUR und 710.000 EUR für eine fälschlich viel zu große Variationsbreite sorgen. Ein besserer Standard, um zu erfassen, wie stark die Werte voneinander abweichen, ist die Standardabweichung, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt. Damit lässt sich besser erkennen, ob die Daten eng beieinander liegen oder über die gesamte Variationsbreite verstreut sind. In die Berechnung der Standardabweichung fließen Informationen über jeden einzelnen Messwert ein (. Tab. 1.4). Ein Beispiel: Wenn eine Universität nur Studenten mit einem bestimmten Intelligenz- und Bildungsniveau aufnimmt, dann wird die Standardabweichung der Ergebnisse eines Intelligenztests mit dieser Population deutlich geringer sein als die Standardabweichung bei einem Intelligenztest, der mit einer beliebigen Population außerhalb der Universität durchgeführt wird.
1.5.2 Inferenzstatistik Daten sind mehrdeutig. Wenn sich das Durchschnittsergebnis einer Gruppe (z. B. die Intelligenztestwerte der Muttermilchbabys) deutlich von dem der anderen Gruppe (der Fertigmilchbabys) unterscheidet: Wie können wir sicher sein, dass der Unterschied tatsächlich besteht und nicht durch zufällige Fluktuationen in der Stichprobe hervorgerufen wurde? Wie viel Vertrauen können wir in unsere Schlussfolgerung setzen, dass die beobachtete Differenz auch der tatsächlichen Differenz entspricht?
Wann ist ein beobachteter Unterschied reliabel (zuverlässig)? Ziel 19: Geben Sie drei Prinzipien an, mit deren Hilfe man über Stichproben hinweg generalisieren kann.
Wenn wir entscheiden müssen, ob unser Ergebnis zuverlässig genug ist, um eine Generalisierung zu erlauben, müssen wir drei Grundsätze beachten.
Abweichung vom Mittelwert
Quadrierte Abweichung
Summe der (Abweichungen)2 = 2000
Variationsbreite (range): Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert einer Verteilung.
Standardabweichung (standard deviation): berechnete Maßzahl, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt.
44
Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1. Nur repräsentative Stichproben sind aussagekräftig. Nicht die außergewöhnlichen und denkwürdigsten Einzelfälle, die man an den Rändern einer Verteilung findet (denken Sie an das Einkommen von Bill Gates), sind die beste Grundlage für eine Verallgemeinerung, sondern eine repräsentative Stichprobe von Fällen. Keine Studie umfasst eine repräsentative Stichprobe der gesamten Menschheit. Deshalb muss man darauf achten, aus welcher Population eine Studie ihre Stichprobe genommen hat. 2. Beobachtungsdaten mit geringer Streuung sind zuverlässiger als solche mit großer Streuung. Wir haben dazu das Beispiel der Handballspielerin gesehen, deren Punktzahl nur geringfügig variierte: Ein Durchschnittswert vermittelt zuverlässigere Informationen, wenn er aus Scores mit geringer Streuung berechnet wird. 3. Große Stichproben sind besser als kleine. Ein eifriger künftiger Student besucht zwei Universitäten und verbringt an jeder einen Tag. In der ersten Universität besucht er zwei zufällig ausgewählte Vorlesungen und findet die Professoren witzig und anregend. In der zweiten Uni sind die zufällig gewählten Professoren langweilig und wenig anregend. Zu Hause berichtet der Student (er lässt die kleine Stichprobengröße von nur zwei Dozenten in jeder Hochschule außer Acht) dann seinen Freunden von den »tollen Lehrern« der ersten Uni und den »schrecklichen Langweilern« der zweiten. Hier haben wir wieder den Fall, den wir so gut kennen und doch immer wieder vergessen.
1
! Durchschnittswerte, die auf der Grundlage von vielen Einzelfällen berechnet werden, sind zuverlässiger als Durchschnittswerte auf der Basis einiger weniger Fälle. Lassen Sie sich nicht von ein paar Einzelfällen beeindrucken. Verallgemeinerungen auf der Basis einiger unrepräsentativer Fälle sind nicht reliabel.
Wann ist ein Unterschied signifikant? Ziel 20: Erklären Sie, wie Psychologen entscheiden, ob Unterschiede bedeutsam sind.
Statistische Signifikanz (statistical significance): statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung dem Zufall zuzuschreiben ist.
Statistische Tests helfen uns dabei, zu bestimmen, ob Unterschiede bedeutsam sind. Die Logik, die hinter diesem Vorgehen liegt, ist die folgende: Wenn die Durchschnittswerte (Mittelwerte) von zwei Stichproben reliable (zuverlässige) Maßzahlen für die jeweilige Population sind (wenn also jeder Mittelwert auf vielen Beobachtungen beruht und nur wenig Variabilität aufweist), dann sind die Unterschiede zwischen den Gruppen (auch wenn sie nur geringfügig sind) wahrscheinlich gleichfalls reliabel. (Je geringer die Variabilität bei den jeweiligen Scores zu Aggression bei Männern und Frauen ausfällt, desto sicherer können wir sein, dass der beobachtete Gender- oder Geschlechtsunterschied reliabel ist.) Ist jedoch die Differenz zwischen den Mittelwerten der Stichproben groß, dann können wir noch sicherer sein, dass diese Differenz eine echte Differenz in den jeweiligen Populationen spiegelt. Also: Wenn die Mittelwerte der Stichproben reliabel und die Unterschiede zwischen den Mittelwerten relativ groß sind, dann sagen wir: Der Unterschied ist statistisch signifikant. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Unterschied, den wir beobachtet haben, wahrscheinlich nicht auf eine zufällige Variation zwischen den Stichproben zurückzuführen ist. Psychologen sind konservativ, wenn es darum geht, statistische Signifikanz zu bewerten. Sie sind wie ein Geschworenengericht, das so lange von der Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, bis die Schuld bewiesen ist. Für die meisten Psychologen fängt der Beweis über einen vernünftigen Zweifel hinaus erst dann an, wenn die Chance, dass das Ergebnis vom Zufall beeinflusst wurde, unter 5% liegt (ein willkürliches Kriterium). Wenn Sie Forschungsberichte lesen, sollten Sie daran denken, dass bei ausreichend großen oder homogenen Stichproben die Differenz zwischen den Stichproben zwar »statistisch signifikant« sein, aber nur wenig praktische Signifikanz haben kann. So ergab zum Beispiel der Vergleich der Werte bei einem Intelligenztest von Hunderttausenden erstgeborenen Kindern und ihren nachgeborenen Geschwistern eine hoch signifikante Tendenz, dass die Erstgeborenen höhere Werte erzielten als ihre jüngeren Geschwister (Zajonc u. Marcus 1975). Da die Scores aber nur um ein bis zwei Punkte differieren, hat dieser Unterschied wenig praktische Bedeutung. Derartige Befunde haben manche Psychologen dazu gebracht, Alternativen zum Signifikanztesten zu befürworten (Hunter 1997). Es wäre sinnvoll, sagen sie, nach Maßen zu
45 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
suchen, die die Effektstärke – das Ausmaß und die Reliabilität eines Befundes – besser zum Ausdruck bringen. ! Statistische Signifikanz drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein Ergebnis auf Zufall zurückzuführen ist. Sie sagt nichts über die Bedeutung des Ergebnisses aus.
Mit Hilfe der in diesem Kapitel angesprochenen Prinzipien fällt es uns leichter, kritische Fragen zu stellen, d. h. genauer hinzuschauen und auch das zu sehen, was wir andernfalls übersehen oder falsch interpretiert hätten. Dann können wir unsere Beobachtungen präziser generalisieren. Unser Denken wird tatsächlich kritischer und unser Blick schärfer, wenn wir die Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung und der Statistik auf unseren Alltag anwenden (Fong et al. 1986; Lehman et al. 1988; VanderStoep u. Shaugnessy 1997). Das erfordert Training und praktische Anwendung; aber die Entwicklung des klaren und kritischen Denkens gehört zur Ausbildung eines gebildeten Menschen. Lernziele Abschnitt 1.5 Grundlagen statistischer Argumentation Ziel 15: Erklären Sie, warum die Prinzipien der Statistik wichtig sind, und nennen Sie ein Beispiel dafür, wie sie im Alltag genutzt werden. Statistiken helfen uns dabei, Daten zu ordnen, sie zusammenfassen und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Wir müssen uns dabei nicht an komplizierte Formeln erinnern, um klarer und kritischer mit den Daten umzugehen, mit denen wir im Alltag zu tun haben. Wenn wir beispielsweise ein Verständnis für statistische Konzepte entwickelt haben, so lehrt uns das, wie wichtig es ist, Zweifel gegenüber großen runden Zahlen zu haben, die noch dazu undokumentiert sind. Ziel 16: Erklären Sie, warum Daten durch Säulendiagramme eventuell irreführend dargestellt werden. Die Bezeichnungen der Achsen oder die dargestellten Bereiche können bei Säulendiagrammen so gewählt worden sein, dass die Unterschiede möglichst groß bzw. möglichst klein werden.Wenn Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Graphiken präsentiert werden, sollten Sie sie mit kritischen Augen betrachten. Ziel 17: Beschreiben Sie die drei Maße der zentralen Tendenz, und geben Sie an, welches am meisten durch Extremwerte beeinflusst wird. Der Median ist der mittlere Wert einer Menge von Daten. Der Modalwert ist der Wert, der am häufigsten auftritt. Der Mittelwert, das arithmetische Mittel, wird berechnet, indem man die Summe der Messwerte durch die Anzahl der Messwerte teilt. Er wird am leichtesten durch einige wenige sehr große oder sehr geringe Werte beeinflusst.
1.6
Ziel 18: Beschreiben Sie zwei Maße der Variabilität. Maße der Variabilität sagen etwas darüber aus, wie ähnlich oder unterschiedlich Daten untereinander sind. Die Variationsbreite gibt den Unterschied zwischen dem größten und dem kleinsten Wert an. Das nützlichere Maß ist die Standardabweichung; sie gibt an, wie stark die Werte um den Mittelwert oder um den durchschnittlichen Wert streuen. Ziel 19: Geben Sie drei Prinzipien an, mit deren Hilfe man über Stichproben hinweg generalisieren kann. 1. Repräsentative Stichproben sind besser als verzerrte Stichproben. 2. Weniger variierende Beobachtungen sind zuverlässiger als jene, die eine größere Variation aufweisen. 3. Mehr Fälle sind besser als wenige. Ziel 20: Erklären Sie, wie Psychologen darüber entscheiden, ob Unterschiede bedeutsam sind. Wenn die Mittelwerte zweier Stichproben jeweils reliable Maße ihrer Populationen sind und die Unterschiede relativ groß sind, können wir annehmen, dass der Unterschied signifikant ist – dass der Unterschied also nicht nur auf den Zufall zurückgeht. Statistische Signifikanz ist ein Indikator für die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ergebnis auftritt, nicht für die Bedeutsamkeit des Ergebnisses. > Denken Sie weiter: Suchen Sie in den Anzeigen einer bekannten Zeitschrift nach einer graphischen Darstellung statistischer Ergebnisse. Wie wird in der Werbung die Statistik genutzt (oder missbraucht), um die dargestellte These in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen?
Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
Wir haben bereits gesehen, wie Verhalten mit Hilfe von Fallstudien, Befragungen und Beobachtungen in einer natürlichen Umgebung beschrieben werden kann. Wir haben auch bemerkt, dass Korrelationsstudien den Zusammenhang zwischen zwei Faktoren erfassen und damit anzeigen, wie gut man einen Faktor aufgrund eines anderen vorhersagen kann. Dann sind wir auf die Logik des Versuchsdesigns mit Kontrollbedingung und Zufallszuweisung der Versuchsteilnehmer eingegangen, bei dem die Wirkung einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable isoliert
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46
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
betrachtet werden kann. Wir haben darüber nachgedacht, wie die Statistik mögliche Urteilsfehler oder Verzerrungen (Biases) im wissenschaftlichen Denken gering halten kann. Dieses Wissen ist die Voraussetzung dafür, die Dinge zu verstehen und kritisch zu betrachten, die Ihnen im Lauf Ihres Psychologiestudiums begegnen werden. Aber auch auf dem Hintergrund dieses Wissens werden Sie vielleicht mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht an die Psychologie herangehen. Wir wollen uns deshalb, bevor wir richtig anfangen, näher mit einigen typischen Fragen beschäftigen.
Was haben Laborversuche mit dem Alltag zu tun? Ziel 21: Erklären Sie, welche Bedeutung vereinfachte Laborbedingungen für die Entdeckung allgemeiner Prinzipien des Verhaltens haben.
Wenn Sie einen Artikel über psychologische Forschung lesen oder etwas darüber hören, fragen Sie sich vielleicht, ob das Verhalten von Menschen im Labor wohl als Vorhersage für ihr Verhalten im realen Leben dienen kann. Kann bei einem Versuch, bei dem das Blinken eines schwachen roten Lichts in einem dunklen Raum wahrgenommen werden soll, irgendetwas Hilfreiches für Nachtflüge herauskommen? Wenn wir uns am besten an das erste und letzte Wort auf einer Liste mit unzusammenhängenden Wörtern erinnern: Sagt diese Tendenz etwas darüber aus, weshalb wir uns an die Namen bestimmter Menschen erinnern, die wir auf einer Party getroffen haben? Oder folgender Versuch: Einem Mann wird ein Film mit sexuellen Gewaltszenen gezeigt, der Mann ist erregt, und seine Bereitschaft steigt, auf einen Knopf zu drücken, mit dem er, wie er glaubt, einer Frau einen Elektroschock verpasst. Sagt so ein Versuch tatsächlich etwas darüber aus, ob Gewaltpornographie bei Männern die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine Frau zu vergewaltigen? Doch lassen Sie uns, ehe Sie antworten, über ein paar Dinge nachdenken. Die Absicht des Versuchsleiters ist es, im Labor eine vereinfachte Realität herzustellen, eine Realität, in der wichtige Merkmale des Alltags simuliert und kontrolliert werden. Ein Ingenieur benutzt einen Windkanal, um atmosphärische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Genauso kann ein Psychologe beim Laborversuch psychische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen untersuchen. Ob im Labor oder draußen: Die Menschen bleiben sich gleich. So hat Cecilia Cheng (2001) in Hongkong beobachtet, dass Erwachsene, die unter Laborbedingungen flexibel mit Stress umgingen, auch auf Stress in ihrer Ehe flexibel reagierten. Was Aggressionsstudien betrifft: Einen Knopf zu drücken, der einen Elektroschock auslöst, ist vielleicht nicht dasselbe, wie jemanden zu vergewaltigen; doch das Prinzip ist das gleiche. Douglas Mook (1983) sagt es so: Es ist nicht Zweck eines Experiments, alltägliche Verhaltensweisen genau zu reproduzieren, sondern die theoretischen Prinzipien zu testen. Es ist das zugrunde liegende Prinzip – nicht der spezifische Befund –, mit dessen Hilfe Alltagsverhalten erklärt werden kann. Wenn Psychologen beispielsweise die Ergebnisse der Aggressionsforschung im Labor auf tatsächliches Gewaltverhalten anwenden, dann verwenden sie ihre Kenntnisse über die theoretischen Grundlagen, auf denen aggressives Verhalten beruht, und damit Prinzipien, die sie in zahlreichen Versuchen getestet und spezifiziert haben. So verhält es sich auch mit den Erkenntnissen zu Grundlagen des visuellen Systems, die mit Hilfe von Experimenten in einer künstlichen Umgebung entwickelt wurden (wie beispielsweise auf rote Lichter in einem dunklen Raum schauen) und dann auf komplexeres Verhalten (Nachtflug) angewandt werden. Zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema haben gezeigt, dass sich die im Labor herausgearbeiteten Prinzipien tatsächlich auf Alltagsbedingungen anwenden lassen (Anderson et al. 1999). ! Als Psychologen interessieren uns weniger bestimmte Verhaltensweisen, uns interessieren die allgemeinen Prinzipien, mit deren Hilfe viele Verhaltensweisen erklärt werden können.
Ist Verhalten kulturabhängig? Ziel 22: Erörtern Sie, ob die psychologische Forschung über Kulturen und Geschlechter hinweg generalisiert werden kann.
Wenn Verhalten kulturabhängig ist, was können dann psychologische Studien, die mit einer Bevölkerungsgruppe – häufig mit weißen Nordamerikanern oder Europäern – über die Menschen
47 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
In mancher Hinsicht sind wir wie alle anderen, in mancher Hinsicht sind wir wie manche anderen und in mancher Hinsicht sind wir wie sonst niemand auf der Welt. Die Beschäftigung mit anderen Völkern und Kulturen hilft uns, Ähnlichkeiten und Unterschiede, Gemeinsamkeit und Andersartigkeit zu erkennen. ! Auch wenn Einstellungen und Verhaltensweisen über die kulturellen Grenzen hinweg variieren, wie es häufig der Fall ist, so sind doch die ihnen zugrunde liegenden Prozesse im Wesentlichen die gleichen.
Ist Verhalten geschlechtsspezifisch? Bei Ihrer Geburt war die erste Frage von Familie und Freunden, welchem der beiden Menschentypen Sie angehören, dem männlichen oder dem weiblichen. Angesichts der Bedeutung, die die Geschlechtszugehörigkeit für unsere Identität hat und dafür, wie andere Menschen uns wahrnehmen, brauchen wir da nicht eine Psychologie für Frauen und eine für Männer? Die Themen »Geschlechtsrolle« und »Geschlechtszugehörigkeit« werden in diesem Buch immer wieder angesprochen. Die Wissenschaftler fanden Geschlechtsunterschiede in unseren Träumen, in der Art, wie wir Emotionen ausdrücken und bei anderen erkennen, und in dem Risiko, Alkoholiker zu werden, depressiv zu werden oder eine Essstörung zu entwickeln. Solche Unterschiede zu untersuchen, ist nicht nur interessant, sondern auch potenziell nützlich. So glauben Wissenschaftler beispielsweise, dass Frauen eine Unterhaltung führen, um eine Beziehung herzustellen, Männer dagegen eher, um Informationen und Ratschläge zu geben (Tannen 1990).
Ein kulturspezifischer Gruß Soziales Verhalten wird von der jeweiligen Kultur geprägt, deshalb können Handlungen, die uns ganz normal vorkommen, bei Besuchern aus fremden Ländern Verwunderung hervorrufen. Doch hinter diesen Unterschieden verbergen sich große Ähnlichkeiten. Überall auf der Welt begrüßen sich die Menschen – wenn auch nicht unbedingt so förmlich und respektvoll wie in Japan.
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i. Allg. aussagen? Wir werden es immer wieder erleben: Die Kultur, d. h. die Gemeinschaft von Menschen mit gleichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, ist ein wichtiger Faktor. Unsere jeweilige Kultur beeinflusst unsere Reaktionsschnelligkeit und Offenheit, unsere Einstellung gegenüber vorehelichem Sex und unsere wechselnden Vorstellungen von der Idealfigur, unsere Tendenz zur Förmlichkeit oder zur Formlosigkeit, unser Blickkontakt, unsere Distanz beim Gespräch und vieles andere mehr. Sobald wir uns dieser Unterschiede bewusst sind, können wir uns von der Annahme trennen, dass alle anderen Menschen genauso denken und handeln wie wir. Angesichts der ständig steigenden Durchdringung und Vermischung der Kulturen ist eine bewusste Haltung gegenüber diesen Unterschieden dringend erforderlich. Unser gemeinsames biologisches Erbe macht uns indessen zu einer großen Familie von Menschen. Die biologischen Prozesse sind universell: 4 Bei Menschen, die an Dyslexie (einer Lesestörung) leiden, ist überall auf der Welt dieselbe Hirnfunktion gestört (Paulesu et al. 2001). 4 Unterschiedliche Sprachen – ob gesprochen oder als Gebärdensprache – mögen die Kommunikation über die kulturellen Grenzen hinweg behindern. Doch alle Sprachen gehorchen den Prinzipien der Grammatik, und Menschen aus verschiedenen Erdteilen können sich mit einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln verständigen. 4 Menschen verschiedener Kulturen leiden nicht auf die gleiche Art und Weise unter Einsamkeit. Doch über die kulturellen Grenzen hinweg verstärken Schüchternheit, geringes Selbstwertgefühl und Unverheiratetsein die Einsamkeit (Jones et al. 1985; Rokach et al. 2002). 4 Die meisten Japaner essen ihren Fisch am liebsten roh, die meisten Europäer mögen ihn lieber gekocht. Doch wenn wir uns zu Tisch setzen, unterliegen wir alle demselben Prinzip von Hunger und Appetit.
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Kultur (culture): Gesamtheit von Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen und Traditionen einer großen Bevölkerungsgruppe, die von einer Generation zur nächsten überliefert werden.
»Alle Menschen sind gleich, nur ihre Gewohnheiten unterscheiden sich.« Konfuzius (551–479 v. Chr. )
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Wenn uns dieser Unterschied bewusst ist, können wir Konflikte und Missverständnisse in unseren Beziehungen leichter vermeiden. Psychologisch und biologisch sind Frauen und Männer allerdings einander sehr ähnlich. Männliche und weibliche Kinder lernen ungefähr zur gleichen Zeit gehen. Ob Mann oder Frau, wir haben die gleiche Licht- und Klangempfindung. Auch das Gefühl von Hunger, Begehren und Angst ist für beide Geschlechter gleich. Intelligenz und Wohlbefinden sind ähnlich. Und beide Geschlechter zeigen genau das Verhalten, das in ihrem kulturellen Kontext von ihnen erwartet wird. Die Geschlechtszugehörigkeit spielt demnach eine Rolle. Die Biologie legt unser Geschlecht fest, und die Kultur entwickelt die Geschlechtsrolle. Doch in vielerlei Hinsicht sind sich Frauen und Männer als Menschen ähnlich.
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Warum machen Psychologen Experimente mit Tieren? Ziel 23: Erklären Sie, warum Psychologen Tierversuche durchführen, und erörtern Sie, welche ethischen Fragen man beim Experimentieren sowohl mit Menschen als auch mit Tieren beachten muss.
»Ratten und Menschen sind sich ziemlich ähnlich, nur sind die Ratten nicht so dumm, Lotterielose zu kaufen.« Dave Barry (2. Juli 2002)
Viele Psychologen arbeiten mit Tieren, weil sie sie faszinierend finden. Sie wollen verstehen, auf welche Weise die verschiedenen Arten lernen, denken und sich verhalten. Experimente mit Tieren dienen aber auch dazu, mehr über Menschen zu erfahren, denn mit Tieren kann man Versuche machen, die mit Menschen aus ethischen Gründen nicht möglich sind. Die Physiologie des Menschen ist der von vielen Tieren sehr ähnlich. Wir Menschen sind nicht wie Tiere, aber wir sind Lebewesen. Tierversuche haben schon häufig zur Entwicklung von Medikamenten gegen menschliche Krankheiten geführt: Insulin für Diabetiker oder Impfstoffe gegen Polio und Tollwut. Auch Organtransplantationen wurden zunächst an Tieren durchgeführt. Die gleichen Prozesse, die beim Menschen das Sehen, den Ausdruck von Emotionen oder das Dickwerden bedingen, finden wir auch bei Ratten und Affen. Sogar Meeresschnecken werden eingesetzt, um mehr über die Grundlagen des menschlichen Lernens zu erfahren. Wenn Sie wissen wollen, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, sollten Sie lieber den Motor eines Rasenmähers auseinander nehmen als einen Mercedes-Motor. Mercedes-Motoren sind komplexe Gebilde. Menschen auch. Und gerade der einfache Aufbau des Nervensystems der Meeresschnecke macht sie zu einem guten Modell für die neuronalen Abläufe beim Lernen.
Sind Tierversuche ethisch vertretbar?
D. Shapiro, © Wildlife Conservation Society
Forschung mit Tieren nützt Tieren Diese Gorillas im Zoo der Bronx verdanken ihre bessere Lebensqualität teilweise den Untersuchungen zu den positiven Auswirkungen von Anregung, Kontrolle und dem Kontakt mit neuen, unbekannten Dingen
Sollten wir Tiere nicht mehr achten, wenn wir einander doch so ähnlich sind? »Wir können unsere wissenschaftliche Arbeit mit Tieren nicht einerseits mit der Ähnlichkeit zwischen ihnen und uns verteidigen und andererseits moralisch mit der Unterschiedlichkeit rechtfertigen«, sagte Roger Ulrich (1991). Die Tierschutzbewegung protestiert gegen die Verwendung von Tieren in der psychologischen, biologischen und medizinischen Forschung. Die Wissenschaftler erinnern jedoch daran, dass die 30 Mio. Säugetiere, die alljährlich für die Forschung benötigt werden, nur einen Bruchteil von 1% der Milliarden von Tieren darstellen, die getötet werden, um gegessen zu werden (das bedeutet, dass jeder Mensch im Durchschnitt 20 Tiere pro Jahr isst). Während die Forschung jährlich Versuche mit etwa 200.000 Hunden und Katzen unter humanen Bedingungen macht, müssen Tierheime 50-mal so viele Tiere aus humanen Gründen töten (Goodwin u. Morrison 1999). Tierschutzorganisationen wie »Psychologists for the Ethical Treatment of Animals« fordern, die Labormanipulationen durch Beobachtungen in natürlicher Umgebung zu ersetzen. So lehnt auch in Deutschland die Vereinigung »Ärzte gegen Tierversuche«, der ebenfalls Psychologen angehören, Tierversuche aus ethischen, medizinischen und wissenschaftlichen Gründen ab. Viele Wissenschaftler, die mit Tieren arbeiten, halten dem entgegen, dass es hier nicht um die moralische Frage von gut versus böse geht, sondern um Mitgefühl mit Tieren versus Mitgefühl mit Menschen. Wie viele von uns wären gegen Pasteurs Tollwutversuche auf die Straße gegangen, bei denen einige Hunde leiden mussten, durch die aber ein
49 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
Impfstoff entwickelt werden konnte, der Millionen von Menschen und Hunden einen qualvollen Tod ersparte? Und möchten wir wirklich auf die Tierversuche verzichten, mit deren Hilfe Trainingsmethoden für geistig behinderte Kinder entwickelt wurden, wir besser verstanden haben, wie man die Probleme des Alterns meistert oder wie Ängste und Depressionen leichter zu ertragen sind und wie man Adipositas, Alkoholismus und durch Stress hervorgerufene Schmerzen und Krankheiten in den Griff bekommt? Die Antworten auf derartige Fragen sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Nach einer Umfrage von Gallup in Kanada und den Vereinigten Staaten halten sechs von zehn Erwachsenen medizinische Tests an Tieren für „moralisch akzeptabel«. In Großbritannien ist dies nur für 37% der Befragten der Fall (Mason 2003). In dieser hitzigen Debatte zeichnen sich zwei Themen ab. Die grundsätzliche Frage lautet, ob wir berechtigt sind, menschliches Wohlbefinden über das der Tiere zu stellen. Haben wir das Recht, Experimente zu Stress und Krebs zu machen und Mäuse Tumore bekommen zu lassen in der Hoffnung, dass wir Menschen keine bekommen? Dürfen wir ein paar Affen einem HIV-ähnlichen Virus aussetzen, wenn wir nach einem Impfstoff gegen Aids suchen? Wenn wir Tiere für unsere Zwecke opfern, verhalten wir uns da so natürlich wie fleischfressende Falken, Katzen oder Wale? Die, die Tierexperimente verteidigen, argumentieren, dass jeder, der einen Hamburger isst, Lederschuhe trägt, Fischen und Jagen toleriert oder für die Ausrottung von Schadinsekten stimmt, die Ernten vernichten oder Krankheitserreger verbreiten, sich längst damit einverstanden erklärt hat, dass es erlaubt sein muss, Tiere zum Wohl der Menschen zu opfern. Scott Plous (1993) merkt jedoch an, dass unser Mitgefühl sich keineswegs auf alle Tiere erstreckt, ebenso wenig wie wir allen Menschen gegenüber Mitgefühl empfinden. Unser Mitgefühl beruht auf dem, was wir als Ähnlichkeit wahrnehmen. Wie 7 Kap. 15 ausführt, empfinden wir mehr Zuneigung, bieten mehr Hilfe an und handeln weniger aggressiv gegenüber denen, die Ähnlichkeit mit uns haben. Genauso steigen Tiere in unserer Wertschätzung, wenn wir wahrnehmen, dass sie mit uns verwandt sind. Deshalb haben Primaten und Schoßtiere höchste Priorität. (Die Menschen im Westen züchten Nerze oder fangen Füchse für ihre Pelzmäntel, aber Hundeoder Katzenfelle verwenden sie nicht.) Die anderen Säugetiere sitzen auf der zweiten Sprosse der Privilegienleiter, dann folgen Vögel und Fische, während die Reptilien die dritte Sprosse besetzen und die Insekten ganz unten angesiedelt sind. Bei der Entscheidung, welchen Tieren wir Rechte zugestehen, zieht jeder seine eigene Grenzlinie quer durch das Tierreich. Wenn wir dem menschlichen Leben oberste Priorität zugestehen, dann ist das zweite Thema das Wohlergehen der Tiere, mit denen wir Forschung betreiben. Mit welchen Maßnahmen können wir sie schützen? Die meisten Wissenschaftler fühlen sich heute moralisch verpflichtet, für das Wohlergehen von Tieren in Gefangenschaft zu sorgen und ihnen unnötige Qualen zu ersparen. Eine Befragung von Forschern, die mit Tieren arbeiten, besagt, dass fast 100% von ihnen die von der Regierung erlassenen Vorschriften zum Schutz von Primaten, Hunden und Katzen unterstützen; 74% treten dafür ein, den humanen Umgang mit Ratten und Mäusen durch entsprechende Vorschriften zu gewährleisten (Plous u. Herzog 2000). Viele Berufsverbände und Institutionen der Forschungsförderung haben Richtlinien für den humanen Umgang mit Tieren. Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) haben gemeinsame ethische Richtlinien zum Einsatz von Tieren in Forschung und Lehre formuliert. Sie stellen eine grundsätzliche Verpflichtung der Psychologen zur Achtung des Lebens fest und fordern, Schmerzen, Leiden und Schäden für Versuchstiere soweit möglich zu verhindern. Die Richtlinien der American Psychological Association fordern, dass das »Wohl, die Gesundheit und die humane Behandlung« von Tieren gewährleistet sein muss und dass »Infektionen, Krankheit und Schmerzen bei den Versuchstieren« auf ein Minimum reduziert werden. Humaner Umgang erbringt zudem auch bessere Forschungsergebnisse, denn Schmerz und Stress könnten das Verhalten des Tieres bei einem Experiment verfälschen. Die Tiere selbst sind auch Nutznießer der Tierexperimente. Ein Forscherteam in Ohio maß die Ausschüttung von Stresshormonen bei einer Stichprobe von Millionen von Hunden, die jedes Jahr in ein Tierheim gebracht werden. Die Psychologen entwickelten Methoden, wie man die Tiere behandeln und streicheln müsste, um den Stress zu mildern und ihnen den Übergang in eine neue Familie zu erleichtern (Tuber et al. 1999). Der Verhaltensforschung mit Tieren ist es auch zu verdanken, dass die Zootiere in der Bronx nicht mehr gelangweilt herumsitzen, sondern sich ihre Nahrung selbst beschaffen müssen, so wie ihre frei lebenden Artgenossen (Stewart 2002). Andere
»Vergessen Sie bitte nicht jene von uns, die an unheilbaren Krankheiten oder an Behinderungen leiden und die auf Heilung hoffen; hier hilft eine Forschung, bei der Tiere eingesetzt werden.« Der Psychologe Dennis Feeney, 1987
»Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs.« Sprüche 12, Vers 10
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Studien trugen dazu bei, die Betreuung und die Behandlung von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung zu verbessern. In Versuchen wurde auch die bemerkenswerte Intelligenz von Schimpansen, Gorillas und anderen Tiere nachgewiesen; ebenso wurde die Ähnlichkeit des Verhaltens bei Mensch und Tier deutlich, was wiederum bei den Menschen zu verstärkter Empathie mit ihren Mitgeschöpfen sowie zu deren Schutz führte. Abschließend können wir sagen, dass eine Psychologie, die Interesse am Menschen und Einfühlungsvermögen für Tiere hat, beiden zugute kommt.
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»Die Größe einer Nation kann man an ihrem Umgang mit Tieren ablesen.« Mahatma Gandhi (1869–1948)
Ist es ethisch vertretbar, Versuche mit Menschen zu machen? Wenn das Bild von Tieren oder Menschen, die Elektroschocks verabreicht bekommen, Sie erschreckt, dann werden Sie erleichtert sein, wenn ich Ihnen sage, dass die meisten psychologischen Untersuchungen ohne derartigen Stress durchgeführt werden. In der Regel geht es bei Versuchen mit Menschen um blinkende Lichter, flackernde Wörter und angenehme soziale Interaktionen. Gelegentlich allerdings müssen die Wissenschaftler die Menschen hinters Licht führen oder sie einem kurzen Stress aussetzen, doch nur, wenn es ihnen zur Klärung einer bestimmten Frage unabdingbar erscheint. Ich denke dabei an Versuche zum Verständnis gewalttätigen Verhaltens oder Untersuchungen zu Stimmungsschwankungen. Solche Experimente erbrächten kein Ergebnis, wenn die Teilnehmer vorher wüssten, was auf sie zukommt. Dann wäre entweder die ganze Prozedur ineffizient, oder die Teilnehmer würden versuchen, die Erwartungen des Versuchsleiters zu erfüllen; dadurch würde das Ergebnis verzerrt und nutzlos. Die von der American Psychological Association wie auch die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen erarbeiteten ethischen Grundsätze fordern von den Versuchsleitern, dass sie 1. die potenziellen Teilnehmer informieren und ihre Zustimmung einholen, also die Freiwilligkeit der Teilnahme; 2. die Teilnehmer vor physischen und psychischen schädlichen Einflüssen und Gefährdungen schützen; 3. die Würde und Integrität der teilnehmenden Personen achten und Informationen über einzelne Teilnehmer vertraulich behandeln und 4. hinterher den wissenschaftlichen Zweck der Untersuchung erläutern und die Versuchspersonen aufklären. Außerdem haben viele Universitäten heute einen Ethikrat eingesetzt, um das Wohlergehen eines jeden Teilnehmers sicherzustellen. Forschung findet allerdings zu einem großen Teil außerhalb der Universitätslabors und ohne Kontrolle durch einen Ethikrat statt. Der Einzelhandel fotografiert beispielsweise routinemäßig das Kaufverhalten der Kunden, spürt ihre Kaufmuster auf und testet die Wirksamkeit der Werbung. Erstaunlicherweise erregt diese Art von Forschung weniger Aufmerksamkeit als die wissenschaftlichen Versuche, die zum Zweck der Erweiterung des menschlichen Wissens vorgenommen werden.
Gibt es eine wertfreie Psychologie? Ziel 24: Beschreiben Sie, wie persönliche Werte einen Einfluss auf die psychologische Forschung und ihre Anwendung haben kann, und erörtern Sie das Potenzial der Psychologie zur Manipulation von Menschen. »Es ist völlig unmöglich, an irgendein menschliches Problem mit unverstelltem Blick heranzugehen.« Simone de Beauvoir (»Das andere Geschlecht«, 1953)
Die Psychologie ist eindeutig nicht wertfrei. Unser Wertesystem bestimmt, was wir untersuchen, wie wir es untersuchen und wie wir die Ergebnisse interpretieren. Ein Wissenschaftler kann die Produktivität der Arbeiter oder ihre Arbeitsmoral untersuchen, Geschlechtsdiskriminierung oder Geschlechtsrollenunterschiede, sozial angepasstes oder unabhängiges Verhalten: Die Wahl seines Forschungsgegenstands wird von seinem Wertesystem beeinflusst. Die »nackten Tatsachen« sind auch von unseren Überzeugungen beeinflusst. Wie zuvor erwähnt, können unsere Vorannahmen unsere Beobachtungen und Interpretationen verzerren; manchmal sehen wir genau das, was wir zu sehen erwarten (. Abb. 1.11). Sogar in den Worten, mit denen wir ein Phänomen beschreiben, spiegeln sich unsere Wertvorstellungen. Sexuelle Praktiken, die uns nicht vertraut sind, bezeichnen
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wir als »Perversionen« oder als »Varianten«, Begriffe, die eine Bewertung enthalten. Bewertende Bezeichnungen verwenden wir auch in unserer Alltagssprache: Was wir »rigide« nennen, nennen andere »unbeugsam«; was dem einen als »fester Glaube« gilt, ist für den anderen »Fanatismus«. »Standhaft« oder »stur«, »vorsichtig« oder »mäkelig«, »verschwiegen« oder »heimlichtuerisch«: Unsere Wortwahl sagt viel über unsere Gefühle aus. Mit Bezeichnungen beschreiben wir nicht nur, sondern bewerten gleichzeitig, und das gilt gleichermaßen für Psychologen und Nichtpsychologen. Auch in der praktischen Anwendung enthält die Psychologie verborgene Wertvorstellungen. Wenn Sie zu bestimmten Fragen »professionellen« Rat suchen, etwa, wie Sie Ihr Leben gestalten, Ihre Kinder erziehen, persönliche Erfüllung finden, mit sexuellen Gefühlen umgehen oder mit Ihrer Arbeit vorankommen sollen – in den Antworten auf Ihre Fragen verbergen sich Wertvorstellungen. ! Die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und von mentalen Prozessen kann uns helfen, unsere Ziele zu erreichen, doch sie kann nicht entscheiden, welche Ziele wir erreichen sollten.
© Roger Shepard
1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
. Abb. 1.11. Was sehen Sie hier? Doppeldeutige Informationen werden entsprechend den Vorannahmen des Betrachters interpretiert. Haben Sie hier eine Ente oder ein Kaninchen gesehen? Wenn Sie dieses Bild Ihren Freunden zeigen, fragen Sie vorher die einen, ob sie eine Ente sehen, die auf dem Rücken liegt, und die anderen, ob sie ein Kaninchen im Gras sehen (Nach Shepard 1990)
Ist die Psychologie potenziell gefährlich? Manche Menschen halten Psychologie für nichts weiter als gesunden Menschenverstand, doch andere betrachten sie mit Sorge: Sie befürchten, die Psychologie könnte eine gefährliche Macht erlangen. Ist es Zufall, dass die Astronomie die älteste Wissenschaft ist, die Psychologie dagegen die jüngste? Die Erforschung des äußeren Universums ist eine Sache, doch unser eigenes inneres Universum zu erforschen, ist anscheinend eine viel gefährlichere und bedrohliche Angelegenheit. Könnte die Psychologie dazu benutzt werden, Menschen zu manipulieren? Wie jede Macht kann die Macht des Wissens für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt werden. Atomkraft wird genutzt, um Städte zu beleuchten – und auch, um sie zu zerstören. Überzeugungskraft dient dazu, Menschen zu erziehen – und dazu, sie zu täuschen. Bewusstseinserweiternde Drogen wurden dazu verwendet, die Gesundheit von Menschen wiederherzustellen – aber auch, um sie zu zerstören. Obwohl die Psychologie die Macht hat zu täuschen, liegt ihr Zweck doch darin aufzuklären. Tag für Tag suchen Psychologen nach neuen Wegen, um Lernen, Kreativität und Menschlichkeit zu fördern. Die Psychologie spricht die großen Probleme unserer Welt an: Krieg, Überbevölkerung, Vorurteile, zerfallende Familien und Verbrechen; denn alle diese Probleme haben mit Einstellungen und Verhaltensweisen zu tun. Und die Psychologie spricht unser tiefes inneres Verlangen an, unser Bedürfnis nach Nahrung, Liebe und Glück. Freilich kann die Psychologie nicht alle großen Lebensfragen ansprechen, wohl aber einige, die uns auf den Nägeln brennen. Lernziele Abschnitt 1.6 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie Ziel 21: Erklären Sie, welche Bedeutung vereinfachte Laborbedingungen für die Entdeckung allgemeiner Prinzipien des Verhaltens haben. Wissenschaftler schaffen im Labor eine kontrollierte, vereinfachte Umwelt, die sie kontrollieren können, und testen dort die theoretischen Grundlagen eines bestimmten Verhaltens. Es geht ihnen nicht um das spezielle Verhalten, das sie untersuchen, sondern eher um die zugrunde liegenden allgemeinen Prinzipien, mit deren Hilfe man viele Verhaltensweisen besser erklären kann. Ziel 22: Erörtern Sie, ob die psychologische Forschung über Kulturen und Geschlechter hinweg generalisiert werden kann. Kommen wir in andere Kulturen, stoßen wir scheinbar auf andere Einstellungen und Verhaltensweisen. Doch die Grundlagen sind allen
Menschen gemeinsam; dies liegt zum Teil an ihrem gemeinsamen biologischen Ursprung. Die Biologie bestimmt auch über unser Geschlecht; aber durch die Kultur werden Erwartungen gegenüber dem aufgebaut, was es bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein. Frauen und Männer unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber sie sind in biologischer und psychologischer Hinsicht eher ähnlich als unterschiedlich. Ziel 23: Erklären Sie, warum Psychologen Tierversuche durchführen, und erörtern Sie, welche ethischen Fragen man beim Experimentieren sowohl mit Menschen als auch mit Tieren beachten muss. Psychologen untersuchen Tiere manchmal aus Interesse an ihrem Verhalten, manchmal aber auch, weil die Kenntnis der physiologischen und 6
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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
psychologischen Prozesse bei Tieren zum besseren Verständnis der ähnlich ablaufenden Prozesse beim Menschen beiträgt. Gemäß den berufsethischen und gesetzlichen Richtlinien darf Tieren bei psychologischen Versuchen nur in seltenen Fällen Schmerz zugefügt werden. Tierschutzgruppen weisen indessen auf eine wichtige Grundsatzfrage hin: Darf man einem Tier zeitweilig Leid zufügen, auch wenn dies letztlich geschieht, um menschliches Leiden zu verringern? Um etwas Wichtiges in Erfahrung zu bringen, werden bei manchen Experimenten die Teilnehmer einem kurzen Stress ausgesetzt oder über den Zweck des Versuchs gar nicht oder falsch informiert. Die berufsethischen Standards für Versuche ergeben Richtlinien für den Umgang mit Versuchsteilnehmern, und die Ethikausschüsse der Universitäten kontrollieren, dass korrekt mit den Versuchsteilnehmern umgegangen wird.
Ziel 24: Beschreiben Sie, wie persönliche Werte einen Einfluss auf die psychologische Forschung und ihre Anwendung haben kann, und erörtern Sie das Potenzial der Psychologie zur Manipulation von Menschen. Psychologie wird nicht wertfrei ausgeübt. Die Wertvorstellungen der Psychologen beeinflussen ihre Wahl des Forschungsthemas, ihre Theorien, Beobachtungen, Verhaltensbezeichnungen und die Ratschläge, die sie als professionelleTherapeuten erteilen.Wie in anderen Bereichen auch ist Wissen eine Macht, die für gute oder schlechte Zwecke benutzt werden kann. Psychologie hat die Macht zu täuschen, bisher jedoch wurde die Psychologie in der Mehrzahl der Fälle für gute Ziele verwendet. Die Psychologie kann dazu beitragen, dass wir unsere Ziele erreichen, aber sie kann nicht darüber entscheiden, um welche Ziele es sich handeln sollte. > Denken Sie weiter: Haben Sie im Abschnitt »Häufig gestellte Fragen« Antworten auf Ihre eigenen Fragen und Bedenken gefunden?Welche Fragen haben Sie darüber hinaus an die Psychologie?
Kritisch nachgefragt
Rassentrennung und die Todesstrafe in den USA – wenn Überzeugungen im Widerspruch zur wissenschaftlichen Psychologie stehen Eine einflussreiche moderne Auffassung, die ironischerweise als Postmoderne bezeichnet wird, stellt die wissenschaftliche Objektivität infrage. Die Vertreter dieser Auffassung behaupten, dass wissenschaftliche Begriffe nicht die reale Welt widerspiegeln, sondern dass es sich hier um sozial konstruierte Fiktionen handelt. Wie alles Wissen seien sie Ausdruck der Kultur, in der sie gebildet wurden. »Intelligenz« z. B. ist ein Begriff, den Psychologen geschaffen und definiert haben. Weil Theorie und Forschung von persönlichen Werten geleitet sind, ist die »Wahrheit«, so sagen die Vertreter der Postmoderne, etwas Persönliches und Subjektives. (Welche Verhaltensweisen sollen wir als »intelligent« bezeichnen?) Bei unserer Suche nach der Wahrheit kommen wir nicht umhin, uns nach unseren Ahnungen, Verzerrungen und kulturellen Neigungen zu richten. Psychologen als Wissenschaftler konzedieren, dass viele bedeutsame Fragen von der Wissenschaft nicht beantwortet werden können. Und sie gestehen auch zu, dass unsere Wahrnehmungen häufig von persönlichen Überzeugungen geformt werden. Aber sie sind auch der Überzeugung, dass es draußen eine reale Welt gibt und dass wir der Wahrheit näher kommen, wenn wir unsere Ahnungen an der Realität überprüfen. Marie Curie konstruierte nicht nur den Begriff des Radiums, sie entdeckte das Radium. Es existiert wirklich. In den Verhaltenswissenschaften mag reine Objektivität (wie ja auch reine Liebe) nicht erreichbar sein. Doch die meisten würden argumentieren, dass es besser ist, sich bescheiden mit reliablen Befunden zufrieden zu geben, als sich an unüberprüfte Vermutungen zu klammern. Sich bescheiden mit Beweisen zufrieden zu geben, das war es, was das oberste Gericht der USA, der Supreme Court, machte, als es 1954 seine historische Entscheidung fällte, dass nach Rassen getrennte Schulen verfassungswidrig sind. Hier handelte es sich um den ersten Fall des Ge-
richts, an dem Sozialpsychologen aktiv beteiligt wurden. Sie taten dies als Experten im Zeugenstand und unter der Leitung von Kenneth Clark (1952) als Autoren eines sozialwissenschaftlichen Gutachtens, das Bestandteil des Falls war, um den es ging. Das Gericht hielt vor allem Folgendes für bemerkenswert: Als Kenneth Clark und Mamie Phipps Clark (1947) afroamerikanischen Kindern die Wahl zwischen schwarzen und weißen Puppen ließen, entschieden sich die meisten von ihnen für die weißen. Dies war ein Hinweis darauf, dass schwarze Kinder unter der Rassentrennung Vorurteile gegenüber Schwarzen internalisierten. Dieser Erfolg der Sozialwissenschaft regte zu Hunderten weiterer Studien an, von denen die Forscher hofften, dass sie künftige Gerichtsentscheidungen beeinflussen würden. In neuerer Zeit jedoch hat sich das Gericht auf die Seite der Postmodernisten gestellt, indem es die verhaltenswissenschaftliche Forschung unberücksichtigt ließ. Es hatte zu entscheiden, ob die Todesstrafe unter das verfassungsmäßige Verbot einer »grausamen und ungewöhnlichen Bestrafung« fällt. Das Gericht rang mit den folgenden Fragen: Definiert die Gesellschaft eine Hinrichtung als grausam und ungewöhnlich? Verhängen die Gerichte die Strafe willkürlich? Fällen sie Urteile mit einer von der Ethnie geprägten Verzerrung? Und schreckt eine Hinrichtung eher von Verbrechen ab als alle andere Bestrafungen, die zur Verfügung stehen? Die Psychologen Craig Haney und Deana Logan (1994) sowie Mark Costanzo (1997) merken dazu an, dass die Verhaltenswissenschaft jede Einzelne dieser Fragen kaum klarer hätte beantworten können. Und dennoch ließ das Gericht bei zweien dieser Problemfelder – Gerechtigkeit der Todesstrafe und ihre Effektivität – die sozialwissenschaftliche Forschung unberücksichtigt. Wird die Todesstrafe in der Praxis gerecht umgesetzt? Untersuchungen zeigen, dass diejenigen, die als Geschworene bei Kapitalverbrechen ausgewählt werden – nämlich jene, die die Todesstrafe akzeptieren – nicht repräsentativ sind für die allgemeine Bevölkerung. Verglichen mit Menschen, die wegen ihrer Vorbehalte gegenüber der Todesstrafe ausge6
53 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
schlossen werden, sind jene, die als Geschworene ausgewählt werden, mit geringerer Wahrscheinlichkeit Angehörige von Minderheiten und Frauen. Sie neigen auch stärker dazu, den Argumenten der Anklage Glauben zu schenken und Angeklagte schuldig zu sprechen. Ist die Todesstrafe effektiv – schreckt sie von Verbrechen ab? Die Befunde dazu sind in sich konsistent: In Staaten mit Todesstrafe gibt es nicht weniger Tötungsdelikte. Nachdem die Todesstrafe eingeführt wurde, ging deren Anzahl nicht zurück. Und Tötungsdelikte haben in Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, nicht zugenommen. Eine Person, die ein Verbrechen aus Leidenschaft begeht, hält nicht inne, um die Folgen abzuwägen (und wenn das der Fall wäre, würde er oder sie ein Leben in einer Gefängniszelle wahrscheinlich als ausreichenden Abschreckungsgrund ansehen). Dennoch bleibt das Gericht bei seiner
Überzeugung, dass »die Todesstrafe unzweifelhaft ein bedeutsames Abschreckungsmittel« ist. Wahrnehmungen lassen sich von Überzeugungen leiten. Und genau das ist der Grund (sagen die wissenschaftlich tätigen Psychologen als Antwort auf die Vertreter der Postmoderne), warum wir beim Denken klüger sein müssen – unsere Vermutungen, unsere verzerrten Wahrnehmungen und unsere kulturell bestimmten Neigungen außen vor zu lassen, indem wir sie an den verfügbaren Befunden überprüfen. Warum überprüfen wir unsere überprüfbaren Überzeugungen nicht? Wenn sie gestützt werden, umso besser für sie. Wenn sie im Widerspruch stehen zu einer ganzen Reihe von Beobachtungen, umso schlechter für sie. Diese Ideale der skeptischen Überprüfung und der Demut gegenüber der Realität sind die Antriebskraft hinter allen wissenschaftlichen Bestrebungen.
Antworten
1.1
Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier 100-mal. Wie dick würde es dann etwa sein? Antwort: Faltet man ein Blatt mit 0,1 mm Stärke 100-mal, dann beträgt die Stärke des gefalteten Blattes 800 Billionen Mal die Entfernung zwischen der Sonne und der Erde (Gilovich 1991).
1.2
Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben, damit es überall 1 m über der Erdoberfläche schwebte? Antwort: Etwa 6 m Seil. 2. Der Kreisumfang oder der Umfang der Erde ist 2S. Der Umfang eines Seils, das um 1 m angehoben wird, beträgt 2S (r + 1). Somit ist die zusätzliche Länge 2S (r + 1) – 2Sr = 2p oder etwa 6 m.
1.3
Antworten zu . Tab. 1.1: Die Aussagen mit den ungeraden Nummern sind falsch, die mit den geraden Nummern wahr.
1.4
Anagramm für ACHENFI Lösung: EINFACH
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Worin besteht die wissenschaftliche Haltung, und warum ist sie für kritisches Denken unverzichtbar? 2. Worin bestehen die Stärken und Schwächen der drei Methoden, die die Psychologie zur Verhaltensbeschreibung verwendet: Einzelfallstudie, Befragung und Feldbeobachtung? 3. Lesen Sie die folgenden kürzlich veröffentlichten Korrelationen und die Interpretationen der Journalisten. In weiterführenden Untersuchungen, häufig in Verbindung mit Experimenten, fand man in sämtlichen hier zitierten Fällen den Ursache-Wirkungszusammenhang. Können Sie andere mögliche Erklärungen für jeden dieser hier aufgelisteten Fälle finden, wenn Sie nur die jeweilige Korrelation kennen? 4 Es gibt einen Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalt. (Eine mögliche Interpretation: Trinken setzt aggressives Verhalten frei.) 4 Gebildete Menschen haben im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung als weniger gebildete. (Eine mögliche Interpretation: Bildung verlängert das Leben und verbessert die Gesundheit.) 4 Teenager, die eine Mannschaftssportart betreiben, sind mit geringerer Wahrscheinlichkeit anfällig für Drogenkonsum, Rauchen, sexuelle Aktivitäten und Waffenbesitz sowie den Konsum von Junkfood als Teenager, die keiner Sportmannschaft angehören. (Eine mögliche Interpretation: Mannschaftssport fördert eine gesunde Lebensweise.) 4 Jugendliche, die häufig Filme sehen, in denen geraucht wird, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst anfangen zu rauchen. (Eine mögliche Interpretation: Jugendliche sind leicht zu beeindrucken und werden deshalb von den Verhaltensweisen der Filmstars beeinflusst.) 4. Ein neues blutdrucksenkendes Mittel soll geprüft werden. Warum würden wir mehr Informationen über die Wirksamkeit dieses Mittels bekommen, wenn wir es der Hälfte der 1000 Teilnehmer verabreichen, als wenn wir es allen 1000 Teilnehmern geben? 5. Denken Sie über eine Frage nach, die Christopher Jepson, David Krantz und Richard Nisbett (1983) von der University of Michigan den Erstsemestern im Studiengang Psychologie gestellt haben:
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54
1
Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Das Sekretariat der University of Michigan hat festgestellt, dass durchschnittlich 100 Studierende der Geisteswissenschaften am Ende ihres ersten Semesters an der Universität hervorragende Noten haben. Doch nur 10–15 Studenten schließen ihr Studium mit hervorragenden Noten ab. Welches ist Ihrer Meinung nach die wahrscheinlichste Erklärung für die Tatsache, dass es am Ende des ersten Semesters mehr hervorragende Noten gibt als beim Studienabschluss? 6. Wodurch werden Versuchsteilnehmer (Mensch oder Tier) geschützt?
LDeutsche Literatur zum Thema Bortz, J. (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (6. Aufl.). Heidelberg: Springer. Bortz, J., Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Aufl.). Heidelberg: Springer. DGPs, BDP (2003). Ethische Richtlinien der DGPs und des BDP. http://www.bdp-verband.de/bdp/verband/ethik.shtml. Gesehen 19 Apr 2007. Gadenne, V. (2004). Philosophie der Psychologie. Göttingen: Hogrefe Grewe, W., Wentura, D. (1997). Wissenschaftliche Beobachtung. Eine Einführung (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Herrmann, T., Tack, W. H. (Hrsg). (1994). Methodologische Grundlagen der Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Bd. 1. Forschungsmethoden der Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Moosbrugger, H., Kelava, A. (2007). Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Heidelberg: Springer. Patry, P. (2002). Experimente mit Menschen: Einführung in die Ethik der psychologischen Forschung. Bern: Huber. Pawlik, K. (2006). Handbuch Psychologie. Wissenschaft, Anwendung, Berufsfelder. Heidelberg: Springer. Westermann, R. (2000). Wissenschaftstheorie und Experimentalmethodik. Ein Lehrbuch zur psychologischen Methodenlehre. Göttingen: Hogrefe.
2 Neurowissenschaft und Verhalten 2.1
Neuronale Kommunikation
– 57
2.1.1 Neuron – 57 2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren – 60 2.1.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen – 60
2.2
Nervensystem – 65
2.2.1 Peripheres Nervensystem – 66 2.2.2 Zentrales Nervensystem – 66
2.3
Endokrines System
– 70
2.4
Gehirn – 71
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Forschungswerkzeuge – 72 Ältere Hirnstrukturen – 75 Zerebraler Kortex – 80 Zur Zweiteilung des Gehirns – 90
Andere Kulturen, andere Perspektiven Weiter als Himmel – ist das Hirn – Leg sie nur – Seit an Seite – Und dieses nimmt leicht jenen auf Und Dich – noch obendrein –
Tiefer als Ozean ist das Hirn – Halt sie nur – Blau an Blau – Und wie mit Eimern – Schwämme – tun – Saugt dieses jenen auf –
Aus Dickinson, Emily, Dichtungen. Ausgew., übertr. und mit einem Nachw. vers. von Werner von Koppenfels. Mainz: Dieterich, 1995.
56
Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Neurowissenschaft und Verhalten > Kein Prinzip ist für die heutige Psychologie – und auch für dieses Buch – so zentral wie das folgende: Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Jede Idee, die Sie haben, jede Stimmung und jedes Bedürfnis ist ein biologisches Geschehen. Sie lieben, lachen und weinen mit Ihrem Körper. Ohne Ihren Körper, d. h. ohne Ihre Gene, Ihr Gehirn, ohne die inneren chemischen Vorgänge und ohne Ihre äußere Erscheinung, sind Sie einfach niemand, ein »nobody«. Obwohl es für uns üblich ist, die biologische und die psychologische Seite unseres Verhaltens als zwei unterschiedliche Dinge zu sehen, müssen wir Folgendes im Hinterkopf behalten: Körperlos zu denken, zu fühlen oder zu handeln wäre wie laufen ohne Beine. Heute ist die Wissenschaft gefesselt von den aufregendsten Teilen unseres Körpers: von unserem Gehirn, von den neuronalen Netzen, aus denen es besteht, und von der ihnen zugrunde liegenden Genwirkkette. Was könnte die letzte und größte Aufgabe für ein Gehirn sein? Sich selbst zu verstehen. Fragen, die sich uns stellen, sind z. B.: Wie ist unser Gehirn organisiert, und wie kommuniziert es mit sich selbst? Wie wirken sich bei uns Vererbung und Erfahrung zusammen auf das Gehirn aus, und zwar in dem Sinne, dass bestimmte neuronale Bahnen festgelegt werden? Wie verarbeitet unser Gehirn die Informationen, die wir benötigen, um einen Basketball zu werfen? Oder um uns an schöner Musik zu erfreuen? Oder um bei uns die Erinnerung an den ersten Kuss wachzurufen? Seit Urzeiten versuchen die Menschen, zu verstehen, wie in unserem Gehirn Bewusstsein entstehen kann. Schon der griechische Philosoph Platon ging richtigerweise davon aus, dass sich unser Bewusstsein im Kopf befindet. Sein Schüler Aristoteles glaubte dagegen, dass das Bewusstsein seinen Platz im Herzen des Menschen habe, das Wärme und Lebenskraft durch den Körper des Menschen pumpt. Heute steht das Herz zwar noch als Symbol für die Liebe, aber beim Thema »Bewusstsein« hat die Wissenschaft die Philosophie inzwischen eingeholt. Heute ist klar: Es ist Ihr Gehirn, das sich verliebt, und nicht Ihr Herz.
2
Bettmann/Corbis
Ziel 1: Beschreiben Sie die Theorie der Phrenologie, die sich als falsch erwies.
. Abb. 2.1. Eine unglückselige Theorie Obwohl die Annahmen von Gall zunächst weite Verbreitung fanden, ist heute klar, dass Dellen und Unebenheiten des Schädels nichts über die Funktionen des darunter liegenden Gehirns aussagen. Eine Annahme der Phrenologie hat sich jedoch bestätigt: Verschiedene Teile des Gehirns steuern verschiedene Verhaltensaspekte
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich viel verändert. Damals entwickelte der deutsche Physiker Franz Gall die Phrenologie, eine damals beliebte Lehre, die sich aber in der Zwischenzeit als falsch erwiesen hat. Nach dieser Auffassung konnte man aus den Unebenheiten und Einkerbungen im Schädel eines Menschen auf seine Fähigkeiten und Charaktereigenschaften schließen (. Abb. 2.1). Auf dem Höhepunkt der Bewegung gab es in Großbritannien 29 phrenologische Gesellschaften, und Phrenologen reisten nach Nordamerika, um Vorträge über Schädel zu halten (Hunt 1993). Der satirische Schriftsteller Mark Twain nahm einen Phrenologen aufs Korn, als er zur Schädelschau dorthin ging und sich dabei unter einem anderen Namen anmeldete. »Er fand eine Vertiefung und überraschte mich, als er sagte, diese Vertiefung spräche dafür, dass ich überhaupt keinen Sinn für Humor hätte!« Drei Monate später kam Twain zu einer zweiten Sitzung und gab sich diesmal zu erkennen. Jetzt »war die Vertiefung verschwunden, und an seine Stelle trat der am stärksten emporragende Humorhöcker, den er je in seinem Leben gesehen hatte« (Lopez 2000). In einem Punkt jedoch hatten die Phrenologen recht: nämlich darin, dass die einzelnen Gehirnregionen verschiedene festgelegte Funktionen haben. Etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass der Körper aus Zellen zusammengesetzt ist, darunter Nervenzellen, die kleinen elektrischen Leitungen ähneln und miteinander »sprechen«, indem sie chemische Botschaften über die winzigen Zellzwischenräume hinweg senden. Man entdeckte, dass bestimmte Gehirnsysteme bestimmte Funktionen haben (jedoch nicht die, die Gall vorschlug) und dass wir durch die Informationen, die in diesen Systemen verarbeitet werden, unsere Erfahrungswelt aufbauen: die Bilder, die wir sehen, die Geräusche, die wir hören, Bedeutungen, die wir erkennen, Erinnerungen, Schmerzen und Leidenschaften. Sie und ich leben in einer besonderen Zeit, in der die Entdeckungen zum Zusammenspiel zwischen Biologie einerseits und den Verhaltens- und Denkprozessen andererseits in atemberaubendem Tempo aufeinander folgen.
57 2.1 · Neuronale Kommunikation
In diesem Buch werden Sie immer wieder Beispiele für dieses Zusammenspiel finden. Durch die Beobachtung biologischer Aktivität und psychischen Geschehens werden in der biologischen Psychologie Erkenntnisse über Schlaf und Träume, über Depressionen und Schizophrenie, über Hunger, Sexualität, Stress und Erkrankungen gewonnen. Deshalb beginnen wir das Thema Psychologie mit einem Blick auf ihre biologischen Wurzeln.
2.1
Neuronale Kommunikation
Ziel 2: Erklären Sie, warum wir das Verhalten des Menschen besser verstehen können, wenn wir jede Person als biopsychosoziales System auffassen, und erörtern Sie, warum Wissenschaftler andere Lebewesen erforschen, um Anhaltspunkte für neuronale Prozesse beim Menschen zu finden.
»Wäre ich heute Student, könnte ich, glaube ich, nicht widerstehen, Neurowissenschaften zu studieren.« Der Schriftsteller Tom Wolfe, 2004
Biologische Psychologie (biological psychology): Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem Zusammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt; auch als physiologische Psychologie bezeichnet.
Das Informationssystem unseres Körpers ist aus Milliarden von miteinander verbundenen Zellen, den Neuronen, aufgebaut. Um unsere Gedanken und Handlungen, Erinnerungen und Stimmungen zu ergründen, müssen wir zunächst verstehen, wie Neuronen funktionieren und untereinander kommunizieren. Jeder von uns ist ein System, das aus Subsystemen besteht, die wiederum aus anderen, noch kleineren Subsystemen bestehen. Kleine Zellen organisieren sich zu Organen wie dem Magen, dem Herz und dem Gehirn. Diese Organe wiederum bilden ein System, das Verdauung, Durchblutung und Informationsverarbeitung erst möglich macht. Und auch diese Prozesse sind Teil eines noch größeren Systems – das Individuum, das seinerseits Teil einer Familie, einer Kultur und einer Gemeinschaft ist. Jeder von uns ist ein biopsychosoziales System. Um das menschliche Verhalten verstehen zu können, müssen wir also untersuchen, wie diese biologischen, psychologischen und soziokulturellen Systeme funktionieren und interagieren. In diesem Buch beginnen wir mit der kleinsten Einheit des Systems und arbeiten uns dann weiter in komplexere Bereiche vor, in diesem Kapitel von den Nervenzellen zum Gehirn, dann in den nächsten Kapiteln zu Umwelt- und kulturellen Einflüssen und ihren Interaktionen mit den biologischen Prozessen. Wir werden aber auch sehen, wie unsere Gedanken und Gefühle die Nervenzellen, ihr Zusammenwirken und ihre Funktionsfähigkeit beeinflussen. In allen Bereichen untersuchen Psychologen, wie Informationen verarbeitet werden, wie sie aufgenommen, organisiert, interpretiert und gespeichert werden und welchen Gebrauch wir letztlich davon machen. Für Wissenschaftler ist es ein glücklicher Umstand der Natur, dass die Informationssysteme von Menschen und Tieren in ihrer Funktionsweise einander ähnlich sind. Dies geht so weit, dass es bei einer kleinen Probe von Hirngewebe nicht möglich ist, zu bestimmen, ob sie vom Menschen oder vom Affen stammt. Diese Ähnlichkeit erlaubt es Wissenschaftlern, anhand einfacherer Lebewesen (Tintenfischen oder Wasserschnecken) herauszufinden, wie unsere neuronalen Systeme funktionieren. Sie ermöglicht es ihnen, anhand von Gehirnen anderer Säugetiere zu erkennen, wie unser Gehirn aufgebaut ist. Jedes Auto ist anders, aber alle Autos haben einen Motor, ein Gaspedal, ein Steuerrad und Bremsen. Ein Marsmensch könnte jedes Einzelne von ihnen untersuchen und die Funktionsprinzipien verstehen. Entsprechend unterscheiden sich die Lebewesen, doch ihre Nervensysteme funktionieren ganz ähnlich. Obwohl das Gehirn des Menschen komplexer ist als das einer Ratte, unterliegen beide den gleichen Funktionsprinzipien.
2.1.1 Neuron Ziel 3: Beschreiben Sie die Bestandteile einer Nervenzelle, und erklären Sie, wie ihre Impulse erzeugt werden.
Das neuronale Informationssystem unseres Körpers ist ein komplexes System, das aus einfachen Bausteinen zusammengesetzt ist. Die Grundbausteine sind Neuronen, also Nervenzellen. Es gibt unterschiedliche Arten von Nervenzellen, aber alle sind Variationen desselben Bauplans (. Abb. 2.2). Jede besteht aus einem Zellkörper und aus davon abzweigenden Fasern. Der Dendritenbaum
Neuron (neuron): Nervenzelle, der Grundbaustein des Nervensystems. Dendriten (dendrites): vielfach verzweigte Erweiterungen einer Nervenzelle, mit denen Botschaften empfangen und Impulse an den Zellkörper weitergegeben werden.
2
58
Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
. Abb. 2.2. Motoneuron
2
Axon (axon): Erweiterung eines Neurons, das in sich verzweigenden Nervenendigungen (Dendriten) endet. Über sie werden Botschaften an andere Neuronen bzw. an Muskeln oder Drüsen weitergeleitet.
Myelinschicht (auch Markscheide; myelin sheath): Schicht von fettreichem Gewebe, das die Axone vieler Neuronen abschnittsweise umspannt. Durch die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung erhöht, weil die Impulse von einem Knoten (Ranvier-Schnürring) zum nächsten springen.
empfängt die Informationen und leitet sie zum Zellkörper weiter. Von dort aus übermitteln die Axonbündel die Botschaft an andere Neuronen, Muskeln oder Drüsen. Die Axonen sprechen. Die Dendriten hören zu. Anders als die kurzen Dendriten sind die Axone manchmal sehr lang und erstrecken sich über weite Bereiche innerhalb des Körpers. Die Giganten des neuronalen Systems sind die Motoneurone, die die Muskeln steuern. Ein Neuron, das einen Befehl an einen Muskel im Bein weiterleitet, ist wie ein Basketball, der an einem 6 km langen Seil hängt. Eine Schicht aus Fettgewebe, die Myelinschicht, umspannt die Axone einiger Neuronen und beschleunigt so die Weiterleitung der Impulse. Dass diese Myelinschicht sehr wichtig ist, zeigt sich bei der multiplen Sklerose, einer Krankheit, bei der diese Schicht degeneriert. Folge ist eine Verlangsamung der Steuerung der Muskeln bis hin zum vollständigen Verlust der Kontrolle über die Muskeln. Abhängig von der Art des Gewebes, wandert der Nervenimpuls mit Geschwindigkeiten von gemütlichen 3 km/h bis zu halsbrecherischen 350 km/h. Trotzdem ist sogar diese Höchstgeschwindigkeit noch 3 Mio. Mal langsamer als die Geschwindigkeit, mit der sich Elektrizität durch ein Stromnetz bewegt. Gehirnaktivität wird in Millisekunden gemessen (tausendstel Sekunden), Computeraktivität dagegen in Nanosekunden (milliardstel Sekunden). Das erklärt zum Teil, warum menschliche Reaktionen auf ein plötzliches Ereignis, wie z. B. ein vor Ihrem Auto auftauchendes Kind, eine Viertelsekunde oder länger dauern. ! Ihr Gehirn ist einem Computer zwar in der Komplexität der Verarbeitung um ein Vielfaches überlegen, nicht aber, wenn es darum geht, wie schnell einfache Reaktionen ausgeführt werden.
Aktionspotenzial (action potential): Nervenimpuls, also eine kurzfristige elektrische Ladung, die am Axon entlang wandert. Diese Ladung entsteht dadurch, dass sich positiv aufgeladene Atome durch die Kanäle der Membran eines Axons herein- und wieder herausbewegen.
Ruhepotenzial (resting potential): das Membranpotenzial, das vorliegt, wenn kein Nervenimpuls weitergeleitet wird; im Inneren des Axons befinden sich negativ geladene, im Umfeld positiv geladene Ionen. »Ich besinge die Elektrizität des Körpers.« Walt Whitman, Children of Aden, 1855
Eine Nervenzelle löst einen Impuls aus, wenn sie von Sinnesrezeptoren durch Druck, Hitze oder Licht oder von anderen Neuronen durch chemische Botenstoffe stimuliert wurde. Dieser Impuls, Aktionspotenzial genannt, ist eine kurze elektrische Ladung, die das Axon entlangwandert. Neuronen erzeugen durch chemische Prozesse Elektrizität, so wie Batterien es tun. Der Prozess der Umwandlung von Chemie in Elektrizität erfolgt durch den Austausch von elektrisch geladenen Atomen, sog. Ionen. Im Ruhezustand befindet sich im flüssigen Innenraum der Neuronen ein Überschuss an negativ geladenen Ionen, während in der Flüssigkeit außerhalb des Neurons vor allem positiv geladene Ionen enthalten sind. Dieser Zustand eines positiv geladenen Umfelds und eines negativ geladenen Inneren am Axon wird als Ruhepotenzial bezeichnet. Ähnlich wie beim Zugang zu einem gut bewachten Gebäude ist die Oberfläche des Axons sehr wählerisch darin, wen oder was sie durchlässt. Man sagt, die Oberfläche ist semipermeabel. So wird z. B. verhindert, dass positive Natriumionen in ein ruhendes Axon eindringen können. Wenn jedoch die Weiterleitung eines Impulses beginnt – wir reden davon, dass »das Neuron feuert« –, verändert sich die Durchlässigkeit. Diesen Vorgang nennt man Depolarisation. Am
59 2.1 · Neuronale Kommunikation
Beginn des Axons öffnen sich Tore in der Zellmembran, ähnlich wie Kanaldeckel, die von unten aufgedrückt werden, und die positiv geladenen Natriumionen strömen durch die Membran ins Neuron hinein (. Abb. 2.3). So wird die Spannung an diesem Teil des Axons verringert, es wird depolarisiert, und dies bewirkt wiederum, dass sich die Tore in der Membran ein Stück weiter hinten öffnen. Danach öffnen sich die Tore noch ein Stück weiter hinten, und immer so weiter, ähnlich wie bei einer Reihe umfallender Dominosteine. Während einer Ruhepause (der Refraktärphase, ähnlich wie beim Blitz einer Kamera, der nach dem Einsatz eine gewisse Zeit benötigt, um sich wieder aufzuladen) pumpt das Neuron die positiv geladenen Natriumionen aus seinem Inneren wieder heraus. Erst dann kann es erneut depolarisiert werden. In myelinisierten Neuronen wird die Weiterleitung dadurch beschleunigt, dass das Aktionspotenzial von einem sog. RanvierSchnürring (einer ringförmigen Einschnürung an markhaltigen Nervenfasern, jeweils an der Grenze zweier Zellgebiete) zum nächsten springt (. Abb. 2.2). Es ist kaum zu fassen, dass sich diese chemischen Prozesse 100- bis 1000-mal pro Sekunde wiederholen. Doch solch unglaublichen Vorgängen werden wir noch öfter begegnen.
. Abb. 2.3. Aktionspotenzial
! Die Nervenzelle ist ein winziger Computer, der Entscheidungen trifft und dafür sehr komplizierte Berechnungen anstellen muss. An ihrem Zellkörper und an den Dendriten empfängt sie Signale von Hunderten, wenn nicht Tausenden anderen Neuronen.
»Das Neuron erzählt einem anderen nur, wie erregt es ist.« Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, 1997
Die meisten dieser Signale sind exzitatorisch (erregend), sie wirken wie das Gaspedal der Nervenzelle, andere sind inhibitorisch (hemmend) und drücken auf die Bremse. Erregende und hemmende Impulse werden gegeneinander aufgerechnet. Übersteigt die bleibende Menge an Erregung eine Mindestintensität, den sog. Schwellenwert, wird ein Aktionspotenzial ausgelöst. (Stellen Sie sich das so vor: Wenn auf einer Party die Anzahl der gut gelaunten Stimmungskanonen größer ist als die Zahl derjenigen, die gelangweilt in der Küche herumsitzen, kann die Party losgehen.) Das Aktionspotenzial bewegt sich am Axon entlang fort, das sich verzweigt und Verbindungen mit Hunderten oder Tausenden anderer Neuronen sowie mit den Muskeln und Drüsen des Körpers herstellt.
Schwellenwert (threshold): Grad an Stimulation, der benötigt wird, um einen neuronalen Impuls auszulösen.
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Es ist allerdings nicht möglich, durch die Verstärkung des stimulierenden Impulses auch die Stärke des Aktionspotenzials zu vergrößern, das an der Zelle entsteht. Die Reaktion des Neurons ist eine Alles-oder-nichts-Reaktion: Wie eine Pistole feuert es oder feuert nicht. Wie aber spüren wir die Intensität eines Reizes? Wie unterscheiden wir eine leichte Berührung von einer heftigen Umarmung? Ein starker Reiz – eher ein Schlag als eine zarte Berührung – kann insgesamt mehr Neuronen dazu bringen, zu feuern und häufiger zu feuern.
2 2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren Ziel 4: Beschreiben Sie, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren.
»Bei jeder Informationsverarbeitung im Gehirn sprechen die Neuronen an den Synapsen miteinander.« Solomon H. Snyder, Neurowissenschaftler (1984)
Synapse (synapse): Verbindungsstelle zwischen der axonalen Endigung des präsynaptischen Neurons, das Impulse weitergibt, und einem Dendriten oder dem Zellkörper des postsynaptischen Neurons, das die Impulse empfängt. Der winzige Zwischenraum zwischen den beiden Zellen wird als synaptischer Spalt bezeichnet.
Neurotransmitter (neurotransmitter): chemische Botenstoffe, die den synaptischen Spalt zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe werden vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet und wandern über den Spalt zum postsynaptischen Neuron, wo sie an Rezeptorenmoleküle gebunden werden. Damit haben die Neurotransmitter einen Einfluss darauf, ob in der postsynaptischen Zelle ein neuronaler Impuls entsteht.
Neuronen sind so dicht miteinander verwoben, dass selbst mit einem Mikroskop schwer zu erkennen ist, wo ein Neuron endet und wo das nächste beginnt. Früher glaubten die Wissenschaftler, dass die Axone der Zellen direkt mit den Dendriten der anderen Zellen verbunden sind. Dann aber beschrieb der spanische Anatom Santiago Ramon y Cajal (1852–1934) die kleinen Zwischenräume zwischen den einzelnen Nervenzellen und schloss daraus, dass die einzelnen Zellen im Nervensystem unabhängig voneinander funktionieren. Gleichzeitig entdeckte der britische Physiologe Sir Charles Sherrington (1857–1952), dass neuronale Impulse unerwartet lange brauchen, um sich fortzubewegen. Daraus folgerte Sherrington, dass es bei der Übertragung kurze Unterbrechungen geben musste. Heute wissen wir, dass die axonale Endigung eines Neurons in Wirklichkeit nicht direkt mit der postsynaptischen Zelle verbunden ist, sondern dass sich zwischen beiden Zellen ein Spalt befindet, der nur wenige Nanometer groß ist. Sherrington nannte die Verbindungsstelle Synapse und den Spalt dazwischen den synaptischen Spalt. Für Cajal waren diese Verbindungen der Neuronen, die er als »protoplasmische Küsse« bezeichnete, ein Wunder der Natur. »Vergleichbar mit eleganten Damen, die ihr Make-up nicht ruinieren wollen und nur so tun, als würden sie jemanden küssen, berühren sich die Dendriten und Axone nicht richtig«, merkt Diane Ackerman (2004) an. Wie aber bewerkstelligen die Neuronen diesen protoplasmischen Kuss? Wie gelangen die Informationen über den synaptischen Spalt? Die Antwort auf diese Frage ist eine der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse unseres Zeitalters. Wenn das Aktionspotenzial die Endigung des Axons erreicht, bewirkt es die Ausschüttung von chemischen Botenstoffen; sie werden Neurotransmitter genannt (. Abb. 2.4). Im 10.000sten Teil einer Sekunde überqueren die Neurotransmittermoleküle den synaptischen Spalt und docken an einem Rezeptor am postsynaptischen Neuron an, so präzise, wie ein Schlüssel ins richtige Schloss passt. Für einen Moment öffnen die Rezeptormoleküle dann kleine Kanäle am postsynaptischen Neuron. Dadurch können Ionen in das Neuron strömen und damit die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen eines Aktionspotenzials erhöhen oder verringern. Die Neurotransmitter, die sich noch im Spalt befinden, werden vom präsynaptischen Neuron wieder aufgenommen. Dieser Vorgang wird auch als Reuptake (Wiederaufnahme) bezeichnet.
2.1.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und stellen Sie kurz die Auswirkungen des Acetylcholins und der Endorphine dar. »Beim Gehirn gilt Folgendes: Wollen Sie es in Aktion sehen, dann folgen Sie den Neurotransmittern.« Floyd Broom, Neurowissenschaftler (1993)
Als Wissenschaftler Dutzende verschiedener Neurotransmitter entdeckten, ergaben sich auch neue Fragen: Sind spezielle Transmitter nur in bestimmten Bereichen des Gehirns zu finden? Wie wirken sie bei uns auf Stimmungen, Erinnerungen und geistige Fähigkeiten? Kann man ihre Wirkung dadurch verstärken oder abschwächen, dass man spezielle Medikamente zu sich nimmt oder sich auf eine bestimmte Weise ernährt? In späteren Kapiteln werden wir näher darauf eingehen, welchen Einfluss Neurotransmitter bei der Entstehung von Depressionen und Euphorie, von Hunger, von Gedanken und Sucht haben und welche Rolle sie in der Therapie spielen. Hier wollen wir jedoch schon einmal einen Blick
61 2.1 · Neuronale Kommunikation
darauf werfen, wie Neurotransmitter unsere Motorik und unsere Emotionen beeinflussen. Heute wissen wir, dass in bestimmten Gehirnbahnen jeweils nur ein oder zwei Neurotransmitter vorkommen (. Abb. 2.5) und dass bestimmte Neurotransmitter bestimmte Effekte auf unser Verhalten und unsere Emotionen haben. . Tabelle 2.1 zeigt Beispiele dafür. Acetylcholin (ACh) ist einer der am besten untersuchten Neurotransmitter. Neben der Rolle des Acetylcholins bei Prozessen wie Lernen und Gedächtnis ist ACh auch ein Botenstoff, der in jeder Verbindungsstelle zwischen einem Motoneuron und einem Skelettmuskel vorkommt. Wenn die Bläschen das ACh zu den Muskelzellen hin ausschütten, wird der Muskel kontrahiert. Wird die Übertragung des ACh blockiert, können die Muskeln nicht kontrahiert werden. Eine neue aufregende Entdeckung im Bereich der Neurotransmitter machten Pert u. Snyder (1973), als sie Morphium radioaktiv markierten. Dies lieferte ihnen einen Hinweis darauf, wo dieser Stoff im Gehirn eines Tieres aufgenommen wird. Ihre Entdeckung: Morphium ist eine Droge, ein sog. Opiat mit schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Wirkung. Pert u. Snyder fanden heraus, dass diese Droge genau in jenen Gehirnbereichen an Rezeptoren bindet, die mit Stimmung und Schmerzempfindung in Zusammenhang gebracht wurden. Es ist schwer vorstellbar, dass das Gehirn solche »Opiatrezeptoren« bereitstellt, wenn ihm nicht selbst irgendwelche natürlich vorkommenden Opiate, die an diese Rezeptoren andocken, zur Verfügung stünden. Warum sollte das Gehirn ein chemisches Schloss haben, aber keinen dazu passenden Schlüssel besitzen? Die Wissenschaftler bestätigten bald darauf, dass es im Gehirn tatsächlich einige Arten von Neurotransmittern gibt, die Morphinen ähneln. Sie wurden Endorphine genannt [kurz für endogene (im Körper produzierte) Morphine]. Diese natürlichen Opiate werden ausgeschüttet, wenn der Mensch Schmerzen empfindet oder hart trainiert. Das mag auch
. Abb. 2.4. Wie Neurone kommunizieren
Acetylcholin (ACh; acetylcholine): Neurotransmitter, der Lernen möglich macht und Muskelkontraktionen auslöst.
Endorphine (»innere Morphine« ; endorphins): natürliche, den Opiaten ähnelnde Neurotransmitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in Zusammenhang gebracht werden.
2
Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
. Abb. 2.5a, b. Bahnen der Neurotransmitter: dopaminerge (a) und serotonerge (b) Bahnen Die verschiedenen chemischen Botenstoffe sind jeweils in eigenen Transmittersystemen organisiert; dies sind jene Projektionsbahnen im Gehirn, wo die Stoffe vor allem gefunden wurden. Als Beispiel werden hier die Transmittersysteme von Dopamin und Serotonin dargestellt. (Carter 1998)
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Der Physiker Lewis Thomas über Endorphine: »Da ist er, ein biologisch universeller Gnadenakt. Ich kann ihn nicht erklären, außer vielleicht mit den folgenden Worten: Ich hätte ihn einbauen lassen, wenn ich ganz am Anfang Mitglied des Planungsausschusses gewesen wäre.« The Youngest Science, 1983
b
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. Tabelle 2.1. Einige Neurotransmitter und ihre Funktionen
Neurotransmitter
Funktion
Beispiele für Fehlfunktionen
Acetylcholin (ACh)
Ermöglicht Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis
Bei der Alzheimer-Krankheit sterben die Neuronen ab, die ACh produzieren
Dopamin
Beeinflusst Bewegung, Lernen, Aufmerksamkeit und Gefühle
Eine übermäßige Aktivität von Dopaminrezeptoren wird mit Schizophrenie in Verbindung gebracht. Wenn zu wenig Dopamin vorhanden ist, kommt es zum Zittern und zur eingeschränkten Beweglichkeit bei der ParkinsonKrankheit
Serotonin
Hat einen Einfluss auf Stimmung, Hunger, Schlaf und Erregung
Eine Unterversorgung ist bei Depressionen zu finden, Antidepressiva wie Fluctin und andere erhöhen den Serotoninspiegel
Noradrenalin
Trägt zur Steuerung von Wachheit und Erregung bei
Eine Unterversorgung kann zu gedrückter Stimmung führen
GABA (J-Aminobuttersäure)
Einer der wichtigsten hemmenden Neurotransmitter
Die Unterversorgung korreliert mit Anfällen, Zittern und Schlaflosigkeit
Glutamat
Einer der wichtigsten anregenden Neurotransmitter; am Gedächtnisprozess beteiligt
Eine Überversorgung kann zu einer Überstimulation des Gehirns führen und Migräne oder Anfälle auslösen (darum vermeiden manche Menschen Natriumglutamat im Essen)
Moleküle und Muskeln Wenn sich Ihr Körper bewegt, geschieht das durch eine Fülle von cholinergen Molekülen, die die Muskelaktivität auslösen
die guten Gefühle erklären, die z. B. beim Joggen aufkommen, ebenso die schmerzlindernde Wirkung von Akupunktur, oder warum manche schwerverletzten Menschen keine Schmerzen mehr spüren, wie David Livingston 1875 in »Missionary Travels« beschrieb:
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Ich hörte einen Schrei. Als ich aufstand und mich umdrehte, sah ich den Löwen, wie er auf mich zusprang. Ich war auf geringer Höhe, und er bekam meine Schulter zu packen, als er sprang, und wir fielen beide gemeinsam zu Boden. Fürchterlich in mein Ohr knurrend, schüttelte er mich, wie ein Terrier eine Ratte schüttelt. Der Schock machte mich benommen, so wie sich wohl eine Maus fühlt, wenn sie zum ersten Mal von einer Katze durchgeschüttelt wird. Ich fühlte mich wie in einem Traumzustand, in dem es keinen Schmerz und keine Angst gab, obwohl ich mir der Geschehnisse durchaus bewusst war … Diesen merkwürdigen Zustand empfinden wohl alle Tiere, die von Fleischfressern getötet werden; falls ja, ist er eine gnädige Vorkehrung unseres barmherzigen Schöpfers, um den Schmerz des Todes zu erleichtern.
Aus Rita Carter, Mapping the Mind © 1998, University of California Press
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63 2.1 · Neuronale Kommunikation
Wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung verändern Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung beeinflussen, und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wirkungen von Agonisten und Antagonisten.
Wenn die Endorphine tatsächlich Schmerzen lindern und die Stimmung heben, warum überschwemmen wir unser Gehirn nicht einfach mit künstlichen Opiaten und verstärken damit die dem Gehirn eigene »Gutfühlchemie«? Ein Problem dabei ist, dass das Gehirn, wenn es mit Opiaten wie Heroin oder Morphium überschwemmt wird, aufhören könnte, die eigenen, natürlichen Opiate zu produzieren. Bei Drogenentzug wären dann im Gehirn plötzlich gar keine Opiate mehr vorhanden. Drogenabhängige erleben diesen Zustand als Qualen, die so lange andauern, bis das Gehirn die Produktion der natürlichen Opiate wieder aufnimmt oder bis mehr künstliche Opiate eingenommen werden. Wie in späteren Kapiteln ausgeführt wird, haben Drogen, die die Stimmung beeinflussen, von Alkohol über Nikotin zu Heroin, alle einen ähnlichen Effekt: Sie führen alle – manche auch erst nach längerfristiger, regelmäßiger Anwendung – zu anhaltenden und oft nicht mehr umkehrbaren negativen Konsequenzen für die Gesundheit des Betroffenen. Wer die Produktion von Neurotransmittern im eigenen Körper unterdrückt, muss also einen hohen Preis dafür zahlen. Viele Drogen beeinflussen die Vorgänge an den Synapsen, oft durch Erregung oder Hemmung der Reizweiterleitung. Agonisten wirken erregend. Ein Molekül eines Agonisten kann einem Neurotransmitter so sehr ähneln, dass es die gleichen Effekte hat (. Abb. 2.6b) oder die Wiederaufnahme des Neurotransmitters verhindert. Manche Opiate beispielsweise machen »high«, indem sie das normale Gefühl von Erregung oder Lust verstärken. Nicht so angenehm sind die
. Abb. 2.6. Agonisten und Antagonisten
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Auswirkungen des Spinnengifts der Schwarzen Witwe, das die Synapsen mit ACh überschwemmt. Und was hat das zur Folge? Heftige Muskelkontraktionen, Krämpfe und möglicherweise den Tod. Antagonisten dagegen wirken hemmend. Ein Antagonist kann ein Molekül einer chemischen Substanz sein, das die Ausschüttung von Neurotransmittern verhindert. Botulin, ein Gift, das sich in unsachgemäß hergestellten Fertiggerichten in Dosen bilden kann, führt dadurch, dass es die Ausschüttung des ACh beim postsynaptischen Neuron blockiert, zu einer Lähmung (so glätten Botulin- oder Botox-Spritzen Falten dadurch, dass sie die darunter liegenden Gesichtsmuskeln lähmen). Oder ein Antagonist ähnelt dem natürlichen Neurotransmitter so sehr, dass er an die spezifischen Rezeptoren andocken und seine Wirkung blockieren kann (. Abb. 2.6c), jedoch nicht genug, dass er auch den Rezeptor stimulieren könnte (ähnlich ausländischen Münzen, die in einen Zigarettenautomaten zwar hineinpassen, mit denen man aber keine Zigaretten ziehen kann). Curare, ein Gift, das bestimmte Indianer in Südamerika zum Jagen auf die Pfeilspitzen schmieren, besetzt und blockiert die ACh-Rezeptoren, wodurch die Neurotransmitter nicht mehr in der Lage sind, ihren Einfluss auf die Muskeln auszuüben. Wenn ein Tier von einem dieser Pfeile getroffen wird, wird es sofort gelähmt sein. Die Neurotransmitterforschung führt zur Entwicklung von neuen Medikamenten zur Linderung von Depressionen, Schizophrenie und anderen Störungen. Aber das richtige Medikament zu entwickeln ist schwieriger, als man es sich vorstellt. Die Blut-Hirn-Schranke erlaubt es dem Gehirn, ungewollte chemische Stoffe auszuschließen, die im Blut zirkulieren. Wissenschaftler wissen z. B., dass das Zittern, das für die Parkinson-Krankheit typisch ist, aus dem Absterben von Nervenzellen resultiert, die Dopamin produzieren. Jedoch hilft es den Patienten nicht, wenn man ihnen Dopamin verabreicht, da dies die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann. Aber einige chemische Substanzen können die Schranke überwinden. Eines davon, L-Dopa, ein Stoff, den das Gehirn in Dopamin umwandeln kann, ermöglicht es vielen Patienten, wieder eine bessere Kontrolle über ihre Muskeln zu erlangen.
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Lernziele Abschnitt 2.1 Neuronale Kommunikation Ziel 1: Beschreiben Sie die Theorie der Phrenologie, die sich am Ende als falsch erwies. Nach der Theorie der Phrenologie sollte man aus Unebenheiten, Einkerbungen und der Form des Schädels auf Charaktereigenschaften und Fähigkeiten schließen können. Franz Gall unterzog seine Überzeugungen in Bezug auf die Phrenologie keiner wissenschaftlichen Überprüfung. Diese frühe Theorie trug jedoch dazu bei, dass die Wissenschaftler begannen, über die Zusammenhänge zwischen unserer Biologie, unserem Verhalten und unseren seelischen Prozessen nachzudenken. Ziel 2: Erklären Sie, warum wir das Verhalten des Menschen besser verstehen können, wenn wir jede Person als biopsychosoziales System begreifen, und erörtern Sie, warum Wissenschaftler andere Lebewesen erforschen, um Anhaltspunkte für neuronale Prozesse beim Menschen zu finden. Wenn wir jeden Menschen als ein biopsychosoziales System ansehen, so ermöglicht uns dies, das Verhalten auf mehreren Analyseebenen zu untersuchen. Auf der biologischen Ebene setzen sich die Organe aus Nervenzellen und anderen Zellen zusammen und bilden umfassendere Systeme (Verdauung, Kreislauf, Informationsverarbeitung). Auf der soziokulturellen Ebene leben die Menschen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten und unterliegen bestimmten Umwelt- sowie gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen. Auf der psychologischen Ebene gehen die Gedanken und Emotionen der Menschen mit ihrer Biologie
und ihrer persönlichen Geschichte eine Wechselwirkung ein; und dadurch entwickelt sich ein einzigartiges Individuum. Viele neue Erkenntnisse gewinnen Wissenschaftler aus der Untersuchung neuronaler Prozesse bei anderen Säugetieren und bei relativ einfachen Lebewesen, weil sich die neuronalen Systeme bei Mensch und Tier ähneln. Ziel 3: Beschreiben Sie die Bestandteile einer Nervenzelle, und erklären Sie, wie ihre Impulse erzeugt werden. Das Nervensystem besteht aus Milliarden einzelner Zellen, die Neuronen genannt werden. Neuronen senden über ihr Axon, das manchmal von einer Myelinschicht umgeben ist, Signale aus. Neuronen erhalten über ein verzweigtes Dendritensystem und den Zellkörper Signale von anderen Neuronen. Wenn diese Signale zusammen stark genug sind, feuert das Neuron und übermittelt entlang seines Axons einen elektrischen Impuls (das Aktionspotenzial). Dies geschieht mit Hilfe eines Prozesses, bei dem chemische Stoffe in Elektrizität umgewandelt und Ionen ausgetauscht werden. Die Reaktion des Neurons ist eine Alles-oder-nichtsReaktion. Ziel 4: Beschreiben Sie, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Wenn die Aktionspotenziale das Ende des Axons erreichen (die axonale Endigung), führen sie zur Ausschüttung von Neurotransmittern. Diese chemischen Botenstoffe übermitteln eine Botschaft vom präsynaptischen Neuron über eine Synapse an die Rezeptorstellen eines postsyn6
65 2.2 · Nervensystem
aptischen Neurons. Das präsynaptische Neuron absorbiert dann normalerweise bei einem Vorgang, der als Wiederaufnahme bezeichnet wird, den Überschuss an Neurotransmittermolekülen im synaptischen Spalt. Das postsynaptische Neuron erzeugt, wenn die Signale von diesem Neuron und von anderen stark genug sind, sein eigenes Aktionspotenzial und gibt die Botschaft an andere Zellen weiter. Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und stellen Sie kurz die Auswirkungen des Acetylcholins und der Endorphine dar. Jeder einzelne Neurotransmitter bewegt sich auf festgelegten Bahnen im Gehirn und hat einen bestimmten Effekt auf Verhalten und Emotionen. Acetylcholin, einer der Neurotransmitter, über die wir am meisten wissen, hat einen Einfluss auf Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis. Endorphine sind natürliche Opiate, die in Reaktion auf Schmerz und körperliche Betätigung freigesetzt werden.
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Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung beeinflussen, und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wirkungen von Agonisten und Antagonisten. Drogen und andere chemische Stoffe haben einen Einfluss auf die Kommunikation an der Synapse. Agonisten wirken erregend, indem sie die Rolle von bestimmten Neurotransmittern übernehmen oder ihre Wiederaufnahme verhindern. Antagonisten wie Curare hemmen die Freisetzung eines bestimmten Neurotransmitters oder blockieren seine Auswirkungen. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie die Ausschüttung von Endorphinen in Ihrem Gehirn vor starkem Schmerz bewahrt hat?
Nervensystem
Ziel 7: Beschreiben Sie die beiden Hauptkomponenten des Nervensystems und geben Sie drei Arten von Neuronen an, die Informationen über das System hinweg übertragen.
Leben bedeutet, Informationen von der Umwelt und aus dem Körpergewebe aufzunehmen, Entscheidungen zu treffen und schließlich die Informationen und Befehle zurück an das Körpergewebe zu senden. Neuronen sind die Grundbausteine unseres Nervensystems, des elektrochemischen Hochgeschwindigkeitsinformationsnetzes in unserem Körper (. Abb. 2.7). Das Gehirn und das Rückenmark bilden das zentrale Nervensystem (ZNS). Das periphere Nervensystem (PNS) verbindet das zentrale Nervensystem mit den Sinnesrezeptoren, den Muskeln und den Drüsen. Die Axone, die diese Informationen des PNS übertragen, sind zu elektrischen Kabeln gebündelt, die uns als Nerven bekannt sind. Der Sehnerv z. B. ist ein Bündel aus einer Mio. einzelner Axone; sie übertragen die Informationen, die jedes der beiden Augen zum Gehirn sendet (Mason u. Kandel 1991).
Nervensystem (nervous system): elektrochemischesHochgeschwindigkeitskommunikationsnetz in unserem Körper, das aus allen Nervenzellen des peripheren und zentralen Nervensystems besteht. Zentrales Nervensystem (ZNS; central nervous system): Gehirn und Rückenmark. Peripheres Nervensystem (PNS; peripheral nervous system): sensorische Neuronen und Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem (ZNS) mit dem Rest des Körpers verbinden, sowie die Neuronen des autonomen Nervensystems, also der Sympathikus und der Parasympathikus. Nerven (nerves): neuronale »Kabel«, die aus vielen Axonen bestehen. Diese gebündelten Axone, die Teil des peripheren Nervensystems sind, verbinden das zentrale Nervensystem mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen.
. Abb. 2.7. Funktionelle Aufteilung des menschlichen Nervensystems
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Sensorische Neuronen (sensory neurons): Nervenzellen, die von den Sinnesrezeptoren eingehende Informationen zum Zentralnervensystem übermitteln.
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Motoneurone (motor neurons): Neuronen, die den Muskeln und Drüsen die Informationen vom Zentralnervensystem übermitteln. Interneurone (interneurons): Neuronen des Zentralnervensystems, deren Aufgabe es ist, die interne Kommunikation zu gewährleisten sowie zwischen sensorischem Input und motorischem Output zu vermitteln.
In unserem Nervensystem werden die Informationen mit Hilfe dreier Arten von Neuronen weitergeleitet. Die sensorischen Neuronen schicken Informationen von der Körperoberfläche und den Sinnesorganen in den Körper hinein zum Gehirn und zum Rückenmark, die die eingehenden Informationen verarbeiten. Das ZNS sendet dann Befehle über Motoneurone zum Körpergewebe. Zwischen sensorischem Input und motorischem Output werden Informationen durch die interne Kommunikation des Zentralnervensystems mit Hilfe der Interneuronen verarbeitet. Dass dieser Prozess so komplex ist, liegt vor allem am System der Interneurone. Unser Nervensystem hat einige Millionen sensorischer Neuronen, einige Millionen Motoneuronen sowie Milliarden und Abermilliarden von Interneuronen.
2.2.1 Peripheres Nervensystem
Somatisches Nervensystem (somatic nervous system): Teil des peripheren Nervensystems, der die Skelettmuskulatur kontrolliert.
Ziel 8: Benennen Sie die Bestandteile des peripheren Nervensystems, und beschreiben Sie ihre Funktionen.
Autonomes (vegetatives) Nervensystem (autonomic nervous system): Teil des peripheren Nervensystems, der die Drüsen und Muskeln der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert. Der sympathische Teil sorgt für Erregung, der parasympathische für Beruhigung.
Das periphere Nervensystem hat zwei Komponenten: eine somatische und eine vegetative. Das somatische Nervensystem ermöglicht es, die Bewegungen unserer Skelettmuskulatur unter Kontrolle zu halten. Wenn Sie am Ende dieser Seite angelangt sind, wird das somatische Nervensystem Ihrem Gehirn Informationen über den momentanen Zustand Ihrer Skelettmuskeln übermitteln und daraufhin Instruktionen über die Bewegungen zurücksenden, die erforderlich sind, um die Seite umzublättern. Das vegetative oder autonome Nervensystem übt die Kontrolle über die Drüsen und die Muskeln unserer inneren Organe aus. Wie ein Autopilot wird es gelegentlich bewusst außer Kraft gesetzt, meistens jedoch arbeitet es eigenständig (autonom), um unsere Körperfunktionen zu steuern, z. B. unseren Herzschlag, die Verdauung und die Drüsenaktivität. Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Untersystemen (. Abb. 2.8). Der Sympathikus versetzt uns in Erregung. Das heißt, er bereitet uns in Gefahr- bzw. Stresssituationen oder bei Herausforderungen (wie etwa bei einem heiß ersehnten Vorstellungsgespräch) auf eine angemessene Reaktion vor. Dies geschieht dadurch, dass er die Herzfrequenz zunehmen lässt, den Blutdruck erhöht, die Verdauung verlangsamt, den Blutzuckerspiegel steigen lässt und uns durch Schwitzen abkühlt (Lügendetektoren erfassen solche Stressreaktionen, die manchmal Begleiterscheinungen von Lügen sind). Lässt der Stress nach, ruft der Parasympathikus die umgekehrten Effekte hervor. Neue Energie wird gespeichert, indem der Parasympathikus u.a. durch Verlangsamung des Herzschlags und Senkung des Blutzuckers beruhigend wirkt. In jeder alltäglichen Situation arbeiten Sympathikus und Parasympathikus zusammen, um unseren inneren Zustand stabil zu halten.
Sympathikus (sympathetic nervous system): Teil des vegetativen Nervensystems, der für körperliche Erregung und damit für die optimale Nutzung der Energie in Stresssituationen sorgt. Parasympathikus (parasympathetic nervous system): Teil des vegetativen Nervensystems, der für Beruhigung sorgt und es damit dem Körper ermöglicht, neue Energie zu speichern.
2.2.2 Zentrales Nervensystem Ziel 9: Stellen Sie die Einfachheit der Reflexbahnen und die Komplexität der neuronalen Netze einander gegenüber.
Aus der einfachen Kommunikation der einzelnen Neuronen untereinander entwickelt sich die Komplexität unseres zentralen Nervensystems, die uns erst zu Menschen macht: unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Handeln. Zigmilliarden von Neuronen, jedes davon mit Tausenden anderen verbunden, bieten ein sich ständig veränderndes Schaltbild, das auch einen leistungsstarken Computer in den Schatten stellt. Eines der größten und bislang ungelösten wissenschaftlichen Rätsel ist die Frage, wie sich diese neuronale Maschine in komplexe Schaltkreise organisiert, die Lernen, Fühlen und Denken möglich machen.
Rückenmark und Reflexe Das Rückenmark ist als Teil des Zentralnervensystems die Autobahn, auf der Informationen vom peripheren Nervensystem zum Gehirn reisen. Aufsteigende Nervenfasern übermitteln sensorische
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. Abb. 2.8. Funktionelle Zweiteilung des vegetativen Nervensystems Das vegetative Nervensystem kontrolliert die eher autonomen (oder selbstregulierenden) internen Funktionen. Der sympathische Teil sorgt für Erregung und verbraucht Energie, während der parasympathische Teil für Beruhigung und die Neuaufladung mit Energie sorgt, wobei die normale Erhaltungsaktivität bestehen bleibt. Zum Beispiel erhöht der Sympatikus den Herzschlag, während der Parasympatikus ihn verlangsamt
Informationen nach oben, während absteigende Nervenfasern motorische Informationen zurücksenden. Die Nervenbahnen, die für unsere Reflexe, also für unsere automatischen Reaktionen auf Reize zuständig sind, sind das beste Beispiel für die Aufgaben des Rückenmarks. Ein einfacher Reflexbogen über das Rückenmark besteht aus einem einzigen sensorischen Neuron und einem einzigen Motoneuron. Oft sind diese durch ein Interneuron miteinander verbunden. Der Kniesehnenreflex z. B. besteht aus solch einer einfachen Nervenbahn; er könnte sogar noch ausgelöst werden, wenn die Reizleitung zum Gehirn völlig unterbrochen ist. Ein anderer derartiger Reflexbogen ist für den Schmerzreflex verantwortlich (. Abb. 2.9). Wenn Sie eine Flamme mit dem Finger berühren, wandert die neuronale Aktivität, die durch die Wahrnehmung der Hitze entstanden ist, über sensorische Neuronen zu Interneuronen in Ihrem Rückenmark. Diese Interneurone wiederum reagieren mit einer Aktivierung der Motoneurone und der Muskeln im Arm. Darum hat man den Eindruck, dass die Hand nicht willentlich zurückgezogen wird, sondern von selbst zurückzuckt. Da die einfache Reflexbahn durch das Rückenmark geht, wird die Hand von der Flamme zurückgezogen, bevor das Gehirn die Informationen über den Schmerz erhält und darauf reagieren kann. Informationen bewegen sich über das Rückenmark zum Gehirn und wieder zurück. Wäre der obere Teil Ihres Rückmarks durchtrennt, könnten Sie diesen Schmerz nicht empfinden, genauso wenig wie angenehme Berührungen. Ihr Körper wäre im wörtlichen Sinne außer Reichweite Ihres Gehirns. Es würden bei Ihnen sämtliche Empfindungen und die Willkürmotorik in den Körperregionen ausfallen, die über Neuronen mit den Teilen des Rückenmarks unterhalb der Verletzung verbunden sind. Ihr Knie würde bei der Untersuchung des Kniesehnenreflexes hochschnellen, ohne dass Sie die Berührung des kleinen Gummihammers spüren. Wenn bei einem von der Taille ab gelähmten Mann der Teil der Gehirns vom Rest abgeschnitten ist, der für die Hem-
Reflex (reflex): einfache, automatische, angeborene Reaktion auf einen sensorischen Reiz, wie z. B. der Kniesehnenreflex.
»Ist das Nervensystem zwischen dem Gehirn und anderen Körperregionen unterbrochen, dann sind Erfahrungen dieser anderen Teile für den Geist gar nicht vorhanden. Das Auge ist dann blind, das Ohr taub, die Hand ist empfindungs- und bewegungslos.« William James (»Principles of Psychology«, 1890)
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. Abb. 2.9. Einfacher Reflex
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mung von Erektionen zuständig ist, erigiert er oft, wenn sein Geschlechtsteil stimuliert wird, da die Erektion ein einfacher Reflex ist (Goldstein 2000). Frauen mit einer ähnlichen Lähmung können auf Stimulation mit vaginaler Lubrikation reagieren. Aber es hängt vom Ort und vom Ausmaß der Verletzung des Rückenmarks ab, ob solcherart gelähmte Patienten überhaupt noch auf erotische Bilder reagieren und ob sie noch Gefühle im Genitalbereich haben (Kennedy u. Over 1990; Sipski u. Alexander 1999). Um körperlichen Schmerz oder körperliche Lust zu verspüren, müssen die sensorischen Informationen bis zum Gehirn vordringen.
Gehirn und neuronale Netze
Neuronale Netze (neural networks): miteinander verbundene Nervenzellen. Die Netze können durch Erfahrung lernen, da die Verbindungen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, durch Rückkopplung verstärkt oder geschwächt werden. Mit Computerprogrammen, die neuronale Netze nachbilden, kann diese Art von Lernen simuliert werden.
Der andere Teil des Zentralnervensystems, das Gehirn, erhält Informationen, interpretiert sie und entscheidet über Reaktionen. Dabei funktioniert das Gehirn so ähnlich wie ein Computer. Es erhält von den beiden Augen zwei etwas unterschiedliche Abbildungen eines Objektes, interpretiert den Unterschied und schließt sofort daraus, wie weit das Objekt entfernt sein muss, damit ein solcher Unterschied entsteht. Wenn der Fußballtorwart Jens Lehmann einen Ball auf sich zukommen sieht, stellt sein Gehirn eine unglaubliche Zahl von Berechnungen an, um auf die Distanz, den Winkel und die Geschwindigkeit des Ballflugs mit der passenden Körperhaltung zu reagieren. Wie schafft es Lehmanns Gehirn, diese Berechnungen durchzuführen? Zunächst einmal ist jedes Neuron mit Tausenden anderen verbunden. Um ein Gefühl für die Komplexität dieser Vernetzung zu bekommen, stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie können zwei Legosteine mit jeweils acht Knöpfen auf 24 Arten aufeinanderstecken, und sechs Stücke auf annähernd 103 Mio. Arten. Bei ungefähr 40 Mrd. Neuronen, die jeweils um die 10.000 Kontaktstellen zu anderen Neuronen haben, kommen wir auf etwa 400 Billionen synaptische Verbindungen, also Orte, an denen die Neuronen auf ihre Nachbarn treffen und sie begrüßen (de Courten-Myers, 2005). Ein sandkorngroßes Stück Ihres Gehirns enthält 100.000 Neuronen und eine Mrd. »sprechende« Synapsen (Ramachandran u. Blakeslee 1998). Um Mensch zu sein, muss man ganz schön viele Nerven haben. Neuronen schließen sich zu Arbeitsgruppen, sog. neuronalen Netzen, zusammen. Zum besseren Verständnis der Tatsache, dass Neuronen dazu neigen, Verbindungen mit benachbarten Neuronen zu schließen, schlagen uns Kosslyn u. Koenig (1992, S. 12) vor, »darüber nachzudenken, warum Städte existieren: Warum verteilen sich die Menschen nicht einfach gleichmäßig auf die ländlichen Gegenden?« Genauso wie sich Menschen zusammenschließen, schließen sich auch Neuronen mit benachbarten Neuronen zusammen, mit denen sie dann schnell Verbindung aufnehmen können. Wie in . Abb. 2.10 zu sehen ist, sind die Zellen in jeder Schicht eines neuronalen
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. Abb. 2.10. Vereinfachtes neuronales Netz Neurone bauen Netzwerke mit benachbarten Neuronen auf. In diese Netze aus miteinander verbundenen Nervenzellen ist Ihre eigene Identität und die Wahrnehmung Ihres Selbst mit eingewebt, die sich über die Jahre hinweg erweitert
Netzes mit vielen Zellen aus der nächsten Schicht verbunden. In dem Maße, in dem durch Rückkopplung die Verbindungen, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen, verstärkt werden, kommt es zu Lernprozessen. So entstehen beim Üben eines Instrumentes, beispielsweise beim Klavierspielen, immer wieder neue neuronale Verbindungen. Gleich und gleich gesellt sich gern; so ist dies auch bei feuernden Neuronen, die sozusagen verdrahtet werden. Mit Hilfe neuer Computermodelle wird versucht, neuronale Netze zu simulieren, komplett mit erregenden und hemmenden Verbindungen, die durch Erfahrung verstärkt werden: Man imitiert auf diese Weise die Lernfähigkeit des Gehirns. Natürlich sind unsere eigenen neuronalen Netze komplizierter als das in . Abb. 2.10 dargestellte Netz. In unserem Gehirn ist ein neuronales Netz immer mit anderen Netzen verbunden, die für etwas anderes zuständig sind. Wenn man ein Gehirn öffnet, sieht man keine Pfeile, die einem zeigen, wo ein Netz endet und ein anderes beginnt; wir können sie nur durch ihre spezifische Funktion unterscheiden. Jedes ist ein Subnetz, das seinen kleinen Teil von Informationen zu dem großen Informationsverarbeitungssystem beiträgt, das wir als Gehirn bezeichnen. Lernziele Abschnitt 2.2 Nervensystem Ziel 7: Beschreiben Sie die beiden Hauptkomponenten des Nervensystems und geben Sie drei Arten von Neuronen an, die Informationen über das System hinweg übertragen. Eine Hauptkomponente des Nervensystems ist das Zentralnervensystem (ZNS), das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht. Der andere Bestandteil ist das periphere Nervensystem (PNS), das aus den Neuronen besteht, die das ZNS über Nerven (gebündelte Axone der sensorischen Neurone und der Motoneurone) mit dem übrigen Körper verbindet. Sensorische Neuronen übertragen die über die Sinnesrezeptoren eingehenden Informationen zum ZNS, und die Motoneuronen übertragen die Informationen vom ZNS an die Muskeln und Drüsen. Interneuronen kommunizieren innerhalb des ZNS sowie zwischen sensorischen und Motoneuronen.
Ziel 9: Stellen Sie die Einfachheit der Reflexbahnen und die Komplexität der neuronalen Netze einander gegenüber. Reflexbahnen sind automatische angeborene Reaktionen auf Reize, und sie beruhen nicht auf bewussten Entscheidungen, die im Gehirn getroffen werden. Ein einzelnes sensorisches Neuron, das durch irgendeinen Reiz erregt wird (wie etwa eine Flamme), schickt eine Botschaft an ein Interneuron im Rückenmark. Das Interneuron aktiviert ein Motoneuron, das eine Muskelreaktion auslöst (wie etwa von der Hitzequelle zurückzuzucken). Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Netze, die man in Gehirn findet, Gruppen vieler Neuronen, die eine Spezialaufgabe gemeinsam haben. Diese komplexen Netze werden durch ihren Einsatz verstärkt: Lernen durch Erfahrung. Jedes neuronale Netz ist mit anderen Netzen verbunden, die andere Aufgaben ausführen.
Ziel 8: Benennen Sie die Bestandteile des peripheren Nervensystems, und beschreiben Sie ihre Funktionen. Das periphere Nervensystem ist zweigeteilt. Das somatische Nervensystem ermöglicht die willkürliche Steuerung der Skelettmuskulatur. Das autonome (vegetative) Nervensystem kontrolliert durch seine Aufteilung in Sympathikus und Parasympathikus die Muskeln unserer Organe und die Drüsen.
> Denken Sie weiter: Finden Sie es überraschend, wie Ihr Nervensystem aufgebaut ist – mit dem synaptischen Spalt, der von chemischen Botenstoffen in Sekundenschnelle überquert wird? Hätten Sie einen anderen Bauplan für sich entworfen?
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
2.3
Endokrines System
Ziel 10: Beschreiben Sie die Eigenart und die Funktionen des endokrinen Systems sowie seine Wechselwirkung mit dem Nervensystem.
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Endokrines System (endocrine system): »langsames« chemisches Kommunikationssystem des Körpers; es besteht aus einer Reihe von Drüsen, die Hormone ins Blut ausschütten. Hormone (hormones): meist von den endokrinen Drüsen in einem Gewebe hergestellte chemische Botenstoffe, die andere Gewebe beeinflussen.
. Abb. 2.11. Die wichtigsten endokrinen Drüsen des Körpers
Bisher haben wir uns mit dem schnellen elektrochemischen Informationssystem des Körpers beschäftigt. Es gibt jedoch noch ein anderes Kommunikationssystem, das endokrine System (. Abb. 2.11). Die Drüsen des endokrinen Systems schütten eine andere Art von chemischen Botenstoffen aus, die Hormone. Hormone werden in einem Gewebe gebildet, dann durch die Blutbahn weitergeleitet und beeinflussen andere Gewebe, auch das Gehirn. Wenn sie auf das Gehirn wirken, beeinflussen sie unser Interesse an Nahrung, Sexualität und Aggression. Manche Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern (den chemischen Botenstoffe, die in eine Synapse ausgeschüttet werden und die postsynaptische Nervenzelle erregen oder hemmen). Das endokrine System und das Nervensystem sind somit eng miteinander verwandte Systeme: Beide schütten Moleküle aus, um Rezeptoren an einer anderen Stelle im Körper zu aktivieren. Aber im Unterschied zum schnellen Nervensystem, das Botschaften in Bruchteilen einer Sekunde vom Auge zum Gehirn schwirren lässt, werden endokrine Botschaften deutlich langsamer übermittelt. Wenn das Nervensystem Informationen wie per E-Mail übermittelt, ist das endokrine System die Snailmail, die Briefpost. Einige Sekunden oder mehr vergehen, bis ein Hormon über die Blutbahn von einer endokrinen Drüse bis ins Zielgewebe gespült wird. Aber es lohnt sich oft, auf diese endokrinen Botschaften zu warten, da ihre Effekte meist länger anhalten als die einer neuronalen Botschaft. Und dadurch können wir erklären, warum wir manchmal das Gefühl haben, dass da etwas nicht stimmt, wenn unser Bewusstsein von irgendeiner Neuigkeit abgelenkt wird, die einen leichten Stress auslöst. Unter dem Einfluss von Hormonen und nichtverbaler Hirnareale hält das Gefühl länger an als der Gedanke – bis uns die Sache wieder bewusst wird und wir vielleicht ein Gefühl der Erleichterung empfinden, wenn wir uns an den Grund für unser Unwohlsein erinnern. Die Hormone des endokrinen Systems beeinflussen viele Aspekte unseres Lebens – Wachstum, Fortpflanzung, Stoffwechsel und Stimmung – und wirken daran mit, dass unsere Körper-
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funktionen im Gleichgewicht bleiben, während wir Stress, Anstrengungen und unseren eigenen Gedanken ausgesetzt sind. So gibt das autonome Nervensystem z. B. in einer gefährlichen Situation der Nebenniere den Befehl, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Diese Hormone beschleunigen den Herzschlag, erhöhen den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel und stellen uns damit einen zusätzlichen Energieschub zur Verfügung. Ist der Notfall dann vorbei, dauert es eine Weile, bis die Hormone wieder abgebaut sind; deshalb bleibt auch das Gefühl der Erregung noch eine Weile bestehen. Die endokrine Drüse mit dem größten Einfluss ist die Hypophyse, eine erbsengroße Struktur im mittleren Teil des Gehirns; dort wird sie von einer angrenzenden Struktur, dem Hypothalamus, gesteuert. Die Hypophyse schüttet Hormone aus, die einen Einfluss auf das Wachstum haben, und kann zusätzlich auch noch die Hormonausschüttung in anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. Die Hypophyse ist also so etwas wie die Königsdrüse (deren Kaiser der Hypothalamus ist). Zum Beispiel bringt die Hypophyse unter dem Einfluss des Gehirns die Sexualdrüsen dazu, Sexualhormone auszuschütten. Diese beeinflussen wiederum das Gehirn und das Verhalten. Dieses Rückkopplungssystem (Gehirn oHypophyse oandere Drüsen oHormone oGehirn) ist ein Hinweis auf die direkte Verbindung zwischen Nervensystem und endokrinem System: Das Nervensystem bewirkt die Ausschüttung von Hormonen, die dann wiederum das Nervensystem beeinflussen. Tatsächlich sind die beiden Systeme so eng miteinander verwoben, dass sich die Unterschiede verwischen. Forscher haben herausgefunden, dass auch Neurotransmitter über die Gehirnflüssigkeit in weit entfernte Regionen gelangen können und einen allgemeinen Alarmzustand hervorrufen oder die Stimmung beeinflussen können (Agnati et al. 1992; Pert 1986). In solchen Fällen lassen sich die Neurotransmitter kaum mehr von ihren chemischen Zwillingen unterscheiden, die als Hormone bezeichnet werden, wenn sie von Drüsen ausgeschüttet werden. Und dieses ganze elektrochemische Orchester wird vom großen Maestro, den wir Gehirn nennen, dirigiert und koordiniert.
Nebennieren (adrenal glands): Paar endokriner Drüsen direkt oberhalb der Niere. Sie schütten die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin) und Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den Körper bei Stresssituationen in Erregung versetzen.
Hypophyse (pituitary gland): wichtigste Drüse des endokrinen Systems. Unter dem Einfluss des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum und kontrolliert die Aktivität anderer endokriner Drüsen.
Lernziele Abschnitt 2.3 Das endokrine System Ziel 10: Beschreiben Sie die Eigenart und die Funktionen des endokrinen Systems und seine Wechselwirkung mit dem Nervensystem. Das endokrine System besteht aus einer Gruppe von Drüsen, die Hormone in die Blutbahn ausschütten. Diese chemischen Botenstoffe wandern durch den Körper und beeinflussen andere Gewebe einschließlich des Gehirns. Einige Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern. Die Königsdrüse des endokrinen Systems ist die Hypophyse; sie beeinflusst die Ausschüttung von Hormonen in anderen Drüsen.
> Denken Sie weiter: Können Sie sich erinnern, dass Sie nach einem stark Stress auslösenden Ereignis für längere Zeit ein Unwohlsein empfanden? Wie lange hielten diese Gefühle an?
Gehirn
In einem Glas auf einem Regal im Psychologischen Institut der Cornell University wird das gut erhaltene Gehirn von Edward Bradford Titchener aufbewahrt, einem bedeutenden Experimentalpsychologen der Jahrhundertwende und Vertreter der Bewusstseinsforschung. Stellen Sie sich doch einmal vor, vor dieser zerfurchten Masse aus grauem Gewebe zu stehen und sich dabei zu fragen, ob noch etwas von Titcheners Geist darin verblieben ist. Ihre erste Reaktion wäre wahrscheinlich, dass ohne das lebendige Zirpen der elektrochemischen Aktivität nichts mehr von Titchener in seinem konservierten Gehirn zu finden ist. Stellen Sie sich dann ein Experiment vor, von dem der neugierige Titchener selbst geträumt haben mag: Malen Sie sich aus, wie jemand Titcheners Gehirn unmittelbar vor seinem Tod aus dem Körper entfernt und in einen Behälter mit Hirnflüssigkeit gelegt hätte und es durch die Zufuhr von Blut und Sauerstoff am Leben erhalten hätte. Gäbe es Titchener dann noch? Stellen Sie sich vor, jemand hätte das noch lebende Gehirn damals in den Körper eines Menschen mit einem schweren Gehirnschaden transplantiert! In welches Zuhause hätte der Patient nach seiner Erholung zurückkehren sollen?
C. Styrsky
2.4
Durch ein ausgeklügeltes Rückkopplungssystem beeinflusst der Thalamus im Gehirn die Hypophyse, die wiederum einen Einfluss auf andere Drüsen hat, die Hormone ausschütten, die wiederum das Gehirn beeinflussen.
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
»Ich bin ein Gehirn, Watson. Der Rest von mir ist nur ein Anhängsel.« Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Adventure of the Mazarin Stone«
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Dass wir uns diese Fragen stellen können, belegt, wie überzeugt wir davon sind, dass wir in unseren Köpfen »wohnen«. Und dies mit gutem Grund: Schließlich macht das Gehirn Bewusstsein erst möglich – sehen, hören, schmecken, fühlen, erinnern, denken, sprechen und träumen. Das Gehirn ist das, was die Schriftstellerin Diane Ackerman (2004, S. 3) wie folgt bezeichnet hat: »dieses glänzende Hügelwesen, …… diese Traumfabrik, … dieses Wirrwarr von Neuronen, die all diese Spiele einfordern, … dieser launische Vergnügungspark«. Zudem analysiert das Gehirn selbstreflexiv das Gehirn. Wenn wir über unser Gehirn nachdenken, denken wir mit dem Gehirn – indem unsere Synapsen kaum abzählbar millionenmal feuern und Milliarden von Transmittermolekülen ausschütten. ! Tatsächlich ist es so: Das Denken ist, was das Gehirn tut. Das meinen zumindest die Neurowissenschaftler.
Aber wo genau und wie sind die Funktionen des Denkens mit dem Gehirn verknüpft? Wir wollen uns zunächst damit beschäftigen, wie Wissenschaftler solchen Fragen nachgehen.
2.4.1 Forschungswerkzeuge Ziel 11: Beschreiben Sie einige Verfahren zur Untersuchung des Gehirns.
Läsion (lesion): Zerstörung von Gewebe. Eine Hirnläsion ist eine auf natürliche Weise oder durch ein Experiment entstandene Zerstörung von Hirngewebe.
Über Jahrhunderte hinweg hatte man keine Werkzeuge, die leistungsstark, aber behutsam genug waren, um ein noch lebendes menschliches Gehirn zu erkunden. Dies hat sich jetzt innerhalb einer Generation geändert. Im Interesse der Medizin oder der Wissenschaft können wir kleine Zellansammlungen aus gesunden oder krankhaft veränderten Gehirnen entnehmen, am Gehirn also gezielt Läsionen setzen (etwas zerstören), ohne das umliegende Gewebe zu schädigen. Wir können mit kleinen elektrischen Impulsen verschiedene Gehirnteile reizen und die Resultate beobachten. Wir können uns für die Nervenimpulse einzelner Neuronen interessieren oder die Kommunikation von Milliarden Neuronen abhören. Wir können Bilder anschauen, auf denen die energetischen Prozesse im Gehirn in Farbe zu sehen sind. Diese Techniken, um in das denkende und fühlende Gehirn hineinzuschauen, sind für die Psychologie in etwa das, was das Mikroskop für die Biologie und das Fernrohr für die Astronomie war.
Tom Landers, Boston Globe/Landov/InterTOPICS
Klinische Beobachtungen
Die Gehirnbank Francine Benes, Direktorin der McLean Hospital’s Brain Bank, sieht die Sammlung als eine wertvolle Datenbank
Die älteste Methode, um die Verbindung zwischen Gehirn und Geist zu untersuchen, ist es, zu beobachten, welche Folgen bestimmte Krankheiten und Verletzungen des Gehirns haben. Solche Beobachtungen wurden erstmals vor 5000 Jahren gemacht. Doch erst in den letzten zwei Jahrhunderten begannen Mediziner systematisch, die Folgen von Verletzungen an bestimmten Stellen im Gehirn aufzuzeichnen. Einige Forscher stellten fest, dass Verletzungen auf einer Seite des Gehirns oft zu Lähmungen und Taubheitsgefühlen auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers führen und folgerten daraus, dass die rechte Seite des Körpers mit dem linken Teil des Gehirns verbunden ist und umgekehrt. Andere leiteten aus ihren Beobachtungen ab, dass eine Verletzung des hinteren Teils des Gehirns zu Störungen der visuellen Wahrnehmung führt und Verletzungen des vorderen linken Teils zu Störungen der Sprache. Nach und nach lokalisierten die frühen Forscher die einzelnen Hirnareale. Heute haben Wissenschaftler der Universität von Iowa mehr als 1500 Patienten mit einer Hirnschädigung im größten bestehenden Verzeichnis der Hirnschädigungen registriert. In der Harvard Brain Bank am McLean Hospital in Boston werden 3000 Gehirne aufbewahrt, sowohl »von gesunden Menschen« als auch von Personen, die unter verschiedenen psychiatrischen oder neurologischen Störungen litten. Die Geschichten dieser Patienten dienen uns als Schlüssel zum Verständnis der inneren Vorgänge in unserem eigenen Gehirn.
Manipulationen am Gehirn Die Wissenschaftler müssen heutzutage nicht auf Gehirnverletzungen warten. Sie sind in der Lage, bestimmte Teile des Gehirns elektrisch, chemisch oder magnetisch zu stimulieren und zu
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beobachten, welche Effekte dadurch hervorgerufen werden. Bei Tieren wird auch Gewebe in bestimmten Gehirnbereichen chirurgisch zerstört. Zum Beispiel führt eine Läsion eines Bereichs des Hypothalamus der Ratte dazu, dass sie weniger isst und verhungert, wenn man sie nicht zwangsernährt. Eine Läsion in einem anderen Bereich führt zu verstärkter Nahrungsaufnahme.
Die elektrische Aktivität des Gehirns Genau in diesem Moment sendet Ihre geistige Aktivität eine Fülle elektrischer, metabolischer und magnetischer Impulse aus, die es einem Neurowissenschaftler erlauben würden, die Aktivität in Ihrem Gehirn zu beobachten. Die Spitzen der modernen Mikroelektroden sind so fein, dass sie die elektrischen Impulse eines einzigen Neurons entschlüsseln können. Damit können erstaunlich präzise Forschungsergebnisse erzielt werden. So können wir z. B. heutzutage genau beobachten, wie die Informationen über die Berührung der Schnurrhaare einer Katze in ihrem Gehirn weitergeleitet werden. Die elektrische Aktivität der Milliarden von Neuronen des Gehirns rauscht in regelmäßigen Wellen über seine Oberfläche. Beim Elektroenzephalogramm (EEG) werden Hirnstromwellen abgeleitet und verstärkt. Ein EEG der Gehirnaktivität zu betrachten ist so, als wolle man den Motor eines Autos anhand seines Motorengeräusches begutachten. Mit Hilfe eines geeigneten Filters ist es jedoch möglich, eine einzelne elektrische Welle, die durch einen Reiz verursacht wird, von den anderen Wellen getrennt zu beobachten (. Abb. 2.12).
Elektroenzephalogramm (EEG; electroencephalogramm): Ableitung und Verstärkung von Hirnstromwellen, also Wellen elektrischer Aktivität, die über die Oberfläche des Gehirns laufen. Diese Wellen werden von Elektroden abgeleitet, die am Schädel befestigt werden.
Bildgebende Verfahren
. Abb. 2.12. Elektroenzephalogramm (EEG) Hier wird die Gehirnaktivität bei diesem vierjährigen Mädchen mit Epilepsie dargestellt
Positronenemissionstomographie (PET; positron-emission tomography): Form der Visualisierung von Gehirnaktivität. Dem Patienten wird radioaktiv markierte Glukose injiziert, deren Verteilung im Gehirn beobachtet werden kann, während er eine vorgegebene Aufgabe ausführt.
Magnetresonanztomographie (MRT, auch Kernspintomographie; magnetic resonance imaging oder MRI): ein Verfahren, das mit Hilfe von Magnetfeldern und elektromagnetischen Wellen computergestützt Bilder vom Körper erstellt, auf denen man zwischen verschiedenen Gewebearten unterscheiden und so die Strukturen innerhalb des Gehirns erkennen kann.
Courtesy of Brookhaven National Laboratories
AJ Photo/Photo Researchers, Inc.
Mit neueren Methoden können wir wie Superman mit seinem Röntgenblick ins lebende Gehirn blicken. Eines dieser Verfahren ist die Positronenemissionstomographie (PET) (. Abb. 2.13), die das Gehirn in Aktion zeigt, indem sie den Glukoseverbrauch jedes Teils des Gehirns sichtbar macht (Glukose ist der »chemische Brennstoff« des Gehirns) (. Abb. 2.33 auf S. 88). Aktive Neuronen verbrauchen große Mengen an Glukose. Injiziert man einer Person schwach radioaktiv angereicherte Glukose, so kann man mit Hilfe der PET, die Radioaktivität misst und lokalisiert, beobachten, wie sich das »Nervenfutter« im Gehirn verteilt. PET-Schichtaufnahmen zeigen, dass die Areale des Gehirns, die aufflackern, wenn Menschen still für sich die Bezeichnung für ein Tier sagen, andere sind als jene, die aufflackern, wenn sie die Bezeichnung für ein Werkzeug sagen (Martin et al. 1996). In etwa so wie ein Wetterradar, das Regenfälle anzeigt, zeigen PET-Schichtaufnahmen anhand so genannter Hot Spots an, welche Areale des Gehirns am stärksten aktiviert sind, wenn der Mensch im Tomographen Rechenaufgaben löst, Musik hört oder Tagträumen nachhängt. Eine weitere neue Möglichkeit, in den Kopf zu schauen, macht sich die Tatsache zunutze, dass sich Atomkerne wie Kreisel drehen, auch im Gehirn. Bei der Kernspintomographie oder Magnetresonanztomographie (MRT) wird der Kopf der Testperson in ein starkes Magnetfeld
. Abb. 2.13. Positronenemissionstomographie (PET) Um ein PET durchführen zu können, injizieren Wissenschaftler freiwilligen Versuchspersonen eine niedrige und harmlose Dosis radioaktiven Zuckers mit kurzer Halbwertszeit. Detektoren rund um den Kopf der Versuchsperson messen den Ausstoß der g-Strahlen des Zuckers, der sich in den aktiven Teilen des Gehirns konzentriert hat. Ein Computer erstellt dann aus diesen Signalen einen Plan vom Gehirn in Aktion (. Abb. 2.33 mit einem Beispiel für PET-Schichtaufnahmen)
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Mit freundlicher Genehmigung von Daniel R. Weinberger, MD, CBDB, NIMH
. Abb. 2.14a, b. Magnetresonanztomographie (MRT) eines gesunden Menschen (a) und eines Schizophreniepatienten (b) Auffallend sind die vergrößerten, mit Gehirnflüssigkeit gefüllten Bereiche auf dem rechten Bild
2 a
fMRT (funktionelle MRT; functional MRI): ein Verfahren zum Aufweis von Blutfluss und damit Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander folgende MRT-Schichtaufnahmen miteinander vergleicht. Mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen kann man die Anatomie des Gehirns erkennen, mit Hilfe von fMRT-Schichtaufnahmen die Hirnfunktionen.
b
gelegt, das die drehenden Kerne zum Feld hin ausrichtet. Dann wird die Ausrichtung der Kerne kurz durch eine elektromagnetische Welle gestört. Kehren sie daraufhin in ihren ursprünglichen Zustand zurück, senden sie Signale aus, aus denen man ein Bild erstellen kann, wo und in welcher Dichte sie sich konzentrieren. Daraus ergibt sich ein detailliertes Bild vom weichen Gewebe im Gehirn (und im Körper). MRT-Schichtaufnahmen lassen bei Musikern mit dem absoluten Gehör ein größeres neuronales Areal in der linken Hirnhälfte erkennen als bei der Durchschnittsbevölkerung (Schlaug et al. 1995). MRT-Schichtaufnahmen können bei manchen Patienten mit Schizophrenie zeigen, dass die Teile des Gehirns, die mit Hirnflüssigkeit gefüllt sind, erweitert sind (. Abb. 2.14). Mit einer speziellen Anwendung der MRT, der fMRT (der funktionellen MRT), kann man die Funktionsweise, aber auch die Struktur des Gehirns erkennbar machen. Das Blut fließt an die Stellen, wo das Gehirn besonders aktiv ist. Durch den Vergleich von MRT-Schichtaufnahmen, die im Abstand von weniger als einer Sekunde gemacht werden, können die Forscher sehen, wie bestimmte Stellen im Gehirn aufflackern (da mehr sauerstoffreiches Blut fließt), wenn die betreffende Person verschiedene Denkaufgaben löst. Schaut die Person ein Gesicht an, dann weist ein funktionelles MRT Blutfluss in den hinteren Teil des Gehirns auf, in denen visuelle Informationen verarbeitet werden (. Abb. 2.28 auf S. 85). Solche Schnappschüsse der sich verändernden Gehirnaktivität geben Aufschluss darüber, wie das Gehirn seine Aktivität aufteilt. In einer spannenden Untersuchung entdeckten der Neurowissenschaftler Daniel Langleben und seine Kollegen (2002), dass sich mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen eine erhöhte Hirnaktivität im Zusammenhang mit Lügen lokalisieren lässt. Wenn Versuchsteilnehmer auf die Frage, welche Spielkarten sie hätten, logen, zeigte das fMRT eine erhöhte Aktivität in zwei Hirnregionen an. Bei der einen handelte es sich um die zinguläre Region im vorderen Kortex, ein Gebiet, das typischerweise aktiv ist, wenn wir miteinander in Konflikt stehende Bedürfnisse erleben. Einige Forscher stellten die Vermutung an, dass man eines Tages mit Hilfe leichter, tragbarer Geräte zum Messen der Hirnaktivität Lügen in alltäglichen Situationen aufdecken könne. Heute Neurowissenschaften zu studieren, ist vielleicht vergleichbar damit, in der Zeit, als Magellan die Weltmeere erforschte, Geograph gewesen zu sein. Die Anzahl der Forscher wächst:
S. Wahl
. Abb. 2.15. Im Gehirn lesen Eine fMRT-Schichtaufnahme machte zwei Gehirnareale aus, die besonders aktiv wurden, als ein Versuchsteilnehmer bei der Frage log, ob er eine Kreuz zehn auf der Hand hätte
Lucy Reading-Ikkanda for Scientific American Magazine
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75 2.4 · Gehirn
Die Mitgliederzahl in der interdisziplinären Society for Neuroscience, die 1969 gegründet wurde, ist im Jahre 2004 auf mehr als 36.000 gewachsen. Jedes Jahr werden neue Entdeckungen gemacht, die es auch ermöglichen, ältere Entdeckungen neu zu interpretieren. Wissenschaftler versuchen, die ganze Vielfalt neuer Informationen in Datenbanken zu vereinen. Mit dieser Kartographierung des Gehirns haben alle Wissenschaftler über elektronische Netze direkten Zugriff auf PET- oder MRT-Studien zur Aktivität einzelner Gehirnareale im Zusammenhang mit verschiedenen Aufgaben (z. B. Rechenaufgaben). Eins ist klar: Dies ist das goldene Zeitalter der Neurowissenschaften.
2.4.2 Ältere Hirnstrukturen Ziel 12: Beschreiben Sie die Bestandteile des Hirnstamms, und skizzieren Sie die Funktionen von Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn.
Wenn Sie den Schädel öffnen und hineinsehen könnten, fiele Ihnen als Erstes die Größe des Gehirns auf. Bei Dinosauriern macht das Gehirn nur den 100.000sten Teil des gesamten Körpergewichts aus, bei Walen den 10.000sten Teil, bei Elefanten den 600sten und bei Menschen den 45sten. Es sieht aus, als läge dem ein Prinzip zugrunde. Aber lassen Sie uns weitersehen: Bei Mäusen macht das Gehirn den 40sten Teil des Körpergewichts aus, und bei Krallenaffen den 25sten Teil. Es gibt also Ausnahmen von der Regel, dass das Verhältnis des Gehirngewichts zum Körpergewicht einen Schlüssel für die Intelligenz des Tieres darstellt. Bessere Indikatoren für die Fähigkeiten eines Tieres sind dessen Hirnstrukturen. Bei einfachen Vertebraten (Wirbeltieren) wie z. B. dem Hai, reguliert das Gehirn vor allem die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen: Atmung, Schlaf und Nahrungsaufnahme. Einfachere Säugetiere (wie z. B. Nager) haben ein komplexeres Gehirn, das Gefühle und ein besseres Gedächtnis ermöglicht. Bei weiter entwickelten Säugetieren wie Menschen verarbeitet das Gehirn mehr Informationen, und wir sind deshalb imstande, vorausschauend zu handeln. Um diese zunehmende Komplexität möglich werden zu lassen, haben sich bei den einzelnen biologischen Arten neue Gehirnsysteme über den alten gebildet, ähnlich wie auf der Erde neue Landschaften die älteren bedecken. Wenn man etwas tiefer gräbt, entdeckt man die fossilen Überreste aus der Vergangenheit – Komponenten des Hirnstamms, die noch immer fast genau die gleichen Funktionen haben wie schon bei unseren entfernten Vorfahren. Um das Gehirn zu erkunden, fangen wir mit dem Hirnstamm an und gehen dann weiter nach oben zu den neueren Systemen.
Hirnstamm Das Untergeschoss des Gehirns – sein ältester und innerster Teil – ist der Hirnstamm. Er fängt dort an, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und etwas dicker wird. Dieser Abschnitt wird Medulla oblongata genannt. Von hier aus werden Herzschlag und Atmung kontrolliert. Wird bei einer Katze das obere Ende des Hirnstamms vom Rest des Gehirns abgetrennt, überlebt das Tier; es atmet, rennt, klettert und putzt sogar sein Fell (Klemm 1990). Doch da dieser Teil von den höheren Gehirnbereichen abgeschnitten ist, wird das Tier nicht mehr absichtlich rennen oder klettern, um an Futter zu gelangen. Direkt über der Medulla befindet sich die Brücke (Pons), die dazu beiträgt, die Bewegungen miteinander zu koordinieren. Außerdem ist der Hirnstamm der Kreuzungspunkt, durch den hindurch viele Nerven die eine Hemisphäre des Gehirns mit der anderen Seite des Körpers verbinden. Diese sonderbare Überkreuzverbindung ist nur eine der Überraschungen, die das Gehirn zu bieten hat. Im Inneren des Hirnstamms, zwischen Ihren Ohren, liegt die Formatio reticularis (»vernetztes Gebilde«), ein neuronales Netz, das wie ein Finger geformt ist und vom Rückenmark bis zum Thalamus reicht (. Abb. 2.16). Wenn die sensorischen Informationen vom Rückenmark zum Thalamus weitergeleitet werden, wird ein Teil davon durch die Formatio reticularis geschleust, wo die eingehenden Informationen gefiltert und wichtige Informationen an andere Gehirnbereiche weitergeleitet werden. 1949 stellten Moruzzi u. Magoun fest, dass die elektrische Stimulation der Formatio reticularis einer schlafenden Katze sofort dazu führt, dass sie aufwacht und sehr erregt ist. Als Magoun auch
Hirnstamm (brain stem): ältester Teil und Kern des Gehirns, der dort beginnt, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt. Der Hirnstamm ist für die automatische Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen zuständig. Medulla oblongata (medulla oblongata): unterer Teil des Hirnstamms, der Herzschlag und Atmung kontrolliert.
Formatio reticularis (reticular formation): neuronales Netz im Hirnstamm, das eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt.
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
. Abb. 2.16. Hirnstamm und Thalamus Der Hirnstamm mit der Medulla oblongata ist die Verlängerung des Rückenmarks. Der Thalamus liegt am oberen Ende. Die Formatio reticularis reicht durch beide Strukturen hindurch
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die Verbindung der Formatio reticularis zu den höheren Regionen des Gehirns abtrennte, ohne dabei die umliegenden sensorischen Verbindungen zu zerstören, waren die Auswirkungen ähnlich aufsehenerregend. Das Ergebnis: Die Katze fiel in ein Koma, aus dem sie nie wieder erwachte. Magoun konnte direkt neben dem Ohr der Katze in die Hände klatschen, sie sogar kneifen: Es gab keinerlei Reaktion. Was lässt sich daraus schließen? Die Formatio reticularis ist der Hirnbereich, der für Erregung bzw. Wachzustände zuständig ist. Spätere Untersuchungen ergaben, dass es in anderen Teilen des Gehirns Nervenzellen gibt, deren Aktivität die Voraussetzung für Schlaf ist. (Wie Sie in 7 Kap. 7 sehen werden, ist das Gehirn nicht im Ruhezustand, wenn wir schlafen.)
Thalamus Thalamus (thalamus): Umschaltzentrale für sensorische Signale im Gehirn, die am oberen Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thalamus übermittelt Informationen zu sensorischen Arealen im Kortex und leitet die Reaktionen zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata weiter.
Über dem Hirnstamm sitzt die Umschaltzentrale für sensorische Signale, ein eng beieinander liegendes Paar eiförmiger Strukturen, das Thalamus genannt wird (. Abb. 2.16). Der Thalamus empfängt Informationen von allen Sinnen mit Ausnahme des Geruchssinns und leitet sie zu den höheren kortikalen Arealen weiter, die für Sehen, Hören, Schmecken und die Empfindung von Berührung und Schmerz zuständig sind. Stellen Sie sich den Thalamus als Knotenpunkt für sensorische Signale vor, so wie London Knotenpunkt für das englische Bahnsystem ist: Alle Züge fahren hindurch und werden zu den verschiedenen Zielen weitergeleitet. Der Thalamus empfängt aber auch die Antworten der höheren Gehirnregionen, die er dann wiederum an die Medulla oblongata und an das Kleinhirn weiterleitet.
Kleinhirn Kleinhirn (Zerebellum; cerebellum): »kleines Gehirn« am hinteren Teil des Hirnstamms, das für die Verarbeitung der sensorischen Signale sowie für die Koordination zwischen motorischen Signalen und dem Gleichgewichtssinn zuständig ist.
Am hinteren Teil des Hirnstamms liegt das Kleinhirn (Zerebellum), das etwa so groß ist wie eine Orange, zwei gefurchte Hälften hat und damit wirklich aussieht wie ein kleines Gehirn (. Abb. 2.17). Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, ist das Kleinhirn an einer Form von nonverbalem Lernen und Gedächtnis beteiligt. Neuere Untersuchungen zeigten, dass es auch dazu beiträgt, Zeit abzuschätzen, unsere Emotionen zu regulieren sowie Töne und Muster zu unterscheiden (Bower u. Parsons 2003). Zusätzlich zur Informationsverarbeitung koordiniert das Kleinhirn die Willkürbewegung. Wenn die Tennisspielerin Venus Williams mit einem perfekten Schwung ihres Schlägers ein As schlägt, hat auch ihr Kleinhirn etwas Beifall verdient. Wenn Ihr Kleinhirn verletzt würde, hätten Sie Schwierigkeiten beim Gehen und mit dem Gleichgewicht, oder Ihre Hände würden zittern. Ihre Bewegungen wären ruckartig und überschießend. ! All diese älteren Hirnfunktionen laufen ohne jede bewusste Anstrengung ab. Damit wird eines der immer wiederkehrenden Themen dieses Buches illustriert: Unser Gehirn verarbeitet einen Großteil aller Informationen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
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. Abb. 2.17a, b. Der für Bewegungen zuständige Teil des Gehirns Hinten am Gehirn liegt das Kleinhirn (a), das unsere Bewegungen koordiniert, z. B. wenn der Fußballspieler den Ball präzise trifft (b)
a b
Wir sind uns zwar bewusst, zu welchen Ergebnissen die Arbeit unseres Gehirns führt (als Beispiel: wir merken ja, dass wir sehen), aber nicht wie wir die visuellen Bilder konstruieren. Genauso übt der Hirnstamm seine lebenserhaltenden Funktionen aus, ganz gleich, ob wir wach sind oder schlafen, so dass die neueren Gehirnregionen den Freiraum bekommen, zu träumen, nachzudenken, zu reden oder einer Erinnerung nachzuhängen.
Limbisches System Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems, und erklären Sie, wie eine dieser Strukturen die Hypophyse kontrolliert.
An der Grenze (lat. »limbus« = Rand, Begrenzung) zwischen den älteren Bereichen des Gehirns und den beiden Hirnhälften liegt das ringförmige limbische System (. Abb. 2.18). In 7 Kap. 9 werden wir sehen, dass ein Teil des limbischen Systems, der Hippocampus, für die Speicherfunktion des Gedächtnisses zuständig ist. (Wenn Tiere oder Menschen ihren Hippocampus durch einen Unfall oder einen chirurgischen Eingriff verlieren, verlieren sie auch die Fähigkeit, neue Fakten und Erlebnisse zu verarbeiten.) An dieser Stelle wollen wir nun einen Blick auf die Verbindung des limbischen Systems zu Gefühlen wie Angst und Wut werfen, außerdem zu den grundlegenden Trieben wie Hunger und Sexualtrieb.
Limbisches System (limbic system): ringförmiges neuronales System zwischen dem Hirnstamm und den zerebralen Strukturen. Die Aktivität des Systems wird in Zusammenhang gebracht mit Gefühlen wie Angst und Aggression sowie dem Nahrungs- und Sexualtrieb. Zum limbischen System gehören der Hippocampus, die Amygdala und der Hypothalamus. Amygdala (auch Mandelkern; amygdala): zwei mandelförmige Neuronenverbände, die Teil des limbischen Systems und an der Entstehung von Emotionen beteiligt sind.
Amygdala Die beiden bohnengroßen Neuronenverbände, die als Amygdala (Mandelkern) bezeichnet werden und innerhalb des limbischen Systems liegen, beeinflussen Aggression und Angst (. Abb. 2.19). 1939 entfernten der Psychologe Heinrich Klüver und der Neurochirurg Paul Bucy bei einem Rhesusaffen einen Teil des Gehirns, der die Amygdala mit einschloss. Als Folge dieses Ein-
. Abb. 2.18. Limbisches System Die limbischen Strukturen formen ein ringförmiges neuronales System zwischen den älteren Teilen des Gehirns und den beiden zerebralen Hemisphären. Obwohl die Hypophyse nicht zum Gehirn, sondern zum Hormonsystem gehört, wird sie durch den Hypothalamus gesteuert, der direkt über ihr liegt und Teil des limbischen Systems ist
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Moonrunner Design Ltd., UK
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. Abb. 2.19. Die Amygdala
Aggression als Gehirnzustand Buckel und gesträubtes Fell: Die zornige Katze ist zum Angriff bereit. Die elektrische Stimulation der Amygdala der Katze provoziert Reaktionen wie die hier gezeigte und zeigt damit die Rolle der Amygdala bei Gefühlen wie Wut. Welcher Teil des autonomen Nervensystems wird durch solch eine Stimulation aktiviert? ( 7 Antwort 2.1 am Ende des Kapitels)
Hypothalamus (hypothalamus): neuronale Struktur, die unterhalb (»hypo«) des Thalamus liegt. Von hier aus werden die lebenserhaltenden Aktivitäten (wie Essen, Trinken und die Körpertemperatur) gesteuert. Außerdem beeinflusst der Hypothalamus über die Hypophyse das endokrine System und wird mit Emotionen in Zusammenhang gebracht.
griffs wurde das vorher eher gereizte Tier die sanfteste aller Kreaturen. Man konnte den Affen stechen, kneifen oder ihm irgendetwas antun, was früher zu einer wütenden Reaktion geführt hätte; jetzt blieb er vollkommen ruhig. Spätere Untersuchungen an anderen Tieren (darunter Luchse, Wölfe und wilde Ratten) führten zum gleichen Ergebnis. Was könnte aber geschehen, wenn wir die Amygdala bei normalen, friedlichen Tieren wie einer Katze elektrisch stimulieren? Machen Sie das Experiment, und Sie werden erleben, wie sich die Katze zum Angriff bereit macht, den Rücken zum Buckel hochdrückt, sich die Pupillen weiten und sich das Fell sträubt. Bewegen Sie die Elektrode in der Amygdala nur ein wenig weiter und sperren Sie die Katze mit einer kleinen Maus in einen Käfig, die Katze wird sich verschreckt ducken. Diese Experimente bestätigen die Rolle der Amygdala bei Prozessen wie Angst und Wut. Außerdem ist eine unversehrte Amygdala auch die Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Emotionen und die Speicherung von emotionalen Erinnerungen (Anderson u. Phelbs 2000; Poremba u. Gabriel 2001). Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Das Gehirn ist nicht fein säuberlich in Strukturen aufgeteilt, die sich unmittelbar auf Verhaltenskategorien übertragen lassen. Es ist im Gegenteil so, dass sich bei aggressiven und bei ängstlichen Impulsen immer eine neuronale Aktivität auf allen Ebenen des Gehirns entwickelt, nicht nur in der Amygdala. Sogar im limbischen System gibt es Bereiche außerhalb der Amygdala, deren Stimulation zu solchem Verhalten führen kann. Wenn Sie Ihre leere Autobatterie neu aufladen, können Sie zwar den Motor wieder starten, jedoch stellt die Batterie nur einen Teil des komplexen Systems Motor dar. Wie oben beschrieben kann eine Entfernung der Amygdala gewalttätige Affen in sanfte Äffchen verwandeln. Kann dies dann vielleicht auch bei gewalttätigen Menschen funktionieren? Das könnte man sich jedenfalls vorstellen. Aber diese Art von »Psychochirurgie« hat unterschiedliche Ergebnisse erzielt (Mark u. Ervin 1970; Valenstein 1986). In den wenigen Fällen, in denen entsprechende Eingriffe an Patienten mit Hirnanomalien vorgenommen wurden, hatten diese danach tatsächlich weniger Wutausbrüche, allerdings kam es oft zu starken Nebenwirkungen im alltäglichen Leben der Patienten. Aus ethischen Gründen und wegen der starken Unsicherheiten bei derartigen Operationen werden solche massiven psychochirurgischen Eingriffe nur selten durchgeführt. Vielleicht werden wir jedoch eines Tages mit einem größeren Wissen über die Verbindung zwischen Gehirn und Verhalten in der Lage sein, krankhafte Veränderungen des Gehirns beheben zu können, ohne neue zu schaffen.
Hypothalamus Ein weiterer faszinierender Teil des limbischen Systems liegt direkt unterhalb (»hypo«) des Thalamus und wird deshalb Hypothalamus genannt (. Abb. 2.20). Dadurch, dass Neurowissenschaftler bestimmte Areale verletzten oder stimulierten, fanden sie heraus, dass neuronale Netze innerhalb des Hypothalamus spezielle lebenserhaltende Aufgaben im Körper erfüllen. Einige Neuronencluster beeinflussen das Hungergefühl, andere den Durst, die Körpertemperatur und das Sexualverhalten. Einerseits überwacht der Hypothalamus die chemische Zusammensetzung des Blutes, andererseits erhält er Anweisungen von anderen Teilen des Gehirns. Wenn Sie z. B. an Sex denken (im zerebralen Kortex), können Sie damit Ihren Hypothalamus zur Ausschüttung von Hormonen veranlassen. Über diese Hormone steuert der Hypothalamus wiederum die wichtigste aller Drüsen, die Hypophyse (. Abb. 2.18), die ihrerseits die Hormonausschüttung anderer Drüsen beeinflusst. Bemerkenswert ist dabei das Zusammenspiel von Nerven- und Hormonsystem: Das Gehirn beeinflusst das Hormonsystem; dies wiederum wirkt auf das Gehirn zurück. Die Geschichte einer bemerkenswerten Entdeckung bei Versuchen mit dem Hypothalamus zeigt, auf welche Weise es zu Fortschritten in der wissenschaftlichen Forschung kommt: nämlich wenn neugierige, vorurteilslose Wissenschaftler unerwartete Beobachtungen machen. Zwei junge Neuropsychologen der McGill University, James Olds und Peter Milner, versuchten 1954, Elektroden in der Formatio reticularis von weißen Ratten zu implantieren, machten dabei jedoch einen großen Fehler. Bei einer Ratte implantierten sie die Elektrode versehentlich in einen Bereich, der, wie sich später herausstellte, zum Hypothalamus gehörte (Olds 1975). Interessanterweise lief die Ratte immer wieder zu dem Ort im Käfig zurück, an dem sie durch die falsch eingesetzte Elektrode zum ersten Mal der Stimulation ausgesetzt war, als ob sie immer mehr Stimulation haben wollte. Als Olds und Milner ihren Fehler bemerkten, erkannten sie, dass sie
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! In Tierversuchen fand man heraus, dass es ein generelles Belohnungssystem gibt, das die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin bewirkt, und zusätzlich spezifische Zentren, die mit der Lust an Essen, Trinken und Sexualität assoziiert sind. Tiere sind anscheinend mit Systemen ausgestattet, die alle lebenserhaltenden Aktivitäten belohnen.
. Abb. 2.20. Der Hypothalamus Dieser kleine, aber wichtige Teil des Gehirns, der auf dieser MRT-Schichtaufnahme rot bzw. orange dargestellt ist, trägt dazu bei, die Lebensfunktionen des Körpers im Gleichgewicht zu halten, indem er Hunger und Durst sowie die Körpertemperatur reguliert. Der Hypothalamus gehört auch zum Belohnungs- bzw. Verstärkungssystem
»Wenn Sie einen mobilen Roboter planen müssten, um in die Zukunft zu reisen und zu überleben, … würden Sie ihn so verdrahten, dass ein Verhalten, das das Überleben der eigenen Person oder der Art gewährleistete – wie etwa Sexualität oder Essen –, auf natürliche Weise verstärkend wäre.« Candace Pert (1986)
Sanjiv Talwar, Sunny Downstate
Bei neueren Experimenten ergaben sich noch weitere Möglichkeiten, die limbische Stimulation zur Verhaltenssteuerung von Tieren zu nutzen. Man kann Ratten dadurch trainieren, dass man sie durch Stimulation entsprechender Hirnareale belohnt, wenn sie sich richtig nach rechts oder links wenden. Dies taten auch Sanjiv Talwar und seine Kollegen, und die Ratten lernten, sich in der natürlichen Umgebung zurechtzufinden, auch wenn sie vorher noch nie im Freien waren (. Abb. 2.22; Talwar et al. 2002). Durch Drücken einer Taste auf einem Laptop konnten die Forscher die Ratten steuern, die einen Empfänger, eine Stromquelle und einen Videorekorder auf dem Rücken trugen. Die Ratten bewegten sich auf Knopfdruck, kletterten auf Bäume, rannten über Äste, drehten sich um und kamen zurück. Aufgrund dieser Forschungsarbeiten kam die Hoffnung auf, dass eine solche Technik irgendwann bei Such- und Rettungsaktionen eingesetzt werden könnte. Aufregende Ergebnisse wie die oben beschriebenen führen zu der Frage, ob auch Menschen ein limbisches Lustzentrum haben. Das ist tatsächlich der Fall. Ein Neurochirurg machte den Versuch, Elektroden zu benutzen, um gewalttätige Patienten zu beruhigen. Die solcherart stimulierten Personen erklärten, leichte Glücksgefühle zu haben, wurden jedoch im Gegensatz zu Olds Ratten nicht zur Raserei getrieben (Deutsch 1972; Hooper u. Teresi 1986). Manche Forscher glau-
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auf einen Teil des Gehirns gestoßen waren, der das angenehme Gefühl vermittelt, belohnt zu werden. In einer sorgfältig geplanten Experimentalreihe versuchte Olds (1958), noch weitere »Lustzentren« im Gehirn auszumachen, wie er sie genannt hatte. (Was die Ratten tatsächlich erleben, wissen nur sie; aber sie erzählen es uns nicht. Deshalb bezeichnen die heutigen Forscher diese Zentren lieber als »Belohnungszentren« oder »Verstärkerzentren«; denn sie wollen den Ratten ja keine menschliche Gefühle andichten.) Als sich die Ratten selbst stimulieren konnten, indem sie einen kleinen Hebel drückten, taten sie dies fieberhaft, bis zu 7000-mal pro Stunde, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Darüber hinaus waren sie bereit, alles zu tun, um an diesen Hebel zu kommen, sogar ein elektrisches Gitter zu überqueren, was nicht einmal eine hungernde Ratte täte, um an Futter zu kommen (. Abb. 2.21). Ähnliche Belohnungszentren im oder nahe des Hypothalamus wurden später bei vielen anderen Arten entdeckt, darunter bei Goldfischen, Delphinen und Affen.
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. Abb. 2.21. Ratte mit implantierter Elektrode Mit einer im Belohnungszentrum des Gehirns implantierten Elektrode überquert eine Ratte bereitwillig ein elektrisches Gitter und nimmt dabei die schmerzvollen Schocks in Kauf, nur um danach einen Hebel zu drücken, der dann einen elektrischen Impuls ins »Lustzentrum« sendet
. Abb. 2.22. Roboratte auf Erkundungstour Wenn diese Ratte mit einer Fernsteuerung stimuliert wird, kann sie dazu gebracht werden, über ein Feld zu rennen und sogar auf einen Baum zu klettern
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ben, dass Suchterkrankungen wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder Essstörungen mit unkontrollierten Essattacken (Bulimie) von einem Belohnungsdefizitsyndrom stammen könnten, also von einem angeborenen Defizit im Aufbau des Gehirnsystems für Glück und Wohlbefinden. Menschen mit dieser Störung greifen laut dieser Theorie nach allem, was ihnen ein wenig Befriedigung verspricht oder wenigstens die negativen Gefühle vermindert (Blum et al. 1996).
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2.4.3 Zerebraler Kortex Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum er für das Gehirn des Menschen so wichtig ist. Zerebraler Kortex (cerebral cortex): die komplizierte Struktur miteinander verbundener Nervenzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das oberste Steuerungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers.
. Abb. 2.23. Gehirnstrukturen und ihre Funktionen
Die älteren Netze im Gehirn unterstützen die grundlegenden Lebensfunktionen und machen Gedächtnis, Emotionen und elementare Triebe erst möglich. Die neueren neuronalen Netze in den Hirnhälften bilden spezialisierte Arbeitsgruppen, die es uns ermöglichen, wahrzunehmen, zu denken und zu sprechen. Der zerebrale Kortex ist eine komplizierte Struktur, die aus miteinander verbundenen Neuronen besteht und wie die Rinde eines Baumes als dünne Oberflächenschicht die zerebralen Hemisphären bedeckt. Er ist das oberste Steuerungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers. (In . Abb. 2.23 ist dargestellt, wo sich der zerebrale Kortex, aber auch andere Hirnareale befinden, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.) Mit der Entwicklung des zerebralen Kortex wird der starke Einfluss der Gene abgeschwächt, und die Anpassungsfähigkeit des Organismus wächst. Frösche und andere Amphibien haben
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einen kleinen Kortex und handeln starr nach genetischen Vorgaben. Der größere Kortex der Säugetiere schafft die Voraussetzung für bessere Lern- und Denkfähigkeiten und ermöglicht es ihnen, anpassungsfähiger zu werden. Was uns zum Menschen macht, ist vor allem auf die Komplexität des zerebralen Kortex, der denkenden Krone unseres Gehirns, zurückzuführen.
Struktur des Kortex
Die Menschen, die als Erste das Gehirn präparierten und benannten, benutzten die Sprachen der Gelehrten, Latein und Griechisch. Die Namen sind ein Versuch, das Benannte anschaulich zu beschreiben: Zum Beispiel bedeutet Kortex »Rinde«, Zerebellum bedeutet »kleines Gehirn« und Thalamus »inneres Zimmer«.
Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex.
Wenn Sie einen menschlichen Schädel öffnen würden und einen Blick auf das darunter liegende Gehirn werfen könnten, würden Sie ein gefurchtes Organ sehen, das ungefähr wie ein riesiger Walnusskern aussieht. Die beiden ballonförmigen Hirnhälften, die vor allem aus axonalen Verbindungen zwischen der Oberfläche und anderen Bereichen des Gehirns bestehen, machen 80% des Gehirngewichts aus. Der zerebrale Kortex – die dünne Oberflächenschicht der Hirnhälften enthält 20–23 Mrd. Nervenzellen (eine Schätzung, die auf der Untersuchung einer Auswahl von quadratmillimetergroßen Säulen aus kortikalem Gewebe beruht [de Courten-Myers 2002]). Diese Milliarden Nervenzellen werden von 9-mal so vielen spinnenförmigen Gliazellen gestützt. Gliazellen sind »Klebezellen«, die neuronale Verbindungen stützen, Mark (oder Myelin) für die Ernährung und Isolierung der Nervenzellen zur Verfügung stellen und Ionen und Neurotransmitter aufnehmen. Neuronen sind wie Bienenköniginnen; auf sich allein gestellt, können sie sich nicht ernähren und ummanteln. Gliazellen sind die »Kindermädchen« der Neuronen. Neue Befunde deuten darauf hin, dass sie auch eine wichtige Rolle beim Lernen und Denken spielen. Sie kommunizieren mit den Neuronen und sind dadurch möglicherweise an der Informationsweiterleitung und am Gedächtnis beteiligt (Travis 1994). Wenn wir die Entwicklung der Lebewesen auf eine höhere Stufe verfolgen, so nimmt der Anteil der Glia gegenüber den Neuronen zu. Bei einer kürzlich an Einsteins Gehirn durchgeführten Untersuchung fand man nicht mehr oder größere Neuronen als gewöhnlich, sondern es zeigte sich eine viel stärkere Konzentration der Glia, als man sie üblicherweise im Kopf eines Menschen findet (Fields 2004). Beim Betrachten des menschlichen Gehirns fiele Ihnen wohl zunächst die gefurchte Oberfläche des zerebralen Kortex auf. Die Furchen verbergen zwei Drittel der Oberfläche und vergrößern dadurch die Gesamtfläche des Gehirns. Zöge man den Kortex auseinander, wäre die Oberfläche etwa so groß wie eine große Pizza. (Um eine dünne Pizza in einem Schädel unterzubringen, müssten wir sie auch etwas verkrumpeln!) Bei Ratten und anderen niederen Säugetieren ist der Kortex dünner und enthält weniger neuronales Gewebe (. Abb. 2.24). Jede Hirnhemisphäre ist in vier Lappen geteilt, sozusagen geographische Unterteilungen, die durch herausragende Furchen (Fissuren) oder Falten getrennt werden (. Abb. 2.25). Wenn man an der Vorderseite des Gehirns beginnt und dann über den Scheitel weitergeht, trifft man zunächst auf die Frontallappen (Stirnlappen; hinter der Stirn), dann auf die Parietallappen (Scheitellappen; oben und hinten), die Okzipitallappen (Hinterhauptslappen; am Hinterkopf) und die Temporallappen (Schläfenlappen; an der Seite Ihres Kopfes, genau über den Ohren). Jeder Lappen hat zahlreiche Funktionen, und viele Funktionen machen es erforderlich, dass mehrere Hirnlappen zusammenwirken.
Funktionen des Kortex Ziel 16: Fassen Sie kurz einige der Befunde über die Funktionen des motorischen und des sensorischen Kortex zusammen, und erörtern Sie die Bedeutung der Assoziationsfelder.
Schon vor mehr als einem Jahrhundert zeigten Autopsien von Menschen, die partiell gelähmt oder stumm waren, dass Teile ihres Kortex geschädigt waren. Trotz dieser etwas unscharfen Befunde glaubten die Wissenschaftler nicht daran, dass bestimmte Teile des Kortex festgelegte Funktionen haben. Es wurde angenommen, dass Sprache und Bewegung auf dem gesamten Kortex repräsentiert sind. Demnach müsste eine Schädigung in fast jedem Teil der Oberfläche zum selben Effekt führen. Wenn man das Stromkabel durchtrennt, wird der Fernsehbildschirm schwarz; aber wir würden uns lächerlich machen, wenn wir deswegen annähmen, die Bilder befänden sich im Kabel. Angesichts dieser Analogie fällt uns auf, wie schnell wir uns irren können, wenn wir meinen, Gehirnfunktionen lokalisieren zu können. An komplexen Aktivitäten wie Sprechen, Malen oder
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Gliazellen (glial cells): Zellen innerhalb des Nervensystems, die die Neuronen stützen, ernähren und schützen.
Frontallappen (frontal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der direkt hinter der Stirn liegt. Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und an der Planung und Urteilsfindung. Parietallappen (parietal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der oben und hinten am Kopf liegt. Erhält sensorische Signale für Berührungen und Körperposition. Okzipitallappen (occipital lobes): Teil des zerebralen Kortex, der am Hinterkopf liegt. Umfasst den visuellen Kortex, in dem visuelle Informationen aus dem gegenüberliegenden Blickfeld ankommen. Temporallappen (temporal lobes): Teile des zerebralen Kortex, die etwas oberhalb der Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen Areale, die hauptsächlich Informationen vom jeweils gegenüberliegenden Ohr empfangen.]
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. Abb. 2.24. Zerebraler Kortex Würde man den zerebralen Kortex eines Menschen glatt ziehen, würde er ungefähr vier Seiten dieses Buchs bedecken. Der zerebrale Kortex eines Schimpansen würde etwa eine Seite bedecken, der eines Affen eine Postkarte und der einer Ratte eine Briefmarke. (Aus »Scientific American«, Oktober 1994, S. 102)
. Abb. 2.25. Unterteilung des Kortex
Billardspielen sind viele Gehirnareale beteiligt. Wenn wir z. B. Chormusik hören, sind die Sprachund die Musikzentren unseres Gehirns aktiviert. Besson et al. (1998) konnten dies aufgrund der Untersuchung der Gehirnaktivität bei französischen Musikern, die Opernsoli ohne Instrumentalbegleitung lauschten, nachweisen. Die Gehirne der Musiker verarbeiteten Text und Melodie des Stücks in verschiedenen Gehirnarealen, während sie die Musik als »erlesene Einheit der Vokalmusik« erlebten. Zudem scheinen die prickelnden Nervenkitzel, die Musikliebhabern so viel Freude bereiten, die gleichen Belohnungssysteme im Gehirn zu aktivieren, die durch Sexualität und gutes Essen stimuliert werden (Weinberger 2004). Wie bei anderen komplexen Aktivitäten und Erfahrungen sind bei der Musik mehrere Gehirnareale einbezogen.
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. Abb. 2.26. Zuordnung des Hirngewebes der linken Hemisphäre im motorischen und sensorischen Kortex zu den Körperteilen Wie Sie auf diesem klassischen, aber nicht sehr exakten Bild sehen können, ist die Größe des Kortexabschnitts, der jedem Körperteil zugeordnet ist, nicht proportional zur Größe des Körperteils selbst. Es ist vielmehr so, dass für die Teile, die sehr sensitiv sind oder für die viel motorische Kontrolle benötigt wird, mehr Hirngewebe zur Verfügung steht. Deshalb sind die Finger auf einer größeren Fläche repräsentiert als der Oberarm. Jedoch ist das neuronale Netz sehr komplex. Einzelne Muskeln sind mit Neuronengruppen verbunden, die wiederum mit anderen Muskeln verbunden sein können
Motorische Funktionen Einfachere Gehirnfunktionen konnten jedoch von Wissenschaftlern lokalisiert werden. Die deutschen Ärzte Gustav Fritsch und Eduard Hitzig machten z. B. eine wichtige Entdeckung, als sie 1870 die Kortizes von Hunden leicht elektrisch stimulierten: Sie konnten verschiedene Körperteile dazu veranlassen, sich zu bewegen. Die Effekte traten nur dann auf, wenn eine bestimmte bogenförmige Region am hinteren Teil des Frontallappens stimuliert wurde, die von Ohr zu Ohr über die Spitze des Kopfs reicht, der motorische Kortex (. Abb. 2.26). Darüber hinaus zeigte sich, dass die Stimulation eines Teils dieser Region auf der linken oder rechten Hemisphäre zur Bewegung der Extremität auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers führte.
Motorischer Kortex (motor cortex): hinterer Teil des Frontallappens, der die Willkürbewegung steuert.
Kartierung der motorischen Kortex
Vor einem halben Jahrhundert vermaßen die Neurochirurgen Otfrid Foerster aus Deutschland und Wilder Penfield aus Kanada bei Hunderten wacher Patienten die motorischen Kortizes. Bevor sie das Messer ans Gehirn ansetzen konnten, mussten die Chirurgen wissen, welche Nebenwirkungen die Entfernung verschiedener Teile des Kortex haben würde. Sie stimulierten verschiedene kortikale Areale und notierten die Reaktionen des Körpers. Dieser Vorgang ist für die Versuchsperson schmerzlos, da das Gehirn nicht über Schmerzsensoren verfügt. Wie Fritsch und Hitzig fanden sie heraus, dass die Stimulation verschiedener Areale des motorischen Kortex am hinteren Teil des Frontallappens zur Bewegung verschiedener Körperteile führt (Versuchen Sie das nur unter fachkundiger Anleitung. Kinder sollte man vermutlich davon abhalten, das zu machen, wenn sie nicht unter Aufsicht von Erwachsenen sind). Sie waren nun in der Lage, den motorischen Kortex mit Bezug auf die Körperteile darzustellen, die von dort aus gesteuert werden (. Abb. 2.26). Interessanterweise sind die Areale, die Bewegungen präzise steuern müssen, z. B. die der Finger und des Mundes, am größten. Der Neurowissenschaftler José Delgado zeigte mehrfach, welche Mechanismen dem motorischen Verhalten zugrunde liegen. Bei einem Patienten stimulierte er einen Punkt auf dem linken motorischen Kortex und brachte ihn so dazu, die rechte Hand zur Faust zu ballen. Als er gebeten wurde, bei der nächsten Stimulierung die Finger gespreizt zu halten, dies aber nicht schaffte, merkte er an: »Herr Doktor, ich glaube, Ihre Elektrizität ist stärker als mein Wille« (Delgado 1969,
Versuchen Sie, Ihre rechte Hand kreisförmig zu bewegen, als ob Sie einen Tisch polieren wollten. Nun bewegen Sie Ihren rechten Fuß synchron mit Ihrer Hand. Dann bewegen Sie Ihren Fuß rückwärts, aber nicht Ihre Hand. Schwer, oder? Einfacher wird es, wenn Sie den linken Fuß andersherum als Ihre rechte Hand drehen. Die rechten und linken Gliedmaßen sind jeweils mit der gegenüberliegenden Gehirnseite verbunden, deshalb stören sich entgegengesetzte Aktionen von gegenüberliegenden Gliedmaßen weniger.
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
S. 114). Wissenschaftler bewerkstelligten es auch, die Armbewegung eines Affen eine Zehntelsekunde im Voraus vorherzusagen: Sie hatten wiederholt die Aktivität im motorischen Kortex unmittelbar vor spezifischen Bewegungen gemessen (Gibbs 1996). Neuronale Prothetik
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. Abb. 2.27. Sieg des Geistes über die Materie Kann man allein durch Denken dafür sorgen, dass etwas geschieht? Ein Forscherteam am California Institute of Technology, das von Sam Musallam geleitet wurde, implantierte Elektroden in einer Region des Parietallappens und zeichnete die neuronale Aktivität auf, als ein Affe plante, nach etwas zu greifen. Nach Speicherung des Programms in einem Computer machte es diese Aktivität dann möglich, dass der Affe nur, indem er daran dachte, einen Cursor auf dem Bildschirm bewegte
Wenn wir ein Gehirn belauschen könnten, könnten wir es dann vielleicht einem gelähmten Menschen ermöglichen, die Gliedmaßen eines Roboters zu bewegen oder einen Cursor zu steuern, um eine E-Mail zu schreiben oder im Internet zu surfen? Um das herauszufinden, implantierten die Forscher an der Brown University bei drei Affen 100 kleine Elektroden in die motorischen Kortizes (Nicolelis u. Chapin 2002; Serruya et al. 2002). Die Affen benutzten einen Joystick, um ein rotes Zielobjekt zu verfolgen (um Belohnungen zu erhalten); gleichzeitig brachten die Wissenschaftler die Signale aus dem Gehirn mit den Pfotenbewegungen in einen Zusammenhang. Dann speisten sie das gefundene Muster in ein Computerprogramm ein und ließen den Computer den Joystick steuern. Wenn ein Affe nur an eine Bewegung dachte, bewegte der Gedanken lesende Computer den Cursor mit fast derselben Genauigkeit wie der Affe. In der neueren Forschung wurden nicht die Botschaften der Motoneuronen aufgezeichnet, die die Pfote des Affen unmittelbar steuern, sondern die aus einem Gehirnareal, das an Planung und Absicht beteiligt ist (Musallam et al. 2004). Während die Affen auf einen Hinweisreiz warteten, der sie aufforderte, auf einen Punkt zu zeigen (um Saft als Belohnung zu bekommen), der an einer von bis zu acht möglichen Stellen auf dem Bildschirm aufgeblitzt war, zeichnete ein Computerprogramm ihre neuronale Aktivität auf. Dadurch, dass die Gedanken lesenden Forscher die Gehirnaktivität mit der anschließenden Zeigebewegung des Affen in Zusammenhang brachten, konnten sie nun einen Cursor so programmieren, dass er sich in Reaktion auf die Gedanken des Affen bewegte (. Abb. 2.27). Der Affe denkt, der Computer handelt. 2004 erteilte die U.S. Food and Drug Administration die Genehmigung für den ersten klinischen Versuch mit neuronaler Prothetik bei gelähmten Menschen (Pollack 2004). Der erste Patient, ein 25 Jahre alter gelähmter Mann, ist jetzt imstande, mental ein Fernsehgerät zu steuern, auf einem Computerbildschirm Formen zu zeichnen und Videospiele zu spielen – das alles dank eines Chips, der so groß ist wie eine Aspirintablette und auf dem sich 100 Mikroelektroden befinden, die die Aktivität in seinem motorischen Kortex registrieren (Patoine 2005).
Sensorische Funktionen
Sensorischer Kortex (sensory cortex): vorderer Teil des Parietallappens, in dem die Empfindungen für Körperberührungen und Bewegungen registriert und verarbeitet werden.
Der motorische Kortex sendet Informationen zu den Körperteilen. Aber wo im Kortex kommen die eingehenden Nachrichten an? Penfield (1969, 1975) machte einen kortikalen Bereich aus, der darauf spezialisiert ist, Informationen von den Sinnesrezeptoren der Haut und über die Bewegung von Körperteilen zu empfangen. Dieses Gebiet, das sich neben dem motorischen Kortex und direkt dahinter im Parietallappen befindet, wird heute als sensorischer Kortex bezeichnet (. Abb. 2.26). Stimuliert man einen Punkt dieses Teils des Kortex mit Elektroden, berichtet die Versuchsperson vielleicht, dass sie an der Schulter berührt worden sei, bei der Stimulierung eines anderen Punkts fühlt sie möglicherweise eine Berührung im Gesicht. Je sensibler ein Bereich des Körpers ist, desto größer ist der Abschnitt des sensorischen Kortex, der diese Region repräsentiert; so sind Ihre über die Maßen sensiblen Lippen z. B. mit einem größeren Gebiet verbunden als Ihre Zehen (. Abb. 2.26; das ist auch einer der Gründe, warum wir mit den Lippen küssen, statt uns mit den Zehen zu berühren). Ähnlich ist es bei Ratten, bei denen sich ein großer Teil des Gehirns den Berührungsempfindungen der Schnurrhaare widmet, bei Eulen, bei denen es vor allem um die Hörempfindung mit Hilfe der Ohren geht und so weiter. In der Forschung wurden weitere Kortexareale entdeckt, die Signale von den anderen Sinnen als dem Berührungssinn bekommen. In diesem Augenblick erreichen visuelle Informationen Ihren Okzipitallappen im hinteren Teil Ihres Gehirns (. Abb. 2.28). Durch einen Schlag auf diese Stelle könnten Sie, wenn er stark genug ist, blind werden. Würden Sie aber dort stimuliert, sähen Sie Lichtblitze und Farben. (Also ist es doch wahr, wir haben Augen hinten im Kopf!) Von Ihrem Okzipitallappen aus werden die visuellen Informationen nun in andere Gehirnareale weitergeleitet, die darauf spezialisiert sind, Wörter zu buchstabieren, den Gesichtsausdruck zu interpretieren oder ein Gesicht wiederzuerkennen.
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Jedes Geräusch, das Sie in diesem Moment hören, wird im auditorischen Kortex des Temporallappens verarbeitet (. Abb. 2.29). (Wenn Sie sich Ihr Gehirn einmal als geballte Faust vorstellen und sich die Faust vor Augen halten, dann entspricht Ihr Daumen in etwa dem Temporallappen.) Der größte Teil dieser auditorischen Informationen durchläuft einen Halbkreis, wenn er von einem Ohr zum auditorischen Kortex über dem anderen Ohr geleitet wird. Wenn Sie dort stimuliert werden würden, würden Sie wahrscheinlich ein Geräusch hören, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. Etwas Ähnliches scheint bei schizophrenen Patienten abzulaufen: MRT-Untersuchungen zeigen, dass ihre auditorischen Kortizes aktiviert sind, wenn sie akustische Halluzinationen haben (Lennox et al. 1999). Sogar die Scheingeräusche, die Menschen mit schlechter werdendem Gehör wahrnehmen, hängen mit einer Aktivität des auditorischen Kortex auf der gegenüberliegenden Seite des betroffenen Ohrs zusammen (Muhlnickel 1998).
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Eigentum von V.P. Clark, K. Keill, J. Ma. Maisog, S. Courtney, L.G. Ungerleider und J.V. Haxby, National Institut
2.4 · Gehirn
. Abb. 2.28. Mit neuen Technologien kann man das Gehirn in Aktion sehen Dieses funktionelle MRT zeigt den visuellen Kortex, also den Okzipitallappen, der aktiviert ist, da die Versuchsperson Gesichter ansieht. Das Gebiet hebt sich farblich ab, da in diesem Bereich der Blutfluss erhöht ist. Wenn die Person das Gesicht nicht mehr ansieht, nimmt die Aktivität in dieser Region langsam ab
. Abb. 2.29. Visueller und auditorischer Kortex Die Okzipitallappen hinten am Gehirn erhalten Input von den Augen. Ein auditorisches Gebiet, das auf dem Temporallappen liegt, erhält Informationen von den Ohren
Bis jetzt haben wir uns mit den kortikalen Arealen befasst, die entweder sensorische Signale empfangen oder Signale an die Muskeln aussenden. Beim Menschen bleiben noch drei Viertel des gefurchten Materials im zerebralen Kortex übrig, die nicht direkt an sensorischer oder Muskelaktivität beteiligt sind. Was geschieht dann in diesem großen Bereich des Gehirns? Die Nervenzellen in diesen Assoziationsfeldern (die hellrosa hervorgehobenen Gebiete in . Abb. 2.30) führen Informationen zusammen. Sie bringen sensorische Signale in einen Zusammenhang mit dem gespeicherten Wissen – ein entscheidender Bestandteil des Denkprozesses. Werden die Assoziationsfelder elektrisch stimuliert, zeigt sich keine beobachtbare Reaktion. Deshalb können wir – im Gegensatz zu den sensorischen und motorischen Arealen – die Funktionen dieser Gebiete nicht so eindeutig angeben. Ihre scheinbare Ruhe führte wohl zu der berühmten Aussage der Populärpsychologie, die ebenso weit verbreitet wie falsch ist: nämlich dass wir normalerweise nur 10% unseres Gehirns benutzen (als wäre die Chance 90%, dass eine Kugel Ihr Gehirn in einem Areal trifft, das Sie nicht nutzen). Dieses Märchen, »eines der hartnäckigsten Unkräuter im Garten der Psychologie«, wie es McBurney (1996, S. 44) formulierte, unterstellt, dass wir, wenn wir es nur schafften, auch die restlichen 90% unseres Kortex zu aktivieren, viel klüger
Assoziationsfelder (association areas): Bereiche des zerebralen Kortex, die nicht an den primären und sekundären motorischen und sensorischen Funktionen beteiligt sind, sondern an höheren geistigen Fähigkeiten wie Lernen, Erinnern, Denken und Sprechen.
Assoziationsfelder
. Abb. 2.30. Kortexareale von vier Säugetieren Intelligentere Tiere haben im Kortex erweiterte »unverbundene« Bereiche oder Assoziationsfelder. Diese ausgedehnten Areale des Gehirns haben die Aufgabe, die Informationen, die von den sensorischen Kortizes aufgeschlüsselt und verarbeitet wurden, zu integrieren und in Handlung umzusetzen
Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
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. Abb. 2.31. Phineas Gage neu betrachtet Durch das Ausmessen von Gages Schädel, der der Forschung erhalten geblieben war, und mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren konnten Damasio et al. (1994) den Weg rekonstruieren, den das Werkzeug vermutlich durch Gages Hirn genommen hatte
sein könnten als jene, die mit nur 10% ihrer Leistungsfähigkeit des Gehirns dahinvegetieren. Aber anhand von chirurgisch läsionierten Tieren und von Menschen mit Hirnschäden wurde nachgewiesen, dass die Assoziationsfelder beileibe nicht schlafen. (Das Gehirn hat keinen »Blinddarm«, es enthält also kein offensichtlich verzichtbares Gewebe.) Wenn man zudem annimmt, dass das Gewebe im Gehirn viel Energie verbraucht, dann würde die Natur keine Energie für ein ungenutztes Gehirn verschwenden. Es ist im Gegenteil so, dass diese Areale die Informationen aus den sensorischen Kortizes zusammenführen, interpretieren und entsprechende Reaktionen veranlassen. Assoziationsfelder finden sich in allen vier Hirnlappen. In den Frontallappen ermöglichen diese Areale es uns, zu urteilen, zu planen und neues Wissen zu verarbeiten. Menschen mit einem verletzten Frontallappen haben zwar vielleicht ein intaktes Gedächtnis, erreichen hohe Werte bei Intelligenztests und sind in der Lage, einen Kuchen zu backen – trotzdem ist es ihnen nicht möglich, so weit im Voraus zu planen, dass sie schon vor der Geburtstagsfeier damit beginnen, einen Kuchen zu backen. Eine Schädigung des Frontallappens kann auch insofern zu einer Veränderung der Persönlichkeit führen, als die natürlichen Hemmungen wegfallen. Dies lässt sich am Fall des Bahnarbeiters Phineas Gage veranschaulichen. Eines Nachmittags im Jahre 1848 war Gage, damals 25-jährig, gerade dabei, Sprengstoff mit einem Eisen in ein Bohrloch zu stopfen. Das Schießpulver wurde durch einen Funken entzündet, und die Explosion katapultierte das längliche Werkzeug durch seinen Schädel. Es trat durch die linke Wange ein, am oberen Teil der Schädeldecke wieder heraus und führte zu einer massiven Verletzung des Frontallappens (. Abb. 2.31). Zur allgemeinen Verwunderung war Gage sofort in der Lage, sich aufrecht hinzusetzen und zu sprechen; nachdem die Wunde geheilt war, kehrte er wieder an seine Arbeitsstelle zurück. Aber obwohl seine Intelligenz und sein Gedächtnis intakt waren, war doch seine Persönlichkeit verändert. Der freundliche, sanfte Gage war nun reizbar, respektlos und unaufrichtig. Am Ende verlor er seinen Arbeitsplatz und endete als Verkäufer in einer Bude auf dem Rummelplatz. Dieser Mensch, so seine Freunde, sei »nicht mehr Gage«. Als sein Frontallappen durchstoßen worden war, war bei ihm die moralische Orientierung nicht mehr mit der Verhaltenssteuerung verbunden. Einen ähnlichen Verlust an moralischer Orientierung erlebten vor kürzerer Zeit zwei Menschen, die als kleine Kinder eine ähnliche Verletzung wie Gage erlitten hatten. Beide wurden wieder gesund, aber sie wuchsen ohne moralische Grundsätze auf, sie stahlen und logen, sie misshandelten und vernachlässigten ihre eigenen unehelichen Kinder, ohne dass sie sich dafür zu schämen schienen (Dolan 1999). Obwohl ihre Entwicklung vor dem Unfall normal verlaufen war, schienen sie danach nicht fähig zu sein, richtig von falsch zu unterscheiden. Auch andere Assoziationsfelder sind die Grundlage für geistige Funktionen. So ermöglichen z. B. Teile des parietalen Kortex, die bei Einsteins ansonsten normalem Gehirn größer und ungewöhnlich geformt waren, rechnerisches und räumliches Denken (Witelson et al. 1999). Ein Gebiet am unteren Temporallappen befähigt uns, Gesichter zu erkennen. Wenn ein Schlag auf den Kopf oder eine Krankheit dieses Gebiet in Ihrem Gehirn schädigen würde, könnten Sie noch immer die Einzelheiten eines Gesichts beschreiben sowie das Geschlecht und das ungefähre Alter der Person nennen, die vor Ihnen steht. Sie wären jedoch plötzlich nicht mehr in der Lage, diese Person als Britney Spears oder gar als Ihre Großmutter zu identifizieren. Aber komplexe geistige Fähigkeiten sind nicht an einen bestimmten Ort im Gehirn gebunden. Es gibt keinen Punkt im kleinen Assoziationskortex einer Ratte, dessen Zerstörung dazu führen würde, dass der Gang durch ein Labyrinth nicht mehr erlernt oder erinnert werden könnte. Komplexe menschliche Fähigkeiten wie das Gedächtnis und die Sprache sind das Ergebnis des engen Zusammenwirkens vieler verschiedener Gehirnareale.
Sprache Aphasie (aphasia): Sprachstörung, die normalerweise durch eine Schädigung der linken Hemisphäre, entweder im Broca-Zentrum (gestörte Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Sprachzentrum (gestörtes Sprachverständnis) entsteht.
Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass Sie diesen Satz vorlesen.
Nehmen wir einmal diesen seltsamen Befund: Eine Schädigung vieler verschiedener Gehirnareale kann zur Aphasie führen, bei der Teilfunktionen der gesprochenen Sprache verloren gehen. Noch viel interessanter ist, dass einige Menschen mit Aphasie zwar flüssig reden, aber nicht lesen können
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(obwohl sie auch gut sehen können!), während andere zwar lesen, aber nicht sprechen können. Wieder andere können schreiben, aber nicht lesen, Zahlen erkennen, aber keine Buchstaben, oder singen, aber nicht sprechen. Das ist verwirrend, denn eigentlich glauben wir ja, dass all diese Fähigkeiten, also sprechen und lesen, schreiben und lesen oder singen und sprechen insgesamt Aspekte einer einzigen Fähigkeit sind. Doch auf welche Weise entschlüsselten Wissenschafter das Rätsel, wie wir Sprache verwenden? Hier einige Anhaltspunkte, die so gut zusammenpassen wie die Legobausteine in einem Spielzeughaus: 4 1865 beschrieb der französische Arzt Paul Broca, dass nach der Schädigung eines bestimmten Teils des linken Frontallappens (später als Broca-Zentrum bezeichnet) der betroffene Patient beim Sprechen um jedes Wort ringen muss, während er weiterhin fähig ist, bekannte Lieder zu singen und zu verstehen, was gesprochen wird. 4 1874 entdeckte der deutsche Wissenschaftler Carl Wernicke, dass die Schädigung eines bestimmten Teils des linken Temporallappens (des Wernicke-Sprachzentrums) dazu führte, dass die Patienten nur sinnlose Sätze von sich gaben. Bat man sie, ein Bild zu beschreiben, das zeigte, wie zwei Jungen einer Frau hinter dem Rücken Kekse klauten, sagten sie nur: »Die Mutter ist weg von der Arbeit bei ihrer Arbeit, damit es ihr besser geht; aber wenn sie die beiden Jungen ansieht, schauen die in die andere Richtung. Dann arbeitet sie wieder mal« (Geschwind 1979). 4 Später stellte sich heraus, dass, wenn wir etwas vorlesen, ein dritter Teil des Gehirns beteiligt ist. Der Gyrus angularis erhält visuelle Informationen vom visuellen Kortex und wandelt sie in auditorische Informationen um, die das Wernicke-Sprachzentrum benötigt, um die Bedeutung entschlüsseln zu können. 4 Nervenfasern verbinden diese Gehirnareale miteinander.
Broca-Zentrum (Broca’s area): steuert den sprachlichen Ausdruck; Teil des Frontalkortex, meist in der linken Hemisphäre; steuert die Muskelbewegungen, die an der Lautbildung beteiligt sind. Wernicke-Sprachzentrum (Wernicke’s area): steuert die Aufnahme von Sprache; Bereich des Gehirns, der am Sprachverstehen und am sprachlichen Ausdruck beteiligt ist und sich meist im linken Temporallappen befindet.
Norman Geschwind integrierte all diese Befunde in eine Theorie, die erklärt, wie wir Sprache verwenden. Wenn Sie etwas vorlesen, werden (1.) die Wörter zunächst im visuellen Kortex wahrgenommen (. Abb. 2.32 und 2.33), dann (2.) zu einem zweiten Gehirnareal weitergeleitet, zum Gyrus angularis, der sie in einen auditorischen Code umwandelt. Dieser wird (3.) vom WernickeSprachzentrum empfangen und entschlüsselt und schließlich (4.) zum Broca-Zentrum weitergeleitet, das (5.) den motorischen Kortex stimuliert, wenn er die Aussprache des Wortes hervorbringt. Je nachdem, welches Glied in dieser Kette ausfällt, entsteht eine andere Form der Aphasie. Eine Verletzung des Gyrus angularis beeinträchtigt nur die Lesefähigkeit, nicht aber die Sprachfähigkeit und das Sprachverstehen, während eine Schädigung des Wernicke-Sprachzentrums zur Störung des Sprachverstehens führt. . Abb. 2.32. Sprachliche Spezialisierung und Integration
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
. Abb. 2.33a–c. Hirnaktivität beim Hören (a), Sehen (b) und Sprechen (c) von Wörtern PET-Bilder wie dieses hier zeigen die Aktivierung verschiedener Gehirnareale, indem sie die Verteilung einer kurzzeitig radioaktiven Form von Glukose, dem »Brennstoff« des Gehirns, messen. Diese Reihe von PET zeigt erhöhte Aktivität in verschiedenen Bereichen: a beim Hören eines Wortes – auditorischer Kortex und Wernicke-Sprachzentrum; b beim Sehen eines geschriebenen Wortes – visueller Kortes und Gyrus angularis und c beim Sprechen eines Wortes – Broca-Zentrum und motorischer Kortex. Die roten Flecken zeigen die Stellen, an denen das Gehirn schnell Glukose verbraucht
! Generell gilt: Komplexe Fähigkeiten beruhen auf der engen Koordination vieler Gehirnareale.
Anders gesagt: Das Gehirn funktioniert so, dass seine geistigen Fähigkeiten wie Sprechen, Wahrnehmen, Denken und Erinnern in Unterfunktionen aufgeteilt werden. Dies widerspricht natürlich unserer bewussten Erfahrung, die nicht teilbar erscheint. Gerade jetzt nehmen Sie ein Gesamtbild wahr (wenn Sie nicht blind sind), so als nähmen Ihre Augen eine Szene wie eine Videokamera auf und als projizierten sie diese dann auf eine Leinwand in Ihrem Gehirn. Es ist jedoch so, wie Sie auch in 7 Kap. 5 sehen werden, dass das Gehirn die visuelle Wahrnehmung in spezialisierte Unterfunktionen aufteilt, wie Wahrnehmung von Farbe, Tiefe, Bewegung oder Form. (Nach einem gezielten Schlag, der eines dieser neuronalen Netze zerstört, geht bei den Patienten genau dieser Aspekt der visuellen Wahrnehmung verloren, z. B. die Fähigkeit, eine Bewegung wahrzunehmen.) Jedes dieser spezialisierten neuronalen Netze, die alle ihren Teil der Arbeit ausgeführt haben, speist seine Ergebnisse dann in Netze auf einer höheren Ebene ein, die diese Erfahrungsatome zusammensetzen und wiederum zu Arealen auf einer noch höheren Assoziationsebene weiterleiten, die es uns ermöglichen, die Person vor uns als »Großmutter« zu erkennen. Dasselbe geschieht, wenn Sie ein Wort lesen: Ihr Gehirn entschlüsselt die einzelnen Buchstaben, den Wortlaut und seine Bedeutung in verschiedenen neuronalen Netzen (Posner u. Carr 1992). Studien zeigen anhand einer funktionellen MRT, dass Witze, die eine inhaltliche Pointe haben (»Warum beißen Haie keine Anwälte? – Höflichkeit unter Kollegen«), andere Teile des Gehirns aktivieren als Wortspiele (»Welche Art von Beleuchtung benutzte Noah auf der Arche? – Flutlicht«) (Goel u. Dolan 2001). Denken Sie einmal darüber nach: Was Ihnen als endloser Strom der Wahrnehmung erscheint, ist in Wirklichkeit nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs der Informationsverarbeitung, wie sie zum größten Teil unter der Oberfläche Ihres Bewusstseins abläuft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Subsysteme der geistigen Aktivität in verschiedenen Teilen des Gehirns lokalisiert sind, obwohl das Gehirn als Einheit funktioniert. Die Bewegung Ihrer Hand, das Erkennen eines Gesichts, sogar die Wahrnehmung von Farbe, Bewegung, Tiefe, all diese Fähigkeiten hängen von unterschiedlichen neuronalen Netzen ab. Aber komplexe Fähigkeiten wie zuhören, lernen und lieben beruhen auf dem Zusammenspiel vieler Gehirnareale. Beide Prinzipien – Spezialisierung und Integration – beschreiben die Funktionsweise des Gehirns.
Plastizität des Gehirns Ziel 18: Erörtern Sie die Plastizität des Gehirns nach einer Verletzung oder einer Krankheit. Plastizität (plasticity): Fähigkeit des Gehirns sich anzupassen, wie sie z. B. in der neuronalen Reorganisation nach einer Verletzung (vor allem bei Kindern) oder in Experimenten zur Auswirkung der Erfahrung auf die Gehirnentwicklung deutlich wird.
Das Gehirn bildet sich nicht nur durch unsere Gene, sondern auch durch unsere Erfahrungen. In 7 Kap. 3 werden wir uns stärker darauf konzentrieren, wie die Erfahrung das Gehirn formt. Doch lassen Sie uns jetzt zu Befunden aus Studien kommen, die sich mit der Plastizität des Gehirns befassen, seiner Fähigkeit also, sich nach einer bestimmten Art von Schädigung selbst zu verändern. Die meisten beschädigten Neuronen werden sich nicht wieder neu bilden (wäre z. B. Ihr Rükkenmark durchtrennt worden, würden Sie für immer gelähmt bleiben). Und einige Hirnfunktionen scheinen von vorne herein bestimmten Arealen zugewiesen zu werden. Ein Neugeborenes, das eine Hirnschädigung in Arealen erlitt, die in beiden Temporallappen für die Gesichtserkennung zuständig sind, erlangte nie wieder die normale Fähigkeit, Gesichter zu erkennen (Farah et al. 2000). Doch einige Neuronen können sich nach einer Verletzung reorganisieren. Dies geschieht bei uns allen, wenn sich das Gehirn in Reaktion auf eine Schädigung selbst repariert. Nach einer
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. Abb. 2.34. Gehirnplastizität Wenn bei einem Kind durch eine Verletzung oder eine Operation ein Teil des Gehirns zerstört wird oder wie im Fall dieser 6-Jährigen (zur Vermeidung epileptischer Anfälle) sogar eine ganze Hirnhälfte, gleicht das Gehirn dies aus, indem es andere zusätzliche Areale veranlasst zu arbeiten. Ein medizinisches Team der Johns Hopkins University nahm sich noch einmal alle 58 Hemisphärektomien vor, die man dort an Kindern vorgenommen hatte, und berichtete, dass man »von Ehrfurcht ergriffen« gewesen sei, wie gut die Kinder ihr Gedächtnis, ihre Persönlichkeit und ihren Humor behalten hätten, nachdem bei ihnen eine der beiden Hirnhälften entfernt worden sei (Vining et al. 1997)
C. Styrsky
Joe McNally, Joe McNally Photography
schwerwiegenden Schädigung tritt die Plastizität besonders deutlich in Erscheinung. Wenn man einen Finger verliert, wird der sensorische Kortex, an den dessen Signale weitergeleitet wurden, anfangen, Signale von den benachbarten Fingern zu erhalten, die dann sensibler werden (Fox 1984). MRT-Schichtaufnahmen zeigen, dass erfahrene Pianisten einen entsprechend größeren auditorischen Kortex (hier werden die Klänge des Klaviers enkodiert) als andere Menschen aufweisen (Bavelier et al. 2000; Pantev et al. 1998). Das Gehirn weist die größte Plastizität auf, wenn man ein kleines Kind ist (Kolb 1989; . Abb. 2.34). Die Plastizität des Gehirn ist eine gute Botschaft für diejenigen, die blind oder taub sind. Bei blinden Menschen, die mit ihren Fingern Blindenschrift lesen, vergrößert sich der Abschnitt des sensorischen Kortex, der diese Finger repräsentiert, in dem Maße, in dem der Tastsinn dann auch den visuellen Kortex besetzt, der sonst dem Sehen gewidmet ist. Wenn bei einer von Geburt an blinden Person der visuelle Kortex durch magnetische Stimulation zeitweilig außer Kraft gesetzt wird, wird sie mehr Fehler bei verbalen Aufgaben machen (Amedi et al. 2004). Bei gehörlosen Menschen, die sich normalerweise in Gebärdensprache unterhalten, wartet der auditorische Kortex im Temporallappen sozusagen vergeblich auf Signale, und sucht sich schließlich Stimulation aus anderen Quellen, z. B. vom visuellen System, um sie zu verarbeiten. Dies erklärt auch, warum man bei einigen Untersuchungen herausfand, dass gehörlose Menschen eine bessere Fähigkeit zum peripheren Sehen aufweisen (Bosworth & Dolkins 1999). Wird ein Körperglied amputiert, können sich die Nervenzellen aus den umliegenden Gehirnarealen des Bereiches, der vormals das amputierte Glied repräsentierte, in das Gebiet des fehlenden Körperteils hinein ausbreiten. Wie in . Abb. 2.26 zu sehen ist, liegt das Repräsentationsgebiet der Hand auf dem sensorischen Kortex zwischen dem des Arms und dem des Gesichts. Dies erklärt ein rätselhaftes Phänomen: Wenn man das Gesicht eines Menschen mit amputierter Hand streichelt, fühlt der betreffende Mensch die Berührung nicht nur im Gesicht, sondern manchmal auch auf der nicht mehr existierenden Hand, wie Ramachandran u. Blakeslee (1998) beobachteten. Dasselbe geschah, wenn der Arm dieser Person berührt wurde. Bedenken Sie auch, dass die Zehen (und damit auch der Unterschenkel) neben den Genitalien repräsentiert werden. Was glauben Sie also, fühlte ein anderer Patient von Ramachandran, dessen Unterschenkel amputiert wurde, beim Sex? »Ich fühle meinen Orgasmus jetzt im Fuß. Und dort ist er weitaus stärker als früher, weil er nicht mehr nur auf meine Genitalien beschränkt ist« (Ramachandran u. Blakeslee 1998, S. 36). Obwohl die Veränderung des Gehirns oft die Form der Reorganisation annimmt, zeigen neuere Studien – im Gegensatz zur traditionellen Auffassung der Neurowissenschaftler –, dass in den Gehirnen von erwachsenen Mäusen und Menschen neue Nervenzellen in zwei älteren Hirnregionen nachwachsen können (Kempermann u. Gage 1999; Van Praag et al. 2002). Außerdem bilden sich in Gehirnen von Affen tagtäglich Tausende neuer Nervenzellen. Diese neuen Neuronen entstehen tief im Gehirn und wandern dann zum »denkenden« Frontalkortex, wo sie sich möglicherweise mit benachbarten Neuronen verbinden (Gould et al. 1999). Beim menschlichen Embryo wurden übergeordnete Stammzellen gefunden, die sich in jede Form von Gehirnzellen entwickeln können. Könnten diese neuronalen Stammzellen im Labor nachgezüchtet und vielleicht in verletzte Gehirne injiziert werden, damit sie dort die zerstörten Neuronen ersetzen? Könnten wir so vielleicht eines Tages geschädigte Gehirne wieder aufbauen, so wie wir einen zerstörten Rasen durch neue Samen auffrischen? Könnten neue Medikamente zur Produktion neuer Nervenzellen anregen? Und wollen wir das? – In Deutschland wird die Stammzellenforschung äußerst kontrovers diskutiert. Die Firmen in Bereich der Biotechnologie arbeiten jedenfalls mit vollem Einsatz an diesen Möglichkeiten (Gage 2003).
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Aus Stroh mach Gras Gratulation, Herr Kollege – Ihre Therapie scheint Erfolg zu haben!
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
2.4.4 Zur Zweiteilung des Gehirns Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und erklären Sie, wie sie zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und linken Hirnhälfte beiträgt.
2 »Mit der rechten Hemisphäre würden Sie nicht so gern ausgehen.« Michael Gazzaniga (2000)
Seit mehr als einem Jahrhundert gibt es Hinweise darauf, dass unsere beiden Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen haben. Unfall, Schlaganfall oder Tumor in der linken Hemisphäre bewirken i. Allg. Funktionsstörungen im Zusammenhang mit dem Lesen, Schreiben, Sprechen, Argumentieren bei Rechenaufgaben und im Zusammenhang mit dem Verstehen von Zusammenhängen. Ähnliche Läsionen in der rechten Hemisphäre haben nur selten solche dramatischen Auswirkungen. Um 1960 wurde die linke Gehirnhälfte als die »dominante« oder »überlegene« Hälfte beschrieben, während ihr stiller Begleiter, die rechte Hemisphäre, als »unterlegen« oder »weniger wichtig« galt. Dann fanden die Forscher heraus, dass die »weniger wichtige« rechte Hemisphäre in ihrer Funktion doch nicht so eingeschränkt ist, wie immer angenommen wurde. Die Geschichte dieser Entdeckung ist ein weiteres spannendes Kapitel der Geschichte der Psychologie.
Hemisphärentrennung
Corpus callosum (auch Balken; corpus callosum): breites Band aus Nervenfasern, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und über das Informationen weitergeleitet werden.
Split-Brain-Patienten (split-brain patients): Personen, bei denen die beiden Gehirnhälften voneinander getrennt sind (»gespaltenes Gehirn«), nachdem die sie verbindenden Fasern, vor allem die des Corpus callosum, durchgeschnitten wurden.
1961 stellten zwei Neurochirurgen aus Los Angeles, Philip Vogel und Joseph Bogen, die Hypothese auf, dass viele epileptische Anfälle auf eine Veränderung der Gehirnaktivität zurückgehen, bei der es zu einem regen Austausch zwischen den beiden Hemisphären kommt. Sie fragten sich, ob sie die Anzahl der epileptischen Anfälle bei Patienten mit unkontrollierbarer Epilepsie verringern könnten, wenn sie die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften kappten. Dazu mussten Vogel und Bogen das Corpus callosum durchtrennen, das breite Band aus Axonfasern, durch das die beiden Hemisphären miteinander verbunden sind (. Abb. 2.35). Die Chirurgen hatten Hinweise darauf, dass eine solche Operation für den Patienten keinen Funktionsverlust mit sich bringen würde. Die Psychologen Roger Sperry, Ronald Myers und Michael Gazzaniga hatte Katzen- und Affengehirne durchtrennt, ohne dass sich Anzeichen für Behinderungen zeigten. Also operierten die Chirurgen Vogel und Bogen Menschen. Und was war das Ergebnis? Die Anfälle traten viel seltener auf, und die sog. Split-Brain-Patienten waren überraschend normal; ihre Persönlichkeit und ihr Intellekt schienen kaum betroffen zu sein. Ein Patient konnte sogar nach dem Aufwachen aus der Narkose das Späßchen machen, dass er »geteilte Kopfschmerzen« habe (Gazzaniga 1967). Nur zehn Jahre vorher hatte der Neuropsychologe Karl Lashley den Witz gemacht, dass der Balken nur dazu da sei, »die beiden Hemisphären vor Durchhängern zu bewahren«. Die genialen Experimente von Sperry und Gazzaniga bewiesen jedoch, dass dieses breite Band, das mehr als 200 Mio. Nervenfasern enthält und fähig ist, mehr als eine Mrd. Informationseinheiten pro Sekun-
Courtesy of Terrence Williams, University of Iowa
. Abb. 2.35a, b. Corpus callosum Diese breite Band neuronaler Fasern verbindet die beiden Gehirnhälften. Um das linke Bild (a) erstellen zu können, wurden die Hemisphären durch das Durchschneiden des Corpus callosums und tieferer Gehirnregionen getrennt. Für das rechte Bild (b) hat ein Chirurg den hinteren Teil des Gehirns entfernt, um das Corpus callosum und die aus ihm heraustretenden Fasern zu zeigen
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de zwischen den Hemisphären hin und her zu leiten, eine viel wichtigere Funktion hat. Studien mit SplitBrain-Patienten, den »interessantesten Menschen der Welt«, gaben uns einen Schlüssel zum Verständnis der komplementären Funktionen der beiden Hemisphären. Wie . Abb. 2.36 zeigt, konnten die Forscher dank der seltsamen Verkabelung unseres visuellen Systems in die linke oder in die rechte Hemisphäre des Patienten gezielt Informationen einspeisen. Dazu musste der Patient auf einen Punkt schauen, dann wurde links oder rechts davon ein kurzer Stimulus eingeblendet. Man könnte das auch mit Ihnen machen, aber in Ihrem intakten Gehirn würde die Hemisphäre, die die Information empfängt, der Nachbarin auf der anderen Seite des Tals die Neuigkeit sofort weitererzählen. Doch die Split-Brain-Operation hatte das Telefonkabel zur anderen Talseite gekappt: das Corpus callosum. Dadurch wurde es den Wissenschaftlern möglich, jede Hemisphäre einzeln zu befragen. In einem frühen Experiment bat Gazzaniga die Split-Brain-Patienten, einen Punkt auf einem Bildschirm zu betrachten, und blendete HE•ART ein (. Abb. 2.37). HE erschien im linken Blickfeld (das mit der rechten Hemisphäre verbunden ist) und ART im rechten (verbunden mit der linken Gehirnhälfte). Als die Patienten dann gefragt wurden, was sie gesehen hatten, sagten sie, dass sie das Wort ART gesehen hatten. Wenn sie jedoch gebeten wurden, auf das Wort zu zeigen, waren sie selbst erstaunt darüber, dass ihre linke Hand (von der rechten Hemisphäre gesteuert) auf das Wort HE zeigte. Gibt man jeder Hemisphäre einzeln die Möglichkeit sich auszudrücken, teilt sie nur das mit, was sie wahrgenommen hat. Die rechte Hirnhälfte, die die linke Hand steuert, wusste genau, was »ihre« Hemisphäre gesehen hatte, auch wenn sie es nicht verbal ausdrücken konnte.
. Abb. 2.36. Informationsbahnen vom Auge zum Gehirn Die Informationen aus der linken Hälfte Ihres Blickfeldes werden in der rechten Gehirnhälfte repräsentiert und die aus der rechten Hälfte des Blickfelds in der linken Gehirnhälfte, wo normalerweise auch die Sprache repräsentiert ist. (Trotzdem ist es so, dass jedes Auge Informationen aus dem rechten und linken Blickfeld erhält.) Die Daten, die in einer Hemisphäre ankommen, werden dann sehr schnell über das Corpus callosum zur anderen Hemisphäre übermittelt. Dies geschieht allerdings nicht mehr, wenn das Corpus callosum bei einem Menschen beschädigt ist
. Abb. 2.37. Untersuchungen am geteilten Gehirn Wenn man in einem Experiment das Wort HEART ins Blickfeld eines Split-Brain-Patienten einblendet, berichtet der Patient, nur den Teil des Wortes zu sehen, der die linke Hemisphäre erreicht hat. Zeigt er jedoch mit der linken Hand auf das Wort, das er gesehen hatte, zeigte er auf das, welches die rechte Hemisphäre erreicht hatte. (Aus Gazzaniga 1983)
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BBC
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. Abb. 2.38. Versuchen Sie das mal! Joe, ein Split-Brain-Patient, kann gleichzeitig zwei verschiedene Formen malen
»… lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.« Matthäus 6, Vers 3
Wer sieht glücklicher aus? Schauen Sie zuerst auf den Mittelpunkt eines der beiden Gesichter, dann auf den des anderen. Sieht eines glücklicher als das andere aus? Die meisten Menschen sagen, das rechte sähe glücklicher aus. Manche Forscher erklären das damit, dass die rechte Hemisphäre, mit der Gefühle wahrgenommen werden, die Informationen über das linke Auge und damit in erster Linie zum vom Betrachter aus linken Teil des zu betrachtenden Gesichts erhält, wenn der Mittelpunkt des Gesichtes fokussiert wird
Als man der rechten Gehirnhälfte der Patienten das Bild eines Löffels »zeigte«, konnten die Patienten nicht sagen, was sie gesehen hatten. Doch konnten sie den Löffel, der in einem Haufen verschiedener Gegenstände versteckt war, mit der linken Hand ertasten und herausziehen. Wenn der Versuchsleiter den Patienten dann lobte, hätte die Antwort lauten können: »Was? Richtig? Wie ist es möglich, dass ich den richtigen Gegenstand aufnehme, wenn ich nicht einmal weiß, was ich gesehen habe?« Hier spricht natürlich die linke Hemisphäre, die sich darüber wundert, was die nonverbale rechte Hemisphäre weiß. Einige Menschen, die sich einer Split-Brain-Operation unterzogen hatten, waren für einige Zeit von der ungewöhnlichen Unabhängigkeit ihrer linken Hand beunruhigt. Es konnte ihnen passieren, dass die linke Hand ein Hemd aufknöpfte, das die rechte Hand gerade zugeknöpft hatte, oder im Supermarkt Sachen wieder ins Regal stellte, die von der rechten Hand gerade in den Wagen gelegt worden waren. Es erschien, als ob jede Hemisphäre unabhängig für sich dachte: »Ich meine zur Hälfte, dass ich heute mein blaues (oder eben zur anderen Hälfte: mein grünes) Hemd tragen sollte.« Es ist laut Sperry (1964) tatsächlich so, dass die Split-Brain-Chirurgie Menschen mit »zwei einzelnen Gehirnen« erschafft. Mit voneinander abgetrennten Hirnhälften können beide Hemisphären eine Anweisung verstehen und ihr folgen, dass sie – gleichzeitig – unterschiedliche Figuren mit der linken und mit der rechten Hand nachzeichnen sollen (Franz et al. 2000; . Abb. 2.38). (Als ich diese Berichte las, stellte ich mir vor, wie ein Split-Brain-Patient mit sich allein das Spiel »Schere – Stein – Papier« spielt, und zwar linke gegen rechte Hand.) ? Dazu folgende Frage: Wenn wir der rechten Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten ein rotes Licht zeigen und der linken ein grünes Licht, würde dann jede Hemisphäre ihre eigene Farbe wahrnehmen? Wüsste der Betreffende, dass sich die Farben unterscheiden? Was würde diese Person antworten, wenn sie gefragt würde, was sie gesehen hat? (7 Antwort 2.2 am Ende des Kapitels)
Wenn die »beiden Gehirne« voneinander getrennt sind, versucht die linke Gehirnhälfte verzweifelt, die Geschehnisse zu erklären, die das Gehirn nicht verstehen kann. Wenn der Patient also einer Anweisung folgt, die der rechten Hemisphäre gegeben wurde (»Geh!«), wird sich die linke Hemisphäre eine Erklärung ausdenken (»Ich möchte ins Haus gehen, um mir eine Cola zu holen«). Daraus schloss Gazzaniga (1988), dass das Bewusstsein in der linken Hemisphäre als »Interpret« immer wieder Theorien aufstellt, die unser Verhalten erklären sollen. Im Gegensatz zum unbewussten Teil unseres Denkens, der unser Leben steuert, wie ein Autopilot, der einen Jumbojet fliegt, handelt das Bewusstsein wie der Pilot, der nur ab und an das Steuer ergreift. Es handelt aber auch eher wie die Pressestelle des Denkens (und manchmal auch als Geschichtenerzähler) – also die Stelle, die nach außen Entscheidungen erklärt, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden (Wegner 2002; Wilson 2002). Diese Berichte veranschaulichen ein Kernkonzept, auf das wir im ganzen Buch immer wieder zurückkommen werden. Das unbewusste Gehirn kann unser Verhalten steuern – ohne unser bewusstes Zutun und unseren bewussten Willen. Diese Experimente zeigen, dass die linke Hemisphäre aktiver ist, wenn eine Person über Entscheidungen nachdenkt (Rogers 2003). Die rechte Hemisphäre versteht einfache Anweisungen und nimmt Gegenstände problemlos wahr; sie ist stärker beteiligt, wenn es um schnelle, intuitive Reaktionen geht. Die rechte Seite des Gehirns übertrifft die linke auch beim Nachzeichnen von Bildern, und auch beim Erkennen von Gesichtern, bei der Wahrnehmung von Unterschieden und Gefühlen sowie auch darin, Gefühle auszudrücken (mit der linken Gesichtshälfte). Wenn die rechte Hirnhälfte geschädigt ist, ist die Verarbeitung von Emotionen und das Sozialverhalten in starkem Maße beeinträchtigt (Tranel et al. 2002). Die meisten Organe, die im Körper doppelt existieren, also Nieren, Lungen, Brüste, haben dieselbe Funktion, sodass es immer Ersatz gibt, wenn eine Seite ausfallen sollte. Bei den beiden Gehirnhälften ist das nicht so. Bei ihnen kann jede Hälfte unterschiedliche Funktionen erfüllen, ohne dass die Anstrengung wirklich verdoppelt werden muss. Das Ergebnis ist ein biologisch seltsames, aber schmuckes Paar, bei dem jede Hälfte anscheinend ihren eigenen Willen hat.
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Unterschiede der beiden Hemisphären im intakten Gehirn Aber was ist mit den mehr als 99,99% der Menschen, die ein ungeteiltes Gehirn haben? Sind auch unsere Gehirnhälften ähnlich spezialisiert wie die der Split-Brain-Patienten? Die Antwort lautet ja. Dabei ist jedoch die Warnung angebracht, dass diese Befunde nicht überschätzt werden sollten (7 Kritisch nachgefragt: Über das linke und das rechte Gehirn). Wenn eine Versuchsperson z. B. eine Aufgabe ausführt, die etwas mit Wahrnehmung zu tun hat, zeigen die Gehirnwellen, der Blutfluss und der Glukoseverbrauch eine verstärkte Aktivität der rechten Gehirnhälfte; wenn sie aber spricht oder rechnet, ist vor allem die linke Hemisphäre aktiviert. Wenn man magnetische Stimulierung einsetzt, um die Aktivität der linken oder der rechten Hirnhälfte zeitweilig zu unterbrechen (Knecht et al. 2002), oder eine ganze Hemisphäre kurzzeitig sediert, kann man die hemisphärische Spezialisierung (die man als Lateralisierung bezeichnet) noch klarer veranschaulichen. Um vor einer Operation festzustellen, wo im Gehirn eines Patienten die Sprache repräsentiert ist, kann ein Arzt Sedativa in die Nackenarterie des Patienten injizieren, die die Hemisphäre auf ihrer Seite mit Blut versorgt. Bevor das Medikament gegeben wird, legt sich der Patient hin und streckt die Arme in die Luft, dabei unterhält er sich mit den Anwesenden. Sie können wahrscheinlich vorhersagen, was passiert, wenn das Medikament zu wirken beginnt und es in die linke Gehirnhälfte strömt. Schon nach wenigen Sekunden fällt der rechte Arm des Patienten herab. Falls die Sprache in seiner linken Hemisphäre repräsentiert ist, verstummt er, bis die Wirkung des Medikaments abnimmt. Wird das Medikament aber in die Arterie injiziert, die die rechte Hemisphäre versorgt, fällt der linke Arm herunter, aber der Patient kann immer noch sprechen. »Schläft« die rechte Hemisphäre, ist es für die meisten Patienten schwerer, sich selbst auf einem verzerrten Foto zu erkennen, als mit einer betäubten linken Hemisphäre (Keenan 2001). Noch weitere Experimente bestätigen die Spezialisierung der Hemisphären. Zum Beispiel erkennen die meisten Menschen ein Bild schneller und sicherer, wenn es direkt (über das linke Gesichtsfeld) in ihre rechte Hemisphäre geleitet wird. Wörter dagegen werden besser mit der linken Hemisphäre erkannt. Wird das Wort aber in ihre rechte Gehirnhälfte geleitet, braucht die Wahrnehmung einige Bruchteile von Sekunden länger, genau die Zeit, die benötigt wird, um eine Information über das Corpus callosum in die auf Sprache spezialisierte linke Gehirnhälfte weiterzuleiten. Welche Hemisphäre ist Ihrer Meinung nach für die Gebärdensprache zuständig, die gehörlose Menschen verwenden? Die rechte, weil sie der linken im bildlich-räumlichen Denken überlegen ist? Oder die linke, weil sie für die Verarbeitung von Sprache zuständig ist? Studien zeigen, dass ebenso wie Hörende gewöhnlich ihre linke Hemisphäre für das Sprachverstehen nutzen, Gehörlose ihre linke Gehirnhälfte für das Verstehen von Zeichen nutzen (Corina et al. 1992; Hickok et al. 2001). Ein Schlaganfall in der linken Hemisphäre würde die Zeichensprache eines gehörlosen Menschen genauso beeinträchtigen wie die Sprechfähigkeit eines hörenden Menschen. Das BrocaZentrum ist am Hervorbringen sowohl der gesprochenen Sprache als auch der Gebärdensprache beteiligt (Corina 1998). Für das Gehirn ist Sprache Sprache, ganz gleich, ob gesprochen oder in Gebärden. Obwohl es die linke Hemisphäre ist, die Sprache schnell und wörtlich versteht, wird sie von der rechten darin übertroffen, ausgeklügelte Schlussfolgerungen zu ziehen (Beeman u. Chiarello 1998; Bowden u. Beeman 1998; Mason & Just 2004). Wenn man der linken Hemisphäre das Wort »Fuß« nur für den Bruchteil einer Sekunde als Prime (Reiz, der Erwartungen weckt) darbietet, gelingt es ihr sehr schnell, das Wort »Ferse« zu erkennen, das mit »Fuß« eng assoziiert ist. Aber wenn man kurzzeitig die Wörter »Fuß«, »Schrei« und »Glas« einblendet, erkennt die rechte Gehirnhälfte schneller als die linke das Wort »Schnitt«, das mit den drei ersten nur entfernt assoziiert ist. Gibt man den Versuchspersonen ein Verstehensproblem – welches Wort lässt sich mit den folgenden verbinden: »hoch«, »Bezirk«, »Gebäude«? – kommt die rechte Hemisphäre schneller auf die Lösung (»Schule«). Ein Patient, bei dem die rechte Hemisphäre verletzt wurde, erklärte: »Ich verstehe die Wörter, aber nicht ihre subtile Bedeutung.« Die rechte Gehirnhälfte hilft uns auch, die Wörter so zu betonen, dass die Bedeutung erkennbar wird. Dies geschieht z. B., wenn wir sagen: »Ich möchte so klug wie Einstein sein!« Dies könnte sonst auch verstanden werden als: »Ich möchte so klug wie ein Stein sein!« (abgewandelt bei Heller 1990)
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Wenn man die beiden Hemisphären betrachtet, die für das bloße Auge genau gleich aussehen, vermutet man nicht, dass sie beide in ihrer eigenen Art zur Harmonie des Ganzen beitragen. Wenn man sich jedoch die Fülle der heute vorliegenden Beobachtungen – bei Split-Brain-Patienten und bei Menschen mit einem normalen Gehirn – ansieht, lässt sich zweifellos daraus schließen, dass unser Gehirn ein Ganzes mit spezialisierten Teilen ist. Kritisch nachgefragt
Linkshemisphärisch/rechtshemisphärisch? – Zur populärwissenschaftlichen Darstellung von Forschungsergebnissen »Ein Irrtum fliegt von Mund zu Mund, von Feder zu Feder, und es dauert Jahrhunderte, ihn auszumerzen.« Voltaire (1694–1778) Sie haben bestimmt Hunderte Male gehört, dass manche Menschen typische Benutzer der linken Gehirnhälfte sind, also rational denkend und logisch, andere dagegen ein Paradebeispiel für den »rechtshemisphärischen« Menschen, der kreativ und gefühlvoll ist. Aber Neurowissenschaftler hissen eine Warnflagge: Hüten Sie sich davor, solch komplexe menschliche Fähigkeiten wie Wissenschaft oder Kunst in einer Hemisphäre zu vermuten! Roger Sperry sagte 1982 dazu: »Die Links-rechts-Dichotomie der Kognition ist eine Vorstellung, die sich ausbreitet wie Unkraut.« Warum werden aber in populärwissenschaftlichen Darstellungen die Ergebnisse zur Hemisphärenspezialisierung dermaßen aufgebauscht? In »The Left-Hander Syndrome« beschreibt Coren (1983), Psychologe an der University of British Columbia, wie und warum Journalisten häufig wissenschaftliche Ergebnisse vereinfachen und ausschmücken. Er erinnert sich daran, einen Vortrag von Doreen Kimura, damals Psychologin an der University of Western Ontario in London, Ontario, gehört zu haben. Kimura führte darin aus, dass Melodien, die mit dem linken Ohr gehört werden, schneller erkannt werden, als wenn sie mit dem rechten Ohr gehört werden. Da das linke Ohr ja einen Großteil der Informationen an die rechte Hemisphäre sendet, schloss sie daraus, dass bei ihren rechtshändigen Studenten die rechte Gehirnhälfte Melodien besser erkennen konnte. Einige Tage später war in der »New York Times« Folgendes zu lesen: »Doreen Kimura, Psychologin aus London, Ontario, fand heraus, dass die Musikalität eines Menschen ihren Sitz in der rechten Gehirnhälfte hat« (Kursivsetzung nicht im Original, sie hebt die schlimmste Übertreibung hervor). Offensichtlich von diesem Bericht abgeschrieben, berichtete eine andere Zeitung kurz darauf, dass »die Londoner Psychologin Dr. Doreen Kimura sagt, dass Musiker rechtshemisphärisch sind«. (Kimura untersuchte doch Studenten, nicht Musiker!) Später stellte ein Folgeartikel die Befunde noch verzerrter dar: »Eine britische Psychologin erklärt endlich, warum so viele Musiker Linkshänder sind.« Mit Blick darauf, dass Kimura nicht aus England kommt, keine Musiker untersuchte und vor allem keine Linkshänder, wiederholte Coren die Worte eines amerikanischen Redakteurs: »Alles, was Sie in der Zeitung lesen, ist absolut wahr, bis auf den seltenen Fall einer Geschichte, von der Sie aus erster Hand wissen«. Was geschehen kann, ist Folgendes: Wenn die Information vom Wissenschaftler zum Leser weitergeleitet wird, wird sie vereinfacht und ausgeschmückt, genauso wie alles, was von einem Mensch zum nächsten weitergetratscht wird. Ein Fernsehsender stößt auf eine interessante
Neuigkeit und reduziert sie auf einen 30-Sekunden-Spot, mit 11 Sekunden Inhalt. Das bringt eine Zeitung darauf, den Gedanken zu übernehmen und eine ähnliche Geschichte daraus zu machen, die wiederum von einem populärwissenschaftlichen Magazin übernommen wird und schließlich auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen landet. Bei jedem Schritt werden die Ideen »spekulativer und weichen immer mehr vom tatsächlichen Forschungsergebnis ab. … Nach einer Weile kann man das, was der Neuropsychologe ursprünglich gesagt hat, in der Kommunikationskette gar nicht mehr erkennen«, bemerkte Cohen. Gerüchte schießen ins Kraut und werden zu wissenschaftlichem Pseudowissen, das »als Wahrheit akzeptiert« und in Gesprächen immer wieder mit den Sätzen wiederholt wird, die mit den Worten »Wie jeder weiß …« oder »Wie Wissenschaftler herausgefunden haben …« beginnen. Und am Ende, so befürchtet Coren, sind die Stimmen, die diese öffentlichen Mythen verbreiten, lauter als die der Wissenschaftler, die ihnen widersprechen. Die Moral aus der Geschichte ist nun aber nicht, dass Sie alles gering schätzen sollten, was Sie lesen. Aber seien Sie wachsam! Reporter wollen natürlich, dass ihr Artikel veröffentlicht wird. Im Idealfall haben sie dabei das Ziel vor Augen, das darzustellen, was an einem Thema wesentlich ist – also etwas einfach und verständlich darzustellen, ohne zu vereinfachen. Im schlimmsten Fall machen sie aus einem Ereignis von der Größe einer Mücke eine Geschichte vom Format eines Elefanten: Einige Menschen sind linkshemisphärisch, die anderen rechtshemisphärisch …
S. Wahl
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Linkshemiphärisch – rechtshemisphärisch Ist die Künstlerin »rechtshemisphärisch«? Solche Annahmen ignorieren die Forschungsergebnisse zum Thema Gehirnhälften. Manche Bereiche der rechten Hemisphäre sind auf einzelne Aufgaben spezialisiert, doch die beiden Hälften des Gehirns arbeiten zusammen, damit der Mensch das tun kann, was er tun will
95 2.4 · Gehirn
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Organisation des Gehirns und Händigkeit Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des Gehirns, der Händigkeit und der Mortalität.
Fast 90% der Menschen sind primär Rechtshänder (Medland et al. 2004). Etwa 10% (etwas mehr bei Männern, etwas weniger bei Frauen) sind Linkshänder. (Einige wenige Menschen schreiben mit der rechten Hand und werfen einen Ball mit der linken Hand oder umgekehrt.) Nahezu alle (95%) Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Gehirnhälfte, die gewöhnlich etwas größer zu sein scheint als bei Linkshändern (Springer u. Deutsch 1985). Bei Linkshändern ist es etwas komplizierter. Bei mehr als der Hälfte ist die Sprache in der linken Hemisphäre repräsentiert, genauso wie bei Rechtshändern. Bei etwa einem Viertel wird sie in der rechten Hemisphäre abgebildet; das restliche Viertel nutzt dazu beide Hemisphären.
Die meisten Menschen nehmen den rechten Fuß zum Treten, schauen mit dem rechten Auge durch ein Mikroskop und küssen, indem sie Kopf und Nase nach rechts drehen (Güntürkün 2003)
Wird die Händigkeit vererbt?
C. Styrsky
Rückschlüsse aus prähistorischen Höhlenzeichnungen, den Werkzeugen und den Hand- und Armknochen deuten schon früh auf die Bevorzugung der rechten Hand (Corballis 1989; Steele 2000). Rechtshändigkeit überwiegt in allen Kulturen. Darüber hinaus scheint sich die Händigkeit zu entwickeln, bevor kulturelle Einflüsse wirksam werden können: Ultraschalluntersuchungen von fötalen Daumenlutschern zeigen, dass 9 von 10 Föten den rechten Daumen im Mund haben (Hepper et al. 1990, 2004). Die Bevorzugung der rechten Hand ist etwas Einzigartiges, was man vor allem bei den Menschen und den Primaten findet, die uns am ähnlichsten sind: den Schimpansen (Hopkins et al. 2005) und den Gorillas (von ihnen sind nur etwa 35% Linkshänder). Bei anderen Primaten ist das Verhältnis von Links- und Rechtshändern gleichmäßiger verteilt. Michel (1982) konnte die Beobachtung machen, dass zwei Drittel von 150 Babys, die er während ihrer ersten beiden Lebenstage beobachtete, es vorziehen, so zu liegen, dass ihr Kopf nach rechts geneigt ist. Als er die Babys im Alter von 5 Jahren nochmals untersuchte, benutzten fast alle der »Kopf-nach-rechts«-Babys bevorzugt ihre rechte Hand, um nach etwas zu greifen, während die »Kopf-nach-links«-Babys lieber ihre linke Hand benutzten. Diese Ergebnisse (zusammen mit der Tatsache, dass weltweit Rechtshändigkeit häufiger vorkommt) sind Hinweise darauf, dass die Händigkeit erblich ist oder durch pränatale Faktoren beeinflusst wird.
Also ist es in Ordnung, Linkshänder zu sein? Aus dem, was wir so bei Gesprächen im Alltag mitbekommen, könnte man schließen, dass es nicht in Ordnung ist, Linkshänder zu sein. Wer sich »link verhält« oder eine »linke Zecke« ist, ist nicht gerade beliebt. Viel eher sollte man doch »das rechte Verhalten« zeigen, oder? Linkshänder sind unter den Menschen mit Leseschwächen, mit Allergien und mit Migräne häufiger vertreten (Geschwind u. Behan 1984). Aber im Iran, wo Studierende bei der Hochschuleingangsprüfung angeben müssen, mit welcher Hand sie schreiben, zeigen die Linkshänder in allen Fächern bessere Leistungen als die Rechtshänder (Noroozian et al. 2003). Ebenso sind unter Musikern, Mathematikern, Profi-Basketballern und Kricketspielern, Architekten und Künstlern mehr Linkshänder zu finden als unter den übrigen. Auch Leonardo da Vinci und Picasso benutzten die linke Hand, um den Pinsel zu führen. Die Tatsache, dass es im Sport einen höheren Prozentsatz von Linkshändern gibt als sonst, lässt sich durch strategische Faktoren erklären. Beispielsweise ist es für eine Fußballmannschaft hilfreich, wenn sie auf dem linken Spielfeld einen Spieler hat, der bevorzugt seinen linken Fuß einsetzt (Wood u. Aggleton 1989). Beim Golf jedoch hat bis 2003 kein Linkshänder das American Masters gewonnen; erst der Kanadier Mike Weir schaffte es. Obwohl Linkshänder damit klarkommen müssen, bei Dinnerpartys häufiger mit dem Ellenbogen angestoßen zu werden, und Scheren und Schreibtische für Rechtshänder nicht ohne Schwierigkeiten benutzen können, scheinen sie doch in puncto Chancengleichheit nicht benachteiligt zu sein. Aber Forscher haben etwas entdeckt, was doch mehr Beachtung verdient: Linkshänder scheinen mit dem Alter zu verschwinden!
Ein Rätsel für die Wissenschaft: Der Fall der verschwindenden Linkshänder Während er sich mit dem Thema Linkshändigkeit beschäftigte, stieß der Psychologe Stanley Coren (1993) auf eine recht erstaunliche Tatsache: Mit dem Alter nimmt der Prozentsatz an Linkshän-
Ein Befund, der eine genetische Erklärung der Händigkeit in Frage stellt: Händigkeit ist eines der wenigen Merkmale, das eineiige Zwillinge nur mit geringer Wahrscheinlichkeit gemeinsam haben (Halpern u. Coren 1990)
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
. Abb. 2.39. Immer weniger Linkshänder Der Anteil der Linkshänder nimmt in Stichproben älterer Menschen deutlich ab. (Nach Coren 1993b)
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»Um die Wahrheit zu finden, müssen wir uns der Mühe unterziehen, das Unwahre zu eliminieren. Wenn das Unmögliche eliminiert ist, muss das, was bleibt, die Wahrheit sein, auch wenn sie uns unwahrscheinlich dünkt.« Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Sign of the Four« (1890)
dern stark ab. In seiner ersten Stichprobe mit 5147 Personen waren 15% der 10-Jährigen, 5% der 50-Jährigen und weniger als 1% der 80-Jährigen Linkshänder (. Abb. 2.39). Forscher überall auf der Welt bestätigten dieses Ergebnis. Voller Faszination angesichts solcher Befunde versuchten Coren u. Halpern (1991; Halpern u. Coren 1988, 1991, 1993) eine Antwort auf die Frage zu finden, warum dies so ist. (Wenn Sie damals an ihrer Stelle gewesen wären, welche Erklärungen wären Ihnen eingefallen?) Vielleicht dachten Coren und Halpern zunächst daran, Umerziehung, die viele ältere Linkshänder erlebt hatten, sei der Grund dafür, dass in der älteren Generation weniger Linkshänder zu finden sind. Viele ältere Menschen können sich daran erinnern, wie ihre linke Hand geschlagen, angebunden oder sogar mit Heftpflaster zu einer Faust verklebt wurde, wenn sie versuchten, sie zu benutzen. Da die Eltern und Lehrer heutzutage immer mehr dazu neigen, Linkshändigkeit zu akzeptieren, könnte dies erklären, warum mehr jüngere Menschen Linkshänder sind. Aber laut amerikanischen und europäischen Studien gab es im 20. Jahrhundert nur eine Steigerung der Linkshänderquote von 6 auf 10% der Bevölkerung (Porac et al. 1980); diese Steigerung ist aber zu klein, um den großen Unterschied in der Häufigkeit von alten und jungen Linkshändern zu erklären. Coren und seine Mitarbeiter fanden darüber hinaus noch weitere Belege dafür, dass die Häufigkeit von Linkshändigkeit stabil ist: Bei Kunstwerken aus der Zeit von 15.400 bis 3000 v. Chr. wurden 10% der abgebildeten Menschen als Linkshänder dargestellt. In der modernen Kunst sind es 11%. Könnte das Verschwinden der Linkshänder schlicht durch Lernen erklärt werden? Könnte die Welt, die für Rechtshänder entworfen ist, die Linkshänder dazu bringen, nach und nach den Gebrauch ihrer rechten Hand zu erlernen? Wiederum nein. Vorschüler, die noch ihre Händigkeit wechseln, tun dies, bevor sie in die Pubertät kommen. Die Händigkeit wechselt nur selten nach dem 8. oder 9. Lebensjahr, und selbst wenn es vorher geschieht, bezieht sich die Veränderung meist nur auf bestimmte Handlungen wie Schreiben oder Essen. Aber was bleibt dann noch? Coren und Halpern wagten, das Undenkbare auszusprechen: Linkshänder sterben früher. »Das kann nicht wahr sein«, erklärten skeptische Kollegen, als Coren diese Idee zum ersten Mal aussprach. »Wenn das wahr wäre, müsste das schon einmal irgendjemandem aufgefallen sein. Und außerdem, meine Großmutter väterlicherseits war Linkshänderin und wurde 91.« Solche Anekdoten, so sehr sie auch aus dem Leben gegriffen sein mögen (»ich kenne jemanden, der …«), können jedoch keine Ergebnisse ersetzen, die in Studien mit großen Stichproben gefunden werden. Ein einzelnes Beispiel kann eine Theorie nicht bestätigen oder widerlegen. Also entschlossen sich Coren und Halpern, ihre makabre Idee weiterzuverfolgen. Sie dachten zunächst über die bekannten Gesundheitsrisiken bei Linkshändern nach. So findet man bei Linkshändern häufiger eine schwierige Geburt (wie Frühgeburt oder Atmungsprobleme während der
97 2.4 · Gehirn
. Abb. 2.40. Vom gefährlichen Leben eines Linkshänders Im Buch »The Left-Hander Syndrome« zeigt Stanley Coren anschaulich die Risiken, die sich durch eine für Rechtshänder geschaffene Welt ergeben. Wenn Linkshänder eine Bohrmaschine benutzen, kann es sein, dass ihnen ihr linker Arm die Sicht nimmt
Geburt). Außerdem haben Linkshänder öfter Kopfschmerzen, mehr Unfälle (zum Teil durch Geräte, die für Rechtshänder entwickelt wurden; . Abb. 2.40), haben mehr Knie- und Gelenkprobleme, rauchen mehr, trinken mehr Alkohol und leiden öfter unter Problemen des Immunsystems (darunter Allergien wie Asthma, Ekzeme und Heuschnupfen). Diese Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern sind nicht so bedeutsam (die individuellen Unterschiede sind viel größer). Aber könnte auf sie, genauso wie bei den Geschlechtsunterschieden in Bezug auf Gesundheitsrisiken, die unterschiedlich lange Lebensspanne zurückgehen? Coren und Halpern untersuchten eine Zufallsstichprobe von kürzlich verstorbenen Menschen und fanden heraus, dass Rechtshänder tatsächlich durchschnittlich 8 oder 9 Jahre länger leben. Dieser Unterschied nahm etwas ab, als Coren, Halpern und ihre Kollegen Kinder ausschlossen. Als sie Linkshänder und Rechtshänder verglichen, die früher einmal Baseball- oder Kricketspieler waren, fanden sie in Bezug auf die Lebensspanne einen kleineren Unterschied (3 Jahre, schätzte Coren); aber er war noch immer vorhanden (Aggleton et al. 1993; Rogerson 1994). Dieses bestürzende Ergebnis schlug ein wie ein Blitz und erregte viel Interesse in der Öffentlichkeit. Meist wurde das Thema verzerrt dargestellt, was wiederum zu unfairen Reaktionen führte: »Lieber Herr Professor … wir möchten Ihnen raten, sich in Zukunft vor finsteren und missgünstigen Linkshändern in Acht zu nehmen – und vor Kettensägen« und »Ihr Rechtshänder denkt, dass ihr länger lebt als wir Linkshänder – aber das wird nicht der Fall sein, wenn wir euch vorher umbringen!« (Halpern et al. 1996). Die Ergebnisse führten auch zu Folgestudien, bei denen keine Unterschiede in Bezug auf die Lebenserwartung von Rechts- und Linkshändern nachgewiesen werden konnten (Harris 1993). Eine Forschergruppe des National Institute of Aging in den Vereinigten Staaten verfolgte das Leben von 3800 Erwachsenen aus Boston über 6 Jahre hinweg und fand, dass die Linkshänder zu keinem Zeitpunkt mit größerer Wahrscheinlichkeit starben (Salive et al. 1993). Coren (1993) jedoch widersprach diesen Ergebnissen, da der Zeitraum von 6 Jahren zu kurz sei, um in einer so kleinen Stichprobe einen signifikanten Unterschied festzustellen. Dieser ungelöste Fall der verschwindenden Linkshänder zeigt anschaulich, was Wissenschaft im Kern ist – wie Forscher es wagen, alle Fragen zu stellen, die erforscht werden können, auch wenn sich aus den Antworten vielleicht unerfreuliche Schlussfolgerungen ergeben. Es ist wie vor Gericht: Die Forscher dürfen gerne neue Ideen aussprechen, aber sie müssen sich den Kreuzverhören der Gegenseite und heißen Debatten stellen. Im Laufe der Zeit hat die Wissenschaft damit einen Weg gefunden, Fehler aufzudecken und der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen (und damit oft auch einer besseren Welt). Wenn eine Erklärung für das Verschwinden der Linkshänder gefunden wird, kann man daraus vielleicht Schlussfolgerungen ziehen, die es uns erlauben, die Welt für Linkshänder angenehmer zu gestalten. In diesem Kapitel konnten wir einen Eindruck von der Wahrheit gewinnen, die in folgendem grundlegenden Prinzip dieses Kapitels liegt: Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Wir haben uns damit beschäftigt, wie unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen aus der Aktivität unseres spezialisierten, aber auch ganzheitlichen Gehirns entstehen. In den folgenden Kapiteln werden wir darauf eingehen, welche Bedeutung die biologische Revolution in der Psychologie hatte. Wir werden z. B. sehen, wie
Linkshänder, die lange lebten: Benjamin Franklin (84) Charlie Chaplin (88) Albert Schweitzer (90) Pablo Picasso (92) Queen Mum (101) Linkshänder, die nicht so lange lebten: Aristoteles (38) Marilyn Monroe (36) Wolfgang Amadeus Mozart (35) Alexander der Große (33) Kurt Cobain (27)
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
4 die Gene und die Erfahrungen gemeinsam unsere Persönlichkeit, unsere Gefühle und unsere Intelligenz beeinflussen; 4 die Entwicklung des Gehirns die Grundlage für die geistige Entwicklung ist; 4 unsere Sinnesorgane es uns ermöglichen, zu sehen und zu hören; 4 das Gehirn unsere Erinnerungen speichert; 4 Gehirn und Körper zusammenwirken, um unsere Empfindung von Hunger und Sexualität, von Angst und Wut sowie von Schlaf und Träumen hervorzurufen; 4 unser Geist und unser Körper gemeinsam unsere Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und unsere Fähigkeit zur Selbstheilung steuern; 4 unsere eigene evolutionäre Entwicklung uns dazu bringt, andere zu verletzen, ihnen zu helfen oder sie zu lieben.
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Geist und Gehirn als holistisches System Nach Roger Sperrys Ansicht erschafft das Gehirn den Geist und ist auch sein Steuerorgan, doch beeinflusst der Geist wiederum das Gehirn. (Stellen Sie sich lebhaft vor, in eine Zitrone zu beißen – vermehrte Speichelabsonderung?)
Es war ein langer Weg von der Phrenologie des 19. Jahrhundert bis zur heutigen Neurowissenschaft. Trotzdem stellt das, was wir nicht wissen, noch immer unser Wissen in den Schatten. Wir können das Gehirn beschreiben. Und wir können versuchen, zu verstehen, wie die einzelnen Teile miteinander kommunizieren. Aber wie kann unser Geist aus diesem Zellhaufen entstehen? Wie kann ein elektrochemisches Aufleuchten in einem Knäuel von der Größe eines Kopfsalats zu einer kreativen Idee, zur freudigen Erregung vor dem Geburtstag und zur Erinnerung an unsere Großmutter führen? Ähnlich wie aus Gas und Luft etwas Neues entstehen kann, nämlich Feuer, so könnte auch das komplexe menschliche Gehirn etwas Neues erschaffen: das Bewusstsein. Davon war zumindest Sperry überzeugt. Der Geist, argumentierte er, entsteht aus dem Tanz der Ionen im Gehirn, kann jedoch nicht auf ihn reduziert werden. Zellen können nicht allein durch die Bewegung von Atomen erklärt werden, ebenso wenig kann der Geist durch die Aktivität von Zellen erklärt werden. Die Psychologie hat ihre Wurzeln in der Biologie, die wiederum auf der Chemie beruht, die ihrerseits auf der Physik basiert. Trotzdem ist die Psychologie mehr als angewandte Physik. Die Bedeutung der Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges lässt sich nicht auf neuronale Aktivität reduzieren. Sexuelle Liebe ist mehr als verstärkte Blutzufuhr in den Genitalien. Moral und Verantwortungsbewusstsein lassen sich erst erklären, wenn wir unseren Geist als »holistisches System« verstehen, wie Sperry (1992) feststellte. Wir sind mehr als plappernde Roboter. Der Geist versucht, das Gehirn zu verstehen; dies ist in der Tat eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft. Und das wird immer so sein. Um es mit den Worten des Kosmologen John Barrow zu sagen: Ein Gehirn, das so einfach ist, dass man es verstehen kann, ist zu einfach, um einen Verstand hervorzubringen, der es versteht.
Lernziele Abschnitt 2.4 Das Gehirn Ziel 11: Beschreiben Sie einige Verfahren zur Untersuchung des Gehirns. Bei klinischen Beobachtungen waren Forscher schon seit langem auf die Folgen von Schädigungen verschiedener Bereiche des Gehirns gestoßen. Aber mit Hilfe von Bildern, die mit dem MRT erstellt werden, kann man heute die genauen Hirnstrukturen erkennen und die Gehirnaktivität mit EEG, PET und fMRT (funktionellem MRT) beobachten. Indem Neurowissenschaftler bestimmte Teile des Gehirns chirurgisch läsionieren und mit Hilfe von Elektroden stimulieren, die elektrische Aktivität auf der Oberfläche des Gehirns messen und die neuronale Aktivität mit Hilfe von Computern darstellen, versuchen sie, die Zusammenhänge zwischen Gehirn, Denken und Verhalten des Menschen zu erforschen.
Ziel 12: Beschreiben Sie die Bestandteile des Hirnstamms, und skizzieren Sie die Funktionen von Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn. Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns und ist für automatische Überlebensfunktionen zuständig. Er besteht aus der Medulla, die Herzschlag und Atmung steuert, der Brücke, die zur Koordinierung der Bewegungen beiträgt, sowie der Formatio reticularis, die die Erregung des Nervensystems und damit das Bewusstsein beeinflusst. Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die zentrale Schaltstelle des Gehirns. Das Kleinhirn, hinten am Hirnstamm lokalisiert, koordiniert die Muskelbewegungen und trägt dazu bei, die sensorischen Informationen zu verarbeiten. 6
99 2.4 · Gehirn
Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems, und erklären Sie, wie eine dieser Strukturen die Hypophyse steuert. Zwischen dem Hirnstamm und dem zerebralen Kortex liegt das limbische System, das mit dem Gedächtnis, den Gefühlen und Trieben des Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Ein Teil des limbischen Systems ist die Amygdala (Mandelkern), die an aggressiven oder ängstlichen Impulsen beteiligt ist. Ein anderer Teil ist der Hypothalamus, der verschiedene lebenserhaltende Funktionen des Körpers steuert, z. B. das Belohnungs- und das Hormonsystem. Der Hippocampus, der auch Teil des limbischen Systems ist, verarbeitet Gedächtnisinhalte.
Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass Sie diesen Satz vorlesen. Die Sprache ist das Ergebnis der Integration vieler spezifischer neuronaler Netze, die spezialisierte Unteraufgaben erfüllen. Wenn Sie etwas vorlesen, nimmt der visuelle Kortex des Gehirns Wörter als visuelle Reize auf, der Gyrus angularis transformiert diese visuellen Repräsentationen in auditorische Codes, das Wernicke-Zentrum interpretiert diese Codes und schickt die Botschaft an das Broca-Zentrum, das den motorischen Kortex dabei steuert, wie er die gesprochenen Wörter hervorbringt.
Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum er für das Gehirn des Menschen so wichtig ist. Der zerebrale Kortex ist die dünne Oberflächenschicht miteinander verbundener Neuronen, von der die Hemisphären des Gehirns bedeckt sind. Der Kortex des menschlichen Gehirns ist größer als der anderer Lebewesen; er ermöglicht Lernen, Denken und andere komplexe Formen der Informationsverarbeitung, zu denen nur wir Menschen fähig sind.
Ziel 18: Erörtern Sie die Plastizität des Gehirns nach einer Verletzung oder einer Krankheit. Wenn eine Gehirnhälfte früh im Leben eines Menschen Schaden nimmt, kann die andere Hälfte die meisten ihrer Funktionen mit übernehmen. Diese Plastizität nimmt jedoch mit dem Alter ab, obwohl bei einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung die umliegenden Neuronen eventuell einen Teil der Funktionen der geschädigten Zellen übernehmen.
Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex. Jede Hemisphäre des zerebralen Kortex wurde zur besseren Orientierung in vier Teile aufgeteilt: Der Frontallappen (direkt hinter der Stirn) ist am Sprechen, an den Muskelbewegungen, dem Planen und dem Urteilen beteiligt. Die Parietallappen (im oberen und hinteren Teil des Kopfes) erhalten sensorische Signale zu Berührungen und zur Körperposition. Zu den Okzipitallappen (am Hinterkopf ) gehört die Sehrinde. Die Temporallappen (direkt über den Ohren) enthalten die Hörrinde. Jeder Gehirnlappen erfüllt viele Funktionen und tritt mit anderen Arealen des Kortex in Interaktion.
Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und erklären Sie, wie sie zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und linken Hirnhälfte beiträgt. Klinische Beobachtungen zeigten schon vor langer Zeit, dass die linke Hemisphäre für die Sprache unverzichtbar ist. In der Forschung zum Thema Split Brain (Experimente mit Patienten, deren Corpus callosum durchtrennt wurde) zeigte sich, dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre eher verbale Fähigkeiten hat, während die rechte bei der visuellen Wahrnehmung und dem Erkennen von Emotionen brilliert. Untersuchungen an Menschen mit intaktem Gehirn bestätigen, dass jede Gehirnhälfte auf ihre Art dazu beiträgt, dass das Gehirn in integrierter Weise seine Funktion erfüllen kann.
Ziel 16: Fassen Sie kurz einige der Befunde zu den Funktionen des motorischen und des sensorischen Kortex zusammen, und erörtern Sie die Bedeutung der Assoziationsfelder. Einige Areale des Gehirns haben spezielle Funktionen (. Abb. 2.23). Ein solches Areal ist der motorische Kortex, eine Region, die wie ein Bogen geformt ist. Er befindet sich im hinteren Teil der Frontallappen und steuert die willkürlichen Bewegungen. Ein anderes Areal ist der sensorische Kortex, eine Region im vorderen Teil der Parietallappen, die die Körperempfindungen aufnimmt und verarbeitet. In diesen Regionen belegen Körperteile, die besonders präzise gesteuert werden müssen (im motorischen Kortex), und jene, die besonders sensibel sind (im sensorischen Kortex), am meisten Raum. Den größten Bereich des Kortex – den größten Teil jedes Einzelnen der vier Hirnlappen – nehmen die nicht spezialisierten Assoziationsfelder ein; sie führen die Informationen zusammen, die im Zusammenhang mit dem Lernen, dem Erinnern, dem Denken und anderen höheren Funktionen anfallen.
Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des Gehirns, der Händigkeit und der Mortalität. Etwa 10% der Menschen sind Linkshänder. Nahezu alle Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Hirnhälfte, wie dies bei etwas mehr als der Hälfte der Linkshänder der Fall ist. Die übrigen Linkshänder teilen sich nahezu zu gleichen Teilen in solche auf, die Sprache in der rechten Hirnhälfte verarbeiten, und in solche, die dies in beiden Hirnhälften tun. Der Prozentsatz der Linkshänder nimmt mit dem Alter stark ab, von etwa 15% im Alter vom 10 Jahren auf weniger als 1% im Alter von 80 Jahren. Diese Abnahme könnte Folge einer höheren Gefährdung durch Unfälle sein. > Denken Sie weiter: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie zwei getrennte Gehirnhälften hätten, die beide Ihre Gedanken und Handlungen steuern, von denen aber nur eine die Vorherrschaft über Ihr Bewusstsein und Ihre Sprache hätte? Was würde das für Ihr Selbstbild als unteilbare Person bedeuten?
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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Antworten
2
2.1
Die Katze wird über ihren Sympathikus erregt.
2.2
Ja. Nein. Grün.
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Wie kommunizieren Neuronen miteinander? 2. Wie fließen die Informationen durch ihr Nervensystem, wenn Sie eine Gabel in die Hand nehmen? Fassen Sie diesen Vorgang kurz zusammen. 3. Warum wird die Hypophyse als »Königsdrüse« bezeichnet? 4. In welcher Region des Gehirns wäre es am wahrscheinlichsten, dass eine Hirnschädigung die Fähigkeit zum Seilhüpfen beeinträchtigt? Ihre Fähigkeit, Berührungen oder Klänge zu empfinden? In welcher Region des Gehirns würden Sie bei einer Schädigung möglicherweise ins Koma fallen? Ganz ohne Atmung und den Herzschlag des Lebens? 5. Wenn Sie geradeaus nach vorne gucken, wie werden die visuellen Informationen an Ihre beiden Hirnhälften weitergeleitet?
LDeutsche Literatur zum Thema Birbaumer, N., Schmidt, R.F. (2006). Biologische Psychologie, 6. Aufl. Heidelberg: Springer. Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F. (2001). Neurowissenschaften. Vom Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Heidelberg: Springer. Elbert, T., Birbaumer, N. (Hrsg). (2002). Biologische Grundlagen der Psychologie. Bern: Huber. Jäncke, L. (2005). Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer. Kandel, E.R., Schwartz, J.H., Jessel, T.M. (1995). Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg: Spektrum. Lautenbacher, S., Güntürkün, O., Hausmann, M. (2007). Gehirn und Geschlecht. Heidelberg: Springer. Markowitsch, H.J. (Hrsg). (1996). Grundlagen der Neuropsychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Biologische Psychologie, Bd. 1. Göttingen: Hogrefe. Springer, S.P., Deutsch, G. (1998). Linkes/rechtes Gehirn. Heidelberg: Spektrum. Thompson, R.F. (2001). Das Gehirn. Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung, 3. Aufl. Heidelberg: Spektrum.
3 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen 3.1
Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
– 103
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7
Gene: Unsere Codes für das Leben – 103 Zwillingsstudien – 104 Adoptionsstudien – 107 Studien zum Temperament – 109 Erblichkeit – 110 Anlage-Umwelt-Interaktion – 112 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung
3.2
Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
– 112
– 115
3.2.1 Natürliche Selektion – 115 3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität – 118 3.2.3 Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz – 120
3.3
Eltern und Gleichaltrige
– 122
3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen – 123 3.3.2 Einfluss der Gleichaltrigen – 126
3.4
Kulturelle Einflüsse
– 128
3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
Kulturübergreifende Unterschiede – 129 Zeitübergreifende Veränderungen – 130 Kultur und Selbst – 131 Kultur und Kindererziehung – 133
3.5
Entwicklung des sozialen Geschlechts
– 136
3.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede 3.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts – 139 3.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht – 141
3.6
Überlegungen zu Anlage und Umwelt
– 136
– 145
Andere Kulturen, andere Perspektiven Als ich als junges Mädchen um die Aufmerksamkeit meines Vater buhlte, erfand ich ein Spiel, das ihn dazu brachte, aufzuschauen von seiner Lektüre und seinen Kopf zu schütteln, als wäre er verblüfft, aber auch amüsiert. Im Schrank meines Bruders zog ich seinen Arbeitsanzug an – der rauhe Stoff presste mich in die Gestalt eines Jungen; ich versteckte mein langes Haar unter einem Stahlhelm, den ihm mein Vater gegeben hatte, und kam wieder hervor, gewandelt in den legendären Che der Erwachsenengespräche. Im Zimmer umherstolzierend erzählte ich von meinem Leben in den Bergen, vom Gemetzel und Strömen aus Blut, und von
Aus Judith Ortiz Cofer (geb. 1952), »The Changeling«, 1992
Männerfesten mit Rum und Musik, um die Siege para la libertad zu feiern. Mit einem Lächeln hörte er meinen Geschichten von Schlachten und Brüderlichkeit zu, bis Mutter uns zum Essen rief. Sie war nicht amüsiert von meinen Verwandlungen und streng verbat sie mir, mich als Mann zu ihnen zu setzen. Sie schickte mich zurück in die dunkle Kabine, die nach Abenteuer roch, um mein Kostüm abzulegen, mein Haar stürmisch mit blinden Händen zu flechten und wieder unsichtbar zu werden, als ich selbst, für die reale Welt ihrer Küche.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen > Was macht den Menschen zum Menschen? In wichtigen Aspekten sind wir jeder für uns einzigartig. Wir sehen unterschiedlich aus. Wir hören uns anders an. Was die Persönlichkeit, die Interessen, den kulturellen und familiären Hintergrund angeht, unterscheiden wir uns erheblich. Wir sind aber auch wie Blätter am selben Baum. Die Familie Mensch hat nicht nur ein gemeinsames biologisches Erbe – wir alle bluten, wenn wir uns schneiden –, sondern auch gemeinsame Verhaltenstendenzen: Der uns allen gemeinsame Aufbau des Gehirns legt von vornherein fest, wie wir mit Hilfe der gleichen Mechanismen die Welt über unsere Sinnesorgane wahrnehmen, unsere Sprache entwickeln und Hunger empfinden. Ganz gleich, ob wir nun in der Arktis oder den Tropen leben, wir bevorzugen süße Geschmacksrichtungen gegenüber sauren. Wir teilen das Farbspektrum in die gleichen Farben ein. Und wir fühlen uns zu Verhaltensweisen hingezogen, die Nachkommenschaft hervorbringen und schützen.
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M. Barton
Ziel 1: Geben Sie Beispiele an für Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der großen Familie Mensch.
Die Umwelt der Anlage Überall auf der Welt fragen sich die Menschen: Wird mein Baby später ein friedlicher oder ein aggressiver Mensch? Wird er erfolgreich sein, oder wird er um jeden einzelnen Schritt kämpfen müssen? Was ist angeboren, und was beruht auf Erziehung? Und wie funktioniert das? Die Forschung zeigt, dass Anlage und Umwelt gemeinsam unsere Entwicklung prägen: für jeden Schritt auf diesem Weg
Unsere Verwandtschaft zeigt sich auch in unserem Sozialverhalten. Ganz gleich, ob unser Familienname Wong, Nkomo, Meier, Smith oder Gonzales lautet, wir beginnen mit ungefähr 8 Monaten zu fremdeln, während wir als Erwachsene die Gesellschaft von Menschen suchen, deren Einstellungen und Merkmale den unseren ähnlich sind. Auch wenn wir aus unterschiedlichen Teilen der Erde stammen, so wissen wir doch das Lächeln und das Stirnrunzeln der anderen einzuschätzen. Als Angehörige einer Spezies schließen wir uns mit anderen Menschen zusammen, passen uns an, tauschen Gefälligkeiten aus, bestrafen Vergehen, organisieren Statushierarchien und betrauern den Tod eines Kindes. Ein außerirdischer Besucher könnte irgendwo auf der Erde landen und würde immer Menschen finden, die tanzen und Feste feiern, singen und beten, Sport treiben und spielen, lachen und weinen, in Familien leben und Gruppen bilden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Universelle Verhaltensweisen verweisen auf unsere gemeinsame Eigenart als Mensch. Was ist die Ursache für die erstaunliche Unterschiedlichkeit der Menschen und die allen eigene menschliche Natur? Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dieser komplexen Frage: Wir beginnen mit der Verhaltensgenetik, in der untersucht wird, welche Auswirkungen unsere Gene (Anlage) und unsere Umwelt (äußere Einflüsse) auf die individuellen Unterschiede beim Verhalten und bei den geistigen Prozessen haben. Gemeinsam formen unsere Gene und die Umwelt unser einzigartiges Körper-Geist-System und legen das fest, was uns zu unterschiedlichen Menschen macht. Gene sind durchaus bedeutsam. Aber auch die Kultur ist wichtig und alles, was wir auf unserem Weg vom Mutterleib bis ins Grab erleben. Wir werden uns damit beschäftigen, wie uns Anlage und Umwelt formen, und konzentrieren uns dabei auf folgende Punkte: 4 Die Evolutionspsychologie. Sie untersucht die Verhaltensweisen, Emotionen und Denkfähigkeiten, die es unseren entfernten Vorfahren ermöglichten, zu überleben, sich fortzupflanzen und ihre Gene an künftige Generationen weiterzugeben. Wir Menschen neigen dazu, Angst vor Schlangen und Spinnen zu haben, hoch gelegene Stellen und bitter schmeckendes Essen zu meiden, weil solche Ängste und Verhaltensweisen unseren Vorfahren dabei geholfen haben zu überleben. 4 Eltern, Gleichaltrige und Kultur. Sie haben einen Einfluss auf Überzeugungen und Wertvorstellungen, unsere Interessen und Geschmacksvorlieben sowie unsere Sprache und unser Äußeres. Noch bevor wir Franzosen und ihre Sprache hören, können wir sie an ihrer Gestik und Mimik erkennen.
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4 Geschlechtszugehörigkeit und alle damit zusammenhängenden Erwartungen. Beides hat einen Einfluss darauf, wie andere uns wahrnehmen und wie wir uns selbst sehen. Trotz aller Unterschiede, von denen man liest, sind wir, wie wir noch ausführen werden, einander eher ähnlich als voneinander verschieden.
3.1
Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgenetiker interessieren.
Wie sehr werden unsere Verhaltensunterschiede von unseren genetischen Unterschieden beeinflusst? Und wie sehr durch unsere Umwelt, die auf unsere genetischen Merkmale reagiert? Es geht also um jeden äußeren Einfluss, angefangen mit der Ernährung im Mutterleib bis hin zur sozialen Unterstützung kurz vor dem Tod. Genauer: Wie stark werden wir durch äußere Einflüsse geformt? Durch unsere Kultur? Durch unsere momentanen Lebensumstände? Wenn sich Jaden Agassi, Sohn der früher sehr erfolgreichen Tennisspieler Andre Agassi und Steffi Graf, später zu einem Tennisstar entwickelt, sollten wir dann seine Begabung seinen Grand-Slam-Genen zuschreiben? Der Tatsache, dass er in einer Umwelt aufgewachsen ist, in der es immer um Tennis ging? Den hohen Erwartungen? Oder alles zu gleichen Teilen? Die Verhaltensgenetik untersucht die Unterschiede zwischen uns und versucht, herauszufinden, welches Gewicht Anlage und Umwelt bei den relativen Auswirkungen zukommen.
Umwelt (environment): jeder nichtgenetische Einfluss, von der pränatalen Ernährung bis zu den Menschen und Dingen in unserer Umgebung.
Verhaltensgenetik (behavior genetics): die Untersuchung der relativen Gewichte von genetischen und Umwelteinflüssen auf das Verhalten.
3.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, was ein Gen und was ein Genom. Beschreiben Sie die Beziehungen dieser Begriffe zueinander.
Hinter der Geschichte unseres Körpers und unseres Gehirns steckt die Vererbung, die mit unseren Erfahrungen interagiert und so sowohl unsere universelle Eigenart als Menschen hervorbringt als auch unsere individuelle und soziale Vielfalt. Vor kaum mehr als einem Jahrhundert hätte keiner geglaubt, dass jeder Zellkern in unserem Körper den gesamten genetischen Code für den ganzen Körper enthält. Das ist so, als befände sich in jedem Raum des Empire State Buildings ein Buch, in dem die Baupläne für das ganze Gebäude aufbewahrt werden. Diese Pläne umfassen – um bei dem Vergleich zu bleiben – 46 Kapitel, 23 stammen von der Mutter (von ihrer Eizelle) und 23 vom Vater (von seiner Samenzelle). Diese Kapitel, die sog. Chromosomen, sind jeweils aus einer spiralförmig zusammengerollten Kette des Moleküls DNA (Desoxyribonukleinsäure) zusammengesetzt. Die Gene, die kleinen Segmente dieser gigantischen DNA-Moleküle, bilden sozusagen die Wörter in diesen Chromosomenbüchern (. Abb. 3.1). Man kann davon ausgehen, dass jeder von uns ungefähr 30.000 Gene besitzt. Dabei ist jedes Gen eine Einheit, die sich selbst kopieren kann und zudem in der Lage ist, Proteine zu synthetisieren. Wenn sie »angeschaltet« werden, stellen sie einfach den Code bereit, um die Proteinmoleküle, die Bausteine für unsere körperliche Entwicklung, aufzubauen. Genetisch gesprochen ist jedes menschliche Wesen nahezu unser eineiiger Zwilling. Sogar die Person, die man am wenigsten mag, ist nicht weit davon entfernt, unser Klon zu sein; und mit ihr haben wir ungefähr 99,9% unserer DNA gemeinsam (Plomin u. Crabbe 2000). Zusammen mit der Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt entscheidet dieser Unterschied von 0,1% jedoch darüber, ob wir es mit Nelson Mandela oder Adolf Hitler zu tun haben werden. Genomforscher haben die gemeinsame Sequenz innerhalb der menschlichen DNA entdeckt. Genau dieses gemeinsame genetische Profil macht uns zu Menschen und nicht zu Schimpansen oder Tulpen. Wir unterscheiden uns eigentlich gar nicht so sehr von einem Schimpansen, mit dem wir je nachdem, wie wir es quantifizieren, mindestens 96% unserer DNA-Sequenzen gemeinsam haben (Mikkelsen et al. 2005). An »funktional wichtigen« Stellen der DNA, so berichtet ein Team von Molekulargenetikern, beträgt die DNA-Ähnlichkeit zwischen Menschen und Schimpansen 99,4% (Wodman et al. 2003). Dieser winzige Unterschied ist allerdings von Bedeutung. Trotz
Chromosomen (chromosomes): im Zellkern liegende fadenähnliche Strukturen aus DNA-Molekülen, die Gene enthalten. DNA/DNS (desoxyribonucleic acid; Desoxyribonukleinsäure): komplexes Molekül, das die genetische Information enthält und letztlich die Chromosomen bildet. Gene (genes): biochemische Bausteine für die Vererbung, aus denen die Chromosomen bestehen. Gene sind Segmente der DNA, die an der Proteinsynthese beteiligt sind.
Genom (genome): enthält die vollständigen Informationen, um einen Organismus herzustellen; besteht aus dem gesamten genetischen Material in den Chromosomen des Organismus.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
. Abb. 3.1. Die Gene: Ihre Lokalisation und Zusammensetzung Die Chromosomen befinden sich im Zellkern jeder Einzelnen der Billionen von Körperzellen. Jedes Chromosom enthält eine spiralförmige Kette aus DNA-Molekülen. Gene wiederum sind DNA-Segmente, die Schablonen für die Produktion von Proteinen bilden. Die Gene bestimmen unsere individuelle biologische Entwicklung, indem sie die Herstellung von Proteinen steuern
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»Die Banane und wir haben 50% unserer Gene gemeinsam.« Robert May, Evolutionsbiologe und Präsident der britischen Royal Society (2001)
einiger bemerkenswerter Fähigkeiten geben Schimpansen nur Laute von sich. Shakespeare dagegen hat zur Erschaffung seiner Meisterwerke etwa 24.000 Wörter auf eine komplexe Weise kombiniert. Und selbst kleine Unterschiede zwischen Schimpansen sind durchaus von Bedeutung. Zwei Arten, die sich in Bezug auf ihr Genom weniger als 1% unterscheiden, weisen offensichtliche Unterschiede in ihrem Verhalten auf. Gewöhnliche Schimpansen sind aggressiv und von den Männchen dominiert. Bonobos sind friedvoll und werden von den Weibchen angeführt. Genetiker und Psychologen sind an den zufälligen Veränderungen interessiert, die man an bestimmten Genorten in der DNA findet und die in ihren vielfältigen Kombinationen die Einzigartigkeit eines Menschen bestimmen. Geringe interpersonelle Abweichungen vom gemeinsamen Muster geben Hinweise darauf, warum der eine unter einer Krankheit leidet und der andere nicht, warum eine Person klein ist und die andere groß, warum jemand glücklich ist und ein anderer depressiv. Die Persönlichkeitsmerkmale des Menschen werden meist von Genkomplexen beeinflusst, einer Vielzahl gemeinsam agierender Gene. Wie groß ein Mensch ist, kommt letztendlich auch in der Länge seines Gesichts, der Ausdehnung der Wirbelsäule, der Länge der Beinknochen etc. zum Ausdruck – wobei jeder Größenindikator durch verschiedene Gene in ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt beeinflusst werden kann. Ähnlich werden komplexe menschliche Eigenschaften wie Intelligenz, Fröhlichkeit und Aggressivität durch Gruppen von Genen beeinflusst. ! Unsere genetischen Prädispositionen tragen dazu bei, sowohl unsere gemeinsamen Merkmale als Menschen als auch die Vielfalt der Menschen zu erklären.
3.1.2 Zwillingsstudien Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, und beschreiben Sie die Methoden, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen.
Um das Knäuel aus Vererbung und Umwelt zu entwirren, benutzen Verhaltensgenetiker oft zwei Arten von Pinzetten: Zwillingsstudien und Adoptionsstudien. Eineiige Zwillinge (identical twins): Zwillinge, die sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle entwickeln, die sich dann in zwei Eizellen teilt und somit zwei genetisch identische Organismen bildet.
Eineiige und zweieiige Zwillinge im Vergleich Um Umwelt- und Vererbungseinflüsse wissenschaftlich voneinander trennen zu können, müssten wir die häusliche Umgebung kontrollieren können, während wir die Vererbungsfaktoren variieren. Glücklicherweise hat uns die Natur zwei Arten fertiger Untersuchungsobjekte zur Verfügung gestellt: eineiige und zweieiige Zwillinge. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch
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und entwickeln sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle, die sich in zwei Eizellen aufteilt (. Abb. 3.2). Es handelt sich um natürliche Klone, die nicht nur dieselben Gene, sondern auch die Empfängnis, die Gebärmutter, das Geburtsdatum und für gewöhnlich den gleichen kulturellen Hintergrund gemeinsam haben. Zweieiige Zwillinge, die sich aus separaten befruchteten Eizellen entwickeln, sind sich genetisch nicht ähnlicher als gewöhnliche Geschwister. So hat ein Mensch, dessen eineiiger Zwilling an der Alzheimer-Krankheit leidet, ein 60%iges Risiko, auch daran zu erkranken; wenn der Betroffene ein zweieiiger Zwilling ist, beträgt das Risiko nur noch 30% (Plomin et al. 1997). Ein derartiger Unterschied weist auf einen genetischen Einfluss hin. Aber die Verhaltensgenetiker arbeiten auch daran, die Einflüsse der individuellen Erfahrungen der Geschwister und der gemeinsamen Umwelt (wie etwa das Aufwachsen in derselben Familie, Nachbarschaft und Schule) genau voneinander zu trennen (. Abb. 3.3).
Adrian Dennis/AFP/Getty Images
. Abb. 3.2. Dieselbe befruchtete Eizelle, die gleichen Gene; unterschiedliche Eizellen, unterschiedliche Gene Eineiige Zwillinge entwickeln sich aus einer einzelnen befruchteten Eizelle, zweieiige Zwillinge aus zwei Eizellen
Eineiig und gleich? Bei Morgan und Paul Hamm, beides Turner von Weltrang, handelt es sich um eineiige Zwillinge; doch ihre sportlichen Leistungen sind nicht gleichrangig. Paul erhielt mehr Medaillen als sein Zwillingsbruder, mit dem zusammen er aufwuchs. Dieser kleine Unterschied deutet sowohl auf den Einfluss geringfügig unterschiedlicher Umwelten (vielleicht sogar pränataler Umwelten) als auch auf den Einfluss individueller Interaktionen mit der jeweiligen Umwelt nach der Geburt hin
Zweieiige Zwillinge (fraternal twins): Zwillinge, die sich aus separaten Eizellen entwickeln. Sie sind sich genetisch nicht näher als Geschwister, aber sie haben als Föten eine Umwelt gemeinsam.
! Verhaltensgenetiker wie Bouchard (2004) erforschen, ob eineiige Zwillinge als genetische Klone mehr Verhaltensähnlichkeiten aufweisen als zweieiige Zwillinge.
Studien mit 13.000 schwedischen, 7000 finnischen und 3810 australischen Zwillingspaaren liefern übereinstimmende Ergebnisse: In Bezug auf Extraversion und Neurotizismus (emotionale Instabilität) sind sich eineiige Zwillinge ähnlicher als zweieiige. Auf der Suche nach Erklärungen für individuelle Unterschiede spielen die Gene also eine Rolle. Wenn sich Gene auf Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Instabilität auswirken, könnten sie dann auch die sozialen Auswirkungen dieser Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen? McGue u. Lykken (1992) untersuchten die Scheidungsraten bei 1500 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren im mittleren Lebensalter. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: Wenn man einen zweieiigen geschiedenen Zwilling hat, liegt die eigene Scheidungsrate um das 1,6-fache höher, als wenn man einen nicht geschiedenen Zwilling hat. Hat man einen eineiigen geschiedenen Zwilling, erhöht sich
Interessanterweise unterscheidet sich die Häufigkeit von Zwillingsgeburten bei unterschiedlichen ethnischen Gruppen. So ist die Häufigkeit bei Weißen nahezu 2-mal so hoch wie bei Asiaten und nur halb so groß wie bei Afrikanern. In Afrika und Asien sind die meisten Zwillinge eineiig. Im Westen sind die meisten Zwillinge zweieiig. Außerdem nimmt die Anzahl zweieiiger Zwillinge mit dem Einsatz von Medikamenten im Rahmen von Fertilitätsbehandlungen zu (Hall 2003; Steinhauer 1999).
. Abb. 3.3. Zwillingsstudien Verhaltensgenetiker führten Zwillingsstudien durch, um die Einflüsse der Gene, der gemeinsamen Umwelt und der einzigartigen oder nicht gemeinsamen Umwelt voneinander zu trennen. Nach Lisa Legrand, William Iacono und Matt McGue, 2005
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
die Rate entsprechend auf das 5,5-fache. McGue u. Lykken schlossen aus diesen Daten, dass die Scheidungsraten zu ungefähr 50% auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. Auch andere Dimensionen weisen auf genetische Einflüsse hin. So unterzogen Loehlin u. Nichols (1976) 850 amerikanische Zwillingspaare mehreren Tests und stellten fest, dass sich eineiige Zwillinge in vielen Aspekten wie beispielsweise Fähigkeiten, persönlichen Merkmalen und Interessen ähnlicher waren als zweieiige. Allerdings berichteten die eineiigen Zwillinge auch häufiger als zweieiige, gleich behandelt worden zu sein. Sind demnach eher ihre Erfahrungen als ihre Gene für diese Ähnlichkeit verantwortlich? Loehlin u. Nichols verneinen dies: Eineiige Zwillinge, die von ihren Eltern nahezu gleich erzogen wurden, waren sich psychologisch nicht ähnlicher als unterschiedlich behandelte eineiige Zwillinge.
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© Bob Sacha Photography, www.bobsacha.com
Schweden hat das größte staatliche Zwillingsregister – mit über 140.000 lebenden und verstorbenen Zwillingspaaren –, die Bestandteil eines riesigen europäischen Registers mit 600.000 Zwillingen sind. Aus ihm werden im Moment die Teilnehmer an der größten Zwillingsstudie der Welt nach dem Zufall ausgewählt (Wheelwright 2004). 7 www.genomeutwin.org
Eineiige Zwillinge sind Doppelgänger Die eineiigen Zwillinge Gerald Levey and Mark Newman wurden nach der Geburt getrennt und wuchsen in verschiedenen Familien auf. Bei einem Wiedersehen im Alter von 31 Jahren entdeckten sie, dass sie beide zur freiwilligen Feuerwehr gehörten. In der Forschung konnte man bemerkenswerte Ähnlichkeiten bei den Lebensentscheidungen getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge nachweisen; dies liefert gute Argumente für genetische Einflüsse auf die Persönlichkeit
»In einigen Bereichen sieht es so aus, dass sich unsere Zwillinge, die zusammen aufwuchsen, … einander genauso ähnlich sind wie die getrennt aufwachsenden Zwillinge. Das ist nun aber ein erstaunlicher Befund, und ich kann Ihnen versichern, dass keiner von uns diesen Grad an Ähnlichkeit erwartet hätte.« Thomas Bouchard (1981)
Getrennt aufwachsende Zwillinge Stellen Sie sich folgendes Sciencefiction-Experiment vor: Ein skrupelloser Wissenschaftler beschließt, eineiige Zwillinge nach der Geburt voneinander zu trennen und sie dann in verschiedenen Umwelten aufzuziehen. Aber halten wir uns lieber an eine wahre Geschichte: An einem kühlen Samstagmorgen in Ohio wachte im Februar 1979 Jim Lewis in seinem kleinen mittelständischen Haus neben seiner zweiten Frau Betty auf. Er war vor einiger Zeit von seiner ersten Frau Linda geschieden worden. Jim, der ein romantischer und leidenschaftlicher Typ ist, hatte sich vorgenommen, dass diese Ehe nun halten sollte, und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, für Betty überall im Haus Zettelchen mit Liebesbezeugungen zu hinterlassen. Als Jim so im Bett lag, dachte er an die Menschen, die er geliebt hatte, besonders an seinen Sohn James Alan und seinen treuen Hund Toy. Jim hatte sich in einer Kellerecke einen Arbeitsplatz eingerichtet und freute sich darauf, einige Stunden seinem Schreinerhobby zu widmen. Beim Anfertigen von Möbeln, Bilderrahmen, einigen anderen Gegenständen und vor allem einer runden weißen Bank um einen Baum in seinem Vorgarten hatte er viele zufriedene Stunden verbracht. Jim fuhr in seiner Freizeit auch gerne seinen Chevy durch die Gegend, sah sich Formel-1-Autorennen an und trank Bier der Marke »Miller Lite«. Im Großen und Ganzen konnte man Jim als gesund bezeichnen. Nach einer Vasektomie konnte er keine Kinder mehr zeugen, und sein Blutdruck war etwas hoch, was vielleicht auf sein Kettenrauchen zurückzuführen war. Er kaute exzessiv Fingernägel. Außerdem hatte er Migräne – Kopfschmerzen, die jeweils einen halben Tag andauerten – »das ist so, als schlüge dir jemand mit einer Holzlatte ins Genick«. Vor einer Weile schon war er etwas übergewichtig geworden, hatte aber schon wieder einige Pfunde abgenommen. Das Ungewöhnliche an Jim Lewis war (und das ist jetzt keine Erfindung!), dass es zur selben Zeit einen anderen Mann gab, der auch Jim hieß und für den all diese Dinge einschließlich des Namens, den er seinem Hund gegeben hatte, ebenfalls zutrafen. (Mit einem kleinen Unterschied: Jim Lewis nannte seinen Sohn James Alan. Jim Springer fügte in den Namen ein weiteres L ein und nannte seinen Sohn James Allan.) Der andere Jim – Jim Springer – war 38 Jahre zuvor sein Mitbewohner im Mutterleib gewesen. 37 Tage nach ihrer Geburt wurden diese genetisch gleichen Zwillinge voneinander getrennt, jeweils von einer Arbeiterfamilie adoptiert und wuchsen ohne Kontakt miteinander und ohne Wissen über den Verbleib des anderen auf – bis an einem Februartag Jim Lewis’ Telefon klingelte. Der Anrufer war sein genetischer Klon (der sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, nachdem ihm von seinem Zwilling erzählt worden war). Einen Monat nach diesem schicksalsträchtigen Zusammentreffen wurden die Brüder als erstes Zwillingspaar von Thomas Bouchard und seinen Kollegen an der Universität von Minnesota getestet. So entstand eine Studie mit getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die bis heute fortgesetzt wird (Holden 1980a; 1980b; Wright 1998). Nachdem man Persönlichkeit, Intelligenz, Herzfrequenz und Gehirnwellen untersucht hatte, stellte man fest, dass sich die Zwillinge trotz ihrer 38 Jahre andauernden Trennung praktisch so ähnlich waren, als wäre dieselbe Person 2-mal getestet worden. Intonation und Modulation der Stimme ähnelten sich derartig, dass Jim Springer sagte: »Das bin ich«, als er hörte, wie ein Interview mit seinem Bruder auf Tonband vorgespielt wurde. Die eineiigen Zwillinge Oskar Stohr und Jack Yufe wiesen genauso erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Der eine wurde im nationalsozialistischen Deutschland von der Großmutter als Katholik aufgezogen, der andere hingegen von seinem Vater als Jude in der Karibik. Trotzdem haben sie
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jede Menge gemeinsamer Merkmale und Gewohnheiten. Sie mögen scharfes Essen und süße Liköre, haben die Gewohnheit, vor dem Fernseher einzuschlafen, betätigen die Toilettenspülung, bevor sie die Toilette benutzen, bewahren Gummibänder am Handgelenk auf und tunken Toast in ihren Kaffee. Stohr tritt als Pascha gegenüber Frauen auf und schreit seine Frau an, wie dies auch Yufe vor seiner Scheidung tat. Beide heirateten eine Frau namens Dorothy Jane Scheckelburger. Gut, das Letzte war nur ein Witz. Wie jedoch Judith Rich Harris (2006) anmerkt, ist es kaum verrückter, als einige andere Zufälle, die berichtet werden. Mit Hilfe von Zeitungsannoncen haben Bouchard et al. (1990; DiLalla et al. 1996; Segal 1999) 80 nicht gemeinsam aufgewachsene Zwillingspaare ausfindig gemacht und untersucht. Sie fanden Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur auf Geschmack und Körpermerkmale bezogen, sondern auch auf die Persönlichkeit, Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen und sogar Ängste. In Schweden stießen Pedersen et al. (1988) auf 99 getrennt lebende eineiige und mehr als 200 getrennt lebende zweieiige Zwillingspaare. Im Vergleich zu einer Stichprobe aus gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen hatten die getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge eher voneinander abweichende Persönlichkeiten – charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Dennoch waren sich die getrennt aufgewachsenen, genetisch gleichen Zwillinge immer noch ähnlicher als zweieiige. Eine Trennung kurz nach ihrer Geburt (im Gegensatz zu beispielsweise im Alter von 8 Jahren) bewirkte keine Zunahme ihrer Persönlichkeitsunterschiede. Bouchards Kritiker, die uns daran erinnerten, dass »der Plural von Anekdote nicht Belege heißt«, ließen sich von den aufregenden Geschichten über die Ähnlichkeiten der Zwillinge nur wenig beeindrucken. Sie behaupten, dass zwei beliebige, einander unbekannte Menschen, die stundenlang ihre Verhaltens- und Lebensgeschichten vergleichen müssten, mit hoher Wahrscheinlichkeit viele zufällige Ähnlichkeiten entdecken würden. Würden denn Paare, die zu einer von den Forschern gebildeten Kontrollgruppe aus biologisch nicht verwandten Paaren des gleichen Alters, des gleichen Geschlechts und der gleichen ethnischen Gruppe gehörten und nicht zusammen aufgewachsen waren, sich aber bezüglich ihres wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrundes genauso ähnlich wären wie viele der getrennt aufgewachsenen Zwillinge, nicht genauso frappierende Ähnlichkeiten aufweisen (Joseph 2001)? (Bouchard entgegnet darauf, dass sich getrennt aufwachsende zweieiige Zwillinge in Bezug auf ihre Ähnlichkeiten nicht mit getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen vergleichen lassen. Und Nancy Segal (2000) merkt an, dass »virtuelle Zwillinge« – biologisch nicht verwandte Stief- oder Adoptivgeschwister des gleichen Alters – auch viel unähnlicher sind). Selbst die besonders eindrucksvollen Befunde aus der Persönlichkeitsdiagnostik werden davon überschattet, dass sich viele der Zwillinge bereits einige Jahre vor Durchführung der Tests wiedergefunden hatten. Sie haben dasselbe Aussehen und können mit denselben Reaktionen darauf rechnen. Die Stellen, die über Adoptionen entscheiden, versuchen, voneinander getrennte Zwillinge in ähnlichen familiären Verhältnissen unterzubringen. Trotz dieser Kritik haben die erstaunlichen Ergebnisse der Zwillingsstudien dazu geführt, dass genetischen Einflüssen in wissenschaftlichen Theorien immer mehr Bedeutung beigemessen wird.
3.1.3 Adoptionsstudien Ziel 5: Beschreiben Sie, wie Verhaltensgenetiker Adoptionsstudien nutzen, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt besser zu verstehen.
Ein weiteres praktisches, realitätsnahes Experiment, die Adoption, führt zu zwei Gruppen von Verwandten: den genetischen Verwandten (biologische Eltern und Geschwister) und denjenigen, mit denen die Adoptivkinder eine gemeinsame Umwelt teilen (Adoptiveltern und -geschwister). Bei der Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen kann man daher immer danach fragen, ob Adoptivkinder eher ihren Adoptiveltern gleichen (die Teil der Familienumwelt sind) oder ihren biologischen Eltern (die die Gene beisteuerten). Können adoptierte Kinder, die gemeinsam mit den leiblichen Kindern eines Paares aufwachsen und demnach denselben familiären Bedingungen ausgesetzt sind, auch dieselben Persönlichkeitsmerkmale entwickeln wie die biologischen Kinder?
Zufälle sind nicht nur Zwillingen vorbehalten. Patricia Kern aus Colorado wurde am 13. März 1941 geboren und Patricia Ann Campbell genannt. Patricia DiBiasi aus Oregon wurde ebenfalls am 13. März 1941 geboren und ebenfalls Patricia Ann Campbell genannt. Beide hatten Väter, die den Namen Robert trugen, als Buchhalter arbeiteten und zu dieser Zeit Kinder im Alter von 19 und 21 Jahren hatten. Beide machten eine Ausbildung als Kosmetikerin, hatten Ölmalerei als Hobby und heirateten in einem Abstand von 11 Tagen Männer, die beim Militär arbeiteten. Im genetischen Sinne gibt es zwischen den beiden keine Verwandtschaft. (Aus einem AP Bericht vom 2. Mai 1983)
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Das völlig überraschende Forschungsergebnis aus Untersuchungen, die an Hunderten von Adoptivfamilien durchgeführt wurden, lautet, dass sich zusammen aufwachsende Menschen wenig in Bezug auf ihre Persönlichkeitsmerkmale ähneln, und zwar unabhängig von ihrer biologischen Verwandtschaft (McGue u. Bouchard 1998; Plomin et al. 1998; Rowe 1990).
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! Adoptivkinder haben in ihren Persönlichkeitsmerkmalen (Extraversion, Verträglichkeit etc.) mehr Ähnlichkeiten mit ihren biologischen Eltern als mit den für sie sorgenden Adoptiveltern.
Familienbande Studien über Adoptivfamilien lieferten neue Erkenntnisse zu Erb- und Umwelteinflüssen. Adoptierte Kinder teilen mit ihren Adoptiveltern viele Werte und Einstellungen, doch neigen die Persönlichkeiten adoptierter Kinder dazu, das genetische Vermächtnis ihrer biologischen Eltern in den Vordergrund treten zu lassen
»Mag sein, dass Mama ein ›Full House‹ auf der Hand hat und Papa einen ›Straight Flush‹: Wenn der Junior von jedem eine Zufallshälfte bekommt, mag sein Pokerblatt dennoch das Blatt eines Verlierers sein.« David Lykken (2001)
Das Ergebnis ist so bedeutsam, dass man es noch einmal wiederholen sollte: Die Umweltfaktoren, die für die Kinder innerhalb einer Familie die gleichen sind, haben praktisch keinen Einfluss. Zwei in derselben Familie aufgewachsene, adoptierte Kinder haben in Bezug auf ihre Persönlichkeitsmerkmale ebenso wenig miteinander gemein wie mit irgendeinem Kind, das nur in derselben Gegend wohnt. Die Anlagen formen die Persönlichkeit auch bei anderen Primaten. So etwa bei Schimpansen: Die Anlage formt die Persönlichkeit und weniger die Tatsache, dass sie im selben Zoo aufwachsen (Weiss et al. 2000). So zeigen Makaken, die von Pflegemüttern großgezogen werden, ein Sozialverhalten, das eher dem ihrer biologischen Mütter ähnelt als dem ihrer Pflegemütter (Maestripieri 2003). Dies sollte zusammen mit dem Befund gesehen werden, dass sich eineiige Zwillinge so ähnlich sind, wie wir es aufgrund ihrer gemeinsamen Gene erwarten würden, ob sie nun zusammen oder getrennt aufwachsen; und die Auswirkung einer Umwelt, in der sie gemeinsam groß werden, scheint bestürzend gering zu sein. Pinker (2002) behauptet, dass wir hier vielleicht »auf das wichtigste Puzzle in der Geschichte der Psychologie« gestoßen sind: Warum sind Kinder aus derselben Familie so unterschiedlich? (Sogar biologische Geschwister sind oft auffallend unterschiedlich.) Warum haben die gemeinsamen Gene und die gemeinsame Umwelt (soziale Schicht, Persönlichkeit der Eltern, gemeinsam oder allein erziehend, Erziehung in Ganztagesstätten oder zu Hause, Wohngegend) so wenig deutlich erkennbare Auswirkungen auf die Persönlichkeiten der Kinder? Liegt es daran, dass jedes Kind dennoch verschiedene Erfahrungen macht und verschiedenen Einflüssen durch Altersgenossen und Lebensereignisse unterliegt? Oder ist es eher darauf zurückzuführen, dass die Beziehungen zwischen Geschwistern zur Entfremdung führen, was wiederum ihre Unterschiede verstärkt? Geht es darauf zurück, dass Geschwister, obwohl sie die Hälfte der Gene gemeinsam haben, sehr unterschiedliche Genkombinationen aufweisen? Wirkt sich der elterliche Einfluss deshalb auf ein gelassenes Kind anders aus als auf ein Kind, das stark emotional reagiert? »Kindererziehung ist nichts, was die Eltern einem Kind antun«, bemerkt Harris (1998). »Es ist etwas, was Eltern und Kinder zusammen machen ... Ich wäre bei meinem ersten Kind als nachgiebige und bei meinem zweiten Kind als herrische Mutter abgestempelt worden.« Ist die Erziehung von Adoptivkindern somit ein sinnloses Unterfangen? Nein. ! Die genetischen Vorgaben begrenzen den Einfluss der Familienumwelt auf die Persönlichkeit, aber die Eltern beeinflussen Einstellungen, Werte, das Benehmen, Vorstellungen in Glaubensfragen und politische Auffassungen ihrer Kinder (Brodzinsky u. Schechter 1990).
Die größere Einheitlichkeit von Adoptivfamilien – meist gesunde, positiv auf die Kinder einwirkende Familien – trägt zur Erklärung der Tatsache bei, dass es nicht so viele auffallende Unterschiede gibt, wenn man die Ergebnisse bei unterschiedlichen Adoptivfamilien miteinander vergleicht (Stoolmiller 1999).
Zwei adoptierte Kinder oder eineiige Zwillinge verfügen über ähnlichere religiöse Vorstellungen, wenn sie dasselbe Zuhause haben, vor allem solange sie als Jugendliche noch im Elternhaus wohnen (Kelley u. deGraaf 1997; Rohan u. Zanna 1996). Die Erziehung hat also durchaus eine Bedeutung! Darüber hinaus sind Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern und sogar Ehescheidungen bei Adoptiveltern selten. (Adoptiveltern werden im Gegensatz zu leiblichen Eltern sorgfältig überprüft.) Es überrascht folglich nicht, dass sich die meisten Adoptivkinder trotz eines größeren Risikos für psychische Störungen gut entwickeln, vor allem wenn sie als Kleinkinder adoptiert wurden (Benson et al. 1994; Wierzbicki 1993). In Intelligenztests erreichen sie höhere Werte als ihre biologischen Eltern. Sieben von acht Kindern berichten, dass sie sich einem oder beiden Adoptivelternteilen stark verbunden fühlen. Als Kinder von sich selbst aufopfernden Eltern wachsen sie so auf, dass sie sich auch selbst mehr einbringen und altruistischer verhalten als der Durchschnitt (Sharma et al. 1998). Und im Allgemeinen werden sie glücklicher und stabiler, als sie es in einer gestressten und vernachlässigenden Umgebung geworden wären. In einer schwedischen Studie wuchsen adoptierte Kleinkinder mit weniger Problemen auf als Kinder, de-
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ren biologische Mütter sie zuerst zur Adoption freigeben wollten und sich dann doch anders entschieden hatten (Bohman u. Sigvardsson 1990). Gleichgültig wie groß die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Eltern und ihren Adoptivkindern sind, die Kinder profitieren von der Adoption.
3.1.4 Studien zum Temperament Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt, wie stark der Einfluss der Vererbung auf die Entwicklung ist.
Die meisten Eltern mit zwei Kindern berichten, dass sich Babys bereits vor ihrem ersten Atemzug voneinander unterscheiden. Wir wollen uns nun mit einem früh erkennbaren Aspekt der Persönlichkeit beschäftigen: Das Temperament eines Kindes drückt sich in seiner angeborenen emotionalen Erregbarkeit aus – ob es aufbrausend und intensiv reagiert, herumzappelt oder ob es Dinge eher leicht nimmt, ruhig und gelassen ist. Schwierige Babys sind bereits in den ersten Lebenswochen irritierbarer, reagieren heftiger und weniger vorhersagbar. Dagegen gelten »einfache« Babys als vergnügt, entspannt und in Bezug auf Füttern und Schlafen als besser vorhersagbar (Chess u. Thomas 1987). Eltern, die besonders sensibel für die Unterschiede zwischen ihren Kindern sind, nehmen deren Temperament sogar als noch unterschiedlicher wahr, als es ist (Saudino et al. 2004). Doch es gibt tatsächlich Temperamentsunterschiede, und sie bleiben bestehen. Schauen Sie sich die folgenden Ergebnisse an: 4 Die Neugeborenen, die am stärksten emotional reagieren, zeigen diese Reaktionsbereitschaft auch im Alter von 9 Monaten (Wilson u. Matheny 1986; Worobey u. Blajda 1989). 4 Vier Monate alte Säuglinge, die auf wechselnde Situationen mit einem gekrümmten Rücken, strampelnden Beinen und Schreien reagieren, sind in ihrem 2. Lebensjahr gewöhnlich ängstlich und gehemmt. Jene, die mit einem entspannten Lächeln reagieren, erweisen sich dagegen als angstfrei und kontaktfreudig (Kagan 1990). 4 Extrem gehemmte und furchtsame 2-Jährige sind oft auch als 8-Jährige noch relativ schüchtern; ungefähr die Hälfte davon entwickelt sich zu introvertierten Erwachsenen (Kagan et al. 1992, 1994). 4 Die meisten der heftig reagierenden Vorschulkinder zeigen auch als junge Erwachsene vergleichsweise vehemente Reaktionen (Larsen u. Diener 1987). Eine immer noch laufende Langzeitstudie mit 900 Neuseeländern ergab, dass stark emotional reagierende und impulsive Kinder sich zu noch impulsiveren, aggressiveren und konfliktsuchenden 21-Jährigen entwickelten (Caspi 2000). Vergleicht man ein- und zweieiige Zwillinge, so sind sich die eineiigen Zwillinge bezogen auf das Temperament ähnlicher. Dies deutet darauf hin, dass die Anlage möglicherweise zu Temperamentsunterschieden prädisponiert (Emde et al.1992; Gabbay 1992; Robinson et al. 1992). Ein weiteres Befundmuster geht auf physiologische Tests zurück, die zeigen, dass ängstliche, gehemmte Kinder einen erhöhten und unregelmäßigen Herzschlag sowie ein leicht erregbares Nervensystem haben und dass sie mit einer stärkeren physiologischen Erregung reagieren, wenn sie mit neuen und fremden Situationen konfrontiert werden (Kagan u. Snidman 2004). Derartige Befunde führen ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass unser in der Biologie verankertes Temperament an der Bildung unserer überdauernden Persönlichkeit beteiligt ist (McCrae et al. 2000; Rothbart et al. 2000).
Temperament (temperament): charakteristische emotionale Reaktionsbereitschaft und Reaktionsstärke eines Menschen.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
3.1.5 Erblichkeit Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und Gruppen anwenden lässt, und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass Gene selbstregulierend sind.
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Erblichkeit (heritability): Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede auf Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population und den untersuchten Umweltbedingungen variieren.
Anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien können Verhaltensgenetiker die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals mathematisch berechnen, d. h. das Ausmaß, in dem die Unterschiede zwischen Individuen auf ihre unterschiedlichen Gene zurückgeführt werden können. Wenn die Erblichkeit von Intelligenz z. B. 50% beträgt, so bedeutet das nicht, dass die Intelligenz eines Menschen zu 50% genetisch bedingt ist (7 Kap. 11). (Wenn der Erblichkeitsgrad für die Körpergröße 90% beträgt, heißt dies nicht, dass eine 1,70 m große Frau 153 cm ihren Genen und die restlichen 17 cm ihrer Umwelt zuschreiben kann). Es bedeutet vielmehr, dass wir 50% der beobachteten Variation unter Menschen genetischen Einflüssen zuschreiben können. Es ist unsinnig, zu sagen, Ihre Persönlichkeit gehe zu x Prozent auf Ihre Anlagen und zu y Prozent auf Ihre Umwelt zurück. Dieser Punkt wird so häufig missverstanden, dass ich es wiederholen möchte: ! Wir können nicht sagen, zu welchem Prozentsatz die Persönlichkeit oder Intelligenz einer bestimmten Person vererbt ist. Bei prozentualen Angaben zur Erblichkeit geht es vielmehr um das Ausmaß, in dem die Unterschiede zwischen Menschen allgemein in Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal auf Gene zurückzuführen sind.
Sogar diese Schlussfolgerung muss differenziert werden, da die Erblichkeit von einer Studie zur anderen variieren kann. Würden wir dem Vorschlag des für seine sarkastischen Beschreibungen bekannten Schriftstellers Mark Twain (1835–1910) folgen, Jungen bis zum Alter von 12 Jahren in Fässern aufzuziehen und sie durch ein Loch zu füttern, würden sie einen vergleichsweise geringen Intelligenzquotienten aufweisen. Da sie alle unter den gleichen Umweltbedingungen leben, könnte man dann jedoch die individuellen Unterschiede bezüglich ihres Intelligenzquotienten als 12-Jährige ausschließlich auf Vererbungsfaktoren zurückführen. Mit anderen Worten: Die intellektuellen Unterschiede zwischen ihnen wären zu fast 100% anlagebedingt. ! Je ähnlicher die Umweltbedingungen sind, desto größer wird der Stellenwert der Vererbung als Erklärung für die Unterschiede.
Hätten alle Schulen die gleiche Qualität, alle Familien eine gleich liebevolle Atmosphäre und funktionierte das Leben in allen sozialen Gemeinschaften gleichermaßen gut, so würde die Erbanlage – also die genetisch bedingten Unterschiede – mehr Gewicht bekommen (da Unterschiede, die auf die Umwelt zurückgeführt werden könnten, abnehmen). Andererseits wäre der Einfluss der Erbanlage relativ gering, wenn alle Menschen ähnliche Erbfaktoren hätten, aber in drastisch unterschiedlichen Umgebungen aufwüchsen (z. B. einem Fass im Gegensatz zu einer gut situierten Familie).
Gruppenunterschiede Wenn genetische Einflüsse zur Erklärung der individuellen Vielfalt bei Persönlichkeitsmerkmalen wie Aggressivität beitragen, stellt sich die Frage, ob das nicht auch auf Gruppenunterschiede zwischen Männern und Frauen und zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zutrifft. Die Antwort lautet: nicht notwendigerweise. Individuelle Unterschiede z. B. in Bezug auf Körpergröße und Gewicht sind zu einem Großteil vererbt. Will man erklären, warum die Gruppe der Erwachsenen heute größer und kräftiger ist als im letzten Jahrhundert, so muss man jedoch eher Ernährungs- als genetische Einflüsse heranziehen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich nicht etwa, weil sich die menschlichen Gene innerhalb dieser winzigen Zeitspanne von einem Jahrhundert verändert hätten. Was für die Größe und das Gewicht zutrifft, gilt auch für Werte in Persönlichkeits- und Intelligenztests: Vererbbare Unterschiede zwischen Individuen müssen keine vererbbaren Gruppenunterschiede mit sich bringen. Auch wenn einige Menschen eine stärkere genetische Disposition für die Entwicklung von Aggressivität haben, erklärt das nicht, warum sich einige Gruppen aggressiver
111 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
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verhalten als andere. Versetzt man Menschen in einen neuen sozialen Kontext, kann sich dadurch ihre Aggressivität verändern. Die friedvollen Skandinavier von heute tragen viele Gene in sich, die ihnen von ihren Wikingervorfahren vererbt wurden.
Anlage und Umwelt Die wichtigste gemeinsame Eigenschaft der Menschen ist ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Sie ist zugleich ein untrügliches Verhaltenskennzeichen unserer Art. Einige menschliche Merkmale wie z. B. die Tatsache, dass wir zwei Augen haben, entwickeln sich praktisch in jeder Umwelt gleich. Doch die psychologisch interessantesten Merkmale kommen erst in einer spezifischen Umwelt zum Ausdruck. Wir kennen alle das Verlangen nach Essen, doch je nach unserem kulturell erlernten Geschmack stürzen wir uns auf Fischaugen, schwarzen Bohnensalat oder Hühnerbeine. Gehen Sie einen Sommer lang barfuß, dann bekommen Sie zähe, mit Schwielen bedeckte Füße; dies ist eine biologische Anpassung an die Reibung. Gleichzeitig wird Ihr Schuhe tragender Nachbar seine zarten Füße behalten. Der Unterschied zwischen Ihnen beiden ist natürlich umweltbedingt. Gleichzeitig ist er auch das Ergebnis eines biologischen Mechanismus. Unsere gemeinsame biologische Ausstattung ermöglicht uns die Entwicklung unserer Vielfalt (Buss 1991). Eine Analogie kann dies weiter veranschaulichen: Die Gene und die Umwelt – Vererbung und äußere Einflüsse – arbeiten mit vereinten Kräften wie zwei Hände beim Klatschen. Gene geben nicht nur den Code für bestimmte Proteine vor, sie reagieren auch auf ihre Umwelt. Ein afrikanischer Schmetterling, der im Sommer grün ist, ändert im Herbst aufgrund eines genetischen Schalters, der von der Außentemperatur gesteuert wird, seine Farbe: Er wird braun. »Das Genom lässt dem Schmetterling die Wahl zwischen zwei Dingen, zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten. Es diktiert sie ihm nicht auf: ›Du musst diese Form annehmen‹«, erklärt Gary Marcus (2004). »Es sagt: ›Wenn du in dieser Situation bist, kann du diese Form annehmen; wenn du in einer anderen Situation bist, kannst du diese andere Form annehmen.‹« Gene sind also selbstregulierend. Statt als Planvorgaben zu handeln, die egal in welchem Kontext immer zu demselben Ergebnis führen, reagieren die Gene. Menschen mit denselben Genen, aber einem unterschiedlichen Erfahrungshintergrund haben somit eine ähnliche, aber nicht dieselbe psychische Ausstattung. Ein Zwilling kann sich in eine Person verlieben, die ganz anders ist als die, in die sich der Zwillingsbruder verliebt. Wie wir in 7 Kap. 16 erfahren werden, wird mindestens ein Gen, das wir kennen, in Reaktion auf bedeutsame stressvolle Lebensereignisse den Code für ein Protein bereitstellen, das die Neurotransmitterfunktionen steuert, die der Depression zugrunde liegen. Für sich genommen ist das Gen nicht die Ursache der Depression, aber es ist Bestandteil des Rezeptes für die Depression. Somit ist die Frage, ob Ihre Persönlichkeit eher ein Produkt Ihrer Gene oder Ihrer Umwelt ist, vergleichbar damit, dass man darüber rätselt, ob die Nässe des Wassers auf seine Wasserstoff- oder Sauerstoffmoleküle zurückzuführen ist oder ob sich die Fläche eines Feldes eher aus seiner Länge oder seiner Breite ergibt. Wir könnten jedoch die Frage stellen, ob die unterschiedlichen Flächen verschiedener Felder eher das Ergebnis von Unterschieden in der Länge oder in der Breite sind und ob die Unterschiede zwischen einer Person und einer anderen eher durch die Anlage oder die Umwelt beeinflusst werden. ! Betrachtet man psychologische Phänomene, so sind die Unterschiede zwischen Menschen nahezu immer sowohl auf genetische Einflüsse als auch auf Einflüsse der Umwelt zurückzuführen.
So sind auch Essstörungen genetisch beeinflusst (um schon einmal einen Ausblick auf interessante Themen zu geben, mit denen wir uns später noch eingehender beschäftigen werden): Bestimmte Menschen haben ein größeres Risiko als andere. Im Übrigen trägt auch die Kultur ihren Teil dazu bei; denn Essstörungen gelten momentan in erster Linie als ein Phänomen westlicher Kulturen.
»Die Gene sind für das Gehirn so wichtig wie die Zündkerze für den Motor eines Autos. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Hinreichenden. Das Potenzial einer Zündkerze wird nur umgesetzt, wenn man sie in einen Motor einbaut, wenn sich der Motor in einem Auto befindet und wenn es einen Fahrer hat.« Die Neurowissenschaftlerin Susan Greenwald in »Alcohol on the Brain« (2002)
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
3.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion »Die Erbanlage verteilt die Karten, die Umwelt spielt das Blatt aus.« Charles L. Brewer (1990)
Ziel 8: Nennen Sie ein Beispiel für ein genetisch beeinflusstes Persönlichkeitsmerkmal, das bei anderen Reaktionen hervorrufen kann, und ein weiteres Beispiel für eine Umwelt, die eine Genaktivität auslösen kann.
Anlage-Umwelt-Interaktion Die Menschen reagieren nicht in gleicher Weise auf einen Rowan Atkinson (Mr. Bean) wie auf seinen Schauspielerkollegen Orlando Bloom
Wenn man sagt, dass sowohl die Gene als auch Erfahrungen wichtig sind, ist das nicht falsch. Präziser ausgedrückt müsste man jedoch sagen, dass sie interagieren. Stellen Sie sich zwei Babys vor, von denen das eine genetisch prädisponiert ist, attraktiv, kontaktfreudig und unbeschwert zu sein, während das andere nur eine geringe Prädisposition für diese Eigenschaften mitbringt. Nehmen Sie weiter an, dass das erste Baby mehr liebevolle und anregende Fürsorge erhält als das zweite und sich insofern zu einer warmherzigeren und offeneren Person entwickelt. Wenn es älter wird, sucht sich das von Natur aus offenere Kind häufiger Aktivitäten und Freunde, die zum Aufbau weiteren sozialen Zutrauens ermutigen. Was führte nun am Ende zu den Persönlichkeitsunterschieden? Weder die Vererbung noch die Erfahrung haben für sich genommen einen Einfluss. Umwelten lösen eine Genaktivität aus. Und unsere genetisch beeinflussten Persönlichkeitsmerkmale rufen bedeutsame Reaktionen bei anderen hervor. Bei einem Lehrer z. B., der sonst eher freundlich auf vorbildliche Klassenkameraden des Kindes reagiert, löst die Impulsivität und Aggressivität eines Kindes möglicherweise Ärger aus. Auch Eltern verhalten sich gegenüber ihren Kindern unterschiedlich; ein Kind verleitet sie dazu, es zu bestrafen, das andere nicht. In diesen Fällen interagieren die Anlage des Kindes und die Erziehung durch die Eltern. Keins von beiden funktioniert unabhängig vom anderen. Anlage und Umwelt agieren gemeinsam. Beziehungsreiche Interaktionen helfen uns dabei, zu verstehen, warum sich in unterschiedlichen Familien aufgewachsene, eineiige Zwillinge an die Herzlichkeit ihrer Eltern in bemerkenswert ähnlicher Weise erinnern – fast so ähnlich, als hätten sie dieselben Eltern gehabt (Plomin et al. 1988, 1991, 1994). Zweieiige Zwillinge erinnern sich an erhebliche Variationen in ihrem frühen Familienleben – sogar dann, wenn sie in der gleichen Familie aufgezogen wurden. »Je nachdem, welche Eigenschaften Kinder selbst haben, erleben sie uns als andere Eltern«, merkt Sandra Scarr (1990) an. Außerdem suchen wir uns mit zunehmendem Alter die Umweltbedingungen, die gut zu uns passen. So sind wir vom Augenblick unserer Entstehung an das Ergebnis einer Kaskade von Interaktionen zwischen unseren genetischen Prädispositionen und den uns umgebenden Umweltbedingungen. Cinetext/Allstar
Cinetext/Allstar
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Interaktion (interaction): Die Auswirkung eines Faktors (z. B. der Umwelt) hängt von einem anderen Faktor ab (z. B. den Anlagen).
! Unsere Gene bewirken, wie Menschen auf uns reagieren und uns wiederum beeinflussen. Biologische Phänomene haben soziale Konsequenzen.
Die Frage, ob Gene oder Erfahrungen wichtiger sind, ist deshalb ähnlich wie die Frage, ob das Lenkrad oder der Motor wichtiger für das Autofahren ist. Lassen Sie uns also die Debatte »Anlage oder Umwelt« vergessen; wenden wir uns lieber der Frage zu, wie äußere Einflüsse vermittelt über die Erbanlagen wirken.
3.1.7 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und Gefahren der molekulargenetischen Forschung bestehen.
Molekulargenetik (molecular genetics): Teilgebiet der Biologie, das sich mit der Untersuchung der molekularen Struktur und Funktion von Genen befasst.
Verhaltensgenetiker sind mittlerweile über die Frage »Beeinflussen Gene unser Verhalten?« hinweg. Die neue Herausforderung in der verhaltensgenetischen Forschung ist die »Bottom-up«Suche (konzeptgeleitete Suche) der Molekulargenetik, um die spezifischen Gene zu identifizieren, die letztlich das Verhalten beeinflussen. So stellte der Psychologe Plomin (1997) fest: »Der DNAZug verlässt den Bahnhof« – und die Psychologen springen schnell auf.
113 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
Wie wir bereits gesehen haben, werden beim Menschen die meisten Merkmale durch Gruppen von Genen beeinflusst. So wird zwar aus Zwillings- und Adoptionsstudien berichtet, dass sich die Vererbung auf das Körpergewicht auswirkt; doch es gibt nicht ein einzelnes »Übergewichtsgen«. Wahrscheinlicher ist, dass einige Gene Einfluss darauf ausüben, wie schnell der Magen dem Gehirn mitteilt: »Ich bin voll.« Andere Gene geben möglicherweise vor, wie viel Energie die Muskeln verbrauchen, wie viele Kalorien durch Herumzappeln verbrannt werden und wie wirkungsvoll der Körper zusätzliche Kalorien in Fett umwandelt (Vogel 1999). ! Das Ziel der molekularen Verhaltensgenetik besteht darin, einige der vielen Gene zu finden, die normale Merkmale des Menschen beeinflussen, wie etwa das Körpergewicht, die sexuelle Orientierung und die Extraversion.
Mit Hilfe genetischer Tests lässt sich jetzt bei mindestens einem Dutzend Krankheiten herausfinden, für welche Unterpopulation ein Erkrankungsrisiko besteht. In Laboren rund um die Welt, in denen Molekulargenetiker mit Psychologen zusammenarbeiten, geht die Suche weiter. Sie wollen Gene ausfindig machen, die für bestimmte Menschen ein Risiko für solche genetisch beeinflussten Störungen wie Lernstörungen, Depression, Schizophrenie, Aggressivität und Alkoholismus darstellen. In 7 Kap. 17 werden wir z. B. auf die weltweiten Forschungsanstrengungen zur Entdeckung von Genen hinweisen, auf die die erhöhte Anfälligkeit für die emotionalen Schwankungen der bipolaren Störung zurückgeht (früher als manisch-depressive Störung bekannt). Um herauszufinden, welche Gene daran beteiligt sind, suchen Molekulargenetiker Verbindungen zwischen spezifischen Genen oder Chromosomsegmenten und bestimmten Erkrankungen. Zuerst suchen sie Familien, in denen eine bestimmte Störung über mehrere Generationen hinweg bestanden hat. Anschließend entnehmen sie Blutproben oder Speichelabstriche sowohl bei betroffenen als auch bei nicht betroffenen Familienmitgliedern und untersuchen ihre DNA auf Unterschiede. »Das stärkste Potenzial der DNA«, so Plomin u. Crabbe (2000), »liegt in der Vorhersage eines Risikos, so dass entsprechende Schritte eingeleitet werden können, um bestimmte Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen.« Mit Hilfe neuer, erschwinglicher DNA-Scan-Techniken (optisches Abtasten) werden die Mediziner bald in der Lage sein, werdenden Eltern mitzuteilen, wie stark die Gene ihres Fötus vom normalen Muster abweichen und welche Bedeutung das hat. Dieser Vorteil ist jedoch auch mit Risiken verbunden. Könnte es z. B. zu einer Diskriminierung führen, wenn man einen Fötus als »lernstörungsgefährdet« abstempelt? Die pränatale Diagnostik führt zu ethischen Problemen. Für werdende Eltern ist es bereits leicht möglich, das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. In China und Indien, wo Jungen einen hohen Stellenwert haben, hat der Test, mit dem die Geschlechtszugehörigkeit des Nachkommen untersucht wird, selektive Abtreibungen ermöglicht und zu Millionen (!) »fehlender Frauen« geführt. Eine neue Technik, mit deren Hilfe sich Spermien mit männlichen oder weiblichen Chromosomen sortieren lassen, könnte es künftigen Eltern ermöglichen, mit einigermaßen guten Erfolgschancen das Geschlecht eines Kindes bereits vor seiner Zeugung auszuwählen. Die Möglichkeiten zur Schaffung von »Designer-Babys« werden natürlich eingeschränkt durch die Tatsache, dass man viele Gene benötigt, um das mit komplexen Umwelten interagierende Verhalten zu beeinflussen. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich: Sollten dann künftige Eltern ihre Eizelle und seine Samenzellen in einem gentechnischen Labor untersuchen lassen, bevor sie verschmelzen und ein Embryo entsteht? Bevor Sie sich spöttisch über diese Möglichkeit äußern, erinnern Sie sich daran, wie entsetzt die Menschen noch vor einem viertel Jahrhundert über die In-vitro-Fertilisation (»Zeugung im Reagenzglas«) waren. Heute ist es üblich, dass unfruchtbare Paare diese Behandlung verlangen. Vor einem halben Jahrhundert regten sich die Menschen über die Art von Kontrolle auf, die Aldous Huxley in seinem Roman »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) ausmalt: Regierungsbeauftragte konstruieren eine Gesellschaft, indem sie Babys in Treibhäusern ausbrüten, die je nach ihrem genetischen Design Rollen wie kluge »Alphas« und schwachköpfige »Epsilons« zugewiesen bekommen. Wright (1999) meint, dass in der heutigen, einsichtigeren neuen Welt Millionen von Eltern, wenn sie die Wahl hätten, nach Gesundheit und vielleicht nach Denkvermögen, Schönheit und Sportlichkeit auswählen würden. ! Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert: Er führt sowohl zu hoffnungsvollen Möglichkeiten als auch zu schwierigen Problemen.
»Unsere Vorhersage lautet, dass die DNA die psychologische Forschung und Therapie schon sehr früh im 21. Jahrhundert revolutionieren wird.« Robert Plomin und John Crabbe (2000)
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Indem wir bestimmte Persönlichkeitsmerkmale einfach durch Selektion verschwinden lassen, werden wir vielleicht verhindern, dass künftig Händels, van Goghs, Hölderlins und Nietzsches, Churchills und Lincolns, Tolstois und Dickinsons auf die Welt kommen – sie waren allesamt Menschen mit großen Problemen. Lernziele Abschnitt 3.1 Verhaltensgenetik: Vorhersage individueller Unterschiede
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Ziel 1: Geben Sie Beispiele an für Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der großen Familie Mensch. Wir Menschen unterscheiden uns auf vielerlei Weise voneinander und ähneln uns gleichzeitig. Wir unterscheiden uns in Bezug auf die Persönlichkeit, die Interessen, das Äußere, den Familienhintergrund, die Kultur und die Muttersprache. Zu unseren Ähnlichkeiten gehören die biologischen Anlagen und Bedürfnisse, der uns allen gemeinsame Aufbau des Gehirns, unsere Fähigkeit, Sprache zu verwenden, die Sinne, mit denen wir die Welt um uns herum erkunden und unser Sozialverhalten.
sam; deshalb sind sie genetisch einander nicht ähnlicher als alle anderen Geschwister. Wenn bei beiden eineiigen Zwillingen ein Merkmal vorhanden ist (wie etwa Extraversion), aber nur bei einem der zweieiigen Zwillinge haben die Forscher einen Hinweis darauf, dass Vererbung eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieses Merkmals spielen könnte. Solche Vergleiche sind eine reichhaltige Informationsquelle, wenn die Zwillinge nach der Geburt (oder kurz danach) voneinander getrennt wurden; denn dadurch können die Forscher klarer erkennen, welche Auswirkungen die Vererbung in unterschiedlichen Umwelten hat.
Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgenetiker interessieren. Verhaltensgenetiker interessieren sich vor allem für das Ausmaß, in dem die Genetik und die Umwelt unser Verhalten beeinflussen und dabei individuelle Unterschiede bewirken. In diesem Kontext umfasst Umwelt jeden äußeren nichtgenetischen Aspekt unseres Lebens, von der pränatalen Ernährung bis zu den uns momentan umgebenden Menschen und Dingen.
Ziel 5: Beschreiben Sie, wie Verhaltensgenetiker Adoptionsstudien nutzen, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen. Adoptierte Kinder bringen die genetischen Anlagen ihrer biologischen Eltern in eine Umwelt ein, die von ihren Adoptivfamilien geschaffen wird. Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den biologischen Verwandten sind ein Indikator dafür, welchen Einfluss die Vererbung hat. Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den Adoptivverwandten sind ein Hinweis darauf, welchen Einfluss die Umwelt hat. Adoptierte Kinder neigen dazu, ihren biologischen Eltern in ihrer Persönlichkeit zu ähneln (den für sie charakteristischen Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns) und ihren Adoptiveltern in ihren Wertvorstellungen, Einstellungen, ihrem Benehmen, ihrem Glauben und ihren politischen Tendenzen.
Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, ein Gen und ein Genom. Beschreiben Sie die Beziehungen dieser Begriffe zueinander. In jeder Zelle haben wir 46 Chromosomen – 23 von der Mutter und 23 vom Vater. Chromosomen sind fadenartige Strukturen, die aus DNA bestehen, ein spiralförmiges komplexes Molekül, das die Gene enthält. Unsere etwa 30.000 Gene sind DNA-Segmente, die, wenn sie angeschaltet werden, Schablonen für die Schaffung verschiedener Proteinmoleküle bilden, den Bausteinen für unsere körperliche Entwicklung und für die Entwicklung des Verhaltens. Ein Genom ist das genetische Profil eines Organismus – der vollständige Satz an Instruktionen zum Aufbau dieses Organismus; es besteht aus dem gesamten genetischen Material in seinen Chromosomen. Kombinationen von Variationen an bestimmten Genorten tragen dazu bei, die Unterschiede zwischen uns festzulegen. Die meisten Merkmale des Menschen werden von vielen zusammenwirkenden Genen beeinflusst und kommen nicht durch den Einfluss eines einzelnen allein agierenden Gens zustande. Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, und geben Sie die Methoden an, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen. Eineinige Zwillinge entwickeln sich aus einer Eizelle, die sich nach der Befruchtung in zwei Zellen teilt. Sie haben den gleichen Satz an Genen gemeinsam, eine ähnliche pränatale Umgebung und gewöhnlich dieselbe Familie und Kultur nach der Geburt. Zweieiige Zwillinge entwickeln sich aus voneinander getrennten befruchteten Eizellen und haben eine Familie sowie eine soziokulturelle Umgebung nach der Geburt gemein-
Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt, wie stark der Einfluss der Vererbung auf die Entwicklung ist. Das Temperament, also das charakteristische Niveau und die Intensität der emotionalen Reaktionsbereitschaft, kommt schon bald nach der Geburt zum Ausdruck und bleibt gewöhnlich bis ins Jugendalter relativ unverändert. Dies deutet darauf hin, dass bei der Entwicklung des Temperaments die Anlage eine viel größere Rolle spielt als die Umwelt. Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und Gruppen anwenden lässt, und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass Gene selbstregulierend sind. Erblichkeit beschreibt das Ausmaß, in dem die Unterschiedlichkeit der Individuen den Genen zugeschrieben werden kann. Dies ist nur auf Unterschiede zwischen Individuen anwendbar – nicht auf eine einzelne Person. In einem imaginären Experiment, mit dem sich identische Umwelten schaffen ließen, wären alle beobachteten Unterschiede zwischen Menschen (z. B. in Bezug auf das Gewicht) das Ergebnis von Vererbung, und in Bezug auf dieses Merkmal wäre die Erblichkeit hundertprozentig. Vererbbare individuelle Unterschiede in Bezug auf Merkmale wie Größe oder Intelligenz müssen nicht notwendigerweise eine Erklärung für Gruppenunterschiede sein. Gene erklären vor allem, warum manche größer sind als andere, aber nicht, warum die Menschen heutzutage 6
115 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
größer sind als vor einem Jahrhundert. Wenn man sagt, Gene seien selbstregulierend, bedeutet dies, dass die Gene keine Baupläne sind; sie können auf unterschiedliche Umwelten unterschiedlich reagieren. Ziel 8: Geben Sie ein Beispiel an für ein genetisch beeinflusstes Persönlichkeitsmerkmal, das bei anderen Reaktionen hervorrufen kann, und nennen Sie ein weiteres Beispiel einer Umwelt, die eine Genaktivität auslösen kann. Einige Merkmale des Menschen (wie etwa zwei Augen zu haben) entwickeln sich in jeder Umwelt, aber viele wichtige psychologische Merkmal ergeben sich aus der Interaktion zwischen unseren genetischen Prädispositionen und der uns umgebenden Umwelt. Beispielsweise kann eine stressreiche Umwelt Gene zur Aktivität bringen, die die Produktion von Neurotransmittern beeinflussen, die ihrerseits zu einer Depression beitragen. Und eine genetische Prädisposition, die ein Kind dazu bringt, unruhig und hyperaktiv zu sein, kann bei Eltern und Lehrern Ärgerreaktionen auslösen.
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Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und Gefahren der molekulargenetischen Forschung bestehen. Molekulargenetiker untersuchen die molekulare Struktur der Gene und ihre Funktion; dabei suchen sie nach jenen Genen, die Verhaltensweisen beeinflussen. Psychologen und Molekulargenetiker arbeiten zusammen bei der Suche nach bestimmten Genen – oder häufiger Gruppen von Genen –, durch die Menschen anfällig für bestimmte Krankheiten sind. Das Wissen über derartige Zusammenhänge wird es Medizinern möglich machen, werdende Eltern darüber zu informieren, dass ihr Fötus von den normalen Mustern abweicht. Man wird über die ethischen Fragen sprechen müssen, die mit solchen Wahlmöglichkeiten verbunden sind, wenn sich Eltern dafür entscheiden können, ein Kind abzutreiben, das nicht mit ihrem Bild von einem idealen Kind übereinstimmt. > Denken Sie weiter: Würden Sie genetische Tests an Ihrem ungeborenen Kind in der Gebärmutter durchführen lassen? Was täten Sie, wenn Sie wüssten, Ihr Kind wäre zu einer Hämophilie (Bluterkrankheit), einer Schizophrenie oder einer Lernstörung verdammt? Wäre es von Vorteil oder Nachteil für die Gesellschaft, wenn solche Kinder abgetrieben würden?
Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
Ziel 10: Beschreiben Sie den Teilbereich der Psychologie, für den sich die Evolutionspsychologen interessieren.
Bei der Molekulargenetik geht es um eine hier und jetzt angewendete Methode, um Verhaltensweisen und Merkmale zu identifizieren, die Individuen zu etwas Charakteristischem machen. Die Vertreter der Evolutionspsychologie konzentrieren sich meist darauf, was uns Menschen einander so ähnlich macht. Um zu verstehen, wie diese Prinzipien wirken, lassen Sie uns zunächst auf ein einfaches Beispiel eingehen: auf Füchse.
3.2.1 Natürliche Selektion Ziel 11: Erklären Sie das Prinzip der natürlichen Selektion, und geben Sie einige mögliche Auswirkungen der natürlichen Selektion auf die Entwicklung der Merkmale des Menschen an.
Ein Fuchs ist ein unbändiges und misstrauisches Tier. Wenn Sie einen Fuchs einfangen und versuchen, sich mit ihm anzufreunden, rate ich Ihnen, auf der Hut zu sein. Stecken Sie Ihre Hand in den Käfig und der scheue Fuchs kann nicht fliehen, so wird er wahrscheinlich Ihre Finger verspeisen. Dmitri Belyaew vom Institut für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wissenschaften fragte sich, wie unsere Vorfahren es bewerkstelligt haben, die Hunde, die von genauso wilden Wölfen abstammen, zu zähmen. Er überlegte, ob er es schaffen würde, in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne ein ähnliches Kunststück zu vollbringen, und einen furchtsamen Fuchs in einen kontaktfreudigen Fuchs verwandeln könnte. Dieses Ziel vor Augen begann Belyaew, mit 30 männlichen und 100 weiblichen Füchsen zu arbeiten. Von ihren Nachkommen wählte er die zahmsten 5% der männlichen und die zahmsten 20% der weiblichen Füchse aus und paarte sie (er erforschte die Zähmbarkeit durch die Reaktion der Füchse auf Fütterungs- und Berührungsversuche wie Anfassen und Stoßen). Über 30 Fuchsgenerationen hinweg wiederholten Belyaew und seine Mitarbeiterin Lyudmilla Trut diese einfache
Evolutionspsychologie (evolutionary psychology): die Untersuchung der Evolution des Verhaltens und des Denkens mit Hilfe der Prinzipien der natürlichen Selektion.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
L. N. Trut, American Scientist (1999) 87: 160–169
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»Zahm wie ein Fuchs« Nach 40 Jahren Experimenten mit der Aufzucht von Füchsen sind die meisten Nachkommen treu, anhänglich und dazu fähig, starke Bindungen an den Menschen aufzubauen
Natürliche Selektion (natural selection): Prinzip, dass von den unterschiedlichen vererbten Merkmalen eher diejenigen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, die zu vermehrter Reproduktion und zum Überleben führen. Mutation (mutation): Zufallsfehler bei der Genreplikation, der zu einer Veränderung führt.
Vorgehensweise. Heute, mehr als 40 Jahre und 45.000 Füchse später, haben sie eine neue Aufzucht von Füchsen, die nach Trut (1999) »sanftmütig und kontaktfreudig sind und unzweifelhaft als gezähmt gelten können. … Da das aggressive Verhalten des wilden Rudels (Vorfahren) vollständig verschwand, verwandelte sich das wilde Tier vor unseren Augen in ein zahmes Haustier.« Sie sind derart zugänglich und versessen auf menschliche Kontakte – sie lieben es zu winseln, um Aufmerksamkeit zu erregen, und lecken Menschen ab wie anhängliche Katzen –, dass das mittellose Institut dazu überging, seine Füchse als Haustiere zu vermarkten, um sich zusätzliche finanzielle Mittel zu erschließen. Wie Belyaew und Trut zeigen konnten, können bestimmte Merkmale selektiert werden und nach einer gewissen Zeit überwiegen, indem man einem einzelnen Lebewesen oder einer Art einen Vorteil bei der Fortpflanzung einräumt. So können wilde Wölfe über viele Generationen hinweg zu gezähmten Haushunden werden und misstrauische Füchse anhängliche Nachfahren haben. Plomin et al. (1997) erinnern uns daran, dass auch Hunde für spezielle Aufgaben gezüchtet wurden: z. B. Hirtenhunde zum Hüten der Schaf- oder Rinderherden, Apportierhunde, Such- und Spürhunde für die Jagd. Psychologen züchteten ebenfalls Hunde, Mäuse und Ratten, deren Gene sie dazu prädisponierten, gelassen oder schnell zu reagieren und schnelle oder langsame Lerner zu sein. Im Leben außerhalb des Labors verschafft derselbe Selektionsprozess bestimmten Lebewesen einen Vorteil gegenüber anderen. Vor langer Zeit war tief unten im Meer ein mutierter Hai mit einem schärferen Geruchssinn in der Lage, mehr Beute zu finden, was ihm ein längeres Leben und mehr Nachwuchs ermöglichte. Da die Natur über unzählige Generationen hinweg immer wieder die Haie begünstigte, die am besten an ihre ökologische Nische angepasst waren, entwickelte sich ein ausgesprochen effektives Raubtier. Während Ihrer Lebenszeit hat sich ein viel kleineres Raubtier entwickelt: Bakterien, die im Krankenhaus eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt haben, vermehrten sich schneller, während die weniger resistenten Bakterien ausstarben. Mit der Zeit war die natürliche Folge, dass viele Krankenhäuser unter einer Plage antibiotikaresistenter Bakterien zu leiden haben. Kann die natürliche Selektion auch die menschliche Entwicklung erklären? Die Natur hat tatsächlich vorteilhafte Variationen unter den Mutationen (Zufallsfehler in der Genkopie) und unter den mit jeder Empfängnis entstehenden neuen Genkombinationen selektiert. Neigen wir, wie zuvor vermutet, zur Furcht vor Schlangen und Höhen, da unsere Vorfahren wegen ebendieser Furcht mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebt und ihre Gene weiterverbreitet haben? Vielleicht. Aber die spezifischen genetischen Anlagen, die Ameisen zum Bau eines Hügels oder Hunde zum Schnüffeln prädisponieren, sind wie eine straff geführte Leine: Sie geben einen engen Korridor für ein bestimmtes Verhalten vor. Anders beim Menschen: Unsere Gene, die im Lauf der Geschichte unserer Vorfahren selektiert wurden, sind weitaus mehr als eine lange Leine, an der wir uns bewegen: Sie statten uns mit einer großen Lernfähigkeit und somit einer Fähigkeit aus, uns an ein Leben unter verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen – von der Tundra bis hin zum Dschungel. Sowohl die Gene als auch Erfahrungen beeinflussen die Nervenverbindungen in unserem Gehirn. ! Evolutionspsychologen betonen, dass unsere Flexibilität bei der Anpassung der Reaktionen auf verschiedene Umweltbedingungen zu unserer Leistungsfähigkeit beiträgt – und somit zu unserer Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit.
Insgesamt betrachtet sind die Lebensweisen über alle Kulturen hinweg dennoch verblüffend ähnlich. Schauen Sie sich im internationalen Ankunftsbereich des Frankfurter Flughafens um, wo Passagiere aus der ganzen Welt eintreffen und von ihren freudig erregten Angehörigen erwartet werden. Sie werden sehen, dass die Gesichter aller Großmütter aus Jamaika, aller chinesischen Kinder und aller heimkehrenden Briten genauso vor Freude strahlen. Obwohl es eher die Unterschiede zwischen Menschen sind, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, müssen auch die großen Ähnlichkeiten erklärt werden. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (2002, S. 73) glaubt, dass die gemeinsamen Merkmale der Menschen »durch die natürliche Selektion geformt wurden, die im Laufe der Evolution des Menschen wirksam war«. Dann ist es kein Wunder, dass unsere Emotionen, Triebe und Denkfähigkeiten »über die Kulturen hinweg einer gemeinsamen Logik unterliegen«.
117 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
Diese Ähnlichkeiten in Bezug auf Verhalten und Biologie sind das Resultat unseres gemeinsamen menschlichen Genoms. Nicht mehr als 5% der genetischen Unterschiede zwischen Menschen gehen auf Unterschiede zwischen den Gruppen in der Population zurück. Mehr als 95% der genetischen Variation tritt innerhalb einer Population auf (Rosenberg et al. 2002). Der spezifische genetische Unterschied zwischen zwei isländischen Dorfbewohnern oder zwischen zwei Kenianern ist viel größer als der durchschnittliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen. Der Genetiker Lewontin (1982) wies deshalb darauf hin, dass, selbst wenn nach einer weltweiten Katastrophe nur Isländer und Kenianer überleben würden, die menschliche Spezies lediglich eine im Grunde »belanglose Reduktion« ihrer genetischen Vielfalt hinnehmen müsste. Warum sind wir einander so ähnlich? In den Anfängen der menschlichen Geschichte waren unsere Vorfahren mit bestimmten Fragen konfrontiert: Wer ist mein Verbündeter, wer mein Gegner? Welche Nahrung soll ich zu mir nehmen? Mit wem soll ich Nachkommen zeugen? Manche Individuen beantworteten diese Fragen mit mehr Erfolg als andere. Beispielsweise prädisponiert manche Frauen das Erlebnis, dass ihnen in den wichtigen ersten drei Monaten der Schwangerschaft schlecht wird, dazu, bestimmte bittere, intensiv schmeckende und neuartige Nahrungsmittel zu meiden. Die Meidung dieses Essens hat einen Sinn fürs Überleben, da es sich gerade um jene Nahrungsmittel handelt, die am häufigsten Gift für die embryonale Entwicklung sind (Schmitt u. Pilcher 2004). Diejenigen, die es schafften, gesunde anstelle von giftiger Nahrung zu sich nehmen, überlebten und konnten ihre Gene an spätere Generationen weitergeben; diejenigen, die Leoparden für nette Streicheltiere hielten, überlebten oft nicht. Ähnlich erfolgreich waren jene, die sich einen Partner suchten, mit dem sie sich fortpflanzen und ernähren konnten. Über Generationen hinweg gingen gewöhnlich die Gene der Individuen, die diese Disposition nicht hatten, dem menschlichen Genpool verloren. Als sich weitere Mutationen ereigneten, wurden jene Gene selektiert, die einen Vorteil für die Anpassung mit sich brachten. Nach den Aussagen der Evolutionspsychologen ergaben sich daraus Verhaltenstendenzen und ein Denk- und Lernvermögen, das schon unsere Vorfahren im Steinzeitalter zum Überleben, zur Fortpflanzung und damit zur Weitergabe ihrer Gene an zukünftige Generationen befähigte. Die Natur entschied sich für die überlebensfähigsten Anpassungsmuster, die auch die Unterschiedlichkeit des Menschen berücksichtigen und es somit Bewohnern des Äquators und der Antarktis ermöglichen, in ihren unterschiedlichen Umwelten zu gedeihen. ! Als Erbträger unseres prähistorischen genetischen Vermächtnisses sind wir zu Verhaltensweisen prädestiniert, die bei unseren Vorfahren die Fähigkeit förderten, zu überleben und sich fortzupflanzen.
Wir lieben den Geschmack von Süßem und Fettem, Dinge, die einst schwer zu bekommen waren, aber unsere Vorfahren dazu befähigten, in Hungersnöten zu überleben. Da Hungersnöte in westlichen Kulturen selten auftreten und Süßigkeiten und Fette uns ständig aus den Geschäftsregalen, Imbisstheken und Verkaufsautomaten anlachen, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Dickleibigkeit bei uns zu einem immer größeren Problem geworden ist. Unsere natürlichen Dispositionen, die tief in unserer Geschichte verwurzelt sind, passen einfach nicht zu unserer heutigen Umwelt mit all ihrem Fastfood (Colarelli u. Dettman 2003). In gewisser Weise sind wir biologisch für eine Welt konzipiert, die es gar nicht mehr gibt. Seit langem ist die Evolution als organisierendes Prinzip der Biologie anerkannt. Jared Diamond (2001) merkt an, dass »praktisch kein zeitgenössischer Wissenschaftler glaubt, Darwin habe sich grundlegend geirrt«. Darwins Theorie lebt weiter als Organisationsprinzip für die Biologie und erst vor kurzem durch die »Zweite Darwinsche Revolution« für die Psychologie. Charles Darwin (1859) nahm die Anwendung der Evolutionstheorien auf die Psychologie vorweg: In der Zusammenfassung seines Werkes »The Origin of Species« (dtsch. »Der Ursprung der Arten«) sah er »offene Felder für weitaus wichtigere Forschungen voraus. Die Psychologie wird auf einer neuen Grundlage basieren« (S. 346). Und Darwin hatte Recht: Evolutionspsychologen interessieren sich dabei heute beispielsweise für folgende Fragen: 4 Warum beginnen Kinder zu fremdeln, sobald sie sich fortbewegen können? 4 Warum ist es bei biologischen Vätern sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie ihre Kinder missbrauchen und ermorden, als bei nicht verwandten Partnern, die mit den Kindern zusammenleben?
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
4 Warum kümmern sich die meisten Eltern so hingebungsvoll um ihre Kinder? 4 Warum haben so viel mehr Menschen Angst vor Spinnen und Schlangen als vor Waffen und Elektrizität, die eigentlich gefährlicher sind? 4 In welcher Hinsicht ähneln sich Männer und Frauen? Wie und warum unterscheiden sich Männer von Frauen? Warum deuten Männer z. B. Freundlichkeit im Vergleich zu Frauen schneller als sexuelles Interesse, initiieren eher sexuelle Beziehungen und geraten schneller vor Eifersucht in Wut, wenn ihre Partnerin sexuelle Beziehungen zu einer anderen Person hat? Lassen Sie uns eine kurze Pause machen und dieser letzten Frage nachgehen, um zu sehen, wie Evolutionspsychologen denken und argumentieren: Wie und warum unterscheiden sich aus der Sicht der Evolutionspsychologen die weibliche und die männliche Sexualität?
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3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität Sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität Ziel 12: Nennen Sie einige sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität.
Geschlecht (sex bzw. gender): in der Psychologie Bezeichnung für die biologisch (sex) oder sozial (gender) beeinflussten Charakteristika, die Menschen als männlich oder weiblich definieren.
»Das heißt nicht, dass Schwule ein übersteigertes sexuelles Interesse haben; sie sind einfach nur Männer, deren männliche Bedürfnisse mit anderen männlichen Bedürfnissen statt mit weiblichen Bedürfnissen zusammentreffen.« Steven Pinker, »Wie das Denken im Kopf entsteht« (1998, S. 587)
Angesichts vieler ähnlicher Herausforderungen in ihrer Geschichte haben Männer und Frauen ähnliche Vorgehensweisen entwickelt, um damit umzugehen. Ob wir nun männlich oder weiblich sind, wir essen das Gleiche, haben Angst vor den gleichen Höhen, meiden dieselben Raubtiere, nehmen ähnlich wahr, lernen auf ähnliche Weise und erinnern uns ähnlich. Die Evolutionspsychologen sagen, dass wir uns nur in jenen Bereichen unterscheiden, in denen wir mit unterschiedlichen Voraussetzungen zur Anpassung konfrontiert waren – am offensichtlichsten bei Verhaltensweisen, die etwas mit Fortpflanzung zu tun haben. Und da unterscheiden wir uns wirklich, berichten Baumeister et al. (2001). Die Autoren gehen der Frage nach, ob Frauen oder Männer ein stärkeres sexuelles Verlangen haben. Wer von beiden wünscht sich häufiger Sex, denkt mehr daran, masturbiert häufiger, ergreift eher die Initiative, um sexuelle Kontakte zu haben, und bringt mehr Opfer, um Sex zu bekommen? Die Antworten, von denen sie berichten, lauten immer: »die Männer«. In der Tat sind sich Segal et al. (1990, S. 244) darin einig, dass Männer – bis auf wenige Ausnahmen – mit höherer Wahrscheinlichkeit als Frauen sexuelle Aktivitäten initiieren. Dies ist einer der größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern – doch es gibt noch mehr: 4 In einer 2004 durchgeführten Befragung von 289.452 amerikanischen Studienanfängern stimmten 60% der Männer und nur 35% der Frauen der Aussage zu, »dass zwei Menschen, die sich ehrlich zueinander hingezogen fühlen, miteinander schlafen sollten, selbst wenn sie sich erst sehr kurz kennen« (Sax et al. 2004). Bei einer weiteren Befragung von 4901 Australiern (Bailey et al. 2000) berichteten 48% der Männer und 12% der Frauen: »Ich kann mir vorstellen, Gelegenheitssex mit verschiedenen Partnern zu genießen.« 4 In einer sorgfältig angelegten Befragung von 3432 US-Bürgern im Alter zwischen 18 und 59 Jahren nannten 48% der Frauen – im Gegensatz zu nur 25% der Männer – Zuneigung als Grund für ihren ersten Geschlechtsverkehr. Doch wie oft denken beide an Sex? 19% der Frauen und 54% der Männer bekannten: »jeden Tag« oder »mehrmals am Tag« (Laumann et al. 1994). 4 In einer in Deutschland im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2001) von TNS EMNID wiederholt durchgeführten Befragung zum Sexualverhalten von Jugendlichen wurden fast 5000 Mädchen und Jungen im Alter von 14–17 Jahren befragt. Es kamen Geschlechtsunterschiede dabei in verschiedenen Bereichen zum Vorschein. So legen Mädchen (66%) im Vergleich zu Jungen (48%) nach wie vor größeren Wert darauf, den ersten Geschlechtsverkehr nur mit jemandem zu haben, mit dem sie fest befreundet sind. Und nur 25% der 15-jährigen Mädchen, aber 44% der gleichaltrigen Jungen geben an, dass der erste Geschlechtsverkehr »völlig ungeplant und überraschend« kam. 4 Derartige Geschlechtsunterschiede sind sowohl bei hetero- als auch bei homosexuellen Menschen zu finden. Im Gegensatz zu lesbischen Frauen berichten schwule Männer über ein stärkeres Interesse an reinem Sex, ein vermehrtes Ansprechen auf visuelle sexuelle Stimuli und eine größere Bedeutung der körperlichen Attraktivität des Partners (Bailey et al. 1994). Bei
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amerikanischen Lesben ist es doppelt so wahrscheinlich (47%), dass sie in einer Partnerschaft leben, wie bei schwulen Männern (24%) (Doyle 2005). C. Styrsky
! Geschlechtsunterschiede in den Einstellungen gehen auch mit Verhaltensunterschieden einher.
So haben Männer mit traditionellen männlichen Einstellungen am häufigsten impulsiven Gelegenheitssex (Pleck et al. 1993). Clark u. Hatfield (1989) beobachteten diesen auffallenden Geschlechtsunterschied, als sie 1978 einige durchschnittlich aussehende männliche und weibliche studentische Hilfskräfte zu einem Spaziergang über den Campus der Florida State University schickten. Wer eine/n Angehörige/n des anderen Geschlechts sah, musste zu ihm oder ihr hingehen und sagen: »Du bist mir aufgefallen auf dem Campus, und ich finde dich sehr attraktiv. Würdest du heute Nacht mit mir schlafen?« Alle Frauen lehnten ab, einige davon waren offensichtlich irritiert (»Was ist los mit dir, du Widerling? Lass’ mich bloß in Ruhe«). Doch 75% der Männer stimmten bereitwillig zu und antworteten oft mit solchen Kommentaren wie »Warum müssen wir bis heute Nacht warten?« Clark u. Hatfield waren erstaunt über diese Ergebnisse und wiederholten ihre Studie 1982 und noch 2-mal in den späten 80er Jahren, als die Aids-Problematik in den USA allgemein bekannt war (Clark 1990). Jedes Mal willigte keine einzige Frau, wohl aber die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Männer ein, mit einer/m Unbekannten ins Bett zu gehen. Es zeigte sich auch, dass Männer herzliche Reaktionen schneller als sexuelle Avancen deuten. In zahlreichen Studien attribuieren Männer Freundlichkeit häufiger auf sexuelles Interesse als Frauen (Abbey 1978; Johnson et al. 1991). Diese Fehlattribution der von Frauen ausgehenden Herzlichkeit als Anmache trägt zur Erklärung der größeren sexuellen Selbstsicherheit bei Männern bei, entschuldigt sie aber nicht (Kenrick u. Trost 1987). Die negativen Konsequenzen können von sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung bei einer Verabredung reichen. Ohhhh no! Das wird wieder nix…
Natürliche Selektion und Vorlieben bei der Partnerwahl Ziel 13: Geben Sie evolutionstheoretische Erklärungen für Geschlechtsunterschiede bei der Sexualität.
Biologen erklären das Paarungsverhalten zahlreicher Arten mit der natürlichen Selektion. Diese dient auch den Evolutionspsychologen als Erklärung dafür, dass Frauen beim Sex eher Beziehungsaspekte wichtig finden, während bei Männern die sexuelle Entspannung im Vordergrund steht. In der Zeit, in der eine Frau normalerweise ein einziges Kind austrägt und stillt, kann ein Mann seine Gene über viele andere Frauen weiterverbreiten. Unser natürliches Verlangen ist die Methode, wie sich unsere Gene reproduzieren. Bereits bei unseren Vorfahren gaben Frauen ihre Gene durch kluge Partnerwahl an zukünftige Generationen weiter. Männer dagegen suchten sich viele Partnerinnen. »Menschen sind lebende Fossilien – eine Ansammlung von Mechanismen, die durch früheren Selektionsdruck entstanden sind«, so der Evolutionspsychologe Buss (1995). Was finden heterosexuelle Männer und Frauen denn nun attraktiv am anderen Geschlecht? Einige Aspekte der Attraktivität scheinen unabhängig von Zeit und Ort zu sein. In 37 Kulturen – von Australien bis Sambia – bewerten Männer Frauen mit einer jugendlichen Ausstrahlung als attraktiver. Nach Ansicht der Evolutionspsychologen hatten Männer, wenn sie sich deshalb zu gesunden Frauen hingezogen fühlten, die fruchtbar wirkten und mit ihrer weichen Haut und jugendlichen Figur viele kinderreiche Jahre versprachen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihre Gene an zukünftige Generationen weiterzugeben. Ganz unabhängig von kulturell unterschiedlichen Vorstellungen über das Idealgewicht fühlen sich Männer überall auf der Welt am meisten von Frauen angezogen, deren Taille gut ein Drittel schmaler ist als ihre Hüften; denn dies wird als Zeichen künftiger Fruchtbarkeit interpretiert (Singh 1993). Auch Frauen fühlen sich zu gesund aussehenden Männern hingezogen, wenn auch insbesondere zu jenen, die reif, dominant, kühn und wohlhabend aussehen (Singh 1995). Nach Ansicht der Evolutionspsychologen stehen solche Attribute für die Fähigkeit zu Versorgung und Schutz (Buss 1996, 2000; Geary 1998). Ca. 150 Studien über Geschlecht und Risikoverhalten demonstrierten, dass Männer in 14 von 16 Bereichen (einschließlich intellektuellem Risikoverhalten, physischen Herausforderungen, Rauchen und Sex) eher dazu bereit sind, ein Risiko einzugehen (Byrnes et al. 1999). Wenn es um den Aktienmarkt geht, neigen sie auch dazu, optimistischer zu sein und offensiver mit Aktien zu handeln (Jacobe 2003; Myers 2002). Als Erklärung dafür, warum 16–24 Jahre
Der berühmte kanadische Bulle Starbuck Holstein zeugte mehr als 200.000 Nachkommen.
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. Abb. 3.4. Weltweite Vorlieben bei der Partnerwahl Wenn Männer stärker als Frauen attraktive körperliche Merkmale, die auf Jugend und Gesundheit – und auf ein Fortpflanzungspotenzial – hindeuten, und wenn Frauen stärker als Männer Partner mit finanziellen Rücklagen und einem höheren sozialem Status bevorzugen, können wir das der natürlichen Selektion zurechnen (oder ihr die Schuld daran geben). Die roten Punkte geben an, in welchen 37 Kulturen die Untersuchung durchgeführt wurde (Buss 1994)
With kind permission of American Scientist.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
alte Männer mehr Wagemut zeigen und deshalb nahezu mit 3-mal höherer Wahrscheinlichkeit bei Autounfällen ums Leben kommen als junge Frauen, spekulierte Nell (2002), dass sich »die jungen Männer genau so verrückt aufführen wie der Pfau und der Rehbock, die beim Nahen des Löwen herumtänzeln und sagen: ›Schau mich an! Ich verfüge über so viel Kraft und Fähigkeiten, dass ich furchtlos sein kann – ich werde überleben, ganz gleich, wie viel ich trinke oder wie schnell ich fahre‹«. Evolutionspsychologen merken an, dass Frauen Partner bevorzugen, die ein Potenzial für eine lange Partnerschaft haben und sich für ihre gemeinsamen Nachkommen einsetzen (Gangestad u. Simpson 2000). Sie wollen lieber einen Mann haben, der zu Hause bleibt, als einen, der ständig ausgeht. Langzeitpartner tragen zum Schutz und zur Versorgung bei, wodurch die Kinder größere Überlebensaussichten haben. Letztlich müssen Männer einen genetischen Kompromiss finden zwischen dem Wunsch nach einer weiten Verbreitung ihrer Gene und der Bereitschaft, die Elternrolle zu übernehmen. ! Nach Meinung der Evolutionspsychologen gilt folgendes Prinzip: Die Natur wählt Verhaltensweisen aus, die es wahrscheinlicher werden lassen, dass sich die eigenen Gene künftig ausbreiten (. Abb. 3.4).
Als mobile Gentransportmaschinen sind wir dafür ausgestattet, solchen Verhaltensweisen den Vorzug zu geben, die auch für unsere Vorfahren innerhalb ihrer Umwelt nützlich waren. Sie waren dazu prädisponiert, so zu handeln, dass sie Enkel und Urenkel bekommen; wären sie es nicht gewesen, dann gäbe es uns gar nicht. Als Träger ihres genetischen Erbes haben wir ähnliche Prädispositionen.
3.2.3 Kritik am evolutionspsychologischen Ansatz Ziel 14: Fassen Sie die Kritik an evolutionspsychologischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen zusammen, und stellen Sie die Antworten der Evolutionspsychologen auf diese Kritik dar.
Es gibt auch kritische Stimmen zur Evolutionspsychologie, wobei die natürliche Selektion von Persönlichkeitsmerkmalen und ihr Einfluss auf das Überleben der Gene nicht in Frage gestellt werden. ! Es wird kritisiert, dass von einem bestimmten Effekt (z. B. dem unterschiedlichen Verhalten der Geschlechter in der Sexualität) im Nachhinein auf eine Erklärung geschlossen wird.
Stellen Sie sich vor, wir machen eine ganz andere Beobachtung und schließen zurück. Wenn sich alle Männer ihren Partnerinnen gegenüber gleichermaßen loyal verhielten, müssten wir dann
121 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
nicht schlussfolgern, dass die Kinder von engagierten, sie umsorgenden Vätern häufiger überlebt und deren Gene weitergegeben haben? Täten Männer nicht besser daran, wenn sie mit nur einer Frau zusammen wären, um die ansonsten geringe Anzahl an Befruchtungen zu erhöhen und die Frau von Avancen konkurrierender Männer abzuschirmen? Könnte nicht eine ritualisierte Verbindung wie die Ehe die Frauen auch vor männlichen Belästigungen bewahren? Tatsächlich werden solche Argumente als evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Vorliebe für monogame Beziehungen herangezogen. Nach Miller et al. (2002) sind die Eigenschaften, die Männer und Frauen bei einem Partner suchen, »bemerkenswert ähnlich«, obwohl der Wunsch nach zahlreichen Sexualpartnern bei Männern stärker ausgeprägt ist als bei Frauen. Doch wie kommt es dann, dass sich bei Arten wie den gewöhnlichen Bonobo-Schimpansen die leidenschaftlichen Weibchen mit zahlreichen Männchen paaren? Führt dieses Verhalten dazu, dass die Männchen, die nicht wissen, wer wirklich der Vater der Nachkommen ist, diese gemeinsam tolerieren und beschützen? Man kommt kaum über Erklärungen hinaus, die auf Rückschlüssen basieren, und mit denen man meist auf der sicheren Seite ist. Wie der Paläontologe Stephen Jay Gould (1997) anmerkt, handelt es sich eher »um Spekulation [und] Raterei, wie sie auf Partys üblich ist«. Einige machen sich Sorgen über die sozialen Folgen der Evolutionspsychologie. Wird hier ein genetischer Determinismus propagiert, der progressive Bestrebungen zur Veränderung der Gesellschaft im Kern trifft (Rose 1999)? Ist diese Lehre die Totengräberin für ethische Überlegungen und moralische Verantwortlichkeit? Könnte sie dazu genutzt werden, um zu rechtfertigen, dass »Männer mit einem hohen Status eine Reihe junger, fruchtbarer Frauen heiraten« (Looy 2001)? Ein Großteil dessen, was wir sind, ist nicht in uns angelegt – und das bestreiten die Evolutionspsychologen auch gar nicht. So unterliegen die Definitionen der Geschlechtsrollen kulturellen Erwartungen, und auch die Ansichten über Attraktivität sind je nach Ort und Zeit variabel. Das üppige Marilyn-Monroe-Ideal der 50er Jahre wurde in den folgenden Jahrzehnten durch das Bild der schlanken, sportlichen Frau ersetzt. Darüber hinaus könnte man vermuten, dass Männer, die dazu erzogen wurden, lebenslangen Verpflichtungen einen hohen Stellenwert zu geben, Sexualbeziehungen mit nur einer Partnerin pflegen. Im Unterschied dazu werden Frauen, deren Sozialisation Gelegenheitssex nicht mit einem Tabu belegte, möglicherweise sexuelle Beziehungen mit vielen Partnern eingehen. In gewisser Weise sind Geschlechtsrollenunterschiede bei den Vorlieben für einen Partner kulturübergreifend. Aber auch hier sind derartige Unterschiede teilweise durch die sozialen und familiären Strukturen in einer Kultur mitbedingt. Wenn Eagly u. Wood (1999; Wood u. Eagly 2002) in ihren Studien auf eine Kultur mit ungleichen Geschlechterrollen stießen – in der Männer die Versorgerrolle und Frauen die Rolle am Herd einnehmen –, so handelte es sich dabei auch um eine Kultur, in der Männer nach potenziellen Partnerinnen mit jugendlichem Aussehen und häuslichen Fähigkeiten verlangen, während sich Frauen Männer mit einem ansehnlichen Status und einem potenziell hohen Verdienst suchen. Fanden Eagly u. Wood dagegen eine Kultur, in der die Geschlechter gleichgestellt waren, so konnten sie dort im selben Maße auch die Existenz von weniger ausgeprägten Geschlechtsunterschieden bei der Partnersuche belegen. Sie zogen ihre Schlussfolgerungen aufgrund einer Analyse anhand derselben 37 Kulturen, die zuvor von David Buss (1994) untersucht worden waren. Evolutionspsychologen versichern uns, dass die Geschlechter weitaus ähnlicher sind als unterschiedlich. Sie betonen, dass Menschen über eine ausgeprägte Fähigkeit zum Lernen und damit für sozialen Fortschritt verfügen. (Wenn wir auf die Welt kommen, dann sind wir für die Anpassung und das Überleben ausgestattet, ganz gleich ob wir in Iglus oder in Baumhäusern leben). ! Evolutionspsychologen betonen die Kohärenz und die starken Argumente der Evolutionstheorien, vor allem jener, die überprüfbare Vorhersagen liefern (z. B. dass wir andere in dem Maße bevorzugen, in dem sie Gene mit uns gemeinsam haben oder unsere Zuneigung später erwidern können).
Und sie erinnern uns daran, dass die Suche danach, wie wir so geworden sind, wie wir es jetzt sind, nicht notwendigerweise eine Anweisung dafür ist, wie wir handeln sollen. Manchmal trägt es, wenn wir unsere Vorlieben verstehen, schon dazu bei, sie zu überwinden.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Lernziele Abschnitt 3.2 Evolutionspsychologie Ziel 10: Beschreiben Sie den Teilbereich der Psychologie, für den sich die Evolutionspsychologen interessieren. Evolutionspsychologen versuchen, zu verstehen, wie die natürliche Selektion Verhaltenstendenzen geprägt hat, die man bei der gesamten Spezies Mensch vorfindet.
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Ziel 11: Erklären Sie das Prinzip der natürlichen Selektion, und geben Sie einige mögliche Auswirkungen der natürlichen Selektion auf die Entwicklung der Merkmale des Menschen an. Das Prinzip der natürlichen Selektion besagt Folgendes: Unter der Vielfalt der möglichen Variationen für ein angeborenes Merkmal sind die Variationen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit an künftige Generationen weitergegeben werden, diejenigen, die die Wahrscheinlichkeit für die Fortpflanzung und für das Überleben größer werden lassen. Für unsere Vorfahren hatten die Gene, die die Fähigkeit, zu lernen und sich anzupassen, ermöglichten, einen Wert für das Überleben, wie dies auch bei jenen der Fall war, die die Menschen darauf vorbereiteten, unter Bedingungen eines Zyklus von Nahrungsmittelknappheit und -überfluss zu überleben. Dank zivilisatorischer Errungenschaften leiden wir heute nicht mehr so oft unter den Auswirkungen von Hunger. Doch bei einer genetischen Anlage, die uns dazu veranlasst, Fett zu speichern, werden wir fettleibig, wenn wir uns nicht mehr so häufig sportlich betätigen. Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie lange Zeit ein strukturierendes Element für die Biologie war, nahm die Anwendung von Evolutionsprinzipien in der Psychologie vorweg. Ziel 12: Nennen Sie einige sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität. Geschlecht bezieht sich auf die biologisch und sozial beeinflussten Charakteristika, über die wir männlich und weiblich definieren. Männer und Frauen unterscheiden sich in ihrer Einstellung zur Sexualität: Männer stimmen eher sexuellen Gelegenheitsbekanntschaften zu, denken häufiger an Sex und neigen eher dazu, Freundlichkeit als sexuelles Interesse fehlzuinterpretieren. Frauen neigen eher dazu, Zuneigung als Grund für den ersten Geschlechtsverkehr anzugeben und bei sexueller Aktivität eine Beziehungsperspektive einzunehmen. Ähnliche Unterschiede scheint es beim Sexualverhalten zu geben. Männer masturbieren öfter,
3.3
initiieren häufiger eine sexuelle Aktivität und bringen mehr Opfer, um Sex zu bekommen. Ziel 13: Geben Sie evolutionstheoretische Erklärungen für Geschlechtsunterschiede bei der Sexualität. Wenn Evolutionspsychologen die Prinzipien der natürlichen Selektion anwenden, interpretieren sie das Sexualverhalten des Menschen in dem Sinne, welchen Wert es für das Überleben hat – die Tendenz, dass Verhaltensweisen ausgewählt werden, wenn sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die eigenen Gene an künftige Generationen weitergegeben werden. Wenn sich Männer zu mehreren gesunden, offenbar fruchtbaren Partnerinnen hingezogen fühlen, so vergrößert dies ihre Chancen, sich fortzupflanzen und ihre Gene weiterzugeben. Weil Frauen Babys in sich reifen lassen und ernähren, vergrößern sie ihre eigenen Überlebenschancen und die ihrer Babys, indem sie sich Partner aus guten finanziellen Verhältnissen und mit hohem sozialen Status suchen, die das Potenzial haben, mit ihnen eine langfristige Partnerschaft aufzubauen und in die gemeinsame Nachkommenschaft zu investieren. Ziel 14: Fassen Sie die Kritik an evolutionspsychologischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen zusammen, und stellen Sie die Antworten der Evolutionspsychologen auf diese Kritik dar. Eine Kritik lautet, dass Evolutionspsychologen mit einem Effekt beginnen und dann im Nachhinein auf eine Erklärung schließen. Eine weitere besagt, dass der evolutionstheoretische Ansatz kulturelle Erwartungen und die Sozialisation in ihrer Bedeutung unterschätzt. Eine dritte besteht darin, dass die Evolutionstheorie die Menschen davon befreit, die ethische und moralische Verantwortung für ihr Sexualverhalten zu übernehmen. Evolutionspsychologen entgegnen dem, dass, wenn wir Prädispositionen verstehen, dies dazu beiträgt, sie zu bewältigen. Sie argumentieren auch mit dem Wert überprüfbarer Vorhersagen, die auf Evolutionsprinzipien beruhen, aber auch mit der Kohärenz und der Erklärungskraft dieser Prinzipien. > Denken Sie weiter: Welche Argumentation finden Sie überzeugender: die der Evolutionspsychologen oder die ihrer Kritiker? Warum?
Eltern und Gleichaltrige
Wir haben erfahren, wie unsere Gene, die in bestimmten Umwelten zum Ausdruck kommen, einen Einfluss auf Entwicklungsunterschiede haben. Aber was ist mit dem Teil von uns, der nicht in uns angelegt ist? Wenn wir durch unsere Anlagen über die Erziehung geformt werden, was sind dann die wirkungsvollsten Elemente dieser äußeren Einflüsse? Wie wird unsere Entwicklung durch die pränatale Entwicklung, die frühen Erfahrungen, die Familie, die Freunde und die Kultur geleitet, und wie trägt all dies zur Vielfalt bei?
123 3.3 · Eltern und Gleichaltrige
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3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen Die formende Umwelt, die mit den Anlagen zusammenwirkt, fängt bei der Empfängnis mit der pränatalen Entwicklung an. Nach der Geburt weitet sie sich auf unsere Familie, auf die Beziehungen zu den Gleichaltrigen (engl. »peers« oder »peer group«) und auf all unsere sonstigen Erfahrungen aus.
Pränatale Umwelt Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Bedingungen, die die Entwicklung vor der Geburt beeinflussen können.
Umweltunterschiede gibt es bereits im Mutterleib, wenn Embryos – entsprechend den Ernähungsgewohnheiten der Mütter – verschiedene Arten von Nahrung bekommen und in unterschiedlichem Maße toxischen Substanzen ausgesetzt sind (mehr darüber in 7 Kap. 4). Selbst eineiige Zwillinge sind möglicherweise nicht derselben pränatalen Umwelt ausgesetzt. Zwei Drittel der eineiigen Zwillinge haben eine gemeinsame Plazenta und insofern eine ähnlichere pränatale Umgebung (obwohl vielleicht dem einen eine bessere Blutversorgung zuteil wird und er folglich bei der Geburt mehr wiegt). Andere eineiige Zwillinge haben separate Plazenten (. Abb. 3.5). Bei dieser Anordnung sitzt eine Plazenta manchmal für den einen Zwilling an einer vorteilhafteren Stelle als für den anderen. Dies schafft Möglichkeiten für eine bessere Ernährung und für eine bessere Plazentaschranke gegen Viren. Es gibt Hinweise darauf, dass eineiige Zwillinge in separaten Plazenten im Vergleich zu eineiigen Zwillingen, die in einer gemeinsamen Plazenta heranreifen, in ihren psychologischen Merkmalen wie Selbstkontrolle und soziale Kompetenz etwas weniger Ähnlichkeiten aufweisen (Phelps et al. 1997; Sokol et al. 1995).
Frühe Erfahrungen und Gehirnentwicklung Ziel 16: Beschreiben Sie, wie Erfahrung das Gehirn verändern kann.
Aus »Brain changes in response to experience« by M. R. Rosenzweig, E. L. Bennett and M. C. Diamond. Copyright 1977 Scientific American, Inc.
Die Unterschiede in der Umwelt setzen sich außerhalb des Mutterleibs fort, wenn unsere frühen Erfahrungen die Entwicklung des Gehirns fördern. Die Erfahrung trägt zur Ausbildung der Nervenverbindungen im Gehirn bei. Dieses frühe Lernen bereitet unser Gehirn auf das Denken und den Spracherwerb und auch auf spätere Erfahrungen vor. Doch wie hinterlassen diese frühen Erfahrungen ihre Spuren im Gehirn? Rosenzweig und Krech zogen einige junge Ratten jeweils getrennt in einem Einzelkäfig auf und andere auf einem allen zugänglichen »Rattenspielplatz« (. Abb. 3.6). Als im Anschluss daran ihre Gehirne untersucht wurden, hatten die Ratten mit dem meisten Spielzeug einen Vorteil. Diejenigen, die in einer gut ausgestatteten Umwelt lebten, die eine natürliche Umgebung simulierte, entwickelten für gewöhnlich einen stärkeren und dickeren Kortex (Großhirnrinde). Rosenzweig (1984; Renner u. Rosenzweig 1987) war von seiner Ent-
. Abb. 3.5. Verschiedene Formen der Plazentaorganisation bei eineiigen Zwillingen Eineiige Zwillinge können wie alle zweieiigen Zwillinge eine separate Plazenta und Blutversorgung haben (a), oder sie können eine gemeinsame Blutversorgung über die Plazenta haben (b). Forscher befassen sich nun damit, inwieweit sich aufgrund dieser Variation spätere Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen vorhersagen lassen. (Aus Davis et al. 1995)
. Abb. 3.6. Erfahrung wirkt sich auf die Gehirnentwicklung aus Rosenzweig und Krech zogen Ratten entweder in einer Umwelt ohne Spielzeug allein auf oder zusammen mit anderen in einer Umwelt, die mit täglich wechselndem Spielzeug ausgestattet war. In 14 von 16 Wiederholungen dieses grundlegenden Experiments entwickelten die Ratten in der gut ausgestatteten Umwelt signifikant mehr Gewebe in der Großhirnrinde (im Vergleich zum restlichen Hirngewebe) als jene, die der reizarmen Umwelt ausgesetzt waren. (Aus Rosenzweig et al. 1972)
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
deckung so überrascht, dass er vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse das Experiment einige Male wiederholte. Die Effekte waren so deutlich, dass man beim Ansehen eines kurzen Videoclips allein aufgrund der Aktivität und Neugier der Ratten sagen konnte, ob sie in einer reizarmen oder gut ausgestatteten Umwelt aufgezogen worden waren (Renner u. Renner 1993). Nach 60 Tagen der Aufzucht in einer gut ausgestatteten Umwelt, so berichten Kolb u. Whishaw (1998), nimmt das Gewicht des Gehirns um 7–10% zu, und die Anzahl der Synapsen vermehrt sich um ungefähr 20% – was »eine außergewöhnliche Veränderung« ist. Derartige Ergebnisse waren Anlass dafür, dass die Lebensbedingungen für Tiere in Labors, auf Bauernhöfen und auch im Zoo verbessert wurden – aber auch für Heimkinder. Mehrere Forscherteams fanden heraus, dass sich eine Stimulation durch Berührung oder Massage sowohl auf junge Ratten als auch auf frühgeborene Babys positiv auswirkt (Field 2001; Field et al. 2004). Beide, Ratten und Kinder, die häufig berührt werden – nehmen rascher an Gewicht zu und weisen eine schnellere neurologische Entwicklung auf. Intensivstationen in Entbindungskliniken nutzen diesen Befund so, dass die Frühgeborenen mit Massagetherapie behandelt werden, so dass sie sich schneller entwickeln und die Klinik rascher verlassen können. Greenough et al. (1987) entdeckten zudem, dass wiederholte Erfahrungen das Nervengewebe einer Ratte genau an dem Ort im Gehirn verändern, der für die Verarbeitung von Erfahrungen zuständig ist. Das reifende Gehirn stattet uns mit einer Fülle von Nervenbahnen aus. Die Erfahrung trägt zum Erhalt unserer aktivierten Nervenverbindungen bei, während sie unsere nicht genutzten Nervenverbindungen degenerieren lässt. In der Pubertät kommt es dann zu einem massiven Verlust an nicht genutzten Verbindungen (dieser Prozess wird im Englischen als Pruning bezeichnet, dt. von Überflüssigem befreien). Hier an der Schnittstelle von Umwelt und Anlage aktiviert und bewahrt die gut ausgestattete Umwelt eines Kindes jene Nervenbahnen, die im Falle spärlicher Erfahrungen aufgrund von mangelndem Gebrauch abgestorben wären. Es gibt also eine biologische Realität der Früherziehung. Während der frühen Kindheit können die Kleinen am leichtesten die Grammatik und den Akzent einer Fremdsprache meistern, solange nämlich noch das Übermaß an Verbindungen abrufbereit ist. Kommt es jedoch vor der Adoleszenz nicht zu irgendeiner Auseinandersetzung mit einer geschriebenen Sprache oder Zeichensprache, so wird ein Betroffener nie irgendeine Sprache beherrschen (7 Kap. 10). Entsprechend entwickeln Menschen, die wegen eines grauen Stars während der Kindheit mit unzureichenden visuellen Erfahrungen aufwuchsen, keine normale Wahrnehmung, selbst wenn ihr Sehvermögen durch die Entfernung des grauen Stars wiederhergestellt wird (7 Kap. 6). Die Hirnzellen, die normalerweise für das Sehen zuständig sind, sterben ab oder werden für andere Zwecke umfunktioniert. Für eine optimale Gehirnentwicklung ist die normale Stimulation während der ersten Jahre von entscheidender Bedeutung.
U. Conrad-Willmann
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Neuronale Differenzierung durch frühe Spezialisierung Spieler von Streichinstrumenten, die vor dem Alter von 12 Jahren mit dem Spielen beginnen, weisen größere und komplexere Nervenschaltkreise auf, die die Finger der linken Hand kontrollieren, mit denen die Tonhöhe kontrolliert wird, als Streicher, die später mit dem Unterricht angefangen haben
»Gene und Erfahrungen sind nur zwei Arten, dasselbe zu machen – Synapsen miteinander zu verbinden.« Joseph LeDoux, »The Synaptic Self« (2002)
! Beim reifenden Gehirn scheint eine Regel besonders wichtig zu sein: Nutz es, sonst geht es verloren.
. Abb. 3.7. Ein trainiertes Gehirn Eine gut gelernte Fingerklopfaufgabe aktiviert mehr Nervenzellen im motorischen Kortex (b, orangefarbene Fläche), als vor dem Training im selben Gehirn aktiv waren (a). (Aus Karni et al. 1998)
a
b
Eigentum von Avi Kami, Leslie Ungerleider, National Institute of Mental Health
Die Hirnentwicklung endet allerdings nicht mit der Kindheit. Unser Nervengewebe verändert sich das ganze Leben hindurch. Sowohl die Umwelt als auch unsere Erbanlagen formen unsere
125 3.3 · Eltern und Gleichaltrige
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Synapsen. Anblicke, Gerüche, Berührungen und Stöße aktivieren und stärken unsere Nervenbahnen, während die übrigen mangels Benutzung schwächer werden, so wie wenig begangene Waldwege allmählich verschwinden und belebte Wege sich verbreitern. Unsere Gene geben unsere generelle Hirnstruktur vor, doch die Erfahrung weist den Weg zu den Details. Wenn ein Affe mehrere tausend Mal am Tag übt, mit einem Finger einen Hebel zu drücken, verändert sich das Hirnareal, das den Finger steuert, und es bildet auf diese Weise die Erfahrung ab. Menschliche Gehirne funktionieren ähnlich. Ob wir nun lernen, auf einem Keyboard zu spielen oder Skateboard zu fahren, wir verbessern in dem Maße unsere Fähigkeiten, in dem unser Gehirn den Lernprozess verinnerlicht (. Abb. 3.7).
Wie viel Lob (oder Tadel) haben die Eltern verdient? Ziel 17: Erklären Sie, warum wir uns dabei zurückhalten sollten, Erfolg und Versagen von Kindern dem Einfluss der Eltern zuzuschreiben.
Zwei Männer, die eineiige Zwillinge und jetzt 30 Jahre alt sind, wurden nach der Geburt voneinander getrennt und in unterschiedlichen Ländern von ihren jeweiligen Adoptiveltern aufgezogen. Beide waren ausgesprochen ordentlich und sauber bis hin zu dem Punkt, wo es ins Pathologische geht. Ihre Kleidung war makellos, Verabredungen hielten sie exakt ein, die Hände schrubbten sie regelmäßig, so dass sie schon wund gerieben und rot waren. Als der eine gefragt wurde, warum er das Bedürfnis habe, so sauber zu sein, war seine Antwort klar: ›Meine Mutter. Als ich bei ihr aufwuchs, hielt sie das Haus perfekt in Ordnung. Sie bestand darauf, dass jeder noch so kleine Gegenstand an seinen Platz zurückkam. Die Uhren – wir hatten Dutzende davon – waren alle darauf eingestellt, um 12 Uhr mittags zu läuten. Wissen Sie, sie bestand darauf. Ich lernte von ihr. Was hätte ich anderes machen sollen.‹ Der Zwillingsbruder des Mannes war genauso ein Perfektionist, wenn es um Wasser und Seife ging, und erklärte sein eigenes Verhalten folgendermaßen: ›Der Grund ist ganz einfach. Ich reagierte auf meine Mutter, die wirklich schlampig war.‹«
Auch bei Schimpansen ist es so: Wird ein Junges von einem anderen verletzt, dann greift dessen Mutter oft die Mutter des Schuldigen an (Goodall 1968).
© Ricardo Azoury/Corbis
Es kann Angst auslösen, wenn man erkennt, wie riskant es ist, Kinder zu haben und sie großzuziehen. Wie beim Kartenspiel mischen Frau und Mann bei der Fortpflanzung ihre Genkarten. Sie geben ein lebensentscheidendes Blatt an ihr künftiges Kind aus, das dann zahllosen Einflüssen ausgesetzt sein wird, die ihrer Kontrolle entzogen sind. Trotzdem sind Eltern i. Allg. sehr zufrieden mit den Erfolgen ihrer Kinder, entwickeln aber auch Schuld- und Schamgefühle, wenn diese versagen. Angesichts eines Kindes, das gerade eine Auszeichnung erhalten hat, strahlen sie vor Freude. Andererseits fragen sie sich, was sie mit ihrem Kind falsch gemacht haben, wenn sie mehrmals hintereinander ins Dienstzimmer des Schulleiters gebeten werden. Psychoanalytische Ansätze in der Psychiatrie und Psychologie ließen die Vorstellung aufkommen, »unzureichende mütterliche Fürsorge« sei die Ursache für Probleme von Asthma bis Schizophrenie. Die Gesellschaft verstärkt diese Kritik an den Eltern noch: Wer glaubt, dass Eltern ihre Nachkommen formen wie ein Töpfer den Ton, ist schnell dabei, Eltern für die Tugenden ihrer Kinder zu rühmen und sie für ihre schlechten Angewohnheiten zu tadeln. Die öffentlichen Medien schrieben immer wieder über den psychischen Schaden, den »Rabeneltern« ihren zarten, schwachen Kindern zufügen. So sah Bradshaw (1990) das »vernachlässigte, verletzte Kind« in jedem von uns als »Hauptursache für das menschliche Elend«. Ist es denn wirklich so, dass zu gutmütige – oder unbeteiligte – Eltern zukünftige Erwachsene mit einem »inneren verwundeten Kind« produzieren? Oder sind es die Eltern, die ihre Kinder zu sehr antreiben, oder die, die sich nicht durchsetzen können? Liegt das Problem vielleicht bei den überbehütenden oder etwa bei den zu distanzierten Eltern? Sind Kinder tatsächlich so leicht verwundbar? Wenn dem so ist: Ist es dann richtig, unsere Eltern für unsere Fehler und uns selbst für das Versagen unserer Kinder verantwortlich zu machen? Sollten wir Strafzettel verteilen und die Eltern für die Missetaten ihrer Kinder belangen? Oder ist es denkbar, dass durch das ganze Gerede über verletzte, schwache Kinder normaler Eltern die Brutalität einer wirklichen Misshandlung trivialisiert wird? Neubauer u. Neubauer (1990, S. 20–21) zeigen anschaulich, wie wir im Nachhinein unsere Eltern vielleicht unangemessenerweise loben oder tadeln:
Wer ist schuld? Diese Jugendlichen gehen ein großes Risiko ein, wenn sie auf dem Dach von Hochgeschwindigkeitszügen mitfahren. Warum nur? Die überraschenden Unterschiede zwischen Kindern, die in derselben Familie aufgewachsen sind, deuten auf die Grenzen des elterlichen Einflusses hin. Auch die genetischen Prädispositionen und sozialen Einflüsse prägen das Leben der Kinder
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
»Wenn Sie Ihre Eltern für Ihre eigenen Probleme als Erwachsener verantwortlich machen wollen, dann haben Sie ein Anrecht darauf, den Genen, die Sie von ihnen haben, die Schuld dafür zu geben; Sie haben aber kein Anrecht darauf, Ihre Eltern für die Art und Weise, wie sie Sie behandelt haben, verantwortlich zu machen ... Wir sind keine Gefangene unserer Vergangenheit.« Martin Seligman, »What You Can Change and What You Can’t« (1994)
! Die gemeinsamen Umwelteinflüsse, einschließlich der von Geschwistern gemeinsam erlebten familiären Einflüsse, können generell nur weniger als 10% der Unterschiede zwischen den Kindern in Persönlichkeitstests erklären.
In den Worten der Verhaltensgenetiker Plomin u. Daniels (1987) heißt das: »Zwei Kinder aus derselben Familie sind im Durchschnitt so unterschiedlich wie zwei Kinder, die zufällig aus einer Population ausgewählt werden.« Die Entwicklungspsychologin Scarr (1993) zieht daraus die Schlussfolgerung, dass »Eltern für Kinder, die sich großartig entwickeln, weniger gelobt, und für Kinder, bei denen das nicht der Fall ist, weniger gescholten werden sollten«. Obwohl die Umwelt einen Einfluss hat, »ist es unbarmherzig, den Einfluss der Umwelt zu sehr zu betonen«, behauptet Gazzaniga (1992). Warum wohl? »Weil es bei den Eltern so ankommt, als sei ihr Kind durch etwas, was sie getan – oder unterlassen – haben, verbogen worden.« Die Erziehung durch die Eltern ist vergleichbar mit der Ernährung. Es macht keinen großen Unterschied, ob wir unser Eiweiß daher bekommen, dass wir Huhn oder dass wir Rindfleisch essen, aber wir müssen Nahrung bekommen. Entsprechend macht es keinen großen Unterschied, ob wir bei Eltern aufwuchsen, die uns früh oder spät aufs Töpfchen gesetzt haben, aber es ist ganz gewiss hilfreich für uns, jemanden zu haben, zu dem wir uns als zugehörig empfinden, jemanden, der sich um uns kümmert.
C. Styrsky
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Eltern sind wirklich wichtig (Collins et al. 2000; Eisenberg et al. 1998a, b; Vandell 2000). In Extremsituationen wird die Macht des elterlichen Einflusses am deutlichsten. In 7 Kap. 4 werden wir die prägnantesten Beispiele dafür anführen: Missbrauchte Menschen, die selbst missbrauchen, vernachlässigte Menschen, die ihre Kinder vernachlässigen, die geliebten, aber streng erzogenen Kinder, die selbstbewusst und sozial kompetent werden. Welch starke Wirkung die Familie hat, zeigt sich auch häufig in den politischen Einstellungen der Kinder, ihren religiösen Überzeugungen und in ihrem Benehmen gegenüber anderen Menschen. Und sie kommt zum Vorschein in den bemerkenswerten schulischen und beruflichen Erfolgen der Kinder von Flüchtlingen, die man Boat People nannte und die aus Vietnam und Kambodscha geflohen waren – Erfolge, die man auf die eng miteinander verbundenen, unterstützenden, ja sogar fordernden Familien zurückführt (Caplan et al. 1992).
3.3.2 Einfluss der Gleichaltrigen
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Ziel 18: Schätzen Sie die Bedeutung des Einflusses von Gleichaltrigen auf die Entwicklung ein.
Die Macht der Gleichaltrigengruppe Während wir uns entwickeln, spielen wir mit unseren Altersgenossen, wir arbeiten und gehen freundschaftliche Beziehungen mit ihnen ein. Es ist deshalb kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche so sensibel auf die Einflüsse der Gleichaltrigengruppe reagieren
Welche Rolle spielen äußere Einflüsse, wenn die Kinder heranwachsen? Wir sind auf allen Altersstufen in dem Maße Gruppeneinflüssen ausgesetzt (7 Kap. 15), in dem wir versuchen, uns selbst zu etablieren und in unterschiedlichen Gruppen akzeptiert zu werden, sei es nun in der Schule oder anderswo. Das Konformitätsverhalten von Kindern, die bestrebt sind, sich in verschiedene Gruppen einzupassen, ist ein wichtiger Einflussfaktor bei Verhaltensweisen im Alltag. Beispielsweise: 4 Kleinkinder, die trotz elterlichen Drängens eine bestimmte Mahlzeit verschmähen, essen sie, wenn andere Kinder dabei sind, die dieses Essen mögen. 4 Ein Kind, das zu Hause seine Muttersprache mit einem bestimmten Akzent hört und gleichzeitig einen anderen Akzent in seiner Nachbarschaft und Schule, nimmt unweigerlich den Akzent der Altersgenossen an und nicht den der Eltern. 4 In Hinblick auf das Rauchen ist der direkte Einfluss der Eltern weniger bedeutsam, als viele Menschen annehmen. Jugendliche, die anfangen zu rauchen, haben vielmehr Freunde, die ihnen das Rauchen vormachen, ihnen seine Vorzüge vorgaukeln und ihnen Zigaretten anbieten (Rose et al. 1999, 2003). Zum Teil mag die Ähnlichkeit unter Gleichaltrigen auch auf einen »Selektionseffekt« zurückzuführen sein. Denn Kinder suchen sich Altersgenossen aus, die ähnliche Einstellungen und Interessen haben wie sie selbst. Die Raucher (oder Nichtraucher) suchen sich Freunde, die ebenfalls rauchen (oder eben nicht).
127 3.3 · Eltern und Gleichaltrige
Wenn man weiß, dass das Leben teils durch Einflüsse jenseits der Kontrolle von Eltern abläuft, ist Vorsicht angebracht, wenn man Eltern wegen der Leistungen ihrer Kinder lobt oder ihnen für die besorgniserregenden Merkmale ihrer Kinder die Schuld gibt. Und wenn unsere Kinder sich nicht so einfach durch die elterliche Erziehung formen lassen, können wir Eltern uns vielleicht ein wenig entspannt zurücklehnen und unsere Kinder so lieben, wie sie nun einmal sind. Ein starker Einfluss der Eltern kann jedoch auch indirekt wirksam werden. Eine Gruppe von Eltern kann durchaus auf das soziale Umfeld einwirken, das einen Einfluss auf die Gruppe der Gleichaltrigen hat. Bildung und Kultur werden über Generationen hinweg zum Teil über das weitergegeben, was Judith Rich Harris (2000b) »die Effekte der Elterngruppe auf die Kindergruppe« nennt. Wenn dem so ist, so äußert sich der elterliche Einfluss beispielsweise darin, dass die Eltern ihren Kindern bei der Wahl einer Wohngegend und von Freunden helfen. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss der Wohngegend wichtig (Kalff et al. 2001; Leventhal u. BrooksGunn 2000). Deshalb zielen Interventionsprogramme für Jugendliche am besten auf die ganze Schule und das gesamte Wohnviertel ab und nicht nur auf Einzelne. Wenn ein schlechtes allgemeines Klima kennzeichnend für die Umgebung eines Kindes ist, muss dieses Klima – und nicht das Kind – geändert werden. Gardner (1998) kommt zu dem Schluss, dass Eltern und Freunde komplementär sind:
»Mehr als ihren Vätern gleichen die Menschen ihrer Zeit.« Altes arabisches Sprichwort
»Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.« Afrikanisches Sprichwort
Eltern sind wichtig, wenn es um Bildung und Ausbildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die Art des Umgangs mit Autoritätspersonen geht. Freunde sind wichtig, um Zusammenarbeit zu lernen, zu erfahren, wie man sich beliebt macht und welcher Stil für die Interaktionen mit Altersgenossen der richtige ist. Die jungen Menschen finden ihre Freunde vielleicht interessanter, verlassen sich aber auf ihre Eltern, wenn sie an ihre Zukunft denken. Außerdem wählen die Eltern die Wohngegend und die Schule der Kinder aus, in der ihre Altersgenossen die Freunde sein werden.
Lernziele Abschnitt 3.3 Eltern und Gleichaltrige Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Bedingungen, die die Entwicklung vor der Geburt beeinflussen können. Pränatale Umwelten unterscheiden sich im Hinblick auf die Ernährung und das Vorhandensein von Giftstoffen. Selbst eineiige Zwillinge, die sich eine Plazenta teilen, können wegen der unterschiedlichen Lage im Mutterleib einen ungleichen Zugang zu Nährstoffen und zum Schutz vor Viren haben. Ziel 16: Beschreiben Sie, wie Erfahrung das Gehirn verändern kann. In der Reifungsphase nehmen die neuronalen Verbindungen eines Kindes in Arealen zu, die etwas mit sich wiederholenden Aktivitäten zu tun haben (z. B. visuelle Wahrnehmung). Nicht genutzte Synapsen degenerieren, wie dies im Kortex von Kindern mit einem angeborenen und nicht behandelten grauen Star bei den Gehirnzellen geschieht, die normalerweise Aufgaben bei der visuellen Wahrnehmung haben. Obwohl der Vorgang am deutlichsten in den Gehirnen kleiner Kinder zutage tritt, setzen sich Wachstum und Befreiung von Überflüssigem während des gesamten Lebens fort. Ziel 17: Erklären Sie, warum wir uns dabei zurückhalten sollten, Erfolg und Versagen von Kindern dem Einfluss der Eltern zuzuschreiben. Die an Freud orientierte Psychiatrie und eine extreme Betonung des Einflusses der Umwelt trugen in der Psychologie zu dem Gedanken bei, dass Eltern die Zukunft ihrer Kinder formen. Eltern beeinflussen einige
Bereiche des Lebens ihrer Kinder wie das Benehmen und die politischen und religiösen Überzeugungen. In anderen Bereichen jedoch wie etwa der Persönlichkeit erklärt die Umwelt, die den Geschwistern in der häuslichen Umgebung gemeinsam ist, weniger als 10% ihrer Unterschiede. Ziel 18: Bewerten Sie die Bedeutung des Einflusses von Gleichaltrigen auf die Entwicklung. Kinder versuchen, sich wie Erwachsene durch Konformität in Gruppen einzupassen. Aber Kinder sind auch darauf aus, andere zu finden, die ihre Einstellungen und Interessen teilen; dieser Auswahleffekt trägt zur Uniformität in der Peergroup bei. Eltern und Gleichaltrige sind komplementäre Einflüsse auf das Leben von Kindern. Eltern sind wichtige Rollenmodelle für Bildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die Art und Weise des Umgangs mit Autoritätspersonen. Gleichaltrige haben einen Einfluss in Bereichen wie kooperieren, mit anderen lernen, Beliebtheit erreichen und einen angemessenen Interaktionsstil mit Menschen des gleichen Alters finden. Indem die Eltern für ihre Kinder eine Wohngegend suchen, in der sie leben werden, können Eltern einen gewissen Einfluss auf die Kultur der Gleichaltrigen ausüben, die dazu beiträgt, die Kinder zu formen. > Denken Sie weiter: In welchem Ausmaß und auf welche Weise haben bei Ihnen Gleichaltrige und Eltern dazu beigetragen, aus Ihnen die Person zu machen, die Sie sind?
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
3.4
Kulturelle Einflüsse
Ziel 19: Erörtern Sie die Vorteile der Kultur für das Überleben.
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Kultur (culture): überdauernde Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Traditionen, die von einer großen Gruppe von Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Kevin R. Morris/Bohemian Nomad Picturemakers/Corbis
Zwang zur Uniformierung Menschen aus individualistischen westlichen Kulturen empfinden die traditionelle japanische Kultur als sehr einschränkend. Doch aus der Sicht der Japaner drückt diese Tradition die »Gelassenheit von Menschen, die genau wissen, was sie voneinander zu erwarten haben«, aus. (Weisz et al. 1984)
Im Vergleich zu dem schmalen Grat, auf dem sich Fliegen, Fische und Füchse bewegen, hat die Natur für uns eine längere und breitere Straße gebaut, auf der uns die Umwelt vorantreibt. Die Fähigkeit, zu lernen und uns anzupassen, ist das Kennzeichen unserer Spezies und damit das größte Geschenk der Natur an uns. Wir kommen zur Welt, ausgestattet mit einer riesigen zerebralen Festplatte, und sind bereit, viele Gigabytes kultureller Software aufzunehmen. Kultur umfasst die Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Traditionen, die von einer Gruppe von Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden (Brislin 1988). Baumeister (2005) merkt an, dass die Eigenart des Menschen für die Kultur gemacht zu sein scheint. Wir sind soziale Lebewesen, aber noch mehr. Wölfe sind soziale Lebewesen; sie leben und jagen in Rudeln. Ameisen sind unaufhörlich sozial und nie allein. Doch Baumeister schreibt: »Kultur ist eine bessere Methode, sozial zu sein.« Die Kultur trägt viel dazu bei, dass wir überleben und uns fortpflanzen; dies geschieht mit Hilfe sozialer und ökonomischer Systeme, die uns in die Lage versetzen, im Winter Früchte zu essen, im Internet zu surfen und Informationen zu sammeln. In etwa leben Wölfe noch genauso, wie sie es vor 10.000 Jahren taten. Sie und ich kommen in den Genuss von Dingen, die den meisten unserer Vorfahren vor 100 Jahren unbekannt waren; und dazu gehören Elektrizität, sanitäre Einrichtungen und Antibiotika. Die Kultur funktioniert. Wie wir in 7 Kap. 10 erfahren werden, weisen Primaten rudimentäre Elemente von Kultur auf; dies umfasst auch die lokal angepassten Gewohnheiten beim Werkzeuggebrauch, die Körperpflege und das Werben um das andere Geschlecht. Kleinere Schimpansen und Makaken entwickeln manchmal Gewohnheiten – in einem bekannten Beispiel das Waschen von Kartoffeln – und geben sie an Gleichaltrige und an Nachkommen weiter. Aber bei der Kultur des Menschen geschieht mehr. Dank der Tatsache, dass wir die Sprache beherrschen, wissen wir Menschen nicht nur, wie man Nahrungsmittel reinigt, sondern wir verfügen auch über das Hauptmerkmal der Kultur: die Bewahrung der Innovation. Aufgrund unserer Kultur standen mir heute Post-it-Klebezettel, Google und ein Latte macchiato zur Verfügung; das alles hatte für mich einen Nutzen. Wir haben es auch dem gesammelten Wissen der Kultur zu verdanken, dass sich im letzten Jahrhundert unsere Lebenserwartung von 47 auf 76 Jahre erhöhte. Außerdem ermöglichte die Kultur eine kosteneffiziente Arbeitsteilung. Obwohl eine Person das Glück hat, dass ihr Name auf dem Umschlag dieses Buchs steht, ist das Produkt eigentlich das Ergebnis der Koordinierung und des Engagements eines Teams von Frauen und Männern, von denen keiner allein in der Lage ist, es hervorzubringen. Über die Kulturen hinweg unterscheiden wir uns in Bezug auf die Sprache, das Währungssystem, die Sportarten, darin, mit was für einer Gabel – wenn überhaupt – wir essen und auf welcher Seite der Straße wir Auto fahren. Doch hinter diesen Unterschieden steckt eine ganz große Ähnlichkeit – unsere Fähigkeit zur Kultur, zu gemeinsamen und überlieferten Sitten und Gebräuchen sowie zu Überzeugungen, die uns in die Lage versetzen, zu kommunizieren, Geld gegen Dinge einzutauschen, zu spielen, zu essen und Auto nach Regeln zu fahren, auf die wir uns geeinigt haben, und dabei nicht miteinander zu kollidieren. Diese gemeinsame Fähigkeit zur Kultur macht unsere Unterschiede erst möglich. Die Eigenheit des Menschen zeigt sich in der Vielfalt der Menschen. Lebten wir alle in homogenen ethnischen Gruppen in voneinander getrennten Regionen dieser Welt, wie es mancherorts noch der Fall ist, wäre die kulturelle Vielfalt weniger relevant. In Japan z. B. sind 99% der dort lebenden 126 Mio. Menschen japanischer Abstammung. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Landes sind dort folglich minimal, verglichen mit Los Angeles, wo an öffentlichen Schulen 82 verschiedene Sprachen unterrichtet werden, oder im Vergleich zu Toronto oder Vancouver, wo jeweils ein Drittel der Bevölkerung aus Minderheiten besteht, unter ihnen viele Immigranten (so sind 17% der Kanadier und 24% der Australier Immigranten) (Iyer 1993; Statistics Canada 2002; Trewin 2001). Auch in Deutschland
129 3.4 · Kulturelle Einflüsse
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beträgt der Ausländeranteil im Durchschnitt 8,8%, allerdings mit großen Unterschieden je nach Bundesland: Hamburg 14,2%, Baden-Württemberg 11,9%, Thüringen und Sachsen-Anhalt 1,9% (Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Anteil der ausländischen Bevölkerung vom 18.10.2007). Ich kann mir auch vorstellen, dass die Leser der englischsprachigen Ausgabe dieses Buchs aus einer Vielfalt von Kulturen kommen, z. B. aus der Türkei oder aus Spanien, aus den USA oder aus Kanada.
3.4.1 Kulturübergreifende Unterschiede Ziel 20: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Kulturen unterscheiden.
Den Grad unserer Anpassungsfähigkeit erkennt man an kulturellen Unterschieden in unseren Überzeugungen und Wertvorstellungen, daran, wie wir unsere Kinder erziehen und unsere Toten begraben, sowie daran, welche Kleidung wir tragen (sofern wir überhaupt bekleidet sind). Das Mitschwimmen in einer von Normen geprägten Kultur ist vergleichbar mit dem Radfahren in Windrichtung: Während wir fortgetragen werden, spüren wir kaum einen Widerstand. Wenn wir allerdings versuchen, gegen den Wind zu fahren, bemerken wir, wie stark er ist. Erst im Augenblick der Konfrontation mit einer bestimmten Kultur werden uns die kulturellen »Strömungen« bewusst. So fallen den meisten Amerikanern bei einem Besuch in Europa z. B. die kleineren Autos, der linkshändige Gebrauch der Gabel und das ungehemmte Aus- und Anziehen an den Stränden auf. Europäische und amerikanische Soldaten merkten erst, als sie in Irak, Afghanistan und Kuwait stationiert waren, wie liberal ihre heimatlichen Kulturen waren. Nachdem sie 10 Jahre lang mit Flüchtlingen gearbeitet hatte, wurde die Psychologin Pipher (2002) für ihre eigene Kultur sensibilisiert: Wie die meisten Amerikaner spreche ich fließend nur Englisch. Ich schätze die Freiheit und meinen persönlichen Raum. Ich halte mich an zeitliche Vereinbarungen. Ich fühle mich nur mit bestimmten Formen von Berührung wohl. Eine bestimmte Anzahl von Augenkontakten und eine gewisse Distanz zwischen zwei Menschen fühlen sich für mich korrekt an. Einige Dinge erscheinen viel genießbarer als andere. Ich fühle mich am besten, wenn ich eine bestimmte Form der Kleidung wie Jeans und TShirts trage. Ich gehe ohne Kopfbedeckung aus und trage innerhalb des Hauses Schuhe. Ich unterhalte mich gerne.
Für die in Nordamerika ankommenden Besucher aus Japan und Indien ist es schwer zu verstehen, warum Menschen im Haus schmutzige Straßenschuhe tragen, andere wundern sich, warum es ihnen Vergnügen bereitet, im Wald inmitten von Ameisen und Fliegen ein Picknick zu machen.
Norm (norm): allgemein verstandene Regel für akzeptiertes und erwartetes Verhalten. Normen schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor. Persönlicher Raum (personal space): Pufferzone, die wir gerne um unseren Körper herum aufrechterhalten.
So benutzen viele Menschen aus Südasien zum Essen nur die Finger ihrer rechten Hand. Die Briten haben die Norm, sich ordentlich in einer Reihe anzustellen. Manchmal wirken soziale Normen einengend: »Warum sollte es von Bedeutung sein, wie ich mich anziehe?« Andererseits ölen Normen die soziale Maschinerie. Vorgeschriebene, gut gelernte Verhaltensweisen machen es unnötig, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen. Wenn wir wissen, wann wir klatschen oder uns verbeugen sollen, welche Gabel wir bei einer Einladung zum Abendessen als erste benutzen sollen und welche Komplimente und Gesten angemessen sind, können wir uns entspannen und die Gesellschaft anderer ohne Angst vor Verlegenheit oder Kränkungen genießen. Genauso ist es, wenn es innerhalb einer Kultur eine allseits akzeptierte Begrüßungsnorm wie z. B. das Händeschütteln oder den Wangenkuss gibt – ausgenommen einmal die unangenehmen Momente der Unentschlossenheit, ob man jemanden mit der Hand oder mit einem Wangenkuss begrüßen soll. Wenn Kulturen aufeinander treffen, sorgen die verschiedenen Normen häufig für Verwirrung. Wenn jemand z. B. unseren persönlichen Raum verletzt, jene transportable Pufferzone, die wir um unseren Körper herum aufrechterhalten möchten, fühlen wir uns unwohl. Skandinavier, Bri-
C. Styrsky
! Jede kulturelle Gruppe entwickelt eigene Normen, Regeln für akzeptiertes und erwartetes Verhalten.
Das neue Au-Pair-Mädchen
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Jason Reed/Reuters/Corbis
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Kulturen unterscheiden sich Verhalten, das in einer Kultur angemessen zu sein scheint, kann die Normen einer anderen Kultur verletzen. In arabischen Ländern, aber nicht in westlichen Kulturen begrüßen sich Männer oft mit einem Kuss oder halten als Zeichen der Freundschaft Händchen, wie es US-Präsident George W. Bush 2005 tat, während er mit dem saudischen Kronprinz Abdullah spazieren ging
ten, Deutsche und Nordamerikaner haben gerne einen größeren persönlichen Raum als Lateinamerikaner, Araber und Franzosen (Sommer 1969). Einem Mexikaner, der bei einem sozialen Ereignis eine ihm angenehme Distanz für eine Unterhaltung herzustellen versucht, passiert es vielleicht, dass ein Amerikaner am Ende ständig vor ihm zurückweicht. (Sie können diese Erfahrung bei einer Party machen, wenn Sie während einer Unterhaltung »Verletzer des persönlichen Raumes« spielen.) Dem Amerikaner mag der Mexikaner aufdringlich erscheinen, während der Mexikaner den Amerikaner als hochnäsig wahrnimmt. Kulturen unterscheiden sich ebenfalls in der Art, wie sie sich ausdrücken. Personen, die ihre Wurzeln in nordeuropäischen Kulturen haben, nehmen Menschen aus der Mittelmeerregion als herzlich und charmant wahr, aber auch als ineffizient (bei der Arbeit). Die Bewohner der Mittelmeerregionen dagegen sehen die Nordeuropäer als effizient an, nehmen sie aber gleichzeitig auch als kalt und pünktlichkeitsbesessen wahr (Triandis 1981). Kulturen variieren auch in der Geschwindigkeit, mit der sich der Alltag abspielt. Ein britischer Geschäftsmann wird sich über einen lateinamerikanischen Klienten ärgern, der 30 Minuten nach der vereinbarten Zeit zum Mittagessen kommt. Dagegen bemerken Menschen aus dem zeitbewussten Japan – wo die Uhren der Banken immer die exakte Zeit anzeigen, die Fußgänger flott gehen und Postangestellte Wünsche in Höchstgeschwindigkeit erfüllen – vielleicht, dass sie bei einem Besuch in Indonesien zunehmend ungeduldiger werden. Dort geben die Uhren die Zeit weniger genau an, und das Tempo ist i. Allg. langsamer (Levine u. Norenzayan 1999). Die ersten Freiwilligen des US-Friedenscorps berichteten darüber, dass es, nachdem sie die Sprache des Gastlands gelernt hatten, zwei große Kulturschocks bei der Anpassung an ihre Gastländer gab: das andere Lebenstempo und den anderen Umgang mit Pünktlichkeit (Spradley u. Phillips 1972).
3.4.2 Zeitübergreifende Veränderungen Ziel 21: Erklären Sie, warum Veränderungen im Genpool des Menschen nicht als Erklärung für eine kulturelle Veränderung über die Zeit hinweg herangezogen werden können.
Denken Sie doch einmal daran, wie schnell sich Kulturen über die Zeit hinweg verändern können. Der englische Dichter Geoffrey Chaucer (1342–1400) ist von einem modernen Briten nur 20 Generationen entfernt, doch die beiden würden nur unter größten Schwierigkeiten eine Unterhaltung führen können. In dem kürzeren Kapitel der Geschichte seit 1960 haben sich die meisten westlichen Kulturen mit bemerkenswerter Geschwindigkeit verändert. Menschen aus der Mittelschicht fliegen an Orte, über die sie einst höchstens gelesen hatten, schreiben E-Mails an jene, denen sie einst Briefe im Schneckentempo schickten, und genießen die Bequemlichkeit einer klimatisierten Arbeitsumgebung, während sie einst vor Hitze fast umgekommen wären. Sie kommen in den Genuss der bequemen Urlaubsbuchung per Internet und des mobilen Telefonierens; sie essen – ermöglicht durch ihr deutlich höheres Realeinkommen – mehr als zweimal so oft im Restaurant wie ihre Eltern in den 60ern. Bedingt durch größere ökonomische Unabhängigkeit heiraten die Frauen von heute eher aus Liebe und müssen mit geringerer Wahrscheinlichkeit aus ökonomischer Notwendigkeit heraus Beziehungen ertragen, in denen sie misshandelt oder missbraucht werden. Viele Minderheitengruppen profitieren von einer zunehmenden Umsetzung der Menschenrechte. Doch manche Veränderungen waren durchaus nicht positiv. Wären Sie im Jahre 1960 in den USA eingeschlafen und ein Viertel Jahrhundert später aufgewacht, hätten Sie Ihre Augen in einer Kultur geöffnet, die doppelt so hohe Scheidungsraten, 3-mal so hohe Suizidraten bei den unter 20-Jährigen und eine 4-mal so hohe Rate gemeldeter Gewaltverbrechen durch Jugendliche aufweist (Myers 2000). Zudem verbringen Amerikaner mehr Stunden bei der Arbeit, weniger Stunden mit Schlaf und weniger Stunden mit Freunden und der Familie (Frank 1999; Putnam 2000). Gottlob begannen die Selbstmordraten bei Jugendlichen und die Kriminalitätsraten nach 1993 wieder abzunehmen. Ähnliche kulturelle Veränderungen fanden in Kanada, England, Australien und Neuseeland statt. Und obwohl nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes die allgemeine Suizidrate im gleichen Zeitraum in Deutschland sogar rückläufig ist und die Deutschen in Umfragen angeben, im Vergleich zu den 50er Jahren heute deutlich mehr Freizeit zu haben, zeig-
131 3.4 · Kulturelle Einflüsse
ten sich auch negative Entwicklungen: Im Vergleich zu den 70er Jahren hat sich laut Bundesministerium des Inneren die Anzahl der Raubüberfälle auf Straßen, Wegen und Plätzen mehr als verdoppelt und die Anzahl der Drogentoten stieg um das 15-fache. Die Arbeitslosigkeit, die 1960 zu Zeiten der Vollbeschäftigung überhaupt keine Rolle spielte, ist inzwischen zu einem der zentralen gesellschaftspolitischen Probleme geworden, wenn sie auch zeitweilig zurückging. Ganz gleich, ob uns diese Veränderungen gefallen oder nicht: Ihr atemberaubendes Tempo ist beeindruckend. Sie lassen sich nicht durch Veränderungen im menschlichen Genpool erklären, da sich dieser für solche kulturellen Hochgeschwindigkeitstransformationen viel zu langsam entwickelt. ! Kulturen sind unterschiedlich, Kulturen verändern sich, und sie geben unserem Leben eine bestimmte Form.
3.4.3 Kultur und Selbst Ziel 22: Geben Sie einige Aspekte an, in denen sich eine vorwiegend individualistische Kultur von einer vorwiegend kollektivistischen Kultur unterscheidet, und vergleichen Sie die Auswirkungen auf die personale Identität.
Kulturen unterscheiden sich dadurch, wie sehr der Erziehung und dem Ausdruck der eigenen personalen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe Priorität beigemessen wird. Um den Unterschied zu verstehen, sollten Sie sich einmal vorstellen, Sie würden aus Ihren sozialen Bezügen herausgerissen und wären ein allein lebender Flüchtling in einem fremden Land: Wie viel von Ihrer Identität würde intakt bleiben? Die Antwort würde zu einem großen Teil davon abhängen, ob Sie dem unabhängigen Selbst, das den Individualismus kennzeichnet, Priorität einräumen oder eher dem wechselseitig abhängigen (interdependenten) Selbst, das typisch für den Kollektivismus ist. Wären Sie als unser allein lebender Flüchtling Individualist, dann bliebe ein Großteil Ihrer Identität intakt: Der innerste Kern Ihres Seins, Ihr Ich-Gefühl, wäre nicht berührt, auch nicht Ihre Überzeugungen und Wertvorstellungen. Der Individualist räumt seinen persönlichen Zielen eine relativ hohe Priorität ein, und seine Identität definiert sich über persönliche Merkmale. Er strebt nach persönlicher Kontrolle und individueller Leistung. In der amerikanischen Kultur mit ihrer relativ starken Betonung des Ich und dementsprechend einer geringen Betonung des Wir lautet die Aussage von 85% der Menschen, es sei möglich, »mehr oder weniger das zu sein, was du sein willst« (Sampson 2000). Der im Wesentlichen auf sich selbst bezogene Individualist wechselt leichter seine soziale Gruppe. Er empfindet es als seine Entscheidung, eine Arbeitsstelle aufzugeben und eine andere anzunehmen oder sogar die Großfamilie zu verlassen und sich an einem anderen Ort anzusiedeln. Eine Ehe hält häufig nur so lange, wie beide Partner es wollen. Individualismus variiert in jeder Kultur von einer Person zur anderen. Im Film »Antz« verlieh Woody Allen einer individualistischen Ameise eine Stimme, die sich gegen den extremen Kollektivismus in der Kultur ihrer Kolonie auflehnte: »Es geht um dieses ganze enthusiastische Loyalitätsgetue, diese Sache mit dem Superorganismus, die ich einfach nicht verstehe. Ich verstehe es nicht. Ich versuche es, aber ich verstehe es einfach nicht. Was ist das eigentlich? Man erwartet von mir, dass ich alles für die Kolonie mache? Und – und was ist mit meinen Bedürfnissen? Was ist mit mir?« Wenn man als Kollektivist in einem fremden Land hilflos ausgesetzt wird, würde man wahrscheinlich einen sehr viel schlimmeren Identitätsverlust erleben als ein Individualist. Abgeschnitten von der Familie, von Gruppen und loyalen Freunden, würde man die Verbindungen verlieren, die darüber bestimmten, wer man ist. In einer kollektivistischen Kultur verschafft dem Betreffenden die Identifikation mit der Gruppe ein Zugehörigkeitsgefühl, sie bietet einen Satz von Wertvorstellungen, ein Netz von Personen, die sich um die eigene Person kümmern und die Sicherheit gewährleisten. Im Gegenzug geben die Kollektivisten den Zielen ihrer Gruppe Priorität; die Gruppe ist oft die Familie, der Clan oder die Firma. Sie definieren ihre Identität entsprechend nicht als »ich«, sondern als »wir«. In Korea z. B. legen die Menschen weniger Wert darauf, ein konsistentes einzigartiges Selbstkonzept zum Ausdruck zu bringen, sondern betonen eher die Tradition und die gemeinsam praktizierten Handlungsweisen (Choi u. Choi 2002).
Individualismus (individualism): Die Priorität für die eigenen Ziele ist höher als die für Gruppenziele; die eigene Identität definiert sich eher über persönliche Eigenschaften als über Gruppenmerkmale.
Kollektivismus (collectivism): Die Ziele der Gruppe (oft die Großfamilie oder die Arbeitsgruppe) haben Priorität, die Definition der eigenen Identität richtet sich an ihnen aus.
Wie die Sportler, die sich mehr über den Sieg der Mannschaft als über ihre eigene Leistung freuen, empfindet der Kollektivist eine Befriedigung darin, die Interessen seiner Gruppe zu fördern, selbst auf Kosten seiner persönlichen Bedürfnisse.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
action press/Kyodo News
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Kollektivismus Diese pakistanischen Kinder und Frauen identifizieren sich mit ihrer Familie und mit anderen Gruppen; daraus gewinnen sie ein »Wir«-Gefühl, feste Wertvorstellungen und ein Netz für gegenseitige Hilfe. Das kollektivistische Unterstützungssystem hat diesen Menschen vielleicht dabei geholfen, mit den Verwüstungen fertig zu werden, die im Oktober 2005 durch ein Erdbeben in Kaschmir hervorgerufen wurden und die das Haus im Hintergrund des Bildes dem Erdboden gleichmachten
»Man muss den Geist kultivieren, bei dem man das kleine Ich opfert, um an die Vorteile des großen Ichs zu gelangen.« Chinesisches Sprichwort
Individualistisches Sprichwort: »Das Rad, das am meisten quietscht, wird geschmiert.« Kollektivistisches Sprichwort: »Die Kugel trifft die Ente, die quakt.«
Der Kollektivist verhält sich in einer neuen Gruppe schüchtern und gerät leichter in Verlegenheit als sein individualistisches Gegenstück (Singelis et al. 1995, 1999). Verglichen mit Menschen aus dem Westen zeigen Personen in der japanischen oder chinesischen Kultur eine größere Schüchternheit gegenüber Fremden, und sie kümmern sich mehr um soziale Harmonie und Loyalität (Bond 1988; Cheek u. Melchior 1990; Triandis 1994). Ihre Bindung an die Familie und an vertraute Gruppen ist tiefer und beständiger. Die Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie kann wichtiger sein als die eigenen beruflichen Vorlieben. Verglichen mit Studierenden in den USA neigen Studierende in Japan, China und Indien viel weniger dazu, den Satzanfang »Ich bin ...« mit Persönlichkeitsmerkmalen zu vervollständigen (»Ich bin ehrlich«, »Ich bin zuversichtlich«), und viel mehr dazu, ihre soziale Identität preiszugeben (»Ich bin Student an der Universität von Keio«, »Ich bin der dritte Sohn in meiner Familie«) (Cousins 1989; Dhawan et al. 1995; Triandis 1989a,b). »Meine Eltern werden von mir enttäuscht sein« war eine Sorge, die von 7% der Jugendlichen in den USA und in Italien sowie von 14% der australischen Jugendlichen zum Ausdruck gebracht wurde, aber nahezu von 25% der Jugendlichen auf Taiwan und in Japan (Atkinson 1988). Beziehungen, die der Kollektivist eingeht, sind auf Dauer angelegt. Zwischen Chef und Angestelltem herrscht eine starke Loyalität. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Kolonialisierung der Welt in der Neuzeit nicht von Asiaten angeführt wurde, die nur ungern die Aufrechterhaltung sozialer und familiärer Bindungen gefährden wollen, sondern von den eher individualistischen Europäern. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass die Länder, die von Europäern – Menschen, die bereitwillig Freunde und Familie aufgeben – kolonialisiert wurden, heute ausgesprochen individualistisch sind (Triandis 1989b). Wer sich in einem anderen Land ansiedeln will, ist mehr an Arbeit und Leistung interessiert als an Familie und Freunden; die, die bleiben wollen, haben mehr Interesse an Bindungen (Boneva u. Frieze 2001). Individuen innerhalb einer Kultur unterscheiden sich, und in Kulturen leben die verschiedensten Untergruppen (Oyserman et al. 2002a, b). Dennoch haben die interkulturellen Psychologen einige Variationen über die Kulturen hinweg entdeckt; diese reichen vom Individualismus in den USA (mit Ausnahme der Südstaaten) bis zum Kollektivismus in den ländlichen Gebieten Asiens (Hofstede 1980; Triandis 1994; Vandello & Cohen 1999). Menschen in kollektivistischen Kulturen legen Wert auf Gemeinschaft und Solidarität, deshalb ist es ihnen sehr wichtig, die Harmonie aufrechtzuerhalten und darauf zu achten, dass andere nie ihr Gesicht verlieren. Was jemand sagt, drückt sowohl aus, was er fühlt (seine innere Einstellung), als auch, was er annimmt, dass der andere es fühlt (Kashima et al. 1992). Man zollt Älteren und Vorgesetzten Respekt. Um das Gruppengefühl zu bewahren, werden die direkte Konfrontation, schonungslose Ehrlichkeit und kontroverse Themen vermieden, man beugt sich den Wünschen anderer, man ist höflich und demütig und vermeidet es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (Markus u. Kitayama 1991). Deshalb hört sich der individualisierte Kaffeewunsch – großer Latte macchiato mit Karamell und besonders heiß –, den man bei uns als etwas ganz Spezielles ansieht, in Seoul eher als selbstsüchtiges forderndes Auftreten an, bemerken Kim u. Markus (1999). Und in koreanischen Werbeanzeigen betont man auch weniger die persönliche Wahlmöglichkeit, die Freiheit und die Einzigartigkeit, und es werden viel häufiger Menschen zusammen dargestellt (Markus 2001). In kollektivistischen Kulturen erinnert man sich daran, wer einem einen Gefallen getan hat, und Reziprozität wird zur gesellschaftlichen Kunst erhoben. Das Selbst des Kollektivisten ist nicht unabhängig, sondern wechselseitig abhängig (interdependent) (. Tabelle 3.1). In kollektivistischen Gesellschaften, besonders in denen, die von Konfuzius’ Vorstellung von einem »in ein Netz wechselseitiger Beziehungen« eingebetteten Selbst beeinflusst sind, ist niemand eine Insel (Kim u. Lee 1994). Glück ist, sich auf andere Menschen einzustellen (Kitayama u. Markus 2000). ! Beide Formen des Zusammenlebens, sowohl der Individualismus als auch der Kollektivismus, haben ihren Nutzen und sind mit Kosten verbunden.
Individualistische Kulturen bieten mehr persönlichen Freiraum, erlauben mehr Stolz auf die eigene Leistung; ihre Mitglieder sind geographisch weniger an die Familie gebunden und haben mehr Privatsphäre. Unterschiede werden betont, und dem Einzelnen bietet sich eine reichhaltige Aus-
133 3.4 · Kulturelle Einflüsse
. Tabelle 3.1. Entgegengesetzte Wertvorstellungen bei Individualismus und Kollektivismus. (Nach Schoeneman 1994; Triandis 1994)
Konzept
Individualismus
Kollektivismus
Selbst
Unabhängig (Identität durch individuelle Merkmale)
Wechselseitige Abhängigkeiten (Identität durch Zugehörigkeit)
Lebensaufgabe
Die eigene Einmaligkeit entdecken und ausdrücken
Beziehungen aufrechterhalten, sich einpassen, eine Rolle ausfüllen
Wichtig ist
Ich: persönliche Leistung und Erfüllung; Rechte und Freiheiten; Selbstwertgefühl
Wir: Gruppenziele und Solidarität; soziale Verantwortung und soziale Beziehungen; Pflichten innerhalb der Familie
Methoden
Die Realität verändern
Sich der Realität anpassen
Moral und Ethik
Vom Einzelnen definiert (Basis: das eigene Selbst)
Von sozialen Netzen definiert (Basis: Pflichtgefühl)
Beziehungen
Zahlreiche, häufig kurzfristige oder Gelegenheitsbeziehungen; Konfrontation akzeptabel
Wenige, enge und beständige Beziehungen; Harmonie hoch bewertet
Attributionsverhalten
Bringt Persönlichkeit und Einstellungen zum Ausdruck
Bringt soziale Normen und Rollen zum Ausdruck
wahl an Lebensstilen; der Einzelne ist aufgefordert, sich eine eigene Identität zu schaffen, Innovation und Kreativität werden hoch gehalten und die individuellen Menschenrechte geachtet. Das mag dazu beitragen, den Befund von Diener et al. (1995) zu erklären, dass die Menschen in individualistischen Kulturen einen höheren Grad an Glück angeben als die Menschen in kollektivistischen Kulturen. Wenn Individualisten ihre eigenen Ziele verfolgen und sie Erfolg dabei haben, kann das Leben durchaus lohnend sein. Es ist jedoch erstaunlich, dass innerhalb einer individualistischen Gesellschaft gerade die Menschen mit den stärksten sozialen Bindungen die größte Zufriedenheit mit ihrem Leben zum Ausdruck bringen (Bettencourt u. Door 1997). Außerdem gehen die scheinbar positiven Wirkungen des Individualismus möglicherweise auf Kosten von mehr Einsamkeit, mehr Scheidungen, mehr Morden und mehr stressbedingten Krankheiten (Popenoe 1993; Triandis et al. 1988). Menschen in individualistischen Kulturen bringen in stärkerem Maße einen auf sich selbst fokussierten »Narzissmus« zum Ausdruck, indem sie z. B. der folgenden Aussage zustimmen: »Ich finde es einfach, Menschen zu manipulieren« (Foster et al. 2003). Individualisten erwarten von einer Ehe auch eher romantische Liebe und mehr persönliche Erfüllung; das setzt die eheliche Beziehung einem größeren Druck aus (Dion u. Dion 1993). In einer Umfrage wurde »romantische Liebe lebendig halten« von 78% der amerikanischen Frauen als wichtig für eine gute Ehe bewertet, aber nur 29% der japanischen Frauen vertraten diese Auffassung (»American Enterprise« 1992: ). In China geht es in Liebesliedern häufig um eine lebenslange Bindung und um Freundschaft (Rothbaum u. Tsang 1998). In einem Lied heißt es: »Wir werden von nun an zusammen sein … ich werde von nun an für immer die Gleiche sein.«
3.4.4 Kultur und Kindererziehung Ziel 23: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich die Kindererziehung in individualistischen und in kollektivistischen Kulturen unterscheiden.
Auch in den Erziehungspraktiken zeigen sich die je nach Ort und Zeit unterschiedlichen kulturellen Werte. Hätten Sie lieber selbstständige Kinder, die unabhängig sind? Oder möchten Sie Kinder, die sich dem anpassen, was andere denken? Wenn Sie in einer westlichen Kultur leben, sind die Chancen dafür hoch, dass Sie sich für die erste Wahlmöglichkeit entscheiden. In westlichen Gesellschaften möchten die meisten Eltern selbstständig denkende Kinder haben. Westliche Familien und Schulen brachten ihren Kindern Prinzipien bei wie: »Du bist für dich selbst verantwortlich. Folge deinem Gewissen. Sei ehrlich zu dir selbst. Entdecke deine Fähigkeiten. Denk an deine persönlichen Bedürfnisse.« Doch auch diese kulturellen Werte unterliegen einer zeitbedingten Veränderung. Vor einem halben Jahrhun-
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
© Steve Reehl
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Kulturen unterscheiden sich In Stromness, einer Stadt auf den britischen OrkneyInseln, macht es das Vertrauen in die soziale Gemeinschaft möglich, Kinderwagen samt Kleinkindern vor einem Geschäft abzustellen
dert legten die Eltern im Westen Wert auf die Vermittlung von Eigenschaften wie Gehorsam, Respekt und Sensibilität gegenüber anderen (Alwin 1990; Remley 1988). Sie lehrten ihre Kinder: »Bleibt euren Traditionen treu« und »Seid loyal gegenüber eurem kulturellen Erbe und eurem Land. Habt Respekt vor euren Eltern und Vorgesetzten.« Im Gegensatz zu vielen Menschen aus westlichen Kulturen, die ihre Kinder zur Unabhängigkeit erziehen, leben viele Asiaten und Afrikaner in dörflichen Kulturen, die auf den Aufbau emotionaler Nähe ausgerichtet sind. Anstatt ein eigenes Schlafzimmer zu haben und einer Tagesmutter anvertraut zu werden, schlafen die Kinder und Kleinkinder üblicherweise bei ihren Müttern und verbringen ihre Tage in der Nähe eines Familienmitglieds (Morelli et al. 1992; Whiting u. Edwards 1988). Kinder aus traditionsbewussten Kulturen wachsen mit einem stärkeren Sinn für das Familien-Selbst auf. Damit ist ein Gefühl gemeint, das sich darin äußert, dass die Schande des Kindes auch die Schande der Familie ist. Andererseits bringt das, was der Familie zur Ehre gereicht, auch dem Selbst des Kindes Ehre ein. Kinder haben sich unabhängig von Ort und Zeit unter den verschiedensten Erziehungssystemen gut entwickelt. Britische Eltern aus der Oberschicht überließen die alltägliche Erziehung traditionell einem Kindermädchen und schickten ihre Kinder schon mit etwa 10 Jahren auf ein Internat. Diese Kinder sollten sich zu den tragenden Säulen der britischen Gesellschaft entwickeln, wie es ja auch bei ihren Eltern und ihren Mitschülern im Internat der Fall ist. In der afrikanischen Gesellschaft der Gusii wachsen die Babys ziemlich frei auf, verbringen aber die meiste Zeit des Tages auf dem Rücken ihrer Mutter. Somit haben sie viel Körperkontakt, aber wenig direkte und sprachliche Interaktion. Wenn die Mutter wieder schwanger wird, wird das Kleinkind entwöhnt und jemand anderem, oft einem älteren Geschwister, übergeben. Angehörige westlicher Kulturen fragen sich vielleicht, welche negativen Effekte diese mangelnde verbale Interaktion haben könnte. Auf der anderen Seite würden sich die afrikanischen Gusii über westliche Mütter wundern, die ihre Babys im Kinderwagen umherschieben und sie in Laufställchen und Autositze setzen (Small 1997).
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! Kulturelle Vielfalt bei der Kindererziehung sollte uns davon abhalten, einfach zu unterstellen, dass die Kindererziehung in unserer Kultur die einzig erfolgversprechende ist. Elterliches Engagement fördert die Entwicklung In jeder Kultur helfen Eltern ihren Kindern, die Welt zu entdecken. Allerdings unterscheiden sich die Kulturen darin, was sie als wichtig erachten. Im Vergleich zum nordamerikanischen und europäischen Kulturkreis liegt in asiatischen Kulturen die Betonung in stärkerem Maße auf Schule und harter Arbeit. Dies mag als Erklärung dafür dienen, dass japanische und taiwanesische Kinder bessere Werte in mathematischen Leistungstests erzielen
Gruppenübergreifende Ähnlichkeiten in der Entwicklung Ziel 24: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Menschen trotz ihrer kulturellen Unterschiede ähnlich sind.
Da wir uns so sehr auf unsere Unterschiede konzentrieren, vernachlässigen wir häufig die Ähnlichkeiten, die durch unsere gemeinsame biologische Ausstattung bereits im Voraus angelegt sind. Die kulturübergreifende Forschung kann dazu beitragen, dass wir beides anerkennen: unsere kulturelle Unterschiedlichkeit und unsere Ähnlichkeit als Menschen. ! Im Vergleich zu den Unterschieden zwischen Personen innerhalb einer Gruppe sind die Unterschiede zwischen Gruppen nur gering.
»Wir erkennen klar und deutlich, dass wir aus vielen Kulturen, Traditionen und Erinnerungen hervorgegangen sind, dass wir von anderen Kulturen lernen können, wenn wir einander achten. Die Verbindung von Fremdem und Eigenem macht uns stark.« Der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises (2001)
Ganz unabhängig von unserer Kultur – und gerade die Kultur ist etwas, was uns alle formt und steuert – unterliegen wir als Menschen alle demselben Lebenszyklus. Wir alle reden ähnlich mit unseren Kindern, reagieren ähnlich auf ihr Brabbeln und ihr Schreien (Bornstein et al. 1992a, b). Überall auf der Welt entwickeln die Kinder von warmherzigen und helfenden Eltern ein besseres Selbstbild und verhalten sich weniger feindselig als die Kinder von Eltern, die häufig mit Bestrafung arbeiten und sich ablehnend verhalten (Rohner 1986; Scott et al. 1991). Innerhalb einer Kultur verhalten sich die ethnischen Untergruppen möglicherweise unterschiedlich, obwohl sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Unterschiede, die manchmal auf die Zugehörigkeit zu einer Ethnie attribuiert werden, können daher oft die Folge anderer Faktoren sein. Rowe et al. (1994,
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1995) illustrieren dies durch folgende Analogie: Schwarze Männer haben gewöhnlich einen höheren Blutdruck als weiße Männer. Nehmen Sie an, dass zum einen in beiden Gruppen der Salzkonsum mit dem Blutdruck korreliert und zum anderen der Salzkonsum bei schwarzen Männern höher ist als bei weißen Männern. Was würden wir dann erwarten? Ein Unterschied zwischen den beiden ethnischen Gruppen in Bezug auf den Blutdruck wäre dann – zumindest teilweise – eigentlich ein Ernährungsunterschied. Rowe et al. sehen hierzu auch eine Parallele bei psychologischen Forschungsergebnissen: Wie Blutdruckunterschiede können Verhaltensunterschiede die Folge von verschiedenen Einflüssen auf denselben Prozess sein. Allerdings stellten sie auch fest, dass, obwohl sich spanischsprachige Amerikaner, Asiaten, schwarze und weiße ethnische Gruppen in den Schulleistungen und in der Kriminalität unterscheiden, diese Unterschiede im Grunde kaum der Rede wert sind. Aufgrund der Einflüsse von Familienstruktur, Freunden und Altersgenossen und aufgrund der elterlichen Erziehung kann man das Verhalten für eine bestimmte ethnische Gruppe genauso gut oder schlecht vorhersagen wie für alle anderen Gruppen. Deshalb mögen wir uns zwar an der Oberfläche unterscheiden, doch scheinen wir als Angehörige einer Spezies denselben psychologischen Zwängen unterworfen zu sein. Da wir zu verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen gehören, unterscheiden sich unsere Sprachen – und doch beruhen sie auf universellen grammatikalischen Prinzipien (7 Kap. 10). Unser Geschmack ist unterschiedlich, dennoch liegt ihm als gemeinsames Prinzip der Hunger zugrunde (7 Kap. 12). Unser Sozialverhalten variiert, doch spiegelt es die überall wirkenden Prinzipien des menschlichen Einflusses wider (7 Kap. 15).
»Sollte jemand herausfinden, warum die Männer in der Bond Street schwarze Hüte tragen, dann würde er im gleichen Moment den Grund dafür entdecken, dass die Männer in Timbuktu rote Federn tragen.« G. K. Chesterton (»Heretics«, 1908)
Lernziele Abschnitt 3.4 Kulturelle Einflüsse Ziel 19: Erörtern Sie die Vorteile der Kultur für das Überleben. Kultur ist eine Anzahl überdauernder Verhaltensweisen, Auffassungen, Einstellungen, Wertvorstellungen und Traditionen, die eine Gruppe von Menschen gemeinsam hat und die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kultur und verbale Fähigkeiten ermöglichen es uns, Innovationen zu bewahren und sie an die nächste Generation weiterzugeben, ein Prozess, der die Vielfalt zwischen den Gruppen fördert. Trotz der kulturellen Unterschiede ist unsere gemeinsame Kulturfähigkeit eine Gemeinsamkeit, die sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung der Spezies Mensch hinweg verfolgen lässt. Ziel 20: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Kulturen unterscheiden. Kulturen variieren bezüglich Auffassungen, Einstellungen, Wertvorstellungen und Traditionen. Diese Traditionen sind in die Normen der jeweiligen Kultur sowie in die Regeln für akzeptiertes und erwartetes Verhalten eingebettet. Fremde oder Besucher erleben einen Kulturschock, wenn sie in eine ganz andere Kultur kommen: Verwirrung oder Frustration aufgrund ihres mangelnden Verständnisses für die Normen bei der Beachtung des eigenen persönlichen Raums, beim Ausdruck persönlicher Gefühle, bei der Aufrechterhaltung eines langsameren oder schnelleren Takts im Alltag oder bei der Kindererziehung und -pflege. Ziel 21: Erklären Sie, warum Veränderungen im Genpool des Menschen nicht als Erklärung für eine kulturelle Veränderung über die Zeit hinweg herangezogen werden können. Kulturen verändern sich rasch. Westliche Kulturen haben sich in dem Maße verändert, in dem wir neue Formen der Technologie entdeckt und
uns an sie angepasst haben. Kulturen verändern sich auch in Bezug auf ihre Wertvorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Die Geschwindigkeit, mit der solche Veränderungen vonstatten gehen, ist viel größer als die Allmählichkeit der evolutionären Veränderungen im Genpool des Menschen. Ziel 22: Geben Sie einige Aspekte an, in denen sich eine vorwiegend individualistische Kultur von einer vorwiegend kollektivistischen Kultur unterscheidet, und vergleichen Sie die Auswirkungen auf die personale Identität. In Kulturen, die auf einem selbstbewussten Individualismus beruhen, wie großenteils bei jenen in Nordamerika und Westeuropa, wird viel Wert auf persönliche Unabhängigkeit und individuelle Leistung gelegt. Beziehungen sind gewöhnlich eher zeitlich begrenzt und flüchtig, die Konfrontation wird akzeptiert, und die Moralvorstellungen sind Sache jedes Einzelnen. In individualistischen Kulturen neigt man dazu, Identität mit Bezug auf das Selbstwertgefühl, auf persönliche Merkmale und Ziele sowie mit Bezug auf persönliche Rechte und Freiheiten zu definieren. In Kulturen, die auf einem von sozialen Bindungen geprägten Kollektivismus beruhen, wie jene in vielen Teilen Asiens und Afrikas, legt man Wert auf Interdependenz, Tradition und Harmonie. Beziehungen sind hier überschaubar, eng und andauernd, und Moralvorstellungen beruhen auf der Pflicht gegenüber dem eigenen sozialen Netz. In kollektivistischen Kulturen neigt man dazu, Identität mit Bezug auf Gruppenziele und -verpflichtungen sowie mit Bezug auf die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe zu definieren.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Ziel 23: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich die Kindererziehung in individualistischen und in kollektivistischen Kulturen unterscheiden. Individualistische Kulturen erwarten von ihren Mitgliedern, dass sie unabhängig sind und eigenständig denken; die Praktiken der Kindererziehung in diesen Kulturen bringen das zum Ausdruck. In kollektivistischen Kulturen, in denen das Gefühl eines Familienselbst stärker betont wird, neigt man eher dazu, sich auf die Entwicklung eines Gefühls der emotionalen Nähe zu konzentrieren.
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Ziel 24: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Menschen trotz ihrer kulturellen Unterschiede ähnlich sind. Obwohl sich Menschen verschiedener Kulturen unterscheiden, haben sie dasselbe genetische Profil gemeinsam, den Kreislauf des Lebens, die
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verbalen Fähigkeiten, die biologischen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In dem Maße, wie sich Verhalten aufgrund biologischer Gegebenheiten und sozialer Einflussfaktoren für Individuen in einer Gruppe vorhersagen lässt, lassen sich oft ähnliche Verhaltensweisen auch für andere Gruppen vorhersagen. > Denken Sie weiter: Mit welchem Konzept kann man Sie am besten beschreiben, mit dem des Kollektivisten oder dem des Individualisten? Kann man Sie vollständig in eine Kategorie einordnen, oder sind Sie manchmal ein Kollektivist und manchmal ein Individualist?
Entwicklung des sozialen Geschlechts
Wie wir in 7 Kap. 10 über Denken und Sprache erfahren werden, haben wir Menschen einen unwiderstehlichen Drang, unsere Welt in einfachen Kategorien zu ordnen. Unter den Arten, wie wir Personen (und uns selbst) klassifizieren – als groß oder klein, schlank oder fett, klug oder dumm –, stechen zwei besonders hervor: ethnische Zugehörigkeit und vor allem Geschlechtszugehörigkeit. Bei der Geburt wollen die Menschen insbesondere eins wissen: »Junge oder Mädchen?« Unser biologisches Geschlecht trägt dazu bei, das soziale Geschlecht (gender; 7 Abschn. 3.2.2) zu definieren, also die charakteristischen Merkmale, von denen man annimmt, dass sie weiblich oder männlich sind. Wenn man sich Gedanken darüber macht, wie Anlage und Umwelt zusammen zu sozialer Vielfalt führen, ist das soziale Geschlecht ein gutes Beispiel dafür. Zuvor haben wir uns mit einem bedeutsamen Unterschied im Hinblick auf das soziale Geschlecht beschäftigt: Geschlechtsunterschiede bei sexuellen Interessen und Verhaltensweisen. Lassen Sie uns noch einmal das zentrale Thema dieses Kapitels durchgehen – nämlich dass bei uns Anlage und Umwelt in ihrem Zusammenspiel zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten führen –, indem wir andere Variationen in Bezug auf das soziale Geschlecht behandeln.
3.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede Ziel 25: Geben Sie einige biologische und psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen an.
In den meisten Aspekten sind sich Männer und Frauen, die ja mit ähnlichen adaptiven Herausforderungen konfrontiert waren, sehr ähnlich. Männer und Frau stammen nicht von unterschiedlichen Planeten – etwa von Mars und Venus –, sondern vom Planeten Erde. Wenn Sie mir sagen, dass Sie eine Frau oder ein Mann sind, geben Sie mir praktisch keine Hinweise auf Ihren Wortschatz, Ihre Intelligenz, Ihr Selbstwertgefühl, Ihre Zufriedenheit oder auf die Mechanismen, mit deren Hilfe Sie sehen, hören, lernen und sich erinnern. Das »andere« Geschlecht ist in Wahrheit ein sehr ähnliches Geschlecht. Und ist das wirklich so eine Überraschung? 45 Chromosomen von den 46 Chromosomen sind für beide Geschlechter gleich. Aber es gibt einige Unterschiede, und das sind Unterschiede, die wir bemerken. Vielfalt ruft Aufmerksamkeit hervor. Bitten Sie Menschen, sich selbst zu beschreiben, und dann werden ihnen ihre einzigartigen Merkmale einfallen. Rothaarige werden ihre Haarfarbe erwähnen. Große Menschen werden ihre Körpergröße angeben. In Situationen, in denen Sie die einzige Person Ihrer Ethnie oder Ihres Geschlechts sind, werden Sie auf ebendiese einzigartigen Merkmale achten (McGuire et al. 1978).
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Einige Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind offensichtlich. Im Vergleich zum Durchschnittsmann ist die Durchschnittsfrau mit 70% mehr Fett ausgestattet, verfügt über 40% weniger Muskeln und ist etwa 13 cm kleiner. Auch kommt sie 2 Jahre früher in die Pubertät und wird ihr männliches Gegenstück um 5 Jahre überleben. Es ist aber auch erwähnenswert, dass heute bei den Frauen die Weltrekorde im 400-Meter-Lauf und im Marathon im 10%-Bereich an die Weltrekorde der Männer herankommen (Leonhardt 2004). Im gesamten Buch werden wir es auch mit einigen weniger offensichtlichen Geschlechtsunterschieden zu tun haben. Bei Frauen ist es wahrscheinlicher, dass sie gleich lange von Männern und von Frauen träumen, dass sie unmittelbar nach dem Orgasmus erneut sexuell erregt sind, dass sie auch schwache Gerüche riechen, dass sie Emotionen frei zum Ausdruck bringen und dass ihnen in bestimmten Situationen Hilfe angeboten wird. Sie sind auch doppelt so anfällig für Depressionen und Ängste und haben ein 10-mal höheres Risiko für Essstörungen. Bei Männern dagegen ist es 4-mal so wahrscheinlich, dass sie Selbstmord begehen oder unter Alkoholismus leiden; es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie die Diagnose Autismus, Farbenblindheit, Hyperaktivität (bei Kindern) und Antisoziale Persönlichkeitsstörung (bei Erwachsenen) bekommen. Entscheiden Sie sich für ein Geschlecht, dann entscheiden Sie sich auch für dessen Anfälligkeit für diese Störungen bzw. Krankheiten. Lassen Sie uns nun näher auf das soziale Geschlecht und das Sozialverhalten eingehen. Forscher fanden Unterschiede bei der Aggression, der sozialen Macht und der sozialen Einbindung. Welchen Einfluss hat die Biologie auf das soziale Geschlecht, und welcher Anteil an den Unterschieden ist sozial bedingt – durch Geschlechtsrollen, die die Kultur uns zuweist, und durch die Art und Weise, wie wir als Kinder sozialisiert werden?
Soziales Geschlecht und Aggression Ziel 26: Beschreiben Sie den Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression.
In Umfragen geben mehr Männer als Frauen zu, Aggressionen zu haben, und Experimente bestätigen, dass Männer dazu neigen, sich aggressiver zu verhalten, z. B. etwas zu verabreichen, was sie als schmerzvollere elektrische Stromstöße ansehen (Bettencourt u. Kernahan 1997). Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression, bei der es mehr um körperliche als um verbale Aggression geht, zeigt sich auch im Alltag in unterschiedlichen Kulturen und Altersgruppen (Archer 2004). Die Häufigkeiten von Gewaltverbrechen veranschaulichen den Unterschied. Beispielsweise werden Männer in den USA 9-mal so häufig und in Kanada 7-mal so häufig wegen Mordes festgenommen als Frauen (FBI 2004; Statistics Canada 2003). Überall auf der Welt sind Jagen, Kämpfen und Kriegführung vorwiegend Aktivitäten von Männern (Wood u. Eagly 2002). Männer bringen auch eher ihre Unterstützung für einen Krieg zum Ausdruck. Bei einer Umfrage im Jahre 2005 gaben 51% der amerikanischen Männer an, dass sie der Irakinitiative von George Bush zustimmten, aber nur 34% der amerikanischen Frauen (Gallup 2005).
Soziales Geschlecht und soziale Macht Ziel 27: Beschreiben Sie einige Geschlechtsunterschiede in Bezug auf soziale Macht.
Überall auf der Welt, von Nigeria bis Neuseeland, nehmen Menschen Männer als dominanter wahr, als kräftiger und unabhängiger, Frauen hingegen als rücksichtsvoller, emotional unterstützender und geselliger (William u. Best 1990). Und tatsächlich sind Männer in den meisten Gesellschaften sozial dominant. Wenn Gruppen gebildet werden, sei es nun bei Geschworenengerichten oder bei Firmen, so werden sie gewöhnlich von Männern geleitet (Colarelli et al. 2005). In leitenden Positionen neigen Männer stärker dazu, direktiv, ja sogar autokratisch zu sein; Frauen neigen dazu, demokratischer zu sein und die Mitwirkung von Mitarbeitern an Entscheidungen zu fördern (Eagly u. Johnson 1990; van Engen u. Willemsen 2004). Wenn Menschen miteinander interagieren, äußern Männer eher Meinungen, Frauen dagegen bringen Unterstützung zum Ausdruck (Aries 1987; Wood 1987). Im alltäglichen Verhalten handeln Männer eher, wie es mächtige Menschen oft tun: selbstbewusst reden, unterbrechen, Berührungen initiieren, weniger lächeln, starren (Hall 1987; Major et al. 1990).
Aggression (aggression): jedes körperliche oder verbale Verhalten, das mit der Absicht ausgeführt wird, jemanden zu verletzen.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
»In den vielen langen Jahren müssen sie einander ähnlicher werden; der Mann muss mehr wie eine Frau werden, sie mehr wie ein Mann.« Alfred Lord Tennyson (»The Princess«, 1847)
Derartige Verhaltensweisen tragen dazu bei, die Ungleichheiten sozialer Macht aufrechtzuerhalten. Wenn Politiker gewählt werden, handelt es sich gewöhnlich um Männer, die im Jahre 2005 84% der Sitze in den Parlamenten der Welt einnahmen (IPU 2005). Dabei reichte die Repräsentation von Frauen in den nationalen Parlamenten 2005 von 7% in den arabischen Staaten bis 40% in Skandinavien (IPU 2005). In den traditionell männlichen Beschäftigungsbereichen sind die Gehälter der Männer höher. Die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Macht scheinen jedoch mit steigendem Alter geringer zu werden, weil sich Frauen im mittleren Alter besser behaupten und sich Männer dann besser in andere Personen einfühlen können (Maccoby 1998).
Soziales Geschlecht und soziale Einbindung
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Ziel 28: Erörtern Sie die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die soziale Einbindung bzw. die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und Freundschaften zu schließen.
Frage: Warum braucht man 200 Millionen Samenzellen, um eine Eizelle zu befruchten? Antwort: Weil sie nicht anhalten, um nach dem Weg zu fragen.
Nach Carol Gilligan et al. (1982, 1990) beschreibt der »normale« Kampf darum, eine eigene getrennte Identität zu entwickeln, eher individualistische Männer als beziehungsorientierte Frauen. Gilligan ist der Auffassung, dass sich Frauen von Männern sowohl dadurch unterscheiden, dass sie weniger damit beschäftigt sind, sich selbst als separate Individuen zu sehen, als auch dadurch, dass sie sich mehr darum kümmern, »Beziehungen aufzubauen«. Diese Geschlechtsunterschiede zeigen sich schon früh, nämlich beim Spiel von Kindern. Jungen spielen typischerweise in großen Gruppen mit einem Fokus auf Aktivitäten und weniger auf Gesprächen im kleinen Kreis. Mädchen spielen gewöhnlich in kleineren Gruppen, oft nur mit einer Freundin. Ihr Spiel ist weniger wettbewerbsorientiert als bei Jungen und, was die sozialen Beziehungen angeht, imitativer. Sowohl beim Spiel als auch in anderen Situationen sind Mädchen offener und reagieren stärker auf Rückmeldungen als Jungen (Maccoby 1990; Robert 1991). Wenn man Fragen wie diese stellt (»Hast du irgendeine Vorstellung davon, warum der Himmel blau ist?« oder »Hast du irgendeine Vorstellung davon, warum kleine Menschen länger leben?«), wagen Männer eher als Frauen eine Antwort, statt zuzugeben, dass sie es nicht wissen. Hier handelt es sich um ein Phänomen, das Guiliano et al. (1998a, b) als das männliche Antwortsyndrom bezeichnen. Als Jugendliche verbringen Mädchen mehr Zeit mit Freundinnen und Freunden und weniger Zeit alleine (Wong u. Csikszentmihalyi 1991). Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf die soziale Einbindung setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort. Weil Frauen in stärkerem Maße interdependent sind, nutzen sie Gespräche eher dazu, Beziehungen zu erkunden; Männer nutzen sie, um Lösungen mitzuteilen (Tannen 1990). Neuere Untersuchungen aus zahlreichen Ländern bestätigen, dass es Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Kommunikation gibt: 4 Neuseeland: Wenn man Menschen eine Auswahl von E-Mail-Notizen von Studierenden gibt, dann raten sie das Geschlecht des Verfassers in 66% der Fälle korrekt (Thomson u. Murachver 2001). 4 USA: Wenn man Mädchen einen Computer zur Verfügung stellt, dann verbringen sie weniger Zeit damit, Spiele zu spielen, und mehr Zeit damit, E-Mails an Freundinnen und Freunde zu schicken (Crabtree 2002). 4 Frankreich: Frauen führen 63% der Telefongespräche; und wenn sie mit einer Frau sprechen, dann bleiben sie im Durchschnitt länger (7,2 Minuten) am Telefon, als dies Männer machen, wenn sie mit anderen Männern sprechen (4,6 Minuten) (Smoreda u. Licoppe 2000). Frauen betonen, dass sie sich um Leute kümmern, und dabei geht es in den meisten Fällen um die ganz Kleinen und um die ganz Alten. Frauen kaufen auch 85% der Grußkarten (nach der Zeitschrift Time 1997). Obwohl 69% der Menschen angeben, dass sie eine enge Beziehung zu ihrem Vater haben, empfinden 90% der Menschen Nähe zu ihrer Mutter (Hugick 1989). Wie Menschen mit Macht allgemein betonen Männer gerne Freiheit und Selbstsicherheit. Das kann zu einer Erklärung der Tatsache beitragen, dass Männer aller Altersgruppen weltweit der Religion und dem Beten weniger Bedeutung beimessen als Frauen (Benson 1992; Stark 2002). Bei einer Gallup-Umfrage sagten 2003 53% der Männer und 69% der Frauen, Religion sei in ihrem Leben »etwas sehr Wichtiges« (Saad 2003). Auch unter den Berufsskeptikern nehmen Männer eine dominierende Stellung ein. Nach einer Umfrage waren 80% der Befragten einer Skeptics Society Männer (Shermer 1999). Entsprechend waren die zwei Dutzend Gewinner und Zweit-
139 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
Ziel 29: Erklären Sie, wie das biologische Geschlecht festgelegt wird, und beschreiben Sie die Rolle, die die Sexualhormone bei der biologischen Entwicklung und bei den sozialen Geschlechtsunterschieden spielen.
Wodurch lässt sich die Vielfalt des sozialen Geschlechts erklären? Ist die Biologie unser Schicksal? Werden wir von unserer Kultur geformt? Nach der biopsychosozialen Auffassung ist beides richtig; und dies geht auf das Zusammenspiel zwischen unserer momentanen Situation und dem zurück, was Wood u. Eagly (2002) als »den durch die Evolution entstandenen Charakter der Geschlechter« bezeichnen. In Bereichen, in denen Männer und Frauen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert waren (wie z. B. der Regulierung des Wärmehaushalts durch die Schweißproduktion oder der Entwicklung des Geschmacksinns zum Erkennen von Nahrung), sind sich die Geschlechter ähnlich. Sowohl Männer als auch Frauen setzen bei der Beschreibung des idealen Partners Persönlichkeitsmerkmale wie freundlich, aufrichtig und intelligent an die Spitze ihrer Prioritätenliste. Evolutionspsychologen behaupten allerdings, dass Männer in Bereichen, die mit dem Paarungsverhalten in Zusammenhang stehen, ein typisch männliches Verhalten zeigen – ganz gleich, ob es sich um Elefanten, See-Elefanten, einfache Leute vom Lande oder Vorsitzende eines großen Unternehmens handelt. Solche sozialen Geschlechtsunterschiede können durch die Geschlechtschromosomen beeinflusst werden und sind folglich genetisch bedingt. Physiologisch können sie durch die Unterschiede in der Konzentration von Sexualhormonen erklärt werden. Männer und Frauen sind Variationen eines einzigen Wesens. Nach der Zeugung gibt es sieben Wochen lang keine anatomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dann erst beginnen die Gene, das biologische Geschlecht zu determinieren. Dies geschieht durch das 23. Chromosomenpaar, die Geschlechtschromosomen. Von der Mutter erhält man ein X-Chromosom. Vom Vater kommt das Einzige der 46 Chromosomen, das nicht bei beiden Geschlechtern vorhanden ist. Dabei handelt es sich entweder um ein X-Chromosom, was die Entwicklung eines Mädchens zur Folge hat, oder um ein Y-Chromosom, wodurch ein Junge entsteht. Das Y-Chromosom enthält ein einzelnes, alles entscheidendes Gen, das das Hodenwachstum und die Produktion des wichtigsten männlichen Hormons, des Testosterons, auslöst. Dadurch kommt es wiederum ungefähr in der 7. Schwangerschaftswoche dazu, dass die äußeren männlichen Geschlechtsorgane ausgebildet werden. Auch Frauen haben Testosteron, nur weniger. Eine weitere kritische Phase der sexuellen Differenzierung stellen der 4. und 5. Schwangerschaftsmonat dar, wenn sich nämlich unter dem Einfluss des bei Männern stärker vorhandenen Testosterons und der weiblichen
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3.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts
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platzierten auf der Liste der Zeitschrift Skeptical Inquirer, in der herausragende rationalistische Skeptiker des 20. Jahrhunderts aufgeführt werden, Männer. In der Rubrik »Die Naturwissenschaft und das Paranormale« beim Verlag Prometheus Books (dem führenden Haus für Skeptizismus) zählte ich im Prospekt für 2004 und 2005 104 Autoren und nur vier Autorinnen. Frauen sind anscheinend offener für Spiritualität (und sie sind auch mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit Autoren von Büchern über Spiritualität als über Skeptizismus). Auch Bindungen und Gefühle der Unterstützung sind bei Frauen stärker als bei Männern (Rossi u. Rossi 1993). Die Verbindungen zwischen den Frauen – als Mütter, Töchter, Schwestern, Kusinen und Großmütter – sind das gemeinsame Band der Familie. Als Freundinnen sind Frauen vertrauter miteinander als Männer; sie reden häufiger und offener miteinander (Berndt 1992; Dindia u. Allen 1992). Wenn Männer Spaß an Aktivitäten haben, die sie Seite an Seite machen, haben Frauen mehr Vergnügen daran, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden (Wright 1989). Und wenn Frauen Stress bewältigen, wenden sie sich wegen Unterstützung häufiger an andere – sie gehen auf andere zu und schließen Freundschaft (Tamres et al. 2002; Taylor 2002). Sowohl Männer als auch Frauen berichten darüber, dass ihre Freundschaft mit Frauen intimer, vergnüglicher und hilfreicher ist (Rubin 1985; Sapadin 1988). Wenn sie Verständnis haben wollen und eine Person brauchen, mit der sie über Sorgen und Verletzungen sprechen können, wenden sich gewöhnlich sowohl Männer als auch Frauen an Frauen.
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Konkurrenz oder Miteinander? Zu Geschlechtsunterschieden bezogen darauf, wie wir mit anderen interagieren, kommt es schon in einem sehr frühen Alter
X-Chromosom (X chromosome): Geschlechtschromosom, das sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorhanden ist. Aus jeweils einem XChromosom von beiden Elternteilen entsteht ein Kind mit weiblichem Geschlecht. Frauen haben also zwei X-Chromosomen, Männer dagegen ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom. Y-Chromosom (Y chromosome): Geschlechtschromosom, das nur bei Personen männlichen Geschlechts vorhanden ist. Wenn es mit einem X-Chromosom der Mutter zusammentrifft, entsteht daraus ein Kind mit männlichem Geschlecht. Testosteron (testosterone): wichtigstes der männlichen Sexualhormone. Es ist bei Frauen und Männern vorhanden, allerdings stimuliert die zusätzliche Menge an Testosteron bei Männern die Entwicklung männlicher Sexualorgane im Fötus sowie das Wachstum der männlichen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
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»Gene sind für sich genommen wie Samen, die man auf dem Bürgersteig fallen lässt: nicht imstande, irgendetwas hervorzubringen.« Primatologe Frans B. M. de Waal (1999)
Ovarialhormone unterschiedliche neuronale Mechanismen im Gehirn entwickeln (Hines 2004; Udry 2000). Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn Drüsenfehlfunktionen oder Hormoninjektionen einen weiblichen Embryo einer übermäßigen Testosteronkonzentration aussetzen? Diese genetisch weiblichen Kinder werden mit männlich aussehenden Genitalien geboren, die chirurgisch umgewandelt werden können. Solche Mädchen tendieren bis zur Pubertät dazu, sich aggressiver und jungenhafter zu verhalten als die meisten anderen Mädchen und sich auch so anzuziehen und zu spielen, dass es eher der Art eines Jungen als der eines Mädchens entspricht (Berenbaum u. Hines 1992; Ehrhardt 1987). Haben sie die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Spielsachen auszuwählen, so spielen sie (wie Jungen) lieber mit Autos und Spielzeugwaffen als mit Puppen und Zeichenstiften. Einige davon entwickeln sich zu lesbischen Frauen, doch die meisten entwickeln sich – wie nahezu alle Mädchen mit traditionell weiblichen Interessen – heterosexuell. Zudem kehren die Hormone ihre Geschlechtsidentität nicht um; sie sehen sich selbst als Mädchen, nicht als Jungen (Berenbaum u. Bailey 2004). Kann das wilde Verhalten dieser Mädchen auf die pränatale Hormongabe zurückgeführt werden? Wenn dem so ist, können wir dann daraus schließen, dass biologische Geschlechtsunterschiede auch zu Unterschieden im Geschlechtsverhalten führen? Wie bei den Menschen verbringen die männlichen Exemplare der äthiopischen Grünmeerkatze, einer Affenart, mehr Zeit mit »männlichem« Spielzeug wie Lastwagen als mit »weiblichem« Spielzeug wie Puppen. Und Experimente an vielen Arten, von Ratten bis Affen, bestätigen, dass weibliche Embryos, denen man männliche Hormone gab, später ein atypisches maskulines Aussehen hatten und sich auch aggressiver verhielten (Hines u. Green 1991). Aber bei uns Menschen sehen entsprechende Mädchen oft maskulin aus, und sie werden als »anders« wahrgenommen, deshalb werden sie vielleicht auch eher wie Jungen behandelt. Eine frühe Gabe von Sexualhormonen wirkt sich demnach unmittelbar auf unser biologisches Aussehen aus, wirkt zugleich jedoch auch indirekt durch den Einfluss des Aussehens auf prägende soziale Erfahrungen. Somit wirken Anlage und Umwelt zusammen wie die beiden Hände eines Bildhauers, der aus einem Klumpen Ton eine Skulptur formt. Weitere Belege dafür, dass die Biologie die Entwicklung des sozialen Geschlechts beeinflusst, stammen aus Untersuchungen an Personen, die von den Genen her Männer waren, die aber trotz eines normalen Sexualhormonspiegels und trotz Hoden ohne oder mit einem sehr kleinen Penis geboren wurden. In einer Studie mit 14 Betroffenen, die sich zu einem frühen Zeitpunkt einer Operation zur Geschlechtsumwandlung unterzogen und als Mädchen aufwuchsen, erklärten sich 6 später zu Männern, 5 lebten als Frauen, und bei 3 Personen war die Geschlechtsidentität unklar (Reiner u. Gearhardt 2004). Bei einem bekannten Fall folgten die Eltern eines kanadischen Jungen, der seinen Penis bei einer misslungenen Beschneidung verlor, dem Rat der Fachleute und zogen ihn als Mädchen auf, nicht als beschädigten Jungen. Aber »Brenda« war nicht wie die anderen Mädchen. »Sie« mochte Puppen nicht. Sie zerriss beim wild herumtollenden Spielen ihre Kleider. In der Pubertät wollte sie keine Jungen küssen. Am Ende erklärten Brendas Eltern, was geschehen war. Daraufhin legte Brenda sofort ihre weibliche Identität ab, ließ sich die Haare kurz schneiden, nahm einen Männernamen an und heiratete schließlich eine Frau; sie wurde Stiefvater und brachte sich traurigerweise später um (Colapinto 2000). Obwohl das soziale Geschlecht sozial beeinflusst ist, wird es nicht auf ein im biologischen Sinne unbeschriebenes Blatt geschrieben. Die Geschlechtschromosomen steuern die Sexualhormone, von denen das Gehirn des Fötus benetzt wird, und haben einen Einfluss auf die neuronale Verdrahtung. Die neuere Forschung bestätigt, dass es während der Entwicklung in Hirnarealen mit sehr vielen Rezeptoren für Sexualhormone Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Wesen gibt (Cahill 2005). Im Erwachsenenalter sind Teile des Frontallappens, eines Gebiets, das etwas mit der Wortflüssigkeit zu tun hat, bei Frauen dicker. Ein Teil des parietalen Kortex, eines Schlüsselareals für die räumliche Wahrnehmung, ist dagegen bei Männern dicker. In anderen Studien wird darüber berichtet, dass es Geschlechtsunterschiede gibt im Hippocampus, in der Amygdala und beim Volumen der grauen Substanz im Gehirn, wenn man es mit der weißen Substanz vergleicht. Obwohl noch weitere Forschung nötig ist, um diese Befunde zu bestätigen und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, scheint nach Berichten der National Academy of Sciences eins klar zu sein: »Das Ge-
141 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
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schlecht ist wichtig.« Zusammen mit der Umwelt führen geschlechtsbezogene Gene und die damit zusammenhängenden physiologischen Prozesse »zu Verhaltensunterschieden und zu kognitiven Unterschieden zwischen Männern und Frauen«.
3.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht © picture-alliance/dpa/dpaweb
Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung der Umwelt bei der Entwicklung von Geschlechtsrollen, und beschreiben Sie die beiden Theorien der Geschlechtstypisierung.
Das Geschlecht unterliegt nicht nur dem biologischen Einfluss, es ist auch ein soziales Konstrukt. Die Kultur akzentuiert, was die Biologie initiiert hat.
Geschlechtsrollen Die Geschlechtszugehörigkeit ist wichtig. Aber aus einer biopsychosozialen Perspektive sind auch die Kultur und die unmittelbare Situation wichtig. Wie bereits erwähnt ist Kultur alles, was einer Gruppe gemeinsam ist und was über die Generationen hinweg weitergegeben wird. Die formende Kraft der Kultur kann man an den sozialen Erwartungen erkennen, von denen das Verhalten von Männern und Frauen geleitet wird. Wie im Theater versteht man in der Psychologie unter einer Rolle eine Reihe vorgeschriebener Handlungen bzw. Verhaltensweisen, die wir von denen erwarten, die eine bestimmte soziale Position einnehmen. Eine Anzahl von Normen definiert die in unserer Kultur geltenden Geschlechtsrollen – d. h. Erwartungen zu der Art und Weise, wie sich Frauen und Männer verhalten sollen. Vor 30 Jahren ergriffen die Männer die Initiative für ein Rendezvous, fuhren das Auto und tätigten die Bankgeschäfte; Frauen dagegen sorgten dafür, dass es zu Hause schön war, kümmerten sich um die Kinder, kauften Kleidung für sie ein und suchten die Hochzeitsgeschenke aus. Geschlechtsrollen gibt es auch außerhalb der eigenen vier Wände. In den USA verbringen berufstätige Männer etwa 1 Stunde mehr pro Tag bei der Arbeit als berufstätige Frauen sowie etwa 1 Stunde weniger mit Aktivitäten im Haushalt und bei der Kinderbetreuung (Bureau of Labor Statistics 2004). In Australien verbringen Frauen 54% mehr von ihrer Zeit mit unbezahlter Hausarbeit und 71% mehr Zeit mit der Kindererziehung als Männer (Trewin 2001). In den USA waschen verheiratete Mütter zu 90% die Wäsche und nur 13% kümmern sich um das Auto (Acock u. Demo 1994). Auch in Deutschland findet sich eine ähnliche Tendenz: Für 72% ist Fensterputzen Frauensache, doch nur 8% der Frauen führen kleinere ständig anfallende Reparaturen im Haushalt aus (Noelle-Neumann u. Köcher 2002). Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, welcher Elternteil zu ungefähr 90% der Zeit mit einem kranken Kind zu Hause bleibt, einen Babysitter organisiert oder den Arzt anruft (Maccoby 1995). Geschlechtsrollen können wie ein Gleitmittel in sozialen Beziehungen wirken, weil man sich lästige Diskussionen darüber spart, wer diese Woche die Wäsche macht und wer den Rasen mäht. Oft sind sie jedoch auch mit Nachteilen verbunden: Es kann ängstigend sein, von solchen Konventionen abzuweichen. Sind Geschlechtsrollen Ausdruck dessen, was für Männer und Frauen von der Biologie her natürlich ist? Oder werden sie durch Kulturen konstruiert? Die Vielfalt der Geschlechtsrollen über die Kulturen und über die Zeit hinweg deutet darauf hin, dass die Kultur hier einen starken Einfluss hat. In nomadischen Hirtengesellschaften gibt es kaum eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Jungen und Mädchen wachsen nahezu gleich auf. In Ackerbaugesellschaften hingegen bleiben die Frauen nahe beim Haus, arbeiten auf den Feldern und bleiben bei den Kindern; Männer ziehen oft ungebunden von einem Ort zum anderen und hüten die Rinder oder Schafe. Derartige Gesellschaften sozialisieren ihre Kinder normalerweise in deutlicher voneinander unterschiedenen Geschlechtsrollen (Segall et al. 1990; Van Leeuwen 1978). Doch innerhalb der Industrieländer variieren die Geschlechtsrollen und Einstellungen beträchtlich. Würden Sie sagen, dass es befriedigender ist, wenn beide Eheleute arbeiten und sich beide um die Kinderbetreuung kümmern? Bei der Umfrage Pew Global Attitudes (2003) kam heraus, dass die meisten Menschen in 41 von 44 Ländern der Aussage zustimmten, Berufstätigkeit für beide und gemeinsame Kinderbetreuung bringe am meisten Zufriedenheit (im Gegensatz
Der geschlechtsspezifische Tsunami In Sri Lanka, Indonesien und Indien trägt die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dazu bei, zu erklären, warum beim Tsunami im Jahre 2004 mehr Frauen als Männer starben. In einigen Dörfern waren 80% der Getöteten Frauen, die sich meist im Hause befanden, während die Männer eher auf dem Meer beim Fischen waren oder Arbeiten außerhalb des Haushalts machten (Oxfam 2005)
Rolle (role): Reihe von Erwartungen (Normen) an eine soziale Position. Sie definiert, wie sich jemand in dieser Position verhalten sollte. Geschlechtsrolle (gender role): gesellschaftliche Erwartungen an das Verhalten von Männern und Frauen.
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
. Abb. 3.8. Geschlechtsrolle und Kultur Die Einstellungen gegenüber traditionellen Geschlechtsrollen variieren von einem Land zum anderen. (International Social Survey Program 1994)
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dazu, dass die Frauen zu Hause bleiben, während der Mann für den Unterhalt sorgt). Aber die Unterschiede von Kultur zu Kultur sind gewaltig, angefangen mit Ägypten, wo doppelt so viele die Aussage ablehnten, wie ihr zustimmten, bis Vietnam, wo ihr 11-mal so viele zustimmten. Geschlechtsrollen variieren auch über die Zeit hinweg: 4 Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gewährte nur ein Land den Frauen das Wahlrecht, nämlich Neuseeland. Am Ende des letzten Jahrhunderts gab es nur ein Land, das dies nicht tat: Kuweit (Briscoe 1997). 4 In den späten 60er und frühen 70er Jahren nahm die Anzahl von amerikanischen Collegestudentinnen, die sich ein Leben als Vollzeithausfrauen erhofften, rapide ab – der Wind der Zeit trug die Hausfrauenschürze davon. 1960 war im Fach Jura einer von 10 Studienanfängern weiblich, zu Beginn des 21. Jahrhundert stellten Frauen bereits die Hälfte der Jurastudenten (Glater 2001). In Deutschland lag der Anteil weiblicher Studierender 1960 sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR bei etwa einem Vierteil: 28 bzw. 25%; inzwischen hat sich der Frauenanteil verdoppelt (Geißler 2002, . Abb. 3.8). Dennoch gilt nach wie vor: je höher die Position innerhalb der beruflichen Hierarchie, desto kleiner der Anteil der Frauen. 4 Über die Jahrzehnte seit 1930 hat das Selbstbewusstsein der Frauen zusammen mit ihrem sozialen Status zugenommen und ist dann wieder zurückgegangen – es wurde stärker bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, dann schwächer bis Mitte der 60er Jahre und dann wieder stärker (Twenge 2001). Es ist »für ein Mädchen in Ordnung, einen Jungen anzurufen, um sich mit ihm zu verabreden«; dieser Aussage stimmten nach einer Gallup-Umfrage 1950 29% der Amerikaner zu und ein halbes Jahrhundert später 70%. Die Vorstellungen von der Rolle der Geschlechter variieren auch zwischen den Generationen. Wenn asiatische Familien nach Kanada und die USA emigrieren, wachsen die Kinder der Einwanderer oft mit Altersgenossen auf, die Geschlechtsrollen übernehmen, die sich von denen der Immigranten-Eltern unterscheiden. Vor allem die Töchter fühlen sich zwischen verschiedenen Normen hin und her gerissen (Dion u. Dion 2001). Dies zeigt sich auch bei türkischen Mädchen in Deutschland, die sich häufig innerhalb der Familie in das traditionelle muslimische Rollenbild einfügen müssen und in der Schule mit westlichen Normvorstellungen konfrontiert sind (SchmalzJacobsen u. Hansen 1995). Geschlechtsidentität (gender identity): das Gefühl einer Person, Mann oder Frau zu sein. Geschlechtstypisierung (gender-typing): bezeichnet den Erwerb einer traditionell männlichen oder weiblichen Rolle. Theorie des sozialen Lernens (social learning theory): besagt, dass wir Sozialverhalten lernen, indem wir etwas beobachten und nachahmen und indem wir dafür belohnt oder bestraft werden.
Geschlecht und Kindererziehung Die Gesellschaft weist einem jeden von uns die soziale Kategorie männlich oder weiblich zu. Als unvermeidliche Folge davon kommt es bei uns zu einer stark ausgeprägten Geschlechtsidentität (wie sehr man sich als Mann oder Frau fühlt). In unterschiedlichem Maße findet dabei auch eine Geschlechtstypisierung statt. Darunter versteht man, dass manche Jungen überdurchschnittlich viele traditionell männliche Persönlichkeitseigenschaften und Interessen zeigen, während sich manche Mädchen im Unterschied zu anderen merklich weiblicher entwickeln. In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass Kinder geschlechtsspezifisches Verhalten lernen, indem sie etwas beobachten und dies nachahmen und dafür belohnt bzw. bestraft werden. »Nicole, du bist so eine gute Puppenmutter«; »Große Jungen weinen nicht, Alex«.
143 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts
. Abb. 3.9. Veränderung des Frauenanteils an deutschen Hochschulen Der Anteil weiblicher Studierender an deutschen Hochschulen ist seit 1960 stark angewachsen. (Geißler 2002)
Allerdings sind nicht nur die Eltern für Belohnungen und Rollenmodelle verantwortlich. Das zeigt sich daran, dass die Unterschiede im geschlechtsspezifischen elterlichen Erziehungsstil nicht ausreichen, um geschlechtsspezifisches Verhalten zu erklären (Lytton u. Romney 1991). Tatsächlich ist es so, dass sich Kinder selbst dann, wenn ihre Familien versuchen, geschlechtsspezifisches Verhalten zu vermeiden, von selbst in »Jungen- und Mädchenwelten« organisieren, die jeweils regeln, wie man sich als Junge oder Mädchen zu verhalten hat. Die Geschlechtsschematheorie kombiniert die Theorie des sozialen Lernens mit Kognitionen: In Ihrer Kindheit haben Sie sich – wie andere Kinder – bemüht, die Welt zu verstehen, Sie haben Konzepte oder Schemata einschließlich eines Schemas zum eigenen Geschlecht entwikkelt (Bem 1987, 1993). Das Geschlecht ist dann vergleichbar mit einer Linse, durch die man auf seine Erfahrungen blickt (. Abb. 3.9). Vor dem Alter von 1 Jahr beginnen Kinder, männliche und weibliche Stimmen und Gesichter zu unterscheiden (Martin et al. 2002). Nach dem Ende des 2. Lebensjahres zwingt die Sprache die Kinder, damit zu beginnen, ihre Welt auf der Grundlage von Geschlechtsrollen zu organisieren. Es werden z. B. die Pronomina »er« und »sie« benutzt, viele Sprachen klassifizieren Objekte als männlich (»der Zug«) oder weiblich (»die Gabel«). Durch Sprache, Kleidung, Spielzeuge und Lieder trägt das soziale Lernen zur weiteren Entwicklung von Geschlechtsschemata bei. Im weiteren Verlauf vergleichen sich Kinder dann selbst mit ihrem Geschlechterkonzept (»Ich bin ein Junge und deswegen männlich, stark und aggressiv« oder »Ich bin ein Mädchen und deshalb weiblich, süß und hilfsbereit«) und passen ihr Verhalten dem an. Kleine Kinder sind Detektive in Fragen des sozialen Geschlechts, erklären Martin u. Ruble (2004). Haben sie erst einmal begriffen, dass es zwei Sorten von Menschen gibt – und dass sie
Geschlechtsschematheorie (gender schema theory): besagt, dass Kinder ein kulturabhängiges Konzept dazu lernen, was es bedeutet, Mann oder Frau zu sein, und ihr Verhalten danach ausrichten.
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. Abb. 3.10. Zwei Theorien der Geschlechtstypisierung In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass sich die Geschlechtstypisierung durch Nachahmung und Verstärkung entwickelt. Die Geschlechtsschematheorie dagegen geht davon aus, dass das personenspezifische Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit die Wahrnehmung und das Verhalten beeinflusst
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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
selbst zu einer dieser Sorten gehören –, suchen sie nach Hinweisreizen für das Geschlecht. Mädchen, so könnten sie entscheiden, sind die mit den langen Haaren. Nachdem sie die Welt in zwei Hälften eingeteilt haben, sind 3-Jährige lieber mit ihren eigenen Geschlechtsgenossen zusammen und wählen sich ihre eigene Gruppe zum Spielen aus. Die Rigidität der Stereotype über Jungen und Mädchen erreicht im Alter von etwa 5 oder 6 Jahren ihren Höhepunkt. Wenn der neue Nachbar ein Junge ist, nimmt ein 6-jähriges Mädchen vielleicht schlichtweg an, dass er keine gemeinsamen Interessen mit ihr hat. Bei kleinen Kindern spielen Geschlechtsschemata eine große Rolle.
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Lernziele Abschnitt 3.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts Ziel 25: Geben Sie einige biologische und psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen an. Der hauptsächliche Aspekt, in dem sich Männer und Frauen ähneln, ist ihre genetische Ausstattung, bei der 45 von 46 Chromosomen für beide Geschlechter strukturell gleich sind. Männer und Frauen unterscheiden sich biologisch in Bezug auf das Körperfett, die Muskeln, die Körpergröße, das Alter beim Einsetzen der Pubertät und die Lebenserwartung. Sie unterscheiden sich auch in psychologischer Hinsicht, z. B. in ihrer Anfälligkeit für bestimmte Störungen: Frauen bekommen häufiger die Diagnose Depression, Männer eher die Diagnose Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Ziel 26: Beschreiben Sie den Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression. Mehr Männer als Frauen verhalten sich aggressiv und beschreiben sich selbst als aggressiv. Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf die Aggression, vor allem körperliche Aggression, ist in vielen Kulturen und in unterschiedlichen Altersgruppen zu finden. Ziel 27: Beschreiben Sie einige Geschlechtsunterschiede in Bezug auf soziale Macht. In den meisten Gesellschaften sind Männer sozial dominant und werden auch so wahrgenommen. Männer neigen dazu, mehr Leitungspositionen einzunehmen, und ihr Führungsstil ist direktiver als der von Frauen. Ziel 28: Erörtern Sie die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die soziale Einbindung bzw. die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und Freundschaften zu schließen. Frauen kümmern sich stärker darum, Verbindungen mit anderen aufzunehmen. Dieser Unterschied zeigt sich bereits, wenn kleine Kinder miteinander spielen, und setzt sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter fort. Frauen gehen auf andere zu und bauen Freundschaften auf; sie betonen, dass sie sich um andere kümmern, und sind häufig für die ganz Jungen und die ganz Alten verantwortlich. Die Bindungen zwischen Frauen scheinen stärker und unterstützender zu sein als die zwischen Männern. Männer neigen dazu, Freiheit und Selbstbewusstsein zu betonen. Ziel 29: Erklären Sie, wie das biologische Geschlecht festgelegt wird, und beschreiben Sie die Rolle, die die Sexualhormone bei der biologischen Entwicklung und bei den sozialen Geschlechtsunterschieden spielen. Das biologische Geschlecht wird durch das 23. Chromosomenpaar festgelegt. Bei diesem Chromosomenpaar besteht der Beitrag der Mutter
immer aus dem X-Chromosom. Der Beitrag des Vaters, der darüber bestimmt, ob ein Kind männlich oder weiblich sein wird, kann entweder ein X-Chromosom oder ein Y-Chromosom sein. Bei einer Kombination aus X und X wird daraus ein Mädchen, bei einer Kombination von X und Y ein Junge. Das Y-Chromosom enthält einen wichtigen Schalter für die Produktion des Hormons Testosteron, das in der 7. Woche der pränatalen Entwicklung das Wachstum der äußeren männlichen Geschlechtsorgane in Gang setzt (auch Frauen produzieren Testosteron, nur in geringerer Menge). Der 4. und 5. pränatale Monat ist eine zweite Schlüsselperiode für die Geschlechtsdifferenzierung; sie wird dadurch beeinflusst, dass der männliche Fötus mehr Testosteron hervorbringt und der weibliche Fötus mehr Ovarialhormone. Gender (soziales Geschlecht) wird definiert als die Menge biologischer und sozial beeinflusster Charakteristika, anhand derer Menschen männlich und weiblich definieren. Die Gene, die etwas mit dem Geschlecht zu tun haben, beeinflussen Unterschiede im Verhalten, indem sie möglicherweise einen Einfluss auf die Gehirnentwicklung haben; doch viele Geschlechtsunterschiede werden gelernt. Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung der Umwelt bei der Entwicklung von Geschlechtsrollen, und beschreiben Sie die beiden Theorien der Geschlechtstypisierung. Unsere Biologie beeinflusst unser soziales Geschlecht, aber Kulturen formen Geschlechtsrollen – Erwartungen dazu, wie sich Männer und Frauen verhalten sollten. Geschlechtsrollen können von einem Ort zum anderen und von einer Zeit zur anderen innerhalb derselben Kultur unterschiedlich sein. Das Gefühl einer Person, männlich oder weiblich zu sein, wird als Geschlechtsidentität bezeichnet; und einige Menschen zeigen in stärkerem Maße geschlechtstypisiertes Verhalten (traditionell weiblich bzw. männlich) als andere. In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass wir geschlechtsbezogenes Verhalten genauso wie anderes Verhalten lernen: durch Verstärkung, Bestrafung und Beobachtung. In der Geschlechtsschematheorie wird die Auffassung vertreten, dass wir uns ein kulturelles »Rezept« dafür aneignen, wie man weiblich oder männlich ist; dies wiederum beeinflusst unsere Verhaltensweisen und Wahrnehmungen in Bezug darauf, was für »Leute wie uns« angemessen ist. > Denken Sie weiter: Meinen Sie von sich, dass Sie sich stark geschlechtsspezifisch verhalten oder eher nicht? Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zu Ihrem Gefühl von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit beigetragen?
145 3.6 · Überlegungen zu Anlage und Umwelt
3.6
Überlegungen zu Anlage und Umwelt
Ziel 31: Beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Entwicklung.
»Es gibt triviale Wahrheiten und große Wahrheiten«, so die Überlegungen des Physikers Niels Bohr zu einigen Paradoxa der modernen Wissenschaft. »Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist einfach falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit kann allerdings auch wahr sein.« Wahr zu sein scheint jedenfalls, dass die Geschichte unserer Vorfahren einen wesentlichen Beitrag zu unserer Entwicklung als Spezies leistete. Dort, wo es Veränderung, eine natürliche Selektion und Vererbung gibt, hat – zumindest in einem bestimmten Ausmaß – ebenfalls eine Evolution stattgefunden. Als sich die Eizelle der Mutter mit der Samenzelle des Vaters vereinigte, trug die dabei entstandene einzigartige Genkombination auch bei uns zur Entwicklung bei – nämlich zu der als Individuum. Gene prädisponieren uns sowohl zu unseren Gemeinsamkeiten als Menschen als auch zu unseren individuellen Unterschieden. Dies ist eine große Wahrheit über die menschliche Natur. Gene prägen uns. Genauso wahr ist allerdings, dass unsere Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag zu unserer Entwicklung leisten. Wir lernen schon im Mutterleib und später in der Familie und in den sozialen Beziehungen zu den Menschen unserer Generation, wie wir denken und handeln sollen. Sogar anlagebedingte Unterschiede können durch äußere Einflüsse und Erfahrung verstärkt werden. Wenn die genetische Ausstattung und die Hormone Männer dazu prädisponieren, sich körperlich aggressiver zu verhalten als Frauen, mag die Kultur diesen Geschlechtsunterschied noch verstärken. Dies geschieht anhand von Normen, die Männer zu einem Machoverhalten und Frauen zu der Rolle als Repräsentantinnen des freundlicheren und sanfteren Geschlechts ermutigen. Wenn Männer stärker in Rollen gedrängt werden, die körperliche Kraft erfordern, und Frauen zu Rollen, die mit der Erziehung von Kindern zu tun haben, dann zeigen vielleicht beide Geschlechter genau das Verhalten, das von den jeweiligen Rolleninhabern erwartet wird. Dabei mögen sie feststellen, dass sie entsprechend beeinflusst werden. Die Rollen definieren ihre Rolleninhaber. Präsidenten verhalten sich während ihrer Präsidentschaft zunehmend präsidentenhaft, während sich Bedienstete immer stärker als Bedienstete geben. In ähnlicher Weise prägen uns Geschlechtsrollen. Aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtsrollen schwinden. In dem Maße, in dem die rohe Kraft für Macht und Status immer irrelevanter geworden ist (denken Sie etwa an Bill Gates), sind »sowohl Männer als auch Frauen in vollem Umfang dazu fähig, auf allen Ebenen einer Organisation Rollen zu übernehmen«, so Wood u. Eagly (2002). Und in dem Maße, in dem die Beschäftigung von Frauen in früher männlichen Berufen zunahm, sind die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Männlichkeit bzw. Weiblichkeit und in Bezug auf das, was man bei einem Partner sucht, . Abb. 3.11. Der biopsychosoziale Ansatz zur Entwicklung
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146
Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
geringer geworden (Twenge 1997). In dem Maße, in dem sich Rollen mit der Zeit verändern, verändern wir uns mit ihnen. Wenn uns nun beides prägt, Anlage und Umwelt, sind wir dann nichts anderes als ein »Produkt« aus Anlage und Umwelt? Sind wir rigide auf etwas festgelegt? Wir sind das Produkt aus Anlage und Umwelt (. Abb. 3.10), doch darüber hinaus sind wir auch ein offenes System. Gene durchdringen alles, sind aber nicht allmächtig. Manchmal trotzen Menschen ihrem genetischen Drang zur Fortpflanzung und entscheiden sich für das Zölibat. Auch die Kultur durchdringt alle Bereiche, sie ist aber nicht allmächtig. Manchmal widerstehen Menschen dem Erwartungsdruck ihres Freundeskreises, indem sie auf ihrer Freiheit bestehen und das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen erwartet. Wenn die Masse in eine Richtung geht, erinnern sich die Menschen daran, wer sie sind, und gehen einen anderen Weg. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre nannte die Angewohnheit, Anlage und Umwelt als Rechtfertigung für unser Versagen heranzuziehen, einen »Irrglauben«: Damit ist gemeint, dass man die Verantwortung für das eigene Schicksal nicht selbst übernimmt, sondern schlechten Genen oder schlechten Einflüssen anlastet. Tatsächlich sind wir sowohl Geschöpfe als auch Schöpfer unserer je eigenen Welt. Wir sind – und das ist eine unumstößliche Wahrheit – Produkte unserer Gene und unserer Umwelten. Dennoch – und das ist eine andere große Wahrheit – sind an der Kausalkette, die unsere Zukunft bestimmt, unsere momentanen Entscheidungen beteiligt. Unsere Entscheidungen von heute beeinflussen unsere Umwelt von morgen. Dafür haben wir den Verstand. Die menschliche Umwelt ist nicht wie das Wetter, das sich einfach ereignet. Vielmehr sind wir die Architekten unserer Umwelt. Unsere Hoffnungen, Ziele und Erwartungen wirken sich auf unsere Zukunft aus. Genau dies führt dazu, dass sich Kulturen so stark unterscheiden und so rasch verändern.
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Lernziele Abschnitt 3.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt Ziel 31: Beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Entwicklung. Die Biologie stattet uns mit bestimmten Fähigkeiten aus und begrenzt uns in anderen. Dies geschieht bei uns als Mitgliedern der Spezies Mensch durch natürliche Selektion und durch unsere einzigartige Genkombination zum Zeitpunkt der Empfängnis. Die Menschen und die Gebräuche in unserer sozialen Umwelt leiten uns in Richtung auf bestimmte Rollen und belohnen uns, wenn wir uns als konform gegenüber den kulturellen Erwartungen erweisen (oder bestrafen uns, wenn wir uns nicht als konform erweisen). Unsere individuellen biologischen und psychologischen Charakteristika lösen zugleich bei jenen Menschen in unserer Umgebung, die unser Verhalten beeinflussen, Reaktionen aus. Aber auch unsere Handlungsfreiheit ist wichtig. Wir können die Entwick-
lung an jedem Punkt entlang dieses biopsychosozialen Kontinuums untersuchen. Die Wissenschaft kann dafür sorgen, dass unser Wissen über uns selbst und unsere Wertschätzung gegenüber der Welt um uns herum größer und nicht geringer wird. > Denken Sie weiter: Sind Sie der Auffassung, dass bei Ihnen durch Vererbung und Umwelt festlegt wurde, wer Sie heute sind, oder dass Vererbung und Umwelt nur einen Einfluss darauf hatten, wer Sie heute sind? Können Sie sich an einen wichtigen Zeitpunkt in Ihrem Leben erinnern, als Sie Ihr eigenes Schicksal in einer Weise selbst in die Hand nahmen, dass es Ihrer Anlage und Ihrer Umwelt widersprach?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Was ist Erblichkeit? 2. Welches sind die drei Hauptkritikpunkte an der evolutionstheoretischen Erklärung der menschlichen Sexualität? 3. Um vorherzusagen, ob ein Jugendlicher rauchen wird, fragen Sie einfach, wie viele seiner Freunde im gleichen Alter rauchen. Eine Erklärung für diesen Zusammenhang ist der Einfluss der Gleichaltrigen. Welche andere Erklärung könnte es geben? 4. Wie unterscheiden sich individualistische und kollektivistische Kulturen? 5. Was sind Geschlechtsrollen, und was verrät uns ihre Variation über die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Menschen?
147 3.6 · Überlegungen zu Anlage und Umwelt
LDeutsche Literatur zum Thema Hennig, W. (2002). Genetik. Heidelberg: Springer. Kasten, H. (2003). Weiblich – männlich: Geschlechterrollen durchschauen. München: Reinhardt. Lautenbacher, S., Güntürkün, O., Hausmann, M. (2007). Gehirn und Geschlecht. Heidelberg: Springer. Petermann, F., Niebank, K., Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Heidelberg: Springer. Plomin, R., DeFries, J., McClearn, G., Rutter, M. (1999). Gene, Umwelt und Verhalten. Einführung in die Verhaltensgenetik. Bern: Huber. Rowe, D. C. (1997). Genetik und Sozialisation: die Grenzen der Erziehung. Weinheim: Beltz PVU. Wink, M. (Hrsg). (2001). Vererbung und Milieu. Heidelberg: Springer.
3
4 Entwicklung 4.1
Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
– 150
4.1.1 Zeugung und Empfängnis – 150 4.1.2 Pränatale Entwicklung – 151 4.1.3 Fähigkeiten des Neugeborenen – 153
4.2
Kleinkindzeit und Kindheit
– 155
4.2.1 Körperliche Entwicklung – 155 4.2.2 Kognitive Entwicklung – 158 4.2.3 Soziale Entwicklung – 166
4.3
Adoleszenz
– 178
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Körperliche Entwicklung – 179 Kognitive Entwicklung – 181 Soziale Entwicklung – 184 Übergang ins Erwachsenenalter – 187
4.4
Erwachsenenalter
– 189
4.4.1 Körperliche Entwicklung – 190 4.4.2 Kognitive Entwicklung – 196 4.4.3 Soziale Entwicklung – 201
4.5
Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie – 209
4.5.1 Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung 4.5.2 Stabilität und Veränderung – 210
– 210
Andere Kulturen, andere Perspektiven Ashima Ganguli … liegt in den Wehen … Jetzt ist sie allein, durch Vorhänge von den drei anderen Frauen im Zimmer getrennt… Zum ersten Mal in ihrem Leben schläft sie allein, von Fremden umgeben; ihr Leben lang hat sie entweder im Zimmer ihrer Eltern oder neben Ashoke gelegen. Sie wünscht, die Vorhänge wären offen und sie könnte mit den amerikanischen Frauen reden. Vielleicht hat eine von ihnen schon einmal ein Kind bekommen und könnte ihr sagen, was auf sie zukommt. Aber sie hat gehört, dass die Amerikaner großen Wert auf ihre Privatsphäre legen, trotz ihrer öffentlichen Sympa-
thiebekundungen, trotz ihrer Miniröcke und Bikinis und obwohl sie auf der Straße Händchen halten und auf dem Cambridge Common aufeinander liegen. Sie spreizt die Finger auf der riesigen, strammen Trommel, zu der ihr Bauch geworden ist. Wo die Füße und Hände des Babys im Moment wohl sind? Es ist jetzt nicht mehr unruhig; in den vergangenen Tagen hat es, von einem gelegentlichen Flattern abgesehen, nicht mehr gestoßen, geboxt oder sich gegen ihre Rippen gedrückt. Sie fragt sich, ob sie die einzige Inderin im Krankenhaus sei, doch dann erinnert ein leichtes Zucken des Babys sie da-
ran, dass sie genau genommen ja nicht allein ist. Es ist seltsam, denkt sie, dass ihr Kind an einem Ort geboren wird, an dem man normalerweise leidet oder stirbt… In Indien, denkt sie, gehen die Frauen zu ihren Eltern, wenn sie ein Kind zur Welt bringen, fort von Ehemann, Schwiegereltern und Hausarbeit, ziehen sich für eine Weile in die Kindheit zurück, wenn das Baby kommt. Jhumpa Lahiri. Der Namensvetter, S. 11–12, 2003, München: Blessing
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Kapitel 4 · Entwicklung
Entwicklung Entwicklungspsychologie (developmental psychology): Teildisziplin der Psychologie, die die im Verlauf des Lebens auftretenden Veränderungen auf der physischen, kognitiven und sozialen Ebene untersucht.
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> Wann, wie und warum entwickeln wir uns auf unserer Reise durch das Leben – auf dem Weg vom Mutterleib zum Grab? Wir stellen zwar immer wieder fest, dass die Menschen unterschiedlich sind. Für die Entwicklungspsychologie, die sich mit den körperlichen, kognitiven und sozialen Veränderungen im Lebenszyklus eines Menschen befasst, ist es jedoch genauso wichtig, unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen. Wir alle lernten mit etwa 1 Jahr laufen und mit etwa 2 Jahren sprechen. Als Kinder haben wir mit anderen Kindern gespielt und uns so auf unser Leben als Erwachsene vorbereitet. Wie alle Erwachsenen lachen und weinen, lieben und hassen wir, und gelegentlich kommt uns der Gedanke, dass wir eines Tages sterben werden.
Ziel 1: Nennen Sie die drei Veränderungsbereiche, die Entwicklungspsychologen untersuchen, und geben Sie die drei Hauptfragestellungen der Entwicklungspsychologie an.
Der entwicklungspsychologische Ansatz untersucht, wie sich ein Mensch vom Säugling zum alten Menschen entwickelt. Bei dieser Forschung geht es immer wieder um 3 große Themen: 1. Anlage versus Umwelt: Welchen Einfluss hat unser genetisches Erbe, und wie wirken sich die Erfahrungen, die wir machen, auf unsere Entwicklung aus? 2. Kontinuierlicher versus stufenweiser Verlauf: Ist Entwicklung ein geradliniger und kontinuierlicher Prozess, der wie eine Fahrt im Lift vor sich geht? Oder verläuft Entwicklung in einer Abfolge verschiedener Stufen, so wie man die Sprossen einer Leiter emporsteigt? 3. Stabilität versus Veränderung: Behalten wir die Persönlichkeitsmerkmale unserer frühen Kindheit bei, oder werden wir mit zunehmendem Alter zu anderen Menschen? In 7 Kap. 3 haben wir das Thema Anlage versus Umwelt behandelt. Am Ende dieses Kapitels werden wir über die Themen Kontinuität und Stabilität nachdenken.
4.1
Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
Wie wurden wir die, die wir sind? Von der Vereinigung von Ei- und Samenzelle bis zur Geburt eines Menschen verläuft die Entwicklung in einem geordneten, aber störungsanfälligen Prozess.
4.1.1 Zeugung und Empfängnis Ziel 2: Beschreiben Sie die Vereinigung von Ei- und Samenzelle bei der Empfängnis.
Nichts ist natürlicher, als dass sich eine Spezies fortpflanzt. Und doch gibt es nichts Erstaunlicheres. Nehmen wir einmal die Fortpflanzung des Menschen. Der Prozess kommt in Gang, wenn die Eierstöcke einer Frau eine reife Eizelle abstoßen, die ungefähr so groß ist wie der Punkt am Ende dieses Satzes, und die 200 Mio. Spermien oder mehr, die während des Geschlechtsverkehrs in die Gebärmutter gelangt sind, stromaufwärts auf die Eizelle losstürmen. Eine Frau bringt bei ihrer Geburt bereits alle ihre Eizellen mit zur Welt, allerdings in unreifem Zustand, und nur je eines von 5000 reift heran und löst sich vom Eierstock. Ein Mann beginnt dagegen erst in der Pubertät mit der Spermienproduktion. Diese läuft für den Rest seines Lebens rund um die Uhr, doch die Menge der produzierten Spermien – anfangs über 1000 Spermien in dem kurzen Moment, den Sie brauchen, um diesen Satz zu lesen – nimmt mit dem Alter ab. Wie ein Astronaut beim Anflug auf einen riesigen Planeten nähert sich das Spermium einer Zelle, die 85.000-mal größer ist als es selbst. Die verhältnismäßig wenigen Spermien, die es bis zur Eizelle schaffen, geben Enzyme ab, die die Schutzhülle der Eizelle wegfressen; dadurch kann das Spermium in die Eizelle eindringen (. Abb. 4.1). Die Eizelle verhält sich dabei allerdings nicht
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Francis Leroy, Biocosmos/Science Photo Library/Photo Researchers, Inc.
Lennart Nilsson/Bonnier Fakta Bokforlag
4.1 · Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen
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. Abb. 4.1a, b. Leben wird sexuell übertragen Spermienzellen umrunden eine Eizelle (a). Dringt ein Spermium in die gallertartige Außenhaut (b), dann startet der Ablauf einer Reihe von chemischen Vorgängen, die bewirken, dass das Spermium und die Eizelle zu einer einzigen Zelle verschmelzen. Wenn alles klappt, wird sich diese Zelle immer wieder teilen, bis sie 9 Monate später als ein 100-Billionen-Zellen-Mensch ins Leben tritt
passiv. Sobald ein Spermium einzudringen beginnt, blockiert die Oberfläche der Eizelle allen anderen Spermien den Zugang. Gleichzeitig sprießen fingerähnliche Auswüchse um das erfolgreiche Spermium und ziehen es nach innen. Ehe ein halber Tag vergangen ist, verschmelzen der Zellkern der Eizelle und der des Spermiums. Das können Sie als den glücklichsten Augenblick Ihres Lebens betrachten. Von den 200 Mio. Spermien hat genau dasjenige, das sich mit genau dieser Eizelle verbinden musste, das Rennen gemacht, damit Sie der Mensch werden konnten, der Sie sind. Als das erste »Baby aus dem Reagenzglas« zur Welt kam, schätzte der Arzt und Autor Lewis Thomas (1979) dies als Wunder ein: Mitte 1978 war die neueste Überraschung der Medizin … die Geburt eines englischen Babys 9 Monate, nachdem es in einer Schale gezeugt worden war. Die etwas länger zurückliegende Überraschung, die uns alle eigentlich immer noch durcheinander bringen sollte, ist die, dass sich eine einzelne Samenzelle und eine einzige Eizelle vereinigen können und dass aus ihnen eine menschliches Wesen entsteht. … Dies geschieht schon so lange vor unseren Augen, dass wir uns daran gewöhnt haben; daher auch der Aufschrei der Verwunderung angesichts dieser wirklich winzigen technischen Veränderung der allgemeinen Verfahrens – es ist eigentlich gar nichts anderes, als den Beginn des Vorgangs vom Eileiter in einem Plastikbehälter zu verlagern.
4.1.2 Pränatale Entwicklung Ziel 3: Erklären Sie, was eine Zygote, ein Embryo und ein Fötus ist und wie Teratogene die Entwicklung beeinflussen können.
Nicht einmal die Hälfte aller befruchteten Eizellen, die wir Zygoten nennen, überlebt die ersten 2 Wochen (Grobstein 1979; Hall 2004). Doch Ihnen und mir war das Schicksal gnädig. Am Anfang unserer Existenz steht eine einzelne Zelle, dann werden es 2, dann 4 Zellen, und jede Zelle ist mit der ersten identisch. Im Verlauf der 1. Woche, wenn die Zygote etwa 100 Zellen groß ist, beginnen sich die Zellen zu differenzieren, d. h. sie spezialisieren sich je nach Funktion in ihrer Struktur. Wie diese identischen Zellen das bewerkstelligen – so als ob jemand entscheidet: »Ich werde eine Hirnzelle, du wirst eine Darmzelle« –, ist für die Wissenschaftler ein Rätsel, bei dessen Lösung die Entwicklungsbiologie erst am Anfang steht. Etwa 10 Tage nach der Empfängnis binden sich diese zunehmend unterschiedlichen Zellen an die Uteruswand der Mutter. Nun beginnen die etwa 37 Wochen der engsten menschlichen Beziehung, die es gibt. Die äußeren Teile der Zygote bilden mit der Uteruswand die Plazenta, die die Ernährung sichert. Aus den inneren Zellen bildet sich der Embryo (. Abb. 4.2). Im Lauf der folgenden 6 Wochen bilden sich allmählich die Organe und nehmen ihre Arbeit auf. Das Herz beginnt zu schlagen.
»In genau dem Augenblick, in dem die Samenzelle auf die Eizelle trifft, hat die gefährliche Gratwanderung, die zur biologischen Auslöschung führen kann, begonnen.« Ralph Blair, Nevertheless Joy!, 1989
Zygote (zygote): befruchtete Eizelle; Beginn der Phase der raschen Zellteilung (2 Wochen). Embryo (embryo): sich entwickelnder menschlicher Organismus. Die Embryonalphase dauert etwa von der 2. Woche nach der Befruchtung bis zum Ende des 2. Monats.
Fötus (fetus): Bezeichnung für den sich entwickelnden menschlichen Organismus ab der 9. Woche nach der Empfängnis bis zur Geburt.
Dopamine/Photo Researchers, Inc.
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. Abb. 4.2a-d. Pränatale Entwicklung a Der Embryo wächst und entwickelt sich rasch. Im Alter von 40 Tagen wird die Wirbelsäule sichtbar, und Arme und Beine beginnen zu wachsen. b Fünf Tage später beginnen sich die Proportionen des zentimeterlangen Embryos zu verändern: Der Körper ist nun größer als der Kopf, und Arme und Beine sind deutlich gewachsen. c Am Ende des 2. Monats beginnt die Fötalzeit. Gesichtszüge, Hände und Füße haben sich gebildet. d Zu Beginn des 4. Monats passt der knapp 60 g schwere Fötus noch mühelos auf eine Handfläche
Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company
Kapitel 4 · Entwicklung
Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company
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Etwa 9 Wochen nach der Empfängnis hat der Embryo eindeutig menschliche Züge und ist jetzt ein Fötus (lat. Leibesfrucht, Kind). Während des 6. Monats sind Organe wie der Magen hinreichend ausgebildet, um einem zu früh geborenen Fötus eine Überlebenschance zu bieten. Der Fötus reagiert nun auch auf Geräusche. Mikrophonaufnahmen aus dem Uterus haben gezeigt, dass der Fötus den gedämpften Klang der mütterlichen Stimme hört (Ecklund-Flores 1992). Unmittelbar nach der Geburt reagiert das Kind mehr auf diese Stimme als auf die Stimme einer anderen Frau oder auf die seines Vaters (Busnel et al. 1992; DeCasper et al. 1984, 1986, 1994). ! Die pränatale Entwicklung umfasst folgende Phasen, wobei in jeder Phase sowohl genetische Faktoren als auch Umweltfaktoren wirksam werden: 4 Zygote: von der Empfängnis bis zur 2. Woche 4 Embryo: von der 2. bis zur 8. Woche 4 Fötus: von der 9. Woche bis zur Geburt
Teratogene (teratogens): Wirkstoffe (wie chemische Stoffe und Viren), die zum Embryo bzw. Fötus durchdringen und ihn während der pränatalen Entwicklung schädigen können.
In jeder pränatalen Phase wird die Entwicklung sowohl durch genetische Faktoren als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. Die Plazenta leitet Nährstoffe und Sauerstoff von der Mutter zum Fötus und hält dabei viele potenziell schädliche Substanzen zurück. Doch manche Substanzen schlüpfen durch die Kontrolle. Der Plazentaschutzwall lässt manche Teratogene passieren: Schadstoffe wie etwa bestimmte Viren und Drogen. Ist die Mutter heroinabhängig, dann ist ihr Kind bei der Geburt bereits ebenfalls heroinabhängig. Ist die Mutter mit dem Aids-Virus infiziert, dann kann ihr Kind auch infiziert sein. Eine schwangere Frau raucht niemals allein: Sie selbst und ihr Fötus bekommen den reduzierten Blutsauerstoff und den Nikotinstoß zu spüren. Ist die Mutter eine starke Raucherin, dann erhält ihr Fötus möglicherweise weniger Nährstoffe, er wird mit geringerem Gewicht geboren und ist anfälliger für eine Reihe von Problemen (Pringle et al. 2005). Wir wissen nicht, wie viel eine schwangere Frau trinken darf, ohne ihr Kind zu gefährden. Sogar geringe Mengen Alkohol können das fötale Gehirn beeinträchtigen: Auch wenn man nur
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ein einziges Mal betrunken ist, kann dies Millionen fötaler Hirnzellen zum Absterben bringen (Braun 1996; Ikonomidou et al. 2000). Der Alkohol geht ins Blut der Mutter über – und somit auch in das des Fötus – und lässt bei beiden die Aktivität des Zentralnervensystems geringer werden. Ist die Mutter eine starke Trinkerin, dann besteht für den Säugling ein erhöhtes Risiko, mit Geburtsschäden zur Welt zu kommen und geistig retardiert zu sein. Bei einem von 750 Neugeborenen zeigt sich die Wirkung als fötales Alkoholsyndrom (FAS): missgestalteter, kleiner Kopf und anomale Gehirnentwicklung. Heute ist FAS die häufigste Ursache für geistige Retardierung (Nichols 1994; Streissguth et al. 1991). Wo es üblich war, dass schwangere Frauen trinken, sind noch mehr Kinder vom FAS betroffen (Dorozyaski 1993; Dorris 1989). Kinder von alkoholabhängigen Müttern sind besonders gefährdet: 4 von 10 Müttern, die während der Schwangerschaft trinken, bringen Kinder mit FAS zur Welt. In vielen Teilen der Welt glauben die Menschen, dass der psychische Zustand einer Frau während der Schwangerschaft einen Einfluss auf ihren Fötus hat. Als Forscher dieser Möglichkeit in Experimenten bei schwangeren Nagetieren und nichtmenschlichen Primaten unter Stress nachgingen, fanden sie heraus, dass Stress zu einer Nachkommenschaft führt mit einer verzögerten motorischen Entwicklung, einer erhöhten Emotionalität, Lerndefiziten und Veränderungen in Neurotransmittersystemen, die mit psychischen Störungen beim Menschen in Zusammenhang gebracht werden, wie etwa einer Depression (DiPietro 2004; Huzink et al. 2004). Es bleibt künftigen Untersuchungen überlassen, festzustellen, ob pränataler Stress bei der Mutter die menschliche Entwicklung in ähnlicher Weise beeinflusst und, wenn dies der Fall ist, ab welchem Belastungsniveau.
Fötales Alkoholsyndrom (abgek. FAS, fetal alcohol syndrome): körperliche und kognitive Anomalien, verursacht durch mütterlichen Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft. In schweren Fällen kann es zu auffallenden Veränderungen der Gesichtsproportionen kommen.
»Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So trinke nun keinen Wein noch starkes Getränk und iss nichts Unreines …« Bibel, Buch der Richter, Kap. 13, Vers 7
4.1.3 Fähigkeiten des Neugeborenen Ziel 4: Beschreiben Sie einige der Fähigkeiten von Neugeborenen, und erklären Sie, wie die Forscher Habituation einsetzen, um die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen zu erfassen.
Suchreflex (rooting reflex): Bereitschaft eines Babys, den Mund zu öffnen und nach der Brustwarze zu suchen, sobald seine Wange berührt wird.
Darauf vorbereitet, zu füttern und zu essen Tiere und Menschen sind von Natur aus darauf angelegt, auf die Nahrungsbedürfnisse ihrer Jungen zu reagieren
R. Scheddin
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Haben wir die Risiken und Gefahren der pränatalen Zeit überstanden, dann kommen wir zur Welt, und zwar ausgestattet mit Reflexen, die unser Überleben auf hervorragende Weise sichern. Wir ziehen die Gliedmaßen zurück, um einem Schmerz auszuweichen. Legt uns jemand ein Tuch aufs Gesicht, das uns am Atmen hindert, dann drehen wir den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchen, das Tuch wegzuschieben. Junge Eltern machen sich oft Sorgen, ob ihr Baby die Reflexe richtig koordinieren kann, die für die Nahrungsaufnahme nötig sind. Der Suchreflex kann das zeigen: Berührt man das Baby an der Wange, dann dreht es sich zu der Berührung um, öffnet den Mund und sucht nach einer Brustwarze. Sobald es sie findet, schließt es den Mund fest um die Warze und beginnt zu saugen, wobei das Saugen bereits eine koordinierte Abfolge von Zungenbewegung, Schlucken und Atmen erfordert. Wird dem Baby die Befriedigung versagt, beginnt es zu schreien – ein Verhalten, das Eltern höchst unerfreulich finden. Sie sind dann sehr rasch bereit, diesen Zustand zu beenden. William James, ein Pionier der amerikanischen Psychologie, nahm an, dass das Neugeborene in einer Art »blühender und summender Verwirrung« lebt, und bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein widersprach ihm auch kaum jemand. Man glaubte, dass Neugeborene nur ein bedeutungsloses Wechselspiel von Licht und Schatten sehen könnten. Doch diese Wissenschaftler sahen selbst das Licht am Ende des Tunnels dank neuer Forschungsmethoden, mit deren Hilfe die Untersuchung Neugeborener wesentlich verbessert wurde (7 Unter der Lupe »Strategien zur Erforschung kindlichen Denkens«). Sie entdeckten, dass einem ein Baby vieles erzählen kann – vorausgesetzt, man weiß, wie man fragen muss. Beim Fragen muss man sich an dem orientieren, was ein Baby tun kann: schauen, saugen und den Kopf drehen. Und ausgestattet mit Geräten, die die Augenbewegungen registrierten, und mit Schnullern, die mit Elektronik versehen waren, machten sich die Wissenschaftler auf, die uralten Fragen der Eltern zu beantworten: Was kann mein Baby sehen, hören, schmecken und denken?
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Abb. 4.3a, b. Neugeborene zeigen eine Vorliebe für Gesichter Werden diese beiden Reize dargeboten, die aus identischen Elementen zusammengesetzt sind, dann schauen italienische Neugeborene fast doppelt so viele Sekunden auf das Bild, das an ein Gesicht erinnert (a; Johnson u. Morton 1999). In einer Studie mit kanadischen Neugeborenen, die im Durchschnitt erst 53 Minuten alt waren, zeigte sich die gleiche, offenbar angeborene Präferenz für Gesichter. (Mundloch et al. 1999)
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Habituation (habituation): Abnahme der Reaktionsbereitschaft bei wiederholter Stimulusdarbietung. In dem Maß, wie ein Säugling durch wiederholte Darbietung mit einem visuellen Stimulus vertraut wird, schwindet sein Interesse; er fixiert den Stimulus immer kürzer und wendet früher den Blick ab.
Was die Wissenschaftler dabei herausfanden, war erstaunlich und faszinierend: Von Geburt an sind wir für soziale Beziehungen prädestiniert und bringen die entsprechenden Fähigkeiten mit. Ein Neugeborenes dreht den Kopf dorthin, wo es menschliche Stimmen hört; ein Bild, das Ähnlichkeit mit einem Gesicht hat (. Abb. 4.3), wird länger betrachtet als ein rundes Muster. Doch wird das runde Muster länger fixiert als eine Scheibe ohne Kontraste, wenn das runde Muster Kontraste aufweist, die Ähnlichkeit mit dem menschlichen Auge haben (Fantz 1961). Das Neugeborene richtet den Blick am liebsten auf Gegenstände in 10–15 cm Entfernung. Und wen wundert es, dass das in etwa die Entfernung zwischen den Augen des Kindes und denen der Mutter beim Stillen ist (Maurer u. Maurer 1988)? Im Verlauf der ersten Lebensmonate entwickeln sich die Wahrnehmungsfähigkeiten des Neugeborenen ständig weiter. Schon in den ersten Tagen nach der Geburt wird das Neuronennetz im Gehirn auf den Geruch des mütterlichen Körpers geprägt. Wenn man ein Baby, das gestillt wird, im Alter von 1 Woche zwischen zwei Stilleinlagen legt, von denen eine aus dem BH seiner Mutter stammt und die andere von einer anderen stillenden Mutter, dann wendet sich das Baby i. Allg. zu dem Stück Mull hin, das den spezifischen Geruch seiner Mutter aufgenommen hat (MacFarlane 1978). Gibt man einem 3 Wochen alten Baby einen Sauger, der eine Kassette einschaltet, auf der manchmal die Stimme der Mutter zu hören ist und manchmal die Stimme einer anderen Frau, dann saugt das Kind kräftiger, wenn es die vertraute Stimme der Mutter hört (Mills u. Melhuish 1974). ! Ein Baby kann nicht nur sehen, riechen und hören, was für sein Überleben wichtig ist, sondern es setzt schon früh seine Sinnesorgane ein, um zu lernen.
Unter der Lupe
Strategien zur Erforschung des kindlichen Denkens Ist die Sehfähigkeit eines Neugeborenen weit genug entwickelt, um Formen zu unterscheiden? Kann ein Baby im Alter von 3 Monaten Gesichter wiedererkennen? Hat ein 5 Monate altes Kind eine Vorstellung von Zahlen? Wenn Babys sprechen könnten, würden wir sie befragen. Da sie jedoch (noch) nicht sprechen können, lassen Psychologen das Verhalten sprechen. Wissenschaftler im Bereich Entwicklungspsychologie untersuchen beispielsweise eine elementare Form des Lernens, die Habituation genannt wird. Dabei nimmt die Reaktion des Babys auf einen wiederholten Reiz ab. Ein neuer Stimulus zieht die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich, wenn er zum ersten Mal dargeboten wird. Doch je öfter der Reiz präsentiert wird, desto schwächer fallen die Reaktionen des Babys aus. Diese scheinbare Langeweile, mit der das Baby auf schon bekannte Reize reagiert, gibt uns die Möglichkeit herauszufinden, was ein Säugling sehen und woran er sich erinnern kann. Spencer et al. (1997; Quinn 2002) entwickelten ein Versuchsdesign, bei dem sie die Vorliebe von Babys für neue Stimuli nutzten, um 4 Monate alte Säuglinge zu »fragen«, wie sie Hunde und Katzen wiedererkennen. Zunächst zeigten sie den Säuglingen eine Reihe von Bildern mit Katzen oder Hunden. Welches der beiden Tiere in . Abb. 4.4 würde ein Kind, dem man vorher Bilder von Katzen gezeigt hatte, Ihrer Meinung nach als neu und ungewöhnlich erleben (gemessen an der Fixationsdauer)? Das Kind entschied sich für das zusammengesetzte Tier mit dem Hundekopf (bzw. für das mit dem Katzenkopf, wenn das Kind vorher Bilder von Hunden gesehen hatte). Daraus kann man die Annahme ableiten, dass Säuglinge genau wie Erwachsene zuerst das Gesicht wahrnehmen und erst danach den Körper.
Andere Wissenschaftler, die ebenfalls mit dem Phänomen der Habituation arbeiteten, fanden heraus, dass Säuglinge auch Farben, Formen und Geräusche unterscheiden können, dass sie durchaus Sinn für Zahlen haben und ein paar grundlegende Konzepte der Physik verstehen (z. B. dass sich zwei feste Objekte nicht gleichzeitig am selben Platz befinden können). Warum wurden diese einfachen und doch so eleganten Untersuchungen erst in jüngerer Zeit durchgeführt? Slater (1994) erklärt dies so: Um einen neuen Reiz als neu und anders wahrnehmen zu können, muss sich der Säugling an den ursprünglichen Reiz erinnern können. Bis in die frühen 80er Jahre ging die Wissenschaft jedoch von der Annahme aus, dass das Gehirn eines Neugeborenen nicht reif genug für eine solche Gedächtnisleistung ist. Doch nach und nach konnten die Wissenschaftler die Fähigkeiten des Neugeborenen besser einschätzen und suchten deshalb nach neuen Wegen, um die Spannbreite der kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen untersuchen zu können.
Eigentum von Paul Quinn © John Wiley & Sons
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. Abb. 4.4. Schnell antworten: Welches ist die Katze? Wissenschaftler verwendeten Hybridbilder wie dieses von Hund und Katze, um herauszufinden, nach welchen Kriterien Kleinkinder Tiere in eine Kategorie einordnen
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Lernziele Abschnitt 4.1 Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen Pränatale Entwicklung Ziel 1: Nennen Sie die drei Veränderungsbereiche, die Entwicklungspsychologen untersuchen, und geben Sie die drei Hauptfragestellungen der Entwicklungspsychologie an. In der Entwicklungspsychologie werden körperliche, geistige und soziale Veränderungen über die Lebensspanne hinweg untersucht. Die drei Hauptforschungsfragen betreffen den relativen Einfluss der Anlagen (Vererbung) und der Umwelt (Erfahrung), ob Entwicklung ein kontinuierlicher Prozess ist oder aus einer Reihe voneinander unterschiedener Stufen besteht, ob die Persönlichkeit stabil ist oder ob sie sich verändert, wenn wir älter werden. Ziel 2: Beschreiben Sie die Vereinigung von Ei- und Samenzelle bei der Empfängnis. Bei der Empfängnis kann nur eine Samenzelle des Mannes die äußere Hülle der Eizelle einer Frau durchdringen, bevor die Oberfläche der Eizelle alle anderen abblockt. Innerhalb von etwa 12 Stunden vereinigen sich die Kerne von Samen- und Eizelle zu einer einzigen Zelle. Ziel 3: Erklären Sie, was eine Zygote, ein Embryo und ein Fötus ist und wie Teratogene die Entwicklung beeinflussen können. Eine Zygote ist eine befruchtete Eizelle, die zunehmend differenzierter wird. Nach etwa 10 Tagen ist der äußere Teil der Zellmasse mit der Uteruswand verbunden, und aus den inneren Zellen wird der Embryo. Hiermit beginnt eine Entwicklungsstufe, bei der sich die wesentlichen Organe ausbilden und ihre Funktion aufnehmen. Von
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der 9. Woche nach der Befruchtung an bis zur Geburt entwickelt sich der Organismus, der jetzt Fötus heißt, weiter und wächst. Teratogene sind potenziell schädliche Stoffe, die die Plazentaschranke passieren und den sich entwickelnden Embryo oder Fötus schädigen können. Ziel 4: Beschreiben Sie einige der Fähigkeiten von Neugeborenen, und erklären Sie, wie die Forscher Habituation einsetzen, um die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen zu erfassen. Neugeborene kommen mit einer Anzahl automatischer Reaktionen (Reflexen) auf die Welt, die zum Überleben beitragen; dazu gehört auch der Suchreflex, der ihnen hilft, Nahrungsquellen ausfindig zu machen. Die sich rasch entwickelnden Seh- und Hörsinne scheinen auf soziale Ereignisse angepasst zu sein, wie etwa auf das Gesicht oder die Stimme der Betreuungsperson. Forscher können einiges von dem herausfinden, was Kleinkinder wahrnehmen und denken, indem sie beobachten, wie sie auf neuartige Reize reagieren (wie z. B. Farben, Gestalten und Formen) oder wie vertraute Reize zunehmend langweiliger werden (sie habituieren). Um einen neuen Reiz als anders zu erkennen, muss sich ein Kleinkind an den alten Reiz erinnern; dies deutet auf eine einfache Form des Lernens hin. > Denken Sie weiter: Hat Sie der Bericht über die Fähigkeiten der Neugeborenen überrascht? Oder lautete Ihre Reaktion: »Das war doch klar«?
Kleinkindzeit und Kindheit
Während der Kleinkindzeit wächst der Säugling vom Neugeborenen zum Kleinkind heran; im Verlauf der Kindheit wird aus dem Kleinkind ein Teenager. Jeder von uns durchläuft diesen Weg der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung. Von der frühesten Kindheit an verläuft die Entwicklung von Gehirn und Denken, also von neuronaler »Hardware« und kognitiver »Software«, parallel.
4.2.1 Körperliche Entwicklung Die biologische Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes ist die Basis für seine psychische Entwicklung. Um zu verstehen, wie sich die motorischen Fertigkeiten und das Gedächtnis entwickeln, müssen wir verstehen, wie sich das Gehirn entwickelt.
Entwicklung des Gehirns Ziel 5: Beschreiben Sie einige Entwicklungsveränderungen im Gehirn des Kindes, und erklären Sie, warum viele der Ähnlichkeiten zwischen uns auf Reifung zurückgehen.
Bereits im Mutterleib nimmt die Zahl der Nervenzellen explosionsartig zu: fast eine Viertelmillion pro Minute. In der Aufbauphase des Kortex kommt es zu einer Überproduktion von Neuronen, in der 28. Schwangerschaftswoche erreicht die Produktion ihren Höhepunkt und pendelt sich dann bis zum Zeitpunkt der Geburt bei etwa 23 Mrd. ein (Rabinowicz et al. 1996, 1999; de Courten-
»Es ist ein seltsames Glück, das Erwachen, das Wachsen und die ersten schwachen Betätigungen eines lebendigen Geistes zu beobachten.« Helen Keller und Annie Sullivan, »Mein Weg aus dem Dunkel. Blind und gehörlos – das Leben einer mutigen Frau, die ihre Behinderung besiegte«, 1997
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Kapitel 4 · Entwicklung
Myers 2002). Am Tag Ihrer Geburt waren bereits fast alle Gehirnzellen vorhanden, die Sie je haben werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Nervensystem jedoch noch unreif: Das neuronale Netz, das Ihnen die Fähigkeit zu laufen verleiht, zu sprechen und sich zu erinnern, unterlag einem stürmischen Wachstumsschub hin (. Abb. 4.5). Zwischen dem 3. und dem 6. Lebensjahr wachsen die Nervenverbindungen in den Frontallappen am schnellsten; sie sind für rationales Planen zuständig (und sie entwickeln sich bis mindestens zur Adoleszenz weiter). Die Assoziationsfelder des Großhirns – die mit Denken, Gedächtnis und Sprache in Zusammenhang gebracht werden – sind die letzten Bereiche des Gehirns, die sich entwickeln. In dem Maße, wie dies geschieht, nehmen die geistigen Fähigkeiten rapide zu (Chugani u. Phelps 1986; Thatcher et al. 1987). Die Nervenbahnen, die eine unterstützende Funktion für die Sprache und die Beweglichkeit haben, breiten sich bis zur Pubertät weiter aus; danach werden überzählige Verbindungen gestutzt und verschwinden allmählich, während andere Nervenbahnen verstärkt werden (Paus et al. 1999; Thompson et al. 2000). Eine Blume entfaltet sich entsprechend ihren genetischen Instruktionen. Auch der Mensch erlebt eine geordnete Abfolge von biologischen Wachstumsprozessen, die genetisch begründet sind. Diese Prozesse werden Reifung genannt. Die Reifung hat einen bestimmenden Einfluss auf viele menschliche Gemeinsamkeiten im Entwicklungsverlauf: Jedes Kind lernt stehen, ehe es laufen lernt, und es verwendet Substantive früher als Adjektive. Schwere Deprivation, Misshandlung oder Missbrauch können diesen Prozess verzögern; Eltern, die viel mit dem Kind sprechen und ihm vorlesen, fördern dagegen die Ausbildung neuronaler Verbindungen. Doch die Tendenz zum Wachsen und zur Entwicklung ist genetisch bedingt, also angeboren.
4 . Abb. 4.5. Schematische Darstellung von Schnitten durch den Kortex des Menschen Der Mensch kommt mit einem unausgereiften Gehirn zur Welt. Während des biologischen Reifungsprozesses bildet das neuronale Netz immer neue Verbindungen aus und wird zunehmend komplexer Reifung (maturation): biologische Wachstumsprozesse, die die Grundlage für systematisch und von äußeren Verhältnissen und Erfahrungen relativ unbeeinflusst ablaufende Verhaltensänderungen sind.
! Der Reifungsprozess setzt den grundlegenden Verlauf der Entwicklung in Gang, Erfahrungen sorgen für die Feinabstimmung.
Die motorische Entwicklung Ziel 6: Beschreiben Sie kurz vier Ereignisse in der Abfolge der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum Kleinkind, und geben Sie an, welche Auswirkungen Reifung und Erfahrung auf diese Abfolge haben.
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. Abb. 4.6. Der Siegeszug des Kleinkinds Herumrollen – krabbeln – laufen – rennen: Die Reihenfolge dieser Stufen der motorischen Entwicklung des Kleinkindes ist überall auf der Welt gleich; variabel ist jedoch das Alter, in dem das Kind eine neue Stufe erobert
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Die Entwicklung des Gehirns ermöglicht die Koordination der Bewegungen. Mit dem fortschreitenden Reifungsprozess der Muskeln und des Nervensystems werden komplexere Bewegungsabläufe möglich. Bis auf wenige Ausnahmen verläuft die körperliche (motorische) Entwicklung überall auf der Welt in derselben Reihenfolge. Ehe das Baby ohne Hilfe sitzen kann, rollt es sich herum; bevor es laufen kann, krabbelt es auf allen Vieren (. Abb. 4.6). Dieses Verhalten ist keine Nachahmung – auch blinde Kinder krabbeln, ehe sie laufen –, sondern es ist Ausdruck des reifenden Nervensystems.
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Allerdings ist der Zeitpunkt individuell verschieden. So können im westlichen Kulturkreis beispielsweise 25% aller Babys mit 11 Monaten laufen, 50% innerhalb einer Woche nach ihrem ersten Geburtstag und 90% mit 15 Monaten (Frankenburg et al. 1992). Die für Säuglinge empfohlene Rückenlage beim Schlafen (wenn man Babys zum Schlafen auf den Rücken legt, verringert sich das Risiko eines plötzlichen Kindstods) wurde damit in Zusammenhang gebracht, dass sie etwas später krabbeln, aber nicht damit, dass sie später gehen können (Davis et al. 1998; Lipsitt 2003). Die genetische Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Eineiige Zwillinge können typischerweise fast zeitgleich sitzen bzw. laufen (Wilson 1979). Der biologische Reifungsprozess – und dazu gehört die rasche Entwicklung des Kleinhirns an der Rückseite des Gehirns – schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir mit etwa 1 Jahr laufen lernen. Vorheriges Üben hat nur begrenzte Wirkung. Das gilt auch für andere körperliche Fähigkeiten, z. B. für die Kontrolle von Blase und Darm. Ehe die dazu erforderlichen Muskeln und Nerven nicht ausgereift sind, wird das Kind nicht sauber, weder mit Bitten noch mit Drängen oder Strafen.
Reifungsprozess und kindliches Gedächtnis Ziel 7: Erklären Sie, warum wir nur wenige Erinnerungen an Erfahrungen während der ersten 3 Jahre unseres Lebens haben.
Unsere frühesten Erinnerungen reichen kaum einmal in die Zeit vor unserem 3. Geburtstag zurück. Sehr deutlich wurde diese »infantile Amnesie« bei den Erinnerungen einer Gruppe von Vorschulkindern, die ein Feuer erlebt hatten, verursacht durch eine in Brand geratene Popcornpfanne. Nach 7 Jahren konnten sie sich noch an den Alarm und seine Ursache erinnern – falls sie zu diesem Zeitpunkt 4 bis 5 Jahre alt waren. Die Kinder, die damals erst 3 Jahre alt waren, konnten sich nicht an die Ursache erinnern, und insgesamt wussten sie nicht sicher, ob sie schon im Freien waren, als der Alarm ausgelöst wurde (Pillemer 1995). Diese und andere Untersuchungen bestätigen, dass das Durchschnittsalter der frühesten bewussten Erinnerung bei 3,5 Jahren liegt (Bauer 2002). Die kindliche Amnesie betrifft die ersten 3 Lebensjahre; erst ab dem Alter von 4 bis 5 Jahren führen Erlebnisse und Erfahrungen auch zu bleibenden Erinnerungen (Bruce et al. 2000).
K. Barton
4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit
Es ist noch dabei, ein Gefühl für das eigene Selbst zu entwickeln Was wird Marvin von seinen Erfahrungen als Säugling erinnern? Nichts bewusst, aber bewusste Erinnerungen sind nicht alles. Seine neuronalen Netze breiten sich angesichts der stimulierenden Erfahrungen, die ihm seine Betreuungspersonen bieten, in alle Richtungen aus. Und er ist damit beschäftigt, alles über seine neue Welt zu lernen
Können Sie sich an Ihren ersten Schultag erinnern (oder an die Feier zu Ihrem 3. Geburtstag?
In dem Maße, wie der Kortex des Gehirns reift, entwickeln Kleinkinder einen Sinn für das Selbst, und ihr Langzeitgedächtnis wird besser (Howe 2003). Der Versuch, Zugang zu den Erinnerungen der ersten 4 Lebensjahre zu bekommen, hat viel Ähnlichkeit mit dem Versuch, einen Text zu lesen, der mit Hilfe einer älteren Version des Betriebssystems auf einem Computer formatiert wurde (Hayne 2004; Loftus u. Kaufman 1992). Die vorsprachlichen Erinnerungen von Kleinkindern lassen sich nicht so leicht in ihre spätere Sprache übersetzen (7 Kap. 9 zu einer Erörterung der Augenzeugenerinnerungen von Kindern). Für Eltern kann die nicht vorhandene Erinnerung eines Kindes an die frühe Kindheit frustrierend sein. Schließlich haben sie unzählige Stunden damit verbracht, ihr Kind zu wickeln und es zu füttern, sie sind mit ihm auf dem Teppich herumgerollt und haben es in den Schlaf gewiegt. Und woran wird sich ein Kind bewusst erinnern, wenn etwa ein Elternteil stirbt, ehe es das 4. Lebensjahr erreicht hat? Praktisch an gar nichts. Zwar gibt es so gut wie keine bewussten Erinnerungen an die Zeit vor dem Alter von 4 Jahren, doch arbeitet das Gedächtnis bereits in dieser Zeit und auch noch darüber hinaus. Dazu Folgendes: 4 Mit ein bisschen Nachhilfe können 3 Monate alte Kinder, die gelernt haben, wie sie mit dem Bein ein Mobile in Bewegung setzen können, die Assoziation von Beinbewegung und Mobile mindestens 1 Monat lang im Gedächtnis behalten (. Abb. 4.7). 4 10-jährige Kinder, denen man Fotos von ihren Klassenkameraden (vermischt mit Fotos von anderen Vorschulkindern) aus der Vorschulklasse zeigt, die sie seit der Vorschulzeit nicht mehr gesehen haben, erkennen nur 1 von 5 ihrer früheren Klassenkameraden. Doch ihre physiologischen Reaktionen (erfasst durch die Feuchtigkeit der Haut) sind angesichts der früheren Klassenkameraden stärker, unabhängig davon, ob sie sie erkennen oder nicht (Newcombe et al. 2000). Das Nervensystem erinnert sich an etwas, was vom Bewusstsein nicht erkannt wird und nicht in Worten ausgedrückt werden kann.
M. Barton
! Etwa nach dem 3. oder 4. Lebensjahr beginnt sich das Gedächtnis anders zu organisieren; das erklärt, warum wir so wenige Erinnerungen an die frühe Kindheit haben.
. Abb. 4.7. Säugling bei der Arbeit Wenn man den Fuß eines Säuglings durch einen Faden mit einem Mobile verbindet, können schon 3 Monate alte Säuglinge lernen, dass Strampeln das Mobile in Bewegung setzt, und sie können sich an das Gelernte etwa 1 Monat lang erinnern. (Rovee-Collier 1989, 1997)
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Kapitel 4 · Entwicklung
4.2.2 Kognitive Entwicklung Ziel 8: Beschreiben Sie Piagets Erklärung dafür, wie sich das Denken entwickelt, und erörtern Sie die Bedeutung der Assimilation und der Akkommodation bei diesem Prozess.
»Die Kindheit hat ihre eigene Art und Weise, zu sehen, zu denken und zu fühlen. Es gibt nichts Dümmeres als den Versuch, der kindlichen Sichtweise die unsere aufzudrücken.« Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1798)
! Ein halbes Jahrhundert Arbeit mit Kindern überzeugte Piaget davon, dass das kindliche Denken keine Miniaturausgabe des erwachsenen Denkens ist.
Schema (schema): kognitive Struktur, mit der Informationen geordnet und erklärt werden.
. Abb. 4.8. Fehler bei der Größeneinschätzung Die Psychologen Judy DeLoache, David Uttal und Karl Rosengren (2004) berichten, dass 18 bis 30 Monate alte Kinder möglicherweise nicht die Größe eines Gegenstands in ihre Überlegungen einbeziehen können, wenn sie nicht mögliche Handlungen damit zu machen versuchen. Im linken Bild versucht ein 21 Monate altes Kind, eine Miniaturrutsche herunterzurutschen. Auf dem rechten Bild öffnet ein 24 Monate altes Kind die Tür eines kleinen Spielzeugautos und versucht einzusteigen.
Courtesy Judy DeLoache
Wie Damon (1995) feststellt, hat Piaget unser Verständnis für kindliches Denken so grundlegend verändert wie Kopernikus unsere Vorstellung vom Sonnensystem. Bis dahin waren die meisten Menschen der Meinung, dass Kinder »einfach weniger wissen und nicht etwa anders denken als Erwachsene; ihre eigenen Kindertage hatten sie dabei vollständig aus dem Blick verloren« (Damon 1995). Wenn wir heute Verständnis dafür aufbringen, dass »Kinder in höchst unlogischer Weise mit Problemen umgehen, deren Lösung einem Erwachsenen absolut selbstverständlich ist (Brainerd 1996), dann verdanken wir das zum Teil den Arbeiten von Piaget«. Des Weiteren glaubte Piaget, dass die Entwicklung des kindlichen Denkens in Stadien erfolgt, eine Art Vorwärtsbewegung von den einfachen Reflexen des Neugeborenen hin zur Abstraktionsfähigkeit des Erwachsenen. Ein 8-jähriges Kind versteht Dinge und Zusammenhänge, die ein 3-jähriges nicht verstehen kann. Ein 8-jähriges Kind kann die Analogie erfassen, die in dem Satz ausgedrückt wird: »Einen Gedanken entwickeln, ist wie Licht im Kopf anschalten.« Es wäre ein vergebliches Unterfangen, einem 3-Jährigen den Sinn dieser Analogie begreiflich machen zu wollen. Ein 8-jähriges Kind versteht auch, was die 2-Jährigen in . Abb. 4.8 nicht verstehen – dass die Miniaturausgabe einer Rutsche zu klein ist, um darauf herunterzurutschen, und dass die Miniaturausgabe eines Autos viel zu klein ist, um hineinzuklettern. Aber manche Gedankengänge eines Erwachsenen sind wiederum für ein 8-jähriges Kind nicht nachvollziehbar. Piaget war der Auffassung, dass die treibende Kraft hinter diesem intellektuellen Wachstum der unaufhörliche Kampf des Menschen ist, seinen Erfahrungen Sinn zu verleihen. Piagets Kerngedanke war, dass »Kinder aktive Denker sind, die ständig versuchen, ihr Verständnis von der Welt weiterzuentwickeln« (Siegler u. Ellis 1996). Um dieses Ziel zu erreichen, konstruiert der heranreifende Geist Konzepte, die Piaget Schemata nannte. Unter einem Schema verstand er eine Art kognitive Struktur, in die unsere Erfahrungen eingeordnet werden. Als Erwachsene verfügen wir über eine Vielzahl von Schemata, die wir in der Zeit der Kindheit und Jugend angelegt haben und die alles umfassen, was wir gesehen, gehört und erlebt haben. Unser Bild von Hunden und Katzen ist darin ebenso vertreten wie unsere Vorstellung von Liebe (. Abb. 4.9).
Courtesy Judy DeLoache
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»Wer kennt die Gedanken eines Kindes?«, fragte die Dichterin Nora Perry. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget wusste darüber nicht mehr und nicht weniger als seine Kollegen. Sein Interesse am Denken von Kindern wurde 1920 geweckt, als er in Paris Fragen zu einem Intelligenztest für Kinder ausarbeitete. Er führte seine Tests mit Kindern durch, um herauszufinden, in welchem Alter Kinder auf bestimmte Fragen die richtige Antwort geben können; doch mehr noch faszinierten ihn die falschen Antworten der Kinder. Wo andere nur den Fehler sahen, sah Piaget Intelligenz in Aktion. Die Fehler, die Kinder einer bestimmten Altersgruppe machten, waren sich erstaunlich ähnlich.
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. Abb. 4.9. Ein unmögliches Objekt Betrachten Sie diese »Teufelsstimmgabel« aufmerksam. Schauen Sie dann woanders hin – nein, betrachten Sie sie lieber noch einmal –, dann schauen Sie weg und versuchen sie zu zeichnen … Nicht ganz einfach, nicht wahr? Diese Stimmgabel ist nämlich ein unmögliches Objekt, und Sie haben kein Schema für solch einen Gegenstand
Assimilation (assimilation): Interpretation neuer Erfahrungen mit Hilfe von Begriffen der bereits existierenden Schemata. Akkommodation (accommodation): Modifizierung des bisherigen Schemas, um neue Informationen integrieren zu können.
Für die Anwendung und Erweiterung der Schemata schlug Piaget zwei Prozesse vor. Neue Erfahrungen werden zunächst assimiliert, d. h. sie werden mit den Begriffen des jeweils aktuellen Verständnisses (Schema) erklärt. Hat ein Kleinkind beispielsweise ein einfaches Schema für den Begriff Hund, dann wird es wahrscheinlich alle Vierbeiner zunächst einmal »Wauwau« nennen. Dann wird das Schema der neuen Erfahrung angepasst, oder, wie Piaget es nannte, akkommodiert. Das Kind aus unserem Beispiel lernt sehr schnell, dass das anfängliche Wauwau-Schema zu grob ist, und akkommodiert es, indem es die Kategorien verfeinert (und sich dabei, wie wir bereits gesehen haben, vor allem auf den Kopf konzentriert). In dem Maße, wie Kinder mit ihrer Umwelt interagieren, konstruieren sie ihre Schemata und modifizieren sie, wenn neue Erfahrungen in ihr Weltbild integriert werden müssen (. Abb. 4.10).
Wie stehen wir heute zu Piagets Theorie? Ziel 9: Skizzieren Sie Piagets Hauptstadien der kognitiven Entwicklung, und kommentieren Sie, wie sich das Denken von Kindern während dieser vier Stadien verändert.
Der Begriff Kognition bezieht sich auf die Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren.
Kognition (cognition): Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren.
! Nach Piaget erfolgt die kognitive Entwicklung des Kindes sprunghaft, wobei nach jedem kognitiven Entwicklungssprung eine Phase der relativen Ruhe eintritt, in der das neu Gelernte integriert wird. Diese Phase eines vorläufigen Gleichgewichts, das durch die Wechselwirkung von Akkommodation und Assimilation erreicht wird, wird als Äquilibration bezeichnet.
Daraus ergeben sich 4 Stadien (. Tab. 4.1), und jedes dieser Entwicklungsstadien ist durch ganz spezifische Merkmale gekennzeichnet, die eine spezifische Art des Denkens bewirken. Um die Entwicklung des kindlichen Denkens verstehen zu können, wollen wir die von Piaget unterschiedenen Entwicklungsstadien im Licht unseres heutigen Wissens über die kognitive Entwicklung betrachten.
. Abb. 4.10. Neue Erfahrungen in kognitive Strukturen integrieren Wir wenden unsere vorhandenen Schemata an, um neue Erfahrungen zu assimilieren. Doch manchmal müssen wir unsere Schemata akkomodieren (anpassen), um eine neue Erfahrung integrieren zu können
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Tabelle 4.1. Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget
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Typischer Altersbereich
Stadium
Beschreibung
Merkmale
Geburt bis ca. 2 Jahre
Sensumotorisches Stadium
Erfahren der Welt durch Handlungen und Sinneswahrnehmung (schauen, anfassen, in den Mund nehmen, greifen)
Objektpermanenz, Fremdeln
Ca. 2.–6. Lebensjahr
Stadium des präoperatorischen Denkens
Darstellen von Dingen mit Worten oder Bildern; eher Einsatz des intuitiven als des logischen Denkens
So-tun-als-ob-Spiele, egozentrisches Verhalten, Sprachentwicklung
Ca. 7.–11. Lebensjahr
Stadium des konkret-operatorischen Denkens
Logisches Nachdenken über konkrete Ereignisse; konkrete Analogien erfassen; mathematische Operationen durchführen
Mengenerhaltung (quantitative Invarianz), mathematische Transformationen
Ca. 12. Lebensjahr bis zum Erwachsenenalter
Stadium der formalen Operationen
Abstraktes Denken
Abstrakte Logik, Potenzial für reifes moralisches Denken
Sensumotorische Entwicklung Sensumotorisches Stadium (sensorimotor stage): Nach Piagets Theorie wird auf dieser Stufe (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) die Welt primär als Sinneseindruck wahrgenommen und mit motorischen Aktivitäten erforscht.
Objektpermanenz (object permanence): Wissen, dass ein Gegenstand weiterhin existiert, auch wenn er gerade nicht wahrgenommen werden kann.
Doug Goodman/Photo Researchers, Inc.
. Abb. 4.11. Objektpermanenz Für Kinder unter 6 Monaten gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie können nicht begreifen, dass ein Gegenstand weiter existiert, auch wenn er nicht mehr sichtbar ist. Doch für dieses Kleinkind gilt das Sprichwort offensichtlich nicht
Während des von Piaget postulierten sensumotorischen Stadiums (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) erlebt der Säugling und später das Kleinkind die Welt durch die sensorische und motorische Interaktion mit den Objekten seiner Umwelt: durch Sehen, Hören, Berühren, Belutschen und Greifen. Ganz kleine Kinder leben offenbar nur in der Gegenwart: Was sie nicht sehen können, existiert nicht. Einer von Piagets Versuchen bestand darin, dem Kleinkind ein begehrenswertes Spielzeug zu zeigen und es dann unter seiner Mütze verschwinden zu lassen. Er wollte herausfinden, ob das Kind nach dem Spielzeug suchen würde. Kinder unter 6 Monaten taten das nicht. Kinder bis zu diesem Alter haben keine Objektpermanenz, d. h. es ist ihnen nicht bewusst, dass ein Gegenstand weiterhin existiert, auch wenn sie ihn nicht sehen können (. Abb. 4.11). Mit etwa 8 Monaten zeigt das Kind, dass es sich an Dinge erinnert, die es in diesem Augenblick nicht sehen kann. Wird das Spielzeug versteckt, dann wird das Kind unmittelbar nach dem Verschwinden des Spielzeugs danach suchen. Ein bis zwei Monate später wird das Kind auch dann nach dem Spielzeug suchen, wenn es ein paar Sekunden lang davon abgehalten wurde. Kommt die Objektpermanenz bei Kindern mit 8 Monaten tatsächlich mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wie die Tulpen im Frühling blühen? Heutige Entwicklungspsychologen sehen den Entwicklungsprozess stärker als ein Kontinuum, als Piaget dies tat; und die Objektpermanenz entfaltet sich ihrer Meinung nach allmählich und schrittweise. Auch ganz kleine Kinder suchen schon zumindest für eine gewisse Zeit nach einem Spielzeug, wenn sie gesehen haben, wie es gerade eben versteckt wurde. Die Wissenschaftler glauben heute, dass Piaget und seine Anhänger die Kompetenz der Kleinen und Kleinsten unterschätzt haben. Piaget nahm an, dass ein Kind unter 2 Jahren nicht in der Lage ist zu denken. Er nahm an, es könne Dinge wiedererkennen, sie anlächeln, hinkrabbeln und
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etwas damit machen. Doch ein abstraktes Konzept oder eine Vorstellung habe es nicht. Gemäß Piaget leben Kinder ihr Leben, doch sie denken nicht darüber nach. Lassen Sie uns ein paar einfache Versuche näher betrachten, die die Logik des Säuglings demonstrieren: 4 Erwachsene starren ungläubig auf einen Zaubertrick (das »Na, sowas« im Blick); Kleinkinder tun dasselbe, wenn sie länger auf eine unerwartete Szene schauen, bei der ein Auto scheinbar durch einen festen Gegenstand hindurchfährt. Oder wenn ein Ball einfach in der Luft stehen bleibt oder wenn ein Gegenstand die Gesetze der Objektpermanenz verletzt und auf magische Weise verschwindet (Baillargeon 1995, 1998, 2004; Wellman u. Gelman 1992). Anscheinend haben Babys mehr intuitives Verständnis für einfache physikalische Gesetze, als Piaget dachte. 4 Säuglinge haben auch ein Gefühl für Zahlen. Wynn (1992, 2000) zeigte 5 Monate alten Kindern einen oder zwei Gegenstände. Dann versteckte sie die Gegenstände hinter einem Stück Pappe und fügte anschließend – gut sichtbar für die Kinder – entweder einen weiteren Gegenstand hinzu oder nahm einen weg (. Abb. 4.12). Wurde die Pappe entfernt, dann schauten die Babys zweimal hin bzw. fixierten die Gegenstände länger, wenn die Anzahl falsch war. Dabei ist noch unklar, ob sich die Reaktion der Babys tatsächlich auf die veränderte Anzahl der Gegenstände oder nur auf das veränderte Erscheinungsbild bezog, das sich ihnen bot, nachdem die Pappe entfernt wurde (Feigenson et al. 2002). Spätere Versuche zeigten aber, dass sich der Zahlensinn von Babys auch auf größere Zahlen sowie auf Töne (Trommelschläge) und Bewegungen erstreckt (Lipton u. Spelke 2003; McCrink u. Wynn 2004; Speike 2000; Wynn et al. 2002). Wenn die Duffy-Duck-Puppe immer 3-mal auf der Bühne hochspringt, dann sind die Kinder daran gewöhnt und reagieren mit Erstaunen, wenn die Puppe nur 2-mal springt. Ganz offensichtlich sind Babys klüger, als Piaget annahm. Auch schon als Babys haben wir viel im Kopf.
. Abb. 4.12. Mathematik für Babys Zeigt man einem Säugling ein zahlenmäßig unmögliches Ergebnis, dann schaut es länger hin. (Aus Wynn 1992)
Die hohe Meinung über die Kompetenz eines Säuglings unter gebildeten Menschen veranlasste die Zeitschrift »Onion« zu einer Parodie mit der Schlagzeile: »STUDIE DECKT AUF – BABYS SIND DUMM« (auf der Grundlage von »Forschungsarbeiten«, die zeigen, dass Säuglinge keine Landkarten lesen und auch nicht mit Sauerstoffflaschen tauchen können).
Präoperatorisches Denken Piaget glaubte, dass Kinder im Vorschulalter und bis zum 6. oder 7. Lebensjahr ein präoperatorisches Stadium durchlaufen, in dem sie noch keine Denkprozesse vollziehen können. Gibt man einem 5-jährigen Kind ein schmales, hohes Glas Milch, dann findet es, dass das »zu viel« ist, akzeptiert jedoch die gleiche Menge, wenn man die Milch in ein kleines, breites Glas gießt. Offenbar sieht das Kind nur die Dimension der Höhe und ist nicht fähig, eine Operation auszuführen, bei der die Milch in der Vorstellung ins schmale, hohe Glas zurückgegossen wird. Diesem präoperatorischen Kind fehlt das Konzept der Mengenerhaltung, das Prinzip nämlich, dass eine Menge gleich bleibt, auch wenn sie eine andere Form annimmt (. Abb. 4.13). Piaget nannte es »das Prinzip der quantitativen Invarianz«. Mit einem Deckel verschlossene Becher, die genau die gleiche Menge enthalten, scheinen plötzlich, wenn man einen davon auf den Kopf stellt, unterschiedliche Mengen zu enthalten.
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Präoperatorisches Stadium (preoperational stage): In Piagets Theorie wird mit diesem Begriff die Phase (etwa vom 2. bis zum 6. oder 7. Lebensjahr) bezeichnet, in der ein Kind lernt, Sprache zu verwenden, jedoch die Denkoperationen der konkreten Logik noch nicht begreift. Mengenerhaltung oder quantitative Invarianz (conservation): Wissen, dass Masse, Volumen und Anzahl von Gegenständen gleich bleiben, wenn diese die Form verändern. Piaget hielt das Erfassen dieses Prinzips für einen Bestandteil des konkret-operatorischen Denkens.
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Kapitel 4 · Entwicklung
M. Barton
. Abb. 4.13. Piagets Test zum Prinzip der Mengenerhaltung Dieses Kind im präoperatorischen Stadium versteht das Prinzip der Mengenerhaltung (quantitative Invarianz) noch nicht. Man zeigt ihm 2 Gefäße mit der gleichen Inhaltsmenge; wird jedoch das eine Gefäß herumgedreht, dann scheint es plötzlich mehr zu enthalten
4 Wenn die meisten Zweieinhalbjährigen nicht verstehen, dass Miniaturpuppen und Spielzeuge als Symbol für reale Objekte stehen, sollten dann anatomisch korrekte Puppen verwendet werden, wenn man solche Kinder zu einer vermuteten Misshandlung oder zu einem vermuteten sexuellen Missbrauch befragt? DeLoache (1995) berichtet, dass »ganz kleine Kinder es nicht als natürlich oder einfach empfinden, eine Puppe als Repräsentation ihrer selbst zu nutzen«.
Piaget glaubte nicht, dass sich der Übergang von einem Entwicklungsstadium zum nächsten abrupt vollzieht. Wir wissen jedoch heute, dass symbolisches Denken schon in einem früheren Alter stattfindet, als er annahm. DeLoache (1987) machte dazu folgendes Experiment: Sie zeigte Kindern das Puppenstubenmodell eines Zimmers und versteckte darin ein Spielzeug, das in der Größe zu der Puppenstube passte: Ein Spielzeughund wurde hinter dem Spielzeugsofa versteckt. Zweieinhalbjährige Kinder konnten sich gut daran erinnern, wo der Spielzeughund versteckt war, konnten jedoch das Spielzeugmodell nicht auf die Wirklichkeit übertragen: Den Stoffhund hinter dem Sofa im Zimmer fanden sie nicht. Doch 3-jährige Kinder – nur 6 Monate älter! – gingen in der Regel direkt zum Stoffhund hinter dem konkreten Sofa. Das heißt, sie waren fähig, das Puppenhaus als Symbol für das konkrete Zimmer zu sehen. Piaget hätte sich sehr darüber gewundert.
Egozentrismus Egozentrismus (egocentrism): Damit bezeichnet Piaget in seiner Entwicklungstheorie die mangelnde Fähigkeit des Kindes im präoperatorischen Stadium, den Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen.
Piaget stellte die Behauptung auf, Vorschulkinder seien egozentrisch: Sie hatten Schwierigkeiten damit, die Dinge aus der Perspektive eines anderen zu sehen. Manchmal denken sie sogar, dass sich Sonne und Mond um sie drehen. Die 2-jährige Gabriella sollte ihrer Mutter das Bild zeigen, das sie gemalt hatte: Sie hielt es sich selbst vor die Augen. Der 3-jährige Gary machte sich unsichtbar, indem er sich die Augen zuhielt: Er glaubte, wenn er niemanden sehen könne, dann könne ihn auch keiner sehen. Der kindliche Egozentrismus kommt auch in folgendem Gespräch mit einem kleinen Jungen zum Ausdruck (Phillips 1969, S. 61): »Hast du einen Bruder?« »Ja.« »Wie heißt er denn?« »Jim.« »Hat Jim einen Bruder?« »Nein.« Steht ein Vorschulkind vor dem Fernseher und versperrt Ihnen die Sicht, dann geht es davon aus, dass Sie dasselbe sehen, was es selbst sieht. Wenn Sie mit kleinen Kindern zu tun haben, sollten Sie daran denken, dass derartige Verhaltensweisen der Ausdruck einer kognitiven Beschränkung sind: ! Ein egozentrisches Vorschulkind ist nicht absichtlich »egoistisch« oder »rücksichtslos«, es hat nur noch nicht die Fähigkeit entwickelt, einen anderen Standpunkt als den eigenen einzunehmen.
Wir überwinden den frühen Egozentrismus aus unserer Kindheit jedoch nie vollständig. Selbst als Erwachsene überschätzen wir noch das Ausmaß, in dem andere unsere Meinungen und Standpunkte teilen, so etwa wenn wir annehmen, anderen sei etwas genauso klar wie uns (Epley et al. 2004). Kinder sind aber noch anfälliger für den »Fluch des Wissens« (Birch 2005). Eltern, die ihr Kind misshandeln, wissen häufig nichts vom Egozentrismus, der bei einem Kind stärker ausgeprägt ist. Sie sehen es als kleinen Erwachsenen, der fähig sein sollte, sein Verhalten zu kontrollieren (Larrance u Twentyman 1983). Daher sehen sie nur ein egozentrisches Kind, das ihnen im Weg steht, sein Essen ausspuckt, auf Verbote nicht reagiert oder brüllt.
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Theory of Mind Als Rotkäppchen erkennt, dass ihre »Großmutter« in Wirklichkeit ein Wolf ist, revidierte es seine Vorstellungen über die Absichten und die Abstammung dieser Kreatur. Obwohl Vorschulkinder noch egozentrisch sind, entwickeln sie diese Fähigkeit, Schlüsse über mentale Zustände anderer Personen zu ziehen, wenn sie anfangen, eine Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände) zu bilden. Hier handelt es sich um einen Begriff der von den Psychologen David Premack und Guy Woodruff geprägt wurde, um die bei Schimpansen scheinbar vorhandene Fähigkeit zu beschreiben, anderen Absichten am Gesicht abzulesen. Allmählich entwickelt sich beim Kleinkind die Fähigkeit, innere Zustände anderer Menschen zu erkennen. Es wird versuchen, zu verstehen, was den Spielkameraden geärgert hat, wann die große Schwester wohl bereit ist zu teilen und wie man es anstellen muss, damit der Vater ein Spielzeug kauft. In dem Maß, in dem das Kind die Fähigkeit entwickelt, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen, wächst auch seine Fähigkeit, zu necken, etwas nachdrücklich zu verlangen und andere zu überzeugen. Im Alter von 3 1/2–4 Jahren wird den Kindern in allen Kulturen allmählich klar, dass andere Menschen falsche Überzeugungen haben können (Callaghan et al. 2005; Wellman et al. 2001; Zimmer 2003). Jenkins u. Astington (1996) machten folgenden Versuch mit Kindern aus Toronto: Sie zeigten ihnen eine Heftpflasterschachtel und fragten sie, was da wohl drin sei. Da die Kinder dachten, es sei Heftpflaster drin, waren sie sehr erstaunt, als sie entdeckten, dass die Schachtel Bleistifte enthielt. Auf die Frage, was wohl ein Kind, das nicht in die Schachtel gesehen hatte, glauben würde, was in der Schachtel wäre, lautete die typische Antwort der 3-Jährigen: »Bleistifte«. Bei 4- bis 5-jährigen Kindern hat die Theory of Mind einen Entwicklungssprung gemacht, und sie amüsieren sich königlich bei der Vorstellung, ihre Freunde könnten irrigerweise glauben, in der Schachtel sei Heftpflaster.
Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände): naive Psychologie, mit deren Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände und inneren Prozesse anderer Menschen erklären. Dadurch sind sie in der Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und Verhaltensweisen vorab einzuschätzen.
. Abb. 4.14. Untersuchung der Theory of Mind von Kindern Welche Annahmen hat ein Kind über das Denkvermögen eines anderen Menschen? Dieses einfache Problem ist ein Beispiel dafür, auf welche Weise Wissenschaftler herausfinden, wie sich ein Kind das Denken anderer Menschen vorstellt
Flavell et al. (2001) berichten, schon ganz kleine Kinder begriffen, dass ein trauriges Ereignis traurige Gefühle hervorruft. Im nächsten Schritt beginnen Kinder zu verstehen, dass Gedanken Gefühle hervorrufen können, dass also die Erinnerung an ein trauriges Ereignis in der Vergangenheit ein Gefühl der Traurigkeit auslösen kann. Zwischen dem 5. und dem 8. Lebensjahr lernen Kinder schließlich, dass auch spontane Gedanken, die sie selbst hervorgebracht haben, Gefühle auslösen können. Bemerkt ein 8-jähriges Kind einen plötzlichen Stimmungsumschwung, wird es wahrscheinlich annehmen, dass ein Gedanke diesen Stimmungswechsel bewirkt hat. Forscher erkunden die Fähigkeit von Kindern, die Perspektive einer anderen Person zu übernehmen, mit Hilfe anscheinend einfacher Experimente. In . Abb. 4.14 wird ein Versuch beschrieben, bei dem die Puppe Sally ihren Ball in einen roten Schrank legt. Die Puppe Anne holt den Ball heraus und legt ihn in einen blauen Schrank. Dann wird das Kind gefragt: In welchem Schrank wird Sally nach ihrem Ball suchen, wenn sie zurückkommt? Autistische Kinder (7 Unter der Lupe »Autismus«) haben Probleme, zu begreifen, dass Sallys Gedankengang nicht der gleiche ist wie ihrer und dass Sally, die ja nicht weiß, dass der Ball herausgenommen wurde, ihren Ball in dem roten Schrank sucht. Autistische Kinder können auch ihre eigenen inneren Zustände nicht erkennen. Sie verwenden beispielsweise die Personalpronomina »ich« und »mir« oder »mich« relativ selten. Ähnliche Probleme haben gehörlose Kinder, deren Eltern normal hören und die wenig Gelegenheit zur Kommunikation haben. Auch sie können nur mühsam die Gefühlszustände anderer Menschen erkennen (Peterson u. Siegal 1999). ! Entgegen der Annahme von Piaget ist es nicht so, dass die Fähigkeiten, symbolisch zu denken und die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen, im präoperatorischen Stadium überhaupt nicht vorhanden sind und dann plötzlich wie durch ein Wunder auftauchen. Es ist eher so, dass diese Fähigkeiten schon früh in Ansätzen da sind und sich allmählich entwickeln (Wellman et al. 2001; . Abb. 4.15).
Inspired by Baron-Cohen & others, 1985
! Sobald sie eine Theory of Mind entwickelt haben, können Kinder auch Rückschlüsse auf die Gefühle anderer Menschen ziehen.
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. Abb. 4.15. Piagets Stadien (a) Sensumotorisches Stadium: Kleinkinder versuchen, ihre Katze kennen zu lernen, indem sie sie schmecken und berühren. (b) Präoperatorisches Stadium: Vorschulkinder sehen den Hund als zusätzlichen Spielkameraden, der seine Daseinsberechtigung nur darin hat, mit ihnen zu spielen. (c) Konkret-operatorisches/formal-operatorisches Stadium: Ältere Kinder beginnen zu verstehen, welche Verantwortung und Arbeit damit verbunden ist, ein Pferd zu halten
Unter der Lupe
Autismus Beim Autismus, einer Störung, deren typisches Merkmal das völlige Fehlen von Kommunikation und sozialer Interaktion ist, zeigt sich eine unvollständige Theory of Mind (Klein u. Kihlstrom 1998; Yirmiya et al. 1998). Autistischen Menschen sagt man nach, sie könnten sich nicht in andere Menschen hineinversetzen. Sie haben Schwierigkeiten, die Gedanken und Gefühle anderer MenAutismus (autism): Störung, die im Kinschen wahrzunehmen. Sie desalter auftritt und durch das Fehlen von können nicht akzeptieren, Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Verständnis für die seelischen Zudass Spielkameraden oder stände anderer Menschen gekennzeichEltern die Dinge anders senet ist. hen als sie selbst. Intuitives Gedankenlesen (bringt das Gesicht ein fröhliches Lachen, ein selbstzufriedenes Lächeln oder ein verächtliches Grinsen zum Ausdruck?) ist für Menschen mit Autismus eine schwierige Angelegenheit. Fast alle Kinder lernen, dass die herabgezogenen Mundwinkel eines anderen Kindes bedeuten, dass es traurig ist und dass ein Glitzern in den Augen ein Zeichen von Glück oder von Unglück ist. Ein autistisches Kind kann diese Zeichen nicht deuten; denn Autismus hängt mit dem Ausfall von Hirnregionen zusammen, die den Kontakt zu anderen Menschen steuern (Frith u. Frith 2001). Das Asperger-Syndrom, das manchmal als Form des Autismus mit einer hohen Funktionsfähigkeit klassifiziert wird, ist gekennzeichnet durch normale Intelligenz, die oft mit einer außergewöhnlichen Fertigkeit oder Begabung in einem bestimmten Bereich einhergeht, aber auch durch mangelnde soziale und Kommunikationsfertigkeiten (und deshalb durch eine Unfähigkeit, normale Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen). Die Symptome bei Autismus, zu denen auch Probleme beim Sprechen und Schwerfälligkeit gehören, reichen von leicht bis schwerwiegend; und aus Gründen, über die noch diskutiert wird, wurde die Diagnose Autismus in den letzten Jahren häufiger gestellt. Ursache der autistischen Störung ist eine veränderte Verschaltung des Gehirns einschließlich der Nervenfasern, die mit entfernten Neuronen verbunden sind und die die Kommunikation zwischen Hirnarealen ermöglichen; dies wiederum scheint auf eine unbekannte Anzahl von Genen zurückzugehen, die mit der Umwelt interagieren (Blakeslee 2005; Wickelgren 2005). In seiner anregenden neuen Theorie vertritt Baron-Cohen (2004, 2005) die Auffassung, der Autismus repräsentiere ein »extrem männliches Ge-
hirn«. Er behauptet, Mädchen seien dafür prädisponiert, empathisch, also mitfühlend, zu sein. Sie sind eher imstande, etwas aus Gesichtern und von Gesten abzulesen – eine Aufgabe, die für Autisten eine Herausforderung ist. Obwohl es eine gewisse Überlappung zwischen den Geschlechtern gibt, neigen Jungen seiner Meinung nach eher dazu, Systematisierer zu sein – die Dinge nach Regeln und Gesetzen wie in mathematischen und mechanischen Systemen zu verstehen. Wenn zwei Systematisierer ein Kind haben, wird gemäß dieser Theorie das Risiko größer sein, dass sie ein Kind mit Autismus haben werden. Und wegen »passender Partnerwahl« – der Neigung von Menschen, sich Partner auszuwählen, die ihre eigenen Interessen teilen – werden zwei Systematisierer, so merkt er an, tatsächlich oft zum Paar. »Ich möchte die Bedeutung von Umweltfaktoren nicht unberücksichtigt lassen; ich sage nur: Vergessen Sie die Biologie nicht.« Spelke (2005) ist jedoch etwas skeptisch gegenüber der Annahme einer angeborenen, männlich-systematisierenden Tendenz. Aus der sonstigen Forschung sieht sie »keinen Vorsprung für männliche Wesen beim Wahrnehmen von Gegenständen oder beim Lernen über mechanische Systeme. In den meisten Studien fand man, dass Jungen und Mädchen zur gleichen Zeit die gleichen Dinge entdecken.« Welchen Wert hat also der Gedanke, dass autistische Kinder (von denen die meisten männlich sind) extrem männliche Gehirne haben? Man sollte die künftigen Forschungsarbeiten aufmerksam unter diesem Aspekt lesen.
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Breitet sich Autismus aus? In den 90er Jahren stieg die Anzahl der wegen Autismus behandelten Kinder um ein Mehrfaches an. Manche fragen sich, ob die Ursache in Umweltgiften oder im Masernimpfstoff zu suchen ist. Andere nehmen an, dass die steigende Zahl der Fälle vor allem auf eine stärkere Beachtung dieser Störung verweist, desgleichen auf mehr Überweisungen zum Spezialisten und auf eine breiter gefasste Definition. (Nash 2002; Stokstad 2002)
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Mit Erreichen des 7. Lebensjahres wächst bei Kindern die Fähigkeit, in Wörtern zu denken und Wörter zu verwenden, um Lösungen für Probleme zu erarbeiten. Wie der russische Psychologe Lev Vygotsky (1896–1934) bemerkte, tun sie das, indem sie nicht mehr laut denken. Stattdessen internalisieren sie die Sprache ihrer Kultur und vertrauen auf den inneren Dialog. Wenn Eltern die Hand des Kindes vom Kuchen wegschieben und dabei »nein« sagen, dann geben sie dem Kind ein Werkzeug zur Selbstkontrolle an die Hand. Ist es später einmal nötig, einer Versuchung zu widerstehen, dann sagt das Kind wahrscheinlich »nein« zu sich selbst. Zweitklässer, die beim Rechnen vor sich hin murmeln, erfassen die Mathematik der 3. Klasse im folgenden Jahr leichter (Berk 1994). ! Laute oder auch unhörbare Selbstgespräche helfen Kindern, Verhalten und Gefühle zu steuern und neue Fertigkeiten zu erwerben. Und wenn Eltern Kindern Wörter präsentieren, liefern sie ihnen, wie Vygotsky sagt, ein Gerüst, auf das Kinder steigen können, um ein höheres Denkniveau zu erreichen.
Stadium der konkreten Operationen Nach Piagets Theorie erreichen 6- bis 7-jährige Kinder das Stadium der konkreten Operationen. Bietet man ihnen die entsprechenden konkreten Möglichkeiten zum Ausprobieren, begreifen sie sehr schnell das Prinzip der Mengenerhaltung (quantitative Invarianz), dass nämlich eine veränderte Form nicht bedeutet, dass die Menge verändert wurde. Sie brauchen auch keinen praktischen Beweis mehr, sondern können sich vorstellen, Milch von einem hohen schmalen in ein kleines breites Glas zu gießen. In diesem Alter haben Kinder Spaß an Witzen, bei denen sie ihr neu erworbenes Verständnis für die Mengenerhaltung anwenden können:
Stadium der konkreten Operationen (concrete operational stage): In Piagets Theorie bezeichnet dieser Begriff das Stadium der kognitiven Entwicklung (vom 6. /7. bis zum 11. Lebensjahr), in dem Kinder die geistigen Operationen entwickeln, die sie dazu befähigen, logisch über konkrete Ereignisse nachzudenken.
Mr. Jones geht in ein italienisches Lokal und bestellt eine ganze Pizza zum Abendessen. Der Kellner fragt ihn, ob er die Pizza in 6 oder in 8 Stücke schneiden soll. Mr. Jones antwortet: »Bitte nur 6 Stücke, denn 8 Stücke würde ich nicht schafen.« (McGhee 1976) ! Auf der Stufe der konkreten Operationen erreichen Kinder die volle geistige Fähigkeit zum Erfassen mathematischer Transformationen und des Prinzips der Mengenerhaltung.
Als meine Tochter Laura 6 Jahre alt war, war ich überrascht, dass sie arithmetische Operationen nicht umkehren konnte. Für die Antwort auf die Frage: »Wie viel ist 8 + 4?« brauchte sie 5 Sekunden, und dann nochmals 5 Sekunden, um auszurechnen, wie viel 12 – 4 ist. Mit 8 Jahren konnte sie die zweite Aufgabe sofort beantworten.
Stadium der formalen Operationen Laut Piaget erweitern sich unsere Denkprozesse vom konkreten (auf Erfahrung basierenden) zum abstrakten Denken (einschließlich der Fähigkeit, Phantasiewelten zu schaffen und Symbole zu verstehen), wenn wir das 12. Lebensjahr erreichen. Viele Kinder erlangen in der Adoleszenz die Fähigkeit, hypothetische Probleme zu lösen und Konsequenzen abzuleiten. Das Kind verwendet »Wenn-dann«-Denkmuster. Dieses systematische Schlussfolgern nannte Piaget formale Operationen. Obwohl die vollständig ausgeprägte Logik und das Schlussfolgern bis in die Adoleszenz warten müssen, setzt rudimentäres Denken in formalen Operationen früher ein, als Piaget dachte. Der Entwicklungsschritt vom konkreten zum formalen Denken wird an folgendem einfachen Beispiel deutlich: Wenn John in der Schule ist, dann ist Mary in der Schule. John ist in der Schule. Was kannst du über Mary aussagen? Kinder, die das Stadium der formalen Operationen erreicht haben, haben keinerlei Schwierigkeiten, diese Frage richtig zu beantworten, doch auch die meisten 7-jährigen Kinder können das (Suppes 1982).
Stadium der formalen Operationen (formal operational stage): nach Piaget das Stadium der kognitiven Entwicklung, das normalerweise mit dem 12. Lebensjahr beginnt. In dieser Phase erwirbt das Kind die Fähigkeit, logisch über abstrakte Konzepte nachzudenken.
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Kapitel 4 · Entwicklung
Überlegungen zu Piagets Theorie Ziel 10: Erläutern Sie, was die Psychologen heutzutage von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung halten.
Piagets Theorie der Entwicklungsstadien hatte durchaus einen Einfluss. In mancher Hinsicht stehen seine Ideen immer noch hoch im Kurs. Rund um den Erdball, von Australien über Algerien bis nach Nordamerika, wurden Studien durchgeführt, die von seinen Vorstellungen geleitet waren; sie stützten seine Auffassung, dass die kognitive Entwicklung des Menschen im Wesentlichen so verläuft, wie er es dargestellt hat (Segal et al. 1990). ! Heute sehen Wissenschaftler jedoch die Entwicklung stärker als kontinuierlichen Prozess.
4 »Wenn man Piagets Einfluss auf die Entwicklungspsychologie einschätzen soll, dann ist das so, als wolle man den Einfluss von Shakespeare auf die englische Literatur einschätzen.« Der Entwicklungspsychologe Harry Beillin (1992)
Sie entdeckten, dass die Anfänge bestimmter typischer Denkprozesse früher liegen, als Piaget annahm, und sie fanden heraus, dass vor allem die Fähigkeit zur Begriffsbildung schon bei jüngeren Kindern vorhanden ist, was Piaget übersah. Während Piaget die formale Logik für einen entscheidenden Teil der Kognition hielt, messen heutige Wissenschaftler ihr etwas weniger Bedeutung in Bezug auf die Kognition bei. Was ist also von Piagets Vorstellungen über das Denken von Kindern und seine Entwicklung geblieben? Viel, sehr viel, und auf jeden Fall genug, dass die Wochenzeitschrift »Time« ihn 1999 zum einflussreichsten Wissenschaftler und Denker des 20. Jahrhunderts ernannte und er nach einer Umfrage unter britischen Psychologen als der bedeutendste Psychologe des 20. Jahrhunderts eingestuft wurde (Psychologist 2003). ! Piaget entdeckte die Meilensteine der kognitiven Entwicklung und lenkte überall auf der Welt das Interesse auf die Frage, wie sich das Denken entwickelt. Er legte die Betonung weniger auf das Alter, in dem ein Kind ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht, sondern eher auf die Reihenfolge der Stadien.
Die Wissenschaftler, die nach ihm kamen, konnten seine Annahmen weitgehend bestätigen (Lourenco u. Machado 1996). Piaget wäre wahrscheinlich nicht überrascht darüber, dass seine Vorstellungen heute zu einem Bestandteil unserer eigenen kognitiven Entwicklung geworden sind: Wir passen seine Ideen unseren Vorstellungen an, um neue Befunde akkommodieren zu können. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für Eltern und Lehrer aus Piagets Vorstellungen? Piaget vertrat die Ansicht, dass Kinder ihr Verständnis von der Welt und von anderen Menschen aus ihren Interaktionen mit beiden ableiten. Dies impliziert, dass Kinder keine leeren Gefäße sind, die passiv darauf warten, mit dem Wissen des Lehrers gefüllt zu werden. Die Lehrer wären gut beraten, wenn sie auf dem aufbauten, was ein Kind bereits weiß. Sie sollten die Kinder mit Hilfe von konkreten Demonstrationen zum eigenen Denken anregen. Dabei sollten Eltern und Lehrer nicht vergessen, dass die Logik der Erwachsenen für Kinder nicht nachvollziehbar ist. Ein für uns Erwachsene simpler und offensichtlicher Tatbestand – wenn das eine Kind von der Wippe springt, schlägt das andere Kind heftig auf dem Boden auf – ist für ein 3-jähriges Kind nicht einsichtig. Wir müssen die fehlende kognitive Reife von Kindern als Anpassungsprozess verstehen, als eine von der Natur vorgesehene Strategie, deren Zweck es ist, Kinder im Schutz von Erwachsenen aufwachsen zu lassen und ihnen dadurch Zeit zum Lernen und zur Sozialisation zu geben (Bjorklund u. Green 1992).
4.2.3 Soziale Entwicklung M. Barton
Ziel 11: Definieren Sie Fremdeln.
Fremdeln Die neu auftauchende Fähigkeit, Menschen als unbekannt und damit möglicherweise als bedrohlich einzuschätzen, trägt dazu bei, Säuglinge im Alter von 8 oder mehr Monaten vor Schaden zu bewahren
Aristoteles nannte den Menschen ein Zoon politikon, ein »staatenbildendes Lebewesen«, dazu bestimmt, in enger Beziehung zu wichtigen anderen Personen zu leben. Doch wie bilden sich diese Bindungsformen? Was geschieht, wenn sich entstehende Bindungen als sicher erweisen, wenn Bindungen fehlen oder abgebrochen werden? Säuglinge sind von Geburt an gesellig. In allen Kulturen entwickeln sie eine intensive Beziehung zu ihren Betreuungspersonen. Neugeborene zeigen von Anfang an eine Vorliebe für
167 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit
Menschen ganz allgemein, doch schon früh richtet sich diese Vorliebe auf vertraute Gesichter und Stimmen, und bald reagieren sie mit Gurren und Glucksen, wenn die Mutter oder der Vater sich ihnen zuwendet. Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges: Kaum kann ein Kind sich aus eigener Kraft fortbewegen (krabbeln) und entwickelt ein Gefühl für Objektpermanenz, zeigt es in den meisten Kulturen Angst vor unbekannten Personen: Es »fremdelt«. Mit etwa 8 Monaten reagiert es möglicherweise mit Schreien auf unbekannte Menschen und streckt die Ärmchen nach den vertrauten Bezugspersonen aus, als wolle es sagen: »Nein! Lass mich nicht allein!« In diesem Alter verfügen Kinder über Schemata für vertraute Gesichter, und wenn sie ein neues Gesicht nicht in diese Schemata assimilieren können, geraten sie aus der Fassung (Kagan 1984).
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Fremdeln (stranger anxiety): Furcht vor Menschen, die dem Kind unbekannt sind. Das Fremdeln tritt allgemein bei Kindern im 8. Lebensmonat erstmals auf.
! Das Phänomen des Fremdelns verdeutlicht ein wichtiges Prinzip: Das Gehirn, das Denken und das sozial-emotionale Verhalten entwickeln sich gemeinsam.
Mit 12 Monaten klammern sich viele Kinder an einen Elternteil, wenn sie Angst haben oder eine Trennung befürchten. Sind Kind und Bezugsperson nach einer Trennung wieder vereint, überschüttet das Kind den vermissten Menschen mit Lächeln und Umarmungen. Kein anderes Sozialverhalten ist so beeindruckend wie diese starke wechselseitige Eltern-Kind-Bindung, die wir als Bindung (attachment) bezeichnen.
Bindung (attachment): emotionales Band zwischen dem sehr kleinen Kind und seiner Bezugsperson. Das Kind sucht die Nähe zur Bezugsperson und reagiert auf Trennung mit Kummer und Schmerz.
Ursprünge des Bindungsverhaltens Ziel 12: Erörtern Sie, welche Auswirkungen Nahrungsaufnahme, Körperkontakt und Vertrautheit auf die soziale Bindung eines Säuglings haben.
Der Bund durch Bindung ist eine wirkungsvolle Triebkraft zum Überleben, die Kinder nah bei ihren Betreuungspersonen bleiben lässt. Der Säugling entwickelt eine Bindung an die Menschen – normalerweise seine Eltern –, die ihm vertraut sind und die ihm Geborgenheit bieten.Viele Jahre lang hatten die Entwicklungspsychologen geglaubt, Säuglinge bauten eine Bindung zu den Menschen auf, die ihr Bedürfnis nach Nahrung befriedigen. Das klang einleuchtend. Doch ein Zufallsbefund stellte diese Erklärung radikal in Frage.
In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zogen die Psychologen Margaret und Harry Harlow von der University of Wisconsin Affen groß, die sie für ihre Lernexperimente brauchten. Sie wollten alle Affenkinder unter den gleichen Bedingungen aufziehen und sie gegen Krankheiten abschirmen. Deshalb trennten sie die Affenkinder kurz nach der Geburt von ihren Müttern, brachten sie in hygienisch sauberen Käfigen unter und gaben ihnen eine weiche Babydecke aus Mull (Harlow et al. 1971). Zur Überraschung der Wissenschaftler entwickelten die Affenbabys eine intensive Beziehung zu ihrer Decke: Nahm man sie ihnen weg, um sie zu waschen, zeigten die kleinen Affen alle Zeichen von Kummer und Stress. Diese Bindung an die Decke widersprach nach Auffassung der Harlows der Vorstellung, dass sich Bindungsverhalten auf die Assoziation mit Nahrung zurückführen lässt. Doch wie ließ sich das noch überzeugender demonstrieren? Die Harlows wollten die Anziehungskraft einer Futterquelle gegen den tröstlichen Kontakt mit der Decke ausspielen und schufen deshalb 2 künstliche »Mütter«. Die eine war ein Drahtzylinder mit einem Kopf aus Holz, die andere ein Drahtzylinder, der von einer Plüschdecke umhüllt war. An beiden »Müttern« konnte man eine Flasche anbringen, um sie mit Nahrung in Verbindung zu bringen. Hatten die Äffchen eine Drahtmutter mit Nahrung und eine Plüschmutter ohne Nahrung zur Verfügung, dann zogen sie mit überwältigender Sicherheit die tröstliche Plüschmutter vor (. Abb. 4.16). Wie Säuglinge, die sich an ihre Mutter klammern, klammerten sich die Äffchen an ihre Plüschmutter, wenn sie Angst hatten. Sie benutzten sie auch als geschützte Basis, von der aus sie Ausflüge in die Umgebung wagten, als wären sie durch ein unsichtbares Gummiband, das sich ein Stück weit dehnte und dann das Affenkind zurückzog, mit der Mutter verbunden. In weiteren Studien wurden noch andere Eigenschaften gefunden, die das Bindungsverhalten beeinflussen: auf den Armen wiegen, Wärme und Nahrung spenden – all das machte die Plüschmutter nur noch attraktiver.
Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison
Körperkontakt
. Abb. 4.16. Harlows Mütter Die Psychologen Harry Harlow und Margaret Harlow zogen Affen mit zwei künstlichen Müttern auf: Die eine war ein nur aus Draht bestehender Zylinder und hatte einen hölzernen Kopf. An dieser »Mutter« war eine Nuckelflasche befestigt. Die andere »Mutter« war auch ein Drahtzylinder, hatte keine Nuckelflasche, war aber mit Schaumstoff umhüllt und mit einer Plüschdecke bezogen. Was Harlow entdeckte, überraschte viele Psychologen: Die Äffchen suchten weit mehr den Kontakt mit der tröstlich-weichen Plüschmutter, obwohl die Nuckelflasche an der anderen Mutter hing
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Kapitel 4 · Entwicklung
Kirkpatrick (1999) berichtet, dass für manche Menschen die wahrgenommene Beziehung zu Gott die gleiche Funktion hat wie andere Bindungen – sie bietet eine geschützte Basis zum Erkunden und einen sicheren Zufluchtsort bei Bedrohungen.
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Auch Babys entwickeln eine Bindung zu den Eltern, die weich und warm sind, das Kind in den Armen wiegen, füttern und streicheln. Ein Großteil der emotionalen Kommunikation zwischen Säugling und Eltern vollzieht sich über Berührungen (Hertenstein 2002), die entweder tröstend (Kuscheln) oder erregend (Kitzeln) sein können. Auch bei Menschen bedeutet Bindungsverhalten, dass ein Mensch für den anderen ein sicherer Zufluchtsort in Augenblicken der Not ist und eine geschützte Basis, von der aus man die Umgebung erforschen kann. In dem Maß, wie wir heranwachsen und uns entwickeln, verlagert sich dieses Sicherheitsgefühl von den Eltern auf Gleichaltrige und auf Partner (Cassidy u. Shaver 1999). Gesellige Wesen sind wir allerdings in jedem Alter. Wenn uns jemand mit Worten oder Taten ein Gefühl der Sicherheit gibt, gibt uns dies Stärke: »Ich bin da. Mein Interesse gilt dir. Komme, was da kommen mag, ich unterstütze dich« (Crowell u. Waters 1994).
Vertrautheit Kritische Phase (critical period): Wird ein Organismus zu diesem optimalen Zeitpunkt bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt, so wird der angemessene Entwicklungsprozess in Gang gesetzt. Prägung (imprinting): Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung eines Bindungsverhaltens führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen Phase.
Kontakt ist der eine Schlüsselbegriff für Bindungsverhalten, ein anderer ist Vertrautheit. Bei vielen Tieren bildet sich eine auf Vertrautheit beruhende Bindung während einer kritischen Phase aus. Dabei handelt es sich um einen optimalen Zeitpunkt kurz nach der Geburt, zu dem bestimmte Dinge geschehen müssen, wenn die Entwicklung richtig verlaufen soll (Bornstein 1989). Wenn ein Gänse-, Enten- oder Hühnerküken aus dem Ei schlüpft, ist normalerweise die Mutter das erste Objekt, das es erblickt und das sich bewegt. Von diesem Moment an folgt das Junge der Mutter und zwar nur ihr. Dieser starre Bindungsprozess, Prägung genannt, wurde von Konrad Lorenz (1937) erforscht. Er stellte sich folgende Frage: Was würden Entenküken tun, wenn er selbst das erste Lebewesen wäre, das sie erblickten? Nun, sie taten, was sie tun mussten: Sie folgten ihm überall hin. Weitere Tests zeigten, dass bei Vogeljungen zwar die beste Prägung die auf ein Tier ihrer eigenen Art war, dass sie sich jedoch auch auf Tiere einer anderen Gattung oder auf bewegliche Objekte prägen ließen, etwa auf eine Kiste auf Rädern oder einen hüpfenden Gummiball (Colombo 1982; Johnson 1992). Hat sich diese Bindung erst einmal entwickelt, lässt sie sich nur schwer rückgängig machen. Kinder sind keine Entenküken, bei ihnen findet keine Prägung statt. Sie entwickeln Bindungen zu dem, was sie kennen gelernt haben. Das bloße Zusammensein mit Menschen und Dingen verstärkt die Zuneigung. Kinder lieben es, immer wieder dasselbe Buch vorgelesen zu bekommen, denselben Film anzuschauen, dieselben vertrauten Nachbarn zu haben und mit denselben alten Freunden zur Schule zu gehen. ! Körperkontakt ist zentral für die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung. Vertrautheit bedeutet für Kinder Sicherheit und schafft Zufriedenheit.
Robert Schlappal
Unterschiede bei der Bindung Ziel 13: Stellen Sie die sichere und die unsichere Bindung einander gegenüber, und erläutern Sie die Rolle der Eltern und der Säuglinge bei der Entwicklung der Bindung sowie die Gefühle des Urvertrauens beim Säugling. Bindung Wenn der französische Pilot Christian Moultec mit seinem Ultraleicht-Flieger abhebt, folgen ihm die Gänse, die er aufgezogen hat, seit sie aus dem Ei geschlüpft sind, und die auf ihn geprägt sind
Wie lassen sich Unterschiede bei der Bindung erklären? Um das Bindungsverhalten eines Kindes zu testen, wird es zusammen mit seiner Mutter in eine fremde Umgebung gebracht, üblicherweise das Spielzimmer eines Psychologischen Instituts. Bei diesem Test, der als »fremde Situation« bezeichnet wird, zeigen ungefähr 60% der Kinder ein sicheres Bindungsverhalten: In Gegenwart der Mutter spielen sie unbefangen und erforschen fröhlich die neue Umgebung. Verlässt die Mutter den Raum, werden sie unruhig; kommt die Mutter zurück, suchen sie den Kontakt mit ihr. Andere Kinder zeigen ein unsicheres Bindungsverhalten: Sie sind weniger eifrig damit beschäftigt, die neue Umgebung zu erforschen, manchmal klammern sie sich in dieser Situation sogar an die Mutter. Wenn diese den Raum verlässt, weinen sie laut und wirken verstört (unsicher-ambivalent gebundene Kinder), oder sie reagieren überhaupt nicht auf das Verschwinden und die Rückkehr der Mutter (unsicher-vermeidend gebundene Kinder) (Ainsworth 1973, 1989; Kagan 1995; van Ijzendoorn u. Kroonenberg 1988). Eine mögliche Ursache für diese Unterschiede könnte das Verhalten der Mutter sein. Weibliche Ratten, die von entspannten, aufmerksamen Adoptivmüttern aufgezogen wurden, verhalten sich
ihrem eigenen Nachwuchs gegenüber entspannter und aufmerksamer als Ratten, die von gestressten und unaufmerksamen Adoptivmüttern aufgezogen wurden (Francis et al. 1999). Nehmen Menschenkinder die Tendenzen ihrer Mütter auch so auf? Ainsworth (1979) untersuchte die Unterschiede im Bindungsverhalten, indem sie die MutterKind-Interaktionen während der ersten 6 Lebensmonate im häuslichen Umfeld beobachtete. Später beobachtete sie das Verhalten 1-jähriger Kinder in der sog. »fremden Situation« ohne ihre Mütter. [Die von Ainsworth entwickelte »fremde Situation« ist ein mittlerweile weltweit angewandtes Verfahren, um die Bindungsbeziehung zwischen einem Kleinkind und seiner Bezugsperson zu erfassen (Sodian u. Ziegenhain 2004).] Die Kinder von aufgeschlossenen, einfühlsamen Müttern, die beobachteten, was ihr Baby tat, und angemessen darauf reagierten, zeigten ein sicheres Bindungsverhalten. Kinder von wenig aufgeschlossenen, einfühlsamen Müttern – Mütter, die sich nur um ihr Kind kümmerten, wenn ihnen gerade danach zu Mute war, es aber ansonsten ignorierten – zeigten häufig ein unsicheres Bindungsverhalten. Die Versuche der Harlows mit jungen Affen, bei denen die Drahtgestelle sicher die prototypische Form einer uneinfühlsamen Mutter darstellten, erbrachten noch deutlichere Effekte: Wurden die Äffchen ohne ihre künstliche Mutter einer »fremden Situation« ausgesetzt, reagierten sie mit Angst und Schrecken (. Abb. 4.17). ! In verschiedenen Folgestudien wurde bestätigt, dass einfühlsame Mütter – und Väter – eher Kinder mit sicherem Bindungsverhalten haben (De Wolff u. van Ijsendoorn, 1997; van Ijsendoorn 1997).
Die Frage ist allerdings, ob der Bindungsstil des Kindes eine Folge des Verhaltens ist, da ja die frühen Erfahrungen der Kinder ihre Denkweise über Beziehungen formen. Oder hängt der Bindungsstil vom genetisch beeinflussten Temperament des Kindes ab – also von der charakteristischen emotionalen Reaktionsbereitschaft und -intensität? Kurz nach der Geburt sind einige Babys deutlich erkennbar »schwierig« – irritierbar, heftig und unvorhersehbar reagierend. Andere sind »einfach« zu haben – fröhlich, entspannt, mit vorhersagbaren Schlaf- und Nahrungsmustern (Chess u. Thomas 1987). Werden bei diesen Studien derartige angeborene Unterschiede nicht berücksichtigt, dann werden »Jagdhunde, die im Zwinger aufgezogen wurden, mit Pudeln verglichen, die in einer Wohnung aufgewachsen sind«, kommentiert Harris (1998). Um also die Faktoren Anlage und Umwelt voneinander zu trennen, variierte die holländische Wissenschaftlerin van den Boom (1990) das elterliche Verhalten und kontrollierte das Temperament des Kindes. (Legen Sie das Buch einen Augenblick beiseite und denken Sie nach: Wie wären Sie an dieses Problem herangegangen?) Van den Boom entschied sich für folgende Lösung: Sie wies 100 Kinder im Alter von 6–9 Monaten, die ein eher »schwieriges« Temperament hatten (7 Abschn. 3.1.4), entweder einer Versuchsgruppe zu, in der die Mütter in einfühlsamem Verhalten trainiert wurden, oder einer Kontrollgruppe, in der die Mütter nicht trainiert wurden. Im Alter von 12 Monaten wurde bei den Kindern das Bindungsverhalten getestet, und es zeigte sich, dass 68% von ihnen aus der Versuchsgruppe ein sicheres Bindungsverhalten zeigten, während in der Kontrollgruppe nur 28% so eingestuft wurden. Bei anderen Studien fand man ebenfalls heraus, dass man durch Interventionsprogramme die Sensibilität der Eltern verbessern kann und, in geringerem Maße, die Bindungssicherheit des Säuglings (Bakermans-Kranenburg et al. 2003). Diese Beispiele zeigen, dass die Betreuung durch die Mutter häufiger Gegenstand der Forschung war als die Betreuung durch den Vater. Wenn Kleinkinder nicht von der Mutter betreut werden, dann nennt man das »Deprivation«; fehlt jedoch die Betreuung durch den Vater, dann heißt es lediglich, das Kind mache die Erfahrung des »abwesenden Vaters«. »Fathering a child« bedeutet im Englischen, ein Kind zu zeugen; »mothering« dagegen bedeutet, ein Kind zu betreuen. Auch im Deutschen gibt es nur den Ausdruck »bemuttern« für das Verhalten einer überbehütenden Mutter; das väterliche Gegenstück fehlt. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass Väter mehr sind als mobile Samenbanken: 4 In fast 100 Studien, die weltweit durchgeführt wurden, waren väterliche Liebe und Akzeptanz und mütterliche Liebe bei Prognosen über die Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder miteinander vergleichbar (Rohner u. Veneziano 2001).
4 Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison
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. Abb. 4.17. Soziale Deprivation und Furcht Junge Affen, die von künstlichen Müttern aufgezogen worden waren, waren starr vor Angst, wenn man sie ohne ihre Ersatzmütter dem »Fremde-Situation«-Test unterzog. (Heute achtet man mehr darauf, dass sich die Tiere wohlfühlen, und dieses Klima des respektvolleren Umgangs mit Tieren verhindert, dass solche Studien durchgeführt werden.)
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Abb. 4.18. Die Trennung von den Eltern ist für kleine Kinder eine schmerzliche Erfahrung Im Rahmen eines Versuchs mussten sich Gruppen von Kindern ohne ihre Mütter in einem Raum aufhalten, den sie nicht kannten. Bei beiden Gruppen war der Prozentsatz der Kinder, die mit Schreien reagierten, wenn die Mutter hinausging, im Alter von 13 Monaten am höchsten (nach Kagan 1976). Ob die Kinder in einer Kindertagesstätte oder zu Hause betreut wurden, machte kaum einen Unterschied
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Copyright Barry Hewlett
4 Bei einer groß angelegten britischen Studie, bei der 7259 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter wissenschaftlich begleitet wurden, zeigte sich, dass jene, deren Väter sich am stärksten in ihrer Elternrolle engagierten (dazu gehörten Ausflüge, Vorlesen und aktives Interesse an der Erziehung der Kinder), in der Schule gewöhnlich bessere Leistungen erbrachten, selbst wenn man nachträglich viele weitere Faktoren kontrollierte wie den Bildungsstand der Eltern und die materielle Stellung der Familie (Flouri u. Buchanan 2004).
Ein fantastischer Vater Beim Volk der Aka in Zentralafrika entwickeln die Väter eine besonders enge Bindung an ihre Kleinkinder; sie säugen sogar ihre Babys mit ihren eigenen Brustwarzen, wenn der Hunger dazu führt, dass das Kind gar nicht mehr auf die Rückkehr der Mutter warten kann. Nach dem Anthropologen Hewlett (1991) halten die Väter in dieser Kultur in 47% der Fälle ihre Babys auf dem Arm oder sind in erreichbarer Nähe Urvertrauen (basic trust): Laut Erik Erikson ist Urvertrauen das Gefühl, dass die Welt ein sicherer und vertrauenerweckender Ort ist. Dieses Vertrauen entsteht in der frühen Kindheit durch die entsprechenden Erfahrungen mit aufgeschlossenen und einfühlsamen Bezugspersonen. »Aus dem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen entwickelt das Kind Hoffnung; dies ist die früheste Form dessen, was allmählich zum SichVerlassen auf Erwachsene wird.« Erik Erikson, 1983
Ob in Nordamerika, Europa, Guatemala oder der Kalahari-Wüste, ob ein Kind zu Hause betreut wird oder in einer Kindertagesstätte: Die Furcht vor einer Trennung von den Eltern erreicht ihren Höhepunkt mit etwa 12 Monaten und nimmt dann allmählich ab (. Abb. 4.18). Heißt dies, dass auch das Bedürfnis nach anderen Menschen oder die Liebe zu ihnen dahinschwindet? Wohl kaum. Die Liebesfähigkeit nimmt zu, und die Lust, die es uns bereitet, die Menschen, die wir lieben, zu berühren oder im Arm zu halten, hört nie auf. Doch die frühe Bindung verliert allmählich ihre Macht, so dass wir uns in neue Bereiche und Situationen hinauswagen, leichter mit fremden Menschen Kontakt aufnehmen und trotz räumlicher Entfernung an die Personen, die wir lieben, emotional gebunden bleiben können. Den Entwicklungstheoretiker Erik Erikson (1902–1994) hätte das nicht überrascht. Erikson und seine Frau und Mitarbeiterin Joan Erikson stellten fest, dass Kinder mit sicherem Bindungsverhalten auf das Leben mit einem Grundgefühl von Urvertrauen zugehen – mit dem Gefühl, dass die Welt vertrauenswürdig und verlässlich ist. Er schrieb dieses Grundvertrauen nicht nur dem positiven Umfeld oder einer angeborenen Veranlagung zu, sondern der Art, wie die Eltern mit dem Neugeborenen und dem Säugling umgingen. Seine Theorie lautete, dass Kinder, die unter dem segensreichen Einfluss von einfühlsamen und liebenden Bezugspersonen leben, eher eine vertrauensvolle als eine furchtsame Haltung entwickeln, die sie ihr Leben lang beibehalten. Erikson wäre auch nicht überrascht, zu erfahren, dass sich in der Art der romantischen Liebesbeziehungen unter uns Erwachsenen zeigt, ob wir eine gute und vertrauensvolle Bindung oder eine unsichere und angstvolle Bindung erlebt haben oder ob jede Bindung vermieden wurde (Feeny u. Noller 1990; Mikulincer u. Shaver 2005; Rholes u. Simpson 2004). ! Viele Wissenschaftler sind sich heute darüber einig, dass unser frühes Bindungsverhalten die Grundlage für unsere Beziehungen als Erwachsene bildet (Fraley 2002).
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Fehlende oder mangelhafte Bindung Ziel 14: Beurteilen Sie, welche Auswirkungen es auf die Bindungsmuster und auf die Entwicklung hat, wenn Kinder von den Eltern vernachlässigt werden, wenn eine Familie auseinanderbricht und wenn Kinder in Kindertagesstätten betreut werden.
Wenn, wie wir gesehen haben, ein sicheres Bindungsverhalten zur Ausbildung sozialer Kompetenz führt, was geschieht dann, wenn ein Kind kein Bindungsverhalten entwickeln kann, weil es die Umstände nicht erlauben? In der gesamten psychologischen Fachliteratur gibt es nichts Traurigeres als die Ergebnisse dieser Untersuchungen. Im Kinderheim mit wechselnden Bezugspersonen oder zu Hause in eine Ecke abgeschoben und vernachlässigt, bekommen Kinder nicht die Aufmerksamkeit und die Anregungen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Diese Kinder ziehen sich häufig in sich selbst zurück, sind ängstlich und schreckhaft, manchmal sogar sprachlos. Die verlassenen Kinder, die während der 80er Jahre in rumänischen Waisenhäusern gefunden wurden, hatten »eine erschreckend große Ähnlichkeit mit Harlows Äffchen« (Carlson 1995). Verbleibt ein Kind länger als 8 Monate in einer solchen vernachlässigenden Institution, trägt es oft emotionale Narben davon (Chisholm 1998; Malinosky-Rummell u. Hansen 1993; Rutter et al. 1998). Auch die Äffchen der Harlows trugen Narben davon, wenn sie in völliger Isolierung und sogar ohne eine künstliche Mutter aufgezogen wurden. Sie verkrochen sich ängstlich oder wurden sehr aggressiv, wenn man sie als erwachsene Tiere mit Gleichaltrigen zusammenbrachte. Bei Erreichen der Geschlechtsreife waren die meisten nicht dazu fähig, sich zu paaren. Weibchen, die künstlich befruchtet wurden, vernachlässigten oder missbrauchten häufig ihre erstgeborenen Jungen. Manchmal brachten sie diese sogar um. ! Auch für Menschen gilt, dass die Nichtgeliebten manchmal zu Nichtliebesfähigen werden. Die meisten Eltern, die ihre Kinder auf die eine oder andere Weise missbrauchen, berichten, dass sie als Kinder vernachlässigt oder geschlagen worden sind (Kempe u. Kempe 1978).
Lässt sich daraus die Vorhersage ableiten, dass die Opfer von heute die Täter von morgen sind? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Zwar wurde die Mehrzahl derer, die ein Kind misshandeln oder missbrauchen, selbst misshandelt oder missbraucht, doch die meisten Menschen, die als Kinder misshandelt oder missbraucht wurden, werden nicht zu Gewalttätern oder prügelnden Eltern. Von den Kindern, die unter extrem schwierigen Bedingungen aufwuchsen, haben die meisten genügend Widerstandskraft, um zu ganz normalen Erwachsenen heranzuwachsen (Helmreich 1992; Masten 2001). In einer Studie wurden 1000 Jugendliche, die misshandelt worden sind, über längere Zeit hinweg beobachtet. Beschränkte sich die Zeit der Misshandlungen auf die frühe Kindheit, dann verschwanden die manifesten Folgen, die sich hier als Kleinkriminalität äußerten, spätestens in der Endphase der Adoleszenz (Ireland et al. 2002). Doch nicht alle Kinder sind so flexibel, vor allem nicht die, bei denen es keinen scharfen Bruch zwischen dem erlittenen Missbrauch in ihrer Vergangenheit und einem normalen Leben gibt. 30% der Menschen, die als Kinder in irgendeiner Form missbraucht worden sind, missbrauchen ihrerseits ihre Kinder (Kaufman u. Zigler 1997; Widom 1989a, b). Kleine Kinder, die unter dem Terror von physischem Missbrauch leben, oder Kinder, die während eines Krieges Grausamkeiten miterleben mussten, die geprügelt wurden, Folterungen mit ansehen oder einfach nur in ständiger Angst leben mussten, leiden wahrscheinlich unter anderen Wunden: Sie haben häufig Albträume, sind depressiv und haben in der Adoleszenz Probleme, wie beispielsweise Substanzmissbrauch, Fressanfälle oder Aggressivität (Kendall-Tackett et al. 1993; Polusny u. Follette 1995; Trickett u. McBride-Chang 1995). Der sexuelle Kindesmissbrauch setzt Kinder, vor allem wenn er schwerwiegend ist und lange andauert, einem erhöhten Risiko aus für Gesundheitsprobleme, psychische Störungen, Substanzmissbrauch und Kriminalität (Freyd et al. 2005; Tyler 2002). ! Kinder sind zwar widerstandsfähig, doch schwere Kindheitstraumata hinterlassen Spuren im Gehirn.
Junge Ratten, die als Jungtiere mehrere Stunden am Tag vom Muttertier ferngehalten wurden, bilden später im Gehirn weniger neue Nervenzellen aus (Mirescu et al. 2004). Normalerweise friedfertige Goldhamster, die als Jungtiere ständig bedroht und angegriffen werden, werden, wenn sie den Käfig mit Goldhamstern ihrer Größe teilen müssen, zu Feiglingen oder terrorisieren schwächere Tiere
»Was man in der Wiege lernt, bleibt bis zum Grab erhalten.« Französisches Sprichwort
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Kapitel 4 · Entwicklung
(Ferris 1996). Bei diesen Goldhamstern findet man Veränderungen beim Serotoninspiegel im Gehirn (Serotonin dämpft aggressive Impulse). Eine vergleichbar träge Serotoninproduktion fand sich bei missbrauchten Kindern, die sich als Teenager und Erwachsene aggressiv verhielten. »Stress kann hormonelle Veränderungen hervorrufen, die das Gehirn eines Kindes dahingehend ›verdrahten‹, dass die Welt als ein feindseliger Ort wahrgenommen wird, mit dem man irgendwie fertig werden muss«, lautet die Schlussfolgerung des Missbrauchsforschers Teicher (2002). Könnten die Probleme der Missbrauchsopfer auch andere Ursachen haben? Familiäre Probleme, eine unfreundliche Nachbarschaft oder ein verletzliches Temperament? Studien mit amerikanischen und australischen Zwillingen zeigten, dass Frauen, die als Kind sexuell missbraucht worden sind (Missbrauch, zu dem auch Geschlechtsverkehr gehörte), ein größeres Risiko hatten, depressiv zu werden, unter Angst zu leiden und alkoholabhängig zu werden, als ihre nicht missbrauchten Zwillingsschwestern (Kendler et al. 2000; Nelson et al. 2002). Nimmt man einmal die gleichen Gene, dieselben Eltern und dieselbe Nachbarschaft als gegeben an, müssen diese Störungen auf den Missbrauch zurückzuführen sein. Trotzdem sind die Forscher zurückhaltend, von den momentanen Symptomen auf sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit zu schließen (Sbraga u. O’Donohue 2003). Obwohl der sexuelle Missbrauch von Kindern beispielsweise das Risiko für eine Depression größer werden lässt, leiden viele missbrauchte Menschen nicht unter einer Depression, und die meisten depressiven Menschen sind nicht sexuell missbraucht worden.
Unterbrochene Bindung Wie ergeht es einem Kleinkind, wenn die Bindung unterbrochen oder abgebrochen wird? Sowohl junge Affen als auch Menschenkinder reagieren auf die Trennung von ihrer Familie mit Beunruhigung, wenig später mit Rückzug und sogar mit resignierter Hoffnungslosigkeit (Bowlby 1973; Mineka u. Suomi 1978). Aus Sorge, dass der Trennungsstress dauerhafte Schäden verursachen könnte, sind Gerichte nur zögernd bereit, ein Kind aus seinem Elternhaus herauszunehmen. Werden die Kinder in einer positiven und stabilen Umgebung untergebracht, dann überwinden die meisten den Stress der Trennung. In Studien mit Adoptivkindern fanden Yarrow et al. (1973), dass Kinder, die zwischen dem 6. und dem 16. Lebensmonat von ihrer Pflegemutter weggenommen wurden, anfänglich Probleme mit dem Essen und dem Schlafen hatten und nur schwer eine Beziehung zu der neuen Mutter aufbauen konnten. Man untersuchte diese Kinder erneut, als sie 10 Jahre alt waren; zu diesem Zeitpunkt zeigten sich nur noch geringe Nachwirkungen. Es erging ihnen also nicht schlechter als den Kindern, die bei der Trennung von ihrer Ursprungsfamilie noch nicht 6 Monate alt waren (wobei die Trennung mit nur geringem Stress verbunden war). Auch die sozial deprivierten, aber angemessen ernährten rumänischen Waisenkinder, die als Säuglinge oder als kleine Kinder in einem liebevollen Heim aufgenommen wurden, machten insgesamt rasche Fortschritte, vor allem in ihrer kognitiven Entwicklung. Wurden sie allerdings nach dem Alter von 2 Jahren aus dem Heim herausgenommen und adoptiert, hatten sie ein erhöhtes Risiko, Bindungsprobleme zu bekommen. ! Eine Unterbringung in wechselnden Pflegefamilien, die Bindung verhindert, weil das Kind von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht wird, kann die Bindungsfähigkeit zerrütten; das gilt auch für wiederholte und lange Trennungen von der Mutter.
Auch Erwachsene leiden, wenn eine Bindung zerbricht. Sei es durch Tod oder durch Trennung, der Bruch führt zu einer vorhersagbaren Abfolge von Verhaltensweisen: Erregung, Beschäftigung mit dem verlorenen Partner, dann tiefe Trauer und vielleicht die ersten Anzeichen einer emotionalen Loslösung und schließlich die Rückkehr zum normalen Leben (Hazan u. Shaver 1994). Paare, deren Trennung noch nicht lange zurückliegt und die schon lange keine Zuneigung mehr empfinden, sind manchmal von ihrem Bedürfnis überrascht, dem früheren Partner nahe zu sein. Tiefe und lang anhaltende Bindungen brechen selten schnell ab. Loslösung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess.
Tagesbetreuung und Bindungsverhalten In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als »Mutter bleibt zu Hause« die allgemeine soziale Norm war, fragten sich Wissenschaftler: »Ist Tagesbetreuung schädlich für das Kind? Wird dadurch die Bindung des Kindes zu seinen Eltern unterbrochen?« Die Antwort lautete Nein, zumindest was
die Tagesbetreuungsprogramme von hoher Qualität betraf, die normalerweise untersucht wurden (Belsky 1990). Die Entwicklungspsychologin Sandra Scarr schrieb 1984 in ihrem Buch »Mother Care, Other Care« (dtsch.: »Wenn Mütter arbeiten – wie Kinder und Beruf sich verbinden lassen«, 1987), dass Kinder – »biologisch gesehen – robuste Individualisten sind, die auch in einer Vielzahl verschiedener Situationen gedeihen können«. Scarr sprach vielen Entwicklungspsychologen aus dem Herzen, deren Forschung ergeben hatte, dass die Berufstätigkeit der Mutter keinen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hatte (Erel et al. 2000). Dann wandte sich die Forschung der Frage zu, ob die unterschiedliche Qualität der Tagesstätten Auswirkungen auf die unterschiedlichen Temperamente der Kinder hat. Scarr (1997) erklärte: Überall auf der Welt bietet »Tagesbetreuung von hoher Qualität Gelegenheit für freundliche und stützende Interaktionen mit Erwachsenen in einer sicheren, gesunden und anregenden Umgebung. … Schlechte Tagesbetreuung ist langweilig, und man geht dort nicht auf die Bedürfnisse der Kinder ein.« Die neuere Forschung bestätigt nicht nur den Befund, das die Qualität der Tagesbetreuung von Bedeutung ist; man fand heraus, dass Armut in der Familie dazu führt, dass die Kinder einer Tagesbetreuung von geringer Qualität ausgesetzt sind, ebenso wie einer Instabilität und einem Durcheinander innerhalb der Familie, einem autoritären elterlichen Erziehungsstil, mehr Fernsehen und weniger Zugang zu Büchern (Love et al. 2003; Evans 2004). In einer Langzeitstudie wurden 1100 Kinder in 10 amerikanischen Städten vom 1. Lebensmonat an beobachtet. Die Forscher fanden bei Kindern im Alter von 4 1/2–6 Jahren heraus, dass bei denen, die die meiste Zeit über eine Kindertagesstätte besucht hatten, die Denk- und Sprachfähigkeit etwas über der Altersnorm lag; sie waren aber auch aggressiver und frecher (NICHD 2002; NICHD 2003). Für die Entwicklungspsychologin Maccoby (2003) deutet die positive Korrelation zwischen der erhöhten Häufigkeit des Problemverhaltens und der Zeit, die diese Kinder in der Tagesbetreuung verbrachten, darauf hin, dass »es ein gewisses Risiko für einige Kinder gibt, die längere Zeit in einer Tagesbetreuung, wie sie heute organisiert ist, verbringen«. Doch die Qualität der Familie, das Temperament des Kindes, die Sensibilität der Mutter und das materielle und Bildungsniveau der Familie hatten mehr Einfluss als die Zeit, die das Kind in der Tagesstätte verbrachte. Weitere kürzlich veröffentlichte Forschungsarbeiten zeigen kein einheitliches Befundmuster: 4 Bei Kleinkindern steigt der Spiegel der Stresshormone gewöhnlich an, wenn sie in der Kindertagesstätte sind, und sinkt an den Tagen wieder ab, an denen sie zu Hause sind (Watamura et al. 2003). 4 Wenn die Mütter von der Sozialhilfe in einen Beruf gehen, hat dies für ihre Vorschulkinder keine negativen Folgen (Chase-Lansdale et al. 2003). 4 Obwohl berufstätige Mütter insgesamt weniger Zeit mit ihren Kleinkindern verbringen, gleichen sie dies gewöhnlich teilweise dadurch aus, dass sie in ihrer Freizeit einschließlich der Wochenenden andere Aktivitäten ausfallen lassen (wie etwa mit anderen Personen zusammen sein). Im Endeffekt verbringen sie während dieser Stunden mehr Zeit damit, mit ihren Kindern zu spielen, mit ihnen zu sprechen und sie auf dem Arm zu halten, als dies bei nicht berufstätigen Müttern der Fall ist (Huston u. Aronson 2005). Man kann kontroverse Diskussionen auslösen, wenn man sich als Forscher im Bereich der Tagesbetreuung »an die empirischen Daten hält «, merkt Belsky (2003) an. Sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Tagesbetreuung haben feste Überzeugungen. Belsky schreibt: »Infolgedessen wird der Forscher, der bereit ist, über unpopuläre Ergebnisse zu berichten, nur allzu häufig angegriffen, weil er die Daten erhoben hat.« Ebenso wie Metereologen möglicherweise über Regen berichten, aber die Sonne lieben, zielen Wissenschaftler darauf ab, die Dinge so offenzulegen und darüber zu berichten, wie sie sind, ob sie das nun mögen oder nicht. ! Angesichts der kulturell so unterschiedlichen Bindungsstile sollte uns die Fähigkeit der Kinder nicht verwundern, unter verschiedenen Arten von Betreuung zu gedeihen, wenn diese nur empathisch und einfühlsam ist.
In westlichen Ländern heißt Bindung: ein oder zwei Bezugspersonen und ihre Nachkommenschaft. In anderen Kulturen, etwa bei den Efe-Pygmäen in Zaire sind zahlreiche Bezugspersonen
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173 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit
Ein Beispiel für hoch qualifizierte Tagespflege Die wissenschaftliche Forschung hat nachgewiesen, dass sich Kinder in einer sicheren und anregenden Umgebung sozial und geistig am besten entwickeln. Günstig ist ein Verhältnis von 3–4 Kindern pro Erzieher/in
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Kapitel 4 · Entwicklung
die Norm (Field 1996; Whaley et al. 2002). Noch ehe die Mutter ihr Kind zum ersten Mal auf den Arm nimmt, wird es schon herumgereicht und von mehreren Frauen gehalten. In den darauffolgenden Wochen wird der Säugling ständig von anderen Frauen getragen und gestillt. Das Ergebnis sind starke multiple Bindungen. Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort sagt: »Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.« Es wird wohl kaum jemand der Aussage widersprechen, dass Kleinkinder, die während der Arbeitszeit ihrer Eltern täglich mehrere Stunden sich selbst überlassen sind, ein besseres Los verdient haben. Das Gleiche gilt aber auch für Kinder, die jeden Tag 9 Stunden in einer personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Tagesstätte verbringen müssen. ! Kinder brauchen eine beständige, warme Beziehung zu Menschen, zu denen sie Vertrauen entwickeln können.
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Selbstkonzept Ziel 15: Geben Sie an, wann und wie sich das Selbstkonzept eines Kindes entwickelt.
S. Hughes
Selbstkonzept (self-concept): Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Wert.
Selbstwahrnehmung Vom 6. Lebensmonat an sind Kinder von Spiegelbildern fasziniert. Doch erst mit etwa 18 Monaten erkennt ein Kind, dass das Bild im Spiegel »Ich« ist
Wenn man sie längere Zeit vor einen Spiegel setzt, ließ sich bei Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas und Delphinen in ähnlicher Weise zeigen, dass sie sich selbst im Spiegel wiedererkennen (Marino et al. 1994; Wright 1996). Bei Kapuzineraffen lässt sich dies teilweise demonstrieren (de Waal et al. 2005)
In der Säuglings- und Kleinkindzeit ist es die wichtigste soziale Errungenschaft, Bindungen zu entwickeln und Bindungsverhalten zu lernen. Die größte soziale Errungenschaft in der Kindheit ist die Ausbildung eines positiven Selbstgefühls. Mit etwa 12 Jahren, also am Ende der Kindheit, haben die meisten Kinder ein Selbstkonzept entwickelt, ein Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Wert. Eltern fragen sich oft, wann und auf welche Weise dieses Selbstgefühl entsteht. »Ist sich mein Baby seiner selbst bewusst? Weiß mein kleines Mädchen, wer sie ist? Weiß sie, dass sie eine eigenständige Persönlichkeit ist, anders als alle anderen?« Auch hier können wir das Baby nicht direkt befragen, doch wir können wieder einmal das betrachten, was es kann. Denn das Verhalten des kleinen Mädchens liefert uns die Hinweise darauf, wann es beginnt, sich seiner selbst bewusst zu sein. Der Naturforscher Charles Darwin vertrat dazu 1877 die folgende Auffassung: Das Bewusstsein des eigenen Selbst beginnt dann, wenn wir uns in einem Spiegel wiedererkennen. Nehmen wir diesen Gedanken als Indikator, dann entwickelt sich das Erkennen des eigenen Gesichts nur allmählich und dauert etwa 1 Jahr. Der Prozess beginnt grob gerechnet im 6. Lebensmonat, wenn ein Kind nach dem Spiegel greift und das Spiegelbild so berührt, als sei dort ein anderes Kind (Courage u. Howe 2002; Damon u. Hart 1982, 1988). Doch woher wissen wir, wann das Kind erkennt, dass das Mädchen im Spiegel tatsächlich es selbst ist und nicht einfach eine nette Spielkameradin? Wissenschaftler variierten auf sehr einfache Weise den Spiegeltest, indem sie den Kindern heimlich einen Tupfer Rot auf die Nase verpassten, ehe sie sie vor den Spiegel setzten. Mit etwa 15–18 Monaten fangen Kinder an, ihre eigene Nase anzufassen, wenn sie den roten Fleck im Spiegel sehen (Butterworth 1992; Gallup u. Suarez 1986). Offensichtlich haben Kinder im Alter von 18 Monaten ein Schema davon, wie ihr Gesicht aussehen sollte und wundern sich: »Was macht denn dieser Fleck auf meinem Gesicht?« Dieses einfache Wiedererkennen ist der Beginn für das allmählich stärker werdende Selbstkonzept des Kindes. Ungefähr im Schulalter beschreiben Kinder sich selbst mit Begriffen der Geschlechtszugehörigkeit, als Mitglieder einer Gruppe und mit psychologischen Merkmalen, und sie vergleichen sich mit anderen Kindern (Newman u. Ruble 1988; Stipek 1992). Sie beurteilen sich selbst bei manchen Dingen als geschickt, bei anderen jedoch nicht. Sie bilden ein Konzept aus, das beinhaltet, welche Charakterzüge sie gerne hätten, und entwickeln eine Vorstellung von ihrem idealen Selbst. Mit 8–10 Jahren verfügen sie über ein recht stabiles Selbstbild. ! Was ein Kind tut, wird davon beeinflusst, wie es sich selbst sieht. Kinder mit positivem Selbstkonzept haben mehr Vertrauen, sind unabhängig, optimistisch, durchsetzungsfähig und gesellig (Maccoby 1980).
Dieser Befund wirft wichtige Fragen auf: Können Eltern die Bildung eines positiven, aber realitätsangemessenen Selbstkonzepts fördern? Werden Kinder durch den elterlichen Erziehungsstil beeinflusst?
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Erziehungsstile Ziel 16: Beschreiben Sie drei elterliche Erziehungsstile, und liefern Sie drei mögliche Erklärungen für den Zusammenhang zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz.
Die Erziehungspraktiken von Eltern sind vielgestaltig. Sie unterscheiden sich in den Dimensionen Lenkung/Kontrolle und Wärme/Akzeptanz. Manche Eltern sind streng, andere sind nachsichtig. In manchen Familien wird Zuneigung kaum gezeigt, in anderen dagegen wird viel geschmust und geküsst. Wirken sich diese Unterschiede auf die Kinder aus? Der Aspekt der elterlichen Kontrolle wurde am besten untersucht: Auf welche Weise, wie stark und wie weit kontrollieren Eltern ihre Kinder? Die Forscher haben drei Erziehungsstile ausgemacht: 1. Autoritäre Eltern stellen Regeln auf und erwarten Gehorsam. »Unterbrich mich nicht!« »Räum dein Zimmer auf!« »Komm nicht so spät nach Hause, sonst gibt’s Ärger!« »Warum? Weil ich es gesagt habe.« 2. Permissive Eltern geben den Wünschen der Kinder nach, stellen wenig Ansprüche und bestrafen nur selten. 3. Auf autoritative Eltern trifft beides zu: Sie stellen Forderungen und sie sind empathisch. Sie üben Kontrolle nicht dadurch aus, dass sie Regeln aufstellen und sie durchsetzen, sondern sie begründen die Regeln und ermuntern ihre Kinder (vor allem größere Kinder) dazu, diese Regeln offen mit ihnen zu diskutieren, und sie lassen es zu, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Zu streng, zu weich und genau richtig wurden diese Stile genannt. Heutzutage ist es üblich und notwendig, als vierten Stil noch die vernachlässigende Erziehung hinzuzunehmen (7 Kap. 19). ! Untersuchungen von Coopersmith (1967), Baumrind (1996) und Buri et al. (1988) zeigen, dass die Eltern der Kinder mit dem höchsten Selbstwertgefühl, dem stärksten Selbstvertrauen und der größten sozialen Kompetenz freundlich, interessiert und autoritativ waren. (Kinder mit autoritären Eltern haben gewöhnlich weniger soziale Fertigkeiten und ein geringeres Selbstwertgefühl; Kinder mit permissiven Eltern sind oft aggressiver und unreifer.)
Die Teilnehmer an den meisten Studien waren weiße Mittelschichtfamilien. Allerdings bestätigen Studien mit Familien aus anderen Ethnien und Studien in vielen verschiedenen Kulturen die Korrelation von Sozialverhalten und Bildung mit liebevollem und autoritativem Erziehungsstil der Eltern (Rohner u. Veneziano, 2001; Steinberg u. Morris, 2001). Doch stopp! Ehe Sie jetzt endgültige Schlussfolgerungen über die Ergebnisse der verschiedenen Erziehungsstile ziehen, wollen wir uns erinnern: Korrelation ist nicht dasselbe wie Kausalität. Der Zusammenhang zwischen bestimmten Erziehungsstilen (offen, aber konsequent) und bestimmten Merkmalen beim Kind (soziale Kompetenz) ist eine Korrelation. Es gibt andere mögliche Erklärungen für diesen Zusammenhang (. Abb. 4.19). 4 Vielleicht werden Eltern mehr von den Charakterzügen des Kindes beeinflusst als umgekehrt. Freundlichkeit und Kontrolle variieren in gewisser Weise von einem Kind zum anderen, sogar in derselben Familie (Holden u. Miller 1999). Es könnte auch sein, dass Kinder mit angenehmem Charakter und einer gewissen sozialen Reife, Kinder, die keine besonderen Probleme bereiten, mehr Vertrauen und Zuwendung seitens der Eltern hervorrufen bzw. dass weniger kompetente und kooperative Kinder auch weniger Vertrauen und Zuwendung auslösen. Zwillingsstudien stützen diesen möglichen Zusammenhang (Kendler 1996). 4 Vielleicht liegt diesem Zusammenhang aber auch ein dritter Faktor zugrunde. Kompetente Eltern und ihre gleichfalls kompetenten Kinder haben z. B. vielleicht die gleichen Gene, und zwar solche, die eine Prädisposition für Kompetenz bewirken.
. Abb. 4.19. Korrelation zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz bei Kindern Drei Erklärungen sind möglich: 1. Der Erziehungsstil hat Einfluss auf die Kompetenz der Kinder; 2. die soziale Kompetenz der Kinder hat Einfluss auf den Erziehungsstil der Eltern; oder 3. die Variablen werden von einem dritten, beidem zugrunde liegenden Faktor beeinflusst
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Kapitel 4 · Entwicklung
! Der Zusammenhang von elterlichem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz des Kindes ist rein korrelativ: Ursache und Wirkung lassen sich nicht eindeutig bestimmen und auch ein dritter Faktor könnte bedeutsam sein.
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»Ihr seid die Bogen, von denen aus eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.« Kahlil Gibran, »Der Prophet« (1923)
Wenn sich Eltern mit dem Stress der Kindererziehung und mit einander widersprechenden Ratschlägen herumschlagen, dann sollten sie daran denken, dass alle Ratschläge das Wertesystem des Beraters widerspiegeln. Für die, die Wert auf strikten Gehorsam bei den Kindern legen, mag ein autoritärer Stil die gewünschte Wirkung erbringen. Den Eltern, die Wert darauf legen, aufgeschlossene und selbstständige Kinder zu haben, ist der offene und dabei konsequente autoritative Erziehungsstil zu empfehlen. In die Erziehung der Kinder werden viele Jahre investiert, und dabei geht es nicht immer nur um Freude und Liebe, sondern oft auch um Kummer und Sorgen. Doch für die meisten Eltern ist ein Kind ein biologisches und soziales Vermächtnis, eine Investition in die Zukunft der Menschheit. Wenn man junge Erwachsene an ihre Sterblichkeit erinnert, werden sie einen stärkeren Kinderwunsch zum Ausdruck bringen (Wisman u. Goldenberg, 2005). Um es mit C. G. Jung zu sagen: Durch unsere Eltern sind wir mit der Vergangenheit verbunden, durch unsere Kinder mit der Zukunft und durch deren Kinder wiederum mit einer Zukunft, die wir nicht erleben werden, um die wir uns aber trotzdem kümmern müssen.
Lernziele Abschnitt 4.2 Kleinkind- und Kindesalter Ziel 5: Beschreiben Sie einige Entwicklungsveränderungen im Gehirn des Kindes, und erklären Sie, warum viele der Ähnlichkeiten zwischen uns auf Reifung zurückgehen. Das unreife Nervensystem eines Neugeborenen unterliegt nach der Geburt in dem Maße einem Wachstumsschub, in dem sich das neuronale Netz erweitert. Im Alter zwischen 3 und 6 Jahren ist das Wachstum in den Frontallappen am ausgeprägtesten. Die Entwicklung in den Assoziationsfeldern des Kortex befähigt zu Denken, Gedächtnis und Sprache. Wenn die Nervenbahnen im Gehirn genutzt werden, entwickeln sie sich und werden stärker bis in die Pubertät hinein, in der bei einem Pruning genannten Vorgang nach und nach überflüssige Verbindungen beseitigt werden. Wenn keine schwere Misshandlung oder Vernachlässigung vorliegt, führt die Reifung – die ordnungsgemäße Abfolge genetisch festgelegter biologischer Prozesse – alle Kleinkinder auf den Weg des gleichen allgemeinen Entwicklungsverlaufs.
an etwa dieses Alter organisiert. Wenn der Kortex heranreift, wird das Langzeitgedächtnis besser; zudem lassen sich die vorsprachlichen Erinnerungen kleiner Kinder nicht leicht in Sprache übertragen.
Ziel 6: Beschreiben Sie kurz vier Ereignisse in der Abfolge der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum Kleinkind, und geben Sie an, welche Auswirkungen Reifung und Erfahrung auf diese Abfolge haben. Obwohl es Unterschiede bei den genauen Zeitpunkten geben kann, folgen nahezu alle Babys der gleichen Sequenz vom ersten Überrollen zum Sitzen ohne Hilfe, dann Krabbeln, danach Gehen. Die Erfahrung hat hier nur einen geringen Einfluss, die Reifung (einschließlich der des Kleinhirns) ermöglicht Ereignisse.
Ziel 9: Skizzieren Sie Piagets Hauptstadien der kognitiven Entwicklung, und kommentieren Sie, wie sich das Denken von Kindern während dieser vier Stadien verändert. Im sensumotorischen Stadium (Geburt bis 2 Jahre) erleben die Kinder die Welt mit ihren Sinnen und Handlungen. In den ersten 6 Monaten haben die Kinder keine Objektpermanenz , d. h. kein Bewusstsein dafür, dass die Dinge weiter existieren, wenn sie aus den Augen sind. Im präoperatorischen Stadium (2 bis 6 oder 7 Jahre) lernen Kinder, Sprache zu verwenden, und können Dinge mit Worten oder Bildern darstellen, aber sie sind unfähig, logische Schlüsse zu ziehen. Sie haben keine Theory of Mind und sind egozentrisch oder haben Schwierigkeiten, den Standpunkt einer anderen Person einzunehmen (auch Menschen mit einer autistischen Störung haben keine Theory of Mind). Präoperatorische Kinder haben keinen Begriff der Mengenerhaltung – ein Ver6
Ziel 7: Erklären Sie, warum wir nur wenige Erinnerungen an Erfahrungen während der ersten 3 Jahre unseres Lebens haben. Die »infantile Amnesie« – eine Unfähigkeit, sich bewusst an Ereignisse zu erinnern, die vor dem Alter von 3 Jahren geschahen – ist die Folge einer Veränderung in der Art und Weise, wie das Gehirn Erinnerungen
Ziel 8: Beschreiben Sie Piagets Erklärung dafür, wie sich das Denken entwickelt, und erörtern Sie die Bedeutung der Assimilation und der Akkommodation bei diesem Prozess. Piaget schlug vor, dass sich die Fähigkeit von Kindern, Schlussfolgerungen zu ziehen, in einer Reihe von Stadien entwickelt und dass Kinder aktiv ihr Verständnis von der Welt konstruieren und verändern, wenn sie in Interaktion mit ihr treten. Sie bilden Schemata (Begriffe oder Rahmenvorstellungen zur Organisation der Erfahrung). Dann assimilieren (interpretieren) sie Informationen mit Hilfe dieser Schemata, oder – wenn die Informationen nicht zum Schema passen – akkomodieren das Schema (passen es an), um es mit neuen Informationen anzureichern.
177 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit
ständnis davon, dass die Dinge ihre Form ändern können, aber dabei ihre Masse, ihr Volumen oder ihre Anzahl erhalten bleibt. Im konkretoperatorischen Stadium (etwa von 7 bis 11 Jahre) können die Kinder logisch über konkrete Ereignisse nachdenken, Analogien verstehen und arithmetische Operationen ausführen. Im Stadium der formalen Operationen (12 Jahre bis zum Erwachsenenalter) erlangen sie die Fähigkeit, abstrakte Schlussfolgerungen zu ziehen. Piaget sah das Alter, das mit den Stadien verbunden war, als etwas Ungefähres an, doch deren Abfolge als universell. Ziel 10: Erläutern Sie, was die Psychologen heutzutage von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung halten. Die heutige Forschung zeigt, dass die formale Logik bei der kognitiven Entwicklung eine geringere Rolle spielt, als Piaget annahm, und dass die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten kontinuierlicher ist, wobei die Stadien früher beginnen und weniger abrupt einsetzen. Trotzdem sind Piagets Auffassungen darüber, in welcher Folge die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern abläuft, wiederholt bestätigt worden. Ziel 11: Definieren Sie Fremdeln. Fremdeln ist die Angst vor Fremden, die Kleinkinder mit etwa 8 Monaten zu zeigen beginnen. Kinder dieses Alters haben Schemata für vertraute Gesichter gebildet, und sie geraten durcheinander, wenn die Gesichter nicht zu ihren Schemata passen. Ziel 12: Erörtern Sie, welche Auswirkungen Nahrungsaufnahme, Körperkontakt und Vertrautheit auf die soziale Bindung eines Säuglings haben. Bis zu den Forschungsarbeiten der Harlows Mitte der 1950-er Jahre glaubten viele Psychologen, dass Kinder über einen Konditionierungsprozess Bindungen (Ausbildung einer emotionalen Verbundenheit) an Personen entwickeln, die sie ernähren. Die Experimente der Harlows zeigten, dass sich kleine Affen lieber eine Mutter suchen würden, die sie nicht ernährt, wenn sie denn Trost bot, als eine Mutter, die Nahrung bereitstellte, aber ihnen keinen Trost bot. Enten und andere Tiere zeigen das Phänomen der Prägung: Sie bilden eine Bindung gegenüber einem bedeutsamen Lebewesen oder Objekt aus, wenn dies ihnen in einem kritischen Zeitraum begegnet (einer Zeit kurz nach der Geburt, in der die richtige Entwicklung von der Konfrontation mit bestimmten Reizen und Erfahrungen abhängt). Menschen zeigen keine Prägung, aber sie entwickeln Bindungen an vertraute Menschen und Dinge, die ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben. Ziel 13: Stellen Sie die sichere und die unsichere Bindung einander gegenüber, und erläutern Sie die Rolle der Eltern und der Säuglinge bei der Entwicklung der Bindung sowie die Gefühle des Urvertrauens beim Säugling. In der Versuchsbedingung, die man als »fremde Situation« bezeichnet, beobachten Forscher eine Mutter und ihr Kind in einem Laborspielzimmer; sie notieren, wie das Kind reagiert, wenn die Mutter das Zimmer verlässt und wiederkommt. In Anwesenheit der Mutter spielen und erkunden sicher gebundene Kinder sorglos, sind beunruhigt, wenn sie herausgeht, und suchen den Kontakt, wenn sie zurückkehrt. In Anwe-
senheit der Mutter erkunden unsicher gebundene Kinder weniger und klammern sich möglicherweise an sie, schreien laut, wenn sie das Zimmer verlässt, und sind weiterhin verstimmt oder reagieren gleichgültig, wenn sie zurückkommt. Andere Studien zeigen, dass sensible, einfühlsame Eltern gewöhnlich sicher gebundene Kinder haben. Das genetisch beeinflusste Temperament kann eine Einfühlsamkeit bei den Eltern auslösen, aber die Sensibilität der Eltern lässt sich lernen und erhöht durchaus in gewissem Maße die Bindungssicherheit des Kleinkinds. Sowohl aus der Liebe des Vaters als auch aus der der Mutter lässt sich die Gesundheit und das Wohlbefinden des Kindes vorhersagen. Die Beziehungen zwischen Erwachsenen sind gewöhnlich Ausdruck des sicheren oder unsicheren Bindungsstils in der frühen Kindheit; dies stützt Erik Eriksons Vorstellung, dass das Urvertrauen durch unsere Erfahrungen mit einfühlsamen Betreuungspersonen gebildet wird. Ziel 14: Beurteilen Sie, welche Auswirkungen es auf die Bindungsmuster und auf die Entwicklung hat, wenn Kinder von den Eltern vernachlässigt werden, wenn eine Familie auseinanderbricht und wenn Kinder in Kindertagesstätten betreut werden. Wenn Vernachlässigung durch die Eltern oder ein anderes Trauma Kindern die Möglichkeit nehmen, eine Bindung aufzubauen, ziehen sich Kinder allmählich in sich zurück, werden ängstlich und entwickeln sich sprachlich nicht. Wenn die Kindesmisshandlung länger andauert, setzt dies die Kinder einem erhöhten Risiko für eine Vielfalt körperlicher, psychischer und sozialer Probleme aus und kann den Serotoninspiegel im Gehirn verändern. Schädigungen durch Unterbrechung wichtiger, durch Bindung geprägter Beziehungen, wie dies etwa geschieht, wenn Kinder zu Pflegeeltern kommen, scheinen vor einem Alter von 16 Monaten nur geringfügig zu sein. Kinder jedoch, die wiederholt an unterschiedliche Stellen gegeben werden oder auf andere Weise davon abgehalten werden, bis zum Alter von 2 Jahren Bindungen aufzubauen, können einem Risiko für Bindungsprobleme ausgesetzt sein. Eine qualitativ gute Tagesbetreuung mit einfühlsamen Erwachsenen, die mit dem Kind in einer sicheren und stimulierenden Umwelt interagieren, scheint sich nicht schädlich auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten von Kindern auszuwirken. Einige Studien haben jedoch Folgendes erbracht: Je länger ein Kind in Tagesbetreuung ist, desto aggressiver und trotziger ist es. Ziel 15: Geben Sie an, wann es zum Selbstkonzept eines Kindes kommt und wie es sich entwickelt. Das Selbstkonzept, ein Sinn für die eigene Identität und den eigenen Wert, entwickelt sich allmählich ab dem Alter von etwa 6 Monaten. Mit 15 bis 18 Monaten erkennen sich Kinder selbst im Spiegel. Ab dem Schulalter können sie viele ihrer eigenen Merkmale beschreiben, und ab dem Alter von 8 bis 10 Jahren ist das Selbstbild stabil. Ziel 16: Beschreiben Sie drei elterliche Erziehungsstile, und liefern Sie drei mögliche Erklärungen für den Zusammenhang zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz. Autoritäre Eltern zwingen ihren Kindern Regeln auf und erwarten Gehorsam. Permissive Eltern unterwerfen sich den Forderungen der 6
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Kapitel 4 · Entwicklung
Kinder, bitten sie nur um wenige Dinge und strafen nur selten. Autoritative Eltern sind gegenüber ihren Kindern fordernd, aber einfühlsam. Ein autoritativer elterlicher Erziehungsstil korreliert mit sozialer Kompetenz, aber die Ursache-Wirkungs-Beziehung ist nicht eindeutig. Dieser elterliche Erziehungsstil kann zu sozial kompetenten Kindern führen, oder angenehme, unbeschwerte Kinder können Auslöser für einen autoritativen Erziehungsstil sein. Oder ein dritter Faktor (wie gemeinsame Gene) kann zu einem Tem-
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4.3
perament führen, das gut zu einem autoritativen Erziehungsstil passt und das sich in angenehmen unbeschwerten Interaktionen äußert. > Denken Sie weiter: Können Sie sich daran erinnern, dass Sie den Text eines Liedes falsch verstanden haben, indem Sie ihn an Ihr eigenes Schema assimilierten? (Hunderte von Beispielen dafür finden Sie unter www.kissthisguy.com)
Adoleszenz
Ziel 17: Definieren Sie Adoleszenz.
Adoleszenz oder Jugendalter (adolescence): Übergangsperiode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit im Erwachsenenalter.
Früher glaubten viele Psychologen, dass sich unsere Persönlichkeitsmerkmale (traits) in der Kindheit bilden und dann nicht mehr verändern. Heute sehen Psychologen die Entwicklung als lebenslangen Prozess. Bei Klassentreffen wenige Jahre nach dem Schulabschluss sind ehemalige enge Freunde vielleicht erstaunt darüber, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben; 10 Jahre später haben sie möglicherweise sogar Probleme, ein Gespräch miteinander zu führen. Als die Vorstellung von Entwicklung als lebenslanger Prozess aufkam, interessierten sich Psychologen dafür, auf welche Weise Individuen durch den Reifeprozess und die Erfahrungen geformt werden, und zwar nicht nur während Kleinkindzeit und Kindheit, sondern auch in der Adoleszenz und in der Zeit danach. Das Jugendalter ist die Spanne zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit den ersten körperlichen Anzeichen der Geschlechtsreife und endet mit dem Erreichen des Status eines unabhängigen und selbstständigen Erwachsenen. Und wie sehen diese Jahre aus, in denen wir als Teenager leben? Tolstoi lässt seine »Anna Karenina« sagen, diese Jahre seien »die glückliche Zeit, in der die Kindheit allmählich endet und sich aus dem großen, fröhlichen und unbeschwerten Kreis allmählich ein Pfad herausschält«. Doch Anne Frank notierte in ihrem Tagebuch, das sie schrieb, als sie sich vor den Nazis verbergen musste, die Gefühlsstürme der Teenager: Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so vernünftig und darf alles wissen, am nächsten höre ich wieder, dass Anne noch ein kleines dummes Schaf ist, das nichts weiß und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! … Ach, mir kommt so viel hoch, wenn ich abends allein bin, wenn ich die Leute aushalten muss, die mir zum Hals heraushängen oder meine Absichten immer verkehrt auffassen.« Das Tagebuch der Anne Frank (1949)
Wie werden Sie in 10 Jahren auf Ihr derzeitiges Leben zurückschauen? Treffen Sie Entscheidungen, an die Sie sich eines Tages mit Zufriedenheit erinnern werden?
G. Stanley Hall, einer der ersten Psychologen, die das Jugendalter beschrieben haben, nannte den Spannungszustand zwischen der biologischen Reife und der sozialen Abhängigkeit die »Sturmund-Drang-Phase«. Viele Menschen über 30, die in der westlichen Gesellschaft mit ihrer starken Betonung von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit aufgewachsen sind, wollen diese Zeit nicht noch einmal durchleben müssen, als so viel vom Urteil ihrer Altersgenossen abhing, die Richtung, die man im Leben einschlagen wollte, sich nur undeutlich abzeichnete und das Gefühl der Entfremdung von den Eltern am stärksten war (Arnett 1999; Macfarlane 1964). Zu diesen Menschen zählt sich der Humorist Dave Barry (1996): Wenn sich mein Dad herausputzte, seine Fellmütze aufsetzte und sich in seinen Nash Metropolitan quetschte – ein komisches winziges Gefährt, das viel Ähnlichkeit hatte mit den Spielautos vor Supermärkten, die auf und ab hüpfen, sobald man einen Vierteldollar einwirft, nur dass der Metropolitan noch idiotischer aussah und sein Motor noch schwächer war – fühlte ich mich zutiefst gedemütigt. Ebenso gut hätte ich von einer fliegenden Untertasse geschnappt werden können, gesteuert von einem bizarren außerirdischen Geschöpf mit Fangarmen, jagdgierigen Augen und sabberndem
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Mund, das irgendwie in den Besitz einer Russenmütze gelangt war. Ich starb bei dem Gedanken daran, was wohl meine Kameraden von meinem Dad denken würden, und es kam mir nie in den Sinn, dass meine Kameraden meinen Vater nicht einmal bemerkten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, ihrerseits vor Scham über ihre Eltern im Boden zu versinken. Natürlich ging irgendwann die Zeit zu Ende, in der mein Vater mich in die grässlichste Verlegenheit stürzte. Und ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Stafette des Trotteligen zu übernehmen und meinerseits meinen Sohn in peinliche Situationen zu bringen.
Verlegenheit ist nur eine der vielen Stimmungen in der Jugend. Doch trotz der Stimmungsschwankungen kann das Jugendalter auch Folgendes sein: Eine Zeit der Vitalität und Lebensfreude ohne die Sorgen des Erwachsenenlebens, eine Zeit tiefer Freundschaften, eine Zeit, in der der Idealismus Höhenflüge unternimmt, und auch die Zeit, in der man sehr stark fühlt, welche aufregenden Möglichkeiten das Leben zu bieten hat (Coleman 1980).
4.3.1 Körperliche Entwicklung Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen während der Adoleszenz.
Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, der Zeit der beginnenden Geschlechtsreife. Der Pubertät voraus geht ein Hormonschub, der die Stimmungsschwankungen verstärkt und eine 2-jährige Phase intensiven körperlichen Wachstums auslöst. Bei Mädchen beginnt diese Phase normalerweise im 11., bei Jungen im 13. Lebensjahr. Während der Pubertät wachsen Jungen mehr als Mädchen, so dass sie letztlich im Durchschnitt körperlich größer werden (. Abb. 4.20). In dieser Wachstumsphase entwickeln sich die primären Geschlechtsmerkmale – die Fortpflanzungsorgane und die äußeren Genitalien – mit atemberaubender Geschwindigkeit, desgleichen die sekundären Geschlechtsmerkmale, d. h. die nicht unmittelbar für die Fortpflanzung erforderlichen Geschlechtsmerkmale: Brüste bei den Mädchen, Barthaare und tiefere Stimme bei den Jungen, Scham- und Achselhöhlenbehaarung bei beiden (. Abb. 4.21). Doch die ersten Anzeichen von Hinwendung zum anderen (oder zum eigenen) Geschlecht treten bereits 1–2 Jahre vor Einsetzen der Pubertät auf (McClintock u. Herdt 1996). Bei Mädchen ist das erste Signal der beginnenden Pubertät das Wachstum der Brüste, das heute häufig schon mit 10 Jahren einsetzt (Brody 1999). Aber die eigentlichen Marksteine der Pubertät sind die erste Ejakulation bei Jungen (mit etwa 14 Jahren) und die erste Regelblutung, Menarche genannt, bei Mädchen (mit etwa 12 Jahren). Fast alle Frauen erinnern sich an dieses Ereignis und an ihre Gefühle: eine Mischung aus Stolz, Aufregung, Scham und furchtsamen Vorahnungen (Greif u. Ulman 1982; Woods et al. 1983). Werden die Mädchen auf das Einsetzen der Menarche vorbereitet, dann erleben sie sie i. Allg. als positiv. Auch die meisten Männer erinnern sich an ihre erste Ejakulation (»Spermarche«), von der sie meistens eines Nachts überrascht werden (Fuller u. Downs 1990). Wie in den früheren Entwicklungsphasen ist die Reihenfolge der körperlichen Veränderungen in der Pubertät (z. B. Brüste und sichtbare Schambehaarung vor der Menarche) immer die gleiche, der Zeitpunkt jedoch ist individuell verschieden. Bei manchen Mädchen setzt der Wachstumsschub mit 9 Jahren ein, bei manchen Jungen vielleicht erst mit 16. Auf die Körpergröße des Erwachsenen haben solche Abweichungen nur wenig Einfluss, doch haben sie manchmal psychische Konsequenzen. Eine frühe Entwicklung zahlt sich für einen Jungen aus. Solche Jungen sind schon in den ersten Teenagerjahren stärker und athletischer, dadurch sind sie auch beliebter, selbstsicherer und unabhängiger. Allerdings laufen sie auch eher Gefahr, zu früh zu viel zu trinken und sexuell aktiv zu werden (Steinberg u. Morris 2001). Für Mädchen kann Frühreife jedoch zum Stressfaktor werden. Wenn sich der Körper eines jungen Mädchens nicht im Gleichklang mit seiner emotionalen Reife entwickelt, wenn ihre eigene Entwicklung und ihre Erfahrungen nicht synchron
. Abb. 4.20. Größenunterschiede Über die gesamte Kindheit hinweg sind Jungen und Mädchen in etwa gleich groß. In der Pubertät überragen die Mädchen kurzzeitig die Jungen, doch dann holen die Jungen sie etwa im Alter von 14 Jahren wieder ein (nach Tanner 1978). Kürzlich durchgeführte Untersuchungen deuten darauf hin, dass die sexuelle Entwicklung und der Wachstumsschub etwas früher einsetzen, als dies noch vor einem halben Jahrhundert der Fall war (HermanGiddens et al. 2001)
Pubertät (puberty): Zeit, in der der menschliche Körper die Geschlechtsreife und damit die biologische Fortpflanzungsfähigkeit erlangt. Primäre Geschlechtsmerkmale (primary sex characteristics): zur Fortpflanzung nötige Organe und Strukturen (Eierstöcke, Hoden und äußere Genitalien). Sekundäre Geschlechtsmerkmale (secondary sex characteristics): nicht zur Fortpflanzung erforderliche Merkmale wie weibliche Brüste und Hüften sowie männliche Stimme und Körperbehaarung.
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Kapitel 4 · Entwicklung
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. Abb. 4.21. Körperliche Veränderungen in der Pubertät Mit etwa 11 Jahren bei Mädchen und 13 Jahren bei Jungen kommt es zu einem Hormonschub, der eine Reihe von körperlichen Veränderungen auslöst
zu denen seiner Freundinnen verlaufen, dann identifiziert es sich möglicherweise mit älteren Mädchen, wird gehänselt oder leidet unter sexuellen Belästigungen. Die Art, wie die Menschen in unserer Umgebung auf unsere genetisch bedingte körperliche Entwicklung reagieren, ist ausschlaggebend dafür, auf welche Weise wir zur Reife kommen. ! Auch für die Entwicklung in der Adoleszenz gilt: Anlage und Umwelt sind interagierende Faktoren.
»Gelangt ein Gewehr unter die Kontrolle des präfrontalen Kortex eines verletzten, rachsüchtigen 15-Jährigen und ist es auf ein menschliches Ziel gerichtet, dann wird es sehr wahrscheinlich auch knallen.« Der Neurologe Daniel R. Weinberger (»A Brain Too Young for Good Judgment«, 2001)
Auch das Gehirn gleicht während des Jugendalters einer Baustelle. Wie ein Baum immer mehr Wurzeln und Zweige treibt, so lassen die Hirnzellen bis zur Pubertät immer weitere Verbindungen sprießen. In der Zeit der Adoleszenz werden dann die nicht genutzten Neuronen und Verbindungen gestutzt (Durston et al. 2001). Was wir nicht benutzen, geht verloren. Dieser Prozess erinnert ein bisschen an Verkehrsplaner, die Engpässe dadurch beseitigen, dass sie bestimmte Straßen sperren und stattdessen neue Umgehungsstraßen bauen, durch die der Verkehr leichter fließt. Zur Entwicklung des Frontallappens während der Adoleszenz gehört auch das Wachstum des Myelins, des Fettgewebes um die Axone, das die Übertragung der neuronalen Impulse beschleunigt. Die Reifung des Frontallappens hinkt der des limbischen Systems, das mit Emotionen assoziiert ist, hinterher. Die Hormonaufwallungen und die Entwicklung des limbischen Systems können als Erklärung für die gelegentliche Impulsivität von Teenagern dienen, für ihr risikoreiches Verhalten und für ihre Gefühlsstürme – Türenknallen und das laute Aufdrehen von Stereoanlagen. Der Reifungsprozess des Frontallappens während der Teenagerzeit und mit Anfang der Zwanziger führt zu besserer Urteilsfähigkeit, Impulskontrolle und zur Fähigkeit, auf lange Sicht zu planen. Wenn sich Studierende für eine unmittelbare Belohnung entscheiden, zeigt sich in Kernspintomographien, dass ihr limbisches Belohnungssystem aktiviert ist; wenn sie dagegen eine größere, aber spätere Belohnung wählen, ist ein Teil ihres Frontallappens, der eher abwägend ist, stark aktiviert (McClure et al. 2004). Es ist also kein Wunder, dass jüngere Teenager (deren noch nicht ganz entwickelter Frontallappen nicht vollständig darauf vorbereitet ist, langfristige Pläne zu machen und Impulse zu kontrollieren) so oft der Versuchung des Rauchens erliegen, von dem ihnen die meisten erwachsenen Raucher sagen werden, dass sie es später bedauern werden. Wenn der Jugendliche also rücksichtslos Auto fährt und sich in der Schule selbstzerstörerisch verhält, sollten die Eltern dann zu sich selbst sagen: »Er kann nichts dafür, sein Frontalkortex ist noch nicht vollständig entwickelt.« Es besteht zumindest Hoffnung. Das Gehirn zu Beginn des Teenageralters ist anders als das Gehirn am Ende dieser Zeitspanne; es wird bis etwa zum Alter von 25 Jahren weiter reifen (Beckman 2004). Im Jahr 2004 brachte die American Psychological Association (gemeinsam mit sieben weiteren Berufsverbänden aus dem Bereich der Medizin und der Versorgung psychisch Kranker) die Todesstrafe für 16- und 17-Jährige vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Im Schriftsatz wurde die Unreife des Gehirns bei Teenagern »in
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Bereichen, die erwachsene Entscheidungen voraussetzen«, dokumentiert. Teenagern kommt »wegen der Adoleszenz eine geringere Schuld« zu, trugen der Psychologe Laurence Steinberg und der Juraprofessorin Elizabeth Scott (2003) vor. Im Jahr 2005 wurde in den USA die Todesstrafe für Jugendliche, so entschied das Gericht mit einer Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen, als verfassungswidrig erklärt.
Die sich entwickelnde Fähigkeit der Jugendlichen zu logischem Denken und Diskutieren bringt sie auf ein neues Niveau sozialer Bewusstheit und moralischer Urteilsfähigkeit. In dem Maße, wie bei jungen Teenagern die Fähigkeit zunimmt, über ihr eigenes Denken nachzudenken und sich Gedanken darüber zu machen, wie andere Menschen denken, fangen sie auch an, sich vorzustellen, was andere über sie denken. (Die Jugendlichen würden sich weniger Sorgen darum machen, was andere über sie denken, wenn ihnen klar wäre, dass ihre Kameraden genauso stark mit sich selbst beschäftigt sind wie sie selber.) Mit zunehmender Reife der kognitiven Fähigkeiten denken Jugendliche darüber nach, wie eine ideale Welt aussehen könnte; sie üben Kritik an der Gesellschaft, in der sie leben, sie kritisieren ihre Eltern und machen mit ihrer Kritik auch nicht vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten halt.
»Als der Pilot uns sagte, wir sollten unsere Fußknöchel fest umklammern, war das Erste, was mir durch den Kopf ging, dass wir nun alle ziemlich blöd aussehen müssen.« Jeremiah Rawlings, 12 Jahre, nach dem Absturz einer DC-10 in Sioux City (Iowa) im Jahr 1989
Daniel Berehulak/Getty Images
4.3.2 Kognitive Entwicklung
Die Fähigkeit zum Schlussfolgern Ziel 19: Beschreiben Sie die Veränderungen in Bezug auf die Fähigkeiten zum Schlussfolgern, die Piaget als formale Operationen bezeichnete.
In den frühen Teenagerjahren kreist das Denken oft um die eigene Person. Jugendliche neigen dazu, zu glauben, ihre Erfahrungen seien einzigartig. Sie glauben, ihre Eltern könnten einfach nicht verstehen, was für ein Gefühl es ist, mit jemandem auszugehen oder die Schule zu hassen. »Aber Mami, du weißt doch nun wirklich nicht, wie es ist, verliebt zu sein« (Elkind 1978). Doch nach und nach erreichen die meisten die höchste Stufe der kognitiven Entwicklung, die Piaget als das Stadium der formalen Operationen bezeichnete.
Sie demonstrieren ihre Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken Diese Teenager demonstrieren ihre neu entwickelte Fähigkeit, logisch über abstrakte Themen nachzudenken. Nach Piaget sind sie im letzten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem der formalen Operationen
! Vor Beginn der Adoleszenz denken Jugendliche konkret, doch in der Adoleszenz entwickeln sie immer bessere Fähigkeiten im Bereich der abstrakten Logik: Wenn a gegeben ist, dann folgt daraus b.
Diese neu gewonnene abstrakte Denkfähigkeit erleben wir in Gesprächen und Diskussionen über die menschliche Natur, gut und böse, Wahrheit und Gerechtigkeit. Hatten die Jugendlichen vielleicht in den ersten Stadien des abstrakten Denkens ein Bild von Gott als einem alten Mann, der auf den Wolken sitzt, so suchen sie nun nach einem weniger oberflächlichen Bild von Gott und dem Leben (Elkind 1970; Worthington 1989). Mit ihrer neu gewonnenen Fähigkeit, hypothetisch zu denken und Konsequenzen abzuleiten, entdecken sie die logischen Fehler in den Ausführungen anderer und legen den Finger auf alles, was ihnen geheuchelt scheint. Das führt manchmal zu hitzigen Diskussionen mit den Eltern und bei den Jugendlichen zu dem geheimen Schwur, nie, nie die eigenen Ideale aus dem Blick zu verlieren (Peterson et al. 1986).
Moralisches Denken und Urteilen Ziel 20: Erörtern Sie die moralische Entwicklung aus der Perspektive des moralischen Denkens, Fühlens und Handelns.
Zwei entscheidende Aufgaben müssen in der Kindheit und in der Jugend bewältigt werden: die Unterscheidung von richtig und falsch und die Ausbildung eines Charakters, wobei Charakter so etwas ist wie die psychischen Muskeln, die zur Impulskontrolle benötigt werden. (Hier handelt es sich im engeren Sinne nicht um den Bereich der kognitiven Entwicklung, sondern um den Bereich der sozial-kognitiven Entwicklung.) ! Eine moralische Haltung haben bedeutet, moralisch zu denken und entsprechend zu handeln.
»Wie köstlich ist es, wenn Reden und Tun in Harmonie vereint sind.« Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592)
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Kapitel 4 · Entwicklung
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Moralisches Denken
Moralisches Denken und die Schlussfolgerungen daraus Opfer des Hurrikans Katrina und der Flut in New Orleans waren mit einem moralischen Dilemma konfrontiert: Sollten sie sich das, was sie zum Leben brauchten, durch Diebstahl besorgen? Ihre Denkweise und die Schlussfolgerungen daraus brachten entsprechend unterschiedliche Niveaus moralischen Denkens zum Ausdruck, selbst wenn sich die Betreffenden ähnlich verhielten
»Ebenso misstraue ich jeder Theorie, wonach die höchste moralische Stufe dann erreicht ist, wenn man wie ein College-Professor reden kann.« James Q. Wilson (1994), »Das moralische Empfinden«, Hamburg: Kabel, S. 284
Piaget (1932) glaubte, dass das moralische Urteil bei Kindern auf ihrer kognitiven Entwicklung beruht. Kohlberg (1981, 1984) nahm Piagets Gedanken auf und versuchte, die Entwicklung des moralischen Denkens zu beschreiben, d. h. wie wir und was wir denken, wenn wir uns die Frage nach richtig und falsch stellen. Kohlberg stellte Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor ein moralisches Dilemma (z. B. ob eine Person ein Medikament stehlen sollte, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten) und fragte, ob diese Handlung richtig oder falsch war. Er analysierte dann ihre Antworten, um verschiedene Entwicklungsstufen des moralischen Denkens nachzuweisen: Seine Befunde führten ihn zu der Auffassung, dass wir, wenn wir uns geistig entwickeln, drei grundlegende Niveaus des moralischen Denkens durchlaufen. 4 Präkonventionelle Moral: Vor dem 8. Lebensjahr haben Kinder eine am eigenen Interesse orientierte Moral: Sie gehorchen entweder, um Strafe zu vermeiden oder um eine konkrete Belohnung zu bekommen. 4 Konventionelle Moral: Im frühen Jugendalter erreicht die Moral eine eher konventionelle Stufe: Man fürchtet das Urteil der anderen und hält sich an Gesetze und soziale Regeln aus dem einfachen Grund, weil es sich um Gesetze und Regeln handelt. 4 Postkonventionelle Moral: Manche Jugendliche, die die abstrakte Denkfähigkeit der formalen Operationen erreichen, steigen zur 3. Stufe des moralischen Denkens auf. Die postkonventionelle Moral unterstützt die garantierten Rechte der Menschen oder orientiert sich an dem, was man persönlich als ethische Prinzipien erkennt. Kohlberg sah diese Stufen als eine Art moralischer Stufenleiter: Das kleine Kind mit seiner unreifen, präkonventionellen Moral steht auf der untersten Sprosse, während oben auf der obersten Sprosse der Erwachsene mit seinen selbst definierten ethischen Prinzipien steht; diese Sprosse wird jedoch nicht von allen Menschen erreicht. Wie bei allen Theorien, die mit Stufen arbeiten, gibt es auch hier keine Abweichung von der Reihenfolge: Wir fangen auf der untersten Sprosse an und steigen empor in die Höhe; bis zu welcher Höhe ein Mensch emporsteigt, hängt allerdings von seiner Persönlichkeit ab. Untersuchungen bestätigen, dass Kinder in unterschiedlichen Kulturen von der Stufe, die Kohlberg als präkonventionell bezeichnete, zu den Stufen der konventionellen Moral aufsteigen (Edwards 1981, 1982; Snarey 1986, 1987). Und in dem Maße, wie unser Denken reifer wird, wird auch unser Verhalten weniger egoistisch und bezieht sich stärker auf andere Menschen (Krebs u. Van Hestern 1994; Miller et al. 1996). Die postkonventionelle Stufe ist indessen umstritten. Am meisten vertreten ist diese Stufe bei Angehörigen der gebildeten Mittelklasse in Nordamerika und Europa, für die Individualismus ein hoher Wert ist und die den eigenen Zielen größere Priorität einräumen als den Zielen ihrer Gruppe (Eckensberger 1994; Miller u. Bersoff 1995). Kritiker behaupten deshalb, dass die Theorie einen Verzerrungseffekt enthält und das moralische Denken von Menschen nicht berücksichtigt, die in Dorfgemeinschaften leben, wie etwa in Indien oder in China. Der Verzerrungseffekt betrifft auch die Frauen in westlichen Ländern, deren Moral sich möglicherweise weniger an abstrakten, unpersönlichen Prinzipien und mehr an fürsorglichen Beziehungen orientiert.
Moralisches Empfinden Der Verstand fällt moralische Urteile, wie er ästhetische Urteile fällt: schnell und automatisch. Wir sind angeekelt, wenn wir erleben, wie Menschen herabwürdigende oder unmenschliche Handlungen begehen, und wir fühlen uns »erhaben« – uns wird warm ums Herz –, wenn ein Mensch sich besonders großzügig, mitfühlend oder mutig verhält. Eine Frau erinnert sich an eine Fahrt durch ihre verschneite Nachbarschaft in Gesellschaft von drei jungen Männern. Sie fuhren an »einer älteren Frau vorbei, die mit einer Schaufel in ihrer Einfahrt stand. Ich dachte mir nichts dabei, doch einer von den Jungen auf der Rückbank bat den Fahrer, ihn aussteigen zu lassen. Als ich sah, wie er ausstieg und auf die Frau zuging und mir klar wurde, dass er ihr anbot, den Schnee aus ihrer Einfahrt wegzukehren, blieb mir vor Staunen der
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Mund offen stehen.« Diese unerwartete Freundlichkeit zu erleben, löste ein Gefühl der Erhabenheit aus. »Mir war, als müsste ich sofort aus dem Auto springen und den Mann umarmen. Mir war, als müsste ich singen und rennen oder lachen und hüpfen. Ich hatte Lust, Nettes über die Menschen zu sagen« (Haidt 2000). Nach dem Sozialpsychologen Haidt (2001, 2002), dessen »Social Intuitionist« (dtsch.: »Der Mensch mit sozialer Intuition«) als grundlegendes Werk zum moralischen Fühlen gelten kann, gehen dem moralischen Denken moralische Gefühle voraus. »Kann die Moral des Menschen tatsächlich von den moralischen Gefühlen geleitet werden?«, lautet seine Frage. »Das moralische Denken behauptet doch immer großspurig, es sei die Steuerzentrale.« Eigentlich, vermutet er, »gehört zum moralischen Urteil ein kurzes instinktives Gefühl oder eine affektgeladene Intuition, die dann ihrerseits das moralische Denken auslösen.« Moralisches Denken und Argumentieren – sozusagen die Öffentlichkeitsabteilung unseres Geistes – hat den Zweck, andere von dem zu überzeugen, was man intuitiv spürt. Unterstützt wird die These von der sozialen Intuition durch eine Studie, in der ein moralisches Paradox untersucht wurde. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Straßenbahnwagen hat sich losgerissen und rast auf eine Gruppe von fünf Menschen zu. Die werden alle überfahren werden und tot sein, wenn Sie nicht einen Schalter umlegen und den Wagen auf ein anderes Gleis lenken, wo er nur einen Menschen überfahren wird. Sollten Sie diesen Schalter umlegen? Die meisten sagen Ja. Einen Menschen opfern, um fünf zu retten. Aber nun stellen Sie sich dasselbe Dilemma vor, allerdings mit veränderten Bedingungen: Sie können die fünf Menschen nur retten, wenn Sie einen hochgewachsenen Fremden auf das Gleis stoßen. Sein Körper wird den Straßenbahnwagen stoppen, und er wird dabei ums Leben kommen. Einen Menschen töten und fünf retten? Beide Entscheidungen unterliegen derselben Logik, doch die meisten Menschen verneinen die zweite Frage. Auf der Suche nach den Gründen dafür setzten Greene et al. (2001) bildgebende Verfahren ein, um neuronale Reaktionen aufzuspüren, die im Gehirn der Menschen ablaufen, wenn sie über ein solches Dilemma nachdenken. Nur in dem moralischen Dilemma, in dem es darum ging, einen Menschen zu schubsen, leuchteten die Emotionsareale im Gehirn auf. Die Logik ist zwar die gleiche, doch das persönliche Eingreifen schuf ein Dilemma, an dem Emotionen beteiligt waren, und diese Emotionen veränderten das moralische Urteil. ! Moralisches Urteilen ist mehr als Denken, es gehört auch ein eher instinktives, intuitives Gefühl dazu.
Unser moralisches Denken und Fühlen hat zweifellos Einfluss auf unsere moralischen Aussagen. Aber sprechen kostet nicht viel, und Emotionen kommen und gehen. Zur Moral gehört, das Richtige zu tun, und was wir tun, hängt gleichfalls von sozialen Einflüssen ab. Die Politologin und Philosophin Hannah Ahrendt (1963) bemerkte, dass viele Wachposten in den Konzentrationslagern des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg ganz normale »moralische« Menschen waren, korrumpiert von der Banalität des Bösen, der sie ausgesetzt waren. Die heute in den USA bestehenden Programme zur Charakterbildung konzentrieren sich gewöhnlich sowohl auf Diskussionen über moralische Themen und auf die Schlussfolgerungen daraus als auch darauf, wie man moralisch richtig handeln kann. Die Trainingsprogramme bringen Kindern bei, auf die Gefühle anderer Menschen mit Empathie zu reagieren, sie lehren auch die Selbstdisziplin, die Kinder brauchen, um ihre eigenen Impulse zu bremsen. Sie können lernen, das Bedürfnis nach einer unmittelbaren, aber kleinen Belohnung zugunsten einer größeren aufzuschieben, die sie später bekommen. Kinder, die das gelernt haben, entwickeln mehr soziale Verantwortung, erbringen bessere Schulleistungen und sind insgesamt produktiver (Funder u. Block 1989; Mischel et al. 1988, 1989). Die Programme bringen Schüler oft dazu, verantwortungsvoll zu handeln, indem sie Hilfeleistungen lernen. Wenn Teenager Nachhilfestunden geben, in ihrer Nachbarschaft den Dreck wegräumen und älteren Menschen helfen, nimmt ihr Gefühl der eigenen Kompetenz und ihr Bedürfnis zu helfen zu; in der Schule fehlen sie seltener unentschuldigt, und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie vorzeitig die Schule verlassen (Andersen 1998; Piliavin 2003). Moralisches Handeln führt zu moralischen Einstellungen.
C. Styrsky
Moralisches Handeln
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Kapitel 4 · Entwicklung
4.3.3 Soziale Entwicklung Ziel 21: Beschreiben Sie Eriksons acht Stufen der psychosozialen Entwicklung, und erörtern Sie die damit verbundenen Probleme.
Der Theoretiker Erik Erikson (1963) vertrat die Auffassung, dass jede Lebensphase ihre eigene psychosoziale Aufgabe hat, eine Krise, die es zu lösen gilt. Kleine Kinder ringen mit Themen wie Vertrauen, später geht es dann um Autonomie (Selbstständigkeit) und Initiative (. Tabelle 4.2). Schulkinder kämpfen um Kompetenz, um sich als fähig und produktiv erleben zu können, während laut Erikson die Aufgabe der Jugendlichen darin besteht, frühere, aktuelle und zukünftige Möglichkeiten zu einem deutlicheren Selbstgefühl zusammenzuschweißen. Jugendliche fragen sich: »Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Welche Werte sollen mein Leben bestimmen? Woran glaube ich?« Diese Fragen der Jugendlichen nannte Erikson die Suche nach der eigenen Identität. Wie es bisweilen in der Psychologie vorkommt, waren Eriksons Interessen aus seiner eigenen Lebenserfahrung erwachsen. Mit einer jüdischen Mutter und einem dänischen Vater war er »in doppelter Hinsicht ein Außenseiter«, schreibt Hunt (1993, S. 391). Er wurde »in der Schule als Jude verspottet und in der Synagoge wegen seines blonden Haares und seiner blauen Augen als Goj belächelt.« Aus solchen Erlebnissen speiste sich sein Interesse an dem Kampf um die eigene Identität, den jeder Jugendliche in der Adoleszenz durchfechten muss.
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Identität Ziel 22: Erklären Sie, wie uns die Suche nach Identität in der Adoleszenz beeinflusst, und erörtern Sie, wie uns die Bildung einer Identität auf Intimität vorbereitet.
Jugendliche in westlichen Kulturen probieren in unterschiedlichen Situationen verschiedene »Selbste« aus und schärfen dadurch ihr Gefühl für ihre eigentliche Identität. Sie haben vielleicht ein Selbst für zu Hause, ein anderes Selbst für das Zusammentreffen mit Freunden und noch ein anderes für Schule und Arbeit. Treffen zwei Situationen – und zwei Selbste – aufeinander (etwa, wenn man Freunde mit nach Hause bringt), dann kann das zu erheblichem Unbehagen führen. Der Teenager fragt sich: »Welches Selbst sollte ich sein? Welches ist mein wirkliches Ich?« Diese . Tabelle 4.2. Stufen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson
Identitätsstufe (ungefähres Alter)
Themen
Aufgabenbeschreibung
Säugling und Kleinkind (0–1 Jahr)
Vertrauen vs. Misstrauen
Wenn Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, entwickelt das Kleinkind ein Urvertrauen
Kleinkind (1–2 Jahre)
Autonomie vs. Scham und Selbstzweifel
Das Kind lernt, seinen Willen durchzusetzen und Dinge selbstständig zu erledigen, oder es zweifelt an seinen Fähigkeiten
Vorschulkind (3–5 Jahre)
Initiative vs. Schuld
Das Vorschulkind lernt, Dinge aus eigener Initiative zu erledigen und Pläne durchzuführen, oder es entwickelt Schuldgefühle wegen seiner Unabhängigkeitsbestrebungen
Schulkind (ab 6. Lebensjahr bis zur Pubertät)
Kompetenz vs. Minderwertigkeit
Das Kind erfährt die Lust an der Erfüllung einer Aufgabe, oder es fühlt sich minderwertig
Adoleszenz (vom 13. bis etwa 20. Lebensjahr)
Identität vs. Rollendiffusion
Der Teenager verfeinert sein Selbstbild durch Erproben verschiedener Rollen, die dann integriert werden und die Identität bilden, oder er gerät in Verwirrung und weiß nicht, wer er ist
Frühes Erwachsenenalter (von etwa 20 bis etwa 40 Jahre)
Intimität vs. Isolation
Junge Erwachsene kämpfen darum, enge Beziehungen einzugehen und die Fähigkeit zu Liebe und Intimität zu erlangen, oder sie fühlen sich einsam und isoliert
Mittleres Erwachsenenalter (40–60 Jahre)
Generativität vs. Stagnation
Im mittleren Erwachsenenalter will der Mensch seinen Beitrag zur Welt leisten, meist durch Familiengründung und Arbeit, sonst entwickelt er ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit
Spätes Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)
Ich-Integrität vs. Verzweiflung
Denkt der ältere Mensch über sein Leben nach, geschieht dies mit dem Gefühl der Befriedigung oder dem des Gescheitertseins
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Wer will ich heute sein? Jugendliche verändern ihr Aussehen und probieren auf diese Weise verschiedene »Selbste« aus. Zwar entwickeln wir eine konsistente und stabile Identität, doch das »Selbst«, das wir darstellen, kann je nach Situation ein anderes sein
Verwirrung über die eigene Rolle löst sich normalerweise, wenn eine Definition des Selbst gefunden wird, die die verschiedenen Selbste miteinander vereint. Daraus erwächst ein in sich konsistentes Gefühl dafür, wer man ist: die Identität. Doch kann der Prozess auch anders verlaufen. Erikson bemerkte, dass sich manche Jugendliche schon sehr früh auf eine Identität festlegen, indem sie einfach die Werte und Erfahrungen ihrer Eltern übernehmen. (In traditionellen, weniger individualistischen Kulturen bestimmt die Gesellschaft über die Identität der Jugendlichen und gestattet ihnen nicht, selbst herauszufinden, wer sie sind.) Manche Jugendliche übernehmen vielleicht eine negative Identität, eine, die sich nur durch die Opposition zu den Eltern und der Gesellschaft definiert, aber zu einer bestimmten Peergroup passt, etwa zu den Punks, zu den Skinheads, den Grufties, zu den Rappern oder HipHoppern. Manche Jugendliche scheinen überhaupt nicht zu sich selbst zu finden oder sich intensiv auf eine Sache einzulassen. Die Frage »Wer bin ich?« und die Suche nach der eigenen Identität enden nicht mit der Pubertät, sondern begleitet uns auch im Erwachsenenleben, und an Wendepunkten unseres Lebens wird sie immer wieder akut. Die meisten jungen Leute entwickeln am Ende einen Sinn der Zufriedenheit mit ihrem eigenen Leben. Wenn man amerikanische Jugendliche fragt, welche einer Reihe von Aussagen sie am besten beschreibt, sagen 80%: »Ich würde mich für das Leben entscheiden, wie ich es jetzt lebe.« Andere Jugendliche jedoch scheinen sich nie recht selbst zu finden. Ungefähr 20% stimmten der Aussage zu: »Ich wünschte, ich wäre jemand anders« und 28% der Aussage »Ich frage mich oft, warum ich existiere« (Lyons 2004). Wenn sie über ihr Leben nachdenken, sagen 75% der amerikanischen Studierenden, dass sie mit Freunden »über Religion oder Spiritualität diskutieren« und stimmen der Aussage zu, dass »wir alle spirituelle Wesen sind« und »nach einem Sinn bzw. Ziel im Leben suchen« (HERI 2005). Das wäre für die Psychologen in Stanford um Damon et al. (2003) keine Überraschung; denn sie behaupten, dass es eine Schlüsselaufgabe der Entwicklung während der Adoleszenz sei, ein Ziel zu erreichen – ein Bedürfnis, etwas persönlich Sinnvolles zu leisten, was eine große Bedeutung für die Welt außerhalb ihres eigenen Bereichs hat. Die letzten Teenagerjahre, wenn die Jugendlichen entweder ins Berufsleben eintreten oder auf die Universität wechseln, bieten neue Möglichkeiten, andere Rollen auszuprobieren. Am Ende ihres Studiums haben viele Studenten ein klareres Bild von ihrer Identität als zu Beginn (Waterman 1988). Typisch für dieses Alter ist ein starkes positives Selbstkonzept. In mehreren landesweiten Untersuchungen haben Wissenschaftler an junge Amerikaner Tests zum Selbstwertgefühl ausgeteilt mit Items wie »Ich kann alles so gut wie die meisten anderen Menschen«. Das Ergebnis: ! Von den frühen bis zu den mittleren Teenagerjahren nimmt das Selbstwertgefühl zunächst ab, und bei Mädchen nehmen Depressionen oft zu; das Selbstwertgefühl festigt sich dann bis zum Ende der Teenagerzeit und mit Anfang 20 wieder (Robins et al. 2002; Twenge u. Campbell 2001; Twenge u. Nolen-Hoeksema 2002).
Allmählich nimmt die Identität auch mehr persönliche Züge an. Hart (1988) bat Jugendliche verschiedener Altersstufen, sich eine Maschine vorzustellen, die klonen könne, und zwar 1. was du denkst und fühlst oder 2. dein Aussehen oder 3. deine Beziehungen zu Freunden und zur Familie. Dann fragte er, welcher Klon wohl »dir am ähnlichsten« wäre. Drei Viertel der 14- bis 15-Jährigen entschieden sich für 3. den Klon mit denselben sozialen Netz. Doch von den 17- bis 19-Jährigen wählten drei Viertel den Klon mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen.
Identität (identity): Gefühl für das eigene Selbst. Nach Erikson besteht die Aufgabe der Adoleszenz darin, das Selbstgefühl zu festigen; dabei werden verschiedene Rollen erprobt und ggf. integriert.
»Ich werde immer unabhängiger von meinen Eltern. So jung ich bin, habe ich mehr Lebensmut und ein sichereres Rechtsgefühl als Mutter. Ich weiß, was ich will, habe ein Ziel, eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. Lasst mich ich selbst sein, dann bin ich zufrieden! Ich weiß, dass ich eine Frau bin, eine Frau mit innerer Stärke und viel Mut!« »Das Tagebuch der Anne Frank« (1949)
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Kapitel 4 · Entwicklung
Intimität (intimacy): Nach Eriksons Theorie die Fähigkeit, enge Liebesbeziehungen einzugehen. Intimität zulassen zu können, ist die primäre Entwicklungsaufgabe der späten Adoleszenz und der ersten Jahre als junger Erwachsener.
Erikson postulierte, dass auf die Stufe der Identitätsfindung in der Jugend die beginnende Fähigkeit zur Intimität folgt, d. h. der junge Erwachsene kann nun enge emotionale Beziehungen aufnehmen. Sobald man ein deutliches und passendes Gefühl dafür hat, wer man ist, sagt Erikson, ist man bereit für enge Beziehungen. Solche Beziehungen sind für die meisten von uns etwas, was uns große Freude bereitet. Als Csikszentmihalyi (ausgesprochen als Tschicksendmihaji) u. Hunter (2003) einen Piepser einsetzten, um die alltäglichen Erfahrungen amerikanischer Jugendlicher zu dokumentieren, fanden sie heraus, dass diese sich am unglücklichsten fühlten, wenn sie allein waren, und am glücklichsten, wenn sie zusammen mit Freunden waren. Wir Menschen sind »staatenbildende Lebewesen«, wie Aristoteles schon vor langer Zeit erkannte.
Loslösung von den Eltern
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Ziel 23: Stellen Sie den Einfluss der Eltern und der Gleichaltrigen während der Adoleszenz einander gegenüber.
. Abb. 4.22. Veränderungen in der Eltern-KindBeziehung Interviews im Rahmen einer breit angelegten Studie mit kanadischen Familien erbrachten, dass sich die normale enge und warme Beziehung zwischen Eltern und Vorschulkindern lockert, wenn die Kinder älter werden (Daten aus Statistics Canada 1998)
Auf der Suche nach der eigenen Identität beginnen Jugendliche in westlichen Kulturen, sich von den Eltern zu lösen (Paikoff u. Brooks-Gunn 1991). Aus dem Kindergartenkind, das gar nicht nah genug bei der Mutter sein kann, sie anfassen und sich an sie klammern will, wird der Teenager, der um keinen Preis gesehen werden möchte, wenn er mit der Mutter Hand in Hand geht. Der Übergang vollzieht sich allmählich (. Abb. 4.22). In der Adoleszenz kommt es häufiger zum Streit, meist über sehr banale Dinge: Hilfe im Haushalt, Schlafenszeit, Hausaufgaben (Tesser et al. 1989). Von der frühen bis zur späten Adoleszenz werden die Konflikte zwischen Eltern und Kindern zeitweise heftiger (in der frühen Adoleszenz), nehmen jedoch allmählich an Häufigkeit ab. Bei einigen wenigen Eltern mit heranwachsenden Kindern führen diese Differenzen zu Entfremdung und zu Stress (Steinberg u. Morris 2001). Doch die meisten erleben die Streitereien und das Gezänk nicht als destruktiv. 4 Eine Studie mit 6000 Jugendlichen aus 10 Ländern, darunter Australien, Bangladesh und die Türkei ergab, dass die meisten ihre Eltern liebten (Offer et al. 1988). »Wir kommen normalerweise miteinander aus, aber…« berichten Jugendliche oft (Galambos 1992; Steinberg 1987). 4 In einer Schweizer Studie an 7428 Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren fühlten sich 90% zu Hause akzeptiert, 80% sogar von den Eltern verstanden (Narring et al. 2003). 4 In einer deutschen Längsschnittstudie an 2000 Jugendlichen berichteten nur 15–20% der Befragten gelegentliche ernste Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern (Fend 1998). »Der Generationenkonflikt bewegt sich heute kaum mehr auf der Ebene der weltanschaulichen Meinungsbildung« (ebd., S. 114). Positive Beziehungen zu den Eltern sind hilfreich für positive Beziehungen zu Gleichaltrigen. Bei Mädchen im Alter von 14–17 Jahren, die die liebevollste Beziehung zu ihrer Mutter hatten, waren tendenziell auch die Freundschaften mit anderen Mädchen sehr eng (Gold u. Yanof 1985). Und Teenager, die sich ihren Eltern verbunden fühlen, sind tendenziell gesund und glücklich und sind gute Schüler (Resnick et al. 1997). Natürlich können wir diese Korrelation auch anders interpretieren: Teenager, die Regeln nicht respektieren, haben mit größerer Wahrscheinlichkeit eine gespannte Beziehung zu ihren Eltern. ! Es ist typisch für das Jugendalter, dass der elterliche Einfluss ab- und der Einfluss der Gleichaltrigen zunimmt.
In einer Studie wurden Eltern gefragt, ob sie »je ein ernstes Gespräch« mit ihrem Kind über illegale Drogen geführt hätten. 85% der Eltern bejahten die Frage. Doch scheinen diese ernst gemeinten Ratschläge bei den Teenagern nicht anzukommen, denn nur 45% konnten sich an ein solches Gespräch erinnern (Morin u. Brossard 1997). Stattdessen werden sie oft so, wie ihre Freunde sind, und tun, »was alle tun«.
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Wie schon in 7 Kap. 3 ausgeführt, lässt sich vieles, wenn es um Ausbildung individueller Unterschiede in Bezug auf den Charakter und die Persönlichkeit geht, durch die Erbanlagen erklären. Für die Feinabstimmung sind jedoch die Eltern und die Peergroup ausschlaggebend. Teenager sind Herdentiere. Sie sprechen, handeln und kleiden sich eher wie ihre Altersgenossen und nicht wie ihre Eltern. Bei den Anrufen bei Stellen, die jungen Menschen telefonische Beratung und Hilfe bei Problemen anbieten, sind die Beziehungen zu Gleichaltrigen das am häufigsten angesprochene Thema (Boehm et al. 1999). Aus der Peergroup ausgeschlossen zu werden, ist überaus schmerzlich. Der Sozialpsychologe Elliot Aronson machte die Beobachtung, dass »die soziale Atmosphäre an den meisten High Schools von Cliquenwesen vergiftet und von Abgrenzung geprägt« ist. Die meisten Schüler, die ausgegrenzt werden, »leiden stillschweigend … manche gehen gewalttätig auf ihre Klassenkameraden los« (Aronson 2001). Auch an deutschen Schulen nehmen Phänomene der Ausgrenzung und Gewalt gegen Mitschüler zu (7 Kap. 19). Auf Ablehnung reagieren Jugendliche mit Rückzug, sie werden anfällig für Einsamkeit, geringes Selbstwertgefühl und Depressionen (Steinberg u. Morris 2001). Von Gleichaltrigen akzeptiert zu werden, ist wichtig. Der Einfluss der Eltern auf die Teenager wird eher auf anderen Gebieten deutlich, z. B. bei Fragen des Glaubens und der Religion bzw. Religionsausübung und bei Überlegungen zur Ausbildung und zur Berufswahl (»Emerging Trends« 1997). Eine Gallup-Umfrage zeigt, dass die meisten Jugendlichen auch die politischen Auffassungen ihrer Eltern teilen (Lyons 2005).
4.3.4 Übergang ins Erwachsenenalter Ziel 24: Erörtern Sie die Merkmale des Übergangs ins Erwachsenenalter.
Mit dem allmählichen Hineinwachsen in den Status des jungen Erwachsenen werden die emotionalen Bindungen an die Eltern lockerer. Mit Anfang 20 verlassen sich viele noch stark auf die Eltern, doch mit zunehmendem Alter fühlen sich die meisten besser, wenn sie nicht mehr von ihren Eltern abhängig sind. Dann können sie auch als gleichberechtigte Erwachsene mit ihnen umgehen (Frank 1988; White 1983). Dieses allmähliche Hineinwachsen von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter dauert heutzutage länger. In der westlichen Welt entspricht die Adoleszenz heute grob den Teenagerjahren, in früheren Zeiten jedoch war die Adoleszenz ein kurzes Zwischenspiel zwischen der Abhängigkeit in der Kindheit und der Selbstverantwortung im Erwachsenenalter (Baumeister u. Tice 1986). Kurz nach der Geschlechtsreife verlieh die Gesellschaft dem jungen Menschen die Selbstverantwortung und den Status des Erwachsenen, wobei dies oft mit einem komplizierten Initiationsritus begangen wurde. Der frisch gebackene Erwachsene arbeitete dann, er heiratete und hatte Kinder. Mit dem Aufkommen der Schulpflicht dauerte die Abhängigkeit länger an. In den Industrienationen von Europa bis Australien brauchen die jungen Menschen länger, um das College oder die Universitätsausbildung abzuschließen, das elterliche Nest zu verlassen und eine eigene Laufbahn einzuschlagen. So ist in den USA beispielsweise das durchschnittliche Heiratsalter seit 1960 um 4 Jahre angestiegen (auf 27 Jahre für Männer und 25 Jahre für Frauen). In Deutschland liegt das Heiratsalter sogar noch höher: Während 1960 Frauen durchschnittlich im Alter von knapp 24 Jahren heirateten, lag ihr Heiratsalter im Jahr 2001 bei fast 29 Jahren. Bei Männern stieg im gleichen Zeitraum das Heiratsalter von ca. 26 Jahren auf 31 1/2 Jahre. Die frühe Geschlechtsreife in heutigen Zeiten hängt einerseits mit dem zunehmenden Fettanteil am Körpergewicht (der bei Schwangerschaft und Kinderbetreuung hilfreich sein kann) und andererseits mit der schwächeren Bindung des Kindes an die Eltern zusammen; und dazu gehört auch die Abwesenheit von Vätern (Ellis 2004). Die später einsetzende Unabhängigkeit hat zusammen mit der früher einsetzenden Geschlechtsreife das Zwischenspiel zwischen biologischer Reife und sozialer Unabhängigkeit, das früher kurz war, verlängert (. Abb. 4.23). Diese Zwischenzeit – die Jahre, die man damit verbringt, vom Kind zum Erwachsenen zu werden – ist die Adoleszenz. Die Zeit zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr ist immer mehr eine Lebensphase, in der man noch nicht ganz fertig ist und die von manchen heute als allmählich erlangter Erwachsenenstatus (emerging adulthood) bezeichnet wird. Diese »allmählich erwachsen Werdenden« kann man nicht mehr zu den Adoleszenten rechnen, doch die Verantwortung des selbstständigen Er-
4 © 2002, Margaret Shulock. Reprinted with special permission of King Features Syndicate. Distr. Bulls.
4.3 · Adoleszenz
Neun von 10 Malen geht es um Gruppendruck in der Peergroup
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Abb. 4.23. Die Adoleszenz beginnt früher und endet später Um 1890 lagen zwischen der ersten Menstruation einer Frau und ihrer Heirat, die typischerweise für den Übergang ins Erwachsenenalter stand, durchschnittlich 7 Jahre; heute sind es in den Industrienationen fast 12 Jahre (Gutmacher 2000). Obwohl viele Erwachsene unverheiratet sind, trägt die späte Heirat zusammen mit einer längeren Ausbildung und einer früheren Menarche dazu bei, die Adoleszenz zu verlängern
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wachsenen haben sie auch noch nicht übernommen. Im Unterschied zu einigen nichtwestlichen Kulturen, bei denen es öffentliche Übergangsrituale gibt, die für einen abrupten Übergang ins Erwachsenenalter stehen, betonen die westlichen Kulturen eher den allmählichen Übergang. Diejenigen z. B., die ihr Elternhaus zum Studium verlassen, werden von ihren Eltern getrennt und müssen sich stärker als je zuvor um ihre Termine und Prioritäten kümmern. Doch viele bleiben noch von der finanziellen und emotionalen Unterstützung durch die Eltern abhängig und kommen in den Semesterferien nach Hause. Für viele andere, die die Schule verlassen haben, ist das Elternhaus möglicherweise der einzige Ort zum Leben, den sie sich leisten können. Das Erwachsenenalter tritt daher allmählich ein. Lernziele Abschnitt 4.3 Adoleszenz Ziel 17: Definieren Sie Adoleszenz. Die Adoleszenz ist die Übergangsperiode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit. Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen während der Adoleszenz. Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, der Zeit der beginnenden Geschlechtsreife, die zur Fortpflanzung befähigt. Ein Hormonschub löst eine etwa 2-jährige Phase intensiven körperlichen Wachstums aus. Bei Mädchen beginnt diese Phase normalerweise im 11., bei Jungen im 13. Lebensjahr. Während der Pubertät entwickeln sich die primären (die Fortpflanzungsorgane und die äußeren Genitalien) und die sekundären Geschlechtsmerkmale (die Geschlechtsmerkmale, die nichts mit der Fortpflanzung zu tun haben wie die Brüste bei Mädchen und die tiefere Stimme bei Jungen); der genaue Zeitpunkt dafür variiert jedoch von einer Person zur nächsten. Bei den meisten Mädchen kommt es innerhalb des 12. Lebensjahres zur Menarche. Bei den meisten Jungen tritt die Spermarche im 14. Lebensjahr auf. Anlage und Umwelt interagieren, und je nachdem, wie andere Menschen reagieren, kann eine frühe oder späte Reife die Anpassung beeinflussen. Während der Adoleszenz
kommt es zu einer bedeutsamen Entwicklung des Gehirns; dabei reifen die Frontallappen heran und nicht gebrauchte Neuronen entwickeln sich zusammen mit ihren Verbindungen zurück. Ziel 19: Beschreiben Sie die Veränderungen in Bezug auf die Fähigkeiten zum Schlussfolgern, die Piaget als formale Operationen bezeichnete. Mit der Entwicklung formaler Operationen erlangen die Jugendlichen die Fähigkeit, abstrakt zu schlussfolgern. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihnen, Hypothesen zu bilden und Schlussfolgerungen abzuleiten. Ziel 20: Erörtern Sie die moralische Entwicklung aus der Perspektive des moralischen Denkens, Fühlens und Handelns. Nach Piagets Auffassung kommt in moralischen Urteilen das sich bei einem Kind entwickelnde Schlussfolgerungsvermögen zum Ausdruck. Lawrence Kohlberg schlug drei Stufen des moralischen Denkens vor. Die präkonventionelle Moral ist eine am Eigeninteresse orientierte Moral, die versucht, Bestrafung zu vermeiden und konkrete Belohnungen zu bekommen. Die konventionelle Moral ist eine gesetzestreue Moral, die darauf basiert, dass bestehende Gesetze befolgt werden müssen. Die postkonventionelle Moral (nicht jeder erreicht diese letzte Stufe) ist eine Moral, die selbst definiert was ethisch, richtig und fair ist. Bei der sozial 6
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intuitiven Auffassung von Moral wird die Meinung vertreten, dass moralische Gefühle moralischem Denken und Urteilen vorausgehen. Einige Experimente zur Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren bestätigen die Hypothese, dass die Emotionsareale im Gehirn aktiv sind, wenn Menschen über moralische Dilemmata nachdenken. Die Perspektive der moralischen Handlung konzentriert sich auf soziale Einflüsse auf Entscheidungen darüber, das Richtige zu tun. Programme zum moralischen Handeln bringen Kindern bei, wie sie Empathie mit anderen empfinden und die Befriedigung von Bedürfnissen aufschieben können, um später größere Belohnungen zu bekommen. Ziel 21: Beschreiben Sie Eriksons acht Stufen der psychosozialen Entwicklung, und erörtern Sie die damit verbundenen Probleme. Nach Erik Erikson durchlaufen wir 8 Stufen im Leben (die sich ungefähr bestimmten Altersgruppen zuordnen lassen), in denen man jeweils eine eigene psychosoziale Aufgabe lösen muss. In der Säuglingszeit (bis zu 1 Jahr) ist Vertrauen vs. Misstrauen das zentrale Thema, im Trotzalter (1 bis 2 Jahre) Autonomie vs. Scham und Zweifel. Für Vorschulkinder (3 bis 5) ist dies, Initiative oder Schuld zu lernen, für Grundschulkinder (6 bis zur Pubertät), Kompetenz vs. Unterlegenheit zu empfinden. Eine Hauptaufgabe der Adoleszenz (vom 13. bis etwa 20. Lebensjahr) besteht darin, das Selbstwertgefühl – das Gefühl für die eigene Identität – zu festigen. Für junge Erwachsene besteht das zentrale Problem in Intimität vs. Isolation, und für das mittlere Erwachsenenalter (40 bis Ende 60) in Generativität vs. Stagnation. Die Aufgabe des späten Erwachsenenalters (Ende 60 und älter) ist Integrität vs. Verzweiflung. Ziel 22: Erklären Sie, wie uns die Suche nach Identität in der Adoleszenz beeinflusst, und erörtern Sie, wie uns die Bildung einer Identität auf Intimität vorbereitet. In westlichen Kulturen probieren Jugendliche unterschiedliche Konzepte vom Selbst aus, bevor sie sich auf eine konsistente und stimmige Identität einlassen. Eine kleinere Anzahl übernimmt, ohne groß darüber
Ziel 23: Stellen Sie den Einfluss der Eltern und der Gleichaltrigen während der Adoleszenz einander gegenüber. Jugendliche in westlichen Kulturen werden gewöhnlich immer unabhängiger von ihren Eltern; aber Forscher haben auch herausgefunden, dass die meisten Teenager trotzdem einigermaßen gute Beziehungen zu ihren Eltern haben. Die Zustimmung der Gleichaltrigen und Beziehungen sind für sie sehr wichtig; sie kleiden sich und handeln wie ihre Altersgenossen. Die Eltern haben weiterhin einen Einfluss auf Teenager in Bereichen wie Religiosität sowie Auswahl der Universität und Berufswahl. Ziel 24: Erörtern Sie die Merkmale des Übergangs ins Erwachsenenalter. Der allmählich erlangte Erwachsenenstatus bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 18 Jahren und Mitte 20, in dem viele junge Leute in westlichen Kulturen keine Heranwachsenden mehr sind, aber noch keine vollständige Unabhängigkeit als Erwachsene erreicht haben. In dieser Zeit gehen viele junge Leute auf eine Hochschule oder zur Arbeit, leben jedoch weiterhin im Elternhaus. In den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland verschiebt sich das Alter der ersten Heirat für Männer und Frauen auf Mitte 20 und später. > Denken Sie weiter: Welches waren die positivsten Ereignisse in der Zeit Ihrer Adoleszenz, an die Sie sich erinnern? Und welche die negativsten? Wem sind Sie dafür dankbar bzw. wem verübeln Sie die negativen Erfahrungen? Ihren Eltern oder Ihren Altersgenossen?
Erwachsenenalter
Früher betrachteten die Psychologen die Lebensmitte, also die Jahre zwischen Jugend und Alter, als langes Plateau, als Phase ohne Veränderungen. Heute sehen sie es anders. Wer sich mit der Entfaltung des Lebens eines Erwachsenen näher beschäftigt, kommt schnell zu der Überzeugung, dass die Entwicklung weitergeht. Generelle Aussagen über die Phasen des Erwachsenenlebens lassen sich nicht so leicht formulieren wie die über die ersten Jahre des Lebens. Wenn Sie wissen, dass James 1 Jahr alt ist und Jamal 10, dann könnten Sie schon eine ganze Menge über jedes der Kinder aussagen. Der gleiche Altersunterschied bei Erwachsenen lässt keine generellen Aussagen zu. Ein Chef kann ebenso gut 30 wie 60 Jahre alt sein, ein Marathonläufer mag 20 oder 50 sein, ein 19-Jähriger kann ein Kind haben, für das er sorgt, er kann aber auch selbst noch ein Kind
Rick Doyle/Corbis
4.4
nachzudenken, die Identität der Eltern oder übernimmt die Identität der Gleichaltrigen, wobei sie gleichzeitig die Wertvorstellungen der Eltern ablehnt. Mit dem Erreichen der Identität nimmt das Selbstwertgefühl zu. Erikson war der Auffassung, dass es eine wichtige Voraussetzung zur Bildung enger Beziehungen ist, eine eindeutige Identität zu haben, mit der man sich wohl fühlt.
Die Fähigkeiten Erwachsener sind sehr unterschiedlich 87-Jährige: Probieren Sie das nicht aus. 2002 wurde George Blair 18 Tage nach seinem 87. Geburtstag zum ältesten Barfuß-Wasserskiläufer der Welt
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Kapitel 4 · Entwicklung
»Ich lerne immer noch.« Michelangelo (1560, im Alter von 85 Jahren)
sein, das Unterstützung braucht. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten bei unseren Lebensläufen. In körperlicher, kognitiver und vor allem in sozialer Hinsicht sind wir mit 50 Jahren ganz anders als mit 25 Jahren. ! Die körperlichen und geistigen Veränderungen, sogar die Veränderungen in den Beziehungen verlaufen bei jedem von uns ähnlich, auch wenn es anscheinend in anderen Bereichen große Unterschiede gibt.
4.4.1 Körperliche Entwicklung All unsere körperlichen Fähigkeiten – Muskelkraft, Reaktionszeit, Sinnesschärfe und Herztätigkeit – erreichen ihren Höhepunkt Mitte 20. So wie das Tageslicht nach Sonnenuntergang allmählich abnimmt, so setzt der Prozess des Absinkens der Höchstleistung fast unmerklich ein. Leistungssportler sind oft die ersten, die es spüren. Weltrekordläufer und Schwimmer bringen ihre Höchstleistung mit Anfang 20. Frauen erreichen die Reife früher als Männer und demzufolge auch den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit. Doch die meisten von uns, vor allem die, denen der Alltag keine körperlichen Höchstleistungen abverlangt, spüren diese frühen Zeichen des Nachlassens kaum.
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Körperliche Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter
Welches Alter muss ein Mensch haben, ehe Sie ihn oder sie für alt halten? Die Aussage der 18bis 29-Jährigen lautet 67 Jahre; die 60-Jährigen und Älteren sagen 76 Jahre (Yankelovich 1995).
Menopause (menopause): das natürliche Ende der Menstruation. Bezieht sich auch auf die biologischen Veränderungen, die mit der Abnahme der Reproduktionsfähigkeit der Frau einhergehen. »Es gibt bis heute keine Änderungen des Lebensstils, keine chirurgischen Verfahren, Vitamine, Antioxidanzien, Hormone oder Gentechniken, für die nachgewiesen werden konnte, dass sie den Alterungsprozess beeinflussen.« Positionspapier zum Alterungsprozess beim Menschen, das 2002 von 51 wissenschaftlichen Experten auf diesem Gebiet unterschrieben wurde
Ziel 25: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen, zu denen es im mittleren Erwachsenenalter kommt.
Sportler in den mittleren Jahren (nach 40) sind nur zu gut vertraut mit der Tatsache, dass der körperliche Abbau sich allmählich beschleunigt. Als 63-Jähriger, der regelmäßig Basketball spielt, stelle ich fest, dass ich mich gelegentlich frage, ob meine Mannschaft mich eigentlich noch braucht. Doch für normale Aktivitäten ist auch die verminderte Kraft ausreichend. Zudem hat die Körperkraft im frühen und mittleren Erwachsenenleben weniger mit den Jahren als mit dem Gesundheitszustand und den Trainingsgewohnheiten zu tun. Viele 50-Jährige, die körperlich fit sind, laufen mit Leichtigkeit 6 km, während 23-Jährige, die vorwiegend sitzen, schon bei 2 Stockwerken ins Schnaufen und Pusten kommen. Wie in der Jugend können körperliche Veränderungen auch im Erwachsenenalter zu psychischen Reaktionen führen. Die Art dieser Reaktionen hängt wesentlich von der Einstellung zum Alterungsprozess und zum Alter ab. In manchen östlichen Kulturen, bei denen das Alter mit einem Zuwachs an Achtung und Macht verbunden ist, werden äußere Anzeichen der fortschreitenden Jahre akzeptiert und sogar begrüßt. In westlichen Kulturen, die dem Ideal einer glatten Haut und eines schlanken Körpers huldigen, können die im mittleren Alter entstehenden Falten und Pölsterchen das Selbstbild bedrohen. Deshalb geben Millionen von Menschen Milliarden aus, in der Hoffnung, den Alterungsprozess verlangsamen oder umkehren zu können. Doch die Natur lässt sich nicht verleugnen: Unausweichlich kommen die Falten (oder kommen wieder), und die jugendliche Figur schwindet dahin. Für Frauen geht mit dem Altern eine Abnahme der Fruchtbarkeit einher. Für eine Frau zwischen 35 und 39 führt ein Geschlechtsverkehr nur halb so oft zu einer Schwangerschaft wie bei einer Frau zwischen 19 und 26 (Dunson et al. 2002). Doch für Frauen ist das hervorstechende Zeichen des Alterns das allmähliche Aufhören des Monatszyklus, die Menopause, ein Prozess, der normalerweise kurz vor dem 50. Lebensjahr einsetzt und ein Symptom für eine verringerte Östrogenausschüttung ist. Interessant ist, dass bei 4 oder 5 von 10 Kanadierinnen oder Amerikanerinnen in dieser Zeit Hitzewellen auftreten, aber nur bei 1 von 7 Japanerinnen (Goode 1999; Lock 1998). ! So wenig wie das Bild von der »Sturm-und-Drang-Phase« der Jugend der Realität entspricht, so wenig stimmt das Bild von der übertrieben emotionalen und depressiven Frau in der Menopause: Normalerweise beschert die Menopause den Frauen keine psychischen Probleme.
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Langzeitstudien über 10 Jahre hinweg, die mit Tausenden amerikanischen und australischen Frauen durchgeführt wurden, zeigten, dass sie während der Menopause weder mehr noch weniger depressiv waren (Avis 2003; Dennerstein et al. 2000). Welchen Einfluss die Menopause auf die Gefühle einer Frau hat, hängt von ihren Erwartungen und Einstellungen ab. Sieht sie darin ein Zeichen, dass sie ihre Weiblichkeit und sexuelle Anziehungskraft eingebüßt hat? Oder erlebt sie die Menopause als Befreiung vom Menstruationszyklus, der Angst vor einer Schwangerschaft und den Forderungen der Kinder? Um etwas über die Einstellung von Frauen zur Menopause zu erfahren, gingen Neugarten et al. (1963) einen neuen Weg: Sie befragten Frauen, die sich nicht wegen Problemen mit ihrer Menopause in Behandlung begeben hatten. Auf die Frage, ob es richtig sei, dass »Frauen sich nach der Menopause i. Allg. besser fühlen als seit Jahren« antwortete nur ein Viertel der Frauen unter 45, die noch nicht in der Menopause waren, mit Ja. Von den älteren Frauen, die die Menopause bereits hinter sich hatten, stimmten jedoch zwei Drittel zu. Eine Frau sagte: »Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter mir erzählte, dass sie sich nach der Menopause so richtig vital und fit fühlte und mehr Schwung bekam, und von mir kann ich das Gleiche sagen.« In einer von der MacArthur Foundation durchgeführten Studie mit 3000 Erwachsenen im mittleren Alter, bei der die meisten Teilnehmer Frauen nach der Menopause waren, erinnerten sich die meisten Frauen daran, »nur Erleichterung« erlebt zu haben, als die monatliche Periode aufhörte. Lediglich 2% hatten »nur Bedauern« gespürt (Goode 1999). Bei Männern gibt es keine Entsprechung für die Menopause, kein Aufhören der Fruchtbarkeit, kein abruptes Sinken des Spiegels der Sexualhormone. Was sie erleben, ist ein mehr allmähliches Absinken der Spermienzahl und des Testosteronspiegels und ein Nachlassen der Erektions- und Ejakulationsgeschwindigkeit. Sackt der Testosteronspiegel zu schnell und zu tief ab, kann es zu Depression, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Impotenz oder Schwäche kommen. Diese Symptome können mit einer Testosteronsubstitutionstherapie behandelt werden (Sternbach 1998). Manche Männer mögen auch eine Zeit der Trauer über die schwindende Männlichkeit oder die abnehmenden körperlichen Fähigkeiten durchmachen. Doch die meisten Männer altern ohne derartige Probleme. Auch nach den mittleren Lebensjahren können die meisten Männer und Frauen weiterhin eine befriedigende Sexualität genießen. Als Menschen über 60 vom National Council on Aging befragt wurden, äußerten sich 39% der Befragten zufrieden mit der Anzahl sexueller Aktivitäten; und 39% wünschten sich häufigeren Geschlechtsverkehr (Leary 1998).
C. Styrsky
4.4 · Erwachsenenalter
»Wenn die Wahrheit bekannt würde, müssten wir (bei älteren Frauen) die Diagnose PMF – postmenstruelle Freiheit – stellen.« Die Sozialpsychologin Jacqueline Goodchilds (1987)
»Die Gründe, die Sie im Alter davon abhalten, Sex zu haben, sind genau die gleichen, die Sie davon abhalten, Fahrrad zu fahren (schlechter Gesundheitszustand; die Auffassung, das sähe blöd aus; kein Fahrrad).« Alex Comfort (»The Joy of Sex – Die Freude am Sex«, 1981
Körperliche Veränderungen in späteren Jahren Ziel 26: Vergleichen Sie die Lebenserwartung Mitte des 20. Jahrhundert mit der Anfang des 21. Jahrhundert, und erörtern Sie die Veränderungen bei älteren Erwachsenen in Bezug auf die sensorischen Fähigkeiten und die Gesundheit (einschließlich der Häufigkeit von Demenz).
Perception Laboratory, University of St. Andrews
Muss man das Alter »mehr fürchten als den Tod« (Juvenal, »Satiren«)? Oder ist das Leben »am köstlichsten, wenn es zur Neige geht« (Seneca, »Epistulae ad Lucilium«)? Wie fühlt sich Altwerden an? Überprüfen Sie einmal, was Sie vom Alter wissen, und überlegen Sie sich, ob Sie den folgenden Aussagen zustimmen würden oder nicht: 1. Alte Leute ziehen sich schneller leichte Erkrankungen zu, z. B. grippale Infekte. 2. Die Neuronen des Gehirns sterben im Alter ab.
Das alternde Gesicht Die Psychologen Burt u. Perret (1995) machten Computerbilder von 20- bis 24-jährigen und 50- bis 54-jährigen Weißen. Dann übertrugen sie die altersbedingten Veränderungen auf andere Gesichter, beispielsweise auf das Gesicht von Marilyn Monroe. Man sah, wie eine ältere Marilyn dann ausgesehen hätte
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Kapitel 4 · Entwicklung
Georges Gobet/AP Photo
3. Wer 90 Jahre alt oder älter wird, wird vermutlich senil. 4. Die Wiedererkennensleistung – also die Fähigkeit, Dinge, die man kurz zuvor gelernt hat, zu erkennen – nimmt mit zunehmendem Alter ab. 5. Zwischen 50 und 60 Jahren ist die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben am höchsten; nach dem 65. Lebensjahr nimmt sie allmählich ab.
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Lebenserwartung
Der Weltrekord in Langlebigkeit Die Französin Jeanne Calment war möglicherweise die älteste Frau der Geschichte. Sie starb 1998 im Alter von 122 Jahren. Mit 100 fuhr sie noch Fahrrad. Mit 114, als sie in einem Film über ihre Person sich selbst spielte, wurde sie die älteste Filmschauspielerin, die es je gegeben hat. 2003 starb im Alter von 114 Jahren der Japaner Yukichi Chuganji an Altersschwäche auf der Insel Kyushu. Die Japanerin Shigechiyo Izumi starb 1986 im Alter von 120 Jahren
Swasiland ist das Land mit der geringsten Lebenserwartung (33 Jahre). Die Menschen in Andorra kommen in den Genuss der höchsten Lebenserwartung: fast 84 Jahre (CIA Factbook, 2005).
Diese Aussagen – samt und sonders falsch – gehören zu den gängigen Irrtümern über das Alter; die Forschung, die sich in letzter Zeit vermehrt mit der weltweit am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe beschäftigt, hat viele dieser Annahmen widerlegt. Weltweit steigt die Lebenserwartung: 1950 betrug sie 49 Jahre, stieg bis 2004 auf 67 Jahre an und erreichte in den weiter entwickelten Ländern sogar 80 Jahre (PRB 1998; Sivard 1996). In Deutschland lag laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2006 die Lebenserwartung bei der Geburt für Jungen bei 76,6 und für Mädchen bei 82,1 Jahren. Diese steigende Lebenserwartung (einige meinen, dies sei die größte Errungenschaft der Menschheit) in Verbindung mit sinkenden Geburtenraten lässt die Gruppe der Älteren zu einem immer größeren Bevölkerungssegment werden (. Abb. 4.24). Etwa im Jahr 2050 werden ca. 35% der Bevölkerung in Europa über 60 Jahre alt sein (Fernández-Ballesteros 2003). Es ist ganz offensichtlich, dass den Ländern, die bei der Altersversorgung auf die Kinder gesetzt haben, größere soziale Veränderungen bevorstehen. In Russland und Westeuropa vollzieht sich z.B. ein Bevölkerungsrückgang – nach Vorhersagen der Vereinten Nationen (Brooks 2005) – von 146 Mio. auf 104 Mio. Menschen in Russland. Weigel (2005) stellt die folgende Vermutung an: »Wenn es einem ganzen Kontinent, der gesünder, wohlhabender und sicherer ist als je zuvor, nicht gelingt, die menschliche Zukunft im elementarsten Sinne zu schaffen – indem er die nächste Generation hervorbringt –, geht etwas ganz grundlegend schief.« Die Lebenserwartung für Frauen und für Männer ist unterschiedlich, Männer sterben gewöhnlich früher. Zwar kommen im Augenblick der Empfängnis 126 männliche auf 100 weibliche Embryos, doch sterben männliche Embryonen leichter ab (Strickland 1992). Bei der Geburt liegt das Verhältnis der Geschlechter nur noch bei 105 Jungen auf 100 Mädchen. Im 1. Lebensjahr übersteigt die Sterblichkeit männlicher Säuglinge die der weiblichen um ein Viertel. Frauen überleben Männer weltweit um 4 Jahre; in Deutschland, Kanada, den USA und Australien sind es sogar 5–6 Jahre. (Anstatt einen Mann zu heiraten, der älter ist als sie, sollten 20-jährige Frauen, die einen Ehemann haben möchten, der so lange lebt wie sie, besser darauf warten, dass die 15-jährigen Jungen erwachsen werden.) Im Alter von 100 Jahren gibt es 5-mal mehr Frauen als Männer. Doch nur wenige von uns erreichen das 100. Lebensjahr. Wenn niemand unter 50 stürbe, wenn es Krebs, Herz- und Infektionskrankheiten nicht mehr gäbe, würde die durchschnittliche Lebenserwartung trotzdem nicht viel höher als 85 Jahre steigen (Baringa 1991). Der Körper altert. Die Körperzellen hören auf, sich zu teilen. Der Körper wird gebrechlich, ist anfällig für geringfügige Beeinträchtigungen – eine Hitzewelle, ein Sturz, eine leichte Erkältung –, die mit 20 Jahren lächerlich gewesen wären. Warum sind wir im Alter verbraucht? Warum altern wir nicht – wie die Borstenkiefer oder die Königinnen mancher Insektenvölker – ohne dahinzuwelken? Eine Theorie der Evolutionsbiologen bietet als Erklärung die Hypothese, dass die Antwort mit unserem Überleben als Spezies zu tun hat: Bei der Weitergabe unserer Gene sind wir am erfolgreichsten, wenn wir unsere Jungen großziehen und dann verschwinden und keine Ressourcen mehr verbrauchen. Sobald wir unsere Aufga-
. Abb. 4.24. Veränderung der Altersstruktur Diese Daten des Statistischen Bundesamtes illustrieren ein weit verbreitetes Phänomen: Die Weltbevölkerung altert. In den kommenden 50 Jahren wird sich die Zahl der unter 40-jährigen Deutschen wahrscheinlich nur geringfügig ändern, während die Population der über 60-jährigen stark anwachsen wird. Weltweit rechnet man damit, dass sich die Population der über 60-jährigen bis 2050 verdreifacht und auf 2 Mrd. anwächst (Reuters 2002)
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be, die Gene weiterzugeben, erfüllt haben, hört der natürliche Selektionsdruck auf jene Gene auf, die in den späten Lebensjahren die Degeneration verursachen (Olshansky et al. 1993; Sapolsky u. Finch 1991).
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. Abb. 4.25 a–c. Der Alterungsprozess der Sinne Sehvermögen (a), Geruchssinn (b) und Gehör (c) sind bei den über 70-Jährigen nicht mehr so genau. (Aus Doty et al. 1984)
Sensorische Fähigkeiten Wie oben dargestellt, setzt der körperliche Abbau bereits im frühen Erwachsenenalter ein, doch normalerweise bemerken wir dies in seiner ganzen Tragweite erst viel später. Die Sehschärfe verringert sich und die Adaption des Auges auf wechselnde Helligkeit erfolgt langsamer. Muskelkraft, Reaktionszeit und Ausdauer nehmen gleichfalls deutlich ab, ebenso die Hörfähigkeit, das Entfernungssehen und der Geruchssinn (. Abb. 4.25). Es ist schon seltsam: Im höheren Lebensalter werden die Treppen steiler, alles ist kleiner gedruckt, und die Leute nuscheln mehr. Mit zunehmendem Alter schrumpfen die Pupillen, die Augenlinsen sind nicht mehr so durchsichtig; dadurch kommt weniger Licht in die Retina. Zu der Retina eines 65-Jährigen dringt tatsächlich nur noch ein Drittel des Lichts, das eine 20-jährige Retina empfängt (Kline u. Schieber 1985). Deshalb braucht ein 65-jähriger Mensch zum Lesen und zum Autofahren 3-mal so viel Licht wie ein 20-Jähriger und sollte beim Autokauf auf nicht getönte Scheiben achten. Das erklärt auch, warum Ältere manchmal jüngere Leute fragen: »Brauchst du nicht mehr Licht zum Lesen?«
»Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich um Druckerschwärze zu sparen, haben die meisten Restaurant begonnen, ihre Speisekarten mit Buchstaben in der Größe eines Bakteriums zu drucken.« Dave Barry, »Dave Barry Turns Fifty«, 1998
Gesundheit Für die Alternden gibt es zum Thema Gesundheit sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Zunächst die schlechte: Das körpereigene Immunsystem wird schwächer, kann Krankheiten nicht mehr so gut abwehren und macht ältere Leute anfälliger für lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs oder Lungenentzündung. Die gute Nachricht: Dank der lebenslangen Akkumulation von Antikörpern leiden alte Menschen seltener an relativ harmlosen Krankheiten wie einer normalen Grippe oder Viruserkältungen. So ist die Wahrscheinlichkeit, sich jedes Jahr eine Infektion der oberen Atemwege zuzuziehen, für über 65-Jährige nur halb so hoch wie für einen 20-Jährigen und nur ein Fünftel so hoch wie für ein Vorschulkind (National Center for Health Statistics 1990). Das kann als Erklärung dafür dienen, warum ältere Arbeitnehmer weniger Fehlzeiten haben (Rhodes 1983). Für Deutschland zeigt der Fehlzeitenreport des Jahres 2003, dass mit zunehmenden Alter die Arbeitnehmer zwar weniger häufig krank sind, dafür die einzelnen Krankschreibungen aber länger andauern als bei jüngeren Mitarbeitern (Badura et al. 2004). Das Alter verlangt seinen Tribut auch beim Gehirn, indem es das Tempo der neuronalen Informationsverarbeitung drosselt. Bis zum Alter von 20 Jahren verarbeiten wir die eingehenden
Nach dem 30. Lebensjahr verdoppelt sich das Sterberisiko alle 8 Jahre. Das Sterberisiko eines 48-Jährigen ist doppelt so hoch wie das eines 40-Jährigen (National Center for Health Statistics 1992; Olshansky et al. 1993). Die meisten Treppenstürze von älteren Leuten passieren auf der obersten Stufe, genau dort, wo sie von einem hellen Flur in ein dunkleres Treppenhaus kommen (Fozard u. Popkin 1978). Unser Wissen über das Altern könnte uns dabei helfen, die Umwelt so zu gestalten, dass solche Unfälle verringert werden könnten (National Research Council 1990).
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Kapitel 4 · Entwicklung
© Masterfile
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Die biologische Uhr langsamer laufen lassen Wie schnell Menschen altern, hängt teilweise von ihren Lebensgewohnheiten ab. Diese lachende Volleyballgruppe zeigt es deutlich: Je aktiver die Menschen sind, desto weniger büßen sie von ihrer Kraft und Energie ein
. Abb. 4.26. Alter und Unfälle mit Todesfolge Langsamere Reaktionen erhöhen das Unfallrisiko ab 75 (Stock 1995). Würden Sie eine Fahrprüfung auf der Basis von Fahrtüchtigkeit statt auf der Basis des Lebensalters befürworten, damit die Fahrer herausgefiltert werden können, deren langsame Reaktionen oder eingeschränkte Wahrnehmung ein Unfallrisiko anzeigen?
Informationen mit ständig wachsender Geschwindigkeit (Fry u. Hale 1996; Kall 1991). Doch im Vergleich zu Teenagern und jungen Erwachsenen brauchen ältere Menschen ein bisschen länger für ihre Reaktionen oder beim Lösen von Problemen, die etwas mit der Wahrnehmung zu tun haben; sie brauchen auch etwas mehr Zeit, um sich an Namen zu erinnern (Bashore et al. 1997; Verhaeghen u. Salthouse 1997). Bei komplexen Aufgaben ist der Unterschied am deutlichsten ausgeprägt (Cerella 1985; Poon 1987). Die meisten 70-Jährigen können sich bei Videospielen nicht mit einem 20-Jährigen messen. Und, wie . Abb. 4.26 zeigt, steigt die Zahl der Unfälle mit Todesfolge bei den über 75-Jährigen steil an. Ab dem Alter von 85 Jahren liegt sie höher als bei 16-Jährigen. Trotzdem macht dies weniger als 10% der Zusammenstöße aus, weil ältere Menschen weniger fahren (Coughlin et al. 2004). ! Im Verlauf des Alterungsprozesses schrumpfen allmählich die Hirnregionen, die für das Gedächtnis wichtig sind (Schacter 1996).
Im jungen Erwachsenenalter setzt ein allmählicher Verlust von Hirnzellen ein, der bis zum Alter von 80 Jahren zu einer Reduktion des Hirngewichts um etwa 5% führt. Möglicherweise verläuft der Alterungsprozess bei Frauen langsamer. Frauen leben nicht nur weltweit 4 Jahre länger als Männer, ihr Gehirn schrumpft auch langsamer als das männliche Gehirn (Coffey et al. 1998). ! Wenn man sportlich aktiv ist, so wird auch das Gehirn trainiert. Das Entstehen neuer Zellen und die Ausbreitung neuronaler Verbindungen trägt zur Kompensation des Zellverlustes bei, besonders bei Menschen, die aktiv bleiben (Coleman u. Flood 1986).
Körperliches Training verstärkt Muskeln und Knochen, verschafft Energie und verhindert Übergewicht und Herzkrankheiten. Körperliches Training stimuliert auch die Entwicklung von Hirnzellen und -verbindungen, möglicherweise aufgrund der erhöhten Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr (Kempermann et al. 1998). Und das mag eine Erklärung dafür sein, dass aktive ältere Erwachsene gewöhnlich auch geistig rege ältere Erwachsene sind und warum solche mit vorwiegend sitzender Lebensweise, die nach dem Zufallsprinzip einem Programm mit aerobischen Übungen zugewiesen wurden, nach 20 Studien anschließend verbesserte Gedächtnisleistungen und ein schärferes Urteilsvermögen aufwiesen (Colcombe u. Kramer 2003; Colcombe et al. 2004; Weuve et al. 2004). Für uns alle gilt: »Wer rastet, der rostet«, d. h. wir rosten eher durch Nichtgebrauch, als dass wir uns durch übermäßigen Gebrauch abnutzen. »Benutz es, sonst verlierst du es« (»use it or lose it«) ist eine gesunde Devise.
Demenz und Alzheimer-Krankheit Leider leiden manche Erwachsenen unter einem massiven Verlust von Hirnzellen. Bis zum Alter von 95 verdoppelt sich die Auftretenshäufigkeit des geistigen Verfalls grob gerechnet alle 5 Jahre
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. Abb. 4.27. Häufigkeit von Neuerkrankungen an Demenz in Abhängigkeit vom Alter Das Risiko für eine Demenz aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung oder aufgrund mehrerer Schlaganfälle verdoppelt sich im Alter alle 5 Jahre. (Nach Jorm et al. 1987, basierend auf 22 Studien in Industrieländern)
(. Abb. 4.27). Auch eine Reihe kleinerer Schlaganfälle, ein Hirntumor oder Alkoholismus können zu einer zunehmenden Schädigung des Gehirns und damit zu dem Krankheitsbild führen, das wir Demenz nennen. Das gilt auch für die gefürchtetste aller Krankheiten des Gehirns, der AlzheimerKrankheit, von der weltweit 3% der 75-Jährigen betroffen sind. ! Alzheimer-Symptome sind nicht dasselbe wie ein normaler Alterungsprozess.
(Wenn Sie gelegentlich vergessen, wo Sie den Autoschlüssel hingelegt haben, ist das noch kein Alarmsignal; nicht mehr zu wissen, wie man nach Hause kommt, legt jedoch den Verdacht auf eine Alzheimer-Erkrankung nahe.) Die Alzheimer-Krankheit zerstört auch die klügsten Köpfe. Zuerst wird das Gedächtnis schlechter, dann die Fähigkeit zum logischen Denken. Sayre (1979) erinnert sich, wie sein Vater die von der Alzheimer-Erkrankung betroffene Mutter anschrie, sie solle »besser nachdenken«, während die Mutter, verwirrt und verlegen, das Haus nach verloren gegangenen Gegenständen durchsuchte. Im Verlauf der Krankheit kommt es nach 5–20 Jahren zu einer Gefühlsverflachung, dann verliert der Betreffende die Orientierung an Ort und Zeit, wird inkontinent, enthemmt und zuletzt geistig leer, eine Art lebender Toter, nur noch ein Leib, dem fast alles verloren gegangen ist, was einen Menschen ausmacht. Was den Alzheimer-Symptomen zugrunde liegt, ist ein Verlust von Hirnzellen und ein Abbau von Neuronen, die den Neurotransmitter Acetylcholin ausschütten. Ohne diesen lebenswichtigen chemischen Botenstoff können Gedächtnis und Denkfähigkeit nicht arbeiten. Eine Autopsie zeigt zwei aufschlussreiche Anomalien bei den Acetylcholin produzierenden Neuronen: schrumpelige Proteinfäden im Zellkörper und Plaques (Klumpen von degeneriertem Gewebe) an den Enden der Neuronenverzweigungen. Ein Forschungsschwerpunkt liegt darauf, Medikamente zu entwickeln, die Proteine davon abhalten werden, sich zu Plaques zu vereinigen (Ingram 2003). Allmählich bekommen Forscher Einblick in die chemischen, neuronalen und genetischen Wurzeln der Alzheimer-Erkrankung. Bei Menschen, bei denen ein Risiko für diese Krankheit besteht, zeigt möglicherweise eine Kernspintomographie des Gehirns (. Abb. 4.28) schon vor dem Auftreten von Symptomen, dass die hier entscheidenden Hirnzellen in verräterischer Weise degeneriert sind und dass die Hirnaktivität beim Erinnern von Wörtern weniger klar abgegrenzt ist. Es ist fast so, als wäre eine größere Anstrengung erforderlich, um dieselbe Leistung zu erbringen (Bookheimer et al. 2000; Fox et al. 2001).
Alzheimer-Krankheit (Alzheimer’s disease): eine progressive, irreversible Krankheit des Gehirns, gekennzeichnet durch den graduellen Ausfall von Gedächtnis, Denkfähigkeit und Sprache und zuletzt auch der Körperfunktionen.
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Abb. 4.28. Möglichkeiten der Vorhersage der Alzheimer-Erkrankung Eine Kernspintomographie des Gehirns von Alzheimer-Risikopatienten (oben) während eines Gedächtnistests zeigte im Vergleich mit einem gesunden Gehirn (rechts) stärkere Aktivität (rot). Man kann mit Hilfe von Schichtaufnahmen des Gehirns und genetischen Untersuchungen Menschen identifizieren, die wahrscheinlich die Alzheimer-Krankheit bekommen werden: Würden Sie sich diesem Test unterziehen? In welchem Alter?
Susan Bookheimer
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! Sportlich aktive und nicht übergewichtige Menschen sind weniger gefährdet, die AlzheimerKrankheit zu bekommen (Abbott et al. 2004; Gustafson et al. 2003; Marx 2005). Das Gleiche trifft auf geistig aktive Menschen zu, die geistige Herausforderungen annehmen – hier handelt es sich oft um gebildete Menschen, die aktiv lesen. Was für die Muskeln gilt, gilt auch für das Gehirn: Die, die es benutzen, büßen es nicht so oft ein.
4.4.2 Kognitive Entwicklung Eine sehr umstrittene Frage bei der Untersuchung der Lebensdauer des Menschen ist folgende: Nehmen die kognitiven Fähigkeiten – Gedächtnis, Kreativität und Intelligenz – parallel zu den körperlichen Fähigkeiten ab?
Alter und Gedächtnis Ziel 27: Geben Sie ein Urteil darüber ab, welchen Einfluss das Altern auf den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis und auf das Wiedererkennen hat.
Wenn Sie zwischen 15 und 25 sind: Welche Erfahrungen, die Sie im vergangenen Jahr gemacht haben, werden Sie wahrscheinlich nie vergessen? (Das ist die Zeit in Ihrem Leben, an die Sie sich am besten erinnern werden, wenn Sie einmal 50 sind.
An manche Dinge erinnern wir uns gut, wenn wir älter werden. Wenn ältere Menschen auf ihr Leben zurückschauen, erinnern sie sich nicht nur lebhaft an kürzlich geschehene Ereignisse, sondern auch an die Erfahrungen, die sie in dem zweiten und dritten Jahrzehnt ihres Lebens gemacht haben (Conway et al. 2005; Rubens et al. 1998). Werden sie gebeten, sich an ein oder zwei sehr wichtige Ereignisse der letzten 50 Jahre zu erinnern, tendieren sie dazu, Dinge zu nennen, die sich in ihrer Teenagerzeit oder in ihren Zwanzigern ereignet haben. Was immer man in diesem Alter erlebt haben mag – den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands, die Studentenbewegung, die Ölkrise, die Wiedervereinigung Deutschlands oder den Krieg im Irak –, es war von zentraler Bedeutung (Pillemer 1998; Schuman u. Scott 1989). Die Zeit als Teenager bis Ende 20 ist auch die Zeit, in der so viele erinnerungswürdige Dinge zum ersten Mal in unserem Leben passieren: das erste Rendezvous, die erste Arbeitsstelle, das erste Semester an der Uni, die erste Begegnung mit den Schwiegereltern. Für gewisse Arten des Lernens und Erinnerns sind tatsächlich die frühen Erwachsenenjahre die beste Zeit. In einem Experiment baten Crook u. West (1990) 1205 Menschen, ein paar Namen zu lernen. Auf einem Videoband sagten 14 Menschen ihren Namen, so wie man sich normalerweise vorstellt: »Hallo, ich bin Larry.« Dann tauchten dieselben Leute noch einmal auf und sagten beispielsweise: »Ich bin aus Philadelphia.« Sie lieferten damit einen visuellen und akustischen Anhaltspunkt, an dem die Erinnerung an den Namen festgemacht werden konnte. Wie . Abb. 4.29
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. Abb. 4.29. Gedächtnistests Neue Namen zu erinnern, die ein-, zwei- oder dreimal gezeigt werden, fällt jüngeren Erwachsenen leichter als älteren. (Daten aus Crook u. West 1990)
. Abb. 4.30. Reproduktion und Wiedererkennen bei Erwachsenen Dieses Experiment zeigt, dass die Fähigkeit zur Reproduktion neuer Informationen im frühen und mittleren Erwachsenenalter abnimmt, das gilt jedoch nicht für die Fähigkeit, neue Information wiederzuerkennen. (Aus Schonfield u. Robertson 1966)
zeigt, erinnerten sich alle Teilnehmer nach dem 2. oder 3. Durchgang an mehr Namen, doch junge Erwachsene erinnerten sich jedes Mal an mehr Namen als die älteren Erwachsenen. Ähnliche Ergebnisse erbrachten auch andere Untersuchungen. In den ersten Stunden nach der Rücktrittsankündigung der englischen Premierministerin Margaret Thatcher erinnerten sich junge und alte Engländer daran, wie sie diese Nachricht gehört hatten. Als sie 11 Monate später danach gefragt wurden, erzählten noch 90% der Jüngeren, aber nur 42% der Älteren die gleiche Geschichte (Cohen et al. 1994). Vielleicht ist es keine Überraschung, dass fast zwei Drittel der Menschen über 40 Jahren sagen, dass ihr Gedächtnis schlechter ist, als es vor 10 Jahren noch war (KRC 2001). Aber schauen Sie sich ein weiteres Experiment an. Schonfield u. Robertson (1966) baten Erwachsene unterschiedlichen Alters, eine Liste mit 24 Wörtern zu lernen. Ohne jeden Anhaltspunkt baten die Forscher ein paar Teilnehmer, so viele Wörter von der Liste zu wiederholen, wie sie erinnern konnten. Andere Teilnehmer wurden aufgefordert, die Wörter in einem Multiple-ChoiceFragebogen wiederzuerkennen. Bei der freien Wiedergabe hatten die Jüngeren das bessere Gedächtnis (. Abb. 4.30). Beim Wiedererkennungstest fanden die Forscher jedoch keinen Zusammenhang zwischen nachlassendem Gedächtnis und Alter. Tests haben auch ergeben, dass bei älteren Erwachsenen die Gedächtnisleistung beim Wiedererkennen am frühen Morgen besser ist als später am Tag. Dieser Unterschied verschwindet aber, wenn man den Probanden einen Koffeinstoß gibt (May et al. 1993; Ryan et al. 2002). Hängt demnach die Frage nach dem Erinnerungsvermögen älterer Menschen davon ab, ob sie aufgefordert werden, einfach wiederzuerkennen, was sie versucht haben auswendig zu lernen (minimale Abnahme des Gedächtnisses) oder ob sie das Gelernte ohne Anhaltspunkte erinnern sollen (stärkere Abnahme des Gedächtnisses)? Ob etwas vergessen wird, hängt wahrscheinlich auch von der Art der Information ab, an die Sie sich erinnern wollen. Wenn Sie aufgefordert werden, sich an Information ohne Bedeutung zu erinnern – sinnlose Silben oder unwichtige Ereignisse –, dann werden Sie umso mehr Fehler machen, je älter Sie sind. Hat die Information jedoch eine Bedeutung, dann trägt das reichhaltige Wissensnetz älterer Menschen dazu bei, die Information zu behalten, obwohl es länger dauern kann als bei jüngeren Erwachsenen, die Wörter und das Wissen hervorzubringen (Burke u. Shafto 2004). Die Gewinner in Fernsehshows, bei denen es um schnelles Denken geht, sind gewöhnlich im jüngeren bis mittleren Erwachsenenalter. ! Das Lern- und Erinnerungsvermögen älterer Leute zeigt weniger Ausfälle als ihr verbales Gedächtnis (Graf 1990; Labouvie-Vief u. Schell 1982; Perlmutter 1983).
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Mehrere Tabletten mehrmals täglich einnehmen zu müssen, bietet viel Gelegenheit, in Verwirrung zu geraten: Habe ich die Tabletten genommen oder habe ich nur daran gedacht, sie zu nehmen? Eine einfache Lösung bietet ein Hilfsmittel: die Tabletten für eine Woche in einen Behälter legen, der Fächer für jeden Tag und dort für die einzelnen Tageszeiten hat (in Apotheken erhältlich).
Das prospektive (auf die Zukunft gerichtete) Gedächtnis – »Denk daran …« – lässt einen nicht im Stich, wenn ein bestimmtes Ereignis (an einem Lebensmittelladen vorbeigehen) als Auslöser (»… Milch einzukaufen«) eingesetzt werden kann. Termingebundene Pflichten (»Vergessen Sie die Sitzung um 3 Uhr nicht «) stellen für Menschen fortgeschrittenen Alters eher ein Problem dar. Regelmäßige Pflichten können sich als besonders schwierig erweisen, beispielsweise sich daran zu erinnern, 3-mal täglich Medikamente zu nehmen (Einstein u. McDaniel 1990; Einstein et al. 1995, 1998). Um die Probleme im Zusammenhang mit dem abnehmenden prospektiven Gedächtnis möglichst gering zu halten, müssen sich ältere Erwachsene stärker auf Maßnahmen zur Zeitstrukturierung und auf den Einsatz von Hinweisreizen als Gedächtnishilfen verlassen, wie etwa Notizzettel für sich selbst (Henry et al. 2004). Wer sich als Forscher mit unserem Lern- und Erinnerungsvermögen beschäftigt, stößt auf eine weitere wichtige Schwierigkeit: Auch in unseren späten Jahren gleichen wir uns nicht einander an, sondern wir driften weiter auseinander und werden vielfältiger. 20-Jährige unterscheiden sich beträchtlich in ihrem Lern- und Erinnerungsvermögen, aber die Unterschiede innerhalb der Gruppe der 70-Jährigen sind viel ausgeprägter. Manche 70-Jährige bleiben mit ihrer Leistung unterhalb des Niveaus fast aller 20-Jährigen, aber es gibt auch 70-Jährige, die es dem durchschnittlichen 20-Jährigen gleichtun oder ihn sogar übertreffen.
Alter und Intelligenz Ziel 28: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen zum Verständnis der normalen Auswirkungen des Alterns auf die Intelligenz eines Erwachsenen leisten.
Was wird im Alter aus unseren allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten? Nehmen sie genauso ab wie unser Erinnerungsvermögen für neue Informationen? Oder bleiben sie erhalten, wie die Fähigkeit, relevante Information wiederzuerkennen? Die Antwort auf diese Fragen kristallisierte sich allmählich heraus und liest sich als interessante Geschichte über die Forschung: Es geht um die anschauliche Schilderung eines sich selbst korrigierenden Prozesses in der Psychologie (Woodruff-Pak 1989).
Phase I: Nachweis für die Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten in Querschnittstudien Querschnittstudie (cross-sectional study): eine Vorgehensweise, bei der zu einem Untersuchungszeitpunkt Menschen verschiedener Altersstufen miteinander verglichen werden.
In Querschnittstudien testen Wissenschaftler Menschen verschiedener Altersstufen und vergleichen die Ergebnisse. Wird der Intelligenztest mit einer repräsentativen Stichprobe durchgeführt, dann findet man stets heraus, dass ältere Erwachsene eine geringere Anzahl richtiger Antworten geben als jüngere Erwachsene. Wechsler (1972), der den meist verwendeten Intelligenztest für Erwachsene (7 Kap. 11) entwickelt hatte, kam zu der Schlussfolgerung, dass »die Abnahme der geistigen Fähigkeiten im Alter Teil des generellen Alterungsprozesses des gesamten Organismus ist«. Lange blieb dieser recht trübselige Befund vom geistigen Abbau unangefochten. Viele Unternehmen schufen eigens Vorschriften, um Arbeitnehmer in den Ruhestand schicken zu können. Sie gingen von der Annahme aus, dass jüngere Angestellte bessere Fähigkeiten vorzuweisen hätten. Schließlich ist es doch eine Binsenweisheit, dass man einem alten Hund keine neuen Kunststücke beibringen kann.
Phase II: Nachweis für gleich bleibende intellektuelle Fähigkeiten in Längsschnittstudien Längsschnittstudie (longitudinal study): eine wissenschaftliche Methode, bei der die gleichen Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder untersucht und getestet werden.
1920 begannen die Hochschulen in den USA, ihre neuen Studenten einem Intelligenztest zu unterziehen. Das eröffnete einigen Psychologen die Möglichkeit, Intelligenz in einer Längsschnittstudie zu untersuchen, nämlich die gleichen Menschen über einige Jahre hinweg immer wieder zu testen. Sie rechneten mit einem Absinken der Intelligenz etwa nach dem 30. Lebensjahr (Schaie u. Geiwitz 1982). Doch was sie herausfanden, war eine Überraschung: Bis spät im Leben blieb die Intelligenz gleich (. Abb. 4.31). Bei manchen Tests nahm sie sogar noch zu. Was ist also von den Ergebnissen der Querschnittuntersuchungen zu halten? Nachträglich haben die Forscher das Problem erkannt. Eine Querschnittstudie vergleicht 70-Jährige mit 30-Jährigen, damit vergleicht sie nicht nur zwei verschiedene Altersstufen, sondern zwei Genera-
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tionen. Hier werden Menschen, die generell weniger gebildet und ausgebildet sind (etwa um 1900 geboren) mit Menschen verglichen, die nach 1950 geboren wurden und eine bessere Ausbildung erhielten. Menschen aus größeren Familien werden solchen aus kleineren Familien, Teilnehmer aus weniger gut situierten werden Teilnehmern aus wohlhabenden Familien gegenübergestellt. Diese optimistischere Sichtweise ließ den Mythos von dem abrupten Nachlassen der Intelligenz obsolet werden. Jeder »weiß«, dass, wer bei guter Gesundheit ist, zum Lernen nie zu alt ist. Mit 70 Jahren entwickelte John Rock die Antibabypille. Die amerikanische Malerin Grandma Moses war 78, als sie anfing zu malen, und sie malte auch noch, als sie schon über 100 war. Und Frank Lloyd Wright entwarf das Guggenheim-Museum in New York, als er 89 war.
Phase III: Es kommt immer drauf an Die Kontroverse geht weiter. Zum einen haben Längsschnittstudien auch ihre Tücken. Die Teilnehmer, die bis zum Abschluss der Längsschnittstudien am Leben bleiben, sind wahrscheinlich kluge, gesunde Menschen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass die Intelligenz nachlässt, nur sehr gering ist. (Vielleicht wäre es bei denen, die in jüngeren Jahren starben und aus der Studie herausfielen, zum Nachlassen der Intelligenz gekommen.) Wird dieser Verlust an Teilnehmern ausgeglichen, wie z. B. bei einer Studie in Cambridge (England), an der über 2000 Menschen über 75 teilnahmen, dann zeigt sich ein steilerer Intelligenzabfall. Das gilt besonders für Menschen über 85 (Brayne et al. 1999). Weitere Schwierigkeiten für die Forschung ergeben sich aus der Tatsache, dass Intelligenz kein isoliertes Merkmal ist (7 Kap. 11). Intelligenztests, die das Denktempo erfassen, mögen sich für ältere Teilnehmer als nachteilig erweisen, weil im Alter die neuronalen Mechanismen der Informationsverarbeitung langsamer ablaufen. Trifft man alte Freunde auf der Straße, fallen einem die Namen vielleicht nur allmählich ein. »Sie kommen hoch wie Luftblasen in Sirup«, sagt Lykken (1999). Doch langsamer denken heißt nicht unbedingt, weniger intelligent sein. Bei Tests, die den allgemeinen Wortschatz, Wissen und die Fähigkeit zur Integration von Informationen erfassen, schneiden Ältere im Allgemeinen gut ab (Craik 1986). Ältere Kanadier sind jüngeren bei Fragen wie »Welche Provinz hieß früher Neukaledonien?« durchaus überlegen. In vier Untersuchungen zeigten Erwachsene zwischen 50 und 80 die höchsten durchschnittlichen Leistungen bei den Kreuzworträtseln der New York Times (die Teilnehmer hatten 15 Minuten Zeit, um die Wörter einzutragen; . Abb. 4.32). Der deutsche Forscher Paul Baltes entwickelte zusammen mit seinen Kollegen (Baltes et al. 1993, 1994, 1999) »Weisheitstests«, mit denen spezielles Wissen über das Leben und die Urteilsfähigkeit erfasst werden, sowie die Fähigkeit, andere dabei zu beraten, wie man sich in komplexen
. Abb. 4.31. Querschnitt- versus Längsschnittstudien zur Intelligenz in verschiedenen Lebensaltern Hier wurde ein Bereich der verbalen Intelligenz (induktives Schlussfolgern) getestet. Die Querschnittmethode erbrachte Werte, die mit dem Alter abnahmen. Die Längsschnittmethode (bei der dieselben Menschen über Jahre hinweg immer wieder getestet werden) erbrachte einen leichten Anstieg der Werte im Erwachsenenalter. (Nach Schaie 1994)
»In der Jugend lernen wir, im Alter verstehen wir.« Marie von Ebner-Eschenbach (»Aphorismen«, 1883)
. Abb. 4.32. Je älter, desto wortgewaltiger In vier Studien, die von Salthouse (2004) zusammengefasst wurden, waren die älteren Kreuzworträtsellöser die besseren, wenn man ihnen 15 Minuten Zeit gab, das Kreuzworträtsel aus der »New York Times« zu lösen
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Kapitel 4 · Entwicklung
und schwierigen Lebenssituationen am besten verhalten sollte. Die Ergebnisse dieser Tests zeigen, dass die älteren Testpersonen bei solchen Fragen mehr als gut abschneiden. Deshalb werden in der Regel ältere Menschen zu Vorstandsvorsitzenden einer Firma, zu Universitätsrektoren oder zum Präsidenten eines Landes gewählt, obwohl die 30-Jährigen so smarte Schnelldenker sind. Alter bedeutet Weisheit. So sagte ein 60-Jähriger: »Vor 40 Jahren hatte ich ein großartiges Gedächtnis, doch ich war ein Narr.« ! Ob wir feststellen, dass die Intelligenz im Alter ab- oder zunimmt, hängt davon ab, welche Art von intellektueller Leistung wir messen.
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Kristalline Intelligenz (crystallized intelligence): gesammeltes Wissen und Ausdrucksfähigkeit eines Menschen. Diese Form der Intelligenz steigt im Alter tendenziell an. Fluide Intelligenz (fluid intelligence): Fähigkeit eines Menschen, schnell und abstrakt zu denken. Diese Fähigkeit nimmt tendenziell im späten Erwachsenenalter ab.
. Abb. 4.33. Höhepunkte und Tiefpunkte des Alterns Mit Hilfe einer Vielzahl von Messinstrumenten für die Verarbeitungskapazität (wie Verarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis) und für das Wissen über die Welt (wie Wortschatz) zeigten Park et al. (2002) in konsistenter Weise, dass unsere Verarbeitungskapazität mit dem Alter abnimmt, unser Wortschatz und unser Allgemeinwissen jedoch zunehmen
Die kristalline Intelligenz, das gesammelte Wissen eines Menschen, das sich in Tests niederschlägt, die den Wortschatz und das Bilden von Analogien erfassen, nimmt im Alter zu, während die fluide Intelligenz, das rasche und abstrakte Denken beim Lösen unbekannter logischer Aufgaben etwa vom 75. Lebensjahr an allmählich, im weiteren Verlauf (etwa nach dem 85. Lebensjahr) dann schneller abnimmt (Cattell 1963; Horn 1982). Dieses Muster zeigt sich auch in den Intelligenzwerten einer Erwachsenenstichprobe: Nachdem man die Werte in Bezug auf Bildung vergleichbar gemacht hatte, blieben die Werte für verbale Intelligenz, die Ausdruck der kristallinen Intelligenz sind, vom 20. bis zum 74. Lebensjahr relativ stabil. Die nonverbale Intelligenz, die zur Lösung von Problemen benötigt wird, nahm dagegen ab. Daher konnten Park et al. (2002) bestätigen, dass wir mit dem Alter etwas verlieren und etwas hinzugewinnen (. Abb. 4.33). Wir verlieren in Bezug auf den Abruf aus dem Gedächtnis und in Bezug auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit, aber wir gewinnen an Wortschatz und an Wissen hinzu. Diese kognitiven Unterschiede erklären, warum Mathematiker und Naturwissenschaftler ihre besten und kreativsten Ergebnisse Ende 20 und Anfang 30 erbringen, während in Literatur, Geschichte und Philosophie die Tendenz eher dahin geht, dass die besten Arbeiten aus der Zeit zwischen 40 und 60 stammen oder noch später entstehen, wenn noch mehr Wissen angesammelt wurde (Simonton 1988, 1990). Dichter, die sich auf ihre fluide Intelligenz verlassen, erreichen den Höhepunkt ihrer Schaffensperiode früher als Prosaschriftsteller, die einen größeren Vorrat an
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Wissen brauchen. Dieser Unterschied lässt sich in jeder großen literarischen Tradition nachweisen und gilt in gleichem Maße für lebende wie für tote Sprachen. Abschließend können wir also sagen, dass intellektuelle Leistung mit dem Alter entweder ansteigt oder abnimmt, je nachdem, was ein Test erfasst und wie er etwas erfasst.
4.4.3 Soziale Entwicklung Viele Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen entstehen nicht durch die Veränderungen im körperlichen und kognitiven Bereich, die die Jahre mit sich bringen, sondern durch die Ereignisse, die das Leben im Zusammenhang mit Familienbeziehungen und Berufstätigkeit mit sich bringt (kritische Lebensereignisse, »life events«). Eine neue Arbeitsstelle bedeutet gleichzeitig neue Beziehungen, neue Erfahrungen und neue Anforderungen. Eine Heirat bringt das Glück der intimen Beziehung und gleichzeitig den Stress, der damit verbunden ist, das eigene Leben mit dem eines anderen Menschen zu einem gemeinsamen Leben zu verschmelzen. Die Geburt eines Kindes bringt eine neue Verantwortung und verändert den eigenen Standpunkt. Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet, etwas Unersetzliches zu verlieren, verbunden mit der Notwendigkeit, das eigene Leben neu auszutarieren. Bilden diese normalen Ereignisse im Leben eines Erwachsenen eine vorhersagbare Abfolge von Veränderungen?
»Gerade in der Mitte unsrer Lebensreise befand ich mich in einem dunklen Walde, weil ich den rechten Weg verloren hatte.« Dante (»Die göttliche Komödie«, 1314)
Stufen und Phasen des Erwachsenenalters Ziel 29: Erklären Sie, warum der Entwicklungsweg eines Erwachsenen nicht eng mit seinem chronologischen Alter zusammenhängen muss.
Wenn Menschen 40 werden, so kommen sie ins mittlere Erwachsenenalter. In diesen Jahren wird einem klar, dass der größere Teil des Lebens nicht mehr vor, sondern bald hinter einem liegt. Manche Psychologen vertreten die Ansicht, dass dieser Übergang in der Mitte des Lebens eine kritische Zeit ist, eine Zeit, in der große Kämpfe ausgefochten werden, in der man vieles bedauert und manchmal sogar das Gefühl hat, vom Leben besiegt worden zu sein. Ein weit verbreitetes Bild der Midlifecrisis ist der Mann Anfang 40, der für eine jüngere Freundin und einen schnittigen Sportwagen seine Familie aufgibt. Doch die Fakten, die sich den Berichten einer großen Stichprobe entnehmen lassen, sehen anders aus: sich unglücklich fühlen, am Arbeitsplatz nicht zufrieden sein, nicht glücklich verheiratet sein, Scheidung, Angst und Selbstmord treten nicht Anfang 40 auf (Hunter u. Sundel 1989; Mroczek u. Kolarz 1998). Am häufigsten ist die Scheidung bei Menschen zwischen 20 und 30; Selbstmord wird am häufigsten von 70- bis 80-Jährigen verübt. Eine Untersuchung, in die fast 10.000 Männern und Frauen einbezogen waren, erbrachte »nicht den geringsten Hinweis« darauf, dass Kummer und Leid (»distress«) irgendwann in den mittleren Jahren besonders gravierend sind (. Abb. 4.34). Bei einem von vier Erwachsenen, die angeben, eine Lebenskrise durchzumachen, ist der Auslöser nicht das Alter, sondern ein wichtiges Ereignis wie Krankheit, Scheidung oder Verlust des Arbeitsplatzes (Lachman 2004). Noch ein weiterer Grund lässt Skeptiker die Theorie von altersbedingten Phasen in der Art der Midlifecrisis in Frage stellen: Die soziale Uhr, die kulturellen Vorgaben für »den richtigen Zeitpunkt« bestimmter einschneidender Veränderungen – das Elternhaus verlassen, eine Arbeit annehmen, heiraten, Kinder haben, in Ruhestand gehen – geht nicht in allen Kulturen im gleichen Takt und ändert sich auch von einer Generation zur anderen. In Jordanien sind 40% der Bräute Teenager, in Hongkong sind es nur 3% (UNO 1992). In Westeuropa bleiben nur wenige Männer über ihr 65. Lebensjahr hinaus erwerbstätig, gegenüber 16% in den USA und 69% in Mexiko (Davies et al. 1991). Und auch die einst rigide Vorgabe für westliche Frauen – Schülerin, Erwerbstätige, Hausfrau und Mutter, wieder Erwerbstätige – hat sich gelockert. Heute spielen die Frauen diese Rollen in jeder beliebigen Reihenfolge, manchmal auch alle gleichzeitig.
Soziale Uhr (social clock): die in einer Kultur vorgegebenen Zeiträume für bestimmte soziale Ereignisse wie Heirat, Elternschaft oder Ruhestand.
. Abb. 4.34. Midlifecrisis in den Vierzigern? Bei den 10.000 Teilnehmern an einer landesweiten Befragung zur Gesundheit ergab sich zu Beginn des 5. Lebensjahrzehnts kein Anstieg der Werte für emotionale Instabilität (»Neurotizismus«). (Aus McCrae u. Costa 1990)
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Kapitel 4 · Entwicklung
Lebensereignisse und Zufälle
Rob Lewine/Corbis
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Die soziale Uhr neu starten Früher sollte – gemäß der sozialen Uhr – der Universitätsabschluss etwa im 22. Lebensjahr erfolgen. Heute erwerben mehr Studenten anderer Altersgruppen einen akademischen Grad
Bei Frauen und Männern stehen Lebensereignise – Heirat, Elternschaft, Wechsel des Arbeitsplatzes, Scheidung, Auszug der Kinder, Umzug und Ruhestand – für Übergänge in neue Lebensphasen, ganz gleich, in welchem Alter man sie erlebt, und zunehmend häufiger geschehen sie zu unvorhergesehenen Zeitpunkten. Die soziale Uhr tickt zwar immer noch, aber die Menschen fühlen sich ihr nicht mehr unterworfen. Auch zufällige Ereignisse können dauerhafte Folgen haben, denn oft lassen sie uns von dem bereits eingeschlagenen Weg abweichen und einen anderen beschreiten (Bandura 1982). So verliebt man sich beispielsweise nicht selten infolge einer zufälligen Begegnung. Bandura (2004) erinnert sich an die witzige, aber wahre Geschichte von einem Verlagslektor, der zu einer seiner Vorlesungen über die »Psychologie der zufälligen Begegnungen und Lebenswege« kam und am Ende die Frau heiratete, die zufällig neben ihm saß. Nehmen wir einmal eine der Studien mit eineiigen Zwillingen und ihren Ehepartnern. Zwillinge, insbesondere eineiige Zwillinge, wählen oft sehr ähnliche Dinge: Freunde, Kleidungsstücke, Urlaubsort, Arbeitsplatz und so weiter. Wenn also Ihr eineiiger Zwilling sich mit jemandem verlobt, würden Sie dann nicht damit rechnen (da Sie beide sich in so vieler Hinsicht so ähnlich sind), dass Sie sich auch zu diesem Menschen hingezogen fühlen? Erstaunlicherweise berichten nur 50% der eineiigen Zwillinge, dass sie den Partner, den ihr Zwilling für sich ausgewählt hatte, wirklich mochten, und nur 5% sagten: »Ich hätte mich in den Partner meines Zwillings selbst verlieben können.« Lykken u. Tellegen (1993) vermuten, dass Sich-Verlieben so ähnlich ist wie die Prägung des Gänsekükens: Sind Sie nach Beendigung Ihrer Kindheit nur oft genug mit einem bestimmten Menschen zusammen, dann mag sich eine Bindung (eine Art Verzauberung) zu beinahe jedem zur Verfügung stehenden Menschen herausbilden, der in etwa einen annähernd ähnlichen Hintergrund hat, über eine gewisse Attraktivität verfügt und der Ihre Zuneigung erwidert.
Verpflichtungen des Erwachsenseins
»Die wichtigen Ereignisse im Leben eines Menschen sind das Ergebnis einer Verkettung höchst unwahrscheinlicher Vorkommnisse.« Joseph Traub (»Traub’s Law«, 2003)
Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung von Liebe, Heirat und Kindern im Erwachsenenalter, und erläutern Sie, welchen Beitrag die eigene Arbeit zum Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Person leistet.
»Man kann großartig auf dieser Welt leben, wenn man sich auf die Arbeit und auf die Liebe versteht.« Leo Tolstoi, 1856
Zwei grundlegende Aspekte beherrschen das Leben des erwachsenen Menschen. Erik Erikson nannte sie Intimität (enge Beziehungen eingehen) und Generativität (sich fortpflanzen und die neue Generation unterstützen). Auch andere Begriffe werden von den Wissenschaftlern verwendet: Zugehörigkeit und Leistung, Bindung und Produktivität, Verpflichtung und Kompetenz. Sigmund Freud (1935) drückte es sehr einfach aus. Er sagte: Der gesunde Erwachsene ist ein Mensch, der lieben und arbeiten kann.
Liebe Unabhängig von Zeit und Ort waren relativ monogame Paarbeziehungen fast immer Teil der verschiedenen Gesellschaftsformen. Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel flirten wir, verlieben uns und gehen eine Verpflichtung gegenüber dem anderen ein, und zwar nur gegenüber einem Partner auf einmal. »Die Paarbindung ist ein Merkmal des menschlichen Wesens«, beobachtete die Anthropologin Helen Fisher (1993). Evolutionär gesehen ist das ein sinnvolles Arrangement: Eltern, die kooperierten, um ihre Kinder zur Reife zu bringen, konnten mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Gene an die Nachkommen weitergeben als Eltern, die das nicht taten. Die Liebe von Eltern für ein Kind tritt in Konkurrenz zur Paarbindung bei Erwachsenen und geht darüber hinaus. Bei der landesweiten Umfrage (Erickson u. Aird 2005) stimmten 93% der amerikanischen Mütter der folgenden Aussage zu: »Ich empfinde eine überwältigende Liebe gegenüber meinen Kindern; das ist anders als alles, was ich für sonst jemanden empfinde.« Viele Väter haben die gleichen Empfindungen. Wenige Wochen nach der Geburt meines ersten Kindes kam mir plötzlich die Erkenntnis: »Das war es also, was meine Eltern mir gegenüber empfanden!« ! Die Liebesbindung bei Erwachsenen ist am stabilsten und bringt die größte Befriedigung, wenn sie auf gleich gelagerten Interessen und ähnlichen Wertvorstellungen beruht, wenn emotionale und materielle Unterstützung von beiden getragen wird und wenn sich die Partner in einer intimen Beziehung einander öffnen.
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Die eheliche Bindung hält wahrscheinlich auch dann, wenn das Paar erst nach Erreichen des 20. Lebensjahres heiratet und beide Partner eine gute Bildung haben. Im Vergleich zur Situation vor 40 Jahren verfügen die Menschen in den westlichen Ländern heute über eine höhere Bildung und heiraten später. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie sich dennoch doppelt so häufig scheiden lassen. Darin spiegelt sich zum Teil die heute geringeren ökonomischen Abhängigkeiten der Frauen, zum Teil auch die gestiegenen Erwartungen wider. Wir erhoffen uns heute nicht nur eine dauerhafte Bindung, sondern wir suchen auch nach einem Gefährten, der für das Einkommen sorgt, einem Versorger, einem echten Freund sowie einem warmherzigen und einfühlsamen Liebhaber. Urteilt man aufgrund der Scheidungszahlen – in den USA kommt heute eine Scheidung auf zwei Eheschließungen – ist die Ehe zu einer Verbindung geworden, die trotz beiderseitiger Bemühungen nicht selten scheitert (Bureau of the Census 2004). In Europa liegen die Scheidungsraten nur wenig niedriger; auch in Deutschland kamen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2006 auf rund 373 681 Eheschließungen über 190.928 Scheidungen. Bewirkt das »Zusammenleben auf Probe«, dass das Scheidungsrisiko geringer wird? In einer Gallup- Umfrage (2001) unter 20- bis 30-Jährigen vertraten 62% die Meinung, dass dies der Fall ist (Whitehead u. Popenoe 2001). Tatsächlich zeigten jedoch Untersuchungen, die in Europa, Kanada und den USA durchgeführt wurden, dass Paare, die vor der Heirat zusammen wohnten, höhere Scheidungsraten und mehr Eheprobleme hatten als die, die nicht zusammen gewohnt hatten (Dush et al. 2003; Popenoe u. Whitehead 2002). Das Risiko für eine schlechte Ehe scheint am höchsten für Paare zu sein, die vor der Verlobung zusammen wohnen (Kline et al. 2004). Personen, die zusammenleben, neigen dazu, sich dem Ideal der lebenslangen Ehe nicht von vornherein verpflichtet zu fühlen, und in der Zeit des Zusammenlebens verstärkt sich die Ablehnung der Ehe noch. In Deutschland sieht das etwas anders aus. Laut ALLBUS, der allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, mit der regelmäßig repräsentative Daten über Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland erhoben werden, hielten es im Jahr 2002 über 75% der gesamten deutschen Bevölkerung (und nicht nur die jungen Erwachsenen) für sinnvoll, dass ein Paar vor der Ehe zusammenlebt. Und mit einem neuen Ansatz zur Analyse des Scheidungsrisikos findet Esser (2002) keinen Einfluss des Zusammenlebens vor der Ehe auf die Scheidungsrate. Insgesamt kann das Zusammenleben als unverheiratetes Paar als Übergangsphase im Lebenslauf betrachtet werden, d. h. die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist in Deutschland eine »normale« Lebensform, die immer bedeutsamer wird. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts lebten 1996 noch 81% aller Familien in einer ehelichen Lebensgemeinschaft, 2006 waren es nur noch 74%. Die Ehe als Institution besteht jedoch weiter. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen heiraten weltweit 9 von 10 heterosexuellen Erwachsenen (Lowy 2000). In westlichen Ländern gehen 75% der Geschiedenen eine neue Ehe ein, und ihre zweite Ehe ist tatsächlich so glücklich wie im Durchschnitt die erste Ehe (Vemer et al. 1989). Sie sind nicht allein. So zeigten Befragungen von mehr als 40.000 Amerikanern seit 1972, dass 40% der verheirateten Erwachsenen angaben, »sehr glücklich« zu sein, aber nur 23% der unverheirateten Erwachsenen. Auch lesbische Paare berichten von mehr Wohlbefinden als die, die allein leben (Wayment u. Peplau 1995). Die Ehe ist nicht nur ein Prädiktor für Glück, sondern auch für Gesundheit, sexuelle Befriedigung und Einkommen. Darüber hinaus ist in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Ehen der Anteil an typischen sozialpathologischen Phänomenen wie Kriminalität, Delinquenz und emotionalen Störungen bei Kindern geringer (Myers u. Scanzoni 2005). Ehen, die Bestand haben, sind nicht immer konfliktfrei. Manche Paare streiten sich heftig, doch sie überschütten einander auch mit Zeichen der Zuneigung. Andere wiederum werden nie laut, loben einander aber auch nur selten und sind auch nicht zärtlich zueinander. Jeder dieser Stile kann sich als dauerhaft erweisen. John Gottman (1994) beobachtete die Interaktionen von 2000 Paaren und fand einen Indikator für eine erfolgreiche Ehe: Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Interaktionen muss mindestens 5:1 betragen. In stabilen Ehen gibt es 5-mal mehr Gelegenheiten, einander anzulächeln, sich zu berühren, zu loben und miteinander zu lachen als Anlässe für Sarkasmus, Kritik und Kränkungen. Wenn Sie also eine Prognose darüber abgeben wollen, welches frisch verheiratete Paar zusammenbleiben wird, dann achten Sie weniger darauf, wie leidenschaftlich die beiden ineinander verliebt sind.
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4.4 · Erwachsenenalter
Liebe Intimität, Bindung, Verpflichtung – wie man die Liebe auch immer bezeichnen mag – trägt im Erwachsenenleben entscheidend zu Gesundheit und Glück bei
Was glauben Sie: Korreliert Ehe mit dem Gefühl des Glücks, weil aus der intimen Beziehung und der partnerschaftlichen Unterstützung ein Glücksgefühl entsteht oder weil es häufiger die glücklichen Menschen sind, die heiraten und verheiratet bleiben? Oder ist beides richtig?
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Kapitel 4 · Entwicklung
! Es sind die Paare, die sich damit zurückhalten, ihren Partner herabzusetzen, die das Ziel erreichen und zusammenbleiben.
Als Sie von zu Hause weggingen, litten da Ihre Eltern unter dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem Gefühl von Trauer um den Verlust des Lebenszwecks und der Beziehung? Trauerten sie der Freude nach, die sie empfunden hatten, wenn sie samstags vor Sonnenaufgang die Ohren spitzten, um Sie heimkommen zu hören – eine Freude, die nun aus ihrem Leben verschwunden war? Oder entdeckten sie eine neue Freiheit, ein Gefühl der Entspannung und (falls sie noch verheiratet waren) eine neue Befriedigung in ihrer eigenen Beziehung?
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Arbeitszufriedenheit und Lebenszufriedenheit Arbeit kann uns ein Gefühl von Identität und Kompetenz vermitteln, außerdem Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Das erklärt vielleicht, warum eine interessante Tätigkeit, die Herausforderungen bietet, das Glücksgefühl verstärkt
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Für viele Erwachsene hängt die Antwort auf die Frage »Wer bist du?« unmittelbar mit der Frage »Was machst du?« zusammen. Hatte Freud Recht? Trägt Arbeit – und dazu gehört auch die Karriere im Beruf – zur Selbstverwirklichung und zur Zufriedenheit mit dem Leben bei? Forscher haben auch die Zufriedenheit mit den Beziehungen am Arbeitsplatz untersucht, indem sie die fast gleichgroße Anzahl von berufstätigen mit nicht berufstätigen nordamerikanischen Frauen verglichen. Baruch u. Barnett (1986) zogen aus den Untersuchungen, die sie im Wellesley College Center for Research on Women durchgeführt hatten, den Schluss, dass es nicht entscheidend ist, welche Rollen eine Frau übernimmt – bezahlte Tätigkeit, Ehefrau und/oder Mutter –, sondern dass allein die Qualität der Erfahrungen, die sie mit der jeweiligen Rolle macht, ausschlaggebend ist.
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Um das Krebsgeschwür der negativen Interaktionen gar nicht erst aufkommen zu lassen, lernen erfolgreiche Paare, fair zu streiten (die eigenen Gefühle in Worte fassen, ohne den Partner zu kränken) und Konflikte zu umschiffen mit Aussagen wie »Ich weiß, dass du nicht schuld bist« oder »Ich bin mal einen Moment still und höre dir zu.« Häufig entstehen aus einer Liebesbeziehung auch Kinder. Für die meisten Menschen ist diese auf einen längeren Zeitraum angelegte Veränderung ihrer Lebensumstände ein glückliches Ereignis. Doch kann es geschehen, dass die Zufriedenheit mit dem Eheleben abnimmt, wenn die Kinder allmählich Zeit, Geld und emotionale Energie absorbieren. Das gilt besonders für berufstätige Frauen, die traditionell die Last der Hausarbeit tragen, und zwar in größerem Maße, als sie erwartet hatten. Doch die Mühe, die es kostet, eine faire Partnerschaft zu entwickeln, kann einen doppelten Nutzen haben; denn sie sorgt für mehr Zufriedenheit in der Ehe, und das wiederum führt zu besseren Eltern-Kind-Beziehungen (Erel u. Burman 1995). Auch wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder entstehen, verlassen Kinder irgendwann das Elternhaus. Ihr Fortgehen ist ein wichtiges Ereignis, und manchmal fällt die Trennung schwer. Doch landesweite Befragungen in den USA erbrachten, dass für die meisten das »leere Nest« ein glücklicher Ort ist (Adelmann et al. 1989; Glenn 1975). Im Vergleich zu Frauen in den mittleren Lebensjahren, deren Kinder noch zu Hause leben, berichten die Frauen, deren Kinder ausgezogen waren, dass sie glücklich sind und ihre Ehe mehr genießen. Viele Eltern erleben das, was die Soziologen White u. Edwards (1970) »zweite Flitterwochen« nennen, vor allem, wenn die Beziehung zu den Kindern weiterhin eng bleibt.
205 4.4 · Erwachsenenalter
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Es ist für Frauen und Männer gleichermaßen schwierig, sich für einen Berufsweg zu entscheiden, besonders heute, wo das Arbeitsleben so starken Veränderungen unterworfen ist. In den ersten beiden College- oder Universitätsjahren können nur wenige Studenten vorhersagen, wo sie später arbeiten werden. Viele geben ihre anfänglichen Schwerpunktfächer auf, manche finden nach dem Studium keine Anstellung in dem Bereich, der direkt mit dem Studium zu tun hat, einige wechseln den Berufszweig noch einmal komplett (Rothstein 1980). Letztlich ist man glücklich, wenn man eine Arbeit hat, die den eigenen Interessen entspricht und einem das Gefühl gibt, etwas zu leisten und kompetent zu sein. Und im privaten Bereich gehört zum Glück und zu einem erfüllten Leben ein Partner, ein enger, verlässlicher und vertrauter Gefährte, der das Besondere an seiner Frau oder seinem Mann erkennt, und dazu gehören – für manche – Kinder, die man liebt und auf die man stolz ist.
Wohlbefinden über die Lebensspanne hinweg Ziel 31: Beschreiben Sie Entwicklungstrends in Bezug auf die Lebenszufriedenheit bei Menschen über die Lebensspanne hinweg.
Wir alle werden älter. In diesem Augenblick sind Sie so alt, wie Sie noch nie waren, und so jung, wie Sie nie wieder sein werden. Leben heißt älter werden. Das bedeutet, jeder hat etwas, auf das er mit Befriedigung oder mit Bedauern zurückschaut, und etwas, was man sich erhofft oder erträumt. Fragt man die Menschen, was sie anders machen würden, wenn sie ihr Leben noch einmal von vorn beginnen könnten, dann lautet die häufigste Antwort: »Meine Ausbildung hätte ich ernster nehmen und mehr dafür arbeiten sollen« (Kinnier u. Metha 1989). Wie werden Sie in 10 Jahren auf Ihr Leben zurückblicken? Treffen Sie jetzt Entscheidungen, an die Sie sich eines Tages zufrieden erinnern werden? Auch andere Äußerungen des Bedauerns – »Ich hätte meinem Vater sagen sollen, dass ich ihn lieb habe« oder »Es tut mir Leid, dass ich nie nach Europa gereist bin« – zielen weniger auf Fehler, die man vielleicht gemacht hat, sondern auf die Dinge, die man zu tun versäumt hat (Gilovich u. Medvec 1995). Vom frühen Erwachsenenalter an bis zur Lebensmitte machen die Menschen typischerweise Erfahrung mit einem gestärkten Gefühl der Identität, des Selbstvertrauens und des Selbstwertes (Miner-Rubino et al. 2004; Robins u. Trzesniewski 2005). Im späteren Leben werden die Herausforderungen größer: Das Einkommen schrumpft, die Arbeit wird einem häufig genommen, der Körper baut ab, das Gedächtnis wird schlechter, die Energie versickert, Familienmitglieder und Freunde sterben oder ziehen weg, und der Tod, der große Feind, rückt immer näher. So ist es nicht verwunderlich, dass viele glauben, die Jahre jenseits von 65 seien die schlimmsten (Freedman 1978). Doch das stimmt nicht, fand Inglehart (1990) in den 80er Jahren an repräsentativen Stichproben von fast 170.000 Menschen in 16 Ländern heraus. Ältere Menschen berichten von ebenso viel Glück und Zufriedenheit mit dem Leben wie jüngere (. Abb. 4.35). . Abb. 4.35. Alter und Zufriedenheit Wenn die jungen Erwachsenen ihre Pflichten erfüllt haben, haben viele von ihnen als Ältere mehr Zeit, um eigenen Interessen nachzugehen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Zufriedenheit hoch bleibt und manchmal sogar steigt, wenn die Betreffenden gesund und aktiv sind. Die Graphik beruht auf multinationalen Befragungen und zeigt, dass die Altersunterschiede bei der Frage nach der Zufriedenheit sehr gering sind. (Daten aus Inglehart 1990)
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Kapitel 4 · Entwicklung
. Abb. 4.36. Biopsychosoziale Einflüsse auf erfolgreiches Altern Zahlreiche biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren haben einen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir altern. Ausgestattet mit den richtigen Genen haben wir eine gute Chance, erfolgreich zu altern, wenn wir uns eine positive Lebenseinstellung bewahren, geistig und körperlich aktiv bleiben und die Verbindung mit der Familie und mit den Freunden in der Nachbarschaft aufrechterhalten
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! Die positiven Gefühle nehmen nach der Mitte des Lebens zu, die negativen werden seltener (Charles et al. 2001; Mroczek 2001).
Ältere Erwachsene verwenden immer häufiger Wörter, die positive Emotionen vermitteln (Pennebaker u. Stone 2003). Sie richten ihre Aufmerksamkeit immer weniger auf negative Informationen. Sie nehmen z. B. langsamer als junge Erwachsene negative Gesichter wahr (Mather u. Carstensen 2003). Ihre Amygdala, ein Zentrum für die neuronale Verarbeitung von Emotionen, zeigt eine abnehmende Aktivität in Reaktion auf negative Ereignisse, während sie gleichzeitig ihre Reaktionsbereitschaft für positive Ereignisse aufrechterhält (Mather et al. 2004). Außerdem schwächen sich die schlechten Gefühle, die wir mit negativen Ereignissen verbinden, schneller ab, als dies bei den guten Gefühlen, die wir mit positiven Ereignissen verbinden, der Fall ist (Walker et al. 2003). Bei den meisten älteren Menschen trägt dies zu einem Gefühl bei, dass das Leben alles in allem meist gut war. Dies hat etwas Tröstliches angesichts der Tatsache, dass Älterwerden etwas ist, was sich aus dem Leben zwangsläufig ergibt (etwas, was fast jedem Menschen lieber ist als ein früher Tod) (. Abb. 4.36). Das erstaunlich gleichbleibende Wohlbefinden über das ganze Leben hinweg überschatten jedoch einige interessante Befunde zu altersbezogenen Unterschieden im Bereich Emotionen. Mit den Jahren werden die Gefühle reifer (Costa et al. 1987; Diener et al. 1986). Hochstimmung ist nicht mehr so hoch, schlechte Stimmung nicht mehr so schlecht. Und obwohl sich das durchschnittliche Gefühlsniveau mit dem Alter nicht sehr verändert, sind wir doch nicht mehr so oft aufgeregt, wir bersten nicht mehr vor Stolz und fühlen uns auch nicht mehr auf dem Gipfel. Wir verfallen aber auch seltener in Depressionen. Auf Komplimente reagieren wir mit mehr Gelassenheit, und Kritik stürzt uns nicht mehr in Verzweiflung, denn beides ist nur noch eine weitere Rückmeldung und kommt auf den Haufen von Lob und Tadel, den wir angesammelt haben. Csikszentmihalyi u. Larson (1984) legten eine »emotionale Landkarte« an, indem sie ihre Versuchsteilnehmer mit einem elektronischen Piepser in regelmäßigen Abständen anpiepsten und um einen Bericht über ihre augenblickliche Beschäftigung und ihre Gefühlslage baten. Sie fanden, dass Teenager typischerweise immer gerade von einer Hochstimmung herunter oder aus einem Tief herauskamen, und das in weniger als einer Stunde. Bei Erwachsenen ist die Stimmungslage weniger von Extremen geprägt und dafür stabiler. Den meisten Menschen bringt das Alter zwar weniger heftige Freude, dafür aber mehr Zufriedenheit und mehr Besinnung auf innere Werte, vor allem den Menschen, die sich so-
207 4.4 · Erwachsenenalter
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zial engagieren (Harlow u. Cantor 1996; Wink u. Dillon 2002). Im Alter gleicht das Leben weniger einer emotionalen Achterbahn und mehr einer friedlichen Bootsfahrt.
Sterben und Tod
Die meisten Menschen leiden unter dem Tod von Verwandten und Freunden und müssen damit fertig werden. Die schwerste Trennung ist normalerweise die vom Ehepartner, ein Verlust, den 5-mal mehr Frauen erleiden als Männer. Wenn der Tod wie normalerweise zu einem erwarteten Zeitpunkt spät im Leben eintritt, kann die Trauer etwas relativ Kurzlebiges sein (. Abb. 4.37 zeigt die typischen Emotionen vor und nach dem Tod eines Ehepartners). Die Trauer ist besonders groß, wenn der Tod eines geliebten Menschen plötzlich eintritt, ehe man ihn nach der sozialen Uhr erwarten konnte. Der Unfalltod eines Kindes oder eine plötzliche Krankheit, die einem den 45-jährigen Partner nimmt, kann ein Jahr der Trauer auslösen, in dem man von Erinnerungen überschwemmt wird, und kann sogar zu einer Depression führen, die manchmal mehrere Jahre lang anhält (Lehman et al. 1987). Für einige Menschen ist der Verlust unerträglich. Bei einer Studie, in die mehr als 1 Mio. Dänen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert einbezogen waren, fand man heraus, dass mehr als 17.000 Menschen unter dem Tod eines Kindes gelitten hatten, das jünger als 18 Jahre alt war. In den 5 Jahren nach diesem Todesfall war der Prozentsatz des ersten Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik mit 3% 67% höher als der Prozentsatz, der für Eltern berichtet wurde, die kein Kind verloren hatten (Li et al. 2005). AIDS, eine Krankheit, die so oft Menschen in der Mitte ihres Leben und jünger trifft, ließ zahllose trauernde Partner zurück, die einen schmerzlichen Verlust erlebten, und Millionen von Waisenkindern. 2004 ließ die Krankheit mehr als 3 Mio. Menschen weltweit sterben (UNAIDS 2005). Im Afrika südlich der Sahara, in dem 10% der Weltbevölkerung und 60% der Menschen mit HIV wohnen, brauchen die sich daraus ergebenden Todesfälle und die Behandlungserfordernisse die sozialen Ressourcen auf. In neun afrikanischen Ländern sank die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt unter 40 Jahre (UNAIDS 2004). Die normale Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen ist breiter, als man annehmen sollte. In manchen Kulturen wird Weinen und Klagen in der Öffentlichkeit gut geheißen, andere Kulturen trauern im Verborgenen. Innerhalb einer Kultur trauern manche Menschen offener und heftiger als andere. Doch im Gegensatz zu allgemein verbreiteten Fehlannahmen lässt sich Folgendes feststellen: 4 Diejenigen, die ihre Trauer sehr stark und unmittelbar ausdrücken, werden nicht schneller damit fertig (Bonanno u. Kaltman 1999; Wortman u. Silver 1989). 4 Bei den meisten Menschen tragen eine Therapie für Trauerfälle und Selbsthilfegruppen wenig dazu bei, die heilende Kraft der Zeit und unterstützender Freunde noch wirksamer werden zu
»Das Beste daran, 100 Jahre alt zu sein, ist, dass es keinen Druck von Seiten der Gleichaltrigen gibt.« Lewis W. Kuester, als er 100 wurde
Joel Stettenheim/Corbis
Ziel 32: Beschreiben Sie die Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen.
Der Tod kommt zu früh für zu viele im vom AIDS geplagten Afrika
»Geh nicht sanft in jene dunkle Nacht, das Alter sollte brennen und toben am Ende des Tages; wüte, wüte gegen das Sterben des Lichtes.« Dylan Thomas (»Do not go gentle into that good night«, Gedicht, das er für seinen Vater schrieb, als dieser friedlich im Sterben lag)
. Abb. 4.37. Zufriedenheit mit dem Leben in Abhängigkeit vom Tod des Ehegatten: vorher, im Todesjahr und danach Lucas et al. (2003) werteten eine in jährlichem Abstand durchgeführte Längsschnittumfrage von über 30. 000 Deutschen aus. Die Wissenschaftler stießen auf 513 Paare, bei denen ein Ehepartner gestorben war und der verbliebene Partner nicht wieder geheiratet hatte. Sie fanden, dass die Zufriedenheit im Jahr vor der Verwitwung leicht und im Todesjahr deutlich absank. Danach kam es manchmal zu einem erneuten Anstieg bis fast zum Ausgangsniveau. (Quelle: Richard Lucas)
208
Kapitel 4 · Entwicklung
lassen. Trauernde, hinterbliebene Ehepartner, die häufig mit anderen sprechen oder die in einer Beratung für Trauernde sind, werden mit dem Tod des Partners nicht besser fertig als die, die eher für sich allein trauern (Bonanno 2001, 2004; Genevro 2003; Stroebe et al. 2001, 2002, 2005). Wenn man auch noch so viel miteinander spricht, so kann dies das Gefühl, allein und von einem geliebten Menschen getrennt zu sein, nicht zum Verschwinden bringen. 4 Todkranke und Hinterbliebene durchlaufen keine vorhersagbaren Phasen wie etwa Verleugnung, Wut etc. (Nolen-Hoeksma u. Larson 1999). Ein vergleichbarer Verlust bewirkt keine vergleichbare Reaktion: Manche Menschen trauern lange und heftig, andere kürzer und weniger heftig.
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»Bedenke, Freund, der du hier stehst: Wie du jetzt bist, so war auch ich, wie ich jetzt bin, so wirst du sein. Bereite dich vor, du wirst mir folgen.« Grabinschrift auf einem schottischen Grabstein
Wir haben allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass sich die Einstellung gegenüber dem Tod allmählich verändert: Der Tod wird nicht mehr verleugnet. Dem Tod würdevoll und offen zu begegnen, hilft dem Menschen, seinen Lebenszyklus mit dem Gefühl zu vollenden, dass es ein einmaliges und sinnvolles Leben war. Es war gut, dass er gelebt hat, und es ist gut zu verstehen, dass Leben und Tod Teil eines nicht endenden Kreislaufes sind. Der Tod ist zwar oft nicht willkommen, doch im Augenblick des Todes findet das Leben seine Bestätigung. Das gilt insbesondere für die Menschen, die nicht voll Verzweiflung auf ihr Leben zurückblicken, sondern, wie Erikson sagt, mit einem Gefühl, dass alles zusammen gehört und dass das eigene Leben einen Sinn hatte und wert war, gelebt zu werden.
Lernziele Abschnitt 4.4 Erwachsenenalter Ziel 25: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen, zu denen es im mittleren Erwachsenenalter kommt. Muskelkraft, Reaktionszeit, sensorische Fähigkeiten und Herzleistung beginnen Ende 20 schlechter zu werden. Um die 50 Jahre beendet die Menopause bei den Frauen die Phase der Fruchtbarkeit, doch sie können weiterhin ein befriedigendes Sexualleben haben. Die meisten Frauen leiden während der Menopause nicht unter einer Depression oder unter anderen psychischen Problemen. Männer sind nicht einer ähnlich schroffen Veränderung ihres Hormonspiegels oder ihrer Fruchtbarkeit ausgesetzt. Ziel 26: Vergleichen Sie die Lebenserwartung Mitte des 20. Jahrhundert mit der Anfang des 21. Jahrhundert, und erörtern Sie die Veränderungen bei älteren Erwachsenen in Bezug auf die sensorischen Fähigkeiten und die Gesundheit (einschließlich der Häufigkeit von Demenz). Weltweit ist die Lebenserwartung von 49 Jahren Mitte des 20. Jahrhunderts auf 67 Jahre zu Beginn des 21. Jahrhunderts angestiegen; und in einigen entwickelten Ländern ist sie höher als 80 Jahre. Frauen leben länger als Männer, und in den meisten Altersgruppen nach der frühen Säuglingszeit gibt es mehr weibliche als männliche Wesen. Im späten Erwachsenenalter, vor allem nach dem Alter von 70 Jahren werden die Entfernungswahrnehmung und der Geruchssinn schlechter, wie dies auch für die Muskelkraft, die Reaktionszeit und die Ausdauer der Fall ist. In dem Maße, in dem das Immunsystem des Körpers schwächer wird, werden ältere Menschen auch anfällig für lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs und Lungenentzündung; doch kurz andauernde Leiden werden seltener. Die neuronalen Prozesse werden, vor allem bei komplexen Aufgaben, langsamer, und etwa mit 80 Jahren schrumpft das Gehirn um 5%. Körperliche Aktivität kann zur Entwicklung einiger neuer Hirnzellen und -verbindungen anregen. Mit dem Alter nimmt die De-
menzhäufigkeit zu – einschließlich der fortschreitenden Verschlechterung durch die Alzheimer-Krankheit –, von Anfang 60 an mit einer Verdopplung der Rate alle 5 Jahre. Demenz ist kein normaler Bestandteil des Alterungsprozesses. Ziel 27: Geben Sie ein Urteil darüber ab, welchen Einfluss das Altern auf den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis und auf das Wiedererkennen hat. Die Fähigkeit, neue Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, nimmt im frühen und mittleren Erwachsenenalter ab, doch bezogen auf die Fähigkeit, solche Informationen zu erkennen, ist dies nicht der Fall. Ältere Erwachsene erkennen bedeutsame Informationen leichter als bedeutungslose Informationen, aber es kann bei ihnen länger dauern, die Wörter hervorzubringen, die beschreiben, was sie wissen. Das prospektive Gedächtnis (»Denk daran, dass …«) bleibt weiterhin gut, wenn Hinweisreize zur Verfügung stehen, doch ohne Erinnerungshilfen, sind an Termine gebundene und gewohnheitsmäßige Aufgaben anfällig für Gedächtnisausfälle. Ziel 28: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen zum Verständnis der normalen Auswirkungen des Alterns auf die Intelligenz eines Erwachsenen leisten. Querschnittstudien (Vergleich von Menschen unterschiedlichen Alters) deuten darauf hin, dass die Intelligenz nach dem frühen Erwachsenenalter gleichmäßig abnimmt. Doch bei diesen Forschungsarbeiten wurden die Generationsunterschiede in Bezug auf Bildung und andere Lebenserfahrungen nicht berücksichtigt. Längsschnittstudien (häufiger wiederholte Testung derselben Personen über einen längeren Zeitraum hinweg) geben Hinweise darauf, dass die Intelligenz bis zu einem sehr späten Zeitpunkt im Leben stabil ist. Doch ein Problem der Längs6
209 4.5 · Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie
schnittuntersuchungen bestand darin, dass sie Personen nicht berücksichtigen konnten, die durch die Studien nicht mehr erfasst wurden, die vielleicht weniger intelligent waren oder in einer ärmeren Umgebung lebten als die Überlebenden; dadurch blieb im späten Lebensalter eine Gruppe von Teilnehmern übrig, die über dem Durchschnitt lag. Die heutige Auffassung ist, dass die fluide Intelligenz (Fähigkeit, schnelle und abstrakte Schlussfolgerungen zu ziehen) nachlässt und die kristalline Intelligenz (angehäuftes Wissen und damit verbundene Fertigkeiten) stabil ist. Ziel 29: Erklären Sie, warum der Entwicklungsweg eines Erwachsenen nicht eng mit seinem chronologischen Alter zusammenhängen muss. Psychologen haben ihre Zweifel, dass Erwachsene eine geordnete Abfolge altersabhängiger Stufen durchlaufen, von denen einige mit einer Zeit der Krise einhergehen, wie etwa der Midlifecrisis Anfang 40. Lebenskrisen werden gewöhnlich durch wichtige Ereignisse (wie eine Scheidung) oder durch zufällige Vorkommnisse (wie eine Begegnung mit dem künftigen Partner) ausgelöst und weniger durch vorhersagbare Stufen. Durch Stufen definierte Krisen setzen auch eine rigide zeitliche Abfolge sozialer Ereignisse voraus; und die Forschung zeigt, dass die soziale Uhr (kulturell festgelegte Vorschriften in Bezug auf den »richtigen Zeitpunkt« für solche Ereignisse) von einem Ort zum anderen und von einem Zeitpunkt zum anderen variiert. Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung von Liebe, Heirat und Kindern im Erwachsenenalter, und erläutern Sie, welchen Beitrag die eigene Arbeit zum Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Person leistet. Liebe und Arbeit sind die Themen, die das Erwachsenenleben bestimmen. Evolutionspsychologen sind der Auffassung, dass die Festlegung auf einen Partner für unsere Vorfahren einen Wert für das Überleben hatte. Denn die Eltern, die zusammenblieben, zusammenwirkten und Kinder bis zum Alter der Fortpflanzungsfähigkeit großzogen, hatten eine größere Chance, ihre Gene an die Nachwelt weiterzugeben. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung hat sich über die letzten 40 Jahre hinweg verdoppelt, teilweise weil die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen
4.5
zugenommen hat und teilweise weil die Erwartungen von Frauen und Männern an akzeptable Eigenschaften eines Lebenspartners gestiegen sind. Zusammenleben vor der Heirat korreliert in US-amerikanischen Studien mit höheren Scheidungsraten und mehr Eheproblemen. Die meisten Menschen gehen immer noch davon aus, dass sie einmal heiraten werden, und diejenigen, die es tun, sind gewöhnlich glücklicher als ihre unverheirateten Pendants. Die Geburt eines Kindes ist normalerweise ein willkommenes Ereignis, aber es kann die materiellen und emotionalen Ressourcen eines Paares erschöpfen. Seinen beruflichen Weg zu finden, ist schwierig und erfordert Zeit, aber eine befriedigende Arbeit (die zu den eigenen Interessen passt und der Person ein Gefühl der Kompetenz und der Leistungsfähigkeit vermittelt) korreliert auch mit Lebenszufriedenheit. Ziel 31: Beschreiben Sie Entwicklungstrends in Bezug auf die Lebenszufriedenheit bei Menschen über die Lebensspanne hinweg. Das Wohlbefinden und das Gefühl der Zufriedenheit ist bei den Menschen über die Lebensspanne hinweg stabil. Wie Untersuchungen zeigen, sind, wenn wir älter werden, die Höhepunkte weniger großartig und die Tiefpunkte weniger niederschmetternd; doch das Durchschnittsniveau der Zufriedenheit bleibt gleich. Ziel 32: Beschreiben Sie die Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen. Es gibt keine »normale« Reaktion oder Abfolge von Trauerstufen nach dem Tod eines geliebten Menschen. Die Trauer ist am schlimmsten, wenn der Tod plötzlich oder vor dem erwarteten Zeitpunkt eintritt, wie etwa beim Tod eines Kindes. Menschen, die im hohen Alter ein Gefühl der Integrität (um Eriksons Ausdruck zu verwenden) erreichen, treten vielleicht dem Tod entgegen, indem sie sich selbst versichern, dass ihr eigenes Leben einen Sinn hatte und lebenswert war. > Denken Sie weiter: Wenn Sie sich an die letzten 4 Jahre erinnern – falls Sie zu den jungen Erwachsenen gehören, waren es vermutlich Jahre, die Sie geformt haben –, was tut Ihnen am meisten Leid? Was war in dieser Zeit am besten für Sie?
Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie
Ziel 33: Fassen Sie die aktuellen Auffassungen von der Kontinuität im Gegensatz zu Stufen und von der Stabilität im Gegensatz zu Veränderung während der lebenslangen Entwicklung zusammen.
Zu Beginn dieses Überblicks über die Entwicklungspsychologie stießen wir auf drei immer wiederkehrende Themen: 1. Auf welche Weise steuern die Gene die Entwicklung, und welchen Beitrag dazu leisten die Erfahrungen? 2. Erfolgt der Entwicklungsverlauf allmählich und als kontinuierlicher Prozess oder lassen sich in diesem Prozess einzelne Entwicklungsstufen unterscheiden? 3. Bedeutet Entwicklung, dass sich der Mensch im Laufe seines Lebens verändert, oder bleibt er sich gleich? In 7 Kapitel 3 haben wir uns mit dem ersten Thema beschäftigt; hier wollen wir das zweite und das dritte Thema erörtern.
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210
Kapitel 4 · Entwicklung
4.5.1 Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung
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Erwachsene und Kinder unterscheiden sich sehr voneinander. Aber: Unterscheiden sie sich auf die gleiche Weise, wie die alte Eiche sich vom Eichenschößling unterscheidet – ein Unterschied, der auf allmählichem Wachstum beruht? Oder lässt sich der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern eher mit dem zwischen Raupe und Schmetterling vergleichen? Durchlaufen wir in unserer Entwicklung verschiedene Stadien? Grob gesehen gibt es zwei Richtungen in der Entwicklungspsychologie: Die Wissenschaftler, die den Akzent auf Lernen und Erfahrung legen, sehen Entwicklung als langsamen, kontinuierlichen Prozess der Ausformung. Steht aber die biologische Reifung im Vordergrund, dann wird Entwicklung als eine Abfolge durch genetische Prädispositionen festgelegter Stufen oder Schritte gesehen; die Stufen können schnell oder langsam durchlaufen werden, doch die Reihenfolge ist für alle Menschen die gleiche. Gibt es in der psychischen Entwicklung diese scharf voneinander abgegrenzten Stadien, die wir aus der körperlichen Entwicklung kennen, bei der jedes Kind erst krabbelt, ehe es zu laufen beginnt? Wir haben Jean Piaget und seine Theorie von den Stadien der kognitiven Entwicklung kennen gelernt, desgleichen die Stufen der moralischen Entwicklung, die Lawrence Kohlberg definierte, und nicht zuletzt die von Erik Erikson beschriebenen Stufen der psychosozialen Entwicklung. Kleine Kinder verfügen bereits über manche Fähigkeiten, die Piaget erst für spätere Stadien postulierte. Kohlbergs Stufenmodell hatte anscheinend den gebildeten Mann im Blick, der einer individualistischen Kultur angehört, und legte deshalb den Akzent zu sehr auf das Denken, während das Handeln eine geringere Rolle spielt. Das Leben des erwachsenen Menschen verläuft nicht in festen, vorhersagbaren Schritten, wie es sich Erikson vorgestellt hatte. Zwar meldet die Forschung Zweifel an der Vorstellung an, dass das Leben in klar definierten, altersbedingten Stufen abläuft, doch kann das Stufenkonzept auch weiterhin nützlich sein. In Kindheit und Jugend durchläuft das Gehirn des Menschen Phasen raschen Wachstums, die in etwa den Stadien von Piagets Modell entsprechen (Thatcher et al. 1987). Auch bringen die Stufentheorien eine Entwicklungsperspektive in den Lebenszyklus, denn sie zeigen auf, wo die Unterschiede im Denken und Handeln von Menschen unterschiedlichen Alters liegen.
4.5.2 Stabilität und Veränderung Dieser Gedanke bringt uns zu unserer abschließenden Frage: Bleibt die Persönlichkeit eines Menschen über die Zeit hinweg konstant oder verändert sie sich? Wenn Sie einen alten Schulfreund wieder treffen, den Sie seit der Schulzeit nicht gesehen haben, erkennen Sie dann sofort den »guten alten Peter« wieder? Oder ist der Mensch, den Sie heute treffen, nicht mehr derselbe wie damals? Wissenschaftler haben Lebensläufe über die Zeit hinweg verfolgt und fanden, dass beides richtig ist: Es gibt eine Kontinuität der Persönlichkeit, aber das Leben ist gleichzeitig auch ein Prozess des Werdens (ein Hoffnungsschimmer für Kinder und Jugendliche mit Problemen). Die Kämpfe der Gegenwart können vielleicht das Fundament für eine glücklichere Zukunft sein. Genauer gesagt, stimmen Forscher in folgenden Punkten überein: 1. Die ersten beiden Lebensjahre liefern nur eine schmale Ausgangsbasis, anhand derer sich evtl. die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen vorhersagen lassen (Kagan et al. 1978, 1998). Ältere Kinder und Jugendliche verändern sich. Obwohl straffällig gewordene Kinder erhöhte Raten bei Problemen mit Arbeit, Substanzmissbrauch und Kriminalität aufweisen, sind doch aus vielen Kindern mit Störungen, die falsche Wege eingeschlagen haben, letztlich reife und erfolgreiche Erwachsene geworden (Moffit et al. 2002; Roberts et al. 2001; Thomas u. Chess 1986). Mit zunehmendem Alter stabilisiert sich die Persönlichkeit jedoch allmählich (Johnson et al. 2005; Vaidya et al. 2002). 2. Manche Merkmale wie beispielsweise das Temperament erweisen sich als stabiler als andere, z. B. soziale Einstellungen (Moss u. Susman 1980). Als ein Forschungsteam, das von Caspi (2003) geleitet wurde, 1000 Neuseeländer zwischen 3 und 26 Jahren untersuchte, war man
211 4.5 · Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie
überrascht, wie konsistent Temperament und Emotionalität über die Zeit hinweg bleiben. Doch auch die Einstellungen werden mit zunehmendem Alter dauerhafter (Krosnick u. Alwin 1989). Bei den meisten Menschen ist auch das Lebensziel (etwa ob man auf Status, Spaß oder enge Beziehungen aus ist) recht stabil (Roberts et al. 2004). 3. In gewisser Weise verändert sich jeder Mensch mit zunehmendem Alter. Die meisten schüchternen, ängstlichen Kleinkinder beginnen mit 4 Jahren, offener zu werden, und die meisten Menschen werden in den Jahren nach der Adoleszenz ruhiger und zeigen mehr Selbstdisziplin, sie werden liebenswürdig und selbstsicher (McCrae u. Costa 1994; Roberts et al. 2003). Die Gewissenhaftigkeit nimmt vor allem in den Zwanzigern zu und die Verträglichkeit in den Dreißigern (Srivastava et al. 2003). So mancher 20-jährige Träumer reifte zum verantwortungsbewussten Leiter eines Geschäfts oder einer kulturellen Institution heran. Solche Veränderungen können eintreten, ohne dass sich die Position im Verhältnis zu den Gleichaltrigen ändert: Der ehrgeizige junge Erwachsene mag wohl im späteren Leben etwas weicher werden, doch wird er im Vergleich zu anderen immer noch ehrgeizig sein.
»Ich würde sagen, der Vorteil um die 70 ist es, dass man das Leben ruhiger nimmt. Man weiß, dass auch das ›vorübergehen wird‹!« Eleanor Roosevelt, 1954
Letztlich sollten wir uns daran erinnern, dass wir im Leben beides brauchen: Stabilität und Veränderung. Stabilität macht es möglich, sich auf andere Menschen zu verlassen, sie vermittelt uns Identität und ist das Motiv für die Mühe, die wir in die gesunde Entwicklung von Kindern investieren. Veränderung treibt uns, uns dafür zu interessieren, welchen aktuellen Einflüssen wir ausgesetzt sind; Veränderung lässt uns auf eine bessere Zukunft hoffen und gibt uns die Möglichkeit, uns anzupassen und durch Erfahrungen zu wachsen. Lernziele Abschnitt 4.5 Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie Ziel 33: Fassen Sie die aktuellen Auffassungen von der Kontinuität im Gegensatz zu Stufen und von der Stabilität im Gegensatz zu Veränderung während der lebenslangen Entwicklung zusammen. Die Forscher, die die Entwicklung als einen langsamen kontinuierlichen Prozess ansehen, sind i. Allg. auch die, die Erfahrung und Lernen betonen. Forscher, die die biologische Reifung hervorheben, verstehen die Entwicklung als eine Abfolge von Schritten, die durch genetische Prädispositionen festgelegt sind. Die Stadientheorien von Piaget (kognitive Entwicklung) sowie die Stufentheorien von Kohlberg (moralische Entwicklung) und von Erikson (psychosoziale Entwicklung) wurden in der späteren Forschung modifiziert, aber alle drei Theorien haben die Psychologie insofern bereichert, als sie uns auf die Aspekte aufmerksam machten, in denen sich Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten der Lebensspanne unterscheiden. Die Forschung zeigt auch, dass die lebenslange Entwicklung sowohl durch Stabilität als auch durch Verände-
rung geprägt ist. Die Persönlichkeit wird in dem Maße, in dem Menschen älter werden, allmählich stabiler; aber aus den Persönlichkeitsmerkmalen eines Kleinkinds lassen sich nicht unbedingt die eines Erwachsenen vorhersagen. Ältere Kinder und Erwachsene verändern sich nämlich auch noch. Einige Persönlichkeitsmerkmale wie das Temperament sind stabiler als andere. Wenn man älter wird, verändert man sich möglicherweise in Beziehung zu seinem früheren Selbst, während man gleichzeitig seine charakteristischen Merkmale im Vergleich mit den Altersgenossen beibehält. > Denken Sie weiter: Sind Sie noch derselbe Mensch, der Sie als Kindergartenkind, als 10-jähriges Kind oder als 15-jähriger Jugendlicher waren? Wie unterscheiden Sie sich im Vergleich zu früher? Worin sind Sie sich gleich geblieben?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Ihre Freundin – eine starke Raucherin – hofft, schon bald schwanger zu werden und hat mit dem Rauchen aufgehört. Warum ist das eine gute Idee? Welche negativen Auswirkungen hat das Rauchen während der Schwangerschaft auf den Fötus? 2. Erklären Sie mit Hilfe von Piagets ersten drei Stadien der kognitiven Entwicklung, warum kleine Kinder in der Art und Weise wie sie denken, nicht einfach Miniaturausgaben von Erwachsenen sind. 3. Wie hat sich der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter in den westlichen Kulturen während der letzten 100 Jahre verändert? 4. Die Forschung zeigt, dass sich – zumindest in den USA – aus dem Zusammenleben vor der Heirat eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine künftige Scheidung vorhersagen lässt. Können Sie sich vorstellen, welche beiden möglichen Erklärungen es für diesen korrelativen Befund gibt? 5. Welche Befunde der Psychologie stützen die Stufentheorie der Entwicklung und den Gedanken von der Stabilität einer Persönlichkeit über die Lebensspanne hinweg? Welche Befunde sprechen gegen diese Vorstellung?
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Kapitel 4 · Entwicklung
LDeutsche Literatur zum Thema Fend, H. (2003). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für psychologische und pädagogische Berufe. Opladen: Leske & Budrich. Lehr, U. (2006). Psychologie des Alterns. Wiesbaden: Quelle & Meyer. Oerter, R. & Montada, L. (2007). Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, 5. Aufl. Weinheim: Beltz. Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Heidelberg: Springer. Siegler, R., DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2005). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Heidelberg: Spektrum. Thomas, R. M. & Feldmann, B. (2002). Die Entwicklung des Kindes. Weinheim: Beltz. Trautner, H. M. (2003). Allgemeine Entwicklungspsychologie, 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.
4
5 Wahrnehmung: Sinnesorgane 5.1
Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung – 215
5.1.1 Schwellen – 216 5.1.2 Sensorische Adaptation
– 219
5.2
Sehen – 221
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Reizinput Lichtenergie – 222 Auge – 223 Visuelle Informationsverarbeitung – 227 Farbensehen – 231
5.3
Hören
– 235
5.3.1 Reizinput Schallwellen – 236 5.3.2 Ohr – 237 5.3.3 Schwerhörigkeit und Gehörlosenkultur – 240
5.4
Andere wichtige Sinne – 245
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Tastsinn – 245 Geschmackssinn – 250 Geruchssinn – 251 Lage und Bewegung des Körpers im Raum – 254
Andere Kulturen, andere Perspektiven »Vielleicht scheint meine Sonne nicht so wie eure. Die Farben, die meine Welt erstrahlen lassen, das Blau des Himmels, das Grün der Felder, stimmen vielleicht nicht genau mit denen überein, an denen du dich erfreust; aber für mich sind es dennoch Farben. Die Sonne scheint nicht für meine physischen Augen; und weder blitzt der Bllitz auf noch werden die Bäume im Frühling grün: Doch deswegen haben sie nicht aufgehört zu existieren; ebensowenig wie die Landschaft verschwindet, wenn du ihr den Rücken zuwendest.
Ich begreife, wie sich karminrot und scharlachrot unterscheiden, weil ich weiß, dass eine Orange nicht so wie eine Grapefruit riecht. Ich kann mir auch eine Vorstellung davon machen, dass es bei Farben Farbtöne gibt, und kann erraten, was Farbtöne sind ... Gerüche bestimmter Arten von Gras lassen für meine Sinne genauso nach, wie bestimmte Farben für dich in der Sonne verblassen. Ich nutze Analogien wie die eben Erwähnte, um meine Vorstellungswelt von Farben zu erweitern. Einige von mir geschaffene Analogien
zwischen den Eigenschaften einer Oberfläche und einer Vibration, zwischen den Eigenschaften eines Geschmacks und eines Geruchs leite ich von anderen Analogien zwischen Sehen, Hören und Tasten ab. Dies ermutigt mich darin, dass ich mit dem Versuch fortfahre, den Unterschied zwischen Auge und Hand zu überwinden.«
Helen Keller und Roger Shattuck (2004). The world I live in. Before the soul dawn. New York: New York Review of Books Classics.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Wahrnehmung: Sinnesorgane > Rund um die Uhr wird unser Körper von der Außenwelt mit Reizen konfrontiert. Gleichzeitig befindet sich unser Gehirn in einer stillen, abgeschirmten inneren Welt in völliger Dunkelheit. Ohne Verbindung nach außen sieht es nichts. Es hört nichts, und es fühlt auch nichts. Das wirft eine Frage auf, die Tausende von Jahren älter ist als die Psychologie und zur Entwicklung der Psychologie vor mehr als einem Jahrhundert beigetragen hat: Wie gelangt die äußere Welt in unser Inneres? Oder um diese Frage in moderner Begrifflichkeit zu formulieren: Wie konstruieren wir unsere Repräsentationen von der äußeren Welt? Wie aktiviert das Flackern, Knistern und der Geruch eines Lagerfeuers neuronale Verbindungen? Und wie lassen wir aus dieser lebendigen Neurochemie unsere bewusste Erfahrung der Bewegung und Temperatur des Feuers, seines Geruchs und seiner Schönheit entstehen?
5 Ziel 1: Grenzen Sie die Begriffe Empfindung und Wahrnehmung voneinander ab, und erklären Sie den Unterschied zwischen datengesteuerter (bottom-up) und konzeptgesteuerter (top-down) Verarbeitung.
Wahrnehmung (perception): Prozess, bei dem die sensorischen Informationen organisiert und interpretiert werden; dies ermöglicht uns, die Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen zu erkennen. Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende, datengesteuerte Informationsverarbeitung; bottom-up processing): Analyse, die mit den Sinnesrezeptoren beginnt und aufsteigend bis zur Integration der sensorischen Information durch das Gehirn erfolgt. Top-down-Verarbeitung (absteigende, konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung; topdown processing): Informationsverarbeitung, gesteuert durch höhere mentale Prozesse, beispielsweise wenn wir Wahrnehmungen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen interpretieren.
Was geht hier vor? Zum Verständnis der komplexen Bilder in diesem Gemälde von Bev Doolittle mit dem Titel »Der Wald hat Augen« arbeiten unsere Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse zusammen. Die Bottomup-Verarbeitung versetzt unsere Sinnesorgane in die Lage, die Linien, Umrisse und Farben aufzunehmen, welche die Pferde, den Reiter und die Umgebung bestimmen. Durch die Top-down-Verarbeitung fällt uns der Titel des Bildes auf, wir erkennen den ängstlichen Gesichtsausdruck des Reiters und lenken dann unsere Aufmerksamkeit auf Aspekte des Gemäldes, die diesen Beobachtungen eine Bedeutung geben
Um die Welt in unserem Kopf zu repräsentieren, müssen wir physikalische Energie aus unserer Umwelt aufnehmen und sie dann zu neuronalen Signalen enkodieren. Hier handelt es sich um einen Vorgang, der traditionell als Empfindung bezeichnet wird. Anschließend treffen wir eine selektive Auswahl unter unseren sensorischen Eingangsinformationen, organisieren und interpretieren sie; das ist ein Vorgang, der traditionell als Wahrnehmung bezeichnet wird. In diesem und im folgenden Kapitel wollen wir diesen Prozess langsam ablaufen lassen, um die einzelnen Vorgänge klarer zu sehen. Wir wollen bei den Sinnesrezeptoren beginnen und uns bis auf die höheren Ebenen der Verarbeitung der Sinneseindrücke begeben. Psychologen bezeichnen die Analyse der Sinneseindrücke, die auf der Eingangsebene beginnt, als Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende oder datengesteuerte Informationsverarbeitung). In 7 Kap. 6 werden wir uns hauptsächlich damit beschäftigen, wie unser Denken das von unseren Sinnen Erkannte interpretiert. Wie . Abb. 5.1 zeigt, kommen unsere Wahrnehmungen sowohl durch die Sinneseindrücke zustande, die von der Eingangsebene zu unserem Gehirn aufsteigen (Bottom-up-Verarbeitung), als auch durch deren Interpretation anhand unserer Erfahrungen und Erwartungen, einen Prozess, den die Psychologen als Top-downVerarbeitung (absteigende oder konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung) bezeichnen.
»The forest has eyes« von Bev Doolittle, The Grenwich Workshop, Inc.
Empfindung (sensation): Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt empfangen und darstellen.
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5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
Fehler bei der Wahrnehmung können irgendwo zwischen der Aufnahme der Sinnesreize und der Interpretation der Wahrnehmung auftreten. Nach Verlust eines Temporallappenareals, das für das Erkennen von Gesichtern eine wichtige Rolle spielt, leidet die Patientin »E. H.« beispielsweise an einer Krankheit, die Prosopagnosie (Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen) genannt wird. Ihre sensorischen Fähigkeiten sind vollständig vorhanden, aber ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist eingeschränkt. Sie kann die visuelle Information aufnehmen, d. h. die Gesichtszüge einer Person genau beschreiben, aber sie ist nicht in der Lage, die Gesichter wiederzuerkennen. Sieht sie ein unbekanntes Gesicht, zeigt sie keine Reaktion. Wird ihr ein bekanntes Gesicht gezeigt, reagiert ihr autonomes Nervensystem darauf mit messbarer Schweißbildung. Trotzdem erkennt sie nicht, wer die Person ist. Wird ihr ihr eigenes Gesicht im Spiegel gezeigt, löst auch das Ratlosigkeit bei ihr aus. Aufgrund ihres Hirnschadens kann sie nicht »top-down« verarbeiten, d. h. sie kann keine Verbindung zwischen ihrem gespeicherten Wissen und dem sensorischen Input herstellen.
5.1
Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
Die von der Natur angelegte sensorische Ausstattung der Arten passt zu den Bedürfnissen des jeweiligen Rezipienten. Sie befähigt jeden Organismus dazu, an die Informationen heranzukommen, die er benötigt. Hier einige Beispiele: 4 Ein Frosch, der sich von fliegenden Insekten ernährt, hat Augen, die mit Rezeptorzellen ausgestattet sind, die nur auf kleine, dunkle Objekte in Bewegung reagieren. Ein Frosch könnte also verhungern, obwohl er bis zu den Knien in unbeweglichen Fliegen steht. Aber fliegt nur eine davon an ihm vorbei, schalten die »Fliegendetektor«-Zellen des Froschs auf Alarm. 4 Männliche Seidenraupenmotten besitzen Rezeptoren, die so empfindlich auf den Geruch des weiblichen Sexualsekrets reagieren, dass eine einzige weibliche Seidenraupenmotte nur ein Milliardstel Gramm dieses Stoffes pro Sekunde absondern muss, um jede männliche Seidenraupenmotte im Umkreis von einem Kilometer anzulocken. Deshalb gibt es heute auch immer noch Seidenraupen.
. Abb. 5.1. Empfindung und Wahrnehmung: Ein kontinuierlicher Prozess
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
4 Wir sind ganz ähnlich angelegt, d. h. wir nehmen nur das wahr, was für uns zu den wichtigen Merkmalen unserer Umwelt zählt. Unsere Ohren reagieren am empfindlichsten auf Schallfrequenzen, die den Lauten der menschlichen Stimme und dem Schrei eines Babys entsprechen. Wir beginnen unsere Erkundungsreise in das Gebiet der sensorischen Ausstattung mit Fragen, die unser gesamtes Wahrnehmungssystem betreffen. Welche Reize überschreiten die Schwelle zur aktiven Bewusstheit? Können wir, ohne dass wir es bemerken, durch unterschwellige (subliminale) Reize beeinflusst werden, die zu schwach sind, um sie wahrzunehmen? Warum sind wir uns der Reize nicht bewusst, die sich nicht verändern (wie etwa der Uhr, die sich an unser Handgelenk schmiegt)?
5.1.1 Schwellen
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Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen absoluter Schwelle und Unterschiedsschwelle, und erörtern Sie, ob wir Reize, die unterhalb unserer absoluten Schwelle liegen, wahrnehmen und ob wir von ihnen beeinflusst werden können.
Wir leben in einem Meer von Energie. Genau in diesem Moment werden Sie und ich von Röntgenstrahlen, Radiowellen, UV- und Infrarotlicht sowie Schallwellen sehr hoher und sehr niedriger Frequenz getroffen. Für all diese Frequenzen sind wir blind und taub. Andere Tiere sind in der Lage, eine Welt wahrzunehmen, die jenseits der menschlichen Erfahrung liegt (Hughes 1999). Vögel benutzen beispielsweise ihren magnetischen Kompass. Fledermäuse und Delphine orten ihre Beute mit Sonar (durch Entfernungseinschätzung der vom Objekt zurückgeworfenen Schallwellen). An bewölkten Tagen orientieren sich die Bienen mit Hilfe des polarisierten Lichts einer (für uns in dem Moment) unsichtbaren Sonne. Unsere Sinne scheinen mit Rollläden versehen zu sein, die nur einen winzigen Spalt geöffnet sind und nur eine beschränkte Wahrnehmung dieser ungeheuren Energiemenge zulassen. Die Psychophysik beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dieser physikalischen Energie und wie wir sie psychisch erleben. Welche Reize können wir wahrnehmen? Wie hoch muss die Reizstärke sein? Wie empfindlich reagieren wir auf sich verändernde Stimulation?
Psychophysik (psychophysics): Untersuchung der Beziehungen zwischen den physikalischen Merkmalen von Reizen, z. B. Reizintensität, und unserem psychischen Erleben dieser Reize. Absolute Schwelle (absolute threshold): Mindeststimulation, die erforderlich ist, um einen bestimmten Reiz in mindestens 50% der Fälle wahrzunehmen. Signaldetektionstheorie (Signalentdeckungstheorie; signal detection theory): Theorie, die vorhersagt, wie und wann wir das Vorhandensein eines schwachen Reizes (»Signal«) unter Hintergrundstimulation (»Lärm«) wahrnehmen; geht davon aus, dass es keine feste absolute Schwelle gibt, sondern dass die Signalwahrnehmung teilweise von der Erfahrung, den Erwartungen, der Motivation und dem Grad an Müdigkeit der jeweiligen Person abhängt.
Absolute Schwellen
George Hall/Corbis
Auf manche Reize reagieren wir höchst empfindlich. Wenn wir in einer stockdunklen, klaren Nacht auf dem Gipfel eines Berges stehen, könnten die meisten von uns bei normal ausgeprägten Sinnen ein Kerzenlicht auf einem 45 km entfernten Berg erkennen. Wir könnten es spüren, wenn uns der Flügel einer Biene an der Wange berührt. Wir können sogar einen einzigen Tropfen Parfüm in einer Dreizimmerwohnung riechen (Galanter 1962). Unser Bewusstsein für diese schwachen Reize illustriert, was eine absolute Schwelle ist, d. h. die minimale Stimulation, die notwendig ist, um ein bestimmtes Licht, einen bestimmten Schall, Druck, Geschmack oder Geruch in mindestens 50% aller Fälle wahrzunehmen. Um Ihre absolute Schwelle für Geräusche und Töne zu testen, würde ein Gehörspezialist Ihre beiden Ohren jeweils Tönen variierender Lautstärke aussetzen. Für jeden Ton würde der Test die Lautstärke ermitteln, bei der Sie in der Hälfte aller Fälle das Geräusch korrekt wahrnehmen, in der anderen jedoch nicht. Für jeden Ihrer Sinne legt dieser 50/50-Punkt die absolute Schwelle fest.
Signaldetektion Wie schnell würden Sie wohl das Radarsignal eines sich nähernden Objekts bemerken? Ziemlich schnell, wenn: 1. Sie das Objekt erwarten, 2. es wichtig ist, dass Sie es entdecken, und 3. Sie aufmerksam sind
Signaldetektion Unsere Fähigkeit, einen schwachen Reiz oder ein schwaches Signal wahrzunehmen, hängt nicht allein von der Signalstärke ab (wie der Ton bei einem Hörtest), sondern auch von unserem seelischen Zustand – unseren Erfahrungen und Erwartungen, unserer Motivation, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Die Signaldetektionstheorie (SDT) dient zur Voraussage, wann wir schwache Signale noch wahrnehmen, und zwar durch Ermittlung der Trefferrate im Verhältnis zu den Fehlalarmen. Wissenschaftler, die sich mit der SDT beschäftigen, versuchen zu verstehen, warum Menschen auf denselben Reiz unterschiedlich reagieren und warum die Reaktionen derselben
217 5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
Person bei veränderten Umgebungsbedingungen unterschiedlich sind. Erschöpfte Eltern eines Neugeborenen nehmen das leiseste Wimmern aus dem Kinderbettchen war, nicht jedoch lautere, unwichtige Geräusche. Auch in angsterfüllten Kriegszeiten, in denen das Nichtbemerken eines Eindringlings den Tod bedeuten kann, nimmt die Reaktionsbereitschaft zu. Ein einzelner Soldat oder Polizist im Irak, der bei Nacht in dem Bewusstsein Wache steht, dass viele seiner Kameraden getötet wurden, wird wahrscheinlich eher dazu neigen, auch ein kaum wahrnehmbares Geräusch zu bemerken – und in dessen Richtung zu feuern. Eine derart gesteigerte Reaktionsbereitschaft geht mit einer größeren Anzahl von Fehlalarmen einher, wie dies der Fall war, als das amerikanische Militär auf einen sich nähernden Wagen feuerte, der eilends eine italienische Journalistin in Freiheit bringen wollte; dabei wurde ein italienischer Geheimdienstoffizier getötet, der sie aus der Geiselhaft befreit hatte. In Friedenszeiten, wenn das Leben nicht ständig bedroht ist, würde ein stärkeres Signal erforderlich sein, damit dieselben Soldaten Gefahr wittern. Die Signalentdeckung kann auch eine Frage von Leben oder Tod sein, beispielsweise wenn Menschen Waffen auf dem Bildschirm einer Sicherheitskontrolle am Flughafen finden sollen, Patienten einer Intensivstation mit Hilfe eines Monitor überwachen sollen oder Radarsignale entdecken sollen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Fähigkeit von Personen, ein schwaches Signal wahrzunehmen, nach 30 Minuten nachlässt. Doch diese Reaktionsabnahme hängt von der Art der Aufgabe ab, von der Tageszeit und sogar von der Frage, ob die Teilnehmer diese Aufgabe in regelmäßigen Abständen üben (Warm u. Dember 1986). Auch die Erfahrung ist ein wichtiger Faktor. Zehn Stunden lang ein von Action dominiertes Bildschirmspiel zu spielen – nach Eindringlingen zu suchen und sofort zu reagieren –, ließ die Fertigkeiten im Bereich der Signalentdeckung bei unerfahrenen Spielern besser werden (Green u. Bavelier 2003; 7 Kap. 15 zu den weniger positiven sozialen Auswirkungen gewalthaltiger Bildschirmspiele).
Subliminale Stimulation Im Jahre 1956 gab es in den gesamten USA heftige Diskussionen über einen Bericht, der sich hinterher als falsch herausstellte und nach dem in New Jersey Kinobesucher ohne ihr Wissen angeblich dadurch beeinflusst würden, dass auf der Leinwand für sie nicht wahrnehmbare Botschaften wie »Trink Coca-Cola« und »Iss Popcorn« eingeblendet wurden (Pratkanis 1992). Viele Jahre später brach die Diskussion erneut aus. Es wurde behauptet, Aufnahmen von Rockmusik enthielten »satanische Botschaften«, die man hören könne, wenn die Aufnahmen rückwärts abgespielt würden, und die auch beim normalen Hören den unwissenden Hörer unbewusst beeinflussen könnten (Vokey 2002). In der Hoffnung, in unser Unbewusstes einzudringen, kommen Firmen mit Tonbändern auf den Markt, die uns helfen sollen, abzunehmen, mit dem Rauchen aufzuhören und unser Gedächtnis zu verbessern. Auf diesen Tonbändern ist ein leises Meeresrauschen zu hören, das unhörbare Botschaften wie »Ich bin dünn«, »Rauch schmeckt scheußlich« oder »Ich bin immer gut in Prüfungen; ich erinnere mich an alles« überdeckt. Derartige Behauptungen gehen von zwei Annahmen aus: 4 Wir nehmen unterbewusst subliminale (»unterschwellige«) Reize wahr. 4 Diese Stimuli üben auf uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, eine außerordentlich starke Suggestionskraft aus. Können wir sie wahrnehmen? Haben sie diese Macht über uns? Können wir Reize unter unseren absoluten Schwellen empfinden? Die Antwort lautet eindeutig ja. Erinnern Sie sich daran, dass die absolute Schwelle nur den Punkt darstellt, an dem wir den Stimulus in der Hälfte aller Fälle wahrnehmen (. Abb. 5.2). Direkt an oder unter dieser Schwelle spüren wir den Reiz auch manches andere Mal. Zur weiteren Bestätigung hier noch ein Beispiel: Wenn Personen gebeten werden, ein Wahrnehmungsurteil abzugeben, und behaupten, absolut keine Ahnung zu haben,– beispielsweise, wenn sie entscheiden sollen, welches von zwei Gewichten schwerer ist –, liegen sie häufiger richtig, als nach dem Zufallsprinzip zu erwarten wäre. Manchmal wissen wir also mehr, als wir glauben. Können wir von Reizen beeinflusst werden, die so schwach sind, dass sie unbemerkt bleiben? Unter bestimmten Bedingungen lautet die Antwort auf die-
Probieren Sie einmal dieses uralte Rätsel mit verschiedenen Freunden aus. »Du fährst einen Bus mit 12 Fahrgästen. An der ersten Haltestelle steigen 6 Fahrgäste aus. An der zweiten Haltestelle steigen 3 aus. An der dritten Haltestelle steigen noch einmal 2 aus, aber 3 neue Passagiere steigen zu. Welche Augenfarbe hat der Busfahrer?« Entdecken Ihre Freunde das Signal, wer der Busfahrer ist, trotz des ganzen »Tohuwabohus« drum herum?
Subliminal (subliminal): unter der absoluten Schwelle der bewussten Wahrnehmung eines Menschen liegend. Priming (priming): oft unbewusste Aktivierung bestimmter Assoziationen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die Reaktion in bestimmter Weise empfänglich gemacht.
. Abb. 5.2. Absolute Schwelle Rieche ich es oder nicht? Wenn ein Stimulus in weniger als 50% der Fälle wahrnehmbar ist, wird er »subliminal« genannt. Die absolute Schwelle ist die Reizstärke, bei der wir einen Stimulus in der Hälfte der Fälle wahrnehmen können
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
se Frage ja. Ein nicht sichtbares Bild oder Wort kann als kurzer Prime (Vorreiz) Ihre Antwort auf eine später gestellte Frage beeinflussen. Bei einem typischen Experiment blitzt das Bild oder das Wort kurz auf und wird dann durch einen »maskierenden« Reiz ersetzt, der noch vor der bewussten Wahrnehmung die Verarbeitung des ersten Reizes im Gehirn unterbricht. Beispielsweise wurden in einem Experiment emotional positiv erlebte Szenen (kleine Kätzchen oder ein Liebespaar) oder emotional negativ erlebte (ein Werwolf oder eine Leiche) einen Augenblick vorher subliminal kurz eingeblendet, bevor den Teilnehmern Dias von Personen gezeigt wurden (Krosnick et al. 1992). Obwohl die Teilnehmer bewusst nur einen Lichtblitz wahrnahmen, beurteilten sie die Menschen positiver, deren Fotos im Zusammenhang mit positiven Szenen gezeigt worden waren. Die Leute sahen irgendwie netter aus, wenn sie auf nicht wahrgenommene Kätzchen folgten als auf einen nicht wahrgenommenen Werwolf. Dieses Experiment veranschaulicht auch einen faszinierenden Gesichtspunkt des PrimingEffekts. Manchmal spüren wir, was wir nicht wissen und nicht beschreiben können. ! Wir können Information verarbeiten, ohne uns ihrer bewusst zu sein. Ein unmerklicher kurzer Reiz löst eine schwache Reaktion aus, die man mit Hilfe bildgebender neurologischer Verfahren aufdecken kann (Blankenburg et al. 2003). Diese schwache Reaktion im Gehirn kann ein Gefühl auslösen, jedoch keine bewusste Wahrnehmung des Stimulus.
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Subliminale Überzeugung? Obwohl subliminale Reize Menschen tatsächlich leicht beeinflussen können, haben Tests gezeigt, dass Versuche, mit subliminalen Botschaften in der Werbung und zur Selbstkontrolle das Verhalten von Personen zu verändern, fehlgeschlagen sind. (Die Botschaft dieses Bildes ist jedoch nicht subliminal – denn Sie können sie ja wahrnehmen.)
C. Styrsky
»Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.« Blaise Pascal (»Pensées IV«, 1670)
»Nein, das ist keine Schikane, sondern ein subliminales Signal, das deinem Wahrnehmungshorizont für Ordnung entspricht.«
Dieses subliminale Priming-Phänomen ist ein weiterer empirischer Hinweis auf die Kraft der Intuition (Myers 2002). Die Schlussfolgerung, die Sie sich merken sollten: Ein Großteil unserer Informationsverarbeitung erfolgt automatisch, ohne dass wir es bemerken, jenseits des Radarschirms unseres Bewusstseins. Ist nun aber die Tatsache des subliminalen Wahrnehmens ein Beleg dafür, dass wir zu kommerziellen Zwecken subliminal überzeugt werden können? Können Werbefirmen uns tatsächlich mit »versteckter Überzeugung« manipulieren? Psychologen sind einhellig der Meinung, dass dem nicht so ist. Ihr Urteil gleicht dem der Astronomen über die Astrologen, die zugeben: Ja, es ist richtig, dass es dort draußen Sterne und Planeten gibt, aber es ist nicht richtig, dass diese Himmelskörper einen direkten Einfluss auf uns ausüben. Laboruntersuchungen lassen einen leichten, vorübergehenden Effekt erkennen. Werden durstige Menschen dem subliminalen Prime-Wort »Durst« ausgesetzt, kann das also ein durststillendes Getränk für diese Personen für kurze Zeit attraktiver machen (Strahan et al. 2002). Doch die Werbepäpste mit ihren subliminalen Tonbändern behaupten etwas ganz anderes: nämlich einen starken, anhaltenden Effekt auf unser Verhalten. Um zu überprüfen, ob kommerziell eingesetzte subliminale Tonbänder oder SuperlearningKassetten einen anderen Effekt als ein Plazebo haben – den Effekt, an den wir glauben –, teilten Greenwald et al. (1991) Studierende nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die Teilnehmer mussten sich 5 Wochen lang kommerziell vertriebene subliminale Tonbänder anhören, von denen behauptet wurde, dass sie entweder das Selbstwertgefühl oder das Gedächtnis besser werden ließen. Bei der Hälfte der Bänder trieben sie einen folgenreichen Schabernack, indem sie die Etiketten austauschten. Einige Studierende dachten, sie würden jetzt eine Steigerung ihres Selbstwertgefühls verspüren, obwohl sie in Wirklichkeit die Tonbänder hörten, die das Gedächtnis verbessern sollten. Andere bekamen das Band zur Hebung des Selbstwertgefühls, dachten aber, dass ihr Gedächtnis verbessert werden sollte. Hatten die Tonbänder irgendwelche Auswirkungen? Bei den Testwerten der Studierenden, die vor dem Hören der Bänder und nach 5 Wochen erhoben worden waren, zeigten sich sowohl in Bezug auf das Selbstwertgefühl als auch auf das Gedächtnis keine Effekte. Und trotzdem meinten diejenigen, die dachten, sie hätten sich ein Tonband zur Gedächtnisaufbesserung angehört, ihr Gedächtnis sei besser geworden. Ein ähnliches Ergebnis fand man bei denen, die dachten, sie hätten sich ein Tonband zur Verbesserung des Selbstwertgefühls angehört. Die Tonbänder hatten keine Auswirkungen, doch die Studierenden nahmen bei sich selbst wahr, dass sie den Nutzen gehabt hätten, den sie erwarteten. Wenn man von dieser Studie liest, meint man, das Echo der Lobeshymnen zu hören, von denen die Kataloge der Versandhäuser für diese Tonbänder voll sind. Einige Kunden, die etwas kauften, was man angeblich nicht hören kann (und was sie tatsächlich
219 5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung
auch nicht gehört haben), offerieren Anpreisungen wie: »Ich weiß, Ihre Bänder hatten einen unschätzbaren Wert, um meinen Kopf umzuprogrammieren.« Über ein Jahrzehnt hinweg führte Greenwald Doppelblind-Experimente durch, bei denen subliminale Selbsthilfe-Tonbänder einer Überprüfung unterzogen wurden. Seine Ergebnisse stimmten in einem überein: Nicht eins hatte einen therapeutischen Effekt. Seine Schlussfolgerung lautete: »Der Wert von subliminalen Verfahren für den Marketingeinsatz hat sich als äußerst gering bzw. als gleich Null erwiesen.« ! Subliminale Botschaften können uns nicht manipulieren.
Unterschiedsschwellen Um effektiv zu funktionieren, brauchen wir absolute Schwellen, die niedrig genug sind, um wichtige Dinge zu sehen und wichtige Geräusche, Oberflächenstrukturen, Geschmäcker und Gerüche zu erkennen. Wir müssen aber auch kleine Unterschiede zwischen diesen Reizen ausmachen können. Ein Musiker muss beim Stimmen seines Instruments minimale Tonunterschiede bemerken. Ein Weinverkoster muss leichte Geschmacksunterschiede zwischen zwei Spitzenweinen erkennen. Eltern müssen den Klang der Stimme ihres eigenen Kindes inmitten anderer Kinderstimmen hören können. Die Unterschiedsschwelle ist der eben noch merkliche Unterschied, den ein Mensch in der Hälfte aller Fälle zwischen zwei Reizen ausmachen kann. Die Unterschiedsschwelle nimmt mit der Intensität des Reizes zu. Wenn Sie z. B. zu einem Gewicht von 100 g noch 10 g hinzugeben, merken Sie den Unterschied. Geben Sie hingegen 10 g zu 1 kg hinzu, merken Sie den Unterschied nicht, da die Unterschiedsschwelle zugenommen hat. Vor mehr als einem Jahrhundert stellte Ernst Weber fest, dass sich zwei Reize unabhängig von ihrer Stärke in einem konstanten Verhältnis unterscheiden müssen, damit der Unterschied zwischen ihnen wahrnehmbar ist. Dieses Prinzip – dass die Unterschiedsschwelle keine konstante Größe ist, sondern ein konstantes Verhältnis zwischen zwei Reizen – ist so einfach und so umfassend anwendbar, dass wir es immer noch als Weber’sches Gesetz bezeichnen. Das genaue Verhältnis variiert je nach Reiz. Damit wir einen Unterschied wahrnehmen, müssen sich für Menschen zwei Lichtquellen beispielsweise durchschnittlich um 8% in der Lichtintensität unterscheiden, zwei Gewichte müssen einen Gewichtsunterschied von 2% und zwei Töne eine unterschiedliche Tonfrequenz von nur 0,3% aufweisen (Teghtsoonian 1971). Das Weber’sche Gesetz ist eine grobe Approximation. Es lässt sich gut auf nicht extreme Sinnesreize und manche unserer alltäglichen Lebenserfahrungen anwenden. Wenn der Preis für einen Schokoriegel, der 1 Euro kostet, um 10 Cent ansteigt, merken die Käufer möglicherweise den Unterschied. Beim Kauf eines 60.000 EUR teuren Mercedes muss der Preis schon um 6000 EUR ansteigen, damit potenzielle Käufer anfangen, ihre Stirn in Falten zu legen. In beiden Fällen ist der Preis um 10% gestiegen. Gemäß des Weber’schen Gesetzes stehen also unsere Schwellen für die Entdeckung von Unterschieden in einem konstanten Verhältnis zur Größe des Ausgangsreizes.
Unterschiedsschwelle (difference threshold; just noticeable difference; jnd): minimaler Unterschied zwischen zwei Reizen, der erforderlich ist, damit er in 50% der Fälle erkannt wird. Wir erleben die Unterschiedsschwelle als den eben noch merklichen Unterschied. Weber’sches Gesetz (Weber’s law): Prinzip, das besagt, dass sich zwei Reize um einen konstanten minimalen Prozentsatz (und nicht um einen konstanten Absolutbetrag) unterscheiden müssen, damit der Unterschied zwischen ihnen wahrgenommen wird.
Die Unterschiedsschwelle In dieser vom Computer erzeugten Fassung des 23. Psalms verändert sich die Schriftgröße in jeder Zeile unmerklich. Wie viele Zeilen sind nötig, bis Sie einen eben merklichen Unterschied feststellen?
5.1.2 Sensorische Adaptation Ziel 3: Beschreiben Sie die sensorische Adaptation, und erklären Sie, welchen Nutzen wir daraus ziehen, dass wir uns der Reize nicht bewusst sind, die sich nicht verändern.
Sie kommen in das Wohnzimmer Ihrer Nachbarn und riechen einen muffigen Geruch. Sie wundern sich, wie Ihre Nachbarn ihn aushalten können, doch schon nach wenigen Minuten fällt er Ihnen selbst nicht mehr auf. Wenn Sie in ein Schwimmbecken springen, kommt Ihnen das Wasser zunächst kalt vor und Sie bibbern. Wenig später kommt ein Freund an den Beckenrand, und Sie rufen ihm zu: »Los, komm rein! Das Wasser ist ganz toll!« All das sind Beispiele für sensorische Adaptation, unsere abnehmende Empfindlichkeit auf einen gleichbleibenden Reiz. (Um dieses Phänomen nachzuempfinden, verschieben Sie Ihre Armbanduhr einfach um ein paar Zentimeter an Ihrem Handgelenk. Sie spüren sie, aber nur ein paar Augenblicke lang.) Setzt man Menschen einem konstanten Reiz aus, nimmt die Häufigkeit der Reizimpulse ab, die von den Nervenzellen weitergeleitet werden.
Sensorische Adaptation (sensory adaptation): verminderte Sensibilität als Folge konstanter Stimulation.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
»Wir müssen vor allem Veränderungen erkennen; niemand will oder muss 16 Stunden am Tag daran erinnert werden, dass er Schuhe anhat.« Der Neurowissenschaftler David Hubel (1979)
Bei 9 von 10 Menschen – aber interessanterweise nur bei 1 von 3 Schizophreniepatienten – hört das Augenflattern auf, wenn das Auge einem sich bewegenden Objekt folgt (Holzman u. Matthysse 1990).
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»Mein Verdacht ist, dass das Universum nicht nur sonderbarer ist, als wir annehmen, sondern sonderbarer, als wir in der Lage sind anzunehmen.« J. B. S. Haldane (»Possible Worlds«, 1927)
Ein Gegenstand, den wir starr anstarren, müsste mit der Zeit aus unserem Gesichtsfeld verschwinden. Warum ist das aber nicht so? Weil wir, ohne es zu merken, unsere Augen ständig bewegen. Diese schnellen Augenbewegungen, sog. Sakkaden, sorgen dafür, dass sich die Stimulation der Rezeptoren in den Augen ständig verändert. Was würde jedoch passieren, wenn wir der Bewegung unserer Augen tatsächlich Einhalt gebieten könnten, würden sich dann die Bilder auflösen, wie es die Gerüche scheinbar tun? Um das herauszufinden, haben Psychologen geniale Instrumente erfunden, um ein konstantes Bild auf der Netzhaut, der inneren Oberfläche des Auges, beizubehalten. Stellen Sie sich vor, wir hätten eine Versuchsteilnehmerin namens Anne mit einem dieser Instrumente ausgestattet – einer Art Miniprojektor, der auf einer Kontaktlinse befestigt ist (. Abb. 5.3a). Wenn sich Annes Augen bewegen, bewegt sich das vom Projektor erzeugte Bild ebenfalls mit. Egal wohin sie schaut, sie sieht immer die gleiche Szene. Was sieht Anne wohl, wenn wir nun das Profil eines Gesichts mit Hilfe eines solchen Instrumentes projizieren? Zuerst sieht sie das komplette Profil. Doch innerhalb von wenigen Sekunden beginnen ihre Sinnesrezeptoren zu ermüden und seltsame Dinge geschehen. Stück um Stück löst sich das Bild auf, taucht dann wieder auf und verschwindet wieder, in erkennbaren Fragmenten oder als Ganzes (. Abb. 5.3b). Interessanterweise erfolgt das Verschwinden und Wiedererscheinen eines Bildes in sinnvollen Einheiten. Wenn einer Person ein Wort gezeigt wird, verschwindet es nach kurzer Zeit, danach tauchen neue Wörter auf, die aus Teilen des alten Worts bestehen, und verschwinden dann wieder. Dieses Phänomen illustriert im Vorgriff die wichtigste Schlussfolgerung von 7 Kap. 6: Wir organisieren unsere Wahrnehmungen nach den Bedeutungen, die unser Verstand ihnen beimisst. Zwar verringert die sensorische Adaptation unsere Sensibilität, doch sie bietet uns auch einen entscheidenden Vorteil: Sie versetzt uns in die Lage, uns auf informative Veränderungen in unserer Umgebung zu konzentrieren, ohne uns von der nicht informativen konstanten Stimulation durch Kleider, Gerüche und Straßenlärm ablenken zu lassen. ! Unsere Sinnesrezeptoren reagieren aufmerksam auf alles Neue. Langweilen wir sie mit Wiederholungen, geben sie unsere Aufmerksamkeit für wichtigere Dinge frei. Damit bestätigt sich wieder das grundlegende Prinzip: Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern wie es für uns nützlich ist, sie wahrzunehmen.
Unsere Sensibilität für eine sich verändernde Stimulation hilft uns, die Macht des Fernsehens zu verstehen, die unsere Aufmerksamkeit derartig fesselt. Schnitte, Überblendungen, Nahaufnahmen, Schwenke und plötzliche Geräusche verlangen Aufmerksamkeit. Selbst Forscher, deren Spezialgebiet das Fernsehen ist, wundern sich darüber, wie viel Aufmerksamkeit das Fernsehen auch bei ihnen selbst auf sich zieht. So gibt der Medienforscher Tannenbaum (2002) freimütig zu, dass er bei höchst interessanten Gesprächen nicht umhin könne, zumindest ab und zu mal kurz zum Bildschirm zu schauen. Die sensorischen Schwellen und die sensorische Adaptation sind nicht die einzigen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Sinnesmodalitäten. Alle Sinne empfangen sensorische Reize, die sie in neuronale Informationen umwandeln, die dann ans Gehirn weitergeleitet werden. Wie funk-
. Abb. 5.3a,b. Sensorische Anpassung: Mal sieht man es, mal ist es weg! a Ein auf eine Kontaktlinse montierter Projektor lässt das projizierte Bild mit dem Auge mitwandern. b Anfangs sieht die Versuchsperson das stabilisierte Bild, doch bald darauf sieht sie Fragmente davon verschwinden und wieder auftauchen. (Aus Pritchard 1961)
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221 5.2 · Sehen
tionieren die Sinne? Wie sehen wir? Wie hören wir? Wie riechen wir? Wie tasten wir? Wie empfinden wir Schmerz? Wie halten wir das Gleichgewicht? Beginnen wir mit dem Sehen, dem Sinn, den die Menschen am meisten schätzen. Lernziele Abschnitt 5.1 Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung Ziel 1: Grenzen Sie die Begriffe Empfindung und Wahrnehmung voneinander ab, und erklären Sie den Unterschied zwischen datengesteuerter (bottom-up) und konzeptgesteuerter (top-down) Verarbeitung. Empfindung ist der Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren und das Nervensystem Reizenergien aus der Umwelt bekommen und sie repräsentieren. Wahrnehmung ist der Prozess, durch den wir diese Informationen organisieren und interpretieren. Obwohl wir aus analytischen und deskriptiven Gründen Empfindung und Wahrnehmung als voneinander getrennt ansehen, sind beide in Wirklichkeit Bestandteile eines kontinuierlichen Prozesses. Die datengesteuerte Verarbeitung ist die sensorische Auswertung, die am Eingang der Informationen ansetzt, wenn sie von den Sinnesrezeptoren zum Gehirn strömen. Konzeptgesteuerte Verarbeitung ist eine Auswertung, die im Gehirn beginnt und dann auf weiter unten liegende Niveaus zurückgeht; dabei werden die Informationen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen gefiltert. Dadurch werden dann Wahrnehmungen hervorgerufen. Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen absoluter Schwelle und Unterschiedsschwelle, und erörtern Sie, ob wir Reize, die unterhalb unserer absoluten Schwelle liegen, wahrnehmen und ob wir von ihnen beeinflusst werden können. Jede Spezies ist ausgerüstet mit der Sensibilität, die ihr das Überleben und Fortbestehen sichert. Psychophysik ist die wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge zwischen den physikalischen Merkmalen der Reize und der Art und Weise, wie wir sie psychisch erleben. Unsere absolute Schwelle für jeden Reiz ist die minimale Stimulation, die erforderlich ist, damit wir uns dieses Reizes in 50% der Fälle bewusst sind. Die Theorie der Signaldetektion zeigt, dass unsere persön-
5.2
lichen absoluten Schwellen abhängig von der Stärke des Signals sind, aber auch von unseren Erfahrungen, Erwartungen und der eigenen Motivation und Wachsamkeit. Unsere Unterschiedsschwelle (auch als eben merklicher Unterschied bezeichnet) ist ein kaum merklicher Unterschied, den wir in 50% der Fälle erkennen. Das Weber’sche Gesetz besagt Folgendes: Damit zwei Reize von der Wahrnehmung her unterschiedlich sind, müssen sie sich durch ein konstantes Verhältnis unterscheiden (wie z. B. durch einen 2-prozentigen Unterschied im Gewicht) und nicht durch eine konstante Differenz. Versuche zum Priming-Effekt und andere Experimente zeigen, dass wir manche Informationen aus Reizen verarbeiten können, die unterhalb der absoluten Schwelle für Bewusstheit liegen. Aber die eingeschränkten Bedingungen, unter denen dies geschieht, würden skrupellose Opportunisten nicht in die Lage versetzen, uns mit subliminalen Botschaften zu verführen. Ziel 3: Beschreiben Sie die sensorische Adaptation, und erklären Sie, welchen Nutzen wir daraus ziehen, dass wir uns der Reize nicht bewusst sind, die sich nicht verändern. Die sensorische Adaptation besteht darin, dass bei uns die Empfindlichkeit für konstante oder alltägliche Gerüche, Töne und Berührungen geringer wird. Wir ziehen einen Nutzen aus diesem Phänomen, weil sich unsere Aufmerksamkeit auf Informationsveränderungen bei der Stimulation konzentriert und nicht auf die Elemente in unserer Umwelt, die sich nicht verändern. > Denken Sie weiter: Können Sie einige Beispiele von sensorischer Adaptation nennen, die Sie in den letzten Tagen erlebt haben?
Sehen
Ziel 4: Definieren Sie Transduktion, und geben Sie an, welche Form von Energie unser visuelles System in neuronale Botschaften umwandelt, die unser Gehirn interpretieren kann.
Eines der größten Wunder der Natur ist weder bizarr noch liegt es in weiter Ferne, sondern es ist etwas ganz Alltägliches: Wie lässt unser materieller Körper unsere bewusste visuelle Erfahrung entstehen? Wie wandeln wir Lichtenergieteilchen in bunte Bilder um? Ein Teil unserer Genialität geht auf die Fähigkeit unseres Körpers zurück, eine Form von Energie in eine andere umzuwandeln. Die sensorische Transduktion ist der Prozess, bei dem unsere Sinnessysteme Reizenergie als neuronale Botschaften kodieren. So empfangen Ihre Augen beispielsweise Lichtenergie und vollbringen ein faszinierendes Meisterstück: Sie wandeln diese Energie in neuronale Botschaften um, die das Gehirn anschließend zu dem verarbeitet, was Sie bewusst sehen. Wie vollzieht sich dieser bemerkenswerte Prozess, den wir als selbstverständlich voraussetzen, im Einzelnen?
Transduktion (transduction): Umwandlung einer Energieform in eine andere. Im sensorischen Bereich die Umwandlung von Reizenergien (wie Sehreize, Töne und Gerüche) in Nervenimpulse, die unser Gehirn interpretieren kann.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
5.2.1 Reizinput Lichtenergie Wissenschaftlich gesprochen ist das, was auf unser Auge trifft, nicht Farbe, sondern es sind Wellen elektromagnetischer Energie, die unser visuelles System als Farbe wahrnimmt. Was wir als sichtbares Licht sehen, ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der elektromagnetischen Strahlung. Wie aus . Abb. 5.4 deutlich wird, reicht das elektromagnetische Spektrum von den für uns nicht wahrnehmbaren kurzen Wellenlängen der J-Strahlen (Gammastrahlen) über den winzigen Ausschnitt, den wir als sichtbares Licht erkennen, bis hin zu den langen Wellen der Radioübertragung. Andere Organismen verfügen über Sensibilität für andere Ausschnitte des Spektrums. So können Bienen beispielsweise kein Rot, dafür aber ultraviolettes Licht sehen (. Abb. 5.5).
. Abb. 5.5. Unterschiedliche Augen Beim Sehen befinden sich Menschen und Bienen auf unterschiedlichen Wellenlängen. Vergleichen Sie die Art und Weise, wie eine Blume vom menschlichen Auge und vom Auge einer Biene wahrgenommen wird. Die Biene erfasst die Wellenlängen des reflektierten ultravioletten Lichts und kann so das Pollen-Landefeld sehen, wo sie Nahrung findet. Für die unterschiedlichen ökologischen Nischen, die von den verschiedenen Spezies genutzt werden, ist eine Empfindlichkeit für unterschiedliche Reize erforderlich
Klaus Lunau, AG Sinnesökologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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. Abb. 5.4. Das elektromagnetische Spektrum Dieses Spektrum erstreckt sich von den J-Strahlen (Gammastrahlen), die so kurz sind wie der Durchmesser eines Atoms, bis zu den Radiowellen, die über eine Meile lang sind. Der winzige Ausschnitt von Wellenlängen, die für das menschliche Auge sichtbar sind (hier in Vergrößerung gezeigt) reicht von den kürzeren Wellen des blauvioletten Lichts bis zu den längeren Wellen des roten Lichts
223 5.2 · Sehen
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. Abb. 5.6. Physikalische Eigenschaften von Wellen a Wellen unterscheiden sich durch die Wellenlänge, d.h. den Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Wellenbergen. Die Frequenz, d.h. die Anzahl der vollständigen Wellen oder Schwingungen, die einen bestimmten Punkt pro Zeiteinheit passieren kann, hängt von der Wellenlänge ab. Je kürzer die Wellenlänge, desto höher die Frequenz. b Wellen unterscheiden sich auch durch ihre Amplitude, d. h. den Höhenunterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Die Amplitude einer Welle bestimmt die Intensität von Farben und Klängen a
b
Zwei physikalische Eigenschaften von Licht tragen dazu bei, zu bestimmen, wie wir es sensorisch erleben. Die Wellenlänge des Lichts – der Abstand zwischen den Scheiteln von zwei aufeinander folgenden Wellenbergen (. Abb. 5.6a) – bestimmt den Farbton (die Farbe, die wir wahrnehmen, wie etwa blau oder grün). Hingegen beeinflusst die Intensität oder Stärke des Lichts, d. h. die Energiemenge von Lichtwellen (die durch die Amplitude oder den Ausschlag der Welle bestimmt wird), die Leuchtkraft der Farben (. Abb. 5.6b). Um zu verstehen, wie wir physikalische Energie in Farbe und Bedeutung umwandeln, müssen wir zunächst verstehen, wie das Auge, das Fenster unseres Sehvermögens, funktioniert.
5.2.2 Auge Ziel 5: Beschreiben Sie die Hauptstrukturen des Auges, und erklären Sie, wie sie einen eintreffenden Lichtstrahl auf die Rezeptorzellen des Auges lenken.
Das Licht dringt in das Auge durch die Kornea (Hornhaut) ein, die das Auge schützt und das Licht beugt, um die Strahlen zu bündeln. Das Licht passiert dann die Pupille, eine kleine verstellbare Öffnung (. Abb. 5.7). Die Größe der Pupille und damit die Lichtmenge, die in das Auge eindringt, werden von der Iris reguliert, einem farbigen Muskel, der die Pupille umgibt. Die Iris reguliert den Lichteinfall ins Auge, indem sie die Pupille als Reaktion auf die Lichtintensität, aber auch auf die Gefühle in unserm Innern, erweitert oder verengt. Wenn wir uns verliebt fühlen, signalisieren unsere sprichwörtlich geweiteten Pupillen und somit dunklen Augen auf subtile Art unser Interesse. Aufgrund der Einzigartigkeit jeder Iris kann mit Hilfe von Irisscannern die Identität eines Menschen eindeutig festgestellt werden.
Wellenlänge (wavelength): Abstand zwischen den Scheitelpunkten von zwei aufeinander folgenden Wellen. Das Spektrum der elektromagnetischen Wellenlängen reicht von den kurzen Impulsen der kosmischen Strahlen bis zu den Langwellen, die für die Radioübertragung verwendet werden. Farbton (hue): Farbdimension, die durch die Wellenlänge des Lichts bestimmt wird und die wir als die uns bekannten Farben Blau, Grün etc. wahrnehmen. Intensität (intensity): Energiemenge von Licht oder Klangwellen, die wir als Helligkeit oder Lautstärke wahrnehmen und die von der Amplitude der Wellen abhängt. Pupille (pupil): regulierbare Öffnung in der Mitte des Auges, durch die das Licht einfällt. Iris (auch: Regenbogenhaut; engl. iris): Ring aus Muskelgewebe, der den farbigen Teil des Auges um die Pupille bildet und als Blende zur Regulierung der Pupillenöffnung fungiert.
. Abb. 5.7. Das Auge Die von einer Kerze reflektierten Lichtstrahlen fallen durch die Kornea (Hornhaut), die Pupille und die Linse in das Auge ein. Die Krümmung und die Dicke der Linse verändern sich, um jeweils ein scharfes Bild von entfernten oder nahen Gegenständen auf der Retina entstehen zu lassen. Da die durch die kleine Öffnung einfallenden Lichtstrahlen geradlinig verlaufen, treffen die Lichtstrahlen von der Spitze der Kerze auf den unteren Teil der Retina auf und die von links kommenden Lichtstrahlen auf den rechten Teil. Das auf die Retina projizierte Bild ist damit seitenverkehrt und steht auf dem Kopf
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Linse (lens): durchsichtiger Körper hinter der Pupille, der zu Scharfstellung der Bilder auf der Retina seine Form verändern kann. Akkommodation (accomodation): Anpassungsvorgang, bei dem die Augenlinse ihre Form verändert, um nahe oder entfernte Gegenstände auf der Retina scharf abzubilden. Retina (auch Netzhaut, engl. retina): lichtempfindliche innerste Schicht des Auges, in der die Stäbchen und Zapfen der Fotorezeptoren sowie Neuronenschichten enthalten sind, in denen die Verarbeitung der visuellen Information beginnt.
5 Sehschärfe (acuity): Fähigkeit zur Unterscheidung von Einzelheiten im Gesichtsfeld als Maß für das Auflösungsvermögen des Auges. Kurzsichtigkeit (auch Myopie, engl. nearsightedness): Sehanomalie, bei der Gegenstände in der Nähe schärfer gesehen werden als entfernte Objekte, da sich die einfallenden Lichtstrahlen schon vor der Netzhaut überschneiden. Weitsichtigkeit (farsightedness): Sehanomalie, bei der weit entfernte Gegenstände schärfer gesehen werden als nahe, da das Bild von nahen Objekten seinen Brennpunkt hinter der Retina hat, d. h. scharf ist.
. Abb. 5.8. a Normalsichtigkeit Lichtstrahlen laufen auf der Retina eines normalsichtigen Auges zu einem scharfen Bild zusammen. Das gilt für Objekte in der Nähe und nach entsprechender Anpassung der Linsenkrümmung auch für weit entfernte Gegenstände
Hinter der Pupille sitzt eine Linse, die die einfallenden Lichtstrahlen bündelt und auf dem lichtempfindlichen dunklen Augenhintergrund zu einem Bild vereinigt. Dazu wird die Linsenwölbung verändert, ein Vorgang, der auch Akkommodation genannt wird. Die lichtempfindliche innere Oberfläche des Augapfels, auf der die Lichtstrahlen zu einem Bild zusammengefügt werden, besteht aus einem mehrschichtigen Gewebe, der Retina (Netzhaut). Seit Jahrhunderten kennen Wissenschaftler folgendes Phänomen: Projiziert man das Bild einer Kerze durch eine kleine Öffnung auf einen dunklen Hintergrund, dann steht ihr Abbild hinter der Öffnung auf dem Kopf (wie bei . Abb. 5.7). Wenn also die Retina ein auf dem Kopf stehendes Bild empfängt, wie kommt es dann, dass wir die Welt nicht auf dem Kopf sehen? Der stets neugierige Leonardo da Vinci hatte eine Idee: Vielleicht lag es an den wässrigen Flüssigkeiten, die die Lichtstrahlen beugen und so eine erneute Umkehrung des auf dem Kopf stehenden Bildes bei Auftreffen auf der Retina erzeugen. Schließlich wies jedoch der Astronom Johannes Kepler, der sich auch mit den theoretischen Grundlagen der Optik beschäftigte, im Jahre 1604 nach, dass die Retina tatsächlich auf dem Kopf stehende Bilder von der Welt empfängt (Crombie 1964). Wie können wir aber eine solche »verkehrte« Welt verstehen? Der ratlose Kepler erwiderte darauf: »Das überlasse ich den eigentlichen Philosophen.« Die »eigentlichen Philosophen« bezogen jedoch schließlich auch die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie mit ein; denn die Psychologen hatten entdeckt, dass die Retina nicht das Bild als Ganzes liest. Vielmehr wandeln ihre Millionen von Rezeptorzellen Lichtenergie in Nervenimpulse um. Diese Impulse werden an das Gehirn weitergeleitet und dort zu einem wahrgenommenen Bild zusammengebaut, das nicht auf dem Kopf steht. Die Sehschärfe kann durch geringfügige Verformungen des Augapfels beeinträchtigt werden. Normalerweise sorgen die Kornea und die Linse dafür, dass von jedem Gegenstand ein scharfes Bild auf der Retina abgebildet wird (. Abb. 5.8a). Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) kreuzen sich jedoch durch Veränderungen des Augapfels die parallel einfallenden Lichtstrahlen von entfernten Objekten bereits vor der Netzhaut (. Abb. 5.8b). Bei Kurzsichtigkeit ist die Wahrnehmung von Gegenständen in unmittelbarer Nähe schärfer als von entfernten, aber bei extremer Kurzsichtigkeit sieht man gar nichts scharf. Dieses Sehproblem lässt sich durch eine Brille, Kontaktlinsen oder in einigen Fällen durch einen laserchirurgischen Eingriff (LASIK) korrigieren. Die Weitsichtigkeit (Hyperopie) ist das Gegenteil der Kurzsichtigkeit. In diesem Fall erreichen die Lichtstrahlen von nahen Gegenständen die Retina, bevor sie ein scharfes Bild erzeugen konnten; dies führt dazu, dass nahe Objekte verschwommen zu sein scheinen (. Abb. 5.8c). Bei Kindern wird dieses Problem durch die Akkommodationsfähigkeit des Auges in der Regel ausgeglichen, so dass sie nur in seltenen Fällen eine Brille brauchen. Allerdings können ihre Augen durch die übermäßig starke Beanspruchung der Augenmuskeln ermüden und manchmal bekommen die Kinder auch Kopfschmerzen. Personen, die nur leicht weitsichtig sind, entdecken dies meist erst im mittleren Alter in dem Maße, wie die Linse weniger flexibel wird und ihre schnelle Anpassungsfähigkeit nachlässt. Sie brauchen dann eine Brille, vor allem zum Lesen und zum Ansehen naher Objekte.
b Kurzsichtigkeit Im Auge eines kurzsichtigen Menschen bilden die gebündelten Lichtstrahlen von entfernten Gegenständen das scharfe Bild bereits vor der Retina ab. Wenn das Bild die Retina erreicht, laufen die Strahlen schon wieder so weit auseinander, dass das Bild verschwommen erscheint
c Weitsichtigkeit Im Auge eines weitsichtigen Menschen erzeugen die Lichtstrahlen das scharfe Bild eines nahen Gegenstands hinter der Retina, sodass direkt auf der Retina unscharfe Bilder entstehen
225 5.2 · Sehen
. Abb. 5.9. Reaktion der Retina auf Licht
Retina Ziel 6: Stellen Sie die beiden Arten von Rezeptorzellen in der Netzhaut einander gegenüber, und beschreiben Sie die Reaktion der Netzhaut auf Licht.
Stäbchen (rods): Fotorezeptoren auf der Retina, die Schwarz, Weiß und Grau erkennen können und für das periphere Sehen und das Sehen in der Dämmerung erforderlich sind, wenn die Zapfen nicht reagieren.
Wenn Sie einem einzelnen Lichtenergieteilchen in Ihr Auge folgen könnten, würden Sie sehen, dass es zunächst die äußere Zellschicht der Retina durchdringt und dann zu den Fotorezeptorzellen darunter, den Stäbchen und Zapfen, gelangt (. Abb. 5.9). Die auf die Stäbchen und Zapfen auftreffende Lichtenergie bewirkt chemische Veränderungen, die wiederum neuronale Signale erzeugen. Diese Signale aktivieren die benachbarten Bipolarzellen, die ihrerseits die daneben liegenden Ganglienzellen aktivieren. Die Axone aus dem Netz von Ganglienzellen laufen wie die Stränge eines Seils im Sehnerv (Nervus opticus) zusammen, von dem aus die Informationen ins Gehirn weitergeleitet werden (wo der Thalamus die Informationen entgegennimmt und verteilt). Der Sehnerv ist in der Lage, nahezu 1 Mio. Botschaften gleichzeitig zu übersenden und zwar durch fast 1 Mio. Ganglienfasern. (Der Hörnerv, der das Hören ermöglicht, kann viel weniger Informationen durch seine 30.000 Nervenfasern übermitteln). An der Stelle, an der der Sehnerv das
Sehnerv (N. opticus; optic nerve): Nerv, über den die Nervenimpulse vom Auge ins Gehirn gelangen.
E. R. Lewis, Y. Y. Zeevi, F. S. Werblin, 1969
Stabförmige Stäbchen und zapfenförmige Zapfen Wie auf dem Elektronenmikroskopbild erkennbar, tragen die Stäbchen und Zapfen ihren Namen zu Recht. Die Stäbchen sind lichtempfindlicher als die farbempfindlichen Zapfen. Das ist auch der Grund, weshalb uns die Welt bei Nacht farblos erscheint. Manche Nachttiere wie Kröten, Mäuse, Ratten und Fledermäuse besitzen eine Retina, die fast völlig aus Stäbchen besteht, weshalb sie auch bei schwachem Licht noch sehr gut sehen. Allerdings sehen diese Tiere wahrscheinlich nur sehr wenig Farben
Zapfen (cones): Fotorezeptorzellen, die insbesondere um die Mitte der Retina angesiedelt sind und die am besten bei hellem Tageslicht und bei guter Beleuchtung funktionieren. Mit Hilfe der Zapfen können feine Details unterschieden und Farben empfunden werden.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
. Abb. 5.10. Der blinde Fleck An der Stelle, an der der Sehnerv das Auge verlässt (. Abb. 5.9), gibt es keine Rezeptorzellen. Das erzeugt beim Sehen einen blinden Fleck. Hier eine kleine Demonstration: Schließen Sie das linke Auge, schauen Sie auf den Punkt und bewegen Sie dann diese Seite langsam vom Gesicht weg bis zu dem Abstand (etwa 25–40cm), bei dem das Auto plötzlich nicht mehr sichtbar ist. Beim alltäglichen Sehen behindert der blinde Fleck Ihre Sehfähigkeit nicht, weil sich die Augen ständig bewegen und das eine Auge das aufnimmt, was dem anderen entgeht
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Blinder Fleck (blind spot): Punkt der Netzhaut, an dem der Sehnerv das Auge verlässt und ein »blinder« Fleck entsteht, weil hier keine Rezeptorzellen vorhanden sind. Fovea (auch Sehgrube, engl. fovea): Punkt des schärfsten Sehens auf der Retina, um den herum die Zapfen des Auges gehäuft vorkommen.
Auge verlässt, sind keine Rezeptorzellen vorhanden, wodurch der sog. blinde Fleck entsteht (. Abb. 5.10). Die Stäbchen und die Zapfen unterscheiden sich darin, wo sie sich befinden und welche Aufgaben sie erfüllen. Die Zapfen treten gehäuft um die Fovea (Sehgrube) herum auf, den Bereich des schärfsten Sehens der Retina (. Abb. 5.7). Tatsächlich enthält die Fovea nur Zapfen und keine Stäbchen. Viele Zapfen haben eine direkte Verbindung zum Gehirn – Bipolarzellen, mit deren Hilfe die einzelnen Botschaften der Zapfen an die Sehrinde weitergeleitet werden, von der ein großer Bereich den Signalen aus der Fovea vorbehalten ist. Durch diese direkten Verbindungen bleiben die präzisen Informationen der Zapfen erhalten, die eher imstande sind, feine Einzelheiten zu unterscheiden. Bei den Stäbchen gibt es keine solche Direktschaltung. Sie teilen sich die Bipolarzellen mit anderen Stäbchen, so dass ihre einzelnen Botschaften kombiniert werden. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds in Ihrer Netzhaut: Wenn Sie sich aus diesem Satz ein Wort aussuchen und es fixieren, so dass Sie ein scharfes Bild davon auf den Zapfen Ihrer Fovea erhalten, werden Sie bemerken, dass die Wörter, die ein paar Zentimeter seitlich davon sind, verschwommen erscheinen. Dies kommt daher, dass das Bild dieser Wörter bis in die periphere Region Ihrer Netzhaut reicht, in der überwiegend Stäbchen vorkommen (. Tabelle 5.1). Die Zapfen ermöglichen uns das Farbensehen. Doch bei schwacher Beleuchtung werden die Zapfen wirkungslos; daher sehen Sie dann keine Farben. Genau dann übernehmen die Stäbchen, die uns zum Schwarz-Weiß-Sehen befähigen. Stäbchen bleiben auch bei schwachem Licht hochempfindlich, und mehrere Stäbchen lassen ihre schwache Energie in dämmrigem Licht auf einer einzigen Bipolarzelle zusammenlaufen. So verfügen sowohl Zapfen als auch Stäbchen über eine besondere Sensibilität: Zapfen für Details und Farbe, Stäbchen für schwaches Licht. Wenn Sie in ein abgedunkeltes Theater kommen oder bei Nacht das Licht ausmachen, weiten sich Ihre Pupillen, um mehr Licht ins Auge zu lassen, das zu den Stäbchen in der Peripherie der Retina vordringen kann. In der Regel dauert es etwa 20 Minuten oder mehr, bis sich Ihre Augen vollständig adaptiert haben. Sie können die Adaptation an die Dunkelheit nachvollziehen, indem Sie ein Auge bis zu 20 Minuten schließen oder abdecken. Verdunkeln Sie dann das Zimmer so stark, dass es für Ihr offenes Auge gerade noch ein bisschen zu dunkel ist, um dieses Buch zu lesen. Machen Sie nun das Auge auf, das sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, und lesen Sie (ohne
. Tabelle 5.1. Rezeptorzellen im menschlichen Auge
Zapfen
Stäbchen
Anzahl
6 Mio.
120 Mio.
Ort auf der Netzhaut
Zentrum
Peripherie
Dämmerungsempfindlichkeit
Gering
Hoch
Farbempfindlichkeit
Ja
Nein
Detailempfindlichkeit
Ja
Nein
227 5.2 · Sehen
jegliche Schwierigkeiten). Die Zeit, die es braucht, um die Augen an die Dunkelheit zu adaptieren, ist ein weiteres Beispiel für die bemerkenswerte Flexibilität unseres Sinnessystems, denn sie dauert genau so lange, wie der durchschnittliche Übergang zwischen Sonnenuntergang und Nacht (die Dämmerung). Können Sie sich mit diesem Grundwissen über das Auge jetzt vorstellen, weshalb eine Katze bei Nacht so viel besser sieht als Sie? Es gibt mindestens zwei Gründe dafür: Die Katze kann ihre Pupillen viel weiter öffnen als wir und damit mehr Licht hineinlassen. Und eine Katze hat einen höheren Anteil an lichtempfindlichen Stäbchen (Moser 1987). Aber einen Trost gibt es: Da die Katze dafür weniger Zapfen hat, kann sie weder Einzelheiten noch Farben so gut sehen wie wir.
5.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung Ziel 7: Erörtern Sie die unterschiedlichen Verarbeitungsniveaus, zu denen es kommt, wenn die Informationen von der Netzhaut zur Hirnrinde gelangen.
Die visuellen Informationen werden nach und nach durch immer abstraktere Ebenen weitergeleitet. Auf der Eingangsebene wird die Information zunächst von der Retina verarbeitet – die eigentlich Hirngewebe ist, das während der frühen Entwicklung des Fötus ins Auge wandert – und dann über den Thalamus zur Hirnrinde weitergegeben. Doch die Nervenschichten der Retina leiten nicht einfach elektrische Impulse weiter, sie tragen auch zur Enkodierung und Analyse der sensorischen Information bei. Die dritte Nervenschicht im Auge eines Frosches enthält beispielsweise seine »Fliegendetektorzellen«, die nur auf sich bewegende, fliegenähnliche Reize reagieren. Die Informationen von den ca. 130 Mio. Fotorezeptorzellen der Stäbchen und Zapfen werden von den ca. 1 Mio. Ganglienzellen, deren Axone den Sehnerv bilden, empfangen und mit großer Geschwindigkeit an das Gehirn weitergeleitet.Jeder einzelne Bereich der Retina gibt seine Informationen an eine damit verbundene Stelle im Okzipitallappen weiter – die Sehrinde (auch optischer oder visueller Kortex genannt) im hinteren Teil des Gehirns (. Abb. 5.11). Dieselbe Sensibilität, die die Retinazellen befähigt, Botschaften weiterzureichen, erzeugt bisweilen auch falsche Botschaften. Drehen Sie Ihre Augen nach links, und schließen Sie sie. Reiben Sie nun mit der Fingerspitze sanft die rechte Seite Ihres rechten Augenlids. Sehen Sie den Lichtfleck links, der sich mit den Bewegungen Ihres Fingers mitbewegt? Warum sehen Sie Licht? Und warum auf der linken Seite? . Abb. 5.11. Leitungsbahnen zwischen den Augen und der Sehrinde Die Neuronen in den Sehnervensträngen laufen an der Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) im Zentrum der mittleren Schädelgrube zusammen. Dort bilden sie den paarigen Tractus opticus, der sich bis zu den Kernen im Thalamus fortsetzt und dort mittels Synapsen mit Neuronen verschaltet ist, die wiederum mit dem visuellen Kortex verbunden sind
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
. Abb. 5.12. Mit Elektroden wird aufgezeichnet, wie die einzelnen Zellen der Sehrinde eines Affen auf verschiedene visuelle Reize reagieren Hubel und Wiesel erhielten den Nobelpreis für ihre Entdeckung, dass die meisten Zellen der Sehrinde nur auf ganz bestimmte Merkmale reagieren, z.B. die Kante einer Oberfläche oder einen Balken im 30°-Winkel im oberen rechten Teil des Gesichtsfelds. Andere Zellen führen die Informationen von diesen einfacheren Zellen zusammen
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Ishai, Ungerleider, Martin und Haxby, NIMH
Merkmalsdetektoren (feature detectors): Nervenzellen im Gehirn, die auf bestimmte Merkmale von Reizen (z. B. Form, Winkel oder Bewegung) reagieren.
Gesichter
Stühle
Häuser
Häuser und Stühle
. Abb. 5.13. Unser verräterisches Gehirn Gesichter, Häuser und Stühle aktivieren unterschiedliche Areale in diesem Gehirn (rechte Seite = vorne)
Ihre Retinazellen sind so reaktionsempfindlich, dass sie sogar durch Druck in Aktion gesetzt werden. Doch das Gehirn interpretiert die eingehenden Botschaften als Licht, und zwar aus der Richtung, aus der das Licht normalerweise kommt, wenn die rechte Seite der Retina aktiviert wird.
Merkmalserkennung Wenn einzelne Ganglienzellen Informationen in ihrem Bereich des Gesichtsfelds registrieren, schicken sie Signale an die Sehrinde im Okzipitallappen weiter. Die Nobelpreisträger Hubel u. Wiesel (1979) konnten nachweisen, dass die Sehrinde über spezifische Neuronen, sog. Merkmalsdetektoren, verfügt, die diese Information empfangen, und dass diese jeweils auf spezifische Merkmale einer Szenerie reagieren, d. h. auf besondere Ecken, Kanten, Linien, Winkel und Bewegungen. So kann beispielsweise eine Zelle in der Sehrinde in maximaler Weise durch einen Balken in 2-Uhr-Stellung erregt werden (. Abb. 5.12). Wird der Balken weiter- oder zurückbewegt, etwa in eine 3-Uhr- oder 1-Uhr-Stellung, beruhigt sich die Zelle. Die Merkmalsdetektoren in der Sehrinde leiten diese Informationen an andere Areale des Kortex weiter, in denen die Zellen nur auf komplexere Muster reagieren. Ein Areal des Temporallappens direkt hinter unserem rechten Ohr beispielsweise ermöglicht es uns, Gesichter zu sehen. Bei Beschädigung dieses Gehirnbereichs haben wir Schwierigkeiten, bekannte Gesichter zu erkennen, während wir andere Gegenstände aber weiterhin erkennen können. Andere Gehirnareale leuchten bei der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) auf, wenn der Patient Bilder eines menschlichen Körpers oder von unbelebten Objekten sieht (Downing et al. 2001). Die Beschädigung dieser Gehirnareale blockiert andere Wahrnehmungen, während die Gesichtserkennung erhalten bleibt. Es kommt zu erstaunlich spezifischen Kombinationen von Temporallappenaktivitäten, wenn Menschen Gesichter, Schuhe, Katzen, Häuser oder andere Objektkategorien anschauen (. Abb. 5.13). »Wir können am Muster der Gehirnaktivität erkennen, ob jemand einen Schuh, einen Stuhl oder ein Gesicht anschaut«, erklärt Haxby (2001). Andere Gehirnzellen auf einer hohen Ebene reagieren auf spezifische visuelle Szenerien, wie etwa die Bewegung eines Gesichts oder Arms in eine bestimmte Richtung. Perrett et al. (1988, 1992, 1994) berichten, dass das Affenhirn (und sicher auch unseres) für biologisch signifikante Objekte und Ereignisse eine »riesige visuelle Enzyklopädie« zur Verfügung hat, die in Form von Zellen verteilt ist, die jeweils nur auf einen ganz bestimmten Reiz ansprechen, nicht jedoch auf andere. Perrett konnte Nervenzellen identifizieren, die darauf spezialisiert sind, auf einen bestimmten Blick, eine bestimmte Neigung des Kopfes oder auf eine bestimmte Haltung oder Bewegung des Körpers zu reagieren. Andere Gruppen von Superzellen führen diese Informationen dann zusammen und übermitteln ihre Reizantwort erst, wenn die Hinweisreize kollektiv auf die Richtung der Aufmerksamkeit und Annäherung eines Menschen hindeuten. Diese umgehende Reizauswertung, die unseren Vorfahren das Überleben sicherte, hilft auch beispielsweise einem Fußballspieler, die Richtung eines kurz bevorstehenden Schusses und einem Fußgänger die nächste Bewegung eines anderen Fußgängers vorherzusehen. Die der Wahrnehmung zugrunde liegende Aktivität des Gehirns verbindet unsere Sinneseindrücke mit unseren Vorannahmen und Erwartungen. Wie wir am Beispiel des Necker-Würfels in
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Lars Baron/Bongarts/Getty Images
5.2 · Sehen
. Abb. 5.14. Wie das Gehirn wahrnimmt Wenn Sie diesen Necker-Würfel fixieren und Ihre Retina damit ziemlich konstant stimulieren, wird sich Ihre Wahrnehmung dieses Gegenstands – und die damit verbundene Nervenaktivität im Gehirn – alle paar Sekunden verändern
. Abb. 5.15. Ein Beispiel für die virtuelle Wirklichkeit des Gehirns: imaginäre Konturen Neuronale Netzwerksimulationen reagieren auf ein imaginäres Dreieck genauso wie Menschen, nämlich so, als ob es sich um ein wirkliches Dreieck handele und nicht einfach um drei »Pac-Man«-Gesichter
Gut entwickelte Superzellen Der deutsche Handballer Pascal Hens verarbeitete seine visuelle Information über die Positionen und Bewegungen der polnischen Verteidiger Damian Wleklak und Artur Siodmiakund unmittelbar, und so gelang es ihm irgendwie durch die Verteidigung zu brechen und die deutsche Führung beim Weltmeisterschaftsendspiel Deutschland gegen Polen von 2007 auf 27:23 auszubauen
. Abb. 5.14 sehen, bei dem unsere Wahrnehmung alle paar Sekunden umschaltet, so wechselt auch
die Nervenaktivität in unserer Sehrinde ständig hin und her. Obwohl weiterhin dasselbe Bild auf die Retina trifft, konstruiert das Gehirn Wahrnehmungen des Bildes, die sich ständig verändern. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Nervenzellen, je nachdem wie ein Affe ein bestimmtes Bild wahrnimmt (was sich an der Augenbewegung des Affen nach oben oder nach unten ablesen lässt), aktiv werden oder nicht (Barinaga 1997; Logothetics u. Schall 1989). Derartige Studien erinnern uns daran, dass unser visuelles System sowohl nach dem Bottom-up- als auch nach dem Top-down- Prinzip funktioniert. Die Wissenschaft ist immer noch unentschieden, welche Merkmale und Muster es denn sind, die die Gehirnzellen erkennen. Es gibt Untersuchungen, die davon ausgehen, dass jedes Bild, wie beispielsweise ein Gesicht, in Muster mit wechselnder Lichtintensität aufgelöst werden kann, die sich mathematisch beschreiben lassen. Beim Sehen verarbeitet Ihr Gehirn möglicherweise tatsächlich eine Art mathematischen Code, der ein wahrgenommenes Bild darstellt (Kosslyn u. Koenig 1992; Marr 1982). In Zusammenarbeit mit Computerexperten simulieren Neurologen die Aktivität der neuronalen Netze, die auf vielen Ebenen miteinander verbunden sind. Ziel dieser Versuche ist es, künstliche Wahrnehmungssysteme zu erstellen, die auf dieselbe Art und Weise reagieren wie unser tatsächliches visuelles System. Diese simulierten neuronalen Netze reagieren genauso wie die des Menschen, z. B. auf das imaginäre Bild eines Dreiecks wie das in . Abb. 5.15, d. h. so als handle es sich wirklich um ein Dreieck (Finkel u. Sajda 1994).
Parallelverarbeitung Ziel 8: Definieren Sie, was Parallelverarbeitung ist, und erörtern Sie, welche Rolle sie bei der visuellen Informationsverarbeitung spielt.
Im Unterschied zu den meisten Computern, die eine schrittweise serielle Verarbeitung ausführen, vollzieht unser Gehirn Parallelverarbeitung: Es macht mehrere Dinge auf einmal. Das Gehirn unterteilt eine visuell vorgegebene Szenerie in Unterdimensionen wie Farbe, Tiefe, Bewegung und Form (. Abb. 5.16) und arbeitet gleichzeitig an jedem einzelnen Aspekt (Livingstone u. Hubel, 1988). Dann konstruieren wir unsere Wahrnehmungen, indem wir die Arbeit der unterschiedlichen Teams zu einem Ganzen vereinen und dabei parallel vorgehen. Um z. B. ein Gesicht zu erkennen, integriert das Gehirn die Informationen, die die Retina auf die Sehfelder im visuellen Kortex projiziert, vergleicht sie mit den gespeicherten Informationen und versetzt Sie in die Lage, ein Bild wie etwa das Ihrer Großmutter zu erkennen. Der gesamte
Parallelverarbeitung (parallel processing): gleichzeitiges Verarbeiten mehrerer Aspekte eines Problems. Die natürliche Arbeitsweise des Gehirns bei der Informationsverarbeitung für eine Vielzahl von Funktionen (u. a. beim Sehen). Es handelt sich dabei um das Gegenteil der schrittweisen (seriellen) Verarbeitung der meisten Computer und der bewussten Problemlösung.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
. Abb. 5.16. Parallelverarbeitung Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten haben gezeigt, dass das Gehirn die Verarbeitung von Farbe, Bewegung, Form und Tiefe auf unterschiedliche Gehirnareale verteilt. Aber wie integriert das Gehirn, nachdem es die Szene auseinandergenommen hat, anschließend diese Unterbereiche zu einem wahrgenommenen Bild? Die Antwort auf diese Frage ist die Gralssuche der Sehforschung
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»Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.« König David (»Bibel«, Psalm 139, Vers 14)
. Abb. 5.17. Der Schatten einer Wahrnehmung Kurz nachdem ein Gesicht gesehen wurde, synchronisieren sich die von verschiedenen Elektroden auf der Kopfhaut aufgezeichneten Gehirnwellen. Die grünen Linien zwischen den Elektrodenendpunkten deuten auf eine erhöhte Synchronisation hin. (Aus Rodriguez et al. 1999)
Vorgang der Gesichtserkennung benötigt enorme Ressourcen im Gehirn – etwa 30% des Kortex. Das ist zehnmal so viel, wie das Gehirn dem Hören widmet. In dem Moment, in dem Ihr Gehirn alle diese Informationen zusammenführt, synchronisieren entfernt liegende Gruppen von Nervenzellen im Gehirn augenblicklich ihre Aktivität. Nachdem die verteilten Bereiche des Gehirns ihre Verarbeitung erledigt haben, zeigt sich in den EEG-Aufzeichnungen deren Integration. Etwa für 1/4 Sekunde senden Tausende von Neuronen einander entsprechende Signale mit einer Frequenz von 40 Mal pro Sekunde aus und erzeugen somit Gammawellen (Rodriguez et al. 1999). In einem kurzen Augenblick arbeiten vereinzelte Bereiche des Gehirns zusammen und kommen zu einem Ergebnis, das keine Gruppe von Neuronen allein erreichen könnte: ein bewusstes Wiedererkennen (. Abb. 15.17). Zerstört man jedoch den neuronalen Hochgeschwindigkeitsrechner für eine visuelle Unteraufgabe oder beeinträchtigt man ihn in seiner Funktionsfähigkeit, wie dies bei »Frau M.« geschah (vgl. Hoffman 1998), passiert etwas Seltsames: Sie hat einen Schlaganfall hinter sich, der beidseitig Schäden im hinteren Teil des Gehirns verursachte. Sie kann daher keine Bewegungen mehr wahrnehmen. Menschen, die sich im Zimmer herumbewegen, »scheinen plötzlich hier oder dort aufzutauchen, aber ich habe nicht gesehen, wie sie sich bewegten.« Für sie ist es eine echte Herausforderung, sich Tee in eine Tasse zu gießen, da die Flüssigkeit wie gefroren wirkt, und sie das Ansteigen des Flüssigkeitspegels in der Tasse nicht wahrnehmen kann. (Denselben Verlust der Bewegungserkennung könnten Sie erleben, wenn das entsprechende neuronale Gehirnareal durch magnetische Stimulation gestört wird.) Andere, deren Sehrinde durch chirurgische Eingriffe im Gehirn oder durch einen Schlaganfall zum Teil zerstört wurde, können einer Blindheit in einem Teil ihres Gesichtsfelds ausgesetzt sein; es handelt sich um ein Phänomen, das auch Blindsehen genannt wird (Weiskrantz 1986). Zeigt man ihnen eine Reihe von Stäben im blinden Teil ihres Gesichtsfelds, geben sie an, nichts zu sehen. Werden sie jedoch gebeten zu raten, ob die Stäbe waagerecht oder senkrecht daliegen oder -stehen, liefern sie meist untrüglich die richtige Antwort. Wenn man ihnen dann mitteilt: »Sie haben sie alle richtig geraten«, sind sie erstaunt. Es gibt anscheinend einen zweiten »Denkapparat« – ein System der Parallelverarbeitung, das im Verborgenen arbeitet. Milner (2003) spricht in diesem Zusammenhang von »ungesehenem Sehen« und beschreibt die beiden visuellen Systeme des Gehirns als »ein System, das uns bewusste Wahrnehmungen ermöglicht, und ein anderes System, das unsere Handlungen lenkt«. Das Letztere nennt er auch »den Zombie in uns«. Milner beschreibt eine Frau mit einer Hirnschädigung, die feine Details sehen kann, wie etwa die Haare auf einem Handrücken, aber nicht in der Lage ist, die Hand zu erkennen. Als sie gebeten wird, ihren Daumen und Zeigefinger zu benutzen, um die Größe eines Gegenstands abzuschätzen, kann sie das nicht. Wenn sie jedoch nach dem Gegenstand zu greifen versucht, befinden sich Daumen und Zeigefinger in genau der richtigen Position. Sie weiß mehr, als ihr bewusst ist. Andere Sinne verarbeiten Informationen ähnlich schnell und nach einem ähnlich ausgeklügelten System. Ein wissenschaftliches Verständnis der sensorischen Informationsverarbeitung ließen den Neuropsychologen Sperry (1985) nur noch Ehrfurcht empfinden: »Die Einsichten der Wissenschaft liefern uns
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. Abb. 5.18. Vereinfachte Zusammenfassung der visuellen Informationsverarbeitung
mehr und nicht weniger Gründe, der Natur gegenüber Ehrfurcht, Achtung und Ehrerbietung zu empfinden.« Denken Sie einmal darüber nach: Wenn Sie jemanden anschauen, wird die visuelle Information in Form von Millionen von Nervenimpulsen umgewandelt und an Ihr Gehirn weitergeleitet, dann werden die Einzelkomponenten erstellt und schließlich auf noch unbekannte, geheimnisvolle Weise zu einem als sinnvoll wahrgenommenen Bild zusammengesetzt. Dieses Bild wird dann von Ihnen mit Bildern verglichen, die Sie in der Vergangenheit gespeichert haben, und beispielsweise als Ihre Großmutter erkannt. Dieser ganze Vorgang (. Abb. 5.18) ist komplexer, als ein Auto Teil um Teil auseinanderzunehmen, es dann an einen anderen Ort zu schaffen und dort von spezialisierten Facharbeitern wieder zusammensetzen zu lassen. Dass all dies in einem einzigen Augenblick ohne jegliche Anstrengung und ständig passiert, ist wirklich unglaublich eindrucksvoll.
5.2.4 Farbensehen Ziel 9: Erklären Sie, wie die Theorie von Young und Helmholtz bzw. die Gegenfarbentheorie dazu beitragen, dass wir das Farbensehen besser verstehen.
Wir reden, als hätten Gegenstände eine Farbe. Wir sagen: »Eine Tomate ist rot.« Vielleicht haben Sie schon einmal über die alte Frage nachgedacht: »Und wenn nun ein Baum im Wald umfällt und niemand es hört, macht er dann ein Geräusch?« Wir können uns dasselbe für die Farben fragen: »Wenn niemand die Tomate sieht, ist sie dann rot?« Die Antwort ist: Nein. Zunächst ist die Tomate alles andere als rot, vielmehr wirft sie die langen Wellenlängen von Rot zurück, d. h. sie reflektiert sie. Und zweitens ist die Farbe der Tomate ein Produkt unseres Verstands. Denn wie Isaac Newton (1704) es ausdrückte: Lichtstrahlen haben keine Farbe. Die Farbe ist, wie alle Aspekte des Sehens, keine Eigenschaft des Gegenstands, sondern des »Spektakels« in unserem Kopf. Sogar beim Träumen können wir Dinge in Farbe wahrnehmen.
»Nur die Seele kann hören und sehen; alles andere ist taub und blind.« Epicharmos (»Fragmente«, 550 vor Christi Geburt)
Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Fritz Goro/Time & Life Pictures/Getty Images
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a Subtraktives Farbmischen
b Additives Farbmischen
5 . Abb. 5.19a,b. Subtraktives und additives Farbmischen Wenn man Farben zum Malen mischt, nimmt man Wellenlängen weg. Mischt man alle 3 Primärfarben, so erhält man Schwarz (a). Mischt man farbige Lichtstrahlen, so fügt man Wellenlängen hinzu, da die Wellenlänge jedes farbigen Lichts der Mischung das Auge erreicht. Mischt man die Lichtstrahlen aller 3 Primärfarben, so erhält man Weiß (b)
Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz (Young-Helmholtz trichromatic theory): Theorie, die besagt, dass die Retina 3 verschiedene Farbrezeptortypen enthält, von denen einer besonders empfindlich auf Rot reagiert, ein anderer auf Grün und ein dritter auf Blau. Werden sie in Kombination stimuliert, können sie die Wahrnehmung jedes beliebigen Farbtons erzeugen.
Wenn wir uns genauer mit dem Sehen beschäftigen, ist eines der grundlegenden und faszinierenden Geheimnisse die Frage, wie wir die Welt in Farbe sehen. Wie stellt es das Gehirn an, aus der Lichtenergie, die auf die Retina trifft, unsere Erfahrung von Farbe zu erzeugen, noch dazu von einem so großen Spektrum von Farben? Unsere Unterschiedsschwelle für Farben ist so niedrig, dass wir etwa 7 Mio. verschiedene Farbabstufungen unterscheiden können (Geldard 1972). Zumindest können das die meisten von uns. Unter 50 Personen gibt es etwa eine, deren Fähigkeit des Farbensehens eingeschränkt ist. Diese Person ist in der Regel männlich, denn der Defekt ist genetisch bedingt und geschlechtsspezifisch. Um zu verstehen, warum manche Menschen keine Farben sehen können, ist es hilfreich, zuerst zu verstehen, wie normales Farbensehen funktioniert. Die moderne Detektivarbeit hinsichtlich des Geheimnisses des Farbensehens begann im 19. Jahrhundert, als Hermann von Helmholtz, aufbauend auf den Erkenntnissen des englischen Physikers Thomas Young, sich mit dieser Frage beschäftigte. Young und von Helmholtz wussten, dass sich jede Farbe durch eine Kombination aus den Lichtwellen der 3 Grundfarben Rot, Grün und Blau erzeugen lässt. Daraus schlossen sie, dass das Auge 3 verschiedene Arten von Farbrezeptoren haben muss, eine für jede Grundfarbe des Lichts. Jahre später stellten Wissenschaftler Messungen hinsichtlich der Reaktion von verschiedenen Zapfen auf verschiedene Farbreize an und bestätigten die Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz, die einfach besagt, dass die Retina über 3 verschiedene Farbrezeptortypen verfügt, von denen jeder spezifisch empfindlich auf eine der 3 Grundfarben reagiert. Und wer hätte es gedacht: Diese Farben sind tatsächlich Rot, Grün oder Blau. Wenn wir Kombinationen dieser Zapfen stimulieren, sehen wir andere Farben. Es gibt beispielsweise keine Rezeptoren, die eine spezifische Sensibilität für Gelb hätten. Doch wenn sowohl rotempfindliche als auch grünempfindliche Zapfen stimuliert werden, sehen wir gelb. Wenn Sie versuchen, das zu verstehen, indem Sie sich zurückerinnern, wie das beim Farbmischen im Malkasten war, so denken Sie besser noch einmal genauer nach. Beim Mischen der Farben im Malkasten handelt es sich um ein subtraktives Farbmischen, denn dabei werden dem reflektierten Licht Wellenlängen entzogen. Je mehr Farben aus dem Malkasten Sie zu der Mischung hinzufügen, desto weniger Wellenlängen können zurückreflektiert werden. Wenn Sie blaue und gelbe Farbe mischen, werden nur grüne Wellenlängen reflektiert. Wenn Sie Rot, Blau und Gelb mischen, werden keine Lichtwellen reflektiert, und Sie sehen Braun oder Schwarz. Werden hingegen Lichtstrahlen gemischt, wie Young und von Helmholtz es taten, so handelt es sich um additives Farbmischen, da bei diesem Vorgang Wellenlängen hinzugefügt werden und damit das Licht zunimmt. So entsteht aus der geeigneten Kombination von roten, blauen und grünen Lichtstrahlen weißes Licht (. Abb. 5.19). Die meisten Menschen, die Farben nicht richtig sehen können, sind nicht wirklich »farbenblind«. Ihnen fehlt es einfach an rot- oder grünempfindlichen Zapfen, manchmal auch an beiden. Ihre Farbenfehlsichtigkeit – vielleicht wissen sie gar nicht davon, weil ihnen das, was sie ein Leben
233 5.2 · Sehen
lang gesehen haben, normal erscheint – wird als monochromatisch (eine Farbe) oder als dichromatisch bezeichnet, d. h. sie erkennen nur 2 der 3 Grundfarben, und es ist ihnen nicht möglich, zwischen dem Rot und dem Grün in . Abb. 5.20 zu unterscheiden (Boynton 1979). Auch Hunde haben einen Mangel an Rezeptoren für die Wellenlängen von Rot, was dazu führt, dass sie nur über ein beschränktes Farbensehen verfügen, das dichromatisch ist (Neitz et al. 1989). Bald nach Bekanntwerden der Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz wies der Physiologe Ewald Hering darauf hin, dass nicht alle Geheimnisse des Farbensehens dadurch erklärt würden. Beispielsweise sehen wir Gelb, wenn rotes und grünes Licht vermischt wird. Wie kommt es aber, dass Menschen, die farbenblind für Rot oder Grün sind (sog. Rotgrünblindheit), häufig trotzdem noch Gelb sehen können? Und warum kommt uns Gelb wie eine reine Farbe und nicht wie eine Mischung aus Rot und Grün vor, wie das bei Lila als Mischung von Rot und Blau der Fall ist? Hering fand die Lösung im wohlbekannten Auftreten von Nachbildern. Wenn Sie eine Weile ein grünes Quadrat fixieren und dann auf ein weißes Blatt blicken, sehen Sie Rot, die Gegenfarbe von Grün. Fixieren Sie hingegen ein gelbes Viereck, werden Sie später dessen Gegenfarbe Blau auf dem weißen Papier sehen (wie beim Beispiel der Flagge in . Abb. 5.21). Hering vermutete, dass es noch 2 zusätzliche Farbprozesse geben müsse: einen, der für die Rotwahrnehmung im Gegensatz zur Grünwahrnehmung zuständig ist, und einen für die Blauwahrnehmung im Gegensatz zur Gelbwahrnehmung. Ein Jahrhundert später bestätigten Wissenschaftler Herings Gegenfarbentheorie. Nachdem die visuelle Information die Rezeptorzellen verlässt, wird sie in Bezug auf die Gegenfarben Rot und Grün, Blau und Gelb sowie Schwarz und Weiß analysiert. In der Retina und im Thalamus (der als Relaisstation bei der Übermittlung von Impulsen von der Retina zur Sehrinde fungiert), werden manche Neuronen durch Rot »eingeschaltet« und durch Grün »abgeschaltet«. Andere werden wiederum durch Grün »eingeschaltet« und durch Rot »abgeschaltet« (DeValois u. DeValois 1975). Die Gegenfarbenprozesse erklären das Phänomen der Nachbilder, wie beim Beispiel der Flagge, bei der wir unsere Grünreaktion durch das Starren auf Grün ermüden. Wenn wir danach auf Weiß schauen (das alle Farben enthält, u. a. auch Rot), reagiert nur der rote Teil des Gegenfarbenpaars Grün/Rot normal. Die Farbverarbeitung erfolgt demnach grob gesprochen in 2 Phasen. Wie von der Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz vorgeschlagen, reagieren die Zapfen der Retina für Rot, Grün und Blau in unterschiedlichen Abstufungen auf verschiedene Farbreize. Diese Signale werden dann vom Nervensystem auf dem Weg zur Sehrinde durch die Gegenfarbenzellen verarbeitet.
. Abb. 5.20. Farbenfehlsichtigkeit Menschen, die an einer Rot-Grün-Fehlsichtigkeit leiden, haben Schwierigkeiten, die Zahl in dieser Abbildung zu erkennen
Gegenfarbentheorie (opponent-process theory): Theorie, der zufolge das Farbensehen auf den retinalen Erregungsverhältnissen der Gegenfarbenpaare beruht (Rot/Grün, Gelb/Blau und Schwarz/Weiß). So werden beispielsweise manche Zellen durch Grün stimuliert und durch Rot gehemmt, andere werden durch Rot stimuliert und durch Grün gehemmt.
Farbkonstanz Ziel 10: Erklären Sie, warum die Farbkonstanz wichtig ist.
Unser Farbempfinden hängt von mehr ab als von der Information über die Wellenlängen, die von unserem Zapfenapparat, der sensibel auf die 3 Grundfarben anspricht, empfangen und von den Gegenfarbenzellen weitergegeben wird. Dieses »Mehr« ist der Kontext. Wenn wir nur einen Teil einer Tomate sehen, scheint sich ihre Farbe mit dem wechselnden Licht zu verändern. Aber wenn wir die ganze Tomate als einen Gegenstand in einer Schüssel mit frischem Gemüse sehen, empfinden wir ihre Farbe auch bei wechselnden Lichtverhältnissen und Wellenlängen des Lichts als mehr oder weniger gleichbleibend. . Abb. 5.21. Nachbildeffekt Fixieren Sie 1 Minute lang die Mitte der Flagge und schauen Sie dann mit den Augen auf den Punkt in dem weißen Feld daneben. Was sehen Sie? (Nachdem Sie die Reaktion Ihrer Nerven auf Schwarz, Grün und Gelb erschöpft haben, müssten Sie eigentlich ihre Gegenfarben sehen). Starren Sie auf eine weiße Wand und stellen Sie fest, wie die Größe der Flagge mit der Projektionsentfernung zunimmt!
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Farbkonstanz (color constancy): Fähigkeit, bekannte Gegenstände auch unter stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die von den Gegenständen reflektierten Wellenlängen verändern, mit gleichbleibender Farbe wahrzunehmen.
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R. Beau Lotto, University College London
»From there to here, from here to there, funny things are everywhere.« Dr. Seuss (»One Fish, Two Fish, Red Fish, Blue Fish«, 1960)
. Abb. 5.22. Farbe hängt vom Kontext ab Ob Sie es glauben oder nicht: Diese drei blauen Punkte haben alle dieselbe Farbe
Dieses Phänomen ist auch unter dem Namen Farbkonstanz bekannt. Jameson (1985) führte hierzu als Beispiel eine blaugefärbte Spielmarke bei Innenlichtverhältnissen an, deren Wellenlängen denen einer goldenen Spielmarke im Sonnenlicht entsprechen. Bringen Sie hingegen einen Star mit blauschimmernden Federn ins Haus, so wird doch kein Goldfink daraus. Genauso kann ein grünes Blatt, das von einem braunen Ast herunterhängt, bei wechselnden Lichtverhältnissen dieselbe Lichtenergie reflektieren, die zuvor von dem braunen Ast abgestrahlt wurde. Trotzdem sieht für uns das Blatt weiter grünlich aus und der Ast bleibt bräunlich. Oder wenn Sie sich eine gelbgefärbte Schneebrille aufsetzen, sieht der Schnee nach einem kurzen Moment genauso weiß aus wie zuvor. Obwohl wir die Farbkonstanz also als etwas Selbstverständliches ansehen, ist dieses Phänomen höchst bemerkenswert. Es ist ein Beleg dafür, dass unser Farbempfinden nicht nur vom Objekt abhängt (die Farbe steckt nicht in dem isolierten Blatt), sondern auch von seiner Umgebung. Dank der Berechnungen unseres Gehirns sehen wir die Farben des Lichts, das von jedem Gegenstand reflektiert wird, im Verhältnis zu den Gegenständen in seinem Umfeld. Aber nur wenn wir in normalem Licht aufwachsen, scheint dies so zu sein. Affen, die in einer eingeschränkten Bandbreite von Wellenlängen groß wurden, hatten später große Schwierigkeiten damit, dieselbe Farbe zu erkennen, wenn die Beleuchtung wechselte (Sugita 2004). Wenn sich der Kontext nicht verändert, bleibt die Farbkonstanz erhalten. Aber was geschieht, wenn sich der Kontext ändert? Da das Gehirn die Farbe eines Gegenstands in Relation zu seinem Kontext berechnet, verändert sich die wahrgenommene Farbe (das wird an . Abb. 5.22 besonders deutlich). Dieses Prinzip der Wahrnehmung von Objekten nicht als isolierte Gegenstände, sondern in ihrem Kontext ist besonders für Künstler, Innenarchitekten und Modedesigner interessant. Unsere Wahrnehmung von der Farbe einer Wand oder eines Pinselstrichs auf einer Leinwand wird nicht nur von der Farbe in der Dose bestimmt, sondern auch durch die umgebenden Farben. ! Unsere Wahrnehmungen beruhen auf Vergleichen und sind damit umgebungsabhängig.
Lernziele Abschnitt 5.2 Sehen Ziel 4: Definieren Sie Transduktion, und geben Sie an, welche Form von Energie unser visuelles System in neuronale Botschaften umwandelt, die unser Gehirn interpretieren kann. Transduktion ist der Prozess, bei dem unser Wahrnehmungssystem Reizenergie als neuronale Botschaften kodiert, die das Gehirn verstehen kann. Beim Sehen wandeln wir Lichtenergie in diese neuronalen Impulse um. Die Energien, die wir als sichtbares Licht wahrnehmen, sind nur ein winziger Ausschnitt aus dem breiten Spektrum elektromagnetischer Strahlung. Die Farbschattierung und Helligkeit, die wir in einem Licht wahrnehmen, ist von dessen Wellenlänge und Intensität abhängig. Ziel 5: Beschreiben Sie die Hauptstrukturen des Auges, und erklären Sie, wie sie einen eintreffenden Lichtstrahl auf die Rezeptorzellen des Auges lenken. Das Licht tritt durch die Hornhaut des Auges, die Cornea, ein, einer Schutzschicht, die den Lichtstrahl bricht. Durch die Iris, einen Muskelring, wird die Größe der Pupille eingestellt, durch die das Licht ins Auge eintritt. Die Linse verändert ihre Form, um die Lichtstrahlen auf der Retina zu fokussieren, der inneren Oberfläche des Auges, auf der die Lichtenergie in Nervenimpulse umgewandelt wird. Nach der Kodierung in der Retina gelangen diese über den Sehnerv ins Gehirn. Obwohl die Retina ein Bild empfängt, das auf dem Kopf steht, bearbeitet das Gehirn
die eingehenden Impulse so, dass das Bild wieder richtig zu stehen scheint. Formveränderungen des Augapfels können einen Einfluss auf die Sehschärfe haben. Ziel 6: Stellen Sie die beiden Arten von Rezeptorzellen in der Netzhaut einander gegenüber, und beschreiben Sie die Reaktion der Netzhaut auf Licht. Die beiden Arten von Rezeptoren in der Retina sind die Stäbchen und die Zapfen. Sie unterscheiden sich in Bezug auf Gestalt, Anzahl, Funktion, Lage und Verbindungen zum Gehirn. Wenn das Licht ins Auge eintritt, löst dies eine photochemische Reaktion in den Stäbchen und Zapfen aus, die wiederum die bipolaren Zellen aktiviert. Die bipolaren Zellen aktivieren Ganglionzellen, und ihre Axone (die zusammen den Sehnerv bilden) übermitteln (über den Thalamus) Informationen an den visuellen Kortex in der Okzipitalregion des Gehirns. Die Stäbchen, die zahlreicher sind, befinden sich hauptsächlich in der Peripherie der Retina und sind lichtempfindlicher. Mehrere Stäbchen senden gemeinsam Botschaften an eine bipolare Zelle, und diese Informationsansammlung erlaubt es uns, bei schlechter Beleuchtung grobe Bilder zu sehen. Die Zapfen sind im Bereich der Fovea konzentriert und sind empfindlich für Farbe und Details. Ein Zapfen kann direkt mit einer einzelnen bipolaren Zelle verbunden sein, und diese Direktverbindung zum Gehirn erhält die feinsten Einzelheiten in der Botschaft des Zapfens. 6
235 5.3 · Hören
5.3
Ziel 7: Erörtern Sie die unterschiedlichen Verarbeitungsniveaus, die die Informationen von der Netzhaut zur Hirnrinde durchlaufen. Wahrnehmungen entstehen aus der Wechselwirkung zwischen vielen Neuronensystemen, die jeweils eine einfache Aufgabe ausführen. Die Verarbeitung beginnt in den mehrfachen neuronalen Schichten der Retina, anschließend übermitteln die 6 Mio. Zapfen und die 120 Mio. Stäbchen der Retina ihre Informationen über die bipolaren Zellen an die Ganglionzellen. Die Impulse wandern entlang der Axonen der Ganglionzellen, die den Sehnerv bilden, zum Thalamus und weiter zum visuellen Kortex. In der Sehrinde (visueller Kortex) reagieren Merkmalsdetektoren auf die besonderen Merkmale eines visuellen Reizes. Die übergeordneten Zellen eines höheren Niveaus führen diese gesammelten Daten zusammen, um sie dann in anderen Arealen des Kortex zu verarbeiten. Wenn die sensorischen Signale die unterschiedlichen Verarbeitungsniveaus durchlaufen, werden sie von unseren Annahmen, Interessen und Erwartungen beeinflusst.
Ziel 9: Erklären Sie, wie die Theorie von Young und Helmholtz bzw. die Gegenfarbentheorie dazu beitragen, dass wir das Farbensehen besser verstehen. In der Dreifarbentheorie (trichromatischen Theorie) von Young und Helmholtz wird angenommen, dass es in der Retina drei Arten von Farbrezeptoren gibt. Die heutige Forschung fand drei Arten von Zapfen, die jeweils am empfindlichsten auf eine der 3 Grundfarben des Lichts (Rot, Grün oder Blau) reagieren. In Herings Gegenfarbentheorie wurden zwei zusätzliche Farbprozesse (rot versus grün und blau versus gelb) sowie ein dritter Schwarz-versus-weiß-Prozess angenommen. Die moderne Forschung hat bestätigt, dass auf dem Weg zum Gehirn Neuronen in der Retina und im Thalamus die farbbezogenen Informationen von den Zapfen in Gegenfarbenpaare kodieren, wie dies auch durch das Phänomen der Nachbilder bestätigt wird. Diese beiden Theorien und die sie stützende Forschung zeigen, dass die Farbverarbeitung in zwei Stufen erfolgt.
Ziel 8; Definieren Sie, was Parallelverarbeitung ist, und erörtern Sie ihre Rolle bei der visuellen Informationsverarbeitung. Parallelverarbeitung ist die natürliche Methode der Informationsverarbeitung im Gehirn; mit ihrer Hilfe kann man viele Aspekte eines Problems gleichzeitig angehen. Die Fähigkeit des Gehirns, mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen, ermöglicht es ihm, Unterdimensionen des Sehens (Farbe, Bewegung, Tiefe und Form) auf unterschiedliche neuronale Teams zu verteilen, die getrennt voneinander und gleichzeitig arbeiten. Andere neuronale Teams arbeiten dabei zusammen, die Ergebnisse zusammenzuführen, sie mit gespeicherten Informationen zu vergleichen und Wahrnehmungen zu ermöglichen.
Ziel 10: Erklären Sie, warum die Farbkonstanz wichtig ist. Farbkonstanz ist unsere Fähigkeit, bei Objekten eine in sich konsistente Farbe wahrzunehmen, obwohl die Beleuchtung und die Wellenlängen wechseln. Dieses Phänomen zeigt, dass das Gehirn unser Farbempfinden durch Vergleiche mit anderen Objekten in der Umgebung konstruiert. > Denken Sie weiter: Wenn Sie gezwungen wären, einen Ihrer Sinne zu opfern, welchen würden Sie opfern? Und warum?
Hören
Etwas weniger rätselhaft, aber immer noch äußerst faszinierend ist ein anderer Aspekt unseres ganz normalen Erlebens: Der Prozess, mit dem wir Luftdruckwellen in Nervenimpulse umwandeln, die das Gehirn als eine bedeutungsvolle Klangsymphonie interpretiert. Wie unsere anderen Sinne ist auch unser Gehör äußerst anpassungsfähig. Wir hören eine große Bandbreite von Tönen und Geräuschen, am besten hören wir jedoch die Töne, die der menschlichen Stimme entsprechen. Darüber hinaus reagieren wir außerordentlich sensibel auf schwache Geräusche (z. B. das Wimmern eines Kindes). Das ist augenscheinlich ein Segen, der auf unsere Vorfahren zurückgeht, deren Überleben, wenn sie jagten oder gejagt wurden, von dieser Fähigkeit abhing. (Wären unsere Ohren noch um einiges empfindlicher, würden wir durch die Bewegung der Luftmoleküle ein ständiges Rauschen hören.) Des Weiteren reagiert unser Gehör extrem sensibel auf Klangunterschiede. Wir können spielend die Unterschiede unter Tausenden von menschlichen Stimmen ausmachen. Wenn wir einen Anruf entgegennehmen, erkennen wir einen Freund im selben Augenblick, in dem er »Hallo« sagt. Den Bruchteil einer Sekunde später stimulieren solche Ereignisse die Rezeptoren im Ohr; Millionen von Neuronen wurden simultan koordiniert, um die wesentlichen Merkmale herauszukristallisieren, sie mit Vorerfahrungen zu vergleichen und den Reiz zu identifizieren (Freeman 1991). Beim Hören wie beim Sehen bleibt eine der Grundfragen: Wie stellen wir es an?
Gehör (audition): Sinneskanal des Hörens; dient der Wahrnehmung von Schallwellen.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
5.3.1 Reizinput Schallwellen
Toby Wales/Lebrecht Music & Arts/Corbis
Ziel 11: Beschreiben Sie die Druckwellen, die wir als Ton erleben.
5
Der Klang von Musik Die kurzen, schnellen Schallwellen einer Geige erzeugen hohe Töne in einer hohen Tonlage. Die längeren, langsameren Schallwellen eines Cellos erzeugen tiefe Töne. Unterschiede im Ausschlag von Schwingungen – in der Amplitude – erzeugen auch eine unterschiedliche Lautstärke Frequenz (frequency): Anzahl von vollständigen Schwingungen, die einen bestimmten Punkt in einem vorgegebenen Zeitraum durchlaufen (z. B. pro Sekunde). Tonhöhe (pitch): Die Höhe oder Tiefe eines Tons hängt von der Frequenz ab.
Wenn Sie die Taste eines Klaviers anschlagen, besteht die daraus entstandene Reizenergie aus Schallwellen: sich gegenseitig anstoßende Luftmoleküle, die wie beim Drängeln am Ausgang eines Konzertsaals den Anstoß von hinten nach vorne weitergeben. Die daraus entstehenden Wellen komprimierter und sich ausdehnender Luft gleichen den sich von der Mitte her ausbreitenden Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein in einen See wirft. Während wir uns nun in einer Unmenge von sich bewegenden Luftmolekülen bewegen, nehmen unsere Ohren diese kurzen Veränderungen im Luftdruck wahr. Wenn wir einem lauten, tiefen Basston ausgesetzt sind – vielleicht einer Tuba direkt neben uns –, können wir die Vibration spüren, und wir hören sowohl die Übertragung von Impulsen über die Luft als auch die über den Knochen. (Hören ist eine besondere Form der Tastempfindung.) Die Ohren wandeln daraufhin die vibrierende Luft in Nervenimpulse um, die unser Gehirn als Töne dekodiert. Die Stärke oder Amplitude von Schallwellen (erinnern Sie sich an . Abb. 5.6) bestimmt ihre Lautstärke. Die Wellen unterscheiden sich jedoch auch in der Länge und damit in ihrer Frequenz. Die Frequenz der Schallwellen legt die von ihnen erzeugte Tonhöhe fest, die wir wahrnehmen: Lange Wellen haben eine niedrige Frequenz und damit eine tiefe Tonhöhe. Kurze Wellen haben eine hohe Frequenz und damit eine hohe Tonhöhe. Eine Pikkoloflöte erzeugt viel kürzere, schnellere Schallwellen als beispielsweise eine Tuba. Die Maßeinheiten für Schallenergie sind Dezibel (dB). Die absolute Hörschwelle wurde willkürlich als 0 dB festgelegt. Jeder Schritt von 10 dB entspricht der Verzehnfachung der Lautstärke. Damit ist normales Sprechen (60 dB) zehntausendmal lauter als Flüstern (20 dB). Und das gerade noch erträgliche Geräusch einer an uns vorbeifahrenden U-Bahn (100 dB) ist 10 Mrd. Mal lauter als das schwächste wahrnehmbare Geräusch (. Abb. 5.23). (Obwohl unser visuelles System noch einen Reiz aushalten kann, der 10 Mrd. Mal intensiver ist als ein gerade noch wahrnehmbares Leuchten, dürfte uns unser Hörsinn so etwas nicht so leicht vergeben.) ! Längerfristig kann eine Schalleinwirkung von über 85 dB zu Hörschäden führen.
. Abb. 5.23. Lautstärke einiger alltäglicher Geräusche
237 5.3 · Hören
5
5.3.2 Ohr Ziel 12: Beschreiben Sie die drei Bereiche des Ohrs, und skizzieren Sie die Ereignisabfolgen, die dazu führen, dass elektrische Impulse zum Gehirn geschickt werden.
Um zu hören, müssen wir Schallwellen auf irgendeine Weise in Nervenaktivität umwandeln. Aber wie? Das menschliche Ohr löst diese Meisterleistung durch eine ausgeklügelte mechanische Kettenreaktion (. Abb. 5.24). Zunächst leitet das sichtbare äußere Ohr die Schallwellen durch den Gehörgang zum Trommelfell, einer straff gespannten Membran, die mit den akustischen Schwingungen mitschwingt. Das Mittelohr leitet dann die Schwingungen des Trommelfells durch einen Mechanismus aus 3 kleinen Knöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel) zur Kochlea, einer schneckenförmigen Röhre im Innenohr weiter. Die zugeleiteten Schwingungen sorgen dafür, dass die Membran der Kochlea (das ovale Fenster) schwingt, wodurch die Flüssigkeit, mit der die Röhre gefüllt ist, in Bewegung versetzt wird. Dies führt zu wellenartigen Schwingungen in der Basilarmembran, die mit Haarzellen ausgekleidet ist, deren Name wiederum auf die feinen haarähnlichen Auswüchse zurückzuführen ist. Am Ende dieser Abfolge werden die Haarzellen durch die wellenartigen Bewegungen der Basilarmembran zur Seite gebogen, als wenn der Wind über ein wogendes Weizenfeld streicht. Die Bewegung der Haarzellen löst Impulse in den benachbarten Nervenfasern aus, die ihrerseits zusammenlaufen und den Hörnerv bilden. Durch diese mechanische Verkettung der Ereignisse regen die Schallwellen die Haarzellen des Innenohrs an, neuronale Botschaften (über den Thalamus) zur Hörrinde im Temporallappen des Gehirns zu schicken. Von schwingender Luft über ein bewegliches Ventil zu Flüssigkeitswellen und zuletzt zu elektrischen Impulsen, die ans Gehirn weitergeleitet werden: Voilà! Und schon hören wir. Wenn ich den magischsten Teil des Hörvorgangs wählen müsste, so würde ich die Haarzellen wählen. Beschädigte Haarzellen sind für die meisten Fälle von Hörstörungen verantwortlich. In einem Bericht des Howard Hughes Medical Institute aus dem Jahre 1997 über diese »zitternden Bündel, die uns hören lassen«, wird bewundernd über ihre »extreme Sensibilität und Schnelliga
b
Mittelohr (middle ear): Kammer zwischen Trommelfell und Kochlea; sie enthält 3 Knöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die dafür sorgen, dass sich die Schwingungen des Trommelfells auf das ovale Fenster der Kochlea konzentrieren. Kochlea (Schnecke, cochlea): spiralförmig aufgerollte, flüssigkeitsgefüllte knöcherne Röhre im Innenohr, über die die Schallwellen Nervenimpulse auslösen. Innenohr (inner ear): innerster Teil des Ohrs, der u. a. aus Kochlea, Bogengängen und Sacculi des Vestibulärapparats besteht.
. Abb. 5.24a,b. Wie wir Schallwellen in Nervenimpulse umwandeln, die unser Gehirn dann deutet a Das äußere Ohr leitet die Schallwellen an das Trommelfell weiter. Die Mittelohrknöchelchen verstärken die Schwingungen des Trommelfells und leiten sie durch das ovale Fenster in die flüssigkeitsgefüllte Gehörgangschnecke (Kochlea) weiter. b Wie an dieser Detailzeichnung des Mittel- und Innenohrs erkennbar, erzeugen die daraus entstehenden Druckveränderungen in der Flüssigkeit der Kochlea wellenartige Bewegungen der Basilarmembran, durch die die Haarzellen an deren Oberfläche gebeugt werden. Die Bewegungen der Haarzellen lösen Impulse an der Basis der Nervenzellen aus, deren Fasern zusammenlaufen und den Gehörnerv bilden
Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Dr. Fred Hossler/Visuals Unlimited
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5
Seien Sie nett zu den Haarzellen Ihres Innenohrs Die durch den Schall erzeugten Schwingungen der hier dargestellten 50–60 Flimmerhaare an der Spitze einer Haarzelle lösen ein elektrisches Signal aus
keit« berichtet. In der Kochlea befinden sich 16.000 Haarzellen. Das hört sich zwar viel an, ist aber noch gar nichts im Vergleich zu den etwa 130 Mio. Fotorezeptoren des Auges. Aber man bedenke nur ihre Reaktionsfreudigkeit! Werden die winzigen Bündel aus Flimmerhaaren an der Spitze einer Haarzelle auch nur um die Breite eines Atoms zur Seite gebogen (was dem Verschieben des Eiffelturms um etwa einen Zentimeter entsprechen würde), löst die stets wachsame Haarzelle dank eines speziellen Proteins an ihrem oberen Ende sofort eine neuronale Reaktion aus. Bei der höchsten wahrgenommenen Frequenz können Haarzellen ihren neuronalen Stromfluss 1000-mal pro Sekunde an- und abschalten. Wie von etwas so Hochsensiblem nicht anders zu erwarten ist, sind sie äußerst zart und zerbrechlich. Beschallt man sie mit Gewehrschüssen oder Krach aus dem Kopfhörer, so beginnen die Flimmerhaare der Haarzellen auszutrocknen oder zusammenzuschmelzen (7 Unter der Lupe: Lauter Lärm ist lästig). Aber wie erkennen wir die Lautstärke? Nicht durch die Intensität der Reaktion der Haarzellen, wie man vielleicht vermuten könnte. Ein zarter, reiner Ton aktiviert nur die wenigen Haarzellen, die auf seine Frequenz ansprechen. Werden die Geräusche nun lauter, reagieren auch deren Nachbarzellen. Das Gehirn kann also die Lautstärke an der Anzahl der aktivierten Haarzellen ablesen. Wenn eine Haarzelle ihre Sensibilität für leise Töne verliert, kann sie häufig immer noch auf laute Geräusche reagieren. Das erklärt eine andere überraschende Tatsache: Sehr laute Geräusche können für Schwerhörige und für Menschen, die normal hören, laut erscheinen. Als Schwerhöriger fragte ich mich schon oft, wenn ich wirklich lauter Musik ausgesetzt war, wie das für Personen
Unter der Lupe
Lauter Lärm ist lästig Im modernen Leben geht es laut zu: Verkehrslärm, Maschinenlärm in der Fabrik, Presslufthämmer, die den Asphalt aufreißen. Um sich in eine angenehmere Geräuschkulisse zu flüchten, laufen die Jogger im Rhythmus zur intensiven Musik aus ihrem Kopfhörer. All dieser Lärm ist ein Problem. Wenn man kurzfristig extrem lauten Geräuschen ausgesetzt ist, wie einem Gewehrschuss direkt neben dem Ohr, oder aber langfristig lautem Lärm, wie etwa verstärkter Musik, kann dies zu einer Schädigung der Rezeptorzellen und der Hörnerven führen (Backus 1977; West u. Evans 1990). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass selbst Fitness-Clubs und Gesundheitsbäder – die die Menschen oft mit Musik von über 100 Dezibel beschallen – für die Ohren ihrer Kunden schädlich sein können. Haarzellen können mit den Fasern eines Teppichs verglichen werden. Läuft man auf ihnen herum, so können sie nach kurzer Reinigung mit dem Staubsauger wieder in ihren alten Zustand versetzt werden. Stellt man jedoch lange Zeit ein schweres Möbelstück darauf, bleiben sie für immer platt und werden sich nie mehr in ihren früheren Zustand zurückversetzen lassen. Als Faustregel kann gelten, dass ein Geräusch, besonders wenn es anhaltend ist und wiederholt wird, potenziell schädlich ist, wenn man sich dabei überhaupt nicht unterhalten kann (Roesser 1998). Solche Erfahrungen sind verbreitet, wenn der Ton 100 Dezibel überschreitet, wie dies an allen möglichen Schauplätzen der Fall ist, von Sportarenen bis zum Dudelsackkonzert. Und wenn uns nach lautem Maschinengeräusch oder lauter Musik die Ohren klingeln, sind wir nicht gut mit unseren armen, unglückseligen Haarzellen umgegangen. Genauso wie uns Schmerzen warnen, dass unser Körper möglicherweise Schaden nimmt oder genommen hat, warnt uns das Ohrenklingeln oder Ohrensausen vor einer möglichen Schädigung des Gehörs. Im Bereich des Hörens ist das so etwas wie Bluten. Personen, die ganzeTage hinter einem hochmotorisierten Rasenmäher herlaufen, mit einem Presslufthammer oder in einem lauten Nachtklub arbeiten, sollten ganz sicher einen Hörschutz tragen. In der Sexualerziehung sagt man: »Kondome oder, was noch sicherer ist,
Abstinenz.« In der Hörerziehung sagen die Spezialisten: »Hörschutz oder weggehen.« Lärm beeinflusst nicht nur unsere Hörfähigkeit, sondern auch unser Verhalten. Wenn Aufgaben auszuführen sind, die konzentrierte Arbeit verlangen, arbeiten Menschen in einer lauten Umgebung weniger effizient und machen mehr Fehler (Broadbent 1978). Als der neue Münchener Flughafen in Betrieb genommen wurde, verbesserten sich die Leseleistungen und das Langzeitgedächtnis der Schüler, die neben dem alten, nunmehr geschlossenen Flughafen wohnten. Die Leistungen der Kinder, die neben dem neuen Flughafen wohnten, nahmen hingegen leicht ab (Hygge et al. 2002). Menschen, die ständig von Lärm umgeben sind, in Fabriken, in Häusern neben Flughäfen und Wohnungen neben Bahnhöfen, Bahnstrecken und Autobahnen, leiden in der Regel zum Großteil unter stressbedingten Störungen: Bluthochdruck, Angst und Hilflosigkeitsgefühle werden häufig beobachtet (Evans et al. 1995). Durch diverse Laboruntersuchungen sollte herausgefunden werden, welche psychischen Folgen Lärm hat. Bei einem dieser Experimente zeichneten Glass u. Singer (1972) das Getöse von Büromaschinen auf Band auf sowie Gespräche in einer Mischung von unterschiedlichen Sprachen. Arbeiter, die verschiedene Aufgaben ausführten, hörten diesen Lärm, der in vorhersehbaren oder nicht vorhersehbaren Abständen manchmal laut und manchmal leise abgespielt wurde. Unabhängig von den Bedingungen gewöhnten sich die Leute bald an den vorhersehbaren Lärm und führten fast jede Aufgabe gut aus. Doch es stellte sich heraus, dass diejenigen, die unvorhersehbarem lautem Lärm ausgesetzt wurden, später bei einer Korrekturleseaufgabe mehr Fehler machten und schneller frustriert reagierten. Was ist daraus zu schließen? Lärm ist besonders stressig, wenn er nicht vorhersehbar und nicht kontrollierbar ist. Das erklärt auch, warum uns das unvorhersehbare und unbeeinflussbare Dröhnen der Stereoanlage von anderen so viel mehr nervt, als derselbe Dezibelpegel unserer eigenen Stereoanlage – wenn unsere Ohren doch nur »Ohrenlider« hätten.
239 5.3 · Hören
klingen muss, die normal hören. Inzwischen habe ich erkannt, dass es vermutlich in etwa genauso klingt; wir unterscheiden uns bei der Empfindung leiser Töne. Genau daher wollen wir schwerhörigen Menschen nicht, dass alle Geräusche (laute und leise) verstärkt werden. Leise Töne sollten bei uns idealerweise mehr verstärkt werden als laute (eine typische Eigenschaft der modernen digitalen Hörhilfen).
Wie nehmen wir die Tonhöhe wahr? Ziel 13: Stellen Sie die Orts- und die Frequenztheorie einander gegenüber, und erklären Sie, inwiefern sie dazu beitragen, dass wir die Wahrnehmung von Tonhöhen besser verstehen.
Wie wissen wir, ob es sich bei einem Geräusch um das hochfrequente, hohe Zwitschern eines Vogels oder das niedrigfrequente, tiefe Brummen eines Lastwagens handelt? Die heutige Vorstellung von der Art und Weise, wie wir die Tonhöhe unterscheiden, beruht – wie die heutige Vorstellung von der Diskrimination von Farben – auf der Kombination von zwei Theorien. Die Ortstheorie von Hermann von Helmholtz geht davon aus, dass wir verschiedene Tonhöhen hören, weil verschiedene Schallwellen an verschiedenen Orten der Basilarmembran in der Kochlea Aktivität auslösen. Somit kann das Gehirn also die Höhe eines Tones dadurch feststellen, von welcher Stelle auf der Basilarmembran die neuronalen Signale ausgehen. Als der spätere Nobelpreisträger Georg von Békésy (1957) Löcher in die Kochleae von Meerschweinchen und menschlichen Leichen schnitt und mit einem Mikroskop hineinschaute, entdeckte er, dass die Kochlea als Reaktion auf Schallwellen ins Schwingen gerät, und zwar ähnlich wie ein Bettlaken, das man ausschüttelt. Hohe Frequenzen erzeugen große Schwingungen nahe dem Anfang der Basilarmembran der Kochlea, niedrige Frequenzen hingegen nahe dem Ende. Zwar erklärt die Ortstheorie, wie wir hohe Töne hören, nicht jedoch, wie wir tiefe Töne hören, da sich die Nervensignale, die dadurch erzeugt werden, nicht so genau auf der Basilarmembran lokalisieren lassen. Eine Alternativerklärung für die Art und Weise, wie wir tiefe Töne hören, bietet die Frequenztheorie. Die gesamte Basilarmembran schwingt mit der ankommenden Schallwelle mit, wodurch Nervenimpulse ausgelöst und genauso schnell wie die Schallwelle ans Gehirn weitergeleitet werden. Hat die Schallwelle eine Frequenz von 100 Schwingungen pro Sekunde, dann werden 100 Impulse pro Sekunde den Hörnerv entlang geschickt. So kann das Gehirn die Tonhöhe von der Frequenz der Nervenimpulse ableiten. Die Frequenztheorie kann also erklären, wie tiefe Töne wahrgenommen werden. Aber auch diese Theorie hat ihre Tücken, denn die einzelnen Neuronen können nicht mehr als 1000-mal pro Sekunde einen Impuls auslösen. Wie kann also die Frequenztheorie das Hören von Geräuschen mit Frequenzen über 1000 Schwingungen pro Sekunde erklären (grob gesagt, das obere Drittel der Klaviertastatur und darüber)? Hier kommt das Salvenprinzip ins Spiel: Wie Soldaten, die abwechselnd Salven abfeuern, damit ein Teil schießen kann, während die anderen nachladen, können sich Nervenzellen beim Entladen abwechseln. Durch Feuern in rascher Folge können die Neuronen so eine kombinierte Frequenz von über 1000 Impulsen pro Sekunde erzielen. Damit erklärt die Ortstheorie am besten, wie wir hohe Töne wahrnehmen, und die Frequenztheorie erklärt am besten, wie wir tiefe Töne wahrnehmen, und für die Töne im Zwischenbereich scheint eine Kombination dieser beiden Theorien zuzutreffen.
Wie lokalisieren wir Geräusche? Ziel 14: Beschreiben Sie, wie wir Töne zielgenau bestimmen.
Warum haben wir nicht einfach ein großes Ohr, beispielsweise über der Nase? »Damit ich dich besser hören kann,« sagte schon der Wolf zu Rotkäppchen. Ebenso wie uns die Position unserer Augen erlaubt, einen optischen Eindruck von räumlicher Tiefe zu gewinnen, ermöglicht uns die Position unserer Ohren den Genuss des räumlichen Hörens, auch Stereohören genannt (vgl. den Abschnitt über räumliches Hören in 7 Kap. 6). Die etwas unterschiedlichen Botschaften, die von den beiden Mikrophonen beim Erzeugen eines Stereoeffekts aufgenommen werden, imitieren die sich leicht unterscheidenden akustischen Botschaften, die von unseren beiden Ohren empfangen werden.
Ortstheorie (place theory): Diese Theorie besagt, dass beim Gehör jede Tonhöhe der Erregung eines bestimmten Orts der Basilarmembran der Kochlea entspricht.
Frequenztheorie (frequency theory): Diese Theorie besagt, dass beim Gehör die Anzahl der über den Hörnerv übertragenen Nervenimpulse der Frequenz eines Tons entspricht und uns damit ermöglicht, die Höhe dieses Tons wahrzunehmen.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
. Abb. 5.25. Wie wir Geräusche lokalisieren Schallwellen treffen auf das eine Ohr früher und lauter als auf das andere. Diese Information benutzt unser flinkes Hirn, um den Entstehungsort des Geräuschs zu berechnen. Wie nicht anders zu erwarten, haben daher Menschen mit einem völligen Hörverlust auf einem Ohr Schwierigkeiten, Geräusche zu orten
Aus mindestens zwei Gründen sind zwei Ohren besser als eins. Wenn rechts von uns ein Auto hupt, empfängt unser rechtes Ohr ein lauteres Geräusch, und dies erreicht das rechte Ohr etwas früher als das linke (. Abb. 5.25). Weil die Schallgeschwindigkeit 1200 km pro Stunde beträgt und unsere Ohren nur etwa 15 cm auseinanderliegen, sind der Lautstärkenunterschied und die Zeitverschiebung extrem gering. Doch unser hoch empfindliches Gehör kann solche winzigen Unterschiede wahrnehmen (Brown u. Deffenbacher 1979; Middlebrooks u. Green 1991). Der gerade noch erkennbare Unterschied in der Richtung der beiden Schallquellen entspricht einem Zeitunterschied von nur 0,000027 Sekunden! Um zu simulieren, was die Ohren bei Tönen, die von unterschiedlichen Orten kommen, erleben, kann man mit Hilfe von Audiosoftware Geräusche aus zwei Stereolautsprechern mit variierender Zeitverschiebung und Lautstärke erzeugen. So lässt sich beispielsweise eine realistische Wahrnehmung einer Biene simulieren, die zunächst laut vor einem Ohr herum summt, dann im Zimmer herumfliegt und dann neben dem anderen Ohr summt (Harvey 2002). Was meinen Sie, wie gut wir darin sind, ein Geräusch zu lokalisieren, das gleich weit von beiden Ohren entfernt ist, wie etwa Geräusche, die von direkt über uns, hinter uns, vor uns oder unter uns kommen? Nicht besonders gut. Und warum? Weil diese Geräusche gleichzeitig auf beide Ohren treffen. Setzen Sie sich mit geschlossenen Augen hin, während ein Freund mit den Fingern um Ihren Kopf herum schnipst. Sie werden leicht auf den Punkt zeigen, von dem das Geräusch kommt, wenn es von einer Seite oder der anderen kommt, aber Sie werden wahrscheinlich einige Fehler machen, wenn der Ton direkt von vorne, hinten, oben oder unten kommt. Das ist auch der Grund, weshalb wir manchmal zum besseren Hören, woher ein Geräusch kommt, den Kopf schief legen, damit unsere beiden Ohren eine leicht unterschiedliche Botschaft empfangen können. Bei auditorischen und bei visuellen Informationen bedient sich das Gehirn der Parallelverarbeitung – indem es spezialisierte Teams dazu einsetzt, gleichzeitig an verschiedenen Unteraufgaben zu arbeiten. Eulen (und wahrscheinlich auch Menschen) verarbeiten zeitliche Unterschiede in einer und Intensitätsunterschiede in einer anderen Nervenbahn, bevor sie die Informationen zusammenführen, um die Lage des Tons im Raum auszumachen (Konishi 1993). Weitere auditorische Verarbeitungsschaltkreise sind darauf spezialisiert, die Merkmale bestimmter Töne zu entnehmen, wie Musiker in einem Symphonieorchester, die in der Partitur ihren eigenen Part lesen. Einige Nervenzellen im Gehirn z. B. reagieren stärker auf klangliche Reize mit hohem Kontrast, wie sie von einem Musikinstrument erzeugt werden, das Solo gespielt wird; andere reagieren stärker auf klangliche Reize mit geringem Kontrast, wie dies beim selben Musikinstrument der Fall wäre, das in einem Orchester gespielt wird.
5.3.3 Schwerhörigkeit und Gehörlosenkultur Ziel 15: Stellen Sie die beiden Arten von Schwerhörigkeit gegenüber, und beschreiben Sie deren Ursachen. Schallleitungsschwerhörigkeit (conduction hearing loss): Schwerhörigkeit infolge einer Schädigung des mechanischen Systems, das Schallwellen zur Kochlea weiterleitet.
Schallempfindungsschwerhörigkeit (sensorineural hearing loss): Schwerhörigkeit infolge von Verletzungen der Rezeptorzellen der Kochlea oder der Hörnerven; auch als Nervenschwerhörigkeit bezeichnet.
Aufgrund seiner komplizierten und zarten Struktur ist das Ohr anfällig für Verletzungen. Schwierigkeiten mit dem mechanischen System, das die Schallwellen zur Kochlea weiterleitet, können zu Schallleitungsschwerhörigkeit führen. Wenn das Trommelfell ein Loch hat oder die Mittelohrknöchelchen ihre Fähigkeit zum Schwingen verlieren, nimmt die Fähigkeit des Ohrs ab, Schwingungen weiterzuleiten. Verletzungen der Haarzellrezeptoren der Kochlea oder der damit verbundenen Nerven können zur häufiger vorkommenden Schallempfindungsschwerhörigkeit führen (auch Nervenschwerhörigkeit genannt). Gelegentlich entsteht Schallempfindungsschwerhörigkeit in Folge einer Krankheit. Als häufigere Ursache für diese Form der Schwerhörigkeit gelten jedoch biologische Veränderungen, die mit der Anlage, dem Altern oder längerer Einwirkung von ohrenbetäubendem Lärm oder lauter Musik in Zusammenhang gebracht werden (. Abb. 5.26). Sind diese Gewebe erst einmal zerstört, bleiben sie abgestorben. Eine Hörhilfe kann allerdings so viele Töne verstärken, dass benachbarte Haarzellen stimuliert werden. Digitale Hörhilfen verbessern die Hörfähigkeit durch Verstärkung der Schwingungen bei Frequenzen (i. Allg. die hohen Frequenzen), die unser Gehör am schlechtesten wahrnimmt, sowie durch Komprimierung der Geräusche (Verstärkung der leisen, nicht aber der lauten Töne).
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. Abb. 5.26. Ältere Menschen hören niedrige Frequenzen meist besser als hohe Frequenzen Der Hörverlust gegenüber hohen Frequenzen ist auf die Nervendegeneration am Anfang der Basilarmembran zurückzuführen. Diese Erkenntnis stützt die Ortstheorie, der zufolge verschiedene Tonhöhen verschiedene Stellen auf der Basilarmembran aktivieren. (Aus Wever 1949)
Bei manchen Tieren wie etwa Haien und Vögeln sind die Haarzellen in der Lage, sich zu regenerieren. Wissenschaftler haben auch Möglichkeiten entdeckt, um die Haarzellregeneration bei Meerschweinchen und jungen Ratten zu stimulieren (Forge et al. 1993; Warchol et al. 1993; Sage et al. 2005). Die Ergebnisse wecken Hoffnungen, dass es eines Tages auch möglich sein könnte, die menschliche Kochlea auszutricksen und zur Regeneration von Haarzellen zu verleiten. Dadurch könnte man die Hörfähigkeit wiederherstellen. Wir können hoffen, dass eines Tages das menschliche Ohr nach einer Gehörlosigkeit wieder zum Leben erwacht.
Ziel 16: Beschreiben Sie, wie ein Kochlearimplantat funktioniert, und erklären Sie, warum die Vertreter der Gehörlosenkultur diese Geräte ablehnen.
Bisher besteht für Menschen mit Nervenschwerhörigkeit die einzige Möglichkeit, das Hörvermögen wiederherzustellen, in einer Art bionischem Ohr, dem Kochleaimplantat. Dieses elektronische Gerät verwandelt Geräusche in elektrische Signale, die verschiedene Schallinformationen über eine Verbindungsleitung zu den Nerven der Kochlea und anschließend zum Gehirn weiterleiten. Das Implantat hilft Kindern dabei, mündlich kommunizieren zu können (vor allem, wenn es noch vor der Schulzeit bei ihnen eingesetzt wird), und es kann auch dazu beitragen, dass die Kinder weniger leicht ablenkbar und impulsiv sind (Dorman u. Wilson 2004; Svirsky et al. 2000). Die neuesten Kochleaimplantate können auch bei Erwachsenen dazu führen, dass die Hörfähigkeit wiederhergestellt wird (wenn auch nicht bei Erwachsenen, deren Gehirn in der Kindheit nie gelernt hat, Töne zu verarbeiten). Im Jahr 2003 hatten 60.000 Menschen weltweit Kochleaimplantate, und Millionen weitere waren potentielle Kandidaten für ein solches Implantat (Gates u. Miyamoto 2003). Der Einsatz von Kochleaimplantaten ist allerdings sehr umstritten. Auf der einen Seite haben mehr als 90% der gehörlosen Kinder hörende Eltern; und die meisten dieser Eltern wollen, dass ihre Kinder ihre Welt voller Töne und Gespräche erleben dürfen. Und wenn ein Implantat seine Wirkung nicht verfehlen soll, können sie die Entscheidung nicht so lange hinausschieben, bis ihr Kind ein Alter erreicht, in dem es dem zustimmen kann. Auf der anderen Seite gibt es die Fürsprecher der Gehörlosenkultur, die dagegen sind, dass diese Implantate bei Kindern eingesetzt werden, die das Gehör verloren haben, bevor sie sprechen lernen. Die National Association of the Deaf, der amerikanische Gehörlosenverband, vertritt die These, dass Gehörlosigkeit keine Behinderung sei, weil Menschen, die von Geburt an die Gebärdensprache benutzt haben, linguistisch nicht behindert seien. In seinem 1960 veröffentlichten Buch »Die Struktur der Gebärdensprache« wies der Linguist William Stokoe von der Gallaudet University (der weltweit einzigen Universität speziell für Gehörlose) nach, dass die Gebärdensprache eine vollständige Sprache mit eigener Grammatik, Syntax und Semantik ist. Da die amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) keine Beziehung zu anderen Sprachen, wie etwa dem Englischen, aufweist, haben Menschen,
Kochleaimplantat (cochlear implant): Gerät zur Umwandlung elektrischer Signale und zur Stimulation des Hörnervs über Elektroden, die in die Kochlea eingefädelt werden. Es gibt bereits verschiedene Experimente zur Wiederherstellung der Sehfunktion durch eine bionische Retina (ein Mikrochip von 2 mm Durchmesser mit Fotozellen, die die geschädigten Retinazellen stimulieren) sowie eine Videokamera mit Computer, die die Sehrinde stimulieren. In Teststudien konnte bei Blinden mit Hilfe dieser beiden Geräte eine teilweise Wiederherstellung der Sehfunktion erreicht werden (Dobelle 2000; Steenhuysen 2002). Gute Schwingungen Die Schottin Evelyn Glennie, die seit dem Alter von 12 Jahren völlig taub ist, ist hauptberuflich Percussion-Solistin. Die Beziehung zu den Instrumenten stellt sie bei ihren Auftritten über ihren Tastsinn her (sie tritt ohne Schuhe auf ), die Beziehung zum Dirigenten über ihr scharfes Sehvermögen
Vicky Alhadeff/Lebrecht Music & Arts/Corbis
Kochleaimplantate
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
die in der Kindheit nur die ASL (oder eine andere Variante der Gebärdensprache) erlernen, später Schwierigkeiten, lesen und schreiben zu lernen. Auch die Gebärdensprachen verschiedener Länder unterscheiden sich, und die deutsche Gebärdensprache ist zudem dialektal gegliedert, d. h. in unterschiedlichen Regionen Deutschlands werden gleiche Inhalte z. T. mit unterschiedlichen Gebärden bezeichnet. Einige Schulen und einige Familien helfen daher gehörlosen Kindern dabei, bilingual zu werden, die Gebärdensprache zu beherrschen und die gesprochene und die Schriftsprache ihrer Kultur (indem sie z. B. eine an Hinweisen reiche Sprache verwenden, die Gebärden mit Wörtern verbindet; vgl. Holloway 2000). Auf die Bedeutung der Gebärdensprache für die Gehörlosenkultur weist der Deutsche Gehörlosen-Bund in der Präambel seiner Satzung (Stand: Oktober 2003) hin: »Die Deutsche Gebärdensprache bildet traditionell das Fundament des sozialen und kulturellen Zusammenlebens Gehörloser als Gebärdensprachgemeinschaft und trägt in erheblichem Maße zur Identität, psychischen Gesundheit und zur Bildung bei. Damit ist auch eine wichtige Grundlage zur gesellschaftlichen Integration sowie zur politischen Beteiligung gegeben.«
5 Wolfgang Gstöttner. (2004). American Scientist, Vol. 92, Number 5. (p. 437)
All diejenigen von uns, deren Hörfähigkeit mit dem Alter oder durch eine Krankheit nachgelassen hat, d. h. die außerhalb der Gehörlosenkultur leben und zuerst hören konnten und nun nicht mehr so gut hören, würden vielleicht eher davon sprechen, dass sie unter einer Beeinträchtigung leiden. Das National Center for Health Statistics schätzt, dass in der Gruppe von Menschen mit Hörverlust nur etwa 1% bereits taub geboren wurde. Menschen, die einen Hörverlust erleiden, sollten sich in ihrer eigenen Vorstellung nicht als Behinderte ansehen (eine Bezeichnung, die den Menschen mit einem Etikett versieht), sondern als Menschen mit einer Behinderung (eine Bezeichnung, die eine physische Beeinträchtigung beschreibt). Für Menschen, die nie gelernt haben, die Gebärdensprache zu benutzen, kann der Hörverlust tatsächlich eine soziale Behinderung darstellen. Helen Keller erklärte, dass sie die Gehörlosigkeit als ein viel größeres Handikap empfunden habe als die Blindheit: Die Blindheit schneide die Menschen von Dingen ab, doch die Gehörlosigkeit isoliere Menschen. Hardware zum Hören Das Röntgenbild zeigt das Gewirr von Drähten bei einem Kochleaimplantat; es führt zu 12 Stimulationsstellen am Hörnerven
»Indem ich meine Hand auf die Lippen und den Kehlkopf einer Person lege, bekomme ich eine Vorstellung von vielen speziellen Schwingungen und interpretiere sie: das Glucksen eines Jungen, das„Oh“ eines Mannes als Zeichen der Überraschung, das„Ach“ als Zeichen des Verdrusses oder der Bestürzung, das Stöhnen vor Schmerz, ein Schrei, ein Flüstern, ein Schnarren, ein Schluchzen, ein Würgen und ein Keuchen.« Helen Keller (1908)
Sensorische Kompensation Manche Fürsprecher der Gehörlosenkultur weisen im Übrigen darauf hin, dass man, wenn man von Gehörlosigkeit redet, genauso gut von »Sehverbesserung« statt von »Hörbeeinträchtigung« sprechen könnte. Menschen die einen Sinneskanal verlieren, scheinen dies durch eine leichte Verbesserung ihrer anderen sensorischen Fähigkeiten auszugleichen (Backman u. Dixon 1992; Levy u. Langer 1992). Hier einige Beispiele: 4 Blinde Musiker haben eine höhere Wahrscheinlichkeit als sehende, ein absolutes Gehör zu entwickeln (Hamilton 2000). 4 Blinde sind auch mit einem verschlossenen Ohr in der Lage, die Schallquelle eines Geräuschs genauer zu lokalisieren als sehende Menschen (Lessard et al. 1998). 4 Schließen Sie Ihre Augen und deuten Sie mit Ihren Händen an, wie breit ein Karton mit einem Dutzend Eiern ist. Nach einem Bericht der University of Otago können dies blinde Menschen viel genauer als sehende (Smith et al. 2003). 4 Da die Hörrinde von gehörlosen Menschen praktisch nach sensorischem Input »hungert«, wird sie sensibel für Berührungseindrücke und visuelle Sinneseindrücke (Emmorey et al. 2003; Finney et al. 2001; Penhune et al. 2003). Die amerikanische Schriftstellerin und Sozialreformerin Helen Keller erkrankte im Alter von 19 Monaten an Scharlach und war danach taubstumm und blind. Infolge ihrer lebenslangen Blindheit und Gehörlosigkeit hatte ihr Gehirn bestimmte Regionen, die normalerweise für die Verarbeitung von visuellen und akustischen Sinneseindrücken zuständig sind, für andere Zwecke zugänglich gemacht, beispielsweise für die Unterscheidung von Berührungsempfindungen. Obwohl Gehörlose i. Allg. nicht über eine bessere Lesefähigkeit verfügen, erklärt die visuelle Kompensation möglicherweise, warum es so viele Ingenieure, Architekten und Mathematiker mit hohen visuellen Fähigkeiten unter ihnen gibt. Der Astrophysiker Stephen Hawking sagte einmal, dass das Fehlen eines funktionierenden Körpers ihn dazu gezwungen hätte, sein Gehirn für andere Dinge zu nutzen und seine Denkweise kreativer zu machen (Uehling 1998). Schließen Sie Ihre Augen, und Sie
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Unter der Lupe
Leben in einer stillen Welt ebenso verschlechtert, beobachte ich, wie ich mich bei Theateraufführungen und auf Konferenzen plötzlich in die vorderen und mittleren Reihen setze, wie ich mir in Restaurants stille Eckchen suche, wie ich meine Frau bitte, wichtige Anrufe für mich zu erledigen, wenn es gilt, Freunde mit einem anderen Dialekt als dem unsrigen zu kontaktieren, und wie ich ein Wunderwerk der Technik benutze, das mein Hörgerät auf Knopfdruck in einen Lautsprecher im Ohr verwandelt, auf den akustische Signale vom Telefon, vom Fernsehgerät und von einem öffentlich zugänglichen Sendesystem übertragen werden (7 www.hearingloop.org). Doch die größten Frustrationen erlebe ich, wenn ich mit oder ohne Hörhilfe den Witz, über den sich alle totlachen, nicht höre, wenn ich nach wiederholten Versuchen, die Frage eines ärgerlich gewordenen Menschen einfach nicht verstehe und die Situation sich nicht überspielen lässt und wenn Familienmitglieder, nachdem sie dreimal versucht haben, mir etwas Unwichtiges mitzuteilen, aufgeben und sagen: »Ach, war sowieso nicht so wichtig!« Je älter meine Mutter wurde, desto mehr spürte sie, dass es einfach den Aufwand nicht wert war, auf soziale Interaktion aus zu sein. Doch ich teile die Meinung des Zeitungskolumnisten Kisor, dass Kommunikation immer die Anstrengung lohnt. »Die meiste Zeit beiße ich eben die Zähne zusammen und wage den Sprung nach vorn.« Sich nach außen zu wenden, mit anderen Kontakt aufzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren, und sei es über eine Kluft der Stille hinweg, bedeutet, unser Menschsein als soziale Wesen zu unterstützen.
AP Photo/Seth Perlman
Die Gruppe der Gehörlosen ist ein buntes Völkchen. Manche sind absolut taub, andere haben ein begrenztes Hörvermögen. Manche waren bereits prälingual (vor dem Spracherwerb) gehörlos, andere haben die Welt der Hörenden kennen gelernt. Manche benutzen die Gebärdensprache und identifizieren sich mit der auf dieser Sprache basierenden Gehörlosenkultur. Zudem sind besonders jene, die erst nach Ausbildung ihrer Sprachfähigkeit gehörlos wurden, »oral« (auf die Lautsprache) ausgerichtet und kommunizieren mit der Welt der Hörenden über Lippenlesen oder geschriebene Botschaften. Wieder andere benutzen eine Mischung aus beiden Kulturen. Kinder, die in einer Umgebung mit anderen Gehörlosen aufwachsen, identifizieren sich häufiger mit der Gehörlosenkultur als andere und haben in der Regel ein positives Selbstwertgefühl. Wenn sie in einem Haushalt aufwachsen, in dem die Gebärdensprache benutzt wird, sei es von gehörlosen oder hörenden Eltern, haben sie in der Regel auch ein stärker ausgeprägtes Selbstwertgefühl und empfinden sich als besser akzeptiert (Bat-Chava 1993, 1994). Die Gehörlosen sehen sich meistens besonderen Herausforderungen gegenüber (Braden 1994). Da die akademischen Fächer in der gesprochenen Sprache verwurzelt sind, können ihre schulischen Leistungen darunter leiden. Und die sozialen Herausforderungen sind sogar noch größer. Da gehörlose Kinder zur üblichen Kommunikation nicht imstande sind, müssen sie mit ihren hörenden Spielkameraden darum kämpfen, gemeinsame Spiele zu koordinieren. Jugendliche können unter sozialer Ausgrenzung und einem sich daraus ergebenden geringen Selbstwertgefühl leiden. Sogar Erwachsene, die zu einem späteren Zeitpunkt im Leben einen Hörverlust erleiden, können beobachten, wie die übergroßen Herausforderungen sie in eine Art Schüchternheit verfallen lassen. Ein Phänomen unter Gehörlosen ist es, dass man den Hörenden so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich machen möchte, berichtet Kisor (1990, S. 244), der Herausgeber einer Zeitung in Chicago und Kolumnist, der sein Hörvermögen im Alter von 3 Jahren verlor. »Wir können bis zur Unsichtbarkeit zurückhaltend und schüchtern sein. Manchmal kann diese Neigung lähmend auf uns wirken. ... Ich muss immer dagegen ankämpfen.« Ich kenne mich da aus, denn meine Mutter, mit der wir mit Hilfe von geschriebenen Botschaften auf auslöschbaren »Zaubertafeln« kommunizierten, hat die letzten 12 Jahre ihres Lebens in einer stillen Welt zugebracht; sie mied den Stress und die Anstrengung, die ihr die Interaktion mit Menschen außerhalb des engsten Familien- und Bekanntenkreises verursachte. Jetzt, da ich merke, wie sich mein eigenes Hörvermögen
Zeichen des Erfolgs Gehörlose Teilnehmer bei einem Rechtschreibwettbewerb applaudieren einem Kandidaten in Gebärdensprache
werden sofort feststellen, wie sich Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre anderen Sinne richtet. Wenn sich Liebende küssen, schließen sie ihre Augen und erreichen dadurch, dass die Ablenkung möglichst gering und die Sensibilität für Tastempfindungen möglichst groß wird. Menschen mit einer Aphasie – die die Fähigkeit eingebüßt haben, sich sprachlich auszudrücken – haben typischerweise eine viel bessere Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit auf Hinweisreize von Gesicht, Körper und Sprache zu richten und somit Täuschungsmanöver zu erkennen. Etcoff et al. (2000) fand heraus, dass Menschen, die nach einem Schlaganfall Aphasiker wurden, imstande waren, in 73% der Fälle Lügner zu erkennen, wenn sie sich auf den Gesichtsausdruck konzentrierten (während Menschen ohne Aphasie nicht besser als der Zufall waren). Ihnen und mir entgeht die Bedeutung, die jemand mit Hilfe von Intonation und Gesten übermittelt; doch ein Aphasiker liest diese Botschaften prompt.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Lernziele Abschnitt 5.3 Hören Ziel 11: Beschreiben Sie die Druckwellen, die wir als Ton erleben. Schallwellen sind ringförmige Bänder sich komprimierender und sich ausdehnender Luft. Unsere Ohren nehmen diese Veränderungen im Luftdruck wahr und wandeln sie in neuronale Impulse um, die das Gehirn als Töne dekodiert. Schallwellen unterscheiden sich in ihrer Frequenz und Amplitude, die wir als Unterschiede in der Tonhöhe und der Lautstärke wahrnehmen.
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Ziel 12: Beschreiben Sie die drei Bereiche des Ohrs, und skizzieren Sie die Ereignisabfolgen, die dazu führen, dass elektrische Impulse zum Gehirn geschickt werden. Das äußere Ohr ist der sichtbare Teil des Ohrs. Das Mittelohr ist die Kammer zwischen dem Trommelfell und der Kochlea. Das Innenohr besteht aus der Kochlea, den Bogengängen und den Sacculi des Vestibularapparats. Mit Hilfe einer mechanischen Kettenreaktion werden die Schallwellen durch den Gehörgang geleitet und rufen am Ende geringfügige Schwingungen des Trommelfells hervor. Die Knöchelchen des Mittelohrs verstärken die Schwingungen und übertragen sie auf die mit Flüssigkeit gefüllte Kochlea. Dadurch, dass die Basilarmembran in wellenartige Bewegungen versetzt wird, die durch Druckveränderungen in der Kochlearflüssigkeit verursacht werden, werden die winzigen Haarzellen bewegt, durch die wiederum Nervenimpulse ausgelöst werden, die (über den Thalamus) an den auditorischen Kortex im Gehirn gesandt werden. Ziel 13: Stellen Sie die Ortstheorie und die Frequenztheorie einander gegenüber, und erklären Sie, inwiefern sie dazu beitragen, dass wir die Wahrnehmung von Tonhöhen besser verstehen. In der Ortstheorie wird angenommen, dass unser Gehirn eine bestimmte Tonhöhe dadurch interpretiert, dass es die Lage des Punktes (deshalb »Ortstheorie«) dekodiert, an dem eine Schallwelle die Basilarmembran der Kochlea stimuliert hat. In der Frequenztheorie wird angenommen, dass das Gehirn die Anzahl und die Frequenz (deshalb »Frequenztheorie«) der Pulse dechiffriert, die im Hörnerv zum Gehirn wandern. Die Forschung hat beide Theorien bestätigt, aber für unterschiedliche Hörbereiche. Mit Hilfe der Ortstheorie lässt sich nicht erklären, wie wir tiefe Töne hören können (die nicht auf der Basilarmembran verortet werden können), aber sie bietet eine Erklärung dafür, wie wir hohe Töne wahrnehmen. Mit Hilfe der Frequenztheorie lässt sich nicht erklären, wie wir hohe Töne hören (einzelne Neuronen können nicht schnell genug feuern, um die notwendige Anzahl von Spannungsspitzen hervorzubringen. Die Frequenztheorie liefert jedoch eine Erklärung dafür, wie wir tiefe Töne wahrnehmen. Eine Kombination aus beiden Theorien erklärt, wie wir Töne im mittleren Bereich hören.
Ziel 14: Beschreiben Sie, wie wir Töne zielgenau bestimmen. Schallwellen treffen auf das eine Ohr früher und intensiver als auf das andere. Mit Hilfe von Parallelverarbeitung analysiert das Gehirn winzige Unterschiede in Bezug auf die Töne, die von den beiden Ohren aufgenommen werden, und berechnet die Schallquelle. Ziel 15: Stellen Sie die beiden Arten von Schwerhörigkeit gegenüber, und beschreiben Sie deren Ursachen. Schallleitungsschwerhörigkeit ist eine Folge einer Schädigung des mechanischen Systems, das die Schallwellen an die Kochlea überträgt. Schallempfindungsschwerhörigkeit (oder Nervenschwerhörigkeit) ist die Folge einer Schädigung von Haarzellen in der Kochlea oder von damit verbundenen Nerven. Diese Probleme können durch Krankheiten und Unfälle hervorgerufen werden, aber altersbedingte Störungen und dauernde Konfrontation mit lauten Geräuschen sind die häufigeren Ursachen von Schwerhörigkeit, vor allem von Nervenschwerhörigkeit. Ziel 16: Beschreiben Sie, wie ein Kochleaimplantat funktioniert, und erklären Sie, warum die Vertreter der Gehörlosenkultur diese Geräte ablehnen. Kochleaimplantate werden an unterschiedlichen Stellen mit dem Hörnerv verbunden; das ermöglicht es ihnen, elektrische Impulse an das Gehirn zu übertragen. Diese Geräte können gehörlosen Kindern dabei helfen, einige Töne zu hören und die Verwendung der gesprochenen Sprache zu erlernen. Doch Kochleaimplantate sind am wirkungsvollsten, wenn die Kinder noch ganz klein sind; dies bedeutet, dass die Eltern die Entscheidung für ihre gehörlosen Kinder treffen müssen. Die Fürsprecher der Gehörlosenkultur sind der Auffassung, dass die Operation unnötig ist, weil sie Gehörlosigkeit nicht als Behinderung ansehen – gehörlose Menschen haben bereits eine vollständige Sprache: die Gebärdensprache. Einige sind zudem der Meinung, dass die sensorische Kompensation, die andere Sinne sensibler werden lässt, gehörlosen Menschen Vorteile gegenüber Hörenden verschafft. > Denken Sie weiter: Glauben Sie, dass Sie sich ein Kochleaimplantat einsetzen lassen würden, wenn Sie von Geburt an gehörlos wären? Überrascht es Sie, dass die meisten lebenslang gehörlosen Erwachsenen keine Implantate für sich selbst oder ihre gehörlosen Kinder haben möchten? Wie kommt es, dass es analog zur Gehörlosengemeinschaft und ihrer Kultur nicht eine »Blindengemeinschaft« und »Blindenkultur« gibt?
245 5.4 · Andere wichtige Sinne
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Andere wichtige Sinne
Sehen und Hören sind die wichtigsten Sinne des Menschen. Wir sind von ihnen abhängig, insbesondere für die Kommunikation. Bei der Zuteilung im Hirnrindengewebe gibt unser Gehirn diesen beiden Sinnen den Vorrang. Aber auch unsere anderen 4 Sinne funktionieren auf außergewöhnliche Weise: der Tastsinn, der Geschmackssinn, der Geruchssinn und unser kinästhetischer Sinn für die Lage des Körpers im Raum und für Bewegungen. Haie und Hunde verlassen sich auf ihren ausgeprägten Geruchssinn, der durch große, dem Geruchssinn vorbehaltene Hirnareale unterstützt wird. Ohne unseren Tastsinn, den Geschmacks- und Geruchssinn oder den kinästhetischen Sinn wären auch wir Menschen ernsthaft behindert, und unsere Fähigkeiten zum Genießen der Welt wären äußerst eingeschränkt.
5.4.1 Tastsinn Ziel 17: Beschreiben Sie den Tastsinn.
Wenn Sie einen Sinn aufgeben müssten, welchen würden Sie wählen? Wenn Sie nur einen einzigen Sinn haben könnten, welchen würden Sie sich aussuchen? Obwohl der Tast- oder Berührungssinn nicht unbedingt die erste Sinnesempfindung ist, die uns einfällt, könnte es jedoch diejenige sein, der wir den Vorrang vor allen anderen geben. Von Anfang an sind Berührungen für unsere Entwicklung entscheidend. Ganz kleine Ratten, denen man die Berührung der fürsorglichen Pflege ihrer Mutter vorenthält, produzieren weniger Wachstumshormone und haben einen herabgesetzten Stoffwechsel. Das ist ein guter Schutzmechanismus, um am Leben zu bleiben, bevor die Mutter zurückkommt, aber auch eine Reaktion, die das Wachstum behindert, wenn sie länger anhält. Ganz kleine Äffchen, die ihre Mutter sehen, hören und riechen, sie aber nicht berühren dürfen, werden schrecklich unglücklich. Werden sie hingegen von ihrer Mutter durch eine Trennwand mit Löchern getrennt sind, die ihnen eine Berührung ermöglicht, sind sie entschieden weniger unglücklich. Wie wir bereits in 7 Kap. 3 aufgezeigt haben, nehmen zu früh geborene Babys schneller zu und können früher aus dem Krankenhaus entlassen werden, wenn sie durch Massage mit den Händen stimuliert werden. Als Liebende sehnen wir uns nach Berührungen jeder Art – wir wollen küssen, streicheln und uns aneinander schmiegen. Der Satiriker Dave Barry mag Recht haben, darüber zu spotten, dass die Haut »andere Menschen davon abhält, ins Innere unseres Körpers zu schauen, das abstoßend ist, und unsere Organe davon abhält, auf den Boden zu fallen«. Aber die Haut kann noch viel mehr: Unser Tast- oder Berührungssinn ist in Wirklichkeit eine Mischung aus mindestens 4 verschiedenen Sinneswahrnehmungen der Haut: der Wahrnehmung von Druck, Wärme, Kälte und Schmerz. In der Haut befinden sich mehrere Typen von spezialisierten Nervenendigungen. Berührt man verschiedene Punkte auf der Haut mit einem weichen Haar, einem warmen oder kalten Draht oder einer Nadelspitze, so entdeckt man, dass manche Punkte besonders empfindlich auf Druck reagieren, manche auf Wärme, andere auf Kälte und wieder andere auf Schmerz. Bedeutet das, dass jede Nervenendigung ein Rezeptor für einen der grundlegenden Hautsinne ist, wie die Zapfenrezeptoren des Auges den Grundfarben des Lichts entsprechen? Überraschenderweise gibt es keine einfache Beziehung zwischen dem, was wir an einer bestimmten Stelle empfinden, und dem Typ der spezialisierten Nervenendigung an dieser Stelle. Nur der Druck wirkt auf die gleichen Rezeptoren ein. Andere Hautempfindungen sind Abwandlungen der 4 Grundqualitäten (Druck, Wärme, Kälte [entweder sehr niedrige oder sehr hohe Temperaturen] und Schmerz): 4 Benachbarte Druckstellen zu streicheln, lässt ein Kitzeln aufkommen. 4 Wiederholtes sanftes Streicheln eines Schmerzpunktes, lässt ein Juckgefühl entstehen. 4 Berühren von benachbarten kälte- und druckempfindlichen Punkten löst ein Gefühl von Nässe aus, das Sie spüren können, wenn Sie trockenes, kaltes Metall anfassen. 4 Durch Stimulation von benachbarten kälte- und wärmeempfindlichen Punkten wird eine Empfindung von »heiß« erzeugt. (. Abb. 5.27).
. Abb. 5.27. Warm + kalt = heiß Wenn durch ein Rohr eiskaltes Wasser fließt und durch das andere angenehm warmes, nehmen wir die kombinierte Empfindung als kochend heiß wahr
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Dierdre Desmond
Zur Berührungsempfindung gehört allerdings mehr als nur die taktile Stimulation. Ein selbst ausgelöstes Kitzeln führt zu einer sehr viel geringeren somatosensorischen Kortexaktivierung, als dies beim selben Kitzeln der Fall wäre, wenn es durch etwas oder jemand anderen ausgelöst wird (Blakemore et al. 1998). (Das Gehirn ist weise genug, um auf eine unerwartete Stimulierung am empfindlichsten zu reagieren.) Der konzeptgeleitete Einfluss auf die Tastempfindung lässt sich mit Hilfe der Gummihandtäuschung illustrieren. Stellen Sie sich vor, wie Sie eine realistisch aussehende Gummihand anschauen, während ihre reale Hand verborgen ist (. Abb. 5.28). Wenn ein Versuchsleiter gleichzeitig ihre nachgebildete und ihre richtige Hand berührt, werden Sie wahrscheinlich Ihre Gummihand als ihre eigene Hand wahrnehmen und die Berührung dort empfinden. . Abb. 5.28. Die Gummihand-Täuschung Als die Forscherin Deirdre Desmond aus Dublin gleichzeitig die wirkliche und die nachgebaute Hand einer Versuchsteilnehmerin berührt, hat die Versuchsteilnehmerin ein Gefühl, als wäre die sichtbare nachgebaute Hand ihre eigene
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AP Photo/Stephen Morton
Ein schmerzfreies, aber problematisches Leben Ashlyn Blocker (rechts), die hier mit ihrer Mutter und ihrer Schwester abgebildet ist, hat eine seltene genetisch bedingte Störung. Sie empfindet weder Schmerz noch extreme Kälte oder Hitze. Sie muss oft daraufhin untersucht werden, ob sie sich zufällig selbst Verletzungen zugefügt hat, die sie selbst nicht spürt. »Manche Menschen würden sagen, dass es eine gute Sache ist [Schmerz nicht zu spüren]«, sagte die Mutter. »Aber das ist nicht so. Schmerzen haben einen Grund. Durch sie weiß unser Körper, dass da etwas nicht stimmt und es repariert werden muss. Ich würde alles dafür geben, dass sie Schmerzen empfinden kann.« (Nach Bynum 2004)
Schmerz Ziel 18: Geben Sie an, welchen Sinn Schmerz hat, und beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Schmerztheorie.
Seien Sie dankbar für gelegentliche Schmerzen. Durch Schmerzen teilt Ihnen Ihr Körper mit, dass etwas nicht stimmt. Indem er Ihre Aufmerksamkeit auf eine Verbrennung, einen Hautriss oder einen Bruch lenkt, meldet er Ihnen, dass Sie Ihr Verhalten sofort ändern müssen. Die wenigen Menschen, die ohne die Fähigkeit zur Schmerzempfindung geboren werden, können sich schwere Verletzungen zuziehen, weil sie keine Warnung durch die Gefahrensignale des Schmerzes erhalten. In der Regel sterben sie im frühen Erwachsenenalter. Ohne das Unbehagen zu empfinden, das uns gelegentlich dazu veranlasst, die Stellung oder Körperhaltung zu wechseln, neigen sie zu einer Überbeanspruchung ihrer Gelenke, und ohne die Warnsignale des Schmerzes akkumulieren sich die Auswirkungen von unkontrollierten Infektionen und Verletzungen (Neese 1991). Um einiges größer hingegen ist die Zahl der Menschen, die mit chronischem Schmerz leben, was etwa mit einem Alarmsignal vergleichbar ist, das sich nie abschaltet. Für Personen mit einer krankheitsbedingten Hyperalgesie, einer extremen Sensibilität für etwas, was andere nur als leicht schmerzhaft empfinden würden, wirken die sensorischen Rezeptoren und das Gehirn so zusammen, dass das Leben dadurch nur noch elend wird (Brune u. Handwerker 2004; Wiertelak et al. 1994). Das Leiden solcher Menschen und anderer mit ständigen oder ständig wiederkehrenden Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und arthritis- oder krebsbedingten Schmerzen wirft zwei Fragen auf: Was ist eigentlich Schmerz? Und wie können wir ihn unter Kontrolle bringen?
Biologische, psychologische und soziokulturelle Einflüsse auf Schmerz Unser Schmerzerleben ist sehr unterschiedlich, es hängt von unserer Physiologie, unseren Erfahrungen und unserer Aufmerksamkeit und von der uns umgebenden Kultur ab (. Abb. 5.29). Nicht nur unsere Sinne lassen uns Schmerz empfinden (dort, wo wir ihn spüren), sondern auch unser Gehirn und unsere Erwartungen. Armel u. Ramachandran (2003) zeigten dies auf clevere Weise, als sie einen Finger einer nicht sichtbaren Hand bei 16 freiwilligen Teilnehmern an einer Untersuchung leicht nach hinten bogen, während sie gleichzeitig einen Finger einer nachgebildeten Gummihand »verletzten« (übel zurückbogen). Die Teilnehmer empfanden es so, als würde ihr echter Finger verbogen; und sie reagierten darauf mit vermehrtem Hautschweiß. Denken Sie auch an die Empfindungen von Menschen mit Phantomempfindungen. So können nach Angaben von Melzack (1992, 1993) 70% der Menschen mit Amputationen Schmerzen oder Bewegungen in nicht mehr vorhandenen Gliedern empfinden. Es kann auch vorkommen, dass ein Amputierter mit seinem nicht mehr vorhandenen Bein aus dem Bett aufstehen oder eine Tasse mit der nicht vorhandenen Hand hochheben will. Sogar Menschen, denen von Geburt an einzelne Gliedmaßen fehlen, nehmen manchmal Empfindungen in ihrem nicht vorhandenen Arm oder Bein wahr. Melzack (1998) stellte daher die Vermutung an, unser Gehirn sei bereits von vornherein mit der Information ausgestattet, dass es Impulse von einem Körper erhalten wird, der über Glieder verfügt.
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. Abb. 5.29. Biopsychosozialer Ansatz der Schmerztheorie Unser Schmerzerleben ist mehr als nur neuronale Botschaften, die zum Gehirn geschickt werden
»Schmerzt der Bauch und ist gefüllt der Magen, will die beste Speise nicht behagen.« Sadi, »Rosengarten« (1258/1920). München: Hyperionverlag, S. 140
C. Styrsky
Diese Phantomempfindungen weisen darauf hin, dass das Gehirn in Bezug auf Schmerz, ebenso wie bei Bildern und Tönen, die spontane Aktivität des Zentralnervensystems, die in Abwesenheit von normalem sensorischem Input auftritt, falsch deuten kann. Ein ähnliches Phänomen ist auch bei unseren anderen Sinnen zu beobachten. Menschen, vor allem Schwerhörige, empfinden oft den Klang der Stille, d. h. Phantomgeräusche, wie Ohrensausen, auch Tinnitus genannt. Und wer durch Glaukom, grauen Star, Diabetes oder Makuladegeneration das Sehvermögen verloren hat, sieht manchmal Phantom- oder Trugbilder, die nichts anderes sind als unbedrohliche Halluzinationen (Ramachandran u. Blakeslee 1998). (Als meine im Kopf völlig klare Schwiegermutter vollends blind wurde, kam es gelegentlich vor, dass sie stille Besucher in ihrem Zimmer wahrnahm, die seltsame Dinge taten, wie etwa auf der Rückenlehne ihrer Couch herumzuspazieren.) Nervenschädigungen im Geschmackszentrum können auf ganz ähnliche Weise einen Phantomgeschmack hervorrufen, beispielsweise Eiswasser, das ekelhaft süß zu schmecken scheint (Goode 1999). Andere Menschen haben wiederum Phantomgerüche erlebt, wie von verfaulenden Lebensmitteln, die jedoch gar nicht vorhanden waren. Und was ist die Moral daraus? Wir sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen mit unserem Gehirn, das auch ohne funktionierende Sinnesorgane wahrnehmen kann. Eine schmerzauslösende Aktivität des Gehirns kann nach Melzack (1999) mit oder ohne sensorischen Input hervorgerufen werden. Es ist durchaus denkbar, dass ein Gehirn in einem Reagenzglas Schmerz und andere sensorische Erfahrungen empfinden könnte. ! »No brain, no pain« – Ohne Gehirn gibt es keinen Schmerz.
Im Gegensatz zum Sehen ist das Schmerzsystem jedoch nicht in einem einfachen Nervenstrang zu lokalisieren, der von dem Sinnesorgan zu einem definierbaren Gehirnareal verläuft. Außerdem gibt es nicht nur einen Typ von Reiz, der Schmerzen auslöst (wie etwa Licht das Sehen auslöst), und es gibt keine speziellen Rezeptoren (wie die Stäbchen und Zapfen der Retina) für Schmerzen. Tatsächlich sind die schmerzproduzierenden Reize in geringer Intensität dieselben, die andere Sinneseindrücke wie Wärme oder Kälte, glatte oder raue Oberfläche erzeugen. Obwohl es keine Schmerztheorie gibt, die alle heute zur Verfügung stehenden Erkenntnisse erklären könnte, ist die klassische Gate-Control-Theorie des Psychologen Melzack und des Biologen Wall noch immer ein nützliches Modell. Melzack u. Wall (1965, 1983) gehen davon aus, dass es im Rückenmark ein neurologisches »Tor« (»gate«) gibt, das die Schmerzsignale entweder blockiert oder sie zum Gehirn vordringen lässt. Das Rückenmark enthält dünne Nervenfasern, über die die meisten Schmerzsignale weitergeleitet werden, und dickere Fasern, über die die meisten der anderen sensorischen Signale übermittelt werden. Wenn Gewebe verletzt wird, ak-
Gate-Control-Theorie (gate-control theory): besagt, dass das Rückenmark über ein neurologisches »Tor« (»gate«) verfügt, das Schmerzsignale aufhält oder zum Gehirn durchlässt. Das »Tor« wird geöffnet durch die Aktivität von Schmerzsignalen, die über feine Nervenfasern nach oben steigen, und geschlossen durch die Aktivität in dickeren Fasern oder durch vom Gehirn kommende Informationen.
Der Versuch der Schmerzlinderung Diese Akupunkteurin versucht, der Frau dabei zu helfen, dass ihre Rückenschmerzen nachlassen, indem sie Nadeln an bestimmten Stellen auf der Hand der Patientin anbringt »Schmerz wird noch verstärkt durch die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt.« Charles Darwin (»Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren«, 1872)
D. Willey, Johnstown
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
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Schmerzwahrnehmung: Ein cooler Blick auf ein heißes Thema An der University of Pittsburgh in Johnstown hat der Physiker David Willey mit 8 Klaftern Holz den längsten Feuerlauf der Welt angelegt. An dem Abend, an dem das Feuerlaufen stattfinden sollte, erklärte er zunächst die Prinzipien der Hitzediffusion, die das Feuerlaufen ermöglichen, und demonstrierte es selbst in der Praxis. (Denken Sie an einen Kuchen, die bei 180 Grad im Ofen gebacken wird. Wenn Sie die Aluminiumform anfassen, verbrennen Sie sich; wenn Sie jedoch kurz den Kuchen anfassen, der wie Holz ein schlechter Wärmeleiter ist, verbrennen Sie sich nicht.)
tivieren und öffnen die dünnen Fasern das neuronale Tor, und Sie spüren Schmerzen. Durch die Aktivität der dickeren Fasern kann das Schmerztor geschlossen und der Schmerz »abgestellt« werden. Eine Methode für die Behandlung chronischer Schmerzen besteht deshalb in der Stimulierung (durch Massage, elektrische Stimulation oder Akupunktur) der »torschließenden« Aktivität in den dickeren Nervenfasern (Wall 2000). Reiben Sie die Umgebung der Zehe, die Sie sich angestoßen haben, dann bewirkt das eine konkurrierende Stimulation, die einen Teil der Schmerzbotschaften blockiert. Manche Menschen, die unter Arthritis leiden, tragen ein kleines tragbares, elektrisches Stimulationsgerät in der Nähe einer schmerzhaften Stelle. Wenn das Gerät Nerven in diesem Körperbereich stimuliert, empfindet man keinen Schmerz mehr, sondern ein Vibrieren (Murphy 1982). Melzack und Wall merkten an, dass das Schmerztor auch durch vom Gehirn ausgehende Informationen geschlossen werden kann. Diese vom Gehirn zum Rückmark übermittelten Botschaften erklären manche der bisweilen verblüffenden psychologischen Einflüsse auf Schmerzen. Wenn wir vom Schmerz abgelenkt und durch die Ausschüttung von Endorphinen beruhigt werden, kann unser Schmerzempfinden deutlich verringert werden. Es kann vorkommen, dass Sportverletzungen bis zur Dusche nach dem Spiel unbemerkt bleiben. Bei einem Basketballspiel im Jahr 1989 brach sich der Spieler Jay Burson von der Ohio State University einen Halswirbel, spielte jedoch weiter. Menschen, die ein Gen haben, das die Verfügbarkeit der natürlichen Schmerzabtöter, der Endorphine, im Körper deutlich zunehmen lässt, empfinden Schmerzen nicht so sehr, und ihr Gehirn reagiert nicht so stark darauf (Zubieta et al. 2003). Die von René Descartes vor mehr als 3 Jahrhunderten geäußerte Idee war falsch: Schmerz ist nicht einfach nur ein physisches Problem, das durch verletzte Nerven verursacht wird, die ihre Impulse dann ans Gehirn übermitteln, als zöge man an einem Seil, um die Glocken zu läuten. Das Gehirn kreiert den Schmerz. Menschen nehmen mehr Schmerz wahr und halten ihn weniger lange aus, wenn auch andere Schmerzen zu erleben scheinen (Symbaluk et al. 1997). Und wenn sie wegen der Schmerzen Mitgefühl mit einem anderen Menschen empfinden, kann die eigene Hirnaktivität in Bezug auf den Schmerz teilweise eine gespiegelte Hirnaktivität des anderen sein (Singer et al. 2004). Dieses Phänomen kann als Erklärung für die offensichtlichen sozialen Einflüsse auf Schmerz dienen. Dies war der Fall, als in Australien ganze Gruppen von Sekretärinnen in den 80er Jahren beim Schreibmaschineschreiben oder anderen sich ständig wiederholenden Arbeiten plötzlich unter schweren Schmerzen litten – ohne jede erkennbare körperliche Anomalie (Gawande 1998). Auch hinter unseren Erinnerungen an Schmerz verbirgt sich mehr als der Schmerz, den wir empfunden haben. Bei Untersuchungen und nach medizinischen Eingriffen sehen Menschen über die Dauer des Schmerzes leicht hinweg. In Erinnerung behalten sie nur die schlimmsten Schmerzmomente, und auch, wie viel Schmerz sie am Ende spürten. Kahnemann et al. (1993) entdeckten dies im Rahmen eines Experiments, bei dem sie die Teilnehmer baten, eine Hand 60 Sekunden lang in schmerzhaft kaltes Wasser zu tauchen und dann die andere Hand 60 Sekunden lang in dasselbe eiskalte Wasser zu stecken sowie anschließend nochmals 30 Sekunden in etwas weniger kaltes. Interessanterweise gaben die meisten Testpersonen auf die Frage, welche der beiden Prozeduren sie eher noch einmal über sich ergehen lassen würden, die längere an. Diese war zwar insgesamt mit mehr Schmerz verbunden, aber mit weniger Schmerz am Ende. Für Mediziner ist klar, was das bedeutet: Es ist besser, eine schmerzhafte Prozedur langsam ausklingen zu lassen, als sie abrupt abzubrechen. Bei einem Versuch hielt sich ein Arzt bei einigen Patienten, die eine Kolonuntersuchung über sich ergehen lassen mussten, an diese Vorgabe: Er dehnte das unangenehme Gefühl um 1 Minute aus, verringerte jedoch die Intensität (Kahneman 1999). Obwohl dieses andauernde leicht unangenehme Gefühl die Schmerzempfindung insgesamt stärker werden ließ, erinnerten sich die Patienten, die diese »ausklingende« Behandlung erlebt hatten, später an die Untersuchung als weniger schmerzhaft als diejenigen, bei denen der Schmerz abrupt endete. Als paralleles Phänomen sei hier Folgendes
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angeführt: Personen sollten in einer Untersuchung verschiedene Lebenssituationen beurteilen. Das war zum einen ein schreckliches Leben, das zwar ein Jahr länger dauert, aber im letzten Jahr eher durchschnittlich war. Und es handelte sich zum anderen um ein schreckliches Leben, das abrupt endet (d. h. ohne das durchschnittliche Jahr am Ende). Die Befragten stuften Letzteres als besser ein. Andererseits stuften sie ein wunderbares Leben, das abrupt endet, als besser ein, als ein wunderbares Leben, das mit einigen durchschnittlichen Jahren endete (Diener et al. 2001).
Schmerzkontrolle
Obwohl die Lamaze-Methode zur Geburtsvorbereitung die Wehenschmerzen verringert, bitten die meisten Lamaze-Patientinnen während des Geburtsvorgangs um eine örtliche Betäubung. Manche, die sich eine »natürliche, schmerzfreie Geburt« vorgestellt hatten, fühlen sich danach unnötigerweise schuldig und kommen sich als Versagerinnen vor (Melzack 1984). Melzack tritt daher (wie auch das Lamaze-Programm selbst) für eine Geburtsvorbereitung ein, die eine Frau darauf vorbereitet, »mit einem Ereignis fertig zu werden, das oft extrem schmerzhaft und gleichzeitig eines der erfüllenden Schlüsselerlebnisse ihres Lebens ist.« . Abb. 5.30. Schmerzkontrolle mit Hilfe von virtueller Wirklichkeit Wenn Brandopfer schmerzhafte Hautbehandlungen über sich ergehen lassen müssen, können die Schmerzen und die Reaktion des Gehirns auf die schmerzvolle Stimulierung (rechts unten anhand der MRI-Schichtaufnahmen dargestellt) mit Hilfe der Konzentration auf eine imaginäre virtuelle Wirklichkeit, die die Aufmerksamkeit ablenkt, deutlich verringert werden (links ohne Behandlung, rechts mit Behandlung)
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Wenn Schmerz dort ist, wo Körper und Seele aufeinander treffen, wenn er also tatsächlich ein physisches und psychisches Phänomen darstellt, müsste er eigentlich sowohl mit physischen als auch mit psychischen Methoden behandelbar sein. Je nach Art der Symptome wählen die Schmerzkliniken einige oder mehrere Therapien aus einer Liste aus, die Medikamente, chirurgische Eingriffe, Akupunktur, Elektrostimulation, Massage, Körperübungen, Hypnose, Entspannungstraining und Ablenkung der Gedanken umfasst. Selbst ein langsam wirkendes Placebo kann helfen, indem es die Reaktionen des Gehirns auf schmerzvolle Erfahrungen abschwächt und damit Schmerzmittel simuliert (Wager et al. 2004). Die Lamaze-Methode zur Geburtsvorbereitung ist eine Kombination aus Entspannung (durch Tiefenatmung und Muskelentspannung), Gegenstimulation (durch sanfte Massage) und Ablenkung (durch Konzentration der Aufmerksamkeit z. B. auf ein schönes Foto). Das Ablenken mit Hilfe angenehmer Bilder (»Stellen Sie sich eine warme, behagliche Umgebung vor«) oder das Ablenken der Aufmerksamkeit – weg von der schmerzhaften Situation (»Zählen Sie in Dreierschritten rückwärts«) – ist eine besonders wirksame Methode zur Erhöhung der Schmerztoleranz (Fernandez u. Turk 1989; McCaul u. Malott 1984). Dieses Prinzip lässt sich auch auf normale Situationen der medizinischen Versorgung anwenden. Eine gut ausgebildete Krankenschwester lenkt Patienten, die Angst vor Spritzen haben, häufig dadurch ab, dass sie sie in ein angenehmes Gespräch verwickelt und sie bittet, beim Einstechen der Nadel wegzusehen. Eine angenehme Aussicht kann eine ähnlich entspannende und ablenkende Wirkung haben. Bei der Durchsicht der Krankenberichte eines Krankenhauses in Pennsylvania stellte Ulrich (1984) fest, dass operierte Patienten, die in einem Zimmer mit Aussicht auf Bäume untergebracht waren, weniger schmerzstillende Mittel brauchten und früher entlassen werden konnten als Patienten, die in Zimmern mit derselben Ausstattung, aber mit Aussicht auf eine Ziegelmauer untergebracht waren. Wenn Brandopfer schmerzhafte Hautbehandlungen über sich ergehen lassen müssen, können die Schmerzen deutlich verringert werden, wenn die Betreffenden in eine 3-D-Welt eintauchen, die vom Computer generiert wird (. Abb. 5.30). Schichtaufnahmen mit Hilfe der funktionalen Kernspintomographie zeigen, dass man die schmerzbedingte Hirnaktivität verringern kann, wenn man ein Spiel mit virtueller Realität spielt (Hoffman 2004). Da der Schmerz im Kopf sitzt, könnte es Linderung verschaffen, wenn man die Aufmerksamkeit ablenkt.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
5.4.2 Geschmackssinn Ziel 19: Beschreiben Sie den Geschmackssinn, und erklären Sie das Prinzip der sensorischen Interaktion.
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Wie der Tastsinn kann der Geschmackssinn mehrere Grundempfindungen unterscheiden. Bis vor kurzem dachte man noch, die Grundqualitäten der Geschmacksempfindung seien süß, sauer, salzig und bitter (McBurney u. Gent 1979) und alle übrigen Geschmacksempfindungen ließen sich auf Mischungen aus diesen vier Geschmacksqualitäten zurückführen. Als dann Wissenschaftler auf der Suche nach spezialisierten Nervenfasern für die 4 Geschmacksqualitäten waren, entdeckten sie schließlich einen Rezeptor für eine fünfte Qualität – die fleischige Geschmacksqualität des Umami-Geschmacks, der im Geschmacksverstärker Glutamat weit verbreitet ist (Chadhari et al. 2000; Nelson et al. 2001; Smith u. Margolskee 2001). Den Geschmackssinn gibt es nicht nur, damit wir genießen können. Genussvolle Geschmacksempfindungen lenken unsere Aufmerksamkeit auf energiereiche Nahrungsmittel, die es unseren Vorfahren ermöglichten zu überleben. Abstoßende Geschmacksempfindungen halten uns von neuen Nahrungsmitteln fern, die giftig sein könnten. Zwei- bis 6-jährige Kinder sind normalerweise wählerisch beim Essen, vor allem wenn man ihnen ungewohnte Fleischsorten oder bitter schmeckendes Gemüse wie Spinat oder Rosenkohl vorsetzt (Cooke et al. 2003). Diese mäklige Esserei ist biologisch durchaus sinnvoll. Fleisch- und Pflanzengifte waren bei unseren Vorfahren potentiell Auslöser für gefährliche Nahrungsmittelvergiftungen, vor allem bei Kindern. Wenn man Kindern heutzutage unbeliebte ungewohnte Nahrungsmittel wiederholt in kleinen Mengen anbietet, werden sie sie allmählich akzeptieren (Wardle et al. 2003). Der Geschmackssinn ist eine chemische Sinnesempfindung. In jeder der kleinen Erhebungen oben auf der Zunge und an den Seiten befinden sich mehr als 200 Geschmacksknospen, die jeweils eine Pore enthalten, die die Chemikalien der Nahrung einfängt. Diese Moleküle werden von 50–100 Geschmacksrezeptorzellen, von denen aus antennenartige Haare in die Pore hineinragen, sensorisch aufgenommen. Manche dieser Rezeptoren reagieren hauptsächlich auf süß schmeckende Moleküle, andere auf salzig, sauer oder bitter schmeckende. Es dauert nicht lange, um eine Reaktion auszulösen, die den Temporallappen in einen Alarmzustand versetzt. Wenn über Ihre Zunge ein Wasserschwall gepumpt wird, wird der Zusatz eines konzentrierten salzigen oder süßen Geschmacks für eine Zehntel Sekunde ausreichen, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen (Kelling u. Halpern 1983). Wenn eine Freundin sagt, sie wolle »nur einmal kurz« Ihr Getränk probieren, können Sie also den Strohhalm schon nach einem Sekundenbruchteil zudrücken. Die Geschmacksrezeptoren erneuern sich alle 1–2 Wochen. Wenn Sie also mit heißem Essen Ihre Zunge verbrennen, ist das nicht weiter schlimm. Doch mit dem Alter nehmen die Anzahl der Geschmacksknospen und die Geschmacksempfindung ab (Cowart 1981). (Deshalb ist es nicht überraschend, dass Erwachsene gerne kräftig schmeckende Speisen zu sich nehmen, die Kinder oft nicht so gerne mögen.) Rauchen und Alkoholkonsum beschleunigen die Verringerung der Geschmacksknospen und ihrer Sensibilität. Die Geschmacksforscherin Bartoshuk (1993) hat noch einige andere faszinierende Tatsachen über den Geschmackssinn entdeckt: 4 Unsere emotionalen Reaktionen auf Geschmack sind fest im Gehirn verankert. Gibt man eine süße oder bittere Substanz auf die Zunge eines Neugeborenen, so reagieren die Zunge und das Gehirn des Babys genauso wie bei einem Erwachsenen. 4 Menschen ohne Zunge können trotzdem schmecken, und zwar über Rezeptoren im Rachenbereich und am Gaumen. 4 Wenn Sie die Geschmacksempfindung auf einer Seite der Zunge verlieren, merken Sie es wahrscheinlich gar nicht. Denn die andere Zungenseite wird daraufhin entsprechend sensibler. Hinzu kommt, dass das Gehirn Geschmack nicht sehr gut lokalisieren kann. Obwohl sich in der Mitte unserer Zunge nur wenige Geschmacksrezeptoren befinden, nehmen wir Geschmack wahr, als würde er von der gesamten Zunge aufgenommen. 4 Wir können die meisten Nährstoffe weder schmecken noch riechen (z. B. Fett, Proteine, Stärke und Vitamine im Essen). Zucker bildet hier eine Ausnahme. Aber wir entwickeln rasch eine Vorliebe oder eine Aversion gegenüber einem Geschmack oder einem Geruch von anderen Nahrungsmittelkomponenten, die sich als nahrhaft oder Übelkeit erregend herausstellen (7 Kap. 8).
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Zwar sind die Geschmacksknospen von entscheidender Bedeutung für den Geschmackssinn, aber Geschmack ist mehr als das, was unsere Zunge erreicht. Halten Sie sich einmal die Nase zu, schließen Sie die Augen, und lassen Sie sich dann von jemand anderem mit verschiedenen Dingen füttern. Ein Stück Apfel erscheint Ihnen dann kaum unterscheidbar von einem Stück roher Kartoffel. Ein Stück Steak kann wie Pappe schmecken. Ohne ihren Geruch kann eine Tasse kalter Kaffee schwer von einem Glas Rotwein zu unterscheiden sein. Um einen Geschmack auszukosten, atmen wir normalerweise das Aroma über die Nase ein. Das ist auch der Grund dafür, weshalb Essen so wenig Spaß macht, wenn man stark erkältet ist, und weshalb Menschen, die ihren Geruchssinn verlieren, manchmal glauben, auch ihren Geschmackssinn verloren zu haben. ! Der Geruch ist nicht nur eine Ergänzung zum Geschmack, er verändert ihn auch.
Der Erdbeergeruch eines Getränks verstärkt unsere Wahrnehmung seiner Süße. Dieses Phänomen ist auf die sensorische Interaktion zurückzuführen, das Prinzip, dass eine Sinnesempfindung eine andere beeinflussen kann. Geruch plus Oberflächenbeschaffenheit plus Geschmack gleich Aroma. Die sensorische Interaktion kann auch das beeinflussen, was wir hören. Wenn wir sehen, wie ein Sprecher eine Silbe spricht, während wir eine andere hören, nehmen wir möglicherweise eine dritte Silbe wahr, in der beide Eindrücke miteinander verschmolzen werden. Wenn wir die Mundbewegungen für »ga« sehen und »ba« hören, können wir letztendlich »da« wahrnehmen. Dieses Phänomen ist unter dem Namen McGurk-Effekt bekannt (McGurk u. MacDonald 1976). Dasselbe gilt in etwa auch für den Tastsinn und das Sehen. Beim Erkennen von Ereignissen kann das Gehirn mit Hilfe von Neuronen, die die Erregungen vom somatosensorischen Kortex bis nach hinten zur Sehrinde leiten, gleichzeitige taktile und visuelle Signale miteinander kombinieren (Macaluso et al. 2000). ! Die verschiedenen Sinne beeinflussen sich gegenseitig: Sehen, Hören, Berühren, Schmecken und Riechen finden nicht völlig voneinander getrennt statt. Zur Interpretation der Welt vermischt das Gehirn die verschiedenen Inputs der Sinne.
Bei einigen wenigen erlesenen Menschen vereinen sich die Sinne zu einem Phänomen, das als Synästhesie bezeichnet wird. Dabei erzeugt eine Art von Empfindung (wie etwa einen Ton zu hören) eine andere (wie etwa Farbe zu sehen). So kann das Hören von Musik oder das Sehen einer bestimmten Zahl farbempfindliche Regionen im Kortex aktivieren und eine Farbempfindung auslösen (Hubbard et al. 2005). Wenn man die Zahl 3 sieht, kann das bei Synästhetikern eine Geschmacksempfindung erzeugen (Ward 2003).
5.4.3 Geruchssinn Ziel 20: Beschreiben Sie den Geruchssinn, und erklären Sie, warum bestimmte Gerüche so leicht Erinnerungen hervorrufen.
Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Das Atmen erfolgt in zwei Schritten, außer in zwei Momenten des Lebens: der Geburt und dem Tod. Jeden Tag atmen Sie nahezu 20.000 Mal lebenserhaltende Luft ein und aus und füllen dabei Ihre Nasenflügel mit einem Strom von Molekülen, die mit Duftstoffen angereichert sind. Ebenso wie der Geschmackssinn ist auch der Geruchssinn eine chemische Sinneserfahrung. Wir riechen etwas, wenn in der Luft schwebende Moleküle einer Substanz eine winzige Gruppe der 5 Mio. Rezeptorzellen im oberen Bereich jeder der beiden Nasenhöhlen erreichen (. Abb. 5.31). Die Riechrezeptorzellen, die wie Seeanemonen auf einem Korallenriff hin- und herwiegen, reagieren selektiv – auf den Duft eines frisch gebackenen Kuchens, auf eine Rauchwolke, auf den Parfümduft einer Freundin. Über ihre Axonfasern versetzen sie das Gehirn sofort in einen Zustand höchster Aufmerksamkeit.
Sensorische Interaktion Wenn ein Schwerhöriger ein animiertes Gesicht dabei beobachtet, wie es am anderen Ende der Telefonleitung die gesprochenen Wörter formt, sind die Wörter für ihn besser zu verstehen. (Knight 2004)
Sensorische Interaktion (sensory interaction): Prinzip der gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Sinne, wie beispielsweise der Geruch von Essen seinen Geschmack beeinflusst.
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
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. Abb. 5.31. Der Geruchssinn Wenn Sie den Duft einer Rose riechen wollen, müssen die Moleküle ihres Dufts über die Luft zu den Rezeptoren oben in der Nasenhöhle gelangen. Durch das Riechen an der Rose wird Luft zu den Rezeptoren hochgewirbelt und der Duft verstärkt. Die Rezeptorzellen schicken Botschaften zum Bulbus olfactorius (Riechkolben) im Gehirn und dann weiter zur primären Riechrinde des Temporallappens und zu jenen Teilen des limbischen Systems, die für Gedächtnis und Gefühle zuständig sind
Der Mensch verfügt in der Regel über 10–20 Mio. Geruchsrezeptoren. Ein Bluthund hat hingegen etwa 200 Mio. (Herz 2001).
Sogar bei Babys und ihren stillenden Müttern stimmt buchstäblich die »Chemie« ihrer Beziehung, sie lernen schnell, sich gegenseitig am Geruch zu erkennen (McCarthy 1986). Über ihren Geruchssinn findet eine Robbe, die an einen Strand mit einer Unmenge von Robbenbabys kommt, ihr eigenes Junges am Geruch. Unser Geruchssinn ist in der Regel weniger scharf ausgeprägt als unser Gehör und unser Sehvermögen. Wenn wir auf einen Garten hinausschauen, können wir die Formen und Farben darin bis ins kleinste Detail wahrnehmen und verschiedene Vögel singen hören, aber wir riechen nur wenig davon, es sei denn, wir stecken die Nase direkt in die Blüte. Im Gegensatz zum Licht, das in seine Spektralfarben aufgespaltet werden kann, kann ein Geruch nicht in verschiedene Grundduftnoten aufgelöst werden. Im Geruchssystem gibt es nichts Vergleichbares zur Retina, die unendlich viele Farbschattierungen mit ihren Sinneszellen erkennt, die auf Rot, Grün und Blau spezialisiert sind. Die Geruchsrezeptoren erkennen Gerüche individuell. Geruchsmoleküle gibt es in vielen Formen und Größen, so viele, dass eine ungeheure Menge verschiedener Rezeptoren erforderlich ist, um sie zu erkennen. Eine große Familie von Genen ist für die Erzeugung von etwa 350 Rezeptorproteinen zuständig, die bestimmte Geruchsmoleküle erkennen können (Miller 2004). Axel u. Buck (1991) entdeckten bei einer Forschungsarbeit, für die sie 1994 den Nobelpreis erhielten, dass diese Rezeptorproteine auf der Oberfläche der Neuronen in der Nasenhöhle sitzen. Wie ein Schlüssel genau in das dazugehörige Schlüsselloch passt, so passen die Geruchsmoleküle in diese Rezeptoren. Allerdings hat es nicht den Anschein, als besäßen wir einen individuellen Rezeptor für jeden unterscheidbaren Geruch. Das deutet möglicherweise darauf hin, dass manche Düfte eine Kombination von Rezeptoren ansprechen, deren Aktivität von der Riechrinde interpretiert wird. Wie die 26 Buchstaben des Alphabets in allen möglichen Kombinationen auftreten und eine Vielzahl von Wörtern bilden können, so binden Geruchsmoleküle an bestimmte Gruppen von Rezeptoren und lassen so die etwa 10.000 Geruchsqualitäten, die wir unterscheiden können, entstehen (Mainic et al. 1999). Es sind die Kombinationen der olfaktorischen Rezeptoren, die es uns ermöglichen, zwischen dem Aroma eines frisch gebrühten und dem eines abgestandenen Kaffees zu unterscheiden.
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. Abb. 5.32. Alter, Geschlecht und Geruchssinn Bei einem von der Zeitschrift »National Geographic« progagierten Rubbel- und Riechtest, an dem sich ca. 1,2 Mio. Menschen beteiligten, waren es die Frauen und jungen Erwachsenen, die die 6 Geruchsproben am erfolgreichsten identifizierten (Aus Wysocki u. Gilbert 1989). Bei Rauchern, Alzheimerund Parkinson-Patienten sowie Alkoholkonsumenten ist der Geruchssinn nachgewiesenermaßen herabgesetzt. (Doty 2001)
Die Fähigkeit zur Geruchserkennung hat ihren Höhepunkt im frühen Erwachsenenalter und nimmt danach langsam ab (. Abb. 5.32). Trotz unserer Fähigkeit zur Differenzierung von Gerüchen sind wir nicht halb so gut darin, sie zu beschreiben. Mit den uns zur Verfügung stehenden Wörtern lässt sich beispielsweise das Geräusch des Kaffeekochens leichter beschreiben als sein Aroma. Im Vergleich zu unseren Eindrücken von Dingen, die wir gesehen oder gehört haben, scheinen Gerüche fast primitiv zu sein. Auf jeden Fall sind sie schwerer zu beschreiben und zu erinnern (Richardson u. Zucco 1989; Zucco 2003). Wie uns jeder Hund oder jede Katze mit einer guten Nase versichern könnte, hat jeder von uns eine ganz persönliche »chemische« Note. (Mit einer erwähnenswerten Ausnahme: Ein Hund folgt den Geruchsspuren eines eineiigen Zwillings, als stammten sie vom anderen Zwilling; Thomas 1974). Tiere haben viel mehr Geruchsrezeptoren als Menschen und benutzen ihren Geruchssinn auch zum Kommunizieren und Navigieren. Lange bevor ein Hai seine Beute oder das Mottenmännchen sein Weibchen sehen kann, werden sie von Gerüchen geleitet. Auch die Lachse folgen bei ihrer Wanderung schwachen Geruchsreizen zurück zu ihrem Heimatfluss. Lachse, die an ihrem Laichplatz einem von zwei Geruchsstoffen ausgesetzt wurden, werden bei ihrer Rückkehr nach 2 Jahren nach einem Fluss suchen, der mit dem bekannten Geruch versetzt ist (Barinaga 1999). Auch beim Menschen hängt die Attraktivität von Gerüchen von gelernten Assoziationen ab (Herz 2001). Babys haben keine »eingebaute« Vorliebe für den Geruch der Brust ihrer Mutter. Erst beim Stillen bildet sich diese Vorliebe heraus. Gerüche können außerdem Erinnerungen und Gefühle hervorrufen (. Abb. 5.33). Zwischen der Hirnregion, die die Informationen von der Nase empfängt, und den entwicklungsgeschichtlich alten limbischen Zentren des Gehirns, die für Gedächtnis und Gefühle von Bedeutung sind, besteht eine direkte Verbindung. Gerüche sind primitiv. Lange Zeit bevor die hochspezifischen analytischen Regionen unserer Hirnrinde voll ausgebildet waren, suchten unsere Vorfahren aus der Welt der Säugetiere durch Schnüffeln ihre Nahrung, aber auch Spuren von Raubtieren, die ihnen gefährlich werden konnten. Laboruntersuchungen bestätigen, dass es uns zwar schwer fällt, uns über die Namen und Bezeichnungen von Gerüchen an sie zu erinnern, dass wir jedoch eine bemerkenswerte Fähigkeit haben, lang vergessene Gerüche und die damit assoziierten persönlichen Erlebnisse wiederzuerkennen (Engen 1987; Schab 1991). Gerüche können unangenehme Emotionen hervorrufen. Herz et al. (2004) frustrierten Studierende der Brown University mit einem manipulierten Computerspiel in einem duftenden Zimmer. Wenn man sie später bei der Arbeit an einer verbalen Aufgabe dem gleichen Geruch aussetzte, wurde ihre Frustration neu belebt, und sie gaben eher auf als Studierende, die einem anderen Geruch oder gar keinem ausgesetzt wurden. Angenehme Gerüche können angenehme Erinnerungen hervorrufen (Ehrlichman u. Halpern 1988). Der Geruch des Meeres, der Duft eines Parfüms oder der typische Geruch der Küche einer unserer Lieblingsverwandten kann uns an glückliche Zeiten erinnern. In seinem Werk »Auf der Suche nach der verlo-
. Abb. 5.33. Das Riechhirn Die Informationen von den Geschmacksknospen (orangener Pfeil) wandern in ein Gebiet des Temporallappens. Dies ist nicht weit entfernt von der Stelle, wo das Gehirn Informationen über Gerüche erhält, die mit dem Geschmackssinn eine Wechselwirkung eingehen. Die Schaltkreise des Gehirns für den Geruchssinn (roter Pfeil) sind auch mit Arealen verbunden, die etwas mit der Speicherung von Erinnerung zu tun haben. Das ist auch eine Erklärung dafür, warum ein Geruch eine Explosion von Erinnerungen auslösen kann
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Überraschen Sie Ihre Freunde mit Ihrem neuen Wort des Tages: Von Menschen, die nichts sehen können, sagt man, dass sie unter Blindheit leiden. Von Leuten, die nichts hören können, sagt man, dass sie unter Taubheit leiden. Und von Menschen, die nichts riechen können, sagt man, dass sie unter Anosmie leiden.
renen Zeit« beschreibt Marcel Proust, wie das Aroma und der Geschmack eines Stück Kuchens, das in Tee getaucht wird, längst vergessene Erinnerungen an das Schlafzimmer seiner Tante im alten Haus seiner Familie wachrief. Laut Proust tragen der Geruch und der Geschmack von Dingen in dem winzigen und kaum fassbaren Tropfen ihrer Essenz unfehlbar die unermessliche Struktur der Erinnerung in sich. Die Macht der Gerüche ist so groß, dass über sie Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle wachgerufen werden können. Der britische Reiseveranstalter Lunn Poly ist sich dieses Phänomens offenbar sehr bewusst. Um Erinnerungen an das Herumfaulenzen an sonnigen, warmen Stränden wachzurufen, erfüllt er seine Reisebüros mit dem Duft von Kokosnusssonnenöl (Fracassini 2000).
5.4.4 Lage und Bewegung des Körpers im Raum Ziel 21: Unterscheiden Sie zwischen Kinästhesie und dem Gleichgewichtssinn.
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Kinästhesie (kinesthesis): Fähigkeit zur Wahrnehmung der Richtung und Geschwindigkeit der Bewegungen einzelner Gliedmaßen.
Gleichgewichtssinn (auch vestibulärer Sinn, engl. vestibular sense): Sinnessystem zur Wahrnehmung der Bewegung und Lage des Körpers, einschließlich des Gleichgewichtssinns.
Mit den 5 bekannten Sinnen, die wir bisher behandelt haben, wären wir jedoch noch nicht in der Lage, uns Nahrung in den Mund zu stecken, aufzustehen oder unsere Hand auszustrecken, um jemanden zu berühren. Wir wären hilflos. Allein um zu wissen, wie wir die Arme bewegen müssen, um jemandem die Hand zu geben, brauchen wir einen sechsten Sinn. Wir müssen die momentane Position der Arme und Hände kennen und uns dann ihrer sich verändernden Position bewusst sein, wenn wir sie bewegen. Um nur einen Schritt zu machen, muss eine Rückmeldung von und Anweisungen an etwa 200 Muskeln erfolgen. Die Berechnungen, die unser Gehirn für die sensorische Koordinierung ausführen muss, stellen selbst die in den Schatten, die an Prozessen des schlussfolgernden Denkens beteiligt sind. Wir haben heutzutage Computer, die Schach wie die Großmeister »spielen« können. Aber es ist noch ein langer Weg, bis wir computergesteuerte Roboter haben, die Tennis gegen Serena Williams spielen oder gar im Haus Staub wischen können. Wir kommen auf die Welt und sind bereits mit Millionen von Lage- und Bewegungssensoren ausgestattet. Sie sind über den ganzen Körper verteilt: in den Muskeln, Sehnen und Gelenken. Und sie versorgen das Gehirn ständig mit Informationen. Wenn wir unsere Handgelenke um 1 Grad drehen, melden die Sensoren das sofort weiter. Dieser Sinn für Lage und Bewegung unserer Gliedmaßen wird auch als statokinetischer Sinn oder Kinästhesie bezeichnet. Man kann sich einen Moment lang vorstellen, blind oder taub zu sein. Machen Sie die Augen zu, verschließen Sie Ihre Ohren mit Ohrstöpseln, und erleben Sie die dunkle Stille. Aber wie wäre es wohl, ohne Berührung oder Kinästhesie leben zu müssen, ohne beispielsweise die Lage Ihrer Gliedmaßen zu spüren, wenn Sie nachts aufwachen? Ian Waterman aus Hampshire in England weiß, wie es ist. Im Alter von 19 Jahren bekam er 1972 eine seltene Virusinfektion, die die Nerven zerstörte, die ihm das Empfinden von leichten Berührungen sowie der Position und Bewegung des Körpers vermittelten. Menschen mit dieser Krankheit berichten, dass sie sich körperlos fühlen, als sei ihr Körper tot, nicht real oder nicht ihr eigener (Sacks 1985). Mit viel Übung hat Waterman gehen und essen gelernt, indem er sich visuell auf seine Gliedmaßen konzentriert und sie entsprechend lenkt. Aber wenn das Licht ausgeht, fällt er auf den Boden (Azar 1998). Auch bei gesunden Menschen findet eine Interaktion zwischen Sehen und Kinästhesie statt. Stellen Sie Ihre rechte Ferse vor die Zehen Ihres linken Fußes. Das ist einfach. Schließen Sie nun die Augen. Wahrscheinlich fangen Sie jetzt an zu wackeln. Ein eng damit zusammenhängender Sinn, der Gleichgewichtssinn (auch vestibulärer Sinn genannt) überwacht die Lage und Bewegung des Kopfes (und damit des Körpers). Die biologischen »Messgeräte« für das Gleichgewicht befinden sich im Innenohr. Die Bogengänge, die wie dreidimensionale Brezeln aussehen (. Abb. 5.21a), und die Sacculi des Vestibularapparats, die die Bogengänge mit der Kochlea verbinden, enthalten Flüssigkeiten, die sich bewegen, wenn sich der Kopf dreht oder kippt. Durch diese Bewegung werden haarähnliche Rezeptoren stimuliert, die daraufhin Botschaften an das Kleinhirn (Zerebellum) im hinteren Teil des Gehirns senden und es somit möglich machen, dass wir die Lage des Körpers im Raum wahrnehmen und das Gleichgewicht halten.
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Wenn Sie sich schnell im Kreis drehen und plötzlich stehen bleiben, werden weder die Flüssigkeit in den Bogengängen der Ohren noch die kinästhetischen Rezeptoren sofort wieder in ihre Ausgangsposition zurückkehren. Die Nachwirkung gaukelt Ihrem schwindeligen Gehirn die Empfindung vor, Sie würden sich immer noch drehen. Daran wird ein Prinzip deutlich, das die Grundlage der Diskussion über Wahrnehmungstäuschungen im nächsten Kapitel bildet: Mechanismen, die uns normalerweise eine genaue Wahrnehmung von der Welt um uns herum liefern, können uns unter bestimmten Umständen in die Irre führen. Wenn wir verstehen, wie wir ausgetrickst werden, gibt uns das Anhaltspunkte zum Verständnis der Art und Weise, wie unser Wahrnehmungssystem normalerweise funktioniert. In diesem Kapitel haben wir uns nach dem Bottom-up-Prinzip angeschaut, wie wir die Welt erfahren. Als Ausgangspunkt haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie unsere genialen Sinnesrezeptoren physikalische Energie in Nervenimpulse umsetzen, die dann ans Gehirn weitergeleitet werden. Darüber hinaus haben wir uns nach dem Top-down-Prinzip angesehen, wie auch der Kopf unsere Erfahrungen beeinflusst. So ist z. B. Schmerz eine Reaktion auf Informationen, die über die dünnen Nervenfasern im Rückenmark nach oben ins Gehirn geleitet werden, während er gleichzeitig von oben nach unten von dem beeinflusst wird, worauf unser Bewusstsein seine Aufmerksamkeit gerichtet hält. Unsere Erfahrungen sind in unserem Kopf. Das geht so weit, dass das Gehirn entscheiden kann, wie es eine Nervenaktivität interpretieren will, oder dass es sogar wahrgenommene Bilder, Geräusche und Schmerzen ohne irgendeine äußere Stimulation wieder heraufbeschwören kann. Sinnesempfindung und Wahrnehmung sind verschiedene Aspekte einund derselben Frage, nämlich wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.
Der raffinierte vestibuläre Sinn Danken Sie Ihren Innenohren für die Informationen, die es Ihrem Gehirn ermöglichen, die Position Ihres Körpers zu überwachen und zu regulieren
Lernziele Abschnitt 5.4 Andere wichtige Sinne Ziel 17: Beschreiben Sie den Tastsinn. Der Tastsinn besteht eigentlich aus 4 verschiedenen Sinnen: dem Drucksinn, dem Wärme- und Kältesinn und dem Schmerzsinn, die in Kombination andere Empfindungen erzeugen, wie etwa »heiß«. Von diesen verfügt nur der Drucksinn über spezialisierte Rezeptoren. Ziel 18: Geben Sie an, welchen Sinn Schmerz hat, und beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Schmerztheorie. Schmerz dient als Alarmsystem und lenkt unserer Aufmerksamkeit darauf, dass etwas nicht stimmt, dass wir uns verletzt haben. Eine Schmerztheorie geht davon aus, dass es im Rückenmark eine Art »Tor« gibt, das entweder offen ist, um Schmerzsignale über dünne Nervenfasern zum Gehirn aufsteigen zu lassen, oder aber geschlossen wird, um ihren Durchgang zu verhindern.Von der biopsychosozialen Perspektive aus wird das Schmerzerleben eines Menschen als Summe dreier Gruppen von Erfahrungen angesehen: biologischer Einflüsse (wie etwa Nervenfasern, die Botschaften ans Gehirn senden), psychologischer Einflüsse (wie etwa die Situation oder unsere früheren Erfahrungen) und soziokulturelle Einflüsse (wie etwa kulturelle Erwartungen und die Anwesenheit von Beobachtern). Bei der Behandlung zur Schmerzkontrolle werden oft psychologische und physiologische Elemente in Kombination miteinander eingesetzt. Ziel 19: Beschreiben Sie den Geschmackssinn, und erklären Sie das Prinzip der sensorischen Interaktion. Der Geschmackssinn, ein chemischer Sinn, setzt sich eigentlich aus 5 Grundempfindungen zusammen (süß, sauer, salzig, bitter und
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5.4 · Andere wichtige Sinne
»umami«) sowie aus den Aromen, die mit den Informationen der Geschmacksknospen interagieren. Die Geschmacksknospen an der Oberseite und im hinteren Teil der Zunge sowie am Gaumen enthalten die Geschmacksrezeptorzellen. Diese Zellen senden Informationen an ein Areal im Temporallappen in der Nähe des Areals, in dem olfaktorische Informationen aufgenommen werden. Der Einfluss des Geruchs auf unseren Geschmackssinn ist ein Beispiel für sensorische Interaktion, die Fähigkeit eines Sinnes, einen anderen zu beeinflussen. Ziel 20: Beschreiben Sie den Geruchssinn, und erklären Sie, warum bestimmte Gerüche so leicht Erinnerungen hervorrufen. Wie der Geschmackssinn ist auch der Geruchssinn eine chemische Sinnesempfindung; doch es gibt keine Grundelemente für die Geruchsempfindung, wie es Grundelemente etwa bei der Tast- und bei der Geschmacksempfindung gibt. Im Gegensatz zu den Rezeptorzellen der Retina, die Farben erkennen, indem sie sie in ihre Bestandteile zerlegen, erkennen die über 5 Mio. Geruchsrezeptorzellen einzelne Geruchsmoleküle mit etwa 350 verschiedenen Rezeptorproteinen. Die Rezeptorzellen senden Botschaften ans Riechhirn, dann weiter an den Temporallappen und an Teile des limbischen Systems. Manche Gerüche sprechen eine Kombination von Rezeptoren an. Die Fähigkeit des Geruchssinns, spontan Erinnerungen und Gefühle hervorzurufen, geht teilweise zurück auf die enge Verbindung zwischen den Gehirnarealen, die Gerüche verarbeiten, und denen, die an der Speicherung im Gedächtnis beteiligt sind. 6
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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane
Ziel 21: Unterscheiden Sie zwischen Kinästhesie und dem Gleichgewichtssinn. Mit Hilfe von Millionen Sensoren für Lage und Bewegung, die über den ganzen Körper verteilt sind, überwacht unser kinästhetischer Sinn die Lage und Bewegung einzelner Körperteile. Unser Gleichgewichtssinn beruht auf den Bogengängen und den Sacculi im Vestibulärapparat des Innenohrs, die die Lage und die Bewegungen unseres Kopfes – und da-
mit unseres ganzen Körpers – wahrnehmen; dadurch schaffen wir es, das Gleichgewicht zu halten. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Gelegenheit erinnern, bei der Sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine Aktivität konzentrierten und dabei den Schmerz einer Wunde oder einer Verletzung nicht spürten?
Prüfen Sie Ihr Wissen
5
1. 2. 3. 4. 5.
Worin besteht grob ausgedrückt der Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung? Welche rasche Abfolge von Ereignissen tritt auf, wenn Sie jemanden, den Sie kennen, sehen und erkennen? Wie transformieren wir knapp zusammengefasst Schallwellen in wahrgenommene Töne? Welche Informationen vermittelt uns die biopsychosoziale Perspektive beim Thema Schmerz? Inwiefern unterscheidet sich unser Geruchssinn von unseren anderen sensorischen Systemen wie Sehen, Tasten und Schmecken?
L Deutsche Literatur zum Thema Birbaumer, N. & Schmidt, R. F. (2005). Biologische Psychologie, 6. Aufl. Heidelberg: Springer. Goldstein, E. B. (2007). Wahrnehmungspsychologie, 7. Aufl. Heidelberg: Spektrum. Guski, R. (2000). Wahrnehmung. Eine Einführung in die Psychologie der menschlichen Informationsaufnahme. Stuttgart: Kohlhammer.
6 Wahrnehmung: Organisation und Interpretation 6.1
Selektive Aufmerksamkeit
– 258
6.2
Wahrnehmungstäuschungen
– 261
6.3
Wahrnehmungsorganisation
– 263
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4
Formwahrnehmung – 264 Tiefenwahrnehmung – 265 Bewegungswahrnehmung – 269 Wahrnehmungskonstanz – 270
6.4
Wahrnehmungsinterpretation – 275
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4
Sensorische Deprivation und wiederhergestelltes Sehvermögen Wahrnehmungsadaptation – 277 Wahrnehmungsset – 278 Wahrnehmung und der Faktor Mensch – 282
6.5
Gibt es außersinnliche Wahrnehmung?
– 275
– 286
6.5.1 Was ist außersinnliche Wahrnehmung? – 286 6.5.2 Vorahnungen oder Einbildungen? – 286 6.5.3 Außersinnliche Wahrnehmung auf dem Prüfstand
– 288
Andere Kulturen, andere Perspektiven Trotz des Trainings und vergangener Verletzungen und Demütigungen gewöhnte ich mich nur schwer daran, meinen Stock einzusetzen. Das kriege ich schon hin, dachte ich, wenn ich vor einer dunklen Straße stand. Das dachte ich so lange, bis ich wieder einmal in Schwierigkeiten geriet. Eines Abends stolperte ich spät nach Hause. Alles war noch verschwommener als sonst. Ich war stolz darauf, mich ohne Zwischenfall um einen Haufen Stimmen herumgetastet zu haben, als ich mit dem Fuß an einem Tor hängen geblieben war, das jemand hatte offen stehen lassen. Der Stolz hinderte mich daran, den Stock zu gebrauchen. Ich kam auch so ganz gut zurecht, ohne der ganzen Welt meine Krüppelexistenz auf die Nase zu binden. Dann trat ich auf etwas. Der Hund – dem Ton nach zu urteilen auch noch ein großer – jaulte auf und riss das Bein unter meinem Fuß weg. »Herrgott, haben Sie ihn denn nicht gesehen?« brüllte mich der Hundebesitzer, ein alter Mann, an.
Ich blieb stehen, bedachte meine Lage und wandte mich dann der Stimme zu. »Oh, das tut mir Leid . . . ich habe ihn wirklich nicht gesehen.« »Das ist aber doch ein verdammt großer Hund!« »Ja, bestimmt.Tut mir Leid. Das ist allein meine Schuld, wissen Sie, ich habe« – ich klappte meine Tasche auf und griff hinein – »ich habe hier so einen rotweißen Stock, den ich eigentlich benutzen müsste.« Ich zog den Stock heraus und hielt ihn dem Mann hin. »Ich bin blind, Sir. Ich habe den Hund nicht gesehen, es war meine Schuld.« »O Gott. Das tut mir aber Leid.« Der Zorn war aus seiner Stimme gewichen, und er fasste mich leicht am Arm. »Das . . . das habe ich ja nicht gewusst.« »Schon gut. Das konnten Sie auch gar nicht wissen. Wenn ich mit dem Stock gegangen wäre, wie ich es hätte tun sollen, hätten Sie’s gewusst, und die Sache wäre nicht passiert.« »Es tut mir sehr, sehr Leid.« Er fing leise an zu weinen. Jim Knipfel, »Blindfisch« (2003, S. 269f)
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Wahrnehmung: Organisation und Interpretation > Meriwether Lewis, Leiter der Expedition von Lewis und Clark im 19. Jahrhundert war auf einer Erkundungstour weit vor seiner Gruppe. Er wurde von einem aggressiven Grizzlybären überrascht, der aus dem Gebüsch hervorkam, und sprang auf der Flucht in einen Fluss. Der Bär zog sich zurück. Als Lewis die 20 km zu seiner Gruppe zurücklegte, bemerkte er an sich – und er war immer noch arg mitgenommen –, dass er andere Tiere als bedrohlich wahrnahm, und er erschoss zur Vorsicht mehrere von ihnen. »Es schien mir nun so, als machten alle wilden Tiere in der Gegend gemeinsame Sache, um mich endgültig zu zerstören« (Larsen 2004). Die Vorerfahrung (Priming) mit seiner angstauslösenden Begegnung ließ ihn die Welt mit anderen Augen sehen. Zwei Jahrhunderte später wurde Amadou Diallo, ein Einwanderer aus Westafrika, von 4 New Yorker Polizisten auf der Veranda seines Wohngebäudes angesprochen. Als er nach seiner Brieftasche griff und seinen Personalausweis aus der Tasche holen wollte, hielten die Beamten, die sich offensichtlich aufgrund früher Begegnungen bedroht fühlten, seine Brieftasche für eine Pistole. Der Straßenverkäufer Diallo starb im Kugelhagel von 41 Schüssen. Vor 2400 Jahren hat Platon bereits ganz richtig das Prinzip erkannt, dass diese Ereignisse veranschaulichen: Wir nehmen Gegenstände über unsere Sinne mit dem Verstand wahr. Um die äußere Welt in unseren Köpfen nachzubilden, müssen wir in unserer Umwelt physische Energie aufnehmen (bottom-up) und sie dann in Nervensignale umwandeln (ein Prozess, der üblicherweise als Empfindung bezeichnet wird; 7Kap. 5). Wir müssen eine selektive Auswahl unter diesen Empfindungen treffen, sie organisieren und interpretieren (top-down); dieser Prozess wird herkömmlicherweise als Wahrnehmung bezeichnet. Wir empfinden nicht einfach Bilder und Klänge, Geschmack und Geruch, wir nehmen sie wahr. Wir hören nicht einfach eine Mischung aus verschiedenen Tönen und Rhythmen, sondern das Weinen eines Kindes, Verkehrslärm oder das Crescendo einer Symphonie. Unsere Wahrnehmungen werden durch die Biologie unseres sensorischen Systems beeinflusst, aber auch durch Vorerfahrungen (den Angriff eines Bären) und durch kulturelle Erwartungen (Polizeibeamte werden dazu ausgebildet, »Handlungen« zu erwarten und damit umzugehen). Dadurch, dass wir Empfindungen in Wahrnehmungen umwandeln, schaffen wir eine Bedeutung.
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6.1
Selektive Aufmerksamkeit
Ziel 1: Beschreiben Sie das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.
. Abb. 6.1. Selektive Aufmerksamkeit Was sehen Sie hier: Kreise mit weißen Linien oder einen Würfel? Wenn Sie den Würfel fixieren, merken Sie, dass er zwischen verschiedenen Positionen hinund herwechselt, wobei sich das kleine X in der Mitte von der Vorderkante des Würfels zur rückwärtigen Kante bewegt. Manchmal mag es Ihnen so erscheinen, als schwebe der Würfel vor der Seite und die Kreise befänden sich hinter ihm. Ein anderes Mal werden die Kreise zu Löchern in der Seite, durch die der Würfel zu sehen ist, der hinter der Seite zu schweben scheint. Da unsere Aufmerksamkeit selektiv ist, sehen wir jeweils immer nur eine Variante. (Aus Bradley et al. 1976)
Wahrnehmungen folgen einander in ununterbrochener Reihenfolge. Die eine Wahrnehmung verblasst, und schon taucht die nächste auf. Wenn Sie sich den NeckerWürfel in . Abb. 6.1 ansehen, wird Ihnen auffallen, dass dieses Bild unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Die Kreise können zu verschiedenen kohärenten Bildern organisiert werden, die alle gleich plausibel sind, und Ihr Denken schaltet ständig von einem zum anderen Bild um. Sie wissen, dass verschiedene Interpretationen dieser Figur möglich sind, aber Sie können in jedem Augenblick immer nur eine auf einmal bewusst erfahren. Dies veranschaulicht ein wichtiges Prinzip: Unsere bewusste Aufmerksamkeit ist selektiv.
259 6.1 · Selektive Aufmerksamkeit
! Selektive Aufmerksamkeit bedeutet, dass wir unser Bewusstsein in jedem Moment – wie im Licht eines Scheinwerfers – immer nur auf einen begrenzten Aspekt von all dem richten, was wir erleben. Und zwar auf einen sehr begrenzten Aspekt.
Einer Schätzung zufolge nehmen unsere 5 Sinne pro Sekunde 11.000.000 Bits an Informationen auf, von denen wir bewusst nur etwa 40 Bits verarbeiten (Wilson 2002). Intuitiv machen wir jedoch von den anderen 10.999.960 Bits durchaus auch Gebrauch. Bevor Sie diesen Satz gelesen haben, war Ihnen nicht bewusst, dass Ihre Schuhe Ihre Füße einengen oder dass Ihre Nase in Ihrer Blickrichtung liegt. Jetzt plötzlich verschiebt sich der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit. Ihre Füße fühlen sich eingezwängt, und Ihre Nase schiebt sich beim Lesen dieser Seite hartnäckig in Ihr Blickfeld. Während Sie sich auf diese Worte konzentrieren, haben Sie gleichzeitig Ihre Aufmerksamkeit gegenüber Informationen aus Ihrem peripheren Gesichtsfeld blockiert. Aber das können Sie ändern. Schauen Sie auf das unten abgebildete X, und achten Sie dabei auf alles, was um das Buch herum ist (den Rand der Seiten, den Schreibtisch darunter etc.). X Ein weiteres Beispiel für selektive Aufmerksamkeit ist der sog. Cocktailpartyeffekt. Darunter versteht man die Fähigkeit, sich im Stimmengewirr auf nur eine Stimme zu konzentrieren – spricht jedoch eine andere Stimme Ihren Namen aus, wird Ihnen Ihr kognitiver Radarschirm sofort diese Stimme zu Bewusstsein bringen. Dieses konzentrierte Zuhören geht auf Kosten anderer Dinge. Stellen Sie sich vor, Sie würden über einen Kopfhörer 2 Gespräche hören, ein Gespräch auf jedem Ohr, und Sie würden gebeten, die Botschaft, die Sie mit Ihrem linken Ohr hören, zu wiederholen, noch während sie ausgesprochen wird. Wenn Sie darauf achten, was in Ihr linkes Ohr gesagt wird, werden Sie nicht wahrnehmen, was in Ihr rechtes Ohr gesprochen wird. Wenn Sie dann später gefragt werden, welche Sprache Ihr rechtes Ohr gehört hat, werden Sie wahrscheinlich passen müssen (obwohl Sie vielleicht etwas über das Geschlecht und die Lautstärke des Sprechers aussagen können). Auf der Ebene des Bewusstseins ist unsere Aufmerksamkeit geteilt. Wenn man beim Autofahren telefoniert, wird die Aufmerksamkeit zwischen der Straße und dem Handy hin und her wechseln. Das ist auch die Erklärung dafür, dass Autofahrer typischerweise aufhören zu sprechen, wenn schwierige Situationen ihre volle Aufmerksamkeit erfordern. Der Vorgang, bei dem man mit der Aufmerksamkeit von einem Objekt zum anderen wechselt, kostet auch ein wenig Zeit, vor allem wenn man zwischen komplexen Aufgaben hin und her wechselt (Rubenstein et al. 2001). Aber selbst wenn man aufhört, ins Handy zu sprechen, und sich auf die komplizierte Situation im Straßenverkehr konzentriert, kann es bei der Bewältigung der Probleme zu einer kleinen Verzögerung kommen. Bei einem an der Universität von Utah durchgeführten Fahrsimulationsexperiment entdeckten Studierende, die gerade mit einem Handy telefonierten, Verkehrszeichen, Reklametafeln und andere Autos später und reagierten langsamer darauf als andere, die nicht telefonierten (Strayer u. Johnston 2001; Strayer et al. 2003). Manchen erfahrenen Piloten gelang es ebenfalls nicht, deutlich sichtbare Flugzeuge zu erkennen, die ihre Landebahn blockierten, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf Daten richteten, die auf der Konsole und im Fenster des Flugsimulators eingeblendet wurden (Haines 1991). Von der ungeheuren Vielfalt an visuellen Reizen, die wir ständig vor Augen haben, suchen wir uns selektiv nur ein paar aus und verarbeiten sie. Dies wurde von Neisser (1979) sowie von Becklen u. Cervone (1983) auf eindrucksvolle Weise belegt. Sie zeigten den Versuchsteilnehmern ein einminütiges Video, bei dem Bilder von 3 Männern in schwarzen Trikots, die einen Basketball hin und her warfen, andere Bilder von 3 Männern in weißen Trikots überlagerten, die dasselbe machten. Die Zuschauer waren gebeten worden, jedes Mal einen Knopf zu drücken, wenn zwischen den Spielern im schwarzen Trikot ein Ballwechsel stattfand. Etwa nach der Hälfte des Videos schlenderte eine junge Frau mit einem Regenschirm über den Bildschirm. Die meisten hatten ihre Aufmerksamkeit so vollständig auf die Spieler im schwarzen Trikot konzentriert, dass sie die Frau gar nicht bemerkten. Als ihnen die Wissenschaftler das Video noch einmal vorspielten, waren sie bass erstaunt, sie zu sehen. Bei einer kürzlich durchgeführten Wiederholung des Experiments schickten die oberschlauen Forscher Simons u. Charbis (1999) einen Assistenten im Gorillakostüm durch
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Selektive Aufmerksamkeit (selective attention): Konzentration des Bewusstseins auf einen bestimmten Stimulus wie etwa beim Cocktailpartyeffekt.
Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Simons, D. J., & Chabris, C. F. (1999). Fig. provided by Daniel Simons.
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Blindheit durch Unaufmerksamkeit (inattentional blindness): Unfähigkeit, sichtbare Objekte zu sehen, wenn sich unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge richtet.
. Abb. 6.3. Veränderungsblindheit Während der Mann mit Brille einem Bauarbeiter Anweisungen gibt, drängen sich 2 Testteilnehmer, die eine Tür tragen, plump zwischen ihnen hindurch. Bei dieser Unterbrechung wird der ursprüngliche Bauarbeiter durch eine andere Person mit andersfarbigen Kleidern ersetzt. Die meisten Menschen, die darauf konzentriert sind, die Anweisungen zu geben, bemerken gar nicht, dass die Personen ausgetauscht wurden
eine Gruppe herumwirbelnder Basketball-Spieler hindurch (. Abb. 6.2). Bei seinem 5–9 Sekunden dauernden Komparsenauftritt hielt der Gorilla inne und trommelte sich auf die Brust. Dennoch zeigte die Hälfte der Teilnehmer, die gewissenhaft die Ballwechsel im Spiel zählten, Blindheit durch Unaufmerksamkeit. Sie sahen ihn einfach nicht. Auch bei anderen Experimenten zeigen die Versuchsteilnehmer häufig eine bemerkenswerte Unaufmerksamkeit gegenüber den Dingen, die sich in ihrem Sehfeld ereignen. Nach einer kurzen Unterbrechung des Blickkontakts war möglicherweise eine große Coca-Cola-Flasche von der Szene verschwunden, ein Geländer höher geworden oder die Kleiderfarbe einer Person verändert, doch in den allermeisten Fällen bemerken das die Beobachter gar nicht (Resnick et al. 1997; Simons 1996; Simons u. Armbinder 2005). Diese Form der Blindheit durch Unaufmerksamkeit – auch als Veränderungsblindheit bezeichnet – trat im Experiment z. B. bei Leuten auf, die einem Bauarbeiter Anweisungen gaben: Unbemerkt von zwei Dritteln der Betreffenden wurde der Bauarbeiter durch einen anderen Bauarbeiter ersetzt (. Abb. 6.3). Aus den Augen, aus dem Sinn. Es kann auch zu Veränderungstaubheit kommen. Bei einem Experiment waren 40% der Personen, die sich darauf konzentrierten, eine Liste mit bisweilen schwierigen Wörtern zu wiederholen, nicht in der Lage, einen Sprecherwechsel zu bemerken (Vitevitch 2003). Ein ähnlich erstaunlicher Fall von Blindheit durch Unaufmerksamkeit ist das Phänomen der Auswahlblindheit, das von einem schwedischen Forscherteam entdeckt wurde. Johansson et al. (2005) zeigten 120 Versuchsteilnehmern 2 weibliche Gesichter für 2–5 oder mehr Sekunden und fragten sie, welches von beiden ihrer Meinung nach attraktiver sei. Sie drehten dann die Fotos so um, dass man sie nicht mehr sehen konnte, und übergaben ihnen das Bild, das sie ausgewählt hatten, mit der Bitte, ihre Entscheidung zu erklären. Bei 3 von 15 Gelegenheiten setzten die Forscher einen Taschenspielertrick ein, um die Fotos zu vertauschen: Sie zeigten ihnen also das Gesicht, das sie nicht ausgewählt hatten. Es war nicht nur so, dass die Betreffenden die Täuschung nur selten bemerkten (nur bei 13% der Vertauschungen), sondern sie erklärten auch bereitwillig, warum sie das Gesicht favorisierten, das sie ursprünglich abgelehnt hatten. »Ich Simons, D. J., & Levin, D. T. (1998). Fig. provided by Daniel Simons.
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. Abb. 6.2. Gorillas mitten unter uns Wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe richten (sie zählen die Ballwechsel beim Basketball von einer Person zu einer weiteren in der Mannschaft), zeigt die Hälfte der Beobachter Blindheit durch Unaufmerksamkeit, indem sie nicht imstande sind, zu bemerken, dass ein deutlich sichtbarer Gorilla durch die Spieler hindurch läuft
261 6.2 · Wahrnehmungstäuschungen
wählte sie aus, weil sie lächelt«, sagte eine Person (nachdem sie eigentlich die mit dem ernsten Gesicht ausgewählt hatte). Als man sie nach dem Experiment fragte, ob sie bei einem »hypothetischen Experiment« eine derartige Vertauschung erkennen würden, beharrten 84% darauf, dass sie es bemerken würden. Sie zeigten eine Blindheit gegenüber einem Phänomen, die die Forscher als Blindheit gegenüber Auswahlblindheit bezeichneten (können Sie sehen, wie sie mit den Augen zwinkern?). Doch einige Reize sind so wirkungsvoll, dass wir ein Pop-out (ein Reiz hebt sich auf einmal gegenüber anderen ab) erleben, wenn unser Blick durch einen eindeutig andersartigen Reiz dorthin gelenkt wird. Wir haben keine Wahl, diese Reize zu beachten, sie fordern unsere Aufmerksamkeit. Meriwether Lewis hätten den angreifenden Bären nicht übersehen können. Lernziele Abschnitt 6.1 Wie wir die Welt wahrnehmen: Einige grundlegende Prinzipien Ziel 1: Beschreiben Sie das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Bei einem Vorgang, der herkömmlich als Empfindung bekannt ist, erfassen der Sehsinn, der Hörsinn, der Geschmackssinn, der Geruchssinn und der Tastsinn eine physikalische Energie in der Umwelt und enkodieren sie in Form neuronaler Signale. Mit Hilfe des Wissens und der Erwartungen nimmt unser Gehirn in diesen Signalen eine Bedeutung wahr. Wir richten unsere Aufmerksamkeit selektiv auf eine begrenzte Anzahl von Daten und verarbeiten sie, während sie auf unsere Sinnesorgane
6.2
einprallen; andere blenden wir aus. Diese konzentrierte Aufmerksamkeit kann Blindheit durch Unaufmerksamkeit bzw. Veränderungsblindheit oder sogar Auswahlblindheit zur Folge haben. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an einen Zeitpunkt erinnern, als Sie, während Sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache konzentrierten, blind für etwas anderes waren (z. B. dass Sie Schmerzen hatten, dass sich Ihnen jemand näherte oder dass im Hintergrund Musik gespielt wurde)?
Wahrnehmungstäuschungen
Ziel 2: Erklären Sie, warum Täuschungen dazu beitragen, dass wir verstehen, wie wir Reize in sinnvolle Wahrnehmungen umwandeln.
Wissenschaftler waren schon seit langem von optischen Täuschungen fasziniert: Warum lassen wir uns täuschen, wenn wir es doch eigentlich besser wissen müssten? An optischen Täuschungen wird deutlich, wie wir normalerweise unsere Empfindungen organisieren und interpretieren. Setzen Sie sich einmal mit 6 solcher Wahrnehmungstäuschungen auseinander:
Täuschung 1 Hier haben wir es mit der Adaptation einer klassischen optischen Täuschung zu tun, die Franz Müller-Lyer 1889 entwickelt hat. Sieht einer der beiden Streckenabschnitte (AB bzw. BC) länger aus als der andere? Den meisten Menschen kommen beide Abschnitte gleich lang vor. Und hier die Überraschung: Sie sind nicht gleich lang. Wie Sie mit dem Lineal leicht nachprüfen können, ist die Strecke AB um mehr als ein Drittel länger als die Strecke BC. Warum haben Ihre Augen Sie getäuscht? (In 7 Abschn. 6.3.4 finden Sie eine Erklärung dafür; vgl. auch . Abb. 6.14.)
A Täuschung 1
B
C
6
Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Susan Schwarzenberg © Exploratorium, www.exploratorium.edu
262
Täuschung 2
Täuschung 2 8 Sie sehen zwei unretuschierte Fotos derselben beiden Mädchen im selben Zimmer. Die Kamera zeigt Ihnen diese Szenerien in etwa so, wie Sie sie sehen würden, wenn Sie durch ein kleines Guckloch ins Zimmer schauen würden. Warum scheinen die Mädchen ihre Größe zu verändern, wenn sie die Plätze vertauschen? (In 7 Abschn. 6.3.4 wird das Geheimnis gelüftet; vgl. auch . Abb. 6.15.)
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Täuschung 3 © 2007 Rick Friedmann
Ist der Gateway Arch von St. Louis, die größte von Menschenhand gefertigte optische Täuschung, höher als breit? Oder breiter als hoch? Den meisten erscheint er höher. In Wirklichkeit ist er genauso breit wie hoch. Auch hier täuschen uns unsere Augen wieder. Warum? (In 7 Abschn. 6.3.2 werden wir uns im Unterabschnitt über monokulare Hinweisreize noch einmal mit diesem Phänomen beschäftigen.) Täuschung 3
Copyright 1981, by permission of Christoph Redies and Lothar Spillman and Pion Limited, London.
Täuschung 4
Täuschung 4
Hier ein weiteres Beispiel dafür, wie unser Gehirn eine virtuelle Realität konstruiert. Diese optische Täuschung wurde bereits 1935 von Hans Wallach beschrieben. Sehen Sie in Täuschung 5 einen leuchtenden blauen Wurm, der sich durch schwarze Linien schlängelt? Bei diesem illusorischen Wurm handelt es sich um nichts anderes als um die kurzen blauen Linien der linken Figur, denen schwarze Linien hinzugefügt wurden. Alles andere, was Sie wahrnehmen, ist ein Produkt Ihrer »kreativen Begabung« (Hoffmann 1998). (Sehen Sie sich zur Erklärung die Diskussion über die Gruppierungsprinzipien in 7 Abschn. 6.3.1 an.)
© 1984. Published by Elsevier Science B. V. All rights reserved.
Täuschung 5
Täuschung 5
Die eigentlichen Schöpfer einer virtuellen Realität (wie in Computerspielen) sind nicht die Softwareentwickler, sondern es sind die Gehirne, die von den Softwareentwicklern ausgetrickst werden, um virtuelle Realitäten entstehen zu lassen. Bei der Welle von Donald Hoffman (1998) handelt es sich um eine zweidimensionale Zeichnung in der Ebene. Aber können Sie sich das dargestellte Gebilde als eben vorstellen? Das wäre nicht so leicht möglich. Unser Gehirn besteht darauf, eine Welle daraus zu machen, die gar nicht da ist. Und wenn Sie das Buch umdrehen, wird es die Zeichnung noch einmal ganz anders auslegen. Die Wellentäuschung kommt zum Teil durch unsere Annahmen über Lichtquellen zustande, auf die wir später in diesem Kapitel noch genauer eingehen werden.
263 6.3 · Wahrnehmungsorganisation
Täuschung 6 Wie der deutsche Psychologe Wilhelm Wundt bereits vor mehr als einem Jahrhundert gezeigt hat, sind auch unsere anderen Sinne für Täuschungen empfänglich. Wundt war verblüfft darüber, dass die Menschen im gleichmäßigen Ticken eines Metronoms oder einer Uhr einen Zweier-, Dreieroder Vierertakt zu hören glauben. Oder anders ausgedrückt: Statt ein unakzentuiertes Ticken zu hören (tick-tick-tick-tick), hört man beispielsweise TICK-tick TICK-tick. Obwohl ein gleichmäßiges Ticken ans Ohr dringt, bildet sich bei jedem Zuhörer unbewusst ein Hörmuster heraus. Welches Wahrnehmungsprinzip wird hier wirksam (7 Ende von Abschn. 6.3.4)? Das Gewicht, das die Psychologie den optischen Täuschungen beimisst, ist Ausdruck der Tatsache, dass der Gesichtssinn im Vergleich zu den anderen Sinnen eine vorrangige Stellung einnimmt. Wenn das Sehen mit den anderen Sinnen in Konkurrenz tritt, gewinnt es in der Regel, ein Phänomen, das visuelle Dominanz genannt wird. Wenn der Ton eines Films von einem Projektor hinter uns kommt, nehmen wir ihn trotzdem so wahr, als käme er von der Leinwand, auf der wir die Schauspieler sprechen sehen (ganz ähnlich wie wir die Stimme eines Bauchredners so wahrnehmen, als käme sie aus dem Mund der Puppe). Wenn wir auf einer 3D-Panoramaleinwand eine Achterbahnfahrt verfolgen, kann es vorkommen, dass wir uns festklammern, obwohl uns die anderen Sinne darüber informieren, dass wir uns nicht bewegen. In jedem dieser Fälle hat das Sehen die anderen Sinne dominiert. Auch das Hören kann die anderen Sinne dominieren. Hötting u. Röder (2004) baten freiwillige Teilnehmer an einer Untersuchung mechanische Berührungen an ihren Fingern zu zählen, während sie auch noch mehrere Töne hörten. Wenn eine Berührung mit mehr als einem Ton einherging, gaben die Betreffenden an, mehr als eine einzelne Berührung wahrzunehmen. Offensichtlich ist Berührung mehr als das, was da auf die Haut trifft.
»Hat unser visuelles System nachgelassen, und stehen wir deswegen völlig hilflos da, wenn wir Tiefe wahrnehmen? Aus einem ganzen Stück Stoff konstruiert es Kräuselungen im Raum und schmückt es dann mit veränderlichen Bestandteilen aus. Sollen wir fortan der Weisheit unseres Sehvermögens misstrauen, weil wir wissen, dass es einen Hang zum Meineid hat?« Donald Hoffman, »Visual Intelligence« (1998)
Visuelle Dominanz (visual capture): Tendenz des Sehvermögens, die anderen Sinne zu dominieren.
Lernziele Abschnitt 6.2 Wahrnehmungstäuschungen Ziel 2: Erklären Sie, warum Täuschungen dazu beitragen, zu verstehen, wie wir Reize in sinnvolle Wahrnehmungen umwandeln. Psychologen sind von Wahrnehmungstäuschungen fasziniert, weil sie zeigen, wie wir normalerweise Empfindungen organisieren und interpretieren. Wenn visuelle und andere sensorische Informationen einander widersprechen, löst unser Gehirn die Nichtübereinstimmung gewöhnlich so, dass es die visuellen Daten akzeptiert, eine Tendenz, die als visuelle Dominanz bezeichnet wird. Stehen Hör-
6.3
sinn und Tastsinn gegeneinander, dominiert wahrscheinlich der Hörsinn. > Denken Sie weiter: Haben Sie je einen Film gesehen, bei dem die gesprochenen Wörter und der Gesichtsausdruck nicht gut miteinander synchronisiert waren? Woran hätte man Ihrer Meinung nach etwas ändern sollen, am visuellen Bild, das Sie sahen, oder an den Tönen, die Sie hörten?
Wahrnehmungsorganisation
Ziel 3: Beschreiben Sie den Beitrag der Gestaltpsychologie zu unserem Verständnis der Wahrnehmung.
Um sensorische Informationen in sinnvolle Wahrnehmungen umzuwandeln, müssen wir sie organisieren: Wir müssen Objekte als Dinge wahrnehmen, die sich von ihrer Umwelt unterscheiden und eine sinnvolle und konstante Form haben, sowie ihre Entfernung und Bewegung erkennen. Die Regeln, nach denen das Gehirn Wahrnehmungen erzeugt, liefern die Erklärung für einige höchst rätselhafte optische Täuschungen, mit denen wir uns beschäftigt haben. Anfang des 20. Jahrhunderts interessierte sich eine Gruppe deutscher Psychologen dafür, wie aus Empfindungen in unserem Geist sinnvolle Wahrnehmungen entstehen. Sie stellten Folgendes fest: Wenn wir eine Reihe von Empfindungen haben, organisieren wir sie so, dass eine Gestalt (also etwas Ganzes) entsteht. Die Gestaltpsychologen lieferten überzeugende und anschauliche Belege für die Gestaltwahrnehmung und beschrieben die Prinzipien, nach denen wir unsere Wahrnehmungen so organisieren, dass ein sinnvolles Ganzes daraus wird. Sehen Sie sich beispielsweise noch einmal . Abb. 6.1 an. Achten Sie darauf, dass die einzelnen Elemente der Figur in Wirklichkeit nichts anderes sind als 8 blaue Kreise, von denen jeder 3 zusammenlaufende weiße
Gestalt (gestalt): organisiertes Ganzes. Die Gestaltpsychologen heben unsere Tendenz hervor, einzelne Informationselemente zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Linien aufweist. Schauen wir sie uns jedoch alle im Zusammenhang an, sehen wir ein Ganzes, eine Form, einen Necker-Würfel. Die Gestaltpsychologen waren begeisterte Vertreter der These, dass bei der Wahrnehmung das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Bringen Sie Natrium (ein hochreaktives Metall) mit Chlor (einem giftigen Gas) zusammen, so kommt etwas ganz anderes dabei heraus – Tafelsalz. Analog dazu kann in unserer Wahrnehmung aus den Bestandteilen eines Reizes eine ganz andere, neue Form entstehen (Rock u. Palmer 1990). Wie die Polizisten Amadou Diallo wahrnahmen, war etwas ganz anders, als das, was die Nachbarn wahrnahmen – in ihren Augen wäre dieselbe Szene nicht bedrohlich gewesen. ! Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Unsere Tendenz, visuelle Faktoren zu ganzen Formen zusammenzusetzen, stützt sich sowohl auf die datengesteuerte Informationsverarbeitung (Bottom-up-Prinzip) mit der damit verbundenen Auswertung der Sinneseindrücke auf dem Eingangsniveau als auch auf die konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung (Top-down-Prinzip), bei der wir uns zur Interpretation dieser Empfindungen unserer Erfahrungen und Erwartungen bedienen. Doch je mehr wir über dieses Informationsverarbeitungssystem erfahren, desto verschwommener wird die Unterscheidung zwischen Empfindung und Wahrnehmung. Empfindungen sind eben nicht nur eine datengesteuerte und die Wahrnehmung sinnvoller Einheiten nicht nur eine konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung. Es handelt sich bei der Wahrnehmung insgesamt vielmehr um einen kontinuierlichen Prozess, bei dem einerseits Daten über spezialisierte Sinneszellen aufgenommen und zur Verarbeitung ans Gehirn weitergeleitet werden, während andererseits die Annahmen und Konzepte, die wir im Kopf haben, diesen Prozess beeinflussen. Wenn Sie gleich mehr über die Organisationsprinzipien der Gestaltpsychologen erfahren, sollten Sie die grundlegende Wahrheit im Hinterkopf behalten, die sie veranschaulichen: Unser Gehirn macht mehr, als nur Informationen über die Welt zu registrieren. Wahrnehmung besteht nicht nur darin, den Kameraverschluss zu öffnen und passiv ein Bild im Gehirn abzulegen. Ständig filtern wir sensorische Informationen und schließen in einer Art und Weise, die für uns einen Sinn ergibt, auf Wahrnehmungen. Der Verstand und das Denken sind durchaus von Bedeutung dabei.
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6.3.1 Formwahrnehmung Ziel 4: Erklären Sie die Figur-Grund-Beziehung, und geben Sie an, welche Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung bei der Formwahrnehmung wirksam sind.
Time Saving Suggestions, © 2003 Roger Shepard
Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein System mit einer Videokamera und einem Computer entwickeln, das wie Ihr »System mit Augen und Gehirn« Gesichter auf einen Blick erkennen kann. Welche Fähigkeiten müsste dieses System haben?
Figur und Grund
. Abb. 6.4. Umkehrbare Figur-Grund-Beziehung Figur-Grund-Beziehung (figure-ground): Organisation des Gesichtsfelds in Objekte (Figuren), die sich von ihrer Umgebung abheben (Grund). Gruppierung (grouping): Tendenz unserer Wahrnehmung, Reize zu kohärenten Gruppen zusammenzufassen.
Zunächst einmal müsste dieses System die Gesichter als etwas wahrnehmen, was sich vom Hintergrund abhebt. So besteht auch unsere erste Wahrnehmungsaufgabe darin, jedes Objekt, Figur genannt, als ein Gebilde wahrzunehmen, das sich von seinem Hintergrund, Grund genannt, abhebt. Von den Stimmen, die Sie bei einer Party hören, wird diejenige, auf die Sie achten, zur Figur. Alle anderen gehören zum Grund. Beim Lesen sind die Wörter die Figur. Das weiße Papier ist der Grund. Bei . Abb. 6.4 kehrt sich die Figur-Grund-Beziehung ständig um, doch immer organisieren wir den Reiz zu einer Figur vor einem Grund. Solche anschaulichen Beispiele für die Umkehrung von Figur und Grund zeigen erneut, dass derselbe Reiz mehr als eine Wahrnehmung auslösen kann.
Gruppierung Nachdem wir (und unser System aus Videokamera und Computer) die Figur vom Grund unterschieden haben, müssen wir nun die Figur zu einer sinnvollen Form organisieren. Manche Grund-
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merkmale einer Szene, wie Farbe, Bewegung und Hell-Dunkel-Kontrast, verarbeiten wir sofort und automatisch (Treisman 1987). Um Ordnung und Form in diese grundlegenden Empfindungen zu bringen, folgt unser Denken bestimmten Gesetzen der Gruppierung dieser Reize (. Abb. 6.5). Diese Gesetze, die von den Gestaltpsychologen entdeckt wurden und sogar schon bei Babys zur Anwendung kommen, veranschaulichen die Auffassung, dass sich das wahrgenommene Ganze von der Summe seiner Teile unterscheidet (Quinn et al. 2002, Rock u. Palmer 1990): 4 Nähe: Figuren, die räumlich nahe beieinander liegen, werden von unserer Wahrnehmung gruppiert. Links oben in . Abb. 6.5 sehen wir nicht 6 einzelne Linien, sondern 3 Gruppen von 2 Linien. 4 Ähnlichkeit: Figuren, die ähnlich sind, werden von unserer Wahrnehmung gruppiert. Rechts oben in . Abb. 6.5 sehen wir die Dreiecke und Kreise als senkrecht stehende Säulen aus ähnlichen Formen und nicht als waagrechte Reihen unähnlicher Formen. 4 Kontinuität: Wir nehmen Figuren als glatte, durchgehende und weniger als unterbrochene Muster wahr. Das Muster links unten in . Abb. 6.5 könnte auch als eine Reihe von Halbkreisen bezeichnet werden, die abwechselnd oberhalb und unterhalb der Linie liegen, aber wir nehmen das Muster als 2 durchgehende Linien wahr: eine Wellenlinie und eine Gerade. 4 Zusammenhang: Wenn 2 Punkte die gleiche Form haben und durch eine Linie miteinander verbunden sind, nehmen wir sie als eine Einheit wahr. 4 Geschlossenheit: Wir füllen die Lücken, um uns ein vollständiges, ganzes Objekt zu schaffen. Wir nehmen also an, dass die Kreise (7 Abbildung Geschlossenheit) vollständig sind, aber teilweise von einem (illusionären) Dreieck verdeckt werden. Man muss gar nicht mehr als ein paar kleine Kreisabschnitte hinzufügen, die den Kreis jeweils schließen (. Abb. Geschlossenheit, rechte Seite), und schon hört Ihr Gehirn auf, ein Dreieck konstruieren zu wollen.
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. Abb. 6.5. Gruppierung von Reizen Wir könnten die hier gezeigten Reize auf vielerlei Art wahrnehmen, doch die Menschen überall auf der Welt sehen sie auf ganz ähnliche Weise. Die Gestaltpsychologen sahen darin einen Beleg dafür, dass das Gehirn nach bestimmten »Gesetzen« vorgeht, um die über die Sinne gewonnenen Informationen zu ganzheitlichen Strukturen zu ordnen
Geschlossenheit
In der Regel helfen uns diese Gruppierungsprinzipien, die Wirklichkeit nachzubilden. Manchmal führen sie uns jedoch auf Abwege, wie etwa wenn wir uns den Neonwurm in »Täuschung 4« (7 Abschn. 6.2) oder die Hundehütte in . Abb. 6.6 anschauen.
6.3.2 Tiefenwahrnehmung
Auf unsere Retina fallen zweidimensionale Bilder, aber irgendwie organisieren wir sie zu dreidimensionalen Wahrnehmungen. Das Sehen von Gegenständen in drei Dimensionen, die Tiefenwahrnehmung, sorgt dafür, dass wir deren Entfernung von uns abschätzen können. Auf einen Blick schätzen wir die Höhe eines Hauses oder die Entfernung eines Autos, das auf uns zukommt. Diese Fähigkeit ist teilweise angeboren. Gibson u. Walk (1960) entdeckten dies bei einem Versuch, bei dem eine Miniaturklippe mit einem steilen Abgrund zum Einsatz kam; diese wurde mit stabilem Glas abgedeckt. Gibson wurde zu diesem Experiment bei einem Picknick am Rande des Grand Canyon inspiriert. Sie überlegte sich, ob ein Kleinkind, das über den Rand blickt, wohl den gefährlichen Abgrund wahrnehmen und zurückweichen würde?
Mit freundlicher Genehmigung von Walter Wick.
Ziel 5: Erklären Sie, warum die Tiefenwahrnehmung wichtig ist, und erörtern Sie, welchen Beitrag die visuelle Klippe für unser Verständnis dieser Fähigkeit geleistet hat.
. Abb. 6.6. Gruppierungsprinzipien Worin besteht das Geheimnis bei dieser nicht möglichen Hundehütte? Wahrscheinlich nehmen Sie die Hundehütte als Gestalt wahr – als ganze Struktur (obwohl das nicht möglich ist). Tatsächlich verleitet Ihr Gehirn Sie bei diesem Bild dazu, eine Ganzheit zu empfinden. Wie das Foto auf S. 274 zeigt, sind hier Gestaltgruppierungsprinzipien wie Geschlossenheit und Fortsetzung im Spiel
Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
With kind permission of Tricia Striano.
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. Abb. 6.7. Visuelle Klippe Diese Miniaturklippe mit einem glasüberdeckten, steilen Abgrund wurde von Eleanor Gibson und Richard Walk konzipiert, um herauszufinden, ob Krabbelkinder und neugeborene Tiere Tiefe wahrnehmen können. Auch wenn Kinder von ihren Müttern immer wieder dazu aufgefordert werden, sich auf das Glas über der Klippe hinauszubegeben, sträuben sie sich in der Regel dagegen
Tiefenwahrnehmung (depth perception): Fähigkeit, Gegenstände in drei Dimensionen zu sehen, obwohl die Bilder, die auf die Retina projiziert werden, zweidimensional sind. Die Tiefenwahrnehmung befähigt uns zur Einschätzung der Entfernung. Visuelle Klippe (visual cliff ): Laboreinrichtung zum Testen der Tiefenwahrnehmung bei Kleinkindern und Jungtieren.
Wieder zurück im Labor der Cornell University setzten Gibson u. Walk Babys im Alter von 6–14 Monaten an den Rand eines sicheren Abgrunds, einer sog. visuellen Klippe (. Abb. 6.7). Die Mütter versuchten dann, die Babys zu überreden, auf das Glas zu krabbeln. Die meisten weigerten sich, was darauf hindeutete, dass sie Tiefe wahrnehmen konnten. Vielleicht hatten die Babys auch bis zum Krabbelalter gelernt, Tiefe wahrzunehmen. Aber auch neugeborene Tiere, wie etwa junge Katzen, eine erst einen Tag alte Ziege und frisch geschlüpfte Küken, die praktisch keine visuelle Erfahrung haben, reagieren ganz ähnlich. Jede Spezies hat bis zu dem Zeitpunkt, ab dem sie sich fortbewegen kann, die Wahrnehmungsfähigkeiten ausgebildet, die sie braucht. Es konnte sogar gezeigt werden, dass Babys bereits im Alter von 3 Monaten Prinzipien der Gestaltwahrnehmung nutzen: Sie sind in der Lage, Objekte aufgrund einer Formähnlichkeit zu Gruppen zusammenzufassen; man konnte dies dadurch nachweisen, dass sie neuartigen Gruppen von Objekten mehr Aufmerksamkeit widmeten (Quinn et al. 2002). Unser Respekt vor Höhe ist biologisch angelegt, und unsere Erfahrung lässt ihn noch größer werden. Die Vorsicht von Babys nimmt mit ihrer Erfahrung beim Krabbeln zu, ganz gleich, in welchem Alter sie zu krabbeln anfangen. Aber wie machen wir es denn nun? Wie wandeln wir zwei unterschiedliche zweidimensionale Bilder auf der Retina in eine dreidimensionale Wahrnehmung um? Der Prozess beginnt mit Hinweisreizen für Tiefe; einige von ihnen setzen voraus, dass wir beide Augen zu Hilfe nehmen, andere stehen für jedes Auge getrennt zur Verfügung.
Binokulare Hinweisreize Ziel 6: Beschreiben Sie zwei binokulare Hinweisreize zur Wahrnehmung von Tiefe, und erklären Sie, wie sie dazu beitragen, dass das Gehirn eine Entfernung berechnen kann.
Binokulare Hinweisreize (binocular cues): Tiefenmerkmale, wie retinale Disparität und Konvergenz, die voraussetzen, dass man beide Auge zu Hilfe nimmt.
Retinale Disparität (retinal disparity): binokulares Merkmal zur Tiefenwahrnehmung: Anhand des Vergleichs der beiden von den Augäpfeln übermittelten Bilder berechnet das Gehirn die Entfernung – je größer die Disparität (der Unterschied) zwischen den beiden Bildern, desto näher das Objekt.
Machen Sie einmal folgenden Test: Blicken Sie mit offenen Augen geradeaus, halten Sie 2 Kulis oder Bleistifte vor sich hin, und bewegen Sie sie so aufeinander zu, dass sie sich an den Spitzen berühren. Probieren Sie nun dasselbe mit einem geschlossenen Auge. Die Aufgabe dürfte mit einem Auge deutlich schwieriger werden. Dies zeigt anschaulich, wie wichtig binokulare Hinweisreize bei der Beurteilung der Entfernung von Objekten in unmittelbarer Nähe sind. Zwei Augen sehen mehr als eins. Da der Abstand zwischen unseren Augen etwa 6 cm beträgt, bekommt die Retina der beiden Augen jeweils leicht unterschiedliche Bilder von der Welt. Wenn das Gehirn diese beiden Bilder miteinander vergleicht, stellt der Unterschied zwischen ihnen – auch retinale Disparität genannt – einen wichtigen Hinweisreiz für den relativen Abstand der verschiedenen Objekte dar. Wenn Sie Ihren Finger direkt vor die Nase halten, bekommt die Retina Ihrer beiden Augen ziemlich verschiedene Ansichten (Sie können das sehen, wenn Sie erst ein Auge schließen und dann das andere, oder kreieren Sie eine Wurst aus Fingern wie in . Abb. 6.8). Bei einer größeren Entfernung, wenn Sie z. B. Ihren Finger in Armlänge vor Ihre Nase halten, ist die Disparität geringer. Die Hersteller von dreidimensionalen (3D-)Filmen simulieren oder überbetonen die retinale Disparität, indem sie eine Szene mit 2 Kameras aufnehmen, die mehr als 10 cm voneinander entfernt aufgestellt werden (eine Besonderheit, die wir vielleicht in unseren Sehcomputer einbauen
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. Abb. 6.8. Die Wurst aus den schwebenden Fingern Halten Sie die beiden Zeigefinger ca. 13 cm vor Ihre Augen, wobei die Fingerspitzen etwa 1 cm voneinander entfernt sind. Jetzt blicken Sie über sie hinaus und bemerken einen verrückten Effekt. Wenn Sie die beiden Finger voneinander weg bewegen, wird die retinale Disparität abnehmen und die Wurst aus den Fingern schrumpfen
könnten). Wenn wir uns den Film mit einer 3D-Brille ansehen, die dafür sorgt, dass das linke Auge nur die Bilder der linken Kamera sieht und das rechte Auge nur die Bilder der rechten Kamera, ahmt der 3D-Effekt die retinale Disparität nach. In ähnlicher Weise können Doppelkameras in Flugzeugen das Gelände so fotografieren, dass aus den Aufnahmen, die sich daraus ergeben, 3D-Landkarten hergestellt werden können. Ein weiteres binokulares Merkmal der Entfernung ist die Konvergenz, ein neuromuskulärer Hinweisreiz, der durch die stärkere Einwärtsdrehung der Augen beim Ansehen naher Objekte bedingt ist. Das Gehirn erkennt den Konvergenzwinkel und berechnet dann, ob Sie gerade diese Druckseite fokussieren oder einen Gegenstand auf der anderen Seite des Zimmers. Je stärker die Einwärtsdrehung, desto näher das Objekt.
Konvergenz (convergence): binokulares Merkmal für die Tiefenwahrnehmung. Der Grad, um den sich die Augen beim Ansehen eines Objekts nach innen drehen.
Monokulare Hinweisreize
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Wie können wir beurteilen, ob eine Person 10 oder 100 m entfernt ist? In beiden Fällen sind die retinale Disparität und Konvergenz beim Geradeaussehen gering. Bei diesen Entfernungen stützen wir uns auf folgende monokulare Hinweisreize, die beiden Augen jeweils getrennt zur Verfügung stehen: 4 Relative Größe: Gehen wir von der Annahme aus, dass zwei Gegenstände nahezu gleich groß sind, nehmen wir den Gegenstand, der das kleinere Bild auf der Retina erzeugt als weiter entfernt wahr. Für einen Autofahrer scheinen Fußgänger, die weiter entfernt sind, kleiner zu sein. Das heißt jedoch auch, dass er bei klein wirkenden Fußgängern (Kindern) manchmal die Entfernung falsch einschätzen kann, weil er sie als weiter entfernt wahrnimmt (Stewart 2000). 4 Interposition (Verdeckung): Versperrt uns ein Gegenstand teilweise die Sicht auf einen anderen, nehmen wir ihn als näher wahr. 4 Relative Klarheit: Da das Licht von weiter entfernten Objekten einen größeren Teil der Atmosphäre durchwandern muss, nehmen wir verschwommene Objekte als weiter ent- Relative Größe
Monokulare Hinweisreize (monocular cues): Entfernungsmerkmale, wie Zentralperspektive (auch Linearperspektive) und Überlappung, die jedes Auge für sich alleine erkennen kann.
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Ziel 7: Erklären Sie, inwiefern sich monokulare von binokularen Hinweisreizen unterscheiden, und beschreiben Sie mehrere monokulare Hinweisreize für die Tiefenwahrnehmung.
Interposition
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
© Harald Bauer – Fotolia.com
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Texturgradient Von einem groben, klar strukturiertem Muster zu einer feinen, nicht mehr unterscheidbaren Textur
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Courtesy of Shaun P. Vecera, PH. D., adapted from stimuli that appeared in Vecera et al. (2002)
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Relative Höhe: Das kapier’ mal einer Aufgrund der relativen Höhe erscheinen niedrige Objekte näher – und werden daher in der Regel als Figur wahrgenommen
Relative Höhe
fernt wahr als scharf abgebildete, deutliche Objekte. Bei Nebel oder Schnee kann der Eindruck entstehen, der Wagen vor Ihnen sei weiter entfernt, als es tatsächlich der Fall ist. Texturgradient: Der allmähliche Übergang von einem groben, klar strukturierten Muster zu einer feinen, nicht mehr unterscheidbaren Textur ist ein Hinweis auf zunehmende Entfernung. Weiter entfernte Objekte erscheinen kleiner und dichter strukturiert. Relative Höhe: Objekte, die weiter oben in unserem Blickfeld liegen, nehmen wir als weiter entfernt wahr. Da wir den unteren Teil eines Figur-Grund-Bildes als näher wahrnehmen, nehmen wir ihn als Figur wahr (Vecera et al. 2002). Wenn Sie das entsprechende Bild auf dieser Seite auf den Kopf stellen, wird der schwarze Teil zum Grund und sieht wie ein Nachthimmel aus. Die relative Höhe kann auch zu der Täuschung beitragen, dass wir senkrechte Maße im Vergleich zu gleich langen waagrechten Maßen als länger empfinden (wie wir es bei »Täuschung 3« in 7 Abschn. 6.2 am Beispiel des Gateway Arch von St. Louis gesehen haben). Es überrascht nicht, dass die Menschen weniger Saft eingießen, wenn man ihnen ein hohes schmales Glas gibt, als wenn sie ein niedriges breites Glas bekommen (Wansink u. van Ittersum 2003). Ein hohes Glas sieht so aus, als enthielte es mehr Flüssigkeit, als es tatsächlich der Fall ist. Ist die senkrechte Linie im nebenstehenden Diagramm länger, kürzer oder gleich lang wie die waagrechte Linie? Messen Sie nach, und Sie werden sehen. Relative Bewegung (Bewegungsparallaxe):Wenn wir uns bewegen, scheinen sich Objekte, die eigentlich unbeweglich sind, ebenfalls zu bewegen. Fixieren Sie beispielsweise bei einer Zugfahrt irgendein Objekt, sagen wir einmal ein Haus, dann scheinen sich alle Gegenstände, die näher als das Haus (Fixationspunkt) sind, rückwärts zu bewegen. Je näher Ihnen das Objekt ist, desto schneller scheint es sich zu bewegen. Hingegen scheinen sich Gegenstände hinter dem Fixationspunkt mit Ihnen mit zu bewegen. Und je weiter entfernt diese Gegenstände sind, desto schneller werden sie sich bewegen. Das Gehirn nutzt die Geschwindigkeits- und Richtungsmerkmale, um die relative Entfernung der Objekte zu berechnen. Zentralperspektive: Parallele Linien (z. B. Zugschienen) scheinen in der Ferne zusammenzulaufen. Je stärker die Linien konvergieren, desto größer ist die wahrgenommene Entfernung. Die Zentralperspektive kann zu Unfällen an Bahnübergängen beitragen, weil sie die Menschen dazu verleitet, die Entfernung des Zugs zu überschätzen (Leibowitz 1985).
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Aus »Perceiving Shape from Shading« von Vilayanur S. Ramachandran. Copyright 1988 by Scientific American Inc., Photo George V. Kelvin
6.3 · Wahrnehmungsorganisation
Licht und Schatten
4 Licht und Schatten: Nahe Objekte reflektieren mehr Licht in unsere Augen. Nehmen wir einmal an, wir hätten zwei gleiche Gegenstände, dann erscheint der schwächer beleuchtete weiter entfernt. Auch diese Täuschung kann zu Unfällen führen, denn ein Fahrzeug im Nebel oder eines, das nur seine Parkleuchten angeschaltet hat, scheint weiter entfernt zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Auch die Schattierung ruft ein Gefühl von Tiefe hervor; dies hängt mit der angenommenen Lichtquelle zusammen. (Erinnern Sie sich noch einmal an die Welle von »Täuschung 5« in 7 Abschn. 6.2). Drehen Sie die Abbildung zu »Licht und Schatten« auf den Kopf, so wird die Vertiefung zu einer Erhebung, weil unser Gehirn einer einfachen Regel folgt, die auf dem Planeten Erde fast immer stimmt: Geh davon aus, dass das Licht von oben kommt.
. Abb. 6.9. Perspektivtechniken In der Zeit, in der dieses Bild »Schule von Athen« gemalt wurde, waren die Techniken zur Darstellung dreier Dimensionen auf einer flachen Oberfläche bereits gut entwickelt. Achten Sie auf die wirkungsvollen Einsatz von Hinweisreizen für Entfernung wie etwa den Texturgradienten, die Interposition, die Zentralperspektive sowie die relative Größe und Höhe
Künstler verwenden monokulare Hinweisreize, um auf einer flachen Leinwand den Eindruck von Tiefe entstehen zu lassen (. Abb. 6.9). Für Sie und mich deutet . Abb. 6.10 eindeutig darauf hin, dass der Elefant weiter weg ist und nicht gerade mit dem Speer bedroht wird; so wurde es nämlich vor einem halben Jahrhundert von vielen südafrikanischen Bantus wahrgenommen, die nur wenig Erfahrung mit Fotos und Bildern hatten.
6.3.3 Bewegungswahrnehmung Ziel 8: Nennen Sie die grundlegende Annahme, die wir bei der Bewegungswahrnehmung machen, und erklären Sie, wie man sich bei solchen Wahrnehmungen täuschen kann.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden die Welt als etwas wahrnehmen, was über Farbe, Form und Tiefe verfügt, könnten aber keine Bewegung sehen. Es wäre dann für Sie nicht nur unmöglich, Fahrrad oder Auto zu fahren, sondern Sie hätten wahrscheinlich sogar Schwierigkeiten, zu schreiben, zu essen und zu gehen.
. Abb. 6.10. Was gibt es zu essen? Monokulare Hinweisreize für Tiefe wie etwa die relative Größe und Entfernung deuten für Menschen, die mit dem künstlerischen und fotografischen Einsatz solcher Hinweisreize vertraut sind, darauf hin, dass es nicht der Elefant ist. (Nach Deregowski 1972)
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
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Bewegungsberechnung Das Gehirn eines Volleyballspielers berechnet die Fluglinie des Balls mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Präzision
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Phi-Phänomen (phi phenomenon): Scheinbewegung, die durch 2 oder mehr nebeneinander angeordnete Lichter erzeugt wird, die in rascher Folge an- und ausgehen.
Glücklicherweise können wir Bewegung wahrnehmen (manchmal auch wenn sie gar nicht vorhanden ist). Normalerweise berechnet Ihr Gehirn die Bewegung z. T. aufgrund der Annahme, dass schrumpfende Objekte sich zurückziehen (nicht kleiner werden) und größer werdende Objekte sich nähern. Aber unsere Bewegungswahrnehmung ist nicht perfekt. Große Objekte, wie etwa Züge, scheinen sich in unseren Augen langsamer zu bewegen als kleine, etwa Autos, die sich mit derselben Geschwindigkeit bewegen. (Vielleicht haben Sie auf einem Flughafen schon einmal bemerkt, dass Jumbojets scheinbar langsamer landen als kleine Jets, die genauso schnell sind oder sogar langsamer.) Um einen hochfliegenden Ball zu erwischen, will ein Volleyballspieler (im Gegensatz zum Autofahrer) eine Kollision mit dem Ball erreichen, der ihm entgegenfliegt. Um das zu bewerkstelligen, hält man sich an eine einfache Regel. Dadurch, dass der Spieler den Ball in einem gleichbleibenden Blickwinkel behält, wird er genau dann durch den Punkt laufen, an dem er den Ball zurückspielen kann, wenn der Ball herunterkommt (McBeath et al. 1995). Ein Hund, der mit dem Maul eine Frisbee-Scheibe auffängt, wird genau dasselbe machen. Wie Trickfilmmachern weithin bekannt, nimmt das Gehirn auch, wenn ihm eine rasche Abfolge geringfügig unterschiedlicher Bilder dargeboten wird, diese als kontinuierliche Bewegung wahr (ein Phänomen, das auch stroboskopische Bewegung genannt wird). Ein Film ruft diese Täuschung dadurch hervor, dass in jeder Sekunde 24 Einzelaufnahmen projiziert werden. Die Bewegung, die wir sehen, existiert im Film gar nicht, der eigentlich nichts weiter ist als eine Diashow im Schnelldurchlauf. Die Bewegung wird in unserem Kopf erzeugt. Durch Nutzung des Phi-Phänomens rufen Werbetafeln und Leuchtreklame noch eine weitere Scheinbewegung hervor. Wenn 2 stationäre Lichter dicht nebeneinander in rascher Folge ein- und ausgeschaltet werden, nehmen wir sie als ein einziges Licht wahr, das sich zwischen 2 Punkten hin und her bewegt. Leuchtreklametafeln nutzen das Phi-Phänomen durch eine Reihenfolge von Lichtern aus, die beispielsweise den Eindruck eines Pfeils, der sich bewegt, aufkommen lassen. Dies bestätigt eine grundlegende Erkenntnis: Bei der Wahrnehmung wird nicht einfach die Welt auf unser Gehirn projiziert. Vielmehr werden die Empfindungen auseinandergenommen in kleine Informationseinheiten, die dann wieder in ein eigenes funktionales Modell der Außenwelt zusammengebaut werden. Unser Gehirn konstruiert unsere Wahrnehmungen.
6.3.4 Wahrnehmungskonstanz Ziel 9: Erklären Sie, warum die Wahrnehmungskonstanz wichtig ist.
Wahrnehmungskonstanz (perceptual constancy): Fähigkeit, Objekte als unverändert (mit gleichbleibender Helligkeit, Farbe, Form und Größe) wahrzunehmen, auch wenn sich die Beleuchtung und die Bilder auf der Retina verändern.
Bisher haben wir also herausgefunden, dass unser System aus Videokamera und Computer Objekte zunächst so wahrnehmen muss, wie wir es tun – mit klarer Form, Position und möglicherweise Bewegung. Die nächste Aufgabe ist etwas schwieriger: Es muss das Objekt erkennen, ohne sich durch Veränderungen von dessen Form, Größe, Helligkeit oder Farbe täuschen zu lassen. Aufgrund der Wahrnehmungskonstanz sind wir in der Lage, ein Objekt unverändert wahrzunehmen, obwohl sich ein Reiz verändert. Dank dieses Top-down-Prozesses können wir also Dinge erkennen, unabhängig davon, aus welchem Blickwinkel, aus welcher Entfernung und in welcher Beleuchtung wir sie sehen. Wenn Sie nur einen kurzen Blick auf jemanden werfen, der vor Ihnen auf dem Gehweg geht, erkennen Sie sofort den alten Klassenkameraden. In einer Zeitspanne, die kürzer ist als ein Atemzug, wurden die von unseren Augen aufgenommenen Informationen an das Gehirn weitergeleitet. Dort filterten Arbeitsgruppen aus Millionen von Neuronen die entscheidenden Merkmale heraus, verglichen sie mit den gespeicherten Bildern und identifizierten die Person. Dieses Meisterwerk der menschlichen Wahrnehmung nachzuahmen, eine Aufgabe, der die Wahrnehmungsforscher jahrzehntelang mit großem Engagement nachgegangen sind, stellt für unseren wahrnehmenden Computer eine enorme Herausforderung dar.
271 6.3 · Wahrnehmungsorganisation
Form- und Größenkonstanz
. Abb. 6.11. Formwahrnehmung Haben die Oberflächen dieser beiden Tische verschiedene Maße? Es scheint so. Aber, ob Sie es glauben oder nicht, sie sind gleich. (Messen Sie es nach, und Sie werden es selbst sehen.) Bei diesen beiden Tischen gleichen wir unsere Wahrnehmung dem Blickwinkel entsprechend an
© 2003 Roger Shepard
Ziel 10: Beschreiben Sie die Form- und Größenkonstanz, und erklären Sie, wie unsere Erwartungen über die wahrgenommene Größe und Entfernung zu einigen optischen Täuschungen beitragen.
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Manchmal scheint ein Gegenstand, der seine tatsächliche Form nicht ändern kann, sie dennoch je nach unserem Blickwinkel zu verändern (. Abb. 6.11). Häufiger kommt es jedoch vor, dass wir aufgrund der Formkonstanz die Form bekannter Gegenstände als konstant wahrnehmen, auch wenn sich unsere Bilder von ihnen auf der Retina verändern. Wenn sich eine Tür öffnet, wirft sie eine veränderte Form auf unsere Retina. Doch wir schaffen es, immer noch die Tür mit einer konstanten türähnlichen Form wahrzunehmen (. Abb. 6.12). Aufgrund der Größenkonstanz nehmen wir Objekte als etwas wahr, was eine konstante Größe hat, auch wenn unser Abstand zu ihnen variiert. Durch die Größenkonstanz können wir ein Auto als ausreichend groß zur Beförderung mehrerer Personen wahrnehmen, auch wenn wir es zwei Häuserblocks entfernt als winzig kleines Bild sehen. An diesem Beispiel lässt sich die enge Verbindung zwischen der wahrgenommenen Entfernung und der wahrgenommenen Größe eines Objekts erkennen. Wenn wir die Entfernung eines Objekts wahrnehmen, können wir daraus Rückschlüsse auf seine Größe ziehen. Oder wenn wir die normale Größe eines Objekts, etwa eines Autos, kennen, liefert uns das Hinweisreize für seine Entfernung.
. Abb. 6.12. Formkonstanz Beim Öffnen einer Tür wird das Bild, das auf unsere Retina fällt, immer trapezförmiger, doch wir nehmen die Tür weiterhin als rechteckig wahr
Beziehung von Größe zu Entfernung
Foto: © Sandor Jackal – Fotolia.com
© 1990 Roger Shepard
Es ist ein wahres Wunder, wie mühelos die Größenwahrnehmung funktioniert. Kennen wir die wahrgenommene Entfernung eines Objekts und die Größe seines Abbilds auf unserer Retina, können wir daraus sofort und ohne uns dessen bewusst zu sein, die Größe des Objekts ableiten. Obwohl die Monster in . Abb. 6.13a dieselben Bilder auf unsere Retina werfen, teilt die Zentralperspektive unserem Gehirn mit, dass das Monster, das das andere verfolgt, weiter weg ist. Und deshalb nehmen wir es als größer wahr. . Abb. 6.13a, b. Das Wechselspiel zwischen wahrgenommener Größe und Entfernung a Die monokularen Merkmale für Entfernung lassen das verfolgende Monster größer erscheinen als das verfolgte. Aber dem ist nicht so. b Dieser optische Trick, Ponzo-Täuschung genannt, beruht auf demselben Prinzip wie bei den fliehenden Monstern. Die beiden roten Streifen werfen gleich große Bilder auf unsere Retina. Aber unsere Erfahrung sagt uns, dass ein entfernteres Objekt nur dann ein gleich großes Bild wie ein näheres Objekt erzeugen kann, wenn es in Wirklichkeit größer ist. Deshalb nehmen wir den Streifen, der weiter entfernt zu sein scheint, als größer wahr
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
. Abb. 6.14. Müller-Lyer-Täuschung Laut Richard L. Gregory (1968) lehren uns die Ecken in unserer aus Rechtecken aufgebauten Welt, die nach »außen« oder »innen« weisenden Pfeilspitzen am Ende einer Linie so zu interpretieren, dass sie als Hinweisreiz für die Entfernung der Linie von uns und damit für deren Länge dienen. Die rote Linie an der Ecke der Kinokasse wirkt kürzer als die rote Linie an der Zimmerecke. Aber wenn Sie sie nachmessen, werden Sie sehen, dass beide gleich lang sind
Ed Kashi/Corbis
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Kultur und Wahrnehmung Menschen aus dem ländlichen Afrika, die nicht in einer Umgebung aus rechteckig entworfenen Gebäuden lebten (wie z. B. den hier dargestellten Rundhäusern bei den Zulus in Südafrika), waren weniger anfällig für die Müller-Lyer-Täuschung
Das Wechselspiel zwischen wahrgenommener Größe und wahrgenommener Entfernung erklärt viele der wohlbekannten optischen Täuschungen. Können Sie sich vorstellen, weshalb der Mond in der Nähe des Horizonts um bis zu 50% größer wirkt, als wenn er hoch am Himmel steht? Über 2000 Jahre haben sich die Gelehrten den Kopf über die Gründe für diese »Mondtäuschung« zerbrochen und darüber gestritten (Hershenson 1989). Ein Grund besteht darin, dass die Hinweisreize für die Entfernung von Objekten am Horizont dafür sorgen, dass der Mond hinter ihnen weiter entfernt erscheint als der Mond hoch oben am Nachthimmel (Kaufman u. Kaufman 2000). Deshalb kommt uns der Mond am Horizont größer vor, genau wie das weiter entfernte Monster in . Abb. 6.13a und die entfernten Streifen bei der Ponzo-Täuschung in . Abb. 6.13b. Beseitigen Sie diese Hinweisreize auf Entfernung dadurch, dass Sie beispielsweise den Mond (oder jedes Monster oder jeden Streifen) durch ein Papprohr anschauen, so fängt das Objekt sofort an zu schrumpfen. Die Beziehung zwischen Größe und Entfernung liefert eine Erklärung für 2 optische Täuschungen, die wir bereits weiter oben vorgeführt haben. Da war zunächst »Täuschung 1« (7 Abschn. 6.2), die Müller-Lyer-Täuschung, bei der es um die Länge von geraden Linien zwischen Pfeilspitzen geht. Mit ihr haben sich mehr als 1250 wissenschaftliche Publikationen befasst; doch die Psychologen diskutieren immer noch darüber, wodurch man sie erklären kann. Ein Ansatz lautet, dass uns die Erfahrung mit den Ecken von Zimmern oder Gebäuden dazu verleitet, die senkrechte Linie an der Kinokasse in . Abb. 6.14 als näher und damit als kürzer zu interpretieren, während wir die gleich lange senkrechte Linie neben der Tür als weiter weg und damit als länger deuten. Was uns also in einer abstrakten Strichzeichnung als optische Täuschung erscheint, verhilft uns in unserer dreidimensionalen Welt zur korrekten Tiefenwahrnehmung. Diese Theorie wird durch die empirischen Befunde bestätigt. Menschen ließen sich von der Müller-Lyer-Täuschung leichter täuschen, wenn sie, im Gegensatz zu manchen Stämmen im ländlichen Afrika, immer in einer Welt gelebt haben, die sich aus rechteckigen Formen zusammensetzt (Segall et al. 1990). Das Phänomen bringt damit eine kulturelle Erfahrung zum Ausdruck und ist nicht Folge der ethnischen Zugehörigkeit. Denn Afrikaner, die in Städten leben, verfallen der Täuschung leichter als die aus ländlichen Gegenden ohne rechteckig konstruierte Gebäude. Unsere Erfahrung mit rechteckigen Kontexten hilft uns also, unsere Wahrnehmungen nach dem Top-down-Prinzip zu konstruieren. Die Beziehung von Größe zu Entfernung erklärt auch »Täuschung 2« (7 Abschn. 6.2) mit dem schrumpfenden und dem wachsenden Mädchen. Aus . Abb. 6.15 wird ersichtlich, dass es sich um einen verzerrten Raum handelt, den sog. Ames-Raum. Schaut man nun mit einem Auge durch ein Guckloch, rufen die trapezförmigen Wände dieselben Bilder hervor wie die eines normalen rechteckigen Zimmers, das man mit beiden Augen betrachtet. Weil dies aus der einäugigen Sicht der Kamera dargestellt wird, zieht das Gehirn den logischen Schluss, dass es sich um ein normales Zimmer handelt und jedes Mädchen daher gleich weit von uns entfernt ist. Durch die unterschiedliche Größe der Bilder auf unserer Retina bleibt unserem Gehirn nichts anderes übrig, als aufgrund seiner Berechnungen zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass die Mädchen ganz unterschiedlich groß sind. ! Unsere gelegentlichen Fehlwahrnehmungen enthüllen, wie unsere normalerweise äußerst effektiven Wahrnehmungsprozesse vonstatten gehen.
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Susan Schwarzenberg © Exploratorium, www.exploratorium.edu
6.3 · Wahrnehmungsorganisation
Helligkeitskonstanz Ziel 11: Erörtern Sie die Helligkeitskonstanz und ihre Ähnlichkeit mit der Farbkonstanz.
Weißes Papier reflektiert 90% des Lichts, das darauf fällt, schwarzes Papier nur 10%. Wenn man sich ein schwarzes Papier im Sonnenlicht ansieht, kann es bis zu 100-mal mehr Licht reflektieren als ein weißes Blatt Papier, das man sich innen im Haus anguckt; doch es sieht immer noch schwarz aus (McBurney u. Collins 1984). An diesem Beispiel wird die Helligkeitskonstanz deutlich. Wir nehmen einen Gegenstand mit einer konstanten Helligkeit wahr, auch wenn sich die Beleuchtung verändert. Die wahrgenommene Helligkeit hängt von der relativen Luminanz (Leuchtdichte) ab, der Menge an Licht, die ein Gegenstand, relativ zu seiner Umgebung, reflektiert. Wenn Sie sich ein sonnenbeschienenes schwarzes Papier durch ein enges Rohr anschauen (so dass nichts anderes sichtbar ist), kann es grau wirken; denn im grellen Sonnenlicht reflektiert es eine recht große Lichtmenge. Schauen Sie es sich noch einmal nicht durch das Rohr an, ist es wieder schwarz. Denn es reflektiert sehr viel weniger Licht als die Gegenstände drum herum. Dieses Phänomen hat Ähnlichkeit mit der Farbkonstanz. Wenn sich das Licht verändert, behält ein roter Apfel in einer Obstschale seine rote Farbe bei, weil unser Gehirn das Licht, das von jedem Gegenstand reflektiert wird, im Vergleich zu den Gegenständen in der Umgebung berechnet. Die wahrgenommene Helligkeit bleibt bei unverändertem Kontext mehr oder weniger konstant. Aber was geschieht, wenn sich der Kontext drum herum verändert? Wie aus . Abb. 6.16 ersichtlich wird, berechnet unser Sehapparat Helligkeit und Farbe in Bezug auf die Objekte in der Umgebung. Wahrgenommene Helligkeit verändert sich also mit dem Kontext. Anhand von Formwahrnehmung, Tiefenwahrnehmung, Bewegungswahrnehmung und Wahrnehmungskonstanz wird deutlich, wie wir unsere visuellen Erfahrungen organisieren. Aber Wahrnehmungsorganisation ist auch etwas, was mit den anderen Sinnen zu tun hat. Sie erklärt, weshalb wir das regelmäßige Ticken einer Uhr zu einem Muster gruppieren (»Täuschung 6«, 7 Abschn. 6.2). Wenn wir eine Sprache hören, die wir nicht kennen, fällt es uns häufig schwer, herauszuhören, wo ein Wort endet und das nächste beginnt. Wenn wir unsere Sprache hören, hören wir automatisch einzelne Wörter. Auch das ist eine Form von Wahrnehmungsorganisation. Es handelt sich sogar um noch mehr. Denn wir organisieren eine Buchstabenreihe wie THEDOGATEMEAT zu Wörtern, die einen logischen Satz bilden. Und das ist eher »The dog ate meat« (Der Hund fraß Fleisch) als »The do gate me at« (McBurney u. Collins 1984). Dieser Prozess beruht nicht nur auf Organisation, sondern auch auf Interpretation: Wir erkennen Sinn und Bedeutung in dem, was wir wahrnehmen.
. Abb. 6.15. Täuschung vom schrumpfenden und wachsenden Mädchen Dieses verzerrte Zimmer, entworfen von Adelbert Ames, scheint eine ganz normale rechteckige Form zu haben, wenn man mit einem Auge durch ein Guckloch schaut. Das Mädchen in der vorderen Ecke scheint unverhältnismäßig groß zu sein, da wir bei der Einschätzung ihrer Größe von der falschen Annahme ausgehen, sie sei gleich weit von uns entfernt wie das Mädchen in der hinteren Ecke
. Abb. 6.16. Helligkeitskontrast Ob Sie es glauben oder nicht: Quadrat A und B haben dieselbe Farbe. (Wenn Sie es nicht glauben, fotokopieren Sie die Seite, schneiden Sie die Quadrate aus und vergleichen Sie sie.) Dennoch nehmen wir B als heller wahr …
Co ur te sy of Ed wa rd Ad els on
Die wahrgenommene Beziehung zwischen Entfernung und Größe entspricht i. Allg. der Realität. Doch unter bestimmten Umständen kann sie uns aufs Glatteis führen (etwa indem sie zur Mondtäuschung, zur Müller-Lyer-Täuschung und zur Täuschung mit dem verzerrten Zimmer führt).
Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Die Lösung Eine andere Ansicht der nicht möglichen Hundehütte von Abb. 6.6. zeigt uns, worin das Geheimnis dieser Täuschung besteht. Aus dem Blickwinkel der Kamera in Abb. 6.6 verleitet uns das Gruppierungsprinzip der Geschlossenheit, die Bretter als durchgehend wahrzunehmen
Mit freundlicher Genehmigung von Walter Wick.
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Lernziele Abschnitt 6.3 Wahrnehmungsorganisation
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Ziel 3: Beschreiben Sie den Beitrag der Gestaltpsychologie zu unserem Verständnis der Wahrnehmung. Gestaltpsychologen suchen nach Regeln, mit deren Hilfe das Gehirn Bruchstücke sensorischer Daten in Gestalten oder sinnvollen Formen organisiert. Diese Forscher betonten den alten Lehrsatz, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Dadurch zeigten sie, dass wir ständig sensorische Informationen ausfiltern und daraus so auf Wahrnehmungen schließen, dass sie für uns einen Sinn ergeben. Der wahre Kern bleibt weiterhin richtig, auch wenn die aktuelle Forschung zeigt, dass Empfindung und Wahrnehmung Bestandteile eines kontinuierlichen Informationsverarbeitungssystems sind, zu dem sowohl Bottom-up- als auch Top-down-Verarbeitung gehören.
Ziel 6: Beschreiben Sie zwei binokulare Hinweisreize zur Wahrnehmung von Tiefe, und erklären Sie, wie sie dazu beitragen, dass das Gehirn eine Entfernung berechnen kann. Binokulare Hinweisreize sind Hinweisreize für Tiefe, die auf Informationen aus beiden Augen beruhen. Beim Hinweisreiz der retinalen Disparität berechnet das Gehirn die relative Entfernung eines Objekts, indem es die leicht unterschiedlichen Bilder, die vom Objekt auf die beiden Retinae treffen, miteinander vergleicht. Je größer der Unterschied ist, desto näher muss das Objekt sein. Beim Hinweisreiz der Konvergenz berechnet das Gehirn, wie stark unsere Augen neuromuskulär angespannt sind, wenn sie sich nach innen bewegen, um ein Objekt in der Nähe anzusehen. Je größer die Anspannung (oder der Konvergenzwinkel), desto näher das Objekt.
Ziel 4: Erklären Sie die Figur-Grund-Beziehung, und geben Sie die Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung bei der Formwahrnehmung an. Um ein Objekt zu erkennen, müssen wir es zuerst wahrnehmen, d. h. als Figur sehen, die sich von ihrer Umgebung (dem Grund) deutlich unterscheidet. Wir bringen Ordnung und Form in die Welt der Reize, indem wir die Reize in sinnvollen Gruppierungen organisieren und dabei den Regeln der Nähe, der Ähnlichkeit, der Kontinuität, des Zusammenhangs und der Geschlossenheit folgen.
Ziel 7: Erklären Sie, inwiefern sich monokulare von binokularen Hinweisreizen unterscheiden, und beschreiben Sie mehrere monokulare Hinweisreize für die Tiefenwahrnehmung. Monokulare Hinweisreize gestatten es uns, Tiefe mit Hilfe von Informationen zu beurteilen, die nur von einem Auge übermittelt werden. Binokulare Hinweisreize setzen dagegen Informationen von beiden Augen voraus. Zu den monokularen Hinweisreizen gehören: 4 relative Größe (etwas Kleineres ist weiter entfernt), 4 Interposition (versperrt uns ein Objekt die Sicht auf ein anderes, ist es näher als das andere Objekt), 4 Relative Klarheit (ein Objekt im Nebel ist weiter entfernt als ein Objekt, das man klar und deutlich sehen kann), 4 Texturgradient (wenn sich die Textur verändert, sind grobe, deutlich strukturierte Objekte nah, feine, nicht mehr unterscheidbare weiter entfernt), 4 Relative Höhe (Objekte, die weiter oben im Gesichtsfeld liegen, sind weiter entfernt), 4 Relative Bewegung oder Bewegungsparallaxe (wenn man sich bewegt, scheinen sich Gegenstände, die eigentlich unbeweglich sind, ebenfalls zu bewegen), 4 Zentralperspektive (je stärker zwei parallele Linien konvergieren, desto weiter entfernt sind sie), 4 Licht und Schatten (nähere Gegenstände reflektieren mehr Licht als weiter entfernte Gegenstände), 6
Ziel 5: Erklären Sie, warum die Tiefenwahrnehmung wichtig ist, und erörtern Sie, welchen Beitrag die visuelle Klippe für unser Verständnis dieser Fähigkeit geleistet hat. Tiefenwahrnehmung ist unsere Fähigkeit, Objekte in drei Dimensionen zu sehen, obwohl auf unsere Retina nur zweidimensionale Bilder auftreffen. Ohne die Tiefenwahrnehmung wären wir nicht in der Lage, die Entfernung, die Höhe und die Tiefe zu beurteilen. Die Forschung zur visuellen Klippe hat bei 6–14 Monate alten Kleinkindern gezeigt, dass Tiefenwahrnehmung teilweise angeboren ist. Viele Arten von Lebewesen nehmen die Welt schon von Geburt an oder kurz danach als dreidimensional wahr.
275 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
Ziel 8: Nennen Sie die grundlegende Annahme, die wir bei der Bewegungswahrnehmung machen, und erklären Sie, wie man sich bei solchen Wahrnehmungen täuschen kann. Wenn sich Objekte quer über unsere Retina oder auf sie zu bewegen, machen wir die grundlegende Annahme, dass schrumpfende Objekte sich von uns weg bewegen und größer werdende Objekte sich uns nähern. Aber wir können uns nicht immer auf unsere Bewegungswahrnehmung verlassen. Möglicherweise berechnen wir mit Hilfe unseres peripheren Sehens die Geschwindigkeit der Bewegung großer Objekte falsch. Wenn die Bilder auf der Retina in schneller Abfolge auftreffen, so kann dies eine Bewegungstäuschung hervorrufen, wie bei der stroboskopischen Bewegung (ausgelöst durch eine rasche Abfolge leicht variierender Bilder) oder beim Phi-Phänomen (ausgelöst durch ein schnelles An- und Ausschalten zweier stationärer Lichtquellen). Ziel 9: Erklären Sie, warum die Wahrnehmungskonstanz wichtig ist. Beim Sehen ist die Wahrnehmungskonstanz Voraussetzung dafür, dass man ein Objekt unabhängig von der Änderung des Blickwinkels, der Entfernung oder der Beleuchtung erkennt. Wegen dieser Fähigkeit nehmen wir Objekte als etwas wahr, was trotz der sich verändernden Bilder, die sie auf die Retina projizieren, unveränderliche charakteristische Merkmale hat. Ziel 10: Beschreiben Sie die Form- und Größenkonstanz, und erklären Sie, wie unsere Erwartungen über die wahrgenommene Größe und Entfernung zu einigen optischen Täuschungen beitragen. Bei der Formkonstanz handelt es sich um unsere Fähigkeit, vertraute Objekte (wie etwa eine sich öffnende Tür) als in ihrer Form unveränder-
6.4
lich wahrzunehmen. Größenkonstanz bedeutet, Objekte trotz ihrer sich verändernden Bilder auf unserer Retina als unveränderlich in ihrer Größe wahrzunehmen. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen wahrgenommener Größe und wahrgenommener Entfernung. Wenn man die Größe eines Objekts kennt, so ist das ein Anhaltspunkt für seine Entfernung; wenn man seine Entfernung kennt, ist das ein Hinweis auf seine Größe. Dieses Zusammenspiel führt uns bisweilen in die Irre, wenn wir etwa monokulare Hinweisreize für Entfernung fehlinterpretieren und zu falschen Schlüssen kommen wie bei der Mondtäuschung, der PonzoTäuschung und der Müller-Lyer-Täuschung. Ziel 11: Erörtern Sie die Helligkeitskonstanz und ihre Ähnlichkeit mit der Farbkonstanz. Bei der Helligkeitskonstanz handelt es sich um unsere Fähigkeit, ein Objekt als etwas wahrzunehmen, was eine konstante Helligkeit hat, auch wenn sich die Beleuchtung – das Licht, das darauf geworfen wird – ändert. Die Farbkonstanz ermöglicht es uns, die Farbe eines Objekts als unveränderlich wahrzunehmen, auch wenn sich die Beleuchtung ändert. In beiden Fällen nimmt das Gehirn die Eigenschaft (Helligkeit oder Farbe) als relativ zu den Objekten in der Umgebung wahr. > Denken Sie weiter: Versuchen Sie eine realistische Darstellung der Szenerie zu geben, die Sie von Ihrem Fenster aus sehen. Wie viele monokulare Hinweisreize werden Sie bei Ihrer Beschreibung nutzen?
Wahrnehmungsinterpretation
Philosophen haben darüber diskutiert, ob unsere Wahrnehmungsfähigkeit auf Anlage oder Umwelt zurückgeht. Inwieweit lernen wir wahrzunehmen? Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) war der Meinung, dass Wissen auf unserer angeborenen Fähigkeit zur Organisation von Sinneseindrücken beruht. Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir in der Tat schon mit einem System zur Verarbeitung sensorischer Informationen ausgestattet. Der britische Philosoph John Locke (1632–1704) ging hingegen davon aus, dass wir durch unsere Erfahrungen auch lernen, die Welt wahrzunehmen. Wir lernen ja tatsächlich, eine Verbindung zwischen der Entfernung eines Gegenstands und seiner Größe herzustellen. Wie wichtig ist also die Erfahrung? Wie stark beeinflusst sie unsere Wahrnehmungsinterpretationen?
6.4.1 Sensorische Deprivation und wiederhergestelltes
Sehvermögen Ziel 12: Beschreiben Sie, welchen Beitrag die Forschung zur Wiederherstellung des Sehvermögens und zur sensorischen Deprivation für unser Verständnis davon geleistet hat, wie Anlage und Umwelt bei unserer Wahrnehmung zusammenwirken.
In einem Brief an John Locke warf William Molyneux die Frage auf, ob wohl ein Mensch, der blind geboren ist und dem beigebracht wurde, über seinen Tastsinn zwischen einem Würfel und einer Kugel zu unterscheiden, diese beiden Körper auch visuell unterscheiden könne, wenn er als Er-
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
. Abb. 6.17. Wie man zusammengesetzte Gesichter wahrnimmt Für die meisten Menschen sehen die oberen Hälften dieser beiden Gesichter, die von Le Grand et al. (2004) entworfen wurden, unterschiedlich aus. In Wirklichkeit handelt es sich aber um dasselbe Gesicht, wenn sie auch zusammen mit zwei verschiedenen unteren Gesichtshälften dargeboten wurden. Menschen, die früh in ihrem Leben von visuellen Erfahrungen abgeschnitten waren, haben mehr Schwierigkeiten, ganze Gesichter zu erkennen. Der Witz an der Sache ist: Sie können besser erkennen, dass die oberen Hälften dieser Gesichter identisch sind
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»Wir wollen also einmal annehmen, der Geist sei ein leeres Blatt, frei von Merkmalen oder Gedanken. Doch auf welche Weise füllt sich das leere Blatt? … Meine Antwort ist ein einziges Wort: ERFAHRUNG.« John Locke, »An Essay Concerning Human Understanding« (1690, dt. »Versuch über den menschlichen Verstand«)
Courtesy of Richard LeGrand (E-mail:
[email protected])
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wachsener sein Sehvermögen wiedererlangt. Lockes Antwort lautete: nein. Denn dieser Mensch habe nie gelernt, den Unterschied zu sehen. Dieser hypothetische Fall von Molyneux ist seitdem bei einigen Dutzend Erwachsener untersucht worden, die blind geboren wurden und später ihr Sehvermögen wiedererlangt haben (Gregory 1978; von Senden 1932). Die meisten waren mit einem Katarakt (grauer Star) zur Welt gekommen, einer Linsentrübung, die sie nur diffuses Licht sehen ließ (als ob Sie durch einen halbierten Tischtennisball nur diffusen Nebel sehen würden). Nachdem der Katarakt operativ beseitigt worden war, konnten die Patienten zwischen Figur und Grund unterscheiden und Farben nachempfinden. Dies deutete darauf hin, dass diese Aspekte der Wahrnehmung angeboren sind. Doch ganz wie Locke vermutet hatte, konnten die ehemals blinden Patienten Objekte häufig nicht visuell unterscheiden, die ihnen vom Betasten her vertraut waren. Sie und ich nehmen Gesichter als Ganzes wahr und erkennen sie auch so. Wenn man uns dieselbe obere Gesichtshälfte zusammen mit 2 unterschiedlichen unteren Hälften zeigt (wie in . Abb. 6.17), werden die identischen oberen Hälften scheinbar unterschiedlich sein. Menschen, die während der Säuglingszeit von visuellen Erfahrungen depriviert wurden, sind uns allen darin überlegen, zu erkennen, dass die oberen Hälften dieselben sind; denn sie haben es nicht gelernt, ein Gesicht als Ganzes zu verarbeiten (Le Grand et al. 2004). Beispielsweise konnte ein 43-jähriger Mann, dessen Sehvermögen kürzlich nach 40 Jahren Blindheit wiederhergestellt wurde, Personen mit unterschiedlichen Merkmalen assoziieren (»Marie, das war doch die mit den roten Haaren«), aber er konnte ein Gesicht nicht auf Anhieb erkennen. Ihm mangelte es auch an Wahrnehmungskonstanz. Wenn Menschen von ihm weggingen, schienen sie für ihn zu schrumpfen (Bower 2003). Der Sehsinn, das wird an diesen Fällen deutlich, ist z. T. ein erworbener Sinn. Um eine höhere Kontrollierbarkeit der Testbedingungen als bei klinischen Fällen zu erreichen, haben Forscher das imaginäre Experiment von Molyneux mit jungen Katzen und Affen durchgeführt. Bei einem Experiment setzten sie den Tieren eine Art Schwimmbrille auf, durch die sie nur diffuses, unstrukturiertes Licht sehen konnten (Wiesel 1982). Als die jungen Tiere erwachsen wurden und ihnen die Brille abgenommen wurde, waren bei ihnen, ganz ähnlich wie bei den Menschen mit angeborener Linsentrübung, Einschränkungen der Wahrnehmung erkennbar. Sie konnten sowohl Farben als auch Helligkeiten unterscheiden, nicht aber die Form eines Kreises von der eines Vierecks differenzieren. Ihre Augen waren nicht degeneriert; ihre Retina übermittelte immer noch Signale an die Sehrinde. Doch aufgrund mangelnder Stimulierung hatten die Sehrindenzellen keine normalen Verbindungen entwickelt. So blieben die Tiere funktional blind für Formen.
277 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
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6.4.2 Wahrnehmungsadaptation Ziel 13: Erklären Sie, warum die Forschung mit Umkehrbrillen dazu beiträgt, dass wir die Anpassungsfähigkeit der Wahrnehmung besser verstehen.
Wenn wir eine neue Brille bekommen, kann es sein, dass wir uns zunächst etwas desorientiert fühlen oder uns sogar schwindelig wird. Innerhalb von 1 oder 2 Tagen gewöhnen wir uns dann daran. Unsere Wahrnehmungsadaptation an veränderte visuelle Reize sorgt dafür, dass uns die Welt bald wieder normal erscheint. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie bekämen eine neue Brille, die die Welt extrem verändert erscheinen lässt und z. B. die Lage der Objekte um 40 Grad nach links verschiebt. Würden Sie sie zum ersten Mal aufsetzen und einem Freund einen Ball zuwerfen, würde der weit links an ihm vorbeifliegen. Würden Sie einen Schritt nach vorne machen, um jemand mit Handschlag zu begrüßen, würden Sie weit links am Ziel vorbeischießen. Glauben Sie, Sie könnten sich an eine so verzerrte Welt anpassen? Küken können das nicht. Verpasst man ihnen solche Brillen, dann picken sie weiterhin auf die Stelle, an der die Körner zu sein scheinen (Hess 1956; Rossi 1968). Doch wir Menschen gewöhnen uns rasch an verzerrende Brillengläser. Schon nach wenigen Minuten würden Ihre Ballwürfe wieder treffen, und Sie würden wieder zielstrebig auf die andere Person zugehen. Nach Absetzen dieser Brille würde zunächst der gegenteilige Effekt eintreten. Ihre ersten Würfe würden in die entgegengesetzte Richtung ins Leere gehen, also rechts vorbeifliegen. Aber auch in diesem Fall würde es nur wenige Minuten dauern, bis Sie sich wieder an die neue Situation angepasst hätten. Wenn man Ihnen nun tatsächlich eine noch extremere Brille gäbe, die buchstäblich die Welt auf den Kopf stellt, könnten Sie sich dennoch daran anpassen. Stratton (1896) machte diese Erfahrung am eigenen Leibe, als er ein Linsensystem zum Aufsetzen erfand, das links mit rechts und gleichzeitig oben mit unten vertauschte, und es 8 Tage lang trug. Er wurde damit zum ersten Menschen, der in aufrechter Position Erfahrung mit einem seitenverkehrten und auf dem Kopf stehenden Bild auf der Retina machte. Der Boden war oben, der Himmel unten.
Sehen lernen Mit 3 Jahren hat Mike May sein Augenlicht bei einer Explosion verloren. Als dann am 7. Mai 2000 durch Einsetzen einer neuen Kornea das Sehvermögen seines rechten Auges wiederhergestellt wurde, konnte er einen ersten Blick auf seine Frau und seine Kinder werfen. Doch obwohl Signale seine lange brachliegende Sehrinde erreichten, mangelte es ihm an Erfahrung, diese zu interpretieren. Mit Ausnahme solcher Merkmale wie Haare waren die Gesichter für ihn nicht erkennbar. Den Gesichtsausdruck konnte er nicht erfassen. Er kann jedoch einen Gegenstand in Bewegung erkennen und lernt langsam, sich in seiner neuen Welt zurechtzufinden und über solche Dinge wie flirrenden Staub im Sonnenlicht zu staunen. (Abrams 2002)
Wahrnehmungsadaptation (perceptual adaptation): Fähigkeit zur Anpassung an ein künstlich verzerrtes oder gar auf den Kopf gestelltes Blickfeld.
Eigentum von Hubert Dolezal
Tritt eine ähnlich lange Zeit sensorischer Einschränkung später im Leben auf, hat sie weder bei Tieren noch bei Menschen bleibende Schäden zur Folge. Wenn Sie das Auge eines erwachsenen Tieres mehrere Monate lang abdecken, wird sein Sehvermögen, wenn Sie ihm die Augenklappe abnehmen, unverändert sein. Auch beim Menschen stellt sich bei operativer Entfernung von Katarakten, die sich nach der frühen Kindheit entwickelt hatten, im Anschluss an den Eingriff das normale Sehvermögen ein. Die Auswirkungen visueller Erfahrungen in der frühen Kindheit (von Katze, Affe und Mensch) weisen darauf hin, dass es eine kritische Phase (7 Abschn. 4.2.3) für die normale Sinnes- und Wahrnehmungsentwicklung geben muss. Die neuronale Organisation der Wahrnehmung im Gehirn wird durch Erfahrung geleitet, unterstützt und aufrechterhalten. Babys mit angeborener Linsentrübung (Katarakt) werden heute in der Regel innerhalb von wenigen Monaten operiert. Das für das korrigierte Auge zuständige neuronale Netz im Gehirn entwickelt sich danach rasch. Schon nach einer Stunde visueller Erfahrung wird eine verbesserte Sehschärfe beobachtet (Maurer et al. 1999). Bei Kätzchen und Babys, die von Geburt an taub sind und ein Kochlearimplantat eingesetzt bekommen, kann man in ähnlicher Weise beobachten, wie das entsprechende Gehirnareal allmählich zum Leben erweckt wird (Klinke et al. 1999; Sirenteanu 1999). Äußere Einflüsse modellieren das, was uns von Natur aus mitgegeben wurde. Experimente zum Thema Wahrnehmungseinschränkungen und Wahrnehmungsvorteile, die sich durch eine frühe sensorische Deprivation ergeben haben, liefern teilweise eine Antwort auf eine Frage, die wir auch in 7 Kap. 3 und 4 aufgeworfen haben: Hält die Wirkung früher Erfahrungen ein ganzes Leben lang an? Im Hinblick auf manche Aspekte der visuellen Wahrnehmung muss diese Frage klar bejaht werden: »Nutze sie früh, sonst geht sie verloren.« Die Prägung durch frühe visuelle Erfahrungen hält bis weit in die Zukunft an.
Mike May/Alyson Aliano Photography
! Visuelle Deprivation in einer für das Sehenlernen kritischen Phase während der ersten Lebensmonate führt auch nach Wiederherstellung der Sehfähigkeit zu bleibenden Beeinträchtigungen.
Wahrnehmungsadaptation »Hoppla, das ging daneben«, denkt der Forscher Hubert Dolezal beim Betrachten der Welt durch eine Umkehrbrille. Verblüffenderweise können Menschen jedoch lernen, sich an eine Welt anzupassen, die auf dem Kopf steht
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
C. Styrsky
Zunächst fühlte sich Stratton desorientiert. Wenn er gehen wollte, hatte er Schwierigkeiten, seine Füße zu finden, die jetzt »oben« waren. Essen war fast unmöglich. Ihm wurde übel, und er war deprimiert. Doch Stratton ließ nicht locker, und am achten Tag konnte er dann problemlos in die richtige Richtung nach einem Gegenstand greifen und herumlaufen, ohne ständig anzustoßen. Als er schließlich diese Umkehrbrille wieder absetzte, konnte er sich schnell wieder readaptieren. In späteren Experimenten wurden Strattons Erfahrungen bestätigt (Dolezal 1982; Kohler 1962). Nach einer gewissen Anpassungsphase waren die Versuchspersonen in der Lage, Motorrad zu fahren, in den Alpen Ski zu fahren und ein Flugzeug zu fliegen. Passten sich all diese Menschen dadurch an, dass sie ihre seltsame Welt in die »normale« Sicht der Dinge umwandelten? Nein. Eigentlich schien die Welt um sie herum immer noch auf dem Kopf zu stehen und seitenverkehrt zu sein. Aber durch aktive Bewegung in dieser verkehrten Welt passen sie sich an den Kontext an und lernen, ihre Bewegungen zu koordinieren.
Visuelle Erfahrungen lassen sich mittels Wahrnehmungsadaption wesentlich verändern – in der Regel…
Wahrnehmungsset (perceptual set): mentale Prädisposition, etwas Bestimmtes zu sehen und nicht etwas anderes.
Ziel 14: Definieren Sie, was ein Wahrnehmungsset ist, und erklären Sie, wie es einen Einfluss darauf hat, was wir wahrnehmen und was nicht.
Jeder weiß: Sehen heißt glauben. Doch wie auch jeder weiß, es aber nicht so recht wahr haben will, gilt ebenfalls das Umgekehrte: Glauben heißt sehen. Unsere Erfahrungen, Annahmen und Erwartungen können uns ein Wahrnehmungsset oder eine mentale Prädisposition vorgeben, die das, was wir sehen, entscheidend beeinflusst (»top-down«). Man »sieht« sofort eine größere Ähnlichkeit zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, wenn einem gesagt wird, es handle sich um Mutter und Kind bzw. Vater und Kind (Bressan u. Dal Martello 2002). Und nun fragen Sie sich einmal: Handelt es sich bei dem Bild in der Mitte von . Abb. 6.18 um einen Mann, der Saxophon spielt oder um das Gesicht einer Frau? Was wir in einer solchen Zeichnung sehen, kann davon beeinflusst sein, welches der beiden eindeutigeren Bilder daneben wir zuerst angeschaut haben (Boring 1930). ! Haben wir uns erst einmal eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit gemacht, dann fällt es uns schwer, die Wahrheit zu sehen.
»Die Versuchung, Theorien auf der Basis unzureichender Informationen schon zu früh aufzustellen, ist der Ruin unserer Profession.« Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Valley of Fear« (1914)
Auch Wissenschaftler, die sich um Objektivität bemühen, nehmen die Wirklichkeit durch die Brille ihrer Theorien wahr. Als man zum ersten Mal durch ein Fernrohr die »Kanäle« auf dem Mars sehen konnte, nahm manch einer dies als Nachweis für intelligentes Leben wahr. Das waren sie auch, nur lag die Intelligenz bei dem Betrachter, der ins Fernrohr schaute. Jeden Tag begegnen uns viele Beispiele von Wahrnehmungssets. Im Jahr 1972 veröffentlichte eine britische Zeitung die unretuschierten Originalbilder eines »Monsters « im schottischen Loch Ness – »die faszinierendsten Fotos, die je aufgenommen wurden«, so der Kommentar der Zeitung. Wenn diese Information bei Ihnen dasselbe Wahrnehmungsset hervorruft wie bei den meisten
. Abb. 6.18. Wahrnehmungsset Was sehen Sie auf dem mittleren Bild? Einen Saxophonisten oder ein Frauengesicht? Wenn Sie zuerst einen Blick auf eines der beiden nicht eindeutigen Bilder werfen, wird das höchstwahrscheinlich einen Einfluss auf Ihre Interpretation haben
© 1990 Roger Shepard
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6.4.3 Wahrnehmungsset
279 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
Keystone/Hulton Archive/Getty Images
Lesern dieser Zeitung, werden auch Sie in dem Foto von . Abb. 6.19 ein Monster sehen. Doch als sich Campbell (1986) die Fotos mit einem anderen Wahrnehmungsset anschaute, sah er darin einen gekrümmten Baumstamm, den auch andere an jenem Tag, als das Foto aufgenommen wurde, im Wasser gesehen hatten. Darüber hinaus werden Sie jetzt mit diesem anderen Wahrnehmungsset feststellen, dass der Gegenstand bewegungslos im Wasser treibt und keine kleinen Wirbel oder Wellenbewegungen um sich herum erzeugt. Das passt nicht gerade zu dem, was wir von einem lebendigen Monster erwarten. Offensichtlich beeinflusst von einem Wahrnehmungsset haben Tausende von Menschen in der Vergangenheit staunend das Gesicht des Mondes, Ufos in Wolkenwirbeln. Mutter Teresa auf einem Zimthörnchen oder Jesus auf einem Pfannekuchen bewundert. Ein Wahrnehmungsset kann auch das beeinflussen, was wir hören. Ein Beispiel dafür ist der freundliche Pilot, der beim Beschleunigen zum Starten zu seinem deprimierten Kopiloten hinüberschaute und sagte: »Cheer up« (Kopf hoch). Der Kopilot hörte das übliche »Gear up« (Fahrgestell einfahren) und fuhr prompt die Räder ein, bevor das Flugzeug abgehoben hatte (Reason u. Mycielska 1982). Hier wird deutlich, dass vieles von dem, was wir wahrnehmen, nicht nur aus der Welt »dort draußen« stammt, sondern seinen Ursprung auch in dem hat, was hinter unseren Augen und zwischen unseren Ohren sitzt.
. Abb. 6.19. Glauben ist Sehen Was nehmen Sie auf diesem Foto wahr? Ist das »Nessie«, das Monster von Loch Ness, oder ein Baumstamm? Wir nehmen oft das wahr, was wir zu sehen erwarten
! Unser Wahrnehmungsset wird durch Vorstellungen oder Schemata festgelegt, die wir aufgrund unserer Erfahrungen bilden und mit Hilfe derer wir unbekannte Informationen organisieren und interpretieren.
Zeigt man den Beginn des Kinderreims »Mary had a a little lamb« dann sehen die meisten Menschen, was sie erwarten, und überlesen die Wiederholung des »a«. Wie war das bei Ihnen?
Bereits bestehende Schemata von Saxophonisten und Frauengesichtern, Monstern und Baumstämmen, Flugzeuglichtern und Ufos haben einen Einfluss darauf, wie wir nicht eindeutige Empfindungen nach dem Top-down-Prinzip interpretieren. Wenn Menschen mit einem nicht eindeutigen Flugobjekt am Himmel konfrontiert werden, greifen sie zu unterschiedlichen Schemata: »Das ist ein Vogel«, »Das ist ein Flugzeug«, »Das ist Superman«. Die Zeichnungen von Kindern geben uns einen Einblick in die Wahrnehmungsschemata, die sich bei ihnen entwickeln. Ein Kind im Vorschulalter kann Kreise und eckige Linien malen, kann sie aber nicht kombinieren, um daraus eine kunstvoll dargestellte menschliche Figur entstehen zu lassen. Es geht hier nicht um die Ungeschicklichkeit des Kindes. Bittet man einen erwachsenen Rechtshänder, mit der linken Hand zu malen, wird eine ungeschickte Zeichnung dabei herauskommen, die jedoch mit der Kinderzeichnung von . Abb. 6.20 nichts gemein hat. Teilweise besteht die Schwierigkeit des Kindes in der Herausforderung, das, was es sieht, optisch darzustellen. Der Hauptunterschied liegt jedoch darin, dass das Kind ein vereinfachtes Schema für die wesentlichen menschlichen Eigenschaften hat. Für 3- und 4-Jährige ist das Gesicht eines Menschen ein sehr viel wichtigeres Merkmal als sein Körper. Im Alter von 3–8 Jahren werden die Wahrnehmungsschemata der Kinder für den Körper immer ausgefeilter und damit auch ihre Zeichnungen.
C. Grosser
. Abb. 6.20. Schemata In den von Kindern gemalten Bildern spiegeln sich sowohl ihre Schemata von der Wirklichkeit wider als auch ihre Fähigkeiten, das darzustellen, was sie sehen. Diese Bilder der 4 1/2-jährigen Laura zeigen, dass das Gesicht in den Schemata kleiner Kinder unter den grundlegenden Merkmalen des Menschen eine weitaus größere Rolle spielt als der Körper
C. Grosser
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Kieran Lee/FaceLab, Department of Psychology, University of Western Australia
. Abb. 6.21. Gesichter erkennen Beim kurzen Einblenden von Bildern wurde eine Karikatur von Arnold Schwarzenegger (a) häufiger erkannt als der echte Schwarzenegger. Dasselbe traf auf andere bekannte Männergesichter zu (b)
a Antikarikatur
Der »Echte«
Karikatur
Unsere Schemata für Gesichter sorgen dafür, dass wir auch in zufälligen Konfigurationen, wie etwa der Mondlandschaft, Gesichtszüge zu erkennen glauben. Lee et al. (2000) haben gezeigt, wie wir Menschen an ihren Gesichtszügen erkennen, anhand derer die Karikaturisten ihre Zeichnung anfertigten. Dazu zeigten sie Studierenden der Universität von Westaustralien für einen Sekundenbruchteil 3 Versionen von bekannten Gesichtern: das tatsächliche Gesicht, eine vom Computer angefertigte Karikatur, die die Unterschiede zwischen diesem Gesicht und dem Durchschnittsgesicht besonders hervorhob, und eine sog. »Antikarikatur«, bei der die Unterscheidungsmerkmale ins Gegenteil verkehrt wurden. Wie aus . Abb. 6.21 hervorgeht, erkannten die Studierenden anhand der Karikaturen die Personen häufiger richtig als anhand der tatsächlichen Gesichter. Ein karikierter Arnold Schwarzenegger ist leichter zu erkennen als der wirkliche Schwarzenegger! Thompson (1980) entdeckte, dass sich das Erkennen von Gesichtern insbesondere an den ausdrucksvollen Augen und am ausdrucksvollen Mund orientiert. Porträtmaler scheinen das schon lange begriffen zu haben. Bei zwei Dritteln von beliebig ausgewählten Porträts der letzten 5 Jahrhunderte befindet sich ein Auge genau auf der Mittellinie des Bildes oder weicht höchstens um 5% davon ab (. Abb. 6.22). Wir orientieren uns so stark an den Augen, dass es uns schwer fällt, uns vorzustellen, wie die Augen und der Mund von Julia Roberts wohl aussehen, wenn wir ihr umgekehrtes Gesicht wieder in die richtige Position herumdrehen (. Abb. 6.23).
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Kontexteffekte
C. Styrsky
Ziel 15: Erklären Sie, warum derselbe Reiz in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Wahrnehmungen auslösen kann.
Vorsicht mit frühkindlichen Wahrnehmungssets. Sie können zu Spätfolgen führen…
Ein bestimmter Reiz kann extrem unterschiedliche Wahrnehmungen auslösen. Das liegt z. T. an den verschiedenen Wahrnehmungsschemata, aber auch am unmittelbaren Kontext. Hier einige Beispiele: 4 Stellen Sie sich vor, Sie hörten ein Geräusch, das von den Worten »ad am Wagen« unterbrochen würde. In diesem Fall würden Sie das erste Wort in Wirklichkeit als »Rad« wahrnehmen. Lauteten die Worte hingegen »ad und WC«, würden Sie »Bad« hören. Dieses kuriose, von Warren entdeckte Phänomen deutet darauf hin, dass das Gehirn zeitlich gesehen rückwärts arbeiten kann und so einem späteren Reiz die Möglichkeit gibt, zu bestimmen, wie ein früher dargebotener Reiz von uns wahrgenommen wird. Ein Zusammenhang erzeugt eine Erwartung, die nach dem Top-down-Prinzip wiederum unsere Wahrnehmung beeinflusst, indem wir unser Bottom-up-Signal darauf abstimmen (Grossberg 1995). 4 Sah das verfolgende Monster von . Abb. 6.13a aggressiv aus? Wirkte das andere gleichartige Monster, das verfolgt wurde, ängstlich? Wenn das Ihr Eindruck war, haben Sie einen Kontexteffekt erlebt.
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281 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
Eigentum von Christopher Tyler
. Abb. 6.22. Immer ein Auge Christopher Tyler (1998) entdeckte, dass Maler, um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf ein Bild zu lenken, bewusst oder unbewusst ein Auge der porträtierten Person genau auf die Mittellinie des Bildes gemalt haben
© 1990 Roger Shepard
Mitchell Gerber/Corbis
. Abb. 6.23. Gesichtsschemata Welche von beiden ist die echte Julia Roberts? Drehen Sie die Buchseite langsam herum, um es herauszufinden. Dabei werden Sie irgendwann an einen Punkt kommen, ab dem Sie Julia Roberts Mund und Augen plötzlich nicht mehr an Ihre Gesichtsschemata assimilieren können
4 Liegt die »Zauberkammer« in . Abb. 6.24 auf dem Boden, oder hängt sie an der Decke? Wie wir sie wahrnehmen, hängt vom Kontext ab, der durch die Kaninchen festgelegt wird. Der sowjetische Regisseur Lew Kulechow war der Überzeugung, dass erfahrene Regisseure beim Publikum Gefühle auslösen können, indem sie einen Kontext festlegen, innerhalb dessen die Zuschauer den Ausdruck des Schauspielers interpretieren. Er produzierte einmal 3 Kurzfilme mit 3 verschiedenen Kontexten, auf die dieselben Clips eines Schauspielers mit neutralem Ausdruck folgten (Wallbott 1988). Wurde den Zuschauern ein Film mit einer toten Frau gezeigt, waren sie betroffen von der Traurigkeit des Schauspielers. Ging es in dem Film um einen Teller Suppe, beurteilten sie den Ausdruck des Schauspielers als nachdenklich. Zeigte der Film ein spielendes Kind, waren die Zuschauer der Meinung, der Schauspieler habe glücklich ausgesehen. Selbst wenn Menschen traurige statt fröhlicher Musik hören, kann es sie dahingehend beeinflussen, dass sie bei gesprochenen, homophonen (gleichklingenden) Wörtern eher eine traurige Bedeutung wahrnehmen (z. B. Leere statt Lehre; Halberstedt et al. 1995). Emotional getönte Kontexte können auch unsere soziale Wahrnehmung beeinflussen. Ehefrauen, die sich geliebt und angenommen fühlen, nehmen stressreiche Ereignisse in ihrer Ehe als
. Abb. 6.24. Kontexteffekte: Die Zauberkammer Hängt die Box links außen an der Decke oder liegt sie am Boden? Was ist mit der Box rechts außen? In jedem Fall beeinflusst der Kontext – die beiden neugierigen Kaninchen – unsere Wahrnehmung (Shepard, 1990)
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282
Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
. Abb. 6.25. Die Wahrnehmung ist ein biopsychosoziales Phänomen Psychologen untersuchen, wie wir wahrnehmen, auf unterschiedlichen Analyseniveaus, vom biologischen bis zum soziokulturellen Niveau
6 »Haben Sie je bemerkt, dass alle, die langsamer fahren als Sie, Idioten sind, und alle, die schneller fahren, Wahnsinnige?« George Carlin, »George Carlin on Campus« (1984)
weniger bedrohlich wahr: »Er hatte eben nur einen schlechten Tag« (Murray et al. 2003). Wenn man Schiedsrichtern sagt, eine Mannschaft sei schon häufig durch aggressives Verhalten aufgefallen, werden sie, wenn sie in einer Fernsehaufzeichnung ein Foul sehen, eher die gelbe bzw. rote Karte zücken (Jones et al. 2002). Lee Ross bittet uns, uns an unsere eigenen Wahrnehmungen in unterschiedlichen Kontexten zu erinnern. »Ist Ihnen je aufgefallen, dass Sie Fußgänger wegen der Art und Weise hassen, wie sie über den Zebrastreifen bummeln, und sie fast mit den Stoßstangen angreifen, wenn Sie Auto fahren, dass Sie aber einen Hass auf Autofahrer haben, wenn Sie zu Fuß gehen?« (Jaffe 2004) Die Auswirkungen von Wahrnehmungsset und Kontext zeigen, wie die Erfahrung uns hilft, die Wahrnehmung zu konstruieren. »Wir hören und begreifen nur, was wir schon halb wissen«, sagte Thoreau. ! Im normalen Alltag können Wahrnehmungssets, wie etwa Klischees über die Geschlechter (ein weiteres Beispiel für Wahrnehmungssets), die Wahrnehmung des Kontexts beeinflussen.
Ohne irgendwelche offensichtlichen Hinweise, wie rosa oder hellblaue Kleidung, fällt es Menschen in der Regel schwer, über ein neugeborenes Baby als »er« oder »sie« zu sprechen. Doch wird ihnen gesagt, der Name des Babys sei »David«, nehmen »ihn« die Leute (und besonders Kinder) als größer und stärker wahr, als wenn man ihnen erzählt, das Baby hieße »Diana« (Stern u. Karraker 1989). Manche Unterschiede existieren anscheinend nur im Auge des Betrachters. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, ob die Wahrnehmung angeboren oder erlernt ist, kann man nur antworten: Es ist beides. Der Strom der Wahrnehmung kommt aus zwei Quellen: Empfindung und Kognition. Und genau darum brauchen wir mehrere Analyseniveaus (. Abb. 6.25). »Einfache« Wahrnehmungen sind die schöpferischen Produkte unseres Gehirns.
6.4.4 Wahrnehmung und der Faktor Mensch Ziel 16: Beschreiben Sie die Rolle, die der Faktor Mensch spielt, wenn Psychologen benutzerfreundliche Geräte und Arbeitsumgebungen schaffen.
Ich mag meinen neuen Wecker, obwohl ich immer noch damit kämpfe, zu behalten, welches der richtige Knopf für Weiterschlafen, für Alarm aus und für Radio an ist. Unser Herd ist wunderbar, außer wenn ich davorstehe und krampfhaft herauszufinden versuche, welcher Knopf zu welcher Herdplatte gehört. Die Klappriegel zum Aufdrücken der Türen in den Universitätsgebäuden sind
283 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
. Abb. 6.26. Natürliche Anordnung a Bei der traditionellen Anordnung der Herdknöpfe muss der Nutzer die Symbolbeschriftung lesen, um zu verstehen, welcher Knopf zu welcher Herdplatte gehört. b Durch eine natürliche Anordnung der Herdknöpfe, die das Gehirn auf einen Blick erfasst, können wir aufhören, uns über Beschriftungen Gedanken zu machen, wenn wir eigentlich nichts anderes tun wollen, als Wasser zu kochen
b Natürliche Anordnung
a Traditionelle Beschriftung
robust, manchmal aber auch frustrierend, wenn ich wieder mal versucht habe, sie in die falsche Richtung aufzudrücken. Die zusätzlichen Knöpfe an meinem Telefon sind praktisch, obwohl ich zum Umleiten eines Anrufs immer noch nachlesen muss, welchen Knopf ich zu diesem Zweck drücken muss. Psychologen, die sich mit dem Faktor Mensch beschäftigen (in den USA Human-Factors-Psychologen, in Deutschland Arbeitspsychologen oder spezialisierte Ergonomen), helfen heute mit beim Entwerfen von Arbeitsumfeld, Geräten und Maschinen, die unserer natürlichen Wahrnehmung entsprechen. Norman (1988) zeigte, wie sich manche unserer Frustrationen durch einfache Veränderungen des Designs abbauen ließen. Wir könnten beispielsweise, wenn wir eine natürliche Anordnung (»natural mapping«) nutzen, Herdknöpfe entwerfen, die auch ohne Schilder bedient werden können (. Abb. 6.26). Bankautomaten sind innen komplexer, als es Videorekorder je waren; doch dank der Ergonomen, die mit Ingenieuren zusammenarbeiteten, sind Bankautomaten leichter zu bedienen. Die Firma TiVo hat das Videorekorderproblem mit Hilfe eines Menuesystems gelöst, auf dessen Unterpunkte man einfach klickt (»nimm den hier auf«). Norman (2001) hat eine Internetseite (www.jnd.org) zu dem Problem, wie man Geräte entwerfen muss, damit sie zu den Menschen passen. Er beklagte sich darüber, wie kompliziert es war, seinen neuen HD-Fernseher, das Radio, die Lautsprecher, den digitalen Festplattenrekorder, den DVD-Spieler, den analogen Videorekorder und 7 Fernbedienungen zu einem benutzbaren Heimkinosystem zusammenzubauen. »Ich war Vizepräsident bei Apple für den Bereich fortgeschrittene Technologien«, sagte Norman, der seinen Doktortitel am MIT erworben hat. »Ich kann Dutzende von Computern in Dutzenden von Programmiersprachen programmieren. Ich weiß, was in einem Fernseher vor sich geht, ja wirklich. ... Ganz egal, es ist zu viel für mich.« Wenn doch die Hersteller von Geräten der Unterhaltungselektronik nur die Anzahl der Kabel und Schnüre auf ein Minimum dadurch reduzieren würden, dass sie Audio, Video, Steuerung und Stromversorgung in einem einzigen Kabel unterbringen würden. Schön wäre es auch, wenn man mit nur einer Fernbedienung und einem Menü arbeiten könnte und wenn die Ingenieure routinemäßig mit Arbeitspsychologen zusammenwirkten, um ihre Entwürfe und Anleitungen erst einmal an normalen Menschen zu überprüfen. Die Entwickler neuer technischer Geräte leiden häufig unter dem »Fluch des Wissens«. Das verleitet sie zu der Annahme, andere hätten dieselbe Fachkenntnis wie sie selbst – das, was ihnen klar ist, sei entsprechend auch anderen klar (Camerer et al. 1989; Nickerson 1999). (Erinnern Sie sich an 7 Kap. 1: Kennen wir erst einmal die Lösung eines Anagramms, z. B. Serwas o Wasser, meinen wir, es müsste auch für alle anderen offensichtlich sein.) Wenn man etwas weiß, ist es schwer, sich in Gedanken vorzustellen, wie es wohl ist, es nicht zu wissen. Den Faktor Mensch zu verstehen, hilft jedoch nicht nur dabei, Dinge zu entwerfen, deren Anwendung weniger frustrierend für den Benutzer ist, sondern dieses Verständnis trägt auch dazu bei, Unglücksfälle zu vermeiden. Zwei Drittel aller Unfälle bei Fluggesellschaften z. B. gehen auf menschliche Fehler zurück (Nickerson 1998). Nachdem die Boeing 727 Ende der 60er Jahre zu ihren ersten zivilen Flügen eingesetzt wurde, ereigneten sich eine Reihe von Unglücken beim
Human-Factors-Psychologie (human factors psychology): Zweig der Arbeitspsychologie, der sich mit der Mensch-Maschine-Interaktion befasst und mit der Frage, wie Maschinen und physikalische Umgebungen sicherer und besser benutzbar gemacht werden können.
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
. Abb. 6.27. Der menschliche Faktor bei der Fehleinschätzung von Entfernungen Als Piloten am Flugsimulator eine Nachtlandung übten und sich von einer dunklen Fläche kommend der Landebahn näherten, fehlte es ihnen an Merkmalen zum Einschätzen der Entfernung. Sie neigten deshalb dazu, zu niedrig zu fliegen. (Aus Kraft 1978)
Courtesy of NASA
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. Abb. 6.28. Wie man auf dem Flug zum Mars nicht verrückt wird Zukünftige Astronauten, die zum Mars fliegen sollen, werden sich lange Monate in einer Umgebung aufhalten müssen, die von Monotonie, Stress und Schwerelosigkeit gekennzeichnet ist. Für den Entwurf und die Bewertung einer für Menschen passenden Umgebung, wie bei diesem »Transit-Habitation«-(Transhab-)Modul, bedient sich die NASA der Hilfe von Human-Factors-Psychologen. (Weed 2001; Wichmann 1992)
Landeanflug, die alle dadurch verursacht wurden, dass der Pilot versagte. Der Psychologe Kraft (1978) stellte fest, dass sich alle Unfälle unter ähnlichen Bedingungen ereignet hatten: Sie passierten alle nachts, und bei allen hatte der Pilot nach Überfliegen einer dunklen Wasserfläche oder eines unbeleuchteten Landstrichs zu früh, d. h. vor Erreichen der Landebahn, aufgesetzt. Kraft kam zu dem Schluss, dass die Lichter der Stadt hinter der Landebahn ein größeres Bild auf die Retina projizierten, wenn sie sich auf ansteigendem Terrain befanden. Das ließ den Boden weiter entfernt erscheinen, als er tatsächlich war. Durch die Nachbildung dieser Bedingungen auf dem Flugsimulator entdeckte Kraft, dass die Piloten getäuscht wurden und dachten, sie flögen in sicherer Höhe, während sie in Wirklichkeit tiefer flogen (. Abb. 6.27). Unterstützt durch Krafts Erkenntnisse, begannen die Fluggesellschaften zu fordern, dass der Kopilot beim Landeanflug gleichzeitig den Höhenmesser kontrollierte; der Kopilot musste fortan beim Tiefergehen ständig laut die Höhe ablesen, und die Unfälle nahmen ab. Später befassten sich die Psychologen bei Boeing mit anderen Problemen des Faktors Mensch (Murray 1998). Wie sollen Fluggesellschaften ihre Mechaniker am besten ausbilden und einsetzen, um die Wartungsfehler zu reduzieren, auf die 50% der verspäteten Flüge und 15% der Flugzeugunglücke zurückgehen? Mit welcher Beleuchtung und Schrift sind Flugdaten auf dem Bildschirm am leichtesten zu lesen? In welcher Form sollten Warnhinweise abgefasst sein, um die größte Wirkung zu entfalten: als Handlungsanweisung (»Gehen Sie höher«) oder eher als Problemdarstellung (»Bodennähe«)? Das wirkungsvollste Werkzeug der Psychologen zur Untersuchung der Probleme des menschlichen Faktors ist die Forschung. Wenn ein Unternehmen sich überlegt, welche Art von Webdesign wohl am wirksamsten ist, um Menschen zu bewegen, ihre Website zu besuchen und immer wieder zu ihr zurückzukehren (Schwerpunkt auf Inhalt? Geschwindigkeit? Graphik?), würde ein HumanFactors-Psychologe darauf drängen, die Reaktion auf mehrere Alternativen auszutesten. Wenn sich die NASA (National Aeronautics and Space Administration) überlegt, welche Art von Raumschiff-Design für Schlaf, Arbeit und Motivation der Astronauten am besten wäre, werden auch in diesem Fall die Human-Factors-Psychologen die verschiedenen Alternativen ausprobieren wollen (. Abb. 6.28). Als letztes Beispiel seien die technischen Errungenschaften im Bereich der Hörhilfen in verschiedenen Vortragssälen, Gotteshäusern und Theatern genannt. Eine in den USA fast überall zur Verfügung stehende Technologie ist folgende: Menschen, die schlecht hören, können sich ein besonderes Gerät ausleihen, das aus einem Kopfhörer und einem kleinen Empfänger besteht, der Infrarot- oder UKW-Signale aus dem Verstärkersystem des Raumes auffängt. Die wohlmeinenden Menschen, die diese Systeme entwerfen, kaufen und zur Verfügung stellen, verstehen sich ganz gut auf die technischen Details, mit denen der Klang direkt ins Ohr des Benutzers gelangt. Leider setzen sich nur wenige Leute mit einer Hörschwäche der Mühe und der peinlichen Situation aus, herauszufinden, wo es diesen auffälligen Kopfhörer gibt, danach zu verlangen, ihn zu tragen und
285 6.4 · Wahrnehmungsinterpretation
wieder zurückzubringen. Deshalb liegen viele dieser Geräte einfach im Schrank herum. In Großbritannien, in den skandinavischen Ländern und in Australien ist man hingegen dazu übergegangen, »Microportanlagen« einzubauen, die den Klang nach dem individuellen Bedarf direkt über das eigene Hörgerät der Personen übertragen. Haben die Hörgeräte die entsprechende Ausstattung, genügt die unauffällige Betätigung eines kleinen Schalters, um die Hörhilfe in einen Lautsprecher im Innenohr zu verwandeln. Eine Microportanlage (ein besonderer Verstärker, der mit einem Kabel verbunden ist, das kreisförmig um das Publikum herum verläuft) kann auch zu Hause eingebaut werden und so dafür sorgen, dass Fernsehsendungen oder Telefongespräche direkt über die Hörgeräte übertragen werden (www.hearingloop.org). Werden den Menschen bequeme, unauffällige und individuelle Formen zur Verstärkung der Lautstärke angeboten, entscheiden sich viel mehr von ihnen dazu, von einer zusätzlichen Hörhilfe Gebrauch zu machen. ! Designer und Ingenieure sollten den Faktor Mensch berücksichtigen, indem sie Dinge entwerfen, die menschengerecht sind; sie sollten sich vor dem Fluch des Wissens hüten und ihre Erfindungen vor der Herstellung und dem Vertrieb von Benutzern testen lassen.
Lernziele Abschnitt 6.4 Wahrnehmungsinterpretation Ziel 12: Beschreiben Sie, welchen Beitrag die Forschung zur Wiederherstellung des Sehvermögens und zur sensorischen Deprivation für unser Verständnis dessen geleistet hat, wie Anlage und Umwelt bei unserer Wahrnehmung zusammenwirken. Wären alle Aspekte der visuellen Wahrnehmung von Geburt an vollständig vorhanden, müssten die Menschen, die blind auf die Welt kamen, aber nach einer Operation wieder sehen konnten, eigentlich eine normale visuelle Wahrnehmung haben. Das ist aber nicht der Fall. Nach einer operativen Beseitigung des Katarakts z. B. können Erwachsene, die von Geburt an blind waren, zwischen Figur und Grund unterscheiden und Farben wahrnehmen, ihnen fehlt aber die Erfahrung, Gestalten, Formen und ganze Gesichter zu erkennen. Weitere Befunde gibt es für Tiere, die mit stark eingeschränktem visuellen Input aufwuchsen und die eine bleibende Sehstörung zeigten, als sie wieder normalen visuellen Reizen ausgesetzt wurden. Klinische und experimentelle Befunde deuten darauf hin, dass es eine kritische Phase für einige Aspekte der Entwicklung von Sensorik und Wahrnehmung gibt. Ohne die Stimulierung durch die frühen visuellen Erfahrungen entwickelt sich die neuronale Organisation des Gehirns nicht normal.
ten Anlage und Umwelt in eine Wechselwirkung: Die sensorischen Signale prallen an unseren Erfahrungen, erlernten Annahmen und Überzeugungen ab. Weil unsere erlernten Begriffe (Schemata) als Vorreiz (Prime) dienen, um nicht eindeutige Reize in bestimmter Weise zu organisieren und zu interpretieren, bringt unsere Wahrnehmung unsere Version der Realität zum Ausdruck. Deshalb »sehen« manche von uns Monster, Gesichter und Ufos bzw. »hören« Botschaften und andere nicht. Ziel 15: Erklären Sie, warum derselbe Reiz in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Wahrnehmungen auslösen kann. Wenn wir einen bestimmten Reiz wahrnehmen, den wir mit Hilfe mehrerer unterschiedlicher Schemata interpretieren könnten, durchforsten wir den unmittelbaren Kontext nach Informationen. Kontext schafft Erwartungen, von denen unsere Wahrnehmungen geleitet werden. Ein emotional getönter Kontext kann unsere Interpretation des Verhaltens anderer Menschen (und unseres eigenen Verhaltens) beeinflussen. Wahrnehmungsset und Kontexteffekte gehen eine Wechselwirkung ein und tragen dazu bei, dass wir unsere Wahrnehmungen konstruieren.
Ziel 13: Erklären Sie, warum die Forschung mit Umkehrbrillen dazu beiträgt, dass wir die Anpassungsfähigkeit der Wahrnehmung besser verstehen. Bekommen Menschen Brillen aufgesetzt, die die Welt leicht nach links oder nach rechts verschieben oder gar völlig auf den Kopf stellen, sind sie anfangs desorientiert, aber es gelingt ihnen schon bald, sich an den neuen Kontext anzupassen und sich, mit einiger Übung, problemlos zu bewegen. Diese Forschung demonstriert unsere Fähigkeit, uns an ein künstlich verändertes Gesichtsfeld anzupassen und unsere Bewegungen in Reaktion auf diese neue Welt zu koordinieren.
Ziel 16: Beschreiben Sie die Rolle, die der Faktor Mensch spielt, wenn Psychologen benutzerfreundliche Geräte und Arbeitsumgebungen schaffen. Arbeitspsychologen ermutigen Entwickler und Designer dazu, die Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen mitzubedenken, den Fluch des Wissens zu umgehen und den Test am lebenden Objekt einzuplanen, um vor der Produktion und dem Vertrieb der fertigen Produkte Probleme aufzudecken, die auf die Wahrnehmung zurückgehen. Psychologen, die sich mit dem Faktor Mensch beschäftigen, haben für mehr Sicherheit im Flugverkehr und in der Raumfahrt gesorgt, für besser designte Geräte, Ausrüstungen und Arbeitsumgebungen sowie für leichter benutzbare Hörhilfen.
Ziel 14: Definieren Sie, was ein Wahrnehmungsset ist, und erklären Sie, wie es das beeinflusst, was wir wahrnehmen und was nicht. Ein Wahrnehmungsset ist eine mentale Prädisposition, die die Funktion eines Brillenglases hat, durch das wir die Welt sehen. Wieder einmal tre-
> Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Ihre Erwartungen die Art und Weise, wie Sie eine Person (oder eine Gruppe von Personen) wahrgenommen haben, von vornherein beeinflusst haben?
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
6.5
Gibt es außersinnliche Wahrnehmung?
Ziel 17: Geben Sie die 3 Formen der außersinnlichen Wahrnehmung an, die am häufigsten überprüft wurden, und erklären Sie, warum die meisten Psychologen an den Universitäten weiterhin skeptisch gegenüber den Thesen zur außersinnlichen Wahrnehmung sind. Außersinnliche Wahrnehmung (extrasensory perception): umstrittene These, dass Wahrnehmung auch stattfinden kann, wenn keine sensorischen Signale eintreffen. Zusammenfassender Begriff für Phänomene wie Telepathie, Hellsehen und Präkognition. Parapsychologie (parapsychology): beschäftigt sich mit paranormalen Phänomenen wie außersinnlicher Wahrnehmung und Psychokinese.
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Können wir nur das wahrnehmen, was wir mit unseren Sinnen erfahren? Oder sind wir auch ohne sensorische Information zu außersinnlicher Wahrnehmung in der Lage? Gibt es wirklich Leute, die Gedanken lesen, durch eine Wand hindurchsehen oder die Zukunft voraussagen können? Fünf britische Universitäten haben eine Abteilung für Parapsychologie, deren Stellen oft mit Absolventen eines Doktorandenprogramms für Parapsychologie der Edinburgh University besetzt werden (Turpin 2005). An der Universität Freiburg gab es bis 1998 ein Institut für die Grenzgebiete der Psychologie, das sich mit der Parapsychologie befasste. Die schwedische Universität von Lund, die niederländische Universität von Utrecht und die australische University of Adelaide haben Lehrstühle oder Forschungsabteilungen für Parapsychologie. Doch andere Psychologen und Naturwissenschaftler an den Universitäten, darunter 96% der Wissenschaftler der National Academy of Sciences, sind diesem Feld gegenüber weiterhin skeptisch eingestellt (McConnell 1991). Wenn es außersinnliche Wahrnehmung wirklich gäbe, müssten wir unser wissenschaftliches Verständnis davon, dass wir Geschöpfe sind, deren Denken an unser physisches Gehirn gebunden ist und deren Wahrnehmungserfahrungen auf Empfindungen beruhen, völlig umkrempeln. Tatsächlich kommt es manchmal vor, dass wir unsere wissenschaftlichen Vorannahmen aufgrund neuer Erkenntnisse über den Haufen werfen müssen. Die Wissenschaft ist immer wieder für die unterschiedlichsten Überraschungen gut: über den Anteil des unbewussten Denkens, über die Auswirkungen der Emotion auf die Gesundheit, darüber, was zur Heilung beiträgt und was nicht, sowie über noch viel mehr. Doch bevor wir die Thesen zur außersinnlichen Wahrnehmung bewerten, wollen wir einen Überblick geben.
6.5.1 Was ist außersinnliche Wahrnehmung? Zu den paranormalen Phänomenen zählen u. a. astrologische Vorhersagen, Heilung durch ein Medium, Kommunikation mit Verstorbenen und außerkörperliche Erfahrungen. Die am leichtesten überprüfbaren und (für ein Kapitel über Wahrnehmung) relevantesten Formen der außersinnlichen Wahrnehmung sind jedoch: 4 die Telepathie oder Gedankenübertragung, bei der eine Person einer anderen Gedanken übermittelt oder die Gedanken einer anderen Person wahrnimmt, 4 das Hellsehen oder das Wahrnehmen von räumlich oder zeitlich weit entfernten Geschehnissen, wie beispielsweise spüren, dass das Haus eines Freundes gerade brennt, oder etwa den Tod eines Politikers oder das Ergebnis einer Sportveranstaltung vorhersehen, 4 das Wahrnehmen künftiger Ereignisse (auch als Präkognition bezeichnet).
. Abb. 6.29. Parapsychologische Konzepte
Eng verbunden mit diesen Themen ist die Psychokinese (der direkte seelische Einfluss eines Menschen auf materielle Dinge bzw. Vorgänge), durch die ein Tisch zum Schweben gebracht oder der Fall eines Würfels beeinflusst werden kann (. Abb. 6.29). (Der Anspruch der Psychokinese wird am besten durch die sarkastische Frage veranschaulicht: »Können bitte alle, die an Psychokinese glauben, meine Hand heben?«)
6.5.2 Vorahnungen oder Einbildungen? Gibt es Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, die in die Zukunft sehen können? Auch wenn wir uns möglicherweise jemanden wünschen würden, der uns die Börsenentwicklung voraussagt, zeichnen sich die überprüften Vorhersagen »führender Hellseher« durch eine geringe Präzision aus. Kein habgieriger – oder wohltätiger – Mensch mit übernatürlichen Fähigkeiten konnte bisher
287 6.5 · Gibt es außersinnliche Wahrnehmung?
die Lottozahlen vorhersagen oder Milliarden auf dem Aktienmarkt verdienen. In den 90er Jahren erwiesen sich alle Vorhersagen der Hellseher in der Boulevardpresse über überraschende Ereignisse als falsch (Madonna wurde keine Gospelsängerin, die Freiheitsstatue verlor nicht bei einem Terroranschlag beide Arme, Königin Elisabeth von England verzichtete nicht auf ihren Thron, um in ein Kloster zu gehen). Und die Wahrsager und Hellseher des neuen Jahrtausends machten keine Angaben zu den großen Ereignissen, die in den Schlagzeilen standen, wie dem Wahldebakel in Florida bei der Stimmenauszählung anlässlich der Präsidentschaftswahl, dem Aufenthaltsort und der Gefangennahme von Saddam Hussein und den schrecklichen Ereignissen des 11. September. (Wo waren die Präkognostiker, als wir sie wirklich brauchten, nämlich am 10. September?) Emery (2004), die für die letzten 26 Jahre die jährlichen Vorhersagen von Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten verfolgte, berichtet, dass ungewöhnliche Vorhersagen fast nie eingetroffen sind und dass sie praktisch nie irgendeins der Ereignisse vorweggenommen haben, die in die Schlagzeilen kamen. Analysen der Visionen von Hellsehern, die der Polizei ihre Dienste angeboten haben, ergaben, dass diese auch nicht genauer sind als Vermutungen, die von anderen Menschen angestellt wurden (Reiser 1982). Hellseher, die mit der Polizei zusammenarbeiten, machen allerdings Hunderte von Vorhersagen. Dadurch wird die Chance größer, dass bisweilen eine korrekte darunter ist, mit der sich der Betreffende dann in der Öffentlichkeit rühmen kann. Darüber hinaus können vage formulierte Vorhersagen im Nachhinein so interpretiert (»nachträglich angepasst«) werden, dass sie zu Ereignissen zu passen, die ein Wahrnehmungsset für ihre Interpretation darstellen. Nostradamus, ein berühmter französischer »Prophet« des 16. Jahrhunderts, dessen düstere Prophezeiungen bis heute immer wieder neu gedeutet werden, sagte einmal in einem unvorsichtigen Augenblick, dass seine nicht eindeutigen Prophezeiungen »eigentlich nicht verstanden werden könnten, bevor sie nach Eintreten des Ereignisses und durch dieses eine Deutung erführen«. In den Polizeipräsidien weiß man das. Als Sweat u. Durm (1993) in den Polizeipräsidien der 50 größten Städte der USA Umfragen durchführten, ob sie zur Lösung ihrer Kriminalfälle jemals Hellseher hinzugezogen hätten, verneinten 65% dies. Von all jenen, die Hellseher befragt hatten, hatte dies keiner als sehr hilfreich empfunden. Tausende von außersinnlich begabten Menschen lieferten völlig überarbeiteten Polizisten Fehlvorhersagen über den Aufenthaltsort der US-Regierungspraktikantin Chandra Levy aus Washington D.C., deren Leiche ein Jahr nach ihrem Verschwinden von einem Jogger auf einem bewaldeten Hügel gefunden wurde (Radford 2002). Sind die spontanen »Visionen« ganz normaler Durchschnittsmenschen genauer? Denken wir nur an unsere Träume. Sagen sie die Zukunft voraus, oder kommt uns das nur so vor, weil wir dazu neigen, uns eher an Träume zu erinnern oder jene zu rekonstruieren, die sich scheinbar bewahrheitet haben? Zwei Psychologen von der Harvard University (Murray u. Wheeler 1937) überprüften die prophetische Aussagekraft von Träumen, nachdem der kleine Sohn des Fliegers Charles Lindbergh gekidnappt und ermordet, aber seine Leiche noch nicht aufgefunden worden war. Als die Forscher die Öffentlichkeit baten, ihnen ihre Träume über das Kind mitzuteilen, lieferten 1300 »Visionäre« Traumberichte ab. In wie vielen davon wurde der Wahrheit entsprechend vorausgesagt, dass das Kind tot war? In 5% der Fälle. Und in wie vielen Träumen wurde außerdem vorausgesehen, wo sich die Leiche genau befand (nämlich unter Bäumen vergraben)? In nur 4 von 1300. Auch wenn diese Zahl sicher nicht besser war als der Zufall, muss diesen 4 Träumern die Genauigkeit ihrer scheinbaren Präkognition höchst unheimlich vorgekommen sein. Im Laufe des Tages stellt sich jeder von uns viele Ereignisse vor. Bei den Milliarden von Ereignissen pro Tag und bei einer ausreichenden Anzahl von Tagen muss es einfach zu einigen verblüffenden Zufällen kommen. Hat man genügend Zeit, wird das Unwahrscheinliche unvermeidlich. Nach einer sorgfältigen Schätzung lässt sich nur aufgrund des Zufalls vorhersagen, dass mehr als 1000 Mal pro Tag jemand auf der Erde an jemanden denkt und dann innerhalb der nächsten 5 Minuten vom Tod dieser Person erfährt (Charpak u. Broch 2004). Das Unwahrscheinliche wird also unvermeidlich, wenn man nur genügend Zeit und Menschen zur Verfügung hat. Das war auch die Erfahrung, die der Comic-Autor John Byrne (2003) machte. Sechs Monate, nachdem seine Spider-Man-Story über einen Stromausfall in New York erschienen war, gab es in New York einen umfassenden Stromausfall. In der Geschichte seines nächsten Spider-Man-Bandes ging es um ein großes Erdbeben in Japan. »Und wieder«, erinnert er sich, »ereignet es sich tatsächlich einen Monat, nachdem diese Ausgabe des Comic-Hefts an den Kiosken verkauft worden war.
»Wer viel erzählt, hat manchmal auch Recht.« Spanisches Sprichwort
»Dinge, die zufällig passieren, sind Ereignisse auf der Suche nach ihren Ursachen.« K. C. Cole, »The Universe and the Teacup« (1998)
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Später, als er an einem Comic über Superman arbeitete, ließ er »den Mann aus Stahl zu Hilfe fliegen, als eine Katastrophe die NASA-Raumfähre heimsuchte. Die Challenger-Tragödie ereignete sich fast unmittelbar danach« (wenn man die Zeit für die Auslieferung des Hefts abzieht). »Als bislang letztes und gruseliges Ereignis passierte, dass ich an Wonder Woman schrieb und zeichnete. Es handelte sich um eine Geschichte, bei der die Hauptperson getötet wurde, bevor sie zu einer Göttin wurde.« Der Umschlag des Comic war »wie die Titelseite einer Zeitung gestaltet, mit der Schlagzeile ›Prinzessin Diana gestorben‹. (Diana war der wirkliche Name von Wonder Woman.) Der Band wurde am Donnerstag verkauft. ... Ich muss Ihnen erst gar nicht sagen, was am darauf folgenden Samstag geschah, oder?«
6.5.3 Außersinnliche Wahrnehmung auf dem Prüfstand
6 »Im Herzen der Wissenschaft gibt es eine fundamentale Spannung zwischen zwei scheinbar einander widersprechenden Einstellungen: einer Offenheit gegenüber neuen Ideen, ganz gleich wie seltsam oder gegen die Intuition gerichtet sie sein mögen, und die unbarmherzigste skeptische Überprüfung aller Ideen, seien sie nun alt oder neu.« Carl Sagan (1987)
Eigentum von Richard Wiseman
»Ein Medium ist ein Schauspieler, der die Rolle eines Mediums spielt.« Der Psychologe und Zauberer Daryl Bem (1984)
Überprüfung der übernatürlichen Fähigkeiten an der britischen Bevölkerung Der Psychologe Richard Wiseman von der Universität Hertfordshire hat eine »Mind Machine« geschaffen, um herauszufinden, ob Menschen den Fall einer Münze beeinflussen oder vorhersagen können. Mit Hilfe eines berührungsempfindlichen Bildschirms (Touchscreen) wurde Besuchern von Festivals und Volksfesten überall im Land die Gelegenheit geboten, bei 4 Versuchen Kopf oder Zahl vorherzusagen. Mit Hilfe eines Zufallsgenerators entschied der Computer dann das Ergebnis des fiktiven Münzwurfs. Nach Abschluss des Experiments im Januar 2000 hatten nahezu 28.000 Menschen 110.972 Vorhersagen abgegeben, von denen 49,8% richtig waren
In der Vergangenheit kursierten alle möglichen seltsamen Ideen: dass man von Beulen am Kopf auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale schließen könne, dass Aderlass ein Allheilmittel sei, dass jede Samenzelle einen kleinen Miniaturmenschen enthalte. Wie können wir, wenn wir mit solchen Äußerungen konfrontiert werden – oder mit Berichten über Gedankenlesen, Astralreisen oder Kommunikation mit den Verstorbenen –, seltsame Ideen von solchen unterscheiden, die seltsam klingen, aber wahr sind? Die Grundlage der Wissenschaft hat eine einfache Antwort darauf: Ausprobieren und sehen, ob sie funktionieren. Wenn sie funktionieren, umso besser für diese Ideen. Wenn nicht, dann umso besser für unsere Skepsis. Diese wissenschaftliche Haltung hat dazu geführt, dass Befürworter und Skeptiker in Folgendem übereinstimmen: Die Parapsychologie braucht, wenn sie glaubwürdig sein will, ein reproduzierbares Phänomen und eine erklärende Theorie. White (1998) gesteht durchaus zu, dass »das Bild von der Parapsychologie, das mir nach fast 44 Jahren der Beschäftigung mit diesem Gebiet in den Sinn kommt, das eines kleinen Flugzeugs ist, das seit 1882 ständig die Landebahn des Flughafens der empirischen Wissenschaft herunterfährt. ... Seine Bewegung wird gelegentlich dadurch unterbrochen, dass es einige Meter vom Boden abhebt, um dann wieder einmal auf die Rollbahn zu prallen. Es hat nie für längere Zeit zum Fliegen abgehoben.« Wenn wir auf der Suche nach einem reproduzierbaren Phänomen sind, wie könnten wir dann die Thesen der außersinnlichen Wahrnehmung in einem kontrollierten Experiment überprüfen? Ein Experiment ist etwas ganz anderes als eine Vorführung auf der Bühne. Im Labor kontrolliert der Versuchsleiter, was der »Übernatürliche« sieht und hört. Auf der Bühne kontrolliert der Übernatürliche, was das Publikum sieht und hört. Immer wieder haben die Skeptiker angeführt, dass sog. Medien ein unkritisches Publikum mit verblüffenden Vorführungen überrumpelt hätten. Bei diesen Vorführungen schienen sie mit den Seelen der Toten zu kommunizieren, Gedanken zu lesen und Gegenstände in der Luft schweben zu lassen. Und später wurde aufgedeckt, dass ihre Handlungen nichts weiter als Täuschungsmanöver eines Zauberers auf der Bühne waren. Aus der Suche nach einer validen und reliablen Überprüfung der außersinnlichen Wahrnehmung ergaben sich Tausende von Experimenten. Bei einem kontrollierten Verfahren wurden die »Sender« gebeten, telepathisch eines von 4 Bildern an »Empfänger« zu übermitteln, die im benachbarten Zimmer von Empfindungen abgeschirmt wurden (Bem u. Honorton 1994). Und worin bestand das Ergebnis? Dem Bericht zufolge gaben 32% eine richtige Antwort; dies war mehr als die 25%, die sich mit dem Zufall hätten erklä-
289 6.5 · Gibt es außersinnliche Wahrnehmung?
ren lassen. In Folgestudien jedoch (je nachdem, wer die Ergebnisse zusammenfasste) gelang es nicht, das Phänomen zu replizieren, oder es kam zu Ergebnissen, die einmal so und ein andermal so aussahen (Bem et al. 2001; Milton u. Wiseman 2002; Storm 2000, 2003). Ein Skeptiker, der Zauberer James Randi, hat schon seit langem einen Preis ausgesetzt – jetzt 1 Mio. US-Dollar – »für jeden, der eine genuine übernatürliche Kraft unter korrekten Beobachtungsbedingungen nachweist« (Randi 1999). Französische, australische und indische Gruppen haben parallel dazu Preise von bis zu 200.000 Euro für jede Person mit nachweisbaren paranormalen Fähigkeiten ausgesetzt (CFI 2003). Und 50 Mio. US-Dollar standen für Informationen zur Verfügung, die zur Gefangennahme von Osama bin Laden geführt hätten. So groß diese Summen sind, das Siegel der Anerkennung durch die Wissenschaft wäre für jeden, dem die Echtheit seiner Behauptungen bescheinigt werden könnte, weit mehr wert. Um diejenigen zu widerlegen, die sagen, es gäbe keine außersinnliche Wahrnehmung, brauchte man lediglich eine einzige Person, die ein einziges reproduzierbares Phänomen der außersinnlichen Wahrnehmung vorführen kann. (Um diejenigen zu widerlegen, die sagen, Schweine könnten nicht sprechen, brauchte man bloß ein sprechendes Schwein.) Bisher hat sich nicht eine Person dieser Art gemeldet. In den Medien gibt es seit 3 Jahrzehnten Berichte über Randis Preis, und Dutzende von Menschen sind überprüft worden, manchmal unter der kritischen Beobachtung durch ein unabhängiges Gremium von Schiedsrichtern. Aber es kam nichts Brauchbares dabei heraus. Weshalb sind dann aber so viele Menschen geneigt, zu glauben, dass es trotzdem außersinnliche Wahrnehmung gibt? Teilweise können diese Überzeugungen auf nachvollziehbare Fehlwahrnehmungen, Fehlinterpretationen und selektive Erinnerungen zurückgehen. Doch manche Menschen haben auch einen unstillbaren Hunger nach Wundern, ein großes Verlangen danach, magische Dinge zu erleben. In Großbritannien und den USA waren die Begründer der Parapsychologie größtenteils Menschen, die ihren religiösen Glauben verloren hatten und nach einer wissenschaftlichen Grundlage dafür zu suchen begannen, dass man an den Sinn des Lebens und an ein Leben nach dem Tod glaubt (Alock 1985; Beloff 1985). Um Ehrfurcht zu empfinden und tiefen Respekt vor dem Leben zu haben, brauchen wir uns nur unser eigenes Wahrnehmungssystem anzusehen und dessen Fähigkeit, formlose Nervenimpulse in bunte Bilder, lebhafte Geräusche und verführerische Gerüche umzuorganisieren. Shakespeares Hamlet erkannte schon: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit euch träumen lässt, Horatio.« Unter unseren ganz normalen Wahrnehmungserfahrungen gibt es vieles, was wirklich außerordentlich ist – sicherlich viel mehr, als wir bisher innerhalb der Psychologie zu träumen gewagt hätten. Im Laufe eines Jahrhunderts hat die Forschung viele der Geheimnisse über Empfindung und Wahrnehmung lüften können. Trotzdem bleiben für die zukünftigen Generationen von Forschern noch genug tiefgreifende und echte Mysterien zu entschlüsseln. Wir haben nun die ersten Schritte unserer Informationsverarbeitung untersucht, vom Empfangen der sensorischen Informationen bis zur Entstehung sinnvoller Wahrnehmungen. Doch das 1,5 kg schwere Informationsverarbeitungssystem in unserem Schädel kann noch viel mehr: Unter dem Einfluss von Schlaf, Hypnose und Drogen kann es irreale Bilder erzeugen (7 Kap. 7). Es lernt aus unseren Erfahrungen, indem es sich noch lange Zeit später an sie erinnert (7 Kap. 8 und 9). Es denkt und macht Pläne (7 Kap. 10 und 11). Zwischen unserem Fühlen und dem tatsächlichen Handeln tritt ein unvorstellbar komplexes Informationssystem in Aktion, das für die Erforscher der innersten Bereiche unseres Geistes mehr denn je eine unwiderstehliche Herausforderung darstellt.
»Der Wunsch der Menschen, an das Paranormale zu glauben, ist stärker, als alle Belege dafür, dass es nicht existiert.« Susan Blackmore, »Blackmore’s first law« (2004)
»Wie funktioniert der Geist also? Ich weiß es nicht. Sie wissen es nicht. Pinker weiß es nicht. Und ich habe die Vermutung, es ist der letzte Stand der Dinge, dass wir es, wenn Gott es uns erklären würde, nicht verstehen würden.« Jerry Fodor, »Reply to Steven Pinker« (2005)
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Kapitel 6 · Wahrnehmung: Organisation und Interpretation
Lernziele Abschnitt 6.5 Gibt es außersinnliche Wahrnehmung? Ziel 17: Geben Sie die 3 Formen der außersinnlichen Wahrnehmung an, die am häufigsten überprüft wurden, und erklären Sie, warum die meisten Psychologen an den Universitäten weiterhin skeptisch gegenüber den Thesen der außersinnlichen Wahrnehmung sind. Außersinnliche Wahrnehmung ist eine Form angeblicher paranormaler Phänomene (eine weitere Form ist die Psychokinese). Die 3 am besten überprüfbaren Formen der außersinnlichen Wahrnehmung sind die Telepathie (Kommunikation von einer Seele zur anderen), Hellsehen (Wahrnehmung räumlich entfernter Ereignisse) und Präkognition (Wahrnehmung künftiger Ereignisse). Die Skepsis der meisten Psychologen an den Universitäten konzentriert sich auf 2 Hauptpunkte, wobei der letzte der wichtigere ist:
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4 Um an außersinnliche Wahrnehmung zu glauben, muss man der Meinung sein, das Gehirn könne wahrnehmen, ohne sensorische Signale zu bekommen. 4 Parapsychologen konnten die Phänomene der außersinnlichen Wahrnehmung bisher nicht unter kontrollierten Bedingungen replizieren (reproduzieren). > Denken Sie weiter: Haben Sie Erfahrung mit außersinnlicher Wahrnehmung? Haben Sie eine Erklärung dafür, die nichts mit außersinnlicher Wahrnehmung zu tun hat?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Ihr Freund beharrt darauf, dass er Sie wirklich zum Abendessen gebeten hat, als Sie absichtlich weiter fernsahen. Durch welches Prinzip lässt es sich erklären, dass Sie ihn nicht wahrnahmen? 2. Was trägt die Untersuchung von Täuschungen dazu bei, uns ein besseres Verständnis für die normale Wahrnehmung zu vermitteln? 3. Was ist gemeint, wenn wir bezogen auf die Wahrnehmung sagen, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile? 4. Durch welche Art von Befunden lässt sich zeigen, dass die Wahrnehmung tatsächlich mehr ist als das, was auf die Sinnesorgane trifft?
L Deutsche Literatur zum Thema Goldstein, E. B. & Irtel, H. B. (2007). Wahrnehmungspsychologie. Heidelberg: Spektrum. Guski, R. (2000). Wahrnehmung. Eine Einführung in die Psychologie der menschlichen Informationsaufnahme. Stuttgart: Kohlhammer. Prinz, W. & Bridgeman, B. (Hrsg.). (1994). Wahrnehmung. Enzyklopädie der Psychologie: Kognition, Bd. 1. Göttingen: Hogrefe. Solso, R. L. (2005). Kognitive Psychologie. Heidelberg: Springer.
7 Bewusstsein 7.1
Bewusstsein und Informationsverarbeitung – 292
7.2
Schlaf und Träume – 295
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5
Biologische Rhythmen – 295 Schlafrhythmus – 296 Wozu brauchen wir den Schlaf? Schlafstörungen – 307 Träume – 309
7.3
Hypnose – 315
– 302
7.3.1 Fakten und Fehlinformationen – 316 7.3.2 Ist Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand? – 319
7.4
Drogen und Bewusstsein – 322
7.4.1 Abhängigkeit und Sucht – 322 7.4.2 Psychoaktive Substanzen – 324 7.4.3 Welche Faktoren beeinflussen den Drogenkonsum? – 331
7.5
Nahtoderfahrungen – 336
Andere Kulturen, andere Perspektiven Night wasn’t over when the moon stood beside my bed and said, »You’ve drunk your sleep to the dregs, your share of that wine is finished for this night.« My eyes tore themselves from a dream of passion – they said farewell to my lover’s image, still lingering in the night’s stagnant waters that were spread, like a sheet, over the earth.
Silver whirlpools began their dervish dance as lotuses of stars fell from the moon’s hands. Some sank. Some rose to the surface, floated, and opened their petals. Night and daybreak had fallen desperately into each other’s arms.
Faiz Ahmed Faiz (Pakistan), (1911–1984), aus »A Prison Daybreak«, Rebel’s Silhouette
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Kapitel 7 · Bewusstsein
Bewusstsein > Jetzt in einem inneren Kino ganz in der Nähe: Die Premiere des lebhaften Traums eines schlafenden Menschen. Ein innerer Film, wie er noch nie zuvor gesehen wurde und dessen Mitwirkende in eine derart originelle und unwahrscheinliche, doch gleichzeitig so wirklichkeitsgetreue und scheinbar reale Handlung verstrickt sind, dass der Betrachter dieser Schöpfung voll Verwunderung gegenüber steht. Wer von uns hat sich beim Erwachen aus einem aufwühlenden Traum nicht über diesen bizarren Bewusstseinszustand gewundert – noch immer mitgerissen von den eben erlebten Emotionen. Wie erzeugt unser überaus kreatives Gehirn diese alternative, bewusst erfahrene Welt, so farbenfroh und detailliert? In der Grauzone zwischen Traum- und Wachbewusstsein mögen wir uns manchmal sogar einen Moment lang fragen, welche von diesen Welten die reale ist. Und wie lassen sich andere Bewusstseinszustände erklären: Hypnose, drogenbedingte Halluzinationen und Nahtoderlebnisse? Zunächst aber die naheliegende Frage: Was ist Bewusstsein? In jeder Wissenschaft gibt es Konzepte, die derart fundamental sind, dass es beinahe unmöglich ist, sie zu definieren. Biologen sind zwar einer Meinung, wenn es darum geht zu entscheiden, ob etwas lebendig ist oder nicht, bei der Frage, was Leben an sich bedeutet, gehen die Meinungen jedoch auseinander. In der Physik entziehen sich die Begriffe Materie und Energie einer einfachen Definition. Gleichermaßen stellt das Bewusstsein für Psychologen zwar ein fundamentales, aber dennoch unscharfes Konzept dar.
7
7.1
Bewusstsein und Informationsverarbeitung
Ziel 1: Beschreiben Sie die Geschichte der psychologischen Untersuchung des Bewusstseins, und stellen Sie bewusste und unbewusste Informationsverarbeitung einander gegenüber. »Weder [der Psychologe] Steve Pinker noch ich können das subjektive Bewusstsein des Menschen erklären… Wir verstehen es nicht.« Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins (1999)
»Die Psychologie muss sich jeglichen Bezugs auf das Bewusstsein entledigen.« Der Behaviorist John B. Watson (1913)
Bewusstsein (consciousness): Gesamtheit der unmittelbaren Erfahrung, die sich aus der Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung, unseren Kognitionen, Vorstellungen und Gefühlen zusammensetzt.
Psychologen erforschen seit langem das Bewusstsein, anfangs mit großem Eifer, dann eher verhalten und jetzt wieder mit neu entfachtem Elan. Wie ist dieses wechselnde Interesse zu erklären? Und welche Ebenen und Funktionen des Bewusstseins gibt es? In ihren Anfängen wurde die Psychologie als die Wissenschaft von der »Beschreibung und Erklärung von Bewusstseinszuständen« (Ladd 1887) verstanden. Es erwies sich jedoch als schwierig, Bewusstsein wissenschaftlich zu untersuchen, und diese Problematik veranlasste viele Psychologen Anfang des letzten Jahrhunderts dazu, sich ausschließlich dem direkt beobachtbaren Verhalten zuzuwenden: Daraus entstand eine neue Richtung in der Psychologie, die als Behaviorismus bezeichnet wird (7 Abschn. 8.2.1). In den 60er Jahren verstand sich die Psychologie nicht mehr als die Wissenschaft vom Bewusstsein oder des »seelischen Erlebens«, sondern als Wissenschaft vom Verhalten. Die Psychologie hatte das Bewusstsein fast völlig aus dem Blick verloren. Bewusstsein wurde, wie der Tacho eines Autos, lediglich als Repräsentant betrachtet: »Er bringt das Auto nicht zum Laufen, er spiegelt lediglich wider, was geschieht« (Seligman 1991). Um das Jahr 1960 tauchten mentale Konzepte wieder in der Psychologie auf. Dank der Fortschritte in den Neurowissenschaften konnte man die Aktivitäten des Gehirns verschiedenen Bewusstseinszuständen zuordnen – wachen, schlafen oder träumen. Die Wissenschaftler begannen, das durch Hypnose oder Drogen veränderte Bewusstsein zu untersuchen. Psychologen aller Fachrichtungen erkannten die zentrale Bedeutung mentaler Prozesse (also der Kognition). Die Psychologie hatte das Bewusstsein wieder für sich entdeckt. Heute bedeutet Bewusstsein für die meisten Psychologen die bewusste Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung. Das Bewusstsein bringt eine Vielfalt von Informationen an die Oberfläche, mit deren Hilfe wir nachdenken und planen können. Wenn wir ein komplexes Konzept oder eine komplexe Verhaltensweise erlernen, beispielsweise das Autofahren, lenkt das Bewusstsein unsere Wahrnehmung ausschließlich auf das Auto und den Verkehr. Diese bewusste Wahrnehmung ist davon abhängig, worauf wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren. Mit fortschreitender Übung wird das Autofahren zu einer automatisierten Tätigkeit und beansprucht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit nicht mehr; das schafft unserem Bewusstsein den Freiraum, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wenn ich Sie dazu auffordere, darauf zu achten, wie das
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Hervé Collart/Sygma/Corbis
Gabriel Scholz
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S. Wahl
7.1 · Bewusstsein und Informationsverarbeitung
Bewusstseinszustände Zusätzlich zum normalen Wachbewusstsein gibt es verschiedene andere Bewusstseinszustände, merken Vaitl et al. (2005) an; dazu gehören Tagträumen, Schlafen, Meditieren und durch Drogen hervorgerufenes Halluzinieren
Gewicht Ihres Körpers auf Ihrem Gesäß ruht, während Sie auf einem Stuhl sitzen, werden Sie für einen Moment aufhören zu lesen. Mit Hilfe unserer bewussten Aufmerksamkeit können wir willentliche Kontrolle ausüben und andere über unsere innere Befindlichkeit informieren. Allerdings stellt das Bewusstsein lediglich die Spitze des Eisbergs der Informationsverarbeitung dar. Viele der in diesem Buch berichteten Studien weisen darauf hin, dass wir viele Informationen unbewusst verarbeiten. Wir registrieren Reize, die wir nicht bewusst wahrnehmen, und reagieren darauf. Gut eingeübte Aufgaben führen wir automatisch aus, wie etwa das Schreiben auf einer Tastatur ohne Blick auf die Tasten. Wir ändern unsere Einstellung und rekonstruieren unsere Erinnerung, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wenn wir Menschen begegnen, reagieren wir unmittelbar und unbewusst auf Geschlecht, Alter und Aussehen dieses Menschen und werden uns erst im Nachhinein unserer Reaktion bewusst. Unterhalb der Oberfläche findet unbewusste Informationsverarbeitung auf mehreren parallelen Ebenen gleichzeitig statt. Wenn wir einen Vogel fliegen sehen, ist uns das Ergebnis unserer kognitiven Verarbeitung (»Es ist ein Kolibri!«) bewusst, nicht aber die unterschwellige Verarbeitung der Informationen. Unbewusst nehmen wir wahr, welche Farbe und Form der Vogel hat, wie weit er entfernt ist, wie er fliegt und zu welcher Art er gehört. Wenn das Echo der Hirnaktivität zwischen miteinander verbundenen Hirnarealen über einer bestimmten Intensitätsschwelle liegt, löst dies nach der Theorie von Sergent u. Dehaene (2004) Bewusstsein aus. Kosslyn u. Koenig (1992) verglichen das Verhältnis zwischen unserer Gehirnaktivität und unserem Bewusstsein mit dem Verhältnis der Saiten einer Gitarre zu einem gespielten Akkord. Wie ein Akkord aus dem Zusammenklang verschiedener Saiten entsteht, so entsteht Bewusstsein aus dem Zusammenwirken einzelner Gehirnaktivitäten. Die heutigen Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit der neurologischen Aktivität, die mit dem Bewusstsein in Zusam-
7
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Kapitel 7 · Bewusstsein
. Abb. 7.1. Ist das Gehirn dem Denken voraus In der Forschung von Benjamin Libet geht der Bewusstheit einer einfachen Entscheidung vor einer Handlung eine unbewusste Hirnaktivität voraus. Eine Person beobachtet eine Uhr auf einem Computerbildschirm, deren Zeiger alle 2,56 s eine Umdrehung macht, und notiert die Zeit, in der sie sich entscheidet, ihr Handgelenk zu bewegen. Ungefähr ein Drittel einer Sekunde, bevor sich die Person entscheidet, sich zu bewegen, steigt die Aktivität der Hirnwellen stark an, was auf ein »Bereitschaftspotenzial« zur Bewegung hindeutet. Wenn die Forscher sich die Videobilder der Szene erneut in Zeitlupe ansehen, können sie vorhersagen, wann sich die Person in etwa entscheiden wird, sich zu bewegen (woraufhin sich das Handgelenk tatsächlich bewegen wird)
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menhang gebracht wird. In einigen anregenden Experimenten beobachtete Libet (1985, 2004) Folgendes: Unser Bewusstsein hinkt den Einzelprozessen hinterher, aus denen es zusammengesetzt ist, so wie wir den Akkord erst hören, nachdem alle einzelnen Töne erklungen sind. Wenn Sie z. B. willentlich ein Handgelenk bewegen, erleben Sie die Entscheidung für eine Bewegung ca. 0,2 Sekunden vor der tatsächlichen Bewegung. Das ist noch keine Überraschung. Aber die Aktivität Ihrer Gehirnwellen nimmt bereits 0,35 Sekunden vor Ihrer bewussten Entscheidung sprunghaft zu (. Abb. 7.1) Bevor Sie sich also dessen bewusst sind, scheint Ihr Gehirn auf Ihre Entscheidung hinzuarbeiten, das Handgelenk zu bewegen. Ebenso sind Sie in der Lage, innerhalb einer Zehntelsekunde mit einem Knopfdruck zu reagieren, wenn Sie eine Berührung spüren – weniger Zeit, als Sie benötigen, um sich der Tatsache bewusst zu werden, dass Sie reagiert haben (Wegner 2002). Die verblüffende Schlussfolgerung aus diesen Experimenten lautet: Das Bewusstsein kommt manchmal etwas zu spät zu der Party, auf der die Entscheidung getroffen wird. ! Im Gegensatz zur unbewussten Verarbeitung von Informationen, die gleichzeitig auf mehreren parallelen Bahnen ausgeführt wird, findet bewusstes Verarbeiten nacheinander (sequenziell) statt
Das Bewusstsein ist relativ langsam und hat nur eine begrenzte Kapazität, ist aber gut dafür geeignet, neue Problemstellungen zu lösen. Es arbeitet wie ein Firmenchef, dessen viele Assistenten automatisch die Routinearbeit erledigen. Während der Fahrt auf einer vertrauten Strecke übernehmen Ihre Hände und Füße das Fahren, während Sie mit den Gedanken ganz woanders sind. Die Fähigkeit, Prozesse automatisch ablaufen zu lassen, erlaubt es dem Bewusstsein, das gesamte System zu überwachen und auf neue Herausforderungen zu reagieren. Neue Aufgaben erfordern unsere bewusste Aufmerksamkeit. Versuchen Sie einmal Folgendes: Falls Sie Rechtshänder sind, können Sie Ihren rechten Fuß kreisförmig gegen den Uhrzeigersinn bewegen, und Sie sind in der Lage, mit der rechten Hand die Zahl 3 mehrmals zu schreiben – aber wahrscheinlich nicht beides zur selben Zeit. Wenn Sie musikalisch sind, probieren Sie etwas vergleichbar Schweres: Klopfen Sie mit der linken Hand einen gleichmäßigen Rhythmus mit 3 Schlägen, während Sie mit der rechten einen Rhythmus mit 4 Schlägen klopfen. Beide Aufgaben erfordern bewusste Aufmerksamkeit, die zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht auf 2 Aufgaben gleichzeitig gerichtet sein kann. Hat die Natur die Zeit geschaffen, damit nicht alles gleichzeitig geschieht, dann hat sie unser Bewusstsein geschaffen, damit wir nicht alles gleichzeitig denken und tun.
295 7.2 · Schlaf und Träume
LernzieleAbschnitt 7.1 Bewusstsein und Informationsverarbeitung Ziel 1: Beschreiben Sie die Geschichte der psychologischen Untersuchung des Bewusstseins, und stellen Sie bewusste und unbewusste Informationsverarbeitung einander gegenüber. Bewusstsein, für den Augenblick definiert als Bewusstsein von uns selbst und von unserer Umwelt, tritt in »normalen« Zuständen auf, in denen wir wach sind, sehen und hören, diskutieren und uns erinnern, – aber auch in veränderten Bewusstseinszuständen wie Schlaf, Hypnose und chemisch induzierte Halluzinationen. Die Psychologie begann als Wissenschaft vom Bewusstsein, beschäftigte sich dann aber als Folge des Behaviorismus vor allem mit beobachtbarem Verhalten. Unter dem Einfluss der Entdeckungen in der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie ist die wissenschaftliche Erforschung von Bewusstseinszuständen wieder ein Anliegen der Psychologie. Unsere
7.2
bewusste Verarbeitung erfolgt sequenziell und relativ langsam, aber dieser konzentrierte Zustand der Bewusstheit versetzt uns in die Lage, willentliche Handlungen auszuführen, neuartige Probleme zu lösen und mit anderen zu kommunizieren. Bei der unbewussten Verarbeitung führen wir Aufgaben, die uns vertraut sind, automatisch aus; dabei registrieren unsere sensorischen Systeme und neuronalen Bahnen Reize rasch und gleichzeitig auf verschiedenen Wegen (Parallelverarbeitung). > Denken Sie weiter: Haben Sie je darüber nachgedacht wie Pferde, Hunde und Katzen die Welt erleben? Glauben Sie, dass sie sie bewusst wahrnehmen? Falls ja, sind diese Tiere sich auch dessen bewusst, dass sie die Welt bewusst erleben?
Schlaf und Träume
Schlaf – die unwiderstehliche Versuchung, der wir letztlich immer unterliegen. Schlaf – der keinen Unterschied zwischen Präsidenten und Bauern macht. Schlaf – süßer, erholsamer und mysteriöser Schlaf. Die uralten Geheimnisse des Schlafs beschäftigen die Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten. Heute sind einige dieser Geheimnisse entschlüsselt. In Schlaflabors rund um die Welt haben Tausende von Versuchspersonen geschlafen, waren dabei an Geräte angeschlossen, die ihren Schlaf aufzeichneten, und wurden beim Schlafen beobachtet. Diese »Beobachter« – Schlafforscher – zeichnen die Gehirnwellen und die Muskelaktivität eines Schläfers auf, sie beobachten ihn und wecken ihn hin und wieder auf. Dabei entdecken sie Tatsachen und Zusammenhänge, die der gesunde Menschenverstand in Tausenden von Jahren nicht entdeckte. Vielleicht haben Sie bereits eine Ahnung, was ich damit meine: Sind die folgenden Aussagen wahr oder falsch? 4 Wenn Menschen davon träumen, dass sie sich bewegen, bewegen sich ihre Glieder häufig im Gleichklang mit dem Traum. 4 Ältere Erwachsene schlafen mehr als jüngere Erwachsene. 4 Schlafwandler spielen ihren Trauminhalt nach. 4 Schlafexperten raten, Schlaflosigkeit mit der gelegentlichen Einnahme eines Schlafmittels zu behandeln. 4 Manche Menschen träumen jede Nacht, andere fast nie. Alle diese Aussagen (nach Palladino u. Carducci 1983) sind falsch. Warum das so ist, werden Sie gleich erfahren.
7.2.1 Biologische Rhythmen Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen 4 Arten biologischer Rhythmen, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür an.
Wie der Ozean folgt auch das Leben einer Art Gezeitenrhythmus. Unsere Körperfunktionen folgen einem Rhythmus, bestehend aus Phasen von unterschiedlicher Dauer. Diese Rhythmen beeinflussen auch unser Seelenleben. Zu diesen biologischen Rhythmen, die von einer inneren »biologischen Uhr« gesteuert werden, gehören: 4 Jahresrhythmen: Einmal pro Jahr fliegen Gänse nach Süden, legen sich Bären zum Winterschlaf in eine Höhle, und Menschen erleben Veränderungen ihres Appetits, ihrer Schlafdauer und
Biologische Rhythmen (biological rhythms): periodische physiologische Fluktuationen.
7
296
Kapitel 7 · Bewusstsein
. Abb. 7.2. Menstruation, tatsächliche Stimmungslage und wahrgenommene Stimmungslage McFarland et al. (1989) berichteten, dass die täglichen Stimmungsberichte, die Frauen aus Ontario aufzeichneten, im Zeitraum ihres Menstruationszyklus keine Gefühlsschwankungen zeigten. Trotzdem nahmen die Frauen an, dass ihre Stimmung immer kurz vor und kurz nach der Menstruation schlechter sei als sonst
7 »Kann sich ein Mann die Handlungen einer Frau nicht erklären, ist das Erste, woran er denkt, der Zustand ihres Uterus.« Clare Boothe Luce (»Slam the Door Softly«, 1970)
Delfine können im Schlaf schwimmen.
ihrer Stimmung. Bei manchen Menschen, vor allem in nördlichen Regionen, kann die gedrückte Stimmung während der dunklen Wintermonate zu einer sog. affektiven Störung mit saisonalem Muster werden. 4 28-Tage-Rhythmus: Der weibliche Menstruationszyklus beträgt durchschnittlich 28 Tage. Führt dieser Zyklus auch zu Stimmungsschwankungen? Viele glauben daran, aber einige Psychologen sind skeptisch (. Abb. 7.2) 4 24-Stunden-Rhythmen: Im Verlauf von 24 Stunden sind Menschen manchmal wacher oder müder, die Körpertemperatur und der Wachstumshormonspiegel steigen an und sinken wieder ab. Und das gilt nicht nur für Menschen: Alle Säugetiere und Vögel schlafen (Siegel 2002). 4 90-Minuten-Rhythmen: In diesem Kapitel wird erkundet, wie wir uns in 90-Minuten-Rhythmen zyklisch durch verschiedene Schlafstadien bewegen. Seltsamerweise haben kleine Tiere kürzere Schlafrhythmen (Ratten: 9 Minuten; Katzen und Hunde: 25 Minuten) als große (Elefanten: 100 Minuten und mehr) (Hobson 1989; Morrison 2003).
7.2.2 Schlafrhythmus Zwei dieser biologischen Rhythmen wollen wir genauer betrachten: die biologische 24-StundenUhr und die 90-minütigen Schlafphasen.
Zirkadianer Rhythmus Ziel 3: Beschreiben Sie den Zyklus unserer zirkadianen Rhythmik, und geben Sie einige Ereignisse an, die die biologische Uhr durcheinander bringen können.
Zirkadiane Rhythmik (circadian rhythm): biologische Uhr; reguläre Rhythmik der Körperfunktionen (z. B. der Körpertemperatur und des Wachzustands) in einem 24-stündigen Zyklus.
Der Rhythmus eines Tages ähnelt dem des Lebens – vom Aufwachen bei der Geburt eines neuen Tages zur allnächtlichen Rückkehr zum »Abbild des Todes«, wie Shakespeare den Schlaf nannte. Unsere Körper passen sich dem 24-Stunden-Rhythmus des Tages mit Hilfe einer biologischen Uhr an, die als zirkadiane Rhythmik bezeichnet wird (lat. »circa« = ungefähr, »dies« = der Tag). Unsere Körpertemperatur steigt an, wenn der Morgen sich nähert, erreicht ihren Höhepunkt mitten am Tag, sinkt am frühen Nachmittag für kurze Zeit ab (dann halten viele Menschen einen Mittagsschlaf) und fällt noch weiter, wenn wir zu Bett gehen. Wachen wir um 4 Uhr morgens auf, wenn
297 7.2 · Schlaf und Träume
unsere Körperfunktionen noch heruntergefahren sind, machen wir uns plötzlich Sorgen: Will sich der Partner trennen, weil er heute nicht zu Besuch kommen wollte? Wird unser launisches Kind uns Probleme bescheren? Tagsüber, wenn unser Körper voller Energie steckt, grübeln wir weniger. Wer die Nacht durchmacht, fühlt sich um 4 Uhr morgens am müdesten und wird erst zu der Zeit wieder wacher, zu der er normalerweise aufsteht. ! Aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass unser Denken und unser Gedächtnis am besten funktionieren, wenn wir uns auf dem Höhepunkt unseres zirkadianen Aktivierungsniveaus befinden.
Mit dem Altern scheinen aber aus den nachtaktiven Eulen Lerchen zu werden, die den Morgen lieben. Die meisten Studierenden sind Eulen (May u. Hasher 1998). Ihre Leistungsfähigkeit wird normalerweise im Laufe des Tages immer besser. Die meisten älteren Menschen sind dagegen Lerchen, und ihre Leistungsfähigkeit lässt nach, je später es wird. In Altersheimen ist es am frühen Abend schon ruhig, während in Studentenwohnheimen der Tag dann erst so richtig beginnt. Der Übergang vom späteren Zubettgehen zum früheren setzt etwa im Alter von 20 Jahren ein, obwohl dies bei Frauen, die ja auch früher in die Pubertät kommen und eher zu wachsen aufhören als Männer, etwas früher auftritt (Roenneberg et al. 2004). Ein Transkontinentalflug stört unseren zirkadianen Rhythmus, und wir leiden unter Jetlag, vor allem weil wir wach sind, während unser zirkadianer Rhythmus »Schlafen!« ruft. Laborexperimente und Studien über Schichtarbeiter zeigen, dass helles Licht hilft, unsere biologische Uhr neu einzustellen (Czeisler et al. 1986, 1989; Eastman et al. 1995). Wollen Sie die Anpassung Ihrer inneren Uhr nach einem langen Flug also beschleunigen, verbringen Sie den ersten Tag draußen im Freien. Helles Licht am Morgen erleichtert das Aufwachen (und schützt vor Depressionen). Helles Licht in der Nacht hilft auch dabei, wach zu bleiben (Oren u. Terman 1998). Licht kann die zirkadiane Uhr aufziehen, weil es lichtsensitive Proteine in der Retina aktiviert. Diese Proteine wiederum übermitteln Signale an den Nucleus suprachiasmaticus im Gehirn, zwei neuronalen Clustern von der Größe eines Stecknadelkopfes, die die zirkadiane Uhr steuern (Foster 2004). Dies geschieht z. T. dadurch, dass sie die Zirbeldrüse dazu veranlassen, morgens weniger und abends mehr schlafförderndes Melatonin zu produzieren (. Abb. 7.3). Je länger wir wach sind, desto mehr produziert und akkumuliert unser aktives Gehirn den chemischen Stoff Adenosin, der
. Abb. 7.3. Die biologische Uhr Licht, das auf die Retina trifft, veranlasst ein neuronales Zentrum im Hypothalamus (den Nucleus suprachiasmaticus), die Produktion von biologisch aktiven Substanzen zu regulieren, wie z. B. die Melatoninproduktion der Zirbeldrüse
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298
Kapitel 7 · Bewusstsein
Wäre unsere natürliche zirkadiane Rhythmik auf 23 Stunden eingestellt, müssten wir uns dann selbst dazu bringen, nachts länger aufzubleiben und morgens länger zu schlafen? Haben ältere Erwachsene, die typischerweise gerne früher wach sind und früher ins Bett gehen, eine kürzere zirkadiane Rhythmik?
7
bestimmte Nervenzellen hemmt, wodurch wir schläfrig werden (Koffein blockiert die Aktivität des Adenosin). Während des Schlafs nimmt die Konzentration des Adenosins ab (Porkka-Heiskanen et al. 1997). Ohne dass es uns bewusst ist, können wir unsere biologische Uhr neu einstellen, indem wir unsere Schlafenszeiten verändern. Bleiben wir am Wochenende lange auf und schlafen dann morgens aus, leiden wir vielleicht an der »Sonntag-Nacht-Schlaflosigkeit« und der »Montag-MorgenDepression«. Die Menschen, die sonntags bis Mittag schlafen und dann schon 11 Stunden später wieder zu Bett gehen, um in der kommenden Arbeitswoche fit zu sein, finden häufig keinen Schlaf. Sie sind wie New Yorker, deren innere Uhr auf die Zeit in Kalifornien eingestellt ist, oder wie jemand, der gerade von Los Angeles nach Frankfurt geflogen ist. Die innere Uhr unserer Vorfahren war auf den Auf- und Untergang der Sonne an einem 24Stunden-Tag eingestellt, doch heute schaffen es viele junge Erwachsene interessanterweise, sich auf einen 25-Stunden-Tag einzustellen, indem sie zu lange aufbleiben, um noch Zeit für 8 Stunden Schlaf zu haben. Dafür können wir Thomas Edison, dem Erfinder der Glühbirne, danken oder ihn verdammen. In Licht zu baden – und sei es nur in einem Keller – ist, wie eine Zeitzone weit nach Westen zu reisen: Es stellt unsere 24-Stunden-Uhr zurück (Czeisler et al. 1999; Dement 1999). Das erklärt zum Teil, warum Schichtarbeiter, die häufig zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten, besser damit zurecht kommen, wenn ihre Schicht nach hinten verschoben wird und nicht nach vorne, und warum wir uns in unseren jüngeren Jahren dazu zwingen müssen, früh zu Bett zu gehen und früh aufzustehen. Die meisten Tiere bleiben ebenso 24 Stunden wach, wenn sie konstant bei künstlichem Licht gehalten werden. Künstliches Licht verzögert den Schlaf.
Schlafstadien Ziel 4: Listen Sie die Stadien des Schlafzyklus auf, und erklären Sie, worin sie sich unterscheiden.
Wenn der Schlaf uns übermannt und die verschiedenen Teile des Kortex aufhören, miteinander zu kommunizieren, lässt das Bewusstsein nach (Massimini et al. 2005). Aber das immer noch aktive Gehirn meldet sich nicht unablässig, weil auch der Schlaf einem biologischen Rhythmus folgt. ! Jede Nacht durchlaufen wir mehrere Zyklen aus 5 verschiedenen Schlafstadien. Die Zyklen dauern jeweils 90–100 Minuten.
REM-Schlaf (REM sleep): Schlafphase, in der sich die Augen schnell bewegen (»rapid eye movements«). In diesem sich wiederholenden Schlafstadium kommt es in der Regel zu lebhaften Träumen. Der REM-Schlaf wird auch als paradoxer Schlaf bezeichnet, weil die Muskeln entspannt sind (kleinere Zuckungen ausgenommen), andere Körperfunktionen aber aktiv.
Diese grundlegende Erkenntnis war nicht bekannt, bis der 8-jährige Armond Aserinsky eines Nachts im Jahre 1952 zu Bett ging. Armonds Vater Eugene, der an der Universität von Chicago studierte, musste einen Elektroenzephalographen testen, den er tags zuvor repariert hatte (Aserinsky 1988; Seligman u. Yellen 1987). Er befestigte die Elektroden nahe Armonds Augen, um die Augenbewegungen aufzuzeichnen, die angeblich im Schlaf auftraten. Kurz darauf arbeitete das Gerät wie wild und produzierte eine große Zickzacklinie auf dem Papier. Aserinsky glaubte, die Maschine sei immer noch kaputt. Doch im weiteren Verlauf der Nacht trat die Aktivität in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Daraus schloss Aserinsky, dass schnelle, ruckartige Augenbewegungen aufgezeichnet wurden, die von einer energetischen Gehirnaktivität begleitet waren. Als er Armond während einer solchen Phase weckte, berichtete der Junge, dass er gerade geträumt hätte. Aserinksy hatte das entdeckt, was wir heute als REM-Schlaf bezeichnen (Schlaf mit schnellen Augenbewegungen, »rapid eye movements«). Um festzustellen, ob vergleichbare Zyklen auch im Schlaf erwachsener Menschen vorkommen, entwickelten Kleitman (1960) und Aserinsky Testverfahren, die mittlerweile an mehreren tausend Freiwilligen erprobt wurden. Versetzen Sie sich doch einmal in die Lage einer solchen Versuchsperson, um die Vorgehensweise der Forscher und die daraus resultierenden Ergebnisse besser beurteilen zu können. Während die Zeit vergeht und es immer später wird, sind Sie immer mehr darum bemüht, nicht einzuschlafen, und gähnen in Folge eines herabgesetzten Gehirnstoffwechsels. Das Gähnen streckt die Muskulatur in Ihrem Nacken und erhöht die Frequenz Ihres Herzschlags, was Sie wieder etwas wacher macht (Moorcroft 2003). Wenn Sie so weit sind, dass Sie zu Bett gehen können, befestigt der Untersuchungsleiter Elektroden an Ihrem Kopf (um Ihre Gehirnwellen zu messen), direkt neben den Augen (um Ihre Augenbewegungen zu registrieren) und an Ihrem Kinn (um dort die Muskelspannung ableiten zu können) (. Abb. 7.4). Zusätzliche Mess-
299 7.2 · Schlaf und Träume
. Abb. 7.4. Messung der Schlafaktivität Schlafforscher messen die Aktivität der Gehirnwellen, Augenbewegungen und die Muskelspannung über Elektroden, die selbst schwache elektrische Signale registrieren. (Aus Dement 1978)
instrumente erfassen Ihren Herzschlag, Ihren Atemrhythmus und den Grad der sexuellen Erregung. Während Sie mit geschlossenen Augen im Bett liegen, sieht der Beobachter auf dem EEG im Zimmer nebenan die relativ langsamen α-Wellen (Alphawellen), die auftreten, wenn Sie sich in einem entspannten Wachzustand befinden (. Abb. 7.5). Während Sie sich an all die Gerätschaften gewöhnen und müde werden, gleiten Sie allmählich in den Schlaf. Schlaf ist ein Zustand, dessen wir uns erst dann bewusst werden, wenn wir ihn wieder verlassen. Der Moment des Einschlafens geschieht, ohne dass wir uns daran erinnern, und ist durch eine verlangsamte Atmung sowie durch die unregelmäßige Hirnwellenaktivität des 1. Schlafstadiums gekennzeichnet (. Abb. 7.6). An einer seiner 15.000 schlafenden Versuchspersonen beobachtete der Schlafforscher Dement (1999) den Zeitpunkt, an dem das Wahrnehmungstor zwischen Gehirn und Außenwelt zufällt. Dement bat einen jungen Mann, dem man den Schlaf entzogen hatte und der mit künstlich offen gehaltenen Augenlidern auf dem Rücken lag, immer dann eine Taste zu drücken, wenn ihn der Lichtreiz eines Stroboskops blendete (was ca. alle 6 Sekunden geschah). Nach ein paar Minuten verpasste er den Lichtreiz und reagierte nicht. Als er nach dem Grund dafür gefragt wurde, antwortete er: »Weil kein Lichtreiz da war.« Er hatte den Lichtreiz übersehen, weil er für 2 Sekunden eingeschlafen war (wie das Muster seiner Gehirnwellen verriet). Ohne es zu merken, entging ihm nicht nur der 20 cm von seiner Nase entfernte Lichtreiz, sondern auch die Tatsache, dass er für einen Moment eingeschlafen war. Während dieses leichten Schlafes im 1. Schlafstadium nehmen Sie unter Umständen faszinierende Bilder wahr, die an Halluzinationen erinnern, sensorische Eindrücke, die ohne sensorische Reizaufnahme erlebt werden. Sie haben vielleicht das Gefühl zu fallen (dann zuckt Ihr Körper evtl. plötzlich zusammen) oder schwerelos da-
α-Wellen oder Alphawellen (alpha waves): relativ langsame Hirnwellen, die kennzeichnend für einen entspannten Wachzustand sind. Schlaf (sleep): periodischer, natürlicher, reversibler Bewusstseinsverlust – im Gegensatz zu Bewusstseinsverlusten, die durch Koma, Narkose oder Winterschlaf hervorgerufen werden (nach Dement 1978). Halluzinationen (hallucinations): irrtümliche sensorische Wahrnehmungen wie etwa das Sehen von Objekten ohne äußere visuelle Reize.
. Abb. 7.5. Gehirnwellen und Schlafstadien Die regelmäßigen α-Wellen des entspannten Wachzustands unterscheiden sich deutlich von den langsameren, stärker ausgeprägten δ-Wellen (Deltawellen) des Tiefschlafs im 4. Schlafstadium. Obwohl die hochfrequenten Wellen des REMSchlafs den Wellen im 1. Schlafstadium ähnlich sind, ist der Körper während des REM-Schlafs deutlich stärker erregt. (Aus Dement 1978)
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Kapitel 7 · Bewusstsein
. Abb. 7.6. Der Moment des Einschlafens Wir scheinen uns des Moments des Einschlafens nicht bewusst zu sein, aber jemand, der unsere Gehirnaktivität beobachtet, könnte ihn bestimmen. (Aus Dement 1978)
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δ-Wellen oder Deltawellen (delta waves): langsame Hirnwellen mit großer Amplitude. G-Wellen gehen mit Tiefschlaf einher.
hinzuschweben. Solche »hypnoiden« Empfindungen können später als Teile von Erinnerungen wieder auftauchen. Menschen, die behaupten, von Außerirdischen entführt worden zu sein – oft kurz, nachdem sie zu Bett gegangen waren – berichten häufig, aus ihren Betten emporgeschwebt zu sein. Kurze Zeit später vertieft sich Ihre Entspannung und Sie verbringen ungefähr 20 Minuten im 2. Schlafstadium, gekennzeichnet durch periodische, kurzfristig stark ansteigende rhythmische Aktivitäten der Gehirnwellen, Schlafspindeln genannt. Obwohl Sie während dieses Stadiums immer noch vergleichsweise einfach aufzuwecken sind, schlafen Sie bereits eindeutig. Im Schlaf zu sprechen – meist undeutlich und ohne Sinnzusammenhang – kann in dieser Schlafphase ebenso wie in jeder anderen auftreten (Mahowald u. Ettinger 1990). Im Verlauf der nächsten paar Minuten durchlaufen Sie das übergangsartige 3. Schlafstadium und überschreiten die Schwelle zum Tiefschlaf, dem 4. der für den Schlafzyklus charakteristischen Stadien. Erstmals im 3., und dann vermehrt im 4. Schlafstadium, tauchen stark ausgeprägte, langsame δ-Wellen (Deltawellen) auf. Diese beiden Phasen (»slow-wave-sleep«) dauern ungefähr 30 Minuten an, in denen Sie nur schwer aufzuwecken sind. Erstaunlicherweise geschieht es während des Tiefschlafs gegen Ende der 4. Phase, dass bettnässende Kinder ihre Blase entleeren oder schlafwandeln. Ungefähr 20% der 3- bis 4-Jährigen wandern zumindest einmal im Schlaf umher, in der Regel für 2–10 Minuten; in etwa 5% der Fälle kommt es wiederholt zum Schlafwandeln (Giles et al. 1994). Irgendwie verarbeitet Ihr Gehirn gewisse Stimuli auch während Sie tief und fest schlafen. Zwar drehen Sie sich im Schlaf immer wieder um, fallen deswegen aber trotzdem nicht aus dem Bett. Auch legen Sie sich nicht versehentlich auf Ihr Baby und verletzen es, sollten Sie es gelegentlich mit in Ihr Bett nehmen – vorausgesetzt, Sie stehen nicht unter Drogeneinfluss. Der Lärm gelegentlich vorbeifahrender Fahrzeuge wird Sie nicht unbedingt wecken, das Weinen Ihres Babys aus dem Kinderzimmer dagegen weckt Sie selbst bei vergleichsweise geringer Lautstärke auf, ebenso wie der Klang Ihres Namens – ein Reiz, auf den unsere selektive Aufmerksamkeit immer zu reagieren bereit ist. EEG-Aufnahmen bestätigen, dass der auditive Kortex auch während des Schlafes auf Geräusche reagiert (Kutas 1990). All das erinnert uns an eine der Basislektionen dieses Buches: Einen Großteil der Informationen verarbeiten wir unbewusst. Ungefähr eine Stunde, nachdem Sie eingeschlafen sind, geschieht etwas Merkwürdiges. Anstatt im Tiefschlaf zu verharren, tauchen Sie aus diesem Stadium wieder auf. Nachdem Sie in umgekehrter Reihenfolge das 3. und dann das 2. Schlafstadium erneut durchlaufen, in denen Sie insgesamt die halbe Nacht verbringen, treten Sie in die eigenartigste aller Schlafphasen ein: den REMSchlaf (. Abb. 7.7). Für etwa 10 Minuten sind Ihre Hirnwellen schnell und zackenförmig ausgeprägt, ungefähr so wie die der 1. Schlafphase, während der Sie sich nahe der Schwelle zum Wachzustand befinden. Aber im Gegensatz zum 1. Schlafstadium steigt während des REM-Schlafs Ihr Puls an, und Ihre Atmung verläuft unrhythmisch und heftig. Dazu bewegen sich Ihre Augäpfel ungefähr alle 30 Sekunden ruckartig hinter den geschlossenen Augenliedern. Da diese Augenbewegungen eigentlich von jedem wahrnehmbar sind, der die Augen eines Schläfers beobachtet, ist es erstaunlich, dass der REM-Schlaf erst 1952 von der Wissenschaft zur Kenntnis genommen wurde. Mit Ausnahme von Schlafphasen mit Albträumen kommt es während des REM-Schlafes zu Erregungen im Genitalbereich, und Sie haben daher eine Erektion oder eine stärker durchblutete Vagina in Verbindung mit einer vergrößerten Klitoris. Die morgendliche Erektion ist beispielsweise ein Überbleibsel der letzten REM-Phase, oft kurz vor dem Erwachen. Im Schlaf kommt es generell zu einer Erregung der Sexualorgane, ganz unabhängig davon, ob der Traum sexuellen Inhalts ist oder nicht (Karacan et al. 1966). Dieses Phänomen wurde hauptsächlich an Männern
301 7.2 · Schlaf und Träume
a
7
b
untersucht, da bei ihnen entsprechende Messungen leichter durchzuführen sind. Bei jungen Männern überdauert die sexuelle Erregung die REM-Phasen und bleibt durchschnittlich für 30–45 Minuten erhalten (Kuracan et al. 1983; Schiavi u. Schreiner-Engel 1988). Der typische 25-jährige Mann hat daher während nahezu der Hälfte seines Schlafes eine Erektion, 65-jährige Männer noch während eines Viertels der Nacht. Viele Männer mit Erektionsproblemen (Impotenz) haben morgendliche Erektionen, die darauf hindeuten, dass sich das Problem nicht zwischen ihren Beinen befindet. Obwohl der motorische Kortex Ihres Gehirns während der REM-Phasen aktiv ist, blockiert der Hirnstamm dessen Signale und Ihre Muskeln bleiben entspannt, so entspannt, dass Sie – abgesehen von einer gelegentlich auftretenden Bewegung eines Fingers, eines Zehs oder einem Zucken der Gesichtsmuskulatur – vollständig gelähmt sind. (Das ist auch eine Erklärung dafür, dass sich Pferde, die 92% des Tages stehend verbringen und im Stehen schlafen können, zum REMSchlaf hinlegen müssen [Morrison 2003].) Es ist auch nicht gerade einfach, Sie in dieser Phase aufzuwecken. Der REM-Schlaf wird deshalb auch als paradoxer Schlaf bezeichnet; der Körper ist im Inneren erregt, während er nach außen hin ruhig erscheint. Noch erstaunlicher ist, was die schnellen Augenbewegungen signalisieren: den Beginn eines Traumes. Sogar diejenigen, die behaupten nie zu träumen, werden sich in 80% der Fälle daran erinnern, geträumt zu haben, wenn sie während einer REM-Phase geweckt werden. Im Gegensatz zu den dahinströmenden Bildern des 1. Schlafstadiums (»Ich habe heute an meine Prüfung gedacht« oder »Ich habe versucht, mir etwas von jemandem auszuleihen«) sind die Träume während der REM-Phasen oft sehr emotional gefärbt, ähneln Geschichten und sind reicher an Halluzinationen:
. Abb. 7.7a,b. Typische Nachtschlafphasen Die meisten Menschen durchlaufen den 5-phasigen Schlafzyklus in jeder Nacht mehrmals, dabei nimmt der Anteil von Stadium 4 und dann von Stadium 3 im Laufe der Nacht ab, die Dauer der REM-Phasen nimmt dafür zu (a). Teilabbildung b stellt diese Zusammenhänge dar, die Daten stammen aus der Untersuchung von 30 jungen Erwachsenen. (Aus Cartwright 1978; Webb 1992)
Frage: Träumt man mehr, nachdem man scharf gegessen hat? Antwort: Nahrungsmittel, die Sie zu häufigerem Aufwachen veranlassen, erhöhen lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich an einen Traum erinnern (Moorcroft 2003).
Mein Mann und ich waren bei unseren Freunden zu Hause. Sie waren nicht da. Ihr Fernseher lief noch, davon abgesehen war es ganz still. Nachdem wir eine Weile herumgelaufen waren, bemerkten uns schließlich ihre Hunde, fletschten die Zähne und fingen an, laut zu bellen und zu jaulen.
PET-Aufzeichnungen des Gehirns schlafender Menschen (auch Sie könnten in solch einer Röhre schlafen, wenn Sie müde genug sind) zeigen, dass visuelle und auditive Funktionsbereiche während der REM-Phasen relativ aktiv, in anderen Schlafstadien dagegen inaktiv sind (Fosse et al. 2001). Stehen die Augenbewegungen in Zusammenhang mit den visuellen Aspekten des Traumgeschehens? »Betrachtet« der Träumende die Szenen des Traums wie einen privaten Film, der auf eine innere Leinwand projiziert wird? Die meisten Forscher gehen davon aus, dass das nicht der
Bei fantasiebegabten Menschen ist es besonders wahrscheinlich, dass sie sich an Träume von der letzten Nacht erinnern (Watson 2003).
302
Kapitel 7 · Bewusstsein
David Turnley/Corbis
Einige schlafen tief, andere nicht Die fluktuierenden Schlafzyklen ermöglichen es diesen Soldaten, sicher auf dem Schlachtfeld zu schlafen. Ein Vorteil gemeinschaftlichen Schlafens besteht darin, dass wahrscheinlich jemand wach sein oder leicht aufwachen wird, wenn etwas Bedrohliches passiert
Menschen schnarchen selten, während sie träumen. In der Regel hört das Schnarchen auf, sobald die REM-Phasen einsetzen.
Fall ist: Bewegungen der Augen scheinen wohl eher auf eine überschießende Aktivität im zentralen Nervensystem hinzuweisen, ebenso auch das gelegentliche Zucken der Muskeln (Chase u. Morales 1983). Der Schlafzyklus wiederholt sich ungefähr alle 90 Minuten. Während die Nacht weiter voranschreitet, nimmt der Tiefschlafanteil immer weiter ab und verschwindet schließlich vollständig. Die REM-Schlafphasen dauern dafür immer länger an (. Abb. 7.7b). Wenn wir morgens aufwachen, haben wir ungefähr 25% der Nacht im REM-Schlaf verbracht – gut über 100 Minuten. 37% der Menschen geben selten oder nie an, einen Traum gehabt zu haben, »an den man sich am nächsten Morgen erinnern kann« (Moore 2004). Obwohl diese Personen es nicht wissen, verbringen sie tatsächlich ca. 600 Stunden pro Jahr träumend und erleben dabei ungefähr 1500 Träume, das sind, umgerechnet auf die durchschnittliche Lebensspanne, ungefähr 100.000 Träume, die im Dunkel der Nacht verborgen bleiben, aber aufgrund der schützenden Lähmung durch den REM-Schlaf nie ausagiert werden.
7 7.2.3 Wozu brauchen wir den Schlaf? Ziel 5: Erklären Sie, warum Schlafmuster und -dauer von einem Menschen zum nächsten unterschiedlich sind. Gallup-Umfrage 2001: »Wie viele Stunden schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?« 5 h oder weniger 16% 6h 27% 7h 28% 8h 28% Durchschnitt 2001 = 6,7 h Durchschnitt 1942 = 7,6 h
1989 wurde Michael Doucette mit dem Titel des sichersten Autofahrers von Amerika unter 20 Jahren ausgezeichnet. Als er 1990 von der Universität nach Hause fuhr, schlief er am Steuer ein und prallte frontal mit einem entgegenkommenden Wagen zusammen. Bei dem Unfall kamen er selbst und der andere Fahrer ums Leben. Michaels Fahrlehrer gestand später ein, er hätte mit ihm nie über Übermüdung im Straßenverkehr gesprochen. (Dement 1999)
Die Vorstellung, jeder wäre auf 8 Stunden Schlaf angewiesen, entspricht nicht der Wirklichkeit. Neugeborene verbringen ca. zwei Drittel des Tages schlafend, die meisten Erwachsenen nicht mehr als ein Drittel. Die im Durchschnitt schlafend verbrachte Zeit ist nicht nur vom Alter abhängig, sondern auch interindividuell verschieden. Manche Menschen schlafen weniger als 6 Stunden im Schnitt, während andere regelmäßig 9 Stunden und mehr schlafen. Solche Schlafmuster sind möglicherweise genetisch bedingt. Als Webb u. Campbell (1983) Schlafmuster und -dauer an einund zweieiigen Zwillingen untersuchten, wiesen nur die Daten eineiiger Zwillinge signifikante Ähnlichkeit auf. Schlafmuster sind auch kulturell beeinflusst. Dank der künstlichen Beleuchtung, aufgrund von Schichtarbeit und durch verändertes Freizeitverhalten, schlafen die Menschen in Industrienationen heute weniger, als es noch vor 100 Jahren der Fall war. Menschen, die damals um 21 Uhr schlafen gegangen wären, bleiben heute bis 23 Uhr auf. Thomas Edison (1948) nahm den Dank für seinen Beitrag zu dieser Entwicklung gerne an. Für ihn bedeutete ein Verlust an Schlaf einen Zugewinn an Zeit und damit Gelegenheit zu Aktivitäten: Als ich in einem motorisierten Fahrzeug durch die Schweiz reiste und so die kleinen Städte und Dörfer besuchen konnte, bemerkte ich die Auswirkung künstlichen Lichts auf die Bewohner. Wo immer fließend Wasser und elektrisches Licht verfügbar waren, machten die Menschen auch einen Eindruck von normaler Intelligenz. Waren diese Einrichtungen nicht gegeben, so dass die Bewohner mit den Hühnern zu Bett gingen und dort auch bis Sonnenaufgang verweilten, waren sie weit weniger intelligent. ! Die meisten Menschen schlafen mindestens 9 Stunden pro Nacht, wenn sie nicht daran gehindert werden (Coren 1996).
Schlafen wir derart ausgiebig, fühlen wir uns auch nicht groggy. Wir wachen erfrischter auf, sind in ausgeglichener Stimmung und arbeiten effizienter und zuverlässiger als diejenigen, die weniger Schlaf bekommen. Schlafen wir mehrmals hintereinander nur 5 Stunden pro Nacht, häufen wir
303 7.2 · Schlaf und Träume
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ein Schlafdefizit an, das wir auch durch einen 10-stündigen Schlaf nicht wieder ausgleichen können: Das erklärt, warum wir uns auch nach ausgiebigem Schlaf noch immer müde fühlen können. »Das Gehirn führt Buch über den Schlaf von mindestens 2 Wochen« schreibt Dement (1999). Haben wir zu wenig geschlafen, fühlen wir uns entsprechend schlecht, da der Körper nach Schlaf verlangt. Wer versucht, wach zu bleiben, verliert am Ende immer. Das Schlachtfeld der Müdigkeit verlässt letzten Endes immer der Schlaf als Sieger. Es ist also offensichtlich, dass wir Schlaf brauchen. Er bestimmt ungefähr ein Drittel unseres Lebens – ca. 25 Jahre im Durchschnitt. Aber weshalb? Die Antwort scheint auf den ersten Blick relativ einfach zu sein: Sorgen Sie lediglich einmal dafür, dass jemand über einige Tage hinweg nicht schlafen kann; und dann beobachten Sie, wie sich sein Befinden immer weiter verschlechtert. Einmal angenommen, Sie wären einer der Teilnehmer an einem Experiment zur Schlafdeprivation: Wie stellen Sie sich die Wirkung des Schlafmangels auf Ihren Körper und Ihren Geist vor? Selbstverständlich würden Sie ab und an furchtbar schläfrig werden, besonders zu den Zeiten, an denen Ihre biologische Uhr auf Schlaf eingestellt ist. Aber könnte ein Mangel an Schlaf sich auch negativ auf Ihre physische Gesundheit auswirken? Würde sich Ihr biochemischer Haushalt nachweisbar verändern? Würden Ihre Organe beeinträchtigt? Kämen Sie emotional aus dem Gleichgewicht? Oder wären Sie geistig desorientiert? photos.com
Auswirkungen von Schlafentzug Ziel 6: Erörtern Sie mehrere Risiken im Zusammenhang mit Schlafentzug.
Es gibt eine gute Botschaft! Psychologen haben eine Behandlung entdeckt, durch die das Gedächtnis besser wird, die Konzentration zunimmt, die Stimmung heiterer wird, der Hunger und die Fettleibigkeit zurückgeht, die körpereigene Immunabwehr gestärkt wird und das Risiko für Unfälle mit tödlichem Ausgang sinkt. Außerdem ist sie gratis, solange der Vorrat reicht. Und eine noch bessere Botschaft: Die Behandlung vermittelt ein gutes Gefühl, sie kann ohne fremde Hilfe begonnen werden, und der Vorrat reicht für immer aus. Wenn Sie zu den typischen Studierenden gehören, oft erst gegen 2 Uhr ins Bett gehen und nach 6 Stunden vom grauenhaften Lärm eines Weckers aus dem Bett getrieben werden, ist die Behandlung ziemlich einfach: Schlafen Sie nachts eine Stunde länger. Nicht nur die Müdigkeit an sich gehört zu den wesentlichen Konsequenzen von Schlafentzug, sondern auch eine generell beeinträchtigte Befindlichkeit (Mikulincer et al. 1989). Mehr denn je leiden die Menschen heutzutage an den Folgen von Schlafgewohnheiten, die ihnen Tatkraft und Wohlbefinden rauben. Teenager sind normalerweise auf 8–9 Stunden Schlaf pro Nacht angewiesen, mittlerweile schlafen sie im Schnitt 7 Stunden; das sind allerdings beinahe 2 Stunden weniger als bei vergleichbaren Altersgruppen vor 80 Jahren (Holden 1993; Maas 1999). Viele füllen ihr Schlafdefizit dadurch auf, dass sie die ersten Unterrichtsstunden am Morgen oder die nach der Mittagspause regelrecht verschlafen. Wenn es langweilig wird, leisten sich Studierende ein Nickerchen. Sogar im Wachzustand sind sie oft nicht bei der Sache und bewegen sich unterhalb ihres eigentlichen Leistungsniveaus. 80% der amerikanischen Jugendlichen und 60% der Personen zwischen 18 und 29 Jahren wünschen sich, an Wochentagen mehr Schlaf zu bekommen (Mason 2003, 2005). William Dement (1997) von der Stanford University berichtet, dass der Schlafmangel bei 80% der Studierenden der Stanford University »ein bedrohliches Ausmaß erreicht«. Betroffene »sind einem hohen Risiko ausgesetzt, in Unfälle jedweder Art verwickelt zu werden … Schlafentzug erschwert das Studium, führt zu geringerer Produktivität, zur Tendenz, häufiger Fehler zu machen, reizbarer und erschöpft zu sein.« Ein hohes Schlafdefizit »macht Sie dumm«, sagt Dement (1997). Aber lassen Sie uns das positiv formulieren: Wenn Sie Ihr Leben so einrichten, dass Sie ohne Wecker aufwachen, bedeutet das, dass Sie wachsamer, produktiver, gesünder und glücklicher sind. Für Teenager ist das leichter gesagt als getan. Wer sich morgens beim Klingeln des Weckers aus dem Bett quält, sich durch die ersten Vorlesungsstunden gähnt und für die Hälfte des Tages beinahe depressiv ist, kann gegen 11 Uhr abends wieder energiegeladen sein – ungeachtet der drohenden Schläfrigkeit am folgenden Tag (Carskadon 2002). Bei zwei Experimenten haben die US Navy und das amerikanische National Institute of Health Freiwillige dafür bezahlt, eine Woche lang mindestens 14 Stunden pro Tag im Bett zu verbringen.
An Schlaflosigkeit leiden Dieser übermüdete, an Schlafmangel leidende Arzt hat unter Umständen auch ein geschwächtes Immunsystem, Konzentrationsschwäche und ein höheres Unfallrisiko
»Tiger Woods hat gesagt, eines der besten Dinge bei seiner Entscheidung, Stanford zu verlassen und Golf-Profi zu werden, sei gewesen, dass er nun ausreichend Schlaf bekommen könne.« Schlafforscher William Dement (1997) von der Stanford University
Wenn Sie wissen wollen, ob auch Sie einer der vielen Studierenden mit Schlafmangel sind, werfen Sie einen Blick auf den Fragebogen in . Tab. 7.1.
Bei einer Umfrage des Gallup-Instituts von 2001 gaben 61% der Männer, aber nur 47% der Frauen an, in ausreichendem Maß Schlaf zu bekommen.
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Kapitel 7 · Bewusstsein
. Tabelle 7.1. Schlafen Sie zu wenig? Maas (1999) berichtet, dass die meisten Studierenden an den Folgen von Schlafmangel leiden. Beantworten Sie die folgenden Fragen, wenn Sie feststellen wollen, ob Sie selbst auch zur betroffenen Personengruppe gehören:
7
Stimmt
Stimmt nicht
F
F
1. Um rechtzeitig aufzuwachen, bin ich auf einen Wecker angewiesen.
F
F
2. Morgens komme ich schwer aus dem Bett.
F
F
3. An Wochentagen nutze ich morgens mehrmals die Schlummerfunktion meines Weckers, um noch ein bisschen mehr Schlaf zu bekommen.
F
F
4. Unter der Woche fühle ich mich müde, reizbar und gestresst.
F
F
5. Ich habe Konzentrations- und Gedächtnisprobleme.
F
F
6. Ich habe den Eindruck, beim kritischen Denken, beim Lösen von Problemen und bei kreativen Tätigkeiten langsam zu sein.
F
F
7. Oft schlafe ich vor dem Fernseher ein.
F
F
8. Bei langweiligen Meetings, Vorlesungen oder in warmen Räumen schlafe ich häufig ein.
F
F
9. Nach üppigen Mahlzeiten oder geringen Mengen Alkohol neige ich dazu einzuschlafen.
F
F
10. Oft schlafe ich ein, wenn ich mich abends nach dem Essen entspanne.
F
F
11. Häufig schlafe ich innerhalb der ersten 5 Minuten ein, nachdem ich zu Bett gegangen bin.
F
F
12. Beim Autofahren fühle ich mich häufig müde.
F
F
13. Am Wochenende schlafe ich morgens ein paar Stunden länger.
F
F
14. Tagsüber brauche ich oft einen kurzen Mittagsschlaf, um über die Runden zu kommen.
F
F
15. Ich habe dunkle Augenringe.
Sollten Sie 3 oder mehr Fragen mit »Stimmt« beantwortet haben, schlafen Sie wahrscheinlich zu wenig. Um Ihrem Schlafbedürfnis gerecht zu werden, empfiehlt Maas, dass Sie in der kommenden Woche 15 Minuten früher als normal zu Bett gehen. In der nächsten Woche verlängern Sie Ihre Schlafzeit wiederum um 15 Minuten und so weiter, bis Sie ohne Wecker aufwachen und sich den ganzen Tag über aufnahmebereit und wach fühlen. (Aus Maas 1999)
In den ersten paar Tagen schliefen die Versuchspersonen beider Untersuchungen pro Tag 12 Stunden und mehr. Offenbar glichen sie dadurch ein Schlafdefizit von 25–30 Stunden Schlaf wieder aus. Als das erledigt war, pendelte sich ihr Schlafbedürfnis bei 7,5–9 Stunden pro Nacht ein, und frei von jeglichem Schlafdefizit fühlten sie sich fitter und zufriedener. »Für mich bedeutet das, dass Millionen von Menschen ihr Leben nicht optimal gestalten und ihr Potenzial nicht ausschöpfen, weil sie ein Schlafdefizit mit sich herumtragen, dessen sie sich nicht einmal bewusst sind«, gab Dement (1999) zu bedenken. Kahneman et al. (2004) baten 909 berufstätige Frauen darum, täglich anzugeben, in welcher Stimmung sie sich befanden. Die Forscher waren erstaunt darüber, welche Faktoren für die Stimmung weniger wichtig waren, wie etwa das Geld (solange sie nicht mit Armut zu kämpfen hatten) und Arbeitsplatzsicherheit, und welche sehr wichtig waren: weniger Zeitdruck am Arbeitsplatz und guter Schlaf. Bei einer Gallup-Umfrage (Mason 2005) berichteten 63% der Erwachsenen, die ihren Angaben nach genügend Schlaf bekamen, dass sie mit ihrem persönlichen Leben »sehr zufrieden« seien (wie dies nur bei 36% derjenigen der Fall war, die eigentlich mehr Schlaf gebraucht hätten). Um die Schäden des Schlafentzugs zu veranschaulichen, zog Coren (1996) einen Nutzen aus etwas, was für viele Nordamerikaner ein alle 6 Monate stattfindendes Schlafmanipulationsexperiment ist: die alljährlich in Frühjahr und Herbst durchgeführte Zeitumstellung. Er wertete Millio-
305 7.2 · Schlaf und Träume
. Abb. 7.8. Autounfälle in Kanada 1991 und 1992 An den Montagen nach der Umstellung der Uhr auf Sommerzeit (als die Menschen 1 h weniger schliefen) kam es zu mehr Autounfällen als am Montag vorher. Im Herbst gibt es wegen Schnee, Glätte und Dunkelheit mehr Unfälle, aber nach der Zeitumstellung werden es wieder weniger. (Nach Coren 1996)
nen von Aufzeichnungen aus und stellte fest, dass das Unfallrisiko sowohl in den USA als auch in Kanada nach der verkürzten Nacht der Umstellung auf Sommerzeit anstieg. In Kanada beispielsweise war die Zahl der Verkehrsunfälle 1991 und 1992 an den Montagen nach der Zeitumstellung im Frühjahr um 7% höher als an dem Montag der vorangegangenen Woche; nach der verlängerten Nacht bei der Zeitumstellung im Herbst war die Unfallhäufigkeit um 7% niedriger (. Abb. 7.8). Vergleichbare Effekte waren für die USA zu beobachten, allerdings im Frühjahr stärker als im Herbst. Coren (1996) vermutet, dass wir im Frühjahr mehr Schlaf verlieren, als wir im Herbst hinzugewinnen. Experimente zum Schlafentzug erbrachten verlangsamte Reaktionszeiten und mehr Fehler bei visuellen Aufgaben vergleichbar mit jenen, wie sie sich bei der Überprüfung des Gepäcks auf einem Flughafen, beim Ausführen einer Operation und bei der Bewertung von Röntgenbildern stellen (Horowitz et al. 2003). Und Schlafentzug kann verheerende Konsequenzen für den Straßenverkehr und die Luftfahrt haben. Ungefähr 30% der Unfälle mit Todesopfern in Australien sind darauf zurückzuführen, dass die Fahrer auf langen monotonen Strecken einschlafen (Maas 1999). Der Anteil der durch Müdigkeit verursachten Verkehrsunfälle wird entsprechend in den USA auf ca. 20% geschätzt (Brody 2002). Für Deutschland fanden ten Thoren u. Gundel (2003) heraus, dass 18,5% der selbst verschuldeten Unfälle im Stadtbereich auf Müdigkeit zurückgehen. »Pause. Was ich brauche ist eine Pause«, teilte Kapitän James Reeves von den Eastern Airlines dem Kontrollturm über Funk mit, 30 Minuten vor dem Absturz aus geringer Höhe, der für die Crew und alle 68 Passagiere den Tod bedeutete (Moorcroft 1993). Denken Sie auch an die Tankerkatastrophe der Exxon Valdez 1989, das Desaster bei Union Carbid in Bhopal (Indien) 1984, an die Reaktorunfälle auf Three Mile Island 1979 und in Tschernobyl 1986: Alle ereigneten sich nach Mitternacht, also zu einem Zeitpunkt, als die Müdigkeit der verantwortlichen Diensthabenden wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht hatte. Unter akutem Schlafmangel leidend ignorierte der Steuermann der Exxon Valdez mehrere eindeutige Signale, die ihn aufforderten, sein Schiff wieder zurück in die Fahrrinne zu bringen. ! Ermüdungserscheinungen aufgrund von Schlafdefizit stellen ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die Verkehrssicherheit dar.
Schlafmangel beeinflusst uns auch in subtilerer Weise, und dazu gehört die Schwächung der körpereigenen Immunabwehr (Beardsley 1996; Irwin et al. 1994). Ein Mangel an Schlaf führt zu einer Unterdrückung der Produktion von Immunzellen, die Virusinfektionen und Krebs bekämpfen,
»Schläfrigkeit bedeutet höchste Alarmstufe!« William Dement, »The Promise of Sleep« (1999)
7
306
Kapitel 7 · Bewusstsein
weshalb Menschen, die jede Nacht 7–8 Stunden schlafen, im Durchschnitt auch länger leben als jene, die chronisch unter Schlafmangel leiden, und weshalb ältere Erwachsene, die keine Einschlafund Durchschlafprobleme haben, in der Regel länger leben (Dement 1999; Dew et al. 2003). Üblicherweise schlafen wir auch länger, wenn eine Infektion ausbricht, und unterstützen dadurch unser Immunsystem. Chronischer Schlafentzug führt dazu, dass sich sowohl der Stoffwechsel als auch der Hormonspiegel so verändern, wie es normalerweise beim Älterwerden der Fall ist; zudem führt Schlafmangel zu Übergewicht, Bluthochdruck und Gedächtnisproblemen (Spiegel et al. 1999; Taheri 2004). Zu den weiteren Auswirkungen gehören Reizbarkeit, Verringerung des Arbeitstempos sowie verminderte Kreativität, Konzentration und Kommunikationsfähigkeit (Harrison u. Horne 2000). Wenn übermüdete Frontallappen mit einer unerwarteten Situation konfrontiert werden, sind oft Fehlleistungen und Versäumnisse die Folge.
Schlaftheorien Ziel 7: Nennen Sie 4 Theorien, die erklären, warum wir schlafen. »Schlaf schneller, wir brauchen die Kissen!« Jüdisches Sprichwort
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Die Natur stellt uns also unser Schlafdefizit in Rechnung. Aber warum haben wir eigentlich dieses Bedürfnis nach Schlaf? Bis heute haben wir darauf nur wenig konkrete Antworten, doch es wurden 4 mögliche Erklärungsansätze für die Entwicklung des Schlafbedürfnisses gefunden: 4 Schlaf hat eine schützende Funktion. Wenn das Einbrechen der Dunkelheit dem Jagen und Sammeln unserer Vorfahren tagtäglich ein natürliches Ende bereitete und das Umherziehen in der Dämmerung zunehmend von Gefahren begleitet war, waren sie in einer Höhle schlafend besser und sicherer aufgehoben. Diejenigen unserer entfernten Vorfahren, die nicht versucht haben, sich mitten in der Nacht um Felsen und Klippen herum zu bewegen, hatten größere Chancen, Nachkommen zu hinterlassen. Unsere Schlafgewohnheiten entsprechen unserer ökologischen Nische. Tiere, die darauf angewiesen sind, viel Zeit mit Grasen zu verbringen, und solche, die sich nicht gut verbergen können, schlafen am wenigsten. Elefanten und Pferde schlafen 3–4 Stunden täglich, Gorillas 12 und Katzen 14 Stunden. Für Fledermäuse und Streifenhörnchen, die beide 20 Stunden täglich schlafend verbringen, besteht das Leben aus wenig mehr als aus Fressen und Schlafen (Moorcroft 2003). 4 Schlaf dient der Erholung. Er trägt zur Wiederherstellung und Erholung des Gehirngewebes bei. Fledermäuse und andere Tiere mit einer starken Stoffwechselaktivität im Wachzustand verbrennen sehr viele Kalorien und produzieren sehr viele Moleküle, die als freie Radikale bezeichnet werden und Gift für die Nervenzellen sind. Wenn man viel schläft, verschafft man ruhenden Nervenzellen die Zeit, sich selbst zu reparieren, während man gleichzeitig ungenutzten Verbindungen die Möglichkeit gibt, schwächer zu werden (Siegel 2003). Stellen Sie sich das so vor: Wenn das Bewusstsein das Haus verlässt, kommen die Handwerker, um alles zu renovieren. 4 Schlaf ist wichtig für das Gedächtnis. Schlaf ist nicht nur wichtig, damit wir sicher leben und unser Gehirn repariert wird, sondern auch für unser Gedächtnis. Neuere Befunde zeigen, dass im Schlaf unsere verblassenden Erinnerungen an die Erlebnisse während des Tages wiederhergestellt und neu aufgebaut werden. Menschen, denen man beigebracht hatte, eine Aufgabe auszuführen, konnten sich, wenn sie eine Nacht geschlafen hatten, besser daran erinnern, als wenn sie mehrere Stunden wach blieben (Fenn et al. 2003). Und sowohl bei Menschen als auch bei Ratten setzt die neuronale Aktivität während des Schlafs mit langsamen EEG-Wellen wieder ein und fördert die Erinnerung an zuvor neuartige Erlebnisse (Peigneux et al. 2004; Ribeiro et al. 2004). Schlaf ist auch eine gute Voraussetzung für kreatives Denken. Nachdem sie an einer Aufgabe gearbeitet und dann danach geschlafen haben, lösen Menschen Probleme einsichtiger als jene, die wach geblieben sind (Wagner et al. 2004). 4 Schlaf könnte eine Rolle beim Wachstumsprozess spielen. Während der Tiefschlafstadien schüttet die Schilddrüse ein Wachstumshormon aus. Mit zunehmendem Alter verringert sich die Ausschüttung dieses Hormons, und die Menschen verbringen weniger Zeit im Tiefschlaf (Pekkanen 1982). Diese physiologischen Erkenntnisse tragen dazu bei, das noch immer bestehende Rätsel um den Schlaf lösen zu können.
307 7.2 · Schlaf und Träume
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7.2.4 Schlafstörungen Ziel 8: Nennen Sie die wichtigsten Schlafstörungen.
Unabhängig von ihrem individuellen Bedürfnis nach Schlaf klagen 10–15% der erwachsenen Bevölkerung über Insomnie – anhaltende Einschlaf- oder Durchschlafprobleme. Echte Insomnie unterscheidet sich von den gelegentlich vorkommenden Schlafproblemen, die wir in Stresssituationen oder bei Aufregung erleben. Für jeden Organismus ist es natürlich und nützlich, in Stresssituationen wachsam zu sein. Auf einen am Tag erlebten persönlichen Konflikt folgt oft eine unruhige Nacht (Brisette u. Cohen 2000). Außerdem schlafen wir ab der Mitte unseres Lebens selten ohne Unterbrechung. Gelegentlich aufzuwachen ist durchaus normal und kein Grund, sich Sorgen zu machen oder auf Medikamente zurückzugreifen. Manche Menschen machen sich unnötige Sorgen um ihren Schlaf (Coren 1996). In Laborstudien schliefen Menschen, die über Insomnie klagten, zwar weniger als beschwerdefreie Personen, schätzten aber in der Regel die Zeit, die sie zum Einschlafen benötigten, doppelt so hoch ein, als sie tatsächlich war. Gleichzeitig unterschätzten sie die schlafend verbrachte Zeitspanne um ungefähr 50%. Auch wenn wir nur 1 oder 2 Stunden wach gelegen haben, kann es uns so vorkommen, als ob wir nur sehr wenig geschlafen hätten, weil es die wach verbrachte Zeit ist, an die wir uns am nächsten Tag erinnern. Wecken Forscher dagegen Versuchspersonen eine Nacht lang regelmäßig auf, berichten einige, nachdem sie schnell wieder eingeschlafen waren, trotzdem gut geschlafen zu haben.
Insomnie (insomnia): wiederholt auftretende Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten
»Der Löwe und das Lamm werden sich gemeinsam zur Ruhe legen, doch das Lamm wird nicht besonders schläfrig sein.« Woody Allen im Film »Die letzte Nacht des Boris Gruschenko« (1975)
! Schlaftabletten und Alkohol, die am häufigsten eingesetzten Mittel, mit denen Betroffene versuchen, sich bei Schlafstörungen selbst zu helfen, können die Problematik noch weiter verschärfen.
Seltener, aber auch wesentlich problematischer sind Schlafstörungen wie Narkolepsie und das Schlafapnoesyndrom. Menschen, die an Narkolepsie leiden (griech. »narke« = Erstarrung, Läh-
»1757 schenkte uns Benjamin Franklin das Axiom: ›Gehst früh zu Bett und früh hinaus, verlassen Gesundheit, Reichtum und Weisheit nie dein Haus‹. Aber eigentlich müsste es heißen: ›Gehst zur gleichen Zeit zu Bett und zur gleichen Zeit hinaus, . . . ‹« James B. Maas (»Power Sleep«, 1999)
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Schlaftabletten und Alkohol reduzieren den Anteil an REM-Schlaf und können dazu führen, dass man sich am nächsten Tag frustriert und unausgeglichen fühlt. Verlässt man sich einmal auf solche Hilfsmittel, muss man immer höhere Dosen einnehmen. Kommt es dann zu einer Unterbrechung der Medikamenteneinnahme, kann sich die Insomnie verschärfen. Wissenschaftler forschen nach natürlichen Substanzen, die im schlafenden Organismus in höheren Konzentrationen vorkommen, und hoffen, diese als nebenwirkungsfreie Schlafmittel synthetisieren zu können. Bis es soweit ist, raten Schlafexperten zu anderen natürlichen Alternativen: 4 Entspannen Sie sich vor dem Zubettgehen, dämpfen Sie das Licht. 4 Vermeiden Sie Koffein (auch Schokolade) am späten Nachmittag sowie reichhaltiges Essen vor dem Einschlafen. Ein Glas Milch kann nützlich sein (Milch liefert Stoffe für die Produktion von Serotonin, einem schlaffördernden Neurotransmitter). 4 Schlafen Sie zu regelmäßigen Zeiten (stehen Sie nach Möglichkeit auch nach Nächten, in denen Sie wenig zur Ruhe gekommen sind, zur selben Zeit auf wie an anderen Tagen) und vermeiden Sie das kurze Schläfchen zwischendurch. Ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Zyklus erhöht auch die Aufmerksamkeit am Tage, wie in einem Experiment an der Universität von Arizona nachgewiesen wurde. Die an der Studie teilnehmenden Studierenden schliefen durchschnittlich 7,5 Stunden pro Nacht, eine Gruppe immer zu den selben Zeiten, die andere dagegen unregelmäßig (Manber et al. 1996). 4 Treiben Sie regelmäßig Sport, allerdings nicht spät abends (am besten geeignet ist der späte Nachmittag). 4 Machen Sie sich bewusst, dass durch einen vorübergehenden Schlafmangel keine wesentlichen Schäden verursacht werden, zumindest keine, die es wert wären, sich von ihnen um den Schlaf bringen zu lassen. »Schlaf gleicht der Liebe oder dem Glück«, bemerkt Webb (1992). »Wenn Sie sich allzu sehr darum bemühen, wird er Ihnen durch die Finger gleiten.« 4 Drehen Sie den Wecker um, damit Sie nicht versucht sind, wiederholt nach der Uhrzeit zu sehen. 4 Falls das alles nicht funktioniert, stellen Sie sich auf weniger Schlaf ein: Gehen Sie später zu Bett oder stehen Sie früher auf.
Stress raubt Schlaf Polizeibeamte schlafen nach eigenen Angaben schlechter und weniger als der Durchschnitt der Bevölkerung, vor allem wenn sie unter Stress stehen. (Neylan et al. 2002)
Narkolepsie (narcolepsy): Schlafstörung, die durch unkontrollierbare Schlafattacken gekennzeichnet ist. Betroffene Personen fallen unter Umständen direkt in REM-Schlafstadien, oft zu den unpassendsten Gelegenheiten.
Kapitel 7 · Bewusstsein
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War Brahms auf seine eigenen Wiegenlieder angewiesen? Der reizbare und übergewichtige Johannes Brahms, der gerne ein Nickerchen machte, zeigte einige der für Apnoe typischen Symptome (Margolis 2000).
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden im Mittelalter einen Menschen beobachten, der an Narkolepsie leidet. Wäre es nicht denkbar, dass seine Symptome und die damit einhergehenden Halluzinationen als Zeichen dafür interpretiert worden wären, er sei von einem Dämon besessen? Schlafapnoesyndrom (sleep apnea): Schlafstörung, die durch ein gelegentliches Aussetzen der Atmung während des Schlafes und das anschließende kurze Erwachen gekennzeichnet ist.
Pavor nocturnus (night terrors): hohes Erregungsniveau und ein Gefühl starker Angst sind typisch für diese Schlafstörung. Im Gegensatz zu Albträumen treten diese Phasen nächtlicher Panik im Schlafstadium 4 innerhalb der ersten 2–3 Stunden des Schlafes auf; in der Regel können sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht daran erinnern.
mung, »lepsis« = annehmen, empfangen; zusammengefasst: von Schläfrigkeit ergriffen), werden periodisch von Phasen überwältigender Müdigkeit heimgesucht. Diese sind zwar nur von kurzer Dauer, in der Regel weniger als 5 Minuten, können aber zu den unpassendsten Gelegenheiten auftreten, beispielsweise direkt nach einem großartigen Schlag beim Softball oder während sie gerade lachen oder auch während des Geschlechtsverkehrs (Dement 1978, 1999). In besonders schweren Fällen können Betroffene direkt in kurze REM-Perioden abgleiten, einschließlich des typischen Verlusts an Muskelspannung. Narkoleptiker müssen ihr Leben mit einer Extraportion an Vorsicht führen. Nach Schätzung des Stanford University Center for Narcolepsy (2000) trifft die Erkrankung ungefähr 1 von 2000 Menschen. Als Risiko im Straßenverkehr gilt besonders die Übermüdung nach Alkoholgenuss, worauf die American Sleep Disorder Association hinweist, wobei Narkoleptiker zu der am stärksten betroffenen Risikogruppe gehören (Aldrich 1989). Seltsamerweise fand man bei Studien in Kanada, Frankreich und in den Vereinigten Staaten heraus, dass Babys, die im September geboren werden, mit 37% ein unterdurchschnittliches Risiko für Narkolepsie haben im Vergleich zu Babys (45%), die im März geboren werden (Dauvilliers et al. 2003; Picchioni et al. 2004). Vielleicht, so spekulieren die Forscher, hängt das Risiko für die im März geborenen Babys mit den saisonal bedingten Erkältungen und Grippen im Herbst zusammen, zu denen es während des kritischen zweiten Drittels der fötalen Entwicklung kommt. Vor einigen Jahren entdeckten Forscher ein Gen, das Narkolepsie bei Hunden verursacht (Lin et al. 1999; Taheri, 2004). Die Gene spielen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung des Gehirns, und Neurowissenschaftler sind auf der Suche nach Anomalien des Gehirns, die mit Narkolepsie in Zusammenhang gebracht werden können. Ein Forscherteam entdeckte das teilweise Fehlen eines neuronalen Zentrums im Hypothalamus, das Hypocretin, einen wach machenden Neurotransmitter, produziert (Taheri et al. 2002; Thannickal et al. 2000). Mittlerweile steht fest, dass Narkolepsie eine Erkrankung des Gehirns ist; sie liegt nicht einfach irgendwie »in der Psyche«. Das weckt die Hoffnung, dass es einmal möglich sein wird, Narkolepsie durch einen Wirkstoff zu heilen, der das fehlende Hypocretin imitiert (Siegel 2000). Eine weitere Schlafstörung – das Schlafapnoesyndrom – sorgt dafür, dass Millionen von Menschen (hauptsächlich übergewichtigen Männern) tagsüber müde und bisweilen leicht reizbar sind; wie diejenigen, die unter Narkolepsie leiden, haben sie ein erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle (TeranSantos et al. 1999). Das amerikanische National Institute of Health berichtet, dass 1 von 20 Menschen am Schlafapnoesyndrom leidet – einer Störung, die vor der modernen Schlafforschung nicht bekannt war. Die Betroffenen hören während des Schlafens kurzzeitig auf zu atmen (griech. »apnoia« = Atemlosigkeit). Nach ungefähr 1 Minute ohne Atmung wacht der Schläfer aufgrund des gesunkenen Sauerstoffgehalts im Blut auf und schnappt einige Sekunden lang schnarchend nach Luft. Dieser Prozess kann sich im Laufe der Nacht bis zu 400-mal wiederholen, wodurch gleichzeitig ein Mangel an niederwelligen Schlafphasen eintritt. Abgesehen von Klagen über Müdigkeit und Reizbarkeit – und den Beschwerden der Zimmergenossen über das laute Schnarchen – sind sich Apnoekranke ihres Leidens oft nicht bewusst. Am nächsten Morgen können sie sich nicht daran erinnern. Mit der steigenden Zahl von Fettleibigen in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland, steigt auch die Zahl der Apnoepatienten. Jeder, der nachts schnarcht, sich tagsüber müde fühlt und evtl. auch noch einen erhöhten Blutdruck hat (was das Risiko für einen Hirnschlag oder einen Herzanfall größer werden lässt), sollte auf Apnoe untersucht werden (Dement 1999). In schweren Fällen verordnen Ärzte dem Schläfer ein maskenartiges Gerät mit einer Luftpumpe, die den Atemweg offen hält und regelmäßiges Atmen gestattet. Wenn es einem nichts ausmacht, im Dunkeln ein bisschen doof auszusehen (stellen Sie sich einmal einen Schnorchler auf einer Nachthemdparty vor), handelt es sich in den meisten Fällen um eine effektive Behandlung. Im Gegensatz zum Schlafapnoesyndrom sind die Opfer von Pavor nocturnus meist Kinder, die beispielsweise nachts im Bett sitzen oder aufstehen, zusammenhangslos vor sich hin sprechen und zutiefst erschreckt wirken. Ihr Herzschlag und ihre Atemfrequenz haben sich verdoppelt (Hartmann 1981). Dabei wachen sie selten richtig auf und erinnern sich am nächsten Morgen nur vage oder überhaupt nicht; es bleibt höchstens ein flüchtiges, beängstigendes Nach-
309 7.2 · Schlaf und Träume
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. Abb. 7.9. Pavor nocturnus und Albträume Die »nächtliche Panik« ereignet sich in den ersten 2 oder 3 Stunden nach dem Einschlafen im 4. Stadium des Schlafzyklus. Albträume treten in den frühen Morgenstunden während des REM-Schlafes auf. (Aus Hartmann 1984)
bild zurück. Pavor nocturnus ist nicht verwandt mit Albträumen (die wie andere Träume auch überwiegend in den REM-Phasen der frühen Morgenstunden stattfinden). Pavor nocturnus ereignet sich in der Regel während der ersten Stunden im 4. Stadium des Schlafzyklus (. Abb. 7.9). Kinder sind auch am anfälligsten für Schlafwandeln und Sprechen im Schlaf, beides Phänomene, die innerhalb der Familie vererbt werden. Finnische Zwillingsstudien zeigen, dass ein zweieiiger Zwilling mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% schlafwandelt, wenn die Schwester oder der Bruder das auch tut. Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich bei eineiigen Zwillingen auf ca. 50%. Entsprechendes gilt für das Sprechen im Schlaf (Hublin et al. 1997, 1998). Schlafwandeln ist normalerweise ein harmloses Phänomen, an das sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht erinnern. Schlafwandler kehren in der Regel von allein in ihr Bett zurück oder werden von einem Familienmitglied zurückbegleitet. Am häufigsten sind junge Kinder von Schlafwandeln und Pavor nocturnus betroffen, da sie durchschnittlich den am stärksten ausgeprägten Anteil an Tiefschlafphasen im 4. Stadium des Schlafzyklus haben. Während wir älter werden und der Anteil an Tiefschlafphasen geringer wird, verschwinden auch die Phänomene Pavor nocturnus und Schlafwandeln. Im Alter von über 40 Jahren kommt Schlafwandeln sehr selten vor.
7.2.5 Träume Die Entdeckung des Zusammenhangs von REM-Schlaf und dem Träumen öffnete die Tür für eine neue Ära der Traumforschung. Im Gegensatz zu den vagen Traumberichten eines Menschen, Stunden oder Tage nachdem er geträumt hatte, waren Forscher jetzt in der Lage, Träume direkt zum Zeitpunkt des Geschehens zu beobachten. Sie konnten einen Schläfer während des REMSchlafs aufwecken oder innerhalb eines Zeitraums von 3 Minuten danach und sich dessen lebhaften Bericht anhören.
Was träumen wir? Ziel 9: Beschreiben Sie den am häufigsten auftretenden Inhalt von Träumen.
REM-Träume – »Halluzinationen des schlafenden Geistes« – sind lebhaft, emotional gefärbt und auch bizarr. Sie ähneln den Tagträumen nicht, zu denen in der Regel vertraute Details unseres Lebens gehören: Vielleicht stellt man sich ein alternatives Vorgehen für etwas vor, was man machen
»Ich glaube nicht, dass ich jetzt gerade träume, aber ich kann es auch nicht beweisen.« Der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970)
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Kapitel 7 · Bewusstsein
Traum (dream): Abfolge von Bildern, Emotionen und Gedanken, die sich im Geist eines Schläfers abspielt. Bemerkenswert an Träumen sind die halluzinationsartigen Bilder, die Wandelbarkeit und Inkongruenz des Traumgeschehens sowie die beinahe wahnhafte Bereitschaft des Träumenden, das Traumgeschehen und den inhaltlich oft nicht nachvollziehbaren Zusammenhang des Erlebten zu akzeptieren.
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Ein verbreiteter Mythos zum Thema Schlaf: Wenn Sie träumen, Sie fielen und würden auf den Boden aufprallen (oder wenn Sie träumen, Sie würden sterben), sterben Sie. (Leider stehen uns die Menschen, die diese Vorstellung bestätigen könnten, nicht mehr zur Verfügung, um sie befragen zu können. Einige Menschen jedoch haben solche Träume gehabt, sind noch am Leben und können darüber berichten.
Manifester Trauminhalt (manifest content): nach Freud die erinnerte Handlung eines Traums (im Unterschied zu seinem latenten Inhalt).
»Wobei du am Tag verweiltest, das wird dir folgen in die Nacht.« Menander von Athen (342–292 v. Chr., »Fragmente«)
muss, malt sich aus, wie man selbst einem Dozenten erklärt, warum man mit einer Hausarbeit spät dran ist, oder man spielt vor seinem geistigen Auge noch einmal Begegnungen durch, an denen man Gefallen gefunden hat oder die man bedauert. Träume während des REM-Schlafs wirken derart lebendig, dass wir sie unter Umständen mit der Realität verwechseln. Aus einem Albtraum erwachend kann ein 4-Jähriger klagend von einem Bären erzählen, der im Haus sein Unwesen treibt. Gelegentlich fragen wir uns während eines Traumes aber auch, ob wir gerade träumen. Während solch luzider Träume sind manche Menschen imstande, ihren momentanen Bewusstseinszustand zu überprüfen. Wenn sie gerade irgendwelche abwegigen Tätigkeiten ausführen, beispielsweise durch die Luft schweben, sind sie sich gleichzeitig bewusst, dass sie gerade träumen. Würden Sie annehmen, dass Menschen, die von Geburt an blind sind, träumen? Bei Studien mit Blinden in Frankreich, Ungarn, Ägypten und den USA fand man übereinstimmend heraus, dass sie träumten und dabei ihre nonvisuellen Sinne nutzten: Hören, Tasten, Riechen, Schmecken (Buquet 1988; Taha 1972; Vekassy 1977). Doch selbst Menschen mit angeborener Blindheit können in Träumen visuelle Bilder erleben (Bértolo et al. 2003). Wir verbringen ungefähr 6 Jahre unseres Lebens in Träumen, manche davon sind allerdings alles andere als angenehm. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern sind 8 von 10 Träumen von negativen Emotionen belastet (Domhoff 1999). Menschen träumen häufig davon, wiederholt vergeblich zu versuchen, etwas zu tun; sie träumen davon, angegriffen, verfolgt oder zurückgewiesen zu werden, aber auch davon, Unglücksfälle zu erleben (Hall et al. 1982). Werden Testschläfer aus dem REMSchlaf geweckt, berichten sie seltener von Träumen sexuellen Inhalts, als man vermuten könnte. Während einer Studie hatte lediglich 1 von 10 Träumen junger Männer und 1 von 30 Träumen junger Frauen einen sexuell gefärbten Inhalt (Domhoff 1996). Häufiger träumen wir von alltäglichen Begebenheiten, einem Meeting am Arbeitsplatz, einer Prüfung oder einer Begegnung mit einem Familienmitglied oder einem Freund. Rund um die Welt zeigen die Trauminhalte bei Menschen aller Altersstufen nicht erklärbare geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen träumen ebenso oft von Männern wie von Frauen, während 65% der in männlichen Träumen vorkommenden Personen Männer sind. Niemand kann mit Gewissheit sagen, warum das so ist (Hall 1984). Das Thema unserer Träume – das Sigmund Freud als manifesten Trauminhalt bezeichnete – enthält gelegentlich Spuren unserer Erfahrungen und Sorgen der vergangenen letzten Tage (De Koninck 2000): 4 Viele Menschen klagen über Albträume, nachdem sie ein Trauma erlitten haben. 4 Stickgold et al. (2000) ließen Versuchspersonen 7 Stunden lang das Computerspiel »Tetris« spielen. Anschließend weckten sie die schlafenden Teilnehmer in den ersten Stunden ihres Schlafs wiederholt auf; 75% der Personen berichteten, Bilder von den im Spiel herabfallenden Bausteinen vor Augen gehabt zu haben. 4 Menschen aus Jäger- und Sammlergemeinschaften träumen oft von Tieren; in Städten lebende Japaner dagegen fast nie (Mestel 1997). Die sensorischen Reize in der Umgebung unseres Schlafplatzes können ebenfalls Einfluss auf Trauminhalte haben. Ein bestimmter Geruch oder das Klingeln eines Telefons werden manchmal unmittelbar in das Traumgeschehen integriert. Dement u. Wolpert (1958) bespritzten in einem klassischen Experiment die Gesichter der träumenden Versuchsteilnehmer mit kaltem Wasser. Im Vergleich zu anderen Versuchspersonen, denen diese Prozedur erspart blieb, hatte deren Traumgeschehen häufiger mit Wasser zu tun: Sie träumten von einem Wasserfall, von einem undichten Dach oder sogar davon, bespritzt zu werden. ! Auch während der REM-Phasen ist ein Rest unserer Aufmerksamkeit auf das Geschehen in unserer Umwelt gerichtet, was dazu führen kann, dass bestimmte Umgebungsreize in unsere Trauminhalte integriert werden.
Wäre es also möglich, eine Sprache im Schlaf zu lernen, indem wir entsprechende Kassetten anhören? Wenn es nur so einfach wäre! Während des Schlafes sind wir in der Lage, eine Assoziation zwischen einem Klang und einem schwachen elektrischen Schock herzustellen (und auf den Klang entsprechend zu reagieren). Allerdings können wir uns nicht an die Tonbandinformationen erinnern, die abgespielt werden, während wir tief schlafen (Eich 1990; Wyatt u. Bootzin 1994). Tatsächlich entzieht sich alles dem Gedächtnis, was während der letzten 5 Minuten vor dem Einschla-
311 7.2 · Schlaf und Träume
fen passiert (Roth et al. 1988). Das erklärt, weshalb Apnoepatienten, die nachts mehrmals laut keuchend erwachen und unmittelbar darauf wieder einschlafen, sich nicht daran erinnern können. Deshalb können wir uns morgens nicht an Träume erinnern, die uns für einen Moment zum Erwachen brachten. Wenn Sie sich an einen Traum erinnern wollen, stehen Sie auf und bleiben Sie ein paar Minuten lang wach.
Warum träumen wir? Ziel 10: Vergleichen Sie die wichtigsten Erklärungsansätze dafür, warum wir träumen.
In Traumtheorien gibt es verschiedene mögliche Erklärungen dafür, warum wir träumen. Dazu gehören die folgenden: Wunscherfüllung: In seinem bekannten und berühmten Buch »Die Traumdeutung«, das 1900
veröffentlicht wurde, sprach Freud von etwas, das er für »die wertvollste aller Entdeckungen, die ich machen durfte«, hielt. Er argumentierte, dass Träume als psychisches Sicherheitsventil wirken, indem sie es dem Träumenden ermöglichen, Gefühle auszuleben, die im gewohnten Umfeld des Alltags inakzeptabel wären. Nach Freud stellt der manifeste oder offensichtliche Inhalt eines Traumes einen zensierten, symbolhaltigen Ausdruck des latenten Trauminhaltes dar, der aus unbewussten Trieben und Wünschen besteht, die offen geäußert bedrohlich wären. Obwohl die meisten Träume keine sexuell oder erotisch gefärbten Bilder zeigen, ging Freud davon aus, dass die meisten Träume Erwachsener »durch eine analytische Betrachtung auf erotische Wünsche zurückgeführt werden können«. Somit könnte eine Pistole beispielsweise die versteckte Darstellung eines Penis sein. Freud betrachtete Träume als Schlüssel für das Verständnis innerer Konflikte. Freuds Kritiker plädieren allerdings dafür, dass es an der Zeit sei, sich von seiner Traumtheorie zu verabschieden, die nichts anderes als ein wissenschaftlicher Albtraum sei. Auf Basis der wissenschaftlichen Befunde »gibt es keinen Grund, anzunehmen, irgendeiner der spezifischen Behauptungen von Freud über Träume und die dahinter liegenden Ursachen Glauben zu schenken«, bemerkt der Traumforscher Domhoff (2000). Einige wenden ein, dass die Deutung des Symbolcharakters der Träume doch immer vom Interpreten abhinge. Andere behaupten wiederum, dass in Träumen überhaupt nichts Verborgenes zu finden sei. Ein Traum von einer Pistole bleibt ein Traum von einer Pistole. Der Legende nach sagte selbst Freud, der Zigarren liebte, einmal, dass »eine Zigarre manchmal eben nur eine Zigarre ist.« Abspeicherung von Erinnerungen. An die Stelle von Freuds Theorie der Wunscherfüllung durch Träume sind heute größtenteils andere Theorien getreten. ! Forscher, die Träume als Informationsverarbeitungsprozess betrachten, glauben, dass Träume dazu dienen, die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten, zu ordnen und im Gedächtnis zu verankern.
Seit einiger Zeit weiß man, dass die Funktion des REM-Schlafs darin besteht, die Speicherung von Gedächtnisinhalten zu erleichtern (McGrath u. Cohen 1978). In Experimenten hörten Versuchspersonen kurz vor dem Einschlafen ungewöhnliche Textphrasen oder erfuhren, an welchem Ort Bilder verborgen waren. Wurden sie anschließend zu Beginn jeder REM-Phase geweckt, erinnerten sie sich am nächsten Morgen an weniger als nach Nächten, in denen sie während anderer Schlafstadien geweckt wurden (Empson u. Clarke 1970; Karni u. Sagi 1994). Zudem stimmt es, dass die untersuchten Personen am nächsten Tag eine gelernte Aufgabe besser ausführen konnten, nachdem sich die Erinnerung nachts gefestigt hatte. Doch selbst 2 Nächte mit Erholungsschlaf erbrachten bei denjenigen, die zu wenig Schlaf mit langsamen EEGWellen oder zu wenig REM-Schlaf bekommen hatten, nicht so viel wie bei denen, die ohne Störung mit dem neu Gelernten im Kopf schlafen konnten (Stickgold et al. 2000, 2001). Weitere Untersuchungen bestätigen, dass wir unter anderem REM-Schlaf haben, um uns zu erinnern. Die Regionen des Gehirns, die aktiv sind, während eine Ratte lernt, durch ein Labyrinth zu laufen, oder während Versuchspersonen eine visuelle Diskriminationsaufgabe lernen, sind später während des REM-Schlafs erneut aktiv (Louie u. Wilson 2001; Maquet 2001). Die Aktivie-
Latenter Trauminhalt (latent content): nach Freud die verborgene Bedeutung eines Traumes (im Gegensatz zum manifesten Inhalt). Freud war davon überzeugt, dass der latente Inhalt von Träumen die Funktion eines Sicherheitsventils hat.
»Wenn Menschen einen Traum so interpretieren, als habe er eine Bedeutung und dann anderen diese Interpretation des Traums aufschwatzen, ist das Quacksalberei.« Der Schlafforscher J. Allan Hobson (1995)
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Kapitel 7 · Bewusstsein
rungsmuster stimmten so genau überein, dass die Forscher angeben konnten, an welcher Stelle im Labyrinth sich die Ratte gerade befinden würde, wenn sie wach wäre. Tiefer »Slow-Wave«-Schlaf trägt anscheinend dazu bei, unsere Erinnerungen an Erlebnisse zu festigen. Und REM-Schlaf ist hilfreich dabei, Erinnerungen in langfristiges Lernen umzuwandeln. Deshalb hat eine Nacht tiefen (und traumreichen) Schlafs anscheinend einen wichtigen Stellenwert in unserem Leben: schlafen und dann erinnern. Das ist eine interessante Neuigkeit für Schülerinnen und Schüler sowie für Studierende, findet Stickgold (2000). Viele Studierende leiden an einer Art von Schlafbulimie, d. h. mit extremen Schlafperioden am Wochenende. »Aber wenn Sie nicht gut und nicht genug schlafen, nachdem Sie neuen Stoff gelernt haben, werden Sie diesen neuen Lernstoff auch nicht effektiv in Ihr Gedächtnis integrieren«, bemerkt Stickgold. Das könnte erklären, weshalb Schüler mit guten Leistungen durchschnittlich 25 Minuten pro Nacht mehr schlafen und 40 Minuten früher zu Bett gehen als ihre Mitschüler mit schlechteren Leistungen (Wolfson u. Carskadon 1998). Zur Entwicklung und Erhaltung von Nervenbahnen. Träume könnten auch eine physiologische
Funktion haben. Vielleicht bewirken Träume – oder die damit in Zusammenhang stehende Gehirnaktivität während der REM-Phasen – eine regelmäßige Stimulation des Gehirns. Wie Sie vielleicht noch aus 7 Kap. 2 wissen, fördern und erhalten stimulierende Ereignisse die neuronale Vernetzung des Gehirns. Entwicklungsphysiologisch klingt diese Theorie einleuchtend. Bei Kleinkindern vollzieht sich die neuronale Vernetzung in ungeheurem Tempo, und der Anteil an REMPhasen ist bei ihnen besonders hoch (. Abb. 7.10).
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Um Erregungsmuster sinnvoll zu interpretieren. Andere physiologische Theorien deuten Träume
Schnelle Augenbewegungen versetzen auch die Flüssigkeit hinter der Netzhaut in Schwingung; dadurch wird frischer Sauerstoff in die Zellen der Netzhaut transportiert und deren Unterversorgung verhindert.
. Abb. 7.10. Veränderung des Schlafs im Verlauf des Lebens Wenn wir älter werden, ändern sich unsere Schlafgewohnheiten. In den ersten Lebensmonaten nimmt der Anteil an REM-Schlaf immer weiter ab. Die Gesamtschlafdauer sinkt während der ersten 20 Lebensjahre. (Aus Snyder u. Scott 1972)
als Ergebnis von Entladungen neuronaler Aktivität, die sich vom Hirnstamm aus nach oben hin ausbreiten (Antrobus 1991; Hobson 2003, 2004). Eine dieser Theorien – das Aktivation-SyntheseModell – besagt, dass diese neuronale Aktivität zufällig geschieht und die Träume ein Versuch des Gehirns sind, diese Erregungsmuster sinnvoll zu interpretieren. Wie ein Neurochirurg Halluzinationen durch die Reizung verschiedener Bereiche des Kortex eines Patienten hervorrufen kann, kann dies auch durch eine dem Gehirn entstammende Stimulation geschehen. Diese inneren Reize aktivieren Areale, die visuelle Bilder verarbeiten, aber nicht die Sehrinde, die neue Sinnesreize von den Augen empfängt. Wie Freud wohl vermutet haben würde, zeigen PET-Schichtaufnahmen schlafender Menschen während des REM-Schlafs auch eine erhöhte Aktivität in Teilen des limbischen Systems, die an der Entstehung von Emotionen beteiligt sind (speziell in der Amygdala). Dagegen scheinen die Areale des Frontallappens mit den Funktionen des logischen Denkens vor sich hinzudämmern (das könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb unsere Träume hemmungsloser agieren als wir; vgl. Maquet et al. 1996). Nehmen Sie die emotionale Einfärbung
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durch das limbische System und die visuellen Erregungsausbrüche des Gehirns, und – voilá! – wir träumen. Werden das limbische System oder die visuellen Zentren, die während des Träumens aktiv sind, geschädigt, ist die gesamte Traumaktivität beeinträchtigt (Domhoff 2003). Als Ausdruck der kognitiven Entwicklung. Einige Traumforscher lehnen sowohl Freuds Theorie
als auch das Aktivation-Synthese-Modell ab und gehen stattdessen davon aus, dass Träume eine Rolle bei der Reifung des Gehirns und der kognitiven Entwicklung spielen. Vor dem 9. Lebensjahr gleichen die Träume von Kindern beispielsweise eher einer Art Diashow mit aufeinander folgenden Bildern und weniger einer Geschichte, an der der Träumende aktiv beteiligt ist (Domhoff 2003; Foulkes 1999). Träume überlappen sich mit der Kognition im Wachzustand, merken diejenigen an, die für eine kognitive Traumtheorie eintreten. Ein Merkmal von Träumen ist kohärente Sprache. Sie bedienen sich unserer Begriffe und unseres Wissens. Und sie haben auch einige Gemeinsamkeiten mit gelegentlichen Gedankenflügen der Seele während einer Träumerei im Wachzustand. Einige Traumbilder treten sogar außerhalb der REM-Schlafphasen auf, also zu einer Zeit, in der die Aktivation durch den Hirnstamm minimal ist. In Tabelle 7.2 werden die wichtigsten Traumtheorien miteinander verglichen. In einem Punkt stimmen die Traumtheorien überein: Wir brauchen den REM-Schlaf. Menschen, denen der REM-Schlaf durch gezieltes Aufwecken entzogen wird, fallen nach dem erneuten Einschlafen immer schneller in dieses Schlafstadium. Sobald es den Versuchspersonen wieder gestattet wird, ungestört zu schlafen, schlafen sie im wahrsten Sinne des Wortes wie Babys, nämlich mit einem erhöhten REM-Schlafanteil. Dieses Phänomen wird als REM-Rebound bezeichnet. Werden Schlafmittel, die den REM-Schlaf unterdrücken, wieder abgesetzt, tritt er ebenfalls verstärkt wieder auf, allerdings häufig begleitet von Albträumen. Bei den meisten anderen Säugetieren kommen REM-Schlaf und REM-Rebound ebenfalls vor. Das Bedürfnis nach REM-Schlaf bei Tieren weist auf eine tief biologisch verwurzelte Funktion dieses Schlafstadiums hin. Die Tatsache, dass nur Säugetiere REM-Schlaf zeigen, nicht aber andere Tiergattungen (z. B. Fische), deren Verhalten weniger auf Lernen basiert, passt gut zur Informationsverarbeitungstheorie des Traums. All das erinnert uns wieder an eine zentrale Aussage:
REM-Rebound (REM rebound): Tendenz zur Verlängerung der REM-Schlafphasen nach einem REM-Schlafentzug (beispielsweise durch wiederholtes Erwachen während der REM-Phasen).
! Biologische und psychologische Erklärungsansätze sind Partner, keine Konkurrenten. . Tabelle 7.2. Traumtheorien
Theorie
Erklärung
Kritische Anmerkungen
Freuds Konzept der Wunscherfüllung
Träume liefern ein »psychisches Sicherheitsventil« – bringen ansonsten nicht akzeptierbare Gefühle zum Ausdruck; enthalten einen manifesten (erinnerten) Inhalt und eine tiefer liegende Schicht mit einem latenten Inhalt
Dafür fehlt jeglicher wissenschaftlicher Beleg; Träume können auf viele unterschiedliche Weisen gedeutet werden
Informationsverarbeitung
Träume tragen dazu bei, sich Klarheit über die Ereignisse des Tages zu verschaffen und unsere Erinnerungen zu festigen
Aber warum träumen wir manchmal über etwas, was wir gar nicht erlebt haben?
Physiologische Funktion
Eine regelmäßige Stimulierung des Gehirns durch REM-Schlaf kann dazu beitragen, dass Nervenbahnen entwickelt und erhalten werden
Das mag stimmen, aber es erklärt nicht, warum wir bedeutungsvolle Träume erleben
Aktivation-Synthese
REM-Schlaf löst eine neuronale Aktivität aus, die zufällige visuelle Erinnerungen hervorruft, die wiederum unser Gehirn zu Geschichten zusammenfügt
Das Gehirn eines Individuums fügt die Geschichten zusammen, die uns allerdings etwas über den Träumer sagen
Kognitive Theorie
Der Inhalt eines Traums bringt die kognitive Entwicklung eines Träumers zum Ausdruck – sein Wissen und sein Verständnis
Beschäftigt sich nicht mit der Neurowissenschaft der Träume
»Jene Träume, die in den stillen Nächten in uns dringen und die mit falschen und mit huschenden Gestalten unsere Seele täuschen ..., sind doch nur Ausgeburten des Gehirns. Und die Verrückten suchen nach der eitlen Deutung.« Jonathan Swift, »On Dreams« (1727)
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Kapitel 7 · Bewusstsein
Falls Träume aber nicht, wie Freud annahm, verborgene Bedeutungen haben, sondern stattdessen physiologischen Zwecken dienen und die normale Kognition erweitern, würden sie dann ihre psychologische Relevanz verlieren? Nicht unbedingt. Jede psychologisch bedeutsame Erfahrung basiert auf einem aktiven Gehirn. Tatsächlich sehen Vertreter der Traumdeutung Träume eher wie abstrakte Kunst – offen für mehr als eine Interpretation und zur Reflexion anregend.
Lernziele Abschnitt 7.2 Schlaf und Träume Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen 4 Arten biologischer Rhythmen, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür an. Unsere innere »biologische Uhr« erzeugt periodisch physiologische Schwankungen. Diese Zyklen wiederholen sich jedes Jahr (wie die saisonalen Variationen in Bezug auf Appetit und Stimmung), alle 28 Tage (wie bei der Periode von Frauen), alle 24 Stunden (wie bei den täglichen Wachzyklen) und alle 90 Minuten (wie bei den Schlafstadien des Menschen).
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Ziel 3: Beschreiben Sie den Zyklus unserer zirkadianen Rhythmik, und geben Sie einige Ereignisse an, die die biologische Uhr durcheinander bringen können. Der 24-Stunden-Zyklus des zirkadianen Rhythmus reguliert bei uns den täglichen Wechsel von Schlafen und Wachen. Dieser Zyklus ist z. T. eine Reaktion auf Licht, das auf unsere Retina fällt und dem Nucleus suprachiasmaticus im Hypothalamus signalisiert, Veränderungen im Niveau der biochemischen Substanzen auszulösen. Dazu gehört auch eine Abnahme der Freisetzung des schlaffördernden Melatonins durch die Zirbeldrüse. Zeitliche Veränderungen, lange Flüge, Veränderungen in den Schlafgewohnheiten und Konfrontation mit hellem Licht können die biologische Uhr verstellen. Ziel 4: Listen Sie die Stadien des Schlafzyklus auf, und erklären Sie, worin sie sich unterscheiden. Der Zyklus der 5 Schlafstadien beträgt jeweils etwa 90 Minuten. Wenn wir die Alphawellen des entspannten Wachzustands hinter uns gelassen haben, steigen wir ins Übergangsstadium 1 des Schlafs hinab; dies geht oft mit der Empfindung einher, zu fallen oder zu schweben. Das 2. Schlafstadium (das Stadium, in dem wir die meiste Zeit verbringen) folgt ca. 20 Minuten später mit seinen charakteristischen Schlafspindeln. Danach kommen die Stadien 3 und 4, die zusammen ca. 30 Minuten dauern, mit hohen, langsamen Deltawellen. In umgekehrter Reihenfolge gehen wir unseren Weg durch diese Stadien zurück – mit einem Unterschied: Etwa 1 Stunde, nachdem wir eingeschlafen sind, beginnen wir mit ca. 10 Minuten REM-Schlaf (von »rapid eye movements«, schnellen Augenbewegungen), in dem die meisten Träume auftreten. In diesem 5. Stadium (auch als paradoxer Schlaf bezeichnet) sind wir innerlich erregt, aber äußerlich wie gelähmt. Wenn dieser Zyklus von Hoch und Tiefs sich während des Schlafs einer normalen Nacht wiederholt, werden die Zeiten für das 4. Stadium und dann das 3. Stadium immer kürzer und der mit Träumen einhergehende REM-Schlaf wird länger.
Ziel 5: Erklären Sie, warum Schlafmuster und -dauer von Menschen unterschiedlich sind. Die meisten Menschen werden im Schnitt ca. 9 Stunden schlafen, wenn man sie so lange schlafen lässt, wie sie wollen. Aber der Schlaf ist vom Lebensalter beeinflusst – Neugeborene z. B. schlafen doppelt so viel wie Erwachsene. Die Menschen unterscheiden sich auch in ihrem individuellen Schlafbedürfnis. Zwillingsstudien deuten daraufhin, dass diese Unterschiede wahrscheinlich z. T. genetisch bedingt sind. Kulturelle Erwartungen zum »perfekten Schlaf« tragen auch dazu bei, die Schlafmenge zu bestimmen, von der wir meinen, dass sie angemessen ist. Ziel 6: Erörtern Sie mehrere Risiken im Zusammenhang mit Schlafentzug. Schlafentzug setzt die Menschen nicht nur dem Risiko aus, müde zu werden, sondern auch dem Risiko einer schwächeren Immunabwehr, einer Beeinträchtigung von Konzentration, Kreativität und Kommunikation, einer Reizbarkeit und schlechteren Leistungsfähigkeit (mit größerer Anfälligkeit für Unfälle). Chronischer Schlafentzug kann die Funktionsfähigkeit des Stoffwechsels und des Hormonsystems verändern und somit Zustände hervorrufen, die zu Fettleibigkeit, Bluthochdruck und einem schlechteren Gedächtnis beitragen. Ziel 7: Nennen Sie 4 Theorien, die erklären, warum wir schlafen. Schlaf könnte bei der Evolution des Menschen eine Schutzfunktion gehabt haben, indem er die Menschen zu Zeiten, in denen potenzielle Gefahren lauerten, in Sicherheit hielt. Schlaf gibt dem Gehirn Zeit, zu heilen, indem es geschädigte Neuronen wiederherstellt und repariert. Während des Schlafs stellen wir Erinnerungen an die Erlebnisse des Tages wieder her und bauen sie neu auf; und ein guter Nachtschlaf wirkt sich fördernd auf ein einsichtiges Lösen von Problemen am nächsten Tag aus. Schlaf fördert auch Wachstum, denn die Hypophyse setzt im 4. Schlafstadium ein Wachstumshormon frei. Ziel 8: Nennen Sie die wichtigsten Schlafstörungen. Zu den Schlafstörungen zählen die Insomnie (wiederholtes nächtliches Aufwachen), Narkolepsie (plötzliche, unkontrollierbare Müdigkeit oder sogar das unmittelbare Abgleiten in REM-Schlaf ), das Schlafapnoesyndrom (Aussetzen der Atmung während des Schlafs), Pavor nocturnus (starke Erregung und das Gefühl, erschrocken zu sein), Schlafwandeln und Sprechen im Schlaf. Das Schlafapnoesyndrom kommt vor allem bei übergewichtigen Männern vor. Kinder neigen am stärksten zu Pavor nocturnus, Schlafwandeln und Sprechen im Schlaf. 6
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7.3
Ziel 9: Beschreiben Sie den am häufigsten auftretenden Inhalt von Träumen. Wir träumen in der Regel von Alltagserfahrungen und gewöhnlichen Erlebnissen; in 80% der Fälle gehören eine Art Angst oder Missgeschick dazu. Weniger als 10% der Träume (bei Frauen noch weniger als bei Männern) haben irgendeine Art von sexuellem Inhalt. Die meisten Träume treten während des REM-Schlafs auf; Träume, zu denen es außerhalb des REM-Schlafs kommt, enthalten gewöhnlich verschwommene, flüchtige Bilder.
vorgerufen werden, die unser Gehirn zur Handlung einer Geschichte zusammenfügt. 5. Der Ansatz zu Hirnreifung und kognitiver Entwicklung beinhaltet die Vorstellung, dass Träume Ausdruck des Entwicklungsniveaus des Träumers, seines Wissens und seines Verständnisses sind. Trotz aller Differenzen stimmen die meisten Schlaftheoretiker darin überein, dass der REM-Schlaf und die dazugehörigen Träume eine wichtige Funktion haben – eine Hypothese, die durch das Phänomen des REM-Rebounds gestützt wird, der auf einen REM-Schlafentzug folgt.
Ziel 10: Vergleichen Sie die wichtigsten Erklärungsansätze dafür, warum wir träumen. 1. Freud nahm an, dass Träume ein Sicherheitsventil darstellen, weil ihr manifester Inhalt (oder die Handlung der Geschichte) eine zensierte Version des verborgenen latenten Inhalts darstellt (eine verborgene Bedeutung zur Befriedigung unserer unbewussten Wünsche). 2. Der Ansatz der Informationsverarbeitung beim Träumen besagt, dass Träume dazu beitragen, dass wir uns Klarheit über die Erlebnisse des Tages verschaffen und sie im Gedächtnis abspeichern. 3. In anderen physiologischen Theorien zum Träumen wird die Auffassung vertreten, dass die durch REM hervorgerufene Stimulierung des Gehirns hilfreich dabei ist, Nervenbahnen im Gehirn zu entwickeln und zu bewahren. 4. Die Aktivation-Synthese-Erklärung des Träumens lautet, dass der REM-Schlaf Impulse in der Sehrinde auslöst, durch die zufällige visuelle Bilder her-
> Denken Sie weiter: In einigen Ländern, beispielsweise England, beginnt der Schultag für Jugendliche um 9.00 Uhr morgens und endet um 16.00 Uhr am Nachmittag. In anderen Ländern, z. B. in Deutschland oder den USA, gehen Jugendliche bereits um 8.00 Uhr morgens oder sogar um 7.30 Uhr zur Schule. Früh aufzustehen führt nicht gerade dazu, dass Kinder intelligenter werden, behaupten Kritiker: Es macht sie schläfrig. Für ein Optimum an Aufmerksamkeit und Wohlbefinden sind Jugendliche auf ungefähr 8–9 Stunden Schlaf pro Nacht angewiesen. Sollten die Schulen also auf einen späteren Unterrichtsbeginn umstellen, auch wenn das bedeuten würde, dass mehr Busse benötigt werden oder dass auch die Anfangszeiten der Grundschulen umgestellt werden müssten? Oder wäre das unpraktisch und würde wenig dazu beitragen, das Problem der Müdigkeit bei Jugendlichen zu mildern?
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Hypnose
Ziel 11: Definieren Sie Hypnose, und geben Sie einige Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten hypnotisierter Menschen und dem motivierter, nicht hypnotisierter Menschen an. Hypnose (hypnosis): soziale Interaktion, in der eine Person (der Hypnotiseur) einer anderen (dem Hypnotisierten) suggeriert, dass bestimmte Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen spontan auftreten.
C. Styrsky
Stellen Sie sich vor, Sie werden hypnotisiert. Der Hypnotiseur bittet Sie, sich zurückzulehnen, Ihren Blick auf einen Punkt oben an der Wand zu richten und sich zu entspannen. Mit ruhiger, tiefer Stimme erteilt er seine Anweisungen: »Ihre Augen werden müde … Ihre Augenlider werden schwer … immer schwerer und schwerer … Ihre Augen fallen zu … Sie entspannen sich noch mehr … Ihre Atmung ist nun tief und gleichmäßig … Ihre Muskeln entspannen sich mehr und mehr… Ihr ganzer Körper fühlt sich bleischwer an.« Nach wenigen Minuten dieser hypnotischen Einleitung erleben Sie vielleicht Hypnose. Suggeriert der Hypnotiseur, dass »Ihre Augenlider sich so fest schließen, dass Sie sie nicht öffnen können, selbst wenn Sie wollten«, liegt es möglicherweise tatsächlich außerhalb Ihrer Kontrolle, Ihre Lider wieder zu öffnen. Werden Sie dazu aufgefordert, die Zahl 6 zu vergessen, werden Sie vielleicht verwirrt feststellen, dass Sie 11 Finger an den Händen haben. Bittet man Sie, an einem sinnlichen Parfum zu riechen, das in Wirklichkeit Ammoniak ist, verweilen Sie vielleicht erfreut bei diesem ätzenden Geruch. Wird Ihnen gesagt, dass Sie ein bestimmtes Objekt nicht sehen können, wie z. B. einen Stuhl, werden Sie tatsächlich berichten, dass er nicht da ist, obwohl Sie es schaffen, beim Hin- und Herlaufen nicht daran zu stoßen. Obwohl hypnotische Techniken schon im Altertum verwendet wurden, gebührt der Dank für ihre moderne Popularität dem österreichischen Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815), der irrtümlicherweise dachte, er habe einen »animalischen Magnetismus« entdeckt. Mit schwungvollen Bewegungen führte Mesmer Magnete über die Körper kränklicher Menschen, von denen einige daraufhin in einen tranceartigen Zustand fielen (man nannte das »mesmerisieren«), und später geheilt erwachten. Eine von Benjamin Franklin geleitete französische Kommission fand keine Beweise für einen körperlichen Magnetismus und tat Mesmers »Heilungen« als »reine Einbil-
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Kapitel 7 · Bewusstsein
. Abb. 7.11. Das »aufsehenerregende« hypnotisierte »menschliche Brett« Tatsächlich können auch nicht hypnotisierte Menschen diesen Kraftakt vollbringen
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dung« ab. Deshalb wurde die Hypnose – oder der Mesmerismus, wie sie genannt wurde – häufig mit Quacksalberei in Verbindung gebracht. Ebenso wenig verhalfen jene »Spezialisten« der Hypnose zu allgemeiner Anerkennung, die großartige Behauptungen aufstellten, wie z. B., dass hypnotisierte Menschen mit ihrem Hinterkopf sehen, die inneren Organe anderer Menschen wahrnehmen und mit den Toten kommunizieren können. Wissenschaftler stimmen heute darin überein, dass hypnotisierte Menschen nichts davon können. In Experimenten sind Stärke, Ausdauer, Lernfähigkeit und Wahrnehmung bei denjenigen, die unter Hypnose stehen, genauso ausgeprägt wie die von motivierten, nicht hypnotisierten Menschen (Druckman u. Bjork 1994). Hypnotisierte Menschen überraschen Beobachter vielleicht, indem sie ihre Arme 6 Minuten lang ausgestreckt halten, aber ohne Hypnose können Menschen solche und andere Meisterleistungen auch vorführen (. Abb. 7.11). Bevor wir uns mit der Frage auseinander setzen, ob der hypnotische Zustand tatsächlich ein veränderter Bewusstseinszustand ist, lassen Sie uns zunächst einige allgemein akzeptierte Fakten näher betrachten.
7.3.1 Fakten und Fehlinformationen Ziel 12: Erörtern Sie die charakteristischen Merkmale von Menschen, die empfänglich für Hypnose sind, und bilden Sie sich eine Meinung über Behauptungen, dass sich das Gedächtnis von Menschen, ihr Wille, ihre Gesundheit und ihre Schmerzwahrnehmung durch Hypnose beeinflussen lassen.
Menschen, die sich mit Hypnose beschäftigen, sagen, dass die Macht der Hypnose nicht beim Hypnotiseur liegt, sondern in der Empfänglichkeit der Versuchsperson für Suggestionen, ihrer Suggestibilität (Bowers 1984). Hypnotiseure haben keine magische Macht zur Gedankenkontrolle, sie fordern die Menschen vielmehr dazu auf, sich auf bestimmte Bilder oder Verhaltensweisen zu konzentrieren. Aber welche Auswirkungen hat diese Empfänglichkeit für Suggestionen?
Kann jeder hypnotisiert werden? Bis zu einem gewissen Punkt ist jeder empfänglich für Suggestionen. Wenn Menschen mit geschlossenen Augen aufrecht stehen und ihnen immer wieder gesagt wird, dass sie vor und zurück schwanken, werden die meisten tatsächlich ein wenig schwanken. Ein Schwanken der Körperhaltung ist sogar eines der Items der »Stanford Hypnotic Susceptibility Scale«, mit der die Hypnotisierbarkeit eines Menschen erfasst wird. Wer auf solche Suggestionen reagiert, ohne hypnotisiert zu sein, reagiert auch auf Hypnose (Kirsch u. Braffman 2001). Während der Hypnose wird zunächst eine kurze hypnotische Einführung gegeben und dann eine Reihe von suggerierten Erfahrungen präsentiert, von einfachen (dass sich die ausgestreckten Arme aufeinander zu bewegen), bis zu schwierigen (mit geöffneten Augen eine nicht existierende Person sehen). Die Menschen, die gut hypnotisierbar sind – etwa die 20%, die in Folge einer Suggestion den Geruch aus einer Flasche mit Ammoniak unter ihrer Nase ignorieren bzw. nicht darauf reagieren – können sich intensiv in imaginative Aktivitäten vertiefen (Barnier u. McConkey 2004; Silva u. Kirsch 1992). Typisch für sie ist ein reiches Fantasieleben, und sie lassen sich leicht von Filmaufnahmen oder Büchern absorbieren. (Möglicherweise können Sie sich daran erinnern, dass Sie wie gebannt durch einen Film in einen tranceähnlichen Zustand kamen, der Sie die Menschen und Geräusche um Sie herum vergessen ließ.) Viele Forscher bezeichnen diese »Empfänglichkeit« für
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Hypnose als hypnotische Fähigkeit, als Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit vollkommen auf eine Aufgabe zu richten, mit unserer Vorstellungskraft völlig von ihr absorbiert zu sein und uns in der Phantasie verschiedene Alternativen auszumalen. ! Jeder, der seine Aufmerksamkeit nach innen richten und sich Dinge vorstellen kann, kann auch bis zu einem gewissen Grad hypnotisiert werden, denn genau das ist Hypnose.
Und so gut wie jeder, der sich selbst für hypnotisierbar hält, kann auch hypnotisiert werden, wenn er mit einer Hypnose rechnet. Stellen Sie sich vor, dass Sie gebeten werden, auf einen hohen Punkt zu starren, und dann hören: »Ihre Augen werden müde … Ihre Augenlider werden schwer«. Bei einem solch anstrengenden Starren würde jeder bemerken, dass die Augen schwer werden. (Versuchen Sie, 30 Sekunden lang in die Höhe zu schauen!) Ein erfolgreicher Hypnotiseur bringt Sie jedoch dazu, sich Ihre schweren Augenlider mit den Fähigkeiten des Hypnotiseurs zu erklären und sich den dann folgenden Suggestionen weiter zu öffnen.
Kann man sich unter Hypnose an vergessene Ereignisse erinnern? Können hypnotische Praktiken Menschen dazu bringen, sich an Freunde aus dem Kindergarten zu erinnern? Vergessene oder verdrängte Details eines Verbrechens zu erinnern? Sollten Zeugenaussagen, die unter Hypnose gemacht wurden, bei Gericht zugelassen werden? Die meisten Menschen glauben – fälschlich, wie 7 Kap. 9 zeigen wird –, dass alle unsere Erfahrungen »da drin« sind, dass alles, was uns geschieht, in unserem Gehirn gespeichert wird und wir uns daran erinnern würden, wenn wir nur unsere eigenen Schutzbarrieren durchbrechen könnten (Loftus 1980). Bei einer Umfrage stimmten 3 von 4 Befragten fälschlicherweise darin überein, dass Hypnose den Menschen ermögliche, »genaue Erinnerungen bis hin zur eigenen Geburt wieder zu entdecken« (Johnson u. Hauck 1999). Aber nach 60 Jahren sind in der Wissenschaft derartige Behauptungen zur Altersregression weiterhin umstritten – zur angeblichen Fähigkeit, Erlebnisse aus der Kindheit erneut zu durchleben. Durch Hypnose altersregredierte Menschen handeln so, wie sie sich vorstellen, dass Kinder handeln, doch sie schießen typischerweise über das Ziel hinaus, indem sie das Verhalten von Kindern des vorgestellten Alters übertreiben (Silverman u. Retzlaff 1986). Sie fühlen sich vielleicht wie Kinder und schreiben mit der Schrift eines 6-Jährigen. Aber sie machen dabei meist keine Rechtschreibfehler; außerdem lässt sich keine Veränderung ihrer für Erwachsene typischen Gehirnwellen, Reflexe und Wahrnehmungen feststellen. Forscher haben auch herausgefunden, dass hypnotisch aufgefrischte Erinnerungen oft eine Kombination aus Fakten und Fiktionen sind. Ohne dass die Person sich bewusst ist, was da vor sich geht, können die Hinweise des Hypnotiseurs wie »Haben Sie laute Geräusche gehört?« Vorstellungen einimpfen, die zur Pseudoerinnerung der Betreffenden werden. Deshalb dürfen Zeugen, die hypnotisiert wurden, beispielsweise vor amerikanischen, britischen und deutschen Gerichten nicht aussagen (Druckman u. Bjork 1994; Gibson 1995; McConkey 1995). Schlagende Beispiele für Erinnerungen, die unter Hypnose entstanden sind, stammen von den Zehntausenden Menschen, die seit 1980 berichten, von Ufos entführt, in satanischen Kulten missbraucht oder in früheren Leben verehrt worden zu sein. Studien zeigen, dass die meisten Berichte über Ufos von Menschen stammen, die schon vorher an Außerirdische glaubten, hoch empfänglich für Hypnose sind und bereits einmal hypnotisiert wurden (Newman u. Baumeister 1996; Nickell 1996; Weiteres zur Konstruktion falscher Erinnerungen 7 Kap. 9).
»Hypnose ist kein psychologisches Wahrheitsserum. Diese Annahme hat bereits erheblichen Schaden angerichtet.« Der Forscher Kenneth Bowers (1987)
Kann Hypnose Menschen dazu zwingen, gegen ihren Willen zu handeln? Orne u. Evans (1965) demonstrierten, dass hypnotisierte Menschen dazu gebracht werden könnten, eine offensichtlich gefährliche Aufgabe durchzuführen. Die Teilnehmer folgten der Anweisung, ihre Hand kurz in eine qualmende »Säure« zu halten und dann die »Säure« ins Gesicht eines Assistenten des Wissenschaftlers zu schütten. Bei einer Befragung einen Tag später zeigten sie keinerlei Erinnerung an ihre Handlungen und bestritten nachdrücklich, fähig zu sein, den Anweisungen zu einer solchen Handlung Folge zu leisten. Hatten die Hypnotiseure durch die Hypnose solche Macht erlangt, dass sie die Personen gegen deren Willen kontrollieren konnten? Um das herauszufinden, packten Orne u. Evans den Feind so vieler Irrtümer aus: die Kontrollgruppe. Orne bat einige Versuchsteilnehmer, so zu tun, als seien
»Es ist nicht das, was ich erwartet hatte. Aber Tatsachen sind Tatsachen. Und wenn bei einer nachgewiesen wird, dass sie nicht stimmt, muss man sich dem in Demut beugen und noch einmal von Neuem anfangen.« Agatha Christies Miss Marple
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Kapitel 7 · Bewusstsein
sie hypnotisiert. Der Versuchsleiter, der nicht wusste, dass die Versuchspersonen, die in der Kontrollgruppe waren, nicht hypnotisiert waren, behandelte alle Teilnehmer gleich. Das Ergebnis? Alle nicht hypnotisierten Teilnehmer (die vielleicht glaubten, dass der Kontext des Laboratoriums ihnen Sicherheit garantierte) handelten genauso wie die hypnotisierten. Derartige Studien veranschaulichen ein Prinzip, mit dem wir uns in 7 Kap. 15 näher beschäftigen werden: Eine autoritative Person in einem glaubwürdigen Kontext schafft es, Menschen dazu zu bringen – ob sie hypnotisiert sind oder nicht –, unwahrscheinliche Handlungen zu vollbringen. Der Hypnoseforscher Spanos (1982) sagte es deutlich: »Das beobachtbare Verhalten hypnotisierter Menschen bewegt sich durchaus in normalen Grenzen.«
Kann Hypnose therapeutisch wirksam sein? Posthypnotische Suggestion (posthypnotic suggestion): Suggestion, die während einer Hypnosesitzung gegeben wird, aber erst nach Auflösung der Hypnose ausgeführt werden soll; wird von einigen Hypnotherapeuten verwendet, um unerwünschte Symptome und Verhaltensweisen besser zu kontrollieren.
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Hypnotherapeuten tun nichts Magisches. Sie versuchen nur, die Selbstheilungskräfte ihrer Patienten zu nutzen (Baker 1987). Posthypnotische Suggestionen erwiesen sich schon häufig als hilfreich, um Kopfschmerzen, Asthma und stressbedingte Hauterkrankungen zu lindern. Eine Frau, die seit mehr als 20 Jahren an offenen Wunden überall an ihrem Körper gelitten hatte, wurde darum gebeten, sich vorzustellen, in einer schimmernden, sonnendurchfluteten Flüssigkeit zu schwimmen, die ihre Haut reinigte, und dass ihre Haut sich glatt und makellos anfühlte. Innerhalb von 3 Monaten waren die Wunden verschwunden (Bowers 1984). In einer statistischen Auswertung von 18 Studien zeigte sich, dass dem durchschnittlichen Klienten, dessen Therapie durch Hypnose ergänzt wurde, besser geholfen werden konnte, als 70% der anderen Therapiepatienten (Kirsch et al. 1995, 1996). Hypnose schien besonders bei der Behandlung von Fettleibigkeit hilfreich zu sein (Nash 2001). Jedoch reagieren Drogen-, Alkoholund Nikotinabhängige nicht gut auf Hypnose. In kontrollierten Studien beschleunigt Hypnose das Verschwinden von Warzen, aber genau dasselbe geschieht auch, wenn positive Suggestionen ohne Hypnose gegeben werden (Spanos 1991, 1996).
© Joel Gordon, 1990
Kann Hypnose Schmerzen lindern?
Geburtsmethode nach Lamaze Ähnlich wie bei der Hypnose werden bei der Geburtsmethode nach Lamaze Atem- und Konzentrationstechniken verwendet, um die Aufmerksamkeit von den Schmerzen abzulenken. Frauen, bei denen diese Methode funktioniert, sind meist leicht hypnotisierbar. (Venn 1986)
Dissoziation (dissociation): Spaltung des Bewusstseins, die ermöglicht, dass bestimmte Gefühle und Gedanken gleichzeitig mit anderen auftreten.
Ja, Hypnose kann Schmerzen vermindern (Druckman u. Bjork 1994; Patterson 2004). Legen nicht hypnotisierte Menschen ihre Arme in eisiges Wasser, spüren sie nach 25 Sekunden intensive Schmerzen. Tun hypnotisierte Menschen dasselbe, nachdem ihnen suggeriert wurde, dass sie keine Schmerzen fühlen sollen, berichten sie tatsächlich, kaum Schmerzen zu haben. Wie Zahnärzte wissen, genügt schon eine leichte Hypnose, um Angst zu reduzieren, und damit auch eine Überempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Und fast 10% von uns können so tief hypnotisiert werden, dass sie sogar ohne Anästhesie operiert werden können. Bei der Hälfte der Menschen kommt es durch Hypnose zumindest zu einer Schmerzlinderung. Bei Experimenten nach einer Operation brauchten hypnotisierte Patienten aufgrund der Hemmung der auf den Schmerz bezogenen Hirnaktivität eine geringere Dosis der Medikamente, erholten sich schneller wieder und verließen das Krankenhaus früher als nicht hypnotisierte Personen aus der Kontrollgruppe (Lang et al. 2000; Patterson u. Jensen 2003). Aber wie kann das sein? Eine Theorie zur Schmerzlinderung unter Hypnose besagt, dass die Antwort in einer Dissoziation liegt, einer Aufspaltung unseres Bewusstseins in verschiedene Bereiche. Man nimmt an, dass die Hypnose die Schmerzempfindung (derer sich der Betroffene noch immer bewusst ist) von der gefühlsmäßigen Wahrnehmung trennt, die unsere Schmerzerfahrung darstellt. Das eisige Wasser fühlt sich immer noch kalt an – sehr kalt –, verursacht aber keinen Schmerz. Eine andere Theorie besagt, dass die Schmerzlinderung unter Hypnose durch eine selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeit entsteht, wie wenn ein verletzter Sportler im Wettkampf nur wenig oder keinen Schmerz spürt, bis das Spiel zu Ende ist. Diese Theorie wird durch verschiedene Studien unterstützt, die zeigen, dass die Schmerzlinderung – z. B. bei Frauen, die während einer Geburt Schmerzen haben – unter Hypnose nicht größer ist als die durch einfache Entspannung und Ablenkung (Chaves 1989; D’Eon 1989). Beide Ansichten gehen davon aus, dass die hypnotisierte Person den Schmerzreiz bis zu einem gewissen Grad wahrnimmt. Tatsächlich reagieren Menschen, die berichten, keinen Schmerz zu fühlen, auf einen Elektroschock oder auf das Messer eines Chirurgen trotzdem mit Herzklopfen. Ähnliche Unterschiede zwischen Selbstdarstellung und Verhalten treten beim Hören auf. Nach
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einer Suggestion, taub zu sein, bestreiten hypnotisierte Menschen, ihre eigene Stimme zu hören. Hören sie jedoch ihre Stimme über einen Kopfhörer mit einer Verzögerung von einer halben Sekunde, beeinträchtigt das angeblich nicht gehörte verzögerte Feedback ihre Fähigkeit, flüssig zu sprechen. Wird ihnen gesagt, dass sie farbenblind seien, erreichen hypnotisierte Menschen in Farbenblindheitstests nicht dieselben Werte wie Menschen mit tatsächlicher Farbenblindheit. Obwohl diese Personen berichten, keinen Schmerz zu empfinden, kein Geräusch zu hören bzw. keine Farben zu sehen, wurden die Reize ganz offensichtlich von den jeweiligen sensorischen Systemen wahrgenommen. PET-Schichtaufnahmen zeigen, dass die Hypnose die Hirnaktivität in einer Region verringert, die Schmerzreize verarbeitet, aber nicht im sensorischen Kortex, der den ursprünglichen sensorischen Input empfängt (Rainville et al. 1997). Die Hypnose blockiert nicht den sensorischen Input, aber unsere Aufmerksamkeit für diese Reize. Die Frage, wie Hypnose Schmerzen lindert – durch die Dissoziation des Schmerzes von unserer bewussten Wahrnehmung oder eher durch eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf andere Dinge – bleibt unbeantwortet und bringt uns zum grundlegenden Thema: Ist Hypnose ein einzigartiger psychischer Zustand?
7.3.2 Ist Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand? Ziel 13: Nennen Sie Argumente dafür und dagegen, dass die Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand ist.
Wir haben gesehen, dass man unter Hypnose empfänglicher für Suggestionen ist. Genauso haben wir gesehen, dass hypnotische Prozeduren Menschen nicht mit speziellen Kräften ausstatten können. Aber manchmal können sie einem Menschen helfen, psychologisch beeinflusste Leiden zu bewältigen, sie zu lindern oder mit den Schmerzen fertig zu werden. Was also ist Hypnose?
Einige Skeptiker sind der Meinung, dass hypnotische Phänomene ganz einfach die Arbeitsweise des normalen Bewusstseins und die Macht des sozialen Einflusses widerspiegeln könnten (Lynn et al. 1990; Spanos u. Coe 1992). In 7 Kap. 6 haben wir gesehen, wie stark unsere Interpretationen unsere normale Wahrnehmung beeinflussen können. Gerade bei Schmerzen, einem Bereich, bei dem die Effekte der Hypnose am dramatischsten zu sein scheinen, lenkt unsere Aufmerksamkeit unsere Wahrnehmungen. Niemand vertritt die Auffassung, dass Menschen bewusst so tun, als seien sie hypnotisiert. Es ist vielmehr so, dass sie wie Schauspieler, die ganz in ihrer Rolle aufgehen, anfangen zu empfinden und sich zu verhalten, wie es für die Rolle eines »guten hypnotischen Versuchsteilnehmers« angemessen wäre. Je mehr sie den Hypnotiseur mögen und ihm vertrauen, desto mehr gestatten sie dieser Person, ihre Aufmerksamkeit und ihre Fantasien zu lenken (Gfeller et al. 1987). »Die Ideen des Hypnotiseurs werden zu den Gedanken des Hypnotisierten«, erklärt Barber (2000), »und aus den Gedanken des Hypnotisierten werden seine hypnotischen Erfahrungen und Verhaltensweisen.« Wenn sie aufgefordert werden, sich später am Ohr zu kratzen, sobald sie das Wort »Psychologie« hören, werden die Versuchspersonen das nur tun, wenn sie denken, dass das Experiment immer noch andauert (und das Kratzen erwartet wird). Wird die Motivation, sich wie in Hypnose zu verhalten, von einem Versuchsleiter untergraben, z. B. indem er sagt, dass die Hypnose zeige, wie leichtgläubig sie seien, werden die Teilnehmer unwillig, weiter mitzuspielen. Aufgrund solcher Ergebnisse behaupten Vertreter der Theorie des sozialen Einflusses, dass hypnotische Phänomene nicht allein unter Hypnose entstehen. Sie führen an, dass hypnotische Phänomene, ebenso wie die Verhaltensweisen, die mit anderen angeblich veränderten Bewusstseinszuständen in Verbindung gebracht werden – wie z. B. die multiple Persönlichkeitsstörung oder das Besessensein von Geistern oder Dämonen –, eine Erweiterung des normalen sozialen Verhaltens seien (Spanos 1994, 1996). Hypnotisierte sind möglicherweise einfach Schauspieler mit hoher Vorstellungskraft, die davon eingenommen sind, die Rolle der hypnotisierten Versuchsperson zu spielen.
José Mercado/Stanford News Service
Hypnose als soziales Phänomen
Demonstration des »geheimen Beobachters« Eine hypnotisierte Versuchsperson, mit der Ernest Hilgard einen Test durchführt, zeigt keinen Schmerz, als ihr Arm in ein Becken mit Eiswasser gelegt wird. Wird sie aber gebeten, einen Knopf zu drücken, wenn ein Teil von ihr den Schmerz spürt, reagiert sie. Für Hilgard bedeutet das, dass die Hypnose das Bewusstsein in zwei Teile aufgeteilt hat; einen, der sich des Schmerzes nicht bewusst ist, und einen anderen, den »geheimen Beobachter«, der den Schmerz wahrnimmt.
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Kapitel 7 · Bewusstsein
Hypnose als geteiltes Bewusstsein
»Das vorstellbare Gesamtbewusstsein könnte aus verschiedenen Teilen bestehen, die nebeneinander existieren, sich aber gegenseitig ignorieren.« William James (»Principles of Psychology«, 1890)
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Die meisten Hypnoseforscher geben zwar zu, dass normale soziale und kognitive Prozesse bei der Hypnose eine Rolle spielen, glauben jedoch trotz allem, dass Hypnose mehr sei als nur der Versuch, »ein guter Versuchsteilnehmer zu sein«. Zum einen werden hypnotisierte Versuchspersonen manchmal suggerierte Verhaltensweisen auf einen Hinweisreiz hin ausführen, auch wenn sie meinen, niemand schaue zu (Perugini et al. 1998). Zum anderen bleiben viele Praktiker davon überzeugt, dass einige Phänomene tatsächlich einzigartig für die Hypnose sind, da sie mit einer charakteristischen Gehirnaktivität einhergehen. In einem Experiment, in dem tief hypnotisierte Personen gebeten wurden, sich eine Farbe vorzustellen, leuchteten auf den Schichtaufnahmen bestimmte Stellen ihres Gehirns auf, als sähen sie wirklich eine Farbe. Was in unhypnotisiertem Zustand nur bloße Vorstellung gewesen wäre, war – für das Gehirn der hypnotisierten Person – zu einer überzeugenden Halluzination geworden (Kosslyn et al. 2000). Für Hilgard (1986, 1992) besteht die Hypnose nicht nur aus sozialem Einfluss, sondern auch aus einem speziellen, dissoziierten (geteilten) Bewusstsein (. Abb. 7.12). Hilgard betrachtete die hypnotische Dissoziation als eine spezielle Form der normalen Bewusstseinsspaltungen. Während wir ein Kind ins Bett bringen, lesen wir ihm vielleicht zum vierzehnten Mal »Schneewittchen und die sieben Zwerge« vor und planen gleichzeitig alle anstehenden Aufgaben für den folgenden Tag. Mit etwas Übung könnten Sie eine Kurzgeschichte lesen und verstehen, während Sie ein Diktat schreiben, genauso wie Sie etwas aufs Papier kritzeln können, während Sie einer Vorlesung lauschen oder einen Satz fertig schreiben können, während Sie ein Gespräch beginnen, oder wie ein geübter Pianist zu seinem Publikum sprechen kann, während er ein bekanntes Stück spielt (Hirst et al. 1978). Obwohl die Theorie der Hypnose als geteiltes Bewusstsein umstritten ist, scheint eins klar zu sein: Sie und ich verarbeiten viele Informationen ohne vollständige Bewusstheit. Unter Hypnose und im normalen Leben wird ein großer Teil unseres Verhaltens automatisch gesteuert. Wenn hypnotisierte Menschen also die Fragen zu einem Thema schriftlich beantworten, während sie über ein anderes Thema reden oder schreiben, ist dies nur eine verstärkte Form der normalen Dissoziation von Kognition und Verhalten. Wenn Wissenschaftler heute über einen »hypnotischen Zustand« sprechen, meinen sie laut Kirsch u. Lynn (1995, 1998a, b) eher die subjektive Erfahrung, hypnotisiert zu sein, als einen einzigartigen Trancezustand. ! Unsere Informationsverarbeitung, die mit selektiver Aufmerksamkeit beginnt, ist in viele Bereiche aufgeteilt, die gleichzeitig bewusst und unbewusst wahrnehmen.
Ohne Zweifel spielt sich mehr in unserem Denken und Handeln ab, als uns bewusst ist. Aber es besteht auch kaum ein Zweifel daran, dass soziale Prozesse eine wichtige Rolle bei der Hypnose spielen. Kann zwischen den beiden Theorien – sozialer Einfluss und geteiltes Bewusstsein – vielleicht eine Brücke gebaut werden? Kihlstrom u. McConkey (1990) glauben, dass beide Ansätze einander nicht widersprechen und gemeinsam eine »vereinigte Hypnosetheorie« bilden. Hypnose
R. Schulz
. Abb. 7.12. Hypnose erklären Wie kann sie das tun? Wie kommt es, dass diese hypnotisierte junge Frau keinerlei Reaktion auf den scheußlichen Geruch von Ammoniak zeigt? Die Theorie des gespaltenen Bewusstseins und die Theorie des sozialen Einflusses bieten mögliche Erklärungen an
321 7.3 · Hypnose
. Abb. 7.13. Analyseniveaus für die Hypnose
ist ihrer Meinung nach eine Erweiterung der normalen Phänomene der sozialen Einflussnahme und der tagtäglichen Spaltung zwischen unserem bewussten Denken und unserem automatischen Verhalten. Die heutigen Hypnoseforscher gehen deshalb über die Debatte hinaus, die sich zwischen den Polen »Hypnose ist sozialer Einfluss« und »Hypnose ist geteiltes Bewusstsein« bewegt (Killeen u. Nash 2003; Woody u. McConkey 2003). Mit Hilfe verschiedener Analyseniveaus erkunden sie, wie die Hirnaktivität, die Aufmerksamkeit und soziale Einflüsse auf hypnotische Phänomene einwirken (. Abb. 7.13). Lernziele Abschnitt 7.3 Hypnose Ziel 11: Definieren Sie Hypnose, und geben Sie einige Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten hypnotisierter Menschen und dem motivierter, nicht hypnotisierter Menschen an. Psychologen stimmen heute darin überein, dass Hypnose ein Zustand erhöhter Suggestibilität ist, dem Menschen in verschiedenen Graden unterliegen können. Die Forschung deutet darauf hin, dass die Stärke, die Ausdauer, das Lernen und die Wahrnehmungsfähigkeiten hypnotisierter Menschen möglicherweise denen motivierter, nicht hypnotisierter Menschen entsprechen. Ziel 12: Erörtern Sie die charakteristischen Merkmale von Menschen, die empfänglich für Hypnose sind, und bilden Sie sich eine Meinung über Behauptungen, dass sich das Gedächtnis von Menschen, ihr Wille, ihre Gesundheit und ihre Schmerzwahrnehmung durch Hypnose beeinflussen lassen. Gut hypnotisierbare Menschen können ihre Aufmerksamkeit ganz auf eine Aufgabe konzentrieren, werden in der Vorstellung völlig von ihr absorbiert und ziehen wunderliche Möglichkeiten in Erwägung. Die Hypnose verbessert den Abruf vergessener Ereignisse nicht und kann falsche Erinnerungen auslösen. Hypnotisierte Menschen führen vielleicht wie nicht hypnotisierte Menschen unwahrscheinliche Hand-
lungen aus, wenn ihnen das von einer autoritativen Person befohlen wird. Posthypnotische Suggestionen waren hilfreich, wenn sich Menschen ihre eigenen Heilkräfte nutzbar machten, um Kopfschmerzen und andere Störungen zu lindern; aber bei der Behandlung von Suchtkrankheiten waren sie nicht wirksam. Die Hypnose kann dazu beitragen, Schmerzen entscheidend zu verringern. Ziel 13: Nennen Sie Argumente dafür und dagegen, dass die Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand ist. Die Auffassung, dass Hypnose eine Dissoziation – eine Spaltung – zwischen normalen Empfindungen und vollständiger Bewusstheit hervorruft, wird durch 3 Arten von Befunden gestützt. 1. Hypnotisierte Menschen führen möglicherweise posthypnotische Suggestionen aus, wenn niemand zusieht. 2. Schichtaufnahmen vom Gehirn hypnotisierter Menschen, die man anwies, Dinge zu sehen, die nicht vorhanden waren (wie etwa eine Farbe) zeigten eine Aktivität in Hirnarealen, die gewöhnlich nur aufleuchten, wenn wir reale Reize wahrnehmen. 3. Menschen, die man hypnotisiert, um Schmerzen zu lindern, weisen eine Aktivität in Hirnarealen auf, die sensorische Informationen erhalten, aber nicht in Arealen, die diese Informationen normalerweise verarbeiten. Diejenigen, die die Auffassung von der Hypnose als einem veränderten Be6
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Kapitel 7 · Bewusstsein
wusstsein ablehnen, glauben, dass die Hypnose ein Nebenprodukt normaler sozialer und kognitiver Prozesse ist und dass die hypnotisierte Person, ohne dass sie sich dessen bewusst ist, die Rolle eines »guten Versuchsteilnehmers« ausagiert. In einem Experiment, das diese Interpretation bestätigte, sagten die Forscher den hypnotisierten Personen, dass die Hypnose ihre Leichtgläubigkeit offenbare und dass die Versuchsteilnehmer aufhören sollten, so zu reagieren, wie man es ihnen sage. Die heutigen Forscher sind fasziniert vom Rätsel, wie die Hirnakti-
7.4
vität, die Aufmerksamkeit und soziale Einflüsse miteinander in Wechselwirkung treten und dabei hypnotische Phänomene erzeugen. > Denken Sie weiter: Zwei Beispiele für ein dissoziiertes Bewusstsein sind gleichzeitiges Sprechen und Schreiben oder das Denken an etwas anderes, wenn man einem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Können Sie sich an eine weitere Gelegenheit erinnern, bei der Sie ein dissoziiertes Bewusstsein erlebten?
Drogen und Bewusstsein
Ziel 14: Definieren Sie, was psychoaktive Substanzen sind.
Es gibt unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Hypnose das Bewusstsein tatsächlich verändern kann, doch kaum unterschiedliche Meinungen darüber, dass Drogen es können. Psychoaktive Substanzen sind chemische Stoffe, die Wahrnehmungen und Stimmungen verändern. Stellen Sie sich einen Tag im Leben eines Konsumenten von legalen Drogen vor: Er beginnt mit einem Aufwachkaffee. Bis zur Mittagszeit haben einige Zigaretten bereits die angespannten Nerven beruhigt, bevor bei einem Termin in der Praxis eines plastischen Chirurgen mit Botox-Injektionen Falten geglättet werden. Eine Schlankheitspille vor dem Abendessen verringert den Appetit, und ihre anregenden Effekte können später mit einem Glas Wein und einer Schlaftablette gemildert werden. Und wenn die Leistungsfähigkeit dann noch verbessert werden soll, gibt es Beta-Blocker für Bettakrobaten, Viagra für den Mann im besten Alter, hormonabgebende »Libidopflaster« für Frauen mittleren Alters und Amphetamine für Studierende, die hoffen, damit ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Bevor er in einen Schlaf mit künstlich unterdrückten REM-Phasen fällt, ist unser erdachter Drogenkonsument bestürzt über einen Bericht im Fernsehen über den »steigenden Drogenkonsum«.
© 1992 by Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com
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7.4.1 Abhängigkeit und Sucht Ziel 15: Erörtern Sie, was Drogenabhängigkeit im Kern ist, und nennen Sie verbreitete falsche Vorstellungen über Sucht. Psychoaktive Substanz (psychoactive drug): ein chemischer Stoff, der Wahrnehmungen und Stimmungen verändert. Toleranz (tolerance): die abnehmende Wirkung, wenn man dieselbe Dosis einer Droge regelmäßig nimmt; der Konsument muss dann immer größere Dosen nehmen, bis er die Wirkung der Droge erlebt. Entzug (withdrawal): unangenehme und quälende Folgen des Absetzens der suchterzeugenden Substanz. Physische (körperliche) Abhängigkeit (physical dependence): physisches Bedürfnis nach der Droge, gekennzeichnet durch unangenehme Entzugssymptome beim Absetzen der Droge. Psychische Abhängigkeit (psychological dependence): psychisches Verlangen nach einer Droge, um negative Gefühle zu dämpfen.
Woran liegt es, dass ein Mensch, der selten Alkohol trinkt, möglicherweise nach einer Flasche Bier beschwipst ist, ein gewohnheitsmäßiger Trinker jedoch erst beim zweiten Sixpack (. Abb. 7.14). Der regelmäßige Konsum von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen führt zur Ausbildung einer Toleranz. Beim Konsumenten entwickelt sich eine Neuroadaptation (das Gehirn passt allmählich seine Chemie an, um die Wirkung des Alkohols auszugleichen). So benötigt der Konsument mehr und mehr von der Droge, um die Wirkung zu spüren. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass das Gehirn, das Herz und die Leber eines Alkoholikers durch den exzessiven Alkoholgenuss geschädigt werden, obwohl der Begriff Alkohol-»Toleranz« ja scheinbar auf etwas ganz anderes hindeutet. Konsumenten, die aufhören, psychoaktive Stoffe zu sich zu nehmen, erleben die unerwünschten Effekte des Entzugs. Der Körper reagiert auf das Fehlen des Stoffes und der Konsument empfindet körperliche Schmerzen und einen starken Drang, die Droge wieder zu nehmen. Dies weist auf eine körperliche Abhängigkeit hin. Man kann auch psychisch abhängig werden, vor allem bei stressreduzierenden Mitteln. Vielleicht machen solche Drogen nicht physisch abhängig, doch sie werden trotzdem ein wichtiger Bestandteil im Leben des Konsumenten, meist über die Milderung von negativen Gefühlen. Ob physisch oder psychisch abhängig: Der Drang, die Drogen zu bekommen und einzunehmen, wird zum wichtigsten Ziel.
323 7.4 · Drogen und Bewusstsein
. Abb. 7.14. Drogentoleranz Bei wiederholter Einnahme von psychoaktiven Drogen wird die Wirkung immer schwächer. Deshalb müssen größere Menge eingenommen werden, um den gewünschten Effekt zu verspüren
Falsche Vorstellungen von Sucht Sucht ist das starke Verlangen nach einer Substanz, trotz der nachteiligen Folgen und oft verbunden mit körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Übelkeit und Erschöpfung bei einem plötzlichen Entzug der Substanz. In der heutigen Alltagspsychologie wird die unwiderstehliche Verlockung, die das Charakteristikum einer Sucht ausmacht, auf andere Verhaltensweisen übertragen, die früher als schlechte Angewohnheiten oder sogar als Sünde bezeichnet wurden. Wurde der Begriff zu weit ausgedehnt? Kann man einer Sucht so schwer widerstehen, wie gemeinhin angenommen wird? Viele Forscher aus dem Suchtbereich glauben, dass die folgenden drei Mythen über Sucht falsch sind: 1. Man wird schnell süchtig; z. B. kann Morphium, das zur Schmerzlinderung eingenommen wird, schnell süchtig machen und führt häufig zu Heroinmissbrauch. Manchen Menschen, vielleicht 10%, fällt es nach der Einnahme einer psychoaktiven Droge tatsächlich schwer, sie in Zukunft nur moderat einzunehmen oder ganz damit aufzuhören. Trotzdem gibt es viel mehr Menschen, die Drogen wie Alkohol oder Marihuana kontrolliert und nur gelegentlich nutzen, als echte Substanzabhängige (Gazzaniga 1988; Siegel 1990). »Sogar bei einer Droge, die starke Abhängigkeit erzeugt, werden nur 15–16% der Konsumenten während der ersten 10 Jahre ihres Konsums abhängig«, berichten Robinson u. Berridge (2003). Dasselbe gilt für Ratten, bei denen nur einige zwanghaft kokainsüchtig werden; dies geht so weit, dass sie sich auch dann die Droge geben, wenn man ihnen in diesem Fall einen Stromstoß an der Pfote verabreicht (Deroche-Garmonet et al. 2004). Außerdem werden Menschen normalerweise nicht abhängig, wenn sie eine Droge unter medizinischer Indikation einnehmen. Patienten, die Morphium erhalten, um ihre Schmerzen zu lindern, entwickeln normalerweise nicht das starke Verlangen nach dem Stoff wie Süchtige, die Morphium als stimmungsaufhellende Droge verwenden (Melzack 1990). 2. Eine Sucht kann nicht einfach durch Willenskraft überwunden werden; dazu ist eine Therapie erforderlich. Mancher Abhängige profitiert tatsächlich von Behandlungsprogrammen. Die Anonymen Alkoholiker haben z. B. schon viele Menschen dabei unterstützt, ihre Alkoholabhängigkeit zu überwinden. Kritiker merken jedoch an, dass die Heilungsraten von Behandelten und Unbehandelten sich weniger unterscheiden, als man annehmen könnte. Eine Therapie oder die Unterstützung einer Gruppe mag hilfreich sein; viele Süchtige helfen sich jedoch selbst.
Sucht (addiction): zwanghaftes Verlangen nach einer Droge und ihrem Konsum.
Die Wahrscheinlichkeit, abhängig zu werden, nachdem man eine Droge ausprobiert hat: Marihuana 9% Alkohol 15% Kokain 17% Heroin 23% Tabak 32% Nach National Academy of Science, Institute of Medicine (Brody 2003)
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Kapitel 7 · Bewusstsein
»Etwa 70% der Amerikaner haben unerlaubte Drogen ausprobiert, aber ... nur wenige haben das innerhalb des letzten Monats gemacht ... Nach einem Alter von 35 Jahren hört der gelegentliche Konsum illegaler Drogen praktisch auf. Nachdem sie die Freuden und ihre Nachwirkungen ausprobiert haben, wenden sich die meisten Leute einfach ab.« Der Neuropsychologe Michael Gazzaniga (1997)
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Außerdem kann die Definition einer Abhängigkeit als Krankheit, wie Diabetes eine ist, das Selbstvertrauen eines Menschen und seinen Willen zur Überwindung des Verlangens untergraben, da »man das Verlangen ohne Behandlung nicht bekämpfen kann«. Und das kann tragisch sein, wie Kritiker anmerken, da viele Menschen freiwillig und ohne Behandlung aufhören, abhängig machende Substanzen einzunehmen. Die meisten der 41 Mio. Ex-Raucher in den USA, die ihre schlechte Angewohnheit aufgegeben haben, taten dies aus eigener Motivation heraus (7 Kap. 16). Die Hälfte der amerikanischen Soldaten in Vietnam nahm einmal Heroin oder Opium, und 20% von ihnen wurden zu regelmäßigen Konsumenten (Robins et al. 1974). Trotzdem wurden nur 7% der Männer, bei denen sich im Urin der Konsum von Suchtmitteln nachweisen ließ, zu Hause wieder süchtig, nachdem sie der stressreichen Situation des Kriegs mit all den Schlüsselreizen für ihre Drogensucht (dem Ort, den Freunden, den Umständen) entkommen waren. 3. Das Suchtkonzept kann auch auf Bereiche außerhalb der Substanzabhängigkeiten übertragen werden, nämlich auf ein ganzes Spektrum von Lustgewinn versprechenden und häufig wiederholten Verhaltensweisen. Die Vorstellung von Sucht als Krankheit, die eine Therapie erfordert, wurde auf eine ganze Reihe von Verhaltensweisen und Beschäftigungen angewandt, darunter übermäßiges Essen, Shopping, Sport, Sex, Glücksspiele und Arbeit. Anfangs benutzten wir den Begriff eher metaphorisch (»Ich bin süchtig nach Science-Fiction«), aber wenn wir nun beginnen, die Metapher als Realität zu betrachten, kann der Suchtbegriff zur Allzweckerklärung werden. Menschen, die Geld unterschlagen, um ihre »Spielsucht« zu befriedigen, oder jene, die die halbe Nacht im Web surfen, weil sie »internetsüchtig« sind, oder andere, die Menschen missbrauchen und betrügen, um ihre »Sucht nach Sex« zu befriedigen, können ihr Verhalten als Krankheit »wegerklären« und entschuldigen. Manchmal werden Verhaltensweisen wie Spielen oder Cybersex jedoch zwanghaft und dysfunktional, genauso wie Drogenkonsum (Griffiths 2001). Ist es gerechtfertigt, das Suchtkonzept auf bestimmte soziale Verhaltensweisen auszudehnen? Die Debatten über das Krankheitskonzept der Sucht gehen weiter.
7.4.2 Psychoaktive Substanzen Ziel 16: Nennen Sie die Hauptklassen psychoaktiver Substanzen, und listen Sie 3 Arten auf, wie diese Substanzen die neuronale Übertragung im Gehirn beeinträchtigen können.
Es gibt mindestens 3 Klassen psychoaktiver Substanzen: 4 Dämpfende Substanzen, 4 Stimulanzien, 4 Halluzinogene. Substanzen aus allen drei Kategorien entfalten ihre Wirkung an den Synapsen im Gehirn, indem sie die Aktivität von Neurotransmittern, den chemischen Botenstoffen des Gehirns, verstärken, hemmen oder nachahmen. Aber auch unsere Erwartungen spielen eine Rolle dabei, wie diese Substanzen Einfluss auf uns nehmen.
Dämpfende Substanzen Ziel 17: Erklären Sie, wie dämpfende Substanzen die Aktivität unseres Nervensystems und das Verhalten beeinflussen, und fassen Sie die Befunde zu Alkoholkonsum und -missbrauch zusammen. Dämpfende Substanzen (depressant): Substanzen (wie Alkohol, Barbiturate und Opiate), die die neuronale Aktivität reduzieren und die Körperfunktionen verlangsamen.
Dämpfende Substanzen sind Alkohol, Barbiturate (Tranquilizer) und Opiate, die die neuronale Aktivität abflauen lassen und die Körperfunktionen verlangsamen.
Alkohol Wahr oder falsch? In großen Mengen gehört Alkohol zu den dämpfenden Substanzen, in geringeren jedoch zu den Stimulanzien.
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! Die Bedürfnisse, die Sie haben, wenn Sie nüchtern sind, sind die, die Sie wahrscheinlich befriedigen werden, wenn Sie betrunken sind.
Geringe Dosen von Alkohol entspannen den Trinker durch eine Verlangsamung der Aktivität des sympathischen Nervensystems. Bei größeren Dosen kann Alkohol zu einem folgenschweren Problem werden: Die Reaktionen verlangsamen sich, die Sprache wird schleppend, die Bewegungen werden ungelenk. Zusammen mit Schlafentzug wirkt Alkohol wie ein Beruhigungsmittel. (Obwohl schon Schlafentzug oder Alkohol allein ein Risiko für Autofahrer darstellen, sind sie in der Kombination noch gefährlicher.) In Verbindung mit der herabgesetzten Hemmschwelle führen diese physiologischen Effekte zu den schlimmsten Folgen von Alkohol, nämlich zu den mehreren hunderttausend tödlich ausgehenden Unfällen und Gewalttaten weltweit pro Jahr, bei denen Alkohol im Spiel ist. Autounfälle geschehen, obwohl die meisten Menschen (nüchtern) glauben, dass alkoholisiertes Fahren falsch ist und trotz ihrer Beteuerungen, dass sie das nie tun würden. Doch mit steigender Promillezahl sinkt die Reife des moralischen Urteils, die Bedenken gegenüber alkoholisiertem Fahren schwinden (Denton u. Krebs 1990; MacDonald et al. 1995). Alkohol beeinträchtigt die Verarbeitung aktueller Erfahrungen im Langzeitgedächtnis. So können sich starke Trinker am nächsten Tag nicht mehr an Leute erinnern, die sie getroffen haben, oder daran, was sie in der letzten Nacht gesagt oder getan haben. Gedächtnislücken nach dem Trinken sind teilweise auch eine Folge dessen, dass Alkohol den REM-Schlaf unterdrückt, der dazu beiträgt, die täglichen Erlebnisse auf Dauer im Gedächtnis zu speichern. Häufiges exzessives Trinken kann die Kognition außerdem durch ein Verkümmern des Gehirns beeinträchtigen, was in MRT-Untersuchungen vor allem bei Frauen deutlich wird (. Abb. 7.15), denn Frauen fehlt ein Magenenzym, das Alkohol abbaut (Wuethrich 2001). Mädchen und junge Frauen können auch schneller von Alkohol abhängig werden als Jungen und junge Männer; und bei ihnen werden auch bei einem weniger extremen Konsumniveau Lunge, Gehirn und Leber geschädigt (CASA 2003). Alkohol hat noch einen anderen nachteiligen Effekt auf das Bewusstsein: Er vermindert die Fähigkeit zur Selbstreflexion (Hull et al. 1986). Verglichen mit Menschen mit positivem Selbstbild neigen diejenigen, die ihr Gefühl des Versagens und der Unzulänglichkeit verdrängen wollen, eher zum Trinken. Nach dem Scheitern einer geschäftlichen Transaktion, einem verlorenen Spiel oder einer Trennung kommt es leicht zu exzessivem Alkoholgenuss. ! Alkohol beeinträchtigt nicht nur die Urteilskraft und das Gedächtnis, sondern verringert auch das Selbstbewusstsein (Hull et al. 1986).
Unter dem Einfluss von Alkohol konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Situation, und man denkt nicht mehr an irgendwelche persönlichen Folgen, die in der fernen Zukunft liegen. Daher gibt man eher Bedürfnissen nach, denen man sonst widerstanden hätte (Steele u. Josephs 1990). Mehr als die Hälfte der Vergewaltiger geben in Befragungen an, vor ihrem Übergriff getrunken zu haben (Seto u. Barbaree 1995). Sexuell aktive Studenten verwenden in einem sexuell stimulierenden Kontext mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit ein Kondom, wenn sie betrunken sind (MacDonald et al. 1996, 2000). Unter dem Einfluss von Alkohol empfinden Studentinnen einen attraktiven Mann, der häufig die Partnerin wechselt, eher als einen reizvollen Menschen, mit dem sie sich möglicherweise treffen wollen, als wenn sie nüchtern sind. Es scheint, als ob »bei Menschen, die getrunken haben, die hemmenden Kräfte der Vernunft dem Druck der Wünsche und Bedürfnisse erliegen«, wie Murphy et al. MRT einer Frau mit Alkoholismus (1998) mutmaßen.
Alkohol oder andere Drogen spielen eine nicht unerhebliche Rolle bei sexueller Aggressivität. In einer Studie von Krahé u. Scheinberger-Olwig (1997) beschrieben 26% der befragten 17- bis 20-jährigen Frauen sexuelle Gewalterfahrungen, und 43% der befragten Männer im selben Alter gaben die Anwendung sexueller Gewalt unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen zu. Da in dieser Untersuchung nur nach Situationen gefragt wurde, in denen Alkohol oder andere Drogen als Mittel zur Durchsetzung sexueller Interessen »gezielt« eingesetzt wurden, ist von einer weit höheren Anzahl an Situationen sexueller Gewalt auszugehen, in deren Verlauf Alkohol oder andere Drogen eine Rolle spielen.
. Abb. 7.15a,b. Alkohol lässt das Gehirn schrumpfen Bei MRT-Schichtaufnahme zeigt sich bei Frauen mit Alkoholproblemen (a) eine Verringerung der Gehirnmasse, wenn man dies mit Frauen einer Kontrollgruppe vergleicht (b)
Daniel Hommer, NIAAA, NIH; HHS
Falsch. Geringe Dosen von Spirituosen können den Trinker tatsächlich beleben, aber dies geschieht durch die verlangsamte Gehirnaktivität in Bereichen, die die Urteilskraft und Hemmung steuern. Auf Provokationen reagieren alkoholisierte Menschen aggressiver als sonst. Werden sie um Hilfe gebeten, zeigen alkoholisierte Menschen mehr Hilfsbereitschaft als sonst. Alkohol wirkt je nach Situation unterschiedlich: Er verstärkt negative Tendenzen, wenn beispielsweise Betrunkene bei geringem Anlass handgreiflich werden; aber er verstärkt auch Tendenzen, anderen zu helfen, z. B. wenn ein angetrunkener Restaurantbesucher ungewöhnlich hohe Trinkgelder gibt (Lynn 1988).
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MRT einer Frau ohne Alkoholismus
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Jedes Jahr sterben in Deutschland über 40.000 Menschen in Folge ihres Alkoholkonsums, über 110.000 Menschen sterben an tabakbedingten Krankheiten – das sind über 300 Todesfälle pro Tag! (Drogenbeauftragte der Bundesrepublik Deutschland 2003). Eine Studie in Nordrhein-Westfalen an über 2000 Schülerinnen und Schülern zeigt, dass die 10- bis 13-Jährigen bei den legalen Suchtmitteln mit einem hohen Anteil vertreten sind: 71% der Jungen und 74% der Mädchen hatten in diesem Alter bereits Alkohol getrunken. Bei den Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren geben rund 83% an, regelmäßig am Wochenende Alkohol zu konsumieren (Hendriks u. David-Spickermann 2001). Fakten: Alkohol tötet mehr Menschen als alle illegalen Drogen zusammen. Das gilt auch für Tabak (Siegel 1990).
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Wie bei anderen psychoaktiven Substanzen rühren die Wirkungen von Alkohol auf das Verhalten nicht allein von einer Veränderung der Gehirnchemie her, sondern auch von den Erwartungen des Konsumenten. Viele Studien zeigen, dass Menschen, die glauben, Alkohol beeinflusse das soziale Verhalten auf eine bestimmte Weise, und zudem der Meinung sind, sie hätten Alkohol konsumiert – ob es nun stimmt oder nicht –, sich auch verhalten, als hätten sie tatsächlich getrunken (Leigh 1989). Menschen reagieren stärker auf sexuelle Stimulation, wenn sie glauben, dass Alkohol die Erregung erhöht, und wenn sie zudem glauben, dass sie getrunken haben. Hull u. Bond (1986) berichten, dass Alkohol für manche Menschen als »Entschuldigung dafür dient, sexuell erregt zu sein«. Lassen Sie uns eines der Experimente von Abrams u. Wilson (1983) genauer betrachten. Die beiden Wissenschaftler gaben Männern, die sich freiwillig für ein Experiment zum Thema »Alkohol und sexuelle Stimulation« gemeldet hatten, ein alkoholisches oder ein nicht alkoholisches Getränk. (Beide Getränke hatten einen so starken Geschmack, dass der Geschmack des Alkohols überdeckt wurde.) In jeder Gruppe dachte die Hälfte der Männer, sie tränken Alkohol, und die andere Hälfte, sie tränken ein alkoholfreies Getränk. Dann zeigte man ihnen einen erotischen Videofilm. Danach berichteten die Männer, die dachten, ein alkoholisches Getränk zu sich genommen zu haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit, dass sie starke sexuelle Phantasien gehabt hätten, sich aber nicht schuldig fühlten. Die Möglichkeit, ihre sexuelle Reaktion dem Alkohol zuzuschreiben, nahm ihnen die Hemmungen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich getrunken hatten oder nicht. Diese Untersuchung verdeutlicht, dass man Verhalten auf unterschiedlichen Analyseniveaus erklären kann: Der Gesamteffekt einer Substanz hängt nicht nur von ihren biologischen Auswirkungen ab, sondern auch von den psychologischen Erwartungen des Konsumenten, die sich in verschiedenen Kulturen unterscheiden (Ward 1994). Herrscht in einer Kultur die Annahme vor, dass eine bestimmte Substanz euphorisch macht (oder aggressiv oder sexuell erregt), in einer anderen aber nicht, dann erfüllen sich die Erwartungen der jeweiligen Kultur.
Barbiturate Barbiturate oder Tranquilizer ahmen den Effekt von Alkohol nach. Barbiturate wie z. B. Pheno-
barbital werden manchmal als Schlafmittel und zur Angstreduzierung verordnet, da sie die Aktivität des Nervensystems hemmen. In größeren Dosen können sie zu Gedächtnisstörungen und einer Verminderung der Urteilsfähigkeit führen. In Kombination mit Alkohol, wenn man etwa nach einem »feuchtfröhlichen« Abend eine Schlaftablette nimmt, kann der hemmende Effekt auf die Körperfunktionen tödlich sein. Ist die Dosis hoch genug, können auch Barbiturate allein zum Tod führen, daher werden sie häufig für Suizidversuche verwendet.
Opiate
Barbiturate (barbiturates): Substanzen, die zur Verringerung der Aktivität des zentralen Nervensystems führen. Sie wirken angstreduzierend, schränken jedoch das Gedächtnis und die Urteilsfähigkeit ein. Opiate (opiates): Opium und seine Derivate wie Morphium und Heroin vermindern die neuronale Aktivität und lindern daher zeitweise Schmerzen und Angstgefühle. Stimulanzien (stimulants): Substanzen (wie Koffein, Nikotin und stärkere, wie Amphetamine und Kokain), die die neuronale Aktivität verstärken und die Körperfunktionen beschleunigen.
Opiate – Opium und seine Derivate, Morphium und Heroin – verringern gleichfalls die neuronale Aktivität. Die Pupillen verengen sich, die Atmung wird langsamer, der Konsument wird lethargisch. Für einige Stunden werden Schmerz und Angst von Glückseligkeit abgelöst. Aber für dieses kurze Glück muss ein hoher Preis bezahlt werden, der für den Heroinkonsumenten in dem quälenden Bedürfnis nach dem nächsten Schuss besteht, dem Drang nach immer höheren Dosen, der wochenlangen körperlichen Pein des Entzugs – und für einige in dem höchsten Preis: dem Tod durch Überdosis. Der Weg zur Sucht verläuft heimtückisch. Wird das Gehirn immer wieder mit einem künstlichen Opiat überschwemmt, hört es irgendwann damit auf, seine eigenen Opiate, die Endorphine, zu bilden. Kommt es dann zum Entzug, fehlt dem Gehirn die normale Menge der schmerzlindernden Neurotransmitter. Dadurch entstehen die extremen Beschwerden des Entzugs.
Stimulanzien Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten Stimulanzien, und erklären Sie, wie sie die neuronale Aktivität und das Verhalten beeinflussen. Stimulanzien wirken sich zeitweilig anregend auf die neuronale Aktivität und die Körperfunktionen aus. Menschen verwenden diese Substanzen dazu, wach zu bleiben, abzunehmen und die Stimmung oder die sportliche Leistungsfähigkeit zu steigern. Am weitesten verbreitet sind Koffein,
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Nikotin, die starken Amphetamine, das noch stärkere Kokain, Ecstasy und Methamphetamine (»speed«), die sich chemisch von den Amphetaminen ableiten lassen (NIDA 2002, 2005). Alle starken Stimulanzien beschleunigen die Körperfunktionen, daher der Name »Speed« für Amphetamin. Sie beschleunigen den Herzschlag und die Atmung, erweitern die Pupillen, verringern den Appetit (da der Blutzuckerspiegel steigt) und lassen Energie und Selbstsicherheit zunehmen. Doch Methamphetamine haben sogar noch stärkere Auswirkungen; dazu können mehr als 8 Stunden höhere Energie und Euphorie gehören (das hängt damit zusammen, dass die Freisetzung von Dopamin ausgelöst wird). Jedoch: Wie bei anderen Drogen haben diese Vorteile der Stimulanzien einen hohen Preis. Stimulanzien, einschließlich Kaffee und koffeinhaltiger Erfrischungsgetränke, können abhängig machen und können anschließend in ein Loch aus Müdigkeit, Kopfschmerzen, Reizbarkeit und Depression führen (Silverman et al. 1992). Methamphetamine führen zu einer starken Abhängigkeit, und zu ihren Nachwirkungen gehören Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Bluthochdruck, Krampfanfälle, Zeiten der Desorientierung und gelegentlich gewalttätiges Verhalten. Langfristig scheint Methamphetamin auch das Ausgangsniveau des Dopaminspiegels zu verringern, was beim Konsumenten zu einer dauerhaft herabgesetzten Funktionsfähigkeit führt.
Amphetamine (amphetamines): Substanzen, die die neuronale Aktivität stimulieren und zu einer Beschleunigung der Körperfunktionen führen. Der Energiepegel steigt an, und die Stimmung verbessert sich. Metamphetamine (methamphetamines): eine starke süchtig machende Droge, die das Zentralnervensystem stimuliert; sie geht mit beschleunigten Körperfunktionen und Veränderungen in Bezug auf Energie und Stimmung einher; mit der Zeit scheint sie das Ausgangsniveau des Dopaminspiegels zu verringern.
Topfoto/National News
Kokain Bei Umfragen gaben 5% der Oberstufenschüler in den USA und 5% der 18- bis 24-Jährigen in Großbritannien an, dass sie während des letzten Jahres Kokain genommen hätten (Home Office 2003; Johnston et al. 2002). Fast die Hälfte der Drogenkonsumenten unter ihnen sagte, sie hätten Crack geraucht, eine hoch wirksame Form von Kokain. In Deutschland berichten laut »Europäischer Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen« (Kraus et al. 2004) 2, 8% der Schüler der 9. und 10. Klasse, schon einmal Kokain genommen zu haben, 2,1% geben an, Erfahrung mit Crack zu haben. Kokainsucht ist wie eine Autobahn von der Euphorie zum Absturz. Schnieft (oder »schnüffelt«) man das extrahierte Kokain oder injiziert oder raucht man es sogar, erreicht es den Blutkreislauf sehr schnell. Es entsteht ein »Euphorierausch«, der 15–30 Minuten anhält. Da aber durch den Rausch der Vorrat des Gehirns an den Neurotransmittern Dopamin, Serotonin und Noradrenalin aufgebraucht wird, kommt es zum Absturz in eine agitierte Depression, sobald der Substanzeffekt endet (. Abb. 7.16). Crack wirkt noch schneller und produziert ein kürzeres, aber intensiveres »High«, einen heftigeren Absturz und ein dringendes Verlangen nach mehr Crack, das nach einigen Stunden abnimmt, aber Tage später wieder auftritt (Gawin 1991). Viele regelmäßige Kokainkonsumenten werden süchtig. Affen werden so abhängig, dass sie mehr als 12.000 Mal auf einen Hebel drücken, um dadurch eine Kokaininjektion zu erhalten (Siegel 1990). Bei kokainabhängigen Menschen und Tieren kommt es zu emotionalen Störungen und Misstrauen, zu Krämpfen, Herzstillstand oder einem Versagen der Atmung. In Situationen, die Aggressionen hervorrufen können, kann Kokain die Aggressivität noch steigern. Eingesperrte Ratten kämpfen, wenn sie Elektroschocks erhalten, und sie kämpfen noch viel mehr, wenn ihnen zusätzlich noch Kokain verabreicht wurde. Auch Menschen, die Kokain eingenommen haben, muten bei Laborexperimenten einem Gegner höhere Elektroschocks zu, als die, denen ein Placebo verabreicht wurde (Licata et al. 1993).
Dramatischer drogeninduzierter Abbau Die Metamphetamin-Sucht dieser Frau führte zu augenscheinlichen körperlichen Veränderungen. Der Abbau wird deutlich, wenn man die beiden Fotos von ihr miteinander vergleicht; sie wurden im Alter von 36 Jahren (links) und 4 Jahre später im Alter von 40 Jahren (rechts) aufgenommen.
Das Rezept für Coca-Cola enthielt im Original einen Extrakt der Kokapflanze, war also ein Kokaintonikum für müde ältere Menschen. Zwischen 1896 und 1905 war Cola also tatsächlich »the real thing«.
»Kokain macht aus Ihnen einen neuen Menschen. Und das Erste, was dieser neue Mensch will, ist Kokain.« Der Komiker George Carlin
! Wie bei allen psychoaktiven Substanzen hängt die Wirkung von Kokain nicht allein von der Dosierung und der Art der Verabreichung ab, sondern auch von der Situation, den Erwartungen und der Persönlichkeit des Konsumenten.
Gibt man Kokainkonsumenten ein Placebo, während sie glauben, sie würden Kokain erhalten, sind ihre Erfahrungen häufig die gleichen wie nach einer tatsächlichen Kokaingabe (Van Dyke u. Byck 1982).
Ecstasy MDMA (3-Methoxy-4,5-Methylen-Dioxyphenil-isopropyl-Amin), bekannt unter dem Namen Ecstasy, ist gleichzeitig Stimulans und mildes Halluzinogen. Als Derivat von Amphetamin verstärkt es die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin. Doch der Haupteffekt liegt in der Ausschüttung von gespeichertem Serotonin und der Blockade seiner Wiederaufnahme und somit in der Verlängerung des Wohlgefühls, das die Serotoninausschüttung mit sich bringt (Braun 2001).
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Ecstasy oder MDMA (ecstasy oder MDMA): synthetisches Stimulans und mildes Halluzinogen. Führt zu Euphorie und dem Gefühl sozialer Nähe, birgt jedoch kurzfristige Gesundheitsrisiken und beschädigt längerfristig serotonerge Neuronen; es wirkt auf Stimmung und Kognition.
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. Abb. 7.16a–c. Kokaineuphorie und Zusammenbruch
Die Schmusedroge MDMA, auch bekannt als Ecstasy, ruft Euphorie und Gefühle der Intimität mit anderen hervor. Wiederholter Konsum zerstört jedoch die serotoninproduzierenden Nervenzellen, er kann auf diese Weise dauerhaft die Stimmung trüben und das Gedächtnis schädigen
Halluzinogene (hallucinogens): psychedelische (»bewusstseinserweiternde«) Substanzen, wie LSD, die Wahrnehmungen verzerren und sensorische Bilder ohne sensorischen Input generieren.
(Wie wir in 7 Kap. 18 sehen werden, erhöhen einige Antidepressiva den Serotoninspiegel auf moderatere Weise, indem sie die Wiederaufnahme von Serotonin verhindern.) In den späten 90er Jahren wurde Ecstasy zur weitverbreiteten »Diskodroge«, die vor allem in Nachtklubs und bei Technopartys genommen wurde (Landry 2002). Eine halbe Stunde nach der Einnahme einer Ecstasytablette erleben die Konsumenten meist eine Stimmungsaufhellung und – wenn sie sich in einem entsprechenden sozialen Kontext aufhalten – ein Gefühl der Verbundenheit mit den anderen Anwesenden (»Ich liebe alle«), das 3–4 Stunden anhält. Kein Grund zur Ekstase gegenüber Ecstasy! Ein unmittelbarer Effekt ist die Dehydrierung des Körpers, die, verbunden mit lang anhaltendem Tanzen, zur Überhitzung, Blutdruckanstieg und evtl. zum Tod führen kann. Einer der Langzeiteffekte des ständig erhöhten Serotoninspiegels ist die Zerstörung von Neuronen, die Serotonin produzieren; die Folge ist eine Senkung des Serotoninspiegels und eine Erhöhung des Risikos für eine dauerhaft gedrückte Stimmung (Croft et al. 2001; McCann et al. 2001; Roiser et al. 2005). Weitere Untersuchungen zeigen, dass Ecstasy die serotonerge Steuerung der zirkadianen Rhythmik des Körpers stört (daher das verringerte Schlafbedürfnis nach der Einnahme der Droge), außerdem das Immunsystem hemmt, das Gedächtnis und andere kognitive Funktionen beeinträchtigt sowie evtl. das Risiko erhöht, an Morbus Parkinson zu erkranken (Biello u. Dafters 2001; Pacifici et al. 2001; Reneman et al. 2001; Ricaurte et al. 2002). Ecstasy erhellt die Nacht, verdunkelt jedoch den nächsten Morgen.
Halluzinogene Ziel 19: Beschreiben Sie die physiologischen und psychologischen Auswirkungen der Halluzinogene, und fassen Sie kurz die Auswirkungen von LSD und Marihuana zusammen. Halluzinogene verzerren die Wahrnehmung und wecken sensorische Vorstellungen ohne senso-
rischen Input (weswegen einige dieser Substanzen als psychedelisch bezeichnet werden, also als bewusstseinserweiternd). Manche von ihnen sind natürliche Substanzen, wie das milde Halluzinogen Marihuana. Andere werden synthetisch hergestellt, am bekanntesten sind LSD und Marihuana.
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LSD Der Entdecker von LSD (Lysergsäurediethylamid), der Chemiker Albert Hofmann, ging 1943 zum ersten Mal auf einen »Trip«. Nachdem er zufällig etwas von dem Stoff zu sich genommen hatte, berichtete Hofmann »einen ununterbrochenen Strom phantastischer Bilder und unglaublicher Formen in einem intensiven, kaleidoskopischen Farbenspiel« wahrgenommen zu haben (Siegel 1984). LSD und andere starke Halluzinogene ähneln in ihrer chemischen Struktur einem Subtyp des Neurotransmitters Serotonin und blockieren daher dessen Wirkung (Jacobs 1987). Die Gefühle, die bei einem LSD-Trip entstehen, reichen von Euphorie bis zu Panik. Wie bei jedem Drogenkonsum färben die momentane Stimmungslage und die Erwartungen des Konsumenten die Erfahrungen bei dem Trip deutlich ein. Trotz der unterschiedlichen Gefühle haben die Wahrnehmungsverzerrungen und Halluzinationen Gemeinsamkeiten. Siegel (1982) berichtet, dass ein Gehirn, das zum Halluzinieren gebracht wird, sei es durch Sauerstoffmangel, extreme sensorische Deprivation oder Drogen, »grundsätzlich auf die gleiche Art und Weise halluziniert«. Zuerst sieht man normalerweise einfache geometrische Formen wie Gitter, Spinnennetze und Spiralen (. Abb. 7.17). Die nächste Phase besteht aus bedeutungsreicheren Bildern; einige dehnen sich zu Trichtern und Tunneln aus, oder der Konsument durchlebt frühere emotionale Erfahrungen erneut. Erreicht die halluzinogene Erfahrung ihren Höhepunkt, fühlen sich die Konsumenten häufig von ihrem Körper getrennt und erleben Traumszenen so, als wären sie real – so real, dass die Konsumenten in Panik kommen oder sich selbst verletzen können.
LSD oder Lysergsäurediethylamid (lysercig acid diethylamide): starke halluzinogene Droge, auch als »Acid« bekannt.
Marihuana THC oder Tetrahydrocannabinol (tetrahydrocannabinol): Hauptwirkstoff von Marihuana. Hat verschiedene Wirkungen, unter anderem führt es zu leichten Halluzinationen.
Ronald K. Siegel
Marihuana besteht aus den Blättern und Blüten der Hanfpflanze, die seit 5000 Jahren wegen ihrer Fasern kultiviert wird. Der Hauptwirkstoff von Marihuana ist THC (Tetrahydrocannabinol). Die Substanz kann geraucht oder gegessen werden; sie produziert so unterschiedliche Effekte, dass es schwer fällt, THC zu klassifizieren. (Geraucht erreicht die Droge in ungefähr 7 Sekunden das Gehirn und wirkt stärker, gegessen wird die stärkste Wirkung langsamer und unberechenbarer erreicht.) Wie Alkohol entspannt und enthemmt Marihuana und kann zu einem euphorischen Hochgefühl führen. Aber Marihuana wirkt auch wie ein schwaches Halluzinogen, indem es die Farb-, Geräusch-, Geruchs- und Geschmackswahrnehmung verändert. Wie bei anderen Drogen sind auch die Erlebnisse der Marihuanakonsumenten unterschiedlich und von der Situation abhängig. Fühlt sich der Konsument ängstlich oder depressiv, kann die Einnahme der Droge diese Gefühle verstärken. Und je mehr man sie konsumiert, desto größer ist das Risiko einer Angst, einer Depression oder sogar einer Schizophrenie, selbst wenn man in Untersuchungen die Faktoren Konsum anderer Drogen und Persönlichkeitsmerkmale konstant hält (Arseneault et al. 2002; Patton et al. 2002; Zammit et al. 2002). Täglicher Konsum ist noch schlimmer als gelegentlicher. In anderen Situationen kann Marihuana nicht nur angenehme Gefühle erzeugen, sondern auch therapeutisch wirksam sein. Menschen, die unter den Schmerzen, der Übelkeit und dem Gewichtsverlust der Aids-Erkrankung leiden, können durch Marihuana Erleichterung erfahren (Watson et al. 2000). (Eine Zeit lang wurde Marihuana auch dazu verwendet, die Übelkeit nach Chemotherapien und der Schmerzen bei Glaukomen zu verringern; heute stehen dafür aber wirksamere Medikamente zur Verfügung.) Der therapeutische Nutzen von Marihuana führte dazu, dass die Droge für manche Patientengruppen legalisiert wurde. Um die Toxizität des Marihuanarauchs – er kann zu Krebs, Lungenschäden und Schwangerschaftskomplikationen führen – zu meiden, empfiehlt das Institute of Medicine, dass Personen, die aus medizinischen Gründen THC nehmen, dies über einen Inhalator aufnehmen. THC ist in Deutschland unter dem Namen Dronabinol Grundstoff für die Herstellung von Arzneimitteln und darf verordnet werden. Die Verwendung von anderen Cannabisprodukten ist in Deutschland derzeit nur zu medizinischen Studienzwecken genehmigt. Metaanalysen der amerikanischen National Academy of Sciences (1982, 1999) zeigen, dass Marihuana noch weitere unangenehme Folgen hat. Wie Alkohol schränkt Marihuana die motorische Koordination, die Wahrnehmung und die Reaktionsfähigkeit ein, die nötig sind, um Auto zu fahren oder Maschinen zu bedienen. »Durch THC werden Tiere dazu gebracht, Situationen falsch zu beurteilen«, berichtet Siegel (1990). »Tauben reagieren nicht rechtzeitig auf die Töne oder Lichter, die ihnen signalisieren, dass für kurze Zeit Futter zur Verfügung steht, und Ratten verirren
. Abb. 7.17. Muster wie bei Halluzinationen Geometrische Formen, ganz ähnlich denen, die unter dem Einfluss halluzinogener Drogen erlebt werden können, sind in den Stickereien der Huichol zu erkennen. Diese mexikanischen Indios konsumierten Peyote, aus dem das Halluzinogen Meskalin gewonnen werden kann
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sich in Labyrinthen.« Marihuana stört auch die Gedächtniseinspeicherung und den Abruf von Informationen, die nur einige Minuten zuvor gelernt wurden. Solche kognitiven Effekte halten länger an als nur während des Rauchens (Pope u. Yurgelun-Todd 1996; Smith 1995). Forscher klärten die Wirkung von Marihuana auf Kognition, Stimmung und motorische Fähigkeiten durch die Entdeckung von Rezeptoren, die mit THC interagieren und in den Frontallappen, dem limbischen System und den motorischen Kortizes vorkommen (Iversen 2000). Erinnern Sie sich an 7 Kap. 2, in dem beschrieben wurde, dass die Entdeckung von Morphinrezeptoren zur Entdeckung der morphinähnlichen Neurotransmitter, der Endorphine, führte. Ganz ähnlich führte die Entdeckung der »cannabinoiden Rezeptoren« in der Folge dazu, dass natürlich vorkommende THC-ähnliche Moleküle entdeckt wurden, die an cannabinoide Rezeptoren andocken und vielleicht zur Schmerzreduktion beitragen. Im Gegensatz zu Alkohol bleiben THC und seine Nebenprodukte nicht für ein paar Stunden im Körper, sondern einen Monat lang oder länger. So kommt es zu einem Effekt, der das Gegenteil der normalen Toleranzentwicklung darstellt: Personen, die regelmäßig THC konsumieren, erreichen das Hochgefühl mit geringeren Mengen der Substanz als gelegentliche Benutzer.
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»Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das, was die Menschen angenehm nennen; wie wunderlich es sich verhält zu dem, was ihm entgegengesetzt zu sein scheint, dem Unangenehmen ... wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere nach.« Platon, »Phaidon«, 4. Jahrhundert v. Chr.
! Trotz all der Unterschiede der psychoaktiven Drogen, die in . Tabelle 7.3 zusammengefasst sind, zeigt sich doch eine Gemeinsamkeit: Die negativen Nachwirkungen übersteigen die kurzzeitigen positiven Wirkungen der Substanzen bei weitem.
Die Nachwirkungen weisen auf ein noch generelleres Prinzip hin: Emotionen erzeugen Gegenemotionen, die fortdauern, während die ursprünglichen Emotionen verschwinden. Wiederholt sich dieser Ablauf, werden die Gegenemotionen stärker. Dieses Prinzip von Emotionen, die Gegenemotionen erzeugen, ähnelt dem des drogeninduzierten Wohlbefindens; das Vergnügen verschwindet mit dem Preis, den die Drogen fordern. So erklären sich die Toleranzentwicklung und die Entzugsproblematik. Werden die gegenteiligen, negativen Nachwirkungen stärker, müssen immer größere Mengen der Substanzen eingenommen werden, um den erwünschten Effekt zu erzeugen (Toleranzentwicklung); dadurch werden auch die Nachwirkungen größer, die beim Fehlen der Substanz entstehen (Entzug). Um die Entzugssymptome zu lindern, muss wiederum mehr von der Substanz genommen werden. . Tabelle 7.3. Zusammenstellung einiger psychoaktiver Substanzen
Substanz
Art
Erwünschte Wirkung
Unerwünschte Wirkung
Alkohol
Dämpfend
Hochgefühl, gefolgt von Entspannung und Enthemmung
Depression, Gedächtnislücken, Organschädigungen, schlechtere Reaktionsfähigkeit
Heroin
Dämpfend
Euphorierausch, Schmerzlinderung
Verlangsamung der Körperfunktionen, qualvoller Entzug
Koffein
Stimulierend
Wachheit und Energie
Ängstlichkeit, Unruhe und Schlaflosigkeit bei hohen Dosen; unangenehmer Entzug
Amphetamine (»Speed«, »Ice«)
Stimulierend
Euphorie, Wachheit, Energie
Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Bluthochdruck, Krampfanfälle
Kokain
Stimulierend
Ausbruch einer Euphorie, Selbstvertrauen, Energie
Belastung des Herz-Kreislauf-Systems, Misstrauen, Absturz in die Depression
Nikotin
Stimulierend
Anregung und Entspannung, Wohlgefühl
Herzerkrankungen, Krebs (durch den Teer)
Ecstasy (MDMA)
Stimulierend, leicht halluzinogen
Stimmungsaufhellend, enthemmend
Dehydrierung und Überhitzung, Depression und Störung der kognitiven Funktionen
Marihuana
Leicht halluzinogen
Verstärkte Empfindungen, Linderung von Schmerzen, Verlust des Zeitgefühls, Entspannung
Störung des Gedächtnisses, Lungenschäden durch den Rauch
331 7.4 · Drogen und Bewusstsein
7.4.3 Welche Faktoren beeinflussen den Drogenkonsum? Ziel 20: Erörtern Sie die biologischen, psychologischen und soziokulturellen Faktoren, die zum Drogenkonsum beitragen.
Der Drogenkonsum amerikanischer Jugendlicher stieg in den 70er-Jahren an. Dank der Drogenaufklärung und einer realistischen, weniger glamourösen Darstellung von Drogen in den Medien sank der Konsum rapide ab. Nach den frühen 90er Jahren wurden die Stimmen leiser, die sich in der Gesellschaft gegen Drogen aussprachen, und Drogen wurden in bestimmten Musikrichtungen und Filmen für eine gewisse Zeit wieder positiver dargestellt. Sehen Sie sich einige der Trends an: 4 Bei der jährlichen Umfrage der Universität von Michigan unter 15.000 amerikanischen Oberstufenschülern, lag der Anteil derer, die glauben, dass der regelmäßige Konsum von Marihuana ein »großes Risiko« birgt, 1978 bei 35%, stieg 1991 auf 79% und sank 2004 wieder auf 55% (Johnston et al. 2002). 4 1978 erreichte der Marihuanakonsum von Oberstufenschülern in den USA seinen Höhepunkt, sank dann bis 1992, stieg erneut wieder an, nimmt aber seit Kurzem nicht mehr zu (. Abb. 7.18). 4 In Deutschland wie im gesamteuropäischen Raum nahm spätestens seit Mitte der 90er Jahre – insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – die Popularität von Ecstasy und verwandten Substanzen zu, und zwar mit steigender Tendenz. Der Konsum sedierender Substanzen verlor dagegen an Bedeutung, auch wenn die Fallzahlen etwa bei Heroin auf hohem Niveau stagnieren (Thomasius 2000a). 4 Gemäß einer Studie der Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2003) ist Cannabis nach wie vor die am häufigsten konsumierte Droge in Europa, wobei zahlreiche Länder die Lebenszeitprävalenz mit über 20% der Allgemeinbevölkerung angeben. In der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen liegt der Konsum mit 20–35% allerdings deutlich höher. In Großbritannien, wo 23% der Teenager zugeben, in den letzten 30 Tagen drei Mal oder häufiger betrunken gewesen zu sein, werden neue Anstrengungen unternommen, den Alkoholmissbrauch und die damit zusammenhängende Gewalt bei der nächtlichen Schließung der Kneipen einzudämmen. Studien lassen auch in den USA eine veränderte gesellschaftliche Haltung gegenüber Alkohol erkennen. Die Zahl der amerikanischen Studienanfänger, die berichten, im vergangenen Jahr kein Bier getrunken zu haben, hat sich nahezu verdoppelt von 25% (1981) auf 46% (2002). 4 von 10 Amerikanern berichten, »vollkommen abstinent« zu sein (Gallup 2004). Der Konsum
. Abb. 7.18. Trends des Drogenkonsums Der Prozentsatz der US-amerikanischen Schulabgänger, die angaben, in den letzten 30 Tagen Alkohol, Marihuana oder Kokain konsumiert zu haben, ging von den späten 70er Jahren bis 1992 zurück. Seither stieg der Drogenkonsum teilweise für einige Jahre wieder an. (Aus Johnston et al. 2005)
7
332
Kapitel 7 · Bewusstsein
von harten Getränken sank zwischen 1979 und 1999 um 60% (Nephew et al. 1999). Als die Alkoholindustrie begann, Wein und Bier ohne Alkohol herzustellen, wurde deutlich, dass sich die Einstellung der Amerikaner zum Alkoholkonsum geändert hatte. Allerdings zeigt die europäische Schülerstudie ESDAP (Kraus et al. 2004), dass gerade die sog. Alkopops von deutschen Jugendlichen mit Vorliebe konsumiert werden. So gaben 63% der befragten Neunt- und Zehntklässler an, in den 30 Tagen vor der Erhebung Alkopops getrunken zu haben, gefolgt von Bier (56%), Spirituosen (51%) und Wein bzw. Sekt (50%). Für manche Heranwachsenden dient die gelegentliche Drogeneinnahme dazu, etwas Spannung in ihr Leben zu bringen. Warum aber werden andere Jugendliche zu regelmäßigen Konsumenten? Bei der Beantwortung dieser Fragen sehen Forscher biologische, psychologische und kulturelle Aspekte als relevant an.
Biologische Einflüsse
7
Möglicherweise haben manche Menschen eine biologisch bedingte Anfälligkeit für Alkohol. Verschiedene Ergebnisse zeigen z. B., dass einige Aspekte der Probleme im Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit genetisch bedingt sind, vor allem jene, zu denen es im frühen Erwachsenenalter kommt (Crabbe 2002). 4 Adoptivkinder werden eher alkoholabhängig, wenn die biologischen Eltern (oder auch nur ein Elternteil) Alkoholiker waren. 4 Bei eineiigen Zwilling, von denen einer Alkoholiker ist, hat der andere ein erhöhtes Risiko, selbst auch Alkoholprobleme zu bekommen (bei zweieiigen Zwillingen ist dies nicht so; Kendler et al. 2002). (Eineiige Zwillinge ähneln einander auch in Bezug auf den Marihuanakonsum mehr als zweieiige Zwillinge.) 4 Jungen, die im Alter von 6 Jahren leicht reizbar, impulsiv und furchtlos sind (das sind genetisch beeinflusste Merkmale), werden mit größerer Wahrscheinlichkeit rauchen, trinken und andere Drogen nehmen (Masse u. Tremblay 1997). 4 Forscher züchteten Ratten und Mäuse, die lieber Alkohol als Wasser trinken. Bei einer dieser Unterarten fand man ein reduziertes Niveau des chemischen Stoffes NPY im Gehirn. Mäuse, deren Gehirne dagegen NPY im Übermaß produzieren, reagieren sehr empfindlich auf die sedierende Wirkung von Alkohol und trinken wenig. 4 Molekulargenetiker haben Gene identifiziert, die bei Menschen und Tieren mit einer häufigeren Prädisposition für Alkoholismus vorkommt. Diese Gene könnten für eine Unterfunktion des natürlichen dopaminergen Belohnungssystems des Gehirns verantwortlich sein. Solche Erkenntnisse führten dazu, dass die Forschung über genetische, biologische und chemische Einflussfaktoren für Suchtverhalten verstärkt wurde. Gerade jetzt läuft eine auf 5 Jahre angelegte Untersuchung von 600 Alkoholabhängigen und ihren Verwandten. Falls biologische Marker gefunden würden, die auf eine genetisch bedingte Anfälligkeit für Suchtverhalten hindeuten, könnten junge Menschen mit hohem Risiko rechtzeitig erkannt und beraten werden. Eine biologische Grundlage für Sucht ist eine auf Lust spezialisierte Nervenbahn im Gehirn, der Dopamin-Belohnungsschaltkreis. Süchtig machende chemische Stoffe wie Kokain, Alkohol und Heroin nehmen den Belohnungsschaltkreis unter Beschlag und lassen seine Aktivität zunehmen. Doch durch den wiederholten Konsum ergeben sich Veränderungen. In dem Maße, in dem sich eine Toleranz entwickelt, versetzt die Droge den Betreffenden nicht mehr vom Normalzustand in die Euphorie, sondern es kommt lediglich zu einem Teufelskreis, bei dem die Betreffenden aus der Depression in den Normalzustand kommen, dann aber wieder zurück in die Depression. Die Wissenschaftler erforschen heute die zellulären und molekularen Einzelheiten dieser Veränderungen und hoffen, vielleicht neue Behandlungsmethoden gegen das zwanghafte Verlangen der Sucht zu entwickeln (Nestler u. Malenka 2004; Redish 2004).
Psychologische und soziokulturelle Einflüsse Auch psychologische und soziokulturelle Faktoren tragen etwas zum Drogenkonsum bei (. Abb. 7.19). Vergleichsweise drogenfreie kleine Städte und ländliche Gegenden setzen denjenigen Grenzen, die eine genetische Prädisposition für Drogenkonsum haben, berichten Legrand et al. (2005). Für jene, die die genetische Prädisposition zum Substanzmissbrauch treibt, »bieten die Städte
333 7.4 · Drogen und Bewusstsein
7
. Abb. 7.19. Analyseniveaus beim Drogenkonsum
mehr Möglichkeiten«, und sie üben eine geringere soziale Kontrolle aus. In ihren Studien zur Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fanden Newcomb u. Harlow (1986) heraus, dass das Gefühl, das eigene Leben sei bedeutungslos und führe nirgendwo hin, bei unterprivilegierten Schulabbrechern ohne Qualifikationen und Zukunftsaussichten weit verbreitet ist und damit einen psychologischen Faktor für die Entstehung einer Abhängigkeit darstellt. Verlassen junge unverheiratete Erwachsene ihr Elternhaus, steigt der Alkohol- und Drogenkonsum an; wenn sie heiraten und Kinder bekommen, nimmt er wieder ab (Bachman et al. 1997). Doch das Auf und Ab beim Marihuanakonsum lässt sich nicht damit erklären, dass die Jugendlichen rebellischer wurden (sie wurden es nicht). Ein besserer Prädiktor ist das Auf und Ab bei der Einschätzung der Gefährlichkeit eines regelmäßigen Marihuanakonsums (. Abb. 7.20). Andere Studien zeigen, dass Menschen, die mehr als nur gelegentlich Alkohol, Marihuana oder Kokain konsumieren, häufig unter großem Stress stehen, ein Versagen kompensieren müssen oder unter Depressionen leiden. Mädchen, die eine Depression, Essstörungen, Misshandlung oder Missbrauch hinter sich haben, haben ein größeres Risiko für Substanzabhängigkeit, wie dies auch für Mädchen nach einem Schulwechsel oder Umzug in eine neue Nachbarschaft gilt (CASA 2003;
Warnzeichen von Alkoholismus 4 Exzessiver Alkoholgenuss. 4 Reue über das, was man gesagt oder getan hat, als man betrunken war. 4 Schuldgefühle oder Depression nach dem Trinken. 4 Gescheiterte Beschlüsse, weniger zu trinken. 4 Trinken, um Niedergeschlagenheit oder Angst zu lindern. 4 Vermeiden von Begegnungen mit der Familie oder Freunden, wenn man trinkt.
. Abb. 7.20. Beurteilung des Risikos von Marihuana und tatsächlicher Konsum Mit der Zunahme an Zwölftklässlern, die Marihuana als »sehr gefährlich« beurteilen, nimmt die Anzahl derer ab, die es in den letzten 30 Tagen konsumiert haben. (Zahlen aus Johnston et al. 2002)
334
Kapitel 7 · Bewusstsein
Wenn man einmal von Wasser absieht, enthält in der Realität nur ein Sechstel oder weniger der gesamten konsumierten Getränkemenge Alkohol. In der Welt, die das Fernsehen zeigt, wird Alkohol häufiger getrunken als Kaffee, Tee, Limonaden und Wasser zusammengenommen (Gerbner 1990).
7 Jährlicher Wein- und Bierkonsum in Liter pro Person Bier
Wein
Frankreich
41
67
Deutschland
143
25
Italien
23
57
Neuseeland
110
15
Australien
102
19
Großbritannien
106
12
USA
87
7
Schweden
59
12
Aus Australian Social Trends (1995)
»Argumente gegen das Rauchen: ›Es handelt sich um eine abstoßende Sucht, die Sie langsam, aber sicher in einen keuchenden, grauhäutigen, von einem Tumor geplagten Pflegefall verwandelt, der bräunliche Klumpen giftigen Abfalls aus einer seiner noch verbliebenen Lungenhälften hustet.‹ Argumente für das Rauchen: ›Andere Teenager machen es auch.‹ Soviel dazu. Lasst uns eine rauchen!« Der Komiker Dave Barry (1995), der sich daran erinnert, warum er in dem Sommer, in dem er 15 wurde, seine erste Zigarette rauchte
Logan et al. 2002). Auch Affen finden Gefallen am Geschmack von Alkohol, wenn sie durch die permanente Trennung von ihren Müttern seit der Geburt belastet sind (Small 2002). Alkohol betäubt den Schmerz der Selbsterkenntnis für eine Weile und bietet dadurch einen Fluchtweg aus Depressionen, Ängsten oder Schlafstörungen. Die Erleichterung mag nur eine kurze Zeit lang andauern, doch lässt sich Verhalten eher durch sofortige als durch spätere Konsequenzen steuern. Vor allem bei Teenagern hat der Drogenkonsum seinen Ursprung häufig im sozialen Umfeld. Das zeigt sich in unterschiedlich hohen Abhängigkeitsraten bei den verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen. In den USA sind die Abhängigkeitsraten vor allem unter den Amish, Mennoniten, Mormonen und den orthodoxen Juden außerordentlich niedrig (Trimble 1994). Bei unabhängigen Untersuchungen der Regierung über den Drogenkonsum in Haushalten landesweit und unter Oberstufenschülern in allen Regionen der USA zeigte sich, dass afroamerikanische Jugendliche deutlich geringere Raten beim Trinken, Rauchen und beim Kokainkonsum aufweisen (Bass u. Kane-Williams 1993; ISR 2003; Kann et al. 1993). Die Peergroup ist eine der wichtigsten sozialen Einflussgrößen. Gleichaltrige beeinflussen die Einstellung zu Drogen durch ihr Reden und Tun. Sie schmeißen auch die Partys und besorgen die Drogen. Konsumiert der Freund eines Jugendlichen Drogen, wird er oder sie das mit großer Wahrscheinlichkeit auch probieren. Nehmen die Freunde keine Drogen, ergibt sich vielleicht nie eine Gelegenheit zum Ausprobieren. ! Auch bezüglich des Alkoholkonsums besteht der Einfluss der Peergroup nicht nur in dem, was die Freunde tatsächlich sagen oder tun, sondern auch darin, was der Jugendliche glaubt, was sie tun oder welchem Trend sie folgen.
Junge Heranwachsende konsumieren mehr Alkohol, wenn sie, was häufig vorkommt, den Konsum ihrer Freunde überschätzen (Aas u. Klepp 1992; Graham et al. 1991). In einer Umfrage unter Sechstklässlern in 22 amerikanischen Bundesstaaten glaubten 14%, dass ihre Freunde Marihuana geraucht hätten, doch nur 4% bestätigten diese Annahme (Wren 1999). Unter Studierenden dominiert Alkohol bei sozialen Aktivitäten zum Teil deshalb, weil sie die Begeisterung ihrer Kommilitonen für Alkohol überschätzen (Prentice u. Miller 1993; Self 1994). Die meisten Studenten passen sich der Norm an, die sie für gültig halten, weil sie glauben, dass sie mit ihrer Besorgnis über die Risiken von Alkohol weitgehend allein stehen. Menschen hören mit höherer Wahrscheinlichkeit auf, Drogen zu konsumieren, wenn sie damit unter dem Einfluss der Peergroup begonnen hatten (Kandel u. Raveis 1989). Hören die Freunde auf, Drogen zu konsumieren oder verändert sich das soziale Netzwerk, hören sie normalerweise auch damit auf. Wie zuvor erwähnt gaben die meisten Soldaten, die in Vietnam süchtig wurden, die Drogen auf, als sie nach Hause zurückkehrten. Teenager aus glücklichen Familien, die gut in der Schule sind, neigen nicht dazu, Drogen zu nehmen, vor allem weil sie kaum in Kontakt mit Menschen kommen, die Drogen nehmen (Oetting u. Beauvais 1987, 1990). Wie immer bei Korrelationen kann man nicht sagen, in welcher Richtung ein Kausalzusammenhang zwischen dem eigenen Drogenkonsum und dem der Freunde besteht: Unsere Freunde beeinflussen uns, aber wir suchen uns auch die Freunde aus, die unsere Vorlieben teilen. Diese Ergebnisse zeigen 3 Möglichkeiten, wie Drogenprävention und Behandlungsprogramme wirken können: 4 Aufklärung über die langfristigen Nachteile und den hohen Preis für das kurzfristige Vergnügen des Drogenkonsums, 4 Stärkung des Selbstbewusstseins der Betroffenen und Unterstützung bei der Suche nach dem Sinn und Zweck des Lebens, 4 Versuche, den Freundeskreis zu verändern, oder aber »Impfen« von Jugendlichen gegen Gruppendruck durch Selbstsicherheitstraining, indem sie darin trainiert werden, etwas abzulehnen. Menschen verfallen selten dem Drogenmissbrauch, wenn sie begreifen, welche physischen und psychischen Folgen sich daraus ergeben, wenn sie sich selber mögen, wenn sie zufrieden mit ihrem Leben sind und wenn ihr Umfeld den Drogenkonsum missbilligt. Diese psychologischen, sozialen und Bildungsfaktoren erklären zum Teil, warum 42% der amerikanischen Schulabbrecher rauchen, aber nur 15% der Studierenden (Ladd 1998).
335 7.4 · Drogen und Bewusstsein
Lernziele Abschnitt 7.4 Drogen und Bewusstsein Ziel 14: Definieren Sie, was psychoaktive Substanzen sind. Psychoaktive Substanzen sind Stoffe, die das Bewusstsein verändern. Ziel 15: Erörtern Sie, was Drogenabhängigkeit im Kern ist, und nennen Sie verbreitete falsche Vorstellungen über Sucht. Psychoaktive Substanzen verändern Wahrnehmungen und Stimmungen. Der fortgesetzte Konsum dieser Substanzen führt zur Toleranz (man braucht eine größere Dosis, um denselben Effekt zu erreichen) und kann zu physischer und/oder psychischer Abhängigkeit führen. Sucht ist das zwanghafte Verlangen nach Drogen und ihrem Konsum. Drei verbreitete Fehlauffassungen von Sucht besagen, dass 1. Drogen schnell süchtig machen, 2. immer eine Therapie erforderlich ist, um eine Sucht zu überwinden, 3. der Begriff der Sucht sinnvoll über die Abhängigkeit von einer chemischen Substanz hinaus auf eine breite Vielfalt anderer Verhaltensweisen ausgeweitet werden kann. Ziel 16: Nennen Sie die Hauptklassen psychoaktiver Substanzen, und listen Sie 3 Arten auf, wie diese Substanzen die neuronale Übertragung im Gehirn beeinträchtigen können. Dämpfende Substanzen, Stimulanzien und Halluzinogene sind die 3 Hauptklassen psychoaktiver Substanzen. Diese Substanzen beeinträchtigen die neuronale Übertragung dadurch, dass sie die Aktivität der chemischen Botenstoffe (Neurotransmitter) an den Synapsen im Gehirn stimulieren, hemmen oder nachahmen. Die Effekte psychoaktiver Substanzen hängen auch von den Erwartungen des Konsumenten ab. Ziel 17: Erklären Sie, wie dämpfende Substanzen die Aktivität unseres Nervensystems und das Verhalten beeinflussen, und fassen Sie die Befunde zu Alkoholkonsum und -missbrauch zusammen. Dämpfende Substanzen wie etwa Alkohol, Barbiturate und Opiate verringern die neuronale Aktivität und verlangsamen die Körperfunktionen. Alkohol enthemmt. Er erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir aufgrund von Impulsen handeln – egal ob sie schädlich oder hilfreich sind –, denen wir ohne Alkohol nicht nachgeben würden. Er verlangsamt auch die Aktivität des Nervensystems, beeinträchtigt die Urteilsfähigkeit, verringert das Selbstbewusstsein und wirkt sich störend auf Gedächtnisprozesse aus, indem er den REM-Schlaf unterdrückt. Wenn Menschen glauben, sie hätten Alkohol getrunken, werden sie sich entsprechend verhalten und ihr Verhalten als durch Alkohol beeinflusst erklären. Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten Stimulanzien, und erklären Sie, wie sie die neuronale Aktivität und das Verhalten beeinflussen. Stimulanzien – Koffein, Nikotin, Amphetamine, Kokain und Ecstasy – regen die neuronale Aktivität an und beschleunigen die Körperfunktionen. Metamphetamin hat ein hohes Suchtpotenzial, und der fortgesetzte Konsum kann die Dopaminproduktion verringern. Durch Kokain wird die Wiederaufnahme von Dopamin, Norepinephrin und Serotonin an den Synapsen im Gehirn blockiert, und es führt beim Konsumenten
zu einem 15- bis 30-minütigen Ausbruch eines intensiven Hochgefühls, auf den der Absturz folgt. Kokain hat ein hohes Suchtprotenzial, und kann zu einem Herz-Kreislauf-Kollaps und generellem Misstrauen führen. Ecstasy ist eine Kombination aus einem Stimulans und einem leichten Halluzinogen. Dadurch, dass es Serotonin freisetzt und seine Wiederaufnahme an den Synapsen blockiert, ruft es ein euphorisches Hoch und Gefühle der Intimität hervor. Der wiederholte Konsum kann zur Schwächung des Immunsystems führen, die zirkadiane Uhr unterbrechen, Serotonin produzierende Nervenzellen zerstören sowie dauerhaft die Stimmung durcheinander bringen und das Gedächtnis schädigen. Zusammen mit körperlicher Aktivität kann es zu einer Dehydrierung kommen und zu einer potenziell tödlichen Überhitzung führen. Ziel 19: Beschreiben Sie die physiologischen und psychologischen Auswirkungen der Halluzinogene, und fassen Sie kurz die Auswirkungen von LSD und Marihuana zusammen. Halluzinogene wie LSD und Marihuana verzerren die Wahrnehmung und rufen sensorische Bilder ohne sensorischen Input hervor. LSD ist einer bestimmten Art von Serotonin chemisch ähnlich. Die Stimmung und die Erwartungen des Konsumenten beeinflussen die Wirkungen von LSD; häufig stellen sich Halluzinationen und Emotionen ein, die von Euphorie bis Panik reichen. Der wichtigste aktive Bestandteil von Marihuana, das THC, löst eine Vielfalt von Effekten aus; und dazu gehören Enthemmung, euphorisches Hoch, Entspannungsgefühle, Linderung von Schmerzen sowie eine starke Sensibilität für Farben, Töne, Geschmäcker und Gerüche. Er kann aber auch Gefühle von Angst oder Depression intensiver werden lassen, die motorische Koordination und die Reaktionszeit beeinträchtigen, die Gedächtnisbildung unterbrechen und – wegen des inhalierten Rauchs, durch den es transportiert wird – das Lungengewebe schädigen. Ziel 20: Erörtern Sie die biologischen, psychologischen und soziokulturellen Faktoren, die zum Drogenkonsum beitragen. Das Zusammentreffen psychischer Faktoren (wie Stress, Depression, Hilflosigkeit) und sozialer Faktoren (wie Gruppendruck) verführt viele Menschen dazu, mit Drogen zu experimentieren und manchmal abhängig zu werden. Kulturelle und ethnische Gruppen weisen in Bezug auf den Drogenkonsum unterschiedliche Häufigkeiten auf. Zwillings- und Adoptionsstudien, aber auch Tier- und molekulargenetische Studien deuten darauf hin, dass es biologisch bei manchen Menschen wahrscheinlicher ist, dass sie drogen- oder alkoholabhängig werden. Jeder dieser Einflüsse – ob biologisch, psychologisch, sozial oder soziokulturell – schafft Möglichkeiten für die Drogenprävention und für Behandlungsprogramme. > Denken Sie weiter: Auf Partys an der Universität wird viel getrunken, weil Studierende die Begeisterung ihrer Mitstudierenden für Alkohol überschätzen. Glauben Sie, dass solche Fehlwahrnehmungen auch an Ihrer Universität vorkommen? Wie könnten Sie das herausfinden?
7
336
Kapitel 7 · Bewusstsein
7.5
Nahtoderfahrungen
Ziel 21: Beschreiben Sie die Nahtoderfahrung und die Kontroverse darüber, ob sie ein Beleg für den Leib-Seele-Dualismus ist.
7
Aus »Hallucinations« von R. K. Siegel ©1997 Scientific American Inc.
Nahtoderfahrung (near-death experience): veränderter Bewusstseinszustand, der häufig von Menschen erlebt wird, die dem Tod nahe sind (z. B. bei einem Herzstillstand); ähnelt oft drogeninduzierten Halluzinationen.
. Abb. 7.21. Nahtoderfahrung oder Halluzination? Siegel (1977) berichtet, dass Menschen unter dem Einfluss halluzinogener Drogen häufig »ein helles Licht im Zentrum ihres Blickfelds sehen ... Die Stelle, an der sich dieser Lichtpunkt befindet, vermittelt eine tunnelähnliche Perspektive.«
Ein Mann … hört, wie sein Arzt ihn für tot erklärt. Er hört ein unangenehmes Geräusch, ein lautes Klingeln oder Summen, und fühlt gleichzeitig, wie er sich sehr schnell durch einen langen dunklen Tunnel bewegt. Dann findet er sich plötzlich außerhalb seines eigenen Körpers wieder … und sieht seinen Körper aus der Entfernung, als wäre er ein Zuschauer. … Kurz darauf geschehen noch weitere Dinge. Andere kommen auf ihn zu, um ihm beizustehen. Er sieht die Geister von Verwandten und Freunden, die bereits verstorben sind, und ein liebevoller, warmer Geist von einer Art, der er noch nie begegnet ist – ein Lichtwesen – erscheint vor ihm. … Er ist von intensiven Gefühlen der Freude, Liebe und des Friedens überwältigt. Trotz dieser Stimmung vereinigt er sich irgendwie wieder mit seinem Körper und lebt (Moody 1976). Hier handelt es sich um die zusammenfassende Beschreibung einer Nahtoderfahrung. In Studien über Menschen, die wegen eines Herzanfalls oder wegen anderer körperlicher Traumata schon fast tot waren, erinnern sich 12–40% der Befragten an eine Nahtoderfahrung (Gallup 1982; Ring 1980; Schnapper 1980; Van Lommel et al. 2001). Kam Ihnen die Beschreibung der Nahtoderfahrung bekannt vor? Die Parallelen zu Siegels (1977) Beschreibungen der typischen halluzinatorischen Erfahrung sind deutlich: Alte Erinnerungen tauchen wieder auf, Visionen von Tunneln und Trichtern, hellen Lichtern und Lichtgestalten entstehen (. Abb. 7.21). Patienten mit Krampfanfällen im Temporallappen berichten ebenfalls von mystischen Erfahrungen, die manchmal den Nahtoderfahrungen ähneln. Als Forscher die betreffende Stelle des Temporallappens bei einer Patientin stimulierten, hatte diese das Gefühl, an der Decke zu schweben und sich selbst von oben im Bett liegend zu sehen (Blanke et al. 2002). Auch einsame Segler und Polarforscher haben solche außerkörperlichen Erlebnisse, wenn sie unter der Monotonie, Isolation und Kälte leiden (Suedfeld u. Mocellin 1987). Auch Sauerstoffmangel kann zu derartigen Halluzinationen führen, zu denen noch Tunnelsehen hinzukommt (Woerlee 2004). Leidet das Gehirn unter Sauerstoffmangel, werden die hemmenden Zellen im Gehirn ausgeschaltet, und die neuronale Aktivität im visuellen Kortex verstärkt sich, wie Blackmore (1991, 1993) anmerkt. So entsteht ein sich vergrößernder Lichtfleck, der dem näher kommenden Licht am Ende eines Tunnels ganz ähnlich sieht. ! Die Nahtoderfahrung kann laut Siegel (1980) am ehesten als »halluzinogene Gehirnaktivität« interpretiert werden.
»Die Seele handelt scheinbar unabhängig vom Gehirn, so wie ein Programmierer unabhängig von seinem Computer handelt.« Der Neurowissenschaftler Wilder Penfield (1975)
Dualismus (dualism): Annahme, dass Leib und Seele zwei voneinander getrennte Einheiten sind, die aber in einer Wechselwirkung zueinander stehen.
Andere Forscher, die sich mit Nahtoderfahrungen beschäftigen, widersprechen jedoch dieser Argumentation. Menschen, die Halluzinationen und das Nahtodphänomen erlebt haben, bestreiten normalerweise, dass sich beide Phänomene ähneln. Außerdem kann eine Nahtoderfahrung Menschen so verändern, wie es ein Drogentrip niemals kann. Jene, die »vom Licht umarmt wurden«, werden häufig freundlicher, spiritueller und glauben eher an ein Leben nach dem Tode. Und sie neigen dazu, mit Stress gut umzugehen, oft indem sie eher »den Stier bei den Hörnern packen« als traumatisiert zu werden (Britton u. Bootzin 2004). Darauf antworten Skeptiker wiederum, dass der Kontext des Todes zu diesen Effekten führe. Überall auf der Welt berichten Menschen, die dem Tod nahe waren, von Visionen einer anderen Welt, doch der Inhalt dieser Visionen ist häufig von der Kultur abhängig (Kellehear 1996). Die Kontroverse darüber, wie Nahtoderfahrungen zu interpretieren sind, berührt das grundlegende Leib-Seele-Problem: Ist die Seele immateriell? Kann sie getrennt vom Körper existieren? Dualisten meinen: ja. Sie glauben, dass Körper und Seele zwei voneinander getrennte, aber eng verknüpfte Einheiten sind – die Seele immateriell, der Körper materiell. Wie Sokrates in Platons »Phaidon« sagt, »Meint Tod nicht, dass der Körper für sich existiert, getrennt von der Seele, und die Seele für sich existiert, getrennt vom Körper? Was sonst könnte Tod sein?« Für Sokrates, für die 84% der Amerikaner, die an das »Überleben der Seele nach dem Tod« glauben, und für die, die heute glauben, dass Nahtoderfahrungen ein Beweis für die Unsterblichkeit sind, ist der Tod eigentlich nicht der Tod der Person (Taylor 2003). Der Tod ist vielmehr die Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Körpers, also ein Grund zur Freude.
337 7.5 · Nahtoderfahrungen
Monisten leugnen die Trennung von Körper und Seele. Sie nehmen an, dass Seele und Körper unterschiedliche Aspekte desselben Gegenstands sind. Seele oder Geist ist das, was das Gehirn hervorbringt. In der westlichen Welt gehören jene Wissenschaftler zu den Monisten, die an die Untrennbarkeit von Körper und Seele glauben, und die Theologen, die glauben, dass das Leben nach dem Tod irgendeine Form der körperlichen Wiederauferstehung ist. Diese Monisten glauben grundsätzlich, dass Leben körperlich ist und der Tod real, und dass wir ohne Körper tatsächlich ein »no-body« sind. Wie die Debatten über die Bedeutung von Träumen, Fantasie, Hypnose, drogeninduzierten Halluzinationen und Nahtoderfahrungen zeigen, versucht die Wissenschaft, unser Interesse am menschlichen Bewusstsein und der menschlichen Natur zu stillen. Obwohl noch Fragen offen bleiben, die sie nicht beantworten kann, hilft uns die Wissenschaft doch, uns ein Bild von uns selbst und von den menschlichen Potenzialen und Grenzen zu machen.
Monismus (monism): Annahme, dass Seele und Körper zwei unterschiedliche Aspekte desselben sind. »Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: ›Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.‹« Der Genetiker Sir Francis Crick (»Was die Seele wirklich ist«, 1994)
Lernziele Abschnitt 7.5 Nahtoderfahrungen Ziel 21: Beschreiben Sie die Nahtoderfahrung und die Kontroverse darüber, ob sie ein Beleg für den Leib-Seele-Dualismus ist. Ungefähr ein Drittel derer, die schon einmal fast gestorben sind, z. B. bei einem Herzstillstand, erinnern sich später an Nahtoderfahrungen. Dazu gehören manchmal die Erfahrungen, sich außerhalb des Körpers zu befinden, und die, ein helles Licht zu sehen und sich dorthin zu bewegen. Dualisten nehmen solche Erfahrungen als Beweis für die Unsterblichkeit
des Menschen. Monisten heben hervor, dass solche Erfahrungen den Berichten über Halluzinationen gleichen und Produkte von gestressten Hirnen sind. > Denken Sie weiter: Stehen Sie in Ihrem Verständnis der Geist-Körper-Wissenschaften und in Ihrer persönlichen Lebensphilosophie oder Religiosität eher dem Dualismus oder dem Monismus nahe?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Wann in der Geschichte der Psychologie wurde das »Bewusstsein« hoch bzw. gering geschätzt? 2. Bekommen Sie ausreichend Schlaf? Welche Fragen könnten Sie sich selbst stellen, um diese Frage zu beantworten? 3. Wann ist die Verwendung der Hypnose besonders schädlich, und wann kann sie hilfreich eingesetzt werden? 4. Bei einer Umfrage der US-Regierung unter 27.616 jetzigen oder ehemaligen Alkoholikern fand man heraus, dass 40% derjenigen, die vor dem Alter von 15 Jahren anfingen zu trinken, alkoholabhängig wurden. Dasselbe traf nur auf 10% derjenigen zu, die erst im Alter von 21 oder 22 Jahren zu trinken begannen (Grant u. Dawson 1998). Welche möglichen Erklärungen könnte es für diese Korrelation zwischen frühem Alkoholkonsum und späterem Alkoholmissbrauch geben? 5. Inwiefern ähneln Nahtoderfahrungen den durch Drogen hervorgerufenen Halluzinationen?
L Deutsche Literatur zum Thema Crick, F. (1997). Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins. Reinbek: Rowohlt. Herrmann, Ch., Pauen, M., Rieger, J. & Schicktanz, S. (2005). Bewusstsein. Philosophie, Neurowissenschaften, Ethik. München: Fink. Hurrelmann, K. & Bründel, H. (1997). Drogengebrauch – Drogenmissbrauch. Eine Gratwanderung zwischen Genuss und Abhängigkeit. Darmstadt: Primus. Mulder, T. (2006). Das adaptive Gehirn. Über Bewegung, Bewusstsein und Verhalten. Stuttgart: Thieme. Revenstorf, D. & Peter, B. (2008). Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Roth, G. (2003). Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt: Suhrkamp. Watzl, H. & Rockstroh, B. (1997). Abhängigkeit und Mißbrauch von Alkohol und Drogen. Göttingen: Hogrefe.
7
8 Lernen 8.1
Wie lernen wir? – 340
8.2
Klassische Konditionierung – 343
8.2.1 Pawlows Experimente – 343 8.2.2 Aktuelle Erweiterungen – 348 8.2.3 Anwendungsbereiche – 351
8.3
Operante Konditionierung
– 354
8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6
Skinners Experimente – 354 Shaping (Verhaltensformung) – 355 Bestrafung – 360 Aktuelle Erweiterungen – 362 Anwendungsbereiche – 364 Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung
8.4
Beobachtungslernen
– 367
– 369
8.4.1 Banduras Experimente – 371 8.4.2 Anwendungsbereiche – 372
Andere Kulturen, andere Perspektiven Lesen lernte ich mit Hilfe des Comics »Superman«. Gar nicht so schwer vermutlich ... Ich war 3 Jahre alt, ein Indianerjunge vom Stamme der Spokane, der mit seiner Familie im Osten des Bundesstaats Washington lebte. Das könnte für sich schon eine interessante Geschichte sein. Ein kleiner Indianerjunge bringt sich selbst in frühem Alter das Lesen bei und macht schnelle
Fortschritte. Als sich die anderen im Kindergarten mit »Dick and Jane« abmühen, liest er die »Früchte des Zorns«. Wäre er jemand anders als ein Indianerjunge in einem Indianerreservat gewesen, hätte man ihn vielleicht als Wunderkind bezeichnet. Aber als Indianerjunge, der in einem Indianern vorbehaltenen Siedlungsgebiet wohnt, ist er schlicht ein seltsamer Kauz ...
Sherman Alexie (geb. 1966), aus »Superman and Me«
Ich wollte einfach nicht scheitern. Ich war schlau. Ich hatte Glück ... Ich las alles, was aus Wörtern und Abschnitten bestand. Ich las gleichermaßen von Freude und von Verzweiflung. Ich liebte diese Bücher, aber ich wusste auch, dass ich mit dieser Liebe nur ein Ziel verfolgte. Ich versuchte, mein Leben zu retten.
340
Kapitel 8 · Lernen
Lernen > Wenn ein Lachs zum ersten Mal auf dem Kiesbett eines Flusses aus seinem Ei schlüpft, verfügen seine Gene über fast alle lebensnotwendigen Verhaltensvorgaben. Er weiß instinktiv, wie und wohin er schwimmen, was er fressen und wie er sich vor Räubern schützen muss. Einem angeborenen Plan folgend, macht sich der junge Lachs bald auf den Weg zum Meer. Nach etwa 4 Jahren im Ozean kehrt der geschlechtsreife Lachs an seinen Geburtsort zurück. Er schwimmt Hunderte von Kilometern bis zur Mündung seines Heimatflusses und beginnt dann, geleitet durch den Duft seiner heimischen Gewässer, eine Odyssee stromaufwärts bis hin zum Laichplatz seiner Vorfahren. Im Fluss macht der Lachs dort genau jene Umweltbedingungen (Temperatur, Kies und Fließgeschwindigkeit) ausfindig, die ihm seine Fortpflanzung erleichtern. Dann paart er sich und stirbt, nachdem er seine Lebensaufgabe erfüllt hat. Anders als der Lachs werden wir nicht mit einem genetischen Lebensplan geboren. Viele Dinge, die wir tun, lernen wir durch Erfahrung. Zwar müssen wir darum kämpfen, eine Richtung in unserem Leben zu finden – eine Fähigkeit, die dem Lachs angeboren ist –, doch unser Lernen schenkt uns größere Flexibilität. Wir können lernen, wie man Grashütten baut oder Iglus, U-Boote oder Raumstationen, und dadurch passen wir uns fast jeder Umgebung an. Tatsächlich ist wohl das wichtigste Geschenk, das wir von der Natur erhalten haben, unsere Anpassungsfähigkeit – unsere Fähigkeit, neue Verhaltensweisen zu lernen, die es uns ermöglichen, mit wechselnden Bedingungen zurechtzukommen.
8 Lernen (learning): relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Organismus aufgrund von Erfahrung
»Das Lernen ist das Auge des Geistes.« Thomas Drake (»Bibliotheca Scholastica Instructissima«, 1633)
Das Lernen weckt Hoffnungen. Was erlernbar ist, können wir unter Umständen auch lehren – eine ermutigende Tatsache für Eltern, Lehrer, Trainer und Tierausbilder. Was bereits gelernt wurde, können wir möglicherweise durch erneutes Lernen verändern; auf dieser Annahme beruhen Beratungsgespräche, Psychotherapie und Rehabilitationsmaßnahmen. Ganz gleichgültig, wie unglücklich, erfolglos oder gefühlskalt wir sind: Es muss nicht zwangsläufig so bleiben. Kein Thema kommt dem Kern der Psychologie näher als das Lernen, eine mehr oder weniger dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Organismus aufgrund von Erfahrung. In den vorausgegangenen Kapiteln haben wir uns beispielsweise schon mit dem Erlernen von Moralvorstellungen und der Bedeutung des Lernens bei der visuellen Wahrnehmung befasst. In den folgenden Kapiteln werden wir noch darauf eingehen, wie Lernen unser Denken und unsere Sprache, unsere Motivation und unsere Gefühle, unsere Persönlichkeit und unsere Einstellungen prägt. Dieses Kapitel geht näher auf einige der Lernprozesse ein.
8.1
Wie lernen wir
Ziel 1: Definieren Sie, was Lernen ist, und geben Sie zwei Formen des Lernens an.
Vor mehr als 200 Jahren griffen Philosophen wie John Locke und David Hume eine These auf, die Aristoteles 2000 Jahre zuvor aufgestellt hatte: Wir lernen durch Assoziation. Unser Verstand verbindet auf natürliche Weise aufeinander folgende Ereignisse. Wenn Sie, nachdem Sie frisch gebackenes Brot gesehen und gerochen haben, es essen und es Ihnen schmeckt, wird Ihre Erfahrung Sie das nächste Mal, wenn Sie frisches Brot sehen und riechen, zu der Erwartung veranlassen, dass es Ihnen wieder schmeckt, wenn Sie es essen. Und wenn Sie mit einem Geräusch eine erschreckende Folgereaktion in Verbindung bringen, dann kann es sein, dass Ihre Angst allein durch dieses Geräusch ausgelöst wird. Nachdem ein 4-jähriges Kind gerade im Fernsehen gesehen hatte, wie jemand ausgeraubt worden war, rief es aus: »Wenn ich diese Musik gehört hätte, wäre ich nicht um die Ecke gegangen!« (Wells 1981) Einfachere Lebewesen können einfache Assoziationen lernen. Wenn die Meeresschnecke Aplysia von spritzendem Wasser belästigt wird, zieht sie zu ihrem Schutz die Kiemen zurück. Wenn es weiter spritzt, wie dies bei rauer See geschieht, nimmt ihre Rückzugsreaktion ab. (Die Reaktion der Schnecke passt sich an, sie habituiert.) Bekommt die Meeresschnecke immer wieder einen Elektroschock, nachdem sie bespritzt wurde, wird ihre Rückzugsreaktion auf das Spritzen stärker.
341 8.1 · Wie lernen wir
Jouanneau Thomas/Corbis Sygma
Anlage ohne eine angemessene Umwelt Keiko – der große Schwertwal, der aus dem Film »Free Willy« bekannt ist – hatte genau die richtigen Gene, um in den Gewässern vor Island wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Da es ihm aber an Lebenserfahrung als Wal mangelte, benötigte er bis zu seinem Lebensende in einem norwegischen Fjord Betreuer
Assoziatives Lernen (associative learning): Lernen, dass bestimmte Ereignisse zusammen auftreten. Bei den Ereignissen kann es sich (in der klassischen Konditionierung) um zwei Reize oder (in der operanten Konditionierung) um eine Reaktion und ihre Konsequenzen handeln.
Das Tier verbindet den Spritzer mit dem drohenden Schock. Höher entwickelte Lebewesen können weitere Assoziationen zwischen Reaktion und Handlungsergebnis lernen. Seehunde in einem Aquarium wiederholen Verhaltensweisen wie Klopfen oder Bellen, die die Menschen dazu bringen, ihnen einen Hering zuzuwerfen. Die Meeresschnecke und die Seehunde setzen zwei Ereignisse, die kurz nacheinander eintreten, zueinander in Beziehung und demonstrieren damit das Prinzip des assoziativen Lernens. Die Meeresschnecke verbindet den Spritzer mit dem drohenden Elektroschock; die Seehunde verbinden Klopfen und Bellen damit, einen Hering zu bekommen. In beiden Fällen haben die Tiere etwas Überlebenswichtiges gelernt: die unmittelbare Zukunft vorherzusagen. Wie wichtig das Lernen für ein Tier ist, zeigt sich an den Anforderungen, mit denen in Gefangenschaft aufgewachsene Tiere konfrontiert sind, wenn sie wieder in die freie Wildbahn entlassen werden. Elf mexikanische Grauwölfe – seit 1977 in den USA ausgestorben – wurden, nachdem sie in Gefangenschaft geboren und aufgezogen worden waren, 1998 im Apache National Forest in Arizona frei gelassen. Acht Monate später wurde der einzige Überlebende dieses ersten Auswilderungsversuchs wieder eingefangen. Die in Gefangenschaft aufgewachsenen Wölfe hatten zwar gelernt, zu jagen und sich auf ca. 30 m von den Menschen entfernt zu halten, aber sie hatten nicht gelernt, vor einem Menschen mit einem Gewehr wegzulaufen. Was mit den Grauwölfen geschah, ist nicht ungewöhnlich. Von 145 dokumentierten Auswilderungen von 115 Arten im 20. Jahrhundert brachten nur 11% Populationen hervor, die auf sich selbst gestellt in der Wildnis überleben konnten. Eine erfolgreiche Anpassung erfordert sowohl natürliche (die notwendige genetische Veranlagung) als auch Umweltvoraussetzungen (eine lebenslange angemessene Lernerfahrung). Konditionierung nennt man den Prozess des Erlernens von Assoziationen. Bei der klassischen Konditionierung lernen wir, zwei Reize miteinander zu verbinden und auf diese Weise Ereignisse vorwegzunehmen. Wir lernen, dass ein Blitzschlag ein Signal für den darauf folgenden Donner ist, und wir beginnen, auf Donner gefasst zu sein, wenn es in der Nähe blitzt (. Abb. 8.1). Durch die operante Konditionierung lernen wir, eine Reaktion (unser Verhalten) und deren Folgen in Verbindung zu bringen und auf diese Weise Handlungen mit guten Ergebnissen zu wiederholen (. Abb. 8.2) und Handlungen mit schlechten Ergebnissen zu vermeiden.
Die meisten von uns könnten die Reihenfolge der Titel auf ihrer Lieblings-CD nicht nennen. Wenn wir aber das Ende eines Stückes hören, löst dies (durch Assoziation) die Vorwegnahme des nächsten aus. Ebenso verbinden wir, wenn wir unsere Nationalhymne singen, das Ende jeder Zeile mit dem Beginn der nächsten. (Nehmen Sie eine Zeile aus der Mitte heraus und achten Sie darauf, wie viel schwieriger es ist, sich an die vorhergehende Zeile zu erinnern.) . Abb. 8.1. Klassische Konditionierung
8
342
Kapitel 8 · Lernen
Reaktion: Einen Ball balancieren
. Abb. 8.2. Operante Konditionierung
8
Folge: Nahrung bekommen
Verhalten wird verstärkt
Zum besseren Verständnis werden wir diese beiden Typen des assoziativen Lernens getrennt betrachten. Sie treten jedoch oft in derselben Situation auf. Ein cleverer japanischer Landwirt hütet Berichten zufolge sein Vieh, indem er es mit elektronischen Piepsern ausstattet, die er von seinem Handy aus aktiviert. Nach einer Woche Training lernen die Tiere, die beiden Reize – den Piepston und die Ankunft des Futters (klassische Konditionierung) miteinander zu verbinden. Aber sie lernen auch, ihren eiligen Gang zum Futtertrog mit dem Fressvergnügen zu verbinden (operante Konditionierung). Das Konzept der Assoziation durch Konditionierung wirft jedoch noch viele Fragen auf: Welche Prinzipien beeinflussen das Lernen und Verlernen von Assoziationen? Wie lassen sich diese Prinzipien anwenden? Und worin bestehen die Assoziationen tatsächlich: Ruft der Ton aus dem Piepser beim Stier Erinnerungen an das Futter als mentale Repräsentation hervor, auf die er mit seinem Gang an den Trog reagiert? Oder ist es nicht sinnvoll, konditionierte Assoziationen mit Hilfe kognitiver Prozesse erklären zu wollen? (In 7 Kap. 9 werden wir erfahren, wie das Gehirn Lernen speichert und das Gespeicherte wieder abruft. Konditionierung ist nicht die einzige Form des Lernens. Beim Beobachtungslernen lernen wir aus den Erfahrungen anderer und durch Beispiele. Höher entwickelte Lebewesen, wie etwa Schimpansen, lernen manchmal Verhaltensweisen nur dadurch, dass sie andere Schimpansen bei ihren Tätigkeiten beobachten. Wenn ein Tier einem anderen dabei zuschaut, wie es lernt, ein Puzzle zu legen, wofür es mit Futter belohnt wird, führt das beobachtende Tier das Kunststück möglicherweise schneller vor. Durch Konditionierung und durch Beobachtung lernen wir Menschen und passen uns unserer Umwelt an. Wir lernen, Ereignisse zu erwarten und uns auf signifikante Ereignisse wie etwa Nahrung oder Schmerz vorzubereiten (klassische Konditionierung). Auch lernen wir, Handlungen mit positiven Ergebnissen zu wiederholen und Handlungen mit negativen Ergebnissen zu vermeiden (operante Konditionierung). Dadurch, dass wir andere beobachten, lernen wir neue Verhaltensweisen (Beobachtungslernen). Und durch die Sprache lernen wir auch Dinge, die wir weder erlebt noch beobachtet haben.
Lernziele Abschnitt 8.1 Wie lernen wir? Ziel 1: Definieren Sie, was Lernen ist, und geben Sie zwei Formen des Lernens an. Lernen ist eine relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Lebewesens, die auf Erfahrung zurückgeht. Beim assoziativen Lernen lernen wir, zwei Reize (bei der klassischen Konditionierung) oder eine Reaktion mit den Folgen (bei der operanten Konditionierung) zu assoziieren. Beim Beobachtungslernen lernen wir, indem wir uns die Erfahrungen und Beispiele anderer ansehen.
> Denken Sie weiter: Können Sie sich aus Ihrer Kindheit an ein Beispiel für Lernen durch klassische Konditionierung erinnern – z. B. Speichelfluss, als Sie hörten oder rochen, dass Ihr Lieblingsgericht in der Küche Ihrer Familie zubereitet wurde. Können Sie sich an ein Beispiel für Lernen durch operante Konditionierung erinnern, als Sie ein Verhalten wiederholten (oder sich entschieden, es nicht zu wiederholen), weil Sie seine Folgen mochten (oder nicht mochten)? Können Sie sich daran erinnern, jemanden beobachtet zu haben, der irgendeine Handlung ausführte, und später selbst diese Handlung wiederholt oder vermieden zu haben?
343 8.2 · Klassische Konditionierung
8.2
8
Klassische Konditionierung
Ziel 2: Definieren Sie, was klassische Konditionierung und was Behaviorismus ist, und beschreiben Sie die 3 grundlegenden Elemente der klassischen Konditionierung.
Die Vorstellung, dass Assoziationen gelernt werden können, sorgte lange Zeit für eine philosophische Diskussion und konnte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die wohl berühmteste Forschungsarbeit in der Psychologiegeschichte nachgewiesen werden. Viele Menschen kennen den Namen Iwan Pawlow (1849–1936). Seine Experimente sind Klassiker, und das Phänomen, das er erforscht hat, nennen wir zu Recht klassische Konditionierung. Pawlows Arbeit bildete auch die Grundlage für viele der Thesen des amerikanischen Psychologen John B. Watson. Während er die grundlegenden Gesetze des Lernens erforschte, drängte Watson (1913) seine Kollegen dazu, den Bezugsrahmen von Gedanken, Gefühlen und innerer Motivationen aufzugeben. Stattdessen, so Watson, sollte die psychologische Forschung untersuchen, wie Organismen auf Reize in ihrer Umgebung reagieren. »Das Ziel der Theorie ist die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens. Introspektion steht nicht im Mittelpunkt der Methodik der Psychologie.« Kurz gesagt sollte die Psychologie eine objektive Wissenschaft sein, die auf beobachtbarem Verhalten basierte. Diese Position, die die nordamerikanische Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusste, nannte Watson Behaviorismus. Watson und Pawlow teilten beide eine Verachtung für mentalistische Konzepte wie etwa das Bewusstsein; ebenso waren sie sich darin einig, dass die grundlegenden Lerngesetze für alle Lebewesen – seien es Hunde oder Menschen – dieselben seien. Obwohl die heutigen Forscher i. Allg. darin übereinstimmen, dass die Psychologie mentale Prozesse untersuchen sollte, würden sie auch darin übereinstimmen, dass das klassische Konditionieren eine grundlegende Form des Lernens ist, durch die sich alle Organismen ihrer Umgebung anpassen.
Klassische Konditionierung (classical conditioning): Form des Lernens, bei der ein Organismus Reize miteinander assoziiert. Ein neutraler Reiz wird durch wiederholte Darbietung mit einem unkonditionierten Reiz (US) gekoppelt und wird so zum Signal für das Auftreten des US; schließlich ruft der neutrale Reiz allein die konditionierte Reaktion hervor und wird dann als konditionierter Reiz (CS) bezeichnet (auch als Pawlow’sche oder respondente Konditionierung bezeichnet).
Behaviorismus (behaviorism): Sichtweise von der Psychologie als 1. einer objektiven Wissenschaft, die 2. das Verhalten ohne Bezugnahme auf mentale Prozesse untersucht. Heute stimmen die meisten Psychologen, die in der Forschung tätig sind, lediglich der 1. Aussage zu.
Pawlow wurde sein Leben lang von der Leidenschaft für die Forschung getrieben. Nachdem er seinen anfänglichen Plan fallen gelassen hatte, wie sein Vater russisch-orthodoxer Priester zu werden, machte er mit 33 Jahren seinen Abschluss als Arzt und verbrachte die nächsten 2 Jahrzehnte damit, das Verdauungssystem zu untersuchen. Diese Tätigkeit brachte ihm im Jahre 1904 Russlands ersten Nobelpreis ein. Aber erst durch seine neuen Experimente zur Lernforschung, denen er die letzten 3 Jahrzehnte seines Lebens widmete, erhielt der engagierte Forscher seinen Platz in der Geschichte. Zu Pawlows Richtungswechsel in der Forschung kam es, als sein schöpferischer Geist sich auf ein zufälliges Ergebnis stürzte. Nachdem er die Speichelsekretion bei Hunden untersucht hatte, fand er heraus, dass ein Hund unwillkürlich Speichelfluss aufwies, sobald er ihm Futter ins Maul gab. Wenn er mehrmals mit dem gleichen Hund arbeitete, fiel ihm auch auf, dass dieser begann, auf Reize, die mit dem Futter gekoppelt waren, mit Speichelfluss zu reagieren, so etwa durch den bloßen Anblick des Futters, des Futternapfs oder durch die Anwesenheit der Person, die normalerweise das Futter brachte, oder sogar durch das Geräusch, das die sich nähernden Schritte dieser Person verursachten. Da diese »psychischen Sekretionen« seine Experimente zur Verdauung störten, ärgerte sich Pawlow darüber – bis er erkannte, dass sie auf eine einfache, aber wichtige Form des Lernens hindeuteten. Von diesem Augenblick an erforschte Pawlow das Lernen; er erhoffte sich davon, die Vorgänge im Gehirn besser verstehen zu können. Zunächst versuchten Pawlow und seine Assistenten, sich vorzustellen, was der Hund wohl dachte und fühlte, wenn er in Erwartung des Futters sabberte. Dies führte sie nur zu fruchtlosen Debatten. Um das Phänomen objektiver zu erforschen, begannen sie zu experimentieren. Um einen möglichen Einfluss äußerer Reize auszuschließen, isolierten sie den Hund in einem kleinen Zimmer, banden ihn mit einem Hundegeschirr fest und brachten an seinem Maul eine Vorrichtung an, die den abgesonderten Speichel in einen Messbehälter leitete. Vom Nachbarraum aus konnten sie ihn mit Futter versorgen. Zunächst schoben sie es ihm in einem Futternapf hin, später bliesen sie in einem bestimmten Moment Fleischpulver in das Maul des Hundes. Sie koppelten
Bettmann/Corbis
8.2.1 Pawlows Experimente
Iwan Pawlow »Experimentelle Forschung … sollte das unerschütterliche Fundament der zukünftigen wirklich wissenschaftlichen Psychologie bilden.« (1927)
344
Kapitel 8 · Lernen
Unkonditionierte Reaktion (UR), auch unbedingte Reaktion (unconditioned response): in der klassischen Konditionierung die nicht gelernte, natürlich auftretende Reaktion auf einen unkonditionierten Stimulus (US), wie etwa Speichelfluss, wenn sich Futter im Maul befindet. Unkonditionierter Stimulus (US), auch unbedingter Stimulus (unconditioned stimulus): in der klassischen Konditionierung ein Reiz, der unkonditioniert (ungelernt) – natürlich und automatisch – eine Reaktion auslöst. Konditionierte Reaktion (CR), auch bedingte Reaktion (conditioned response): in der klassischen Konditionierung die gelernte Antwort auf einen zunächst neutralen, nun jedoch konditionierten Reiz (CS). Konditionierter Stimulus (CS), auch unbedingter Stimulus (unconditioned stimulus): in der klassischen Konditionierung ein zunächst irrelevanter Reiz, der nach der Assoziation mit einem unkonditionierten Reiz (US) eine konditionierte Reaktion auslöst.
8 . Abb. 8.3. Pawlows klassisches Experiment Pawlow bot einen neutralen Reiz (einen Ton) unmittelbar vor einem unkonditionierten Reiz (Futter). Der neutrale Reiz wurde dann zum konditionierten Reiz, der eine konditionierte Reaktion auslöste
dann neutrale Reize – etwas, das der Hund sehen oder hören konnte – mit Futter im Maul des Hundes. Wenn der neutrale Reiz regelmäßig signalisierte, dass das Futter kommt, würde der Hund dann die beiden Reize miteinander assoziieren? Wenn ja, würde durch den neutralen Reiz in Erwartung des Futters Speichelfluss entstehen? Beide Fragen konnten mit ja beantwortet werden. Unmittelbar bevor das Futter ins Maul des Hundes kam, um Speichelfluss hervorzurufen, ließ Pawlow einen Ton erklingen. Nach einigen Ton-Futter-Kombinationen begann der Hund beim Hören des Tons mit dem Speichelfluss, da er das Fleischpulver vorausahnte. Dies geschah auch, wenn der Ton allein erklang. Auf diese Weise konditionierte Pawlow Hunde, auf andere Reize mit Speichelfluss zu reagieren – auf einen Summer, auf Licht, auf eine Berührung des Beins, sogar auf das Sehen eines Kreises. Das funktioniert auch mit Menschen. Als Gottfried et al. (2003) einigen hungrigen jungen Menschen in London abstrakte Figuren zeigten und sie gleichzeitig dem Aroma von Erdnussbutter oder Vanille aussetzten, reagierte ihr Gehirn schon bald in freudiger Erwartung auf die abstrakten Bilder allein. Da Speichelfluss als Reaktion auf Futter im Maul nicht gelernt war, nannte Pawlow dies eine unkonditionierte Reaktion (UR). Futter löst im Maul automatisch, unkonditioniert, einen Speichelfluss beim Hund aus (. Abb. 8.3). Daher nannte Pawlow den Futterreiz einen unkonditionierten Stimulus (US) oder unkonditionierten Reiz. Speichelfluss als Reaktion auf den Ton wurde dadurch zu einem bedingten Reflex, dass der Hund lernte, den Ton mit dem Futter zu koppeln. Diese gelernte Reaktion nennen wir konditionierte Reaktion (CR). Den zunächst bedeutungslosen Tonreiz, der dann den konditionierten Speichelfluss auslöste, nennen wir den konditionierten Stimulus (CS). Diese beiden Arten von Reizen und Reaktionen lassen sich leicht unterscheiden: Merken Sie sich einfach: konditioniert = gelernt, unkonditioniert = nicht gelernt. ? Ein zweites Beispiel, das auf später durchgeführte Experimente zurückgeht, kann zum besseren Verständnis hilfreich sein: Ein Versuchsleiter lässt einen Ton erklingen, kurz bevor er einen Luftstoß in Ihr Auge bläst. Nach einigen Wiederholungen blinzeln Sie, auch wenn nur der Ton allein erklingt. Was ist der US, der UR, der CS und der CR? (Antwort 8.2 am Ende des Kapitels)
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8
© 2004 United Feature Syndicate Inc. Distr. by kipkakomiks.de
8.2 · Klassische Konditionierung
Wenn Pawlows Nachweis des assoziativen Lernens so einfach war, fragt man sich, was er in den folgenden 3 Jahrzehnten getan hat. Welche Entdeckung wurde in seiner Forschungsfabrik gemacht, so dass anschließend 532 Arbeiten über Speichelkonditionierung geschrieben wurden (Windholz 1997)? Er und seine Kollegen erforschten die Ursachen und Wirkungen der klassischen Konditionierung. Durch ihre Experimente fanden sie 5 zentrale Konditionierungsprozesse: Erwerb, Löschung, spontane Erholung, Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination.
Erwerb Ziel 3: Beschreiben Sie, welche zeitlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine ReizReaktions-Verbindung gelernt wird.
Um den ursprünglichen Lernprozess, den Erwerb des Zusammenhangs zwischen Reiz und Reaktion zu verstehen, mussten sich Pawlow und seine Kollegen zuerst mit der Frage nach dem Faktor Zeit auseinandersetzen: Wie viel Zeit sollte zwischen der Darbietung des neutralen Reizes (Ton, Licht, Berührung) und dem unkonditionierten Reiz vergehen? Sie fanden heraus, dass die Antwort »nicht viel« hieß. Bei diversen Arten und Versuchsreihen ist eine halbe Sekunde wirklich ausreichend. Was glauben Sie, würde passieren, wenn das Futter (US) vor dem Ton (CS) und nicht danach gebracht würde? Würde eine Konditionierung eintreten? Wahrscheinlich nicht. Zu einer Konditionierung kommt es, abgesehen von einigen Ausnahmen, nur selten, wenn der CS auf den US folgt. Dieses Forschungsergebnis passt zu der Annahme, dass die klassische Konditionierung eine biologische Anpassung ist. Sie hilft den Organismen, sich auf gute und schlechte Ereignisse vorzubereiten. Pawlows Ton ist ein Signal für ein wichtiges biologisches Ereignis: Es gibt Futter (US). Das Geräusch eines knackenden Zweiges (CS) kann für einen Hirsch im Wald ein Hinweis auf einen Jäger (US) sein. Wenn das gute oder schlechte Ereignis bereits eingetreten ist, würde der CS wahrscheinlich nicht als Signal für irgendetwas dienen. ! US = Unkonditionierter Stimulus oder Reiz UR = Unkonditionierte Reaktion CS = Konditionierter Stimulus oder Reiz CR = Konditionierte Reaktion
Domjan (1992, 1994, 2005) zeigte, wie der CS ein wichtiges biologisches Ereignis ankündigt, indem er die sexuelle Erregung eines japanischen Wachtelmännchens konditionierte. Die Forscher schalteten ein rotes Licht ein, kurz bevor sie ihm ein paarungsfähiges Weibchen präsentierten. Dies führte nach und nach dazu – wenn das Licht weiterhin das nahende Kommen eines Weibchens ankündigte –, dass das Wachtelmännchen aufgeregter wurde (und sich schneller mit dem Weibchen paarte, wenn es kam). Außerdem entwickelte das Wachtelmännchen eine Vorliebe für den RotlichtBereich des Käfigs. Wenn Wachtelmännchen sexuell konditionierten Reizen ausgesetzt waren, führte das zu einer erhöhten Produktion von Sperma und Samenflüssigkeit (Domjan et al. 1998). Die Fähigkeit des Wachtelmännchens, sich klassisch konditionieren zu lassen, erweist sich somit als Vorteil für die Fortpflanzung. Hierbei wird auch deutlich, dass Konditionierung eine bestimmte Funktion hat: Sie hilft einem Tier, zu überleben und sich fortzupflanzen – indem es auf Zeichen
Erwerb (acquisition): erste Phase der klassischen Konditionierung; die Phase, in der ein neutraler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz gekoppelt wird, so dass der neutrale Reiz eine konditionierte Reaktion auslöst. Bei der operanten Konditionierung: die Bekräftigung einer verstärkten Reaktion.
? Wenn Ihnen aufgrund von Kuchenduft das Wasser im Mund zusammenläuft, was ist dann der US, der CS und die CR? (7 Antwort 8.3 am Ende des Kapitels)
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Kapitel 8 · Lernen
. Abb. 8.4. Ein unerwarteter CS Zwiebelduftender Atem löst normalerweise keine sexuelle Erregung aus. Aber wenn er mehrmals mit einem leidenschaftlichen Kuss verbunden ist, kann er zu einem CS werden und Erregung auslösen
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reagiert, die dazu beitragen, dass es Futter findet, Gefahren vermeidet, Rivalen vertreibt, Weibchen aufspürt und Nachwuchs bekommt (Hollis 1997). Auch bei Menschen werden Gegenstände, Gerüche und Anblicke – selbst eine geometrische Figur in einem Experiment –, die mit sexuellen Lustgefühlen verbunden werden, zu konditionierten Reizen für sexuelle Erregung (Byrne 1982). Der Psychologe Tirrell (1990) erinnert sich: »Meine erste Freundin mochte Zwiebeln, so dass ich schließlich Zwiebelgeruch mit Küssen assoziierte. Bald führte der Zwiebelgeruch zu einem wunderbaren Kribbeln im Bauch. Oh, was für ein Gefühl!« (Frage: Was ist hier der unkonditionierte Reiz und was die konditionierte Reaktion? . Abb. 8.4) Auch wenn Assoziationen nicht bewusst wahrgenommen werden, können sie zu bestimmten Einstellungen führen (De Houwer et al. 2001). Olsen u. Fazio (2001) entdeckten dies, als sie die Einstellungen von Menschen gegenüber relativ unbekannten Pokemon-Figuren klassisch konditionierten. Den Teilnehmern, die die Rolle von Aufsichtspersonen spielten, die einen Videobildschirm überwachen, wurde eine Reihe von Wörtern, Bildern und Pokemon-Figuren gezeigt. Man bat sie, auf eine bestimmte Pokemon-Figur mit einem Knopfdruck zu reagieren. Die Teilnehmer wussten nicht, dass eine der beiden Figuren auf dem Bildschirm bewusst mit verschiedenen positiven Wörtern und Bildern gekoppelt war (wie etwa mit beeindruckend oder mit Schokoladeneis) und die andere mit negativen Wörtern und Bildern (wie etwa mit scheußlich oder mit Kakerlake). Als man die Teilnehmer danach bat, alle Pokemon-Figuren zu bewerten, zogen sie diejenigen vor, die mit positiven Reizen gekoppelt war. Ohne sich bewusst an die Kopplungen zu erinnern, hatten die Teilnehmer intuitiv positive oder negative Einstellungen entwickelt.
Löschung und spontane Erholung Ziel 4: Fassen Sie die Prozesse der Löschung, spontanen Erholung, Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination zusammen.
Löschung oder Extinktion (extinction): kontinuierliches Schwächerwerden der konditionierten Reaktion. In der klassischen Konditionierung tritt Löschung ein, wenn dem konditionierten Reiz (CS) kein unkonditionierter Reiz folgt; in der operanten Konditionierung geschieht dies, wenn eine Reaktion nicht mehr verstärkt wird. Spontane Erholung (spontaneous recovery): erneutes Auftreten einer gelöschten konditionierten Antwort nach einer Pause. Reizgeneralisierung (generalization): Tendenz, dass nach Konditionierung einer Reaktion bestimmte Reize, die dem konditionierten Reiz ähneln, ähnliche Reaktionen hervorrufen.
Was geschieht, wenn der CS nach einer Konditionierung wiederholt ohne den US auftritt? Löst der CS weiterhin die CR aus? Pawlow fand heraus, dass die Hunde, wenn er den Ton immer wieder erklingen ließ, ohne dabei Futter zu geben, immer weniger Speichelfluss aufwiesen. Der abnehmende Speichelfluss veranschaulicht die Löschung (Extinktion), die verminderte Reaktion, die auftritt, wenn der CS (Ton) nicht als Signal für einen bevorstehenden US (Futter) dient. Pawlow fand aber auch heraus, dass der Speichelfluss als Reaktion auf den Ton spontan wieder auftrat (. Abb. 8.5), wenn er einige Stunden verstreichen ließ, bevor er erneut den Ton erklingen ließ. Diese spontane Erholung – das Wiederauftreten einer (abgeschwächten) CR nach einer Pause – brachte Pawlow auf den Gedanken, dass der Prozess der Löschung die CR eher unterdrückte als ausschaltete. Nachdem Tirrell die Beziehung zu seinem zwiebelduftenden Schatz beendet hatte, experimentierte auch er mit Löschung und spontaner Erholung. Er erinnert sich daran, dass »der Geruch eines von Zwiebeln erfüllten Atems (CS), der nicht länger mit Küssen (US) gekoppelt war, mich nicht mehr in helle Aufregung versetzte. Doch gelegentlich, wenn ich diesen Duft lange nicht mehr gerochen habe, weckt ein nach Zwiebeln riechender Atem in mir eine abgeschwächte Version der emotionalen Reaktion, die ich damals gefühlt habe.«
Reizgeneralisierung Pawlow und seinen Studenten fiel auf, dass ein Hund nach der Konditionierung auf den Klang eines Tons auch in gewisser Weise auf den Klang eines anderen Tons reagierte, der nie mit Futter gekoppelt worden war. Ähnliche Auswirkungen hatte auch die Konditionierung eines Hundes, der
347 8.2 · Klassische Konditionierung
. Abb. 8.5. Idealisierte Kurve für Erwerb, Löschung und spontane Erholung Die ansteigende Kurve zeigt, dass die CR schnell stärker wird, wenn der CS und der US wiederholt gekoppelt werden (Erwerb), und sich abschwächt, sobald der CS allein dargeboten wird (Löschung). Nach einer Pause kehrt die CR zurück (spontane Erholung)
. Abb. 8.6. Reizgeneralisierung Pawlow wies Reizgeneralisierung nach, indem er an verschiedenen Körperstellen eines Hundes kleine Vibratoren anbrachte. Nachdem er Speichelfluss durch die Stimulierung des Oberschenkels ausgelöst hatte, stimulierte er andere Bereiche des Körpers. Je näher der stimulierte Punkt dem Oberschenkel kam, desto stärker war die konditionierte Reaktion. (Nach Pawlow 1927)
Jeff Miller/University of Wisconsin-Madison
Speichelfluss zeigte, wenn er gekrault wurde: Er reagierte nun auch in gewisser Weise mit Speichelfluss, wenn er gekratzt wurde (Windholz 1989) oder wenn er an einem anderen Körperteil stimuliert wurde (. Abb. 8.6). Diese Tendenz, auf Reize zu reagieren, die dem CS ähnlich sind, wird Reizgeneralisierung genannt. Reizgeneralisierung kann adaptiv sein, etwa, wenn kleinen Kindern beigebracht wird, sich vor fahrenden Autos auf der Straße in Acht zu nehmen, und diese dann auf Lastwagen oder Motorräder ähnlich reagieren. Zur Reizgeneralisierung kommt es automatisch: Ein argentinischer Schriftsteller, der unter Folter leiden musste, zuckt immer noch vor Angst zusammen, wenn er schwarze Schuhe sieht; dies war das Erste, was er von seinen Folterern sah, als sie sich der Zelle näherten. Die Reizgeneralisierung wurde in Vergleichsstudien von misshandelten und nicht misshandelten Kindern wissenschaftlich aufgegriffen. Zeigte man misshandelten Kindern ein wütendes Gesicht auf dem Computerbildschirm, dann wiesen die Gehirnwellen dieser Kinder dramatisch stärkere und länger andauernde Reaktionen auf (Pollak et al. 1998). Reizgeneralisierung bewirkt, dass Reize, die von Natur aus ekelerregenden oder reizvollen Objekten ähneln, durch Kopplung Ekel oder positive Gefühle auslösen. Normalerweise ansprechendes Essen, wie z. B. Schokoladenpudding, ist nicht mehr appetitanregend, wenn er in der ekelerregenden Form eines Hundehaufens gereicht wird (Rozin et al. 1986). Von Erwachsenen mit kindlichen Gesichtszügen (rundes Gesicht, breite Stirn, schmales Kinn, große Augen) glauben wir, sie hätten eine Wärme, Unterwürfigkeit und Naivität, die Kindern ähnelt (Berry u. McArthur 1986). In beiden Fällen werden emotionale Reaktionen auf einen Reiz auf ähnliche Reize übertragen.
Missbrauch als Risikofaktor Seth Pollack (University of Wisconsin-Madison) berichtet, dass die sensibilisierten Gehirne von Kindern, die missbraucht worden sind, intensiv auf zornige Gesichter reagieren. Diese generalisierte Angstreaktion kann dazu beitragen, zu erklären, warum sie ein größeres Risiko für eine psychische Störung haben
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Kapitel 8 · Lernen
Reizdiskrimination Ziel 5: Erörtern Sie, welchen Wert Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination für das Überleben haben. Reizdiskrimination (discrimination): bei der klassischen Konditionierung die gelernte Fähigkeit, den konditionierten Reiz von anderen Reizen zu unterscheiden, die keinen unkonditionierten Reiz ankündigen.
Pawlows Hunde lernten auch, auf den Klang eines bestimmten Tons und nicht auf andere Töne zu reagieren. Reizdiskrimination ist die erlernte Fähigkeit, zwischen einem konditionierten Reiz (der auf den bevorstehenden US hinweist) und anderen, irrelevanten Reizen zu unterscheiden. Geringfügig unterschiedliche Reize haben manchmal deutlich unterschiedliche Folgen. Die Fähigkeit, diese Unterschiede zu erkennen, ist eine Anpassungsleistung: Wenn Sie einem Pitbull gegenüberstehen, wird Ihr Herz möglicherweise schnell schlagen; bei einem Golden Retriever wäre das wahrscheinlich nicht der Fall.
8.2.2 Aktuelle Erweiterungen Pawlows und Watsons Ablehnung »mentalistischer« Konzepte wie des Konzepts des Bewusstseins führte nach und nach zu der Erkenntnis, dass sie die Bedeutung kognitiver Prozesse (Gedanken, Wahrnehmungen, Erwartungen) und biologischer Beschränkungen für die Lernfähigkeit des Organismus unterschätzten.
Kognitive Prozesse Ziel 6: Erörtern Sie, welche Bedeutung kognitive Prozesse bei der klassischen Konditionierung haben.
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C. Styrsky
»Im Grunde ist jedes Gehirn ein Gerät zur Antizipation.« Daniel C. Dennett (»Philosophie des menschlichen Bewusstseins«, 1994)
Reizgeneralisierung
Frühe Vertreter des Behaviorismus glaubten, dass erlernte Verhaltensweisen verschiedener Organismen auf geistlose mechanische Prozesse reduziert werden können. Deshalb ließen viele Psychologen die Vorstellung, dass man bei Ratten und Hunden Kognitionen unterstellen könne, als unnötig fallen. Heute ist das anders. Rescorla u. Wagner (1972) vertraten die These, dass ein Tier dann, wenn zwei bedeutsame Ereignisse kurz hintereinander auftreten, die Vorhersagbarkeit des zweiten Ereignisses lernt. Wenn einem Elektroschock immer ein Ton vorausgeht und ab und zu zum Ton noch ein Licht hinzukommt, wird die Ratte zwar ängstlich auf den Ton, aber nicht auf das Licht reagieren. Obwohl dem Licht immer der Schock folgt, kommt eine neue Information hinzu; durch den Ton kann man den drohenden Schock besser vorhersagen. Je vorhersehbarer die Kopplung ist, desto stärker ist die konditionierte Reaktion. Es ist, als würde das Tier lernen, einzuschätzen, wie wahrscheinlich das Auftreten des US ist. Die klassische Konditionierung »ist kein stupider Prozess, bei dem der Organismus nolens volens zwei zufällig auftretende Reize miteinander in Verbindung bringt«, fügte Rescorla (1988) hinzu. Dieses Prinzip erklärt, warum Behandlungen, die auf der klassischen Konditionierung beruhen und die dabei auftretenden Kognitionen nicht zur Kenntnis nehmen, oft nur begrenzt erfolgreich sind. Beispielsweise erhalten Alkoholiker manchmal in der Therapie Alkohol, der mit einem Übelkeit auslösenden Mittel vermischt ist. Werden sie deshalb Alkohol mit Übelkeit verbinden? Wäre die klassische Konditionierung nur eine Vorgehensweise, den Menschen Reizassoziationen »aufzudrücken«, könnten wir auf eine solche Reaktion hoffen, und – in gewisser Weise – tritt dies auch so ein (7 Kap. 18). Allerdings sind sich diejenigen, die dieses Getränk bekommen, der Tatsache bewusst, dass ihre Übelkeit auf das beigefügte Mittel zurückgeht und nicht auf den Alkohol. Diese Wahrnehmung schwächt oft die Kopplung zwischen dem Alkohol und dem Gefühl, krank zu sein. ! Selbst bei der klassischen Konditionierung ist vor allem bezogen auf den Menschen nicht nur die einfache CS-US-Kopplung wichtig, sondern auch das Denken.
349 8.2 · Klassische Konditionierung
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Biologische Veranlagungen
Bereits seit Charles Darwin gingen Wissenschaftler davon aus, dass alle Tiere eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte haben, aus der sich Gemeinsamkeiten in Bezug auf Struktur und Funktionsfähigkeit ergeben. Pawlow und Watson glaubten z. B., dass die grundlegenden Gesetze des Lernens bei allen Lebewesen im Wesentlichen ähnlich waren. Es wäre also relativ gleichgültig, ob man Tauben oder Menschen untersuchte. Außerdem sah es so aus, als ob jede natürliche Reaktion mit jedem neutralen Reiz gekoppelt werden könnte. 1956 erklärte der Lernforscher Kimble, dass »praktisch jede Aktivität, zu der der menschliche Organismus fähig ist, konditioniert werden kann und … diese Reaktionen können wiederum mit jedem Reiz gekoppelt werden, den der Organismus wahrnehmen kann«. Fünfundzwanzig Jahre später gestand Kimble (1981) bescheiden ein, dass rund 500 wissenschaftliche Berichte ihm seinen Irrtum nachgewiesen hätten. Die Fähigkeit eines Tieres zur Konditionierung wird stärker durch seine biologischen Gegebenheiten eingeschränkt, als dies den frühen Behavioristen bewusst war. Die Prädispositionen jeder Art bereiten diese darauf vor, die Assoziationen zu lernen, die ihr das Überleben erleichtern. Die Umwelt ist also nur eine Seite der Medaille. John Garcia gehörte zu denen, die die vorherrschende Meinung, dass alle Assoziationen gleich gut gelernt werden können, fundamental in Frage stellte. Als Garcia u. Koelling (1966) die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung bei Versuchstieren untersuchten, stellten sie fest, dass Ratten auf einmal anfingen, das Wasser aus den Plastikflaschen in den Strahlenkammern nicht mehr zu trinken. Sie fragten sich, ob das an der klassischen Konditionierung liegen könnte. Hatten die Ratten das nach Plastik schmeckende Wasser (einen CS) mit der Krankheit gekoppelt (UR), die durch die Strahlung (US) ausgelöst wurde? Um ihren Verdacht zu überprüfen, boten sie den Ratten einen bestimmten Geschmack, ein Bild oder ein Geräusch als CS und verabreichten ihnen später auch radioaktive Strahlen oder Medikamente (US), die zu Übelkeit und Erbrechen (UR) führten. Dabei kamen zwei erstaunliche Ergebnisse heraus: Erstens mieden die Ratten, auch wenn sie erst mehrere Stunden, nachdem sie einen bestimmten neuen Geschmack probiert hatten, krank wurden, danach diese Geschmacksrichtung. Dadurch wurde die Annahme widerlegt, dass Konditionierung nur dann eintritt, wenn der US unmittelbar auf den CS folgt. Zweitens entwickelten die erkrankten Ratten eine Abneigung gegen bestimmte Geschmacksrichtungen, nicht aber gegen Bilder oder Geräusche. Dies widersprach der Annahme der Verhaltensforscher, dass jeder wahrnehmbare Reiz als CS dienen könne. Ein solches Verhalten dient jedoch der Anpassung an die Umgebung; denn Ratten erkennen verdorbenes Futter am leichtesten, wenn sie es probieren. Wenn sie erkrankten, nachdem sie neues Futter probiert hatten, mieden sie danach dieses Futter (was es schwierig macht, eine Population von Ratten zu vergiften, die einem Köder aus dem Weg geht). Vögel, die beim Jagen auf das Sehen angewiesen sind, scheinen über die biologische Veranlagung zu verfügen, Aversionen gegen den Anblick von unbekömmlichem Futter zu entwickeln (Nicolaus et al. 1983). Und erinnern Sie sich an dieses japanische Wachtelmännchen, das darauf konditioniert wurde, durch ein rotes Licht, das als Signal für die Ankunft eines geschlechtsreifen Weibchens diente, erregt zu werden. Domjan et al. (2004) berichten, dass sich eine solche Konditionierung sogar als noch schneller, stärker und dauerhafter erweist, wenn der CS »ökologisch relevant« ist – etwas Ähnliches wie die Reize, die mit sexueller Aktivität in der natürlichen Umwelt assoziiert werden, wie etwa der ausgestopfte Kopf eines Wachtelweibchens. In der realen Welt, so beobachtete es Domjan (2005), haben konditionierte Reize eine natürliche Verbindung mit den unkonditionierten Reizen, die sich aufgrund der konditionierten Reize vorhersagen lassen. Es ist kein Wunder, dass die Organismen dazu prädisponiert sind, diese Kopplungen zu lernen. Auch Menschen scheinen biologisch darauf vorbereitet zu sein, manche Dinge leichter als andere zu lernen. Wenn Sie verdorbene Pilze vorgesetzt bekommen und 4 Stunden später schwer erkranken, werden Sie wahrscheinlich eine Abneigung gegen den Geschmack von Pilzen entwickeln, nicht aber gegen den Anblick des Restaurants, den Teller, die anderen Gäste oder die
S. Wahl
Ziel 7: Beschreiben Sie einige der Aspekte, über die biologische Prädispositionen Lernen durch klassische Konditionierung beeinflussen können.
Geschmacksaversion Wenn Sie nach dem Konsum von Pilzen schwer krank würden, würden Sie wahrscheinlich danach nur ungern wieder Pilzen essen. Ihr Geruch und Geschmack wäre ein CS für Übelkeit geworden. Dieses Lernen erfolgt problemlos, weil unsere Biologie uns darauf vorbereitet, Geschmacksaversionen gegen giftiges Essen zu lernen
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Kapitel 8 · Lernen
Musik, die Sie dort hörten, obwohl alle diese Dinge mit den verdorbenen Pilzen gekoppelt werden könnten. In ähnlicher Weise lernen wir leichter, uns vor Schlangen und Spinnen als vor Blumen zu fürchten (Cook et al. 1986). Und das ist auch sinnvoll: Diese Tiere schaden uns häufiger als Blumen. All diese Fälle stützen Darwins These, dass die natürliche Selektion Eigenschaften begünstigt, die dem Überleben dienen. ! Die Natur bereitet die Angehörigen jeder Gattung darauf vor, jene Dinge zu lernen, die für ihr Überleben wichtig sind.
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Wer rasch eine Abneigung gegen eine Geschmacksrichtung erlernt, wird wahrscheinlich dasselbe giftige Essen nicht ein zweites Mal zu sich nehmen und daher eher überleben und Nachkommen hinterlassen. Tatsächlich dienen alle unangenehmen Gefühle, angefangen von der Übelkeit bis hin zu Angst und Schmerz einem guten Zweck. Wie der Ölstandsmesser am Armaturenbrett des Autos weisen sie den Körper auf eine Gefahr hin (Neese 1991). Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) sagte einmal, dass bedeutende Ideen zuerst lächerlich gemacht, dann angegriffen und schließlich als selbstverständlich angesehen werden. So geschah es auch mit Garcias Forschungsergebnissen zur Abneigung gegen bestimmte Geschmacksrichtungen. Zuerst weigerten sich die führenden Zeitschriften, seine Arbeit zu veröffentlichen. Die Ergebnisse seien nicht möglich, sagten einige Kritiker. Aber wie dies oft in der Forschung geschieht, regten Garcias u. Koellings provokative Untersuchungen andere Forscher zu neuen Experimenten an, durch die die überraschenden Ergebnisse bestätigt und auf andere Arten übertragen werden konnten. In einer bekannten Studie wurden Kojoten und Wölfe dazu gebracht, in Gift getränkte Schafkadaver zu fressen. Daraufhin entwickelten sie eine Abneigung gegen Schaffleisch (Gustavson et al. 1974, 1976). Zwei Wölfe, die später mit einem lebenden Schaf eingesperrt wurden, schienen dies dann tatsächlich zu fürchten. Ein derartiges Forschungsergebnis lässt vermuten, dass es humane Möglichkeiten gibt, wilde Tiere und landwirtschaftliche Schädlinge in den Griff zu bekommen. Dies ist nur ein Beispiel für eine psychologische Studie, die mit Unannehmlichkeiten für einige Versuchstiere begann und zum Wohlergehen von vielen Tieren beitrug. In diesem Fall rettete die Studie das Schaf vor den Kojoten. Die Kojoten wurden wiederum vor wütenden Ranchern und Farmern bewahrt, die nicht mehr so hartnäckig für deren Tötung eintraten, da ihr Vieh nun weniger gefährdet war. Spätere Experimente ergaben, dass man durch eine konditionierte Abneigung gegen bestimmte Geschmacksrichtungen Paviane erfolgreich davon abhalten konnte, in afrikanische Gärten einzudringen, Waschbären davon, Hühner anzugreifen, und Raben und Krähen, Kranicheier zu fressen; gleichzeitig wurden Tierarten erhalten, die eine wichtige ökologische Nische einnehmen (Garcia u. Gustavson 1997). Die Entdeckung der biologischen Grenzen bestätigt, wie wichtig unterschiedliche Analyseniveaus (einschließlich des biologischen und des kognitiven) sind, wenn man versucht, Phänomene wie das Lernen zu verstehen. Dies bestätigt auch ein grundlegendes Prinzip: ! Durch Lernen können sich Tiere ihrer Umgebung anpassen.
Diese Anpassung zeigt uns, warum Tiere immer auf Reize reagieren, die bedeutsame Ereignisse ankündigen, wie etwa Futter oder Schmerz. Und sie hilft uns zu verstehen, warum Tiere generell dafür prädisponiert sind, einen CS mit einem US zu koppeln, der darauf vorhersehbar und unmittelbar folgt: Ursachen gehen der Wirkung oft unmittelbar voraus. Das Prinzip der Anpassung lässt auch solche Ausnahmen wie die Abneigung gegen bestimmte Geschmacksrichtungen in einem anderen Licht sehen. In diesem Fall muss die Wirkung nicht unmittelbar der Ursache folgen: Vergiftetes Futter führt in der Regel erst eine Weile nach der Nahrungszufuhr zu einer Erkrankung. Auf ähnliche Weise entwickeln Krebspatienten, wenn eine Chemotherapie Übelkeit und Erbrechen hervorruft, Symptome, die mehr als eine Stunde nach der Chemotherapie auftreten –, oft eine klassisch konditionierte Übelkeit gegenüber Reizen, die mit der Einnahme des Medikaments gekoppelt sind (. Abb. 8.7). Nach 4 oder 5 Behandlungen können bei ihnen Angst und vorweggenommene Übelkeit auftreten, sobald sie etwas sehen, hören oder riechen, was mit der Klinik assoziiert wird (Hall 1997). Allein schon die Rückkehr ins Wartezimmer der Klinik oder der Anblick der Krankenschwester kann diese Gefühle auslösen (Burish u.
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Carey 1986; Davey 1992). (Unter normalen Umständen ist ein solcher Ekel vor krankmachenden Reizen eine biologische Anpassungsleistung.) Die konditionierten Reize lösen die daran gekoppelte Übelkeit aus.
8.2.3 Anwendungsbereiche Ziel 8: Fassen Sie Pawlows Beitrag zu unserem Verständnis des Lernens zusammen.
Was bleibt also von dem, was Pawlow über Konditionierung herausgefunden hat? Sehr viel. Alle Forscher, die wir in diesem Kapitel erwähnt haben, stimmen darin überein, dass die klassische Konditionierung eine Grundform des Lernens ist. Wenn man Pawlows Annahmen unter dem Gesichtspunkt des heutigen Wissens über kognitive Prozesse und biologische Veranlagungen betrachtet, so waren sie sicherlich unvollständig. Aber wenn wir mehr erkennen als Pawlow, liegt das daran, dass wir jetzt auf seinen Erkenntnissen aufbauen können. Warum bleibt Pawlows Arbeit so wichtig? Wenn er uns lediglich gezeigt hätte, dass alte Hunde neue Tricks lernen können, hätte man seine Experimente schon längst vergessen. Warum sollte sich jemand dafür interessieren, dass ein Hund konditioniert werden kann, auf das Erklingen eines Tons mit Speichelfluss zu reagieren? Wichtig ist seine Arbeit zunächst vor allem wegen des folgenden Befunds: Viele andere Reaktionen auf viele andere Reize können bei vielen anderen Organismen klassisch konditioniert werden – tatsächlich bei allen getesteten Arten, angefangen bei den Regenwürmern über die Fische, die Hunde, die Affen bis hin zu den Menschen (Schwartz 1984). Deshalb ist die klassische Konditionierung für praktisch alle Organismen eine Möglichkeit, zu lernen, sich an ihre Umwelt anzupassen. Zudem zeigte uns Pawlow, wie ein Prozess wie das Lernen objektiv untersucht werden kann. Pawlow war stolz darauf, dass seine Methoden nahezu gänzlich von subjektiven Urteilen unabhängig waren, ebenso von Annahmen darüber, was in den Köpfen der Hunde vorging. Die Speichelfluss-Reaktion ist ein sichtbares, beobachtbares Verhalten, das anhand der Kubikzentimeter Speichel nachzuweisen ist. Daher bot Pawlows Erfolg ein wissenschaftliches Modell dafür, wie der junge Forschungsbereich der Psychologie vorgehen könnte: Man isoliert elementare Bausteine komplexer Verhaltensweisen und untersucht diese in objektiven Versuchsreihen.
. Abb. 8.7. Übelkeitskonditionierung bei Krebspatienten
Anwendungsgebiete der klassischen Konditionierung Ziel 9: Beschreiben Sie einige Anwendungen der klassischen Konditionierung zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Menschen.
Andere Kapitel in diesem Buch über Bewusstsein, Motivation, Emotion, Gesundheit, psychische Störungen und Therapie zeigen, wie sich Pawlows Prinzipien der klassischen Konditionierung zugunsten von Gesundheit und Wohlbefinden anwenden lassen. Einige Beispiele: 4 Ehemalige Kokainkonsumenten empfinden oft ein erneutes dringendes Verlangen nach der Droge, wenn sie auf Hinweisreize (Menschen, Orte) treffen, die sie mit den einstigen ekstatischen Zuständen verbinden. Daher raten Drogenberater Abhängigen, das Drum und Dran zu meiden, das sie mit der Euphorie des früheren Drogenkonsums in Verbindung bringen. 4 Therapeuten konfrontieren Alkoholabhängige manchmal mit Erfahrungen, die deren positive Assoziationen in Zusammenhang mit Alkohol teilweise rückgängig machen können. 4 Die klassische Konditionierung wirkt sogar auf der Ebene des körpereigenen Immunsystems im Kampf gegen Krankheiten. Wenn ein Medikament, das die Immunreaktionen beeinflusst, nebenbei einen bestimmten Geschmack hat, kann es sein, dass dieser Geschmack allein eine Immunreaktion auslöst. Pawlows Arbeit stellte die Grundlage für Watsons (1913) Annahme dar, dass menschliche Gefühle und menschliches Verhalten, wenngleich biologisch beeinflusst, vor allem aus einer Reihe konditionierter Reaktionen bestehen. In ihrer berühmten Studie zeigten Watson u. Rayner (1920; Har-
John B. Watson Watson (1924) gab zu, »meine Fakten zu übertreiben«, als er sich rühmte: »Gebt mir ein Dutzend gesunde, wohlgeratene Kinder, gebt mir meine eigene spezielle Welt, in der ich sie aufziehen kann, und ich verspreche euch, dass ich aus jedem beliebigen, den ich herausnehme und trainiere, jede mögliche Art von Spezialisten machen kann: Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, Kaufmann, ja, sogar Baggerführer oder Dieb, und das völlig unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen oder gar der Rasse seiner Vorfahren.«
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Kapitel 8 · Lernen
? Was war in Watsons und Rayners Experiment der US, die UR, der CS und die CR? (7 Antwort 8.4 am Ende des Kapitels)
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ris 1979), wie spezifische Ängste möglicherweise konditioniert werden. Ihre Versuchsperson war ein 11 Monate altes Kind namens Albert. Wie die meisten Kinder hatte »der kleine Albert« Angst vor lauten Geräuschen, aber nicht vor weißen Ratten. Watson u. Rayner präsentierten ihm eine weiße Ratte und schlugen mit einem Hammer gegen eine Eisenstange direkt hinter seinem Kopf, gerade als er anfangen wollte, die Ratte zu berühren. Nach 7 Wiederholungen dieses Vorgangs brach Albert schon in Tränen aus, wenn er die Ratte nur sah (nach den heutigen Standards eine Studie, die aus ethischen Gründen problematisch ist). Weiterhin zeigte Albert 5 Tage später eine Generalisierung seiner konditionierten Reaktion, indem auf einen Hasen, einen Hund und einen Seehundfellmantel mit Angst reagierte, nicht aber auf unähnliche Objekte wie etwa Spielzeug. Zwar ist das weitere Schicksal des kleinen Albert unbekannt, doch das von Watson nicht. Nach dem Verlust seiner Professur an der Johns Hopkins Universität wegen einer Affäre mit Rosalie Rayner (die er später heiratete) wurde er Hauspsychologe der Werbeagentur J. Walter Thompson. Dort nutzte er sein Wissen über assoziatives Lernen dazu, viele erfolgreiche Werbekampagnen zu lancieren, u. a. eine Kampagne für die Firma Maxwell House, die dazu beitrug, die »Kaffeepause« zu einer amerikanischen Gepflogenheit zu machen (Hunt 1993). Einige Psychologen, die anmerkten, dass Alberts Furcht nicht schnell erlernt wurde, hatten Schwierigkeiten, Watsons u. Rayners Versuchsergebnisse mit anderen Kindern zu replizieren. Trotzdem erlangte der Fall des kleinen Albert für viele Psychologen eine legendäre Bedeutung. Einige fragten sich, ob wir nicht alle ein ganzes Bündel konditionierter Emotionen mit uns herumtragen. (7 Unter der Lupe: »Trauma aus der Perspektive der klassischen Konditionierung«). Ob man wohl unsere schlimmsten Empfindungen in den Griff bekommen könnte, wenn man Löschungsvorgänge in Gang setzt oder neue Reaktionen auf entsprechende Reize konditioniert? Einem Patienten, der 30 Jahre lang Angst gehabt hatte, allein einen Aufzug zu betreten, riet ein Therapeut, sich selbst dazu zu zwingen, 20 Aufzüge pro Tag zu betreten. Innerhalb von 10 Tagen war die Angst des Patienten fast verschwunden (Ellis u. Becker 1982). In 7 Kap. 18 werden wir an weiteren Beispielen sehen, wie Psychologen Verhaltenstechniken zur Behandlung emotionaler Störungen einsetzen.
Unter der Lupe
Trauma aus der Perspektive der klassischen Konditionierung »Gebranntes Kind scheut das Feuer«, sagt ein altes Sprichwort. Durch Experimente mit Hunden lässt sich Folgendes nachweisen: Wenn der schmerzhafte Reiz stark genug ist, reicht manchmal tatsächlich ein einziges Ereignis aus, das Tier zu traumatisieren, wenn es wieder in diese Situation kommt. Auch beim Menschen kann ein einziges traumatisches Erlebnis für eine Angstkonditionierung ausreichen, wie die Erfahrung einer Frau zeigt, die angegriffen und vergewaltigt wurde. Ihre Angst (CR) war überaus stark gekoppelt mit speziellen Orten und Menschen (CS), schließlich kam es sogar zu einer Generalisierung auf andere Orte und Menschen. Achten Sie bei dem folgenden Bericht einer Betroffenen auch darauf, wie die traumatische Erfahrung normalerweise angenehme Assoziationen mit Reizen wie etwa dem Zuhause oder dem Bett zerstörte. Vor 4 Monaten wurde ich vergewaltigt. Mitten in der Nacht wachte ich durch ein Geräusch vor meinem Schlafzimmer auf. Ich dachte, meine Mitbewohnerin sei gekommen und rief ihren Namen. Jemand begann, langsam in meine Richtung zu gehen, und dann begriff ich, was los war. Ich schrie und kämpfte, aber sie waren zu zweit. Der eine hielt meine Beine, während der andere eine Hand über meinen Mund hielt und ein Messer an meinen Hals und sagte: »Halt’s Maul, Miststück, oder wir bringen dich um.« Nie zuvor war ich so verängstigt und so hilflos. Beide vergewaltigten mich, einer besonders brutal. Als sie danach mein Zimmer nach Geld und Wertgegenständen durchsuchten, kam meine Mitbewohnerin nach Hause. Sie brachten sie in mein Zimmer, vergewaltigten auch sie und ließen uns beide an mein Bett gefesselt zurück.
Wir schliefen keine Nacht mehr in dieser Wohnung. Wir standen zu sehr unter Schock. Wenn ich abends ins Bett gehe – immer bei brennendem Schlafzimmerlicht –, wiederholt sich auch jetzt noch stetig die Erinnerung daran, wie die Männer mein Zimmer betraten. Ich war eine unabhängige Frau, die 4 Jahre allein oder mit anderen Frauen zusammen gelebt hatte; jetzt wage ich es nicht einmal, daran zu denken, dass ich eine Nacht allein verbringe. Wenn ich an unserer alten Wohnung vorbeifahre oder wenn ich in ein leeres Haus muss, klopft mein Herz, und ich bekomme Schweißausbrüche. Ich habe Angst vor Fremden, vor allem vor Männern, und je mehr sie meinen Angreifern ähneln, desto mehr Angst habe ich vor ihnen. Meine Mitbewohnerin teilt viele meiner Ängste und hat Angst, wenn sie unsere neue Wohnung betritt. Ich habe Angst, in dieser Stadt zu bleiben, ich habe Angst, dass es noch mal passiert, ich habe Angst, ins Bett zu gehen. Ich fürchte mich davor einzuschlafen. Elf Jahre später konnte diese Frau – wie viele Traumaopfer (Gluhoski u. Wortman 1996) – berichten, dass ihre konditionierten Ängste abgeklungen waren: Die Häufigkeit und Intensität meiner Ängste hat abgenommen. Ich bin immer noch sehr sorgfältig um meine persönliche Sicherheit bemüht und habe noch gelegentlich Albträume, die auf meine Erfahrung zurückzuführen sind. Aber wichtiger ist, dass ich meine Fähigkeit, zu lachen, zu lieben und zu vertrauen, wiedererlangt habe, sowohl im Kontakt mit alten als auch mit neuen Freunden. Das Leben macht wieder Freude. Ich habe überlebt. (Aus einem privaten Brief; Genehmigung der Verfasserin liegt vor)
353 8.2 · Klassische Konditionierung
Lernziele Abschnitt 8.2 Klassische Konditionierung Ziel 2: Definieren Sie, was klassische Konditionierung und was Behaviorismus ist, und beschreiben Sie die 3 grundlegenden Elemente der klassischen Konditionierung. Klassische Konditionierung ist eine Form des Lernens, bei der ein Organismus allmählich Reize koppelt. Pawlows Arbeit über klassische Konditionierung schaffte die Grundlage für den Behaviorismus, die Auffassung, die Psychologie solle eine objektive Wissenschaft sein, die das Verhalten ohne Bezug auf mentale Prozesse untersucht. Bei der klassischen Konditionierung ist ein UR ein Ereignis, das natürlicherweise in Reaktion auf irgendeinen Reiz (wie Speichelfluss) auftritt. Ein US ist etwas, was natürlicherweise und automatisch die nicht erlernte Reaktion auslöst (wie Essen im Mund Speichelfluss auslöst). Ein CS ist in der klassischen Konditionierung ein ursprünglich neutraler Reiz (wie eine Glocke), der durch Lernen allmählich mit irgendeiner nicht gelernten Reaktion (Speichelfluss) gekoppelt wird. Eine CR ist eine gelernte Reaktion (Speichelfluss) auf einen ursprünglich neutralen, aber nun konditionierten Reiz. Ziel 3: Beschreiben Sie, welche zeitlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine Reiz-Reaktions-Verbindung gelernt wird. Zur klassischen Konditionierung kommt es am ehesten, wenn ein CS kurz vor einem US (idealerweise etwa ein halbe Sekunde vorher) dargeboten wird, wodurch der Organismus auf das bevorstehende Ereignis vorbereitet wird. Dieser Befund stützt die Auffassung, dass die klassische Konditionierung eine biologische Anpassung ist. Ziel 4: Fassen Sie die Prozesse der Löschung, spontanen Erholung, Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination zusammen. Bei der klassischen Konditionierung besteht Löschung in einer abgeschwächten Reaktion, wenn der CS nicht mehr als Signal für einen bevorstehenden US dient. Die spontane Erholung ist das Auftreten einer zuvor gelöschten Reaktion nach einer Ruhepause. Die Reizgeneralisierung ist die Tendenz, auf Reize zu reagieren, die einem CS ähnlich sind. Die Reizdiskrimination ist die erlernte Fähigkeit, zwischen einem CS und irrelevanten Reizen zu unterscheiden. Ziel 5: Erörtern Sie, welchen Wert Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination für das Überleben haben. Die Reizgeneralisierung hat einen Wert für das Überleben, weil sie es uns ermöglicht, eine erlernte Reaktion auf andere Reize innerhalb einer bestimmten Reizkategorie zu erweitern – wie etwa, vor allen gefährlichen Tieren zu fliehen. Reizdiskrimination (unsere erlernte Fähigkeit, zwischen einem CS und anderen, irrelevanten Reizen zu unterscheiden) hat ebenfalls einen Wert für das Überleben, weil sie uns erlaubt, unsere erlernten Reaktionen auf angemessene Reize zu beschränken – wie auf die Flucht vor einem wütenden Löwen, nicht aber vor einer spielenden kleinen Katze.
Ziel 6: Erörtern Sie, welche Bedeutung kognitive Prozesse bei der klassischen Konditionierung haben. Der Optimismus der frühen Behavioristen, dass sich die Lernprinzipien von einer Reaktion auf eine andere und von einer Spezies auf eine andere generalisieren ließen, hat sich nicht aufrechterhalten lassen. Heute ist man allgemein der Auffassung, dass die Konditionierungsprinzipien durch unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Erwartungen beeinflusst werden. Bei der klassischen Konditionierung lernen Menschen und andere Lebewesen, wann sie einen US erwarten können. Wenn sie sich der Verbindung zwischen Reizen und Reaktionen bewusst werden, kann dies dazu führen, dass die Kopplung schwächer wird. Ziel 7: Beschreiben Sie einige der Aspekte, über die biologische Prädispositionen Lernen durch klassische Konditionierung beeinflussen können. Die frühen Behavioristen waren der Meinung, jegliche natürliche Reaktion ließe sich in jedem lebenden Organismus auf jeglichen neutralen Reiz konditionieren. Die Lerntheoretiker haben diese Auffassung aufgegeben. Jede Spezies ist biologisch bedingt darauf vorbereitet, Kopplungen zu lernen, die ihre Überlebenschancen verbessern – wie bei den Menschen die Furcht vor Spinnen und Schlangen und bei den Ratten die Abneigung gegen Geschmacksrichtungen, die mit Übelkeit in Zusammenhang gebracht werden. Außerhalb des Versuchslabors hat ein CS gewöhnlich eine natürliche Kopplung an den US, der sich aufgrund des CS vorhersagen lässt. Ziel 8: Fassen Sie Pawlows Beitrag zu unserem Verständnis des Lernens zusammen. Pawlow lehrte uns, dass bedeutende psychologische Phänomene objektiv untersucht werden können und dass Konditionierungsprinzipien wichtige praktische Anwendungen finden (wie etwa, dass einige Phobien erlernt sind und behandelt werden können). Er hat auch gezeigt, dass Lernprinzipien über die Spezies hinweg angewandt werden können und dass biologische Prädispositionen dem assoziativen Lernen Grenzen setzen. Ziel 9: Beschreiben Sie einige Anwendungen der klassischen Konditionierung zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Menschen. Die Methoden der klassischen Konditionierung werden bei Behandlungsprogrammen für diejenigen genutzt, die versuchen, vom Alkoholund Drogenmissbrauch wegzukommen, und um in der Therapie angemessenere Reaktionen bei emotionalen Störungen zu konditionieren. > Denken Sie weiter: Wie wurden Ihre Emotionen oder Verhaltensweisen klassisch konditioniert?
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Kapitel 8 · Lernen
8.3
Operante Konditionierung
Ziel 10: Geben Sie die beiden Hauptmerkmale an, durch die sich die klassische Konditionierung von der operanten Konditionierung unterscheidet.
Operante Konditionierung (operant conditioning): Form des Lernens, bei der ein Verhalten dadurch bekräftigt wird, dass ihm ein Verstärker folgt, oder abgeschwächt wird, weil eine Bestrafung folgt. Respondentes Verhalten (respondent behavior): Verhalten, das als automatische Reaktion auf einen bestimmten Reiz auftritt; Skinners Ausdruck für ein Verhalten, das durch klassische Konditionierung erlernt wurde. Operantes Verhalten (operant behavior): Verhalten, das auf die Umgebung einwirkt und Konsequenzen verursacht.
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Bei der klassischen Konditionierung ist es eine Sache, einem Tier beizubringen, mit Speichelfluss auf den Klang eines Tons zu reagieren, oder einem Kind, dass es sich vor den Autos auf der Straße in Acht nimmt. In beiden Fällen koppelt ein Organismus Reize, die er nicht unter Kontrolle hat. Etwas ganz anderes ist es aber, einem Elefanten beizubringen, dass er auf den Hinterbeinen geht, oder ein Kind dazu zu verleiten, dass es »bitte« sagt. Durch eine andere Form des assoziativen Lernens – durch die operante Konditionierung – lassen sich solche Verhaltensweisen erklären und trainieren. Organismen koppeln ihre eigenen Verhaltensweisen mit deren Konsequenzen. Dabei nehmen Verhaltensweisen, auf die Verstärker folgen, in ihrer Häufigkeit zu; Verhaltensweisen, für die man bestraft wird, nehmen in ihrer Häufigkeit ab. Erwerb, Löschung, spontane Erholung, Reizgeneralisierung und Reizdiskrimination gehören sowohl zur klassischen als auch zur operanten Konditionierung. Doch der Unterschied ist klar: In der klassischen Konditionierung werden Assoziationen zwischen Reizen erzeugt (einem CS und dem US, den dieser signalisiert). Hier muss auch das respondente Verhalten betrachtet werden, ein Verhalten, das als automatische Reaktion auf einen Reiz auftritt (wie etwa der Speichelfluss als Reaktion auf Fleischpulver und später als Reaktion auf einen Ton). Zur operanten Konditionierung gehört dagegen das operante Verhalten, das so genannt wird, weil die jeweilige Handlung gewissermaßen »einen operativen Eingriff« auf die Umgebung ausführt, d. h. auf sie einwirkt, um belohnende oder bestrafende Reize zu produzieren. ! Wir können die klassische Konditionierung von der operanten unterscheiden, indem wir fragen: Lernt der Organismus, Ereignisse zu assoziieren, über die er keine Kontrolle hat (klassische Konditionierung)? Oder lernt er Kopplungen zwischen seinem Verhalten und den sich daraus ergebenden Ereignissen (operante Konditionierung)?
8.3.1 Skinners Experimente Ziel 11: Erläutern Sie Thorndikes Effektgesetz, und erklären Sie, wie es mit Skinners Forschung zur operanten Konditionierung zusammenhängt.
Burrhus F. Skinner (1904–1990) hatte seinen Bachelor in Englisch gemacht und war ein angehender Schriftsteller, der sich beruflich verändern wollte; daher begann er ein Master-Studium in Psychologie. Er sollte zur einflussreichsten und umstrittensten Gestalt des modernen Behaviorismus werden. Skinners Arbeit beruhte auf der einfachen Lebensweisheit, die der Psychologe Edward Robert M. Yerkes Papers. Manuscripts & Archives, Yale University Library
. Abb. 8.8. Katze im rätselhaften Kasten Thorndike (1898) nutzte einen Fisch als Belohnung, um Katzen dazu zu verleiten, dass sie durch eine Reihe von Bewegungen ihren Weg aus einem rätselhaften Kasten (rechts) fanden. Die Leistung der Katzen wurde gewöhnlich mit aufeinander folgenden Versuchsdurchgängen besser (links). Dies ist eine Veranschaulichung für Thorndikes Effektgesetz (law of effect; nach Thorndike 1898)
355 8.3 · Operante Konditionierung
Das Effektgesetz im Reich der Stachelrochen 35 Jahre lang fingen Fischer von den Cayman-Inseln Muscheln und reinigten diese an dem dortigen Korallenriff. Stachelrochen in der umliegenden Bucht gewöhnten sich allmählich an diese leckeren Freuden. Als Schnorchler Rochenschwärme in ihrer Nähe bemerkten, begannen sie, die immer zahmeren Tiere mit der Hand zu füttern. Heute können dies auch Touristen tun; sie können die Rochen sogar streicheln, wenn sie an ihnen vorbeischwimmen
From The Essentials of Conditioning and Learning, 3rd Edition by Michael P. Domjan, 2005. Used with permission by Thomson Learning, Wadsworth Division.
Charlotte v. Oyen Witvliet, Hope College Holland, USA Walter Dawn/Photo Researchers, Inc.
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L. Thorndike (1874–1949) das Effektgesetz (»law of effect«) nannte: Wird ein Verhalten belohnt, dann wird es wahrscheinlich wiederholt (. Abb. 8.8). Ausgehend von Thorndikes Effektgesetz entwickelte Skinner eine »Verhaltenstechnologie«, die gewisse Prinzipien der Verhaltenssteuerung aufdeckte. Mit Hilfe dieser Prinzipien konnte er Tauben so untypische Verhaltensweisen beibringen, wie etwa eine 8 abzulaufen, Tischtennis zu spielen und eine Rakete auf ihrem Kurs zu halten, indem sie auf einen Punkt auf einem Bildschirm pickten. Für seine Pionierarbeit mit Ratten (und später mit Tauben) entwarf Skinner eine »operante Kammer«, besser bekannt als Skinner-Box (. Abb. 8.9). Die typische Box verfügt über einen Hebel oder eine Taste. Diese Vorrichtungen werden von dem Tier gedrückt oder angepickt, wofür es mit Futter oder Wasser belohnt wird. Ein Messinstrument zeichnet diese Reaktionen auf. Die Experimente zur operanten Konditionierung waren weit mehr als die Möglichkeit, etwas über die Gewohnheiten von Ratten herauszufinden. In diesen Experimenten wurden die genauen Bedingungen erforscht, die effizientes und dauerhaftes Lernen fördern.
. Abb. 8.9. Skinner-Box In der Box betätigt eine Ratte einen Druckhebel, um mit Futter belohnt zu werden. Ein Messinstrument an der Außenseite zeichnet die akkumulierte Häufigkeit der Reaktionen des Tieres auf
Effektgesetz (law of effect): Thorndikes Prinzip, dass Verhaltensweisen, die angenehme Konsequenzen zur Folge haben, häufiger auftreten, während Verhaltensweisen, denen unangenehme Konsequenzen folgen, seltener gezeigt werden.
Skinner-Box (operant chamber oder Skinner box): Kammer, in der sich ein Hebel oder eine Taste befindet, die ein Tier betätigen kann, um Futter oder Wasser als Belohnung zu erhalten; dazu gehören Messgeräte, die die Häufigkeit des Hebel- oder Tastendrückens durch das Tier aufzeichnen. Wird in der Forschung zur operanten Konditionierung verwendet.
8.3.2 Shaping (Verhaltensformung) Ziel 12: Beschreiben Sie die Vorgehensweise beim Shaping, und erklären Sie, wie sich dadurch besser verstehen lässt, was Tiere und Babys unterscheiden können.
In seinen Versuchen nutzte Skinner das sog. Shaping (Verhaltensformung), einen Vorgang, durch den mit Hilfe von Verstärkern, wie etwa Nahrung, die Handlungen eines Tiers allmählich in Richtung auf ein erwünschtes Verhalten gelenkt werden. Stellen Sie sich vor, Sie wollten eine hungrige Ratte darauf konditionieren, einen Hebel zu betätigen. Sie beobachten also zunächst, wie sich das noch nicht trainierte Tier von Natur aus verhält; dadurch könnten Sie sich auf dieses beobachtete Verhalten stützen. Sie könnten die Ratte jedes Mal mit Futter belohnen, wenn sie dem Hebel näher
Shaping (Verhaltensformung): Vorgang innerhalb der operanten Konditionierung; die Verstärker führen das Verhalten immer näher an das gewünschte Ziel heran.
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Kapitel 8 · Lernen
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Verhaltensformung bei Ratten, um Leben zu retten Eine große Beutelratte aus Gambia, deren Verhalten so geformt worden war, dass sie Landminen erschnüffeln konnte, bekommt eine Banane, nachdem sie in Mosambik während eines Trainings erfolgreich eine Mine gefunden hat
Benny: Kannst Du meine Schuhe zubinden? Vater: (liest weiter Zeitung) Benny: Papa, du musst mir die Schuhe zubinden. Vater: Oh, ja, Moment, bitte. Benny: PAAAPAAAA! BIND MIR MEINE SCHUHE ZU! Vater: Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht quengeln sollst? Also, welchen Schuh machen wir zuerst?
Bennys Quengeln wird verstärkt, weil er etwas bekommt, was er haben möchte: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Die Reaktion des Vaters wird verstärkt, weil dadurch etwas aufhört, was er nicht mag: Bennys Quengeln. Oder achten Sie darauf, wie manche Lehrer Verstärker einsetzen. An der Tafel klebt der Lehrer goldene Sterne hinter die Namen der Kinder, die im Diktat alles richtig hatten. Alle Kinder machen die gleiche Prüfung. Wie dann jeder sehen kann, fällt es einigen besonders begabten Kindern leicht, alles richtig zu machen. Die anderen erhalten keine Belohnung. Der Lehrer täte besser daran, die Prinzipien der operanten Konditionierung anzuwenden: alle Kinder für schrittweise Verbesserungen zu belohnen (die allmähliche Annäherung daran, alle Wörter orthographisch richtig zu schreiben, wird dann für sie zur Herausforderung).
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kommt. Sobald sich die Ratte regelmäßig dem Hebel nähert, würden Sie voraussetzen, dass sie sich noch weiter nähert, bevor sie belohnt wird, und dann noch ein bisschen näher. Schließlich würden Sie voraussetzen, dass sie den Hebel berührt, bevor Sie ihr das Futter geben. Mit dieser Methode der schrittweisen Annäherung belohnen Sie Reaktionen, die dem letztlich gewünschten Verhalten immer näher kommen, und gleichzeitig ignorieren Sie alle anderen Reaktionen. Forscher und Tierausbilder trainieren ihren Tieren Schritt für Schritt komplexe Verhaltensweisen an, indem sie die Belohnungen von den erwünschten Verhaltensweisen abhängig machen (Shaping). Wenn ein Psychologe Organismen, die nicht sprechen können, beibringt, Reize zu unterscheiden, kann er auch feststellen, was diese wahrnehmen. Kann ein Hund Farben unterscheiden? Kann ein Baby Laute unterscheiden? Wenn wir ihnen beibringen können, auf diesen speziellen Reiz zu reagieren, nicht aber auf einen anderen, dann können sie natürlich auch den Unterschied zwischen beiden wahrnehmen. Versuche zeigen, dass einige Tiere die erstaunliche Fähigkeit haben, ihre Wahrnehmungen in Kategorien einzuteilen; sie zeigen dies, indem sie zwischen bestimmten Kategorien von Ereignissen oder Dingen unterscheiden. Belohnt ein Forscher eine Taube dafür, dass sie pickt, nachdem sie ein menschliches Gesicht sah, aber nicht, nachdem sie andere Bilder sah, wird die Taube lernen, menschliche Gesichter zu erkennen (Herrnstein u. Loveland 1964). In diesem Experiment ist ein Gesicht ein diskriminativer Reiz; wie ein Ampelsignal deutet es darauf hin, dass eine Reaktion verstärkt werden wird. Wenn Tauben beigebracht wurde, Blumen, Menschen, Autos und Stühle voneinander zu unterscheiden, können sie normalerweise feststellen, zu welcher dieser Kategorien ein neues Objekt gehört (Bhatt et al. 1988; Wasserman 1993). Durch Training konnte man Tauben sogar beibringen, zwischen der Musik von Bach und der von Strawinsky zu unterscheiden (Porter u. Neuringer 1984). Auch im Alltag belohnen und prägen wir ständig das Verhalten anderer, sagt Skinner, aber wir machen das oft nicht absichtlich. Manchmal belohnen wir unbewusst Verhaltensweisen, über die wir uns ärgern. Wenn Benny quengelt, ärgert das z. B. seine ratlosen Eltern, aber schauen Sie, wie sie normalerweise mit Benny umgehen.
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Verstärkungsprinzipien
Die Menschen sprechen oft ungenau von »Belohnungen« und ihrer Wirksamkeit. Skinners Begriff der Verstärkung präzisiert jedoch diesen Aspekt: Ein Verstärker ist seiner Meinung nach jedes beliebige Ereignis, durch das eine vorausgehende Reaktion bekräftigt wird oder durch das sie in ihrer Häufigkeit zunimmt. Ein positiver Verstärker kann eine handfeste Belohnung sein: Dazu gehören Lob oder Aufmerksamkeit. Oder es kann eine Aktivität sein – das Auto ausleihen dürfen, wenn das Geschirr gespült ist, oder eine Pause machen, wenn man eine Stunde gelernt hat. Die meisten Menschen denken bei Verstärkern an Belohnungen. Eigentlich ist aber alles ein Verstärker, was dazu dient, eine Verhaltensweise häufiger auftreten zu lassen. Das kann sogar ein Anschreien sein, wenn bei einem Kind durch Anschreien die Häufigkeit des Verhaltens zunimmt. Verstärker variieren je nach den Umständen. Was für den einen ein Verstärker ist (Karten für ein Rockkonzert), muss es nicht unbedingt für einen anderen sein. Was in einer bestimmten Situation verstärkend wirkt (Essen, wenn man Hunger hat), muss es in einer anderen nicht sein. Es gibt zwei grundlegende Arten von Verstärkung (. Tabelle 8.1). Die eine (positive Verstärkung) verstärkt eine Reaktion dadurch, dass nach dieser Reaktion ein typischer angenehmer Reiz geboten wird. Futter ist ein positiver Verstärker für hungrige Tiere; für die meisten Menschen sind Aufmerksamkeit, Anerkennung und Geld positive Verstärker. Die andere Art (negative Verstärkung) verstärkt eine Reaktion, indem ein aversiver Reiz verringert oder beseitigt wird. Wenn man ein Aspirin nimmt, können Kopfschmerzen abnehmen. Wenn man den Wecker abstellt, hört das nervige Klingeln auf. All diese Folgeerscheinungen, vorausgesetzt, sie wirken sich auf das Verhalten aus, bewirken eine negative Verstärkung. Wenn jemand aufhört zu nörgeln oder zu quengeln, ist das auch ein Verstärker. (Beachten Sie, dass eine negative Verstärkung, anders als in der Umgangssprache, ein aversives Ereignis beseitigt.) Stellen Sie sich einen besorgten Studenten vor, der, nachdem er eine Prüfung vermasselte und eine schlechte Note bekam, für die nächste Prüfung mehr arbeitet. Das Lernverhalten des Studenten kann durch weniger Angst (negative Verstärkung) und durch eine bessere Note (positive Verstärkung) gefördert werden. ! Gleichgültig, ob etwas Wünschenswertes gegeben oder etwas Unangenehmes reduziert wird: Verstärkung ist jedwede Konsequenz, durch die ein Verhalten verstärkt wird.
Primäre und konditionierte Verstärker Primäre Verstärker – Nahrung erhalten, wenn man hungrig ist, oder von einem Elektroschock befreit werden; das alles sind Verstärker, die biologische Bedürfnisse befriedigen. Konditionierte Verstärker, auch sekundäre Verstärker genannt, sind erlernbar und verdanken ihre Wirkung der Kopplung mit primären Verstärkern. Wenn eine Ratte in einer Skinner-Box lernt, dass ein Licht verlässlich anzeigt, dass Futter kommt, wird sie sich bemühen, das Licht einzuschalten. Das Licht wurde also zu einem sekundären Verstärker, der mit Futter gekoppelt ist. Unser Leben ist voller sekundärer Verstärker: Geld, gute Noten, eine angenehme Stimme und ein Wort des Lobes – all das wurde einmal mit Belohnungen in Verbindung gebracht, die grundlegende Bedürfnisse befriedigten. Sekundäre Verstärker erhöhen deutlich unsere Fähigkeit, uns gegenseitig zu beeinflussen.
. Tabelle 8.1. Methoden, um die Häufigkeit eines Verhaltens zunehmen zu lassen
Begriff beim operanten Konditionieren
Beschreibung
Mögliche Beispiele
Positive Verstärkung
Hinzufügen eines angenehmen Reizes
Umarmt werden, Gehaltsüberweisung
Negative Verstärkung
Entfernen eines unangenehmen Reizes
Sich anschnallen, um den Piepston abzuschalten
Reuters/Corbis
Ziel 13: Vergleichen Sie positive und negative Verstärkung, und geben Sie ein Beispiel für jeweils einen primären, einen konditonierten, einen unmittelbaren und einen verzögerten Verstärker.
Positive Verstärkung Eine Infrarotlampe verstärkt das Verhalten dieses Erdmännchens während eines Kälteeinbruchs im Taronga Zoo von Sydney (Australien)
Verstärker (reinforcer): in der operanten Konditionierung jedes Ereignis, durch das ein vorausgehendes Verhalten verstärkt wird Positive Verstärkung (positive reinforcement): Zunahme der Häufigkeit eines Verhaltens, wenn positive Reize wie Essen dargeboten werden. Ein positiver Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er dargeboten wird, die Reaktion bekräftigt. Negative Verstärkung (negative reinforcement): Zunahme der Häufigkeit eines Verhaltens, wenn negative Reize wie ein Elektroschock nicht mehr oder schwächer dargeboten werden. Ein negativer Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er nach einer Reaktion entfernt wird, die Reaktion bekräftigt. (Beachten Sie bitte, dass negative Verstärkung nicht dasselbe wie Bestrafung ist.) Primärer Verstärker (primary reinforcer): von Geburt an verstärkender Reiz, der beispielsweise ein natürliches Bedürfnis befriedigt. Konditionierter Verstärker (conditioned reinforcer): Reiz, der dadurch verstärkend wirkt, dass er mit einem primären Verstärker gekoppelt wird; auch bekannt als sekundärer Verstärker.
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Kapitel 8 · Lernen
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© The New Yorker Collection, 1993. Tom Cheney from cartoonbank.com All rights reserved.
Sofortige und verzögerte Verstärker
»Oh, nicht schlecht. Das Licht geht an, ich drücke den Hebel, sie schreiben mir einen Scheck. Und wie geht es Dir?«
Wenden wir uns nun dem imaginären Shaping-Versuch zu, bei dem Sie eine Ratte auf das Drücken eines Hebels konditionieren wollen. Die hungrige Ratte wird sich mehreren »unerwünschten« Verhaltensweisen widmen, sich vielleicht kratzen, herumschnuppern oder herumlaufen, bevor sie das »gewünschte« Verhalten zeigt. Wenn der Verstärker (Futter) unmittelbar auf eine dieser Verhaltensweisen folgt, wird sie mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder auftreten. Wenn die Ratte den Hebel drückt, Sie aber abgelenkt sind und den Verstärker um mehr als 30 Sekunden verzögern, wird die Ratte nicht lernen, den Hebel zu drücken. Andere, zufällige Aktivitäten werden dazwischen kommen und verstärkt werden. Im Gegensatz zu Ratten reagieren Menschen auch auf Verstärker, die mit großer Verzögerung kommen, wie etwa auf die Gehaltszahlung am Ende des Monats, auf die gute Note am Ende des Semesters oder den Pokal am Ende der Fußballsaison. Um effektiv zu sein, müssen wir tatsächlich lernen, sofortige Belohnungen zugunsten von größeren Langzeitbelohnungen aufzuschieben. In Laborversuchen zeigen manche 4-jährigen Kinder die Fähigkeit, eine Belohnung aufzuschieben: Wenn sie sich eine Süßigkeit aussuchen dürfen, dann hätten sie lieber morgen eine größere Belohnung als jetzt gleich eine kleine. Wenn diese Kinder heranwachsen, verfügen sie wahrscheinlich über soziale Kompetenz und werden sehr leistungsorientiert sein (Mischel et al. 1989). Ein großer Schritt hin zur Reife – und zur größtmöglichen Zufriedenheit mit dem Leben – besteht darin, zu lernen, dass man Belohnungen aufschiebt und die eigenen Impulse kontrolliert, um dadurch höher bewertete Belohnungen erreichen zu können (Logue 1998a, b). Leider sind jedoch kleine, aber sofortige Belohnungen (z. B. das Vergnügen, spät in der Nacht fernzusehen) manchmal verführerischer als die zeitverzögerten Konsequenzen (Antriebslosigkeit am nächsten Tag). Raucher, Alkoholiker und andere Drogenkonsumenten wissen wahrscheinlich, dass ihr momentanes Vergnügen – der Kick, der oft innerhalb von Sekunden kommt – von den zu erwartenden negativen Wirkungen mehr als ausgeglichen wird, wie etwa eine Krebserkrankung in 30 Jahren oder ein Kater am Morgen. Trotzdem setzt sich die sofortige Verstärkung durch, und Drogen wie Nikotin und Kokain, bei denen die Verstärkung unmittelbar erfolgt, geben den größten Kick (Marlatt 1991). Und für viele Jugendliche ist die sofortige Befriedigung durch risikoreichen, ungeschützten Sex in leidenschaftlichen Momenten wichtiger als die verzögerte Befriedigung durch sicheren oder aufgeschobenen Sex (Loewenstein u. Furstenberg 1991). Ähnlich setzen sich die unmittelbaren Belohnungen durch heutige benzinfressende Fahrzeuge gegenüber den weitreichenderen Folgen der künftigen globalen Erwärmung durch, dem steigenden Meeresspiegel und den extremen Wetterbedingungen.
Verstärkungspläne Ziel 14: Erörtern Sie die Vor- und Nachteile kontinuierlicher und partieller (intermittierender) Verstärkungspläne, und geben Sie 4 Pläne für partielle Verstärkung an. Kontinuierliche Verstärkung (continuous reinforcement): Verstärkung der erwarteten Reaktion bei jedem Auftreten.
Partielle (intermittierende) Verstärkung (partial oder intermittent reinforcement): nur gelegentliche Verstärkung einer Reaktion. Intermittierende Verstärkung führt zu langsamerem Erlernen einer Reaktion, ist aber deutlich löschungsresistenter als eine Reaktion, die durch kontinuierliche Verstärkung gelernt wird.
Bis jetzt setzen die meisten unserer Beispiele eine kontinuierliche Verstärkung voraus: Die erwünschte Reaktion wird bei jedem Eintreten verstärkt. Unter diesen Umständen ist schnelles Lernen möglich. Aber es kommt rasch zu einer Löschung. Wenn die Verstärkung gestoppt wird – weil wir die Nahrungszufuhr unterbinden –, hört die Ratte bald auf, den Hebel zu drücken. Wenn ein normalerweise funktionstüchtiger Süßigkeitenautomat 2-mal hintereinander keinen Schokoriegel ausgibt, hören wir auf, Geld einzuwerfen (auch wenn wir eine Woche später eine spontane Erholung erzielen können, indem wir es erneut probieren). Im Alltag kommt die kontinuierliche Verstärkung nicht sehr häufig vor. Eine Verkäuferin hat nicht bei jedem Beratungsgespräch einen Verkaufserfolg, und auch ein Angler fängt nicht bei jedem Angelwurf einen Fisch. Aber beide machen weiter, weil ihre Bemühungen gelegentlich belohnt werden. Forscher haben einige partielle (intermittierende) Verstärkungspläne untersucht, bei denen die Reaktionen teilweise verstärkt, teilweise nicht verstärkt wurden (Nevin 1988). Lernen durch intermittierende Verstärkung vollzieht sich typischerweise langsamer, weshalb man lieber eine kontinuierliche Verstärkung einsetzen sollte, bis ein Verhalten beherrscht wird. Doch die intermit-
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tierende Verstärkung führt zu größerer Beständigkeit – zu größerer Löschungsresistenz – als die kontinuierliche Verstärkung. Stellen Sie sich eine Taube vor, die es gelernt hat, auf eine Taste zu picken, um Futter zu erhalten. Wenn der Versuchsleiter die Phasen zwischen zwei Futterlieferungen schrittweise verlängert, bis es nur noch selten und bei unvorhersehbaren Gelegenheiten dazu kommt, kann es geschehen, dass Tauben bis zu 150.000 Mal picken, ohne dafür belohnt zu werden (Skinner 1953). Bei intermittierender Verstärkung bleibt die Hoffnung ewig bestehen. Entsprechende Beispiele für das Verhalten bei Menschen sind leicht zu finden: 4 Die Einführung computergesteuerter Ampeln in New York sorgte dafür, dass die meisten der 3250 manuellen Signalgeber an den Kreuzungen der Stadt nicht mehr funktionierten. Doch gelegentlich, meist zufällig, werden Fußgänger durch ein grünes Licht für Fußgänger verstärkt, wenn sie kurz vorher auf den Knopf gedrückt hatten. Deshalb ist ein Ende des meist nutzlosen Knopfdrückens nicht abzusehen. 4 Spielautomaten belohnen Spieler gelegentlich und unvorhersehbar. Diese intermittierende Verstärkung beeinflusst sie wie die Tauben: Sie versuchen es immer wieder, manchmal ohne Ende. 4 Es gibt auch einen wertvollen Hinweis für Eltern. Wenn sie den Wutanfällen ihrer Kinder gelegentlich um des lieben Friedens willen nachgeben, so verstärkt dies die Wutanfälle intermittierend. Dies ist die beste Methode, zu erreichen, dass ein Verhalten weiter auftritt.
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»Der Reiz des Angelns besteht darin, etwas zu verfolgen, was erreichbar ist, sich jedoch entzieht: Das bietet unendlich viele Gelegenheiten, Hoffnungen aufzubauen.« Der schottische Autor John Buchan (1875–1940)
Skinner (1961) und seine Mitarbeiter verglichen 4 Arten partieller Verstärkung. Einige sind genau festgelegt, andere unvorhersehbar variabel. Feste Quotenpläne verstärken eine Verhaltensweise nach einer bestimmten Anzahl von Reaktionen. Ähnlich wie bei Menschen, die bei der Arbeit nach Stückzahl bezahlt werden – sagen wir immer für 30 Stück – kann auch bei Versuchstieren eine Verstärkung nach einer festen Quote erfolgen, z. B. jeweils ein Verstärker nach 30 Reaktionen. Wenn das Tier einmal konditioniert ist, wird es nach einem Verstärker nur eine kurze Pause einlegen und dann zu einer hohen Reaktionsrate zurückkehren (. Abb. 8.10). Variable Quotenpläne liefern Verstärker nach einer unvorhersehbaren Zahl von Reaktionen. Diese Erfahrung machen Spieler an Spielautomaten und Angler beim Fliegenfischen (unvorhersehbare Verstärkung), und das ist der Grund, warum man vom Spielen oder vom Fliegenfischen nur so schwer loskommt. Wie der feste Quotenplan führt auch der variable Quotenplan zu hohen Reaktionsraten, weil die Verstärker im selben Maße zunehmen, wie die Anzahl der Reaktionen. Bei festen Intervallplänen wird die erste Reaktion nach einem festgelegten Zeitraum verstärkt. Ähnlich wie Menschen, die häufiger nach der Post sehen, wenn sich die Zeit nähert, zu der der Briefträger normalerweise kommt, oder die nachschauen, ob der Braten gar ist, picken Tauben während eines
Fester Quotenplan (fixed-ratio schedule): Verstärkung nach einer bestimmten Anzahl von Reaktionen. Variabler Quotenplan (variable-ratio schedule): Die Anzahl der Reaktionen, die gezeigt werden, bevor eine Verstärkung gegeben wird, variiert von einer Verstärkungsphase zur anderen.
Adaptiert aus »Teaching machines« von B. F. Skinner. @ 1961, Scientific American Inc.
Fester Intervallplan (fixed-interval schedule): Verstärkung der ersten Reaktion nach einer vorab festgelegten Zeitspanne.
. Abb. 8.10. Intermittierende Verstärkungspläne Diese Reaktionsmuster zeigten Skinners Versuchstauben bei 4 verschiedenen Verstärkungsplänen. (Verstärker sind mit schwarzen kurzen Strichen gekennzeichnet.) Sowohl bei Menschen als auch bei Tauben führt eine an die Reaktionen geknüpfte Verstärkung (Quotenplan) zu einer höheren Reaktionsrate als eine Verstärkung, die mit der Zeit gekoppelt ist (Intervallplan). Aber auch die Vorhersehbarkeit einer Belohnung spielt eine Rolle. Ein unvorhersehbarer (variabler) Plan führt zu ausdauernderen Reaktionen als ein vorhersehbarer (fester) Plan
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Kapitel 8 · Lernen
Variabler Intervallplan (variable-interval schedule): Verstärkung der ersten Reaktion nach einer variablen Zeitspanne, deren durchschnittliche Dauer vorab festgelegt wurde.
? Nach welchem Verstärkungsplan werden Vertreter verstärkt? Welchen Plan verfolgen Menschen, die in den Ofen schauen, um zu sehen, ob die Plätzchen fertig sind? Welchen Verstärkungsplan nutzen Vielflieger-Programme, die einen Freiflug nach 25.000 Flugmeilen anbieten? (7 Antwort 8.5 am Ende des Kapitels)]
festen Intervallplans häufiger, wenn die angenommene Zeit der Belohnung näher kommt; die Tiere zeigen also ein eher unregelmäßiges Stopp-Start-Muster (. Abb. 8.10) als eine stetige Reaktionsrate. Bei variablen Intervallplänen wird die erste Reaktion nach einem variablen Zeitintervall verstärkt. So wie die Meldung »Sie haben Post« schließlich die Ausdauer belohnt, nach der E-Mail zu schauen, lösen variable Intervallpläne tendenziell langsame, beständige Reaktionen aus. Das ist sinnvoll, weil man nicht weiß, wann die Wartezeit vorbei ist. Das Verhalten von Tieren unterscheidet sich, doch Skinner (1956) behauptete, diese Verstärkungsprinzipien der operanten Konditionierung seien universell anwendbar. Er sagte, es mache wenig Unterschied, mit welcher Reaktion, mit welchem Verstärker oder mit welcher Gattung man arbeite. Die Wirkung eines bestimmten Verstärkungsplans sei nahezu immer die gleiche: »Taube, Ratte, Affe, was ist was? Das ist ganz egal. … Das Verhalten weist erstaunlich ähnliche Eigenschaften auf.«
8.3.3 Bestrafung Ziel 15: Erörtern Sie, wie sich negative Bestrafung, positive Bestrafung und negative Verstärkung unterscheiden, und listen Sie einige Nachteile der Bestrafung als Methode zur Steuerung des Verhaltens auf. Bestrafung (punishment): Ereignis, das das vorausgehende Verhalten reduziert.
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Bestrafung bewirkt das genaue Gegenteil von Verstärkung. Durch Verstärkung nimmt ein Verhalten zu, durch Bestrafung nimmt es ab. Daher versteht man unter Bestrafung jede Art von Konsequenz, die die Häufigkeit eines vorausgehenden Verhaltens verringert. Dies geschieht gewöhnlich dadurch, dass eine negative Konsequenz eintritt oder eine positive Konsequenz entzogen wird (. Tabelle 8.2). Schnelle und gezielte Bestrafung kann unerwünschtes Verhalten massiv unterbinden. Sowohl die Ratte, die einen Elektroschock bekommt, nachdem sie einen verbotenen Gegenstand berührt hat, als auch das Kind, dem eine Vergünstigung entzogen wird, nachdem es auf die Straße gerannt ist, werden lernen, ihr Verhalten nicht zu wiederholen. Einige Formen der Bestrafung sind, wenn auch unbeabsichtigt, trotzdem recht wirkungsvoll: Ein Hund, der es gelernt hat, beim Geräusch des elektrischen Dosenöffners angelaufen zu kommen, wird nicht mehr kommen, wenn sein Herrchen anfängt, das Gerät laufen zu lassen, um den Hund herzulocken und ihn dann in den Keller zu verbannen. Der Psychologe Larzelere (1996, 2000, 2004) nennt ein Problem bei Studien zur Bestrafung von Menschen: In vielen dieser Studien konnte festgestellt werden, dass geschlagene Kinder ein erhöhtes Aggressions- und Depressionsrisiko haben und eher ein geringeres Selbstbewusstsein aufweisen als andere Kinder. Nun ja, sagt Larzelere, das ist so wie bei Menschen, die mit radioaktiver Strahlung behandelt wurden; sie sterben häufiger an Krebs als andere. Und Menschen, die eine Psychotherapie gemacht haben, leiden eher an Depressionen – weil bei ihnen schon vorher Probleme vorlagen, die die Behandlung erforderlich machten. Auf körperliche Bestrafung folgt ein schlechtes Verhalten. Und auf ein schlechtes Verhalten folgt eine körperliche Bestrafung. Das ist also die Frage: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Die Korrelation gibt uns keine Antwort auf die Frage. Wenn man weiß, dass eine Krebserkrankung oder eine Depression – oder ein antisoziales Verhalten – bereits vorhanden sind, dann erscheinen Bestrahlung oder Psychotherapie – oder ein oder zwei gelegentlicher Klapse bei 2- bis 6-Jährigen – als wirkungsvolle Behandlung, merken Larzelere, Baumrind et al. (2002) an. Das gilt vor allem dann, wenn der Klaps mit genügend Argumenten und verstärkender Fürsorge verbunden wird und wenn er nur als Unterstützung dient, um die Wirksamkeit milderer Disziplinierungstaktiken, wie etwa Argumente und Auszeiten, zu erhöhen.
. Tabelle 8.2. Bestrafungsformen
Form
Beschreibung
Beispiele
Positive Bestrafung
Hinzufügen eines unangenehmen Reizes
Einen Klaps geben; einen Strafzettel bekommen
Negative Bestrafung
Entfernen eines angenehmen Reizes
Privilegien, wie z. B. die gemeinsame Zeit mit Freunden, streichen; den Führerschein abgeben müssen
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David Strickler/The Image Works
Trotzdem, so die Fürsprecher einer gewaltlosen Erziehung, hat körperliche Gewalt Folgen (Marshall 2002; Gershoff 2002). Bestraftes Verhalten ist nicht vergessen; es wird lediglich unterdrückt. Diese zeitweilige Unterdrückung des Verhaltens kann das Bestrafungsverhalten der Eltern (negativ) verstärken. Das Kind flucht, die Eltern schlagen, die Eltern hören das Kind nicht mehr fluchen und haben das Gefühl, dass die Bestrafung das Verhalten erfolgreich unterbunden hat. Es ist kein Wunder, dass der Klaps bei so vielen Eltern 3- und 4-Jähriger derartig beliebt ist – mehr als 90% von ihnen geben zu, dass sie ihren Kindern einen Klaps geben (Kazdin u. Benjet 2003). Doch war die Bestrafung wirklich effektiv? Wenn die Bestrafung vermeidbar ist, könnte das bestrafte Verhalten in einer Umgebung, in der man vor Strafe sicher ist, erneut auftreten. Das Kind lernt vielleicht einfach zu diskriminieren: Es ist nicht in Ordnung, in der Nähe des Hauses zu fluchen, aber anderswo. Der Autofahrer, der schon öfter ein Bußgeld für zu schnelles Fahren bekommen hat, kauft sich vielleicht einen Radardetektor und gibt hemmungslos Gas, wenn keine Radarkontrolle in der Nähe aufgebaut wurde. ! Körperliche Bestrafung verstärkt Aggressivität möglicherweise dadurch, dass sie Folgendes zeigt: Aggression ist eine Möglichkeit zur Problemlösung.
Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum so viele aggressive Straftäter und missbrauchende Eltern aus Familien kommen, in denen Missbrauch vorkam (Straus u. Gelles 1980; Straus et al. 1997). Außerdem kann Bestrafung Angst auslösen; wer bestraft wird, verbindet die Angst vielleicht nicht nur mit dem unerwünschten Verhalten, sondern auch mit der strafenden Person oder mit der Situation, in der gestraft wird. Folglich könnte ein Kind den strafenden Lehrer fürchten und daher nicht mehr in die Schule gehen wollen. Unvorhersehbare (willkürliche) und unausweichliche Bestrafung kann gravierende Auswirkungen haben: Sowohl bei Tieren als auch bei Menschen kann das Gefühl entstehen, keinerlei Kontrolle zu haben. Dies wiederum kann zum Gefühl von Hilflosigkeit und zur Depression führen. Aus diesen Gründen wurde in den meisten europäischen Ländern die Prügelstrafe in Schulen und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen abgeschafft (Leach 1993, 1994). Elf Länder, darunter Skandinavien, haben die Prügelstrafe auch für Eltern verboten und dadurch Kinder unter den gleichen gesetzlichen Schutz gestellt wie Ehegatten (EPOCH 2000). In Deutschland wurde im Jahr 2000 ein Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung beschlossen und umgesetzt. Die neue Fassung des § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches besagt nun in Absatz 2: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« ! Zwar unterdrückt Bestrafung unerwünschtes Verhalten, doch führt es oft nicht in Richtung des gewünschten Verhaltens. Bestrafung sagt dir, was du nicht tun sollst; Verstärkung sagt dir, was du tun sollst. Daher ist Bestrafung in Verbindung mit Verstärkung in der Regel wirksamer als Bestrafung allein.
Dieser Ansatz wurde bei Kindern, die sich Bisswunden zufügten oder mit dem Kopf an die Wand schlugen, dazu genutzt, das selbstzerstörerische Verhalten zu verändern. Sie wurden möglicherweise leicht bestraft (etwa mit einem Wasserspritzer ins Gesicht), wenn sie sich bissen, aber sie wurden auch mit positiver Beachtung und Nahrung belohnt, wenn sie sich richtig verhielten. Dieser Ansatz funktioniert auch im Klassenzimmer. Anmerkungen des Lehrers wie etwa »Nein, aber probiere einmal …« und »Ja, genau!« reduzieren unerwünschtes Verhalten dadurch, dass alternative Verhaltensweisen verstärkt werden. Eltern straffälliger Jugendlicher wissen oft nicht, wie sie erwünschte Verhaltensweisen verstärken könnten, ohne zu schreien oder zu schlagen (Patterson et al. 1982). Übungsprogramme können betroffenen Eltern helfen, Drohungen in positive Anregungen umzukehren. Aus »Entweder du räumst dein Zimmer auf, oder du bekommt kein Abendbrot!« wird dann »Komm dann zum Abendbrot, wenn du dein Zimmer aufgeräumt hast.« Wenn man nicht weiter darüber nachdenkt, dann sind viele Strafandrohungen ebenso nützlich und vielleicht sogar wirksamer, wenn sie positiv umformuliert werden. Also sollte »Wenn du deine Hausaufgabe nicht machst, bekommst du das Auto nicht!« besser umformuliert werden in … Die Bestrafung lehrt oft, so Skinner, wie sie vermieden werden kann. Die meisten Psychologen treten heute dafür ein, auf Verstärkung zu setzen: Achten Sie darauf, wenn Menschen etwas richtig machen und bestärken Sie sie darin.
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Machen Kinder das, was sie sehen? Kinder, die oft mit körperlicher Bestrafung Erfahrung machen, neigen dazu, mehr Aggression zu zeigen
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Kapitel 8 · Lernen
8.3.4 Aktuelle Erweiterungen Skinner wusste sehr wohl, dass es innere Denkprozesse und biologische Grundlagen für das Verhalten gibt. Dennoch kritisierten ihn viele Psychologen, weil er die Bedeutung dieser Prozesse und Veranlagungen zu wenig beachtete.
Kognition und operante Konditionierung Ziel 16: Erklären Sie, auf welche Weise latentes Lernen und die Wirkung äußerer Belohnungen zeigen, dass die kognitive Verarbeitung ein wichtiger Bestandteil des Lernens ist.
Nur 8 Tage, bevor er an Leukämie starb, hielt Skinner (1990) einen Vortrag auf einer Konferenz des amerikanischen Psychologenverbandes APA und kritisierte zum letzten Mal die »kognitive Wissenschaft«, die für ihn ein Rückfall in die Introspektionsmanie zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Bis zu seinem Tod widersetzte sich Skinner der sich immer stärker ausbreitenden Auffassung, dass kognitive Prozesse – Gedanken, Wahrnehmungen, Erwartungen – einen wichtigen Platz in der psychologischen Forschung haben und sogar für das Verständnis des Konditionierens von großer Bedeutung sind. (Er betrachtete Gedanken und Gefühle als Verhaltensweisen, die den gleichen Gesetzen folgen, wie jedes andere Verhalten auch.) Doch vieles weist darauf hin, dass kognitive Prozesse beim operanten Konditionieren eine Rolle spielen könnten. Beispielsweise zeigen Tiere mit einem festen Intervallplan für Verstärker zunehmend häufigere Reaktionen, wenn sich die Zeit nähert, in der eine Reaktion zu einer Verstärkung führt. Die Tiere verhalten sich, als ob sie erwarteten, dass das Wiederholen der Reaktion bald zu einer Belohnung führen würde. (Ein strikter Behaviorist hält es dagegen für unnötig, von »Erwartungen« zu sprechen; ihm genügt es, dass Reaktionen, wenn sie unter bestimmten Bedingungen verstärkt wurden, wieder auftreten, wenn diese Bedingungen erneut vorliegen.)
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Latentes Lernen Die Beobachtung von Ratten im Labyrinth lieferte den Beleg für kognitive Prozesse. Ratten, die ohne offensichtliche Belohnung ein Labyrinth erkunden, verhalten sich wie Menschen, die eine Tour durch eine fremde Stadt machen. Die Ratten scheinen eine kognitive Landkarte zu entwickeln, eine mentale Darstellung des Labyrinths. Wenn ein Versuchsleiter dann eine Belohnung in den Ausgang des Labyrinths legt, verhalten sich die Ratten sehr schnell ebenso wie die Ratten, die mit Futter für den Gang durch das Labyrinth belohnt wurden (. Abb. 8.11).
Will and Deni McIntyre/Photo Researchers, Inc.
Kognitive Landkarte (cognitive map): mentale Darstellung der eigenen Umgebung. Beispielsweise verhalten sich Ratten, nachdem sie ein Labyrinth erkundet haben, als hätten sie eine kognitive Landkarte dieses Labyrinths entwickelt.
. Abb. 8.11. Latentes Lernen Tiere können ebenso wie Menschen aus Erfahrung und ohne Verstärkung lernen. Ratten erforschten 10 Tage lang ein Labyrinth, ehe sie eine Belohnung in Form von Futter am Ende des Labyrinths fanden. Sehr schnell zeigten sie, dass sie gelernt hatten, durch das Labyrinth zu laufen: Sie waren auf Anhieb genau so erfolgreich (sogar erfolgreicher) wie die Ratten, die für jeden Gang durchs Labyrinth verstärkt worden waren. (Aus Tolman u. Honzik 1930)
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363 8.3 · Operante Konditionierung
Bei ihren Erkundungsgängen scheinen die Ratten latentes Lernen zu praktizieren: eine Form des Lernens, die nur dann sichtbar wird, wenn es einen Anreiz dafür gibt. Auch Kinder können lernen, wenn sie ein Elternteil beobachten, aber das Lernen kann sich erst viel später zeigen, wenn es benötigt wird. Daraus folgt: ! Zum Lernen gehört mehr, als eine Reaktion mit einer Konsequenz (Belohnung oder Bestrafung) zu verbinden. Auch Kognitionen spielen eine Rolle.
C. Styrsky
In 7 Kap. 10 werden Sie weitere überzeugende Beispiele für die kognitiven Fähigkeiten finden, die Tiere beim Problemlösen und beim Einsatz sprachlicher Aspekte einsetzen.
Intrinsische Motivation Latentes Lernen (latent learning): Form des Lernens, die erst sichtbar wird, wenn ein Anreiz besteht, das Gelernte zu zeigen. Intrinsische Motivation (intrinsic motivation): Wunsch, ein Verhalten um seiner selbst willen zu zeigen. Extrinsische Motivation (extrinsic motivation): Wunsch, ein Verhalten wegen versprochener Belohnungen oder drohender Bestrafung zu zeigen.
Shaun Best/Reuters/Corbis
Die kognitive Sichtweise hat auch zu einer wichtigen Einschränkung geführt, was den Einfluss von Belohnungen angeht: Unnötige Belohnungen wirken sich manchmal auch negativ aus: Der Glaube, dass das Interesse an einer bestimmten Tätigkeit zunimmt, wenn eine Belohnung damit verbunden ist, ist weit verbreitet (Boggiano et al. 1987). Doch Kindern eine Belohnung für eine Aufgabe zu versprechen, die ihnen bereits Spaß macht, kann negative Folgen haben. In Versuchen zeigte sich, dass Kinder, denen Geld versprochen wurde, wenn sie mit einem interessanten Puzzle oder Spielzeug spielten, später seltener mit diesem Spielzeug spielten als Kinder, die nicht fürs Spielen bezahlt wurden (Deci et al. 1999; Tang u. Hall 1995). Es scheint, als würden die Kinder denken: »Wenn ich belohnt werden muss, damit ich das tue, dann ist es wohl nichts wert, wenn ich es einfach nur mache.« Aufgrund der übermäßigen Rechtfertigung eines Verhaltens durch exzessive Belohnungen kann die intrinsische Motivation untergraben werden, d. h. der Wunsch, etwas effektiv und um seiner selbst willen zu tun. Intrinsisch motivierte Menschen arbeiten und spielen, weil sie Freude und Interesse an dem haben, was sie tun, weil ihnen ihre Selbstdarstellung wichtig ist oder weil sie eine Herausforderung suchen. Die extrinsische Motivation ist der Wunsch, sich in bestimmter Weise zu verhalten, um äußere Belohnungen zu erhalten oder um eine drohende Bestrafung zu vermeiden. Wenn Jugendtrainer im Sport dauerhaftes Interesse und Engagement fördern und nicht nur Spieler zum Sieg zwingen wollen, sollten sie sich vor allem auf die intrinsische Freude am Spiel und die Förderung des Potenzials der einzelnen Spieler konzentrieren, stellen die Motivationsforscher Deci u. Ryan fest (1985, 1992, 2000). Wenn Sie wissen wollen, worin der Unterschied zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation besteht, sollten Sie über Ihre eigenen Erfahrungen im Alltag nachdenken. Fühlen Sie sich unter Druck, dieses Kapitel bis zu einem bestimmten Termin fertig zu lesen? Machen Sie sich Sorgen über die Note in einer Prüfung? Sind Ihnen Belohnungen, die von Ihrem Erfolg abhängen, besonders wichtig? Wenn ja, dann sind Sie extrinsisch motiviert (wie es fast alle Studierenden in gewisser Weise sein müssen). Finden Sie das Lernmaterial auch interessant? Gibt es Ihnen ein Gefühl größerer Kompetenz, wenn Sie es lernen? Wären Sie wissbegierig genug, diesen Stoff um seiner selbst willen zu lernen, auch wenn Sie dafür keine Note bekommen würden? Wenn das der Fall ist, dann sind Sie auch intrinsisch für Ihre Anstrengungen motiviert. Oft bleibt das Interesse an einer bestimmten Tätigkeit erhalten, wenn eine Belohnung weder als Bestechung noch als Kontrolle eingesetzt wird, sondern signalisiert, dass eine Sache gut gemacht wurde, wie etwa eine Auszeichnung für den Spieler, der sich am meisten verbessert hat (Boggiano et al. 1985). Wenn eine Belohnung Ihr Kompetenzgefühl nach einer erfolgreich erledigten Aufgabe steigert, kann Ihre Freude an dieser Aufgabe zunehmen. Richtig eingesetzte Belohnungen können Ausdauer und Kreativität fördern (Eisenberger u. Rhoades 2001; Henderlong u. Lepper 2002). Und extrinsische Belohnungen (wie Stipendien, Zulassung zu bestimmten Studiengängen und gute berufliche Positionen, die oft eine Folge guter Noten sind) werden nicht verschwinden.
Tiger Woods ist intrinsisch motiviert »Ich erinnere mich: Wir hatten jeden Tag dasselbe Ritual. Ich rief Papa an seiner Arbeitsstelle an und fragte, ob ich mit ihm trainieren könnte. Er wartete dann immer ein oder zwei Sekunden, um mich auf die Folter zu spannen, aber er sagte immer ja … Auf seine ganz eigene Weise lehrte er mich, die Initiative zu ergreifen. Sehen Sie, er trieb mich nie zum Spielen an.« (zitiert in »USA Weekend« 1997)
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Kapitel 8 · Lernen
Biologische Veranlagungen
Owen Franken/Corbis
Ziel 17: Erklären Sie, auf welche Weise biologische Prädispositionen dem Grenzen setzen, was man mit Hilfe der operanten Konditionierung erreichen kann.
Natürliche Athleten Tiere können am leichtesten Verhaltenweisen lernen und behalten, die ihren biologischen Veranlagungen entsprechen, wie etwa die den Katzen angeborene Tendenz, hochzuspringen und auf den Füßen zu landen
Ebenso wie bei der klassischen Konditionierung schränken die natürlichen Veranlagungen eines Tieres auch seine Fähigkeit zur operanten Konditionierung ein. Wenn man das Verhalten eines Hamsters durch Futter verstärkt, kann man ihn leicht darauf konditionieren, zu graben oder sich aufzubäumen, weil dies zu den natürlichen Verhaltensweisen dieses Tieres gehört, wenn es Futter sucht. Aber es ist schwierig, Futter als Verhaltensverstärker einzusetzen, wenn man einen Hamster zu einem anderen Verhalten veranlassen will, das normalerweise nichts mit Futter oder Hunger zu tun hat – wie etwa, sich das Gesicht zu putzen (Shettleworth 1973). Das gilt auch für Tauben: Sie lernen leicht, mit den Flügeln zu schlagen, um einen Schock zu vermeiden, oder zu picken, um Futter zu erhalten; denn es ist bei ihnen ein natürliches Verhalten, die Flügel zur Flucht zu benutzen bzw. den Schnabel zum Fressen. Schwierig wird es allerdings für Tauben, wenn sie picken sollen, um einen Schock zu vermeiden, oder mit den Flügeln schlagen sollen, um Futter zu erhalten (Foree u. LoLordo 1973). ! Aufgrund ihrer biologischen Veranlagung fällt es Organismen leichter, Kopplungen zu lernen, die ihrem natürlichen Verhalten nahekommen.
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Skinners ehemalige Kollegen Breland u. Breland (1961) beobachteten biologische Beschränkungen, als sie operante Prozesse einsetzten, um Tiere für den Zirkus, für Fernsehshows und Filme zu trainieren. Die Brelands hatten ursprünglich angenommen, dass operante Prinzipien bei fast allen Reaktionen, zu denen ein Tier fähig ist, funktionieren würden. Aber nachdem sie 6000 Tiere 38 verschiedener Rassen – von Hühnern bis zu Walen – trainiert hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass biologische Beschränkungen mehr Gewicht hatten, als sie angenommen hatten. Einmal trainierten sie Schweine, große »Dollars« aus Holz aufzuschnappen und sie zu einer »Schweinebank« zu bringen. Doch nachdem die Tiere dieses Verhalten gelernt hatten, kehrten sie wieder zu ihrem natürlichen Verhalten zurück. Sie ließen die Münze fallen, stießen sie mit der Schnauze an, wie dies Schweine normalerweise tun, schnappten sie wieder und wiederholten dann diese Sequenz – und verzögerten dadurch die Verabreichung ihres Futterverstärkers. Wie diese »instinktive Tendenz« zeigt, kam es zu »Fehlverhalten«, wenn die Tiere zu ihren angeborenen Mustern zurückkehrten.
8.3.5 Anwendungsbereiche Ziel 18: Beschreiben Sie die Kontroverse um Skinners Auffassungen zum Verhalten des Menschen.
Skinner war einer der umstrittensten Intellektuellen des späten 20. Jahrhunderts. Er stach in ein Wespennest, als er immer wieder darauf bestand, dass Verhalten durch äußere Einflüsse (nicht aber durch innere Gedanken und Gefühle) geprägt wird; ferner drängte er darauf, operante Prinzipien zu nutzen, um das menschliche Verhalten an Schulen, am Arbeitsplatz und zu Hause zu beeinflussen. Um Menschen effektiv zu helfen oder sie sinnvoll anzuleiten, sagte Skinner, sollten wir uns weniger Sorgen um ihre Freiheit und Menschenwürde machen. Wenn wir akzeptieren, dass Verhalten durch die sich daraus ergebenden Konsequenzen geformt wird, sollten wir, so argumentierte er, Belohnungen in einer Weise einsetzen, die erwünschtes Verhalten besser fördert. Skinners Kritiker widersprachen und warfen ihm vor, dass er die Menschenwürde verletze, weil er keine Achtung vor der persönlichen Freiheit des Einzelnen habe und er sein Handeln kontrollieren wolle. Skinners Antwort: Das Verhalten des Menschen wird bereits willkürlich von äußeren Einflüssen kontrolliert. Warum sollte man dann diese Konsequenzen nicht zu Gunsten der Menschen einsetzen? Wäre es nicht menschlicher, Verstärker einzusetzen, statt zu Hause, in der Schule und in
365 8.3 · Operante Konditionierung
8
Gefängnissen mit Strafen zu arbeiten? Und wenn es demütigend erscheint, zu denken, dass wir durch unsere Vergangenheit geformt werden, so lässt uns genau dieser Gedanke auch hoffen, dass wir unsere eigene Zukunft gestalten können.
Anwendung der operanten Konditionierung Ziel 19: Beschreiben Sie einige Vorgehensweisen, bei denen man die Prinzipien der operanten Konditionierung in der Schule, im Sport, bei der Arbeit und zu Hause anwenden kann.
Wir haben nun Anwendungsbereiche der Prinzipien kennen gelernt, und in späteren Kapiteln werden wir sehen, wie Psychologen die Prinzipien der operanten Konditionierung einsetzen, um Menschen mit moderatem Bluthochdruck zu helfen oder um soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Verstärkungstechniken finden auch im Schulalltag, im Geschäftsleben und zu Hause Anwendung.
Sport Mit Hilfe von Verstärkungsprinzipien lassen sich aber auch sportliche Leistungen verbessern. Der Schlüssel hierfür ist wieder, dass zunächst kleine Erfolge verstärkt werden und dann die Anforderungen allmählich zunehmen. Simek u. O’Brien (1981, 1988) wandten diese Prinzipien in Golfund Baseballkursen an, indem sie mit Aufgaben begannen, die leicht zu lösen und damit einfach zu verstärken waren. Golfschüler fangen mit Schlägen über eine sehr kurze Distanz an. In dem Maß, wie sie besser werden, können sie immer weiter vom Ball zurücktreten, bis sie schließlich den vollen Schwung des Golfschlägers ausnutzen können. Wer Schlagmann beim Baseball werden will, übt zuerst, einen Ball mit Übergröße zu schlagen, der von nicht allzu weit entfernt geworfen wird. Mit jedem gelungenen Treffer wachsen sein Vertrauen und sein Können; dann wird allmählich der große Ball durch einen normalen Ball ersetzt. Bei einem Vergleich mit Kindern, die nach herkömmlichen Methoden trainiert wurden, zeigten die Kinder mit dem Verhaltenstraining sowohl beim Treffen als auch bei der Beurteilung der Spielsituation schnellere Lernerfolge.
Burrhus F. Skinner »Manchmal werde ich gefragt: ›Sehen Sie sich selbst auch als einen dieser Organismen, die Sie studieren?‹ Darauf lautet meine Antwort ›Ja‹. Nach allem, was ich weiß, war mein Verhalten in jedem beliebigen Moment nichts anderes als das Produkt aus meiner genetischen Veranlagung, meiner persönlichen Geschichte und den jeweiligen Umständen«. (Skinner 1983)
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Eine Generation vor uns setzten sich Skinner und andere für die Verwendung von Lernmaschinen und Lehrbüchern ein, die den Prozess des Lernens in kleine Schritte einteilen und sofortige Verstärker für richtige Antworten liefern sollten. Solche Maschinen und solcherart aufbereitetes Lehrmaterial würde, so sagten sie, das Bildungswesen revolutionieren und Lehrerinnen und Lehrern die Freiheit geben, sich auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler zu konzentrieren. Um Skinners Vorschlag zu illustrieren, stellen Sie sich bitte 2 Mathematiklehrer vor, die beide eine Klasse mit sehr unterschiedlich begabten Schülerinnen und Schülern unterrichten. Lehrer A gibt der ganzen Klasse die gleiche Mathematikaufgabe, obwohl er weiß, dass einige Schüler das Problem schnell verstehen, andere dagegen daran scheitern und frustriert sein werden. Wie kann ein Lehrer so unterschiedliche Schüler individuell anleiten? Den Schlauen ist es langweilig, weil sie unterfordert sind; die Schwächeren haben kein Erfolgserlebnis. Lehrer B, der eine ähnliche Klasse hat, passt den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben dem Lerntempo des jeweiligen Schülers an und gibt durch positive Verstärkung sowohl den langsamen als auch den schnellen Lernern ein umgehendes Feedback. Kommt Ihnen der individuelle Unterricht von Lehrer B unrealistisch vor? Auch wenn die vorhergesagte Revolution im Bildungswesen nicht eingetreten ist, glaubte Skinner (1986, 1988, 1989) bis zu seinem Tod, dass dieses Ideal erreichbar wäre. »Guter Unterricht erfordert zwei Dinge«, sagte er. »Den Schülern muss umgehend gesagt werden, ob sie etwas richtig oder falsch machen. Und wenn sie es richtig machen, muss ihnen gezeigt werden, welcher Schritt als nächster folgt.« Zuletzt hoffte er auf Computer. Bei Lese- und Mathematikaufgaben könnte der Computer Lehrer B sein – er kann den Stoff dem Lerntempo des Schülers anpassen, den Schüler testen, um Verständnislücken zu finden, sofortiges Feedback geben und dem beaufsichtigenden Lehrer lückenlose Leistungsnachweise liefern. Dank immer interaktiverer Lernsoftware für Schülerinnen und Schüler, dank des internetbasierten Lernens und dank der Leistungsüberprüfung im Netz sind wir Skinners Ideal näher gekommen als je zuvor.
Sam Falk/Photo Researchers, Inc.
Schule
Computergestütztes Lernen Computer trugen dazu bei, Skinners Ziel des individuell angepassten Unterrichtstempos mit sofortigem Feedback zu erreichen
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Kapitel 8 · Lernen
Arbeitsplatz Manager zogen Nutzen aus psychologischen Studien, indem sie davon ausgingen, dass Verstärker einen Einfluss auf die Produktivität haben. Heute bieten viele Firmen ihren Angestellten Gewinnbeteiligungen und Firmenanteile an. Wenn die Produktivität der Mitarbeiter belohnt wird, verbessern sich oft ihre Motivation, ihre Arbeitshaltung und ihr Teamgeist (Deutsch 1991). Eine Verstärkung für gut gemachte Arbeit steigert die Produktivität besonders effektiv, wenn die erwünschte Leistung klar definiert ist und im Rahmen der Möglichkeiten liegt. Was bedeutet das für Sie als Manager? Belohnen Sie bestimmte Tätigkeiten, nicht vage definierte Verdienste. Sogar Kritik kann konstruktiv eingesetzt werden und zu Höchstleistungen anspornen, wenn sie spezifisch und überlegt formuliert ist (Baron 1988). Auch lohnt es sich, die Verstärkung sofort durchzuführen. Wenn der legendäre IBM-Manager Thomas Watson eine erfolgreiche Leistung beobachtete, schrieb er dem Mitarbeiter sofort einen Scheck aus (Peters u. Waterman 1982). Belohnungen müssen allerdings nicht unbedingt materiell sein; sie sollten nicht ein so beträchtliches Ausmaß annehmen, dass sie gar zum Politikum werden oder denjenigen, die keine Belohnung erhalten, Anlass zur Entmutigung geben. Ein erfolgsorientierter Manager kann seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfach auf dem Flur in ihrer guten Arbeit bestätigen oder eine gute Bewertung zu einem abgeschlossenen Projekt schreiben. Wie Skinner sagte: »Wäre die ganze Welt nicht um vieles reicher, wenn im Alltag die Verstärker deutlicher von der geleisteten Arbeit abhingen?«
Zu Hause
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Viele Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen glauben, dass das Konsumverhalten der Verbraucher von den Konsequenzen (Kosten und Nutzen) des Konsums abhängig ist. Vergleicht man den Stromverbrauch von Mietern, bei denen die Stromkosten bereits im Mietpreis enthalten sind, mit dem Verbrauch von Mietern in vergleichbaren Gebäuden, die ihre Stromrechnung selbst bezahlen müssen (daher als Belohnung Geld sparen), so stellt man fest, dass Letztere ungefähr 20% weniger Strom verbrauchen. In ähnlicher Weise hilft es denjenigen, die sich zu Hause auf »Energiediät« setzen, wenn sie häufig darüber informiert werden, wie sich ihr momentaner Stromverbrauch im Vergleich zum früheren Verbrauch verhält (Darley et al. 1979). Nicht nur zu Hause beeinflussen sofortige Konsequenzen das Verhalten am effektivsten. Der amerikanische Politiker Al Gore (1992) schlug vor, wie in den USA die Steuerpolitik die Macht dieser Konsequenzen in Grenzen halten könnte: Eine ökonomische Faustregel lautet: Von dem, was wir besteuern, erhalten wir eher weniger; von allem, was wir subventionieren, erhalten wir eher mehr. Derzeit wird Arbeit besteuert und der Abbau natürlicher Ressourcen subventioniert – und beides zusammen hat zu einer hohen Arbeitslosenquote und zu einer Verschwendung natürlicher Ressourcen geführt. Was wäre, wenn wir die Besteuerung der Arbeit senken und gleichzeitig die Besteuerung für das Verbrennen fossiler Brennstoffe erhöhen würden?
Auch Eltern können einen Nutzen aus der operanten Konditionierung ziehen. Die Wissenschaftler Wierson u. Forehand (1994), die für Eltern Kurse zur richtigen Kindererziehung anbieten, erinnern uns daran, dass Eltern, die sagen: »Mach dich fertig, schlafen zu gehen« und dann Protesten und Trotzverhalten nachgeben, derartige Verhaltensweisen verstärken. Schließlich schreien sie in ihrer Verzweiflung ihr Kind möglicherweise an oder gestikulieren drohend, wobei die ängstliche Fügsamkeit des Kindes wiederum das verärgerte Verhalten der Eltern verstärkt. Mit der Zeit entsteht daraus ein destruktives Eltern-Kind-Verhältnis, das immer schlimmer wird. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, geben Wierson u. Forehand die folgenden Tipps: 4 Schenken Sie Ihren Kindern Aufmerksamkeit und andere Verstärker, wenn sich diese richtig verhalten. Wählen Sie ein bestimmtes Verhalten aus, belohnen Sie es, und beobachten Sie, wie es häufiger auftreten wird. 4 Ignorieren Sie Gejammer. Wenn Gejammer in der Vergangenheit zu Aufmerksamkeit geführt hat, dann nimmt es möglicherweise vorübergehend zu, wenn Sie nicht mehr darauf eingehen. Ohne Verstärkung (Aufmerksamkeit) wird es mit der Zeit abnehmen.
367 8.3 · Operante Konditionierung
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Schließlich können wir die operante Konditionierung auch bei uns selbst anwenden, indem wir unsere am meisten erwünschten Verhaltensweisen verstärken und unerwünschtes Verhalten löschen. Wenn Sie Verantwortung für Ihr eigenes Verhalten übernehmen wollen, schlagen Psychologen Ihnen vor, diese Maßnahmen zu ergreifen: 1. Legen Sie Ihr Ziel fest – etwa in einem angemessenen Zeitraum mit dem Rauchen aufzuhören, weniger zu essen, mehr zu lernen oder mehr Sport zu treiben – und verkünden Sie Ihren Vorsatz. Sie könnten beispielsweise täglich eine Stunde länger lernen wollen und dieses Ziel Freunden mitteilen, die Sie darin unterstützen. 2. Beobachten Sie, wie oft das Verhalten, das Sie fördern möchten, bei Ihnen auftritt. Sie könnten Ihre derzeitige Lernzeit stoppen und notieren, unter welchen Bedingungen Sie lernen und unter welchen nicht. (Als ich anfing, Lehrbücher zu schreiben, hielt ich während des gesamten Tages fest, wie ich meine Zeit verbrachte, und war erstaunt darüber, zu entdecken, wie viel Zeit ich vergeudete.) 3. Verstärken Sie das erwünschte Verhalten. Wenn Sie länger lernen möchten, dann gönnen Sie sich erst nach bestimmten Lernphasen einen Snack (oder eine andere verstärkende Aktivität). Vereinbaren Sie mit Ihren Freunden, dass Sie am Wochenende nur dann etwas mit ihnen unternehmen werden, wenn Sie Ihr realistisches wöchentliches Lernziel erreicht haben. 4. Reduzieren Sie allmählich in dem Maße die Anreize, in dem die neuen Verhaltensweisen immer stärker zur Gewohnheit werden, und klopfen Sie sich innerlich auf die Schulter.
8.3.6 Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung Ziel 20: Geben Sie die wichtigsten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der klassischen und der operanten Konditionierung an.
Sowohl die klassische als auch die operante Konditionierung sind Formen assoziativen Lernens, und bei beiden spielen Erwerb, Löschung, spontane Erholung, Generalisierung und Reizdiskriminierung eine Rolle. Die Ähnlichkeiten sind so groß, dass sich einige Forscher fragen, ob ein einzelner Reiz-Reaktions-Lernprozess vielleicht beides erklären könnte (Donahoe u. Vegas 2004). . Tabelle 8.3. Klassische und operante Konditionierung im Vergleich
Klassische Konditionierung
Operante Konditionierung
Reaktion
Unwillkürlich, automatisch
Willentlich, beeinflusst die Umgebung
Erwerb
Ereignisse werden assoziiert, CS kündigt US an
Eine Reaktion wird mit einer Konsequenz gekoppelt (Verstärker oder bestrafender Reiz)
Löschung
CR nimmt ab, wenn CS wiederholt alleine dargeboten wird
Die Reaktion nimmt ab, wenn die Verstärkung aufhört
Kognitive Prozesse
Organismen entwickeln die Erwartung, dass der CS ein Signal für das baldige Auftreten eines US ist
Organismen entwickeln die Erwartung, dass eine Reaktion verstärkt oder bestraft wird; sie zeigen auch latentes Lernen ohne Verstärkung
Biologische Prädispositionen
Biologische Prädispositionen sind eine Einschränkung dafür, welche Reize und Reaktionen leicht miteinander assoziiert werden können
Organismen lernen am besten Verhaltensweisen, die ihren natürlichen Verhaltensweisen ähneln; unnatürliche Verhaltensweisen lassen sie instinktiv auf natürliche Verhaltensweisen zurückfallen
C. Styrsky
4 Wenn sich Ihre Kinder falsch verhalten oder trotzig sind, dann schreien Sie sie nicht an und schlagen Sie sie nicht. Erklären Sie ihnen einfach ihr Fehlverhalten und geben Sie ihnen eine Auszeit: Nehmen Sie sie für einen festgelegten Zeitraum aus der sie verstärkenden Umgebung heraus.
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Kapitel 8 · Lernen
Methodisch unterscheiden sie sich in Folgendem: Bei der klassischen Konditionierung (Pawlow) assoziiert ein Organismus verschiedene Reize, die er nicht unter Kontrolle hat und auf die er automatisch reagiert (respondentes Verhalten). Bei der operanten Konditionierung koppelt ein Organismus seine operanten Verhaltensweisen – Beeinflussung der Umwelt, wodurch belohnende oder bestrafende Reize ausgelöst werden – mit den sich jeweils daraus ergebenden Konsequenzen. Beide Formen des Konditionierens (klassisch und operant) werden von kognitiven Prozessen beeinflusst und unterliegen den Beschränkungen der biologischen Veranlagungen (. Tabelle 8.3). Lernziele Abschnitt 8.3 Operante Konditionierung Ziel 10: Geben Sie die beiden Hauptmerkmale an, durch die sich die klassische Konditionierung von der operanten Konditionierung unterscheidet. Bei der klassischen Konditionierung bilden die Organismen Assoziationen zwischen Verhaltensweisen, über die sie keine Kontrolle haben; zu dieser Form der Konditionierung gehört das respondente Verhalten (automatische Reaktionen auf einen Reiz). Bei der operanten Konditionierung lernen die Organismen Kopplungen zwischen ihrem eigenen Verhalten und den sich daraus ergebenden Ereignissen; zu dieser Form der Konditionierung gehört das operante Verhalten (ein Verhalten, das auf die Umwelt einwirkt und dadurch Konsequenzen hervorruft).
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Ziel 11: Erläutern Sie Thorndikes Effektgesetz, und erklären Sie, wie es mit Skinners Forschung zur operanten Konditionierung zusammenhängt. Thorndikes Effektgesetz besagt, dass belohntes Verhalten wahrscheinlich wieder auftreten wird. Von diesem Gesetz ausgehend beschäftigte sich Skinner sein ganzes Leben lang damit, die Prinzipien und Bedingungen zu erkunden, unter denen es zum Lernen durch operante Konditionierung kommt. Ziel 12: Beschreiben Sie die Vorgehensweise beim Shaping, und erklären Sie, wie sich dadurch besser verstehen lässt, was Tiere und Babys unterscheiden können. Beim Shaping werden Verstärker eingesetzt, um das Verhalten einer Person oder eines Tieres in Richtung auf das erwünschte Ziel hin zu lenken. Man baut auf bestehendem Verhalten auf und belohnt sukzessive Annäherungen an irgendein erwünschtes Verhalten. Weil Tiere und Babys nicht sprechen können und nur auf das reagieren, was sie wahrnehmen, zeigen ihre Reaktionen, zwischen welchen Ereignissen sie unterscheiden können. Ziel 13: Vergleichen Sie positive und negative Verstärkung, und geben Sie ein Beispiel für jeweils einen primären, einen konditionierten, einen unmittelbaren und einen verzögerten Verstärker. Bei der positiven Verstärkung kommt etwas Wünschenswertes hinzu, um die Häufigkeit eines Verhaltens zu vergrößern. Bei der negativen Verstärkung wird etwas nicht Wünschenswertes entfernt, um die Häufigkeit eines Verhaltens zu vergrößern. Primäre Verstärker (etwa Essen bekommen, wenn man hungrig ist, oder dafür sorgen, dass das unangenehme Gefühl im Bauch vorübergeht, wenn einem übel ist) sind von Geburt an befriedigend – dafür ist kein Lernen erforderlich.
Konditionierte (oder sekundäre) Verstärker (wie etwa Bargeld) sind zufriedenstellend, weil wir gelernt haben, sie mit grundlegenderen Belohnungen zu assoziieren (wie etwa das Essen oder die Medizin, die wir damit kaufen können). Unmittelbare Verstärker (wie etwa die Zigarette für den Nikotinsüchtigen) geben sofort etwas zurück; verzögerte Verstärker (wie etwa die monatliche Gehaltsüberweisung) setzen die Fähigkeit voraus, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben. Ziel 14: Erörtern Sie die Vor- und Nachteile kontinuierlicher und partieller (intermittierender) Verstärkungspläne, und geben Sie 4 Pläne für partielle Verstärkung an. Bei der kontinuierlichen Verstärkung (man verstärkt die erwünschten Reaktionen jedes Mal, wenn sie auftreten) lernt man rasch, aber auch die Löschung geschieht schnell, wenn die Belohnung des Verhaltens eingestellt wird. Die kontinuierliche Verstärkung ist die Methode der Wahl, bis ein Verhalten gelernt ist. Bei der partiellen Verstärkung (man verstärkt die Reaktionen nicht immer) ist der anfängliche Lernprozess langsamer, aber das Verhalten ist widerstandsfähiger gegen Löschung. Verstärkungspläne können unterschiedlich sein, je nach der Anzahl der belohnten Reaktionen und dem zeitlichen Abstand zwischen den Reaktionen. Bei festen Quotenplänen bietet man Belohnungen nach einer festgesetzten Anzahl von Reaktionen an, bei variablen Quotenplänen nach einer unvorhersagbaren Anzahl von Reaktionen. Bei festen Intervallplänen bietet man Belohnungen nach festgesetzten Zeitintervallen an, bei variablen Intervallplänen nach unvorhersagbaren Zeitintervallen. Ziel 15: Erörtern Sie, wie sich negative Bestrafung, positive Bestrafung und negative Verstärkung unterscheiden, und listen Sie einige Nachteile der Bestrafung als Methode zur Steuerung des Verhaltens auf. Sowohl bei positiver Bestrafung (Verabreichung einer unerwünschten Konsequenz, beispielsweise einem Klaps) als auch bei negativer Bestrafung (Entfernung von etwas Wünschenswertem, wie etwa einer Puppe) wird versucht, die Häufigkeit eines Verhaltens (Ungehorsam eines Kindes) abnehmen zu lassen. Bei negativer Verstärkung (wie etwa Einnahme von Aspirin) wird etwas Unerwünschtes (wie etwa Kopfweh) entfernt, um die Häufigkeit eines Verhaltens zunehmen zu lassen. Zu den nicht erwünschten Nebenwirkungen der Bestrafung kann gehören, dass nicht gewollte Verhaltensweisen eher unterdrückt als verändert werden: Man lehrt, aggressiv zu sein, man erzeugt Furcht, man fördert die Diskrimination (so dass das unerwünschte Verhalten auftritt, wenn der Bestrafer nicht anwesend ist), und man fördert Depressionen und Gefühle der Hilflosigkeit. 6
369 8.4 · Beobachtungslernen
Ziel 16: Erklären Sie, auf welche Weise latentes Lernen und die Wirkung äußerer Belohnungen zeigen, dass die kognitive Verarbeitung ein wichtiger Bestandteil des Lernens ist. Latentes Lernen (wie es sich etwa bei Ratten zeigen lässt, die kognitive Landkarten lernen, oder bei Kindern, die das Verhalten anderer zeitverzögert nachahmen) deutet darauf hin, dass wir aufgrund von Erfahrung ohne offensichtliche Verstärkung lernen können. Es besteht die Möglichkeit, dass eine äußere Belohnung unser Interesse und unseren Spaß an einer Aktivität abnehmen lässt. Das ist die Kehrseite der Vorstellung, dass Verhaltensweisen, die belohnt werden, in ihrer Häufigkeit zunehmen werden. Ziel 17: Erklären Sie, auf welche Weise biologische Prädispositionen dem Grenzen setzen, was man mit Hilfe der operanten Konditionierung erreichen kann. Biologische Einschränkungen prädisponieren Organismen dazu, Kopplungen zu lernen, die Teil der natürlichen Anpassung sind. Ein Trainingsprogramm, das versucht, diese Tendenzen außer Kraft zu setzen, wird wahrscheinlich keine dauerhafte Wirkung haben, weil die Lebewesen zu ihren biologisch prädisponierten Mustern zurückkehren werden. Ziel 18: Beschreiben Sie die Kontroverse um Skinners Auffassungen zum Verhalten des Menschen. Viele Psychologen kritisierten Skinner dahingehend, dass er die Bedeutung der Kognition und von biologischen Beschränkungen beim Lernen unterschätze. Es gab auch eine heftige Debatte mit ihm darüber, was die Freiheit des Menschen im Kern ist und welche Strategien und ethischen Vorstellungen beim Umgang mit Menschen angemessen sind. Ziel 19: Beschreiben Sie einige Vorgehensweisen, bei denen man die Prinzipien der operanten Konditionierung in der Schule, im Sport, bei der Arbeit und zu Hause anwenden kann. In der Schule können Lehrer Shaping-Verfahren dazu verwenden, die Verhaltensweisen der Schüler zu lenken. Interaktive Software und Web-
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seiten können Schülern unmittelbares Feedback geben. Im Sport können Trainer die Fertigkeit und das Selbstvertrauen der Spieler aufbauen, indem sie kleinere Verbesserungen belohnen. Im Beruf können Vorgesetzte die Produktivität und die Arbeitsmoral wesentlich erhöhen, indem sie klar definierte und erreichbare Verhaltensweisen belohnen. Zu Hause können wir unseren Energieverbrauch steuern, indem wir den aktuellen Verbrauch mit dem im letzten Jahr vergleichen. Eltern können Verhaltensweisen belohnen, die ihrer Meinung nach erwünscht sind, und nicht erwünschte nicht belohnen. Individuell können wir unser eigenes erwünschtes Verhalten verstärken und unerwünschtes löschen, indem wir uns Ziele setzen, die Häufigkeit des erwünschten Verhaltens beobachten und die Anreize dafür langsam zurücknehmen, wenn das Verhalten zur Gewohnheit wird. Ziel 20: Geben Sie die wichtigsten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der klassischen und der operanten Konditionierung an. Klassische und operante Konditionierung sind insofern einander ähnlich, als sie beide Formen assoziativen Lernens sind. Zu beiden gehören Erwerb, Löschung, spontane Erholung, Generalisierung und Diskrimination. Und beide sind von kognitiven Prozessen und biologischen Prädispositionen beeinflusst – und manchmal auch dadurch beschränkt. Diese beiden Formen des Lernens unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: Bei der klassischen Konditionierung assoziiert ein Organismus unterschiedliche Reize, die er nicht kontrolliert und auf die er automatisch reagiert (respondentes Verhalten), bei der operanten Konditionierung koppelt ein Organismus seine eigenen Verhaltensweisen mit ihren Konsequenzen (. Tab. 8.3 für weitere Einzelheiten). > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Zeit erinnern, als ein Lehrer, ein Trainer, ein Familienmitglied oder ein Arbeitgeber Ihnen dabei half, etwas zu lernen, indem er Ihr Verhalten in kleinen Schritten formte, bis Sie Ihr Ziel erreicht hatten?
Beobachtungslernen
Ziel 21: Beschreiben Sie die Prozesse des Beobachtungslernens, und erklären Sie, welche Bedeutung die Entdeckung der Spiegelneuronen hatte.
Durch sabbernde Hunde, rennende Ratten und pickende Tauben haben wir viel über grundlegende Lernprozesse gelernt. Doch die Konditionierungsprinzipien allein reichen nicht aus. Bei höheren Lebewesen, insbesondere bei Menschen, muss Lernen nicht zwangsläufig durch direkte Erfahrung erfolgen. Beobachtungslernen, bei dem wir andere beobachten und imitieren, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Ein Kind, das sieht, wie sich die große Schwester die Finger am Ofen verbrennt, hat auf diese Weise gelernt, dass es ihn besser nicht berühren sollte. Der Prozess des Beobachtens und Nachahmens eines bestimmten Verhaltens wird oft Modelllernen genannt. ! Sämtliche Formen des Sozialverhaltens lernen wir durch Beobachtung und Nachahmung von Modellen. Lord Chesterfield (1694–1773) hatte die folgende Idee: »In Wahrheit sind wir mehr als die Hälfte dessen, was wir sind, durch Nachahmung.«
Beobachtungslernen (observational learning): durch die Beobachtung anderer Menschen lernen. Modelllernen (modeling): Prozess des Beobachtens und Nachahmens eines bestimmten Verhaltens.
»Kinder brauchen mehr Vorbilder als Kritiker.« Joseph Joubert (»Pensées«, 1842)
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Kapitel 8 · Lernen
© Herb Terrace
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Spiegelneuronen (mirror neurons): Stirnlappenneuronen, die reagieren, wenn bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden oder wenn jemand anders bei der Ausführung beobachtet wird. Der im Gehirn ablaufende Vorgang des Spiegelns der Tätigkeit eines anderen Menschen trägt zur Nachahmung, zum Erlernen von Sprachen und zur Empathie bei.
© Herb Terrace
. Abb. 8.12. Kognitives Nachahmen Wenn Affe A (links) zusieht, wie Affe B vier Bilder auf einem Bildschirm in einer bestimmten Reihenfolge berührt, um eine Banane zu bekommen, lernt Affe A, diese Reihenfolge nachzuahmen, auch wenn man ihm eine andere Anordnung zeigt. (Subiaul et al. 2004)
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wurzeln des Beobachtungslernens bei anderen Gattungen: Ratten, Tauben und Gorillas beobachten andere und lernen dadurch (Byrne u. Russon 1998; Dugatkin 2002), ebenso Esel. Stummelschwanzmakaken versöhnen sich nach einem Kampf häufig sofort wieder miteinander, indem sie sich ihrem Gegner nähern und freundlich mit ihm in Kontakt treten. Rhesusaffen versöhnen sich selten schnell – es sei denn, sie wachsen zusammen mit älteren, versöhnlichen Stummelschwanzmakaken auf. Dann folgt auch ihren Kämpfen oft eine Versöhnung (de Waal u. Johanowicz 1993). „Monkey see, monkey do“ – Affen äffen alles nach (. Abb. 8.12). Bei den Menschen ist das Lernen durch Nachahmung von ganz besonderer Bedeutung. Wie in 7 Kap. 3 bereits dargelegt, verbreiten sich viele unserer Ideen, Moden und Gebräuche durch Nachahmung, so dass diese übermittelten kulturellen Elemente jetzt sogar einen Namen haben: Meme. Wir Menschen sind die besten Meme-Maschinen, schreibt Blackmore (1999, 2000). Unsere Sprüche, Rocklängen, Feste, Speisen, Traditionen, Laster und Modeerscheinungen (denken Sie an Harry Potter) verbreiten sich dadurch, dass ein Mensch einen anderen nachahmt. Neurologen haben Spiegelneuronen (in einem Stirnlappenbereich neben dem motorischen Kortex) entdeckt, die eine neuronale Basis für das Beobachtungslernen liefern. Wenn ein Affe eine Aufgabe, wie etwa Greifen, Halten oder Reißen durchführt, reagieren diese Neuronen (Rizzolatti et al. 2002). Aber sie reagieren auch, wenn der Affe einen anderen Affen bei der Durchführung dieser Aufgabe beobachtet. Wenn der Affe etwas sieht, spiegeln diese Neuronen, was der andere Affe tut. Aber das trifft nicht nur auf Affen zu. Positronenemissionstomographien (PET) zeigen, dass auch Menschen Spiegelneuronen in diesem Gehirnbereich haben, die darüber hinaus für sprachliche Prozesse zuständig sind. Beim Menschen helfen Spiegelneuronen Kindern dabei, durch Beobachtung zu lernen, wie man Lippen- und Zungenbewegungen nachahmt, wenn man neue Wörter bildet. Spiegelneuronen tragen auch dazu bei, die Empathie der Kinder und ihre Fähigkeit zu steigern, sich in den mentalen Zustand eines anderen hineinzuversetzen (eine Fähigkeit, die auch als Theory of Mind bekannt ist). Als Erwachsene spüren wir oft, was unser Gegenüber fühlt, und es ist für uns schwieriger, die Stirn zu runzeln, wenn wir ein Lächeln sehen, als wenn wir ein Stirnrunzeln sehen (Dimberg et al. 2000; 2002). Wenn man sieht, wie jemand, den man gerne mag, Schmerzen hat, dann ist es nicht nur unser Gesicht, das die Emotion spiegelt, sondern auch unser Gehirn. Wie . Abb. 8.13 zeigt, löst der Schmerz, den man sich bei einem geliebten Menschen vorstellt, einige derselben Hirnaktivitäten aus, wie sie auch der durchmacht, der tatsächlich die Schmerzen hat (Singer et al. 2004). Das Nachahmen von Modellen hat sogar einen Einfluss auf die Entwicklung des Verhaltens von ganz kleinen Kindern. Einem Säugling gelingt es möglicherweise bereits kurz nach der Geburt, einen Erwachsenen nachzuahmen, der seine Zunge herausstreckt. Im Alter von 9 Monaten werden Kleinkinder Rollenspiele nachahmen. Und mit 14 Monaten (. Abb. 8.14) werden Kinder Szenen
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nachmachen, die im Fernsehen laufen (Meltzoff 1988; Meltzoff u. Moore 1989, 1997). Um Kinder zum Rauchen zu bringen, muss man sie nur mit Eltern, älteren Jugendlichen und attraktiven Persönlichkeiten aus den Medien konfrontieren, die rauchen. Möchten Sie Ihr Kind zum Lesen ermutigen, lesen Sie ihm vor, und umgeben Sie es mit Büchern und Menschen, die lesen. Wenn Sie die Wahrscheinlichkeit vergrößern wollen, dass Ihre Kinder Ihre Religion praktizieren, dann beten Sie mit ihnen und besuchen Sie gemeinsam Gottesdienste. Auch Kinder machen alles nach.
8.4.1 Banduras Experimente Ziel 22: Beschreiben Sie, welche Faktoren Bandura zufolge darüber bestimmen, ob wir ein Modell nachahmen werden.
Stellen Sie sich die folgende Szene aus einem berühmten Versuch von Albert Bandura vor, dem Pionier auf dem Gebiet der Erforschung des Beobachtungslernens (Bandura et al. 1961): Ein Vorschulkind ist gerade dabei, ein Bild zu malen. Ein Erwachsener beschäftigt sich in einem anderen Teil des Zimmers. Dann steht der Erwachsene auf und schlägt, tritt und wirft eine »Bobo-Puppe« – eine große Puppe, die mit Luft gefüllt und an den Füßen mit einem Gewicht beschwert ist – durch den Raum, während er Sätze wie etwa »Schlag ihm auf die Nase. … Schlag ihn zusammen. … Tritt ihn!« herausbrüllt. Nachdem das Kind diesen Ausbruch beobachtet hat, wird es in einen anderen Raum gebracht, wo es viel schönes Spielzeug gibt. Bald unterbricht die Versuchsleiterin das Spiel des Kindes und erklärt, dass sie beschlossen habe, dieses schöne Spielzeug »für die anderen Kinder« aufzuheben. Dann nimmt sie das frustrierte Kind in einen Nebenraum mit, wo es nur wenig Spielzeug, wohl aber eine aufblasbare Bobo-Puppe gibt. Was wird das Kind tun, wenn es allein ist? Im Vergleich zu Kindern, die nicht mit dem Erwachsenenmodell konfrontiert worden waren, tendierten diejenigen, die den aggressiven Ausbruch des erwachsenen Vorbilds beobachtet hatten, viel eher dazu, auf die Puppe einzuschlagen. Offensichtlich verringerte das erwachsene Vorbild, das die Puppe schlug, ihre Hemmschwelle. Aber es ging nicht nur um die Hemmschwelle, denn die Kinder verhielten sich genau so, wie sie es beobachtet hatten, und benutzten auch genau die Worte, die sie gehört hatten.
Meltzoff, A. N. (1988) Imitation of televised models by infants. Child Development, 59. 1221–1229. Eigentum von A. N. Meltzoff und M. Hanuk
Reprinted with permission from the American Association for the Advancement of Science, Subiaul et al., Science 305: 407–410 (2004) Copyright 2004 AAAS
. Abb. 8.13. Erlebte und vorgestellte Schmerzen im Gehirn Die Hirnaktivität im Zusammenhang mit tatsächlichen Schmerzen wird im Gehirn eines Beobachters, der den anderen gerne mag, gespiegelt. An Empathie sind im Gehirn mehrere Emotionszentren beteiligt, nicht jedoch der somatosensorische Kortex, an den Signale über körperlichen Schmerz gehen
. Abb. 8.14. Beobachtungslernen Dieser 14 Monate alte Junge imitiert ein Verhalten, das er im Fernsehen in einem Forschungslabor gesehen hat. Auf dem oberen Foto beugt sich das Kind nach vorn und beobachtet aufmerksam den Erwachsenen, der ein Spielzeug zerreißt. Das mittlere Foto zeigt das Kind, das gerade ein Spielzeug bekommen hat. Auf dem unteren Foto zerreißt das Kind des Spielzeugs und imitiert damit, was es bei dem Erwachsenen gesehen hat
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Kapitel 8 · Lernen
Eigentum von Albert Bandura, Stanford University
Wodurch wird festgelegt, ob wir ein Modell nachahmen? Bandura glaubt, dass Verstärkung und Bestrafung ein Teil der Antwort sind, wobei beides sowohl das Modell als auch den Nachahmenden betrifft. Wenn wir zuschauen, lernen wir. Indem wir beobachten, lernen wir, vorwegzunehmen, welche Folgen das Verhalten in einer Situation hat, die der Situation gleicht, die wir gerade beobachten.
8.4.2 Anwendungsbereiche Die schlechte Nachricht aus Banduras Studien lautet, dass antisoziale Vorbilder – in der Familie, in der Nachbarschaft oder auch im Fernsehen – auch antisoziale Wirkungen haben können. Während der ersten 8 Tage nach dem Massaker an der Columbine High School im Jahre 1999 musste sich jeder amerikanische Bundesstaat außer Vermont mit Drohungen von Trittbrettfahrern oder ähnlichen Vorfällen auseinandersetzen. Allein in Pennsylvania gab es 60 Gewaltdrohungen in Schulen (Cooper 1999). Dadurch, dass Kinder fernsehen, lernen sie möglicherweise, dass körperliche Einschüchterung eine wirksame Methode ist, um andere in den Griff zu bekommen, dass freier und leichtfertiger Sex Lust ohne spätere Reue oder Krankheit verschafft oder dass Männer harte Kerle und Frauen sanfte Lämmchen sein müssen. Beobachtungslernen hilft uns auch, zu verstehen, warum Eltern, die ihre Kinder missbrauchen, möglicherweise aggressive Kinder haben und warum viele Männer, die ihre Frau schlagen, Väter hatten, die ihrerseits ihre Frau schlugen (Stith et al. 2000). Die Lektionen, die wir als Kinder lernen, verlernen wir als Erwachsene nicht so leicht; und manchmal werden sie an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Kritiker merken an, dass über Generationen hinweg übertragener Missbrauch genetisch bedingt sein könnte. An den Affen sehen wir, dass umweltbedingte Ursachen im Spiel sind. Eine Studie nach der anderen zeigt auf, dass sich junge Affen, die weitab von ihren Müttern aufgezogen wurden und mit starker Aggression konfrontiert waren, später besonders aggressiv zeigten (Chamove 1980).
Albert Bandura »Die Bobo-Puppe folgt mir, wohin ich auch gehe. Die Fotos wurden in jedem Einführungstext für Psychologie veröffentlicht und praktisch jeder Erstsemester belegt einen Kurs zur Einführung in die Psychologie. Ich checkte neulich in einem Washingtoner Hotel ein. Der Angestellte an der Rezeption fragte: ›Sind Sie nicht der Psychologe, der das Experiment mit der Bobo-Puppe gemacht hat?‹ Ich antwortete: ›Vermutlich wird dies das Vermächtnis sein, das ich hinterlasse.‹ Er erwiderte: ›Es muss unbedingt aktualisiert werden. Ich gebe Ihnen eine Suite in einem ruhigen Teil des Hotels.‹« (Bandura 2005)
Positives Beobachtungslernen Ziel 23: Erörtern Sie den Einfluss prosozialer Vorbilder. Prosoziales Verhalten (prosocial behavior): positives, konstruktives, hilfsbereites Verhalten. Das Gegenteil von antisozialem Verhalten.
Eine vorbildliche Oma Dieses Mädchen lernt Kochen, indem sie ihre Großmutter dabei beobachtet und ihr hilft. Ein englisches Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert sagt: »Ein Beispiel ist besser als eine Unterweisung.«
K. Barton
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! Wir neigen in starkem Maße dazu, Menschen nachzuahmen, von denen wir meinen, dass sie uns selbst ähnlich sind, und die wir für erfolgreich oder bewunderungswürdig halten.
Die gute Nachricht ist, dass prosoziale (positive, hilfsbereite) Vorbilder prosoziale Effekte haben können. Menschen, die gewaltloses, hilfsbereites, d. h. prosoziales Verhalten vorleben, können ähnliche Verhaltensweisen bei anderen auslösen. Mahatma Gandhi in Indien und Martin Luther King Jr. in den USA stützten sich auf ihre Vorbildwirkung, um gewaltfreies Handeln zu einer starken, gesellschaftsverändernden Kraft werden zu lassen. Auch Eltern sind einflussreiche Vorbilder. Die europäischen Christen, die ihr Leben riskierten, um Juden vor den Nazis zu retten, hatten gewöhnlich eine enge Beziehung zu mindestens einem Elternteil, der ein starkes moralisches oder humanitäres Bewusstsein vorlebte; das Gleiche gilt für die amerikanischen Bürgerrechtler in den 60er Jahren (London 1970; Oliner u. Oliner 1988). Beobachtungslernen von Moral beginnt früher. Aus sozial aufgeschlossenen Kleinkindern, die gerne ihre Eltern nachahmen, werden in der Regel Vorschulkinder mit einem starken internalisierten Gewissen (Fordman et al. 2004). Vorbilder bewirken am meisten, wenn das, was sie tun, übereinstimmt mit dem, was sie sagen. Manchmal sagen jedoch Vorbilder das eine und tun etwas ganz anderes. Viele Eltern scheinen nach dem Prinzip »Mach, was ich sage, nicht was ich tue« vorzugehen. Versuche deuten darauf hin, dass Kinder lernen, beides zu tun
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373 8.4 · Beobachtungslernen
(Rice u. Grusec 1975; Rushton 1975). Wenn sie mit einem Heuchler zu tun haben, neigen sie dazu, die Heuchelei nachzuahmen, indem sie tun, was das Vorbild tat, und sagen, was es sagte.
Fernsehen und Beobachtungslernen Ziel 24: Erklären Sie, warum sich durch eine Korrelation nicht nachweisen lässt, dass das Ansehen gewalttätiger Fernsehfilme zu gewalttätigem Verhalten führt, und geben Sie einige experimentelle Befunde an, die für einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang sprechen.
»Das Problem beim Fernsehen besteht darin, dass die Menschen wie festgeklebt dasitzen und die Augen nicht vom Bildschirm losreißen können. Eigentlich hat die amerikanische Durchschnittsfamilie gar keine Zeit dafür. Deshalb … sind die Fernsehleute überzeugt, dass das Fernsehen niemals eine ernst zu nehmende Konkurrenz für den Rundfunk werden wird.« New York Times (1939)
C. Styrsky
Wo es Fernsehen gibt, wird es zu einer wichtigen Quelle für Beobachtungslernen. Die meisten Kinder aus Industrienationen verbringen während ihrer ersten 18 Lebensjahre mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule. In Australien haben 99,2% aller Haushalte ein Fernsehgerät, 56% zwei oder mehr (Trewin 2001). In den USA, wo 9 von 10 Jugendlichen täglich fernsehen, werden sie bis zum Alter von 75 Jahren 9 Jahre vor der Glotze verbracht haben (Gallup 2002; Kubey u. Csikszentmihalyi 2002). Zwei Drittel aller Haushalte in den USA haben 3 oder mehr Fernsehgeräte, eine Tatsache, die erklärt, warum die Berichte von Eltern über das Fernsehverhalten ihrer Kinder nur selten mit den entsprechenden Berichten der Kinder übereinstimmen (Donnerstein 1998). In Deutschland verfügt – bei steigender Tendenz – inzwischen jedes dritte Kind im Alter von 6–13 Jahren über ein eigenes Fernsehgerät, in den neuen Bundesländern sogar jedes zweite (Feierabend u. Klingeler 2003a), und in einer Studie aus dem Jahr 2002 zeigt sich, dass Kinder mit eigenem Fernsehgerät mehr fernsehen: 133 Minuten pro Tag im Vergleich zu 90 Minuten bei Kindern ohne eigenen Fernseher (Feierabend u. Kingler 2003b). In urbanen Haushalten auf der ganzen Welt, Südafrika und Asien eingeschlossen, ist Fernsehen heute etwas Selbstverständliches. Weltweit gibt es in den Haushalten mittlerweile mehr als 1 Mrd. Fernsehgeräte. CNN erreicht 150 Länder, MTV sendet in 17 Sprachen: Auf diese Weise ist durch das Fernsehen eine globale Popkultur entstanden (Gunderson 2001; Lippman 1992). Amerikanische Programme kann man in Perth oder in Prag anschauen und die neuesten Rockvideos von Neufundland bis in das kleine Königreich Bhutan im Himalaya, wo das Fernsehen 1999 eingeführt wurde und sogleich die Sprache und das Verhalten der Kinder zu beeinflussen begann (Keys 2001). Spiegelt die Welt auf dem Bildschirm unseren Alltag wider? Die empirischen Befunde sind begrenzt, weil die Finanzierung der sozialwissenschaftlichen Medienforschung bis in die frühen 90er Jahre hinein immer weiter zurückging. Doch in den abendlichen Filmen und Serien, die in den USA während der 80er und 90er Jahre ausgestrahlt und oft in den Rest der Welt exportiert wurden, war nur ein Drittel der Darsteller weiblich. Bei weniger als 3% war klar erkennbar, dass es sich um ältere Menschen handelte. Nur 1% der Darsteller waren lateinamerikanischer Abstammung. Nur 1 von 10 war verheiratet (Gerbner 1993). Amerikanische Fernsehsender zeigen während der Haupteinschaltzeit ungefähr 3 Gewalttaten pro Stunde und 18 pro Stunde im Kinderprogramm am Samstagmorgen (Gerbner et al. 1994). Anders als im wirklichen Leben, in dem 87% aller Verbrechen gewaltfrei verlaufen, sind in der vom Fernsehen vermittelten Welt der »True-Crime-Sendungen« nur 13% aller Verbrechen gewaltfrei (Oliver 1994). Ende des 20. Jahrhunderts sah das durchschnittliche Kind im Fernsehen ungefähr 8000 Morde und 100.000 andere Gewalttaten, bevor es die Grundschule abschloss (Huston et al. 1992). Rechnet man das Kabelprogramm und Leihvideos dazu, eskaliert die Zahl der Gewalttaten (beliebte Leihvideos wie etwa »Stirb Langsam 2« mit 264 Toten zeigen viel mehr Gewaltszenen als die Programme der großen Fernsehsender). Eine Auswertung von mehr als 3000 Sendungen der großen Fernsehsender und der Kabelprogramme, die 1996/1997 ausgestrahlt wurden,
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Kapitel 8 · Lernen
. Abb. 8.15. Gewalt in den Medien als Prädiktor für späteres aggressives Verhalten In einer Studie über mehr als 400 Dritt- und Viertklässler berichten Gentile et al. (2004) über eine erhöhte Aggression bei jenen, die in starkem Maße Gewalt im Fernsehen, in Videos und in Videospielen ausgesetzt waren. Die Daten, die in der Abbildung dargestellt sind, wurden in Bezug auf die vorher bestehenden Unterschiede in Bezug auf Feindseligkeit und Aggression korrigiert
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ergab, dass in 6 von 10 Sendungen Gewalt vorkam, dass 74% der Gewalt unbestraft blieb, dass in 58% der Fälle die Schmerzen der Opfer nicht gezeigt wurden, dass es in nahezu der Hälfte der Vorfälle um »gerechtfertigte« Gewalt ging und bei der Hälfte um einen attraktiven Täter. Diese Fakten sind das Rezept für den im nächsten Absatz beschriebenen Effekt, der sich aus dem Betrachten von Gewalt ergibt (Donnerstein 1998). Meinen Sie, dass Gewalt im Fernsehen manche Menschen dazu bringt, selbst gewalttätig zu werden? Hatte der Richter Recht, der 1993 zwei 10-Jährige aus Großbritannien wegen Mordes an einem 2-Jährigen verurteilte, als er vermutete, die Tatsache, dass die beiden Beschuldigten häufig Gewaltvideos anschauten, habe möglicherweise ihr Verhalten beeinflusst? Hatten die amerikanischen Medien Recht, anzunehmen, dass die jugendlichen Mörder, die 13 Klassenkameraden ihrer Columbine High School umbrachten, vom wiederholten Ansehen des Films »Natural Born Killers« und vom regelmäßigen Spiel von gewaltverherrlichenden Computerspielen wie etwa »Doom« beeinflusst wurden? Um solche Fragen zu beantworten, haben Forscher Korrelationsstudien und Experimente durchgeführt (Anderson et al. 2003). Korrelationsstudien bringen das Betrachten von Gewalt mit gewalttätigem Verhalten in Verbindung. 4 Je mehr Stunden Grundschulkinder mit Gewalt in den Medien (über das Fernsehen, Videos und Videospiele) verbrachten, desto häufiger waren sie in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt, als man sie 2 bis 6 Monate später noch einmal befragte (. Abb. 8.15) 4 Je mehr Stunden Kinder damit verbringen, Gewaltszenen im Fernsehen anzuschauen, desto stärker sind sie als Jugendliche und Erwachsene anfällig für Aggression und Gewalt (Eron 1987; Turner et al. 1986). In einer Studie verglich man 16- und 22-jährige Jugendliche, die im Alter von 14 Jahren täglich weniger als 1 Stunde ferngesehen hatten, mit solchen, die 3 Stunden und mehr vor dem Fernseher zugebracht hatten. Die Gruppe der Vielseher beging 5-mal mehr Gewalttaten. 4 In den USA und Kanada verdoppelten sich die Mordfälle zwischen 1957 und 1974; während dieser Zeit setzte die Verbreitung des Fernsehens ein. In Gegenden, die das Fernsehen später einführten, kam es entsprechend später zu einem sprunghaften Anstieg der Mordzahlen. 4 Weiße Südafrikaner kamen 1975 zum ersten Mal mit dem Medium Fernsehen in Kontakt. Auch hier war nach 1975 fast eine Verdoppelung der Mordrate zu verzeichnen (Centerwall 1989). Eine Kommission des amerikanischen Psychologenverbands APA, die sich mit dem Thema »Jugend und Gewalt« beschäftigte, kam 1993 zu folgendem Schluss: »Es besteht absolut kein Zweifel,
375 8.4 · Beobachtungslernen
Das Gallup-Institut befragte amerikanische Teenager, ob in Filmen zu viel Gewalt gezeigt würde. – 1977 meinten 42%, es gebe zu viel Gewalt, 1999 nur noch 23%! Laut einer Umfrage fordern in Deutschland allerdings über 70% der Befragten, dass die Masse an Gewalt im Fernsehen unbedingt eingeschränkt oder gar verboten werden sollte.
Carl Glassman/The Image works
Wally McNamee/Corbis
dass häufiges Anschauen von Gewalt im Fernsehen mit einer erhöhten Akzeptanz aggressiver Einstellungen und mit immer aggressiverem Verhalten korreliert.« Aber wie wir aus 7 Kap. 1 wissen, zeigen Korrelationen keine Kausalzusammenhänge. Daher sind die Korrelationsstudien kein Beweis dafür, dass das Anschauen von Gewalt Aggression verursacht (Freedman 1988; McGuire 1986). Vielleicht mögen aggressive Kinder Gewaltszenen im Fernsehen besonders gern. Vielleicht sind Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt oder missbraucht werden, sowohl aggressiver als auch öfter allein vor dem Fernseher. Vielleicht sind Fernsehsendungen mit Gewalt einfach eher Ausdruck gewalttätiger Tendenzen in der Gesellschaft, als dass sie diese auslösen. Um den kausalen Zusammenhang zu überprüfen, zeigten Versuchsleiter einigen nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Fernsehzuschauern Szenen, die Gewalt enthielten, anderen Testzuschauern dagegen gewaltfreie Unterhaltung. Verleitet das Anschauen von Gewalt Menschen dazu, gewalttätiger zu reagieren, wenn sie gereizt werden? In gewisser Weise sicherlich. »Die meisten Forscher stimmen darin überein«, so das amerikanische National Institute of Mental Health (1982), »dass Gewalt im Fernsehen zu aggressivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen führt, die diese Programme sehen«. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn ein attraktiver Mensch eine scheinbar gerechtfertigte Gewalttat verübt, die ungestraft bleibt und keinen sichtbaren Schmerz oder Schaden verursacht (Donnerstein 1998). Der Gewalteffekt geht anscheinend auf eine Kombination von Faktoren zurück, und dazu gehört auch die Nachahmung (Geen u. Thomas 1986). Wie schon erwähnt, werden Kinder sogar schon mit 14 Monaten Handlungen nachahmen, die sie im Fernsehen beobachten. Ein Forschungsteam beobachtete eine 7-fache Zunahme von Gewalt im Spiel bei Kindern, die »Power Rangers« angeschaut hatten (Boyatzis et al. 1995). Jungen ahmten häufig die im Sprung ausgeführten Karatetritte und andere Gewaltakte der Fernsehcharaktere detailgetreu nach. Wer über längere Zeit Gewaltszenen ausgesetzt ist, verliert an Sensibilität; solche Fernsehzuschauer werden gleichgültiger, wenn sie später eine Schlägerei sehen, sei es im Fernsehen oder im wirklichen Leben (Rule u. Ferguson 1986). In einem Experiment verbrachten männliche Zuschauer 3 Abende damit, Filme anzusehen, die sexuelle Gewalt enthielten; danach waren sie immer weniger berührt von den Vergewaltigungen und Schlägen. Verglichen mit den Teilnehmern an der Untersuchung, die diese Filme nicht sahen, brachten sie auch weniger Mitgefühl für Opfer häuslicher Gewalt zum Ausdruck. Außerdem hielten sie die Verletzungen der Opfer für weniger gravierend (Mullin u. Linz 1995). Donnerstein et al. (1987) wiesen darauf hin, dass es für einen böswilligen Psychologen kaum einen besseren Weg geben könne, Menschen gleichgültig gegenüber Gewalt zu machen, als sie einer abgestimmten Reihe von Szenen auszusetzen, angefangen von Kämpfen über Morde bis hin zu Verstümmelungen in Horrorfilmen.
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Das Beobachten von Gewalttaten führt zu gewalttätigem Spiel Wie die Forschung zeigt, führt das Anschauen von Gewalt in den Medien beim Zuschauer durchaus dazu, dass Aggression stärker zum Ausdruck kommt, wie es hier bei den Jungen der Fall ist, die die Wrestler nachahmen
Kapitel 8 · Lernen
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! Die ständige Konfrontation mit Grausamkeit bewirkt Gleichgültigkeit.
Unser Wissen über die Lernprinzipien basiert auf der Arbeit tausender Forscher. In diesem Kapitel wurden als Schwerpunkt die Ideen einiger Pioniere behandelt: Pawlow, Watson, Skinner und Bandura. Sie veranschaulichen die Bedeutung, die aus dem konzentrierten Engagement für einige genau definierte Probleme und Gedanken entstehen kann. Diese Forscher definierten die Themenbereiche und machten uns die Bedeutung des Lernens klar. Wie ihr Vermächtnis zeigt, wird Wissenschaftsgeschichte oft von Menschen geschrieben, die es wagen, sich mit extremen Bereichen zu beschäftigen und mit ihren Ideen in Grenzbereiche vorzustoßen (Simonton 2000).
Lernziele Abschnitt 8.4 Beobachtungslernen Ziel 21: Beschreiben Sie die Prozesse des Beobachtungslernens, und erklären Sie, welche Bedeutung die Entdeckung der Spiegelneuronen hatte. Beim Beobachtungslernen beobachten wir und ahmen andere nach. Die Spiegelneuronen, die sich in den Frontallappen des Gehirns befinden, zeigen, dass es eine neuronale Grundlage für Beobachtungslernen gibt. Sie sind aktiv, wenn wir bestimmte Handlungen ausführen (wie etwa auf Schmerz reagieren oder den Mund bewegen, um Wörter zu bilden) oder wenn wir jemanden beobachten, der diese Handlungen ausführt.
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Ziel 22: Beschreiben Sie, welche Faktoren Bandura zufolge darüber bestimmen, ob wir ein Modell nachahmen werden . Bandura et al. zeigten, dass wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Handlungen nachahmen, die nicht bestraft werden. Und wir neigen dazu, Vorbilder nachzuahmen, die wir als uns ähnlich, als erfolgreich und als bewundernswert wahrnehmen. Ziel 23: Erörtern Sie den Einfluss prosozialer Vorbilder. Die Forschung zeigt, dass Kinder dazu neigen, nachzuahmen, was ein Vorbild macht und sagt, ganz gleichgültig, ob das Verhalten prosozial (positiv, konstruktiv und hilfsbereit) oder antisozial ist. Wenn die Handlungen und die Worte eines Vorbilds nicht zueinander passen, ahmen Kinder möglicherweise die Heuchelei nach, die sie beobachten.
Ziel 24: Erklären Sie, warum sich durch eine Korrelation nicht nachweisen lässt, dass das Ansehen gewalttätiger Fernsehfilme zu gewalttätigem Verhalten führt, und geben Sie einige experimentelle Befunde an, die für einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang sprechen. Korrelationen sind ein Hinweis auf Zusammenhänge, aber nicht auf die Richtung des Einflusses. Korrelationsstudien zeigen, dass das Betrachten von Gewalt und gewalttätiges Verhalten zusammenhängen. Doch lässt sich so nicht nachweisen, dass das Betrachten von Gewalt im Fernsehen Kinder dazu verleitet, gewalttätig zu werden. Kinder, die sich gewalttätig verhalten, mögen Spaß daran haben, sich Gewalt im Fernsehen anzuschauen. Oder irgendein dritter Faktor bringt die Kinder möglicherweise dazu, sich sowohl gewalttätig zu verhalten als auch sich vorzugsweise Gewaltsendungen anzusehen. Um nachzuweisen, was die Ursache und was die Wirkung ist, haben Forscher Experimente entworfen, bei denen einige Versuchsteilnehmer Gewalt sehen und andere nicht. Wenn man ihnen später die Gelegenheit gab, Gewalt zum Ausdruck zu bringen (bei groben Spielen oder bei verbalen Reaktionen auf Videos), neigten Menschen, die Gewalt gesehen hatten, dazu, aggressiver und weniger mitfühlend zu sein. Zwei Faktoren – Nachahmung und Desensibilisierung – scheinen etwas zur Auswirkung der beobachteten Gewalt beizutragen. > Denken Sie weiter: Wer war für Sie ein wichtiges Vorbild? Für wen sind Sie ein Vorbild?
Antworten zu den Fragen im Text
8.1
Die Meeresschnecke veranschaulicht die klassische Konditionierung. Der Seehund veranschaulicht die operante Konditionierung.
8.2
US = Luftstoß; UR = Blinzeln wegen Luftstoß; CS = Ton; CR = Blinzeln beim Hören des Tons.
8.3
Der Kuchen (und sein Duft) sind die US. Der gekoppelte Geruch ist der CS. Der Speichelfluss als Reaktion auf den Geruch ist die CR.
8.4
Der US war das laute Geräusch; die UR war die schreckhafte Antwort; der CS war die Ratte; die CR war die Angst.
8.5
Vertreter werden mit einem variablen Quotenplan verstärkt (nachdem die Anzahl der Klingelversuche an der Haustür variiert wurde). Wer nach den Plätzchen schaut, wird nach einem festen Intervallplan verstärkt. Vielfliegerprogramme nutzen einen festen Quotenplan.
377 8.4 · Beobachtungslernen
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. In unserer Entwicklung lernen wir etwas über Hinweisreize, die uns dazu bringen, gute und schlechte Ereignisse zu erwarten und uns darauf vorzubereiten. Wir lernen Verhalten zu wiederholen, das belohnt wurde. Und wir beobachten andere und lernen dabei. Wie nennen Psychologen diese 3 Arten von Lernen? 2. In blutrünstigen Filmen werden manchmal sexuell erregende Bilder von Frauen mit Gewalt gegen Frauen kombiniert. Was könnte aufgrund der Prinzipien der klassischen Konditionierung die Auswirkung dieser Kombination sein? 3. Für viele Studierende sind positive Verstärkung, negative Verstärkung und Bestrafung komplizierte Begriffe. Können Sie den richtigen Begriff in die 4 Felder dieser Tabelle eintragen? Ich mache das beim ersten Feld (positive Verstärkung) für Sie. Art des Reizes
Etwas hinzufügen
Erwünscht (z. B. ein Kompliment)
Positive Verstärkung
Etwas entfernen
Unerwünscht/aversiv (z. B. eine Beleidigung) 4. Jasons Eltern und alle seine älteren Freunde rauchen, aber sie raten ihm, es nicht zu tun. Die Eltern von Juan und seine Freunde rauchen nicht, aber sie sagen nichts, um ihn davon abzuhalten. Wer fängt eher mit dem Rauchen an, Jason oder Juan?
L Deutsche Literatur zum Thema Batinic, B. Appel, M. (2008). Medienpsychologie. Heidelberg: Springer. Edelmann, W. (2000). Lernpsychologie, 6. Aufl. Weinheim: Beltz PVU. Lefrancois, G. R. (2006). Psychologie des Lernens, 4. Aufl. Heidelberg: Springer. Schermer, F. J. (2002). Lernen und Gedächtnis. Stuttgart: Kohlhammer. Skinner, B. F. (1973). Futurum Zwei »Walden Two«. Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt (amerik. Originalausgabe 1948).
8
9 Gedächtnis 9.1
Das Phänomen Gedächtnis
9.1.1 Informationsverarbeitung
9.2
– 380
– 382
Enkodieren: Informationen in den Speicher überführen – 385
9.2.1 Wie wir enkodieren – 385 9.2.2 Was wir enkodieren – 388
9.3
Speichern: Informationen aufbewahren – 394
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4
Sensorisches Gedächtnis – 394 Arbeitsgedächtnis – 395 Langzeitgedächtnis – 396 Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn – 397
9.4
Abrufen: Informationen auffinden
9.5
Vergessen
– 404
– 409
9.5.1 Scheitern der Enkodierung – 410 9.5.2 Speicherzerfall – 411 9.5.3 Scheitern des Abrufs – 412
9.6
Konstruktion von Erinnerung
9.6.1 9.6.2 9.6.3 9.6.4 9.6.5
Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination – 417 Quellenamnesie – 419 Echte und falsche Erinnerungen – 419 Kinder als Augenzeugen – 421 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch – 422
– 416
9.7
Gedächtnistraining
– 426
Andere Kulturen, andere Perspektiven They eat beans mostly, this old yellow pair. Dinner is a casual affair. Plain chipware on a plain and creaking wood, Tin flatware.
Two who are Mostly Good. Two who have lived their day, But keep on putting on their clothes And putting things away. And remembering . . .
Gwendolyn Brooks (1917–2000), From »The Bean Eaters«
Remembering, with twinklings and twinges, As they lean over the beans in their rented back room that is full of beads and receipts and dolls and cloths, tobacco crumbs, vases and fringes.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Gedächtnis An event is such a little piece of time and space, leaving only a mindglow behind like the tail of a shooting star. For lack of a better word, we call that scintillation memory. Diane Ackerman, »An Alchemy of Mind« (2004) > Seien Sie dankbar für Ihr Gedächtnis. Wir halten es für etwas Selbstverständliches, außer wenn es nicht richtig funktioniert. Doch es ist unser Gedächtnis, das es uns ermöglicht, Freunde, Nachbarn und Bekannte zu erkennen und sie beim Namen zu nennen, zu stricken, Schreibmaschine zu schreiben, Auto zu fahren und Klavier zu spielen, englisch, spanisch oder chinesisch zu sprechen, meint Rupp (1998). Es ist unser Gedächtnis, das über die Zeit Rechenschaft ablegt und unser Leben bestimmt. Es ist unser Gedächtnis, das es uns ermöglicht, unsere Nationalhymne zu singen, den Weg nach Hause und die für unser Überleben notwendige Nahrung zu finden. Es sind unsere gemeinsamen Erinnerungen, die uns zu einer zusammengehörigen Gruppe von Iren oder Australiern, Serben oder Schotten verbinden. Und es sind unsere Erinnerungen, die gelegentlich dafür sorgen, dass wir eine feindselige Haltung gegenüber Menschen einnehmen, deren Beleidigungen wir nicht vergessen können. Wir sind zum größten Teil das, woran wir uns erinnern. Ohne Gedächtnis gäbe es kein Schwelgen in Erinnerungen an glückliche Momente in der Vergangenheit, keine Schuld- oder Wutgefühle, ausgelöst durch schmerzliche Erinnerungen. Stattdessen würden wir ständig in der Gegenwart leben. Jeder Moment wäre neu. Aber auch jeder Mensch wäre ein Fremder, alles Gesprochene eine unverständliche Fremdsprache, jede Aufgabe – sich anzuziehen, zu kochen, Fahrrad zu fahren – eine neue Herausforderung. Sogar Sie selbst wären sich fremd, da es Ihnen an dem durchgehenden Bewusstsein Ihrer selbst von der weit zurückliegenden Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Augenblick fehlen würde. Der Gedächtnisforscher McGaugh (2003) vertrat die Auffassung: »Wenn Sie die Fähigkeit verlieren, Ihre frühen Erinnerungen abzurufen, dann haben Sie kein Leben mehr. Dann könnten Sie auch eine Kohlrübe oder ein Kohlkopf sein.«
9
9.1
Das Phänomen Gedächtnis
Ziel 1: Definieren Sie, was das Gedächtnis ist, und erklären Sie, wie sich Blitzlichterinnerungen von anderen Erinnerungen unterscheiden. Gedächtnis (memory): dauerhaftes Fortbestehen von aufgenommenen Informationen über die Zeit; es ermöglicht die Speicherung und das Abrufen von Informationen.
Ihr Gedächtnis ist der Speicher des Mentalen, das Reservoir all dessen, was Sie im Lauf Ihres Lebens lernen. Der römische Staatsmann Cicero drückte es so aus: »Aller Dinge Hort ist das Gedächtnis.« Für den Psychologen ist das Gedächtnis – die Erinnerung – ein Hinweis darauf, dass Erlerntes die Zeit überdauert. Das Gedächtnis ermöglicht es uns, Informationen zu speichern und wieder abzurufen. Untersuchungen der Extremfälle von Gedächtnisleistungen haben Forschern zum Verständnis der Funktionsweise des Gedächtnisses verholfen. Manche Untersuchungen haben sich auch mit den Ursachen und Auswirkungen von Gedächtnisverlust beschäftigt. Im Alter von 92 Jahren erlitt mein Vater einen kleinen Schlaganfall, der nur einen besonderen Effekt hatte. Seine geniale Persönlichkeit wurde nicht beeinträchtigt. Er war auch noch genauso beweglich wie zuvor. Er erkannte uns und konnte sich beim Durchsehen von Familienfotoalben über die kleinsten Einzelheiten aus seiner Vergangenheit stundenlang auslassen. Doch er hatte größtenteils seine Fähigkeit verloren, neue Erinnerungen über Gespräche und Alltagsereignisse zu speichern. Er konnte nicht sagen, welcher Wochentag gerade war. Obwohl ihm bereits mehrmals mitgeteilt wurde, dass sein Schwager gestorben war, überraschte ihn diese Nachricht jedes Mal wieder aufs Neue. Das andere Extrem sind Menschen, die bei einer Gedächtnisolympiade sichere Medaillengewinner wären. Ein Beispiel dafür war der russische Zeitungsreporter Schereschewski oder »S.«, wie ihn der Neuropsychologe Lurija in seiner Fallbeschreibung nannte. Dank seines Gedächtnisses konnte S. einfach zuhören, während andere Reporter sich Notizen machen mussten, sein Gedächt-
381 9.1 · Das Phänomen Gedächtnis
nis verhalf ihm auch zu einem Ehrenplatz in nahezu jedem modernen Buch über Gedächtnisforschung. Menschen wie Sie und ich können aus dem Gedächtnis eine Folge von etwa 7 Ziffern wiederholen, mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht mehr als 9. S. konnte bis zu 70 Ziffern oder Wörter wiederholen, wenn sie mit 3 Sekunden Abstand in einem Zimmer ohne andere Geräusche vorgelesen wurden. Er konnte die Kolonnen genauso leicht rückwärts wie vorwärts hersagen. Seine Genauigkeit war zielsicher, auch wenn er gebeten wurde, sich bis zu 15 Jahre später an eine bestimmte Liste zu erinnern, nachdem er sich in der Zwischenzeit Hunderte von anderen Listen eingeprägt hatte. Er sagte dann etwa: »Ja, ja, das war eine Reihe, die Sie mir einmal dargeboten haben, als wir in Ihrer Wohnung waren. … Sie saßen am Tisch und ich im Schaukelstuhl. … Sie trugen einen grauen Anzug, und Sie schauten mich so an. …« Kommt Ihnen im Vergleich zu diesen Glanzleistungen Ihr eigenes Gedächtnis unzulänglich vor? Wenn dem so ist, dann sollten Sie sich etwas ins Bewusstsein rufen: Ihre eigene erstaunliche Fähigkeit, sich an unzählige Stimmen, Klänge und Lieder, Geschmäcker, Gerüche und Oberflächenstrukturen, Gesichter, Orte und Ereignisse zu erinnern. Stellen Sie sich vor, Sie müssten mehr als 2500 Dias von Gesichtern und Orten anschauen. Für jedes Dia haben Sie jeweils nur 10 Sekunden Zeit. Später werden Ihnen nacheinander 280 von diesen Dias noch einmal vorgeführt, jeweils in Kombination mit einem zuvor nicht gezeigten Dia. Wenn es bei Ihnen ähnlich läuft wie bei den Teilnehmern an diesem von Haber (1970) durchgeführten Experiment, würden Sie in 90% der Fälle das zuvor bereits gesehene Dia wiedererkennen. Ihre Gedächtniskapazität offenbart sich möglicherweise am deutlichsten bei Erinnerungen an einzigartige und emotional bedeutsame Augenblicke aus der Vergangenheit. Eine meiner lebhaftesten Erinnerungen ist der einzige Schlag, der mir während einer ganzen Spielsaison der BaseballJugendliga gelungen ist. Vielleicht erinnern Sie sich am lebhaftesten an einen Autounfall, an Ihren ersten wirklichen Kuss, Ihren ersten Tag nach dem Umzug in eine neue Stadt oder an die Umgebung, in der Sie sich befanden, als Ihnen eine tragische Nachricht mitgeteilt wurde. Die meisten Amerikaner über 55 sind überzeugt davon, sich genau daran erinnern zu können, was sie gerade taten, als sie die Nachricht von Präsident Kennedys Ermordung hörten (Brown u. Kulik 1982). Sieben Monate nach dem Tod von Prinzessin Diana und sogar 4 Jahre danach konnten sich die meisten Menschen in Großbritannien noch daran erinnern, wo genau sie sich aufhielten, als sie die Nachricht hörten (Kvavilashvili et al. 2003; Wynn u. Gilhooly 1999). Sechs Jahrzehnte nach der deutschen Invasion in Dänemark hatten nur wenige jüngere dänische Erwachsene irgendein Wissen über die Einzelheiten des Tages der Invasion. Aber Dänen über 72 erinnerten sich daran. 70% erinnerten sich daran, welches Wetter an diesem Tag war (Berntsen u. Thomsen 2005). Und auch Sie werden sich vielleicht daran erinnern, wo Sie zum ersten Mal die Meldungen über den 11. September 2001 gehört haben – »einer jener Momente, in denen sich die Geschichte spaltet und wir anfangen, die Welt in ›vorher‹ und ›nachher‹ zu unterteilen«, stand am nächsten Morgen in der »New York Times« zu lesen. Diese wahrgenommene Klarheit der Erinnerungen an über-
Reuters/Corbis
Falsche Blitzlichterinnerung Nachdem das zweite Flugzeug am 11. September 2002 gegen das World Trade Center geprallt war, flüsterte der Stabschef des Weißen Hauses dem Präsidenten George W. Bush die Neuigkeiten ins Ohr, als er gerade zu Besuch bei Schülern einer Klasse in Florida war. Doch was war mit dem ersten Flugzeug und dessen Angriff auf das Hochhaus? Als er 3 Monate später gefragt wurde, wie er vom ersten Aufprall erfahren habe, erinnerte sich der Präsident daran, »wie ich vor dem Klassenzimmer saß und darauf wartete, hineingehen zu können, und ich sah, wie ein Flugzeug gegen den Turm prallte. Der Fernseher war ja offensichtlich angeschaltet, und ich bin ja früher selbst geflogen. Da sagte ich mir: ›Was für ein schrecklicher Pilot.‹ Und dann: ›Es muss ein grauenhafter Unfall gewesen sein.‹« Doch niemand hat das live im Fernsehen gesehen; auch gab es damals kein Filmmaterial vom ersten Flugzeugaufprall (Paltrow 2004). Als einige Leute die Geschichte hörten, hielten sie sie für eine unverfrorene Lüge oder gar für eine Verschwörung. Doch der Psychologe Greenberg (2004) merkte dazu später an: »Wir müssen nur die Labilität des menschlichen Gedächtnis bedenken … Präsident Bush scheint eine falsche Erinnerung gehabt zu haben, wie sie nicht besser in einem Lehrbuch der Gedächtnispsychologie beschrieben werden könnte
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Was ist wichtiger, Ihre Erfahrungen oder Ihre Erinnerungen an sie?
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Kapitel 9 · Gedächtnis
»Flashbulb memories« (Blitzlichterinnerungen): klare Erinnerung an emotional bedeutsame Momente oder Ereignisse.
raschende, einschneidende Ereignisse hat einige Psychologen dazu gebracht, in diesem Falle von »flashbulb memories« (Blitzlichterinnerungen) zu reden. Es ist, als gäbe das Gehirn den Befehl: »Halte das jetzt fest!« Doch wie andere Erinnerungen können sich unsere Blitzlichterinnerungen täuschen (Talarico et al. 2003). Wie kommt es, dass sich manchmal sogar unsere Blitzlichterinnerungen als völlig falsch herausstellen? Wie schaffen wir es, andere Gedächtnisleistungen zu vollbringen? Wie können wir uns an Dinge erinnern, über die wir jahrelang nicht nachgedacht haben, gleichzeitig aber den Namen eines Menschen vergessen, mit dem wir erst vor einer Minute gesprochen haben? Wie können die Erinnerungen zweier Menschen an das gleiche Ereignis so verschieden ausfallen? Wie werden Erinnerungen in unserem Gehirn gespeichert? Weshalb werden Sie sich wahrscheinlich weiter hinten in diesem Kapitel nicht richtig an den folgenden Satz erinnern: »Der wütende Randalierer warf den Stein gegen das Fenster«? Wie können wir unser Erinnerungsvermögen verbessern? Diesen Fragen wollen wir nachgehen, wenn wir uns im nächsten Abschnitt rückblickend mit 100 Jahren Gedächtnisforschung beschäftigen werden.
9.1.1 Informationsverarbeitung Ziel 2: Beschreiben Sie das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin, und erklären Sie, wie sich das aktuelle Modell des Arbeitsgedächtnisses davon unterscheidet.
Enkodieren (encoding): Verarbeitung von Informationen zur Eingabe in das Gedächtnissystem, z. B. durch Herstellen eines Bedeutungszusammenhangs.
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Speichern (storage): Dauerhaftes Behalten der enkodierten Informationen.
C. Styrsky
Abrufen (retrieval): Wiederauffinden gespeicherter Informationen im Gedächtnisspeicher.
Wenn wir über das Gedächtnis nachdenken wollen, brauchen wir zunächst ein Modell für seine Funktionsweise. Eine Erinnerung entstehen zu lassen, ist in gewisser Hinsicht nicht anders als die Informationsverarbeitung, die ich für die Erstellung dieses Buches betrieben habe. Für jede neue Auflage werfe ich zunächst einen flüchtigen Blick auf unzählige gesammelte Informationen, zu denen auch etwa 100.000 Zeitungsartikel gehören. Das meiste davon ignoriere ich, doch manche Dinge sind es wert, zeitweilig in meiner Mappe gesammelt zu werden, um später einer eingehenderen Verarbeitung unterzogen zu werden. Nach und nach sortiere ich auch davon das meiste wieder aus. Der Rest, in der Regel etwa 3000 Artikel und Nachrichtenberichte, wird geordnet und zur Langzeitspeicherung abgelegt. Später, wenn ich die Geschichte der modernen Psychologie erzähle, hole ich diese Informationen wieder hervor und benutze sie als Quelle. Sehr wichtige Ereignisse aus der letzten Zeit kommen plötzlich in meinen geistigen Langzeitspeicher; von denen wähle ich dann aktuelle Beispiele für die Psychologie im Alltag aus. Um Erinnerungen entstehen zu lassen, müssen Sie ebenfalls Informationen auswählen, verarbeiten, speichern und abrufen. Sie verarbeiten Informationen nicht nur beim »Pauken« für eine Prüfung während des Studiums, sondern auch bei den Fertigkeiten, die Sie lernen, und bei der Verarbeitung von zahllosen alltäglichen Begebenheiten. Unser Gedächtnis gleicht in gewisser Hinsicht dem Informationsverarbeitungssystem eines Computers. Um uns an ein Ereignis zu erinnern, müssen wir zunächst Informationen in unser Gehirn hineinbekommen (sie enkodieren), diese Informationen in unserem Gehirn behalten (sie speichern) und sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder auffinden (sie abrufen). Stellen wir uns nun vor, wie ein Computer Informationen enkodiert, speichert und abruft. Zunächst wird der Informationsinput (Tasteneingabe) in eine elektronische Sprache übersetzt, vergleichbar mit dem Gehirn, das sensorische Informationen so kodiert, dass sie zu einer neuronalen Sprache werden. Der Computer speichert ständig ungeheure Datenmengen auf einer Platte, von der sie später wieder abgerufen werden können. Wie alle Analogien hat auch das Computermodell seine Grenzen. Unsere Erinnerungen sind weniger genau und weitaus fragiler als die eines Computers. Darüber hinaus erfolgt beim Computer die Informationsverarbeitung schnell, aber nacheinander, auch wenn verschiedene Aufgaben abwechselnd ausgeführt werden. Das Gehirn ist zwar langsamer, macht aber viele Dinge gleichzeitig: Es verarbeitet parallel. Psychologen haben verschiedene Informationsverarbeitungsmodelle für das Gedächtnis vorgestellt. Im klassischen Gedächtnismodell der Verarbeitung in 3 Stufen von
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Atkinson u. Shiffrin (1968) wird die These verfolgt, dass wir Erinnerungen in 3 Stufen bilden. Atkinson u. Shiffrin vertraten die Auffassung, dass wir zunächst die Informationen, an die wir uns erinnern sollten, im flüchtigen sensorischen Gedächtnis registrieren, anschließend im Kurzzeitgedächtnis verarbeiten, wo wir sie durch Wiederholung des Erinnerten für das Langzeitgedächtnis und einen späteren Abruf enkodieren. Obwohl dieser Dreistufenprozess historisch wichtig und hilfreich, weil einfach, war, hat er seine Grenzen und birgt Fehlermöglichkeiten. Einige Informationen lassen, wie wir sehen werden, die ersten beiden Stufen aus und werden automatisch im Langzeitgedächtnis gespeichert – ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Außerdem erkennen wir heute, dass wir uns unmöglich auf alles gleichzeitig konzentrieren können, weil wir ständig sensorischen Informationen ausgesetzt sind. Stattdessen werfen wir den Scheinwerferstrahl unserer Aufmerksamkeit auf bestimmte eingehende Reize – oft neuartige oder wichtige Reize. Diese eingehenden Reize werden, zusammen mit den Informationen, die wir aus unserem Langzeitgedächtnis abrufen, zu bewussten Kurzzeiterinnerungen, sozusagen auf einer zeitweiligen Baustelle. Dieser Bereich ist ein Arbeitsbereich, in dem wir Informationen wiederholen und manipulieren (Engle 2002). Aber im Unterschied zu Baustellen, auf denen mit Ziegelstein und Mörtel hantiert wird, geht der Inhalt des Arbeitsgedächtnisses schnell verloren, wenn wir ihn nicht weiter nutzen oder wiederholen. Genau hier assoziieren wir neue und alte Informationen und lösen Probleme. Die veränderte Version des Gedächtnismodells zur Verarbeitung in 3 Stufen, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wird, enthält dieses wichtige Konzept des Arbeitsgedächtnisses (. Abb. 9.1). Zum Arbeitsgedächtnis gehören sowohl die auditiven (phonologische Schleife) als auch die visuell-räumlichen (visuell-räumlicher Notizblock) Elemente, die durch einen zentralen Exekutivprozessor koordiniert werden (. Abb. 9.2; Baddeley 1992, 2001, 2002). Diese voneinander getrennten mentalen Untersysteme gestatten es uns, Bilder und Wörter gleichzeitig zu verarbeiten. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum wir reden können (verbale Verarbeitung), während wir Auto fahren (visuell-räumliche Verarbeitung). Und die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses erklärt, warum es so schwierig ist, sich an die Melodie eines Lieds zu erinnern, während man ein anderes hört. Diesen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses unterliegt Hirnaktivität (Jonides et al. 2005). Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen, dass die Frontallappen aktiv sind, wenn sich die zentrale Exekutive auf komplexes Denken konzentriert, und dass die Areale in den Parietalund Temporallappen, die dazu beitragen, die auditiven und visuellen Informationen zu verarbeiten, auch aktiv sind, wenn sich solche Informationen in unserem Arbeitsgedächtnis befinden.
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Bob Daemmrich/The Image Wores
Bob Daemmrich/The Image Works
Bob Daemmrich/The Image Works
9.1 · Das Phänomen Gedächtnis
. Abb. 9.1. Ein geändertes Dreistufenverarbeitungsmodell des Gedächtnisses Die heutigen Gedächtnisforscher haben andere Wege gefunden, auf denen sich Langzeiterinnerungen bilden. Wie wir sehen werden, schlüpfen z. B. einige Informationen sozusagen »durch die Hintertür« ins Langzeitgedächtnis, ohne dass man bewusst seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hat. Und wir wissen, dass das Kurzzeitgedächtnis mehr ist als passives Wiederholen. Eine bessere Bezeichnung dafür ist Arbeitsgedächtnis; dadurch wird klar, dass dort eine aktive Verarbeitung stattfindet
Sensorisches Gedächtnis (sensory memory): unmittelbare, sehr kurze Zwischenspeicherung sensorischer Informationen im Gedächtnissystem. Kurzzeitgedächtnis (short-term memory): aktiviertes Gedächtnis, das einige Informationsinhalte für kurze Zeit festhält (wie z. B. die 7 Ziffern einer Handynummer ohne Vorwahl), um sie dann entweder abzuspeichern oder zu vergessen. Langzeitgedächtnis (long-term memory): relativ zeitüberdauernder und unbegrenzt aufnahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems; dazu gehören Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen. Arbeitsgedächtnis (working memory): ein neueres Verständnis des Kurzzeitgedächtnisses, zu dem die bewusste, aktive Verarbeitung von eingehenden auditiven und visuell-räumlichen Informationen sowie von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gehört.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
9 . Abb. 9.2. Arbeitsgedächtnis Modell des Arbeitsgedächtnisses von Alan Baddeley (1998, 2001, 2002), hier vereinfacht dargestellt, enthält auditive und visuell-räumliche Verarbeitungseinheiten, die von einer zentralen Exekutive geleitet werden. Die Informationen gelangen aus dem Langzeitspeicher und aus der unmittelbaren Erfahrung in das Arbeitsgedächtnis. Der episodische Puffer trägt dazu bei, dass die zentrale Exekutive Input so integrieren kann, dass wir ihn verstehen
Lernziele Abschnitt 9.1 Das Phänomen Gedächtnis Ziel 1: Definieren Sie, was das Gedächtnis ist, und erklären Sie, wie sich Blitzlichterinnerungen von anderen Erinnerungen unterscheiden. Gedächtnis ist die Fähigkeit, Erlerntes durch die Speicherung und den Abruf von Informationen dauerhaft zu behalten. Blitzlichterinnerungen unterscheiden sich von anderen Erinnerungen durch ihre erstaunliche Klarheit. Ziel 2: Beschreiben Sie das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin, und erklären Sie, wie sich das aktuelle Modell des Arbeitsgedächtnisses davon unterscheidet. Das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin geht davon aus, dass wir 1. flüchtige Eindrücke im sensorischen Gedächtnis aufzeichnen, von denen manche 2. im Kurzzeitgedächtnis sozusagen auf unserem geistigen Bildschirm verarbeitet werden. Ein winziger Teil davon wird dann 3. für die Abspeicherung im Langzeit-
gedächtnis und für den möglichen späteren Abruf enkodiert. Die heutigen Gedächtnisforscher weisen auf die Grenzen dieses Modells hin und merken an, dass wir einige Informationen automatisch registrieren, indem wir die ersten beiden Stufen überspringen. Und sie ziehen den Begriff Arbeitsgedächtnis (statt Kurzzeitgedächtnis) vor, weil er eine aktivere Rolle in dieser zweiten Stufe der Verarbeitung hervorhebt, in der wir die Informationen wiederholen und dadurch manipulieren, dass wir neue Reize mit älteren gespeicherten Erinnerungen assoziieren. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses enthält visuell-räumliche und auditive Untersysteme, die durch einen zentralen Exekutivprozessor koordiniert werden, der unsere Aufmerksamkeit, wenn erforderlich, auf etwas konzentriert. > Denken Sie weiter: Welche Blitzlichterinnerung haben Sie an ein gefühlsbetontes Erlebnis in der Vergangenheit?
385 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen
9.2
Enkodieren: Information in den Speicher überführen
Wie wird die registrierte sensorische Information enkodiert und anschließend in das Gedächtnissystem überführt? Welche Arten von Informationen nehmen wir unbewusst auf? Welche Arten von Informationen setzen eine bewusste Verarbeitung voraus?
9.2.1 Wie wir enkodieren Einige Informationen, so z. B. den Weg, den Sie das letzte Mal zum Seminarraum gegangen sind, verarbeiteten Sie mit großer Leichtigkeit, und dadurch geben Sie Ihrem Gedächtnissystem die Freiheit, sich auf weniger vertraute Ereignisse zu konzentrieren. Aber um neuartige Informationen zu behalten, wie etwa die neue Handynummer einer Freundin, müssen Sie aufmerksam sein und sich große Mühe geben.
Automatische Informationsverarbeitung Ziel 3: Beschreiben Sie die Arten von Informationen, die wir automatisch enkodieren.
Es kostet Sie oft nur wenig oder gar keine Anstrengung, eine ungeheure Menge von Informationen aufzunehmen. Beispielsweise verarbeiten wir ohne bewusste Anstrengung automatisch Informationen über: 4 Raum. Während Sie Ihr Lehrbuch lesen, enkodieren Sie oft die Stelle auf der Seite, auf der ein bestimmter Lernstoff erwähnt wird; später, wenn Sie damit ringen, die Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, können Sie möglicherweise seine Position auf der Seite visualisieren. 4 Zeit. Während Sie Ihren Tag durchgehen, merken Sie sich unabsichtlich die Abfolge der Ereignisse des Tages. Später, wenn Sie bemerken, dass Sie Ihren Mantel irgendwo vergessen haben, stellen Sie die Abfolge dessen, was Sie an diesem Tag gemacht haben, wieder her und verfolgen die einzelnen Schritte. 4 Häufigkeit. Mühelos verfolgen Sie, wie oft bestimmte Dinge geschehen; dadurch werden Sie in die Lage versetzt, Folgendes zu erkennen: »Das ist schon das dritte Mal, dass ich ihr heute begegne.« Aufgrund der Fähigkeit unseres Gehirns zur Parallelverarbeitung geht diese Verarbeitung vonstatten, ohne dass man ihr Aufmerksamkeit widmen muss. Automatische Verarbeitung funktioniert so mühelos, dass sie sich nur schwer abschalten lässt. Wenn Sie Wörter in Ihrer Muttersprache sehen, wie etwa eine Reklame seitlich auf einem Lastwagen, dann können Sie gar nicht anders, als ihre Bedeutung zu registrieren. Manche Formen der Verarbeitung erfordern Aufmerksamkeit und Anstrengung, wenn wir sie das erste Mal ausführen, mit Erfahrung und Übung erfolgen sie jedoch automatisch. Wenn man lesen lernt, erkundet man zunächst die einzelnen Buchstaben, um herauszubekommen, welche Wörter sie ergeben. Mit Mühe plackt man sich an nur 20 bis 50 Wörtern auf einer Seite ab. Heute jedoch nach Jahren der Übung kann man rasch und mühelos lesen. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie müssten die folgenden umgedrehten Sätze von rechts nach links lesen lernen: .nedrew hcsitamotua nnak gnutiebrareV etssuweB Zunächst ist dazu Anstrengung erforderlich. Aber mit einiger Übung können solche Aufgaben automatisch ausgeführt werden. Wir haben viele unserer Fertigkeiten auf diese Weise entwickelt: lernen, wie man Auto fährt, wie man sich auf Rollerblades bewegt oder wie man in der Stadt seinen Weg findet.
Automatische Verarbeitung (automatic processing): unbewusste Enkodierung zufällig anfallender Informationen, wie Raum, Zeit und Häufigkeit, sowie erlernter, aber inzwischen wohlbekannter Informationen (z. B. Wortbedeutungen).
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Bewusste Verarbeitung
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. Abb. 9.3. Automatische vs. bewusste Verarbeitung Manche Informationen, wie den Ort, an dem Sie gestern Ihr Abendessen einnahmen, verarbeiten Sie automatisch. Für die Enkodierung und Erinnerung anderer Arten von Informationen, z. B. der Themen dieses Kapitels, ist bewusste Anstrengung erforderlich
Große Mengen von Informationen enkodieren und behalten wir zwar automatisch, doch manche Arten von Informationen, wie etwa die Begriffe in diesem Kapitel, können wir uns nur durch bewusste Anstrengung und Aufmerksamkeit einprägen. Bewusste Verarbeitung (. Abb. 9.3) führt oft zu bleibenden und leicht zugänglichen Erinnerungen. Wenn wir neue Information, beispielsweise Namen, lernen, können wir unserem Gedächtnis durch Wiederholung (»rehearsal«), d. h. bewusste Wiederholung, auf die Beine helfen. Diese Tatsache wurde schon vor vielen Jahren von einem Pionier auf dem Gebiet der verbalen Gedächtnisforschung, dem deutschen Philosophen Hermann Ebbinghaus (1850–1909), nachgewiesen. Ebbinghaus war für die Gedächtnisforschung, was Iwan Pawlow für die Konditionierungsforschung war. Die philosophischen Spekulationen über das Gedächtnis ließen Ebbinghaus ungeduldig werden, und er beschloss daher, das Gedächtnis wissenschaftlich zu ergründen. Dazu beobachtete er an sich selbst die Prozesse, bei denen er neuartigen verbalen Stoff lernte und wieder vergaß. Ebbinghaus musste dazu Material finden, das ihm nicht bekannt war. Er löste das Problem durch die Zusammenstellung einer Liste aus allen möglichen sinnlosen Silben, die alle aus zwei Konsonanten und einem Vokal in der Mitte bestanden. Für ein bestimmtes Experiment wählte er dann nach dem Zufallsprinzip eine Gruppe dieser Silben aus. Lesen Sie sich nun laut und relativ schnell 8-mal hintereinander folgende Liste (aus Baddeley 1982) vor, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Ebbinghaus sich selbst testete. Versuchen Sie anschließend, sich an diese Items zu erinnern: S. Wahl
S. Wahl
Ziel 4: Stellen Sie die bewusste Verarbeitung der automatischen Verarbeitung gegenüber, und erörtern Sie den »Next-in-Line«-Effekt, den Spacing-Effekt und den seriellen Positionseffekt.
JIH, BAZ, FUB, YOX, SUJ, XIR, LEQ, VUM, PID, KEL, WAV, TUV, YOF, GEK, HIW. Bewusste Verarbeitung (effortful processing): Form der Enkodierung, die Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung erfordert. Wiederholung (rehearsal): bewusste Wiederholung von Informationen, um sie im Bewusstsein zu behalten oder für die Speicherung zu enkodieren.
. Abb. 9.4. Behaltenskurve nach Ebbinghaus Ebbinghaus fand, dass er umso weniger Wiederholdurchgänge brauchte, um eine Liste von sinnlosen Silben am 2. Tag wieder zu erlernen, je häufiger er am 1. Tag geübt hatte. Oder einfach ausgedrückt: Je mehr Zeit wir mit dem Erlernen neuartiger Informationen verbringen, desto besser können wir sie behalten. (Aus Baddeley 1982)
Einen Tag, nachdem Ebbinghaus eine derartige Liste gelernt hatte, konnte er sich nur an wenige dieser Silben erinnern. Aber hatte er sie völlig vergessen? Wie aus . Abb. 9.4 hervorgeht, brauchte er am 2. Tag zur erneuten fehlerfreien Wiedergabe der Liste umso weniger Durchgänge, je häufiger er sie am 1. Tag laut wiederholt hatte. Daraus ließ sich ein einfaches Grundprinzip ableiten: Die Informationsmenge, an die man sich erinnert, hängt von der Zeit ab, die dafür aufgewandt wurde,
387 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen
sie zu lernen. Auch wenn wir etwas bereits gelernt haben, können wir durch zusätzliche Lerndurchgänge (»overlearning«, Überlernen) das Erinnerungsvermögen an diesen Lernstoff noch steigern.
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»Er sollte sein Gedächtnis überprüfen, indem er die Verse rezitiert.« Abdur-Rahman Khaliq, »Memorizing the Quran«
! Im Hinblick auf die Speicherung neuer Informationen macht Übung, d. h. bewusste Verarbeitung, tatsächlich den Meister.
Dies hilft uns auch, einige andere interessante Phänomene besser zu verstehen: 4 Der »Next-in-Line«-Effekt: Wenn Menschen, die in einem Kreis stehen, nacheinander Wörter oder ihren Namen sagen und sich daran zu erinnern versuchen, was die anderen gesagt haben, erinnern sie sich am schlechtesten an das, was die Person direkt vor ihnen gesagt hat (Bond et al. 1991; Brenner 1973). Wenn wir der Nächste sind, der an die Reihe kommt, konzentrieren wir uns auf unseren eigenen Auftritt und versäumen es häufig, die Äußerungen der letzten Person vor uns zu verarbeiten. 4 An Informationen, die uns in den letzten paar Sekunden vor dem Einschlafen dargeboten werden, erinnern wir uns nur selten (Wyatt u. Bootzin 1994). Wenn unser Bewusstsein dahinschwindet, bevor wir die Information verarbeitet haben, ist alles verloren. Hingegen erinnern wir uns gut an Informationen, die wir in der Stunde vor dem Einschlafen aufnehmen (auf diesen Punkt werden wir in 7 Abschn. 9.5.3 noch näher eingehen). 4 Informationen von Tonbandaufnahmen, die uns während des Schlafens vorgespielt werden, werden zwar von den Ohren registriert, doch erinnern wir uns nicht daran (Wood et al. 1992). Ohne Gelegenheit zum Wiederholen funktioniert das »Lernen im Schlaf« nicht. Außerdem behalten wir Information besser, wenn die Wiederholungen über die Zeit verteilt sind (wie beim Lernen der Namen unserer Klassenkameraden). Dieses Phänomen wird auch SpacingEffekt (Bjork 1999; Dempster 1988) genannt. In einem 9 Jahre dauernden Experiment lernten Bahrick et al. (1993) in Abständen, die von 14 Tagen bis zu 56 Tagen dauern konnten, eine vorher festgelegte Anzahl von Malen Wörter einer fremden Sprache und ihre Übersetzung. Das durchgängige Ergebnis: Je länger der Abstand zwischen den einzelnen Übungsdurchgängen war, desto besser wurden die Wörter behalten (bis zu 5 Jahre nach dem Experiment). Als Bahrick über diesen Lerneffekt durch Wiederholen in immer größer werdenden Abständen (Spacing-Effekt) nachdachte, erkannte er dessen praktische Bedeutung: Das wiederholte Lernen des Lernmaterials für umfassende Klausuren, die Schlussprüfungen von Repetitorkursen oder Studienabschlussprüfungen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Gelernte ein Leben lang nicht vergessen werden. Wenn man das Lernen über ein Semester oder ein Jahr hinweg verteilt, statt in kürzeren Abständen (Tage) zu lernen, kann dies dazu beitragen, das Gelernte besser zu behalten.
Spacing-Effekt (spacing effect): Tendenz, dass durch zeitlich verteiltes Lernen oder Üben bessere langfristige Behaltenserfolge erzielt werden als bei massiertem Lernen oder Üben.
»Der Verstand vergisst nur langsam etwas, wenn er lange dafür gebraucht hat, es zu lernen.« Der römische Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.)
! Verteiltes Lernen ist besser als massiertes Pauken. Oder, um mit Ebbinghaus (1885) zu sprechen: Wer schnell lernt, vergisst auch schnell.
Um sich solche Dinge wie Telefonnummern einzuprägen, funktioniert die verteilte Wiederholung in immer größeren Abständen gut. Thomas Landauer (2001) erklärt, wie es geht: »Wiederholen Sie den Namen oder die Nummer, die Sie sich merken wollen, warten Sie ein paar Sekunden, wiederholen Sie sie noch einmal, warten Sie etwas länger, wiederholen Sie sie noch einmal, warten Sie noch etwas länger, und wiederholen Sie sie noch einmal. Die Wartephasen sollten so lang sein wie irgend möglich, ohne dass die Information vergessen wird. Ein Phänomen, das Sie sicherlich von sich selbst kennen, ist eine weitere Veranschaulichung der positiven Effekte des Wiederholens: Forscher zeigten Teilnehmern an einem Experiment eine Liste mit Items (Wörter, Namen, Daten und sogar Gerüche) und baten sie anschließend, sich sofort in einer x-beliebigen Reihenfolge an diese Items zu erinnern (Reed 2000). Aus den Antworten der Teilnehmer, die versuchten, sich an die Items der Liste zu erinnern, ergab sich häufig der serielle Positionseffekt: Sie erinnerten sich besser an die ersten und letzten Items der Liste als an jene in der Mitte (. Abb. 9.5). Dieses bessere Erinnern der ersten und der letzten Information wird als Primacy- bzw. Recency-Effekt bezeichnet. Vielleicht erinnerten sich die Leute besonders schnell und gut an die letzten Items der Liste, weil diese noch im Arbeitsgedächtnis gespeichert waren. Aber nach einer Weile – nachdem ihre Aufmerksamkeit
Serieller Positionseffekt (serial position effect): Tendenz, sich am besten an die ersten (PrimacyEffekt) und letzten (Recency-Effekt) Punkte einer Liste zu erinnern.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.5. Der serielle Positionseffekt Wenn Menschen eine Liste von Namen und Wörtern vorgetragen wird, erinnern sie sich normalerweise sofort an die letzten Punkte der Aufzählung (vielleicht weil sie noch auf unserem geistigen »Monitor« eingeblendet sind) und fast ebenso gut an die allerersten. Später jedoch erinnern sie sich am besten an die ersten Items der Liste. (Aus Craik u. Watkins 1973)
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von den letzten Items abgelenkt wurde – erinnerten sie sich am besten an die ersten Punkte der Liste. Als Parallele aus dem Alltag stellen Sie sich vor, es sei der erste Tag auf einer neuen Arbeitsstelle, und Ihr Vorgesetzter stellt Sie Ihren Kollegen vor. Jedes Mal, wenn Sie einen Kollegen treffen, wiederholen Sie die Namen aller Kollegen, und zwar vom ersten bis zum bis dahin letzten. Wenn Sie dann auf den letzten treffen, haben Sie mehr Zeit damit verbracht, die ersten Namen zu wiederholen, als die letzten; daher werden Sie am nächsten Tag wahrscheinlich die ersten Namen leichter aus dem Gedächtnis abrufen. Zudem wird sich das Lernen der ersten Namen störend auf das Lernen der späteren auswirken. Aber manchmal reicht das reine Wiederholen von Informationen, wie etwa der neuen Telefonnummer, die wir im Begriff sind zu wählen, einfach nicht aus, um sie für den späteren Abruf zu speichern (Craik u. Watkins 1973; Greene 1987). Wie enkodieren wir also Informationen, die in unserem Langzeitgedächtnis abgespeichert werden sollen? Die Verarbeitung sensorischer Informationen gleicht in vieler Hinsicht dem Durchsehen der täglichen Post. Manche Sendungen sortieren wir sofort aus. Andere verarbeiten wir bedächtiger: Wir öffnen sie, lesen sie und behalten den Inhalt im Gedächtnis. Unser Gedächtnissystem verarbeitet Informationen durch die Kodierung ihrer wichtigsten Merkmale.
9.2.2 Was wir enkodieren Wir verarbeiten Informationen hauptsächlich auf 3 verschiedene Arten: durch Enkodierung ihrer Bedeutung, durch Enkodierung ihrer bildlichen Darstellung und durch mentales Einordnen der Informationen. Bis zu einem gewissen Grad sind das automatisch ablaufende Prozesse. Doch für jede dieser Vorgehensweisen gibt es bewusste Strategien zur Verbesserung unseres Erinnerungsvermögens.
Enkodieren von Bedeutung Ziel 5: Vergleichen Sie die Vorteile der visuellen, auditiven und semantischen Enkodierung beim Erinnern verbaler Informationen, und beschreiben Sie eine Strategie zur Verbesserung des Gedächtnisses, die mit dem Selbstbezugseffekt in Zusammenhang steht.
Wenn man verbale Informationen zur Abspeicherung verarbeitet, enkodiert man ihre Bedeutung, assoziiert sie mit dem, was man bereits weiß und sich vorstellt. Ob wir Barbara oder Rhabarber hören, wenn wir immer wieder Barbara sagen, hängt davon ab, in welche Richtung uns der Kontext und unsere Erfahrung uns bei der Interpretation und Enkodierung der Laute lenken. (Sie erinnern sich: Unser Arbeitsgedächtnis steht mit unserem Langzeitgedächtnis in Wechselwirkung.)
389 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen
Können Sie den Satz vom Randalierer (kurz vor dem Anfang von 7 Abschn. 9.1.1) noch einmal wiederholen: »Der wütende Randalierer warf …«)? Vielleicht geht es Ihnen wie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Experiment von Brewer (1977). Sie erinnerten sich an den Randalierersatz aufgrund der Bedeutung, die sie beim Lesen des Satzes enkodiert hatten (z. B. »Der wütende Randalierer warf den Stein durch das Fenster«), und nicht aufgrund des tatsächlichen Wortlauts (»Der wütende Randalierer warf den Stein gegen das Fenster«). Wie an diesem Beispiel leicht erkennbar ist, neigen wir dazu, uns nicht genau zu erinnern, wie etwas war. Stattdessen erinnern wir uns an das, was wir enkodiert haben. Beim Lernen für eine Prüfung erinnern Sie sich möglicherweise besser an Ihre eigenen Mitschriften aus der Vorlesung als an die Vorlesung selbst. Bower u. Morrow (1990) vergleichen unser Denken und unser Gedächtnis mit einem Theaterintendanten, dem ein Manuskript in die Hand gedrückt wird und der vor seinem geistigen Auge sofort die fertige Bühnenproduktion sieht. Wenn wir später gefragt werden, was wir gehört oder gelesen haben, erinnern wir uns nicht an den wörtlichen Text, sondern an das geistige Modell, das wir uns davon gemacht haben. Mit welcher Art von Enkodierung lässt sich Ihrer Meinung nach die beste Erinnerung an verbale Informationen erzielen? Mit der visuellen Enkodierung von Bildern? Mit der akustischen Enkodierung von Lauten und Klängen? Mit der semantischen Enkodierung von Bedeutung? Jede Form verfügt über ein eigenes Untersystem im Gehirn, das dafür zuständig ist (Poldrack u. Wagner 2004). Und jedes kann hilfreich sein. Akustisches Enkodieren steigert beispielsweise die Einprägsamkeit und den scheinbaren Wahrheitsgehalt von sich reimenden Aphorismen. »Was du versäumst im Augenblick, bringt keine Ewigkeit zurück« erscheint uns daher richtiger als »Was du versäumst im Augenblick, bringt dir keine Ewigkeit wieder« (McGlone u. Tofighbakhsh 2000). Um visuelle, akustische und semantische Enkodierung miteinander zu vergleichen, ließen Craik u. Tulving (1975) vor den Augen von Versuchsteilnehmern Wörter kurz aufblitzen. Dann stellten sie den Personen eine Frage, für deren Beantwortung es nötig war, die Wörter zu verarbeiten, und zwar erstens visuell (das Aussehen der Buchstaben), zweitens akustisch (der Klang der Wörter) oder drittens semantisch (die Bedeutung der Wörter). Um selbst ein Gefühl von dieser Aufgabe zu bekommen, antworten Sie rasch auf folgende Fragen: Beispielfragen zur Auslösung von Verarbeitung
Gezeigtes Wort
1. Ist das Wort in Großbuchstaben geschrieben
stuhl
2. Reimt sich das Wort auf »Zug«?
KLUG
3. Würde das Wort in den Satz passen: Das Mädchen legte das auf 00 den Tisch.
Gewehr
Ja
Nein
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Welche Art von Verarbeitung wäre wahrscheinlich am besten dazu geeignet, Sie darauf vorzubereiten, die Wörter zu einem späteren Zeitpunkt wiederzuerkennen? Bei dem Experiment von Craik und Tulving ergab die 3. Frage (das tiefe, semantische Enkodieren) deutlich bessere Gedächtnisleistungen als die »oberflächliche Verarbeitung«, die durch Frage 2 und vor allem durch Frage 1 angeregt wurde (. Abb. 9.6). Aber wenn man uns ein zu dürres Skript gibt, haben wir Schwierigkeiten, ein mentales Modell zu bilden. Versetzen Sie sich einmal in die Situation der Studierenden, die von Bradford u. Johnson (1972) gebeten wurden, sich folgende auf Band aufgenommene Textpassage einzuprägen: Die Prozedur ist in Wirklichkeit ganz einfach. Zunächst ordnen Sie die Dinge in verschiedene Gruppen. Natürlich kann, je nachdem, wie viel es zu tun gibt, ein Haufen genügen. … Nachdem die Prozedur abgeschlossen ist, ordnen Sie die Dinge wieder in verschiedene Gruppen. Anschließend können sie dann an dem für sie vorgesehenen Ort abgelegt werden. Nach einiger Zeit werden sie dann wieder verwendet, und der ganze Zyklus beginnt von vorne. Aber das ist ein Teil des Lebens.
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Hier ein weiterer Satz, nach dem ich Sie später wieder fragen werde: »Der Fisch griff den Schwimmer an.«
Visuelle Enkodierung (visual encoding): Enkodieren von optischen Bildern. Akustische Enkodierung (acoustic encoding): Enkodieren von Lauten und Klängen, insbesondere von Wortklängen. Semantische Enkodierung (semantic encoding): Enkodieren von Bedeutung, einschließlich Wortbedeutungen.
? Wie viele Vs befinden sich im folgenden Text: Vorwiegend auf dem Landweg vagabundierten diverse Vasen aus Hannover, bevor sie nach Varel wechselten. 7 Antwort 9.1 am Ende des Kapitels
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Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.6. Verarbeitungsniveaus Die tiefgehende Verarbeitung eines Wortes aufgrund seiner Bedeutung (semantische Enkodierung) sorgt zu einem späteren Zeitpunkt für eine bessere Wiedererkennung als die oberflächliche Verarbeitung durch Merken des äußeren Erscheinungsbildes oder des Klanges. (Aus Craik u. Tulving 1975)
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»Zu den Dingen, die einem beim Vorgang des Einprägens sehr helfen, gehört das Verstehen der Verse, die man sich eingeprägt hat, und das Wissen über die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen ihnen.« Abdur-Rahman Khaliq, »Memorizing the Quran«
Als die Studierenden den Textabschnitt, den Sie eben gelesen haben, ohne sinnvollen Kontext hörten, erinnerten sie sich später nur an wenig. Als ihnen mitgeteilt wurde, dass es bei diesem Text ums Wäschewaschen ging (etwas, was dem Text eine Bedeutung gab), erinnerten sie sich an sehr viel mehr – Ihnen ginge es wahrscheinlich nach nochmaligem Lesen ähnlich. Diese Forschungsergebnisse unterstreichen die Vorteile des nochmaligen Formulierens dessen, was wir lesen und hören, in sinnvollen Bedeutungszusammenhängen. Aufgrund seiner Selbsttests kam Ebbinghaus zu dem Schluss, dass im Vergleich zum Lernen von sinnlosem das Erlernen von sinnvollem Stoff ein Zehntel der Anstrengung erforderte. Oder wie es der Gedächtnisforscher Wickelgren (1977, S. 346) ausdrückte: »Die Zeit, die Sie mit Nachdenken über das, was Sie lesen, und damit zubringen, es mit dem früher gespeicherten Material in Beziehung zu setzen, ist praktisch das Nützlichste, was Sie für das Erlernen von neuen Themen tun können.« Die Menge des Erinnerten hängt daher sowohl von der Zeit ab, die man mit dem Lernen verbringt, als auch damit, was wir tun, während wir lernen. Wir können uns besonders gut an Dinge erinnern, die einen Bezug zu uns selbst haben. Wenn wir gefragt werden, wie gut bestimmte Adjektive einen anderen Menschen beschreiben, vergessen wir anschließend diese Adjektive oft wieder. Werden wir hingegen gefragt, wie gut diese Adjektive zu uns selbst passen, erinnern wir uns später gut an diese Wörter, ein Phänomen, das auch Selbstbezugseffekt genannt wird (Symons u. Johnson 1997). Sie profitieren also davon, wenn Sie sich Zeit nehmen, eine persönliche Bedeutung in dem zu finden, was Sie gerade lernen (beispielsweise, indem Sie sich die Zeit nehmen, sich mit dem Abschnitt »Lernziele« am Ende jedes größeren Abschnitts dieses Buchs zu beschäftigen). ! Informationen, die wir als für uns persönlich wichtig einschätzen, werden tiefer verarbeitet und bleiben damit besser zugänglich.
»Denken Sie daran: Wenn jemand etwas gehört hat, wirkt sich nichts stärker auf den Verstand eines Beobachters aus, als wenn er es auch gesehen hat.« Horaz, Ars poetica (8. v. Chr.)
Bildliche Vorstellung (imagery, mental pictures): äußerst wirksame Hilfe für die bewusste Verarbeitung, besonders in Kombination mit semantischer Enkodierung.
Enkodieren von Bildern Ziel 6: Erklären Sie, wie die Enkodierung unserer Vorstellungswelt dazu beiträgt, etwas mühelos zu verarbeiten, und beschreiben Sie einige Strategien zur Verbesserung des Gedächtnisses, bei denen die visuelle Enkodierung genutzt wird.
Woran liegt es, dass wir uns sehr anstrengen müssen, um uns an Formeln, Definitionen und Daten zu erinnern, aber leicht aus dem Gedächtnis abrufen können, wo wir gestern waren, wer bei uns war, wo wir saßen und was wir anhatten? Zu unseren frühesten Erinnerungen, wahrscheinlich an ein Ereignis im Alter von 3 oder 4 Jahren, gehören bildliche Vorstellungen. Forscher haben auch dokumentiert, dass wir uns besser an konkrete Wörter erinnern, die sich dafür eignen, dass wir
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uns visuelle mentale Bilder vorstellen, als an abstrakte, wenig bildhafte Wörter. (An welche 3 Wörter der folgenden Reihe – Schreibmaschine, Nichts, Zigarette, innewohnend, Feuer, Prozess – erinnern Sie sich wohl am ehesten, wenn ich Sie später danach fragen werde?). Möglicherweise erinnern Sie sich auch immer noch an den Satz von dem Steine werfenden Randalierer, nicht nur wegen der Bedeutung, die Sie enkodiert haben, sondern auch, weil sich der Satz zur Vorstellung eines Bildes eignet. Die Erinnerung an konkrete Substantive wird durch doppelte Enkodierung unterstützt: einerseits semantisch, andererseits visuell (Marschark et al. 1987; Palvio 1986). Zwei Codes sind besser als einer.
Das Prinzip des bildlichen Vorstellung Der Schönheitschirurgieforscher Darrick Antell hat die Erfahrung gemacht, dass man über die Gesundheitsrisiken des Bräunens und Rauchens reden kann, bis man schwarz wird. Zeigt man den Leuten aber ein Foto von eineiigen Zwillingen, von denen nur eine unter dem Einfluss von Sonnenbaden und Rauchen gealtert ist, lernen sie tatsächlich und merken sich das. Die 60-jährige Gay Black (linkes Bild) war im Gegensatz zu ihrer jünger aussehenden Zwillingsschwester Gwen Sirota (rechtes Bild) eine begeisterte Sonnenanbeterin und Raucherin Mnemotechniken (mnemonics): Gedächtnishilfen, insbesondere jene Techniken, die eindringliche Bilder und Ordnungsstrukturen nutzen.
© 1994 Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com
Deshalb prägen sich der schönste Moment eines angenehmen Erlebnisses oder einer glücklichen Begebenheit und der schlimmste Moment einer schmerzvollen oder frustrierenden Situation unseren Erinnerungen häufig gut ein (Fredrickson u. Kahneman 1993). Diese selektive Erinnerung an die Höhepunkte und das Vergessen der eher alltäglichen Momente erklären möglicherweise ein Phänomen, das Mitchell et al. (1997) als »rosigen Rückblick« bezeichnen: Die Menschen neigen dazu, sich positiver an Ereignisse (z. B. an einen Campingurlaub) zu erinnern, als sie sie zunächst tatsächlich bewerteten. Sie erinnern sich an ihren Besuch bei Disney World weniger wegen der schwülen Hitze und der langen Warteschlangen und eher wegen der ganzen Umgebung, des Essens und der Fahrten mit Achterbahnen etc. Und unsere künftigen Entscheidungen ließen sich eher aufgrund der Erfahrung vorhersagen, an die wir uns erinnern, als aufgrund der Erfahrung, die wir hatten (Wirtz et al. 2003). Bildliche Vorstellungen stellen das Herzstück vieler Gedächtnishilfen dar. Die sog. Mnemotechniken (griech. »mneme« = Gedächtnis, Erinnerung) wurden bereits im Altertum von den griechischen Gelehrten und Rednern als Erinnerungshilfen für lange Passagen und Reden entwickelt. Häufig verwendeten sie z. B. die »Loci-Methode« (Ortsmethode), d. h. sie stellten sich vor, wie sie sich durch vertraute Räume mit einer geordneten Folge von bekannten Plätzen bewegten, und assoziierten dabei bestimmte Stellen mit einer bildlichen Vorstellung des Themas, an das sie sich erinnern wollten. Beim Sprechen lief der Redner dann im Geist entlang der einzelnen Stationen eines bekannten Weges und rief so die damit assoziierten Bilder ab. In einer neueren Studie über die Kandidaten bei der World Memory Championship zeigte sich, dass nicht alle eine außergewöhnliche Intelligenz aufwiesen, sondern dass sie besonders gut darin waren, räumliche Mnemotechniken zu nutzen (Maguire et al. 2003). Bei anderen Mnemotechniken finden sowohl auditive als auch visuelle Codes Verwendung. Beispielsweise bei einer Technik, die auf Englisch Peg Word System heißt, also ein System, bei dem Wörter als Aufhänger dienen; da muss man sich zunächst Merkverse einprägen: »One is a bun; two is a shoe; three is a tree; four is a door; five is a hive; six is sticks; seven is heaven; eight is a gate; nine is swine; ten is a hen.« Ohne viel Mühe werden Sie bald in der Lage sein, mit diesen Aufhängern statt mit Zahlen zu zählen: bun, shoe, tree ... und dann bildlich die Aufhänger mit Items, an die Sie sich erinnern sollten, zu assoziieren. Sie haben jetzt das Zeug dazu, gegen jeden anzutreten, der Ihnen eine Einkaufsliste gibt, an die Sie sich erinnern sollen. Karotten? Stellen Sie sich vor, wie Sie sie in ein Brötchen (bun) stecken. Milch? Gießen Sie sie in einen Schuh. Papiertücher? Drapieren Sie sie um die Zweige eines Baums. Wenn Sie an »bun, shoe, tree« denken, sehen Sie die Bilder, die Sie damit assoziieren: Karotten, Milch, Papiertücher. Relativ fehlerfrei (Bugelski et al. 1968) werden Sie in der Lage sein, die Artikel auf der Liste in jeder Reihenfolge zu erinnern und jeden beliebigen Artikel zu nennen. Solche Mnemotechniken werden von Gedächtniskünstlern genutzt, die lange Listen mit Namen und Gegenständen wiederholen. Und diese Techniken können auch für Sie hilfreich sein.
Ho/AP Photo
! Dank der Langlebigkeit eindringlicher Bilder erinnern wir uns manchmal in Form »mentaler Schnappschüsse« der schönsten oder der schlimmsten Momente, die wir erlebt haben.
»Assoziieren Sie einfach jede Zahl mit einem Wort, z. B. das Wort ›Tisch‹ mit der Zahl 3.476.029.«
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Wie organisieren wir Informationen, die enkodiert werden sollen? Ziel 7: Erörtern Sie, wie man Chunking und Hierarchien bei der bewussten Verarbeitung nutzt.
Bedeutung und bildliche Vorstellung verbessern unsere Erinnerungsleistung, weil sie uns helfen, die Informationen zu organisieren. Sobald der von Bransford und Johnson angeführte Text über das Wäschewaschen (7 oben) in einen Bedeutungszusammenhang gestellt wird, können wir die Sätze mental in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Mnemotechniken helfen uns, das Material für das spätere Wiederauffinden zu organisieren.
Chunking
Chunking (chunking): Organisieren einzelner Items in handhabbare und/oder vertraute Einheiten; geschieht häufig automatisch.
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. Abb. 9.7. Chunking und Gedächtnis Sobald Information in Form von Einheiten mit Bedeutung wie Buchstaben, Wörter oder Sätze organisiert wird, wird sie leichter abrufbar. (Aus Hintzman 1978)
. Abb. 9.8. Ein Beispiel für Chunking – für alle, die Chinesisch lesen können Können Sie diese Zeichen anschauen und dann reproduzieren? Wenn Sie das können, können Sie Chinesisch lesen
Um eine Vorstellung von der Bedeutung des Organisierens von Informationen zu bekommen, schauen Sie sich einfach ein paar Sekunden lang die 1. Reihe von . Abb. 9.7 an. Schauen Sie dann wieder weg, und versuchen Sie, das Gesehene zu reproduzieren. Es geht nicht, sagen Sie? Aber die 2. Reihe können Sie (als jemand, der deutsch spricht) ganz leicht wiedergeben, obwohl sie nicht weniger komplex ist. Und ganz ähnlich geht es Ihnen wahrscheinlich auch mit Reihe 4, die Sie sich viel leichter merken können als Reihe 3, obwohl beide dieselben Buchstaben enthalten. Und auch die Wortreihen unter Punkt 6 können Sie sich viel leichter einprägen als die Sätze unter Punkt 5, obwohl sie aus denselben Wörtern bestehen. Wie hier also gezeigt wird, können wir uns viel leichter an Informationen erinnern, wenn wir sie zu bedeutungstragenden Einheiten oder »Chunks« organisieren können. Chunking ist etwas so Natürliches, dass wir es als selbstverständlich ansehen. Wenn Sie einigermaßen gut Deutsch verstehen, können Sie die ca. 140 Linien, aus denen die Wörter in Abschnitt 6 von . Abb. 9.7. bestehen, ohne Weiteres perfekt reproduzieren. Jeden, der des Deutschen nicht mächtig ist, würde dies erstaunen. Auf ganz ähnliche Weise verwundert es mich immer wieder, wenn ich Menschen treffe, die Chinesisch beherrschen, und nach einem kurzen Blick auf . Abb. 9.8 alle Striche der chinesischen Zeichen perfekt wiedergeben können. Dasselbe gilt für einen Experten im Schachspielen, der bei einem Spiel 5 Sekunden lang das Brett anschaut und sich dann an die genaue Position der meisten Schachfiguren erinnern kann (Chase u. Simon 1973). Oder denken Sie an einen Basketballspieler, der 4 Sekunden lang einem Spiel zuschaut und dann die genaue Position jedes einzelnen Spielers angeben kann (Allard u. Burnett 1985). ! Wir erinnern uns dann am besten an Informationen, wenn wir ihnen eine persönliche Bedeutung geben können bzw. sie in für uns sinnvolle Einheiten gliedern.
Chunking ist auch hilfreich, wenn es neues Material zu behalten gilt. So besteht z. B. eine Mnemotechnik darin, neue Begriffe in eine vertraute Form zu bringen, indem man die ersten Buchstaben der Wörter, die man sich merken will, als Wörter oder Sätze enkodiert (das Ergebnis nennt man Akronym). Sollten Sie je den Wunsch verspüren, sich die Namen der Planeten unseres Sonnensystems zu merken, dann denken Sie einfach an den Satz »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten« (Merkur –Venus – Erde – Mars – Jupiter – Saturn – Uranus – Neptun – Pluto. Genau genommen stimmt das natürlich nicht mehr, da seit kurzem Pluto astronomisch nicht mehr zu den Planeten gezählt wird. Ein anderes Beispiel: Fällt es Ihnen schwer, die 4 fettlöslichen Vitamine zu behalten? Benutzen Sie als »Eselsbrücke« einfach EDEKA (E, D, K und A). Mit Hilfe von Chunking können Sie auch Ihre Gedächtnisleistung für Zahlenreihen verbessern. Eine schwer zu reproduzierende Reihe von 16 Zahlen ist beispielsweise die folgende: 1–4–9–2–1–7–7–6–1–8–1–2–1–9–4–1, doch lässt sich diese Reihe leicht merken, wenn man Amerikaner ist und sie folgendermaßen gruppiert: 1492–1776–1812–1941. Für die deutsche Geschichte könnte eine ähnliche Zahlenreihe lauten: 1517–1648–1933–1989 (sofern man die Daten der Reformation, des Westfälischen Friedens, der Machtergreifung der Nationalsozialisten und des Mauerfalls parat hat). Nach über 200 Übungsstunden im Labor von
393 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen
Ericsson u. Chase (1982) gelang es 2 Studenten, ihre Gedächtnisspanne von den normalen 7 Ziffern auf über 80 auszuweiten. In einer anderen Untersuchung hörte der Student Dario Donatelli, wie der Versuchsleiter mit monotoner Stimme und in einem gleichmäßigen Zeitabstand von jeweils 1 Ziffer pro Sekunde folgende Zahlenreihe las: 1518593765502157841665850612094885686 772731418186105462974801294974965928. Donatelli bewegte sich nicht, solange er die Zahlen lernte, doch dann wurde er quicklebendig. Er flüsterte Zahlen, rieb sich das Kinn, klopfte mit den Füßen auf den Boden, rechnete mit den Fingern und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Okay«, kündete er etwa 2 Minuten später an. »Die erste Gruppe ist 1518. Dann 5937 …« Er wiederholte alle 73 Ziffern und zwar jeweils in Dreier- oder Vierergruppen. Wie konnte er das schaffen? Durch erhöhte Kapazität seines Kurzzeitgedächtnisses? Nein. Als man ihn bat, Buchstaben zu erinnern, fiel Donatelli auf die normale Kapazität von 7 Items zurück. Doch für das Ziffernchunking hatte er eine raffinierte Strategie entwickelt. »Die erste Gruppe war eine 3-Meilen-Zeit«, sagte der Langstreckenläufer Donatelli, der schon durch die gesamten USA gelaufen war. »Die zweite Gruppe war eine 10-Meilen-Zeit, dann eine Meile, dann eine halbe Meile. Eine 2-Meilen-Zeit. Eine Altersangabe … 2-Meilen-Zeit. Alter. Alter. Alter. 2-Meilen-Zeit …« (Wells 1983).
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Gedächtnisforscher sind übereinstimmend der Meinung, dass die kanadischen Postleitzahlen mit ihrem Wechsel von Zahlen und Buchstaben ganz besonders schwer zu behalten sind (Hebert 2001). A1C 5S7 ließe sich leichter behalten, wenn man es in Buchstaben- und Zahlengruppen organisieren könnte, beispielsweise ACS 157.
Hierarchien Um seine Spitzenleistung – 106 Ziffern – zu erreichen, rief Donatelli die Zahlengruppen ab, indem er sie als Hierarchie gruppierte (Waldrop 1987). Zuerst kamen »3 Gruppen mit 4«, könnte er sich vorstellen, und so weiter. Wenn jemand es auf einem bestimmten Gebiet zur Meisterschaft bringt, dann verarbeitet er Informationen nicht nur in Form von Chunks, sondern auch in Hierarchien, die aus einigen umfassenden Konzepten bestehen, die dann unterteilt und nochmals unterteilt werden, bis die Ebene der Fakten erreicht wird. Wir rufen unser Wissen effizienter ab, wenn wir es in eine hierarchische Ordnungsstruktur bringen. Es ist deshalb das Ziel dieses Kapitels, Ihnen nicht nur ein paar grundlegende Fakten über das Gedächtnis beizubringen, sondern auch Strategien aufzuzeigen, wie Sie diese Fakten um allgemeine Prinzipien herum organisieren können (z. B. das Prinzip des Enkodierens) oder um untergeordnete Prinzipien (z. B. automatisches und bewusstes Verarbeiten) oder um noch spezifischere Konzepte (z. B. Bedeutung, bildliche Vorstellung und Ordnungsstruktur) (. Abb. 9.9). Bower et al. (1969) demonstrierten den Nutzen einer hierarchischen Ordnungsstruktur. Sie boten einer Versuchsgruppe Wörter dar, und zwar entweder in zufälliger Reihenfolge oder nach Kategorien gruppiert. Bei den gruppierten Wörtern war die Erinnerungsleistung 2- bis 3-mal besser. Solche Ergebnisse zeigen Ihnen, wie sinnvoll es ist, Ordnung in Ihren Lernstoff zu bringen, indem Sie dem Kapitelvorspann, den Überschriften, den Lernzielen, und Kontrollfragen besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn Sie die Konzepte eines Kapitels beherrschen und sie in den Aufbau des Kapitels einordnen können, sollten Sie sich bei den Tests an all das gut erinnern können. Vorlesungsmitschriften und Notizen mit Überschriften zu versehen, ist gleichfalls eine Art hierarchischer Organisation und könnte sich als hilfreich erweisen.
Bei der Behandlung des Themas Enkodierung bildlicher Vorstellungen hatte ich Ihnen 6 Wörter vorgelegt und Ihnen angekündigt, dass ich Sie später danach fragen würde. An wie viele der 6 Testwörter erinnern Sie sich jetzt noch? Welche dieser erinnerten Wörter sind sehr bildlich? Welche sind weniger bildlich?
. Abb. 9.9. Ordnungsstrukturen nützen dem Gedächtnis Wenn wir Wörter oder Konzepte in hierarchischen Gruppen organisieren, wie wir es mit den Konzepten in diesem Kapitel gezeigt haben, dann erinnern wir uns besser an sie, als wenn sie uns in rein zufälliger Reihenfolge vorgeführt werden
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Lernziele Abschnit 9.2 Enkodieren: Informationen in den Speicher überführen Ziel 3: Beschreiben Sie die Arten von Informationen, die wir automatisch enkodieren. Wir enkodieren unbewusst und automatisch zufällig anfallende Informationen, wie etwa Raum, Zeit und Häufigkeit. Mit Hilfe dieser Form der Verarbeitung registrieren wir auch gut gelernte Informationen, wie etwa Wörter in unserer Muttersprache.
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Ziel 4: Stellen Sie die bewusste Verarbeitung der automatischen Verarbeitung gegenüber, und erörtern Sie den »Next-in-Line«-Effekt, den SpacingEffekt und den seriellen Positionseffekt. Wenn wir Informationen aus unserer Umwelt (Raum, Zeit, Häufigkeit, gut gelerntes Material) aufnehmen, erfolgt die automatische Verarbeitung unbewusst. Bewusste Verarbeitung (Bedeutung, bildliche Vorstellung, Organisation) erfordert die bewusste Aufmerksamkeit und gezielte Anstrengungen (Wiederholen). Der »Next-in-Line«-Effekt besteht darin, dass wir gewöhnlich vergessen (aufgrund einer misslungenen Enkodierung), was die Person vor uns in der Schlange gesagt hat, weil wir uns auf das konzentrieren, was wir sagen werden, wenn wir dran sind. Der Spacing-Effekt besteht darin, dass man Informationen in der Regel leichter behält, wenn man sie im Laufe der Zeit mehrmals übt (eingeteiltes Lernen), als wenn man es in einer langen Sitzung übt (Pauken). Der serielle Positionseffekt ist unsere Tendenz, dass man sich bei einer langen Liste (wie etwa einer Einkaufsliste) an das erste und das letzte Element leichter erinnert als an die dazwischen liegenden Elemente. Ziel 5: Vergleichen Sie die Vorteile der visuellen, auditiven und semantischen Enkodierung beim Erinnern verbaler Informationen, und beschreiben Sie eine Strategie zur Verbesserung des Gedächtnisses, die mit dem Selbstbezugseffekt in Zusammenhang steht. Die visuelle Enkodierung (bildlicher Darstellungen) und die auditive Enkodierung (von Lauten, vor allem Wörtern) sind oberflächlichere Formen der Verarbeitung als die semantische Enkodierung (der Bedeutung). Wir
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verarbeiten verbale Informationen am besten, wenn wir sie semantisch enkodieren, vor allem wenn wir uns des Selbstbezugseffekts bedienen, indem wir die Informationen für uns persönlich relevant machen. Ziel 6: Erklären Sie, wie die Enkodierung unserer Vorstellungswelt dazu beiträgt, etwas mühelos zu verarbeiten, und beschreiben Sie einige Strategien zur Verbesserung des Gedächtnisses, bei denen die visuelle Enkodierung genutzt wird. Die Enkodierung bildlicher Vorstellungen ist hilfreich bei der bewussten Verarbeitung, weil eindringliche Bilder sehr einprägsam sind. Wir erinnern uns gewöhnlich an konkrete Substantive besser als an abstrakte, weil wir z. B. mit »Gorilla« sowohl ein Bild als auch eine Bedeutung assoziieren können, mit »Prozess« jedoch nur die Bedeutung. Viele Mnemotechniken (Gedächtnisstrategien oder -hilfen) beruhen auf der bildlichen Vorstellung. Bei anderen hält man Items im Gedächtnis fest, indem man die visuelle Enkodierung (die Vorstellung einer Reihe eindringlicher Bilder) mit der auditiven Enkodierung (einem einprägsamen Reim) verbindet. Ziel 7: Erörtern Sie, wie man Chunking und Hierarchien bei der bewussten Verarbeitung nutzt. An geordnete Informationen erinnern wir uns besser als an Zufallsdaten; Chunking und Hierarchienbildung sind 2 Methoden, um Informationen zu ordnen. Beim Chunking gruppieren wir Informationen in vertraute, leicht handhabbare Einheiten, wie etwa Wörter in Sätze. Bei Hierarchien verarbeiten wir Informationen, indem wir sie in logische Ebenen einteilen; dabei beginnen wir mit der allgemeinsten Ebene und schreiten zur spezifischsten fort. > Denken Sie weiter: Können Sie sich 3 Möglichkeiten vorstellen, die in diesem Abschnitt angeführten Prinzipien auf Ihre eigenen Lernund Behaltensprozesse anzuwenden?
Speichern: Information aufbewahren
Im Zentrum des Gedächtnisses steht die Speicherung. Wenn Sie sich an etwas erinnern, was Sie erlebt haben, müssen Sie das Erlebte irgendwie gespeichert und dann abgerufen haben. Alles im Langzeitgedächtnis Gespeicherte liegt im Dornröschenschlaf, bis es aufgrund eines Schlüsselreizes rekonstruiert wird. Wie groß ist die Speicherkapazität unseres temporären und die unseres Langzeitgedächtnisses? Lassen Sie uns mit dem Gedächtnisspeicher beginnen, der im Dreistufenmodell der Informationsverarbeitung als Erster erwähnt wird (. Abb. 9.1): das flüchtige sensorische Gedächtnis.
9.3.1 Sensorisches Gedächtnis Ziel 8: Stellen Sie die beiden Formen des sensorischen Gedächtnisses einander gegenüber.
Im Rahmen der Forschungsarbeiten für seine Promotion zeigte Sperling (1960) seinen Versuchspersonen 3 Reihen mit 3 Buchstaben, jede Reihe nur für 1/20 Sekunde (. Abb. 9.10). Unter diesen
395 9.3 · Speichern: Information aufbewahren
Bedingungen war es schwieriger, die Buchstaben zu lesen, als bei Blitzlicht, und die Versuchspersonen konnten sich kaum an die Hälfte der Buchstaben erinnern. Hatten die Versuchsteilnehmer nicht genug Zeit, einen Blick auf die Buchstaben zu werfen? Nein, denn Sperling demonstrierte sehr eindrucksvoll, dass die Teilnehmer auch bei einer Darbietungsgeschwindigkeit, die kürzer war als ein Blitzlicht, die Buchstaben sehen und sich an sie erinnern konnten, allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Statt seine Teilnehmer zu bitten, sich an alle 9 Buchstaben auf einmal zu erinnern, ließ er unmittelbar nach dem Aufscheinen der Buchstaben einen hohen, mittleren oder tiefen Ton erklingen. Dieser Schlüsselreiz brachte die Teilnehmer dazu, jeweils nur die Buchstaben der oberen, mittleren oder unteren Reihe zu reproduzieren. Nun entging ihnen kaum einmal ein Buchstabe. So konnte nachgewiesen werden, dass alle 9 Buchstaben einen Augenblick lang erinnert werden. Sperlings Experiment zeigte, dass wir über ein flüchtiges fotografisches Gedächtnis verfügen, ikonisches Gedächtnis oder visuelles Ultrakurzzeitgedächtnis genannt. Einen Augenblick lang registrieren unsere Augen das genaue Abbild einer Szene, und wir können uns an jede Einzelheit mit erstaunlicher Genauigkeit erinnern – aber nur für einige wenige Zehntelsekunden. Verzögerte Sperling das Tonsignal um mehr als eine halbe Sekunde, dann war die ikonische Erinnerung verschwunden, und die Versuchsteilnehmer konnten sich wieder nur an höchstens die Hälfte der Buchstaben erinnern. Ihr visueller Bildschirm wird sehr schnell wieder grau, damit neue Bilder die alten überlagern können. Wir haben auch ein einwandfreies, wenn auch flüchtiges sensorisches Gedächtnis für auditive Reize, das Echogedächtnis oder auditive Ultrakurzzeitgedächtnis (Cowan 1988; Lu et al. 1992). Ein auditives Echo scheint 3 oder 4 Sekunden lang in der Luft zu hängen. Stellen Sie sich vor, Sie sind mitten in einer Unterhaltung, und Ihre Aufmerksamkeit schweift zum Fernseher ab. Wenn Ihr leicht verärgerter Gesprächspartner dann Ihre Aufmerksamkeit testet und fragt: »Was habe ich gerade gesagt?«, können Sie die letzten paar Wörter aus der Echokammer Ihres Gedächtnisses wieder hervorholen.
9.3.2 Arbeitsgedächtnis Ziel 9: Beschreiben Sie die Dauerhaftigkeit und die Arbeitskapazität des Kurzzeitgedächtnisses.
Von der riesigen Datenmenge, die das sensorische Gedächtnis registriert, beleuchten wir ein paar Informationen mit dem Blitzlicht unserer Aufmerksamkeit. Wir rufen auch Informationen aus dem Langzeitspeicher ab und lassen sie direkt auf dem inneren »Bildschirm« erscheinen. Wenn wir aber diese Informationen nicht mit Bedeutung anreichern und enkodieren oder sie wiederholen, dann verschwinden sie schnell wieder. Während Ihre Finger den Weg vom Telefonbuch zum Telefon zurücklegen, kann die Erinnerung an die Nummer wieder verloren gehen. Peterson u. Peterson (1959) wollten wissen, wie schnell eine Kurzzeiterinnerung verschwindet, und baten deshalb Versuchspersonen, sich Buchstabengruppen aus 3 Konsonanten (z. B. CHJ) zu merken. Um Übungseffekte auszuschließen, forderten sie die Teilnehmer auf, in Dreiergruppen von 100 an rückwärts zu zählen. Nach 3 Sekunden erinnerten sich die Teilnehmer nur noch an die Hälfte der Buchstaben, nach 12 Sekunden gab es kaum noch eine Erinnerung (. Abb. 9.11). Ohne aktive Verarbeitung haben Kurzzeiterinnerungen nur eine begrenzte Lebensdauer. Nicht nur die Behaltenszeit des Kurzzeitgedächtnisses ist begrenzt, sondern auch seine Aufnahmekapazität. Wie bereits vorher angeführt, speichert das Kurzzeitgedächtnis üblicherweise nur 7 Informationseinheiten (2 mehr oder weniger können vorkommen). Miller (1956) erhob diese Speicherkapazität zur »magischen Zahl 7« (plus/minus 2). Als in den USA einige Telefongesellschaften verlangten,
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. Abb. 9.10. Ikonisches Gedächtnis Als George Sperling eine Buchstabengruppe (ähnlich der hier abgebildeten) 1/20 Sekunde lang aufblitzen ließ, konnten die Versuchsteilnehmer nur etwa die Hälfte der Buchstaben reproduzieren. Wurden sie jedoch mit einem Signal aufgefordert, sich an eine bestimmte Zeile zu erinnern, sofort nachdem die Buchstaben verschwunden waren, schafften sie die Aufgabe mit fast perfekter Präzision
Ikonisches Gedächtnis (iconic memory): kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis für visuelle Eindrücke, ähnlich wie ein Schnappschuss oder ein Bild, das nur wenige Zehntelsekunden lang erinnert werden kann.
Echogedächtnis (echoic memory): kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis für akustische Reize; wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, können Wörter oder Geräusche noch in einem Zeitfenster von 3 oder 4 Sekunden erinnert werden.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
dass zusätzlich zur (7-stelligen) Telefonnummer des Teilnehmers eine 3-stellige Vorwahlziffer für den Bereich gewählt werden müsse, durfte es deshalb nicht verwundern, dass viele Menschen berichteten, sie hätten Probleme damit, sich die eben aus dem Telefonbuch herausgesuchte Nummer zu merken. Bei Zahlen (wie bei Telefonnummern) ist unser Kurzzeitgedächtnis ein kleines bisschen besser als bei Buchstaben, die manchmal ähnlich klingen. Es ist auch ein wenig leistungsfähiger bei dem, was wir hören, als bei dem, was wir sehen. Sowohl Kinder als auch Erwachsene haben eine Kurzzeitgedächtniskapazität für etwa so viele Wörter, wie sie in 2 Sekunden aussprechen können (Cowan 1994; Hulme u. Tordoff 1989). Dabei spielt das Rehearsal, die Wiederholung des Gehörten oder Gesehenen eine Rolle: Mit Informations-Chunks (also in bedeutungsvolle Gruppen organisierte Buchstaben wie ABC, BBC, FBI, BVG, ARD, SPD) und ohne Wiederholung behält der Durchschnittserwachsene nur etwa 4 Chunks im Kurzzeitgedächtnis (Cowan 2001). Auch wenn man eine Zufallsfolge von Ziffern hört und das Wiederholen dadurch verhindert wird, dass man zugleich die ganze Zeit »der der der« sagen muss, sinkt die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf etwa 4 Items ab. . Abb. 9.11. Zerfall der Kurzzeiterinnerung Verbale Information kann schnell vergessen werden, wenn sie nicht wiederholt oder geübt wird. (Aus Peterson u. Peterson 1959)
! Grundsätzlich gilt: Wir können zu jedem Zeitpunkt nur eine sehr begrenzte Informationsmenge bewusst verarbeiten.
9.3.3 Langzeitgedächtnis Ziel 10: Beschreiben Sie die Kapazität und die Dauerhaftigkeit des Langzeitgedächtnisses.
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In Arthur Conan Doyles Erzählung »Eine Studie in Scharlachrot« vertritt Sherlock Holmes eine beliebte Theorie über die Kapazität des Gedächtnisses:
Nordamerikanischer Tannenhäher Bei den Tieren wäre der Anwärter auf das beste Erinnerungsvermögen ein simples Vogelhirn: der nordamerikanische Tannenhäher, der im Winter und im zeitigen Frühjahr bis zu 6000 Verstecke mit vergrabenen Pinienkernen lokalisieren kann (Shettleworth 1993)
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Ich schätze, das menschliche Gehirn ist ursprünglich so etwas Ähnliches wie eine kleine leere Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln einrichten muss. … Man sollte nicht den Irrtum begehen, zu glauben, dieser kleine Raum habe Gummiwände und ließe sich beliebig ausdehnen. Glauben Sie mir: Der Zeitpunkt kommt, wo Sie für jeden weiteren Wissensbrocken, den Sie erwerben, etwas vergessen, was Sie vorher wussten.
Aber im Gegensatz zu Holmes’ Vermutung ist die Speicherkapazität für Langzeiterinnerungen quasi unbegrenzt. Nach einer vorsichtigen Schätzung enthält das Gedächtnis eines durchschnittlichen Erwachsenen etwa 1 Mrd. Informationseinheiten, und in seiner Speicherkapazität lässt sich wahrscheinlich das Tausend- oder Millionenfache oder mehr unterbringen (Landauer 1986). Bei der gegebenen Anzahl von Synapsen im Gehirn schätzt eine Gruppe von Computerentwicklern, dass »die Speicherkapazität aller Computer auf der Erde weitaus geringer ist als die eines einzelnen Gehirns« (Wang et al. 2003). Obwohl selbst ein einziger Laptop in seiner Kapazität unser Gehirn beim wörtlichen Erinnern eines Texts übertrifft (wie war das mit der Definition der negativen Verstärkung?), so ist doch eines sicher: Unser Gehirn ist nicht, wie Sherlock Holmes annahm, eine Dachkammer, auf der man nur noch etwas Neues unterbringen kann, wenn man vorher etwas Altes wegwirft.
397 9.3 · Speichern: Information aufbewahren
. Tabelle 9.1. Rekorde bei der World Memory Championship (Weltmeisterschaft der Gedächtniskünstler)
Wettbewerb
Beschreibung
Rekord
Geschwindigkeit bei Spielkarten
Kürzeste Zeit beim Einprägen eines gemischten Stapels von 52 Spielkarten
33 Sek.
Spielkarten innerhalb einer Stunde
Die meisten Spielkarten, die man sich innerhalb einer Stunde einprägt (52 Punkte für jeden korrekten Stapel, 26 Punkte, wenn ein Fehler gemacht wurde)
1170 Spielkarten
Geschwindigkeit bei Zahlen
Die meisten Zufallsziffern, die man sich innerhalb von 5 Minuten einprägt
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Namen und Gesichter
Die meisten Vor- und Nachnamen, die man sich innerhalb von 15 Minuten einprägen kann, nachdem sie zusammen mit den Gesichtern dargeboten wurden (1 Punkt für jeden korrekt geschriebenen Vor- oder Nachnamen; 1/2 Punkt für jeden phonetisch korrekten, aber falsch geschriebenen Namen)
167,5 Namen
Binärziffern
Die meisten Binärziffern (101101 etc.), die man sich in 20 Minuten einprägen kann, wenn sie in Zeilen mit 30 Ziffern präsentiert werden
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Aus: usamemoriad.com und worldmemorychampionship.com
Diese Ansicht lässt sich anhand von Menschen, die phänomenale Gedächtnisleistungen vollbrachten, lebhaft illustrieren. Denken Sie etwa an die Tests, mit denen man in den 90er Jahren das Gedächtnis von Rajan Mahadevan überprüfte: Wenn man ihm einen Block von 10 Ziffern der ersten 30.000 Ziffern der Zahl S gab, konnte er nach ein paar Augenblicken, in denen er innerlich nach dem Ausschnitt aus der Ziffernfolge suchte, weitere Ziffern an eben dieser Stelle nennen, und die Zahlen sprudelten nur so heraus (Delaney et al. 1999; Thompson et al. 1993). Er konnte auch 50 zufällig ausgewählte Zahlen wiederholen – sogar rückwärts. Nein, das sei keine genetische Gabe, sagte er, jeder könne das lernen. Doch so viele Merkmale des Menschen sind genetisch bedingt, und da bekannt war, dass Rajans Vater Shakespeares gesammelte Werke auswendig konnte, stellt man sich die Frage, ob er denn damit Recht hat. Wie macht er es also? Wie bei anderen psychologischen Phänomenen untersuchen Wissenschaftler das Gedächtnis, indem sie unterschiedliche Analyseniveaus einsetzen; und dazu gehört auch das biologische Analyseniveau.
9.3.4 Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn Über meine alternde Schwiegermutter konnte ich nur staunen. Sie war Pianistin und Organistin, aber im Alter von 88 Jahren wurde sie blind und konnte keine Noten mehr lesen. Doch kaum saß sie vor einem Tasteninstrument, spielte sie fehlerlos Hunderte von Kirchenliedern, darunter auch solche, an die sie 20 Jahre lang nicht gedacht hatte. Wo hatte ihr Gehirn diese Tausende von Notensequenzen gespeichert? Gedächtnisforscher glaubten eine Zeit lang, durch die Stimulierung des Gehirns während eines chirurgischen Eingriffs könne man den Nachweis liefern, dass unsere gesamte Vergangenheit – nicht nur gut eingeübte Musik – mit allen Einzelheiten »da drin« stecke und nur darauf warte, freigelassen zu werden. Um unerwünschte Effekte bei chirurgischen Eingriffen im Gehirn vorhersagen zu können, stimulierte Penfield (1969) verschiedene Bereiche im Kortex seiner Patienten, während sie hellwach waren. Wenn seine Patienten berichteten, dass sie etwas hörten, etwa »eine Mutter, die ihren kleinen Jungen ruft«, schloss Penfield daraus, dass er lange vergessene Erinnerungen aktiviert hatte, die unauslöschlich ins Gedächtnis eingraviert sind. Die Gedächtnisforscher Loftus u. Loftus (1980) werteten diese berühmten Berichte noch einmal aus und entdeckten, dass solche »Flashbacks« äußerst selten vorkommen und nur bei einer Hand voll von Penfields 1100 Patienten auftraten. Außerdem schienen die Flashbacks erfunden und nicht wiedererlebt worden zu sein. (Die Betreffenden hätten sich an Orte erinnert, die sie nie besucht hatten.)
Nach Berichten der International Herald Tribune soll der Japaner Akira Haraguchi die ersten 100.000 Ziffern der Zahl π korrekt wiedergeben können. Haraguchi soll mit dem Aufsagen der Ziffern am 3. Oktober 2006 um 9 Uhr morgens begonnen haben und war um 1.28 Uhr des nächsten Tages damit fertig.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
»Unser Gedächtnis ist flexibel, Erinnerungen lassen sich überschreiben. Unser Gedächtnis ist wie eine Panoramatafel mit unerschöpflichen Vorräten an Kreide und Wischlappen.« Elizabeth Loftus und Katherine Ketcham (»The Myth of Repressed Memory«, 1994) Die Elektrokrampftherapie, die man zur Behandlung von Depressionen eingesetzt hat, zerstört die Erinnerung an die jüngsten Erlebnisse, lässt jedoch den größten Teil des Gedächtnisses intakt 7 Kap. 17).
Der Psychologe Lashley (1950) lieferte weitere Belege dafür, dass das Gedächtnis nicht an einer einzelnen Stelle lokalisiert ist. Er trainierte Ratten darauf, den Weg durch ein Labyrinth zu finden. Dann schnitt er Teile ihres Kortex heraus und prüfte die Erinnerung der Ratten. Doch ganz gleich, welche feinen Ausschnitte er aus dem Kortex machte, die Ratten hatten immer noch zumindest teilweise eine Erinnerung daran, wie sie durch das Labyrinth laufen mussten. Könnte die physische Erinnerungsspur ihren Ursprung in der beständigen elektrischen Aktivität des Gehirns haben? Wenn das so wäre, müsste ein temporärer Zusammenbruch dieser Aktivität dazu führen, dass die Erinnerung gelöscht wird, so wie bei einer leeren Batterie die Einstellungen im Autoradio gelöscht werden. Gerard (1953) trainierte als Erster Hamster darauf, nach rechts oder nach links zu laufen, um gefüttert zu werden; dann senkte er die Körpertemperatur der Tiere so weit ab, dass die elektrische Aktivität des Gehirns aussetzte. Die Hamster wurden wiederbelebt, ihr Gehirn nahm seine Aktivität wieder auf. Würden sie sich noch daran erinnern, wohin sie laufen mussten? Ja, ihr Langzeitgedächtnis überstand den »Stromausfall«. In einem Kommentar über die Flüchtigkeit von Gedächtnisspuren sagte ein Gedächtnisforscher ironisch: »Ich muss eingestehen, dass Erinnerungen mehr zur spirituellen als zur physischen Realität gehören. Sobald man versucht, sie dingfest zu machen, verwandeln sie sich in Dunst und verschwinden« (Loftus u. Ketcham 1994). Zu wissen, wie unser Gehirn eine ganze Flut von Einzelheiten speichert, die sich mühelos wieder abrufen lassen, »geht über unser Vorstellungsvermögen hinaus«, sagte ein von Ehrfurcht ergriffener Neurowissenschaftler (Doty 1998), In letzter Zeit hat sich die Suche nach der physischen Basis des Gedächtnisses – nach der Art, wie Informationen in Materie verwandelt werden – auf die Synapsen konzentriert.
Synaptische Veränderungen Ziel 11: Erörtern Sie die Veränderungen an den Synapsen, die mit der Herausbildung des Gedächtnisses und der Speicherung dort einhergehen.
Jeff Rotman
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Aplysia Diese kalifornische Meeresschnecke ist ein beliebtes Versuchstier. Wir verdanken ihr wichtige Erkenntnisse über die neuronale Basis von Lernprozessen
»In diesem (neuen) Jahrhundert wird die Biologie des Geistes für die Wissenschaft die gleiche Bedeutung bekommen wie die Biologie der Gene im 20. Jahrhundert.« Eric Kandel (Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Medizin 2000)
Langzeitpotenzierung (long-term potentiation): eine Zunahme des Potenzials einer Synapse, nach einer kurzen, schnellen Stimulierung feuern zu können. Man nimmt an, dass dies die neuronale Grundlage für Lernen und Gedächtnis ist.
Die Neurowissenschaftler haben die Suche nach dem Ort des Gedächtnisses auf die Erforschung von Veränderungen innerhalb einzelner Neuronen sowie zwischen Neuronen ausgeweitet. Der Anfang einer Erinnerung ist ein Impuls, der die Stromkreise des Gehirns durchläuft und dabei auf eine geheimnisvolle Weise dauerhafte neuronale Spuren hinterlässt. An welcher Stelle findet die neuronale Veränderung statt? Was wir bisher wissen, weist auf die Synapsen hin, die Stellen, an denen Nervenzellen mit Hilfe von Neurotransmittern miteinander kommunizieren. Erinnern Sie sich an 7 Kap. 3, in dem ausgeführt wird, wie ein Erlebnis Veränderungen im Netzwerk des Gehirns bewirkt. Kommt es auf einer bestimmten Nervenbahn zu verstärkter Aktivität, bilden sich neue neuronale Verbindungsstellen oder die bisher vorhandenen werden stärker. Kandel u. Schwartz (1982) beobachteten Veränderungen an den Neuronen der kalifornischen Meeresschnecke Aplysia, einem sehr unkomplizierten Geschöpf. Sie verfügt nur über etwa 20.000 Nervenzellen, doch diese sind ungewöhnlich groß und leicht zugänglich. Das macht es möglich, synaptische Veränderungen im Verlauf eines Lernprozesses zu beobachten. In 7 Kap. 8 wurde erwähnt, wie die Meeresschnecke durch Elektroschocks klassisch darauf konditioniert werden kann, ihre Kiemen zurückzuziehen, wenn sie mit Wasser bespritzt wird, so wie ein Soldat, der einen Schock durch Granateneinschlag erlitten hat, schon beim Knacken eines Astes hochspringt. Kandel u. Schwartz beschäftigten sich eingehender mit den neuronalen Verbindungen vor und nach dem Konditionierungsprozess und entdeckten Veränderungen. Im Verlauf des Lernvorgangs schüttet die Schnecke an manchen Synapsen mehr von dem Neurotransmitter Serotonin aus. Dadurch werden diese Synapsen bei der Weiterleitung der Signale effizienter. Die stärkere synaptische Aktivität bewirkt, dass die neuronalen Schaltkreise effizienter werden. Bei Experimenten zeigte sich, dass die rasche Stimulierung gewisser Verbindungen in Gedächtnisschaltkreisen zu einer erhöhten Empfindlichkeit führt, die Stunden oder sogar Wochen anhalten kann. Das präsynaptische Neuron braucht nun weniger Anreiz für die Ausschüttung seines Neurotransmitters, und die Rezeptoren an der präsynaptischen Nervenzelle können sich sogar vermehren (. Abb. 9.12). Die ständige Stärkung des Aktionspotenzials eines Neurons, Langzeitpotenzierung (LTP, »long-term potentiation«) – ein von Lynch (2002) und Kollegen geprägter
b . Abb. 9.12a,b. Verdoppelter Rezeptor Das Bild eines Elektronenmikroskops zeigt, wie sich vor der Langzeitpotenzierung nur ein Rezeptor (grau) zum aussendenden Neuron hin streckt (a), während es nach der Langzeitpotenzierung (b) zwei Rezeptoren sind. Eine Verdopplung der Rezeptoren bedeutet, dass das postsynaptische Neuron eine stärker ausgeprägte Sensibilität entwickelt hat, um das Vorhandensein der Neurotransmittermoleküle zu entdecken, die vom präsynaptischen Neuron freigesetzt werden können (Aus Toni et al. 1999)
Orban/Segretain/Forestier/Sygma/Corbis
Begriff – genannt, stellt die neuronale Grundlage des Lernens und Behaltens von Assoziationen dar. Wir wissen heute, dass gewisse Medikamente, die eine blockierende Wirkung auf die LTP haben, Lernvorgänge stören (Lynch u. Stäubli 1991). Genveränderte Mäuse, denen ein bestimmtes, für die LTP unabdingbares Enzym abgezüchtet wurde, lernen nicht, den Weg aus dem Labyrinth zu finden (Silva et al. 1992). Und wenn man a Ratten ein Medikament verabreicht, das die LTP verstärkt, dann lernen sie den Weg durch das Labyrinth mit nur halb so vielen Fehlern wie sonst üblich (Service 1994). Kandel, Lynch und mehrere andere, die die Biologie des Gedächtnisses erforschten, haben dazu beigetragen, pharmazeutische Firmen zu gründen, die in Konkurrenz miteinander treten, Medikamente zu einer bedeutsamen Verbesserung des Gedächtnisses zu entwickeln und zu testen (Economist 2004; Marshall 2004). Mindestens 40 »kognitive Verbesserer« sind gegenwärtig in einer Entwicklungsphase oder werden klinisch überprüft. Ihre Zielgruppe sind Millionen von Menschen mit der Alzheimer-Krankheit und weitere Millionen, die gerne in Bezug auf den altersbedingten Gedächtnisabbau die Uhr zurückdrehen würden. Hier entsteht ein Markt, aus dem sich riesige Gewinne ergeben werden. Ein Ansatz besteht darin, Medikamente zu entwickeln, die die Produktion des Proteins CREB ansteigen lassen, mit dem man bestimmte Gene an- oder abschalten kann. Rufen Sie sich Folgendes in Erinnerung: Gene kodieren die Produktion von Proteinmolekülen. Bei wiederholtem Feuern der Neuronen produzieren die Gene einer Nervenzelle Proteine, die die Synapse stärken; dies ermöglicht es, Langzeiterinnerungen zu bilden (Fields 2005). Wenn die CREB-Produktion ansteigt, könnte dies zu einer verstärkten Produktion von Proteinen führen, die dazu beitragen, dass die Synapsen eine neue Form annehmen und eine Kurzzeiterinnerung in eine Langzeiterinnerung umwandeln. Hinterkiemerschnecken, Mäuse und Fruchtfliegen mit verstärkter CREB-Produktion wiesen ein besseres Gedächtnis auf als andere Tiere. Ein weiterer Ansatz besteht darin, Medikamente zu entwickeln, die die Glutamat-Konzentration ansteigen lassen; Glutamat ist ein Neurotransmitter des Gehirns, der die Kommunikation unter den Synapsen fördert (LTP). Ob derartige Medikamente das Gedächtnis verbessern, ohne schlimme Nebenwirkungen zu haben und ohne unser Denken mit trivialen Dingen zu überladen, die wir besser vergessen hätten, bleibt abzuwarten. In der Zwischenzeit gibt es für Studierende bereits ein wirksames, sicheres und preiswertes Mittel zur Verbesserung des Gedächtnisses: studieren und ausreichend schlafen (7 Kap. 7). Ist es erst einmal zur LTP gekommen, kann auch ein Stromstoß, der durch das Gehirn geleitet wird, alte Erinnerungen nicht auslöschen, wohl aber die vor ganz kurzer Zeit gemachten Erinnerungen. Dies sind jedenfalls die Ergebnisse, die man bei Versuchen mit Labortieren und bei Patienten mit Depression fand, die mit Elektrokrampftherapie behandelt wurden. Ein Schlag auf den Kopf kann die gleiche Wirkung haben. Wie Schlafende, die sich nicht erinnern können, was sie gehört haben, bevor sie das Bewusstsein für ihre Umgebung verloren, haben Boxer und FootballSpieler, die vorübergehend k.o. waren, im typischen Fall keine Erinnerung an Ereignisse direkt vor dem K.o. (Yarnell u. Lynch 1970). Den Informationen im Kurzzeitgedächtnis blieb vor dem Schlag nicht genug Zeit, um im Langzeitgedächtnis gefestigt zu werden.
Stresshormone und Gedächtnis Ziel 12: Erörtern Sie, wie Stresshormone das Gedächtnis beeinflussen.
Die Stresshormone, die Menschen und Tiere produzieren, wenn sie erregt oder gestresst sind, führen dazu, dass mehr Glukose verfügbar ist, um die Hirnaktivität zu beschleunigen; dies signalisiert dem Gehirn, dass etwas Wichtiges geschehen ist. Gleichzeitig verstärken die Amygdalae (zwei Verarbeitungscluster im limbischen System) die Aktivität der Hirnareale, die das Gedächtnis bilden (Dolcos et al. 2004; Hamann et al. 2002). Und was ist das Ergebnis? Solche Ereignisse werden möglicherweise dem Gehirn eingebrannt, während gleichzeitig die Erinnerung an neutrale Ereignisse unterbrochen wird (Birnbaum et al. 2004; Strange u. Dolan 2004). Der entscheidende Punkt besteht nach McGaugh (1994, 2003) darin, dass »stärkere emotionale Erfahrungen zu stärkeren, zuverlässigeren Erinnerungen führen«. Nach traumatischen Er-
9 N. Toni et al., Nature, 402, Nov. 25, 1999. Eigentum von Dominique Muller
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Unterbrochene Festigung der Erinnerung Nachdem er bei dem Unfall, bei dem Prinzessin Diana getötet wurde, eine Gehirnerschütterung erlitten hatte, hatte ihr Leibwächter Trevor ReesJones keine Erinnerung mehr an den Unfall und die Minuten davor (Rico et al. 2003)
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Mast Irham/epa/Corbis
lebnissen – ein Angriff aus dem Hinterhalt im Krieg, ein Feuer im Haus, eine Vergewaltigung – können sich lebendige Erinnerungen an das grauenhafte Ereignis immer wieder aufdrängen. Es ist so, als hätten sie sich eingebrannt. Umgekehrt gehen schwächere Emotionen auch mit schwächeren Erinnerungen einher. Verabreicht man einem Menschen ein Medikament, das die Wirkung der Stresshormone ausschaltet, hat er anschließend Schwierigkeiten, sich an die Einzelheiten einer aufregenden Geschichte zu erinnern (Cahill et al. 1994). Dieser Zusammenhang wird von denjenigen positiv bewertet, die daran arbeiten, ein optimales Medikament zu entwickeln, das immer wieder ins Bewusstsein dringende Erinnerungen abschwächen könnte, wenn man den Betreffenden das Medikament nach einem traumatischen Erlebnis gibt. ! Die hormonellen Veränderungen, die durch Emotionen hervorgerufen werden, sind eine Erklärung dafür, dass wir uns lange an aufregende oder schockierende Ereignisse erinnern. Starker Stress prägt sich im Gedächtnis ein Ausgesprochen stressreiche Ereignisse wie der tragische Tsunami, der Ende 2004 über Südostasien hinwegfegte, kann für diejenigen, die ihn erlebten, zu einem unauslöschlichen Bestandteil der Erinnerungen werden
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Noch 1 1/2 Jahre nach dem Erdbeben von San Francisco 1989 erinnerten sich die Menschen, die das Erdbeben erlebt hatten, deutlich, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten und was sie gerade gemacht hatten (so wie sie es 1–2 Tage nach dem Beben auf Band gesprochen hatten). Die Erinnerung von Menschen, die das Erdbeben nicht direkt miterlebt haben, an die Umstände, unter denen sie von dem Beben gehört hatten, enthielten dagegen durchaus Irrtümer (Neisser et al. 1991; Palmer et al. 1991). (Ein zweiter wichtiger Grund für die Unauslöschlichkeit der Erinnerung an dramatische Ereignisse ist die Tatsache, dass wir sie immer wieder neu durchleben und wiederholen, so wie die meisten Menschen, die das Erdbeben miterlebten, ihre Geschichte tausendmal erzählt haben.) Es gibt jedoch auch Grenzen für die durch Stress verbesserte Erinnerung. Wie in 7 Kap. 16 ausgeführt, kann länger anhaltender Stress – Kampfhandlungen oder Missbrauch über einen längeren Zeitraum hinweg – manchmal wie Säure wirken: Neuronale Verbindungen werden zerstört, und eine bestimmte Hirnregion, der für die Speicherung von Erinnerungen unentbehrliche Hippocampus, schrumpft. Es kann auch Folgendes geschehen: Eine plötzliche Überflutung mit Stresshormonen kann ältere Erinnerungen blockieren. Das gilt für Ratten, die versuchen, den Weg zu einem verborgenen Ziel zu finden (de Quervain et al. 1998). Und es gilt für die unter uns, die plötzlich meinen, ihr Gehirn sei ganz leer, wenn sie vor einem größeren Publikum sprechen sollen.
Die Speicherung impliziter und expliziter Erinnerungen Ziel 13: Unterscheiden Sie zwischen dem impliziten und dem expliziten Gedächtnis, und geben Sie die Gehirnstruktur an, die damit hauptsächlich in Verbindung gebracht wird.
Amnesie (amnesia): Gedächtnisverlust.
Etwas, was künftig erinnert werden soll, gelangt durch die Sinne in den Kortex und wandert dann auf verschlungenen Pfaden in die Tiefe des Gehirns. Wo es dann genau landet, hängt von der Art der Information ab; dies wird vor allem an Menschen deutlich, die an einer Form von Amnesie leiden, die die Entstehung neuer Erinnerungen verhindert. Der Neurologe Sacks (1985, S. 26–27) beschreibt einen solchen Patienten: Jimmy, der eine Hirnverletzung erlitten hatte. Jimmy hatte keine Erinnerung an die Zeit nach seiner Verletzung, also auch kein Gefühl dafür, dass die Zeit vergeht. Als man ihn 1975 nach dem Namen des Präsidenten der USA fragte, antwortete er: »FDR (Franklin D. Roosevelt) ist tot, Truman ist am Steuer.« Sacks zeigte Jimmy Fotos aus dem National Geographic. »Was ist das?«, fragte er. »Der Mond«, antwortete Jimmy. »Nein«, erwiderte Sacks, »Es ist ein Foto von der Erde, das vom Mond aus aufgenommen wurde.« »Sie machen Witze! Dann müsste man doch einen Fotoapparat da raufgebracht haben.« »Klar.« »Zum Teufel, was für ein blöder Witz! Wie sollte das denn gehen!« Jimmys Staunen war das Staunen eines intelligenten jungen Mannes, der jetzt 60 Jahre alt war und voll Verwunderung auf seine Reise zurück in die Zukunft blickte. Testet man Menschen mit dieser seltenen Störung eingehend, zeigen sich noch merkwürdigere Dinge: Obgleich sie sich an Fakten aus der letzten Zeit oder an etwas, was sie vor Kurzem getan haben, nicht erinnern können, sind sie doch imstande zu lernen. Zeigt man ihnen Figuren in Bildern, die
401 9.3 · Speichern: Information aufbewahren
. Abb. 9.13. Subsysteme des Gedächtnisses Wir verarbeiten und speichern unsere expliziten und impliziten Erinnerungen getrennt. Wir können das explizite Gedächtnis einbüßen (und unter Amnesie leiden) und trotzdem implizite Erinnerungen an Dinge haben, die man nicht bewusst abrufen kann
schwer zu entdecken sind (aus der Serie »Wo ist Waldo?«), dann können sie sie später schnell wieder finden. Sie können lernen, Spiegelschrift zu lesen oder ein Puzzle zusammenzusetzen, sogar komplizierte Handgriffe im Rahmen einer Arbeit (Schacter 1992, 1996; Xu u. Corkin 2001). Sie können klassisch konditioniert werden. Doch all das tun sie ohne ein Bewusstsein dafür, etwas gelernt zu haben. In mancher Hinsicht lassen sich die Opfer dieser Amnesie mit Menschen vergleichen, die nach einer Hirnverletzung nicht mehr bewusst Gesichter erkennen können, deren physiologische Reaktionen jedoch auf ein implizites (unbewusstes) Wiedererkennen hindeuten. Ihr Verhalten stellt die Vorstellung in Frage, das Gedächtnis sei ein einzelnes, einheitliches, bewusstes System. Stattdessen scheinen wir über mehrere Gedächtnissysteme zu verfügen, die hintereinander geschaltet sind (. Abb. 9.13). Was immer bei diesen Amnestikern die bewusste Erinnerung zerstört hat, es hat ihre unbewusste Lernfähigkeit intakt gelassen. Sie können lernen, wie man etwas macht; hier handelt es sich um das implizite Gedächtnis (prozedurale Gedächtnis). Aber sie wissen vielleicht nicht und können es auch nicht erklären, dass sie wissen. Sie haben also kein explizites Gedächtnis (deklaratives Gedächtnis). Haben Amnestiker beispielsweise eine Geschichte einmal gelesen, dann lesen sie sie beim zweiten Mal schneller: ein Beleg für implizite Erinnerung. Doch eine explizite Erinnerung mag es in diesem Fall nicht geben; denn die Patienten können sich nicht daran erinnern, die Geschichte schon einmal vor Augen gehabt zu haben. Zeigt man ihnen wiederholt das Wort Parfüm, werden sie sich nicht daran erinnern, es gesehen zu haben, Wenn sie jedoch nach dem ersten Wort gefragt werden, das ihnen als Reaktion auf die Buchstaben par in den Sinn kommt, sagen sie Parfüm und zeigen so freudig, dass sie etwas gelernt haben. Mit Hilfe derartiger Aufgaben zeigen auch Alzheimer-Patienten, deren explizite Erinnerungen für Menschen und Ereignisse verloren gegangen sind, eine Fähigkeit, neue implizite Erinnerungen zu bilden (Lustig u. Buckner 2004). Sie behalten, was sie neu gelernt haben, aber sie können es nicht explizit abrufen.
Implizites Gedächtnis (implicit memory): Behalten unabhängig von bewusster Erinnerung (auch als prozedurales Gedächtnis bezeichnet). Explizites Gedächtnis (explicit memory): Gedächtnis für Fakten und Erfahrungen, die man bewusst wissen und »deklarieren« kann (auch als deklaratives Gedächtnis bezeichnet).
Hippocampus (hippocampus): neuronales Zentrum im limbischen System, das an der Verarbeitung expliziter Erinnerungen für die endgültige Speicherung beteiligt ist.]
Hippocampus Eine Möglichkeit herauszufinden, wie das Gedächtnis arbeitet, besteht darin, Fehlfunktionen zu untersuchen. So regen uns diese bemerkenswerten Geschichten zu Fragen an: Sind an den expliziten und impliziten Gedächtnissystemen getrennte Hirnregionen beteiligt? Untersuchungen des aktiven Gehirns mit Hilfe bildgebender Verfahren (Schichtaufnahmen) und die Autopsie von Amnestikern zeigen, dass neue explizite Erinnerungen wie Namen, Bilder oder Ereignisse zur Speicherung durch den Hippocampus, ein neuronales Zentrum im limbischen System, geleitet werden (. Abb. 9.14). Wenn man anhand von Schichtaufnahmen das Gehirn dabei beobachten kann, wie es eine Erinnerung bildet, dann zeigt sich Aktivität im Hippocampus und ebenso auch in gewissen Bereichen der Frontallappen (Wagner et al. 1998). Bei einer PET-Schichtaufnahme leuchtet der Hippocampus auch auf, wenn Wörter reproduziert werden (wenn also das explizite Gedächtnis genutzt wird) (Squire 1992). Eine Schädigung des Hippocampus zerstört einige Arten von Erinnerungen. Meisen und andere Vogelarten legen Hunderte von Vorratsplätzen an und kehren Monate später zu diesen nicht markierten Verstecken zurück, allerdings tun sie das nicht, wenn ihnen der Hippocampus entfernt wurde (Sherry u. Vaccarino 1989). Wie der Kortex insgesamt, ist auch der Hippocampus laterali-
. Abb. 9.14. Hippocampus Explizite Erinnerungen an Fakten und Ereignisse werden im Hippocampus verarbeitet und zur Speicherung an andere Hirnareale weitergeleitet
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Kapitel 9 · Gedächtnis
»Die Technologien [zur Anfertigung von Schichtaufnahmen des Gehirns] sind in gleicher Weise eine Revolution für die Erforschung des Gehirns und des Mentalen, wie es das Fernrohr für die Erforschung des Himmels war.« Endel Tulving (1996)
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siert (d. h. es gibt 2 Hippocampi, die jeweils direkt über dem Ohr etwa 4 cm tief im Gehirn liegen). Eine Verletzung des linken oder des rechten Hippocampus scheint unterschiedliche Folgen zu haben. Patienten mit einer Verletzung des linken Hippocampus können sich schlecht an verbale Information erinnern, doch haben sie keine Probleme mit der Erinnerung an visuelle Informationen oder an Orte. Patienten mit einer Verletzung des rechten Hippocampus haben genau die umgekehrten Probleme (Schacter 1996). Die neuere Forschung beschäftigt sich auch im Einzelnen mit den Funktionen der verschiedenen Unterbereiche des Hippocampus. Ein Teil ist aktiv, wenn Menschen lernen, Namen mit Gesichtern zu assoziieren (Zeineh et al. 2003). Ein anderer Teil ist aktiv, wenn Gedächtniskünstler räumliche Mnemotechniken verwenden (Maguire et al. 2003b). Bei einem Londoner Taxifahrer wird das hintere Areal, das räumliche Erinnerungen verarbeitet, größer, je länger er durch das Labyrinth der Straßen in der Stadt gefahren ist (Maguire et al. 2003a). Affen und Menschen, die aufgrund einer Operation oder einer Krankheit keinen Hippocampus mehr haben, verlieren meist auch die Erinnerung an das, was sie in den vorangegangenen Monaten gelernt haben; doch ihre älteren Erinnerungen bleiben intakt (Bayley et al. 2005; McGaugh 2000). Je länger der Hippocampus und seine Nervenbahnen zum Kortex nach dem Lernen unversehrt blieben, desto geringer ist der Gedächtnisausfall (Remondes u. Schuman 2004). Offenbar dient der Hippocampus als eine Art Ladestation, in der das Gehirn die Elemente einer erinnerten Episode registriert und zeitweise speichert: die damit verbundenen Gerüche, Gefühle, Geräusche und den Ort. Doch später kommen die Erinnerungen – so ähnlich wie ich ältere Ordner in den Keller bringe – zur Speicherung an eine andere Stelle. Der Hippocampus ist aktiv während des »slow-wave«Schlafs, wenn die Erinnerungen verarbeitet und zum späteren Abruf abgelegt werden. Je größer die Aktivität des Hippocampus während des Schlafs nach einer Trainingserfahrung ist, desto besser ist am nächsten Tag die Erinnerung daran (Peigneux et al. 2004). Der »Bibliothekar« unserer »Erinnerungsbibliothek« weist verschiedene Informationen verschiedenen Bereichen zu. Bei Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren zeigt sich, dass die mentalen Bilder unserer früheren Erlebnisse, sobald sie gespeichert sind, verschiedene Bereiche der Frontal- und Temporallappen aktivieren (Fink et al. 1996; Gabrieli et al. 1996; Markowitsch 1995). Wenn man eine Telefonnummer heraussucht und im Arbeitsgedächtnis behält, aktiviert dies einen Bereich im linken frontalen Kortex. Doch wenn man sich einen Vorfall auf einer Party ins Gedächtnis zurückrufen würde, würde dies wahrscheinlich eher einen Bereich in der rechten Hemisphäre aktivieren. ! Unser Gedächtnis ist nicht auf eine einzige Stelle im Gehirn beschränkt. Viele Hirnregionen sind beteiligt, wenn wir verschiedene Arten von Information enkodieren, speichern oder abrufen.
Um sich noch einmal an der Erinnerung an die erste erfolgreiche Aufführung zu erfreuen, braucht man den Dirigenten einer mentalen Symphonie, der Erinnerungsschnipsel aus verschiedenen kortikalen Speichern abruft und sie mit den emotionalen Assoziationen verbindet, die von der Amygdala geliefert werden. Amnestiker können fragmentierte Teile einer Erinnerung behalten – den Anblick, Ton, Geruch, Objekte, Menschen, Handlungen und Emotionen. Aber die Verbindungen, die es den Patienten ermöglichen würden, die Fragmente wieder zu einer expliziten Erinnerung an ein Ereignis zusammenzusetzen, sind möglicherweise verloren gegangen.
Zerebellum (Kleinhirn) Obwohl der Hippocampus an der temporären Verarbeitung expliziter Erinnerungen beteiligt ist, könnten Sie auch ohne ihn noch Erinnerungen an Fertigkeiten und konditionierte Assoziationen speichern. Implizite Erinnerungen erfordern weniger Verbindungen zwischen den kortikalen Speicherregionen; deshalb können Menschen mit einer Schädigung des Hippocampus diese Erinnerungen behalten (Paller 2004). Le Doux (1996) erzählt eine Geschichte über eine Patientin mit einer Hirnverletzung, deren Amnesie bewirkte, dass sie ihren Arzt nicht erkannte, der ihr tagtäglich die Hand schüttelte und sich vorstellte. Eines Tages griff sie nach seiner Hand, zog aber ihre eigene Hand hastig zurück, denn der Arzt hatte sie mit einer Reißzwecke gepiekst, die in seiner Handfläche verborgen war. Als er sich beim nächsten Besuch wieder vorstellen wollte, weigerte sie sich, seine Hand zu ergreifen, konnte allerdings nicht erklären, warum. Nach dieser klassischen Konditionierung konnte sie seine Hand einfach nicht mehr schütteln.
403 9.3 · Speichern: Information aufbewahren
Das Kleinhirn oder Zerebellum, die Hirnregion, die sich vom hinteren Teil des Hirnstamms aus ausdehnt, spielt eine Schlüsselrolle bei der Bildung und Speicherung impliziter Erinnerungen, die durch klassische Konditionierung geschaffen wurden. Menschen mit einer Verletzung des Zerebellums sind außerstande, bestimmte konditionierte Reflexe zu entwickeln, wie etwa einen Ton mit einem bevorstehenden Luftstoß zu assoziieren, und somit in Vorwegnahme des Luftstoßes zu blinzeln (Daum u. Schugens 1996; Green u. Woodruff-Pak 2000). Indem Thompson, Krupa u. Thompson die Funktionsfähigkeit der unterschiedlichen Nervenbahnen im Kortex und im Zerebellum von Kaninchen systematisch unterbrachen, konnten sie zeigen, dass auch Kaninchen eine konditionierte Blinzelreaktion nicht lernen können, wenn das Zerebellum zeitweilig während des Trainings deaktiviert ist (Krupa et al. 1993; Steinmetz 1999). Zur Bildung einer impliziten Erinnerung braucht man das Zerebellum. Unser duales System aus expliziten und impliziten Erinnerungen liefert eine Erklärung für die kindliche Amnesie: Reaktionen und Fertigkeiten, die wir in der Kindheit erlernt haben, reichen weit in die Zukunft hinein, doch als Erwachsene erinnern wir uns (explizit) an nichts aus den ersten 3 Lebensjahren. Wir haben keine bewusste Erinnerung an diesen Zeitraum, weil wir viele Informationen in Wörtern speichern, die ein Kind in der vorsprachlichen Phase noch nicht gelernt hat, und weil zudem der Hippocampus erst als eine der letzten Hirnstrukturen voll ausgereift ist. Lernziele Abschnitt 9.3 Speichern: Information aufbewahren Ziel 8: Stellen Sie die beiden Formen des sensorischen Gedächtnisses einander gegenüber. Wenn Informationen durch die Sinne ins Gedächtnissystem gelangen, registrieren wir visuelle Bilder mit dem ikonischen Gedächtnis, in dem bildliche Vorstellungen nicht länger als wenige Zehntelsekunden Bestand haben und speichern diese Information für eine kurze Zeit. Wir registrieren und speichern Geräusche mit dem Echogedächtnis, in dem Echos auditiver Reize nicht länger als 3 oder 4 Sekunden fortbestehen. Ziel 9: Beschreiben Sie die Dauerhaftigkeit und die Arbeitskapazität des Kurzzeitgedächtnisses. Zu jedem Zeitpunkt können wir uns auf nur etwa 7 Items der Informationen (entweder neue Informationen oder solche, die aus dem Gedächtnis abgerufen wurden) konzentrieren. Ohne Wiederholung verschwinden die Informationen innerhalb von Sekunden aus dem Kurzzeitgedächtnis und werden vergessen. Ziel 10: Beschreiben Sie die Kapazität und die Dauerhaftigkeit des Langzeitgedächtnisses. Die Kapazität zur dauerhaften Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis ist im Wesentlichen unbegrenzt. Ziel 11: Erörtern Sie die Veränderungen an den Synapsen, die mit der Herausbildung des Gedächtnisses und der Speicherung dort einhergehen. Die aktuelle Forschung konzentriert sich auf die gedächtnisbezogenen Veränderungen innerhalb eines einzelnen Neurons und zwischen den Neuronen. In dem Maße, wie durch die Erfahrung die Bahnen zwischen den Neuronen gefestigt werden, übertragen die Synapsen die Signale auf effizientere Weise. Bei einem Vorgang, den man Langzeitpotenzierung (LTP) nennt, setzen die präsynaptischen Neuronen in diesen Bahnen schneller Neurotransmitter frei, und die postsynaptischen Neuronen bilden möglicherweise zusätzliche Rezeptoren; dadurch nimmt ihre Fä-
higkeit zu, die eingehenden Neurotransmitter zu bemerken. LTP scheint die neuronale Grundlage für Lernen und Gedächtnis zu sein. Ziel 12: Erörtern Sie, wie Stresshormone das Gedächtnis beeinflussen. Dadurch, dass Stresshormone die Produktion zusätzlicher Glukose (die die Gehirnaktivität vorantreibt) ermöglichen, signalisieren sie dem Gehirn wichtige Ereignisse. Die Amygdala, eine Struktur im limbischen System, in der Emotionen verarbeitet werden, regt Hirnareale an, die Emotionen verarbeiten. Diese hormonalen Veränderungen, die durch Emotionen ausgelöst werden, können zu unauslöschlichen Erinnerungen führen. Ziel 13: Unterscheiden Sie zwischen dem impliziten und dem expliziten Gedächtnis, und geben Sie die Gehirnstruktur an, die hauptsächlich damit in Verbindung gebracht wird. Wir sind uns unserer impliziten (prozeduralen) Erinnerungen oft nicht bewusst – unserer Erinnerung an unsere eigenen Fertigkeiten und an operant und klassisch konditionierte Reaktionen. Diese Erinnerungen werden teilweise vom Zerebellum in der Nähe des Hirnstamms verarbeitet. Wir rufen unsere expliziten (deklarativen) Erinnerungen – unser Allgemeinwissen, spezielle Fakten und persönlich erlebte Ereignisse – bewusst aus dem Gedächtnis ab. Explizite Erinnerungen werden in diversen Unterregionen des Hippocampus (einem neuronalen Zentrum im Gehirn) verarbeitet und zur Abspeicherung in andere Areale des Gehirns weitergeleitet. Das implizite und das explizite Gedächtnissystem sind voneinander unabhängig. Eine Schädigung des Hippocampus kann die Fähigkeit zerstören, bewusst Erinnerungen abzurufen, ohne dass Fertigkeiten oder klassisch konditionierte Reaktionen zerstört werden. > Denken Sie weiter: Können Sie ein Beispiel dafür nennen, dass Stress Ihnen geholfen hat, sich an etwas zu erinnern? Und ein weiteres Beispiel dafür, dass es Ihnen aufgrund von Stress misslang, eine Erinnerung dauerhaft abzuspeichern?
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Kapitel 9 · Gedächtnis
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Abrufen: Informationen auffinden
Ziel 14: Stellen Sie den Abruf, das Wiedererkennen und Maßnahmen zum erneuten Lernen von Erinnerungen einander gegenüber. Abruf oder aktive, freie Reproduktion (recall): Maß für die Erinnerungsfähigkeit, bei dem die Versuchsperson vorher gelernte Informationen aktiv abrufen muss, etwa beim Ausfüllen eines Lückentexts.
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Spanky’s Yearbook Archive
Seth Poppel/Yearbook archives
Wiedererkennen (recognition): Maß für die Erinnerungsfähigkeit. Wie bei einem MultipleChoice-Test muss die Versuchsperson lediglich Items identifizieren, die sie vorher erlernt hat.
Sich an Vergangenes erinnern Auch wenn Madonna und Brad Pitt nicht berühmt geworden wären, hätten ihre Klassenkameraden aus der High School sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Fotos des Jahrbuchs wiedererkannt
Erneutes Lernen (relearning): Maß für die Erinnerungsfähigkeit, mit dem erfasst wird, wie viel schneller bereits erlerntes Material beim zweiten Mal gelernt wird.
Beim Erinnern geht es nicht nur darum, etwas ins Gedächtnis hineinzubringen (enkodieren) und zu behalten (speichern), sondern auch darum, es wieder abzurufen. Für die meisten Menschen bedeutet Erinnern das Gleiche wie Abruf, nämlich die Fähigkeit, eine Information wiederzufinden, die nicht im aktuellen Bewusstsein vorhanden ist. Für den Psychologen bedeutet Erinnern, dass etwas Gelerntes behalten wurde. Wird also etwas wiedererkannt oder beim zweiten Lerndurchgang schneller gelernt, dann gilt das als Hinweis auf Erinnerung. Die Namen der meisten Ihrer Klassenkameraden aus der Abschlussklasse werden Sie nicht frei reproduzieren können, doch Sie könnten die Fotos im Jahrbuch wiedererkennen und die Namen aus einer Liste den Bildern zuordnen. Bahrick et al. (1975) berichteten, dass Leute, die 25 Jahre zuvor das College abgeschlossen hatten, sich nur an wenige ihrer damaligen Kameraden erinnern (d. h. sie ohne Hinweise nennen) konnten; doch konnten sie 90% der Fotos und der Namen wiedererkennen. Wenn es sich bei Ihnen so verhält wie bei den meisten Studierenden, dann könnte es sein, dass Sie von den 7 Zwergen mehr Namen wiedererkennen, als dass Sie sich durch freie Reproduktion an sie erinnern könnten (Miserandino 1991). Das Tempo, in dem etwas wieder gelernt wird, ist ein Hinweis auf Gedächtnis und Erinnerung. Unsere Geschwindigkeit beim erneuten Lernen kann auch etwas über das Gedächtnis aussagen. Wenn Sie einmal etwas gelernt und es dann vergessen haben, werden Sie es wahrscheinlich in kürzerer Zeit wieder lernen, als Sie ursprünglich zum Lernen benötigt haben. Beim Lernen auf eine Abschlussprüfung oder bei der Wiederbelebung einer Sprache, die Sie in Ihrer Kindheit gesprochen haben, geht das erneute Erlernen müheloser vonstatten. Tests, die das Wiedererkennen oder die für erneutes Lernen benötigte Zeit erfassen, zeigen, dass wir mehr »gespeichert« haben, als wir direkt abrufen können. Beim Wiedererkennen ist unser Gedächtnis erstaunlich flink und umfassend. »Trägt Ihr Freund alte oder neue Sachen?« »Alte.« »Stammt dieser 5-Sekunden-Clip aus einem Film, den Sie gesehen haben?« »Ja.« »Haben Sie diesen Menschen – diese einzigartige Anordnung der Gesichtszüge – schon einmal gesehen?« »Nein.« Ehe der Mund die Antwort auf diese und Tausende ähnlicher Fragen formulieren kann, weiß das Gehirn bereits Bescheid und weiß, dass es etwas weiß.
Unter der Lupe
Abrufen von Passwörtern aus dem Gedächtnis Es gibt etwas, womit Sie häufig zu tun haben und womit Ihre Großeltern nichts zu tun hatten: Passwörter. Um sich in Ihre E-Mail einzuloggen, um Ihre Mailbox abzuhören, um Bargeld aus einem Geldautomaten zu ziehen, um Zugang zu Ihrem Online-Konto zu bekommen, um den Kopierer zu benutzen oder um die kleineTastatur am Hauseingang davon zu überzeugen, dass sich die Haustür öffnen soll, müssen Sie sich an Ihr Passwort erinnern. Ein typischer Erstsemester in Psychologie ist mit 8 Anforderungen für Passwörter konfrontiert, berichten Brown et al. (2004). Wenn man so viele Passwörter braucht, wie soll man damit umgehen? Der Gedächtnisforscher Roediger verfolgt einen einfachen Ansatz, um alle wichtigen Telefonnummern, PIN-Nummern und Code-Nummern seines Lebens zu speichern: »Ich habe einen Zettel in meiner Hemdtasche mit allen Nummern, die ich benötige«, sagt Roediger (2001). Er fügt hinzu, dass er sich nicht alle merken kann, warum soll er sich da groß abmühen? Mit anderen Strategien könnte man denjenigen
helfen, die ihre PIN-Nummern nicht im Wäschekorb verlieren wollen. Erstens: Nutzen Sie Passwörter mehrfach. Der Durchschnittsstudent verwendet 4 unterschiedliche Passwörter für diese 8 Bedürfnisse. Zweitens: Nutzen Sie Abrufhilfen. Umfragen in Großbritannien und in den USA haben gezeigt, dass etwa die Hälfte unserer Passwörter mit Hilfe eines vertrauten Namens oder eines bekannten Datums gebildet werden. Bei anderen handelt es sich um geläufige Telefon- oder Identifikationsnummern. Beim Online-Banking oder anderen Situationen, in denen Sicherheit ein wesentlicher Faktor ist, sollten Sie eine Mischung aus Buchstaben und Ziffern verwenden, raten Brown et al. Wenn Sie ein solches Passwort zusammenstellen, wiederholen Sie es, dann wiederholen Sie es einen Tag später und immer wieder mit zunehmenden Zeitintervallen dazwischen. Auf diese Weise werden sich langfristige Erinnerungen herausbilden, und sie werden am Geldautomaten und am Kopierer abrufbar sein.
405 9.4 · Abrufen: Informationen auffinden
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Abrufhilfen (»retrieval cues«) Ziel 15: Erklären Sie, wie Abrufhilfen dazu beitragen, dass wir Zugang zu gespeicherten Erinnerungen bekommen, und beschreiben Sie den Vorgang des Priming.
Stellen Sie sich eine Spinne vor, die in der Mitte ihres Netzes sitzt; es wird gehalten von den vielen Fäden, die nach außen in alle Richtungen zu unterschiedlichen Punkten gespannt sind (vielleicht zu einer Fensterbank, dem Zweig eines Baums, einem Blatt an einem Busch). Wenn Sie einen Pfad zur Spinne verfolgen müssten, wäre es zunächst notwendig, dass Sie einen Pfad von einem dieser Ankerpunkte erzeugen und dann dem Faden folgen, der von diesem Punkt nach unten in das Netz führt. Der Vorgang, bei dem wir eine Erinnerung aus dem Gedächtnis abrufen, folgt einem ähnlichen Prinzip. Denn Erinnerungen werden durch ein Spinnennetz von Assoziationen im Speicher gehalten, jedes Stückchen Information ist über Zwischenverbindungen mit vielen anderen verbunden. Wenn Sie ein Stückchen Zielinformation im Gedächtnis enkodieren, wie etwa den Namen der Person, die im Seminarraum neben Ihnen sitzt, assoziieren Sie damit andere Stückchen Informationen über die Umgebung, die Stimmung, die Sitzposition usw. Diese anderen Stückchen Information sind wie Etiketten, Hinweise, Kennzeichen zur Identifizierung einer Zielinformation. Sie wirken wie Abrufhilfen, Ankerpunkte, die man, wenn man sie später abrufen will, nutzen kann, um Zugang zur Zielinformation zu bekommen. Je mehr Abrufhilfen man hat, desto besser sind die Chancen, dass man eine Route zu der Erinnerung findet, die da im Netz aufgehängt ist (7 Unter der Lupe: Abrufen von Passwörtern aus dem Gedächtnis). Erinnern Sie sich an das Wesentliche im zweiten Satz, den ich Sie bat, sich zu merken (7 Abschn. 9.2.2)? Falls nicht: Hilft Ihnen das Wort »Hai« weiter? Experimente haben gezeigt, dass durch das Wort »Hai« leichter das von Ihnen gespeicherte Bild abgerufen wird als durch das Wort »Fisch«, das tatsächlich im Satz vorkam (Anderson et al. 1976). Mnemotechniken können uns solche Erinnerungshilfen liefern: »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag …« oder EDEKA etc. Doch die besten Abrufhilfen sind die Assoziationen, die wir zu dem Zeitpunkt bilden, wenn wir eine Erinnerung enkodieren. Bei solchen Assoziationen kann es sich um Wörter oder um eine Erfahrung handeln. Ein Geschmack, ein Geruch oder ein Anblick sind häufig der Auslöser dafür, dass wir eine damit assoziierte Episode abrufen können. Um einen visuellen Abrufreiz beim Versuch der Reproduktion einer Erinnerung einzusetzen, können wir uns innerlich in den ursprünglichen Kontext versetzen. Für den britischen Theologen Hull (1990) wurde das schwierig, als er sein Augenlicht verlor. Einmal fragte ihn seine Frau, was er den Tag über getan habe, und es fiel ihm schwer, sich den Tag ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich weiß, ich war irgendwo und habe irgendwas mit irgendwelchen Leuten gemacht, aber wo war das? Ich konnte die Gespräche, die ich geführt hatte, nicht in einen Kontext stellen. Es gab keinen Hintergrund, keine besonderen Merkmale, nichts, wodurch ich den Ort hätte identifizieren können.« Normalerweise wird die Erinnerung an die Menschen, mit denen man im Lauf des Tages gesprochen hat, in Rahmenvorstellungen gespeichert, zu denen auch der Hintergrund gehört. Um eine bestimmte Information aus dem Netz von Assoziationen abzurufen, muss man zunächst einen der Fäden aktivieren, die dorthin führen, ein Vorgang, den man als Priming bezeichnet. Der Philosoph und Psychologe William James nannte Priming das »Wecken von Assoziationen«. Oft werden unsere Assoziationen aktiviert oder einem Prime ausgesetzt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wie . Abb. 9.15 zeigt, werden Assoziationen mit einem Hasen aktiviert, wenn wir das Wort Kaninchen sehen oder hören, auch wenn wir uns gar nicht daran erinnern können, Kaninchen gesehen oder gehört zu haben. Priming ist oft »eine erinnerungslose Erinnerung« – eine Erinnerung, ohne sich explizit zu erinnern, eine unsichtbare Erinnerung. Wenn Sie einen Gang entlang gehen und sehen ein Poster mit einem Kind, das vermisst wird, werden Sie unbewusst dem Prime ausgesetzt, eine mehrdeutige Interaktion zwischen einem Erwachsenen und einem Kind als mögliche Entführung zu interpretieren (James 1986). Obwohl Sie sich nicht bewusst an das Poster erinnern, prädisponiert es Ihre Interpretation. (Wie wir in 7 Kap. 5 gesehen haben, können subliminale Reize kurzzeitig die Reaktionen auf spätere Reize primen.)
? Multiple-Choice-Tests prüfen unsere a Fähigkeit zur Reproduktion b Fähigkeit zum Wiedererkennen c Fähigkeit zum erneuten Erlernen Lückentexte testen unser ____. (o beide Antworten unter 9.2 am Ende des Kapitels)
»Das Gedächtnis ist nicht so etwas wie ein Behälter, der sich allmählich auffüllt; es ist eher so etwas wie ein Baum, an dem Haken wachsen, an denen wiederum die Erinnerungen aufgehängt werden.« Peter Russell, »The Brain Book« (1979)
Stellen Sie einem Freund ein paar Kreuzfeuerfragen: a) Wie nennt man die Verbindung zwischen Stecker und Radio? b) Wer in der Bibel wurde von seinem Bruder Kain erschlagen? c) Womit isst man Suppe? Wenn Ihr Freund dann auf die 3. Frage antwortet: Gabel!, dann haben Sie den Priming-Effekt demonstriert. Priming (priming): häufig unbewusst erfolgende Aktivierung spezieller Assoziationen im Gedächtnis aufgrund von Vorerfahrungen mit den betreffenden Informationen.
. Abb. 9.15. Priming: Assoziationen wecken Wenn Sie das Wort »rabbit« (Kaninchen) hören oder lesen, werden Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein gesprochenes Wort als »hare« (Hase) und nicht als »hair« (Haar) buchstabieren. Die unbewusste Ausbreitung der Assoziationen aktiviert andere, damit zusammenhängende Assoziationen. Dieses Phänomen wird Priming genannt (Nach Bower 1986)
406
Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.16. Gedächtnis und Kontexteffekte Wörter, die unter Wasser vorgelesen wurden, wurden auch unter Wasser am besten reproduziert; Wörter, die am Strand vorgelesen wurden, wurden am Strand am besten reproduziert. (Nach Godden u. Baddeley 1975)
Kontexteffekte Ziel 16: Geben Sie an, wie der Kontext den Abruf beeinflussen kann.
M. Barton
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. Abb. 9.17. Vertrauter Kontext aktiviert das Gedächtnis Kleinkinder, die gelernt haben, ein Mobile mit einem Tritt in Bewegung zu setzen, aktivieren die Erinnerung daran am schnellsten, wenn ein nochmaliger Test im gleichen Kontext erfolgt. In einem anderen Kontext dauert die Aktivierung länger. (Aus Butler u. Rovee-Collier 1989)
Wenn Sie sich in den Kontext zurückzuversetzen, in dem Sie etwas erlebt haben, kann dies den Abruf aus dem Gedächtnis als Prime beeinflussen. Godden u. Baddely (1975) entdeckten diesen Effekt der sog. Enkodierspezifität, als sie Tauchern an 2 verschiedenen Orten jeweils eine Liste mit Wörtern vorlasen: entweder in 8 m Tiefe oder am Strand. Wie . Abb. 9.16 zeigt, erinnerten sich die Taucher an mehr Wörter, wenn ihnen an einem Ort etwas vorgelesen und sie dort auch getestet wurden. Stellen Sie sich einmal das folgende Szenario vor: Während Sie sich zu diesem Buch Notizen machen, bemerken Sie, dass Sie Ihren Bleistift spitzen müssen. Sie stehen auf und laufen ins untere Stockwerk. Aber als Sie unten ankommen, können Sie sich nicht mehr erinnern, warum Sie dorthin gegangen sind. Nachdem Sie versucht hatten, sich daran zu erinnern, was sie überhaupt wollten, geben Sie auf und kehren zu Ihrem Schreibtisch zurück. Sobald Sie sich hingesetzt haben, um weiterzuarbeiten, fällt es Ihnen ein: »Ich wollte doch den Bleistift spitzen!« Was war geschehen, dass es zu dieser frustrierenden Situation kam? In einem Kontext (am Schreibtisch, bei der Lektüre eines Psychologiebuchs) kommt es dazu, dass Sie den Bleistift spitzen wollen. Wenn Sie aufstehen und eine Treppe tiefer gehen, bewegen Sie sich in einen anderen Kontext, in dem Ihnen nur wenige Hinweisreize zur Verfügung stehen, um Sie auf den Gedanken zu bringen, der Sie dorthin geführt hat. Wenn Sie aufgeben und zu Ihrem Schreibtisch zurückgehen, sind Sie wieder in dem Kontext, in dem Sie den Gedanken enkodiert haben (»Mit diesem Bleistift kann man nicht mehr schreiben«). Wahrscheinlich haben Sie selbst auch schon ähnliche Kontexteffekte erlebt. Sie kehren an einen Ort zurück, an dem Sie früher einmal gewohnt haben, oder Sie sehen die Schule, in die Sie einmal gegangen sind, und schon werden Sie von Erinnerungen und Hinweisreizen förmlich überflutet. Es kann auch hilfreich sein, wenn eine Prüfung in dem Raum abgehalten wird, in dem Sie unterrichtet wurden. Rovee-Collier (1993) machte mehrere Versuche und fand dabei heraus, dass ein vertrauter Kontext sogar bei 3 Monate alten Kindern Erinnerung aktivieren kann. Die Kinder hatten gelernt, dass sie ein Mobile mit einem Fußtritt in Bewegung versetzen konnten (mit Hilfe einer Verbindungsschnur zwischen dem Mobile und ihrem Knöchel). Die Kinder traten häufiger zu, wenn sie im selben Kinderbett lagen und dasselbe Mobile vor sich hatten. In einem fremden Kontext und mit einem unbekannten Mobile kickten sie weniger oft (. Abb. 9.17).
407 9.4 · Abrufen: Informationen auffinden
Manchmal befindet man sich in einer Umgebung, die einem so vertraut vorkommt, als sei man dort schon gewesen. Das kann eine Déjà-vu-Erfahrung (franz. » déjà vu « = schon einmal gesehen) auslösen, die eigenartige Vorstellung, man sei schon einmal genau in dieser Situation gewesen. Diese flüchtige Erfahrung machen am ehesten gebildete, fantasievolle junge Erwachsene, besonders wenn sie müde oder gestresst sind (Brown 2003, 2004). Zwei Drittel der Befragten, die in der Studie von McAneny (1996) angaben, eine Déjà-vu-Erfahrung gemacht zu haben, fragen sich oft: »Wie kann ich eine Situation wiedererkennen, die ich zum ersten Mal erlebe?« Die, die eine paranormale Erklärung akzeptieren, denken an Reinkarnation (»Das ist sicher eine Erfahrung aus einem früheren Leben«), oder sie glauben an Präkognition (»Ich habe diese Szene vor meinem inneren Auge gesehen, ehe ich sie tatsächlich erlebte«). Man kann die Frage auch anders stellen (»Warum habe ich den Eindruck, diese Situation wiederzuerkennen?«), und dann können wir herausfinden, wie unser Gedächtnissystem möglicherweise solche Déjà-vu-Erfahrungen produziert (Alcock 1981). Wenn wir schon einmal in einer vergleichbaren Situation waren, dann mag die aktuelle Situation mit Hinweisreizen, die unbewusst die frühere Erfahrung aktivieren, förmlich gespickt sein. (Wir nehmen riesige Mengen an Informationen auf und behalten sie, wobei wir gleichzeitig kaum bemerken und oft vergessen, woher sie gekommen sind.) Wenn Sie also in einem ähnlichen Kontext einen Fremden bemerken, der so aussieht und läuft wie einer Ihrer Freunde, dann kann diese Ähnlichkeit den unheimlichen Eindruck des Wiedererkennens hervorrufen. Nachdem Sie einen Schatten dieser früheren Erinnerung geweckt haben, könnten Sie vielleicht denken: »Ich habe diesen Menschen schon einmal in ebendieser Situation gesehen.« Oder vielleicht kommt Ihnen die Situation vertraut vor, wenn sie mehreren anderen Ereignissen leicht ähnelt, merkt Lampinen (2002) an. Stellen Sie sich vor, Sie begegnen kurz meinem Vater, meinen Brüdern, meiner Schwester und meinen Kindern; und ein paar Wochen danach treffen Sie mich. Sie könnten vielleicht der Meinung sein: »Ich war schon einmal mit diesem Typen zusammen.« Obwohl keiner in meiner Familie so aussieht oder sich so verhält wie ich (das ist auch gut für sie), ist ihr Aussehen und sind ihre Gesten ein wenig so wie bei mir. Und »in einem globalen Sinne« könnte ich dem entsprechen, was Sie zuvor erlebt haben.
Déjà-vu-Erfahrung (déjà vu): der unheimliche Eindruck, etwas schon mal genau so erlebt zu haben. Hinweisreize aus der aktuellen Situation mögen unbewusst die Erinnerung an eine frühere Situation auslösen.
»Haben Sie je dieses seltsame Gefühl des vujà dé gehabt? Nicht déjà vu; vujà dé. Es handelt sich um das eindeutige Gefühl, dass in bestimmter Weise etwas, was gerade geschehen ist, nie zuvor geschehen ist. Nichts kommt einem vertraut vor. Und dann verschwindet dieses Gefühl plötzlich. Vujà dé.« George Carlin, »Funny Times« (2001)
Stimmung und Gedächtnis Ziel 17: Beschreiben Sie die Auswirkungen innerer Zustände auf den Abruf aus dem Gedächtnis.
Assoziationen mit Wörtern, Ereignissen oder Situationen sind nicht die einzigen Abrufhilfen. Etwas, was in der Vergangenheit geschehen ist, ging vielleicht mit einer bestimmten Emotion einher, die zum Zeitpunkt der Reproduktion als Vorbereitung bzw. Prägung, als Priming auf die damit assoziierten Ereignisse dienen kann. Der Kognitionspsychologe Bower (1983) erklärt das folgendermaßen: »Eine Emotion ist wie der Raum einer Bibliothek, in dem wir Erinnerungen ablegen. Am leichtesten finden wir die abgelegten Erinnerungen, wenn wir in den Raum mit der entsprechenden Emotion zurückkehren.« Was wir in einem bestimmten Zustand innerer Befindlichkeit – fröhlich oder traurig, betrunken oder nüchtern – lernen, wird manchmal leichter erinnert, wenn wir wieder in diesem Zustand sind. Dieses subtile Phänomen wird zustandsabhängiges Gedächtnis genannt. Allerdings wird das, was eine Person im Zustand der Depression oder der Trunkenheit lernt, in keinem Zustand gut reproduziert werden (Depression wirkt sich störend auf die Enkodierung aus, und Trunkenheit auf die Speicherung). Es wird jedoch ein kleines bisschen besser erinnert, wenn man bei der Reproduktion wieder im Zustand der Depression oder der Trunkenheit ist. Jemand, der betrunken Geld versteckt, findet es vielleicht erst wieder, wenn er wieder betrunken ist. In ähnlicher Weise verfälschen Stimmungen unsere Erinnerungen. Offenbar assoziieren wir positive und negative Ereignisse mit der Stimmung, die mit ihnen einhergeht und die dann zur Abrufhilfe wird (Fiedler et al. 2001). Demnach sind unsere Erinnerungen in gewisser Weise stimmungskongruent. Wenn man niedergeschlagen ist, wirken die Erinnerungen als Prime auf negative Assoziationen, die wir dann wiederum als Erklärung für unsere momentane – niedergeschlagene – Stimmung heranziehen. Bringt man Menschen in eine überschwängliche Stimmung, sei es durch Hypnose oder durch die Ereignisse des Tages (in einer Studie mit deutschen Teilnehmern war das der Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft), dann erinnern sie die Welt in rosaroten Farben (DeSteno et al. 2000; Forgas et al. 1984; Schwarz et al. 1987). Sie halten sich für kompetent
Stimmungskongruente Erinnerung (moodcongruent memory): Tendenz, sich an Erfahrungen zu erinnern, die mit der aktuellen guten oder schlechten Stimmung übereinstimmen. »Wenn ein Gefühl da war, glaubten sie, es würde nie vergehen; war es dann vergangen, meinten sie, es sei nie da gewesen, und wenn es zurückkehrte, glaubten sie, es sei ihnen nie abhanden gekommen.« George MacDonald (»What’s Mine’s Mine«, 1886)
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Kapitel 9 · Gedächtnis
S. Kröning
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Stimmung und Gedächtnis Wenn wir in Hochstimmung sind, erinnern wir uns an andere glückliche Zeiten und erwarten noch weitere Zeiten des Glücks. Stimmungen sind ein Abrufreiz, denn sie aktivieren andere Erinnerungen, die mit demselben Gefühl assoziiert sind. Mit Hilfe dieser Erinnerungen lässt sich die aktuelle Stimmung aufrechterhalten
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und tüchtig, stehen anderen Menschen wohlwollend gegenüber und erwarten mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass schöne Ereignisse eintreten. Angesichts dieses Zusammenhangs sollte es uns nicht verwundern, dass in manchen Studien akut depressive Menschen ihre Eltern als Personen in Erinnerung haben, die ablehnend und strafend sind und Schuldgefühle provozieren, während Menschen, die ihre Depression überwunden haben, ihre Eltern mehr oder weniger so beschreiben wie Menschen, die nie unter einer Depression gelitten haben (Lewinsohn u. Rosenbaum 1987; Lewis 1992). Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht erstaunlich, wenn Bornstein et al. (1991) berichten, dass in der Art und Weise, wie Jugendliche die von ihren Eltern gezeigte Zuneigung bewerten, kaum Hinweise darauf zu finden sind, wie ihre Bewertungen 6 Wochen später ausfallen werden. Wenn Teenager niedergeschlagen sind, kommen ihnen die Eltern unmenschlich vor. Sobald sie wieder etwas aufleben, findet die große Metamorphose statt: Die Eltern verwandeln sich von Teufeln in Engel. Vielleicht veranlasst Sie das zu einem wissenden Nicken. Und doch, ob gut oder schlecht gelaunt, wir nehmen in jeder Stimmung an, dass unsere sich tatsächlich verändernden Urteile und Erinnerungen exakt den Tatsachen entsprechen. Unsere jeweilige Stimmung hat auch Einfluss darauf, wie wir das Verhalten anderer Menschen interpretieren. Wenn man aufmerksam auf seine Gefühle achtet, kann das dazu beitragen, dass man die Verfälschung durch die Stimmung rückgängig machen kann (McFarland et al. 2003). Doch es ist auf jeden Fall schwer, sich dagegen zu wehren. Sind wir schlecht gelaunt, bewerten wir einen Blick, den man uns zuwirft, als wütendes Anstarren. Wenn wir jedoch gut gelaunt sind, interpretieren wir den gleichen Blick als Interesse. Wie wir die Welt wahrnehmen, hängt von unserer jeweiligen Stimmung ab. Leidenschaftliche Begeisterung macht z. B. jede Empfindung noch intensiver. Die Art, wie sich die Stimmung auf den Abruf von Erinnerungen auswirkt, erklärt auch, warum unsere jeweilige Stimmung andauert. Wenn Sie glücklich sind, erinnern Sie sich an glückliche Augenblicke und nehmen deshalb die Welt als einen glücklichen Ort wahr, was wiederum die gute Stimmung intensiviert. Sind Sie niedergeschlagen, dann erinnern Sie sich an traurige Vorfälle, was wiederum Ihre Interpretation aktueller Ereignisse überschattet. In 7 Kap. 17 werden wir sehen, wie dieser Prozess den Teufelskreis der Depression aufrechterhält.
Lernziele Abschnitt 9.4 Abrufen: Informationen auffinden Ziel 14: Stellen Sie den Abruf, das Wiedererkennen und Maßnahmen zum erneuten Lernen von Erinnerungen einander gegenüber. Abruf ist die Fähigkeit, Informationen aus dem Gedächtnis abzufragen, ohne sich dessen vollständig bewusst zu sein; es handelt sich um eine Abfrage wie bei einem Lückentext. Wiedererkennen ist die Fähigkeit, Items zu identifizieren, die man zuvor gelernt hat; wie ein Wiedererkennen bei einem Test mit Multiple-Choice-Fragen. Erneutes Lernen ist die Fähigkeit, die früher abgespeicherten Informationen schneller zu beherrschen, als man sie ursprünglich gelernt hat. Ziel 15: Erklären Sie, wie Abrufhilfen dazu beitragen, dass wir Zugang zu gespeicherten Erinnerungen bekommen, und beschreiben Sie den Vorgang des Priming. Abrufhilfen sind kleine Stücke zusammenhängender Informationen, die wir enkodieren, während wir einen Teil einer Zielinformation verarbeiten. In gewisser Weise sind diese Stückchen mit dem Kontext des Ziels verbunden; und sie werden zum Teil eines Netzes abgespeicherter Assoziationen. Wenn eines dieser miteinander assoziierten Stückchen unsere Aufmerksamkeit weckt, ist es so, als zögen wir an einem Faden im Spinnennetz der Assoziationen und riefen die Zielinformation in unser Bewusstsein. Dieser Vorgang, bei dem (oft unbewusst) Assoziationen aktiviert werden, heißt Priming.
Ziel 16: Geben Sie an, wie der Kontext den Abruf beeinflussen kann. Der Kontext, in dem wir ursprünglich ein Ereignis erlebt oder einen Gedanken enkodiert haben, kann unsere Erinnerungen mit Abrufhilfen überfluten, die uns zur Zielerinnerung führen. Wenn wir uns in einem anderen Kontext befinden, der dem ursprünglichen sehr ähnlich ist, können wir in dem Maße ein Déjà vu erleben, in dem viele dieser Hinweisreize zurückkommen und uns dazu verleiten, unbewusst die Zielerinnerung abzurufen. Ziel 17: Beschreiben Sie die Auswirkungen innerer Zustände auf den Abruf aus dem Gedächtnis. Bestimmte Zustände oder Emotionen können sich bei uns insofern als Prime auswirken, als wir Ereignisse abrufen, die mit diesen Zuständen oder Emotionen assoziiert werden. Sind wir in guter Stimmung, rufen wir gewöhnlich Erinnerungen ab, die konsistent – oder kongruent – mit dem glücklichen Zustand sind. Sind wir deprimiert, rufen wir eher negative Erinnerungen ab. Stimmungen wirken bei uns auch insofern als Prime, als wir das Verhalten anderer in einer mit unseren Emotionen konsistenten Weise interpretieren. > Denken Sie weiter: In welcher Stimmung waren Sie in letzter Zeit? Auf welche Weise hat Ihre Stimmung Ihre Erinnerungen, Wahrnehmungen und Erwartungen gefärbt?
409 9.5 · Vergessen
9.5
Vergessen
Ziel 18: Erklären Sie, warum wir unsere Fähigkeit zu vergessen positiv bewerten sollten, und unterscheiden Sie 3 allgemeine Arten, wie unser Gedächtnis scheitern kann.
Bei all dem Beifall für das Gedächtnis, all den Versuchen, es zu verstehen, all den Büchern mit Methoden zur Gedächtnisverbesserung: Wer hätte je das Vergessen gepriesen? James (1890) hat es einmal getan: »Wenn wir uns an alles erinnerten, wären wir meistens genauso übel dran, wie wenn wir uns an gar nichts erinnerten.« Den Haufen unnötiger oder überholter Informationen – wo wir gestern geparkt haben, die alte Telefonnummer eines Freundes, ein im Restaurant bestelltes Essen, das schon lange serviert und verzehrt wurde – entsorgen zu können, ist zweifellos ein wahrer Segen. Der russische Gedächtniskünstler S., dem wir am Anfang dieses Kapitels begegnet sind, fühlte sich regelrecht verfolgt von dem Haufen sinnloser Erinnerungen in seinem Gedächtnis. Sie beherrschten sein Bewusstsein. Er konnte nur mit Schwierigkeiten abstrakt denken, also Inhalte generalisieren, ordnen und evaluieren. Ein gutes Gedächtnis ist ein wertvoller Helfer, doch das gilt auch für die Fähigkeit zu vergessen. Wenn eine Pille auf den Markt kommen sollte, mit der wir unser Gedächtnis verbessern können, sollte sie am besten nicht allzu wirksam sein. Häufiger ist allerdings der Fall, dass uns das Gedächtnis erschreckt und frustriert. Erinnerungen sind launisch. Mein eigenes Gedächtnis liefert mir problemlos Erinnerungen an so schöne Episoden wie jenen wunderbaren ersten Kuss mit der Frau, die ich liebe, oder so banale Fakten wie die Entfernung von London nach Detroit mit dem Flugzeug. Aber es lässt mich glatt im Stich, wenn ich versuche, den Namen des neuen Kollegen zu reproduzieren oder mich zu erinnern, wo ich meine Sonnenbrille hingelegt habe, und entdecke, dass ich es nicht geschafft habe, die Informationen zu enkodieren, zu speichern oder abzurufen. Der Gedächtnisforscher Schacter (1999) zählt 7 Gründe auf, warum uns unser Gedächtnis manchmal im Stich lässt; er nennt sie die 7 Sünden des Gedächtnisses:
»Glück ist nichts weiter als Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis.« Der Arzt Albert Schweitzer (1875–1965)
Yo-Yo Ma vergaß sein 266 Jahre altes Cello mit einem Wert von 2,5 Mio. Dollar in einem New Yorker Taxi. (Später bekam er es wieder.)
Die 3 Sünden des Vergessens 1. Geistesabwesenheit: Mangelnde Aufmerksamkeit für Einzelheiten führt zu fehlerhafter Enkodierung. (Wenn wir den Autoschlüssel aus der Hand legen, ist unser Denken gerade mit etwas anderem beschäftigt.) 2. Vergänglichkeit: Im Laufe der Zeit zerfällt der Speicher. (Wenn sich die Wege der früheren Klassenkameraden getrennt haben, verblassen oder verflüchtigen sich nicht benutzte Informationen.) 3. Abblocken: Die gespeicherte Information ist nicht zugänglich. (Das erinnerte Wort liegt uns auf der Zunge, aber da gibt es einen Abruffehler: Wir bringen es nicht heraus.) Die 3 Sünden der Verzerrung 4. Fehlattribution: Informationsquellen werden verwechselt. (Jemandem werden die Worte eines anderen in den Mund gelegt oder eine Filmszene als etwas tatsächlich Geschehenes erinnert.) 5. Beeinflussbarkeit: Fehlinformationen bleiben im Gedächtnis. (Die Suggestivfrage – »Hat der Angeklagte 50 Euro aus der Kasse genommen?« – wird möglicherweise später zur falschen Erinnerung eines Zeugen.) 6. Systematischer Fehler: Erinnerungen sind durch aktuelle Überzeugungen und Annahmen gefärbt. (Die derzeitigen Gefühle einer Freundin gegenüber ihrem Partner können möglicherweise die Erinnerung an ihre ursprünglichen Gefühle beeinflussen.) Die Sünde des Sich-Aufdrängens 7. Persistenz: Unangenehme Erinnerungen lassen sich nicht ausschalten. (Es ist möglich, dass Betroffene von den Erinnerungsbildern an einen sexuellen Übergriff regelrecht verfolgt werden.)
Schauen wir uns zunächst die Sünden des Vergessens an und wenden uns dann den Sünden der Verzerrung und des Sich-Aufdrängens zu.
»Amnesie sickert in die Ritzen unseres Gehirns, und Amnesie heilt.« Joyce Carol Oates, »Words Fail, Memory Blurs, Life Wins« (2001)
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Kapitel 9 · Gedächtnis
9.5.1 Scheitern der Enkodierung Ziel 19: Erörtern Sie, welche Rolle das Scheitern der Enkodierung beim Vergessen spielt.
Wir können uns nicht daran erinnern, was wir nicht enkodieren konnten, weil die Informationen nie ins Langzeitgedächtnis gelangen (. Abb. 9.18). Und wie das Beispiel der »Veränderungsblindheit« anschaulich zeigt, bemerken wir vieles von dem nicht, was auf unsere Sinne trifft (7 Abschn. 6.1.1). Die Effizienz der Enkodierung kann auch vom Alter beeinflusst werden. Die Hirnareale, die sofort anspringen, wenn junge Erwachsene eine neue Information enkodieren, arbeiten bei älteren Erwachsenen deutlich langsamer. Dieses langsamere Enkodieren erklärt das mit zunehmendem Alter nachlassende Gedächtnis (Grady et al. 1995). (In 7 Kap. 4 haben wir gesehen, dass ältere Menschen tendenziell weniger reproduzieren können als jüngere, dass sie jedoch bei einem Wiedererkennungstest genau so gut abschneiden wie junge Erwachsene.) Doch ganz unabhängig vom Alter richten wir unsere Aufmerksamkeit selektiv auf die überwältigende Fülle dessen, was es in unserer Umwelt ununterbrochen zu sehen und zu hören gibt. Denken Sie nur an irgendetwas, was Sie schon unendlich oft nachgeschaut haben: Welche Buchstaben auf den Tasten Ihres Handys gehören zu der Zahl 5? Für die meisten Menschen ist eine solche Frage überraschend schwierig. Noch ein Beispiel für fehlerhafte Enkodierung: Wenn Sie in Europa leben, haben Sie im Laufe der letzten Jahre wohl schon Hunderte von europäischen Centmünzen in der Hand gehabt, und Sie können sich sicher an ihre Größe und Farbe erinnern. Aber können Sie sich erinnern, wie die Seite aussieht, auf der die Zahl abgebildet ist? Wenn nicht, dann machen wir den Test leichter: Können Sie in . Abb. 9.19 die richtige Münze herausfinden? In demselben Test mit amerikanischen Pennystücken stellten Nickerson u. Adams (1979) fest, dass die wenigsten Menschen dazu in der Lage sind. Von den 8 entscheidenden Merkmalen (Lincolns Kopf, Datum, »In God we trust« etc.) kann sich der Durchschnittsbürger spontan nur an 3 erinnern. Auch bei den Briten können nur wenige die 1-Pence-Münze aus dem Gedächtnis zeichnen (Richardson 1993). Die Details einzelner Münzen haben nicht viel Bedeutung, und man braucht sie auch nicht, um sie von anderen Münzen zu unterscheiden – und nur wenige von uns machen sich die Mühe, diese Details zu enkodieren.
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. Abb. 9.19. Testen Sie Ihr Erinnerungsvermögen ? Welche dieser europäischen Centmünzen ist die richtige? (7 Antwort 9.3 am Ende des Kapitels)
K. Niebank
. Abb. 9.18. Vergessen als Scheitern der Enkodierung Was nicht enkodiert wurde, kann nicht erinnert werden
411 9.5 · Vergessen
! Manche Informationen – wo wir gestern zu Abend gegessen haben – enkodieren wir zwar automatisch, doch andere Arten von Informationen – wie die Begriffe in diesem Kapitel – erfordern eine bewusste Verarbeitung. Ohne diese bewusste Anstrengung werden viele Erinnerungen gar nicht erst gebildet.
9.5.2 Speicherzerfall Ziel 20: Erörtern Sie den Begriff des Speicherzerfalls, und beschreiben Sie die Vergessenskurve von Ebbinghaus.
Selbst wenn eine Information gut enkodiert wurde, wird sie manchmal später vergessen. Ebbinghaus (1885) wollte die Beständigkeit der gespeicherten Erinnerungen untersuchen und lernte deshalb noch weitere Listen mit sinnlosen Silben auswendig. Beginnend mit 20 Minuten bis hin zu 30 Tagen nach dem Erlernen erfasste er, wie viel er behalten hatte, wenn er jede Liste noch einmal lernte. Seine berühmte Vergessenskurve (. Abb. 9.20) weist darauf hin, dass wir tatsächlich vieles von dem, was wir lernen, schnell wieder vergessen. Durch spätere Versuche erhielt die Vergessenskurve den Rang eines psychologischen Gesetzes. Vergessen erfolgt zu Beginn schnell und pendelt sich dann auf einem bestimmten Niveau ein, das mit der Zeit immer weiter absinkt (Wixted u. Ebbesen 1991). Bahrick (1984) erweiterte die Befunde von Ebbinghaus. Er prüfte die Vergessenskurve für spanische Vokabeln, die in der Schule gelernt worden waren. Bei einem Vergleich zwischen den Schülern, die gerade einen High-School- oder Collegekurs für Spanisch abgeschlossen hatten, mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die die Schule bereits 3 Jahre zuvor verlassen hatten, hatten letztere vieles von dem vergessen, was sie einmal gelernt hatten (. Abb. 9.21). Doch nach ungefähr 3 Jahren pendelte sich ein bestimmtes Vergessensniveau ein: Was die Befragten zu diesem Zeitpunkt noch behalten hatten, daran konnten sie sich auch noch 25 oder mehr Jahre später erinnern, selbst wenn sie ihre Spanischkenntnisse nie angewendet hatten. Eine Erklärung für diese Vergessenskurven ist das graduelle Verblassen der physischen Erinnerungsspur. Wenn wir mehr über die physische Speicherung der Gedächtnisinhalte wissen, verstehen wir sicher besser, wie es kommt, dass ein Gedächtnisspeicher zerfallen kann. Doch Erinnerungen verblassen auch aufgrund der Anhäufung anderer Lerninhalte, die sich störend auf den Abruf auswirken. . Abb. 9.20. Vergessenskurve nach Ebbinghaus Ebbinghaus lernte Listen mit sinnlosen Silben auswendig und untersuchte dann, wie viele er bis zu 30 Tage später davon noch behalten hatte. Er fand heraus, dass die Erinnerung an neuartige, bisher unbekannte Informationen schnell verblasst und dann verschwindet. (Nach Ebbinghaus 1885)
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Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.21. Vergessenskurve für in der Schule erlerntes Spanisch Studenten, die vor 3 Jahren an einem Spanischkurs teilgenommen haben, erinnern sich an viel weniger als die, die ihren Kurs gerade beendet haben. Die Studenten, deren Spanischkurs noch länger zurückliegt, haben nicht sehr viel mehr vergessen als die, die vor 3 Jahren Spanisch gelernt haben. (Nach Bahrick 1984)
9.5.3 Scheitern des Abrufs
9 Gehörlose, die Gebärdensprache gut beherrschen, erleben ein ähnliches Phänomen: Es liegt ihnen nicht auf der Zunge, sondern »auf den Fingerspitzen« (Thompson et al. 2005)
Sie haben bereits gelernt, dass vergessene Ereignisse wie Bücher sind, die Sie nicht in der Bibliothek finden können, sei es, weil sie nie angeschafft (nicht enkodiert) wurden oder weil sie ausgemustert wurden (Zerfall der gespeicherten Erinnerungen). Es gibt allerdings auch eine dritte Möglichkeit: Selbst wenn das Buch vorhanden und ausleihbar ist, ist es möglicherweise nicht zugänglich. Vielleicht verfügen Sie nicht über die Informationen, die Sie brauchen, um es zu finden und abzurufen. Manchmal kommen Informationen in unser Gehirn, und wir wissen, dass sie da sind, wir können sie aber nicht herausholen (. Abb. 9.22). Der Titel des Buches oder der Name des Verfassers liegt Ihnen vielleicht auf der Zunge und wartet nur darauf, abgerufen zu werden. Wenn man uns eine Abrufhilfe gibt (der Autorenname fängt mit M an), können wir leicht eine schwer fassbare Erinnerung abrufen. Abrufprobleme können die Ursache für die gelegentlichen Gedächtnisausfälle älterer Menschen sein. ! Oft genug bedeutet Vergessen weniger, dass Erinnerungen gelöscht wurden, sondern eher, dass sie nicht abgerufen werden können.
Interferenz Ziel 21: Stellen Sie die proaktive und die retroaktive Interferenz einander gegenüber, und erklären Sie, auf welche Weise sie ein Scheitern des Abrufs verursachen können.
Das Lernen mancher Items kann den Abruf anderer stören, insbesondere wenn es sich um ähnliche Items handelt. Wenn Ihnen jemand seine Telefonnummer sagt, sind Sie wahrscheinlich imstande,
. Abb. 9.22. Scheitern des Abrufens Was für uns von Bedeutung ist oder was wir mit Wiederholungen gelernt haben, wird im Langzeitgedächtnis gespeichert. Doch manchmal gibt es keinen Zugang zu der gespeicherten Information, dann wird sie vergessen
413 9.5 · Vergessen
sie später zu erinnern. Doch wenn Ihnen noch 2 weitere Menschen ihre Telefonnummern geben, wird jede weitere Nummer schwieriger zu reproduzieren sein. Wenn Sie ein neues Kombinationsschloss für Ihr Fahrrad kaufen oder eine neue Telefonnummer bekommen, kann Ihre Erinnerung an das Alte damit interferieren. Zu dieser proaktiven (vorwärts gerichteten) Interferenz kommt es, wenn etwas, was Sie früher gelernt haben, die Reproduktion von etwas unterbricht, was Sie später erleben. In dem Maße, wie Sie immer mehr Informationen sammeln, füllt sich Ihr mentaler Dachboden immer weiter auf. Er wird zwar nie ganz vollgestellt sein, doch es wird zweifellos etwas eng. Underwood (1957) fand, dass diejenigen, die verschiedene Wörterlisten an aufeinander folgenden Tagen lernten, sich am folgenden Tag schlechter an jede der neuen Listen erinnern konnten. Mit dem Konzept der proaktiven Interferenz lässt sich auch erklären, warum sich Ebbinghaus, nachdem er in seiner beruflichen Laufbahn unzählige Listen mit sinnlosen Silben auswendig gelernt hatte, am folgenden Tag nur noch an etwa ein Viertel der Silben erinnern konnte, die er am Vortag auswendig gelernt hatte – das ist weit weniger, als Sie als Anfänger erinnern könnten, wenn Sie nur eine einzige Liste auswendig gelernt hätten. Von retroaktiver (nach rückwärts gerichteter) Interferenz sprechen wir, wenn neue Informationen die Reproduktion von früher Gelerntem erschweren (. Abb. 9.23). Ein typisches Beispiel dafür sind die Probleme eines Lehrers, der sich die Namen seiner neuen Schüler einprägt und dann aufgrund von retroaktiver Interferenz Probleme bei der Reproduktion der Namen seiner früheren Schüler hat. Es ist so, als würde man einen zweiten Stein in einen Teich werfen; er bringt die kreisförmigen Wellen durcheinander, die der erste hervorgerufen hat.
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Proaktive Interferenz oder proaktive Hemmung (proactive interference): Störeffekt von früher Gelerntem auf die Reproduktion neuer Informationen. Retroaktive Interferenz oder retroaktive Hemmung (retroactive interference): Störeffekt neu gelernter Informationen auf die Reproduktion alter Informationen.
. Abb. 9.23. Proaktive und retroaktive Interferenz
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Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.24. Retroaktive Interferenz Versuchspersonen vergaßen mehr, wenn sie wach blieben und neues Material aufnahmen. (Aus Jenkins u. Dallenbach 1924)
Man kann die retroaktive Interferenz dadurch vermindern, dass man die Zahl der interferierenden Ereignisse verringert, indem man beispielsweise einen kurzen Spaziergang macht oder eine kleine Schlafpause einlegt, sobald man neue Informationen aufgenommen hat. In einem heute klassischen Experiment entdeckten die Forscher Jenkins u. Dallenbach (1924), welchen Nutzen der Schlaf hat. Tag für Tag lernten 2 Teilnehmer an einem Experiment einige sinnlose Silben auswendig und versuchten, sie zu reproduzieren. Der eine Teilnehmer schlief eine Nacht lang (8 Stunden), während der andere wach blieb. . Abb. 9.24 zeigt, dass das Vergessen schneller einsetzte, wenn man wach blieb und mit anderen Aktivitäten beschäftigt war. Das führte die Forscher zu der Vermutung, dass es sich beim »Vergessen weniger um den Zerfall alter Eindrücke und Assoziationen handelt, sondern vielmehr um Interferenz, Hemmung oder Überlagerung des Alten durch Neues« (1924, S. 612). Spätere Experimente haben den Nutzen des Schlafs bestätigt und zeigten, dass die Stunde vor Beginn des Nachtschlafs (aber nicht die Minuten vor dem Einschlafen) ein guter Zeitpunkt sind, um dem Gedächtnis Informationen anzuvertrauen (Benson u. Feinberg 1977; Fowler et al. 1973; Nesca u. Koulack 1994). Interferenz ist eine wichtige Ursache für das Vergessen. Doch sollten wir die Interferenz auch nicht überbewerten. Manchmal können alte Informationen das Erlernen neuer Informationen sogar leichter machen. Wer Latein kann, lernt vielleicht leichter Französisch – ein Phänomen, das positiver Transfer genannt wird.
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! Zur Interferenz kommt es nur, wenn alte und neue Information miteinander im Wettstreit liegen.
Absichtsvolles Vergessen
C. Styrsky
Ziel 22: Fassen Sie Freuds Begriff der Verdrängung zusammen, und machen Sie eine Aussage darüber, ob diese Auffassung durch die aktuelle Gedächtnisforschung bestätigt wird.
„Schatz, ich unterstelle dir ja keine Absicht – aber dass du unseren Hochzeitstag wieder vergessen hast, nehme ich langsam persönlich!“
Der große Topf mit Plätzchen in unserer Küche war randvoll mit Schokoladenplätzchen, und eine weitere Ladung kühlte auf dem Küchentisch ab. 24 Stunden später war kein Krümel mehr davon zu finden. Wer hatte die Schokoladenplätzchen geklaut? Nur meine Frau, unsere 3 Kinder und ich waren im Haus gewesen. Deshalb führte ich, solange die Erinnerungen noch frisch waren, einen kleinen Gedächtnistest durch. Andy gab zu, 20 Plätzchen verschlungen zu haben, Peter gestand 15, und die 6-jährige Laura glaubte, sie habe sich so ungefähr mit 15 Plätzchen vollgestopft. Meine Frau Carol erinnerte sich, 6 Plätzchen gegessen zu haben, und ich selbst erinnerte mich an den Verzehr von 15 Plätzchen, wobei ich noch weitere 18 mit ins Büro genommen hatte. Für 89 Plätzchen mussten wir demnach gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Aber so ganz war das Rätsel damit noch nicht gelöst, denn es waren ursprünglich 160 gewesen.
415 9.5 · Vergessen
In Experimenten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Phänomen der erinnerten Plätzchen hatten, wiesen Ross et al. (1981) nach, dass Menschen unwissentlich ihre eigene Geschichte überarbeiten. Ross überzeugte seine Versuchsteilnehmer davon, dass häufiges Zähneputzen wünschenswert ist. Daraufhin erinnerten sie sich, sich in den letzten beiden Wochen häufig die Zähne geputzt zu haben, und zwar häufiger als andere Menschen. Studierende, die an einem Seminar über Methoden zum erfolgreichen Lernen teilgenommen hatten, das in der Werbung stark angepriesen wurde, kamen anschließend zu einer übertriebenen Einschätzung dessen, wie viel besser ihre Lernfähigkeit tatsächlich geworden war. Weil sie ihre Lerngewohnheiten aus der Zeit vor dem Seminar geringer einschätzten, kamen sie selbst zu der Überzeugung, dass sie wirklich von dem Seminar profitiert hatten (Conway u. Ross 1984). Sich an die eigene Vergangenheit erinnern bedeutet häufig, sie gleichzeitig zu überarbeiten. Warum lässt unser Gedächtnis uns im Stich? Warum haben wir, meine Familie und ich, nicht enkodiert, gespeichert und abgerufen, wie viele Plätzchen jeder von uns tatsächlich gegessen hatte? . Abb. 9.25 zeigt, dass wir sensorische Informationen automatisch und mit erstaunlicher Genauigkeit enkodieren. Wäre es möglich, dass unsere Erinnerung an die Plätzchen – so ähnlich wie Ebbinghaus’ Erinnerung an seine sinnlosen Silben – genau so schnell dahinschwand wie die Plätzchen selbst? Oder ist die Information vielleicht noch vorhanden, aber nicht abrufbar, weil es uns so peinlich wäre, uns zu erinnern? Sigmund Freud wies mit seinem Konzept der Verdrängung darauf hin, dass unser Gedächtnissystem tatsächlich schmerzliche Erinnerungen einer Zensur unterzieht. Vermutlich verdrängen wir schmerzliche Erinnerungen, um unser Selbstkonzept zu schützen und unsere Angst zu vermindern. Doch die unterdrückte Erinnerung bleibt erhalten, sagte Freud, und kann vielleicht mit Geduld und Anstrengung bzw. im Rahmen einer Therapie in späterer Zeit durch einen bestimmten Hinweisreiz wieder abgerufen werden. Es gab den Fall einer Frau, die eine heftige und unerklärliche Angst vor fließendem Wasser hatte. Das Rätsel löste sich eines Tages durch eine Tante, die flüsterte: »Ich habe das nie erzählt.« Es war, als hätten diese Worte eine erloschene Kerze wieder angezündet: Sie lösten bei der Frau die Erinnerung an eine bestimmte Situation aus. Als kleines Kind war sie ungehorsam gewesen, war bei einem Picknick mit der Familie weggelaufen und unter einen Wasserfall geraten, und sie konnte sich nicht aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Die Tante hatte sie gerettet und hatte versprochen, den Eltern nichts davon zu sagen (Kihlstrom 1990). Derartige Geschichten sind der Nährboden für die heute weit verbreitete Ansicht (9 von 10 Studierenden glauben daran), dass »die Erinnerung an schmerzliche Erfahrungen manchmal ins Unbewusste verschoben wird« (Brown et al. 1996). Für Freuds Psychologie war Verdrängung ein zentrales Thema und wurde Bestandteil der Legenden, die sich um die Psychoanalyse ranken. Fast jeder Mensch glaubt daran. Therapeuten arbeiten häufig mit dieser Annahme. Doch eine steigende Zahl von Gedächtnisforschern glaubt, dass Verdrängung selten oder gar nicht stattfindet. Weiter oben haben wir angemerkt, dass Emotionen und die damit verbundenen Stresshormone Erinnerungen festigen. Aber wie ist es mit schrecklichen Geschehnissen? Ist es normal, dass sich Menschen nur schlecht an traumatische Erfahrungen erinnern können oder sie nur mit Mühe vergessen können? Wir werden darauf zurückkommen.
. Abb. 9.25. Wann wird vergessen? Zum Vergessen kann es in jeder Phase des Erinnerungsprozesses kommen. Bei der Verarbeitung werden die Informationen gefiltert und verändert, und manchmal geht ein Teil davon verloren
»Man muss sich an die Ereignisse so erinnern, wie es gewünscht wird. Und wenn zu diesem Zweck die eigenen Erinnerungen geändert werden müssen . . ., dann muss man vergessen, dass man sie geändert hat. Das ist ein Trick, den man lernen kann, genau wie andere Denktechniken. . . . Wir nennen es Doppeldenk.« George Orwell (»Neunzehnhundertvierundachtzig«, 1948) Verdrängung (repression): In der psychoanalytischen Theorie gilt Verdrängung als wichtigster Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die Angst auslösen, aus dem Bewusstsein gedrängt werden.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Lernziele Abschnitt 9.5 Vergessen Ziel 18: Erklären Sie, warum wir unsere Fähigkeit zu vergessen positiv bewerten sollten, und unterscheiden Sie 3 allgemeine Arten, wie unser Gedächtnis scheitern kann. Ohne die Fähigkeit, vergessen zu können, würden wir von nicht mehr aktuellen und irrelevanten Informationen überwältigt. Unser Gedächtnis kann uns scheitern lassen durch Vergessen (geistige Abwesenheit, Vergänglichkeit und Abblocken), durch Verzerrung (Fehlattribution, Beeinflussbarkeit und systematische Fehler) und durch Sich-Aufdrängen (Persistenz ungewollter Erinnerungen). Ziel 19: Erörtern Sie, welche Rolle das Scheitern der Enkodierung beim Vergessen spielt. Was wir (durch bewusste oder durch automatische Verarbeitung) enkodieren, ist nur ein sehr begrenzter Teil der sensorischen Reize aus unserer Umgebung. Und in dem Maße, in dem wir altern, wird unsere Enkodierung langsamer und weniger effizient. Ohne Enkodierung gelangen die Informationen nicht in unseren Langzeitspeicher und können nicht abgerufen werden.
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Ziel 20: Erörtern Sie den Begriff des Speicherzerfalls, und beschreiben Sie die Vergessenskurve von Ebbinghaus. Enkodierte Erinnerungen können nach der Speicherung verblassen. Aufgrund seiner Forschungsarbeiten zum Lernen und Behalten konnte Ebbinghaus feststellen, dass das Vergessen im zeitlichen Verlauf zu Beginn rasch erfolgt und dann mit der Zeit langsamer wird; dieses Prinzip ist als Vergessenskurve bekannt.
9.6
Ziel 21: Stellen Sie die proaktive und die retroaktive Interferenz einander gegenüber, und erklären Sie, wie sie ein Scheitern des Abrufs verursachen können. Ein Grund, warum es zum Scheitern des Abrufs kommt, ist, dass alte und neue Informationen beim Abruf miteinander konkurrieren. Bei der proaktiven Interferenz behindert etwas, was wir in der Vergangenheit gelernt haben (die alte Telefonnummer eines Freundes), unsere Fähigkeit, etwas abzurufen, was wir kürzlich gelernt haben (die neue Nummer eines Freundes). Bei der retroaktiven Interferenz behindert etwas, was wir kürzlich gelernt haben (der Wortschatz für den Spanischkurs in diesem Semester), etwas, was wir in der Vergangenheit gelernt haben (den Wortschatz aus dem Französischkurs im letzten Jahr). Ziel 22: Fassen Sie Freuds Begriff der Verdrängung zusammen, und machen Sie eine Aussage darüber, ob diese Auffassung durch die aktuelle Gedächtnisforschung bestätigt wird. Freud war der Meinung, dass wir Angst auslösende peinliche Gedanken, Gefühle und Erinnerungen aus unseren bewussten Gedanken verbannen – das ist etwas, was er als Verdrängung bezeichnete. Nach seiner Auffassung unterdrückt dieses motivierte Vergessen Erinnerungen, lässt sie jedoch unter den richtigen Bedingungen für den späteren Abruf wieder verfügbar werden. Die Gedächtnisforscher neigen zu der Auffassung, dass es nur selten zur Verdrängung kommt. > Denken Sie weiter: Die meisten Menschen wünschen sich ein besseres Gedächtnis, vor allem, wenn sie älter werden. Trifft das auch auf Sie zu? Oder wünschen Sie sich eher, Sie könnten alte Erinnerungen aus Ihrem Gedächtnis entfernen?
Konstruktion von Erinnerung
Stellen Sie sich vor, dass Sie an folgendem Experiment teilnehmen: Sie gehen zum Abendessen in ein wirklich schönes Restaurant. Man gibt Ihnen einen Platz an einem Tisch mit einer weißen Tischdecke. Sie lesen die Speisekarte. Sie sagen dem Kellner, dass Sie gern ein halb durchgebratenes Rippenstück hätten, dazu eine gebackene Kartoffel mit saurer Sahne und Salat mit einem Dressing aus Blauschimmelkäse. Sie bestellen auch Rotwein von der Weinkarte. Einige Minuten danach bringt der Kellner Ihren Salat, etwas später kommt dann das übrige Essen. Alles schmeckt Ihnen, außer dass das Rippenstück etwas zu sehr durchgebraten ist.
Sollte ich Ihnen just in diesem Moment die folgenden Fragen stellen (nach Hyde 1983), könnten Sie sicher mit vielen Einzelheiten aufwarten. Beantworten Sie mir doch bitte folgende Fragen, ohne den obigen Absatz noch einmal anzuschauen: 4 Welches Dressing sollte Ihr Salat haben? 4 War das Tischtuch rotkariert? 4 Was haben Sie zum Trinken bestellt? 4 Hat Ihnen der Kellner die Speisekarte gegeben?
417 9.6 · Konstruktion von Erinnerung
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Vermutlich konnten Sie genau wiederholen, was Sie bestellt haben, vielleicht konnten Sie sich sogar an die Farbe des Tischtuchs erinnern. Wir haben tatsächlich eine riesige Kapazität zum Speichern und Abrufen selbst kleinster Details unseres täglichen Lebens. Doch hat Ihnen der Kellner die Speisekarte gegeben? In dem Absatz oben steht nichts davon. Trotzdem beantworten viele Menschen diese Frage mit ja. Wir konstruieren unsere Erinnerungen häufig, während wir sie enkodieren, und wir verändern unsere Erinnerungen auch, wenn wir sie aus dem Gedächtnis hervorholen. Wie ein Wissenschaftler, der aus den Überresten eines Dinosauriers auf sein äußeres Erscheinungsbild schließt, schließen wir aus unseren gespeicherten Informationen und aus dem, was wir heute dazu annehmen, auf unsere Vergangenheit. Sie haben ein Schema für Restaurantbesuche entwickelt, und dieses Schema sorgt dafür, dass Sie Information filtern und fehlende Teile ergänzen und auf diese Weise Ihre Erinnerung konstruieren (zum Schemabegriff 7 Abschn. 4.2.2).
9.6.1 Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination
Elizabeth Loftus hat in über 200 Experimenten mit mehr als 20.000 Teilnehmern nachgewiesen, wie Augenzeugen in ähnlicher Weise ihre Erinnerungen rekonstruieren, sobald sie befragt werden. In einem heute als klassisch geltenden Experiment (Loftus u. Palmer 1974) sahen die Teilnehmer einen Film, in dem ein Verkehrsunfall gezeigt wurde, anschließend wurden sie danach gefragt, was sie gesehen hatten. Die Teilnehmer, deren Fragestellung lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie aufeinander krachten?« schätzten die Geschwindigkeit höher ein als die, deren Frage lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie zusammenstießen?« (im Orig.: »smashed into each other« versus »hit each other«). Eine Woche später fragten die Interviewer, ob die Teilnehmer sich erinnerten, Glassplitter gesehen zu haben. Die Teilnehmer, die die Worte »aufeinander krachten« gehört hatten, bejahten die Frage mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit als die Teilnehmer, die das Wort »zusammenstießen« gehört hatten (. Abb. 9.26). Tatsächlich waren im Film keine Glassplitter zu sehen gewesen. In vielen Folgeexperimenten überall auf der Welt wurde den Teilnehmern ein Vorfall gezeigt, sie erhielten dazu irreführende Informationen bzw. erhielten sie nicht und wurden dann einem Gedächtnistest unterzogen. Das Ergebnis dieser Experimente war immer gleich: Es gibt einen Fehlinformationseffekt. Wird den Versuchspersonen eine subtile Fehlinformation geliefert, dann erinnern sie sich falsch. Sie erinnerten sich an ein Stoppschild, obwohl es sich um das Schild »Vorfahrt gewähren« handelte, sie sahen einen Hammer an Stelle eines Schraubenziehers, Coladosen gingen als Erdnussdosen durch, aus der Zeitschrift »Vogue« wurde »Mademoiselle«, »Dr. Henderson« wurde als »Dr. Davidson«
Sipress, 1988
Ziel 23: Erklären Sie, wie Fehlinformationen und Imagination unsere Erinnerung an ein Ereignis verzerren können.
Fehlinformationseffekt (misinformation effect): irreführende Informationen, die in die Erinnerung an ein Ereignis eingebaut werden.
. Abb. 9.26. Konstruktion von Erinnerung Versuchspersonen sahen einen Film über einen Autounfall, dann stellte man ihnen eine Frage, die ihre Erinnerung in eine bestimmte Richtung lenkte. Daraufhin sah der Unfall in ihrer Erinnerung ernster aus als der, den sie gesehen hatten. (Aus Loftus 1979)
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Kapitel 9 · Gedächtnis
erinnert, Frühstücksflocken als Eier, und ein glatt rasierter Mann hatte in der Erinnerung ein Lippenbärtchen (Loftus et al. 1992). ! In dem Maße, wie die Erinnerung in der Zeit nach dem Vorfall verblasst, wird es leichter, eine Fehlinformation einfließen zu lassen (Loftus 1992).
»Eine Erinnerung hat keine Substanz. Sie kann überlagert werden. Ihre Fotosammlung kann Ihrem Gedächtnis nachhelfen, kann aber auch die Erinnerungen zerstören. . . . Die einzige Erinnerung, die Ihnen von Ihrer Reise bleibt, ist diese verflixte Ansammlung von Schnappschüssen.« Annie Dillard (»To Fashion a Text«, 1988)
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Der Fehlinformationseffekt ist dem Betroffenen so wenig bewusst, dass es schwer fällt, später zwischen der Erinnerung an ein tatsächliches Ereignis und einem suggerierten Ereignis zu unterscheiden (Schooler et al. 1986). Wenn wir von etwas berichten, was wir erlebt haben, dann füllen wir die Lücken in der Erinnerung mit plausiblen Vermutungen und Annahmen. Und wenn wir den Bericht ein paar Mal wiederholen, dann erinnern wir uns an die vermuteten Einzelheiten in einer Weise, als hätten wir sie tatsächlich so erlebt; denn diese Einzelheiten wurden in der Zwischenzeit vom Gedächtnis aufgenommen (Roediger et al. 1993). Auch wenn wir den lebhaften Bericht eines anderen Menschen hören, kann dies falsche Erinnerungen in unserem Gedächtnis verankern. Eine falsche Erinnerung kann auch dadurch entstehen, dass man sich immer wieder Handlungen und Ereignisse vorstellt, die es gar nicht gibt. In einem Versuch sollten sich Studierende immer wieder einfache Handlungen vorstellen, beispielsweise dass man einen Zahnstocher zerbricht oder einen Tacker hochhebt. Diese Studierenden erlebten danach eine »Vorstellungsinflation«, denn sie glaubten mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass sie in der ersten Phase des Experiments diese Dinge tatsächlich getan hatten (Goff u. Roediger 1998). Bei 2 weiteren Experimenten wurden amerikanische und britische Studierende gebeten, sich bestimmte Erfahrungen aus der Kindheit vorzustellen, etwa dass sie ein Fenster mit der Hand zerbrochen hätten oder dass eine Krankenschwester eine Probe von der Haut ihres kleinen Fingers genommen hätte. In beiden Fällen war es so: Ein Viertel erinnerte sich später daran, dass das vorgestellte Ereignis wirklich passiert sei (Garry et al. 1996; Mazzoni u. Memon 2003). Zur Vorstellungsinflation kommt es teilweise, weil ähnliche Hirnbereiche aktiviert werden, wenn man etwas visualisiert und wenn man tatsächlich etwas wahrnimmt (Gonsalves et al. 2004). ! Etwas, was man sich einbildet, kommt einem nach einiger Zeit vertraut vor, und Vertrautes kommt einem realer vor. Je lebhafter sich also ein Mensch etwas vorstellen kann, desto wahrscheinlicher ist es, dass er seine Vorstellung in eine Erinnerung verwandelt (Loftus 2001; Porter et al. 2000).
»Nicht die Anzahl der Dinge, an die ich mich erinnere, ist erstaunlich, sondern die Anzahl der Dinge, die gar nicht so waren, wie ich sie erinnere.« Mark Twain (1835–1910)
Leute, die glauben, sie seien von Außerirdischen entführt und in einem Raumschiff medizinisch untersucht worden, haben tendenziell eine lebhaftere Phantasie und sind bei Gedächtnistests anfälliger für falsche Erinnerungen (Clancy et al. 2002). Diejenigen, die glauben, sie hätten Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit aufgedeckt, neigen ebenfalls dazu, eine lebendige Vorstellungswelt und hohe Werte in Tests für falsche Erinnerungen zu haben (Clancy et al. 2000; McNally 2003). Um herauszufinden, wie weit das menschliche Denken geht, wenn es auf der Suche nach Fakten Fiktionen erschafft, hielten Wiseman et al. (1999) 8 Séancen ab, an denen jeweils 25 neugierige Menschen teilnahmen. Geleitet wurden diese »Séancen« von einem »Medium«, das in Wirklichkeit ein Schauspieler und Magier war. Während der Sitzung bat das Medium die Teilnehmer, sich darauf zu konzentrieren, den Tisch in Bewegung zu setzen. Zwar bewegte sich der Tisch nicht, doch das Medium behauptete, er bewege sich. »Gut so. Hebt ihn hoch. Das ist sehr gut. Weiter konzentrieren! Haltet den Tisch in der Luft!« Bei einer Befragung 2 Wochen nach der Séance erinnerten sich 34% der Teilnehmer daran, dass sie den Tisch tatsächlich frei schweben gesehen hätten. Auch Psychologen sind nicht gegen die Konstruktion von Erinnerungen gefeit: Zu seiner großen Verblüffung erfuhr der Psychologe Jean Piaget als Erwachsener, dass seine lebhafte und detailreiche Erinnerung daran, wie sein Kindermädchen verhindert hatte, dass er entführt wurde, völlig falsch war. Offensichtlich hatte er die Erinnerung konstruiert, weil die Geschichte immer wieder erzählt wurde (sein Kindermädchen gestand später, nachdem es einen anderen Glauben angenommen hatte, dass die ganze Geschichte frei erfunden sei).
419 9.6 · Konstruktion von Erinnerung
9.6.2 Quellenamnesie Ziel 24: Stellen Sie dar, welche Rolle die Quellenamnesie bei falschen Erinnerungen spielt.
Piaget erinnerte sich, doch schrieb er seine Erinnerung einer falschen Quelle zu (und zwar mehr seiner eigenen Erfahrung als den Geschichten seines Kindermädchens). Beim Enkodieren von Erinnerungen verteilen wir verschiedene Aspekte einer Erinnerung auf verschiedene Bereiche des Gehirns. Die Quelle gehört zu den empfindlichsten Teilen einer Erinnerung. So kann es passieren, dass wir einen Menschen wiedererkennen, jedoch keine Ahnung haben, wo wir ihm schon einmal begegnet sind. Es kommt auch vor, dass wir uns etwas vorstellen oder von etwas träumen und später nicht sicher sind, ob das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Manchmal hören wir etwas, und unsere Erinnerung sagt uns, wir hätten etwas gesehen (Henkel et al. 2000). In all diesen Fällen behalten wir das Bild, allerdings ohne den Kontext, in dem wir die Erinnerung enkodiert haben. Poole u. Lindsay (1995, 2001, 2002) wiederholten Piagets Erfahrung mit der Quellenamnesie (auch Quellen-Fehlattribution genannt). Sie inszenierten eine Begegnung von Vorschulkindern mit »Mr. Science«, der den Kindern allerlei Dinge demonstrierte, beispielsweise, wie man einen Luftballon mit Hilfe von Backpulver und Essig aufbläst. Drei Monate später lasen die Eltern den Kindern an 3 aufeinander folgenden Tagen eine Geschichte vor, in der sie selbst und Mr. Science vorkamen. In den Geschichten wurden manche der Dinge beschrieben, die sie selbst erlebt hatten, aber auch Dinge, die sie nicht erlebt hatten. Dann kam ein anderer Interviewer und fragte sie, was Mr. Science ihnen vorgeführt hatte. »Hatte Mr. Science eine Maschine, die an Seilen gezogen wurde?« Vier von 10 Kindern erinnerten sich spontan, dass Mr. Science Sachen gemacht hatte, die nur in der Geschichte vorgekommen waren.
9.6.3 Echte und falsche Erinnerungen Ziel 25: Listen Sie einige Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen echten und falschen Erinnerungen auf.
Erinnerung kann also ebenso gut eine Reproduktion wie eine Rekonstruktion sein, und wir können nicht sicher sein, ob eine Erinnerung wirklich eine Erinnerung ist, nur weil wir den Eindruck haben, es könne eine echte Erinnerung sein. So wie uns eine Wahrnehmungstäuschung sehr real vorkommen kann, erscheint uns vielleicht auch eine nicht reale Erinnerung als sehr real. Die heutigen Wissenschaftler sind sich darin einig, dass es eine Verwandtschaft zwischen Erinnerung und Wahrnehmung gibt: Erinnerungen sind Wahrnehmungen aus der Vergangenheit (Koriat et al. 2000). Und Halberstadt u. Niedenthal (2001) konnten zeigen, auf welche Weise die ursprüngliche Interpretation Einfluss auf die Erinnerung an die Wahrnehmung hat. Sie forderten Studierende auf, gemorphte Gesichter zu betrachten, die so gestaltet waren, dass sie Gefühlsmischungen wie Glück und Wut gleichzeitig ausdrückten (. Abb. 9.27a). Die Studierenden sollten sich vorstellen und erklären, warum diese Frau wütend (oder glücklich) aussieht. Eine halbe Stunde später baten die Forscher die Studierenden, sich ein Videoband anzusehen, auf dem ein künstlich erzeugter Übergang vom glücklichen zum wütenden Gesicht zu erkennen war. Die Studierenden sollten dann einen Schieberegler, der den Gesichtsausdruck veränderte, so lange bedienen, bis der Eindruck, den sie als ersten gesehen hatten, wiederhergestellt war (. Abb. 9.27b). Die Studierenden, die zuerst die Wut bemerkt hatten (»Diese Frau ist wütend, weil ihre beste Freundin sie mit ihrem Freund betrogen hat«) schufen ein Gesicht, das wütender war als das Gesicht, das von jenen Teilnehmern erzeugt wurde, die den Gesichtsausdruck zunächst glücklich gefunden hatten (»Diese Frau ist sehr glücklich, weil jeder an ihren Geburtstag gedacht hat«). Auch die Beständigkeit einer Erinnerung sagt nichts darüber aus, ob sie real ist oder nicht. Die Gedächtnisforscher Brainerd u. Reyna (1998, 2002; Brainerd et al. 1995) verweisen darauf, dass Erinnerungen, die aus unserer eigenen Erfahrung stammen, mehr Einzelheiten aufweisen als Erinnerungen, die ihren Ursprung in unserer Fantasie haben. Erinnerungen an etwas, was wir nur
Quellenamnesie oder Quellen-Fehlattribution (source amnesia): Man ordnet ein Ereignis oder etwas, was man erlebt, gehört, gelesen oder sich vorgestellt hat, nicht der richtigen Quelle zu. Zusammen mit dem Fehlinformationseffekt ist die Quellenamnesie der Ursprung vieler falscher Erinnerungen. Manchmal werden auch Schriftsteller und Liedermacher Opfer einer Quellenamnesie. Sie glauben, ein Gedanke käme aus ihrem eigenen kreativen Gehirn, während sie sich in Wirklichkeit eines unbeabsichtigten Plagiats schuldig machen – denn sie reproduzieren etwas, was sie früher einmal gehört oder gelesen haben.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
. Abb. 9.27a,b. Unsere Annahmen ändern unsere Erinnerungen an die eigene Wahrnehmung Wissenschaftler zeigten Versuchspersonen vom Computer veränderte Gesichter, die zwei einander widersprechende Gefühle ausdrücken, z. B. wütend/ glücklich (a). Die Versuchspersonen wurden gebeten, zu erklären, warum die Frau wütend bzw. glücklich aussieht. Diejenigen, die später gebeten worden waren, einen »wütenden« Gesichtsausdruck zu erklären (dabei mussten sie auf dem Bildschirm einen Schalter so lange verschieben, bis das dort gezeigte und simultan veränderte Bild dem entsprach, was sie zuvor gesehen hatte) erinnerten sich an ein wütenderes Gesicht, wie z. B. das in b abgebildete
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»Sich an etwas erinnern ist etwas anderes, als das Lesen eines Buches, es ist eher so etwas wie das Schreiben eines Buches mit Hilfe einzelner bruchstückhafter Notizen.« Der Psychologe John F. Kihlstrom (1994)
© Simon Niedenthal
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in der Fantasie erlebt haben, beschränken sich mehr auf den eigentlichen Inhalt des Ereignisses bzw. die Bedeutung und die Gefühle, die wir damit assoziieren. Weil solche auf den reinen Inhalt beschränkten Erinnerungen stabil sind, bleiben die falschen Erinnerungen von Kindern manchmal länger bestehen als ihre echten Erinnerungen, vor allem wenn Kinder heranreifen und eher in der Lage sind, das Wesentliche zu verarbeiten (Brainerd u. Poole 1997). Und wenn Therapeuten oder Ermittlungsbeamte mehr nach dem allgemeinen Geschehen als nach Einzelheiten fragen, ist die Gefahr größer, falsche Erinnerungen zutage zu fördern. Falsche Erinnerungen, die durch die Suggestion von Fehlinformation oder durch die Fehlattribution der Quelle entstehen, mögen dem Betreffenden genau so real erscheinen wie echte Erinnerungen und auch sehr hartnäckig sein. Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Ich lese Ihnen eine Liste mit Wörtern wie »Bonbon«, »Zucker«, »Honig« und »Geschmack« vor. Etwas später fordere ich Sie auf, die dargebotenen Wörter auf einer längeren Liste wiederzuerkennen. Wenn Sie so reagieren wie die Versuchsteilnehmer von Roediger u. McDermott (1995), dann unterlaufen Ihnen 3–4 Irrtümer: Sie erinnern sich fälschlicherweise an ein ähnliches Wort, das nicht vorgelesen wurde, vielleicht das Wort »süß«. Wir erinnern uns leichter an das Wesentliche als an die Wörter selbst. Bei Experimenten mit den Aussagen von Augenzeugen fanden die Forscher des öfteren, dass jene Augenzeugen am überzeugendsten wirkten, die sich ihrer Aussage am sichersten waren und deren Antworten in sich konsistent waren; häufig sind gerade diese Zeugen jedoch nicht die präzisesten. Augenzeugen, ganz gleich, ob sie Recht oder Unrecht haben, weisen mehr oder weniger den gleichen Grad an Selbstsicherheit auf (Bothwell et al. 1987; Cutler u. Penrod 1989; Wells u. Murray 1984). Die Konstruktion von Erinnerung erklärt auch, weshalb »hypnotisch aufgefrischte« Erinnerungen an Verbrechen so häufig Fehler enthalten, von denen einige durchaus ihren Ursprung in den Fragen haben, mit denen der Hypnotiseur arbeitet (»Haben Sie laute Geräusche gehört?«). Das Phänomen der Konstruktion von Erinnerung ist auch eine Erklärung dafür, warum zwei Menschen, die sich ineinander verlieben, ihren ersten Eindruck vom anderen überschätzen (»Es war Liebe auf den ersten Blick«), während Paare, deren Beziehung zerbricht, ihre frühere Liebe eher unterschätzen (»Wir haben eigentlich nie richtig zusammengepasst«) (McFarland u. Ross 1987). Die konstruierte Erinnerung erklärt auch, warum sich Menschen auf die Frage, welche Haltung sie vor 10 Jahren gegenüber Marihuana oder bei der Diskussion über Geschlechterrollen einnahmen, an Einstellungen erinnern, die mehr Ähnlichkeit mit ihrer aktuellen Meinung aufweisen als mit der Meinung, die sie ein Jahrzehnt früher vertreten haben (Markus 1986). Ein Forscherteam befragte 73 Jungen im Alter von etwa 15 Jahren und wiederholte die Befragung 35 Jahre später. Die Teilnehmer wurden gebeten, sich daran zu erinnern, was sie damals über ihre Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen berichtet hatten. Die meisten reproduzierten Aussagen, deren Übereinstimmung mit ihren früheren Aussagen sich bestenfalls im Zufallsbereich bewegte. Nur ein Drittel der Männer erinnerte sich als Erwachsene an körperliche Bestrafung in Kindheit und Jugend; bei der Befragung der Jugendlichen hatten 82% von körperlicher Bestrafung gesprochen (Offer et al. 2000). Vaillant (1977, S. 197) verfolgte das Leben von Erwachsenen über
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einen gewissen Zeitraum hinweg und merkte dann an: »Aus jeder Raupe wird einmal ein Schmetterling, der dann behauptet, schon in der Kindheit ein kleiner Schmetterling gewesen zu sein. Der Reifungsprozess macht uns alle zu Lügnern.« Der australische Psychologe Donald Thompson wurde auf höchst seltsame Weise mit seiner eigenen Forschung über verzerrte Erinnerungen konfrontiert: Er wurde als potenzieller Vergewaltiger verhört. Zwar entsprach sein Aussehen fast hundertprozentig der Erinnerung des Opfers an den Vergewaltiger, doch Thompson hatte ein fast wasserdichtes Alibi für die Zeit unmittelbar vor der Vergewaltigung: Er wurde im Fernsehen live interviewt. Es wäre ihm kaum möglich gewesen, rechtzeitig an den Schauplatz des Verbrechens zu gelangen. Es stellte sich dann heraus, dass die vergewaltigte Frau das Interview – Gipfel der Ironie: über das Wiedererkennen von Gesichtern – im Fernsehen gesehen hatte und Opfer einer Quellenamnesie geworden war: Sie hatte ihre Erinnerung an Thompson mit der Erinnerung an den Vergewaltiger vermischt (Schacter 1996). Fisher et al. (1987; Fisher u. Geiselman 1992) erkannten, dass es bei der Befragung von Zeugen durch Polizeibeamte und Staatsanwälte zu Fehlinformationseffekten kommt, wenn die Fragen so gestellt werden, dass sie Hinweise auf die Meinung der Polizei zu dem Vorfall enthalten. Fisher und seine Kollegen trainierten Polizeibeamte in einer Technik, die sie »kognitives Interview« nannten: weniger Suggestivfragen, dafür mehr echte Fragen. Um Abrufreize zu aktivieren, sollte der Ermittlungsbeamte den Zeugen bitten, sich die Szene noch einmal vorzustellen: Zunächst wird nach dem Wetter, der Uhrzeit, den Lichtverhältnissen, Geräuschen, Gerüchen, der Anordnung von Gegenständen und nach der Stimmung des Zeugen gefragt. Danach erzählt der Zeuge alles, woran er sich erinnert, auch scheinbar triviale Details, dabei sollte er nicht unterbrochen werden. Erst dann stellt der Ermittlungsbeamte Fragen, die in eine bestimmte Richtung gehen: »Gab es etwas Ungewöhnliches im Aussehen oder an der Bekleidung der Person?« Fisher u. Geiselman berichten, dass die Präzision der Erinnerung um etwa 50% höher ist, wenn man die Technik der kognitiven Befragung einsetzt.
9.6.4 Kinder als Augenzeugen Ziel 26: Nennen Sie Argumente für und gegen die Position, dass die Berichte sehr junger Kinder über einen Missbrauch zuverlässig sind.
Wir wissen, dass Erinnerungen, auch wenn sie ganz ehrlich berichtet werden, manchmal dennoch zutiefst falsch sein können. Wäre es auch denkbar, dass die Erinnerung von Kindern an sexuellen Missbrauch gleichfalls ein Irrtum sein könnte? Vielleicht müssen wir uns fragen, wer häufiger in die Rolle des Opfers gerät: missbrauchte Kinder, denen nicht geglaubt wird, oder fälschlich beschuldigte Erwachsene, deren Ruf ruiniert wird? Wie zuverlässig sind Berichte, die von Kindern abgegeben werden? Wie wir bereits gesehen haben, können Fragen, die in eine bestimmte Richtung weisen, bewirken, dass man sich falsche Erinnerungen einprägt. Wir wissen, dass Kinder, obwohl sie bei Kriminalfällen präzise Augenzeugen sein können, tendenziell leicht zu beeinflussen sind. Viele kleine Kinder haben fälschlich berichtet, dass eine Betreuerin ihr Knie abgeleckt hat, dass ein Mann ihnen »etwas Ekliges« in den Mund gesteckt hat, dass der Arzt ihnen einen Stock in die Genitalien geschoben hat und dass jemand ihre Geschlechtsteile berührt hat. Mit suggestiven Befragungstechniken können die meisten Vorschulkinder und viele ältere Kinder dazu gebracht werden, Vorfälle zu berichten, die nicht den Tatsachen entsprechen, etwa dass ein Dieb in ihrem Kindergarten Nahrungsmittel gestohlen hat (Bruck u. Ceci 1999, 2004). Befragt man jedoch Kinder in neutralen Worten, die sie verstehen, dann können sie genau berichten, was geschehen ist und wer es getan hat (Goodman et al. 1990; Howe 1997; Pipe 1996). Wenn das zuvor beschriebene kognitive Interview verwendet wird, geben selbst 4- bis 5-Jährige genauere Erinnerungen an (Holliday u. Albon 2004; Pipe et al. 2004). ! Kinder sind dann besonders präzise, wenn vor dem Interview kein Erwachsener mit ihnen spricht, der in die Sache involviert ist, und wenn sie ihre Aussage in einem ersten Interview mit einem neutralen Erwachsenen machen können, dessen Fragen nicht in eine bestimmte Richtung weisen.
Reuters/Rick Wilking/Archive Photos/Corbis
9.6 · Konstruktion von Erinnerung
Erinnerungen eines Augenzeugen Erinnerungen an Vorfälle, die wir selbst miterlebt haben, sind fehleranfällig, vor allem dann, wenn die Erinnerungen durch die Art der Fragestellung in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Auch unser relativ gutes Gedächtnis für Gesichter funktioniert nicht wie ein Fotoapparat. Das zeigt sich deutlich beim Vergleich des Fotos mit der Skizze, die die Polizei nach Zeugenaussagen von dem Mörder Theodore Kaczynski, dem »Unabomber«, anfertigte.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
Studien über die Erinnerungen von Kindern an körperliche Untersuchungen belegen sowohl ihre Genauigkeit als auch ihre gelegentlichen Ausrutscher. Baker-Ward et al. (1993) überprüfte die Erinnerungen von Kindern mit allgemeinen Fragen (»Sag mir, was der Arzt bei der Untersuchung gemacht hat«) und spezifischen Fragen (»Hat der Arzt mit einem Licht in dein Auge geleuchtet?«). Drei bis 6 Wochen nach der Untersuchung erinnerten sich etwa 60% der 3-Jährigen und 90% der 7-Jährigen daran, was der Arzt gemacht hatte. Wenn man sie nach Dingen fragte, die nicht geschehen waren (»Hat dir der Arzt die Haare geschnitten?« und »Saß die Krankenschwester auf dir drauf?«), gaben fast 30% der 3-Jährigen und 15% der 7-Jährigen falsche Antworten. Ceci (1993) stellt fest, »dass es verheerend wäre, wenn wir die ungeheure Verbreitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus den Augen verlieren würden«. Doch die Studien, die Ceci u. Bruck (1993a, 1995) durchführten, sensibilisierten sie auch dafür, wie leicht es ist, die Erinnerungen von Kindern zu beeinflussen. In einer ihrer Studien forderten sie 3-jährige Kinder auf, an einer anatomisch korrekten Puppe zu zeigen, wo der Kinderarzt sie angefasst hatte. 55% der Kinder, deren Genitalien nicht untersucht worden waren, zeigten entweder auf den Genital- oder den Analbereich. In einer anderen Studie ließen Ceci et al. (1994) ein Kind aus einem Kartenspiel, auf dessen Karten bestimmte Ereignisse beschrieben waren, eine Karte auswählen, die dem Kind dann von einem Erwachsenen vorgelesen wurde. Die Einleitung lautete: »Denk mal gut nach und sag mir, ob dir das schon mal passiert ist. Kannst du dich daran erinnern, dass du mit einer Mausefalle am Finger ins Krankenhaus gegangen bist?« Nach 10 im Wochenrythmus stattfindenden Befragungen, bei denen immer der gleiche Erwachsene die Kinder aufforderte, über verschiedene tatsächliche und fiktive Ereignisse nachzudenken, kam ein neuer Erwachsener und stellte den Kindern dieselben Fragen. Das verblüffende Ergebnis: 58% der Vorschulkinder produzierten falsch (oft lebhafte) Geschichten von einem oder mehreren Ereignissen, die sie nie erlebt hatten, wie z. B. bei diesen kleinen Jungen (Ceci et al. 1994):
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Mein Bruder Colin wollte mir Blowtorch (eine Spielzeugfigur) wegnehmen. Ich wollte Blowtorch aber nicht loslassen, deshalb schubste er mich in den Holzstapel, in dem die Mausefalle war. Und da kam mein Finger in die Falle. Und dann fuhren wir zum Krankenhaus, meine Mama, mein Papa, Colin und ich, wir fuhren mit unserem Kleinbus zum Krankenhaus, denn das war weit. Und der Doktor hat dann den Finger verbunden. »Die Forschung bereitet mir Sorgen wegen der Möglichkeiten falscher Anschuldigungen. Man erweist der wissenschaftlichen Integrität keine Ehre, wenn man keine eindeutige Aussage trifft, obwohl die Befunde in eine Richtung deuten.« Stephen Ceci (1993)
Von Geschichten, die so viele Einzelheiten enthalten, ließen sich auch professionelle Psychologen, die sich auf die Befragung von Kindern spezialisiert haben, häufig täuschen. Sie konnten echte Erinnerungen nicht mit Sicherheit von falschen Erinnerungen unterscheiden. Die Kinder konnten das auch nicht. Als man das Kind aus dem oben angeführten Bericht darauf hinwies, dass seine Eltern ihm mehrfach gesagt hatten, diese Mausefallengeschichte sei doch gar nie passiert, sondern er hätte sie sich ausgedacht, protestierte er: »Aber es ist wirklich passiert. Ich kann mich daran erinnern.«
9.6.5 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch Ziel 27: Skizzieren Sie die Kontroverse, die durch Berichte über verdrängte und wieder aufgedeckte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit ausgelöst wurde.
In der heftigen Kontroverse um das Gedächtnis unter den Psychologen in den 90er Jahren ging es um die Behauptung, dass Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit verdrängt würden, später aber wieder aufgedeckt werden könnten. Im Jahre 2002 kamen solche Behauptungen bei anscheinend glaubwürdigeren Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs durch einige Priester erneut auf. Wenn ein klinischer Psychologe einen Menschen dazu verleitet, Erinnerungen an eine Missbrauchserfahrung in der Kindheit »aufzudecken«, arbeitet er dann im Dienste der Wahrheit, oder ist es möglich, dass er eine falsche Erinnerung auslöst, die einem schuldlosen Erwachsenen erheblichen Schaden zufügt?
423 9.6 · Konstruktion von Erinnerung
Einige Therapeuten haben bei ihren Patienten folgendes Argument vorgebracht: »Menschen, die missbraucht worden sind, haben häufig die Symptome, die Sie haben. Deshalb sind Sie wahrscheinlich missbraucht worden. Wir wollen sehen, ob Sie das mit Hilfe von Hypnose oder von Medikamenten, durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit und durch die Visualisierung Ihres Traumas aufdecken können.« In einer landesweiten Umfrage in den USA schätzte der durchschnittliche Therapeut, dass etwa 11% der Bevölkerung – also etwa 34 Mio. Menschen – verdrängte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in sich tragen (Kamena 1998). Poole et al. (1995) berichten über britische und amerikanische Therapeuten, von denen 70% sagten, sie hätten Techniken wie Hypnose oder Drogen eingesetzt, um ihre Klienten dabei zu unterstützen, verdrängte Erinnerungen an einen möglichen sexuellen Missbrauch in der Kindheit ans Licht zu bringen. Dank der Forschung über Quellenamnesie und Fehlinformationseffekte wissen wir, dass solche Techniken bei vielen Patienten bewirken, dass sie tatsächlich das Bild einer Person sehen, von der sie bedroht werden. Bei fortgesetzter Visualisierung wird dieses Bild immer deutlicher und versetzt den Patienten in einen Zustand der Betäubung und der Wut, in dem er bereit ist, die betreffende Person, häufig ein Elternteil, ein Verwandter oder ein Mitglied des Klerus, damit zu konfrontieren oder vor Gericht zu bringen. Dort weist dann der angebliche Missetäter, wie der Therapeut vorhergesagt hat, die Beschuldigung aufs Heftigste zurück. Eine Frau erinnerte sich in ihrer 32. Therapiesitzung daran, dass ihr Vater sie im Alter von 15 Monaten missbraucht hätte. Nach einem solchen von außen gestützten Abruf aus dem Gedächtnis behauptete die Schauspielerin Roseanne Barr (1991), sie habe Erinnerungen an sexuellen Missbrauch zu Beginn der Säuglingszeit aufgedeckt. Ohne die professionelle Vorgehensweise der meisten Therapeuten in Frage zu stellen, vergleichen Skeptiker die nicht bestätigten Beschuldigungen, die von einigen Therapeuten in den 90er Jahren vorgebracht wurden, mit einem Neuaufleben der Hexenprozesse. Klinische Psychologen, die Techniken zur »Gedächtnisarbeit« wie »geführte Imagination«, Hypnose oder Traumdeutung einsetzen, um Erinnerungen aufzudecken, fügen nach Loftus et al. (1995) dem gesamten Bereich der Psychologie großen Schaden zu. Aufgebrachte klinische Psychologen entgegnen darauf, dass die, die wiedergefundene Erinnerungen an Missbrauch in Frage stellen, ihrerseits das Trauma der Missbrauchten verstärken und das Spiel der Täter mitmachen. In dem Bemühen, einen gemeinsamen Nenner zu finden, von dem aus diese ideologische Schlacht zu einem Ende gebracht werden könnte, wurden Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Und eine Reihe psychologischer und psychiatrischer Berufsverbände, darunter auch die American Psychological Association, veröffentlichten eine gemeinsame Verlautbarung. Die, die mit dem Schutz der missbrauchten Kinder betraut sind, und die, die mit der Verteidigung der fälschlich angeklagten Erwachsenen betraut sind, stimmen in folgenden Punkten überein: 4 Ungerechtigkeit ist eine Realität. Schuldlose Menschen wurden zu Unrecht verurteilt. Schuldige entzogen sich der Verantwortung, indem sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ankläger säten. 4 Inzest und andere Fälle sexuellen Missbrauchs sind eine Realität. Inzest kommt häufiger vor, als wir früher angenommen haben. Es gibt kein typisches Syndrom bei dem, der so etwas durchgemacht hat (Kendall-Tacket et al. 1993). Sexueller Missbrauch kann jedoch bei den Opfern eine Prädisposition für Probleme schaffen, die von sexueller Dysfunktion bis zur Depression reichen. 4 Vergessen ist eine Realität. Viele der Missbrauchten waren entweder sehr jung, als sie missbraucht wurden, oder sie haben vielleicht die Bedeutung dessen, was sie erlebt haben, nicht verstanden: Unter solchen Umständen ist Vergessen »sehr verbreitet«. Es gehört zur Normalität unseres Alltags, ein einmaliges Ereignis zu vergessen, ganz gleich, ob es negativ oder positiv war. 4 Wieder aufgedeckte Erinnerungen sind nicht ungewöhnlich. Mit einer Bemerkung oder einem Ereignis, die als Auslöser dienen, wecken wir Erinnerungen an längst vergessene Ereignisse, ganz gleich, ob diese angenehm oder unangenehm waren. Worüber man streiten kann, ist die Frage, ob das Unbewusste manchmal schmerzhafte Erfahrungen gewaltsam verdrängt, und falls das stimmt, ob solche Erfahrungen dann durch bestimmte therapeutische Techniken der Erinnerung wieder zugänglich gemacht werden können.
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Kapitel 9 · Gedächtnis
»Wenn Erinnerungen nach einer langen Zeit der Amnesie ›aufgedeckt‹ werden, vor allem wenn außergewöhnliche Mittel eingesetzt werden, um die Aufdeckung der Erinnerung sicherzustellen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Erinnerungen falsch sind.« Royal College of Psychiatrists Working Group on Reported Recovery of Child Sexual Abuse (Brandon et al. 1998)
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Obwohl sich einige Traumatherapeuten über Elizabeth Loftus lustig gemacht hatten, wurde sie zur Präsidentin der American Psychological Society gewählt, bekam den höchst dotierten Preis in der Psychologie (200.000 Dollar) und wurde Mitglied der U.S. National Academy of Sciences und der Royal Society of Edinburgh.
4 Erinnerungen, die unter Hypnose oder unter Drogeneinfluss »wieder aufgedeckt« werden, sind besonders wenig verlässlich. Versuchsteilnehmer, die in eine Altersregression hypnotisiert werden, nehmen Suggestionen in ihre Erinnerungen auf, sogar Erinnerungen an »frühere Leben.« 4 Erinnerungen aus den ersten 3 Lebensjahren sind ebenfalls nicht verlässlich. Die Menschen erinnern sich eigentlich nicht an Geschehnisse aus den ersten 3 Lebensjahren. Es handelt sich hier um ein Phänomen, das infantile Amnesie genannt wird. Deshalb sind die meisten Psychologen skeptisch gegenüber »wieder aufgedeckten« Erinnerungen an einen Missbrauch in der frühen Kindheit (Gore-Felton et al. 2000; Knapp u. Vande Creek 2000). Je älter ein Kind ist, wenn es Opfer von sexuellem Missbrauch wird, und je schwerwiegender der Missbrauch war, desto wahrscheinlicher ist es, dass er erinnert wird (Goldman et al. 2003). 4 Erinnerungen, ob richtig oder falsch, können emotional aufwühlen. Wird eine falsche Erinnerung an einen Missbrauch zu einem realen Bestandteil der persönlichen Geschichte eines Menschen, dann leiden beide, der Ankläger und der Angeklagte. Was sich ursprünglich aus einer reinen Suggestion entwickelte, kann wie ein echtes Trauma zu einer schmerzenden Erinnerung werden, die zu körperlichem Stress führen kann (McNally 2003). Menschen, die bei einem Unfall, an dessen Hergang sie sich nicht erinnern können, bewusstlos werden, entwickeln manchmal später eine Posttraumatische Belastungsstörung, wenn sie von Erinnerungen verfolgt werden, die aus Fotos, Zeitungsberichten und den Aussagen von Freunden konstruiert werden (Bryant 2001). Um dem Phänomen der mit therapeutischer Hilfe geweckten Erinnerungen näher zu kommen, führten Loftus et al. (1996) Experimente durch, bei denen dem Gedächtnis falsche Erinnerungen an Kindheitstraumata »eingepflanzt« wurden. In einer dieser Studien ließen sie ein Familienmitglied, das sie ins Vertrauen gezogen hatten, einem Teenager Erinnerungen an drei echte und einen erfundenen Vorfall erzählen, nämlich einen sehr lebendigen Bericht darüber, wie das Kind im Alter von 5 Jahren relativ lange in einem Einkaufszentrum verloren gegangen und von einer älteren Person gerettet worden war. Einige Tage später konnten sich einige Teilnehmer sehr lebhaft und mit zahlreichen Einzelheiten an das »Erlebnis« erinnern und konnten es kaum glauben, als man sie darüber aufklärte, dass der Vorfall nie stattgefunden hatte. In anderen Experimenten kam ein Drittel der Versuchsteilnehmer fälschlicherweise zu der Überzeugung, dass sie als Kind fast ertrunken wären; und die Hälfte war zu der falschen Erinnerung an eine schreckliche Erfahrung verleitet worden, wie etwa an einen brutalen Angriff durch ein Tier (Heaps u. Nash, 2001; Porter et al. 1999). Und so verhält es sich mit dem Prozess der Gedächtniskonstruktion, durch den Menschen sich daran erinnern können, von einem UFO entführt worden zu sein, Opfer eines satanischen Kults gewesen zu sein, in der Wiege belästigt worden zu sein oder in einem vergangenen Leben gelebt zu haben. Tausende von ganz normalen Menschen, merkt Loftus an, »reden in einer von Schrecken ergriffenen Stimme über ihre Erfahrung an Bord von fliegenden Untertassen. Sie erinnern sich klar und deutlich daran, von Aliens entführt worden zu sein.« (Loftus u. Ketcham 1994, S. 66). Elizabeth Loftus kennt das Phänomen, das sie untersucht, aus persönlicher Erfahrung. Bei einem Familientreffen erzählte ihr ein Onkel, sie hätte mit 14 Jahren die Leiche ihrer ertrunkenen Mutter gefunden. Schockiert wies sie diese Vorstellung zurück. Doch der Onkel blieb bei seiner Behauptung, und in den folgenden 3 Tagen begann sie, sich zu fragen, ob sie vielleicht die Erinnerung verdrängt hätte: »Vielleicht bin ich deshalb so besessen von diesem Thema.« Als die nun sehr verstörte Elizabeth über das nachdachte, was ihr Onkel da gesagt hatte, »entdeckte« sie in ihrem Gedächtnis ein Bild, auf dem ihre Mutter mit dem Gesicht nach unten im Swimmingpool lag, und sie sah, wie sie selbst die Leiche fand. »Ich begann, jedes Teilchen an die richtige Stelle zu rücken. Vielleicht, dachte ich, bin ich deshalb so ein Workaholic. Vielleicht reagiere ich deshalb immer so emotional, wenn ich an meine Mutter denke, obwohl sie 1959 starb.« Dann rief ihr Bruder an und sagte, das sei alles falsch. Ihr Onkel erinnerte sich nun – und andere Verwandte bestätigten es –, dass nicht sie, sondern ihre Tante die Leiche gefunden hatte (Loftus u. Ketcham 1994; Monaghan 1992). Aber Elizabeth Loftus kennt auch die Realität von sexuellem Missbrauch aus eigener Erfahrung: Als 6-Jährige wurde sie von einem männlichen Babysitter belästigt, und sie hat dies nicht
425 9.6 · Konstruktion von Erinnerung
vergessen. Und das macht sie argwöhnisch gegenüber denjenigen, bei denen sie sieht, wie echter Missbrauch dadurch trivialisiert wird, dass nach unbestätigten traumatischen Erfahrungen gesucht wird, die dann kritiklos als Tatsache akzeptiert werden. Loftus ist deshalb der Meinung, dass die eigentlichen Feinde der echten Opfer nicht nur die sind, die das Opfer sexuell ausbeuten und das dann leugnen, sondern die, deren Veröffentlichungen und unbewiesene Beschuldigungen »zwangsläufig dazu führen, dass die Gesellschaft mit immer größerer Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit Unglauben begegnet, obwohl diese Opfer doch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verdient haben« (Loftus 1993). Finden Verdrängung oder bedrohliche Erinnerungen also tatsächlich statt, oder ist dieses Konzept, das den Eckstein von Freuds Theorie darstellt und in der Populärpsychologie so beliebt ist, ein Weg, der in die Irre führt? In 7 Kap. 18 werden wir uns noch einmal mit diesem stark umstrittenen Thema beschäftigen und werden Folgendes erkennen: Die meistverbreitete Reaktion auf eine traumatische Erfahrung (Zeuge für den Mord an den Eltern zu sein, die Schrecken eines KZs zu erleben, von einem Flugzeugentführer oder von einem Vergewaltiger terrorisiert zu werden, einem der in sich zusammenfallenden Türme des World Trade Center zu entkommen, einen Tsunami in Asien zu überleben) ist nicht die Verbannung der Erfahrung ins Unbewusste. Vielmehr werden die Erfahrungen typischerweise ins Bewusstsein geätzt als lebendige, dauerhafte, ergreifende Erinnerungen. Der Dramatiker Eugene O’Neill verstand dies. Einer seiner Charaktere in seinem »Seltsamen Zwischenspiel« (1928) rief aus: »Der Teufel! ... Was sind das für bestialische Vorfälle, bei denen unsere Erinnerungen darauf bestehen, dass wir sie festhalten!«
»Der Schrecken durchzuckt das Gedächtnis und hinterlässt zehrende Erinnerungen an Gräueltaten.« Robert Kraft, »Memory Perceived: Recalling the Holocaust« (2002)
Lernziele Abschnitt 9.6 Konstruktion von Erinnerung Ziel 23: Erklären Sie, wie Fehlinformationen und Imagination unsere Erinnerung an ein Ereignis verzerren können. Erinnerungen werden nicht als exakte Kopien unserer Erfahrungen gespeichert und abgerufen. Es ist eher so, dass wir unsere Erinnerungen konstruieren und dabei sowohl die gespeicherten Informationen als auch neue Informationen verwenden. Liefert man Kinder oder Erwachsene subtilen Fehlinformationen aus, stellen sie sich wiederholt ein Ereignis vor, das nie stattgefunden hat. Sie können dann diese irreführenden Einzelheiten in ihre Erinnerung dessen, was tatsächlich vorgefallen ist, aufnehmen. Die Erinnerung lässt sich am besten verstehen, wenn man sie nicht nur als kognitives und biologisches Phänomen begreift, sondern auch als soziokulturelles (. Abb. 9.28). Ziel 24: Stellen Sie dar, welche Rolle die Quellenamnesie bei falschen Erinnerungen spielt. Wenn wir Erinnerungen verarbeiten, enkodieren und speichern wir diverse ihrer Aspekte an unterschiedlichen Orten im Gehirn. Während wir eine Erinnerung beim Abruf wieder zusammensetzen, können wir mit Erfolg etwas abrufen, was wir gehört, gelesen oder uns vorgestellt haben, es aber der falschen Quelle zuordnen. Quellenamnesie ist eine der beiden Hauptkomponenten falscher Erinnerungen (der andere ist der Fehlinformationseffekt). Ziel 25: Listen Sie einige Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen echten und falschen Erinnerungen auf. Subjektiv ähneln falsche Erinnerungen wahren Erinnerungen und sind ebenso dauerhaft; deswegen sind weder Aufrichtigkeit noch Langlebigkeit einer Erinnerung ein Hinweis darauf, ob sie der Wirklichkeit ent6
. Abb. 9.28. Analyseniveaus bei der Untersuchung des Gedächtnisses Wie andere psychologische Phänomene lässt sich das Gedächtnis am besten auf einem biologischen, einem psychologischen und auf einem soziokulturellen Niveau untersuchen
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Kapitel 9 · Gedächtnis
spricht. Echte Erinnerungen enthalten mehr Einzelheiten als die, die lediglich in unserer Vorstellung existieren. Letztere beschränken sich in der Regel nur auf den Kern eines Ereignisses – die Bedeutung und die Gefühle, die damit assoziiert werden. Ziel 26: Nennen Sie Argumente für und gegen die Position, dass die Berichte sehr junger Kinder über einen Missbrauch zuverlässig sind. Ein Argument dafür: Selbst sehr junge Kinder können sich genau an Ereignisse (und die Menschen, die damit zu tun hatten) erinnern, wenn eine neutrale Person mit ihnen in Worten redet, die sie verstehen können, keine Suggestivfragen stellt und die kognitive Interviewmethode einsetzt. Ein Argument dagegen: Vorschulkinder sind anfälliger für Suggestionen als ältere Kinder und Erwachsene; und man kann bei ihnen durch Suggestivfragen Einfluss darauf nehmen, dass sie über Ereignisse berichten, die gar nicht stattgefunden haben. Ziel 27: Skizzieren Sie die Kontroverse, die durch Berichte über verdrängte und wieder aufgedeckte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit ausgelöst wurde. Psychologen, die missbrauchte Kinder und falsch beschuldigte Erwachsene schützen wollen, stimmen gewöhnlich in 7 Punkten überein: 1. Unschuldige Menschen sind fälschlicherweise für einen Missbrauch, der nie stattgefunden hat, verurteilt worden, und Personen, die wirklich
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9.7
einen Missbrauch begangen haben, haben die Kontroverse über aufgedeckte Erinnerungen dazu genutzt, einer Bestrafung zu entgehen. 2. Inzest und Missbrauch kommen vor, und sie können bleibende Verletzungen hinterlassen. 3. Es kommt im Alltag bei uns allen vor, dass wir isolierte Ereignisse aus der Vergangenheit vergessen, ob sie nun gut oder schlecht sind. 4. Wir alle decken gute und schlechte Erinnerungen auf, die durch irgendeinen Hinweisreiz aus dem Gedächtnis ausgelöst werden, aber die Gedächtnisforscher zweifeln daran, ob wir in Freuds Sinn gewaltsam Erinnerungen verdrängen, um Angst oder Schmerzen zu vermeiden. 5. Erinnerungen, die unter dem Einfluss von Hypnose oder Medikamenten hochkommen, sind unzuverlässig. 6. Die infantile Amnesie – die Unfähigkeit, Erinnerungen an die ersten 3 Lebensjahre abzurufen – lässt die Aufdeckung von Erinnerungen an die sehr frühe Kindheit unwahrscheinlich werden. 7. Sowohl wirklichkeitsgetreue als auch falsche Erinnerungen verursachen Leiden und können zu Belastungsstörungen führen. > Denken Sie weiter: Könnten Sie als unparteiischer Geschworener an einer Gerichtsverhandlung in einem Fall teilnehmen, bei dem ein Elternteil wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt ist, wenn sich die Anklage auf eine aufgedeckte Erinnerung stützt oder wenn gegen einen Therapeuten verhandelt wird, der vor Gericht steht, weil er falsche Erinnerungen erzeugt hat?
Gedächtnistraining
Ziel 28: Erklären Sie, wie Sie zu einer effektiveren Lerntechnik kommen können, wenn Sie das Gedächtnis besser verstehen.
Wir wollen dieses Kapitel rekapitulieren und dabei darauf achten, wie wir die Gedächtnisprinzipien anwenden könnten. Was können wir tun, damit wir uns in alltäglichen Situationen besser an Namen erinnern? Wie könnten wir uns die Lerninhalte dieses Kapitels besser merken? Immer wieder einmal erschrecken wir über unsere Vergesslichkeit, die peinliche Situation, wenn wir uns nicht an den Namen unseres Gesprächspartners erinnern können, wenn wir vergessen, was wir in einem Gespräch sagen wollten, wenn wir uns in einem Raum wiederfinden und nicht mehr wissen, was wir da wollten (Herrmann 1982). Können wir etwas tun, um derartige Gedächtnisausfälle seltener werden zu lassen? Wie die Biologie der Medizin nützt und die Botanik der Landwirtschaft, so kann auch die Gedächtnispsychologie bei Bildung und Lernen von Nutzen sein. Über das ganze Kapitel verstreut – und hier zur leichteren Verwendung zusammengefasst – finden Sie Vorschläge, wie Sie Ihre Gedächtnisleistung verbessern können. Die im Abschnitt »Erfolgreich lernen« (7 S. XIII) vorgestellte Lerntechnik mit dem Kürzel SQ3R (Survey, Question, Read, Rehearse) – Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, wiederholen – beinhaltet mehrere dieser Strategien. 4 Wiederholtes Lernen verankert den Lernstoff besser. Neuen Stoff sollten Sie mehrmals lernen. Um sich einen Namen zu merken, sprechen Sie ihn innerlich nach, nachdem Sie vorgestellt wurden. Warten Sie ein paar Sekunden und wiederholen Sie ihn für sich selbst; warten Sie etwas länger, und wiederholen Sie ihn noch einmal. Um einen Begriff zu lernen, sollten Sie sich viele einzelne Lernsitzungen gönnen: Nutzen Sie dazu die kleinen Intervalle, die das Leben Ihnen bietet, eine Fahrt mit dem Bus, ein Gang über das Universitätsgelände oder die Wartezeit bis zur nächsten Vorlesung. 4 Wenden Sie mehr Zeit für die Wiederholung des Gelernten auf oder denken Sie darüber nach. Neue Erinnerungen sind schwach: Wenn Sie sie einüben, werden Sie sie festigen.
427 9.7 · Gedächtnistraining
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Ohne Selbsttest könnten Sie leicht in die Gefahr geraten, zu sehr auf Ihre Fähigkeiten zu setzen. Shaughnessy u. Zechmeister (1992) stellten das in einem Experiment mit 2 Gruppen von Studierenden fest. Die Mitglieder der »Mehrfachleser-Gruppe« lasen mehrmals Dutzende von faktischen Aussagen, sollten dann die Wahrscheinlichkeit beurteilen, mit der sie jede Aussage erinnern würden und mussten am Ende in einem Test nachweisen, woran sie sich tatsächlich erinnerten. Die Studierenden dieser Gruppe waren sich ihres Wissens ziemlich sicher, sogar bei den Fragen, die sie dann nicht beantworten konnten. Die Mitglieder der »Praxistest-Gruppe« lasen gleichfalls die Aussagen, doch verbrachten sie die restliche Zeit damit, Tests zu beantworten, bei denen sie die Fakten aus dem Gedächtnis abrufen mussten. Beim Abschlusstest schnitt die »Praxistest-Gruppe« genauso gut ab wie die »Mehrfachleser-Gruppe«, doch konnten die Studierenden der »Praxistest-Gruppe« deutlicher unterscheiden, was sie wussten und was nicht. Es ist offensichtlich, dass ein Selbsttest das Erinnerungsvermögen fördert und aufzeigt, was man weiß und wo die Wissenslücken liegen. Das kann Ihnen helfen, sich während Ihrer Lernsitzungen auf diese Lücken zu konzentrieren. Der frühere britische Premierminister Benjamin Disraeli sagte einmal: »Die Erkenntnis, dass man nichts weiß, ist ein großer Schritt auf dem Weg zum Wissen.«
»Ich habe herausgefunden, dass es einigen Nutzen bringt, nachts im Bett zu liegen und in die Dunkelheit zu blicken und dabei im Geist das zu wiederholen, womit man sich beschäftigt hat. Dann versteht man die Dinge nicht nur besser, sondern erinnert sich auch leichter daran.« Leonardo da Vinci (1452–1519) »Verwebe alles Neue mit bereits Erworbenem.« William James (»Principles of Psychology«, 1890)
M. Barton
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Rasches Durchlesen (Überfliegen) von komplexem Material führt zu geringer Behaltensleistung. Wiederholen und kritisches Nachdenken sind eher hilfreich. Es zahlt sich aus, aktiv zu lernen! Stellen Sie einen persönlichen Bezug zum Gelernten her. Um ein Assoziationsnetz aufzubauen, sollten Sie mit eigenen Worten eine Rohfassung des Textes und Ihrer Vorlesungsnotizen erstellen. Beantworten Sie die Fragen im Abschnitt »Denken Sie weiter«. Automatisches Wiederholen der Wörter eines anderen ist relativ wirkungslos. Besser ist es, ein Bild zu entwickeln, eine Information zu verstehen und einzuordnen, sie in Bezug zu bereits Gelerntem oder zu einer eigenen Erfahrung zu setzen und sie dann in eigene Worte zu fassen. Benutzen Sie Mnemotechniken, um sich an Listen mit unbekannten Begriffen zu erinnern. Assoziieren Sie die Begriffe mit »Aufhängern«. Machen Sie aus den Wörtern eine Geschichte, in der sie lebendig werden. Verwenden Sie Chunks aus Akronymen. Frischen Sie Ihr Gedächtnis auf, indem Sie Abrufhilfen aktivieren. Stellen Sie sich vor, wie die Situation und Ihre Stimmung waren, als Sie den Lernstoff durchgearbeitet haben. Gehen Sie wieder in den gleichen Raum. Betreiben Sie Gehirnjogging, indem Sie jeden Gedanken zum Auslöser für einen weiteren werden lassen. Reproduzieren Sie die Erinnerung an ein Ereignis, ehe Sie möglicherweise in Kontakt mit Fehlinformationen kommen. Sollten Sie Zeuge eines wichtigen Ereignisses oder Vorfalls werden, dann speichern Sie Ihre Erinnerung, bevor andere Menschen Ihnen etwa erklären, was da passiert ist. Achten Sie darauf, Interferenzen nach Möglichkeit zu vermeiden. Lernen Sie vor dem ins Bettgehen. Lernen Sie nicht direkt nacheinander zwei Dinge, die miteinander interferieren könnten, etwa spanische und französische Vokabeln. Testen Sie Ihr Wissen. Erstens ist ein Test eine gute Wiederholung dessen, was Sie gelernt haben, zweitens zeigt er Ihnen, was Sie noch nicht wissen. Wenn Sie zu einem späteren Zeitpunkt Informationen reproduzieren müssen, sollten Sie sich nicht von übergroßem Vertrauen in Ihre Fähigkeit, die Information wiederzuerkennen, beruhigen lassen. Testen Sie lieber mit Hilfe der Lernziele, woran Sie sich erinnern. Definieren Sie Fachbegriffe und Konzepte auf einem leeren Blatt Papier. Denken Sie über die Konzepte nach, die in den einzelnen Kapiteln dieses Buches eingeführt werden, und geben Sie eine kurze Definition, ehe Sie zum Text zurückgehen und die Definition nachlesen. Machen Sie auch die Tests auf der Website, die begleitend zu diesem Lehrbuch unter www.lehrbuch-psychologie.de angeboten wird.
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Denken und Gedächtnis Das meiste, was wir wissen, ist nicht das Ergebnis der Mühen, sich etwas einzuprägen. Wir lernen, weil wir neugierig sind und weil wir Zeit damit verbringen, über unsere Erfahrungen nachzudenken. Die besten Behaltenseffekte erzielt man, wenn man aktiv beim Lesen nachdenkt, wenn man wiederholt und die Gedanken zueinander in Bezug setzt
Kapitel 9 · Gedächtnis
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Lernziel Abschnitt 9.7 Gedächtnistraining Ziel 28: Erklären Sie, wie Sie zu einer effektiveren Lerntechnik kommen können, wenn Sie das Gedächtnis besser verstehen. Die Gedächtnispsychologie bietet konkrete Strategien zur Verbesserung des Gedächtnisses an. Dazu gehören die Einplanung zeitlicher Abstände zwischen den einzelnen Arbeitssitzungen, aktives Wiederholen des Lernstoffs, Hilfe beim Enkodieren von geordneten, bildlichen Assoziationen mit persönlicher Bedeutung, Verwendung von Mnemotechniken, Einbeziehen des ursprünglichen Lernkontexts und der Stim-
mung – beides reich an Assoziationen –, Speicherung von Erinnerungen, ehe sie durch Fehlinformationen verändert werden können, nach Möglichkeit Ausschalten von Interferenzen, Durchführung von Selbsttests zur Wiederholung der Informationen und Auffinden von Gedächtnislücken. > Denken Sie weiter: Welche der hier vorgeschlagenen Lern- und Gedächtnisstrategien wäre bei Ihnen am effektivsten?
Antworten zu den Fragen im Text
9.1
Vielleicht haben Sie ein paar von den 7 Vs nicht gefunden. Das lag möglicherweise daran, dass Sie den Satz zunächst eher akustisch als visuell verarbeitet und dabei einige Vs übersehen haben, die eher wie ein F klingen.
9.2
Ein Multiple-Choice-Test erfasst die Fähigkeit zum Wiedererkennen, Lückentexte testen die Fähigkeit zur Reproduktion.
9.3
Die letzte Centmünze in der zweiten Zeile ist die richtige.
Prüfen Sie Ihr Wissen
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1. Zum Gedächtnis gehören in alphabetischer Reihenfolge Arbeits-/Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis und sensorisches Gedächtnis. Welches ist die korrekte Reihenfolge dieser 3 Gedächtnisspeicher? 2. Was wäre die effektivste Strategie, um eine Liste von Namen mit den wichtigsten historischen Personen innerhalb einer Woche zu lernen? Und innerhalb eines Jahres? 3. Ihre Freundin erzählt Ihnen, dass ihr Vater bei einem Unfall eine Hirnschädigung erlitten hat. Sie fragt sich, ob die Psychologie eine Erklärung dafür hat, dass er sehr gut Dame spielen kann, es ihm aber schwer fällt, eine vernünftige Unterhaltung zu führen. 4. Was ist Priming? 5. Können Sie ein Beispiel für proaktive Interferenz anführen? 6. Wie könnte das Leben aussehen, wenn wir all unsere Erlebnisse im Wachzustand und all unsere Träume erinnerten (Denken Sie dabei auch an das häufige Auftreten der Quellenamnesie)? 7. Welche der Gedächtnisstrategie, über die Sie gerade gelesen haben, könnten Sie anderen empfehlen? (Eine bestand in dem Rat, die Lerninhalte, an die man sich erinnern soll, zu wiederholen. Wie lauteten die anderen?)
L Deutsche Literatur zum Thema Markowitsch, H. J. (1999). Gedächtnisstörungen. Stuttgart: Kohlhammer. Roth, G. (1996). Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp. Sacks, O. (1990). Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek: Rowohlt. Schacter, D. L. (2002). Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek: Rowohlt. Schermer, F. J. (2002). Lernen und Gedächtnis. Stuttgart: Kohlhammer. Solso, R. L. (2005). Kognitive Psychologie. Heidelberg: Springer.
10 Denken und Sprache 10.1
Denken – 430
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Begriffe – 431 Problemlösung – 433 Entscheidungsfindung und Urteilsbildung – 436 Überzeugungsbias – 442
10.2
Sprache – 446
10.2.1 10.2.2
Sprachstruktur – 447 Sprachentwicklung – 448
10.3
Denken und Sprache – 455
10.3.1 10.3.2
Einfluss der Sprache auf das Denken – 455 Denken in Bildern – 458
10.4
Denken und Sprache bei Tieren
10.4.1 10.4.2 10.4.3
Können Tiere denken? – 460 Verfügen Tiere über Sprache? – 462 Das Beispiel der Affen – 462
– 460
Andere Kulturen, andere Perspektiven Now I realize there’s nothing more personal than speech, that I don’t have to defend how I speak, how any person, black, white, chooses to speak. Let us speak. Let us talk with the sounds of our mothers
and fathers still reverberating in our minds, wherever our mothers or fathers come from: Arkansas, Belize, Alabama, Brazil, Aruba, Arizona. Let us simply speak to one another,
Allison Joseph (* 1967), »On Being Told I Don’t Speak Like a Black Person« (1999)
listen and prize the inflections, never assuming how any person will sound until his mouth opens, until her mouth opens, greetings welcome in any language.
430
Kapitel 10 · Denken und Sprache
Denken und Sprache > Seit jeher beklagen wir Menschen unsere Torheit und rühmen uns unserer Weisheit. Der Dichter T.S. Eliot zeigte sich beeindruckt von der »Nichtigkeit des Menschen … mit Stroh im Kopf«. Shakespeares Hamlet dagegen preist des Menschengeschlechtes »edlen Geist … grenzenlose Fähigkeiten … gottgleiche Fassungskraft«. Auch in den vorangehenden Kapiteln haben wir über unsere Fähigkeiten genauso gestaunt wie über unsere Neigung zum Irrtum. Wir haben uns mit dem Gehirn des Menschen beschäftigt – 3 Pfund feuchtes Gewebe von der Größe eines Kohlkopfs und doch komplexer verschaltet als die Telefonleitungen des gesamten Planeten. Wir haben die Kompetenz von Neugeborenen bewundert. Wir bekamen einen Eindruck von der menschlichen Sinneswahrnehmung, die Sehreize in Millionen einzelne Nervenimpulse zerlegt, diese parallel verarbeitet und dann wieder zu klaren und farbigen Bildern zusammensetzt. Wir haben uns Gedanken gemacht über die anscheinend unbegrenzten Fähigkeiten unseres Gedächtnisses und die Leichtigkeit, mit der wir bewusst und unbewusst Informationen verarbeiten. Es überrascht daher nicht, dass wir Menschen die kollektive Schöpferkraft hatten, die Fotografie, das Auto und den Computer zu erfinden, und gelernt haben, Atome zu spalten und den genetischen Code zu entschlüsseln sowie in den Weltraum und die Tiefen des Meeres vorzudringen. Wir haben aber auch gesehen, dass unsere Spezies mit den anderen Säugetieren verwandt ist und dass in uns die gleichen Lernmechanismen am Werk sind wie bei Ratten und Tauben. Im Gegensatz zu Shakespeare setzte Pawlow uns einmal nicht Gott, sondern den Hunden gleich! Wir haben herausgefunden, dass wir die Wirklichkeit nach vorgefassten Begriffen interpretieren und auf Wahrnehmungstäuschungen hereinfallen. Wir haben bemerkt, wie leicht wir Irrtümern über angebliche paranormale Ereignisse erliegen oder hypnotischer Regression und falschen Erinnerungen auf den Leim gehen. Es überrascht daher nicht, dass wir uns selbst manchmal täuschen lassen, wenn es um Behauptungen zum Gedankenlesen, Bravourstücke unter Hypnose oder falsche Erinnerungen geht. In diesem Kapitel werden wir weitere Beispiele für diese beiden Seiten des Menschen kennen lernen – das Rationale und das Irrationale. Wir werden sehen, wie Begriffsbildung, Problemlösen und Urteilsbildung funktionieren. Wir werden näher auf unsere Sprachbegabung eingehen und untersuchen, ob nur der Mensch diese Fähigkeit hat. Am Ende wollen wir uns fragen, ob wir die Bezeichnung »Homo sapiens« – der weise Mensch – wirklich verdienen.
10
10.1
Denken
Ziel 1: Definieren Sie, was Kognition ist.
Kognition (cognition): alle mentalen Aktivitäten, die mit Denken, Wissen, Erinnerung und Kommunikation zu tun haben.
Durch Denken bilden wir Begriffe, die unsere Welt strukturieren, wir lösen Probleme, treffen sinnvolle Entscheidungen und fällen Urteile. Welche Strategien wenden wir dabei im Normalfall an? Welche Voreinstellungen können uns zu Irrtümern verleiten? In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargestellt, wie wir Informationen aufnehmen, wahrnehmen, speichern und abrufen. Nun wollen wir untersuchen, wie unser kognitives System diese Informationen nutzt. Der Begriff Denken oder Kognition umfasst alle mentalen Aktivitäten wie Verarbeitung, Verstehen, Erinnern und Kommunizieren. Kognitive Psychologen untersuchen diese mentalen Aktivitäten und beschäftigen sich auch mit der logischen – und manchmal unlogischen – Art, wie wir Begriffe bilden, Probleme lösen, Entscheidungen treffen und Urteile bilden.
431 10.1 · Denken
10.1.1
10
Begriffe
Ziel 2: Beschreiben Sie, welche Rolle Kategorien, Hierarchien, Definitionen und Prototypen bei der Begriffsbildung zukommt.
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Um die zahllosen Ereignisse, Gegenstände und Menschen in unserer Umwelt gedanklich zu erfassen, vereinfachen wir die Dinge. Wir bilden Begriffe – mentale Gruppierungen ähnlicher Gegenstände, Ereignisse und Personen. Der Begriff Stuhl umfasst eine Vielzahl von Einzelelementen – den Hochstuhl für Babys, den Lehnstuhl, den Stuhl einer Essgruppe, den Zahnarztstuhl. Stellen Sie sich ein Leben ohne Begriffe vor. Für jedes Objekt und jede Idee bräuchten wir ein eigenes Wort. Wir könnten zu einem Kind nicht sagen: »Wirf den Ball!«, denn den Begriff Ball (oder werfen) gäbe es gar nicht. Statt zu sagen »Sie waren wütend«, müssten wir Gesichtsausdruck, Tonfall, Gesten und Aussagen beschreiben. Begriffe wie Ball und wütend geben uns mit wenig kognitivem Aufwand viele Informationen an die Hand. Zur weiteren Vereinfachung organisieren wir Begriffe weiterhin in Hierarchien von Kategorien (. Abb. 10.1). Taxifahrer teilen ihre Stadt in Regionen ein, die sie dann weiter in Stadtviertel und Häuserblöcke aufgliedern. Wenn unsere Kategorien erst einmal existieren, verwenden wir sie in effizienter Weise. Wenn man Menschen einen Vogel, ein Auto oder Nahrungsmittel zeigt, benötigen sie zur Identifizierung eines Items nicht mehr Zeit als zu der Wahrnehmung, dass etwas da ist. »Wenn Sie wissen, dass es da ist, wissen Sie, was es ist«, berichten Grill-Spector u. Kanwisher (2005). Manche Kategorien bilden wir mit Hilfe von Definitionen. Wenn wir erst einmal gelernt haben, dass ein Dreieck drei Seiten hat, können wir alle dreiseitigen geometrischen Gebilde als Dreiecke einordnen. Häufiger noch bilden wir Kategorien mit Hilfe eines Prototyps – ein geistiges Bild oder ein typischer Fall, der alle Eigenschaften in sich vereinigt, die die Kategorie ausmachen (Rosch 1978). Je näher ein Gegenstand dem Prototyp kommt, desto bereitwilliger
. Abb. 10.1. Hierarchie von Kategorien Wenn man mentale Kategorien in Hierarchien ordnet, so trägt dies dazu bei, über sie nachzudenken Begriff (concept): mentale Gruppierung ähnlicher Gegenstände, Ereignisse, Ideen oder Personen. Prototyp (prototype): Vorstellungsbild oder typisches Beispiel für eine Kategorie. Wenn man neue Wahrnehmungen mit dem Prototyp abgleicht, hat man ein schnelles und einfaches Verfahren, Wahrnehmungen in Kategorien zu sortieren (z. B. wenn man gefiederte Lebewesen mit prototypischen Vögeln wie dem Spatz vergleicht).
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Ein Vogel und ein … ? Wenn sie sich einen Vogel vorstellen sollen, kommt den meisten Menschen schnell ein geistiges Bild von einem Spatz in den Sinn. Länger brauchen sie, wenn sie sich einen Pinguin als Vogel vorstellen sollen, denn der entspricht nicht ihrem Prototyp von einem kleinen, gefiederten, flugfähigen Vogel
Courtesy of Olivier Corneille
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
90% W
80%W
70% W
60% W
50%/50%
60% A
70% A
80% A
90% A
. Abb. 10.2. Die Kategorisierung von Gesichtern hat einen Einfluss auf unsere Erinnerung Wenn man Menschen beispielsweise ein Gesicht zeigte, das zu 70% weiß war, neigten sie dazu, die Person als Weißen zu klassifizieren und sich an das Gesicht als prototypischer weiß zu erinnern, als es tatsächlich war. Das W unter den Bildern steht für Weißer, das A für Asiate. (Aus Corneille et al. 2004)
10
ordnen wir ihn der betreffenden Kategorie zu. Spatz und Gans genügen beide unserer Definition der Kategorie Vogel: zweibeiniges Tier mit Flügeln und Federn, das aus einem Ei schlüpft. Trotzdem leuchtet der Satz »Ein Spatz ist ein Vogel« eher ein als »Eine Gans ist ein Vogel«. Für die meisten Menschen ist der kleine Spatz mit seinem kleineren Schnabel und seiner geringeren Größe sowie dem mühelosen Flug irgendwie »vogeliger«; es ähnelt stärker unserem Prototyp Vogel. Wenn wir etwas einer Kategorie zuordnen, verwandelt sich unsere Erinnerung daran später in Richtung zum Prototyp für die Kategorie. Corneille et al. (2004) fanden heraus, dass sich die Erinnerung veränderte, nachdem sie belgischen Studierenden unterschiedliche Gesichter gezeigt hatten, die ethnische Mischformen darstellten. Wenn sie ihnen z. B. ein Gesicht gezeigt hatten, dass aus einer Mischung von 70% Merkmalen eines Weißen und 30% Merkmalen eines Asiaten bestand, kategorisierten die Befragten das Gesicht als weiß und erinnerten sich später daran, dass sie eine Person gesehen hätten, die eher einem prototypischen Weißen glich. (Sie neigten eher dazu, sich an ein zu 80% weißes Gesicht zu erinnern als an ein Gesicht, das zu 70% weiß war, wie sie es tatsächlich gesehen hatten.) Wenn man ihnen ein zu 70% asiatisches Gesicht zeigte, erinnerten sie sich später eher an ein prototypisch asiatisches Gesicht (. Abb. 10.2). In einer Folgestudie wurde das Phänomen auch in Bezug auf das soziale Geschlecht (»gender«) bestätigt. Diejenigen beispielsweise, denen man zu 70% männliche Gesichter gezeigt hatte, kategorisierten sie als männlich (das überrascht nicht), und sie erinnerten sie später fälschlicherweise als sogar noch prototypischer männlich (Huart et al. 2005). Wenn wir uns von unseren Prototypen verabschieden, könnte es sein, dass die Kategorien nicht mehr so klar gegeneinander abgegrenzt sind. Ist ein Wal ein Säugetier? Ist die Tomate eine Frucht? Ist eine 17-Jährige ein Mädchen oder eine Frau? Sind Pinguine und Kiwis Vögel? Weil Kiwis und Pinguine flugunfähig sind, werden wir sie nicht ohne Weiteres als Vögel einstufen. Ähnlich steht es mit der Diagnose einer Krankheit, wenn die Symptome nicht zu unserem Prototyp der Krankheit passen (Bishop 1991). Wenn bei jemandem die Symptome eines Herzinfarkts (Kurzatmigkeit, Erschöpfung, dumpfer Druck auf der Brust) nicht zu seinem Prototyp Herzinfarkt (heftiger Schmerz in der Brust) passen, so bemüht er sich möglicherweise nicht um Hilfe. Und wenn uns Arten von Diskriminierung begegnen, die nicht unserem Prototyp von Diskriminierung entsprechen – Weiße gegen Schwarze, Männer gegen Frauen, Junge gegen Alte –, so nehmen wir sie oft nicht als solche wahr. Vorurteile von Männern gegenüber Frauen werden schneller entdeckt als solche von Frauen gegenüber Männern (Inman u. Baron 1996; Marti et al. 2000).
433 10.1 · Denken
10.1.2
10
Problemlösung
Ziel 3: Vergleichen Sie Algorithmen und Heuristiken als Strategien zur Problemlösung, und erklären Sie, wie sich Einsicht von beiden Strategien unterscheidet.
Unsere Fähigkeit, Begriffe zu bilden und anzuwenden, macht einen wesentlichen Teil unserer Rationalität aus. Diese Rationalität geht aber auch auf unser Geschick beim Lösen von Problemen zurück, mit denen wir in neuartigen Situationen konfrontiert werden. Wie umgehen wir am besten diesen Verkehrsstau? Wie sollen wir mit der Kritik eines Freundes umgehen? Wie kommen wir ins Haus, wenn wir den Schlüssel verloren haben? Manche Probleme lösen wir durch Versuch und Irrtum. Thomas Edison probierte Tausende von Glühfäden durch, bevor er zufällig auf einen stieß, der funktionierte. Bei anderen Problemen folgen wir einem Algorithmus, einem Verfahren, das in Einzelschritten garantiert zu einer Lösung führt.
Algorithmus (algorithm): eine systematische, logische Regel oder Vorgehensweise, die garantiert zur Lösung des vorliegenden Problems führt. Im Gegensatz dazu die schnellere, aber auch fehleranfälligere Heuristik.
? Bilden Sie ein sinnvolles Wort aus den Buchstaben SPLOYOCHEIG (7 Antwort 10.1 am Ende dieses Kapitels)
Heuristik (heuristic): einfache Denkstrategie für effizientere Urteile und Problemlösungen; schneller, aber auch fehleranfälliger als der Algorithmus.
Einsicht (insight): plötzliche und oft überraschend auftauchende Lösung eines Problems; im Unterschied zu strategisch angelegten Lösungen.
Heuristische Suche Auf der Suche nach Meerrettich könnte man jeden Gang des Supermarkts absuchen (ein Algorithmus) oder aber bei Senf, Gewürzen und Feinkost nachsehen (Heuristik). Das heuristische Verfahren ist oft schneller, aber der Algorithmus führt garantiert irgendwann zum Ziel
S. Wahl
Wenn wir ein sinnvolles Wort aus den Buchstaben SPLOYOCHEIG bilden sollen, können wir zwar sämtliche Buchstabenkombinationen durchprobieren, aber die Erzeugung und Prüfung der 39.916.800 Permutationen würde uns zur Verzweiflung bringen. Weil solche schrittweise vorgehenden Algorithmen arbeitsintensiv (und damit eher für Computer geeignet) sind, lösen wir solche Probleme stattdessen mit einem einfachen Verfahren, das man Heuristik nennt. Auf diese Weise könnten wir nämlich bestimmte Buchstabenkombinationen (beispielsweise C-G-P) von vornherein ausschließen. Indem man ein heuristisches Verfahren verwendet, um die Anzahl der Möglichkeiten zu verringern, und dann das Prinzip von Versuch und Irrtum, findet man vielleicht die Antwort). Oft ist uns die Anwendung einer Problemlösestrategie gar nicht bewusst; die Antwort fällt uns spontan ein. Jeder von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er sich vergeblich mit einem Problem abmühte. Plötzlich fielen die Dinge wie Puzzleteile an ihren Platz, und die Lösung war da. Solche plötzlichen Eingebungen bezeichnen wir als Einsicht. So half eine spontane, kreative Eingebung dem 10-jährigen Johnny Appleton bei der Lösung eines Problems, an dem Bauarbeiter gescheitert waren: der Rettung eines jungen Rotkehlchens, das in einen 1 m tiefen Spalt zwischen 2 Betonplatten gefallen war. Johnnys Lösung: Er ließ Sand in den Spalt rieseln, aber so langsam, dass das Rotkehlchen auf dem entstehenden Sandberg in die Höhe klettern konnte (Ruchlis 1990). Ein Forscherteam, zu dem Jung-Beeman et al. (2004) gehörten, fand eine Hirnaktivität, die mit blitzartig auftretenden Einsichten in Zusammenhang steht. Sie gaben Personen Gruppen von jeweils 3 Wörtern, z. B. pine, crab, sauce, und baten sie, sich ein weiteres Wort auszudenken, mit dem sie ein zusammengesetztes Wort oder einen Satz bilden könnten. Die Versuchsteilnehmer drückten einen Knopf, wenn sie eine Lösung gefunden hatten (in diesem Fall apple). Etwa die Hälfte der Lösungen kamen ganz plötzlich (Aha-Erlebnis). Die Forscher lokalisierten entweder die damit zusammenhängende neuronale Aktivität im Gehirn (mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie) oder deren elek-
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
From M. Jung-Beeman, Northwestern University and J. Kounios, Drexel University
trische Signatur (mit Hilfe des EEG). Wenn die Lösungen durch plötzliche Einsicht kamen, war mit beiden Methoden ein plötzlicher Anstieg der Aktivität im rechten Temporallappen, direkt über dem Ohr (. Abb. 10.3), zu beobachten. Eine Art von Hirnaktivität, die anscheinend der unbewussten Verarbeitung entsprach und plötzlich in die bewusste Einsicht mündete, ging dem Knopfdruck etwa um 0,3 Sek. voraus. Einsicht ist etwas Befriedigendes. Wenn wir ein schwieriges Problem gelöst oder einen Konflikt bewältigt haben, sind wir glücklich. Auch die Freude über einen Witz könnte mit unserer Fähigkeit zur Einsicht zu tun haben – uns verblüfft eine überraschende Wendung, oder es geht uns plötzlich ein Doppelsinn auf, wie es sich anhand der beiden Witze illustrieren lässt, die in einer von Wiseman (2002) und der British Association for the Advancement of Science ermöglichten Internetstudie über Humor als Favoriten (bei 2 Mio. Bewertungen von 40.000 eingesandten Witzen) ausgewählt wurden. Zuerst der 2. Platz:
. Abb. 10.3. Der Aha-Moment Lösungen verbaler Probleme durch Einsicht gehen mit einer plötzlich zunehmenden Aktivität im rechten Temporallappen einher
Sherlock Holmes und Dr. Watson gehen zelten. Sie bauen ihr Zelt bei klarem Sternenhimmel auf und legen sich schlafen. Mitten in der Nacht weckt Holmes Watson auf. Holmes: »Watson, schauen Sie sich die Sterne an, und sagen Sie mir, was Sie daraus für Schlüsse ziehen.« Watson: »Ich sehe Millionen von Sternen, und wenn auch nur ein paar davon Planeten haben, so ist es wahrscheinlich, dass einige davon erdähnlich sind, und wenn erdähnliche darunter sind, dann gibt es vielleicht auch Leben da oben. Und welchen Schluss ziehen Sie daraus, Holmes?« Holmes: »Watson, Sie Idiot, jemand hat unser Zelt geklaut!«
Und jetzt Vorhang auf für den Sieger: Zwei Jäger in New Jersey sind auf der Jagd. Plötzlich fällt einer von ihnen um. Er scheint nicht mehr zu atmen, er verdreht die Augen. Der andere reißt sein Handy aus der Tasche und ruft den Notdienst an. Er keucht: »Mein Freund ist tot! Was soll ich tun?« Der Mann vom Notdienst sagt beruhigend: »Bewahren Sie Ruhe. Ich helfe Ihnen. Erst mal müssen wir sicher sein, dass er wirklich tot ist.« Stille, dann ein Schuss. Dann wieder die Stimme des Mannes am Handy: »In Ordnung. Und was jetzt?«
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Hindernisse bei der Problemlösung Ziel 4: Stellen Sie die Bestätigungstendenz und die Fixierung einander gegenüber, und erklären Sie, wie sie sich störend auf eine effektive Problemlösung auswirken können.
Auch wenn wir erfindungsreich im Umgang mit Problemen sind, kann es uns passieren, dass wir die Lösung nicht finden. Zwei Tendenzen im Kognitionsprozess – Bestätigungstendenz und Fixierung – führen uns häufig in die Irre.
Bestätigungstendenz Bestätigungstendenz (confirmation bias): Tendenz, Informationen zu suchen, die eine vorgefasste Meinung bestätigen.
Ein großes Hindernis bei der Problemlösung ist unser ungeduldiges Streben nach Informationen, die unsere bisherigen Ideen bestätigen, ein Phänomen, das man als Bestätigungstendenz (»confirmation bias«) bezeichnet. Wason (1960) demonstrierte diese Neigung, indem er britischen Studierenden die Zahlenfolge 2–4–6 vorlegte und sie bat, die Regel zu erraten, nach der er die Zahlenfolge gebildet hatte (die Regel war einfach: 3 beliebige Zahlen in aufsteigender Größe). Bevor sie Lösungen nannten, sollten sie selber Zahlenfolgen nach dem vermuteten Muster bilden und erfuhren dann jedes Mal von Wason, ob diese Zahlenfolgen der Regel entsprachen oder nicht. Erst wenn sie ihre Hypothese genügend getestet hatten, um sich ihrer Lösung sicher zu sein, durften sie ihre Vermutung über die Regel mitteilen. Das Ergebnis? Selten richtig, aber immer frei von Selbstzweifeln. Die meisten von Wasons Studierenden gelangten zu der Überzeugung, eine falsche Regel sei die richtige Lösung. Im typischen Fall kamen sie zu einer falschen Vermutung (»vielleicht in Zweierschritten«) und suchten dann nur noch nach bestätigenden Indizien (indem sie 6–8–10, 100–102–104 usw. ausprobierten). Solche Experimente zeigen, dass wir eher darauf aus sind, nach Hinweisen zu suchen, die unsere Auffassungen bestätigen, als nach solchen, die sie widerlegen könnten (Klayman u. Ha 1987; Skov u. Sherman 1986). Geschäftsleute beispielsweise neigen eher dazu, den erfolgreichen Berufsweg ehemaliger Angestellter zu verfolgen als die Karriere von Bewerbern, die sie einmal
435 10.1 · Denken
S. Wahl
. Abb. 10.4. Das Streichholzproblem Wie kann man 6 Streichhölzer so anordnen, dass sie 4 gleichseitige Dreiecke bilden?
. Abb. 10.5. Das Problem mit der Kerze Wie kann man mit Hilfe dieser Materialien die Kerze an einer Pinnwand befestigen? (Nach Duncker 1945)
S. Wahl
abgelehnt haben. Das verleitet sie dazu, sich in ihrer Fähigkeit bestätigt zu sehen, dass sie unter allen Bewerbern den richtigen auswählen. »Die Menschen«, sagte Wason (1981), »gehen den Tatsachen aus dem Weg, verwickeln sich in Widersprüche oder schotten sich systematisch gegen die Bedrohung durch neue Informationen ab, die für das Thema von Belang wären«. Wenn man so etwas macht, sind die Folgen manchmal schwerwiegend. Die USA begannen ihren Krieg gegen den Irak unter der Annahme, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besaß, die eine unmittelbare Bedrohung darstellten. Als herauskam, dass die Annahme falsch war, gehörte die Bestätigungstendenz zu den Fehlern im Urteilsprozess, die das überparteiliche U.S. Senate Select Committee on Intelligence (2004) ausmachte. Die Analysten der staatlichen Stellen »hatten eine Tendenz, bereitwilliger Informationen zu akzeptieren, die [ihre Vorannahmen] stützten …, als Informationen, die [ihnen] widersprachen«. Informationsquellen, die die Existenz solcher Waffen in Abrede stellten, wurden folgendermaßen eingeschätzt: »Entweder als verlogen oder als uninformiert über die Probleme des Irak, während jene Quellen, die über laufende Aktivitäten im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen berichteten, so beurteilt wurden, als ob sie wertvolle Informationen geliefert hätten.«
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Fixierung Versuchen Sie sich an diesen klassischen Denksportaufgaben: 4 Ordnen Sie die 6 Streichhölzer in . Abb. 10.4 so an, dass 4 gleichseitige Dreiecke entstehen. 4 Wie kann man mit Hilfe von Reißnägeln und einer Schachtel Streichhölzer eine Kerze an einer Wand befestigen (. Abb. 10.5)? (Lesen Sie erst weiter, wenn Sie sich mit diesen Problemen beschäftigt haben.) Die Fixierung – die Unfähigkeit, ein Problem aus einem neuen Blickwinkel zu sehen – ist das wahre Hindernis auf dem Weg zur Problemlösung. Wenn wir einmal ein Problem falsch erfasst haben, ist es schwer, einen neuen Zugang zu finden. Wer sich beim Streichholzproblem auf zweidimensionale Lösungen versteift, kommt nicht auf die dreidimensionale Lösung in . Abb. 10.6. Zwei Beispiele für Fixierung sind mentales Set und funktionale Gebundenheit. Wie ein Set in der Wahrnehmung uns dafür prädisponiert, was wir wahrnehmen, prädisponiert uns ein mentales Set dafür, was wir denken. Ein mentales Set bezieht sich auf unsere Neigung, ein Problem mit der geistigen Voreinstellung anzugehen, die zuvor bei uns funktioniert hat. Tatsächlich lassen sich Lösungen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, oft mit Erfolg wieder verwenden. Zum Beispiel: Gegeben ist die Buchstabenfolge E–Z–D–V–?–?–? Was sind die folgenden drei Buchstaben? Den meisten Menschen fällt es schwer, darauf zu kommen, dass es die Buchstaben F(ünf)– S(echs)–S(ieben) sind. Aber wer das Problem gelöst hat, tut sich mit dem folgenden leichter: Gegeben ist die Buchstabenfolge J–F–M–A–?–?–? Wie lauten die folgenden 3 Buchstaben? (Wenn Sie nicht drauf kommen, überlegen Sie, welcher Monat gerade ist.) Manchmal jedoch hindert uns unser mentales Set, das auf dem beruht, was in der Vergangenheit funktioniert hat, daran, eine neue Lösung für ein neues Problem zu finden. Unser mentales
Fixierung (fixation): Unfähigkeit, ein Problem aus einem neuen Blickwinkel zu sehen; sehr hinderlich bei der Problembewältigung.
Mentales Set (mental set): Tendenz, ein Problem auf eine bestimmte Weise anzupacken, insbesondere auf eine in der Vergangenheit erfolgreiche Weise, die beim Lösen dieses neuen Problems hilfreich sein kann, aber nicht hilfreich sein muss.
a . Abb. 10.6. Lösung des Streichholzproblems Um dieses Problem zu bewältigen, muss man die gedankliche Fixierung auf zweidimensionale Lösungen durchbrechen
Funktionale Gebundenheit (functional fixedness): Tendenz, Dinge ausschließlich im Sinne ihrer üblichen Funktion zu sehen; Hindernis bei der Problembewältigung.
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b
S. Wahl
Kapitel 10 · Denken und Sprache
S. Wahl
436
. Abb. 10.7a,b. Lösung für das Kerzenproblem Wer dieses Problem lösen will, muss begreifen, dass eine Schachtel nicht unbedingt nur als Behälter dienen muss
Set basierend auf unserer Vorerfahrung mit Streichhölzern prädisponiert uns dazu, sie in zwei Dimensionen zu legen. Eine andere Art von Fixierung – unsere Neigung, nur an die vertrauten Funktionen von Gegenständen zu denken, ohne uns alternative Nutzanwendungen vorzustellen – fällt unter den seltsamen, aber zutreffenden Begriff funktionale Gebundenheit. Jemand kann auf der Suche nach einem Schraubenzieher das Haus auf den Kopf stellen, während es eine Münze als Schraubenzieherersatz auch getan hätte. Beim Problem mit der Kerze und der Pinnwand haben Sie vielleicht auch Erfahrung mit funktionaler Gebundenheit gemacht. Wenn Sie die Schachtel nur in ihrer Funktion als Behälter für Streichhölzer wahrgenommen haben, ist Ihnen die in . Abb. 10.7 gezeigte Verwendungsmöglichkeit vielleicht entgangen. Gewohnte Dinge wahrzunehmen und in eine neuartige Beziehung zueinander zu setzen ist ein Aspekt von Kreativität. Ähnlich wie uns Stereotype bei der Wahrnehmung von Menschen einschränken, beschränkt uns die Fixierung bei der Wahrnehmung von Gegenständen. Sowohl Stereotype als auch die Fixierung begrenzen unser Denken.
10.1.3
Entscheidungsfindung und Urteilsbildung
Lohnt es sich, einen Regenschirm mitzunehmen? Kann ich diesem Menschen vertrauen? Soll ich versuchen, den Basketball in den Korb zu werfen, oder lieber an einen günstiger stehenden Spieler passen? Bei Hunderten von Urteilen und Entscheidungen im Alltag wenden wir nur selten die Zeit und Mühe auf, systematisch vorzugehen. Wir lassen uns von unserer Intuition leiten. Der Sozialpsychologe Janis (1986) interviewte Entscheidungsträger in Politik, Geschäftsleben und Erziehung und kam zu dem Schluss, dass diese »oft keine durchdachte Problemlösestrategie einsetzen. Wie aber kommen sie im Normalfall zu ihren Entscheidungen? Fragt man sie, bekommt man wahrscheinlich zu hören, dass sie nach dem Gefühl entscheiden.«
Richtiger und falscher Gebrauch von Heuristiken Ziel 5: Stellen Sie die Repräsentativitätsheuristik der Verfügbarkeitsheuristik gegenüber, und erklären Sie, wie sie uns dazu bringen können, wichtige Informationen zu unterschätzen oder von ihnen keine Notiz zu nehmen.
Die geistigen Abkürzungswege, die wir als Heuristiken bezeichnen, helfen uns oft dabei, vernünftige Grobentscheidungen zu fällen. Wenn schnelles Handeln erforderlich ist, kann eine Auswertung des Materials lähmend langsam sein. Aufgrund der automatischen Informationsverarbeitung werden intuitive Entscheidungen spontan getroffen. Aber wir zahlen oft einen hohen Preis für
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diese Effizienz – schnelle, aber schlechte Entscheidungen. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie Heuristiken unser intuitives Urteil bestimmen – und wie sie mitunter selbst die klügsten Menschen zu dummen Entscheidungen verleiten – betrachten wir 2 heuristische Verfahren, die von den Kognitionspsychologen Tversky u. Kahneman (1974) gefunden wurden: die Repräsentativitätsheuristik und die Verfügbarkeitsheuristik.
Repräsentativitätsheuristik Wenn man die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen danach bewertet, wie genau sie bestimmten Prototypen entsprechen, verwenden wir die Repräsentativitätsheuristik. Ein anschauliches Beispiel:
Repräsentativitätsheuristik (representativeness heuristic): Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Aussagen je nachdem, wie genau sie bestimmte Prototypen darstellen oder ihnen entsprechen; kann dazu führen, dass andere wichtige Informationen unbeachtet bleiben.
Jemand erzählt Ihnen von einem kleinen und schlanken Menschen, der gern Gedichte liest. Dann fragt er, ob es sich eher um einen Professor für Literatur an einer Elite-Universität oder aber um einen Lastwagenfahrer handelt (nach Nisbett u. Ross 1980). Was ist wahrscheinlicher?
Wenn Sie so denken wie die meisten Menschen, so haben Sie »Professor« geantwortet. Denn die Beschreibung scheint eher einen Literaturprofessor an einer Elite-Universität zu repräsentieren als einen Lastwagenfahrer. Die Repräsentativitätsheuristik ermöglichte Ihnen eine Blitzentscheidung. Sie verleitete Sie aber auch dazu, wichtige Informationen zu übersehen. Wenn ich Menschen durch dieses Problem hindurch begleite, sieht ein typischer Gesprächsverlauf mit einem amerikanischen Probanden etwa so aus: Frage:
Wollen wir erst einmal überlegen, auf wie viele Professoren die Beschreibung zutrifft. Was denken Sie, wie viele Elite-Universitäten gibt es in den USA? Antwort: Na, so etwa 10. Frage: Was denken Sie, wie viele Literaturprofessoren es an jeder dieser Universitäten gibt? Antwort: Vielleicht 4. Frage: Gut, das macht 40 Elite-Literaturprofessoren. Wie viele von ihnen sind klein und schlank? Antwort: Sagen wir die Hälfte. Frage: Und wie viele von diesen 20 lesen gern Gedichte? Antwort: Ich würde sagen die Hälfte, 10 Professoren. Frage: In Ordnung, jetzt wollen wir herausfinden, wie viele Lastwagenfahrer auf die Beschreibung passen. Wie viele Lastwagenfahrer gibt es wohl überhaupt? Antwort: Vielleicht 400.000. Frage: Wie viel Prozent von ihnen sind klein und schlank? Antwort: Nicht viele. Vielleicht 1 von 8. Frage: Wie viel Prozent von diesen 50.000 lesen wohl gern Gedichte? Antwort: Lastwagenfahrer, die Gedichte lesen? Vielleicht einer von hundert – ach, jetzt verstehe ich, worauf das hinausläuft. Dann bleiben also 500 kleine, schlanke Lastwagenfahrer, die gern Gedichte lesen. Kommentar: Eben. Obwohl die beschriebene Person viel typischer für einen Literaturprofessor als für einen Lastwagenfahrer sein mag, ist die Wahrscheinlichkeit (selbst wenn wir Ihre Klischeevorstellungen akzeptieren), dass es sich um einen Lastwagenfahrer handelt und nicht um einen Professor, 50-mal höher. Die Repräsentativitätsheuristik beeinflusst viele unserer Alltagsentscheidungen. Um den Grad der Wahrscheinlichkeit für eine Sache zu beurteilen, vergleichen wir sie intuitiv mit unserer geistigen Repräsentation der betreffenden Kategorie, also in diesem Fall mit unserer Vorstellung von einem Lastwagenfahrer. Passen die beiden zusammen, so hat das für gewöhnlich mehr Gewicht als statistische oder logische Argumente.
»Als wir uns diese Probleme ausdachten, wollten wir die Leute nicht in die Irre führen. All unsere Probleme führten uns ja selbst in die Irre.« Amos Tversky (1985)
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
Verfügbarkeitsheuristik
© B. Veley. Used by permission.
Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic): man schätzt die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen je nach ihrer Verfügbarkeit in der Erinnerung; wenn uns schnell Beispiele einfallen (vielleicht weil sie spektakulär sind), halten wir ein solches Ereignis für häufig.
Geht man von einer Chance von ca. 1 zu 10 Mio. aus, beim Lotto den Jackpot zu knacken, so ist diese kaum höher als die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden. Für den durchschnittlichen Engländer, der bei der staatlichen Lotterie gespielt hat, ist die Wahrscheinlichkeit, während der 20-minütigen Fernsehausstrahlung der Ziehung zu sterben, größer als die Chance auf einen Hauptgewinn (Chance News 1999).
10 »Der Verstand des Menschen lässt sich am meisten von dem beeindrucken, was auffällig ist und sofort und plötzlich in den Geist dringt und unverzüglich die Vorstellungskraft erfüllt und ausweitet. Er beginnt dann fast unmerklich, zu glauben und davon auszugehen, dass die ganze Welt den wenigen Objekten ähnelt, die vom Geist Besitz ergriffen haben.« Francis Bacon (»Novum Organum«, 1620)
Wir nutzen die Verfügbarkeitsheuristik, wenn unsere Urteile darauf beruhen, wie gut verfügbar Informationen bei uns sind. Wenn Beispiele für ein bestimmtes Ereignis leicht erinnerbar sind – sie fallen uns schnell und mühelos ein –, vermuten wir, dass es häufige Ereignisse sind. Je schneller sich jemand an ein konkretes Beispiel für eine bestimmte Art von Ereignis (»ein gebrochenes Versprechen«) erinnern kann, umso mehr rechnet er damit, dass es wieder eintritt (MacLeod u. Campbell 1992). Kognitiv verfügbare Ereignisse sind in der Tat häufiger – aber nicht immer. Um dies einzusehen, raten Sie bitte: Tritt im Deutschen der Buchstabe »r« häufiger als 1. oder als 3. Buch»Das Problem ist bloß: Ich kann eine zutiefst weise, stabe eines Worts auf? intuitive Einsicht in das Weltgeschehen nicht Da einem Wörter, die mit »r« beginnen (»Revon einer meiner saublöden eigenen Ideen untergen«, »ringeln«, »Rabe«), leichter einfallen als solscheiden.« che mit einem r als 3. Buchstaben (»murmeln«, »Berg«, »Torte«, »zerreißen«), meinen die meisten Leute, diese seien häufiger. Tatsächlich aber tritt »r« weitaus häufiger an 3. Stelle auf. Warum führt uns die Verfügbarkeitsheuristik in die Irre? Alles, was den Abruf von Informationen erleichtert, vergrößert die subjektiv wahrgenommene Verfügbarkeit. Viele Faktoren führen dazu, dass uns Informationen »plötzlich einfallen«. Dazu gehört, wie lange es her ist, dass wir davon gehört haben, aber auch wie eindeutig und konkret sie sind. Deswegen muss die Verfügbarkeit eines Ereignisses auch kein Indikator für die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens in der Realität sein. Die durch die Verfügbarkeitsheuristik bedingten Irrtümer bei der Urteilsbildung sind nicht immer harmlos. Zu vielen wichtigen Entscheidungen gehören Risikoabwägungen (7 Kritisch nachgefragt: »Der Angstfaktor. Haben wir an der richtigen Stelle Angst?«). Ob wir den Einsatz von Kernenergie oder Kohlekraft zur Energiegewinnung bevorzugen, hängt teilweise davon ab, wie wir deren Risiken für Gesundheit, Luft und Klima einschätzen. Unsere Bemühungen um die Prävention verschiedener lebensbedrohlicher Krankheiten hängen von unserer Einschätzung ihrer Häufigkeit ab. Ob wir bei einer Lotterie mitmachen, hängt davon ab, wie wir die Chancen bewerten, dabei das große Los zu ziehen. Casinos verführen uns zum Glücksspiel, indem sie schon geringe Gewinne durch Klingelzeichen und Lichtsignale unterstreichen – so dass diese lebhaft in Erinnerung bleiben –, während große Verluste lautlos und unsichtbar über die Bühne gehen. Auf diese Weise können auch gerissene Verkäufer die unbewussten Hoffnungen und Ängste ihrer Kunden manipulieren, die keine Ahnung von Statistik haben. Wie Hamill et al. (1980) nachwiesen, beeinflusst die Verfügbarkeitsheuristik auch unser soziales Urteil. Sie schilderten Versuchspersonen einen krassen Fall von Sozialhilfemissbrauch, bei dem ein langjähriger Sozialhilfeempfänger mehrere uneheliche Kinder hatte. Statistisch gesehen war das ein Ausnahmefall: Die meisten Menschen in den USA beziehen höchstens 4 Jahre Sozialhilfe (Duncan et al. 1988). Wenn man die statistische Realität dem lebendig dargestellten Einzelfall gegenüberstellt, hatte dennoch der einprägsame Einzelfall beim Thema Sozialhilfe den größeren Einfluss auf die Meinung der Befragten.
Systematische Selbstüberschätzung Ziel 6: Beschreiben Sie die Vor- und Nachteile der Selbstüberschätzung beim Fällen von Entscheidungen. Systematische Selbstüberschätzung (overconfidence bias): Tendenz, mit großem Selbstvertrauen auf falschen Aussagen zu beharren; die Verlässlichkeit der eigenen Überzeugungen und Einschätzungen zu überschätzen.
Unsere intuitive Heuristik, verbunden mit der Neigung, bei der Urteilsbildung vorgefasste Meinungen zu verfestigen, und unser Talent, Unstimmigkeiten wegzuerklären, führen zu systematischer Selbstüberschätzung (»overconfidence bias«), einer Tendenz, die Treffsicherheit unseres Wissens und unserer Urteile zu überschätzen. Bei vielen Aufgabenstellungen überschätzen Versuchspersonen ihre bisherige, derzeitige und künftige Leistung (Metcalfe 1998).
439
M. Barton
In einer klassischen Studie zum Thema systematische Selbstüberschätzung stellten Kahneman u. Tversky (1979) den Teilnehmern an ihrer Untersuchung Tatsachenfragen zu eher unbekannten Themen mit der Anweisung, bei Zahlenangaben einen Bereich anzugeben, in dem die richtige Antwort mit Sicherheit enthalten sei. Es waren Fragen der folgenden Art: »Ich bin zu 98% sicher, dass die Bevölkerung Neuseelands mehr als _____, aber weniger als _____ beträgt.« In fast einem Drittel der Fälle enthielten die Schätzungen, die die Befragten mit einer Sicherheit von 98% abgaben, nicht die richtige Antwort (in diesem Fall: 4,1 Mio. im Jahre 2008). Die Teilnehmer an der Untersuchung fühlten sich sehr sicher und irrten sich trotzdem. Wenn man sie vor einer systematischen Selbstüberschätzung warnte, so dämpfte dies das Selbstbewusstsein kaum. Die Menschen sind sich auch ganz gewiss und haben trotzdem nicht Recht, wenn sie Antworten auf solche Fragen geben wie: »Ist Absinth ein Schnaps oder ein wertvoller Stein?« (Es ist ein nach Lakritz schmeckender Schnaps.) Bei Fragen, die 60% der Menschen korrekt beantworten, fühlen sich die Befragten im typischen Fall zu 75% sicher. Selbst wenn sie sich bei der Beantwortung solcher Fragen 100% sicher sind, irren sie in 15% der Fälle (Fischhoff et al. 1977). Die systematische Selbstüberschätzung beeinträchtigt auch Entscheidungen außerhalb des Labors. Hitler, der sich selbst überschätzte, fiel in Russland ein. Aus Selbstüberschätzung begann Lyndon B. Johnson einen Krieg gegen Nordvietnam. Und das Gleiche trifft auf George W. Bush zu, als er seine Truppen in den Irak marschieren ließ, um angebliche Massenvernichtungswaffen auszumerzen. In weniger großem Maßstab preisen Aktienhändler und Investmentmanager ihre Dienste in der Selbstüberschätzung an, sie könnten durch die Auswahl der Aktien überdurchschnittliche Gewinne am Aktienmarkt erzielen, trotz überwältigender Befunde, die auf das Gegenteil hindeuten (Malkiel 2004). Dem Erwerb einer Aktie X entspricht gewöhnlich der Verkauf der Aktie durch jemanden, der zu dem Urteil kommt, dies sei genau der richtige Zeitpunkt, um sie zu verkaufen. Käufer und Verkäufer können trotz ihrer Selbstgewissheit nicht beide Recht haben. Auch Schülerinnen und Schüler überschätzen sich oft selbst, wenn es darum geht, wie schnell sie ihre Hausaufgaben machen und ihre Referate schreiben können, berichten Buehler et al. (1994). Im typischen Fall haben sie die Erwartung, dass sie Projekte vor dem geplanten Zeitpunkt fertig bekommen. Tatsächlich werden die Projekte jedoch i. Allg. nach etwa doppelt so vielen Tagen wie vorhergesagt fertig. Obwohl wir wissen, dass wir die Zeit, die wir brauchen, oft unterschätzt haben, überschätzen wir uns bei der nächsten Vorhersage wieder. Wenn wir außerdem einschätzen müssen, wie viel wir schaffen werden, überschätzen wir auch die freie Zeit, die uns zur Verfügung stehen wird (Zauberman 2005). Wir haben die Erwartung, dass wir in einem Monat mehr freie Zeit haben werden als heute. Deswegen sagen wir ja, wenn wir für eine Zeit in weiter Zukunft um etwas gebeten werden, und entdecken dann, dass wir dann genauso beschäftigt sind. Wenn man darin scheitert, bei seinen Urteilen im militärischen, wirtschaftlichen und politischen Bereich seine eigenen Fehlermöglichkeiten realistisch einzuschätzen, kann das verheerende Folgen haben; aber das kann auch bei fehlendem Selbstbewusstsein der Fall sein. Selbstüberschätzung hat einen adaptiven Wert. Menschen, die sich in Richtung Selbstüberschätzung irren, leben glücklicher, finden es leichter, schwere Entscheidungen zu treffen, und scheinen glaubwürdiger zu sein (Baumeister 1989; Taylor 1989). Wenn man Menschen zudem sofort ein klares Feedback zur Genauigkeit ihres Urteils gibt – wie es bei den Meteorologen jeweils einen Tag nach dem Wetterbericht geschieht –, lernen sie bald, ihre Genauigkeit selbst realistischer einzuschätzen (Fischhoff 1982). Die Weisheit, zu wissen, wann wir etwas wissen und wann nicht, kommt mit der Erfahrung.
10
C. Styrsky
10.1 · Denken
Vertrauen ist gut – Aussteigen ist besser…
»Glauben Sie nicht an alles, was Sie denken.« Aufkleber auf einem Auto
»Wenn du etwas weißt, daran festhalten, dass du es weißt; wenn du etwas nicht weißt, zugeben, dass du es nicht weißt; das ist Wissen.« Konfuzius (551–479 v. Chr., Schriftensammlung in Auszügen)
Machen Sie eine Prognose über Ihr eigenes Verhalten Wann werden Sie mit dem Lesen dieses Kapitels fertig sein?
440
Kapitel 10 · Denken und Sprache
Kritisch nachgefragt
Der Angstfaktor: Haben wir an der richtigen Stelle Angst? »Die meisten Leute denken dramatisch, nicht quantitativ«, so der amerikanische Schriftsteller Oliver Wendell Holmes. Besonders seit dem 11. September 2001 haben viele Menschen mehr Angst vor dem Fliegen als vor dem Autofahren. Trotzdem ergeben die statistischen Daten des National Safety Council (2005) für die Zeit zwischen 2000 und 2002, dass für Amerikaner pro Reisekilometer das Risiko, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, 39,5-mal größer ist, als bei einem Flugzeugunglück zu sterben. In einem Aufsatz von Ende 2001 habe ich Folgendes berechnet: Wenn wir – wegen der Ereignisse am 11. September 2001 – 20% weniger fliegen würden und stattdessen die Hälfte dieser nicht geflogenen Kilometer mit dem Auto zurücklegen würden, wären etwa 800 Menschen mehr in dem Jahr nach dem 11. September bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen (Myers 2001). Als der deutsche Psychologe Gigerenzer (2004) diese Schätzung später mit den Unfallzahlen verglich (warum habe ich nicht daran gedacht?), fand er heraus, dass in den letzten 3 Monaten des Jahres 2001 tatsächlich signifikant mehr Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen waren als im Schnitt für diese 3 Monate in den letzten 5 Jahren (. Abb. 10.8). Lange nach dem 11. September 2001 brachten die toten Terroristen weiterhin Amerikaner um. Als sich der zivile Luftverkehr während der Jahre 2002, 2003 und 2004 langsam wieder stabilisiert hatte, transportierten die US-amerikanischen Fluggesellschaften nahezu 2 Mrd. Passagiere, von denen nur 34 starben – keiner davon in einem der großen Jets einer der Hauptluftverkehrsgesellschaften (Miller 2005). In der Zwischenzeit starben 128.000 Amerikaner bei Autounfällen.
Warum haben wir Angst vor etwas, was wir gar nicht so fürchten müssten? Warum haben wir mehr Angst vor Terrorismus als vor Unfällen – denen jede Woche allein in den USA mehr Menschen zum Opfer fallen als dem Terrorismus mit weltweit 2527 Toten in den ganzen 90er Jahren (Johnson 2001)? Trotz der Schrecken des 11. September starben 2001 mehr Amerikaner an Lebensmittelvergiftung (vor der wenige Menschen Angst haben) als an Terroranschlägen (vor denen viele Menschen Angst haben). Und warum haben so viele Raucher (deren Laster ihre Lebenserwartung im Schnitt um 5 Jahre verkürzt) Angst vor dem Fliegen (das auf den Einzelnen umgerechnet die Lebenserwartung um einen Tag verkürzt)? Die Psychologie hat 4 Faktoren identifiziert, die unsere Risikowahrnehmung beeinflussen. 1. Wir haben Angst vor dem, was wir von unserer Entwicklungsgeschichte als Menschen her zu fürchten gelernt haben. Die Emotionen des Menschen wurden schon in der Steinzeit in der Praxis erprobt. Das ererbte Risikoempfinden lehrt uns, Schlangen, Eidechsen und Spinnen zu fürchten (obwohl alle drei in entwickelten Ländern praktisch keine Menschen mehr töten). Und es bereitet uns darauf vor, Angst vor Enge und Höhe – und damit Flugangst – zu empfinden. 2. Wir haben Angst vor dem, was wir nicht kontrollieren können. Autofahren können wir kontrollieren, Fliegen nicht. 3. Wir haben Angst vor dem unmittelbar Bevorstehenden. Die subjektive Bedrohung durch das Fliegen konzentriert sich vor allem auf Start und Landung, während sich die Gefahren des Autofahrens auf viele künftige Zeitpunkte verteilen, von denen jeder für sich genommen
Carmen Taylor/AP/Wide World Press
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. Abb. 10.8. Spektakuläre Ereignisse sind der Erinnerung leichter zugänglich Bilder vom 11. September haben sich stärker in unser Gedächtnis eingegraben als die Millionen unfallfreien Flüge im Jahre 2002. Da solche dramatischen Ereignisse der Erinnerung leicht zugänglich sind, bestimmen sie unsere Risikowahrnehmung. In den 3 Monaten nach 2001 verleiteten diese fehlerhaften Wahrnehmungen mehr Menschen dazu, mit dem Auto zu verreisen, und manche starben dabei. (Nach Gigerenzer 2004)
6
441 10.1 · Denken
Spektakuläre Ereignisse verzerren auch unsere Wahrnehmung des Risikos und des möglichen Endergebnisses. Wenn Andrew »Jack« Whittacker 315 Mio. Dollar bei einer Powerball-Lotterie gewinnt, so registrieren wir das. Die mehr als 560 Mio. Mitspieler, die auf undramatische Weise seinen Gewinn erst möglich gemacht haben, registrieren wir nicht. Wir registrieren, dass bei den Flügen am 11. September 266 Passagiere samt Besatzung und Crew ums Leben gekommen sind; wir nehmen hingegen die enorme Anzahl unfallfreier Flüge nicht zur Kenntnis – 16 Millionen unfallfreie Starts und Landungen in Folge während eines Zeitraums in den 1990er Jahren (Tolchin 1994). Ein dramatisches Geschehen fesselt unsere Aufmerksamkeit; Wahrscheinlichkeiten dagegen können wir kaum erfassen. Das Ergebnis: Wir überschätzen die Gewinnerwartung von Lotterielosen und die Gefahren des Fliegens; wir unterschätzen dagegen die Gefahren des Autofahrens. Wir haben zu viel Angst vor Ereignissen, bei denen Menschen unter aufsehenerregenden Umständen massenweise vor kurzem ums Leben gekommen sind, haben aber zu wenig Angst vor solchen Bedrohungen, die auf unspektakuläre Weise ein Todesopfer nach dem anderen (statt viele auf einmal) fordern, und das erst in der Zukunft. Würde eine einzelne Boeing 747 von einer raketengetriebenen Granate vom Himmel geholt, würde sich der Schrecken in unsere Seele einbrennen. Wie jedoch Bill Gates anmerkte, sterben jedes Jahr eine halbe Mio. Kinder weltweit, eins nach dem anderen, am Rotavirus – das entspricht 4 Boeing 747 voller Kinder pro Tag –, und kein Mensch spricht darüber (Glass 2004).
Jehad Nga/Corbis
nicht besonders gefährlich ist. Jugendliche sind oft gleichgültig gegenüber den Gefahren des Rauchens, weil ihr Blick stärker auf die Gegenwart gerichtet ist als auf eine entfernte Zukunft. 4. Wir haben Angst vor dem, was uns am lebhaftesten im Gedächtnis bleibt. Schreckensbilder, wie sich die Passagiermaschine in dasWorld Trade Center bohrt, sind in der Erinnerung unauslöschlich. Und diese wirkungsvollen verfügbaren Erinnerungen bilden die Messlatte, nach der wir intuitiv Risiken beurteilen. Tausende von sicheren Autofahrten haben unsere Angst vor dem Fahren ausgelöscht.
10
Die dramatische Anzahl der Toten führte zu Sorgen und Angst Der einprägsame Tsunami in Südostasien, der mehr als 300.000 Menschen das Leben kostete, löste bei vielen Menschen Sorgen aus und führte zur Entwicklung eines Tsunami-Warnsystems. Jeffrey Sachs, der Direktor eines UN-Projekts, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Anzahl der extrem Armen bis 2015 zu halbieren, merkte dazu an, dass in der Zwischenzeit ein stiller Tsunami der armutsbedingten Malaria alle paar Monate genauso viele Kinder auf der Welt das Leben kostet. (Dugger 2005)
Wir müssen »lernen, uns selbst und unsere Familien gegen künftige Angriffe von Terroristen zu schützen«, warnt das U.S. Department of Homeland Security in einer Anzeige, die periodisch in meiner Lokalzeitung erschien. Die Anzeige empfiehlt uns, Nahrungsmittelvorräte anzulegen, Isolierband und batteriebetriebene Radios zu kaufen, die wir brauchen werden, wenn »es einen Terrorangriff auf unsere Stadt gibt«. 40% der Amerikaner sind zumindest ein wenig besorgt, »dass Sie oder ein Mitglied Ihrer Familie dem Terrorismus zum Opfer fallen werden«. Die Botschaft »Be afraid!« (Fürchten Sie sich) – fürchten Sie nicht nur einen Terrorangriff irgendwo auf irgendjemanden, sondern fürchten Sie einen Angriff auf Ihre eigene Person dort, wo Sie jetzt sind – ist also angekommen (Carroll 2005).
! Angst vor Gewaltanwendung durch Menschen, die uns hassen, ist ganz normal. Bei jedem neuenTerroranschlag erstarren wir vor Schreck. Aber wer klug ist, wird seine Ängste auch an der Realität überprüfen. Wenn wir das schaffen, können wir den Terroristen ihre stärkste Waffe nehmen: unsere übertriebene Angst.
Framing-Effekte bei Entscheidungen Ziel 7: Beschreiben Sie, wie andere Menschen Framing verwenden können, um uns die Antworten zu entlocken, die sie hören wollen.
Ein weiterer Test für unsere Rationalität ist auch die Frage, ob die Darstellung desselben Problems auf 2 verschiedene, aber logisch gleichwertige Arten zur gleichen Lösung führt. Beispielsweise erzählt ein Chirurg seinen Patienten, dass es bei einer bestimmten Operation 10% Todesfälle gibt. Ein anderer Chirurg spricht von 90% Überlebenschance. Der Informationsgehalt ist derselbe. Die Wirkung dagegen nicht. Beiden, dem Patienten wie dem Arzt, scheint das Risiko größer, wenn von 10% Todesfällen die Rede ist (Marteau 1989; McNeil et al. 1988; Rothman u. Salovey 1997). Die Auswirkungen der Art und Weise, wie ein Sachverhalt dargestellt wird, der sog. FramingEffekt (Rahmeneffekt), sind oft bemerkenswert: Konsumenten kaufen lieber Gehacktes, das laut Packungsangabe »zu 75% aus Magerfleisch« besteht, als solches, das »25% Fett« enthält (Levin u. Gaeth 1988; Sanford et al. 2002). Neun von 10 Studierenden halten ein Kondom für wirksam, wenn ihm beim Schutz gegen Aids eine »Erfolgsrate von 95%« attestiert wird; nur 4 von 10 sind derselben Meinung, wenn von einer »Fehlerquote von 5%« die Rede ist (Linville et al. 1992). Und man
Framing-Effekt (framing effect): Auswirkung der Darstellungsweise eines Gegenstands oder Themas; Framing-Effekte können einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Urteile ausüben.
442
Kapitel 10 · Denken und Sprache
staunt mehr, wenn ein Ereignis »in einem von 20 Fällen« als wenn es (mit gleicher Wahrscheinlichkeit) in »10 von 200 Fällen« auftritt (Denes-Raj et al. 1995). Um Menschen vor Gefahren zu warnen, sollte man die Risiken in absoluten Zahlen und nicht in Prozentwerten benennen. Wer erfährt, dass der Kontakt mit einer chemischen Substanz in 10 von 10 Mio. Fällen zum Tode führt (stellen Sie sich 10 Tote vor!), hat davor mehr Angst, als wenn man ihm sagt, dass das Mortalitätsrisiko bei zu vernachlässigenden 0,000001% liegt (Kraus et al. 1992). Lassen Sie uns sehen, wie sich Framing-Effekte in der Wirtschaft und der Geschäftswelt auswirken. Kaufleute setzen ihre »regulären Preise« so fest, dass »Sonderangebote« überaus preisgünstig wirken. Ein Mantel, der im Laden X von 150 Dollar auf 100 Dollar heruntergesetzt wurde, kann preisgünstiger erscheinen als derselbe Mantel, der im Laden Y regulär 100 Dollar kostet (Urbany et al. 1988). Auch meine Zahnärztin verlangt nicht mehr Geld, wenn später bezahlt wird, sondern bietet 5% Ermäßigung bei sofortiger Barzahlung. Wie viele andere Dienstleister weiß sie, wie man das Framing machen muss: den Preisunterschied als Bargeldrabatt darstellen und nicht als Aufpreis für die Verwendung einer Kreditkarte. Dass unsere Urteile auf dermaßen wackligen Füßen stehen, ist verblüffend. Das legt die Annahme nahe, dass unsere Urteile und Entscheidungen nicht besonders gut durchdacht sind. Wer die Macht des Framing-Effekts versteht, kann ihn sich zu Nutze machen, um auf wichtige Entscheidungen Einfluss zu nehmen – beispielsweise indem er bei Umfragen Formulierungen so wählt, dass ein bestimmter Gesichtspunkt untermauert oder geschwächt wird.
10.1.4
Überzeugungsbias
Ziel 8: Erklären Sie, wie unsere bereits bestehenden Überzeugungen unsere Logik verzerren können.
Wie wir gesehen haben, sind unsere Urteile verzerrt, weil wir unsere Ahnungen bestätigt sehen wollen, weil wir auf nützliche, aber fehleranfällige Heuristiken bauen, weil wir zur systematischen Selbstüberschätzung neigen und Framing-Effekten zum Opfer fallen. Könnte logisches Denken uns denn wenigstens vor den Urteilsverzerrungen bewahren, die durch unsere Überzeugungen zustande kommen? Logik hilft in der Tat, aber es fällt uns trotzdem leichter, Schlussfolgerungen zu akzeptieren, die mit unseren Überzeugungen übereinstimmen. Betrachten wir die folgende logische Ableitung: 4 Prämisse 1: Einige Kommunisten spielen Golf. 4 Prämisse 2: Alle Golfspieler sind Marxisten. 4 Schlussfolgerung: Einige Kommunisten sind Marxisten.
10
Im Experiment erkannten fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer richtig, dass sich die Schlussfolgerung logisch aus den Prämissen ergibt (Oakhill et al. 1989). Betrachten wir aber nun die folgende Ableitung: 4 Prämisse 1: Einige Kommunisten spielen Golf. 4 Prämisse 2: Alle Golfspieler sind Kapitalisten. 4 Schlussfolgerung: Einige Kommunisten sind Kapitalisten.
Überzeugungsbias (belief bias): Tendenz, nach der bereits bestehende Überzeugungen das logische Denken verzerren können, indem ungültige Schlüsse für wahr gehalten werden oder umgekehrt.
Vielen Befragten fiel es hier schwerer, einzusehen, dass unter den angegebenen Prämissen die Schlussfolgerung genauso zwingend ist. Bewerten Sie nun selbst die folgende Ableitung (nach Hunt 1982): 4 Prämisse 1: Demokraten sind für Redefreiheit. 4 Prämisse 2: Diktatoren sind keine Demokraten. 4 Schlussfolgerung: Diktatoren sind nicht für Redefreiheit. Wenn Sie diese Schlussfolgerung für logisch korrekt halten, sind Sie ein Opfer des Überzeugungsbias (»belief bias«) – gemäß dem unsere Überzeugungen unser logisches Denken verzerren (Oakhill et al. 1990). (Prämisse 1 schloss ja nicht aus, dass andere Menschen, sogar Diktatoren, für
443 10.1 · Denken
10
Redefreiheit sein können.) Wenn Sie sich eine andere formal und logisch identische Ableitung ansehen, werden Sie merken, dass es viel leichter ist, die Schlussfolgerung als unzulässig zurückzuweisen. 4 Prämisse 1: Rotkehlchen haben Federn. 4 Prämisse 2: Hühner sind keine Rotkehlchen. 4 Schlussfolgerung: Hühner haben keine Federn. Überzeugungsbias bedeutet also: Wir sehen das Unlogische leichter anhand von Schlussfolgerungen ein, die unseren Überzeugungen widersprechen, als anhand solcher, die mit unseren Überzeugungen übereinstimmen.
Beharren auf Überzeugungen Ziel 9: Beschreiben Sie ein Mittel, mit dessen Hilfe man gegen das Beharren auf Überzeugungen ankommt.
Eine weitere Quelle für irrationales Denken ist unser Beharren auf Überzeugungen (»belief perseverance«), unsere Tendenz, trotz gegenteiliger Informationen an unseren Überzeugungen festzuhalten. Beharren auf Überzeugungen ist oft eine Quelle sozialer Konflikte. Lord et al. (1979) fanden heraus, wie es dazu kommt, als sie Menschen mit einer entgegengesetzten Auffassung zum Thema Todesstrafe in einer Untersuchung befragten. Befürwortern und Gegnern der Todesstrafe wurden zwei angeblich neue Untersuchungen vorgelegt, von denen eine die Abschreckungswirkung der Todesstrafe belegte, die andere diese aber eher bestritt. Beide Parteien zeigten sich tiefer beeindruckt von der Studie, die ihre Überzeugung untermauerte, während sie die gegenteilige Studie scharf kritisierten. Befürworter und Gegner bekamen also dieselben, einander widersprechenden Informationen, und dadurch verstärkte sich ihre Uneinigkeit noch. Wenn man etwas gegen dieses Phänomen tun will, so gibt es ein einfaches Gegenmittel: Bedenken Sie das Gegenteil. Als Lord et al. (1984) das Experiment wiederholten, forderten sie einige der Teilnehmer auf, »möglichst objektiv und unvoreingenommen« zu sein. Der Appell ließ die parteiische Bewertung der Untersuchungsergebnisse keineswegs abnehmen. Eine andere Gruppe baten sie, zu überlegen, ob sie »zu der gleichen Einschätzung der Untersuchungsergebnisse gekommen wären, wenn genau dieselbe Studie zu anderen Ergebnissen geführt hätte«. Wenn sich die Versuchsteilnehmer solche gegensätzlichen Ergebnisse vorstellen und sie bewerten mussten, waren sie bei der Bewertung der Untersuchungen wesentlich unvoreingenommener. Je mehr Gründe wir haben, weshalb unsere Überzeugung stimmen könnte, desto stärker halten wir daran fest. Wer sich erst einmal klargemacht hat, warum ein bestimmtes Kind als »begabt« oder aber als »lernbehindert« gilt, warum Kandidat X oder Y besser geeignet ist, für den Frieden einzutreten, oder weshalb die Firma Z eine gute Investition ist, neigt dazu, Hinweise zu ignorieren, die gegen diese Überzeugungen sprechen. Das Vorurteil bleibt bestehen. Wenn sich eine Überzeugung erst einmal gebildet hat und sie öffentlich gerechtfertigt wurde, so bedarf es stärkerer Argumente, um sie zu verändern, als dies bei ihrer Entstehung erforderlich war.
Die Gefahren und die Macht der Intuition Ziel 10: Beschreiben Sie, wie ein kluger Denker reagiert, wenn er seine Intuition beim Problemlösen nutzt.
Wie wir gesehen haben, kann unser irrationales Denken unsere Bemühungen um Problembewältigung, um weise Entscheidungen, verlässliche Urteile und logisches Argumentieren torpedieren. Darüber hinaus sind diese Fallstricke der Intuition sogar dann vorhanden, wenn Menschen eigens für scharfes Denken bezahlt werden oder wenn sie Rechenschaft über ihre Ergebnisse abgeben müssen; sie finden sich auch bei Fachärzten und Klinikern (Shafir u. LeBoeuf 2002). Alles in allem (. Tab. 10.1) deuten diese und andere Befunde auf »trübe Aussichten für die Rationalität des Menschen« hin (Nisbett u. Borgida 1975). Wahrheiten haben oft ihre Vor- und Nachteile. Es stimmt, dass nicht überprüfte Wahrheiten gefährlich sind. Doch die heutigen kognitiven Psychologen zeigen auch, welche Kräfte in der Intuition stecken. Großenteils ist unsere Intuition in wunderbarer Weise effizient und effektiv. Um-
Beharren auf Überzeugungen (belief perseverance): Festhalten an den ursprünglichen Auffassungen, nachdem die Grundlage, auf der sie gebildet wurden, zweifelhaft geworden ist.
»Wenn Sie eine Überzeugung gewonnen haben, so beeinflusst diese die Art, wie Sie jede andere wichtige Information wahrnehmen. Wenn Sie ein Land für Feindesland halten, interpretieren Sie mehrdeutiges Verhalten von Menschen aus diesem Land als feindselig.« Der Politikwissenschaftler Robert Jervis (1985)
»Anfangs habe ich mich diesen Gedankengängen nur zögernd überlassen … aber im Laufe der Zeit gewannen sie solch eine Macht über mich, dass ich jetzt nicht mehr anders zu denken vermag.« Sigmund Freud (»Das Unbehagen in der Kultur«, 1930)
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
. Tabelle 10.1. Gefahren und Kraft der Intuition (die Zahlen am Ende sind Kapitelnummern)
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Einige Todsünden der Intuition
Belege für die Kraft der Intuition
Hindsight-Bias – beim Rückblick auf Ereignisse nehmen wir irrtümlich an, wir hätten es immer schon gewusst (1)
Blindsehen – das Sehen von Menschen mit einer Hirnschädigung, wenn ihr Körper auf Dinge und Gesichter reagiert, die er nicht bewusst erkennt (2)
Illusorische Korrelation – intuitiv nehmen wir einen Zusammenhang an, wo keiner besteht (1)
Denken mit der rechten Gehirnhälfte – Split-Brain-Patienten, deren Hirnhälften operativ voneinander getrennt wurden und die ein Wissen zeigen, das sie nicht verbalisieren können (2)
Gedächtniskonstruktion – wir bilden unter dem Einfluss unserer momentanen Stimmung und durch Fehlinformationen falsche Erinnerungen (9)
Intuitives Lernen bei Säuglingen – im Bereich der Sprache und der Physik (4)
Repräsentativität und Verfügbarkeit – prompte und einfache Heuristiken werden zu schnellen und schlechten Heuristiken, wenn sie uns zu unlogischen und inkorrekten Urteilen führen (10)
Moralische Intuition – rasche Bauchgefühle, die dem moralischen Schlussfolgern vorangehen (4)
Selbstüberschätzung – bei der intuitiven Bewertung unseres eigenen Wissens sind wir uns gewiss und haben trotzdem nicht Recht (1, 10)
Geteilte Aufmerksamkeit und Priming – Informationen, auf die man seine Aufmerksamkeit nicht richtet und die von »Radarbeobachtern unten im Gehirn« verarbeitet werden (5, 9)
Beharren auf Überzeugungen und Bestätigungstendenz – teilweise wegen unserer Vorliebe dafür, Informationen zu bestätigen, sind Überzeugungen oft hartnäckig, auch nachdem ihre Grundlage erschüttert wurde (1, 10)
Alltagswahrnehmung – die sofortige Parallelverarbeitung und Integration komplexer Informationsströme (5)
Framing – Urteile variieren in Abhängigkeit davon, wie dieselbe Fragestellung oder Information dargestellt wird (10)
Automatische Verarbeitung – der kognitive Autopilot, der uns durch große Teile des Lebens lenkt (mehrere Kapitel)
Falschvorhersage der eigenen Gefühle – wir sagen die Intensität und die Dauer unserer Gefühle oft falsch vorher (13)
Implizites Gedächtnis – lernen, wie man etwas tut, ohne zu wissen, dass man es weiß (9)
Selbstdienliche Verzerrung – auf unterschiedliche Weise zeigen wir überhöhte Selbstbewertungen (14)
Heuristiken – diese schnellen und einfachen mentalen Abkürzungswege, die uns normalerweise einen guten Dienst erweisen (10)
Fundamentaler Attributionsfehler – wenn man das Verhalten anderer Menschen zu stark auf ihre Dispositionen schiebt, indem man unbemerkte situative Einflussfaktoren abtut (15)
Intuitives Expertenwissen – Phänomene des unbewussten Lernens, Expertenlernen und körperliche Begabungen (10, 11, 14)
Falschvorhersage des eigenen Verhaltens – unsere intuitiven Vorhersagen in Bezug auf uns selbst führen uns häufig in die Irre (15)
Kreativität – das manchmal spontane Auftauchen neuartiger und wertvoller Ideen (11) Soziale und emotionale Intelligenz – das intuitive Know-how dazu, wie man soziale Situationen erfasst und damit umgeht, wie man Emotionen wahrnimmt und zum Ausdruck bringt (11) Die Weisheit des Körpers – wenn sofortige Reaktionen erforderlich sind, umgehen die emotionalen Nervenbahnen des Gehirns den Kortex; Vorahnungen gehen manchmal dem rationalen Verstehen voraus (13) Winzige Ausschnitte – wenn man Merkmale in einem Verhalten entdeckt, das nur einige Sekunden andauert (14) Duales Einstellungssystem – so wie wir über 2 Arten des Wissens (unbewusst und bewusst) verfügen und über 2 Arten des Erinnerns (implizit und explizit), haben wir auch 2 Arten von Reaktionen – auf einem Bauchgefühl und auf einer rationalen Einstellung basierende (15)
gehende intuitive Reaktionen versetzen uns in die Lage, schnell und in der Regel adaptiv zu reagieren (. Tab. 10.1 gibt einen Überblick über Beispiele, die im gesamten Buch auftauchen). Erfahrene Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Kunstkritiker, Automechaniker, Hockeyspieler (und Sie auf allen Gebieten, in denen Sie zum Experten geworden sind) lernen, viele Situationen in einem ganz kurzen Augenblick einzuschätzen. Bei dem Versuch, zu zeigen, wie uns Alltagsheuristiken klug (und manchmal auch dumm) aussehen lassen, stellte Gigerenzer (2004) Studierenden an deutschen und an US-amerikanischen Universitäten die folgende Frage: »Welche Stadt hat mehr Einwohner: San Diego oder San Antonio?« 62% der amerikanischen Befragten rieten nach kurzem Zögern die richtige Antwort,
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San Diego. In Deutschland, wo viele Leute noch nie von San Antonio gehört haben (ein Pardon an unsere Freunde in Texas), verwendeten die Studierenden eine schnelle und in einfacher Weise intuitive Heuristik: Wähl die aus, die du kennst. Mit geringerem Wissen, aber mit einer adaptiven Heuristik kamen 100% der von Gigerenzer befragten Deutschen auf die richtige Antwort. Intuition ist eine großartige Sache. In stärkerem Maße, als wir es erkennen, spielt sich das Denken häufig unter der Oberfläche ab, während die Ergebnisse gelegentlich sichtbar werden. Intuition ist adaptiv. Sie gibt ihre Ergebnisse weiter an unser Expertenwissen, an unsere Kreativität, an unsere Liebe und an unsere Spiritualität. Und Intuition (vor allem kluge Intuition) entsteht aus der Erfahrung. Schachgroßmeister können auf ein Schachbrett schauen und kennen intuitiv den richtigen Zug. Wenn sie »Blitzschach« spielen, wo jeder Zug kurz nach dem Hingucken ausgeführt wird, lassen ihre Fähigkeiten kaum nach (Burns 2004). Begabte Violinisten wissen in jedem Augenblick, ohne nachzudenken, wo, in welchem Winkel und mit welchem Druck sie den Bogen ansetzen müssen. Erfahrene Hühnerzüchter können Ihnen in einem kurzen Augenblick sagen, welches Geschlecht das Küken hat, auch wenn sie Ihnen nicht mitteilen können, wie sie es machen. In jedem dieser Fälle beruht der unmittelbare Eindruck auf erworbenem, schnell verfügbarem Expertenwissen; dies gibt einem das Gefühl einer unmittelbaren Intuition. Intuition ist Wiedererkennen, merkte der Nobelpreisträger, Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler Herbert Simon (2001) an. Es ist Analyse, die »zur Gewohnheit eingefroren ist«. Weil kluge Denker sich der Gefahren und der Kraft der Intuition bewusst sind, werden sie ihre Intuitionen gern annehmen, sie aber auch anhand der verfügbaren Befunde überprüfen. Unsere Bauchintuitionen sind manchmal großartig (z. B. wenn wir sofort Emotionen im Gesicht anderer Menschen erkennen), oft jedoch unzuverlässig (z. B. beim Einschätzen von Risiken). Die Weisheit besteht darin, dass man beides voneinander unterscheiden kann.
Geschlechtsbestimmung bei Küken Wenn das erworbene Expertenwissen zu einer automatischen Gewohnheit wird, wie dies bei einem erfahrenen Geschlechtsbestimmer für Küken der Fall ist, ähnelt es subjektiv einer Intuition. Auf einen Blick weiß man es einfach.
Lernziele Abschnitt 10.1 Ziel 1: Definieren Sie, was Kognition ist. Kognition ist ein Begriff, mit dem alle mentalen Aktivitäten abgedeckt sind, die mit Denken, Wissen, Erinnerung und Kommunizieren zusammenhängen. Ziel 2: Beschreiben Sie, welche Rolle Kategorien, Hierarchien, Definitionen und Prototypen bei der Begriffsbildung zukommt. Wir verwenden Begriffe, um die Welt um uns herum zu vereinfachen und zu ordnen. Aufgrund von Ähnlichkeiten teilen wir Gruppen von Gegenständen, Ereignissen, Ideen oder Menschen in Kategorien ein. Dadurch, dass wir Hierarchien schaffen, unterteilen wir diese Kategorien in kleinere und detailliertere Einheiten. Andere Begriffe (z. B. Dreieck) bilden wir durch Definition (geometrische Figur aus 3 Punkten, die nicht auf einer Gerade liegen und durch Strecken miteinander verbunden werden). Die meisten Begriffe entstehen jedoch in Zusammenhang mit Prototypen, d. h. typischen Beispielen für eine Kategorie. Indem wir Gegenstände und Ideen mit Prototypen abgleichen, können wir auf effiziente Weise und in Sekundenschnelle entscheiden, ob etwas in eine spezifische Kategorie gehört oder nicht. Ziel 3: Vergleichen Sie Algorithmen und Heuristiken als Strategien zur Problemlösung, und erklären Sie, wie sich Einsicht von beiden Strategien unterscheidet. Ein Algorithmus ist eine Zusammenstellung von Regeln und Verfahrensweisen (z. B. ein Rezept für Plätzchen oder eine detaillierte Beschreibung, was man tun muss, um ein Gebäude bei einem Feuer zu evakuie-
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Jean-Philippe Ksiazek/AFP/Getty Images
10.1 · Denken
ren), die zeitaufwändig, aber gründlich durchdacht ist und eine Problemlösung gewährleistet. Eine Heuristik ist eine einfachere Denkstrategie (z. B. zum Ausgang zu laufen, wenn man dicke Rauchschwaden riecht), die es gestattet, Probleme schnell zu lösen, was sich jedoch manchmal als inkorrekt erweist. Eine Einsicht ist wieder etwas anderes, weil es sich hier nicht um eine Lösung handelt, die auf einer Strategie beruht, sondern um eine Aha-Reaktion – ein Geistesblitz, mit dem man ein Problem löst. Ziel 4: Stellen Sie die Bestätigungstendenz und die Fixierung einander gegenüber, und erklären Sie, wie sie sich störend auf eine effektive Problemlösung auswirken können. Die Bestätigungstendenz führt dazu, dass wir eher versuchen, unsere Hypothesen bestätigt zu sehen, als diese in Frage zu stellen. Eine Fixierung wie ein mentales Set und die funktionale Gebundenheit können uns dazu verleiten, eine Argumentationslinie zu verfolgen, und uns davon abhalten, einen neuartigen Blickwinkel einzunehmen, von dem aus wir das Problem lösen könnten. Ziel 5: Stellen Sie die Repräsentativitätsheuristik der Verfügbarkeitsheuristik gegenüber, und erklären Sie, wie sie uns dazu bringen können, wichtige Informationen zu unterschätzen oder von ihnen keine Notiz zu nehmen. Die Repräsentativitätsheuristik bringt uns dazu, die Wahrscheinlichkeit von Dingen danach zu beurteilen, wie sehr sie unseren Prototyp für eine Gruppe von Dingen repräsentieren. Die Verfügbarkeitsheuristik verführt uns dazu, die Wahrscheinlichkeit von Dingen danach zu beurteilen, wie 6
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
lebendig sie für uns sind und wie schnell sie in unser Bewusstsein treten. Beide Formen der kurzen Wege beim Denken können uns dazu verleiten, von wichtigen Informationen keine Notiz zu nehmen oder die Wahrscheinlichkeit, dass etwas eintritt, zu unterschätzen. Ziel 6: Beschreiben Sie die Vor- und Nachteile der Selbstüberschätzung beim Fällen von Entscheidungen. Der Hauptnachteil der Selbstüberschätzung besteht darin, dass unsere Tendenz, nach Bestätigung für unsere Hypothesen zu suchen und daher eine schnelle und einfache Heuristik zu verwenden, uns manchmal unsere Fehleranfälligkeit übersehen lässt – ein Irrtum, der tragisch sein kann, wenn wir in einer verantwortlichen Position sind. Auf einer persönlichen Ebene jedoch neigen Menschen, die sich selbst überschätzen, dazu, ein glücklicheres Leben zu führen, schwierige Entscheidungen leichter zu treffen und scheinbar glaubwürdiger zu sein. Ziel 7: Beschreiben Sie, wie andere Menschen Framing verwenden können, um uns die Antworten zu entlocken, die sie hören wollen . Eine Fragestellung lässt sich auf unterschiedliche, aber gleichermaßen logische Weise darstellen (Framing); doch die subtile Art, wie man sie formuliert, kann uns in die vom Fragesteller gewünschte Richtung lenken. (Denken Sie z. B. an »Glauben Sie, die Menschen sollten die Freiheit haben, in der Öffentlichkeit zu rauchen?« im Gegensatz zu »Glauben Sie, Raucher sollten das Recht haben, die Lungen der Nichtraucher einem Rauch aus zweiter Hand auszusetzen?«).
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Ziel 8: Erklären Sie, wie unsere bereits bestehenden Überzeugungen unsere Logik verzerren können. Wir neigen dazu, Schlussfolgerungen, die mit unseren Überzeugungen übereinstimmen, als logischer zu beurteilen als diejenigen, die nicht zu
10.2 Sprache (language): gesprochene, geschriebene oder durch Gebärden ausgedrückte Wörter und die Art und Weise, wie diese aneinandergereiht werden, um Bedeutungen auszudrücken.
unseren Überzeugungen passen. Diese Überzeugungsverzerrung verleitet uns möglicherweise dazu, nicht gültige Schlussfolgerungen zu akzeptieren und gültige abzulehnen. Ziel 9: Beschreiben Sie ein Mittel, mit dessen Hilfe man gegen das Beharren auf Überzeugungen ankommt. Beharren auf Überzeugungen bedeutet, dass man an seinen Ideen festhält, weil die ursprünglich einmal als gültig akzeptierte Begründung innerlich in uns nachwirkt, selbst wenn sie zweifelhaft ist. Das beste Mittel gegen diese Form der Verzerrung besteht darin, dass man sich bemüht, Belege für die Gegenposition zu bedenken. Ziel 10: Beschreiben Sie, wie ein kluger Denker reagiert, wenn er seine Intuition beim Problemlösen nutzt. Obwohl uns die Intuition manchmal in die Irre führt, kann sie bemerkenswert leistungs- und anpassungsfähig sein. Wenn wir uns z. B. mit einem Wissensgebiet befassen, lernen wir immer besser, schnelle und sachkundige Urteile zu fällen. Kluge Denker werden ihre Intuitionen nutzen, sie jedoch daraufhin überprüfen, ob sie mit den zur Verfügung stehenden Befunden übereinstimmen. > Denken Sie weiter: Unsere Risikowahrnehmung ist oft von spektakulären Bildern aus Film und Fernsehen geprägt und hat erstaunlich wenig mit den tatsächlichen Risiken zu tun. (Jemand kann sich bei Gewitter im Keller verstecken, schnallt sich aber beim Autofahren nicht an.) Wovor haben Sie Angst? Stehen einige Ihrer Ängste in einem Missverhältnis zu den statistischen Risiken? Versäumen Sie es, in anderen Lebensbereichen sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen?
Sprache
Den deutlichsten Nachweis für unser Denkvermögen liefert die Sprache – unsere gesprochenen, geschriebenen oder durch Gebärden dargestellten Wörter und die Art, wie wir diese beim Denken und Kommunizieren zusammensetzen. Seit jeher verkünden die Menschen voll Stolz, dass die Sprache uns über die anderen Tiere erhebt. »Wenn wir die Sprache des Menschen untersuchen«, versichert der Linguist Chomsky (1972) »kommen wir dem nahe, was man als die ›Essenz des Menschenwesens‹ bezeichnen könnte, also all den geistigen Qualitäten, die nach allem, was wir wissen, ausschließlich beim Menschen« vorkommen. Für den Kognitionsforscher Pinker (1990) ist die Sprache »das Juwel in der Krone der Kognition«. Stellen Sie sich Aliens vor, die Gedanken von einem Kopf zum anderen nur durch die pulsierenden Luftmoleküle in dem Raum zwischen ihnen weiterleiten könnten. Vielleicht könnten diese verrückten Kreaturen ja in einem künftigen Film von Spielberg vorkommen? Eigentlich sind wir diese Kreaturen! Wenn wir sprechen, zaubern unser Gehirn und unser Sprechapparat Luftdruckwellen hervor, die wir absenden und gegen das Trommelfell des anderen prallen lassen – dies ermöglicht es uns, Gedanken von unserem in ihr Gehirn zu leiten. Wie Pinker (1998) anmerkte, kann man stundenlang dasitzen »und den Geräuschen zuhören, die andere Menschen beim Ausatmen machen, weil dieses Zischen und Quietschen eben Information enthält«. Und wegen all dieser seltsamen Geräusche, die in unserem Kopf aus Luftdruckwellen erzeugt und ausgesandt werden, richten die Leute ihre Aufmerksamkeit auf uns, und wir schaffen es, dass sie bestimmte Dinge machen, und erhalten damit Beziehungen aufrecht.
447 10.2 · Sprache
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Als der menschliche Sprechapparat die Fähigkeit entwickelte, Vokale zu bilden, nahm unser Sprachvermögen sprunghaft zu und brachte unsere Spezies mit Riesenschritten voran (Diamond 1989). Jede Art von Sprache, sei es gesprochene, geschriebene oder Gebärdensprache, ermöglicht uns nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Übertragung erworbenen zivilisatorischen Wissens von Generation zu Generation. Affen wissen fast nur, was sie sehen. Dank der Sprache wissen wir vieles, was wir noch nie gesehen haben.
10.2.1
Sprachstruktur
Ziel 11: Beschreiben Sie die grundlegenden strukturellen Einheiten einer Sprache.
Phonem (phoneme): kleinste unterscheidbare Lauteinheit in einer gesprochenen Sprache.
Morphem (morpheme): kleinster bedeutungstragender Baustein einer Sprache; kann ein Wort oder ein Wortbestandteil sein.
M. & E. Bernheim/Woodfin Camp & Associates
Wie würden wir vorgehen, wenn wir selbst eine Sprache basteln wollten? Für eine gesprochene Sprache würden wir 3 Bausteine benötigen. Zunächst eine Anzahl von Grundlauten, welche die Linguisten als Phoneme bezeichnen. Wenn wir das Wort »Ton« aussprechen, müssen wir die Phoneme »t«, »o« und »n« artikulieren. Das Wort »schon« besteht ebenfalls aus 3 Phonemen, nämlich »sch«, »o« und »n«. Jede Sprache hat ihre spezifische Anzahl von Phonemen. Sowohl das Englische als auch das Deutsche kennen etwa 40; die Zahl der Phoneme in anderen Sprachen liegt zwischen halb so viel und mehr als doppelt so viel. Bei der Untersuchung von fast 500 Sprachen haben die Linguisten 869 verschiedene Phoneme der menschlichen Sprache ausmachen können (Holt 2002; Maddieson 1984). Veränderungen in Bezug auf die Phoneme führen zu Bedeutungsveränderungen. Durch unterschiedliche Vokale zwischen einem b und einem t entstehen im Englischen 12 verschiedene Bedeutungen: »bait, bat, beat/beet, bet, bit, bite, boat, boot, bought, bout, but« (Fromkin u. Rodman 1983). Im Allgemeinen enthalten Konsonantenphoneme aber mehr Information als Vokalphoneme. Dar karza Satz, dan Saa garada lasan, balagt das abarzaagand. Ebenso: dra Chanasan mat dam Kantrabass. Wer in seiner Kindheit eine bestimmte Gruppe von Phonemen erlernt hat, tut sich schwer damit, die Phoneme einer anderen Sprache auszusprechen. Der englische Muttersprachler belächelt vielleicht die Schwierigkeiten mit dem englischen »th«, die ein Deutscher hat, bei dem dann vielleicht »this« wie »dis« klingt. Der Deutsche wiederum amüsiert sich über die Probleme des Engländers mit dem deutschen Rachen-R oder mit der Aussprache des Hauchlauts »ch« im Wort »ich«. Auch Gebärdensprachen bestehen aus phonemartigen Bausteinen, die durch Handform und -bewegung definiert sind. Wie bei den Lautsprachen, können die Muttersprachler einer der mehr als 200 existierenden Gebärdensprachen Schwierigkeiten mit den Phonemen anderer Gebärdensprachen haben. Muttersprachler einer chinesischen Gebärdensprache, die nach Amerika kommen und dort Gebärdensprache erlernen, haben in der Gebärdensprache meistens einen Akzent, berichtet die Forscherin Bellugi (1994). Aber Laute allein machen noch keine Sprache aus. Der zweite Baustein ist das Morphem, die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache. Im Englischen sind einige Morpheme zugleich Phoneme – z. B. das Personalpronomen »I« und der Artikel »a«. Aber die meisten Morpheme sind Kombinationen aus 2 oder mehr Phonemen. Einige, wie beispielsweise »Hund« sind Wörter, andere nur Wortbestandteile. Zu den Die Abbildung kann an dieser Morphemen gehören auch Präfixe und Suffixe, etwa »Vor-« in »VorStelle nicht gezeigt werden, schau« oder »-te« als Zeichen für wir verweisen daher auf die die Vergangenheitsform. Das Wort Printversion »unerwünscht« besteht aus 4 Morphemen – »un-er-wünsch-t« – und jedes trägt zur Gesamtbedeutung des Wortes bei (z. B. das Präfix »un-«).
Sprache vermittelt Kultur Wörter und Grammatik mögen von Sprache zu Sprache verschieden sein, aber jede Gesellschaft hat eine Geschichte, die in Form mündlicher Überlieferung an die nachfolgende Generation weitergegeben wird. Hier hören Jungen von der Elfenbeinküste einem Alten zu, der eine Stammeslegende erzählt
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
? Wie viele Morpheme und Phoneme enthält das Wort »Katzen«? (7 Antwort 10.2 am Ende des Kapitels)
Grammatik (grammar): System von Regeln in einer Sprache, mit deren Hilfe wir uns anderen Menschen mitteilen und sie verstehen können. Semantik (semantics): Gesamtheit aller Regeln, mit deren Hilfe wir in einer gegebenen Sprache aus Morphemen, Wörtern und Sätzen Bedeutung ableiten; auch die Wissenschaft von der Bedeutung. Syntax (syntax): die Regeln, nach denen in einer gegebenen Sprache Wörter zu sinnvollen Sätzen aneinandergereiht werden.
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Schließlich braucht unsere neu erfundene Sprache eine Grammatik, ein System von Regeln (Semantik und Syntax) in einer bestimmten Sprache, das es uns ermöglicht, mit anderen Menschen zu kommunizieren und sie zu verstehen. Semantik bezeichnet die Gesamtheit aller Regeln, nach denen wir Bedeutung aus Morphemen, Wörtern und ganzen Sätzen ableiten. Im Deutschen gibt uns eine semantische Regel Auskunft darüber, dass das Anhängen der Silbe »-te« an das Morphem »lach« den Vorgang in die Vergangenheit setzt. Die Syntax umfasst die Regeln, nach denen wir aus Wörtern Sätze bilden. Eine Regel der deutschen Syntax besagt, dass Adjektive im Normalfall den Substantiven vorangehen, so heißt es beispielsweise »weißes Haus«. Im Spanischen dagegen folgen die Adjektive in der Regel den Substantiven, deshalb heißt es im Spanischen »casa blanca«. Nach englischen Syntaxregeln ist der Satz »They are hunting dogs« korrekt gebildet, doch erst aus dem Zusammenhang sagt uns die Semantik, ob »Es sind Jagdhunde« oder »Sie jagen Hunde« gemeint ist. Bei allen 6000 menschlichen Sprachen ist die Grammatik außerordentlich komplex. »Es gibt ›Steinzeit‹-Gesellschaften«, sagt Pinker (1995), »aber dort spricht man keine ›Steinzeit‹-Sprachen.« Dass weniger gebildete Menschen angeblich grammatikalische Fehler machen, ist eine Täuschung, sie sprechen nur einen anderen Sprachdialekt. Für einen Linguisten sind »Ich bin am Arbeiten« und »Ich arbeite gerade« grammatikalisch gleichwertig. (Beides folgt der gleichen Syntax.) Es ist aber bemerkenswert, dass Sprache auf dem Weg vom Phonem über das Morphem zum Wort und zum Satz immer komplexer wird. Im Deutschen lässt sich die relativ kleine Zahl von etwa 40 Phonemen zu mehr als 60.000 Morphemen zusammensetzen, die allein oder miteinander kombiniert die etwa 350.000 Stichwörter des Duden ergeben. Aus diesen Wörtern können wir dann eine unbegrenzte Zahl von Sätzen bilden, selbst solche, die wir vorher nie gehört oder gelesen haben. So wie das Leben selbst auf dem einfachen Alphabet des genetischen Codes beruht, entsteht die Komplexität der Sprache aus allereinfachsten Grundelementen. Ich weiß, dass Sie verstehen, warum ich mir Sorgen mache, Sie könnten glauben, dieser Satz würde allmählich zu kompliziert werden, aber diese Komplexität – und unsere Fähigkeit, diese mitzuteilen und zu verstehen – macht eben das Sprachvermögen des Menschen aus.
10.2.2
Sprachentwicklung
Überschlagen Sie einmal: Wie viele Wörter haben Sie zwischen Ihrem 1. Geburtstag und Ihrem Abitur im Schnitt pro Tag erlernt? Mit 16 Jahren kennt der durchschnittliche deutschsprachige Jugendliche ca. 60.000 Wörter (Miller 1993). Das bedeutet, dass er (nach dem 1. Lebensjahr) fast 4000 Wörter pro Jahr oder 11 pro Tag gelernt hat! Wie Sie das hingekriegt haben und warum die 4000 Wörter pro Jahr so viel mehr sind als die ca. 200 Wörter pro Jahr, die die Lehrer bewusst unterrichtet haben, ist eines der großen Wunder der Menschheit. Ehe Kinder noch 2 und 2 zusammenzählen können, bilden sie schon ihre eigenen, neuartigen und dabei grammatikalisch korrekten Sätze. Die meisten Eltern würden syntaktische Regeln kaum formulieren können. Und doch verstehen und sprechen ihre Kinder noch vor dem Schuleintritt mit einer Leichtigkeit, die jeden Studenten in den Schatten stellt, der sich mühsam eine Fremdsprache aneignet, ebenso wie einen Wissenschaftler, der sich verzweifelt darum bemüht, eine natürliche Sprache auf dem Computer zu simulieren. Aber auch Sie zeigen ein erstaunliches Sprachtalent: Mit bemerkenswerter Effizienz können Sie Zehntausende von Wörtern aus Ihrem Gedächtnis auswählen, sie in Windeseile, mühelos und syntaktisch fast perfekt miteinander verbinden, um sie dann in einem Tempo von 3 Wörtern pro Sekunde auszuspucken (Vigliocco u. Hartsuiker 2002). Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Möglichkeiten es gibt, Fehler zu machen. Man passt seine Sprache auch an den sozialen Kontext an. Wann man spricht und wann man zuhört, das bestimmen die Regeln Ihrer Kultur; und die kennen Sie. Im Einzelnen kann das damit zusammenhängen, wie weit man auseinander steht und wie man sich beim Sprechen abwechselt. Sprache ist ein sozialer Tanz. Wie hat sich also Ihre Sprachfähigkeit entwickelt, und wie können wir dies erklären?
449 10.2 · Sprache
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Spracherwerb Ziel 12: Skizzieren Sie den Ablauf des Spracherwerbs vom Lallstadium bis zu Zweiwortsätzen.
Die sprachliche Entwicklung von Kindern spiegelt die Struktur der Sprache wider – sie schreitet von einfachen zu komplexen Gebilden voran. Säuglinge haben zunächst noch keine Sprache. Aber schon im Alter von 4 Monaten können sie Laute von den Lippen ablesen und Sprachlaute voneinander unterscheiden. Sie blicken vorzugsweise zu einem Gesicht hin, dessen Ausdruck dem zu hörenden Laut entspricht; daher wissen wir, dass sie bereits verstehen, dass der Laut »ah« von weit geöffneten Lippen kommt, der Laut »i« dagegen von einem Mund mit zurückgezogenen Mundwinkeln (Kuhl u. Meltzoff 1982). Dies markiert bei Babys den Anfang einer Entwicklung der rezeptiven Sprachfähigkeit, also ihrer Fähigkeit, Sprache zu verstehen. Die rezeptiven Sprachfähigkeiten von Babys reifen vor ihrer produktiven Sprachfähigkeit heran, also ihrer Fähigkeit, Wörter hervorzubringen. Etwa im Alter von 4 Monaten treten die Säuglinge in das sog. Lallstadium ein, in dem sie spontan eine Vielzahl von Lauten wie »ah-guh« hervorbringen. Mit dem Lallen ahmen sie nicht die Sprache der Erwachsenen nach; denn es enthält Laute verschiedener Sprachen, sogar Laute, die gar nicht in der Umgebungssprache des Kindes vorkommen. Mit Hilfe des frühen Lallens kann ein Zuhörer nicht herausfinden, ob es sich z. B. um ein französisches, ein koreanisches oder ein äthiopisches Kind handelt. Gehörlose Kinder, die beobachten, wie ihre Eltern in Gebärdensprache kommunizieren, beginnen, in Gebärdensprache zu kommunizieren (Petitto u. Marentette 1991). Allem Anschein nach also ermöglichen die Anlagen ein weites Spektrum von Phonemen, noch ehe die Umwelteinflüsse sprachprägend wirken. Viele dieser spontan auftretenden Lalllaute sind Konsonant-Vokal-Paare, die entstehen, wenn einfach die Zunge gegen den vorderen Teil des Mundes gedrückt wird (da-da, na-na, ta-ta), oder durch Öffnen und Schließen der Lippen (ma-ma) gebildet werden; beide Bewegungen treten beim Säugling während des Fütterns spontan auf (MacNeilage u. Davis 2000). Im Laufe der Zeit ähnelt das Lallen immer mehr den typischen Lauten und dem Tonfall der Umgebungssprache. Im Alter von ca. 10 Monaten hat sich das Lallen dahin verändert, dass ein geschultes Ohr die Umgebungssprache des Säuglings heraushören kann (de Boysson-Bardies et al. 1989). Phoneme, die in der Muttersprache des Säuglings nicht vorkommen, verschwinden allmählich, wie dies auch mit der Fähigkeit, zwischen diesen Lauten zu unterscheiden, geschieht.
Lallstadium (babbling stage): beginnt mit 3–4 Monaten. Die Phase der Sprachentwicklung, in der ein Säugling spontan verschiedene Laute hervorbringt, zunächst auch solche, die nicht in der Sprache seiner Umgebung vorkommen.
! Wenn wir andere Sprachen nicht zu hören bekommen, werden wir funktional taub gegenüber den Lauten, die in unserer Muttersprache nicht vorkommen (Pallier et al. 2001).
Daher können ausschließlich englischsprachige Erwachsene bestimmte japanische Phoneme nicht mehr voneinander unterscheiden. Und Japaner ohne englische Sprachkenntnisse können den Unterschied zwischen »r« und »l« beim Sprechen nicht wahrnehmen. Es klingt unglaublich, aber für einen erwachsenen Japaner klingt »la-la-ra-ra« wie eine Wiederholung von 4 gleichen Silben. Das ist eine Herausforderung für den japanischen Touristen, der erfährt, der Bahnhof liege »just after the next light«. Was denn nun? Hinter der nächsten Abbiegung rechts, oder ein Stück hinter der nächsten Ampel? Um den 1. Geburtstag herum (von Kind zu Kind etwas unterschiedlich) treten die meisten Kinder in das Einwortstadium ein. Sie haben bereits Laute gelernt, die eine Bedeutung haben, und wenn sie wiederholt darin trainiert werden, z. B. »Fisch« mit einem Bild von einem Fisch zu assoziieren, werden 1-Jährige einen Fisch angucken, wenn der Forscher sagt: »Fisch, Fisch. Guck mal, ein Fisch!« (Schafer 2005). Diese 1-Jährigen fangen auch an, selber Laute zur Mitteilung von Bedeutung einzusetzen. Ihre ersten Wörter haben in der Regel nur eine Silbe – z. B.»ma« oder »da« – und sind vielleicht kaum zu erkennen. Aber die Familienmitglieder lernen schnell, die Sprache des Säuglings zu verstehen, und allmählich nähert sich diese immer mehr der Sprache der Familie an. In diesem Einwortstadium kann eine Wortform einen ganzen Satz beinhalten. »Wau-wau!« kann dann bedeuten: »Sieh mal, der Hund da draußen!« Im 2. Lebensjahr verwenden die Kinder normalerweise immer mehr einzelne Wörter. Im Alter von 18 Monaten steigt das Lerntempo dann von einem Wort pro Woche auf ein Wort pro Tag an. Bis zum 2. Geburtstag haben sie dann in der Regel das Zweiwortstadium erreicht und bilden nun Sätze aus 2 Wörtern (. Tab. 10.2). Die Sprache in diesem Stadium hat einen charakteristischen
Einwortstadium (one-word stage): Phase, die ungefähr das 2. Lebensjahr umfasst, während der das Kind hauptsächlich in einzelnen Wörtern spricht.
Zweiwortstadium (two-word stage): beginnt mit etwa 2 Jahren; Phase der Sprachentwicklung, während der das Kind hauptsächlich in Sätzen aus 2 Wörtern spricht.
450
Kapitel 10 · Denken und Sprache
. Tabelle 10.2. Sprachentwicklung im Überblick
Ungefähres Alter in Monaten 4
Telegrammstil (telegraphic speech): Im Zweiwortstadium spricht das Kind ähnlich den Formulierungen in einem Telegramm, d. h. es verwendet vorzugsweise Substantive und Verben und keine »Hilfswörter« – z. B. »Auto gehen«.
Stadium Lallt viele Sprachlaute
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Lallt Laute der Umgebungssprache
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Einwortstadium
24
Zweiwortstadium, Telegrammstil
über 24
Sprache entwickelt sich schnell hin zur Bildung vollständiger Sätze
Telegrammstil: Wie in Telegrammen (»Bedingungen akzeptiert: Schicke Geld«) werden bei diesem frühen Sprechen hauptsächlich Substantive und Verben verwendet (»will Saft«). Dabei hält es sich wie ein Telegramm an die syntaktischen Regeln; die Wörter haben die richtige Reihenfolge. Das Kind setzt normalerweise die Adjektive vor die Substantive – »großer Wauwau« und nicht »Wauwau großer«. Ein »Dreiwortstadium« scheint es nicht zu geben. Wenn die Kinder das Zweiwortstadium hinter sich haben, bilden sie bald längere Sätze (Fromkin u. Rodman 1983). Es sind zwar immer noch Sätze im Telegrammstil, aber sie halten sich weiterhin an die Regeln der Syntax (»Mammi Ball holen«). Beim Eintritt in die Grundschule versteht das Kind komplexe Sätze und hat Spaß an Wortspielen: »Welche Meise kann nicht singen? – Die A-meise.«
Erklärungsmodelle zur Sprachentwicklung
© 1994 Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com
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Ziel 13: Erörtern Sie die Beiträge von Skinner und Chomsky zur Anlage-Umwelt-Debatte darüber, wie Kinder Sprache erwerben, und erklären Sie, warum statistisches Lernen und sensible Phasen wichtige Begriffe beim Sprechenlernen von Kindern sind.
Wer sich mit Spracherwerb befasst, kommt nicht umhin, sich darüber zu wundern, wie wir überhaupt eine Sprache lernen können. Die verschiedenen Versuche, zu verstehen, wie Spracherwerb möglich ist, haben zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse geführt. In 7 Kap. 8 sind wir auf die entsprechende Kontroverse zwischen der behavioristischen Vorstellung vom formbaren Organismus und der Auffassung gestoßen, dass jeder Organismus biologisch für das Erlernen bestimmter Assoziationen prädisponiert sei. Diese Anlage-Umwelt-Debatte begegnet uns jetzt wieder, und auch hier schätzt man den Einfluss der angeborenen Dispositionen und die Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt inzwischen als bedeutsamer ein. »Idee gehabt. Besser sprechen. Verbinde Wörter. Mach Sätze.«
Skinner: Operantes Lernen Der Behaviorist Skinner (1957) war der Überzeugung, dass sich Spracherwerb durch die bekannten Lernprinzipien erklären lässt, nämlich durch Kopplung (Verbindung von Bild und Wortklang), Imitation (Nachahmung von Wörtern und Sätzen anderer Sprecher) und Verstärkung (durch Anerkennung, Lächeln, Zärtlichkeit, wenn ein Kind etwas richtig sagt). Daher, so argumentiert Skinner (1985), lernen Säuglinge in ganz ähnlicher Weise sprechen, wie Tiere lernen, Tasten zu berühren oder Hebel zu betätigen: »Verbales Verhalten entstand offensichtlich, als durch einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des Menschen die Muskeln des menschlichen Stimmapparats für operante Konditionierung empfänglich wurden.« Was aber geschieht, wenn es nur sehr wenig Verstärkung beim Sprechenlernen gibt, wie dies oft der Fall ist bei hörenden Kindern gehörloser Eltern? Ihre Konfrontation mit der Lautsprache, die vorzugsweise übers Fernsehen erfolgt, ist passiver, und sie lernen die Lautsprache langsamer. Aber sie lernen Gebärdensprache zu einem normalen Zeitpunkt (Messer 2000).
Chomsky: Angeborene Universalgrammatik Der Linguist Noam Chomsky (1959, 1987) hält Skinners Gedanken für naiv. Würde ein Wissenschaftler vom Mars – so hat Chomsky einmal gesagt – Kinder in einer Gemeinschaft beobachten, in der nur eine Sprache gesprochen wird, käme er gewiss zu dem Schluss, diese Sprache sei fast
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vollständig angeboren. Doch das stimmt nicht. Kinder lernen die Sprache ihrer Umgebung. Aber sie lernen die Wörter, auch wenn man sie ihnen nicht bewusst beibringt, und auch die Grammatik in einem solch erstaunlichen Tempo, dass sich das nicht allein durch Lernmechanismen erklären lässt. Sie bilden alle möglichen Sätze, die sie nie gehört haben (Kein Kind hört von seinem Vater den Satz: »Ich hasse dich, Papa!«), manchmal mit neuartigen Fehlern. Kinder fangen an, Morpheme in einer vorhersagbaren Reihenfolge zu benutzen. Englisch Sprechende fangen an, -ing an Wörter anzuhängen. Dann beginnen sie die Präpositionen in und on zu verwenden. Dann kommen die Artikel a und the, gefolgt von is (Brown 1973). Der folgende deutsche Satz besteht aus 10 Elementen: Es gibt 3.628.800 Möglichkeiten, die 10 Elemente dieses Satzes anzuordnen. Nur wenige davon sind sinnvoll. Aber jeder 4-Jährige könnte sie von den etwas mehr als 3.628.700 unsinnigen Sätzen unterscheiden. Außerdem entstehen viele grammatische Fehler von kleinen Kindern aus einer Übergeneralisierung grammatikalischer Regeln. Beispielsweise hängen sie im Englischen in der Vergangenheit »-ed« an Verben an und sagen »holded« statt »held« oder im Deutschen »gehte« statt »ging«. Chomsky (1987) verglich die behavioristische Auffassung von der Sprachentwicklung mit dem Vorgang, eine Flasche mit Wasser zu füllen. Die Behavioristen machten es sich seiner Meinung nach zu einfach. Eine Sprache zu lernen, ist nicht einfach so etwas, wie mit den richtigen Arten von Erfahrungen »gefüllt zu werden«. Für ihn dagegen bedeutete Spracherwerb so etwas, wie »einer Blume dabei zu helfen, nach ihrer Eigenart zu wachsen«. Bei angemessenen Umwelteinflüssen wird sich die Sprache natürlich entwickeln, und »dem Kind geschieht das einfach«. Chomsky behauptete, dass alle menschlichen Sprachen die gleichen Bausteine, Substantive und Verben, Subjekt und Objekt, Negation und Fragesatz haben. Daher gibt es eine Art Universalgrammatik, die allen menschlichen Sprachen zugrunde liegt. Pinker (2002) wies darauf hin, dass es keine anderen vorstellbaren Wege gibt, wie sich ein Kommunikationssystem entwickelt. Die 6000 Sprachen des Menschen sind deshalb Dialekte einer einzigen »Universalgrammatik«, die in unserem Gehirn fest verdrahtet ist (Baker 2001). Daher lernen wir leicht die spezielle Grammatik jeder beliebigen Sprache, mit der wir Erfahrung machen, sei es nun eine gesprochene Sprache oder eine Gebärdensprache (Bavelier et al. 2003). Und gleichgültig um welche Sprache es geht: Wir beginnen, in Substantiven (Hund, Mama) zu sprechen, und nicht so sehr in Verben und Adjektiven (Bornstein et al. 2004). Das geschieht so natürlich – wie ein Vogel fliegen lernt –, dass bewusstes Üben kaum hilft. Wenn man ein Kind in Kontakt mit einer Sprache bringt, so saugt es diese auf. Wächst es in Isolation auf, wird es nicht sprechen lernen. Auch ohne Kontakt mit einer Sprache entwickelt dagegen eine Gruppe von gemeinsam aufwachsenden Kindern eine eigene Sprache (Sandler et al. 2005). Nach Chomsky ist unsere Fähigkeit zum Spracherwerb natürlich und schnell, weil wir ausgestattet mit einer »Spracherwerbsmaschine« auf die Welt kommen. Es ist so, als würden bei uns grammatische Schalter an- und ausgeschaltet werden, damit wir Sprache verstehen und hervorbringen. Während wir Sprache hören, werden die Schalter auf die Sprache eingestellt, die wir lernen sollen. Mit der Zeit begreifen wir spezielle Phoneme, Morpheme, Wörter und Sätze sowie die Regeln, mit deren Hilfe wir sie miteinander kombinieren können. Daraus ergibt sich das, was Chomsky die Oberflächenstruktur einer Sprache nennt, die sich von einer Sprache zur anderen unterscheiden wird. So lernt ein deutschsprachiges Kind, das Objekt ans Ende des Satzes zu setzen (»Sie aß einen Apfel«), ein japanischsprachiges Kind dagegen lernt, das Objekt dem Verb vorangehen zu lassen (»Sie einen Apfel aß«). Während wir die Oberflächenstruktur der Sprache entschlüsseln, lernen wir auch, ihre Bedeutungen zu unterscheiden; das nennt Chomsky die Tiefenstruktur. In den oben angeführten deutschen und japanischen Beispielen wird dieselbe Tiefenstruktur mit Hilfe unterschiedlicher Oberflächenstrukturen vermittelt. »Mario ist leicht zufriedenzustellen« und »Mario ist bereit zufriedenzustellen« haben dieselbe Oberflächenstruktur, aber recht unterschiedliche Tiefenstrukturen. (Den ersten Satz könnte man in der folgenden Form umformulieren: »Es ist leicht, Mario zufriedenzustellen«, den zweiten nicht.) Nach Chomsky werden wir mit der Hardware und dem Betriebssystem für Sprache geboren; unsere linguistischen Erfahrungen schreiben die Software (. Abb. 10.9).
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Etwas mehr als die Hälfte der 6000 existierenden Sprachen werden jeweils von weniger als 10.000 Menschen gesprochen. Und etwas mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung spricht eine der am häufigsten gesprochenen 20 Sprachen (Gibbs 2002).
Susan Meiselas/Magnum Photos/Agentur Focus
10.2 · Sprache
Die Erschaffung einer Sprache Gehörlose Kinder aus Nicaragua, die wie auf einer einsamen Insel zusammenleben konnten (in einer Schule), entwickelten im Lauf der Zeit ihre eigene voll ausgebildete nicaraguanische Gebärdensprache mitsamt Wortschatz und ausgefeilter Grammatik. Unsere biologische Disposition lässt Sprachen nicht in einem Vakuum entstehen. Aber wenn ein sozialer Rahmen gegeben ist, können Anlage und Umwelt schöpferisch zusammenwirken. (Osborne 1999; Senghas u. Coppola 2001)
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
. Abb. 10.9. Verständnisniveaus bei der Sprachentwicklung Sprachmechanismen sind genetisch vorgegeben. Durch Erfahrung und die daraus entstehenden Veränderungen im Gehirn werden sie aktiviert. Wer in Paris aufwächst, spricht französisch (Einfluss der Umwelt), aber nicht, wenn er eine Katze ist (Einfluss der Gene)
Kognitive Neurowissenschaft: Statistisches Lernen und sensible Phasen
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Kleiner Statistiker Säuglinge haben eine erstaunliche Fähigkeit, die Sprache statistisch zu analysieren und Wörter und grammatische Regeln zu erfassen. Das ist sowohl der Anlage als auch der Umwelt zu verdanken – beide bilden zusammen den biologischen Mechanismus, der Spracherwerb ermöglicht
Courtesy of Kathryn Brownson/Hope College
Anhand von Schichtaufnahmen des Gehirns hat man herausgefunden, dass das Gehirn eine Sprache, die es in frühem Alter gelernt hat, anders speichert als eine später erworbene. Erwachsene, die eine Zweitsprache in frühem Alter gelernt haben, benutzen bei der Erinnerung an Vergangenes dieselbe Region des Stirnlappens, egal ob sie über die jeweiligen Ereignisse in ihrer Muttersprache oder in ihrer Zweitsprache berichten. Bei einer Zweitsprache, die erst nach der Kindheit erworben wurde, ist dagegen ein benachbartes Hirnareal aktiv (Kim et al. 1997).
Säuglinge haben die bemerkenswerte Fähigkeit, die statistischen Aspekte einer menschlichen Sprache zu erfassen. Wenn Sie oder ich eine unbekannte Sprache hören, nehmen wir nur ein Durcheinander von Silben wahr. Wer kein Englisch kann, könnte z. B. statt »United Nations« »Uneye Tednay Shuns« heraushören. Lange vor unserem 1. Geburtstag hat unser Gehirn anhand der statistischen Auswertung der Häufigkeit von Silbenkombinationen gelernt, wo die Wortzwischenräume liegen (wie etwa bei »hap-py-ba-by). Saffran et al. (1996) wiesen das nach, indem sie 8 Monate alten Säuglingen eine Computerstimme vorspielten, die eine eintönige ununterbrochene Folge von unsinnigen Silben von sich gab (»bidakupadotigolabubidaku …«). Nach nur 2 Minuten waren die Säuglinge in der Lage (das war an ihrer Aufmerksamkeit abzulesen), wiederkehrende Folgen von 3 Silben zu erkennen. Andere haben herausgefunden, dass Säuglinge schon im Alter von 6 Monaten imstande waren, in ähnlicher Weise Sprache in Abschnitte einzuteilen (Bortfield et al. 2005). Folgeuntersuchungen liefern weitere Belege für diese erstaunliche Fähigkeit des Säuglings, Sprache aufzusaugen. Beispielsweise können 7 Monate alte Säuglinge einfache Satzstrukturen erfassen. Nachdem sie wiederholt Silbenfolgen gehört haben, die nach einer bestimmten Regel gebildet sind, z. B. »ga-ti-ga« und »li-na-li« (ABA-Muster), hören sie mit mehr Aufmerksamkeit nach einer anderen Regel gebildete Silbenfolgen wie »wo-fe-fe« (ABB-Muster) als das nach gleichem Muster gebildete »wo-fe-wo«. Die Tatsache, dass sie zwischen den beiden Mustern unterscheiden können, ist ein Indiz dafür, dass Säuglinge in der Lage sind, grammatische Regeln zu erfassen (Marcus et al. 1999). Doch sind wir in der Lage, dieses selbe Wunderwerk der statistischen Auswertung über unsere gesamte Lebensspanne hinweg zu vollbringen? Viele Forscher glauben das nicht. Die Kindheit scheint eine sensible Phase zu sein, um diese Aspekte der Sprache beherrschen zu lernen. Wer als Erwachsener eine Zweitsprache lernt, spricht sie in der Regel mit dem Akzent seiner Mutterspra-
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. Abb. 10.10. Das Erlernen neuer Sprachen wird mit zunehmendem Alter immer schwieriger Kleine Kinder sind auf das Erlernen einer Sprache eingestellt. 10 Jahre nachdem sie in die USA eingewandert waren, unterzogen sich Einwanderer aus asiatischen Ländern einem Grammatiktest. Diejenigen, die in einem Alter von weniger als 8 Jahren gekommen waren, beherrschten die Grammatik des amerikanischen Englischs genauso gut wie die Muttersprachler. Die in höherem Alter Gekommenen dagegen nicht. (Nach Johnson u. Newport 1991)
»Die Kindheit ist zweifellos die wichtigste Zeit für die Sprache. Kleine Kinder sind gut darin, je jünger, desto besser; das ist ein Kinderspiel für sie. Dies ist ein einmaliges Geschenk an unsere Spezies.« Lewis Thomas (»The Fragile Species«, 1992)
Die Abbildung kann an dieser Stelle nicht gezeigt werden, wir verweisen daher auf die Printversion George Ancona
che. Menschen jedoch, die während der Kindheit oft eine zweite Sprache anhören, können später lernen, sie mit einem Akzent zu sprechen, der echt klingt (Au et al. 2002). Beherrschen diese Menschen aber die Grammatik besser als die Aussprache? Um das herauszufinden, legten Johnson u. Newport (1991) koreanischen und chinesischen Immigranten in den USA einen englischen Grammatiktest vor, bei dem 276 Sätze (»Yesterday the hunter shoots a dear«) als grammatikalisch richtig oder falsch einzustufen waren. Einige der Probanden waren in früher Kindheit eingewandert, andere erst als Erwachsene. Unabhängig von ihrem Immigrationsalter hatten alle etwa 10 Jahre in den USA verbracht. Trotzdem beherrschten diejenigen, die die Zweitsprache früh erlernt hatten, diese besser (. Abb. 10.10). Wenn während der Entwicklungsjahre des Kindes einmal die grammatischen Weichenstellungen vollzogen sind, die sensible Phase für den Spracherwerb abgeschlossen ist, scheint das Beherrschen einer anderen Grammatik schwieriger zu werden. Es ist nicht unmöglich, doch je höher das Alter ist, in dem man in ein Land einwandert, desto schwerer wird es, die dortige Sprache zu erlernen (Hakuta et al. 2003). Während der Kindheit und im frühen Jugendalter wurde Ihr Spracherwerbssystem ganz gut mit Grammatik und Tonfall fertig; doch seitdem neigt es stärker dazu, sich auf seinen Meriten auszuruhen. Wie eine Pflanze ohne Nährstoffe verkümmert, so verkümmert ein Kind auf sprachlicher Ebene, wenn es während der kritischen Lernphase an sprachlichen Kontakten gehindert wird. Das Fenster zum Spracherwerb steht während unserer ersten Lebensjahre weit offen und schließt sich dann nach dem 7. Lebensjahr allmählich. Der Einfluss frühkindlicher Erfahrungen wird bei Studien mit gehörlosen Kindern deutlich, die ein Kochleaimplantat erhalten haben. Implantate im Alter von 2 Jahren führen zu besseren mündlichen Sprachfähigkeiten als Implantate nach dem Alter von 4 Jahren (Greers 2004). Hörende Kinder hörender Eltern und gehörlose Kinder gehörloser Eltern, die die Gebärdensprache verwenden, haben viele Gemeinsamkeiten. Wie zuvor erwähnt lallen beide im Säuglingsalter – hörende Kinder wiederholen Laute, gehörlose Kinder elementare Gebärden. Beide Gruppen erweitern ihren Wortschatz in einem vergleichbaren Tempo (Bavelier et al. 2003). Bei beiden Gruppen führt ein ungewöhnlich später Erstkontakt mit der Sprache (im Alter von 2 oder 3 Jahren) dazu, dass die brachliegenden verbalen Fähigkeiten des Gehirns freigesetzt werden, so dass sich die Sprachkompetenz sprunghaft entwickelt. Aber betrachten wir die mehr als 90% gehörlosen Kinder, deren hörende Eltern keine Gebärdensprache beherrschen. Diese Kinder machen während ihrer ersten Lebensjahre normalerweise gar keine Erfahrung mit Lautsprache. Verglichen mit Kindern, die von Geburt an mit Gebärdensprache konfrontiert sind, sind Menschen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene Gebärdensprache erlernen, wie die Immigranten, die Englisch erst nach ihrem Kindheitsalter lernen. Sie lernen die wichtigsten Wörter und können daraus Sätze
Nein heißt Nein, egal wie man es sagt! Gehörlose Kinder gehörloser Eltern, die Gebärdensprache benutzen, haben viel mit hörenden Kindern hörender Eltern gemeinsam. Sie eignen sich sprachliche Fähigkeiten in ungefähr dem gleichen Tempo an und sind gleich stark, wenn es darum geht, sich den elterlichen Wünschen zu widersetzen und den eigenen Weg zu gehen
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bilden. Aber sie werden nicht so versiert wie Gebärden-Muttersprachler, wenn es darum geht, grammatische Feinheiten zu unterscheiden und zu verstehen (Newport 1990). Und die gehörlosen Menschen, die spät ihre erste Gebärdensprache gelernt haben, zeigen weniger Gehirnaktivität in den Regionen der rechten Hemisphäre, die aktiv sind, wenn Gebärden-Muttersprachler ihre Sprache praktizieren (Newman et al. 2002). Menschen, die während ihrer ersten Lebensjahre weder mit einer Laut- noch mit einer Gebärdensprache Erfahrung machen, verlieren ihre Fähigkeit, irgendeine Sprache zu beherrschen. Von Geburt an gehörlose Kinder, die erst im Alter von mehr als 9 Jahren eine Gebärdensprache lernen, werden sie nicht so gut wie Kinder beherrschen, die mit 9 Jahren gehörlos werden, aber vorher Englisch gelernt haben. Sie können auch Englisch nicht so gut lernen wie andere von Geburt an gehörlose Kinder, die schon als Kinder Gebärdensprache gelernt haben (Mayberry et al. 2002). ! Wenn ein junges Gehirn keine Sprache lernt, kann sich seine Fähigkeit zum Spracherwerb nicht richtig entwickeln.
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Fassen wir zusammen: Kinder sind genetisch mit einer komplexen Gehirnstruktur ausgerüstet, die ihnen im Kontakt mit ihren Betreuungspersonen den Spracherwerb ermöglicht. Skinners Betonung des Lernens hilft uns, zu verstehen, wie Kinder im Kontakt mit anderen Menschen sprechen lernen. (Die Fähigkeit des Säuglings, statistische Verhältnisse in der Sprache zu erfassen, trägt ebenfalls dazu bei.) Chomskys Betonung unserer angeborenen Fähigkeit, grammatische Regeln zu erfassen, hilft uns, zu verstehen, wieso Vorschulkinder so leicht sprechen lernen und so gut die Grammatik beherrschen. Auch hier sehen wir Biologie und Erfahrung, Anlage und Umwelt Hand in Hand arbeiten. Kommen wir auf unsere Frage zurück, inwieweit wir Menschen die Bezeichnung »Homo sapiens« verdient haben, und geben wir ein vorläufiges Votum ab. Im Bereich Entscheidungsfindung und Urteilsbildung schneidet unsere fehleranfällige Spezies nicht besonders gut ab. Beim Problemlösen sind wir Menschen erfindungsreich, aber auch für Fixierungen anfällig; wir würden in diesem Bereich wahrscheinlich besser abschneiden, vielleicht mit einer 2. Was die kognitive Effizienz angeht, haben wir uns für unsere fehleranfällige, aber schnelle Heuristik eine 1 verdient. Und beim Lernen und Anwenden einer Sprache ist die Spezies Mensch einfach unschlagbar. Lernziele Abschnitt 10.2 Sprache Ziel 11: Beschreiben Sie die grundlegenden strukturellen Einheiten einer Sprache. Alle Sprachen bestehen aus den gleichen grundlegenden Einheiten. Phoneme sind die grundlegenden Lauteinheiten in einer Sprache. Morpheme sind die elementaren Bedeutungseinheiten; einige sind Wörter (wie das englische I), bei den meisten jedoch handelt es sich um Elemente, wie etwa Vorsilben (be-) oder Nachsilben (-te). Die Grammatik ist ein System von Regeln (mentale Regeln, nicht Regeln, wie sie im Deutschunterricht gelehrt werden), die uns dazu befähigen, zu kommunizieren und andere zu verstehen. Die Semantik ist Teil der Grammatik und besteht aus einem Satz von Regeln zur Ableitung einer Bedeutung in einer vorgegebenen Sprache. Die Syntax ist auch Teil der Grammatik und besteht aus einem Satz von Regeln zur Ordnung von Wörtern in Sätze. Ziel 12: Skizzieren Sie den Ablauf des Spracherwerbs vom Lallstadium bis zu Zweiwortsätzen. Mit etwa 4 Monaten lallen Säuglinge und geben eine breite Vielfalt von Lauten von sich, die man in Sprachen überall auf der Welt vorfindet. Mit etwa 10 Monaten enthält ihr Lallen nur noch die Laute, die
sich in ihrer Zielsprache finden lassen. Ungefähr mit 12 Monaten sprechen Kleinkinder in einzelnen Wörtern. Dieses Einwortstadium entwickelt sich vor dem 2. Geburtstag zum Zweiwortstadium. Kurz danach fangen die Kinder an, in ganzen Sätzen zu sprechen. Wann genau diese Stadien durchlaufen werden, ist von Kind zu Kind leicht unterschiedlich, doch bei allen Kindern wird diese Reihenfolge durchlaufen. Ziel 13: Erörtern Sie die Beiträge von Skinner und Chomsky zur AnlageUmwelt-Debatte darüber, wie Kinder Sprache erwerben, und erklären Sie, warum statistisches Lernen und sensible Phasen wichtige Begriffe beim Sprechenlernen von Kindern sind. Nach Auffassung des Behavioristen Skinner (er steht für die Umweltbetonung in der Debatte über die Sprachentwicklung) geschieht das durch die bekannten Lernmechanismen Kopplung (des Aussehens von Dingen mit den Lauten von Wörtern), Imitation (der Wörter und der Syntax bei anderen Menschen) und Verstärkung (mit Lächeln und Umarmungen, nachdem etwas Richtiges gesagt wurde). Der Linguist Chomsky (er steht für die Anlagebetonung in der Debatte) widerspricht dem und argumentiert, dass wir von Geburt an eine Sprach6
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erwerbsmaschine hätten, die uns biologisch für das Erlernen der Sprache disponiert. Als Beleg dafür führt er Befunde zugunsten einer über unsere Spezies hinweg vorhandenen Sprache und eine ihr zugrunde liegenden Universalgrammatik an, die enorme Schnelligkeit, mit der Kinder ihren Wortschatz erwerben, und die übereinstimmende Abfolge der Stufen der Sprachentwicklung. Statistisches Lernen ist die Fähigkeit, Sprachmuster zu entdecken (wie etwa die Pausen zwischen den Silben). Die Kindheit ist eine sensible Phase für das
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Lernen der Lautsprache und der Gebärdensprache: Kinder, die Sprache nicht in dieser frühen Phase lernen, verlieren die Fähigkeit, eine Sprache vollständig zu beherrschen. > Denken Sie weiter: In der letzten Zeit gibt es an einigen Universitäten in den USA eine Kontroverse darüber, ob beim Bachelor die Beherrschung einer Gebärdensprache als Beherrschung einer Zweitsprache anerkannt werden kann. Was meinen Sie dazu?
Denken und Sprache
Denken und Sprache sind untrennbar miteinander verknüpft. Zu fragen, was zuerst kam, hieße auf dem Gebiet der Psychologie die Frage nach der Henne und dem Ei zu stellen. Sind zuerst unsere Ideen da, und suchen wir dann nach dem richtigen Wort, um sie auszudrücken? Oder sind unsere Gedanken so sehr an Worte gebunden, dass wir sie ohne Sprache gar nicht denken könnten?
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Einfluss der Sprache auf das Denken
Ziel 14: Fassen Sie Whorfs Hypothese zum linguistischen Determinismus zusammen, und geben Sie einen Kommentar dazu ab, was die heutige Psychologie davon hält.
Der Linguist Whorf hat behauptet, dass die Sprache die Art und Weise bestimmt, wie wir denken. Nach Whorfs (1956) Hypothese des linguistischen Determinismus führen die verschiedenen Sprachen zu verschiedenen Realitätsbegriffen: »Die Sprache selbst formt die Grundgedanken des Menschen.« Die Hopi-Indianer, so merkt Whorf an, kennen kein Imperfekt. Deswegen, behauptet er, könne ein Hopi nicht ohne weiteres über die Vergangenheit denken. Menschen, die nur eine Sprache beherrschen und diese ganz natürlich als Werkzeug ihres Denkens erleben, würden wahrscheinlich nie auf so eine Hypothese wie die Whorfs verfallen. Für jemanden, der zwei sehr unterschiedliche Sprachen wie Englisch und Japanisch spricht, ist dagegen klar, dass man in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich denkt (Brown 1986). Während die englische oder auch die deutsche Sprache einen reichen Wortschatz für selbstbezogene Gefühle wie Ärger hat, kennt das Japanische viele Wörter für zwischenmenschliche Gefühle wie Sympathie (Markus u. Kitayama 1991). Zweisprachige Menschen berichten oft, dass sie in den beiden Sprachen verschiedene Persönlichkeiten haben (Matsumoto 1994). Zweisprachige Immigranten, die von China nach Nordamerika eingewandert sind, zeigen unter Umständen sogar verschiedene Persönlichkeitsmerkmale, je nachdem in welcher Sprache sie einen Persönlichkeitstest beantworten (Dinges u. Hull 1992). Ross et al. (2002) demonstrierten dies anhand von zweisprachigen Studenten chinesischer Abstammung in Kanada, die sie aufforderten, ihre eigene Persönlichkeit auf Englisch bzw. auf Chinesisch zu charakterisieren. Ihre Selbstdarstellung auf Englisch war typisch kanadisch mit überwiegend positivem Selbstbild und Lebensgefühl. Ihre Selbstdarstellung auf Chinesisch dagegen war auch typisch chinesisch: Sie antworteten eher im Einklang mit chinesischen Wertvorstellungen und zeigten ein ausgewogenes Verhältnis von positivem und negativem Selbstbild und Lebensgefühl. Ihre Sprache schien ihr Selbstbild zu prägen. ! Wer eine Sprache lernt, lernt etwas über die jeweilige Kultur und entwickelt so ein größeres Verständnis für ihre Besonderheiten.
Wenn eine Sprache ausstirbt – die meisten der existierenden ca. 6000 Sprachen auf der Welt werden dieses Schicksal erleiden – gehen Kultur und Denkweise, die an diese Sprache gebunden sind, der Menschheit verloren. Der Dichter Joy Harjo hat es so ausgedrückt: »Willst du ein Volk vernichten, so vernichte seine Sprache.«
Linguistischer Determinismus (linguistic determinism): inzwischen umstrittene Hypothese, dass die Sprache unsere Denkweise determiniert (auch linguistischer Relativismus genannt).
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
. Abb. 10.11. Sprache und Wahrnehmung Özgen (2004) berichtet darüber, dass, wenn man gleich verschiedene Farben darbietet, Farben mit unterschiedlichen Bezeichnungen unterschiedlicher zu sein scheinen. Das Grün und das Blau in der Gegenüberstellung A unterscheidet sich anscheinend stärker als 2 ähnliche unterschiedliche Blautöne in der Gegenüberstellung B
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»Was bestellt eine Feministin bei McDonalds? – Eine Cola und eine Hamburgerin.«
Zu sagen, dass die Sprache unsere Denkweise determiniert, ist jedoch weit übertrieben. Ein Einwohner von Papua-Neuguinea, der unsere Wörter für Formen und Farben nicht kennt, nimmt sie trotzdem im Wesentlichen genauso wahr wie wir (Rosch 1974). Aber unsere Worte beeinflussen unsere Denkweise (Hardin u. Banaji 1993; Özgen 2004). In Brasilien haben die isoliert wohnenden Völker vom Stamm der Piraha Wörter für die Zahlen 1 und 2, doch die Zahlen darüber hinaus sind einfach »viele«. Wenn man ihnen 7 Nüsse in einer Reihe zeigt, empfinden sie es als ausgesprochen schwierig, dieselbe Anzahl von Nüssen auf einem eigenen Haufen anzuordnen (Gordon 2004). Ob jemand in England, Neuguinea oder in Namibia lebt, jeder benutzt beim Klassifizieren und Erinnern von Farben seine eigene Sprache (Davidoff et al. 2004; Roberson et al. 2004). Ein deutscher Muttersprachler beschreibt vielleicht von drei Farben, die ihm gezeigt werden, zwei als »gelb« und eine als »blau«. Später würde er dann in der Erinnerung die beiden Gelbtöne als ähnlicher beschreiben. Ein Mensch vom Volk der Berinmo in Papua Neuguinea dagegen, dessen Sprache für diese beiden Gelbtöne 2 ganz verschiedene Wörter kennt, würde sich eher an den Unterschied zwischen diesen beiden Gelbtönen erinnern. Im Farbspektrum geht blau in grün über. Aber wir empfinden es als relativ einfach, die beiden Farben voneinander zu unterscheiden, die sich auf den beiden Seiten der Trennlinie zwischen dem befinden, was wir als »blau« und als »grün« bezeichnen. Wenn man einmal denselben Abstand im Farbspektrum annimmt (. Abb. 10.11), sind 2 unterschiedliche »Blaus« (oder 2 unterschiedliche »Grüns«), wenn man ihnen dieselben Namen zuordnet, viel schwerer zu unterscheiden (Özgen 2004). Der wahrgenommene Unterschied nimmt zu, wenn wir Farben unterschiedliche Namen geben. Angesichts des subtilen Einflusses der Sprache auf das Denken sollten wir vorsichtig mit unserer Wortwahl sein. Hat es etwas mit dem niedrigeren sozialen Status der Frauen zu tun, wenn man Frauen als »Mädchen« bezeichnet und »Mädchenabend in der Bar« sagt? Was ist mit der männlichen Form von Substantiven (»Student«, »Künstler«), die häufig als Oberbegriff für beide Geschlechter verwendet wird. Im Deutschen haben Substantive (anders als im Englischen) ein grammatisches Geschlecht (Genus), das Maskulinum, Femininum oder Neutrum sein kann. Der ausschließliche Gebrauch der maskulinen Form, des sog. »generischen Maskulinums«, ist im Deutschen grammatisch richtig; es wird häufig argumentiert, es sei ausreichend, diesen zu verwenden, da jeder Mensch doch wisse, dass die männliche Wortform als Obergriff dient und auch Frauen mit einschließt. Aber sind mit dem maskulinen Oberbegriff Frauen wirklich immer mit gemeint? Wären die maskulinen Oberbegriffe oder auch geschlechtsabstrahierende Wörter wie »der Mensch« wirklich von geschlechtsbezogenen Konnotationen frei, würden wir bei folgendem Satz (aus dem Entwurf eines Gesetzestextes) auch nicht stutzen: »Wenn der Arzt im Praktikum schwanger wird, hat er Urlaub nach den Regelungen des Mutterschutzgesetzes, nach Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs kann er seine Ausbildung fortführen«. Wir tun es aber, weil »Arzt im Praktikum« und »schwanger« nicht zusammenpassen. Mehr als 20 empirische Studien sind sich darin einig, dass es nicht gleichgültig ist, ob der maskuline Oberbegriff oder geschlechtsneutrale Formulierungen benutzt werden (Henley 1989; Ng 1990). Für das Deutsche zeigten dies z. B. Scheele u. Gauler (1992) oder Heise (2000). Heise gab 150 Studierenden (unter dem Vorwand, ihre Kreativität prüfen zu wollen) Sätze vor, die eine Personenbezeichnung im Plural in verschiedenen Varianten (generisches Maskulinum, Binnen-I, Schrägstrich-Schreibweise) als Subjekt enthielten. Die Befragten sollten kurze Geschichten über die bezeichneten Personen schreiben und diese auch namentlich benennen. Die generisch maskulinen Formen führten eindeutig zu mehr Repräsentationen männlicher Personen
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als die sprachlichen Alternativen. Eine Gleichverteilung männlicher und weiblicher Repräsentationen trat ausschließlich bei der Verwendung der Schrägstrich-Schreibweise auf, wohingegen das generische Maskulinum zu einem höheren Anteil repräsentierter Männer, die Binnen-I-Form dagegen zu einem höheren Anteil repräsentierter Frauen führte. Durch solche Studien und die Diskussionen, die seit Ende der 70er Jahre geführt werden, sind wir inzwischen für dieses Thema sensibilisiert worden. Viele Menschen benutzen beide Formen (»der Student und die Studentin«) oder bemühen sich wie in diesem Buch um geschlechtsneutrale Ausdrucksweisen (»der/die Studierende«). Daneben haben sich (grammatisch nicht korrekte) Versionen wie das »Binnen-I« entwickelt, um mögliche Benachteiligungen von Frauen zu vermeiden. Auch Stellenanzeigen werden inzwischen geschlechtsneutral formuliert, um Frauen in gleichem Maße wie Männer zu einer Bewerbung aufzufordern.
Bei kleinen Kindern entwickelt sich das Denken parallel zum Spracherwerb (Gopnik u. Meltzoff 1986). Es ist tatsächlich recht schwierig, ohne Sprache über bestimmte abstrakte Ideen (Bindung, Freiheit oder Reimen) nachzudenken oder sie begrifflich zu fassen! Und was für Vorschulkinder gilt, gilt für alle Menschen: Es lohnt sich, den eigenen Wortschatz zu pflegen. Deswegen führen die meisten Lehrbücher – und auch dieses hier macht keine Ausnahme – neue Wörter ein, um neue Ideen und Denkweisen zu vermitteln. Die Tatsache, dass sich die Ausdrucksfähigkeit von Gehörlosen durch Gebärdensprache stark verbesserte, war von großem Vorteil für diese Menschen, die für Tausende von Jahren von der Gemeinschaft der Hörenden nicht als fähig angesehen wurden, Besitz zu erben, zu heiraten, ausgebildet zu werden oder schwierige Arbeiten zu machen (Sacks 1990). Die Kompetenz von Gehörlosen wird deutlich, wenn sie als Vorschulkinder mit der Gebärdensprache konfrontiert werden und dann Unterricht in ihrer Sprache haben. Kinder von Gehörlosen, die die Gebärdensprache beherrschen, entwickeln gute Fähigkeiten in der Gebärdensprache ihrer Muttersprache, und sie sind bezogen auf Intelligenz und schulische Leistung besser als gehörlose Kinder, die sich nicht so gut in der Gebärdensprache auskennen (Isham u. Kamin 1993). Größere Ausdrucksfähigkeit kann auch zum Teil erklären, was Lambert (1992; Lambert et al. 1993) als Vorteil der Zweisprachigkeit bezeichnet. Zweisprachige Kinder haben gelernt, jeweils eine Sprache auszublenden, während sie eine andere nutzen; daher können sie auch ihre Aufmerksamkeit besser von nebensächlichen Informationen abwenden. Wenn sie entscheiden sollen, ob ein Satz grammatisch korrekt gebildet wurde (»Warum bellt die Katze so laut?«), können sie sich gezielter auf den Aspekt der Grammatik konzentrieren (Bialystok 2001). Lambert war an der Entwicklung eines Programms in Kanada beteiligt, bei dem englischsprachigen Kindern eine Art »Eintauchen« in die französische Sprache ermöglicht wird. Dabei werden die englischsprachigen Kinder während ihrer ersten 3 Schuljahre fast ausschließlich auf Französisch unterrichtet, dann allmählich immer weniger, bis sie gegen Ende der Schulzeit fast nur noch englischsprachigen Unterricht bekommen. Es überrascht nicht, dass diese Kinder eine Wortgewandtheit im Französischen erlangen, an die andere Methoden des Sprachunterrichts nicht heranreichen. Und wenn man sie mit ähnlich begabten Kindern in einer Kontrollgruppe vergleicht, zeigt sich, dass ihre englische Sprachkompetenz dadurch nicht beeinträchtigt ist. Sie erzielen in Mathematik und auch in anderen Fächern bessere Noten und verstehen die frankokanadische Kultur besser (Genesee u. Gándara 1999). Für englischsprachige kanadische Kinder bringt dieses Eintauchen in die französische Sprache mit französischsprachigem Unterricht somit Vorteile. Zahlt sich zweisprachige Erziehung auch für Kinder einer sprachlichen Minderheit aus? Befürworter einer rein englischsprachigen Erziehung bezweifeln das. Sie empfinden zweisprachige Sprachprogramme als teuer und ineffektiv und befürchten eine kulturelle Entfremdung der nicht englischsprachigen Kinder gegenüber der englisch geprägten Umgebungskultur (Porter 1998). Aber einige Forscher widersprechen dem (August u. Hakuta 1998; Padilla u. Benavides 1992; Thomas u. Collier 1998). Im Vergleich zu nicht englischsprachigen Kindern, die eine rein englischsprachige Schule besuchen müssen, entwickeln nicht
Ray Stubblebine/Reuters/Corbis
! Die Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit bedeutet, die Denkfähigkeit zu erweitern.
Ein sicheres Zeichen Dem Außenfeldspieler William Hoy haben wir die Gebärdensprache im Baseball zu verdanken. Als erster gehörloser Spieler in der Baseball-Profiliga (1892) erfand er Handzeichen für »Strike!« und »Safe!« (wie hier in der Abbildung zu sehen). Diese Gebärden funktionierten so gut, dass in allen Sportarten inzwischen Gebärden eingesetzt werden – und die Fans »sprechen« diese Gebärdensprache absolut flüssig
Viele englische Muttersprachler sind einsprachig, so auch die meisten Amerikaner. Die meisten Menschen aber sind zwei- oder mehrsprachig. Engt Einsprachigkeit die Fähigkeit eines Volkes zum Verständnis der Denkweise fremder Kulturen ein?
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
englischsprachige Kinder, die eine zweisprachige Schule besuchen – der Unterricht findet zu 50% in Englisch, zu 50% in der Muttersprache der Kinder statt – ein stärkeres Selbstvertrauen. Sie brechen seltener den Schulbesuch ab. Und später zeigen sie bessere Leistungen im Studium und eine höhere Sprachkompetenz im Englischen. Ob wir hören oder gehörlos sind, die Sprache verwandelt unsere Erfahrung. Sprache verknüpft uns mit Vergangenheit und Zukunft. Sprache beflügelt unsere Vorstellungskraft. Sprache verbindet uns untereinander.
10.3.2
Denken in Bildern
Ziel 15: Erörtern Sie, welchen Wert das Denken in Bildern hat.
Führen Sie manchmal Selbstgespräche, wenn Sie allein sind? Bedeutet »Denken« für Sie, einen inneren Dialog zu führen? Zweifellos drücken Worte Gedanken aus. Aber kommt es nicht vor, dass Gedanken den Worten vorausgehen? Wenn Sie das kalte Wasser im Badezimmer aufdrehen, in welche Richtung drehen Sie den Wasserhahn? Bei der Beantwortung dieser Frage haben Sie wahrscheinlich nicht in Worten gedacht, sondern eine Art Bewegungsgedächtnis zu Hilfe genommen – ein mentales Bild der Handlung. In der Tat denken wir oft in Bildern. Künstler denken in Bildern. Komponisten, Dichter, Mathematiker, Sportler und Wissenschaftler ebenfalls. Albert Einstein berichtete, dass er einige seiner größten Erkenntnisse in Form von bildhaften Vorstellungen hatte, die er erst nachträglich in Worte fasste. Der Pianist Liu Ching Kung belegt, wie wichtig das Denken in Bildern ist. Ein Jahr nachdem er 1958 beim Tschaikowski-Wettbewerb der Zweitplatzierte war, wurde er im Zuge der chinesischen Kulturrevolution inhaftiert. Sieben Jahre lang konnte er keine Klaviertaste anfassen, aber bald nach seiner Freilassung war er schon wieder auf Konzerttournee, und die Kritiker rühmten seine gereifte Musikalität. Wie hatte er sich ohne Üben weiterentwickeln können? »Aber ich habe doch geübt,« sagte er,»jeden Tag! Ich bin jedes Stück, das ich je gelernt habe, Ton für Ton in meinem Kopf durchgegangen« (Garfield 1986). Bei jemandem, der eine Fähigkeit erlernt hat, wie etwa Balletttanz, wird schon das reine Ansehen eine innere Stimulierung des Gehirns aktivieren, berichtet ein britisches Forscherteam, nachdem es Kernspintomographien von Menschen erstellt hatte, die sich Videos ansahen (Calvo-Merino et al. 2004). Für Sportler, die an den olympischen Spielen teilnehmen, ist »mentales Üben inzwischen zu einem normalen Bestandteil des Trainings geworden«, berichtet Suinn (1997). Nigro (1984) konnte zeigen, warum solches Üben sinnvoll ist. Sie ließ die Teilnehmer an der Untersuchung 24 Mal Wurfpfeile auf ein Ziel werfen, forderte dann die Hälfte der Personen auf, sich weitere 24 Würfe mental vorzustellen, und ließ dann alle wieder 24 Mal werfen. Nur die, die die Würfe mental wiederholt hatten, wiesen eine Verbesserung auf. Studien mit bildgebenden Verfahren wie die, deren Ergebnisse in . Abb. 10.12 dargestellt sind, zeigen, dass man, wenn man eine Handlung mental simuliert, neuronale Netze aktiviert, die auch aktiv sind, wenn die Handlung ausgeführt wird (Grèzes u. Decety 2001). Junge Eiskunstläufer vergegenwärtigten sich die Sprünge und Pirouetten beim Anhören der Hintergrundmusik zu ihrer Darbietung mental. Danach erreichten sie bei den später ausgeführten . Abb. 10.12. Vorstellungskraft Wenn man sich eine körperliche Aktivität vorstellt, so löst das in denselben Hirnarealen eine Aktivität aus, wie sie auch ausgelöst wird, wenn man diese Aktivität tatsächlich ausführt. Diese Kernspintomographien zeigen, wie sich eine Person das Erleben von Schmerzen vorstellt; hier werden einige derselben Areale aktiviert wie beim Erleben eines echten Schmerzes
© Jean Duffy Decety, September 2003
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Figuren eine höhere Bewertung (Garza u. Feltz 1998). Bei einem Experiment zum mentalen Training des Freiwurfs beim Basketball wurde das Frauenteam der Universität Tennessee über 35 Spiele hinweg wissenschaftlich begleitet (Savoy u. Beitel 1996). In diesem Zeitraum betrug die Trefferquote im Freiwurf ca. 52% in Spielen, die mit dem Standard-Trainingsprogramm vorbereitet wurden, und etwa 65% mit mentalem Training als Vorbereitung. Dabei stellten sich die Sportlerinnen wiederholt Würfe unter verschiedenen Bedingungen vor, sogar mit rüden Beschimpfungen von Seiten ihrer Gegnerinnen. Dramatischer Schlusspunkt war das Endspiel in einem bundesweiten Wettbewerb, bei dem Tennessee nach Verlängerung einen Sieg davontrug, der zum Teil auf die Leistungen beim Freiwurf zurückging. Mentales Üben kann auch dabei helfen, eine Prüfung zu bestehen. Taylor et al. (1998) von der University of California in Los Angeles untersuchten Studierende, die eine Woche später eine Klausur in einem Seminar zur Einführung in die Psychologie schreiben mussten. Einige wurden aufgefordert, sich vorzustellen, wie sie in der aushängenden Ergebnisliste überglücklich und stolz ihre Note 1 fanden. Diese Ergebnissimulation täglich 5 Minuten lang bis zur Prüfung durchzuführen, zeigte aber wenig Wirkung. Sie bekamen im Vergleich zu Studierenden ohne mentale Übung nur 2 Punkte mehr. Eine zweite Gruppe jedoch baten die Forscher, sich in die tatsächliche Prüfungsvorbereitung hineinzudenken – sie sollten in ihrer Vorstellung Lehrbücher studieren, Aufzeichnungen durchsehen, Ablenkungen vermeiden und Angebote zum Ausgehen ablehnen. Diese Prozesssimulation täglich 5 Minuten lang durchzuführen, erwies sich als vorteilhaft. Im Vergleich zu den Studierenden der Kontrollgruppe begannen diese Studierenden früher mit den Prüfungsvorbereitungen, blieben ausdauernder dabei und erzielten im Schnitt 8 Punkte mehr als ihre Mitstudierenden. Aus solchen Experimenten folgerten die Forscher, dass man lieber in Gedanken den Weg zu einem Ziel durchspielen sollte, als sich in das erwünschte Ziel hineinzufantasieren. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches fanden sich bereits weitere Belege für außersprachliches Denken. Wir verarbeiten Informationen zu einem großen Teil ohne Zutun unseres Bewusstseins. In unserem rastlos tätigen Gehirn laufen viele Aktivitätsströme parallel ab, sie vollziehen sich automatisch, und die Ergebnisse werden implizit gespeichert und tauchen nur gelegentlich als Wort an die Oberfläche des Bewusstseins. »Thinking lite« hat man diese unbewusste Verarbeitung genannt, die nur ein Viertel der sonst fürs Denken erforderlichen Energie benötigt. Also, wir denken – wir denken sogar viel – ohne Sprache. Was aber ist dann über das Verhältnis von Denken und Sprache zu sagen? Wie wir gesehen haben, beeinflusst die Sprache tatsächlich unser Denken. Aber würde das Denken nicht auch die Sprache beeinflussen, hätten nie neue Wörter entstehen können. Und neue Wörter und neue Verbindungen zwischen alten Wörtern drücken neue Gedanken aus. Der Basketball-Begriff »SlamDunk« (eine spektakuläre Dunking-Variante, bei der der Ball nach einem Sprung vom Spieler von oben in den Korb gedrückt wird) wurde erst geprägt, als diese Spieltechnik schon ziemlich verbreitet war.
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10.3 · Denken und Sprache
Das wohl durchdachte Klavier Beim Klavierspiel wird Denken ohne Sprache eingesetzt. Wenn man kein Klavier zur Hand hat, kann man durch mentales Training die Spielfähigkeit erhalten
! An vielen Beispielen zeigt sich: Das Denken beeinflusst unsere Sprache, die wiederum das Denken beeinflusst.
In der psychologischen Forschung zum Thema Denken und Sprache kommen auch die recht unterschiedlichen Auffassungen vom Homo sapiens zum Ausdruck, die sich in Religion und Literatur finden. Der Geist des Menschen ist gleichermaßen fähig zu kapitalen Irrtümern wie zu eindrucksvollen intellektuellen Höhenflügen. Fehlurteile kommen vor und können katastrophale Folgen haben. Deshalb sollten wir uns unserer Fehleranfälligkeit sehr wohl bewusst sein. Dennoch leisten uns unsere effizienten heuristischen Fähigkeiten oft einen guten Dienst. Und unser Erfindungsreichtum beim Problemlösen und unser außerordentliches sprachliches Ausdrucksvermögen sind charakteristisch für das Menschengeschlecht »mit seinen nahezu zahllosen Fähigkeiten«.
Das Zusammenspiel zwischen Denken und Sprache Die Wirkung erfolgt in beiden Richtungen. Das Denken beeinflusst unsere Sprache, die wiederum auf unser Denken einwirkt
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
Lernziele Abschnitt 10.3 Denken und Sprache Ziel 14: Fassen Sie Whorfs Hypothese zum linguistischen Determinismus zusammen, und geben Sie einen Kommentar dazu ab, was die heutige Psychologie davon hält. Die Hypothese des linguistischen Determinismus besagt, dass die Sprache das Denken bestimmt. Aber richtiger ist wohl, dass die Sprache das Denken beeinflusst. Worte vermitteln Ideen, und die Forschung zu bilingualen Menschen zeigt, dass unterschiedliche Sprachen mit unterschiedlichen Denkweisen verbunden sind. Untersuchungen zur Verwendung der maskulinen Wortformen als Oberbegriff zeigen, dass subtile Vorurteile mit Hilfe der Worte weitergegeben werden können, die wir wählen, um unsere Gedanken im Alltag zum Ausdruck zu bringen. Einige Befunde deuten darauf hin, dass die Erweiterung des Wortschatzes zur Verbesserung der Denkfähigkeit beiträgt.
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Kreative Schimpansen Ein wild lebender Schimpanse zeigt Erfindungsreichtum, indem er einen Stock benutzt, um Baumameisen zu fangen, die im Baum leben. Auch Krähen wurden dabei beobachtet, wie sie aus einem Zweig ein Werkzeug machen, mit dem sie Insektenlarven herausstochern können (Emery u. Clayton 2004)
Eigentum von Jennifer Byrne, c/o Richard Byrne, Department of Psychology, University of St. Andrews, Scotland
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Ziel 15: Erörtern Sie, welchen Wert das Denken in Bildern hat. Wir denken oft in Bildern, wenn wir das prozedurale Gedächtnis nutzen – unser unbewusstes Gedächtnissystem für motorische und kognitive Fertigkeiten und konditionierte Assoziationen. Forscher haben herausgefunden, dass Denken in Bildern besonders nützlich ist, um sich mental auf bevorstehende Ereignisse vorzubereiten, und dass sich dadurch unsere Fähigkeiten tatsächlich verbessern lassen. > Denken Sie weiter: Verwenden Sie bestimmte Wörter oder Gesten, die nur Ihre Familienmitglieder oder Ihre engsten Freunde verstehen? Können Sie sich vorstellen, diese Wörter oder Gesten zu verwenden, um eine Sprache zu entwickeln, wie Kinder in Nicaragua es taten, als sie sich ihre Variante der Gebärdensprache schufen?
Denken und Sprache bei Tieren
Wenn wir Menschen mit unserem sprachlichen Ausdrucksvermögen, wie der Verfasser der Psalmen vor langer Zeit schwärmte, »nur wenig geringer als Gott sind«, wo rangieren dann die anderen Tiere in der Weltordnung? Sind sie »nur wenig geringer als der Mensch«? Denken Tiere so, dass wir uns mit ihnen identifizieren könnten?
10.4.1
Können Tiere denken?
Ziel 16: Führen Sie 5 kognitive Fertigkeiten an, die sowohl Menschenaffen als auch Menschen besitzen.
Tiere, insbesondere Menschenaffen, vollbringen erstaunliche Denkleistungen. Sie können z. B. Begriffe bilden. Nachdem Affen es gelernt haben, Katzen und Hunde in unterschiedliche Kategorien zu klassifizieren, feuern bestimmte Neuronen im Frontallappen in Reaktion auf neue »katzenähnliche« Bilder, andere auf neue »hundeähnliche« Bilder (Freedman et al. 2001). Tauben können, obwohl sie nur ein Vogelhirn haben, Gegenstände nach ihrer Ähnlichkeit sortieren. Wenn man ihnen Bilder von Autos, Katzen, Sesseln und Blumen zeigt, lernen sie bereitwillig, die Kategorien zu identifizieren. Wenn man Tauben ein Bild von einem Sessel zeigt, das sie nie zuvor gesehen haben, werden sie zuverlässig auf die Taste picken, die für »Sessel« steht (Wasserman 1995). Wir sind nicht die einzigen Lebewesen, die Einsicht zeigen. Der deutsche Psychologe Wolfgang Köhler konnte 1920 offensichtliche Denkleistungen bei Schimpansen in einer Freilandstation auf Teneriffa beobachten. Bei einem Experiment mit einem im Käfig gehaltenen Schimpansen namens Sultan platzierte Köhler eine Frucht und einen langen Stock außer Reichweite des Affen und legte einen kurzen Stock in den Käfig. Sultan sah den kurzen Stock, griff danach und versuchte, an die Frucht heranzukommen. Aber der Stock war absichtlich zu kurz gewählt. Nach einigen frustrierenden Versuchen ließ Sultan den Stock fallen, hielt inne und überdachte die Lage. Plötzlich sprang er auf, als hätte er ein Aha-Erlebnis gehabt, griff wieder nach dem kurzen Stock, angelte sich damit den langen Stock – und holte sich mit diesem die Frucht. Sultans Verhalten, so behauptet Köhler, stellt eine tierische Kognitionsleistung dar und beruht eher auf echtem Lernen als auf Konditionierung. Weil sich Problemlöseverhalten durch Verstärkung herausbildet, haben wild lebende Affen allmählich den Gebrauch einfacher Naturwerkzeuge gelernt (Boesch-Achermann u. Boesch 1993). Sie suchen sich geeignete Stöcke, und verwenden Steine wie
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einen Hammer zum Nüsseknacken. Sie können auch ein Schilfrohr oder einen Zweig abreißen, die Blätter davon abstreifen und damit im Termitenhügel nach Termiten fischen, indem sie ihn mit geschickten Drehungen in eine Öffnung einführen und dann vorsichtig herausziehen, um möglichst wenige Termiten zu verlieren. Sie wählen dabei sogar unterschiedliche Werkzeuge für unterschiedliche Zwecke aus; dazu gehören ein schwerer Stock, um Löcher zu bohren, und ein leichter, biegsamer Stock zum Fischen (Sanz et al. 2004). Ein Anthropologe versuchte, diese hohe Kunst des Termitenfischens nachzuahmen, versagte dabei aber jämmerlich. In mindestens 39 Fällen wurden bei Schimpansen lokal unterschiedliche Gewohnheiten beim Werkzeuggebrauch, bei der Körperpflege und beim Paarungsverhalten beobachtet (Whiten u. Boesch 2001). Die eine Gruppe von Schimpansen schleckt vielleicht die Ameisen direkt vom Stock ab, während eine andere sie einzeln mit den Fingern absammelt. Die eine Gruppe benutzt einen Stein zum Nüsseknacken, eine andere verwendet dagegen ein Stück Holz als Hammer. Solche Gruppenunterschiede scheinen also ebenso wie Dialektunterschiede bei den Lautäußerungen und Unterschiede bei den Jagdtechniken nicht genetisch bedingt zu sein . In ihnen kommt vielmehr eine Art kultureller Vielfalt in der Schimpansenwelt zum Ausdruck. Genauso wie Menschen entwickeln Schimpansen – oft jüngere Tiere – neuartige Verhaltensweisen, die sie dann an ihre Altersgenossen und Nachkommen weitergeben. Dasselbe gilt für Orang-Utans (van Schaik et al. 2003).Und das trifft auch zumindest auf eine Gruppe australischer Delphine zu, die lernten, Schwämme abzubrechen und sie im Maul zu tragen, um damit den Meeresboden nach Fischen abzusuchen (Krützen et al. 2005). Wenn Primaten Begriffe bilden, einsichtiges Verhalten zeigen, Werkzeuge gebrauchen und kulturelle Neuerungen weitergeben können, verfügen sie dann über das, was in 7 Kap. 4 als »Theory of Mind« bezeichnet wurde? Können sie geistige Zustände an sich selbst und ihren Artgenossen wahrnehmen? Schimpansen sind keine Menschen, daran erinnern uns Povinelli u. Bering (2002). Wenn sie entscheiden sollen, wer ihnen etwas zu Essen bringt, ziehen Menschen denjenigen vor, der gesehen hat, wo das Essen versteckt wurde. Schimpansen tun das nicht. Allerdings konnte man beobachten, dass Schimpansen und Orang-Utans sich selber im Spiegel inspizieren und einen Farbfleck in ihrem Gesicht betasten, den ein Forscher dort platziert hat (Gallup 1998). Auch Delphine schauen in einen Spiegel, um Tintenflecke auf ihrem Körper zu untersuchen (Reiss u. Marino 2001).
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Michael Nichols/National Geographic Image Collection
10.4 · Denken und Sprache bei Tieren
Schimpansenkultur Am Westufer eines Flusses im Staat Elfenbeinküste beobachtet ein Schimpansenjunges, wie die Mutter mit einem Steinhammer Nüsse knackt. Nur wenige Meilen entfernt, am anderen Ufer des Flusses, haben die Schimpansen diesen Trick nicht drauf
wir verweisen daher auf die Printversion
William Munoz
Copyright Amanda K. Coakes
Die Abbildung kann an dieser Stelle nicht gezeigt werden,
Weitergabe kultureller Errungenschaften bei den Tümmlern Der Große Tümmler in Shark Bay (Westaustralien) gehört zu einer kleinen Gruppe von Delphinen, die es gelernt hat, Meeresschwämme als Werkzeuge für die Nahrungssuche zu verwenden
Kluges Vogelhirn Alex, ein afrikanischer Graupapagei, der von Professor Irene Pepperberg (2002) von der Universität Arizona trainiert und untersucht wurde, beweist Zahlenverständnis, wenn man ihm neuartige Anordnungen von Gegenständen zeigt. Fragt man z. B. »Wie viele rote Klötze?« oder »Wie viele blaue Bälle?«, so kann Alex, dessen Gehirn nicht größer ist als eine Walnuss, in über 80% der Fälle richtig antworten
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
Wie schon in 7 Kap. 1 angemerkt, hat man auch Täuschungsmanöver bei Schimpansen und Pavianen beobachten können, so etwa bei dem jungen Pavian, der so tat, als sei er angegriffen worden, um seine Mutter dazu zu bringen, einen Rivalen von der Futterstelle zu verscheuchen. Zeigen solche Beobachtungen, dass Primaten über eine gewisse Selbsterkenntnis verfügen und die Wahrnehmungen ihrer Artgenossen verstehen? Viele Forscher glauben das. Suddendorf u. Whiten (2001) analysierten die Leistungen von Menschenaffen beim Denken, auf dem Gebiet der Selbstwahrnehmung, Einfühlungs- und Nachahmungsfähigkeit und beim Verstehen fremder Geisteszustände. Sie kamen zu dem Schluss, dass ihre Fähigkeiten »ziemlich genau dem geistigen Stand eines 2 Jahre alten Menschenkinds entsprechen.«
10.4.2
Verfügen Tiere über Sprache?
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Copyright S. Baus & W. Krzeslowski
Ziel 17: Nennen Sie Argumente für und gegen die Vorstellung, dass sowohl Tiere als auch Menschen sprachliche Ausdrucksfähigkeit besitzen.
Verstehen bei Hunden Rico, ein Border Collie mit einem Wortschatz von 200 Wörtern, kann die Schlussfolgerung ziehen, dass sich ein nicht vertrauter Laut auf ein neuartiges Objekt bezieht
Zweifellos kommunizieren Tiere. Grüne Meerkatzen-Äffchen haben bestimmte Warnrufe, mit denen sie ihre Artgenossen vor verschiedenen feindlichen Tieren warnen: Bellen bedeutet Leopard, eine Art Husten Adler, und ein Schnatterlaut warnt vor einer Schlange. Wenn sie den Warnruf für Leopard hören, klettern die Äffchen auf den nächsten Baum. Beim Adlerwarnruf flüchten sie ins Gebüsch. Beim Schlangengeschnatter richten sie sich auf und beäugen den umliegenden Boden (Byrne 1991). Auch Wale kommunizieren, sie haben Schnalz- und Wimmerlaute. Honigbienen führen einen Tanz auf, um die anderen Bienen über die Richtung und Entfernung der Futterquelle zu informieren. Und dann ist da noch Rico, der Border Collie. Er kennt 200 Items beim Namen, und er kann jedes Einzelne von ihnen apportieren (darunter eine Gruppe von 10 Items, auch wenn er sein Herrchen nur hören, aber nicht sehen kann). Außerdem berichtet das Psychologenteam vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, dass Rico, wenn er aufgefordert wird, ein neuartiges Spielzeug zu suchen, dessen Namen er noch nicht gehört hat, das neuartige Item aus einer Gruppe vertrauter Items auswählen wird (Kamininski et al. 2004). Wenn dieses Item allerdings 4 Wochen später unter andere neuartige und vertraute Items platziert wird, wird Rico, wenn er dieses neuartige Wort zum 2. Mal hört, den Gegenstand nur in 50% der Fälle apportieren. Fraglos zeigen solche Kunststückchen, dass Tiere verstehen und kommunizieren. Aber ist das Sprache?
10.4.3
Der Gebärdenforscher Krauss (1998) erzählt eine Geschichte, die er von seinem Großvater gehört hat: Zwei Männer sind an einem bitterkalten Wintertag zu Fuß unterwegs. Der eine redet die ganze Zeit, der andere nickt bloß ohne zu antworten. »Schmuel, warum bist du denn so schweigsam?« fragt der erste seinen Freund schließlich. Da entgegnet Schmuel: »Weil ich meine Handschuhe vergessen habe.«
Das Beispiel der Affen
Der Anspruch des Menschen, er sei die einzige zur Sprache fähige Spezies auf Erden, wird am heftigsten von Berichten erschüttert, nach denen Affen mit Menschen »sprechen« können. Genetisch gesehen sind die Schimpansen unsere nächsten Verwandten im Tierreich, und sie wiederum sind mit uns enger verwandt als mit anderen Affenarten (Sagan u. Druyan 1992). Da Affen physiologisch nicht in der Lage sind, mehr als ein paar wenige Wörter zu artikulieren, versuchten Gardner u. Gardner (1969) einer Schimpansin namens Washoe Gebärdensprache beizubringen, so als sei sie ein gehörloses Kind. Nach 4 Jahren konnte Washoe 132 Zeichen verwenden. Im Alter von 32 Jahren verfügte sie über einen Wortschatz von 181 Zeichen (Sanz et al.1998). Berichte der beiden Gardners vom Erfolg ihrer Arbeit stießen in Wissenschaft und Öffentlichkeit auf enormes Interesse. Ein Reporter von der »New York Times«, der von seinen gehörlosen Eltern die Gebärdensprache gelernt hatte, lernte Washoe kennen und war begeistert: »Plötzlich wurde mir klar, ich kann mich mit einem fremden Wesen in meiner Muttersprache unterhalten.« Möglicherweise hat sich die Sprache des Menschen aus Gesten entwickelt (Corballis 2002, 2003). Wenn das stimmt, ist es kein Wunder, dass die mit uns verwandten Affen viele Gebärden, aber nur wenige gesprochene Wörter entwickelt haben. Kein Wunder auch, dass Gebärden auch in der Sprache von Menschen überlebt haben (sogar beim Telefonieren!). Kein Wunder, dass
463 10.4 · Denken und Sprache bei Tieren
unter Gehörlosen Gebärdensprache spontan als Alternative zur gesprochenen Sprache entsteht. Kein Wunder, dass Blindgeborene Gebärden vollziehen, die denen der Sehenden ähneln, und sie tun das sogar, wenn sie den Zuhörer für ebenfalls blind halten (Iverson u. Goldin-Meadow 1998). Kein Wunder, dass die Unterdrückung von Gesten bei der Darstellung räumlicher Sachverhalte den Sprachfluss unterbricht (z. B. wenn man die Lage der Zimmer in einer Wohnung beschreiben soll). Und deshalb ist es auch kein Wunder, dass die Verwendung von Gebärden die kognitive Energie verringert, die wir beim Sprechen aufwenden müssen. Fordert man Menschen auf, sich rein verbal und ohne Gesten auszudrücken, so sind sie nicht so gut in der Lage sich an Wortoder Zahlenfolgen zu erinnern (Goldin-Meadow et al. 2001). Bei Menschen und Affen gehört zur Sprache auch die Gestik. In den 70er Jahren tauchten weitere Hinweise auf eine auf Gebärden beruhende »Affensprache« auf. Affen verwenden gewöhnlich nur für einzelne Wörter eine Art Zeichensprache, wie etwa für »das« oder »gib mir« (Bowman 2003). Aber manchmal setzten sie diese zu verständlichen Sätzen zusammen. Washoe gestikulierte: »Du ich ausgehen, bitte.« Affen schienen sogar zu kreativen Wortzusammensetzungen fähig. Washoe nannte einen Schwan »Wasser-Vogel«. Der von Francine Patterson (1978) betreute Gorilla Koko soll eine Pinocchio-Puppe mit langer Nase als »Elefant-Baby« bezeichnet haben. Die Schimpansin Lana »spricht«, indem sie Tasten auf einer einfachen Computertastatur drückt, die dann vom Computer in englische Wörter umgesetzt werden. Einmal wollte sie vom Betreuer eine Orange bekommen. Sie wusste jedoch das Wort für Orange nicht, doch sie kannte die Wörter für Farben und das Wort für Apfel. Deshalb improvisierte sie: »? Tim geben Apfel der-ist orange« (Rumbaugh 1977). Die gesammelten Erfahrungen mit Sprachverhalten von Affen legen es nahe, die Affen als »nur wenig geringer als den Menschen« einzuordnen. Zugegeben, Vokabular und Satzbau bei ihnen sind simpel und entsprechen etwa dem Stand eines 2-jährigen Menschenkinds. Dennoch teilen die Affen allem Anschein nach eine Fähigkeit mit uns, von der wir glaubten, sie sei einzig dem Menschen vorbehalten.
Können Affen nun wirklich sprechen? Gegen Ende der 70er Jahre machte die Euphorie über die »sprechenden Affen« zynischen Kommentaren Platz. Waren die Schimpansen nun Sprachgenies oder die Forscher Idioten? Die Erforscher der Affensprache machen sich selbst zum Affen, sagten die Skeptiker und führten die folgenden Gegenargumente ins Feld: 4 Affen erwerben ihr begrenztes Vokabular nur unter großen Mühen. Sie sind mit sprechenden oder Gebärdensprache benutzenden Kindern kaum zu vergleichen, da diese Dutzende von neuen Wörtern pro Woche aufschnappen (Wynn 2004). Zu sagen, Affen könnten sprechen lernen, nur weil sie Wortgebärden erlernen können, ist wie die Behauptung, der Mensch könne fliegen, bloß weil er Sprünge macht. 4 Schimpansen können in einer festgelegten Reihenfolge Gebärden machen oder Knöpfe drücken, um eine Belohnung zu bekommen, so wie ein Bär im Moskauer Zirkus Einrad fahren
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Kommunikation durch Gesten Heute sind Gesten für hörende Menschen nicht mehr so wichtig wie früher, als die Menschen zum ersten Mal Handzeichen einsetzten. Dennoch sind nach wie vor Gesten mit dem natürlichen Fluss der Sprache verbunden, vor allem wenn es um räumliche Sachverhalte geht
Als Washoe eine Puppe im Wasser treiben sah, gestikulierte sie: »Baby in mein Trinken.«
Kapitel 10 · Denken und Sprache
Paul Fusco/Magnum Photos/Agentur Focus
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Aber ist das Sprache? Die Fähigkeit von Schimpansen, sich mit Hilfe der amerikanischen Gebärdensprache verständlich zu machen, wirft Fragen über die Natur der Sprache auf. Hier fragt der Trainer »Was ist das?« und als Antwort sieht er das Zeichen »Baby.« Ist das wirklich Sprache?
C. Styrsky
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lernen kann. Aber auch Tauben können in einer bestimmten Reihenfolge mit dem Schnabel Tasten berühren, um Körner zu bekommen (Straub et al. 1979). Niemand schließt daraus, Tauben könnten »sprechen«. 4 Affen können sicherlich Symbole sinnvoll verwenden. Aber ein Satz wie »geben Orange ich geben essen Orange ich essen Orange ...« ist himmelweit entfernt von der vollendeten Syntax eines 3-Jährigen (Anderson 2004; Pinker 1995). Für das Kind hat »du kitzelst« und »kitzelst du« 2 unterschiedliche Bedeutungen. Für einen Schimpansen, der die Syntax des Menschen nicht beherrscht, sind die beiden Sätze miteinander austauschbar, und er wird sie in der Gebärdensprache vermutlich auf dieselbe Weise verwenden. 4 Terrace (1979) kam nach dem Sprachtraining mit einem Schimpansen, den er Nim Chimsky nannte, zu dem Ergebnis, vieles von den Gebärden des Tiers sei nichts weiter als Nachahmung der Gebärden des Trainers und sie lernten, dass bestimmte Armbewegungen Belohnungen zur Folge haben. 4 Aufgrund von »Wahrnehmungssets« neigen Menschen dazu, aus mehrdeutigen Informationen das herauszulesen, was sie erhoffen oder erwarten. Bei der Interpretation der Gebärden eines Schimpansen als Sprache könnte der Wunsch der Vater des Gedankens sein, sagt Terrace. (Als Washoe »Wasser-Vogel« gestikulierte, waren das vielleicht einfach die Einzelwörter für Wasser und Vogel.) »Schimpansen entwickeln keine Sprache«, stellt Pinker (1995) fest. »Aber das ist keine Schande; auch Menschen würden nicht besser abschneiden, wenn sie lernen müssten zu schreien und zu kreischen wie ein Schimpanse, den Schwänzeltanz der Biene aufführen oder sonst eine der wunderbaren Darbietungen vollbringen müssten, mit denen die talentierte Natur aufwartet.« In Wissenschaft und Politik können Kontroversen Fortschritte bewirken. Die provozierende Behauptung, dass »Affen unser Sprachvermögen mit uns teilen« und die trockene Replik »Affe kein sprechen kann« (wie Washoe es formuliert hätte) haben den Psychologen zu einem größeren Verständnis für die bemerkenswerten Fähigkeiten des Affen und auch des Menschen verholfen (Friend 2004; Rumbaugh u. Washburn 2003). Alle sind sich einig: Der Mensch allein besitzt Sprache, wenn man unter diesem Begriff gesprochene oder durch Gebärden ausgedrückte Wörter mitsamt einer komplexen Grammatik versteht. Wenn man bescheidener darunter die Fähigkeit zur Kommunikation mittels sinnvoller Aneinanderreihung von Symbolen versteht, verfügen Affen tatsächlich über Sprache. Wenn Schimpansen auch nicht unser Sprachvermögen haben, beeindrucken ihre Denk- und Kommunikationsleistungen doch nach wie vor ihre Trainer. Als ihr zweites Junges starb, fragte die deprimierte Washoe immer wieder »Baby?« und zog sich trauernd zurück, wenn es hieß »Baby tot, Baby weg, Baby Ende.« Zwei Wochen später hatte Fouts (1992, 1997), der betreuende Forscher, bessere Nachrichten für Washoe: »Ich habe Baby für dich.« Auf die Gebärdennachricht hin wurde Washoe sofort ganz aufgeregt, ihr Fell sträubte sich, sie rannte nach Luft schnappend hin und her und gestikulierte unaufhörlich »Baby, mein Baby.« Als Fouts sie dann mit ihrem neuen Pflegekind Loulis bekannt machte, dauerte es einige Stunden, bis die beiden sich aneinander gewöhnt hatten. Washoe brach das Eis mit dem Gebärdensatz »Kommen Baby« und nahm Loulis in den Arm. In den folgenden Monaten lernte Loulis 68 Gebärdenwörter allein dadurch, dass sie ihrer Mutter und drei anderen Schimpansen zuschaute, die Gebärdensprache beherrschten. Außerdem setzen Washoe, Loulis und die anderen Schimpansen ihre Gebärdensprache spontan ein. Sie fordern einander zum Nachlaufen, Kitzeln, Umarmen, Kommen oder Lausen auf. Gebärdensprachkundige Menschen können sogar der Unterhaltung zwischen Schimpansen folgen und sind fast immer einer Meinung über die Bedeutung der Gesten, die sich zu 90% mit sozialer Interaktion, gegenseitiger Bestätigung und Spiel befassen (Fouts u. Bodamer 1987). Die Schimpansen sind sogar in bescheidenem Maße zweisprachig; sie können gesprochene englische Wörter in Gebärdensprache übersetzen (Shaw 1989–1990). Noch verblüffender ist die Entdeckung von Savage-Rumbaugh et al. (1993), dass Bonobos semantische Feinheiten in gesprochenem Englisch unterscheiden lernen können. Der Bonobo Kanzi, der anscheinend die grammatischen Fähigkeiten eines 2-jährigen Menschen besitzt, kam
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ganz zufällig mit Sprache in Kontakt, als er seine Adoptivmutter beim Sprachtraining beobachtete. Er kann inzwischen vernünftig auf Sätze wie »Kannst du mir die Taschenlampe zeigen?« oder »Kannst du mir die Taschenlampe bringen?« oder »Kannst du die Taschenlampe anknipsen?« reagieren. Kanzi kennt auch die gesprochenen Wörter »Schlange«, »beißen« und »Hund«. Als man ihm Tierpuppen gab und ihm – zum ersten Mal – sagte, »der Hund soll die Schlange beißen«, führte er richtig die Schlange an das Maul des Hundes. Wenn Kanzi »einen Sprechapparat hätte, würde er sprechen«, heißt es enthusiastisch bei Rumbaugh (1994). Bei Schimpansen sind wie beim Menschen die ersten Lebensjahre eine sensible Phase für den Spracherwerb. Wenn Schimpansen im frühen Lebensalter keine Erfahrungen mit gesprochenen Wörtern oder Gebärdensprache machen, können sie als Erwachsene keine Sprachkompetenz mehr erlangen (Rumbaugh u. Savage-Rumbaugh 1994). Im Glauben, Tiere könnten nicht sprechen, haben Descartes und andere Philosophen argumentiert, diese seien lebendige Roboter, denen ethisch gesehen keinerlei Rechte zustünden. In der Folgezeit hieß es dann, Tiere könnten nicht planen, Begriffe fassen, zählen, Werkzeuge gebrauchen, Mitleid empfinden oder Sprache verwenden (Thorpe 1974). Heute wissen wir es besser. Die Tierforscher haben uns gezeigt, dass Schimpansen Einsicht haben, familiäre Bindungen entwickeln, untereinander kommunizieren, altruistische Regungen haben, kulturelle Errungenschaften an die nächste Generation weitergeben und die Syntax menschlicher Sprache erfassen können. Die ethischen Konsequenzen von all dem zu begreifen und umzusetzen ist eine Aufgabe, die unsere denkende Spezies noch zu leisten hat.
Ein weiterer »sprechender« Schimpanse Sue Savage-Rumbaugh trainiert Kanzi, einen sehr klugen Bonobo Wie spät ist es jetzt? Haben Sie, als Sie auf S. 439 waren, die Zeit, die Sie bis zum Ende des Kapitels benötigen würden, unter- oder überschätzt?
Lernziele zu Abschnitt 10.4 Denken und Sprache bei Tieren Ziel 16: Führen Sie 5 kognitive Fertigkeiten an, die Menschenaffen und Menschen gemeinsam sind. Sowohl Menschen als auch Menschenaffen bilden Begriffe, zeigen Einsicht, verwenden und schaffen sich Werkzeuge, geben kulturelle Errungenschaften weiter und haben eine Theory of Mind (dazu gehören die folgenden Fähigkeiten: Schlussfolgern, Erkennen der eigenen Person, Empathie, Nachahmung und Verstehen, was der andere denkt). Ziel 17: Nennen Sie Argumente für und gegen die Vorstellung, dass sowohl Tiere als auch Menschen sprachliche Ausdrucksfähigkeit besitzen. Bienen tanzen, um etwas über die Richtung und die Entfernung einer Nahrungsquelle mitzuteilen, Papageien sortieren Gegenstände nach ihrer Anzahl, Hunde verstehen und reagieren auf komplizierte Befehle von Menschen. Affen verschiedener Arten haben gelernt, durch Gebär-
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Copyright of Great Ape Trust of Iowa
10.4 · Denken und Sprache bei Tieren
densprache oder durch Drücken von Tasten an einem Computer mit Menschen zu kommunizieren. Diese Affen entwickelten einen Wortschatz mit Hunderten von Wörtern, sie kommunizierten, indem sie diese Wörter miteinander verketteten, und brachten diese Fähigkeiten ihren Jungen bei, die – wie Menschen – gewöhnlich die Fähigkeiten am einfachsten und am gründlichsten erwerben, wenn sie ganz klein sind. Trotzdem wiesen Forscher auf einen wichtigen Unterschied in der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit von Affe und Mensch hin: Nur Menschen können die komplexen Regeln der Syntax im verbalen Ausdruck oder in der Gebärdensprache beherrschen. > Denken Sie weiter: Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein Tier mit Ihnen kommuniziert hat? Wie könnte man diese intuitive Empfindung objektiv überprüfen?
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Kapitel 10 · Denken und Sprache
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Die Verfügbarkeitsheuristik ist eine schnelle und einfache, aber manchmal auch irreführende Leitvorstellung zur Beurteilung der Realität. Was ist die Verfügbarkeitsheuristik genau? 2. Wenn Kinder noch nicht sprechen können, gibt es dann irgendeinen Grund, anzunehmen, dass sie davon profitieren, wenn die Eltern oder andere Betreuungspersonen ihnen etwas vorlesen? 3. Wenn man sagt, dass »Wörter die Mutter der Gedanken« sind, dann wird damit angenommen, dass ein bestimmtes Konzept wahr ist. Um welches Konzept handelt es sich? 4. Wenn Ihre Hündin einen Fremden an der Haustür anbellt, kann man das dann als Sprache charakterisieren? Was ist, wenn die Hündin verräterisch jault, um Sie wissen zu lassen, dass sie nach draußen möchte?
Antworten zu den Fragen im Text
10.1
PSYCHOLOGIE
10.2
Es sind 2 Morpheme: »Katze« und »n«.
L Deutsche Literatur zum Thema Anderson, J.R. (2007). Kognitive Psychologie (6. Aufl.). Heidelberg: Spektrum. Funke, J. (2003). Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer. Herrmann, T. & Grabowski J. (Hrsg.). (2003). Sprachproduktion. Enzyklopädie der Psychologie: Sprache – Band 1. Göttingen: Hogrefe. Lämmel, U. & Cleve, J. (2004). Künstliche Intelligenz. Stuttgart: Hanser. Mayer, J. & Hermann, H.-D. (2008). Mentales Training. Heidelberg: Spektrum. Pinker, S. (2000). Wörter und Regeln. Die Natur der Sprache. Heidelberg: Spektrum.
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11 Intelligenz 11.1
Was ist Intelligenz?
11.1.1 11.1.2 11.1.3
Intelligenz als eine umfassende oder verschiedene spezifische Fähigkeiten? Intelligenz und Kreativität – 476 Ist Intelligenz neurologisch messbar? – 478
– 468
11.2
Intelligenzmessung
11.2.1 11.2.2 11.2.3
Ursprünge der Intelligenzmessung – 481 Moderne Tests der geistigen Fähigkeiten – 484 Prinzipien des Testaufbaus – 486
11.3
Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede
11.3.1 11.3.2
Stabilität oder Veränderung? Intelligenzextreme – 492
11.4
Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4
Genetische Einflüsse – 495 Umweltbedingte Einflüsse – 497 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests – 499 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests – 505
– 469
– 481
– 490
– 490
– 494
Andere Kulturen, andere Perspektiven »Im Oktober 1977 war ich 12 Jahre alt und ganz verrückt nach zwei Dingen: nach Baseball und nach Colby, unserem stolzierenden, blasierten scharzen Kater. Eines Nachmittags prallten diese beiden Leidenschaften jäh aufeinander. Nachdem ich es satt hatte, Tennisbälle mit dem Baseballschläger (Marke Wiffle) gegen die Wand hinter unserer Garagenauffahrt zu schlagen, zog ich ihn richtig hoch und fing an, meine 4 oder 5 Bälle (Marke Spaldings) im Hof hin und her springen zu lassen. Die Bälle verfingen sich einer nach dem ande-
ren in den Ästen eines alten Birnbaums. Schon bald war nur noch ein Tennisball übrig geblieben – dem schließlich dasselbe Schicksal nicht erspart blieb. Da war ich recht bestürzt. Ich wusste, dass ich auf diesen Baum eigentlich nicht hochklettern konnte. Ich fing an, mit meinem Baseballhandschuh (Marke Jim O’Toole) nach den Bällen zu werfen. Der Handschuh blieb im Baum hängen. In meiner Not ging ich so weit, mit meinem leicht zerbrechlichen Baseballschläger nach den Bällen zu werfen. Der Schläger blieb hängen. Be-
Will Coffey, »Two Loves« (in »Ich glaubte, mein Vater sei Gott«)
vor ich auch nur eine Chance hatte, auch noch meiner Turnschuhe verlustig zu gehen, tauchte Colby auf. Er hockte sich kurz hin, machte einen Buckel und musterte mich in meiner Hilflosigkeit. Dann kletterte mein Held beherzt auf den Baum, drang fachmännisch bis in die äußeren Zweige vor, um dann jeden Einzelnen der verloren gegangenen Sportartikel aufzuspüren und geschickt herunterzustupsen. Augenblicke später purzelte der Letzte von ihnen nach unten, ohne dass ich es eigentlich richtig begreifen konnte.«
468
Kapitel 11 · Intelligenz
Intelligenz > Drei große Kontroversen bestimmen die jüngsten Diskussionen in der Psychologie und reichen sogar über das Fach hinaus. Das ist zum einen der Disput um sog. verdrängte Erinnerungen (7 Kap. 9 und 14), ob also traumatische Erlebnisse verdrängt werden und später mit Hilfe eines Therapeuten wieder aufgedeckt werden können, und zum zweiten die große Kontroverse um die Geschlechtsrolle, bei der es darum geht, in welchem Ausmaß Anlage und Umwelt unser Verhalten als Mann oder Frau bestimmen (7 Kap. 3 und 15). In diesem Kapitel wollen wir uns aber mit dem dritten kontrovers diskutierten Thema, der Intelligenz, beschäftigen: Hat jeder von uns eine angeborene allgemeine geistige Fähigkeit (Intelligenz), und kann diese Fähigkeit in Form eines aussagekräftigen Wertes quantifiziert werden? Schulbehörden, Gerichte, Wissenschaftler und Therapeuten streiten über Nutzen und Gerechtigkeit von Tests, die versuchen, die geistigen Fähigkeiten eines Menschen zu erfassen, ihnen einen Gesamtwert zuzuordnen und sie mit den Gesamtwerten anderer Menschen zu vergleichen. Sollen wir solche Tests verwenden, um Menschen einzustufen, sie zu bestimmten Hochschulen zuzulassen, sie für einen bestimmten Job einzustellen, ihnen bei einer bestimmten psychischen Störung eine Diagnose zuzuweisen? Wir sollten vielleicht zunächst eher einige grundlegende Fragen stellen: Was ist Intelligenz eigentlich? Wie können wir sie am besten messen? Wie viel davon ist vererbt, und wie viel geht auf die Umwelt zurück? Was sagen die Unterschiede in den Testergebnissen zwischen einzelnen Personen und Gruppen wirklich aus? Sind Intelligenztests eine konstruktive Methode, um Menschen zu helfen, die für sie richtigen Möglichkeiten und Gelegenheiten zu erkennen? Oder sind sie nur eine potente Waffe zur Diskriminierung, die sich als wissenschaftliche Methode ausgibt? In diesem Kapitel wollen wir einige Antworten auf diese Fragen geben und Sie immer wieder daran erinnern, dass es eine ganze Vielfalt geistiger Begabungen gibt und dass der Garant für Leistung in jedem Bereich die geeignete Mischung aus Begabung und Entschlossenheit ist.
11.1
Was ist Intelligenz?
Ziel 1: Erörtern Sie die Schwierigkeiten, zu definieren, was Intelligenz ist, und erklären Sie, was es bedeutet, »Intelligenz zu vergegenständlichen«.
11 Intelligenz (intelligence): Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen einzusetzen, um sich an neue Situationen anzupassen.
Die Psychologen sind sich in einem Punkt überhaupt nicht einig: Sollte Intelligenz als eine Fähigkeit oder als mehrere Fähigkeiten angesehen werden? Hat sie etwas mit schneller Auffassungsgabe zu tun? Ist sie neurologisch messbar? In einem Punkt sind sich die Intelligenzexperten jedoch einig: Intelligenz ist ein Konstrukt und kein greifbares Objekt. Wenn wir vom IQ (Abkürzung für Intelligenzquotient) eines Menschen sprechen, als handele es sich dabei um eine ebenso feste und objektiv wahre Eigenschaft wie die Körpergröße, begehen wir einen Denkfehler, der Vergegenständlichung genannt wird, d. h. einen abstrakten, immateriellen Begriff so zu sehen, als handele es sich dabei um ein konkretes Objekt. Vergegenständlichen bedeutet, einen Begriff zu erfinden, ihm einen Namen zu geben und uns dann zu überzeugen, dass es ein solches Ding in der Welt tatsächlich objektiv gibt. Wenn jemand sagt: »Sie hat einen IQ von 120«, vergegenständlicht er den IQ. Er stellt sich vor, der IQ sei etwas, was man hat, und nicht ein Ergebnis, das man bei einem bestimmten Intelligenztest irgendwann einmal erzielt hat. Eigentlich müsste es heißen: »Ihr Ergebnis beim Intelligenztest war 120.« ! Intelligenz ist ein theoretisches Konstrukt, nicht etwas real Existierendes; Intelligenz ist ein Begriff, der von der Gesellschaft geschaffen wurde.
Verschiedene Kulturen halten etwas für »intelligent«, was in ihrer Kultur zum Erfolg führt (Sternberg u. Kaufman 1998). Im Regenwald am Amazonas kann Intelligenz die Gabe sein, unterscheiden zu können, welche einheimischen Kräuter sich zur wirksamen Behandlung von verschiedenen Krankheiten eignen. In den westlichen Ländern kann sie eine hohe Leistungsfähigkeit beim Ausführen kognitiver Aufgaben sein. In jedem Kontext ist Intelligenz die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und das Wissen zur Anpassung an neue Situationen einzusetzen. In
469 11.1 · Was ist Intelligenz?
11
der Wissenschaft ist Intelligenz alles, was mit Hilfe von Intelligenztests messbar ist. Wie wir gleich sehen werden, handelt es sich hier häufig zugleich um das, was die Klassenbesten in der Schule auszeichnet. Trotz dieser allgemeinen Übereinstimmung bleiben 2 Streitpunkte offen: 1. Ist Intelligenz eine einzige umfassende Fähigkeit, oder besteht sie aus verschiedenen spezifischen Fähigkeiten? 2. Können wir mit den Instrumenten, die heute in den Neurowissenschaften zur Verfügung stehen, Intelligenz im Gehirn lokalisieren und messen?
11.1.1
Intelligenz als eine umfassende oder als verschiedene spezifische Fähigkeiten?
Sie kennen wahrscheinlich einige Personen, die in den naturwissenschaftlichen Fächern besonders begabt sind oder aber in den Geisteswissenschaften herausragende Leistungen erbringen oder sich sportlich, künstlerisch, musikalisch oder tänzerisch besonders hervortun. Sie kennen vielleicht auch einen talentierten Künstler, der die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen kann, oder einen brillanten Mathematikschüler, der bei literarischen Diskussionen nicht gerade glänzt. Vielleicht haben Sie sich schon des Öfteren überlegt, ob die geistigen Fähigkeiten von Menschen nicht eventuell zu unterschiedlich sind, um sie mit dem einzigen Etikett »Intelligenz« zu kennzeichnen oder sie mit einer Zahl auf einer einzigen Werteskala zu quantifizieren. Wie könnte man diese Auffassung überprüfen?
Allgemeine Intelligenz Ziel 2: Stellen Sie Argumente für und gegen den Gedanken dar, dass Intelligenz eine allgemeine geistige Fähigkeit ist.
Um herauszufinden, ob es einen allgemeinen Fähigkeitsfaktor gibt, der sich wie ein roter Faden durch all unsere verschiedenen Fähigkeiten zieht, haben Psychologen untersucht, in welcher Beziehung die einzelnen Fähigkeiten zueinander stehen. Das statistische Verfahren der Faktorenanalyse ermöglicht den Wissenschaftlern Gruppen von Testitems zu identifizieren, mit denen eine zugrunde liegende allgemeine Fähigkeit gemessen werden kann. Beispielsweise schneiden Menschen, die bei sprachlichen Testfragen gut sind, häufig auch im Verständnis eines Textabschnitts gut ab. Eine solche Itemgruppe trägt zur Definition eines sprachlichen Intelligenzfaktors bei. Andere Items können beispielsweise zu den Faktoren räumliche Denkfähigkeit und induktive/ deduktive Denkfähigkeit zusammengefasst werden. Charles Spearman (1863–1945), der an der Entwicklung der Faktorenanalyse maßgeblich beteiligt war, war davon überzeugt, dass es auch eine allgemeine Intelligenz gibt, auch g-Faktor (g von engl. general = allgemein) genannt, die den unterschiedlichen Itemgruppen zugrunde liegt. Spearman räumte ein, dass Menschen zwar häufig besondere Befähigungen haben, durch die sie sich besonders hervortun. Doch er wies andererseits darauf hin, dass diejenigen, die in einem Faktor, wie etwa Begriffsverständnis, ein hohes Ergebnis erzielten, in der Regel auch bei anderen Faktoren, wie etwa räumliches Denken oder induktives/deduktives Denken, über dem Durchschnitt lagen. Daher ist zumindest eine Tendenz erkennbar, dass verschiedene Fähigkeiten praktisch »im Paket kommen«. Spearman glaubte, dass diese Gemeinsamkeit, der g-Faktor, unserem gesamten intelligenten Verhalten zugrunde liegt – und das reicht vom Navigieren durch das Meer bis zum Erzielen hervorragender Schulleistungen. Die Vorstellung von einer allgemeinen geistigen Fähigkeit, die sich in einem einzigen Intelligenzwert ausdrücken lässt, war zu Spearmans Zeit sehr umstritten und bleibt es bis zum heutigen Tag. Einer von Spearmans frühen Kontrahenten war Louis L. Thurstone (1887–1955). Er legte seinen Probanden 56 verschiedene Tests vor, aus denen er anschließend mathematisch 7 Cluster »primärer geistiger Fähigkeiten« (Wortflüssigkeit, Sprachbeherrschung, Raumvorstellung, Auffassungsgeschwindigkeit, Rechengewandtheit, schlussfolgerndes Denken und Gedächtnis) ableitete. Thurstone fasste diese Komponenten nicht in einer einzigen Skala einer allgemeinen Fähigkeit zusammen. Doch als andere Wissenschaftler die Profile seiner Testpersonen näher untersuchten,
Faktorenanalyse (factor analysis): statistische Methode zur Identifizierung von Gruppen verwandter Items in einem Test; die Itemgruppen bilden zugrunde liegende Faktoren ab. Wird z. B. zum Nachweis verschiedener Leistungsdimensionen eingesetzt, aus denen sich der Gesamttestwert eines Menschen ergibt.
Allgemeine Intelligenz oder g-Faktor (general intelligence): allgemeiner Intelligenzfaktor, der nach Ansicht von Spearman und anderen Psychologen den spezifischen geistigen Fähigkeiten eines Menschen zugrunde liegt und daher durch jede Aufgabe in einem Intelligenztest gemessen wird.
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Kapitel 11 · Intelligenz
Mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Stüber, Pilates Hamburg. www.pilates-hamburg.com
Sportlichkeit kann – wie Intelligenz – vieles bedeuten Einige Baseball- oder Golftrainer haben daher Spieler dazu aufgefordert, sowohl einen effizienten Bewegungsaufbau zu entwickeln, als auch Ausdauer, Schnelligkeit und Reaktionsbereitschaft auszubilden, indem sie Pilates-Kurse machen
entdeckten sie, dass auch hier eine gewisse Tendenz erkennbar war, dass Personen, die in einem der 7 Faktoren hervorragende Ergebnisse erzielten, auch in den anderen gut abschnitten. Sie schlossen daraus, dass es auch hier noch einige Hinweise auf einen g-Faktor gab. In diesem Sinne könnten wir die geistigen Fähigkeiten mit den körperlichen Fähigkeiten vergleichen. Sportlichkeit ist nicht etwas Einheitliches, sondern etwas Vielfältiges. Die Fähigkeit zum schnellen Laufen unterscheidet sich von der Kraft, die erforderlich ist, um Gewichte zu heben, und diese unterscheidet sich wiederum von der Koordination zwischen den Augen und den Händen, die nötig ist, um einen Ball zielgenau zu werfen. Ein Weltmeister im Gewichtheben hat selten das Zeug zu einem wieselflinken Eisschnellläufer. Doch auch hier lässt sich eine gewisse Tendenz erkennen, dass verschiedene gute Eigenschaften in Kombination miteinander auftreten. Auf der Grundlage allgemeiner Sportlichkeit gibt es einen Zusammenhang zwischen Laufgeschwindigkeit und Wurfgenauigkeit.
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! Zur Intelligenz gehören verschiedene Einzelfähigkeiten, die ausreichend hoch miteinander korrelieren, um einen gewissen allgemeinen Intelligenzfaktor definieren zu können.
Kanazawa (2004) argumentiert, dass sich die allgemeine Intelligenz als eine Form von Intelligenz entwickelt hat, die Menschen dabei hilft, neuartige Probleme zu lösen: wie man verhindert, dass sich ein Feuer ausbreitet, wie man bei einer Dürre Nahrung findet, wie man die eigene Gruppe wieder zusammenbringt, wenn sie sich bei Hochwasser auf 2 unterschiedlichen Seiten eines Flusses befindet. Häufiger auftretende Probleme setzen dagegen eine andere Art von Intelligenz voraus; das sind z. B. die folgenden Probleme: wie man einen Partner findet, wie man den Gesichtsausdruck eines Fremden interpretiert, wie man den Weg zurück zu einem Campingplatz findet. Tatsächlich korrelieren Testwerte für allgemeine Intelligenz mit der Fähigkeit, unterschiedliche neuartige Probleme zu lösen (wie sie sich etwa im wissenschaftlichen Bereich und in vielen beruflichen Situationen finden lassen), sie korrelieren jedoch nicht mit den Fertigkeiten von Individuen in Situationen, die »uns von der Evolution her vertraut« sind – wie etwa heiraten und Eltern sein, enge Freundschaften bilden, soziale Kompetenz zeigen und ohne Karte navigieren.
Moderne Intelligenztheorien Ziel 3: Vergleichen Sie die Intelligenztheorien von Gardner und Sternberg.
Seit Mitte der 80er Jahre haben verschiedene Psychologen versucht, die Intelligenzdefinition über die Definition als schulische Hochleistung, wie sie von Spearman und Thurstone vorgenommen wurde, hinaus zu erweitern.
Ethan Hill, New York
Multiple Intelligenzfaktoren
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Gardner (1983, 1999) unterstützt Thurstones Theorie, dass Intelligenz in Form verschiedener Einzelfaktoren auftritt. Er führt als Argument dafür an, dass eine Gehirnschädigung zwar eine bestimmte Art von Fähigkeit einschränken kann, nicht jedoch die anderen. Verschiedene Fähigkeiten hätten es unseren Vorfahren ermöglicht, mit unterschiedlichen Herausforderungen der Umwelt fertig zu werden (z. B. ihren Heimweg zu finden, die Gefühle anderer zu erkennen und Probleme zu lösen). Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit Personen mit außerordentlichen Fähigkeiten, insbesondere solchen mit einer einzigen besonders herausragenden Begabung. So haben beispielsweise Menschen mit dem Savant-Syndrom häufig einen niedrigen Intela ligenzquotienten, doch sie haben Inselbegabungen – unglaublich ausgeprägte Begabungen, etwa in Mathematik oder bildender Kunst oder ein faszinierendes Musikgedächtnis (Treffert u. Wallace 2002). Einige der Savant-Patienten haben praktisch keine sprachlichen Fähigkeiten, sind aber in der Lage, so schnell und genau zu rechnen wie ein Taschenrechner oder fast sofort den Wochentag zu bestimmen, der einem bestimmten historischen Datum entspricht (Miller 1999). Etwa 4 von 5 Menschen mit diesem Syndrom sind männlich, und viele haben auch Autismus, eine Entwicklungsstörung, von der mehr männliche Personen betroffen sind als weibliche. Ob sie nun ein Savant-Syndrom haben oder nicht, Autisten können in einigen Bereichen überragende Leistungen zeigen (z. B. in Mathematik) und bei anderen Aufgaben versagen (z. B. beim Verstehen eines Gesichtsausdrucks). Unter Berufung auf diese Befunde argumentiert Gardner, dass wir nicht über eine Intelligenz verfügen, sondern über multiple Intelligenzfaktoren, die jeweils relativ unabhängig voneinander sind. Neben der sprachlichen Fähigkeit und der logisch-mathematischen Fähigkeit, die mit Hilfe von Standardtests erfasst werden, unterscheidet er noch verschiedene andere Fähigkeiten, wie etwa die musikalische Intelligenz, die räumliche Intelligenz, die darin besteht, die visuell erfassbare Welt in Bezug auf ihre räumlichen Aspekte auszuwerten, die körperlich-kinästhetische Intelligenz, die in der Beherrschung, Kontrolle und Koordination des Körpers und einzelner Körperteile besteht (wie etwa beim Tanzen), sowie die intrapersonale, interpersonale und auf die Natur bezogene Intelligenz, die jeweils dazu dienen, sich selbst, andere und die Natur zu verstehen und klug damit umzugehen. . Tabelle 11.1. Die 8 Intelligenzen nach Gardner*
Fähigkeit
Beispiel
1. Sprachlich
Der Schriftsteller T. S. Eliot
2. Logisch-mathematisch
Der Wissenschaftler Albert Einstein
3. Musikalisch
Der Komponist Igor Strawinsky
4. Räumlich
Der Künstler Pablo Picasso
5. Körperlich-kinästhetisch
Die Tänzerin Martha Graham
6. Intrapersonal (Selbst)
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud
7. Interpersonal (andere Menschen)
Der politische Führer Mahatma Gandhi
8. Auf die Natur bezogen
Der Naturforscher Charles Darwin
* Gardner (1998) spekuliert darüber hinaus, ob es evtl. noch eine 9. Intelligenz gibt, die er die »existentielle Intelligenz« nennt und unter der er das »Erfassen und Durchdenken der grundlegenden Fragen von Leben, Tod und Existenz« versteht.
Ethan Hill, New York
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b Inselbegabungen und das Savant-Syndrom a Kim Peek, der Mann, der als Inspiration für die Rolle des Raymond Babbit im Film »Rain Man« diente, benötigt zur Ausübung vieler alltäglicher Dinge die Hilfe seines Vaters. Doch Peek kennt mehr als 7600 Bücher auswendig, daneben alle Vorwahlen, Postleitzahlen und Fernsehsender der USA b Alonzo Clemons ist zwar in seiner Entwicklung behindert, kann jedoch perfekte Nachbildungen von jedem Tier anfertigen, auch wenn er es nur kurz gesehen hat. Seine Bronzefiguren sind in den USA berühmt
Savant-Syndrom (savant Syndrome): Krankheit, die sich dadurch auszeichnet, dass ein Mensch mit einer an sich eingeschränkten geistigen Fähigkeit über eine ganz außergewöhnliche Begabung (Inselbegabung) verfügt, beispielsweise im Rechnen oder Zeichnen.
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Kapitel 11 · Intelligenz
Courtesy of Cameras on Wheels
Ein Genie in räumlicher Intelligenz 1998 stellte der Weltmeister im Damespiel Ron »Suki« King auf Barbados einen neuen Rekord auf, als er in 3 Stunden und 44 Minuten Simultandame gegen 385 Spieler spielte. Während also seinen Gegnern oft Stunden zur Verfügung standen, um sich ihre Spielzüge auszudenken, konnte sich King dem jeweiligen Spiel jedes Mal nur 35 Sekunden widmen. Es gelang ihm jedoch trotzdem, alle 385 Spiele zu gewinnen
Gardner (1998) zufolge kommen im Software-Programmierer, im Dichter, im cleveren Jugendlichen, der später zum gewitzten Manager wird, und im Spielmacher einer Basketballmannschaft unterschiedliche Arten von Intelligenz zum Ausdruck. Er bemerkt dazu: Wenn eine Person gut (oder schlecht) ist im Geschichtenerzählen, im Lösen von Mathematikaufgaben, beim Umherfahren in einer unbekannten Gegend, beim Lernen eines unbekannten Liedes, beim Beherrschen eines neuen Spiels, das Geschicklichkeit verlangt, beim Verstehen von anderen, beim Verstehen der eigenen Person, weiß man einfach nicht, ob sie auch vergleichbare Stärken (oder Schwächen) auf anderen Gebieten aufweist.
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Ein allgemeiner Intelligenzwert ist etwa mit der Gesamtbewertung einer Stadt vergleichbar, die beispielsweise nur wenig spezifische Information über Schulen, Straßen oder Nachtleben enthält. Wäre es nicht wunderbar, wenn die Welt gerecht wäre, so die Intelligenzforscherin Scarr (1989), und unsere Schwäche auf einem Gebiet oft durch eine Begabung auf einem anderen ausgeglichen würde? Doch leider ist die Welt nicht gerecht, denn es scheint tendenziell eine Korrelation zwischen verschiedenen Fähigkeiten zu geben. Beispielsweise haben geistig behinderte Menschen oft auch geringere körperliche Fähigkeiten; die Behindertenolympiade »Special Olympics« gibt ihnen und anderen eine Chance auf faire Konkurrenz miteinander. Darüber hinaus ergab ein Übersichtsartikel zu 127 Studien, dass man aufgrund eines Testwerts für schulbezogene Intelligenz, einem Prädiktor für Studienerfolg, auch den späteren beruflichen Erfolg vorhersagen konnte. Entsprechend lässt sich mit Hilfe von Testwerten für allgemeine Intelligenz voraussagen, wie jemand bei verschiedenen komplexen Aufgaben und bei der Ausführung verschiedener Tätigkeiten abschneiden wird. Der g-Faktor ist eben doch wichtig (Gottfredson 2002a, b, 2003a, b; Reeve u. Hakel 2002). Er hat sogar eine Bedeutung für die Langlebigkeit. Bei Studien, in denen der Einfluss von Einkommen und Bildung konstant gehalten wurde, hatten diejenigen, die im Alter von 11 Jahren den Test machten und die dabei 1932 einen niedrigen Wert im Intelligenztest erreichten, später als Erwachsene im Durchschnitt eine geringere Lebensspanne. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Lungenkrebs und an Herz-Kreislauf-Erkrankungen starben, war größer als für jene, die damals einen höheren Wert im Intelligenztest hatten (Hart et al. 2003; Whalley u. Deary 2001). Gardners Kritiker haben darauf hingewiesen, dass es ohne Tests zur Erfassung aller dieser Intelligenzen schwierig ist, seine Theorie wissenschaftlich zu überprüfen. Sie stellen auch die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, alle möglichen Arten von Fähigkeiten unter dem Begriff Intelligenz zusammenzufassen. Sie sagen, Intelligenz sei einfach die geistige Fähigkeit. Die Fähigkeiten, ohne die wir auch auskommen, wie etwa Musikalität und Sportlichkeit, sollten eher als Begabungen bezeichnet werden, im Gegensatz zu den entscheidenderen verbalen und logischen Fähigkeiten. Wenn es Menschen an körperlicher Begabung mangelt, betrachten wir dies dann als einen
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Mangel an Intelligenz? Gardner hält dem entgegen, dass alle Formen von Intelligenz ihren eigenen inneren Wert haben. In manchen Kulturen und Kontexten wird mehr Wert auf die einen, in manchen mehr auf die anderen Fähigkeiten gelegt. ! Tatsächlich scheinen die Intelligenzdefinitionen – ob sie nun als traditionelle Vorhersage des Schulerfolgs oder in umfassenderem Sinne verwendet werden –das auszudrücken, was die Leute an einem Menschen schätzen.
Aspekte einer erfolgreichen Intelligenz Sternberg (1985, 1999, 2003) stimmt zwar grundsätzlich mit Gardners Vorstellung von den multiplen Intelligenzen überein, aber in seiner triarchischen Theorie (von Triarchie: ein von 3 Herrschern regiertes Land) wird nur zwischen 3, nicht 8 Aspekten der Intelligenz unterschieden: 4 Analytische Intelligenz (schulische Problemlösungsintelligenz) – erfasst durch Intelligenztests, in denen genau umrissene Aufgaben gelöst werden müssen, die eine einzige richtige Lösung haben. 4 Kreative Intelligenz – zeigt sich durch die Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und durch das Entwickeln neuer Ideen. 4 Praktische Intelligenz – ist häufig gefragt bei der Ausführung alltäglicher Aufgaben, die schlecht definiert sind und mehrere Lösungsmöglichkeiten zulassen. »Wenn Sie in etwas gut sind, müssen Sie vorsichtig sein und sicherstellen, dass Sie nicht der Idee verfallen, auch in anderen Dingen gut zu sein, in denen das nicht unbedingt zutrifft. … Weil ich sehr erfolgreich war [mit Softwareentwicklung], kommen die Leute zu mir und erwarten, dass ich über Wissen bei Themen verfüge, von denen ich keine Ahnung habe.« Bill Gates (1998)
David H. Wells/Corbis
Mit Hilfe der traditionellen Intelligenztests wird die analytische Intelligenz erfasst. Durch sie lassen sich schulische Leistungen recht gut voraussagen, nicht so gut jedoch der berufliche Erfolg. Menschen, bei denen eine ausgeprägte praktische Intelligenz erkennbar ist, haben sich zum Teil in der Schule hervorgetan, zum Teil aber auch nicht. Der Erfolg eines Managers hängt beispielsweise weniger von seinen schulischen Fähigkeiten ab, die mit Hilfe eines Intelligenztests erfasst werden (nehmen wir einmal an, der Testwert liegt eher im Bereich des Durchschnitts und darüber), als vielmehr vom klugen Umgang mit der eigenen Person, mit seinen Aufgaben und mit anderen Menschen. Sternberg u. Wagner (1993, 1995) entwickelten einen Test zur Erfassung der praktischen Intelligenz eines Managers. Mit seiner Hilfe wird gemessen, ob der Getestete weiß, wie man wirkungsvolle Memos schreibt und andere motiviert, wann es an der Zeit ist, Aufgaben und Verantwortung zu delegieren, wie Menschen einzuschätzen sind und wie man seine eigene Karriere vorantreiben kann. Manager und leitende Angestellte, die bei diesem Test gut abschneiden, haben in der Regel höhere Gehälter und höhere Leistungsbewertungen als diejenigen, die geringe Testwerte erzielen. Eine ähnliche Beobachtung machten Ceci u. Liker (1986), die herausfanden, dass das Wissen von Experten für Pferderennen nicht mit ihren allgemeinen Intelligenztestwerten in Zusammenhang stand. (Das Expertenwissen kam in der praktischen, aber komplexen kognitiven Aufgabe des sog. Handicappings zum Tragen, bei dem die Chancen der einzelnen Pferde durch zeitliche Vorgaben ausgeglichen werden.) Obwohl Sternberg (1998, 1999) und Gardner (1998) in manchen Punkten unterschiedlicher Meinung sind, stimmen sie darin überein, dass multiple Fähigkeiten zum Erfolg im Leben beitragen können. Keiner der beiden Kandidaten für die 2000er Präsidentenwahlen in den USA hatte beim Hochschuleingangstest besonders hohe Werte, merkt Sternberg (2000) an; doch beide waren nach dem Studium durchaus erfolgreich. Des Weiteren stimmen Sternberg und Gardner darin überein, dass die vielfältigen Arten von Begabung dem Leben erst die richtige Würze verleihen und eine große Herausforderung für das Bildungswesen darstellen. Unter dem Einfluss von Gardner und Sternberg sind in den USA viele Lehrer dahingehend ausgebildet worden, die Vielfalt der Begabungen zu berücksichtigen und die Theorie der multiplen Intelligenzen auf den Unterricht anzuwenden. Einige Kritiker behaupten, dass die 3 von Sternberg vorgeschlagenen Intelligenzen nicht voneinander unabhängig sind, wie er meint, und dass ihnen eigentlich eine gemeinsame Intelligenz zugrunde liegt (Brody 2003). Während die Idee von der praktischen Intelligenz einen gewissen Reiz wegen der allgemein verbreiteten Auffassung ausübt, dass »jeder auf seine Weise klug sein kann«, argumentiert Gottfredson (2003a, b), »hat bisher noch niemand gezeigt, dass praktische Intelligenz … auch nur ein sinvolles Konzept ist.« Berufserfolg lässt sich weniger durch praktische
Straßenschläue Dieses Kind verkauft Räucherstäbchen auf den Straßen von Mexiko Stadt und entwickelt dadurch notgedrungen schon sehr früh eine praktische Intelligenz
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Kapitel 11 · Intelligenz
. Tabelle 11.2. Vergleich der Intelligenztheorien
Zusammenfassung
Stärken
Weitere Überlegungen
Spearmans allgemeine Intelligenz (g)
Durch eine grundlegende Intelligenz lassen sich unsere Fähigkeiten in unterschiedlichen schulischen Bereichen vorhersagen.
Unterschiedliche Fähigkeiten, wie etwa verbale und räumliche Fähigkeiten, weisen eine gewisse Tendenz auf zu korrelieren.
Die Fähigkeiten des Menschen sind zu vielfältig, um sie in einem einzelnen Faktor der allgemeinen Intelligenz zusammenzufassen.
Thurstones »Primary Mental Abilities«
Unsere Intelligenz lässt sich in 7 Faktoren aufspalten: Wortflüssigkeit, Sprachbeherrschung, Raumvorstellung, Auffassungsgeschwindigkeit, Rechengewandtheit, schlussfolgerndes Denken und Gedächtnis.
Ein einzelner g-Wert enthält nicht so viele Informationen wie die Testwerte für die »Primary Mental Abilities«.
Selbst Thurstones »Mental Abilities« weisen eine Tendenz zur Gruppenbildung auf, die auf einen zugrunde liegenden g-Faktor hindeutet.
Gardners multiple Intelligenzen
Unsere Fähigkeiten lassen sich am besten in 8 voneinander unabhängige Intelligenzen einteilen, zu denen eine breite Vielfalt von Fertigkeiten jenseits unseres traditionellen Schulwissens gehört.
Intelligenz ist mehr als nur verbale und mathematische Fertigkeiten. Unsere Fähigkeiten sind gleich wichtig für die Anpassungsfähigkeit des Menschen.
Sollten alle unsere Fähigkeiten als Intelligenzen angesehen werden? Oder sollten einige von ihnen eher als Begabungen bezeichnet werden, die für unser Leben weniger wichtig sind?
Sternbergs triarchische Intelligenz
Unsere Intelligenz lässt sich am besten in 3 Bereiche einteilen, anhand derer sich unser Erfolg in der realen Welt vorhersagen lässt: analytische, kreative und praktische Intelligenz.
Diese 3 Facetten lassen sich zuverlässig erfassen.
1. Diese 3 Facetten sind vielleicht weniger unabhängig voneinander, als Sternberg meinte, und ihnen kann tatsächlich ein gemeinsamer g-Faktor zugrunde liegen. 2. Eine zusätzliche Überprüfung ist erforderlich, um zu bestimmen, ob sich Erfolg mit Hilfe dieser Facetten zuverlässig vorhersagen lässt.
Macduff Everton/Corbis
Theorie
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Heilen durch Handauflegen Der Erfolg dieses tibetanischen Medizinmanns hat vielleicht weniger mit seiner allgemeinen Intelligenz zu tun, sondern eher mit dem Wissen über medizinisch wirksame Pflanzen und mit dem Verstehen der Menschen, denen er hilft
Emotionale Intelligenz (emotional intelligence): Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, auszudrücken, zu verstehen und zu beherrschen.
Intelligenz vorhersagen, behauptete die Autorin, sondern eher durch allgemeine Intelligenz, Persönlichkeit und Motivation. In Wirklichkeit, erwidert Sternberg, zeigen Studien von den kenianischen Dörfern bis ins ländliche Alaska, dass sich wichtige Fähigkeitsbereiche durch g-Maße nicht ansatzweise erfassen lassen und dass das triarchische Verständnis der Intelligenz dazu beiträgt, »den Weg für künftige Generationen besserer Theorien zu ebnen«. (In Tabelle 11.2 sind die 4 Haupttheorien zusammengefasst, die in diesem Kapitel erörtert werden.) Wie Sternberg richtig sagt, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen; die heute besten Theorien werden oft zu besseren Vorstellungen von morgen weiterentwickelt oder durch sie ersetzt. Bleiben Sie also dran.
Emotionale Intelligenz Ziel 4: Beschreiben Sie die 4 Aspekte der emotionalen Intelligenz, und erörtern Sie die Kritik an diesem Konzept.
Eine Form der Intelligenz, die sich ebenfalls von der schulischen Intelligenz unterscheidet, wurde von Cantor u. Kihlstrom (1987) zunächst als soziale Intelligenz bezeichnet. Sie verstehen darunter das Know-how, das es uns erlaubt, soziale Situationen zu verstehen und uns darin erfolgreich zu verhalten. In Übereinstimmung mit dieser Unterscheidung zwischen schulischer und sozialer Intelligenz fand man wiederholt heraus, dass Schulnoten nur wenig Vorhersagewert für den zukünftigen Erfolg im Arbeitsleben besitzen (Bretz 1989; Dye u. Reck 1989); denn dort sind eben auch soziale Fähigkeiten erforderlich. Epstein u. Meier (1989) haben sich die Frage gestellt, weshalb hochbegabte Menschen nicht in einem höheren Umfang und effektiver in der Lage sind, bessere Ehen zu führen, erfolgreicher bei der Kindererziehung zu sein und besser auf ihr geistiges und körperliches Wohlergehen hinzuarbeiten. Die Antwort mag zum Teil – und das ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Intelligenz – in dem liegen, was Salovey u. Mayer (1990; Salovey et al. 2002) die emotionale Intelligenz nennen; die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen und sie zu nutzen. In einer von der Emotionsforscherin Izard (2001) durchgeführten Studie wurde bei 5-Jährigen die Fähigkeit erfasst, Emotionen im Gesichtsausdruck zu erkennen und zu benennen. Selbst nachdem sie verbale Fähigkeiten und Temperament als Einflussfaktoren statistisch konstant gehalten hatten,
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Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland haben Personen mit hohen Testwerten beim Umgang mit Emotionen qualitativ höhere Interaktionen mit Freunden beider Geschlechter (Lopes et al. 2004). Sie vermeiden es, sich von Depression, Angst oder Wut übermannen zu lassen. Ihre Empathie befähigt sie dazu, die Emotionen anderer zu erkennen und geschickt damit umzugehen: Sie wissen, was man einem trauernden Freund zu sagen hat, wie man Kollegen Mut macht und wie man gut mit Konflikten umgeht. Über 69 Studien in vielen Ländern hinweg zeigten diejenigen, die hohe Werte in emotionaler Intelligenz aufwiesen, auch etwas bessere berufliche Leistungen (Van Rooy u. Viswesvaran, 2004). Sie können länger auf eine Belohnung warten, wenn das langfristige Vorteile für sie verspricht, und lassen sich nicht von spontanen Impulsen überrumpeln. Oder einfach ausgedrückt: Sie sind emotional klug und können deshalb häufig Erfolge in Beruf, Ehe und in Erziehungssituationen verzeichnen, alles Bereiche, in denen andere häufig scheitern, die im schulischen Bereich klüger sind (aber emotional weniger intelligent). In Extremfällen kann eine Hirnschädigung die emotionale Intelligenz verringern, während die allgemeine Intelligenz intakt bleibt. So berichtet der Neurowissenschaftler Damasio, der mehr als 2000 hirngeschädigte Patienten untersuchte, über Elliot, einen Mann mit normaler Intelligenz und normalem Gedächtnis. Doch seit der Entfernung eines Hirntumors lebt Elliot ohne Emotionen. »In den vielen Stunden, die ich mit ihm im Gespräch verbracht habe, habe ich nie auch nur das kleinste Anzeichen einer Emotion bei ihm beobachten können«, so Damasio (1994), »keine Traurigkeit, keine Ungeduld und keine Frustration.« Auch wenn ihm beunruhigende Bilder von verletzten Personen, zerstörten Städten und Naturkatastrophen gezeigt werden, zeigt Elliot kein Gefühl, und er spürt, dass er keine Gefühle hat. Wie Data, der menschenähnliche Androide aus »Star Trek: The Next Generation«, weiß er, dass er nichts fühlen kann. Da er nicht mehr in der Lage war, sein Verhalten intuitiv an die Gefühle anderer anzupassen, verlor Elliot seine Arbeit. Er verlor sein ganzes Vermögen. Seine Ehe ging in die Brüche. Darauf folgte eine erneute Heirat und später noch eine Scheidung. Als Letztes wurde von ihm bekannt, dass ein Verwandter die Vormundschaft für ihn übernommen hat und er von einer Behindertenrente lebt. Einige Wissenschaftler, zu denen sogar der »Experte für multiple Intelligenzen« Gardner (1999) zählt, äußern Bedenken, ob nicht mit solchen Begriffen wie »emotionale Intelligenz« der Intelligenzbegriff zu weit gefasst und verwässert wird. Gardner zufolge ist es sicher weise, den Begriff über die Verarbeitung von Wörtern und Zahlen und die Logik hinaus auch auf die Verarbeitung von räumlichen, musikalischen und Informationen über uns selbst und andere auszudehnen. Aber seiner Ansicht nach sollten wir auch emotionale Sensibilität, Kreativität und Motivation als wichtige Einflussfaktoren gelten lassen, die jedoch etwas anderes sind als Intelligenz. ! Die Bedeutung eines Begriffs so weit auszudehnen, bis er alles umfasst, was wir schätzen, führt letztendlich dazu, dass er seine Bedeutung verliert.
Copyright Andrew Shurtleff
fanden die Forscher heraus, dass die 5-Jährigen, die Emotionen am genauesten unterschieden hatten, später als 9-Jährige leicht Freundschaften schlossen, mit der Lehrerin oder dem Lehrer zusammenarbeiteten und ihre eigenen Emotionen wirksam im Griff hatten. Emotional intelligente Menschen sind sich ihrer selbst bewusst. Mayer et al. (2002; Grewal u. Salovey 2005) entwickelten einen Test für emotionale Intelligenz, um sowohl die emotionale Intelligenz insgesamt als auch ihre 4 Komponenten zu erfassen. Das sind die Fähigkeiten: 4 Emotionen wahrzunehmen (sie im Gesichtsausdruck, in der Musik und in Geschichten zu erkennen), 4 Emotionen zu verstehen (sie vorherzusagen und anzugeben, wie sie sich verändern und ineinander übergehen), 4 mit Emotionen umzugehen (zu wissen, wie man sie in unterschiedlichen Situationen zum Ausdruck bringt), 4 Emotionen zu nutzen, um adaptives und kreatives Denken zu ermöglichen. Emotionale Intelligenz Erfolg in der realen Welt wird nicht nur durch die Weisheit aus Büchern beeinflusst, sondern auch durch unsere Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und auszudrücken. Diese Gefängnisinsassinnen versuchen, diese Persönlichkeitsmerkmale zu lernen, indem sie an einem Elterntrainingsprogramm mit Rollenspielen teilnehmen, das durch die Organisation Girl Scouts Beyond Bars gefördert wird
»Mich beunruhigen unsere Definitionen [von Intelligenz], bei denen die Testwerte für unsere kognitiven Fähigkeiten mit den Aussagen darüber zusammenfallen, welchen Menschentyp wir bevorzugen.« Howard Gardner (»Rethinking the Concept of Intelligence«, 2000)
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Kapitel 11 · Intelligenz
Zur Verteidigung der mit schulischer Intelligenz Begabten und damit zur Rechtfertigung des g-Faktors verweisen die Forscher auf Studien, bei denen sich anhand der traditionellen Intelligenzwerte der berufliche Status und die berufliche Leistung vorhersagen lassen (Brody 1997; Schmidt u. Hunter 1998a). So spielt Intelligenz die wichtigste Rolle in geistig anspruchsvollen Berufen. Wenn man in seinem Bereich wirklich gut sein will, ist z. B. in der Meteorologie mehr Intelligenz gefordert als beim Ablesen von Messwerten. Doch sobald jemand einen Beruf ergriffen hat, muss er, um sehr erfolgreich zu sein, auch noch andere Merkmale aufweisen: Er muss gewissenhaft sein, gute Beziehungen haben und mit Begeisterung bei der Sache sein. Deshalb könnte man sagen, dass eine hohe Intelligenz mehr dazu beiträgt, uns (über die Schulbildung und entsprechende Ausbildungsprogramme) den Weg in einen passenden Beruf zu ebnen als unseren beruflichen Erfolg zu unterstützen, wenn wir bereits im Beruf sind. Das Erfolgsrezept ist Begabung zusammen mit Entschlossenheit. Ericsson (2002; Ericsson u. Lehmann 1996) berichtet über etwas, was in den Bereichen Schach, Tanzen, Sport, Programmieren von Computern, Musik und Medizin unbedingt dazugehört: »etwa 10 Jahre intensiver täglicher Übung«. Anscheinend ist also die schulische Begabung, die mit Intelligenztests ansatzweise erfasst wird, tatsächlich ein wichtiges Element. Allerdings sind für unsere Kompetenz im Alltagsleben noch viele andere Dinge wichtig, die die traditionellen Intelligenztests nicht messen.
11.1.2
Intelligenz und Kreativität
Ziel 5: Geben Sie die Faktoren an, die mit Kreativität zusammenhängen, und beschreiben Sie die Beziehung zwischen Kreativität und Intelligenz.
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Kreativität (creativity): Fähigkeit, neuartige und wertvolle bzw. nützliche Ideen hervorzubringen.
Der französische Mathematiker Pierre de Fermat, ein boshaftes Genie des 17. Jahrhunderts, forderte die Mathematiker seiner Zeit heraus, an der Lösung verschiedener, von ihm aufgestellter zahlentheoretischer Probleme zu arbeiten. Das berühmteste Problem, den sog. »letzten Satz«, schlug er vor, nachdem alle anderen gelöst worden waren. Der Beweis blieb selbst für die fähigsten Mathematiker ein Rätsel. Daran änderte (zunächst) auch die Tatsache nichts, dass 1908 ein Preis von umgerechnet 1,4 Mio. Euro für diesen Beweis ausgesetzt wurde. Wie unzählige andere hatte sich der Mathematiker Andrew Wiles mehr als 30 Jahre lang mit dem Problem herumgeschlagen und war der Lösung sehr nahe gekommen. Dann, eines Morgens, kam ihm aus heiterem Himmel die »unglaubliche Erleuchtung« für die Lösung der allerletzten Ungewissheit. »Es war so unbeschreiblich schön. Sie war so einfach und gleichzeitig so elegant. Ich konnte nicht verstehen, warum ich nicht schon früher darauf gekommen war, und starrte einfach ungläubig 20 Minuten lang darauf. Den ganzen Tag über lief ich im Institut herum und ging immer mal wieder zu meinem Schreibtisch zurück, um nachzusehen, ob der Beweis noch da war. Er war noch immer da. Ich konnte es gar nicht fassen, ich war wahnsinnig aufgeregt. Das war der wichtigste Moment in meiner ganzen beruflichen Laufbahn« (Singh 1997, S. 25). Der unglaubliche Moment, den Wiles da erlebt hat, zeugt von Kreativität, der Fähigkeit, Ideen zu haben, die sowohl neuartig als auch nützlich sind. ! Studien über Intelligenz und Kreativität deuten darauf hin, dass für Kreativität ein gewisses Maß an Begabung notwendig, aber nicht hinreichend ist.
Auf dem Rückflug von der Nobelpreisverleihung in Stockholm stieg der Physiker Richard Feynman in New York aus und machte einen Abstecher in den Stadtteil Queens, um sich seine alten Schulzeugnisse anzusehen. »Meine Noten waren nicht so gut, wie ich es in Erinnerung hatte«, sagte er, »und mein IQ betrug 124, ein guter, aber kein außergewöhnlicher Wert« (Faber 1987).
Im Allgemeinen schneiden Personen, die gute Werte bei Intelligenztests erzielen, auch gut in Kreativitätstests ab. (»Wie viele Verwendungsmöglichkeiten können Sie sich für einen Ziegelstein vorstellen?«) Doch ab einem bestimmten Niveau, etwa ab einem Wert von 120, beginnt die Korrelation zwischen Intelligenzwerten und Kreativität dahinzuschmelzen. Außergewöhnlich kreative Architekten, Mathematiker, Wissenschaftler und Ingenieure haben in der Regel keine höheren Intelligenzwerte als ihre weniger kreativen Kollegen (MacKinnon u. Hall 1972; Simonton 2000). Zur Kreativität gehört also weitaus mehr, als die Intelligenztests preisgeben. Tatsächlich unterscheiden sich die Hirnareale, die das konvergente Denken unterstützen, wie es durch Intelligenztests überprüft wird (bei denen es nur eine richtige Antwort gibt), von denen, die das divergente Denken unterstützen, bei dem man sich mehrere mögliche Antworten auf eine Fragestellung hin vorstellen kann (wie etwa die Wörter, die mit dem Buchstaben s anfangen). Bei einer Verletzung
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Amabiles Untersuchungen (1983, 1987) zeigten, dass eine kreative Umgebung die Menschen auch frei macht von jeglichen Sorgen um gesellschaftliche Bestätigung. Bei einem Experiment bat sie 2 Gruppen von Studierenden, Papierkollagen herzustellen und deutete einer Gruppe dabei an, dass diese anschließend von Experten beurteilt würden. Die Gruppe von Studierenden, die keine Ahnung hatte, dass ihre Arbeit beurteilt werden sollte, machte Kollagen, die von den Preisrichtern als kreativer eingestuft wurden. Da sie sich keine Sorgen um eine Beurteilung machten, fühlten sie sich in ihrem kreativen Ausdruck freier.
Fantasievolles Denken Karikaturisten bringen häufig ihre Kreativität zum Ausdruck, indem sie Dinge auf eine neuartige Weise sehen oder ungewöhnliche Verbindungen herstellen
Mit Genehmigung von Paul Soderblom
des linken Parietallappens ist das konvergente Denken beeinträchtigt, wie man es für Intelligenztests und für den Schulerfolg braucht. Bei einer Verletzung der Frontallappen können Lesen, Schreiben und rechnerische Fertigkeiten intakt bleiben, das Vorstellungsvermögen aber zerstört werden (Kolb u. Whishaw 2006). Studien an kreativen Menschen deuten auf 5 Komponenten der Kreativität jenseits eines Mindestniveaus von Fähigkeiten hin (Sternberg 1988; Sternberg u. Lubart 1991, 1992): 1. Expertenwissen: Expertenwissen ist eine gut fundierte Wissensgrundlage. »Chancen bieten sich nur dem Denken, das gut vorbereitet ist«, sagte schon Louis Pasteur. Je mehr Ideen, Bilder und Sätze uns während des Prozesses, bei dem Lerninhalte angehäuft werden, zur Verfügung stehen, desto mehr Gelegenheiten haben wir, die mentalen Bausteine auf neuartige Weise miteinander zu kombinieren. Die gut fundierte Wissensgrundlage lieferte Wiles die erforderlichen mathematischen Sätze und Methoden, die er für die Beweisfindung brauchte. 2. Fantasievolles Denken: Die Fähigkeit zum fantasievollen Denken eröffnet uns die Möglichkeit, Dinge auf neuartige Weise zu sehen, Muster zu erkennen und Verbindungen herzustellen. Wenn wir die Grundelemente eines Problems gemeistert haben, definieren wir das Problem neu oder untersuchen es auf eine neue Weise. Kopernikus entwickelte zunächst sein Expertenwissen zum Sonnensystem und seinen Planeten und definierte es dann kreativ als ein System, in dessen Mittelpunkt die Sonne steht, um die die Erde sich dreht. Die fantasievolle Lösung von Wiles ergab sich aus der Kombination zweier wichtiger, aber unvollständiger Lösungen. 3. Eine wagemutige Persönlichkeit: Eine Persönlichkeit, die risikofreudig ist und vor Unklarheiten nicht zurückschreckt, die Durchhaltewillen und die Bereitschaft zum Überwinden von Hindernissen zeigt und eher auf neue Erfahrungen aus ist, als der Herde zu folgen. Erfinder haben beispielsweise die Bereitschaft, trotz Misserfolgen weiterzumachen. So probierte Thomas Edison unzählige Materialien für den Glühdraht seiner Glühbirne aus. Andrew Wiles sagte, er hätte teilweise deshalb weit ab von der Mathematikergemeinschaft ganz für sich allein gearbeitet, um konzentriert zu bleiben und Ablenkung zu vermeiden. 4. Intrinsische Motivation: Die Psychologin Amabile weist darauf hin, dass Menschen am kreativsten sind, wenn sie sich hauptsächlich aus eigenem Interesse, Freude, Befriedigung und aufgrund der Herausforderung der Arbeit selbst motiviert fühlen und nicht aufgrund von äußerem Druck (Amabile u. Hennessey 1992). Kreative Menschen konzentrieren sich nicht so sehr auf extrinsische Motivationsfaktoren wie Termine, die eingehalten werden müssen, den Eindruck, den man auf andere Menschen macht, oder wie viel Geld man mit einer Arbeit verdient. Sie konzentrieren sich auf das intrinsische Vergnügen an einer Arbeit und die Herausforderung dabei. Wenn Isaac Newton beispielsweise gefragt wurde, wie er es anstelle, solch schwierige wissenschaftliche Probleme zu lösen, antwortete er meistens: »Indem ich die ganze Zeit darüber nachdenke.« Wiles stimmt mit ihm überein: »Ich war von dem Problem so besessen, dass ich 8 Jahre lang die ganze Zeit darüber nachdachte, von dem Moment, in dem ich wach wurde, bis zum Schlafengehen« (Singh u. Riber 1997). 5. Kreative Umgebung: Durch eine kreative Umgebung bekommt man die Anregung zu kreativen Ideen, man wird darin unterstützt und man kann sie ausfeilen. Nachdem Simonton (1992) die Karrieren von 2026 bekannten Wissenschaftlern und Erfindern untersucht hatte, stellte er fest, dass die meisten Großen unter ihnen in der Regel keine einsamen Genies waren. Hingegen wurden sie in den meisten Fällen durch ihre Beziehung zu Mentoren und Kollegen gefördert, herausgefordert und unterstützt. Diese Menschen haben häufig die erforderliche emotionale Intelligenz, um in einem Netzwerk von Kollegen effektiv zu arbeiten. Sogar Wiles baute auf den Erfahrungen seiner Lehrer und anderer Menschen auf und kämpfte mit dem Problem in Zusammenarbeit mit einem seiner früheren Studenten.
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Jeder hielt seinen Cracker hoch, als David die Käserolle in den Deckenventilator warf
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Kapitel 11 · Intelligenz
Manager, die Innovationen am Arbeitsplatz fördern wollen, sollten laut Amabile (1988) immer das Prinzip der intrinsischen Motivation vor Augen haben. Sie sollten Angestellte die Arbeit machen lassen, für die sie sich schon von sich aus interessieren. Und sie können es jenen Managern gleichtun, die mit Erfolg Kreativität gefördert haben, indem sie ihren Mitarbeitern Zeit, Freiheit und Unterstützung gaben, um gesteckte Ziele zu erreichen. Die Firma 3M ermutigte Forscher mit einem »11. Gebot« (»Du sollst keine neue Produktidee töten«), 15% ihrer Zeit auf kreative Projekte zu verwenden, die keinen unmittelbaren Gewinn versprachen. In dieser kreativitätsfördernden Umgebung wurden solche Produkte wie die inzwischen weit verbreiteten »Post-its« erfunden (Kreitner 1992).
11.1.3
Ist Intelligenz neurologisch messbar?
Ziel 6: Beschreiben Sie die Beziehung zwischen der Intelligenz und der Anatomie des Gehirns.
Können wir womöglich bald mit Hilfe der neurowissenschaftlichen Apparaturen von heute Zusammenhänge zwischen dem unterschiedlichen Erfolg bei Intelligenztests und Unterschieden im Gehirn, dem Sitz unseres Verstands, finden? Können wir uns vorstellen, wie ein künftiger Gehirntest auf Intelligenz aussehen könnte?
Größe und Komplexität des Gehirns
Das Gehirn eines Pottwals ist etwa 6-mal größer als Ihr Gehirn.
11 Erinnern Sie sich an 7 Kap. 1, und denken Sie daran, dass die höchste negative Korrelation (–1,0) eine völlige Nichtübereinstimmung zwischen zwei verschiedenen Gruppen von Werten kennzeichnet, d. h. wenn der eine Wert steigt, sinkt der andere. Eine Korrelation von Null gibt an, dass keinerlei Beziehung besteht. Und die höchste positive Korrelation (+1,0) weist auf eine vollkommene Übereinstimmung hin: Wenn der erste Wert nach oben geht, steigt auch der zweite an.
Nachdem der brillante englische Dichter Lord Byron 1824 gestorben war, entdeckten die Ärzte, dass sein Gehirn gewaltige 5 Pfund wog. Als Beethoven 3 Jahre danach starb, fand man heraus, dass sein Gehirn zahlreiche und tiefe Furchungen aufwies. Diese Beobachtungen brachten die Hirnforscher dazu, die Gehirne anderer genialer Menschen zu untersuchen, als diese mit ihrer Weisheit am Ende, d. h. verstorben, waren (Burrell 2005). Sind Menschen mit einem großen Gehirn aber wirklich klüger? Nun ja, einige geniale Menschen hatten kleine Gehirne, und einige ziemlich dämliche Kriminelle hatten Gehirne wie die der Wissenschaftler. Bei den neueren Studien, in denen die Gehirngröße mit Hilfe der Kernspintomographie direkt gemessen wird, ergibt sich tatsächlich eine signifikante Korrelation von etwa +0,44 zwischen der Gehirngröße (relativ zur Körpergröße) und dem Intelligenzwert (Gignac et al. 2003; Rushton u. Ankney 1996). Darüber hinaus nehmen bei Erwachsenen mit zunehmendem Alter sowohl die Gehirngröße als auch die Werte bei nichtverbalen Intelligenztests parallel ab (Bigler et al. 1995). Wenn Intelligenz wirklich leicht mit der Größe des Gehirns korreliert, könnte die Ursache dafür in Unterschieden bei den Genen, der Ernährung, der Stimulierung durch die Umgebung oder in einer Kombination aus diesen Faktoren liegen. Erinnern Sie sich aus den vorangegangenen Kapiteln daran, dass Erfahrung das Gehirn verändert. So entwickeln beispielsweise Ratten, die in einer eher stimulierenden als einer stimulationsarmen Umwelt aufwachsen, dickere, schwerere Gehirnrinden. Des Weiteren hinterlässt das Lernen erkennbare Spuren in den Nervenverbindungen des Gehirns. »Intelligenz hängt von der Entwicklung neuronaler Verbindungen in Reaktion auf die Umwelt ab«, merkt der Psychologe Garlick (2003) von der University of Sydney an. Gehirnuntersuchungen im Rahmen von Autopsien haben ergeben, dass hochgebildete Menschen bei ihrem Tod mehr Synapsen aufweisen als weniger gebildete Menschen (in einer Studie wurden 17% mehr gefunden; Orlovskaya et al. 1999). Das sagt allerdings nichts darüber aus, ob Menschen mit zunehmender Bildung mehr Synapsen bekommen oder ob Menschen mit mehr Synapsen stärker auf Bildung aus sind (oder beides). Andere Befunde deuten wiederum darauf hin, dass sich hochintelligente Menschen in ihrer neuronalen Plastizität unterscheiden, d. h. in ihrer Fähigkeit, in der Kindheit und Jugend als Reaktion auf ihre Umwelt neuronale Verbindungen anzupassen und auszubilden (Garlick 2002, 2003). Die Bemühungen, Verbindungen zwischen Gehirnstruktur und Kognition herzustellen, gehen weiter. Ein wissenschaftliches Team, das von dem Psychologen Haier (2004) geleitet wurde, korrelierte Intelligenztestwerte von 47 freiwilligen Erwachsenen mit deren Schichtaufnahmen vom Volumen der grauen Substanz (Zellkörper eines Neurons) und der weißen Substanz (Axone und Dendriten) in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Höhere Intelligenzwerte standen in Zu-
479 11.1 · Was ist Intelligenz?
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sammenhang mit mehr grauer Substanz in einigen speziellen Arealen, die mit Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Sprache in Zusammenhang gebracht werden (. Abb. 11.1) Mit den Gehirnen von 91 Kanadiern als Grundlage für Vergleiche ergriffen Witelson et al. (1999) die Gelegenheit, Einsteins Gehirn zu untersuchen. Zwar war es nicht merklich schwerer oder größer als das Gehirn eines durchschnittlichen Kanadiers, allerdings war Einsteins Gehirn im unteren Bereich des Parietallappens um 15% breiter, also genau in dem Bereich, der für die Verarbeitung mathematischer und räumlicher Informationen zuständig ist. Andere Hirnregionen waren eine Spur kleiner als der Durchschnitt. Da die verschiedenen geistigen Funktionen um den Platz wetteifern, der ihnen zur Verfügung steht, könnten diese Beobachtungen ein Hinweis darauf sein, weshalb Einstein, wie viele große Physiker (z. B. Richard Feynmann und Edward Teller), als Kind nur langsam sprechen lernte (Pinker 1999).
Gehirnfunktion und Intelligenz Ziel 7: Erörtern Sie die Befunde über Korrelationen zwischen Auffassungsgeschwindigkeit, Geschwindigkeit der neuronalen Verarbeitung und Intelligenz.
Auch wenn die schwachen Korrelationen zwischen der Anatomie des Gehirns und der Intelligenz sich als reliabel erwiesen haben, ist man bei der Erklärung der Intelligenzunterschiede erst ganz am Anfang. Auf der Suche nach anderen Erklärungen haben die Neurowissenschaftler die Funktionsweise des Gehirns näher unter die Lupe genommen. Wenn sich Menschen über Fragen Gedanken machen, die in Intelligenztests vorgegeben werden, wird ein Gehirnbereich im Frontallappen direkt über dem äußeren Rand der Augenbrauen besonders aktiv, und zwar in der linken Gehirnhälfte, wenn es um sprachliche Fragen geht, und in beiden Gehirnhälften, wenn es um räumliche Fragen geht (Duncan et al. 2000). Informationen aus verschiedenen Gehirnarealen scheinen an diesem Punkt zusammenzulaufen. Dies veranlasst Duncan (2000) zu der Vermutung, dass es sich bei diesem Punkt um einen globalen Arbeitsbereich handele, in dem Informationen organisiert und koordiniert werden. Und seiner Meinung nach scheinen eben manche mit einem Arbeitsbereich gesegnet, der außerordentlich gut funktioniert. Sind intelligentere Menschen wirklich geistig wacher und schneller, wie etwa die schnellen Computerchips der heutigen Generation eine schnellere Verarbeitung ermöglichen als noch ihre Vorläufermodelle? Für manche Aufgaben scheint das wirklich der Fall zu sein. Hunt (1983) fand heraus, dass die sprachlichen Intelligenzwerte durch die Geschwindigkeit vorhersagbar sind, mit der Menschen Informationen aus ihrem Gedächtnis abrufen. Alle, die schnell merken, dass »sinken« und »winken« unterschiedliche Wörter sind oder dass »A« und »a« zwei verschiedene Darstellungsformen desselben Buchstabens sind, haben in der Regel hohe Intelligenzwerte in Bezug auf ihre sprachliche Fähigkeit. Hochbegabte 12- bis 14-jährige Jugendliche, die vorzeitig ein Studium beginnen durften, sind beim Beantworten solcher Fragen besonders schnell (Jensen 1989). Um »Schnelldenken« zu definieren, beschäftigten sich die Forscher näher mit der Auffassungsgeschwindigkeit und der Geschwindigkeit der neuronalen Informationsverarbeitung.
. Abb. 11.1. Die graue Substanz ist wichtig Eine Sicht auf das Gehirn von vorne zeigt einige der Areale, in denen sich bei Menschen mit hohen Intelligenzwerten die graue Substanz – und damit möglicherweise g – konzentriert. (Nach Haier et al. 2004)
»Ich bin irgendwie weniger am Gewicht und den Gehirnwindungen von Einsteins Gehirn interessiert, als an der mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit demselben Talent in Baumwollfeldern und Ausbeuterbetrieben gearbeitet haben und gestorben sind.« Stephen Jay Gould (»Der Daumen des Panda«, 1995)
Auffassungsgeschwindigkeit Aus einer Vielzahl von Studien geht hervor, dass die Korrelation zwischen dem Intelligenzwert und der Aufnahmegeschwindigkeit von Wahrnehmungsinformationen etwa zwischen +0,4 und +0,5 liegt (Deary u. Der 2005; Grudnik u. Kranzler 2001). Ein typisches Experiment ist z. B. folgendes: Ein unvollständiger Reiz wird kurz eingeblendet (. Abb. 11.2) und dann von einem Bild abgelöst, das das weiterhin vorhandene Nachbild des unvollständigen Reizes überdeckt. Die Forscher fragen im Anschluss daran, ob die längere Seite links oder rechts war. Wie viel Zeit benötigt man zum Ansehen des Reizes, um auf diese Frage in 80% der Fälle richtig zu antworten? Vielleicht 0,1 Sekunden? Oder 0,2 Sekunden? Alle, die schnell wahrnehmen, scheinen bei Intelligenztests etwas besser abzuschneiden, insbesondere wenn es sich um Tests handelt, die mehr auf dem Lösen von Wahrnehmungsproblemen als auf sprachlicher Problemlösung beruhen.
. Abb. 11.2. Ein Test zur visuellen Verarbeitungszeit Ein Reiz wird kurz eingeblendet, bevor er von einem überdeckenden Bild abgelöst wird. Wie lange würden Sie wohl in diesem Experiment den Reiz auf der linken Seite ansehen müssen, um die Frage richtig zu beantworten? Menschen, die den Reiz sehr schnell wahrnehmen, neigen dazu, bei Intelligenztests etwas besser abzuschneiden. (Nach Deary u. Stough 1996)
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Kapitel 11 · Intelligenz
Übertragungsgeschwindigkeit der Nerven Sind die schnellere Verarbeitung und die schnelleren Wahrnehmungen von hochintelligenten Menschen Ausdruck der Tatsache, dass die neuronale Verarbeitung schneller erfolgt? Wiederholte Untersuchungen haben gezeigt, dass die Gehirnwellen solcher Menschen einen einfachen Reiz (wie etwa einen Lichtblitz oder einen Piepston) rascher und auf komplexere Art und Weise registrieren (Caryl 1994; Deary u. Caryl 1993; Reed u. Jensen 1992). Wenn Menschen mit hohen Intelligenztestwerten eine einfache Aufgabe ausführen, wie etwa einen Knopf zu drücken, sobald ein X auf einem Bildschirm auftaucht, scheint auch die dadurch ausgelöste Hirnreaktion etwas schneller zu erfolgen als bei Menschen mit geringen Intelligenztestwerten (McGarry-Roberts et al. 1992). Die neuronale Verarbeitungsgeschwindigkeit bei einer einfachen Aufgabe scheint weit entfernt zu sein von den zeitlich nicht begrenzten Antworten auf komplexe Intelligenztest-Items, wie etwa »Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen Wolle und Baumwolle?«. Bisher verfügen wir laut dem Intelligenzexperten Brody (1992, 2001) nicht über ein fundiertes Wissen zu der Frage, warum sich aus schnellen Reaktionen auf einfache Aufgaben der Erfolg in einem Intelligenztest vorhersagen lassen soll. Allerdings vermutet er, dass diese Reaktionen zumindest Ausdruck »unserer grundlegenden Fähigkeit zur Informationsverarbeitung« sind. Vernon (1983) vertritt die These, dass eine schnellere kognitive Verarbeitung es uns ermöglicht, uns eine größere Menge an Informationen anzueignen. Vielleicht häufen Menschen, die Informationen schneller verarbeiten, tatsächlich mehr Informationen an, sei es über Wolle, Baumwolle oder Millionen anderer Dinge. Der neurologische Ansatz zum Verständnis von Intelligenz (und vielen anderen psychologischen Themen) befindet sich gegenwärtig im Auftrieb. Wird dieser neue Forschungsansatz das, was wir den g-Faktor nennen, auf einen einfachen Messwert unserer Gehirnaktivität reduzieren? Oder sind diese Bemühungen völlig wahnwitzig, weil das, was wir Intelligenz nennen, in Wirklichkeit nicht nur eine einzige Eigenschaft ist, sondern mehrere Fähigkeiten zur Anpassung an unterschiedliche Kulturen beinhaltet? Die Kontroversen darüber, was die Intelligenz im Kern ausmacht, sind noch lange nicht zu Ende. Lernziele Abschnitt 11.1 Was ist Intelligenz?
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Ziel 1: Erörtern Sie die Schwierigkeiten, zu definieren, was Intelligenz ist, und erklären Sie, was es bedeutet, »Intelligenz zu vergegenständlichen«. Intelligenz ist ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept, das von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist. In der aktuellen Intelligenzforschung gibt es 2 große Kontroversen: (1) Handelt es sich um eine Gesamtfähigkeit oder um viele Fähigkeiten? (2) Können Neurowissenschaftler Intelligenz im Gehirn lokalisieren und messen? Intelligenz zu vergegenständlichen, ist so, als behandele man sie als reales Objekt und nicht als abstraktes Konzept. Die meisten Psychologen halten sich heute an die folgende Intelligenzdefinition: die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und sich an neue Situationen anzupassen. Ziel 2: Stellen Sie Argumente für und gegen den Gedanken dar, dass Intelligenz eine allgemeine geistige Fähigkeit ist. Argumente, bei denen Intelligenz als eine allgemeine geistige Fähigkeit angesehen wird, die allen spezifischen geistigen Fähigkeiten zugrunde liegt, beruhen teilweise auf der Faktorenanalyse. Dieses statistische Verfahren wurde eingesetzt, um zu zeigen, dass geistige Fähigkeiten gewöhnlich Cluster bilden und dass die Menschen in der Regel etwa dasselbe Kompetenzniveau für alle Fähigkeiten dieses Clusters haben. In der Mitte des 20. Jahrhundert bezeichnete Charles Spearman (der neben anderen die Faktorenanalyse entwickelt hat) dieses gemeinsame Intelligenzniveau als g-Faktor. Einige der heutigen Psychologen stim-
men mit Spearmans Auffassung überein, dass wir ein gemeinsames Intelligenzniveau haben, aufgrund dessen man unsere Fähigkeiten in allen anderen schulrelevanten Bereichen vorhersagen kann. Ziel 3: Vergleichen Sie die Intelligenztheorien von Gardner und Sternberg. Howard Gardner stellt die Auffassung von der allgemeinen Intelligenz in Frage. Er schlägt 8 unabhängige Intelligenzen vor: die sprachliche (klug in Bezug auf Wörter), die logisch-mathematische (klug in Bezug auf Zahlen), die musikalische (klug in Bezug auf Musik), die räumliche (klug in Bezug auf den Raum), die körperlich-kinästhetische (klug in Bezug auf den Körper), die intrapersonale (klug in Bezug auf die eigene Person), die interpersonale (klug in Bezug auf andere Menschen) und die auf die Natur bezogene Intelligenz (klug in Bezug auf die Natur). In Robert Sternbergs triarchischer Intelligenztheorie wird vorgeschlagen, dass es nur 3 Intelligenzen gibt: die analytische (Problemlösen in der Schule), die kreative und die praktische Intelligenz (zu weiteren Einzelheiten über die Debatte zu einer einzigen Intelligenz und mehreren Intelligenzen . Tab. 11.2). Ziel 4: Beschreiben Sie die 4 Aspekte der emotionalen Intelligenz, und erörtern Sie die Kritik an diesem Konzept. Die 4 Komponenten der emotionalen Intelligenz sind die Fähigkeiten, Emotionen wahrzunehmen (sie im Gesichtsausdruck, in der Musik und 6
481 11.2 · Intelligenzmessung
in Geschichten zu erkennen), Emotionen zu verstehen (sie vorherzusagen und anzugeben, wie sie sich verändern und ineinander übergehen), mit Emotionen umzugehen (zu wissen, wie man sie in unterschiedlichen Situationen zum Ausdruck bringt) und Emotionen zu nutzen. Kritiker der Vorstellung von der emotionalen Intelligenz fragen, ob wir die Vorstellung von der Intelligenz nicht zu stark erweitern, wenn wir sie auf Emotionen anwenden. Ziel 5: Geben Sie die Faktoren an, die mit Kreativität zusammenhängen, und beschreiben Sie die Beziehung zwischen Kreativität und Intelligenz. Kreativität ist die Fähigkeit, neuartige, nützliche Ideen hervorzubringen. Sie korreliert etwas mit Intelligenz, aber oberhalb eines IQs von 120 tendiert die Korrelation gegen null. Sie korreliert auch mit Expertenwissen, mit dem Vorstellungsvermögen, mit einer risikobereiten Persönlichkeit, mit intrinsischer Motivation und mit der Unterstützung, die von einer kreativen Umwelt ausgeht. Es sind unterschiedliche Gehirnareale aktiv, wenn wir konvergent denken (die Art des Denkens, das wir benötigen, um Lösungen in Intelligenztests zu finden) und wenn wir divergent denken (die Art des Denkens, das wir benötigen, um zu mehreren einfallsreichen Lösungen zu kommen). Ziel 6: Beschreiben Sie die Beziehung zwischen der Intelligenz und der Anatomie des Gehirns. Neuere Studien deuten auf eine gewisse Korrelation (etwa +0,40) zwischen Gehirngröße (relativ zur Körpergröße) und Intelligenztestwert hin. Durch die Tendenz des Gehirns, im späten Erwachsenenalter an Größe abzunehmen, wird diese Auffassung in gewissem Grade ge-
11.2
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stützt. Und bei Autopsien an hochgebildeten Menschen zeigte sich ein überdurchschnittliches Volumen bezogen auf die Synapsen und auf die graue Substanz. Doch die Richtung des Zusammenhangs ist nicht eindeutig. Eine ausgeprägtere Gehirngröße kann Grundlage für eine höhere Intelligenz sein; oder eine höhere Intelligenz kann zu Erfahrungen führen, die das Gehirn üben, mehr Verbindungen aufbauen und damit seine Größe anwachsen lassen; oder es ist ein dritter Faktor im Spiel. Ziel 7: Erörtern Sie die Befunde über Korrelationen zwischen Auffassungsgeschwindigkeit, Geschwindigkeit der neuronalen Verarbeitung und Intelligenz. Studien zur Funktionsweise des Gehirns zeigen, dass Menschen, die eine hohe Intelligenz haben, tendenziell Informationen schneller aus dem Gedächtnis abrufen und Reize schneller wahrnehmen als andere. Diese Unterschiede kommen auch in neurologischen Studien zum Ausdruck, in denen bei diesen Personen schnellere Reaktionszeiten im Gehirn nachgewiesen wurden. > Denken Sie weiter: Die moderne Vorstellung von den multiplen Intelligenzen (wie sie von Gardner oder Sternberg vorgeschlagen wurde) geht davon aus, dass es sich bei der mit Hilfe von traditionellen Intelligenztests gemessenen analytischen Sprachfähigkeit und der Fähigkeit im Umgang mit Zahlen zwar um wichtige Fähigkeiten handelt, dass es aber auch noch andere Fähigkeiten gibt, die eine bedeutsame Rolle spielen. Verschiedene Menschen haben verschiedene Begabungen. Was sind Ihre Begabungen?
Intelligenzmessung
Ziel 8: Definieren Sie, was ein Intelligenztest ist, und erörtern Sie die Geschichte der Intelligenztests.
Wie bewerten wir Intelligenz? Die Antwort des Filmhelden Forrest Gump darauf lautet: »Dumm ist nur der, der Dummes tut.« Und er erfasst damit genau den Sinn der einfachsten Antwort der Psychologie: Intelligent ist nur der, der in einem Intelligenztest Intelligentes tut. Oder anders ausgedrückt: Intelligenz ist das, was ein Intelligenztest misst. Aber wie sehen diese Tests aus, und was macht einen Test glaubwürdig? Bei der Beantwortung dieser Fragen beginnen wir mit einem Blick darauf, warum Psychologen Tests geistiger Fähigkeiten entwickelt und wie sie diese Test eingesetzt haben.
11.2.1
Ursprünge der Intelligenzmessung
In manchen Gesellschaften gilt die erste Sorge dem allgemeinen Wohlergehen der Familie, der Gemeinschaft und der Gesellschaft. In anderen Gesellschaften steht die Entwicklungsmöglichkeit des Einzelnen im Mittelpunkt. Platon, ein großer Denker in der individualistischen Tradition, schrieb vor mehr als 2000 Jahren in »Der Staat«, »dass keiner von uns von Natur aus ganz gleich ist wie der andere, sondern dass jeder verschiedene Anlagen hat, der eine zu dieser, der andere zu jener Betätigung«. Als Erben von Platons Individualismus haben sich die Menschen in den westlichen Gesellschaften immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie und warum sich die Individuen in Bezug auf geistige Fähigkeiten voneinander unterscheiden.
Intelligenztest (intelligence test): ein Verfahren, um die geistigen Fähigkeiten eines Menschen zu erfassen und sie anhand numerischer Testwerte mit denen anderer zu vergleichen.
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Kapitel 11 · Intelligenz
Die ersten ernsthaften Versuche, solche Unterschiede zu messen, wurden in der westlichen Welt vor etwa einem Jahrhundert unternommen. Aus der Geschichte der Intelligenztests können wir eine wichtige Lektion lernen: Obwohl sich die Wissenschaft eigentlich um Objektivität bemüht, werden die einzelnen Wissenschaftler häufig von ihren eigenen Annahmen und Einstellungen beeinflusst.
Alfred Binet: Vorhersage des Schulerfolgs
Alfred Binet »Mit der Werteskala im eigentlichen Sinne lässt sich keine Intelligenz messen, denn die geistigen Eigenschaften … können nicht so gemessen werden wie etwa lineare Flächen.« (Binet u. Simon 1905)
Intelligenzalter (mental age): von Binet eingeführtes Maß zur Feststellung der Intelligenztestleistung; das Lebensalter, das am typischsten einer bestimmten Leistungsebene entspricht. So sagt man, wenn ein Kind die Leistungen eines durchschnittlichen 8-Jährigen vollbringt, es habe ein Intelligenzalter von 8.
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»Der Intelligenztest wurde zur Vorhersage der schulischen Leistung erfunden, zu sonst nichts. Wenn wir ein Verfahren haben wollten, mit dem sich der Erfolg im Leben voraussagen ließe, müssten wir einen vollkommen anderen Test erfinden.« Der Sozialpsychologe Robert Zajonc (1984b)
Die moderne Beschäftigung mit Intelligenztests nahm während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Anfang, als in Frankreich ein Gesetz verabschiedet wurde, das alle Kinder zum Schulbesuch verpflichtete. Die Lehrer sahen sich schon bald mit einer überwältigenden Vielfalt von individuellen Unterschieden konfrontiert. Manche Kinder schienen dem regulären Schulunterricht nicht folgen zu können und speziellen Förderunterricht zu brauchen. Aber wie konnten die Schulen objektiv herausfinden, welche Kinder besonders hilfsbedürftig waren? Die französische Regierung zögerte, sich darauf zu verlassen, dass die Lehrer das Lernpotenzial der Kinder subjektiv beurteilten. Langsames Lernen brachte möglicherweise nur eine unzureichende Vorbildung der Kinder zum Ausdruck. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass die Lehrer die Kinder aufgrund ihres sozialen Hintergrunds falsch einschätzten. Um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, beauftragte der französische Erziehungsminister 1904 Alfred Binet (1857–1911) und andere damit, dieses Problem zu lösen. Binet und sein Mitarbeiter Théodore Simon gingen zunächst davon aus, dass alle Kinder demselben Ablauf der geistigen Entwicklung unterliegen, dass sich einige jedoch schneller entwickeln. In Tests müsste sich also ein »dummes« Kind genauso wie ein typisches jüngeres Kind verhalten, und ein »kluges« Kind wie ein typisches älteres. So machten sich Binet und Simon also daran, das zu messen, was später als Intelligenzalter bekannt werden sollte, das Lebensalter, das normalerweise einem bestimmten Leistungsniveau entspricht. Ein durchschnittlich begabtes 9 Jahre altes Kind hat ein Intelligenzalter von 9. Kinder mit einem unterdurchschnittlichen Intelligenzalter, beispielsweise 9-Jährige, die der typischen Leistungsebene eines 7-Jährigen entsprechen, hätten wahrscheinlich Schwierigkeiten mit den schulischen Anforderungen, die an diese Altersgruppe normalerweise gestellt werden. Zur Messung des Intelligenzalters gingen Binet und Simon von der Theorie aus, dass eine geistige Begabung, ebenso wie sportliche Begabung, eine allgemeine Fähigkeit ist, die auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommt. Danach entwickelten sie verschiedene Fragen zum Denken und Problemlösen, mit denen sich der schulische Lernerfolg voraussagen lassen sollte, und probierten viele davon an Binets beiden Töchtern aus. Danach testeten Binet und Simon mit diesen Fragen die »hellen Köpfe« und die »Zurückgebliebenen« unter den Pariser Schulkindern und konnten schließlich einen Erfolg verzeichnen: Sie hatten tatsächlich Testfragen (Items) gefunden, mit denen sich vorhersagen ließ, wie gut die Kinder ihre Schulaufgaben bewältigen würden. Es sei hier angemerkt, dass Binet und Simon keine Vermutungen dazu äußerten, warum ein bestimmtes Kind langsam, durchschnittlich oder frühreif war. Binet selbst neigte zu einer Erklärung durch umweltbedingte Faktoren. Um die Fähigkeiten von Kindern mit geringen Testergebnissen zu steigern, schlug er »Denksportaufgaben« vor, mit denen sie trainiert und ihre Aufmerksamkeitsspanne und Selbstdisziplin verbessert werden konnten. Er weigerte sich, Spekulationen anzustellen, was mit dem Test nun tatsächlich gemessen wurde. Und er bestand darauf, dass damit keinesfalls die angeborene Intelligenz gemessen werden könne (so wie etwa die Körpergröße mit einem Meterstab). Der Test habe vielmehr einen einzigen praktischen Zweck: Er solle feststellen, welche französischen Schulkinder besondere Aufmerksamkeit benötigten. Binet hoffte, sein Test werde dazu verwendet werden, die Bildung der Kinder zu verbessern, aber er hatte andererseits auch die Befürchtung, der Test könne benutzt werden, um Kinder von vornherein abzustempeln und ihre Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken (Gould 1981).
Lewis Terman: Der angeborene IQ Binet hätte sich wohl im Grab herumgedreht, wenn er entdeckt hätte, dass der von ihm zur Identifizierung von langsam lernenden Schülern, die spezielle Hilfe benötigen, entworfene Test schon bald als numerischer Maßstab für vererbte Intelligenz herangezogen wurde. Nach Binets Tod im Jahre 1911 versuchte der Stanford-Professor Lewis Terman (1877–1956) Binets Test anzuwenden,
483 11.2 · Intelligenzmessung
Intelligenzalter IQ = 004 * 100 Lebensalter Somit hat ein durchschnittliches Kind, dessen Intelligenzalter und Lebensalter gleich sind, einen IQ von 100. Aber ein 8-jähriges Kind, das Fragen so beantwortet, wie sie ein 10-Jähriger sie beantworten würde, hat einen IQ von 125. Bei den meisten neueren Intelligenztests, einschließlich des Stanford-Binet-Tests, wird der IQ nicht mehr berechnet. Die ursprüngliche IQ-Formel lässt sich gut auf Kinder anwenden, nicht jedoch auf Erwachsene. (Oder sollte vielleicht einem 40-Jährigen, der den Test gleich gut macht wie ein 20-Jähriger, nur ein IQ von 50 bescheinigt werden?) Bei den heutigen Intelligenztests wird hingegen das Maß der geistigen Fähigkeit, das auf der Grundlage der Leistung des Getesteten erfasst wurde, in Beziehung gesetzt zur durchschnittlichen Leistung der Bevölkerung derselben Altersgruppe. Wie beim ursprünglichen Stanford-Binet-Test wird bei den modernen Intelligenztests der Intelligenzwert so definiert, dass 100 der Durchschnitt ist. Etwa zwei Drittel aller Menschen erzielen dabei Werte zwischen 85 und 115. Obwohl es sich nicht mehr im eigentlichen Sinne um einen Intelligenzquotienten handelt, wird der Begriff »IQ« in der Alltagssprache weiterhin häufig als Kurzform für »Intelligenztestwert« verwendet. Terman trat für den breiten Einsatz von Intelligenztests ein. Sein Motiv war dabei, »den Ungleichheiten von Kindern aufgrund ihrer angeborenen Begabung gerecht zu werden«, und zwar durch Messung ihrer »beruflichen Eignung«. Terman sympathisierte auch mit den Ideen der Eugenik, einer heftig kritisierten humangenetischen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Sie trat für die Messung der menschlichen Charakterzüge ein, um je nach Ergebnis nur die klugen und wirklich überlebensfähigen Menschen anschließend zur Fortpflanzung zu ermutigen. Vor diesem Hintergrund hielt es Terman (1916, S. 91–92) für möglich, durch den Einsatz von Intelligenztests »letztendlich die Fortpflanzung von Schwachsinn deutlich einschränken und dadurch zur Beseitigung eines hohen Maßes an Kriminalität, Massenarmut und Ineffizienz in der Industrie beitragen zu können« (S. 7). Mit Termans Hilfe entwickelte die US-Regierung neue Tests, um frisch eingereiste Einwanderer und 1,7 Mio. Rekruten der Armee im Ersten Weltkrieg nach ihrer Intelligenz einschätzen zu können. Das war der weltweit erste massive Einsatz eines Intelligenztests. Für manche Psychologen deuteten die Ergebnisse auf eine Minderwertigkeit der Menschen hin, die kein angelsächsisches Erbe hatten. Solche Aussagen beeinflussten das kulturelle Klima; das führte schließlich 1924 zur Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes, durch das die Einwanderungsquoten aus Süd- und Osteuropa im Vergleich zu jenen aus Nord- und Westeuropa auf weniger als ein Fünftel gesenkt wurden. Binet wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, wenn er gesehen hätte, wie sein Test abgewandelt und verwendet wurde, um derartige Schlüsse zu ziehen. Tatsächlich waren den meisten Verfechtern der Intelligenztests bald derart radikale Urteile peinlich. Selbst Terman musste sich beispielsweise eingestehen, dass die Testergebnisse nicht nur Ausdruck der angeborenen geistigen Fähigkeiten der Menschen sind, sondern auch ihrer Bildung und ihrer Vertrautheit mit der Kultur, die dem Test zugrunde lag. Der Missbrauch der frühen Intelligenztests kann daher immer noch dazu dienen, uns daran zu erinnern, dass die Wissenschaft von ideologischen Werten beeinflusst sein kann. Hinter dem Schleier der wissenschaftlichen Objektivität verbirgt sich bisweilen eine Ideologie.
Stanford-Binet-Intelligenztest (Stanford-Binet): häufig angewandte amerikanische Variante des ursprünglichen Binet-Intelligenztests (abgewandelt durch Lewis Terman von der Stanford-Universität).
Intelligenzquotient oder IQ (intelligence quotient): ursprünglich definiert als das Verhältnis von Intelligenzalter (IA) zum Lebensalter (LA) multipliziert mit 100, nach der Formel: IA IQ = 5 * 100 LA In neueren Intelligenztests wird die durchschnittliche Leistungsfähigkeit einer bestimmten Altersgruppe mit einem Wert von 100 gleichgesetzt.
C. Styrsky
fand jedoch heraus, dass sich die Altersmaßstäbe der in Paris lebenden Schüler nur schwer auf kalifornische Schulkinder übertragen ließen. Er glich einige von Binets ursprünglichen Testfragen an die örtlichen Verhältnisse an, fügte weitere hinzu, legte neue Altersnormen fest und dehnte die obere Altersgrenze des Testbereichs von Jugendlichen bis zu »älteren Erwachsenen« aus. Terman gab seiner überarbeiteten Version den Namen, den sie auch heute noch trägt: Stanford-Binet-Intelligenztest. Aus diesen Tests leitete der deutsche Psychologe William Stern den berühmten Intelligenzquotienten oder IQ ab. Der IQ war einfach das Intelligenzalter eines Menschen geteilt durch sein Lebensalter und multipliziert mit 100 (um 2 Kommastellen loszuwerden):
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Die geniale Idee
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Kapitel 11 · Intelligenz
11.2.2 Eignungstest (aptitude test): Test, der die künftig zu erwartende Leistung eines Menschen vorhersagen soll; Eignung ist die Fähigkeit zu lernen. Leistungstest (achievement test): Test, mit dem erfasst werden soll, was eine Person in einem bestimmten Bereich gelernt hat. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R): in Deutschland am häufigsten verwendeter Intelligenztest, zu dem Untertests gehören, die zu einem Verbalteil und einem Handlungsteil (nonverbal) zusammengefasst sind.
11 . Abb. 11.3. Nahe Verwandte: Begabungs- und Intelligenzwerte Ein Streudiagramm veranschaulicht den engen Zusammenhang zwischen Intelligenzwerten und den Werten aus dem Verbalteil und dem quantitativen Teil des SAT. (Aus Frey u. Detterman 2004)
Moderne Tests der geistigen Fähigkeiten
Ziel 9: Unterscheiden Sie zwischen Eignungs- und Leistungstests, und beschreiben Sie moderne Tests für geistige Fähigkeiten wie z. B. den HAWIE-R.
Bis zu diesem Punkt in Ihrem Leben haben Sie bestimmt schon Dutzende von Tests mitgemacht, bei denen Ihre Fähigkeiten geprüft wurden: Schulreife- und Schulleistungstests, bei denen grundlegende Lese- und Rechenkenntnisse getestet werden, Abschlussprüfungen am Ende eines Seminars, Intelligenztests, die Fahrprüfung und eventuell Eingangstests für Studienanfänger, um nur ein paar zu nennen. Die Psychologen bezeichnen diese Tests entweder als Eignungstests, deren Ziel es ist, unsere zukünftige Lernfähigkeit in einem neuen Gebiet vorherzusagen, oder als Leistungstests, die darauf angelegt sind, das wiederzugeben, was wir bisher an Wissen und Fähigkeiten erworben haben. So ist also ein Eingangstest für Studienanfänger, mit dem Ihre Fähigkeit zum Studieren dieses Faches vorhergesagt werden soll, ein Eignungstest, oder wie es Gardner (1999) nannte, ein nur »wenig verschleierter Intelligenztest«. Tatsächlich berichten Frey u. Detterman (2004), dass die Gesamttestwerte für den US-amerikanischen SAT (Scholastic Assessment Test, früher als U.S. Scholastic Aptitude Test bezeichnet) mit den allgemeinen Intelligenzwerten in einer landesweiten Stichprobe von 14- bis 21-Jährigen zu +0,82 korrelierten (. Abb. 11.3). Die Prüfungen an der Universität, mit denen geprüft werden soll, was Sie in einer Vorlesung gelernt haben, sind dagegen Leistungstests. Heutzutage sind die Grenzen zwischen Eignungs- und Leistungstests häufig verschwommen. So beeinflusst beispielsweise der bisher erworbene Wortschatz den Testwert bei den meisten Eignungstests. Und umgekehrt beeinflussen die Lernfähigkeit und die Fähigkeit, Prüfungen abzulegen, die Noten, die man bei Leistungstests erreicht. Bei den meisten Tests, ob sie nun als Eignungs- oder als Leistungstest bezeichnet werden, werden sowohl die Fähigkeit selbst als auch ihre Entwicklung bewertet. Praktisch gesehen sagen allerdings Eignungstests die künftig zu erwartende Leistung voraus, während Leistungstests die derzeitige Leistung erfassen. Der am häufigsten in den USA – und auch in Deutschland – eingesetzte Intelligenztest ist die »Wechsler Adult Intelligence Scale« (WAIS) bzw. der »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene« (HAWIE bzw. seit 1991 HAWIE-R; Tewes 1994), der von dem Psychologen David Wechsler stammt. Als 6-Jähriger kam David Wechsler aus Rumänien in die USA und gehörte zu den osteuropäischen Einwanderern im frühen 20. Jahrhundert, die den Stanford-Binet-Test absolvieren mussten und die von einigen Amerikanern für schwachsinnig gehalten wurden. Viele
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Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber.
11.2 · Intelligenzmessung
. Abb. 11.4. Beispiel-Items aus den Untertests des HAWIE-R (Tewes 1994)
Jahre später entwickelte Wechsler, zu diesem Zeitpunkt bereits Psychologe, das, was heute der am häufigsten eingesetzte Intelligenztest ist, die Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS). Im Anschluss an die WAIS entwickelte er einen ähnlichen Test für Schulkinder, die »Wechsler Intelligence Scale for Children« (WISC; dtsch. »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder«, HAWIK-III; Tewes et al. 1999) und später auch noch einen speziellen Test für Vorschulkinder. Wie in . Abb. 11.4 dargestellt, besteht der WAIS bzw. HAWIE-R aus 11 Untertests. Der Test bietet nicht nur die Möglichkeit zur Feststellung eines allgemeinen Intelligenzwertes wie der Stanford-Binet-Test, sondern er liefert zudem auch noch getrennte Werte für verbales Verständnis, Auffassungsvermögen, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Große Differenzen zwischen diesen Werten deuten auf mögliche Lernschwierigkeiten oder Hirnschädigungen hin. Beispielsweise kann ein Wert für verbales Verständnis, der weit unter den anderen Werten derselben Person liegt, auf eine Lese- oder Sprachschwäche hindeuten. Diese Tests liefern außerdem Hinweise auf die kognitiven Stärken, auf denen ein Lehrer oder ein Arbeitgeber aufbauen kann.
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Kapitel 11 · Intelligenz
11.2.3
Prinzipien des Testaufbaus
Intelligenztests müssen normiert werden und – wie alle psychologischen Tests – die drei Hauptgütekriterien erfüllen: Sie müssen normiert, reliabel und valide sein. Der Stanford-Binet-Test und die Wechsler-Intelligenztests erfüllen diese Anforderungen.
Normierung Ziel 10: Erörtern Sie, welche Bedeutung es hat, psychologische Tests zu normieren, und beschreiben Sie die Verteilung der Werte unter einer Glockenkurve (Normalverteilung).
Normierung (standardization): Festlegung sinnvoller Werte durch den Vergleich mit den Werten einer zuvor getesteten Normierungsstichprobe; auch Eichung oder Standardisierung genannt. Normalverteilung (normal curve): symmetrische, glockenförmige Kurve, mit der die Verteilung vieler körperlicher und psychischer Merkmale beschrieben wird. Die meisten Werte liegen im Bereich unmittelbar links und rechts des Durchschnitts. Je weiter man sich zu den Extremen hin bewegt, desto weniger Werte findet man.
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. Abb. 11.5. Normalverteilung Die bei einem Eignungstest erzielten Werte haben die Tendenz, eine glockenförmige Normalverteilung zu bilden. Bei den Wechsler-Intelligenztests etwa ist der Mittelwert 100
Die Anzahl der richtig beantworteten Fragen bei einem Intelligenztest allein sagt uns im Prinzip fast noch nichts. Um die Leistung einer bestimmten Person einschätzen zu können, brauchen wir als Vergleichsbasis die Leistungen anderer Personen. Um sinnvolle Vergleiche anstellen zu können, wird deshalb der Test zunächst einer repräsentativen Stichprobe vorgegeben, die als Standardisierungs- oder Normierungsstichprobe bezeichnet wird. Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Stichprobe werden Standard- bzw. Normwerte errechnet, mit denen die Ergebnisse einzelner Testpersonen dann verglichen werden können. Erinnern Sie sich noch daran, dass Lewis Terman und seine Mitarbeiter der Meinung waren, die für die Bevölkerung von Paris entwickelten Testitems stellten keinen befriedigenden Standard dar, um Amerikaner zu bewerten? Sie überarbeiteten den Test und eichten die neue Version erneut, indem sie 2300 in den USA geborene, weiße Amerikaner mit sozioökonomisch unterschiedlichem Hintergrund den Test machen ließen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sie damals diese Normwerte dazu verwendeten, um nichtweiße Amerikaner und Gruppen von Einwanderern damit zu vergleichen (Van Leeuwen 1982). Dieser Vorgang der Festlegung von normierten Vergleichswerten anhand einer zuvor getesteten Gruppe wird als Normierung bezeichnet. Standardisierte Testergebnisse ergeben in der Regel eine Normalverteilung, d. h. ein glockenförmiges Gesamtbild aus Werten (. Abb. 11.5). Unabhängig davon, was wir messen – Größe, Gewicht oder geistige Fähigkeiten von Menschen –, bilden die Werte häufig eine in etwa symmetrische, glockenförmige Verteilung, die sog. Gauß’sche Normalverteilung, die sich um den Mittelwert anordnet. Bei einem Intelligenztest ist dieser Mittelwert 100. Je weiter wir uns vom Durchschnitt wegbewegen (in beide Richtungen), desto weniger Testpersonen finden wir. In jeder Altersgruppe kann mit Hilfe des Stanford-Binet- und der Wechsler-Tests jeder Person ein Wert zugeordnet werden, je nachdem wie weit deren Leistung nach oben oder nach unten vom Durchschnitt abweicht. . Abb. 11.5 zeigt, dass nur 2% aller Testteilnehmer einen deutlich höheren Leistungswert erreichen als der Durchschnitt (was einem Intelligenzquotienten von über 130 entspricht). Ein Testrohwert, der im Gegensatz dazu unter dem Wert liegt, den 98% aller Menschen erreichen, wird mit einem Intelligenzquotienten von 70 gleichgesetzt.
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. Abb. 11.6. Werden wir klüger? In jedem Land, in dem Untersuchungen durchgeführt wurden, haben sich die bei Intelligenztests erzielten Werte immer mehr verbessert, wie hier aus der Ergebniskurve von amerikanischen Wechslerund Stanford-Binet- Tests zwischen den Jahren 1918 und 1989 abzulesen ist. In Großbritannien haben die Testwerte seit 1942 um 27 Punkte zugenommen. In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Entwicklung. (Aus Hogan 1995)
Um den Durchschnittswert bei 100 zu halten, werden sowohl der Stanford-Binet-Test als auch die Wechsler-Tests in periodischen Abständen immer wieder neu normiert und in revidierten Fassungen herausgebracht (z. B. WAIS-R oder HAWIE-R). Wenn Sie beispielsweise vor kurzem erst den HAWIE-R in seiner 2. Auflage absolviert haben, so wurde Ihre Leistung mit einer repräsentativen Standardisierungsstichpobe aus dem Jahre 1991 verglichen und nicht mit der ersten deutschen Standardisierungsstichprobe, die 1956 untersucht worden war. Was würde sich wohl Ihrer Meinung nach ergeben, wenn Sie die Ergebnisse der jüngsten Standardisierungsstichprobe mit der aus den 50er Jahren verglichen: steigende oder fallende Werte? Verblüffenderweise haben sich die Intelligenztestwerte verbessert. Dieses weltweite Phänomen wird zu Ehren des neuseeländischen Forschers James Flynn (1987, 1999), der als Erster die Größe dieser Veränderung berechnet hat, Flynn-Effekt genannt. Wie aus . Abb. 11.6 ersichtlich wird, lag der durchschnittliche IQ in den USA vor 80 Jahren – nach dem heutigen Standard – bei nur 76! Eine ähnliche Leistungssteigerung wurde in 20 Ländern beobachtet; und dies reichte von Kanada bis ins ländliche Australien (Daley et al. 2003). Obwohl der Anstieg in den 90er Jahren etwas abflachte und jetzt vielleicht zum Stillstand gekommen ist, scheint die Zunahme real zu sein und ist inzwischen weithin als wichtiges Phänomen anerkannt (Sundet et al. 2004; Teasdale u. Owen 2000). Die Ursache des Flynn-Effekts ist bislang nicht bekannt (Neisser 1997a, 1998). Liegt es vielleicht an der größeren Vertrautheit der Testpersonen mit Intelligenztests? (Aber die Zunahme setzte bereits vor dem weit verbreiteten Einsatz dieser Tests ein.) Oder liegt es an der besseren Ernährung? Wie durch die Ernährungserklärung vorhergesagt, sind die Menschen nicht nur klüger, sondern auch größer geworden. Zudem war der Zuwachs im unteren Bereich des sozioökonomischen Niveaus am größten, der am meisten von der verbesserten Ernährungslage profitierte (Colom et al. 2005). Oder geht der Flynn-Effekt auf die bessere Schulausbildung oder das stimulierendere Umfeld zurück, die bessere medizinische Versorgung der Kinder oder die kleineren Familien, die es den Eltern ermöglichen, den Kindern und ihren Bedürfnissen mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Unabhängig davon, welche Kombination von Faktoren das Ansteigen der Intelligenztestwerte erklärt, widerspricht dieses Phänomen doch zumindest den Bedenken mancher Vertreter der Theorie des erbbedingten menschlichen Verhaltens. Sie hatten vorausgesagt, dass im 20. Jahrhundert durch die höheren Geburtenzahlen in den sozialen Gruppen mit niedrigen Intelligenzwerten das Niveau der menschlichen Intelligenzwerte insgesamt abfallen würde. Bei der Suche nach einer Erklärung für steigende Testwerte und bei der Berücksichtigung einer globalen Vermischung spekulierte ein Wissenschaftler sogar über den Einfluss eines genetischen Phänomens, das mit der »hybriden Vitalität« vergleichbar ist. Dazu kommt es in der Landwirtschaft, wenn man durch Rassenkreuzung Vieh oder Mais hervorbringt, die den elterlichen Tieren oder Pflanzen überlegen sind (Mingroni 2004).
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Kapitel 11 · Intelligenz
Reliabilität (Zuverlässigkeit) Ziel 11: Erklären Sie, was es bedeutet, wenn man sagt, ein Test sei reliabel. Reliabilität oder Zuverlässigkeit (reliability): Maß für die Zuverlässigkeit der Daten, die ein Test liefert, wird anhand der Übereinstimmung der Werte aus zwei getrennt durchgeführten Hälften des Tests, aus unterschiedlichen Formen des Tests oder bei wiederholter Durchführung des Tests ermittelt. Validität oder Gültigkeit (validity): gibt an, in welchem Ausmaß ein Test das misst oder vorhersagt, was er vorhersagen soll (7 Inhaltsvalidität und Vorhersagevalidität). Inhaltsvalidität (content validity): Ausmaß, in dem ein Test das zu testende Verhalten tatsächlich stichprobenartig erfasst (wie bei einer Fahrprüfung stichprobenartig echte Aufgaben aus alltäglichen Fahrsituationen geprüft werden). Kriterium (criterion): Verhalten (z. B. tatsächliches Wahlverhalten), das mit einem Test (z. B. Fragen zur Parteienpräferenz) korreliert sein soll; bei hoher Korrelation besitzt der Test Kriteriumsvalidität. Vorhersagevalidität (predictive validity): Ausmaß, in dem ein Test das Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll. Der Erfolg wird durch Berechnung der Korrelation zwischen den Testwerten und dem kriteriumsrelevanten Verhalten erfasst.
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Auch wenn Ihre Testwerte mit den Werten einer Standardisierungsstichprobe verglichen werden, sagt uns das noch nicht viel, wenn der Test keine ausreichende Reliabilität hat. Ein guter Test muss konsistente Daten liefern, auf die man sich verlassen kann. Um die Zuverlässigkeit (= Reliabilität) eines Tests zu überprüfen, testen die Forscher in einer Stichprobe dieselben Personen noch einmal mit demselben Test oder einer anderen Form desselben Tests. Wenn die Werte im Großen und Ganzen übereinstimmen oder korrelieren, gilt der Test als verlässlich. Eine andere Alternative besteht darin, den Test in 2 Hälften aufzuteilen, d. h. zu sehen, ob die Werte, die bei den geraden Testfragen erzielt werden, mit denen der ungeraden übereinstimmen (»Odd-even-Methode«). Setzt man voraus, dass sich unsere zugrunde liegende Fähigkeit zwischen 2 aufeinander folgenden Tests nicht verändert hat, wird angenommen, dass jeder Unterschied zwischen den Werten durch eine »Fehlervarianz« zustande kommt, die auf einen glücklichen Zufall, auf Müdigkeit oder Angst zurückzuführen ist. Je höher die Korrelation zwischen dem Test und dem Wiederholungstest (Test-Retest-Reliabilität) oder zwischen den beiden Hälften desselben Tests ist (Split-half-Reliabilität), desto höher ist seine Reliabilität (außerdem kann die Reliabilität noch über Paralleltests und die interne Konsistenz bestimmt werden). Einige Tests, von denen bisher die Rede war – der Stanford-Binet-Test und die Wechsler-Tests –, haben jeweils eine Reliabilität von etwa +0,9, was sehr hoch ist. Wenn jemand einen Test zum zweiten Mal macht, liegen die erzielten Ergebnisse meist nahe beim ersten Wert.
Validität (Gültigkeit) Ziel 12: Erklären Sie, was es bedeutet, wenn man sagt, ein Test sei valide, und beschreiben Sie 2 Arten von Validität.
Eine hohe Reliabilität bzw. Zuverlässigkeit eines Tests ist noch keine Garantie für seine Validität oder Gültigkeit, d. h. das Ausmaß, in dem der Test tatsächlich das misst oder vorhersagt, was er messen oder vorhersagen soll. Wenn Sie eine sehr exakte Vorrichtung verwenden, um die Größe des Kopfes zu messen, hat Ihre Größenangabe zwar eine hohe Reliabilität. Falls Sie damit das Ziel verfolgen, die Intelligenz zu erfassen, so dürfte die Validität ziemlich niedrig ausfallen. Eine hohe Reliabilität ist also nur eine notwendige Bedingung für eine hohe Validität, sie garantiert sie jedoch nicht. Für manche Tests reicht es aus, wenn sie Inhaltsvalidität haben; dies bedeutet, dass durch die verwendeten Items das relevante Verhalten überprüft wird. Die praktische Fahrprüfung für den Führerscheinerwerb besitzt Inhaltsvalidität, weil sie aus verschiedenen Stichproben von Aufgaben besteht, die der Fahrer routinemäßig meistern muss. Auch Prüfungen am Ende eines Kurses haben Inhaltsvalidität, wenn mit ihnen bewertet wird, wie viel Wissen man über eine repräsentative Stichprobe des Kursmaterials hat. Andere Tests werden in Hinblick auf den Grad der Übereinstimmung mit einem bestimmten Kriterium bewertet, einer unabhängigen Messgröße für das, was der Test erfassen soll (Kriteriumsvalidität). Bei manchen Tests ist das Kriterium die künftige Leistung. Beispielsweise müssen Eignungstests Vorhersagevalidität besitzen; dies bedeutet, dass sie die künftige Leistung tatsächlich vorhersagen. Haben allgemeine Eignungstests eine genauso hohe Vorhersagevalidität, wie sie reliabel sind? Kritiker beantworten diese Frage gern mit einem klaren Nein. Der Vorhersagewert eines Eignungstests ist zwar in den ersten Schuljahren ziemlich hoch, nimmt jedoch später ab. So haben schulische Eignungstestwerte einen relativ guten Vorhersagewert für Leistungen bei Kindern von 6 bis 12, bei denen die Korrelation zwischen den Intelligenzwerten und der Schulleistung bei etwa +0,6 liegt (Jensen 1980). Der SAT (»Scholastic Assessment Test«), der in den USA als Eingangsprüfung für alle Studienanfänger am College eingesetzt wird, sagt hingegen die Leistung im 1. Studienjahr weniger gut voraus. Hier liegt die Korrelation bei weniger als +0,5 (Willingham et al. 1990). Und wenn wir uns schließlich den U.S. GRE (»Graduate Record Examination«) anschauen, der eine ähnliche Eingangsprüfung wie der SAT für Bewerber an Graduate Schools (Postgraduiertenabteilungen, an denen man die Master- und die Doktorprüfung ablegen kann) darstellt, liegt die Korrelation zu den später erzielten Leistungen nur noch bei bescheidenen +0,3 (GRE 1990).
489 11.2 · Intelligenzmessung
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. Abb. 11.7. Abnehmende Vorhersagekraft Stellen wir uns eine Korrelation zwischen dem Körpergewicht von American-Football-Spielern und ihrem Erfolg auf dem Spielfeld vor. Achten Sie darauf, wie unbedeutend diese Beziehung wird, wenn viele Spieler im selben eng begrenzten Bereich zwischen 120 und 140 kg liegen. Je mehr sich die Bandbreite der beobachteten Daten einschränkt, desto stärker nimmt der Vorhersagewert dieser Daten ab
Woran liegt es, dass der Vorhersagewert der bei Eignungstests erzielten Werte abnimmt, je weiter die Schüler und Studierenden auf der Ausbildungsleiter nach oben klettern? Schauen wir uns eine parallele Situation an: Bei allen Spielern von American Football besteht normalerweise eine Korrelation zwischen Körpergewicht und Erfolg. Ein Spieler, der 140 kg wiegt, kann einen 90 kg schweren Gegner leicht umrennen. Doch im engen Bereich zwischen 120 und 140 kg, der bei professionellen Football-Spielern die Regel ist, wird die Korrelation zwischen Gewicht und Erfolg so gering, dass man sie vernachlässigen kann (. Abb. 11.7). Je enger die Bandbreite des Gewichts, desto niedriger wird auch der Vorhersagewert des Körpergewichts. Wenn eine Eliteuniversität nur Studierende zulässt, die sehr hohe Eignungstestwerte aufweisen, haben diese Werte keinen großen Vorhersagewert. Das gilt auch dann noch, wenn der Test mit einer breiter gestreuten Gruppe von Studierenden eine ausgezeichnete Vorhersagevalidität besitzt. Wenn wir also einen Test mit einer breit gestreuten Gruppe von unterschiedlichen Menschen validieren, ihn dann aber auf eine eng begrenzte Gruppe anwenden, verliert er viel von seiner Vorhersagevalidität. Lernziele Abschnitt 11.2 Intelligenzmessung Ziel 8: Definieren Sie, was ein Intelligenztest ist, und erörtern Sie die Geschichte der Intelligenztests. Psychologen definieren den Intelligenztest als eine Methode zur Erfassung der geistigen Begabungen eines Individuums und vergleichen diese Begabungen anhand numerischer Werte mit denen anderer Personen. Vor mehr als einem Jahrhundert initiierten Alfred Binet und sein Mitarbeiter Théodore Simon die Bewegung zum modernen Testen der Intelligenz. Dies geschah, indem sie Fragen entwickelten, die dazu beitrugen, den künftigen Fortschritt von Kindern im Schulsystem von Paris vorherzusagen. Lewis Terman von der Stanford University überarbeitete Binets Test, um ihn in den USA einzusetzen. Terman war der Auffassung, dass sein Stanford-Binet-Intelligenztest Menschen zu angemessenen beruflichen Möglichkeiten verhelfen könne. Doch stärker noch als Binet glaubte er, Intelligenz würde vererbt. Während des frühen 20. Jahrhunderts wurden Intelligenztests bedauerlicherweise manchmal dazu eingesetzt, die angeborene Unterlegenheit bestimmter ethnischer und Immigrantengruppen zu »belegen«. Intelligenztestwerte wurden als
Intelligenzquotient (IQ) ausgedrückt und berechnet, indem man das Intelligenzalter durch das Lebensalter teilte und das Ergebnis mit 100 multiplizierte. Ziel 9: Unterscheiden Sie zwischen Eignungs- und Leistungstests, und beschreiben Sie moderne Tests für geistige Fähigkeiten wie z. B. den HAWIE-R. Eignungstests werden entwickelt, um vorherzusagen, was eine Person lernen kann. Leistungstests werden entwickelt, um zu erfassen, was eine Person gelernt hat. Der WAIS (Wechsler Adult Intelligence Scale, dt. Version HAWIE-R, Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene – Revision 1991), ein Eignungstest, ist der am stärksten verbreitete Intelligenztest für Erwachsene. Zwei ähnliche Wechsler-Tests wurden entwickelt, um die Intelligenz bei Vorschulkindern und bei älteren Kindern zu testen. Der SAT ist ein Eignungstest, und in einer Studie korrelierten die SAT-Gesamtwerte und die Werte der Probanden bei einem Test der allgemeinen Intelligenz auf einem sehr hohen Niveau: +0,82. 6
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Kapitel 11 · Intelligenz
Ziel 10: Erörtern Sie, welche Bedeutung es hat, psychologische Tests zu normieren, und beschreiben Sie die Verteilung der Werte unter einer Glockenkurve (Normalverteilung). Normierung eines Tests bedeutet, dass der Test einer repräsentativen Stichprobe aus der Population der späteren Probanden vorgelegt wird, um eine Grundlage für sinnvolle Testwertvergleiche zu schaffen. Die Verteilung vieler körperlicher und psychologischer Merkmale bildet eine Glockenkurve (Normalverteilung) – eine in etwa symmetrische Kurve, bei der sich die meisten Werte um den Durchschnitt gruppieren, zu den Extremwerten hin werden es immer weniger. Intelligenztestwerte bilden eine solche Kurve; doch in den letzten 6 Jahrzehnten sind die Durchschnittswerte um 27 Punkte angestiegen – ein Phänomen, das als FlynnEffekt bekannt ist. Ziel 11: Erklären Sie, was es bedeutet, wenn man sagt, ein Test sei reliabel. Ein Test ist reliabel, wenn mehrere Testungen zu übereinstimmenden Ergebnissen führen. Um die Reliabilität zu überprüfen, vergleichen die
11.3
Forscher die Übereinstimmung (Konsistenz) der Werte der Probanden für zwei Hälften des Tests, also andere Formen desselben Tests, oder sie testen die Probanden erneut mit demselben Test. Ein Test kann reliabel sein, aber nicht valide. Ziel 12: Erklären Sie, was es bedeutet, wenn man sagt, ein Test sei valide, und beschreiben Sie 2 Arten von Validität. Ein valider Test misst oder sagt vorher, was er messen oder vorhersagen soll. Inhaltsvalidität ist das Ausmaß, in dem ein Test repräsentativ für das entsprechende Verhalten ist (wie etwa eine Fahrprüfung die Fähigkeit zum Autofahren erfasst). Vorhersagevalidität ist das Ausmaß, in dem der Test ein Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll (Eignungstests haben eine Vorhersagekraft, wenn sich mit ihnen künftige Leistungen vorhersagen lassen). > Denken Sie weiter: Was – außer Ihren Fähigkeiten – beeinflusst sonst noch Ihren Erfolg an der Universität?
Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede
Wir sind heute in der Lage, einige Jahrhunderte alte Fragen über die Stabilität der Intelligenz im Laufe eines Lebens (intraindividuelle Veränderungen), über Extremfälle der Intelligenz (interindividuelle Unterschiede) und über den Zusammenhang zwischen Kreativität und Intelligenz anzugehen.
11.3.1
11
Stabilität oder Veränderung?
Ziel 13: Beschreiben Sie die Stabilität der Intelligenztestwerte über die Lebensspanne hinweg.
Bleiben die Intelligenzwerte von Menschen gleich, wenn man sie im Laufe ihres Lebens immer wieder einen Test absolvieren lässt? In 7 Kap. 4 haben wir uns mit der Stabilität geistiger Fähigkeiten im vorgerückten Alter beschäftigt. Wie aber steht es mit der Stabilität von Intelligenzwerten in jungen Jahren? Entwicklungspsychologen haben bei ihrer Suche nach Indikatoren für die Intelligenzentwicklung von Kleinkindern nahezu alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Da man mit Babys und Kleinkindern nicht sprechen kann, haben sie alles gemessen, was sie beobachten konnten: vom Gewicht bei der Geburt über die Länge der dritten Zehe (ob diese länger ist als die zweite) bis hin zum Alter, in dem sie sitzen lernen. Keiner dieser Messwerte hat sich jedoch in irgendeiner Weise als nützlich für die Vorhersage der Intelligenzwerte im fortgeschrittenen Alter herausgestellt (Bell u. Waldrop 1989; Broman 1989). Vielleicht liegt es daran, wie die Entwicklungspsychologin Bayley bereits 1949 vermutete, dass wir noch nicht die richtigen Tests gefunden haben. Ihrer Meinung nach besteht durchaus die Möglichkeit, dass eines Tages Verhaltensweisen von Kleinkindern gefunden werden, die für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten von grundlegendem Interesse sind und mit denen sich die spätere Intelligenz voraussagen lässt. Manche 2–7 Monate alte Säuglinge langweilt ein Bild schnell, und sie ziehen es vor, sich ein neues Bild anzuschauen, wenn ihnen die Möglichkeit dazu geboten wird. In einigen Studien kam heraus, dass diese Säuglinge bis zu 11 Jahre später noch bessere Testergebnisse im Hinblick auf Verarbeitungsgeschwindigkeit und Intelligenz erzielen; aber der Vorhersagewert ist nicht sehr genau (Kavšek 2004; Tasbihsazan et al. 2003). Frisch gebackene Eltern, die sich Gedanken über die Intelligenz ihres Kindes machen und es ängstlich mit anderen vergleichen, können sich entspannt zurücklehnen.
491 11.3 · Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede
11
! Außer bei extrem beeinträchtigten und bei sehr frühreifen Kindern lassen sich die künftigen Fähigkeiten eines Kindes anhand von Beobachtungen und Intelligenztests vor dem Alter von 3 Jahren nur schlecht vorhersagen (Humphreys u. Davey 1988).
Beispielsweise ist es nicht besonders wahrscheinlich, dass Kinder, die früh sprechen (z. B. mit 20 Monaten schon ganze Sätze wie normalerweise 3-Jährige), im Alter von 4 1/2 Jahren schon lesen (Crain-Thoreson u. Dale 1992). (Ein besserer Prädiktor für frühes Lesen ist die Tatsache, dass die Eltern dem Kind viele Geschichten vorgelesen haben.) Wie schon an früherer Stelle erwähnt, brauchte sogar Albert Einstein lange, um sprechen zu lernen (Quasha 1980). Ab dem Alter von 4 Jahren fängt die Leistung von Kindern bei Intelligenztests allerdings bereits an, erste Anhaltspunkte auf ihre Leistungswerte als Jugendliche und Erwachsene zu liefern. Darüber hinaus gilt als erwiesen, dass Jugendliche mit hohen Intelligenztestwerten tendenziell frühe Leser waren. In einer Studie wurden beispielsweise die Eltern von 187 amerikanischen Siebt- und Achtklässlern befragt, die einen Eignungstest für das College als Teil einer Hochbegabtenauslese abgelegt und dabei beträchtlich besser abgeschnitten hatten als die meisten Schüler höherer Klassen der High School. Wenn man dem Gedächtnis ihrer Eltern trauen darf, hatten mehr als die Hälfte dieser frühreifen Jugendlichen bereits im Alter von 4 Jahren mit dem Lesen begonnen, und mehr als 80% lasen bereits im Alter von 5 Jahren (Van Tassel-Baska 1983). Es überrascht deshalb nicht, dass Intelligenztests bei 5-Jährigen bereits erste Hinweise auf den späteren Schulerfolg liefern (Tramontana et al. 1988). Nach dem 7. Lebensjahr bleiben Intelligenztestwerte zwar nicht unveränderlich, stabilisieren sich jedoch auf einem gleichbleibenden Niveau (Bloom 1964). So nimmt also die Konsistenz der Testwerte über einen längeren Zeitraum mit dem Alter des Kindes zu. Die bemerkenswerte Beständigkeit dieser Testwerte in Eignungstests im späten Jugendalter zeigt sich in einer Studie des amerikanischen Educational Testing Service an 23.000 Studierenden, die zunächst den SAT und später den GRE durchführen mussten (Angoff 1988). In beiden Tests korrelierten die verbalen Testwerte nur leicht mit den Mathematiktestwerten; dies zeigt, dass diese beiden Begabungen deutlich voneinander unterschieden sind. Aber die SAT-Werte für den verbalen Testteil korrelierten zu +0,86 mit den verbalen Testteilen des GRE, der 4 oder 5 Jahre früher durchgeführt worden war. Eine ebenso erstaunlich hohe Korrelation von +0,86 gab es für die beiden Mathematiktests. Wenn man den zeitlichen Abstand der Messungen und die unterschiedlichen Bildungserfahrungen dieser 23.000 Studierenden berücksichtigt, ist die Stabilität ihrer Werte in den Eignungstests bemerkenswert. Deary et al. (2004) haben kürzlich einen Rekord für Langzeit-Follow-up-Studien aufgestellt. Der Intelligenztest, den die 11 Jahre alten Schotten 1932 durchführen mussten, wurde den 542 Anfang des 21. Jahrhundert noch überlebenden nahezu 80-Jährigen erneut vorgelegt. Die Korrelation zwischen den beiden Gruppen von Werten – immerhin nach fast 70 Jahren recht unterschiedlicher Lebenserfahrungen – war beeindruckend (. Abb. 11.8). Die 11-Jährigen mit hohen Werten waren auch mit 77 Jahren tendenziell noch eher in der Lage, unabhängig zu leben und sich selbst zu versorgen und hatten mit geringerer Wahrscheinlichkeit, eine Altersdemenz vom Alzheimertyp (Starr et al. 2000; Whalley et al. 2000). Eine weitere Studie mit 93 Nonnen bestätigte, dass diejenigen, die weniger sprachliche Begabung bei Aufsätzen an den Tag gelegt hatten, als sie dem Orden als Jugendliche beitraten, später bzw. im Alter von über 75 Jahren, ein höheres Risiko für eine Alzheimer-Erkrankung hatten (Snowdon et al. 1996).
SAT: »Scholostic Assessment test«, in den USA Eingangsprüfung für das College GRE: »Graduate Record Exammatiance«, in den USA Eingangsprüfung für Graduate Schools, an denen man einen Master-Studiengang belegen kann
. Abb. 11.8. Intelligenz ist etwas Dauerhaftes Als Deary et al. (2004) 80-jährigen Schotten einen Intelligenztest vorlegten, den sie bereits als 11Jährige einmal absolviert hatten, korrelierten ihre Testwerte über 7 Jahrzehnte hinweg mit +0,66
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Kapitel 11 · Intelligenz
11.3.2
Intelligenzextreme
Ziel 14: Erörtern Sie die beiden Extrembereiche bei der Normalverteilung der Intelligenz.
Um einen Eindruck von der Validität und Bedeutung eines Tests zu bekommen, können die Werte von Menschen verglichen werden, die in den beiden Extrembereichen der Normalverteilung zu finden sind. Zwischen diesen beiden Gruppen müsste es einen deutlichen Unterschied geben. Und das ist auch der Fall.
Greenlar/The Image Works
Das untere Extrem
Ein junger Mann mit Down-Syndrom In der Vergangenheit wurden Menschen mit dieser Krankheit häufig in Heimen und Instituten untergebracht. Heute können viele Menschen mit DownSyndrom mit Hilfe einer fürsorglichen Familienumgebung und einer speziell auf sie zugeschnittenen Schulbildung lernen, für sich selbst zu sorgen und eine Stelle zu bekommen
Mentale Retardierung (mental retardation): Verzögerung der intellektuellen Entwicklung oder Beschränkung der geistigen Fähigkeiten, gekennzeichnet durch einen IQ von unter 70 und Schwierigkeiten, den Anforderungen des normalen Alltagslebens gerecht zu werden. Der Grad der Retardierung reicht von leichter bis schwerster Retardierung.
11 Trisomie 21 oder Down-Syndrom (Down syndrome): Syndrom mit mentaler Retardierung und einer Reihe damit zusammenhängender körperlicher Merkmale, die durch ein zusätzliches Chromosom in der Erbanlage verursacht werden.
Am einen Ende der Normalverteilung findet sich die Gruppe, die bei den Intelligenztests Werte von 70 oder darunter erzielt. Um als mental retardiert oder geistig zurückgeblieben eingestuft zu werden, muss ein Kind sowohl einen niedrigen Testwert als auch Schwierigkeiten haben, im normalen Alltag ein selbstständiges Leben zu führen. Nur etwa 1% der Bevölkerung erfüllt beide Kriterien, wobei diese Gruppe zu zwei Dritteln aus Männern und zu einem Drittel aus Frauen besteht (American Psychiatric Association 1994). Wie aus . Tabelle 11.3 hervorgeht, können die meisten Personen mit mentaler Retardierung mit Hilfe und Unterstützung anderer Menschen ein normales Leben führen. Die mentale Retardierung hat manchmal bekannte körperliche Ursachen. Trisomie 21 (DownSyndrom) ist beispielsweise eine Krankheit mit geistiger Behinderung unterschiedlichen Ausmaßes, die durch ein zusätzliches Chromosom 21 in der Erbanlage der Person verursacht wird. Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte ist es zu einem vollständigen Umdenken in Bezug auf die Art und Weise gekommen, wie man sich am besten um geistig behinderte Menschen kümmern soll. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie zu Hause versorgt. Viele der am schwersten Behinderten starben, doch viele mit leichteren Formen der Retardierung fanden oft einen Platz zum Leben in ländlichen Gebieten. Im 20. Jahrhundert wurden viele geistig Behinderte in Institutionen abgeschoben, in denen man ihnen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Eltern wurde häufig geraten, sich von ihrem behinderten Kind zu trennen, bevor die Bindung zu stark würde. Auf schreckliche, menschenverachtende Weise wurden Behinderte vom nationalsozialistischen Regime in Deutschland behandelt. Hier erfolgte bis Anfang der 1940er Jahre im Rahmen eines als »Euthanasie« bezeichneten Programms zur »Ausmerzung« angeblich »lebensunwerten Lebens« die vorsätzliche, systematische Ermordung von Zehntausenden in Heimen untergebrachter Menschen, bis diese Aktionen aufgrund kirchlicher Proteste ausgesetzt wurden. . Tabelle 11.3. Einstufung der mentalen Retardierung gemäß DSM-IV (American Psychiatric Association 1994)
Grad
Ungefähre Intelligenztestwerte
Prozentsatz der retardierten Personen
Anpassung an die Anforderungen des Alltagslebens
Leicht
50–70
85%
Können schulische Fähigkeiten bis etwa zum Niveau der 6. Klasse lernen. Erwachsene können mit Unterstützung soziale und berufliche Fertigkeiten entwickeln, mit denen sie sich ihren eigenen Unterhalt verdienen
Mittelschwer
35–50
10%
Können schulische Fähigkeiten bis etwa zum Niveau der 2. Klasse lernen. Erwachsene können durch Arbeit in geschützten Werkstätten zum eigenen Lebensunterhalt beitragen
Schwer
20–35
3–4%
Können sprechen lernen und einfache Arbeitsabläufe unter aufmerksamer Aufsicht ausführen, sind jedoch gewöhnlich nicht in der Lage, von berufsbildenden Maßnahmen zu profitieren
Schwerst
Unter 20
1–2%
Brauchen ständige Hilfe und Aufsicht
Quelle: Reprinted with permission from the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, text revision. Copyright 2000 American Psychiatric Association.
493 11.3 · Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede
11
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es dann zur Normalisierung der Situation. Die behinderten Menschen wurden dazu ermutigt, in ihrer eigenen Umgebung so normal zu leben, wie es ihnen ihre körperlichen und geistigen Funktionen erlaubten. Kinder mit leichter Retardierung werden heutzutage in einer weniger restriktiven Umgebung erzogen, und viele von ihnen können integriert und zusammen mit nicht behinderten Kindern in normalen Klassen unterrichtet werden. Die meisten wachsen innerhalb ihrer eigenen Familien auf, ziehen dann in Einrichtungen mit betreutem Wohnen um, beispielsweise in ein Haus, in dem sie in einer Gruppe und mit Betreuern zusammenleben. Aus der Hoffnung auf ein glücklicheres und würdevolleres Leben wird oft Wirklichkeit. Aber wir sollten auch eine andere Ursache dafür berücksichtigen, dass es Menschen mit der Diagnose leichte Retardierung heute eher als vor vielen Jahrzehnten ermöglicht wird, als unabhängige Menschen zu leben. Sie sollten dabei bedenken, dass die Tests wegen des Flynn-Effekts in regelmäßigen Abständen immer wieder neu normiert worden sind. Wenn man das macht, verlieren die Personen, deren IQ bei 70 lag, etwa 6 IQ-Punkte, und die Anzahl der Menschen mit der Diagnose mentale Retardierung schnellt plötzlich in die Höhe (Kanaya et al. 2003). Zwei Menschen mit demselben Fähigkeitsniveau könnten jetzt, je nachdem, wann sie getestet wurden, unterschiedlich klassifiziert werden. Angesichts der neuen Normen wird mehr Menschen eine sonderpädagogische Betreuung und eine Rentenleistung wegen einer Intelligenzminderung ermöglicht; und in den Vereinigten Staaten (einem der wenigen Länder mit Todesstrafe) droht weniger Menschen die Exekution. (Das Oberste Gericht der USA hat 2002 verfügt, dass die Exekution von Menschen mit einer mentalen Retardierung »eine grausame und nicht übliche Bestrafung« darstellt.) Für Personen mit einem IQ von etwa 70 kann bei einem Intelligenztest viel auf dem Spiel stehen.
Das obere Extrem »Mitglied bei ›Mensa International‹ zu werden, bedeutet, dass du ein Genie bist. . . . Ich fand den beliebig festgelegten Grenzwert eines IQ von 132 für den Beitritt immer etwas problematisch. Bis ich eines Tages jemand mit einem IQ von 131 traf und der war, ehrlich gesagt, etwas langsam von Begriff.« Steve Martin (1997)
AP Photo/Anne Ryan
In einem berühmten Projekt, das Terman 1921 begann, wurden mehr als 1500 kalifornische Schulkinder mit einem IQ über 135 untersucht. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass geistig hochbegabte Kinder häufig sozial nicht angepasst seien, weil sie »in einer anderen Welt« lebten als ihre weniger begabten Klassenkameraden, waren die von Terman untersuchten Kinder – ebenso wie die in späteren Studien untersuchten – in der Regel gesund, gut angepasst und in der Schule ungewöhnlich erfolgreich (Lubinski u. Benbow 2000; Stanley 1997). Als sie im Laufe der darauf folgenden 70 Jahre noch einmal getestet wurden, hatten die meisten Personen in Termans Gruppe ein hohes Ausbildungsniveau erreicht (Austin et al. 2002; Holahan u. Sears 1995). In ihr befanden sich viele Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren, Wissenschaftler und Schriftsteller, aber keine Nobelpreisträger. Terman hatte sogar einen späteren Nobelpreisträger in Physik unter seinen Testpersonen gehabt, doch er hatte ihn ausgeschlossen, weil sein gemessener IQ nicht hoch genug war (Cassandro u. Simonton 2003). Es gibt immer wieder sog. »Wunderkinder« wie Jean Piaget, der sich im Alter von 7 Jahren in seiner Freizeit mit Vögeln, Fossilien und Maschinen beschäftigte, mit 15 begann, wissenschaftliche Artikel über Mollusken zu schreiben, und später dann zu einem der berühmtesten Entwicklungspsychologen des Jahrhunderts wurde (Hunt 1993). Studien zeigen, dass solche hochbegabten Kinder mit außerordentlichen schulischen Begabungen manchmal isolierter, introvertierter sind und in ihrer eigenen Welt leben (Winner 2000). Die meisten scheinen sich jedoch prächtig zu entwickeln und erfolgreich zu sein. Es gibt Kritiker, die viele der Annahmen der gegenwärtig beliebten Programme für das »begabte Kind« in Frage stellen, wie etwa die Überzeugung, dass nur 3–5% der Kinder hochbegabt sind und dass es sich auszahlt, diese wenigen herauszufinden und in spezielle Gruppen einzuteilen – sie in speziellen Klassen zusammenzufassen und ihnen eine besondere schulische Förderung zukommen zu lassen, die für die übrigen 95% nicht zur Verfügung steht. Kritiker merken an, dass es eventuell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führt, wenn man Schülerinnen und Schüler nach der Begabung in Gruppen aufteilt: Diejenigen, die man implizit als »nicht begabt« etikettiert, können dadurch dem Einfluss erliegen, tatsächlich so zu werden (Lipsey u. Wilson 1993; Slavin u. Braddock 1993). Wenn man Schülerinnen und Schülern mit geringeren Fähigkeiten die Möglichkeiten für eine reichhaltigere Bildung verwehrt, so kann sich der Leistungsunterschied zwischen den Fähigkeitsgruppen vergrößern und ihre soziale Isolierung von der anderen Gruppe verstärken – dies ist ein Grund dafür, dass es in japanischen und chinesischen Grundschulen keine Leistungsgruppen gibt (Carnegie 1989; Stevenson u. Lee 1990). Weil Jugend-
Extreme der Intelligenz Sho Nano spielte Mozart im Alter von 4 Jahren, er meisterte den SAT mit 8 und graduierte im Alter von 12 Jahren an der Loyola University mit Summa cum laude; dann begann er an der University of Chicago ein Doktorandenstudium für 2 Fächer
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Kapitel 11 · Intelligenz
»Alphakinder tragen Grau. Sie arbeiten viel mehr als wir, weil sie so schrecklich klug sind. Oh, wie froh bin ich, dass ich ein Beta bin und nicht so viel arbeiten muss! Wir Betas sind etwas viel Besseres als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm.« Aldous Huxley (»Schöne neue Welt«, 1932)
liche aus Minderheiten und aus unteren sozioökonomischen Schichten häufiger in Gruppen mit geringerer Leistung kommen, kann die Leistungsdifferenzierung Absonderung und Vorurteile fördern – das ist, so merken die Kritiker an, kaum eine vernünftige Vorbereitung auf die Arbeit und das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft. In Deutschland wird inzwischen durch spezielle »Hochbegabtenförderprogramme« auf die besonderen Bedürfnisse hochbegabter Kinder differenzierter eingegangen. Dabei wird Hochbegabung definiert als Disposition für herausragende Leistungen. Wichtig ist, zu beachten, dass die Grenzen zwischen überdurchschnittlicher Begabung, Hoch- und Höchstbegabung willkürliche, von Experten festgesetzte Größen sind. Was häufig vergessen wird, ist jedoch, dass sich Hochbegabung auch nur dann entwickeln kann, wenn das hochbegabte Kind von seiner Umwelt unterstützt wird und auch selbst beispielsweise über ausreichend Leistungsmotivation und Stressbewältigungskompetenz verfügt, um seine Fähigkeiten sinnvoll einsetzen zu können (Heller 2000; Rost 2000). Gleichgültig, ob man nun Kritiker oder Befürworter der Hochbegabtenförderung ist, für das gesamte Intelligenzspektrum gilt: Kinder haben unterschiedliche Begabungen. Manche sind besonders gut in Mathematik, andere im sprachlichen Ausdruck, wieder andere in Kunst und wieder andere in sozialen Führungsrollen. Wird bei der Schulbildung der Kinder unterstellt, alle seien gleich, so ist das genauso naiv wie die Annahme, Begabung sei etwas, was man wie blaue Augen entweder hat oder nicht. Wenn man ihnen einen geeigneten Entwicklungsspielraum gewährt, der ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entspricht, lässt sich für alle ein hohes Leistungsniveau entsprechend der Begabung jedes einzelnen Kindes erreichen (Colangelo et al. 2004; Lubinski u. Benbow 2000; Sternberg u. Grigorenko 2000).
Lernziele Abschnitt 11.3 Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede
11
Ziel 13: Beschreiben Sie die Stabilität der Intelligenztestwerte über die Lebensspanne hinweg. Die Stabilität der Intelligenztestwerte nimmt mit dem Alter zu. Im Alter von 4 Jahren schwanken die Testwerte, doch man kann allmählich die Testwerte im Jugend- und Erwachsenenalter vorhersagen. Etwa im Alter von 7 Jahren werden die Testwerte recht stabil und konsistent. Ziel 14: Erörtern Sie die beiden Extrembereiche bei der Normalverteilung der Intelligenz. Ist ein Intelligenztest valide, sollten die beiden Gruppen von Personen, die unter die Extreme der Normalverteilungskurve fallen, signifikant unterschiedlich sein; und das sind sie. Diejenigen mit Werten unter 70, dem Grenzwert für die Diagnose mentale Retardierung, unterscheiden sich in ihren Fähigkeiten, von beinahe normal bis zu einem sehr gerin-
11.4
gen Niveau, bei dem sie ständig Hilfe und Aufsicht benötigen. Das Down-Syndrom ist eine Form der Retardierung mit einer körperlichen Ursache, einer zusätzlichen Kopie des Chromosoms 21. Menschen mit hohen Testwerten neigen im Gegensatz zur landläufigen Meinung dazu, gesund, gut angepasst und im schulischen Bereich ungewöhnlich erfolgreich zu sein. Die Schulen fassen diese Kinder manchmal in speziellen Lerngruppen zusammen und trennen sie von denen mit geringeren Testwerten. Derartige Programme können zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen, weil Kinder der Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten gerne entsprechen. > Denken Sie weiter: Was halten Sie vom gemeinsamen Unterricht für behinderte und nicht behinderte Kinder aller Fähigkeitsstufen in derselben Klasse? Begründen Sie Ihren Standpunkt.
Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
Intelligenz hat etwas mit der Familie zu tun. Aber woran liegt das? Sind unsere geistigen Fähigkeiten größtenteils Vererbungssache, oder werden sie von unserer Umwelt geformt? Nur wenige Themen wurden so leidenschaftlich diskutiert und sind mit so weitreichenden politischen Folgen verbunden. Machen wir uns einmal Folgendes klar: Wenn also unsere unterschiedlichen geistigen Fähigkeiten größtenteils vererbt wären und wenn sich diese Fähigkeiten im Erfolg zeigten, dann würde das bedeuten, dass der wirtschaftliche und gesellschaftliche Status von Menschen ihren angeborenen Unterschieden entspräche. Das wiederum könnte dazu führen, dass diejenigen an der Spitze glauben, ihr geistiges Erstgeburtsrecht rechtfertige ihre gesellschaftliche Position.
495 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
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Gehen wir jedoch davon aus, unsere geistigen Fähigkeiten würden hauptsächlich von der Umwelt beeinflusst, in der wir aufwachsen und unsere Bildung erhalten, so würde das bedeuten, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen damit rechnen können, ein benachteiligtes Leben zu führen. In diesem Falle wäre der gesellschaftliche Status der Menschen durch Chancenungleichheit bedingt. Lassen wir zunächst einmal die politischen Auswirkungen beiseite, und betrachten wir die empirischen Befunde.
11.4.1
Genetische Einflüsse
Ziel 15: Erörtern Sie die Befunde, die für die genetische Bedingtheit der individuellen Intelligenz sprechen, und erklären Sie, was Psychologen mit der Vererbung von Intelligenz meinen.
Haben Menschen, die über dieselben Gene verfügen, auch vergleichbare geistige Fähigkeiten? Wie Sie aus . Abb. 11.9 ablesen können, in der viele Untersuchungsergebnisse zusammengefasst sind, kann diese Frage eindeutig bejaht werden. Die Theorie der genetischen Einflüsse auf die Intelligenz wird nach wissenschaftlichen Studien durch mindestens 3 verschiedene Untersuchungsergebnisse gestützt: 4 Studien mit 10.000 Zwillingen haben ergeben, dass sich die Intelligenztestwerte eineiiger Zwillinge tatsächlich so sehr gleichen, als hätte dieselbe Person den Test zweimal gemacht (Lykken 1999; Plomin 2001). (Die Testwerte zweieiiger Zwillinge, die in der Regel nur 50% ihrer Gene gemein haben, sind sich viel weniger ähnlich.) Auch die Testwerte eineiiger Zwillinge, die getrennt voneinander aufwuchsen, sind ähnlich. Dies trifft in einem Maße zu, dass der Zwillingsforscher Bouchard (1996) schätzt, etwa 70% der Intelligenztestvarianz seien auf genetische Unterschiede zurückzuführen. Andere Wissenschaftler haben Schätzungen von 50–75% abgegeben (Devlin et al. 1997; Neisser et al. 1996; Plomin 2003). 4 Bei Untersuchungen des Gehirns mit Hilfe bildgebender Verfahren hat sich gezeigt, dass eineiige Zwillinge ein ganz ähnliches Volumen an grauer Substanz haben. Darüber hinaus stimmen ihre Gehirne im Gegensatz zu zweieiigen Zwillingen in den verschiedenen Gehirnarealen für die sprachliche und räumliche Intelligenz nahezu perfekt überein (Thompson et al. 2001). 4 Gibt es Gene für Genies? Als die Gene von Menschen mit hoher und mit durchschnittlicher Intelligenz miteinander verglichen wurden, gab es nur äußerst langsame Fortschritte dabei, die
. Abb. 11.9. Intelligenz: Anlage und Umwelt Die Menschen mit der größtmöglichen genetischen Ähnlichkeit haben die ähnlichsten Intelligenzwerte. Zur Erinnerung: 1,0 steht für eine perfekte Korrelation, 0 hingegen für keinerlei Korrelation. (Daten aus McGue et al. 1993)
496
Kapitel 11 · Intelligenz
vielen Gene zu identifizieren, die zu kognitiven Fähigkeiten beitragen (Plomin 2003). Durch Einbringen eines zusätzlichen Gens in befruchtete Mäuseeizellen ist es Wissenschaftlern jedoch gelungen, schlauere Mäuse zu züchten. Diese Mäuse lernen und erinnern sich besser als andere, beispielsweise an eine versteckte Unterwasserplattform, oder erkennen leichter Hinweisreize auf einen drohenden Schock (Tsien 2000). Das Gen trägt dazu bei, einen Neurorezeptor zu erzeugen, der die Gedächtnisfunktion beeinflusst. Andererseits gibt es auch verschiedene Untersuchungsergebnisse, die auf Umwelteinflüsse hindeuten. So schneiden beispielsweise zweieiige Zwillinge, die genetisch nicht mehr miteinander gemein haben als andere Geschwister auch, aber ähnlicher behandelt werden, weil sie gleichaltrig sind, bei Intelligenztests ähnlicher ab als Geschwister allgemein. Bei dem Versuch, den Einfluss von Genen und Umwelt getrennt voneinander zu betrachten, haben sich die Wissenschaftler auch gefragt, ob auch adoptierte Kinder und ihre Geschwister aufgrund ihrer geteilten Umwelt ähnliche Fähigkeiten gemein haben. In der Kindheit korrelieren ihre Intelligenztestwerte in bescheidenem Umfang. Des Weiteren haben Forscher die Intelligenztestwerte von adoptierten Kindern (a) mit denen ihrer biologischen Eltern, dem Ursprung ihrer Gene, und (b) mit denen ihrer Adoptiveltern verglichen, die ihnen zu Hause eine förderliche Umwelt bieten. Während ihrer Kindheit nehmen die Adoptivkinder die Erfahrungen aus der Umgebung ihrer Adoptiveltern auf. Würden Sie deshalb erwarten, dass mit zunehmendem Alter der Einfluss der Familienumgebung zu- und der Effekt der Vererbung abnimmt? Wenn Sie das annehmen, so haben die Verhaltensgenetiker eine Überraschung für Sie. Mit zunehmendem Alter nehmen die Ähnlichkeiten in den kognitiven Fähigkeiten zwischen Adoptivkindern und ihren Adoptiveltern im selben Maße ab, wie der elterliche Einfluss generell zurückgeht. Als Erwachsene liegt die Korrelation nahezu bei Null (McGue et al. 1993). Je mehr Lebenserfahrung wir sammeln, desto offensichtlicher werden die genetischen Einflüsse – nicht die Umwelteinflüsse (Bouchard 1995, 1996a). Die Intelligenzwerte von Adoptivkindern gleichen sich stärker denen ihrer biologischen Eltern an (. Abb. 11.10), und die Ähnlichkeiten zwischen eineiigen Zwillingen bleiben gleich oder nehmen bis ins 8. Lebensjahrzehnt noch zu (McClearn et al. 1997; Plomin et al. 1997). Erinnern Sie sich an die Bedeutung der Anlage bzw. Erblichkeit aus 7 Kap. 3: Wenn man beispielsweise sagt, die Erblichkeit von Intelligenz, d. h. die genetisch bedingte Varianz der Intelligenztestwerte, betrage 50% (oder etwas mehr), so bedeutet das nicht, dass Ihre Gene zu 50% für Ihre Intelligenz verantwortlich sind und die Umwelt für den Rest. Es bedeutet, dass wir der Erblichkeit 50% der Intelligenzvarianz zuschreiben können (bei denen, die untersucht wurden). Dieser Punkt wird so oft missverstanden, dass ich es noch einmal wiederholen möchte: Wir können nie eine Aussage darüber machen, wie viel Prozent der Intelligenz eines Individuums auf Vererbung zu-
11
. Abb. 11.10. Wem gleichen Adoptivkinder? Wie aus dem Colorado Adoption Project hervorgeht, gleichen sich Adoptivkinder, je länger sie in ihrer Adoptivfamilie leben, in Bezug auf ihre sprachlichen Intelligenztestwerte in bescheidenem Maße mehr an die ihrer biologischen Eltern an. (Nach Plomin u. DeFries 1998)
497 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
11
rückgeht. Erblichkeit ist nicht ein Faktor, der sich auf ein einzelnes Individuum bezieht, sondern sagt nur etwas darüber aus, warum Menschen verschieden sind. ! Unsere Gene prägen die Erfahrungen, die wir machen, die dann wiederum uns prägen. Es besteht eine Korrelation zwischen Anlage- und Umwelteinflüssen.
11.4.2
? Prüfen Sie, ob Sie das Konzept der Erblichkeit verstanden haben: Bei einer vergleichbaren Umwelt sollte die Erblichkeit der Intelligenz a zunehmen, b abnehmen, c unverändert bleiben. (7 Antwort 11.1 am Ende des Kapitels)
© The New Yorker Collection, 2000, Leo Cullum from cartoonbank.com. All rights Reserved.
Aber auch diese Schlussfolgerung muss spezifischer formuliert werden, denn die Angaben zur Erblichkeit variieren von einer Studie zur nächsten. Beispielsweise sind Umweltunterschiede ein besserer Vorhersagewert für die Intelligenzwerte von Kindern weniger gebildeter Eltern – bei denen die Familienumgebung höchst unterschiedlich sein kann (Rowe et al. 1999). Erinnern Sie sich noch einmal an Mark Twains Vorschlag (aus 7 Kap. 3), Jungen bis zum Alter von 12 Jahren in Fässern zu erziehen und sie durch ein Loch zu füttern. Dann könnten aufgrund derselben Umwelt die Unterschiede zwischen einzelnen Intelligenztestwerten der Jungen im Alter von 12 Jahren ausschließlich durch Vererbung erklärt werden. In diesem Falle läge die Erblichkeit der Merkmale, bei denen sich die Jungen unterscheiden, bei nahezu 100%. Wachsen Menschen mit ähnlichen Erbanlagen hingegen in extrem unterschiedlichen Umgebungen auf (Fässer im Unterschied zu einem vorteilhaften Familienumfeld), wäre der Umwelteinfluss größer und daher der Anteil der Erblichkeit (die genetisch bedingten Unterschiede) geringer. In einer Welt voller Klone betrüge die Erblichkeit 0%. Vergessen Sie außerdem nicht, dass auch zwischen den Genen und der Umwelt eine Korrelation besteht. Wenn Sie nur etwas größer und schneller als andere sind, merkt Flynn (2003) an, haben Sie eine größere Wahrscheinlichkeit, dass Sie für eine Basketballmannschaft ausgewählt werden, Sie häufiger spielen und besser trainiert werden. Dasselbe träfe auf Ihren getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingsbruder zu, der – nicht nur aus genetischen Gründen – beim Basketball besser wäre. Entsprechend belegen Schüler mit einer natürlichen Begabung für Mathematik in der Oberstufe mit größerer Wahrscheinlichkeit Mathematik-Leistungskurse und schneiden dann auch bei Eignungstests, die einen Schwerpunkt auf mathematische Begabung legen, gut ab. Das liegt dann sowohl an ihrer natürlichen Begabung für Mathematik als auch an ihrer größeren Erfahrung mit der Materie. Wenn Sie einen leicht genetisch bedingten Intelligenzvorteil haben, wird die Wahrscheinlichkeit größer sein, dass Sie länger Schule und Hochschule besuchen, Bücher lesen und Fragen stellen. Und all das zusammen wird Ihre kognitive Denkfähigkeit noch weiter steigern. Aufgrund dieser Gen-Umwelt-Korrelation können bescheidene genetische Vorteile durch die Gesellschaft vervielfacht werden und damit zu ausgeprägten Leistungsvorteilen führen. Unsere Gene formen die Erfahrungen, die wiederum uns formen.
»Durch selektive Züchtung habe ich eine besondere Begabung für Jura, aber ich hole trotzdem immer noch gern eine tote Ente aus eiskaltem Wasser.«
Umweltbedingte Einflüsse
Ziel 16: Erörtern Sie die Befunde zu Umwelteinflüssen auf die individuelle Intelligenz.
Josef Polleross/The Image Works
Die Gene sind von großer Bedeutung. Selbst wenn wir alle in derselben geistig anregenden Umgebung aufwachsen würden, hätten wir unterschiedliche Begabungen. Aber wir haben gesehen, dass die Erbanlagen, auch wenn sie die Ähnlichkeiten zwischen eineiigen Zwillingen erklären, nicht alles sind. Unsere Lebenserfahrungen spielen eine Rolle, mögen sie auch von unseren Genen prädisponiert sein. Die Umwelt des Menschen ist nur in seltenen Fällen so spartanisch wie die dunklen und leeren Käfige, in denen deprivierte Ratten gehalten werden, die dann als Folge dünnere Hirnrinden ausbilden als unter normalen Bedingungen (7 Kap. 3). Aber schlimme Lebenserfahrungen hinterlassen ihre Spuren im Gehirn.
Einflüsse frühzeitiger Interventionen In einem völlig mittellosen iranischen Waisenhaus beobachtete Hunt (1982) die dramatischen Effekte von frühen Erfahrungen und wies nach, welche Wirkung es hat, wenn man frühzeitig eingreift. Die Kinder, die Hunt dort beobachtete, konnten in der Regel im Alter von 2 Jahren noch nicht ohne fremde Hilfe sitzen oder im Alter von 4 Jahren noch nicht alleine laufen. Die spärliche Fürsorge, die den Kindern zuteil wurde, erfolgte nicht als Reaktion auf ihr Weinen, Gurren oder
Verheerende Vernachlässigung Rumänische Waisenkinder, die wie dieses Kind 1990 im Waisenhaus Lagunul Pentro Copii nur sehr wenige Interaktionen mit ihren Betreuungspersonen hatten, litten unter einer verzögerten Entwicklung
Kapitel 11 · Intelligenz
Mit einem Vorsprung ins Leben starten Um die Bereitschaft der Kinder für die Schule zu steigern und eine umfassendere Vorstellung davon zu bekommen, wohin die Schule sie bringen kann, sieht das Vorschulprogramm »Head Start« (Vorsprung) pädagogisch wertvolle Aktivitäten vor. Auch in Deutschland führen Kindergärten Vorschulprogramme durch, in denen den Kindern unterschiedliche Lebenswelten nahegebracht werden
A. Weinkötz
11
andere Verhaltensweisen. Die Kinder entwickelten deshalb nur wenig Gefühl dafür, dass sie persönlich ihre Umwelt im Griff haben. Sie wurden stattdessen zu bedrückten, passiven »Bündeln«. Die extreme Deprivation löschte langsam ihre angeborene Intelligenz aus. Da sich Hunt bewusst war, welch positiven Einfluss der fürsorgliche Umgang und ein Eingehen auf die Bedürfnisse in solchen Fällen haben, begann er ein Programm, das er »erziehende menschliche Bereicherung« nannte. Er brachte den Kinderbetreuern bei, Lautspiele mit den Säuglingen und Kleinkindern zu machen. Sie machten zuerst das Brabbeln der Kinder nach. Dann veranlassten sie die Babys dazu, je nachdem was der Betreuer vormachte, von einem bekannten Laut zum andern zu wechseln. Anschließend brachten sie ihnen Laute der persischen Sprache bei. Das Ergebnis war erstaunlich. Im Alter von 22 Monaten konnten alle 11 Kinder, die bei diesem sprachfördernden Programm mitgemacht hatten, mehr als 50 Gegenstände und Körperteile benennen. Die Kinder waren so reizend und nett geworden, dass die meisten adoptiert wurden – ein nie dagewesener Erfolg für das Waisenhaus. Hunts Ergebnisse sind ein Beleg für die Bedeutung der Umwelt. Extreme Benachteiligung fordert ihren Tribut (Ramey u. Ramey 1992). Im Unterschied zu Kindern, die im Überfluss leben, weisen Kinder aus armen Familien ähnlichere Intelligenztestwerte auf (Turkheimer et al. 2003). Dies deutet darauf hin, dass unter Armut die Umweltbedingungen wichtiger werden können als die genetischen. Bei einer Studie an 1450 Schulen im US-Bundesstaat Virginia fand man heraus, dass Schulen mit vielen Schülern aus armen Familien oft weniger gut qualifizierte Lehrer hatten. Und selbst wenn man den Faktor Armut konstant hielt, konnte man aufgrund eines weniger qualifizierten Lehrpersonals geringere Leistungswerte vorhersagen (Tuerk 2005). Auch die schlechte Ernährungslage kann die kognitive Entwicklung beeinflussen. Wenn die Unterernährung von Kleinkindern, zu der es bei extremer Armut immer kommt, durch Verabreichung zusätzlicher Nahrungsmittel rückgängig gemacht wird, nehmen auch die Effekte der Armut auf die körperliche und kognitive Entwicklung der Kinder ab (Brown u. Pollitt 1996). Und die bessere Ernährung ist auch eine Erklärung für die ansteigenden Intelligenztestwerte über die Generationen hinweg. Liefern diese Erkenntnisse irgendeinen Hinweis darauf, wie Sie »Ihrem Kind zu einem höheren Intellekt verhelfen könnten«? Manche Bücher behaupten, dass dies durch intensive Vorschulerziehung möglich sei. Doch die meisten Experten bezweifeln das (Bruer 1999). Zwar können Unterernährung, sensorische Deprivation und soziale Isolation die normale Gehirnentwicklung hemmen; doch der Unterschied zwischen einer normalen und einer »bereichernden« Umgebung ist weniger entscheidend. Es gibt keine »Umwelt für Superbabys«, die über die normale Reizexposition (Bilder, Geräusche und Stimme) hinausginge. In dieser Hinsicht scheint das Urteil von Scarr (1984) nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt zu haben: »Eltern, die sich viele Gedanken darüber machen und ihre Babys speziellen Lernprogrammen unterziehen, vergeuden nur ihre Zeit.« Hunt hätte wahrscheinlich mit Scarr darin übereingestimmt, dass zusätzliche Lernhilfen wenig Auswirkung auf die geistige Entwicklung von Kindern aus einer anregenden häuslichen Umge-
A. Weinkötz
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499 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
bung haben. Aber wenn es um Kinder aus benachteiligten Umweltsituationen ging, sah er die Angelegenheit optimistischer. So hat sein 1961 veröffentlichtes Buch »Intelligenz und Erfahrung« dazu beigetragen, 1965 in den USA das Projekt »Head Start« (Vorsprung) ins Leben zu rufen. Dabei handelte es sich um ein von der amerikanischen Regierung finanziertes Vorschulprogramm. Es wurde mit mehr als 900.000 Kindern durchgeführt, die größtenteils aus Familien kamen, deren Einkommen unter der Armutsgrenze lag (Head Start 2005). Es zielt darauf ab, die Chancen von Kindern auf einen Erfolg in der Schule zu verbessern und darüber hinaus ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu steigern. Ist das Programm erfolgreich? Die Wissenschaftler untersuchen »Head Start« und andere Vorschulprogramme, indem sie Kinder, die in den Genuss des Programms gekommen sind, mit anderen vergleichen, die nicht daran teilgenommen haben. Qualifizierte Programme, die individuelle Zuwendung erfordern, lassen normalerweise die Bereitschaft der Kinder, sich am Unterricht zu beteiligen, größer werden. Dies verringert wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Klasse wiederholen oder in Sonderschulen gehen müssen. Im Allgemeinen gehen die Begabungsvorteile mit der Zeit zurück (was uns daran erinnert, dass auch die Lebenserfahrung nach »Head Start« eine Rolle spielt). Der Psychologe Edward Zigler, der erste Leiter des Programms »Head Start« war dennoch überzeugt davon, dass die Kinder langfristig Vorteile daraus ziehen (Ripple u. Zigler 2003; Zigler u. Styfco 2001). Vorschulprogramme von hoher Qualität können zumindest der emotionalen Intelligenz einen kleinen Ansporn geben: Sie verbessern die Einstellung gegenüber dem Lernen und tragen damit indirekt dazu bei, dass es weniger vorzeitige Schulabbrecher und weniger Jugendkriminalität gibt (Reynolds et al. 2001).
Einflüsse der Schulbildung Schon allein die Schulbildung ist ein Eingriff, der sich in Form höherer Intelligenzwerte auszahlt. Ceci u. Williams (1997) haben eine Reihe von Befunden gesammelt, dass sich Schulbildung und Intelligenz gegenseitig begünstigen (und dass beide das spätere Einkommen verbessern). Hohe Intelligenz führt in der Regel zu einer längeren Dauer der Schulausbildung. Aber die Intelligenzwerte steigen über das Schuljahr hinweg tendenziell an und fallen über die Sommermonate (während der Ferien) wieder ab – zumindest in den Ländern (wie in den USA oder einigen Ländern Südeuropas), in denen sich die Sommerferien über 3 Monate erstrecken. Sie fallen ebenfalls ab, wenn ein Schüler nicht kontinuierlich zur Schule geht. Wer es bis zum Highschool-Abschluss oder zum Abitur bringt, erhöht in der Regel seine Intelligenzwerte im Vergleich mit jenen, die von vergleichbaren Schülerinnen und Schülern erzielt werden, die früher von der Schule abgegangen sind. Der Flynn-Effekt steigender IQ-Werte ist damit womöglich teilweise auf die in den letzten 50 Jahren verlängerte Schulzeit zurückzuführen – aber auch auf die anregende häusliche Umgebung, die die heutzutage gebildeteren Eltern bieten.
11.4.3
Gruppenunterschiede bei Intelligenztests
Gäbe es keine Gruppenunterschiede bei Eignungstests, könnten die Psychologen in ihrem Elfenbeinturm bleiben und weiterhin artig über Anlage- und Umwelteinflüsse diskutieren. Aber es gibt Gruppenunterschiede. Was versteht man darunter, und was ist davon zu halten?
Ethnische Ähnlichkeiten und Unterschiede Ziel 17: Beschreiben Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen in Bezug auf die Intelligenztestwerte, und erörtern Sie die Bedeutung einiger genetischer und umweltbedingter Faktoren, mit denen man sie erklären könnte.
Zwei beunruhigende Fakten, über die sich allerdings alle einig sind, heizen die Diskussion noch weiter an: 4 Verschiedene ethnische Gruppen haben unterschiedliche Durchschnittswerte bei Intelligenztests. 4 Bei Menschen (und Gruppen) mit hohen Intelligenzwerten ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie ein hohes Bildungs- und Einkommensniveau erreichen.
11
500
Kapitel 11 · Intelligenz
In einer Erklärung von 52 Intelligenzforschern wurde festgehalten: »Die glockenförmige Normalverteilungskurve für Weiße ist etwa um einen mittleren IQ von 100 angeordnet. Bei amerikanischen Schwarzen liegt dieser Mittelwert in etwa bei 85, während die Normalverteilungskurven von verschiedenen Untergruppen mit spanisch sprechenden Teilnehmern irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Gruppen liegen« (Avery et al. 1994). In den letzten Jahren hat sich der Unterschied zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung in den USA etwas verringert und ist in einigen Studien bei Kindern sogar bis auf 10 Punkte Unterschied gesunken (Neisser et al. 1996). Trotz allem hält sich die Kluft zwischen den Intelligenztestwerten hartnäckig. Es wurden auch Unterschiede zwischen anderen Gruppen beobachtet. So haben beispielsweise Neuseeländer europäischen Ursprungs höhere Werte als die Urbevölkerung der Maoris. Die Juden in Israel schneiden besser ab als die israelischen Araber. Die meisten Japaner erzielen höhere Werte als die stigmatisierte japanische Minderheit der Burakumin. Und die Hörenden übertreffen die von Geburt an Gehörlosen (Braden 1994; Steele 1990; Zeidner 1990). ! Es muss immer wieder betont werden, dass Gruppenunterschiede eine nur sehr geringe Aussagekraft für die Einschätzung einzelner Personen haben.
Seit 1850 hat die Größe des Durchschnittsholländers von 1,63 m auf 1,78 m zugenommen (Bogin 1998).
11 ? Im reichen Land X isst jeder alles, was er will. Im Land Y sind die Reichen gut ernährt, aber die halb verhungerten Armen sind oft sehr dünn. In welchem dieser beiden Länder ist die Erblichkeit des Körpergewichts am größten? (7 Antwort 11.2 am Ende des Kapitels)
. Abb. 11.11. Gruppenunterschiede und Umwelteinfluss Auch wenn die Varianz zwischen Mitgliedern derselben Gruppe Ausdruck genetischer Unterschiede ist, kann der durchschnittliche Unterschied zwischen verschiedenen Gruppen ausschließlich umweltbedingt sein. Stellen Sie sich vor, Samen derselben Samenmischung würden zum einen in mageren und zum anderen in fruchtbaren Boden gesät. Auch wenn die Größenunterschiede innerhalb derselben Gruppe anlagebedingt sind, sind die Größenunterschiede zwischen den beiden Gruppen umweltbedingt. (Aus Lewontin 1976)
Frauen leben in der Regel 6 Jahre länger als Männer, aber wenn wir das Geschlecht einer Person kennen, hat das keinerlei genauen Aussagewert darüber, wie lange diese Person leben wird. Sogar Murray u. Herrnstein (1994), deren Arbeiten auf die Unterschiede zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerungsgruppe aufmerksam gemacht haben, erinnerten uns immer wieder daran, dass »Millionen von Schwarzen einen höheren IQ haben als der durchschnittliche Weiße«. Schweden und Bantus unterscheiden sich in der Hautfarbe und in der Sprache. Der erste Faktor ist ein genetischer, der zweite ein umweltbedingter. Wie steht es nun mit den Intelligenzwerten? Wir haben gesehen, dass die Vererbung etwas zu den individuellen Intelligenzunterschieden beiträgt. Heißt dies, dass sie auch etwas zu Gruppenunterschieden beiträgt? Manche Psychologen sind dieser Meinung – vielleicht wegen der Herausforderungen, die sich durch die unterschiedlichen Klimabedingungen und Überlebenschancen stellen (Herrnstein u. Murray 1994; Lynn 1991, 2001; Rushton 1998, 2003). Wir haben aber auch festgestellt, dass Gruppenunterschiede bezüglich einer erblichen Eigenschaft vollständig umweltbedingt sein können, wie in unserem Beispiel von den Jungen, die in einem Fass oder in einem normalen Zuhause aufwachsen. Das sehen wir an einem der Experimente der Natur selbst: Manche Kinder wachsen mit der Möglichkeit auf, die in ihrer Kultur vorherrschende Sprache zu hören, während anderen, die gehörlos auf die Welt kommen, diese Möglichkeit versagt bleibt. Wenn man dann beide Gruppen einen Intelligenztest machen lässt, der in dieser Sprache verwurzelt ist, so überrascht es kaum, dass diejenigen, die die Sprache des Tests beherrschen, besser abschneiden. Die individuellen Leistungsunterschiede mögen zwar hauptsächlich genetisch bedingt sein, doch die Gruppenunterschiede sind es nicht (. Abb. 11.11). Sehen wir uns einmal folgendes Beispiel an: Wenn jeder eineiige Zwilling ganz genauso groß wäre wie sein Zwillingsbruder oder seine Zwillingsschwester, läge die Erblichkeit bei 100%. Stel-
501 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
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len wir uns dann vor, wir würden Zwillinge als kleine Kinder voneinander trennen und dem einen äußerst nährstoffreiche Nahrung verabreichen. Nehmen wir weiterhin an, der gut genährte Zwilling wäre anschließend um 7 cm größer als sein Zwillingsbruder (bzw. seine -schwester). Das ist ein Umwelteffekt, der mit dem heutzutage in Europa und den USA beobachteten Effekt vergleichbar ist, dass die Jugendlichen in der Regel mehrere Zentimeter größer sind als ihre Altersgenossen vor etwa 50 Jahren (Angoff 1987; Lynn 1987). Wie sähe es nun mit der Erblichkeit der Körpergröße bei unseren gut ernährten Zwillingen aus? Sie läge immer noch bei 100%. Denn die Varianz der Körpergröße innerhalb der Gruppe wäre aufgrund der Größe ihrer schlechter ernährten eineiigen Zwillinge vollständig vorhersehbar. Dies heißt also, dass auch eine perfekte Erblichkeit innerhalb von Gruppen die Möglichkeit eines starken Umweltweinflusses auf die Gruppenunterschiede nicht ausschließt. Die nächste Frage muss nun lauten: Ist wohl die Kluft zwischen verschiedenen Ethnien auf ähnliche Weise umweltbedingt? Denken Sie einmal über Folgendes nach: Die genetische Forschung hat ergeben, dass die Angehörigen verschiedener Ethnien unter der Haut erstaunlich gleich sind (Cavalli-Sforza et al. 1994; Lewontin 1982). Die individuellen Unterschiede innerhalb einer Ethnie sind weitaus größer als die Unterschiede zwischen den Ethnien. Der durchschnittliche genetische Gruppenunterschied zwischen 2 isländischen Dorfbewohnern oder zwischen 2 Kenianern übertrifft bei Weitem den Unterschied zwischen den beiden Volksgruppen. Darüber hinaus kann das Aussehen trügen. Hellhäutige Europäer und dunkelhäutige Afrikaner stehen sich unter genetischen Gesichtspunkten viel näher als dunkelhäutige Afrikaner und dunkelhäutige australische Aborigines. ! Ethnie ist keine klar definierbare biologische Kategorie.
Einige Wissenschaftler argumentieren, dass die ethnische Herkunft etwas Reales ist, und merken an, dass es genetische Marker für ethnische Herkunft gibt und dass die Gesundheitsrisiken je nach Ethnie unterschiedlich sind. Die Anfälligkeit für Hautkrebs hängt sowohl davon ab, wie stark man sich der Sonne aussetzt, als auch davon, wer die Vorfahren waren. Auch Verhaltensmerkmale sind von Ethnie zu Ethnie unterschiedlich. »Kein Kurzstreckenläufer asiatischer oder europäischer Abstammung (der Mehrheit der Weltbevölkerung) ist die 100 m unter 10 Sekunden gelaufen, aber Dutzende von Sprintern westafrikanischer Abstammung haben das geschafft«, merkt der Psychologe Rowe (2005) an. Viel mehr Sozialwissenschaftler jedoch sehen Ethnie primär als gesellschaftliche Konstruktion ohne klar definierte, körperlich festzumachende Trennlinien (Helms et al. 2005; Smedley u. Smedley 2005; Sternberg et al. 2005). Menschen unterschiedlicher Abstammung kategorisieren sich selbst eventuell als von derselben ethnischen Herkunft. Zudem können bei zunehmender Vermischung der Ethnien viele Menschen gar keiner bestimmten Ethnie mehr zugeordnet werden. (Welcher Ethnie gehört der Golfstar Tiger Woods an?) Studierende asiatischer Herkunft schneiden bei Leistungs- und Eignungstests in Mathematik besser ab als nordamerikanische Studierende. Aber dieser Unterschied scheint ein Phänomen neuerer Zeit zu sein und ist möglicherweise mehr auf Gewissenhaftigkeit als auf Kompetenz zurückzuführen. Asiatische Schüler haben im Durchschnitt auch 30% mehr Tage Schule im Jahr und verbringen sowohl in der Schule als auch außerhalb mehr Zeit mit Mathelernen (Geary et al. 1996; Larson u. Verma 1999; Stevenson 1992).
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Morphing in der Natur In der Natur werden keine klaren Trennlinien zwischen den Rassen bzw. Ethnien gezogen, die überall auf der Erde allmählich ineinander übergehen. Aufgrund des Drangs der Menschen zur Klassifikation definieren sich die Menschen selbst gesellschaftlich in ethnischen Kategorien, die zur Sammelbezeichnungen für körperliche Merkmale, die soziale Identität und die Nationalität werden
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Kapitel 11 · Intelligenz
! Die Leistungen bei Intelligenztests der heutigen gut ernährten, besser gebildeten und mehr an Tests gewöhnten Bevölkerung sind besser als die der Bevölkerung in den 30er Jahren (FlynnEffekt, 7 Abschn. 11.3.2).
Dies gilt in derselben Größenordnung, wie die Intelligenztestwerte von durchschnittlichen Weißen die von durchschnittlichen Schwarzen übertreffen. Niemand schreibt den generationsbedingten Gruppenunterschied der Vererbung zu. Weiße und schwarze Säuglinge schneiden bei den Intelligenzüberprüfungen gleich gut ab (bevorzugtes Betrachten neuer Reize ist ein recht grober Prädiktor für zukünftige Intelligenzwerte; Fagan 1992).
Jason Goltz
! In verschiedenen Regionen der Welt hat es immer wieder Perioden gegeben, in denen bestimmte ethnische Gruppen Außerordentliches geleistet haben.
Kultur und Schulerfolg Aus einer Studie von Caplan et al. (1992) über Kinder aus indochinesischen Flüchtlingsfamilien geht hervor, dass diese in der Schule immer unter den Besten sind. An Wochentagen wird nach dem Abendessen in der Familie der Tisch abgeräumt, und dann macht jeder seine Hausaufgaben. Die Zusammenarbeit in der Familie wird hoch geschätzt, und die älteren Geschwister helfen den jüngeren
»Holen Sie sich Ihre Sklaven nicht aus Britannien; denn sie sind so dumm und so unfähig, dass man ihnen nichts beibringen kann.« Cicero, 106–43 v. Chr.
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»Ausgehend von einem Zustand des Massenanalphabetismus gehören die Afroamerikaner heute zu den am besten ausgebildeten Gruppen von Menschen auf der Welt; im Median ist die Anzahl der auf einer Schule verbrachten Jahre und der Anteil derer, die eine Hochschulausbildung abgeschlossen haben, höher als die entsprechenden Zahlen für die meisten europäischen Staaten.« Der Soziologe Orlando Patterson, »The Ordeal of Integration« (1997)
Trotz des gleich guten Abschneidens des männlichen und weiblichen Geschlechts bei Intelligenztests neigen die Jungen stärker als die Mädchen dazu, ihre eigenen Testwerte zu überschätzen. Beide Geschlechter neigen außerdem dazu, die Testwerte ihrer Väter höher einzuschätzen als die ihrer Mütter, die ihrer Brüder höher als die ihrer Schwestern und die ihrer Söhne höher als die ihrer Töchter (Furnham 2001; Furnham et al. 2002a, b; 2004a, b, c).
Vor 25 Jahrhunderten waren es die Griechen und die Ägypter, dann die Römer, und im 8. und 9. Jahrhundert schienen die Genies in der arabischen Welt beheimatet zu sein. Vor 500 Jahren waren es die Azteken und die Völker Nordeuropas. Heute wundern wir uns über die technologischen Hochleistungen in der asiatischen Welt. Im Laufe der Jahrhunderte hatten Kulturen Blütezeiten und dann wieder schlechtere Zeiten. Die Gene sind keiner solchen Aufwärts- und Abwärtsbewegung unterworfen. Auch diese Tatsache macht es unmöglich, die natürliche Überlegenheit irgendeiner Rasse oder ethnischen Gruppe zu vertreten. Darüber hinaus ist es interessant, sich die eindrucksvollen Ergebnisse einer landesweiten amerikanischen Studie anzuschauen, die die Ergebnisse eines kognitiven Fähigkeitstests bei weißen und schwarzen Erwachsenen nach ihrem Abgang vom College im Rückblick untersuchte. Von der 8. Klasse bis in die ersten Highschooljahre nahm die Leistung der weißen Schüler zu, während die der schwarzen Schüler abnahm. Dadurch entstand zwischen den beiden Gruppen eine Kluft, die in etwa um die Zeit am größten war, als die Schüler die Eingangsprüfung für Studienanfänger (SAT) ablegten. Während der Collegezeit stiegen jedoch die Werte der schwarzen Studenten 4-mal so sehr an wie die der weißen, was zu einer deutlichen Verringerung der Kluft führte. Myerson et al. (1998) erklären sich das so: »Es überrascht nicht, dass sich die Kluft bei kognitiven Tests gerade in den Jahren vergrößert, in denen die schwarzen und weißen Schüler die Highschool besuchen, die große Qualitätsunterschiede aufweist. Auf der Collegeebene dann, auf der sich die schwarzen und weißen Studenten in einer Bildungsumgebung von vergleichbarer Qualität bewegen . . . , gelingt es vielen Schwarzen, bemerkenswerte Fortschritte zu machen und so die Kluft zwischen den Testwerten zu schließen.«
Geschlechterähnlichkeiten und -unterschiede Ziel 18: Beschreiben Sie Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Fähigkeiten.
In der Wissenschaft wie im Alltag sind es die Unterschiede und nicht die Ähnlichkeiten, die das allgemeine Interesse wecken. Im Vergleich zu den anatomischen und physiologischen Ähnlichkeiten sind unsere Geschlechterunterschiede relativ gering. Doch es sind die Unterschiede, die wir aufregend finden. Auch in psychologischer Hinsicht gibt es weitaus mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Doch die meisten Menschen finden Unterschiede berichtenswerter. 4 Rechtschreibung: Mädchen sind besser in Rechtschreibung (Lubinski u. Benbow 1992). Am Ende der Highschool sind in den USA nur 30% der Jungen besser als das durchschnittliche Mädchen (Lubinski u. Benbow 1992). Bis 2004 waren bei landesweiten Rechtschreibwettbewerben 42 der Gewinner Mädchen und 38 Jungen. 4 Verbale Fähigkeiten: Mädchen haben eine bessere Wortflüssigkeit und können sich besser an Wörter erinnern. Und unter den nahezu 200.000 Studienanwärtern, die früher in Deutschland den Eingangstest für das Medizinstudium absolvieren mussten, waren die jungen Frauen den Männern Jahr für Jahr dabei überlegen, sich an Fakten in kurzen medizinischen Fallbeschreibungen zu erinnern (Stumpf u. Jackson 1994). (Meine Frau, die sich viel besser an viele meiner Erlebnisse erinnert, behauptet immer, dass aus mir, wenn sie vor mir sterben würde, ein Mann ohne Vergangenheit werden würde.)
503 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
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. Abb. 11.12. Geschlecht und Variabilität Als fast 80.000 11-jährige Schotten 1932 einen Intelligenztest absolvierten, waren die durchschnittlichen IQ-Werte für Mädchen (100.6) und für Jungen (100.5) praktisch gleich. Doch die Jungen waren im unteren und oberen Extrembereich leicht überrepräsentiert. (Nach Deary et al. 2003)
4 Nichtverbales Gedächtnis: Mädchen sind besser als Jungen dabei, Gegenstände zu finden (Halpern 2000). In Untersuchungen an mehr als 100.000 amerikanischen Jugendlichen waren die Mädchen den Jungen auch beim Erinnern von Bildassoziationen leicht überlegen (Hedges u. Nowell 1995). 4 Empfindung: Mädchen sind sensibler für Berührungen, Geschmäcker und Gerüche (7 Beispiel in Abschn. 5.4.3). 4 Leistungsschwäche: Am unteren Ende der Intelligenzskala gibt es mehr Jungen als Mädchen, und daher besuchen auch mehr Jungen die Sonderschule (Kleinfeld 1998; . Abb. 11.12). Jungen neigen dazu, später zu sprechen und häufiger zu stottern. Im Förderunterricht zum Lesenlernen gibt es 3-mal mehr Jungen als Mädchen (Finucci u. Childs 1981). Unter den Schülerinnen und Schülern mit Leistungsschwächen in den USA sind zwei Drittel Jungen (McCall et al. 1992). Seit 1992 schaffen in Deutschland mehr Mädchen als Jungen das Abitur und haben dabei auch durchweg bessere Noten (Der Spiegel 2004). 4 Rechnerische und räumliche Begabung: In den amerikanischen Schulen schneiden durchschnittliche Mädchen bei den Mathematiktestwerten genauso gut oder sogar besser ab als durchschnittliche Jungen (ETS 1992; Kimball 1989). Und bei einer Mathematikprüfung, an der mehr als 3 Mio. Menschen teilgenommen haben, die als repräsentative Stichproben aus mehr als 100 unabhängigen Studien ausgewählt wurden, erreichen Männer und Frauen nahezu identische Durchschnittswerte (Hyde et al. 1990). Doch auch in diesem Fall sind es die Gruppenunterschiede, die – trotz der größeren Unterschiede innerhalb der Geschlechter als zwischen den Geschlechtern – von sich reden machen. Obwohl das weibliche Geschlecht beim reinen Rechnen im Vorteil ist, schnitten die Jungen und Männer in 20 von 21 Ländern beim Lösen von mathematischen Problemen besser ab (Bronner 1998; Hedges u. Nowell 1995). In den Abschlussklassen der amerikanischen Highschools beispielsweise hatten die Jungen einen um 45 Punkte höheren Testwert im SAT-Mathematiktest, dessen Werte von 200 bis 800 Punkte gehen (dies bedeutet, dass sie von den 60 Fragen im Durchschnitt 4 mehr korrekt beantworteten). An den oberen und unteren Enden des Leistungsspektrums sind die Unterschiede am deutlichsten. In der Gruppe von 12- bis 14-Jährigen, die bei einem Mathematiktest besonders gut abschnitten, kamen 13 Jungen auf ein Mädchen. Und in der Hochbegabtengruppe waren es häufiger die Jungen, die später einen Studienabschluss im Bereich der anorganischen Chemie und des Ingenieurwesens erzielten (Benbow et al. 2000). In den USA liegen die Jungen in den jährlich durchgeführten Advanced-Placement-Prüfungen in Bezug auf Physik und Informatik vorne (Stumpf u. Stanley 1998). Und in anderen westlichen Ländern waren praktisch alle Mathegenies, die an der
In den ersten 56 Jahren des »William-LowellPutnam-Mathematik-Wettbewerbs«, einer Art Olympiade der College-Mathematikstudenten, waren alle der nahezu 300 Preisträger Männer (Arenson 1997). 1997 brach dann eine Frau in diese Domäne ein und bildete zusammen mit 5 Männern den Preisträgerkreis. 1998 war Melanie Wood das erste weibliche Mitglied im amerikanischen Team, das an der Internationalen Mathematik-Olympiade teilnahm (Shulman 2000). Ihre Ausbildung begann schon früh: Beim Einkaufen im Einkaufszentrum gab Melanies Mutter dem 4-jährigen Mädchen immer lineare Gleichungen zu lösen, damit sie sich nicht langweilte.
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Kapitel 11 · Intelligenz
. Abb. 11.13. Der mentale Rotationstest Das ist ein Test zur Prüfung der räumlichen Fähigkeiten. Welche beiden Lösungen sind 2 unterschiedliche Ansichten der Standardfigur? (Aus Vandenberg u. Kuse 1978) (7 Antwort 11.3 am Ende des Kapitels)
Internationalen Mathematik-Olympiade teilnahmen, männlichen Geschlechts. Mehr weibliche Mathematik-Asse haben es jedoch in nichtwestlichen Ländern wie China in die Spitzengruppe geschafft (Halpern 1991). Worin Jungen scheinbar in der Regel verlässlich besser sind, sind Aufgaben wie die in . Abb. 11.13 gezeigte, bei denen es darum geht, dreidimensionale Objekte schnell in der Vorstellung zu drehen (Collins u. Kimura 1997; Halpern 2000). Diese räumliche Fähigkeit ist äußerst nützlich, wenn es darum geht, Koffer im Kofferraum zu verstauen, Schach zu spielen oder bestimmte Arten von geometrischen Problemen zu lösen. Aus evolutionspsychologischer Sicht mutmaßen Geary (1995, 1996) sowie Silverman et al. (1992, 1998), dass die Fähigkeiten zum Navigieren im dreidimensionalen Raum unseren Vorfahren halfen, ihre Beute aufzuspüren und wieder nach Hause zu finden. Im Gegensatz dazu wurde das Überleben unserer Urmütter durch ihr scharf ausgeprägtes Gedächtnis für den Ort gesichert, an dem essbare Pflanzen wachsen, ein Vermächtnis, das möglicherweise noch heute im besseren Gedächtnis von Frauen für Gegenstände und ihren Aufbewahrungsort fortlebt. Erklären also die naturbedingten Unterschiede zwischen den Geschlechtern die Tatsache, dass die meisten Mathematiker und 9 von 10 Schachspielern von Rang und Namen sowie die meisten amerikanischen Architekten, Ingenieure und Kartographen Männer sind oder weshalb es die Weltschachorganisation für notwendig erachtet hat, getrennte Meisterschaften für Männer und Frauen einzuführen? Im Jahr 2005 löste der Präsident der Harvard University Lawrence Summers viel Aufregung aus, als er sich laut fragte, ob die Unterrepräsentiertheit von Frauen auf Spitzenpositionen in Mathematik und Naturwissenschaften nicht nur auf einen Einfluss der Sozialisation, sondern auch auf einen Geschlechtsunterschied in Bezug auf angeborene Fähigkeiten hinweisen könne. Wird der Embryo in der Phase vor der Geburt hohen Dosen an männlichen Sexualhormonen ausgesetzt, so steigert das seine räumlichen Fähigkeiten (Berenbaum et al. 1995). Zudem, argumentiert der Evolutionspsychologe Pinker (2005), scheint es sowohl biologische als auch gesellschaft-
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Anlage oder Umwelt Bei diesem von Google Inc. finanzierten Programmierwettbewerb konkurrierten die Programmierer um Preise in Bargeld und um mögliche berufliche Positionen. Was hat Ihrer Meinung nach zu der Tatsache beigetragen, dass nur eine der Personen, die an der Endausscheidung teilnahmen, eine Frau war?
505 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
liche Einflüsse auf Geschlechtsunterschiede in den Lebensprioritäten zu geben (das größere Interesse von Frauen an Menschen im Unterschied zu dem von Männern an Geld und Dingen), auf die Bereitschaft, Risiken einzugehen (Männer sind leichtsinniger) und auf mathematisches Schlussfolgern und räumliche Fähigkeiten. Er merkt an, dass derartige Unterschiede über die Kulturen hinweg beobachtet werden, über die Zeit hinweg stabil sind, bei genetischen Jungen, die als Mädchen aufwuchsen, festgestellt werden und einer Beeinflussung pränataler Hormone unterliegen. Tatsächlich ist es, so erwidert Spelke (2005), eine Vereinfachung, zu sagen, dass Frauen eher sprachliche Fähigkeiten haben und Männer eher mathematische. Frauen sind besser in Bezug auf Wortflüssigkeit, Männer in Bezug auf Wortanalogien. Frauen sind besser bei schnellen mathematischen Berechnungen, Männer darin, geometrische Muster zu erinnern. Und wie die anderen Kritiker von Summers hervorhoben, formen die sozialen Erwartungen und auseinander driftende Möglichkeiten tatsächlich die Interessen und Fähigkeiten von Jungen und Mädchen (Crawford et al. 1995; Eccles et al. 1990). Die Überlegenheit der Jungen beim mathematischen Problemlösen nimmt mit dem Alter zu und ist erst nach dem Grundschulalter feststellbar. Traditionell wurden Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer immer als männliche Domäne gehandelt. Viele amerikanische Eltern schicken ihre Söhne in den Ferien in »Computercamps« und ermutigen ihre Töchter stärker, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern. Aber da inzwischen immer mehr Mädchen angespornt werden, ihre mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten zu entwickeln, beginnt sich die Kluft zwischen den Geschlechtern zu schließen (Nowell u. Hedges 1998). In einigen Bereichen einschließlich der Psychologie promovieren heute mehr Frauen als Männer. »Dennoch«, merkt Halpern (2005) ironisch an, »hat noch nie jemand ernsthaft in Frage gestellt, ob Männer die angeborene Fähigkeit haben, in jenen akademischen Fächern erfolgreich zu sein, in denen sie unterrepräsentiert sind.« 4 Fähigkeit zum Erkennen von Gefühlen: Erinnern Sie sich daran, dass die emotionale Intelligenz zum Teil darin besteht, mit Hilfe von Empathie die Gefühle anderer Menschen richtig zu erkennen. Manche von uns reagieren sensibler auf Gefühlssignale. Rosenthal et al. (1979; McClure 2000) wiesen dies nach, indem sie Hunderten von Personen kurze Filmclips mit Ausschnitten von emotional ausdrucksvollen Gesichtern (Mimik) oder Körperteilen (Gestik) zeigten, die manchmal mit einer nicht dazu passenden Stimme unterlegt waren. Nachdem z. B. eine 2 Sekunden dauernde Szene vom Gesicht einer aufgeregten Frau gezeigt worden war, fragten die Forscher, ob die Frau jemand kritisiere, weil er zu spät gekommen sei, oder sie gerade über ihre Scheidung erzähle. Rosenthal et al. fanden heraus, dass manche Menschen viel besser Gefühle erkennen können als andere und dass Frauen darin in der Regel besser sind als Männer. Manche Psychologen vermuten, dass die bei Frauen stärker ausgeprägte Fähigkeit zum Erkennen von Gefühlen unseren weiblichen Urahnen geholfen hat, die Gefühle ihrer Babys und potenziellen Partner richtig zu erkennen, was im Laufe der Evolution wiederum die Weiterentwicklung der empathischen Fähigkeiten von Frauen gefördert hat. Diese Fähigkeiten erklären möglicherweise (wie bereits in 7 Kap. 4 angeführt) die bei Frauen etwas stärker ausgeprägte Reaktionsbereitschaft in positiven und negativen Gefühlssituationen.
11.4.4
Probleme der Verzerrung in Intelligenztests
Ziel 19: Erörtern Sie, welche Intelligenztests zu verzerrenden Ergebnissen führen, und beschreiben Sie das Phänomen des »Stereotype Threat«.
Das Wissen um die Gruppenunterschiede bei Intelligenztestergebnissen wirft unwillkürlich die Frage auf, ob Intelligenztests vielleicht in irgendeiner Weise verzerrt sind. Die Antwort darauf hängt davon ab, welche von 2 unterschiedlichen Definitionen von Verzerrung wir verwenden und was wir unter Stereotyp verstehen.
Zwei Bedeutungen von Verzerrung Wenn ein Test nicht nur auf angeborene Intelligenzunterschiede hindeutet, sondern auch auf Leistungsunterschiede, die auf kulturelle Erfahrungen zurückgehen (wie beim kleinen David
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Kapitel 11 · Intelligenz
Wechsler, als er niedrige Testwerte hatte), können wir ihn als verzerrend ansehen. In diesem populären Sinne sind sich alle einig, dass Intelligenztests verzerrt sind. Ein Intelligenztest misst unsere entwickelten Fähigkeiten, die zum Teil Ausdruck unserer Bildung und unserer Erfahrungen sind. Möglicherweise sind Ihnen schon manchmal Intelligenztestfragen begegnet, die typische Mittelklassegedanken zum Ausdruck bringen: z. B. das Wissen, dass Grundstücke in der Stadt gewöhnlich mehr kosten als auf dem Land (Beispiel eines Test-Items des HAWIE-R). Verzerren derartige Fragen den Test gegenüber jenen, für die der Erwerb eines Grundstücks ohnehin unerschwinglich ist und die demzufolge kein konkretes Wissen über Grundstückspreise haben? Könnten solche Fragen womöglich das unterschiedliche Abschneiden verschiedener ethnischer Gruppen bei den Tests erklären? Und wenn das der Fall ist: Sind Tests dann ein Instrument zur Diskriminierung, das potenziell begabte Kinder in Klassen oder Jobs abschiebt, die für sie zur Sackgasse werden? Die Befürworter von Eignungstests halten dem entgegen, dass die ethnisch bedingten Gruppenunterschiede bei nichtverbalen Tests, wie etwa dem Rückwärts-Aufsagen von Zahlen, genauso groß sind wie bei verbalen Tests (Jensen 1983, 1988). Darüber hinaus geben sie zu bedenken, dass, wenn man den Test für die niedrigeren Testergebnisse einer Gruppe verantwortlich macht, das nichts anderes sei, als den Überbringer für die schlechten Nachrichten zu tadeln, die er überbracht hat. Warum soll der Test Schuld daran sein, dass er ungleiche Erfahrungen und Chancen aufdeckt? Wenn Menschen aufgrund von Mangelernährung kleinwüchsig blieben, würde man dann etwa den Meterstab dafür verantwortlich machen, der diesen Zustand aufdeckt? Wenn ungleiche Erfahrungen in der Vergangenheit zu ungleichem Erfolg in der Zukunft führen, so deckt ein guter Test diese Ungleichheiten auf. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bedeutet Verzerrung jedoch etwas anderes. Verzerrung bezieht sich darauf, ob ein Test möglicherweise für manche Gruppen weniger geeignet ist als für andere – ob sich künftiges Verhalten aufgrund des Tests nur für einige Gruppen von Probanden vorhersagen lässt. Wenn beispielsweise ein Schuleignungstest den schulischen Erfolg von Mädchen genau vorhersagt, aber nicht den von Jungen, dann wäre der Test verzerrt. Wie in den USA vom National Research Council’s Committee on Ability Testing und der Arbeitsgruppe »Intelligenz« der amerikanischen Psychologenvereinigung APA zusammengefasst, besteht nahezu ein Konsens darüber, dass die wichtigsten amerikanischen Eignungstests in diesem statistischen Sinn des Wortes nicht verzerrt sind (Neisser et al. 1996; Wigdor u. Garner 1982). Der Vorhersagewert von Standard-Intelligenztests ist im Großen und Ganzen für Schwarze und Weiße, Frauen und Männer, Reiche und Arme derselbe. Wenn ein Intelligenztestwert von 95 Noten etwas unter dem Durchschnitt vorhersagt, lässt sich diese grobe Vorhersage gleichermaßen auf beide Geschlechter, auf alle ethnischen Gruppen und gesellschaftlichen Schichten anwenden.
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Bedrohung durch ein Stereotyp »Mathe ist schwierig.« »Teen Talk«, sprechende Barbiepuppe, in den USA eingeführt im Februar 1992
Stereotype Threat (Bedrohung durch ein Stereotyp): Besorgnis, die Bewertung des eigenen Verhaltens erfolge auf der Basis eines negativen Stereotyps.
Um Schulerfolg genau vorhersagen zu können, muss ein Eignungstest jegliche geschlechter- oder ethnienspezifische Verzerrung im Schulunterricht und beim Testen genau wiedergeben. In einer Gruppe von Studierenden, denen Spencer et al. (1997) einen schwierigen Mathetest vorlegten, schnitten die Männer besser ab als gleich fähige Frauen – außer bei dem Testdurchgang, bei dem den Frauen zu verstehen gegeben worden war, dass bei diesem Test Frauen normalerweise gleich gut abschneiden wie Männer. Im anderen Falle fühlten sich die Frauen anscheinend eingeschüchtert, was ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigte. Steele et al. (2002) haben denselben Effekt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung bei negativen Rassenstereotypen beobachten können. Sie fanden dieses Phänomen des »Stereotype Threat« (der Bedrohung durch ein Stereotyp) in Testwerten schwarzer Studierender wieder, deren sprachliche Fähigkeit geprüft wurde. Die Werte fielen niedriger aus, wenn sie die Tests unter Bedingungen durchführten, die so gewählt wurden, dass schwarze Studierende sich bedroht fühlten. Stereotype Threat erklärt auch, warum Frauen bei Mathematiktests, die nicht zusammen mit Männern getestet wurden, höhere Werte erzielten, und warum Schwarze besser abschnitten, wenn sie von Schwarzen statt von Weißen geprüft wurden (Danso u. Esses 2001; Inzlicht u. Ben-Zeev 2000). Steele (1995, 1997) schloss daraus, dass dieses Stereotyp bei Studierenden, denen gesagt wird, dass sie wahrscheinlich nicht erfolgreich sein werden (wie dies bei Förderprogrammen für Min-
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derheiten häufig der Fall ist), die Leistung sowohl bei Eignungstests als auch in der Schule nach und nach unterminieren wird. Mit der Zeit kann es vorkommen, dass sich diese Schüler dann mit dem Schulerfolg nicht mehr identifizieren. Sie lösen ihr Selbstwertgefühl von schulischen Leistungen los und suchen auf anderen Gebieten nach Möglichkeiten, es zu steigern. Das könnte auch erklären, weshalb die Studierenden aus Minderheiten schlechtere Leistungen erbringen, als aufgrund ihrer Fähigkeiten zu erwarten wäre. [Dies kommt häufig bei afroamerikanischen Jungen in der Übergangsphase zwischen der 8. und der 12. Klasse vor. Sie klinken sich aus den schulischen Erfolgserlebnissen aus und entwickeln ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl (Osborne 1997).] Studierende, die Minderheiten angehören und denen bei ihren Universitätskursen das Gefühl vermittelt wird, an ihr Potenzial zu glauben, erzielten deutlich höhere Noten und hatten auch weniger Studienabbrecher in ihrer Gruppe zu verzeichnen. Was können wir nun aus dem Ganzen realistischerweise im Hinblick auf Eignungstests und Verzerrung schließen? Zum einen, dass die Tests in einem Sinne tatsächlich verzerrt zu sein scheinen (angemessenerweise, wie manche sagen werden), und zwar im Hinblick auf eine Sensibilität für Leistungsunterschiede, die auf kulturelle Erfahrung zurückgehen. Für unterschiedliche Gruppen valide statistische Vorhersagen zu machen, bedeutet im wissenschaftlichen Sinne jedoch keine Verzerrung. Was heißt das nun unterm Strich? Sind die Tests »diskriminierend«? Auch hier kann die Antwort Ja oder Nein lauten. Ja in dem Sinne, dass sie darauf ausgelegt sind zu »diskriminieren«, d. h. unter verschiedenen Personen zu unterscheiden. Andererseits ist es jedoch gerade ihr Ziel, Diskriminierung zu reduzieren, weil man sich mit ihrer Hilfe weniger auf subjektive Kriterien für die Aufnahme in Schulen oder für die Vermittlung eines Arbeitsplatzes verlassen muss, wie etwa, ob Sie jemanden kennen, wie Sie aussehen oder ob der Mensch, der das Bewerbungsgespräch mit Ihnen führt, Sie zufällig sympathisch findet. Eignungstests im öffentlichen Dienst beispielsweise wurden so entwickelt, dass sie fairer und objektiver unterscheiden, indem sie die politische, rassische und ethnische Diskriminierung verringern, die vor dem Einsatz solcher Test durchaus stattfand. Eignungstests zu verbieten, würde diejenigen, die über die Einstellungen in berufliche Positionen und die Zulassung zu Schulen und Einstellungen entscheiden, dazu verleiten, sich mehr auf andere Einschätzungen zu verlassen, wie etwa auf ihre persönliche Meinung. Vielleicht sollten wir also drei Ziele verfolgen: 4 Erstens sollten wir die Vorteile erkennen, die Alfred Binet mit seinem Test der geistigen Fähigkeiten bezweckte: Schulen in die Lage zu versetzen, zu erkennen, welche Schüler möglicherweise von einer frühzeitigen Förderung profitieren könnten. 4 Zweitens müssen wir aufmerksam beobachten, dass, wie auch Binet befürchtete, die Intelligenztestwerte nicht als direkter Maßstab für den Wert eines Menschen und als unveränderliches Potenzial fehlinterpretiert werden. 4 Und drittens sollten wir uns immer in Erinnerung rufen, dass Intelligenztestwerte nur einen Aspekt der persönlichen Kompetenz zum Ausdruck bringen. Unsere praktische Intelligenz und unsere emotionale Intelligenz spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, wie auch andere Begabungen und Persönlichkeitsmerkmale.
Mitgefühl ist nicht durch Tests zu erfassen Intelligenztestwerte vermitteln uns nur einen Ausschnitt einer gesamten Person. Sie messen beispielsweise nicht die Fähigkeiten, die Begabung und die Hingabe von Menschen, die ihr Leben damit verbringen, anderen zu helfen
! Die Kompetenz, die durch allgemeine Intelligenztests stichprobenartig festgestellt wird, ist wichtig. Sie hilft uns dabei, auf einigen Wegen unseres Lebens Erfolg zu haben. Aber sie ist weit davon entfernt, entscheidend zu sein.
Die räumliche Vorstellungskraft eines Zimmermanns unterscheidet sich von der Fähigkeit zum logischen Denken bei einem Programmierer, und die wiederum unterscheidet sich von den sprachlichen Fähigkeiten eines Dichters. Da es viele Formen gibt, erfolgreich zu sein, sind die Unterschiede zwischen uns Variationen desselben Themas: der menschlichen Anpassungsfähigkeit.
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11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
»Fast alle Dinge im Leben, die Spaß machen, werden nicht durch Intelligenztests erfasst.« Madeleine L’Engle (»A Circle of Quiet«, 1972)
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Kapitel 11 · Intelligenz
Lernziele Abschnitt 11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz Ziel 15: Erörtern Sie die Befunde, die für die genetische Bedingtheit der individuellen Intelligenz sprechen, und erklären Sie, was Psychologen mit der Vererbung von Intelligenz meinen. Studien an Zwillingen, Familienmitgliedern und Adoptivkindern stützen allesamt die Auffassung, dass genetische Faktoren in bedeutsamer Weise zu den Intelligenzwerten beitragen. Die meisten genetisch ähnlichen Menschen weisen recht ähnliche Testwerte auf; die Korrelationen rangieren von +0,85 für gemeinsam aufgewachsene eineiige Zwillinge bis etwa +0,33 für nicht miteinander verwandte Personen, die zusammen aufwuchsen. Es wurde bisher noch kein »Genie-Gen« entdeckt, aber man sucht noch. Mit Erblichkeit der Intelligenz meint man das Ausmaß, in dem sich die Variation der Intelligenztestwerte in einer Gruppe von Menschen, die man untersucht, auf genetische Faktoren zurückführen lässt. Erblichkeit bezieht sich nie auf individuelle Intelligenz, sondern immer nur auf Unterschiede zwischen Menschen.
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Ziel 16: Erörtern Sie die Befunde zu Umwelteinflüssen auf die individuelle Intelligenz. Studien an Zwillingen, Familienmitgliedern und Adoptivkindern liefern auch Befunde zu Umwelteinflüssen auf die Intelligenz. Die Intelligenztestwerte von zweieiigen Zwillingen, die zusammen aufwuchsen, sind sich ähnlicher als die anderer Geschwister (Zwillinge sind gleich alt und erleben daher eine ähnlichere Umwelt als Geschwister verschiedenen Alters); und die Testwerte der eineiigen Zwillinge, die getrennt aufwuchsen, sind sich weniger ähnlich (wenn auch immer noch sehr hoch miteinander korreliert) als die Testwerte eineiiger Zwillinge, die zusammen aufwuchsen. Andere Studien mit Kindern, die in extrem kargen, extrem förderlichen oder kulturell unterschiedlichen Umweltsituationen aufwuchsen, deuten darauf hin, dass Lebenserfahrungen das Intelligenztestergebnis signifikant beeinflussen. Ziel 17: Beschreiben Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen in Bezug auf die Intelligenztestwerte, und erörtern Sie die Bedeutung einiger genetischer und umweltbedingter Faktoren, mit denen man sie erklären könnte. Als Gruppe haben die weißen Amerikaner gewöhnlich einen Durchschnittswert im Intelligenztest, der etwa 8–15 Punkte höher liegt als der von Amerikanern lateinamerikanischer und afroamerikanischer Herkunft. In der letzten Zeit schließt sich bei Studien mit Kindern diese Lücke, d. h. die Unterschiede werden geringer. Befunde deuten darauf hin, dass diese Gruppenunterschiede weitgehend auf Umweltunterschiede zurückgehen. Sechs Punkte dazu werden in diesem Kapitel behandelt: 1. Die ethnischen Gruppen sind sich genetisch bemerkenswert ähnlich. 2. Ethnische Zugehörigkeit ist eine soziale, nicht eine biologisch
festgelegte Kategorie. 3. Asiatische Schülerinnen und Schüler zeigen in mathematischen Leistungs- und Eignungstests bessere Leistungen als nordamerikanische Schülerinnen und Schüler. 4. Die Leistung in Intelligenztests liegt in der heutigen besser ernährten, besser ausgebildeten und besser auf Tests vorbereiteten Bevölkerung über der der Bevölkerung im Jahre 1930; der Unterschied ist etwa genauso hoch wie der zwischen einem durchschnittlichen Weißen und einem durchschnittlichen Schwarzen in den heutigen USA. 5. Weiße und schwarze Säuglinge haben gewöhnlich gleich hohe Testwerte in Tests, mit denen man die künftige Intelligenz vorhersagen kann. 6. In unterschiedlichen Epochen hatten unterschiedliche ethnische Gruppen Zeiten bemerkenswerter Leistungen. Ziel 18: Beschreiben Sie Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Fähigkeiten. In diesem Kapitel werden 7 Arten beschrieben, wie sich Frauen und Männer in ihren Fähigkeiten unterscheiden: 1. Mädchen sind besser in der Rechtschreibung. 2. Mädchen haben eine höhere Wortflüssigkeit und können mehr Wörter erinnern. 3. Mädchen können besser Gegenstände auffinden. 4. Mädchen sind sensibler für Berührungen, Geschmäcker und Farben. 5. Es gehören mehr Jungen zu den Leistungsschwachen als Mädchen. 6. Jungen zeigen beim mathematischen Problemlösen bessere Leistungen als Mädchen, während die Mädchen bei mathematischen Berechnungen bessere Leistungen aufweisen als Jungen. 7. Frauen erkennen Emotionen leichter als Männer. Ziel 19: Erörtern Sie, welche Intelligenztests zu verzerrenden Ergebnissen führen, und beschreiben Sie das Phänomen des »Stereotype Threat«. Mit Eignungstests soll vorhergesagt werden, wie gut die Leistung des Probanden in Zukunft in einer bestimmten Situation sein wird. Damit sind sie von vornherein »verzerrt« und zwar in der Hinsicht, dass sie auf durch kulturelle Erfahrungen bedingte Leistungsunterschiede empfindlich reagieren. Aber Verzerrung kann auch das bedeuten, was die Psychologen im Normalfall unter diesem Begriff verstehen, nämlich dass ein verzerrter Test für eine Gruppe weniger genaue Ergebnisse vorhersagt als für eine andere. In diesem Sinne sind sich die meisten Experten einig, dass die wichtigsten Eignungstests nicht auf signifikante Weise verzerrt sind. »Stereotype Threat« ist eine sich selbst bestätigende Sorge, dass man aufgrund eines negativen Stereotyps bewertet wird. Dieses Phänomen tritt in manchen Fällen unter Afroamerikanern und bei Frauen aller Hautfarben auf, wenn die Intelligenz getestet wird. > Denken Sie weiter: Wie haben genetische und umweltbedingte Einflüsse Ihre Intelligenz beeinflusst?
509 11.4 · Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Joseph ist Student an der Harvard Law School. Er hat einen Abschluss von 1,0, schreibt eine kleine Kolumne in der Harvard Law Review und wird im Jahr nach seinem Master als Mitarbeiter eines Richters am Obersten Gerichtshof arbeiten. Josephs Großmutter Judith ist sehr stolz auf ihren Enkel und sagt, er sei intelligenter, als sie es je war. Aber Joseph ist auch stolz auf Judith: Als junge Frau wurde Judith von den Nationalsozialisten ins Gefängnis gesteckt. Als der Krieg zu Ende war, verließ sie Deutschland, nahm Kontakt zu Flüchtlingsorganisationen auf, reiste in die Vereinigten Staaten und begann ein neues Leben als Köchin im Betrieb ihres Vetters. Ist Joseph nach der Intelligenzdefinition in diesem Kapitel die einzige intelligente Person in dieser Geschichte? Warum ja oder warum nein? 2. Welches Ziel verfolgte Binet mit seinem bahnbrechenden Intelligenztest? 3. Die Familie Schmidt hat ihren 2 Jahre alten Sohn in ein spezielles Programm aufnehmen lassen, bei dem mit dem Versprechen gearbeitet wird, dass sein IQ erhoben und – wenn er zu den oberen 5% der Getesteten gehört – ein Plan aufgestellt wird, der ihm die Zulassung zu einer Spitzenuniversität im Alter von 18 Jahren gewährleistet. Warum handelt es sich um eine Unternehmung von fragwürdigem Wert? 4. Je mehr es der Gesellschaft gelingt, Chancengleichheit zu schaffen, desto größer wird auch die Erblichkeit der Fähigkeiten. Die Erblichkeit von Intelligenztestwerten ist höher in einer Gesellschaft, in der Chancengleichheit herrscht, als in einer Gesellschaft von Bauern und Adligen. Warum?
Antworten zu den Fragen im Text
11.1
Die Erblichkeit wird zunehmen, d. h. die auf genetische Einflüsse zurückgehende Varianz wird zunehmen, während die Umweltvarianz abnimmt.
12.2
Die Erblichkeit ist größer in Land X, in dem die Umweltunterschiede in Bezug auf die Ernährung minimal sind.
12.3
Die Alternativen 1 und 4 sind richtig.
L Deutsche Literatur zum Thema Brackmann, A. (2007). Jenseits der Norm - hochbegabt und hoch sensibel? Die seelischen und sozialen Aspekte der Hochbegabung bei Kindern und Erwachsenen, 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Gardner, H. (2002). Intelligenzen: die Vielfalt des menschlichen Geistes. Stuttgart: Klett-Cotta. Moosbrugger, H. & Kelava, A. (2007) Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Heidelberg: Springer. Piaget, J. (2000). Psychologie der Intelligenz, 10. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Rost, J. (2004). Lehrbuch Testtheorie – Testkonstruktion, 2. Aufl. Bern: Huber.
11
12 Motivation 12.1
Sichtweisen der Motivation – 512
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4
Instinkte und Evolutionspsychologie – 513 Triebe und Anreize – 514 Optimale Erregung – 514 Maslows Bedürfnishierarchie – 515
12.2
Hunger
12.2.1 12.2.2
Physiologie des Hungers – 518 Psychologie des Hungers – 520
12.3
Sexuelle Motivation – 525
12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5
Physiologie der Sexualität – 525 Psychologie der Sexualität – 528 Sexualität im Jugendalter – 529 Sexuelle Orientierung – 532 Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen – 539
12.4
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit – 541
12.5
Leistungsmotivation
– 517
– 544
Andere Kulturen, andere Perspektiven Als die Päckchen mit den Notrationen zusehends schwanden, aß ich immer weniger, bis ich schließlich genau den Anweisungen folgte und nur noch alle acht Stunden zwei Zwieback zu mir nahm. Ich war ständig hungrig. Ich dachte nur noch an Nahrung. Je weniger ich zu essen hatte, desto größer wurden die Portionen, von denen ich träumte. Die Mahlzeiten meiner Phantasie waren so groß wie ganz Indien. Ströme von roter Linsensuppe so mächtig wie der Ganges. Chappatis so groß wie Rajasthan. Reisschüsseln so
riesig wie Uttar Pradesh. Sambars, die ganz Tamil Nadu überflutet hätten. Berge von Eiscreme so hoch wie der Himalaja. In meinen Träumen war ich ein wahrer Meisterkoch: Alle Zutaten waren stets frisch und in Hülle und Fülle vorhanden, Backofen und Bratpfanne hatten immer genau die richtige Temperatur, alles war sorgsam aufeinander abgestimmt, nichts war je angebrannt oder noch halb roh, nichts zu heiß oder zu kalt. Jede Mahlzeit war einfach perfekt – zum Greifen nah und doch unerreichbar für mich …
Yann Martel, »Schiffbruch mit Tiger« (2000, S. 259/261)
Als auch die letzten Zwiebacke verschwunden waren, war mir alles recht, was essbar war, ganz gleich, wie es schmeckte. Ich konnte alles in den Mund stecken, darauf herumkauen und es herunterschlucken – ob wohlschmeckend, ekelhaft oder geschmacklos –, solange es nicht salzig war. Mein Körper entwickelte eine Abscheu vor Salz, der bis zum heutigen Tag anhält.
512
Kapitel 12 · Motivation
AP Photo/Rocky Mountain News, Judy Walgren
Motivation
12
Personifizierte Motivation Aron Ralstons Motivation, zu leben und sich anderen Menschen zugehörig zu fühlen, mobilisierte ungeahnte Energien in ihm und verleitete ihn dazu, eine Hälfte seines Armes zu opfern
> »Warum mache ich das und mit welcher Motivation?«, fragt der Schauspieler den Regisseur. Bei Gesprächen im Alltag fragen wir: »Was hattest du für eine Motivation, das zu tun?«, wenn wir wissen wollen: »Was war die Ursache für dein Verhalten?« Für Psychologen ist Motivation ein Bedürfnis oder ein Verlangen, das Verhalten anregt und es in eine bestimmte Richtung lenkt. Der erfahrene Bergsteiger Aron Ralston hat verstanden, in welchem Maße die Motivation Tatkraft verleiht und das Verhalten steuern kann. Nachdem er die höchsten Gipfel von Colorado bezwungen hatte, viele davon alleine und im Winter, wagte er es, an einem Samstagmorgen im Frühling allein durch einen Canyon zu wandern, der ihm so risikolos zu sein schien, dass er sich keine Gedanken darum machte, irgendjemandem davon zu erzählen, wohin er ging. Im engen Bluejohn Canyon (Utah), etwa 140 m unterhalb der Stelle, an der er sich zuletzt abgeseilt hatte, kletterte er über einen 350 kg schweren Felsbrocken. Da bewegte sich der Fels und klemmte sein rechtes Handgelenk und seinen rechten Arm fest ein. Er steckte, wie es im Titel seines neuesten Buchs heißt, fest »Between a Rock and a Hard Place« (das Buch heißt auf Deutsch schlicht »Im Canyon«). Als er erkannte, dass ihn niemand retten würde, versuchte er mit aller Kraft, den Felsen zu verschieben. Dann versuchte er, mit seinem stumpfen Taschenmesser den Felsen aufzumeißeln. Als er damit keinen Erfolg hatte, verzurrte er Seile, um den Felsen zu heben. Doch das alles funktionierte nicht. Stunde für Stunde, dann eine kalte Nacht nach der anderen saß er fest. Am Dienstag waren ihm Essen und Wasser ausgegangen. Am Mittwoch quälten ihn Durst und Hunger; er bewahrte seinen Urin auf und trank davon. Mit Hilfe seines Camcorders verabschiedete er sich von der Familie und von Freunden, für die er jetzt intensive Gefühle der Liebe empfand: »Noch einmal, ich liebe euch alle. Bringt der Welt zu meiner Ehre Liebe, Frieden, Glück und ein wunderschönes Leben. Danke. Ich liebe euch.« Am Donnerstag war er überrascht, festzustellen, dass er immer noch am Leben war. Ralston hatte anscheinend eine göttliche Einsicht in seine reproduktive Zukunft, eine Vision von einem Vorschuljungen, der von einem einarmigen Mann hochgehoben wurde. Durch diese Inspiration bot er seine ganze Kraft, die er noch hatte, und seinen ungeheuren Willen auf, am Leben zu bleiben: Innerhalb der folgenden Stunde zerbrach er seine Knochen und setzte jenes stumpfe Messer dazu ein, seinen Unterarm abzutrennen. In dem Augenblick, in dem er den Stauschlauch angelegt hatte, um die Ader abzubinden, das letzte Stück Haut durchtrennt und sich befreit hatte – und bevor er sich mit seinem blutenden halben Arm an einem 20 m hohen Abhang abgeseilt hatte und 8 km gelaufen war, um jemanden zu finden –, war er mit seinen eigenen Worten ausgedrückt »einfach nur taumelnd vor Glück ... ich war tot und stand in meinem Grab, hinterließ meinen letzten Willen und mein Testament, ritzte ›Ruhe in Frieden‹ in die Felswand; all das war vorbei, und stattdessen hatte ich mein Leben wieder. Es war zweifellos der schönste Augenblick, den ich je erlebt habe und je erleben werde« (Ralston 2004). Aron Ralstons Durst und Hunger, sein Gefühl der Zugehörigkeit zu anderen Menschen und der dem zugrunde liegende Wille, zu leben und Vater zu werden, betonen die Kraft der Motivation, Energien zu mobilisieren und ihnen eine Richtung zu geben. In diesem Kapitel werden wir erkunden, wie derartige Motive aus dem Zusammenspiel zwischen Anlage (dem physiologischen »Druck«) und Umwelt (den kognitiven und kulturellen »Zwängen«) entstehen.
12.1
Sichtweisen der Motivation
Ziel 1: Definieren Sie Motivation so, wie Psychologen den Begriff heute verwenden, und geben Sie 4 Sichtweisen an, die sich als nützlich erwiesen haben, um motiviertes Verhalten zu untersuchen. Motivation (motivation): Zustand des Motiviertseins; Motive sind angeborene Dispositionen, die Verhalten auslösen, ihm Intensität und Richtung verleihen.
Wir haben erkannt, dass die heutigen Psychologen Motivation als Bedürfnis definieren, das unserem Verhalten Energien verleiht und es lenkt. Lassen Sie uns zunächst zurückblicken und 4 Sichtweisen behandeln, wie sich Psychologen dem Thema bei ihrem Versuch näherten, motiviertes Verhalten zu verstehen. Dazu gehörten die Instinkttheorie (heute durch die evolutionäre Perspektive ersetzt), die Triebtheorie (die die Interaktion von inneren Trieben und äußeren Zwän-
513 12.1 · Sichtweisen der Motivation
12
gen betont) und die Erregungstheorie (die von einem Drang nach einem optimalen Stimulierungsgrad ausgeht). Eine vierte Perspektive, die Bedürfnishierarchie von Maslow, beschreibt, wie sich manche Motive, wenn sie nicht befriedigt werden, als drängender und wichtiger als andere erweisen können.
12.1.1
Instinkte und Evolutionspsychologie
Ziel 2: Erörtern Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Instinkttheorie und der evolutionären Sichtweise.
Anfang des 20. Jahrhunderts und unter dem wachsenden Einfluss von Darwins Evolutionstheorie wurde es modern, alle möglichen Verhaltensweisen als Instinkte zu klassifizieren. Übte jemand Kritik an sich selbst, dann tat er das wegen seines »Selbsterniedrigungsinstinkts«. Wenn jemand prahlte, war dies ein Ergebnis seines »Selbstbehauptungsinstinkts«. Ein Soziologe durchforstete 500 Bücher und stellte dann eine Liste von 5759 menschlichen Instinkten zusammen! Schon nach kurzer Zeit brach diese Marotte, Instinkte zu benennen, unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Anstatt das menschliche Verhalten zu erklären, begnügten sich die frühen Instinkttheoretiker damit, es zu benennen. Das Vorgehen ähnelt dem Versuch, das schlechte Abschneiden eines klugen Kindes in der Schule damit zu »erklären«, dass man es als leistungsschwach bezeichnet. Ein Verhalten zu benennen, heißt nicht, es zu erklären. Um als Instinkt bezeichnet zu werden, muss eine komplexe Verhaltensweise als festes Muster bei allen Mitgliedern einer Spezies vorkommen und darf nicht gelernt sein (Tinbergen 1951). Solche Verhaltensweisen sind uns von anderen Gattungen bekannt (z. B. das Klopfen eines Spechts in 7 Kap. 4 oder die Rückkehr der Lachse zu ihrem Geburtsort in 7 Kap. 8). Auch im menschlichen Verhalten sind angeborene Tendenzen zu beobachten, darunter einfache festgelegte Verhaltensmuster wie bei einem Kind, das nach der Brust der Mutter sucht und daran saugt. Die meisten Psychologen glauben jedoch, dass das menschliche Verhalten von physiologischen und psychologischen Bedürfnissen gesteuert wird. Obwohl die Instinkttheorie die Motive menschlichen Handelns nicht erklären konnte, bleibt die dahinter stehende Annahme bestehen, dass arttypisches Verhalten genetisch angelegt ist. Dieser Hypothese sind wir bereits in 7 Kap. 3 über menschliche Ähnlichkeiten begegnet, erneut in der Diskussion in 7 Kap. 8 über biologische Prädispositionen bei Tieren, die zum Erlernen bestimmter Verhaltensweisen führen. Und später werden wir diesem Thema wieder begegnen, wenn es darum
Instinkt (instinct): komplexes Verhalten, das bei jedem Mitglied einer Gattung als Muster festgelegt ist und nicht gelernt werden muss.
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Gleiches Motiv, unterschiedliche Ausführung Je komplexer das Nervensystem, desto anpassungsfähiger der Organismus. Der Vogel und die Frau befriedigen beide ihr Bedürfnis nach Schutz auf eine Art und Weise, die Ausdruck ihrer ererbten Fähigkeiten ist. Das Verhalten der Frau ist flexibel, sie kann alle Fertigkeiten lernen, die sie zum Hausbau benötigt. Das Verhaltensmuster des Vogels ist festgelegt; er kann nur diese Art Nest bauen
514
Kapitel 12 · Motivation
geht, wie die Evolution unsere Phobien, unser Hilfeverhalten und unsere erotischen Vorlieben beeinflusst.
12.1.2
Triebe und Anreize
Ziel 3: Erklären Sie, wie man in der Triebreduktionstheorie die Motivation beim Menschen sieht. Triebreduktionstheorie (drive-reduction theory): Annahme, dass ein physiologisches Bedürfnis eine erregte Spannung erzeugt (einen Trieb), der den Organismus motiviert, das Bedürfnis zu befriedigen. Homöostase (homeostasis): Tendenz, einen ausgeglichenen und konstanten inneren Zustand aufrechtzuerhalten; Regulation aller Bereiche der Körperchemie, wie z. B. die Regulierung des Blutzuckers auf einer bestimmten Höhe.
Anreiz (incentive): positiver oder negativer Reiz in der Umwelt, der ein Verhalten motiviert.
. Abb. 12.1. Triebreduktionstheorie
12
Nachdem die ursprüngliche Instinkttheorie an Ansehen verlor, wurde sie durch die Triebreduktionstheorie ersetzt, die davon ausgeht, dass ein physiologisches Bedürfnis einen Erregungszustand bewirkt und diese Erregung den Menschen wiederum dazu antreibt, das Bedürfnis zu reduzieren, z. B. durch Essen oder Trinken. Wenn physiologische Triebe stärker werden, entsteht mit wenigen Ausnahmen auch ein psychischer Trieb - ein erregter, motivierter Zustand. Das physiologische Ziel der Triebreduktion ist die Homöostase, die Erhaltung eines stabilen inneren Zustands. Ein Beispiel für die Homöostase ist das Temperaturregulationssystem des Körpers, das wie ein Thermostat arbeitet. Beide Systeme funktionieren über Rückkopplungsschleifen: Sensoren übermitteln die Raumtemperatur zu einem Messgerät. Kühlt sich die Raumtemperatur ab, aktiviert das Messgerät die Heizung. Genauso ist es, wenn unser Körper abkühlt. Die Blutgefäße ziehen sich zusammen, um Wärme zu speichern, und wir haben das Bedürfnis, mehr anzuziehen oder uns in eine wärmere Umgebung zu begeben. Ähnlich ist es auch, wenn wir durstig werden: Der Flüssigkeitsdruck in unseren Zellen sinkt, Sensoren entdecken ein Bedürfnis nach Wasser, und wir empfinden Durst (. Abb. 12.1). Wir werden aber nicht nur durch unser »Bedürfnis« nach Triebreduktion angetrieben, sondern auch von äußeren Anreizen angezogen: von positiven oder negativen Reizen, die uns locken oder abstoßen. Somit hat unsere individuelle Lerngeschichte einen Einfluss auf unsere Motive. Je nach individueller Lerngeschichte kann der Duft von gutem Essen, seien es nun frisch geröstete Erdnüsse (oder auch geröstete Ameisen), unser Verhalten motivieren. Und das kann auch auf das Aussehen eines Menschen zutreffen, den wir attraktiv finden oder der die Angst vor Missbilligung durch die Familie oder Freunde auslöst. Haben wir ein Bedürfnis und liegt gleichzeitig auch ein äußerer Anreiz vor, sind wir hoch motiviert. Ein Mensch, der lange nichts gegessen hat und frisches Brot riecht, fühlt einen starken Hungertrieb. Ist dieser Trieb vorhanden, wird das Brot zu einem alles überwindenden Anreiz. Bei jedem Motiv können wir uns also fragen: »Welche angeborenen Bedürfnisse treiben mich an, und welche Anreize kommen aus der Umwelt?«
12.1.3
Optimale Erregung
Ziel 4: Erörtern Sie, welchen Beitrag die Erregungstheorie bei Motivationsstudien geleistet hat.
Trotzdem sind wir viel mehr als ein homöostatisches System. Manches motivierte Verhalten lässt die Erregung tatsächlich zunehmen. Satte Tiere verlassen ihre Schutzhöhle, um die Umgebung zu erkunden, obwohl offensichtlich kein auf einem Bedürfnis beruhender Trieb vorhanden ist. Die Tiere erlangen durch solche riskanten Aktivitäten neue Informationen und Ressourcen (Renner 1992). Neugier regt Affen dazu an herumzuspielen, um herauszufinden, wie ein Riegel zu öffnen ist, der nichts verschließt, oder wie sich ein Fenster öffnen lässt, durch das sie hinausschauen können (Butler 1954). Neugier ist der Antrieb für ein 9-monatiges Kind, jeden erreichbaren Winkel im Haus zu untersuchen. Sie ist auch der Antrieb für die Wissenschaftler, deren Arbeit wir in diesem Buch kennenlernen. Und sie treibt Entdecker und Abenteurer wie Aron Ralston an. Auf die
515 12.1 · Sichtweisen der Motivation
12
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Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison
Von Neugier getrieben Babyaffen und Kinder sind fasziniert von Dingen, die sie noch nie zuvor in der Hand hatten. Ihr Trieb, relativ unbekannte Dinge zu erkunden, ist eines der Motive, die nichts mit unmittelbaren physiologischen Bedürfnissen zu tun haben
Frage, warum er unbedingt den Mount Everest besteigen wollte, antwortete George Mallory: »Weil er da ist.« Menschen, die wie Mallory und Ralston die Aufregung genießen, bezeichnen die Psychologen als »Sensation Seeker«, also als Menschen, die auf neue Empfindungen aus sind; sie hören häufig auch laute Musik, probieren neue Gerichte aus und lieben das Risiko (Zuckerman 1979). Die Motivation zielt beim Menschen nicht darauf ab, die Erregung zu beseitigen, sondern ein optimales Erregungsniveau anzustreben. Denken Sie auch an die Experimente zur sensorischen Deprivation, die in 7 Kap. 5 beschrieben wurden: Die stundenlange Ruhe und Stille in einer isolierten monotonen Kammer sensibilisierte die Versuchspersonen für jede erreichbare Stimulation. Auch wenn alle unsere physiologischen Bedürfnisse erfüllt sind, fühlen wir einen Drang nach Stimulation. Ohne Stimulation fühlen wir uns gelangweilt und suchen nach einer Möglichkeit, wie unsere Erregung auf ein optimales Niveau erhöht werden kann. Wenn die Stimulation jedoch zu stark ist, kommt Stress auf, und wir suchen nach einer Möglichkeit, die Erregung wieder abzubauen.
12.1.4
Maslows Bedürfnishierarchie
Ziel 5: Beschreiben Sie Maslows Bedürfnishierarchie.
Manche Bedürfnisse haben Priorität vor anderen. Jetzt gerade sind Ihre Bedürfnisse nach Luft und Wasser befriedigt, und andere Motive werden aktuell – z. B. Ihr Wunsch nach Erfolg – und aktivieren und steuern Ihr Verhalten. Ist Ihr Bedürfnis nach Wasser nicht befriedigt, wird Ihr Durst Sie voll und ganz beschäftigen. Fragen Sie nur Aron Ralston. Hätten Sie aber keine Luft zum Atmen, würde Ihr Durst verschwinden. Maslow (1970) beschrieb diese Prioritäten als Bedürfnishierarchie bzw. Bedürfnispyramide (. Abb. 12.2). Den Sockel dieser Pyramide bilden unsere physiologischen Bedürfnisse, wie die nach Nahrung und Wasser. Erst wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, werden andere aktuell: das nach Sicherheit, danach die einzigartigen menschlichen Bedürfnisse nach Liebe und Selbstwert. Laut Maslow (1971) folgt darauf das höchste der menschlichen Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (mehr zum Thema Selbstwert und Selbstverwirklichung in 7 Kap. 14). Maslows Hierarchie ist zum Teil willkürlich festgelegt. Die Rangfolge dieser Bedürfnisse ist nicht universell. Menschen haben sich schon zu Tode gehungert, um ihren politischen Standpunkt darzulegen. Trotzdem stellt die Vorstellung, dass einige Motive stärker sind als andere, einen Rahmen für die Beschäftigung mit dem Thema Motivation dar, und Umfragen zum Thema Lebenszufriedenheit in 39 Ländern stützen diese Annahmen (Oishi et al. 1999). In ärmeren Ländern, in denen Geldmangel den Zugang zu Nahrung und Schutz erschwert, wird die subjektive Lebenszufriedenheit stärker über die Zufriedenheit mit der finanziellen Situation definiert. In reichen Nationen, wo sich die meisten ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, ist der Wert, den Familie und Freunde einnehmen, ein besserer Prädiktor. Das Selbstwertgefühl ist in individualistischen Gesellschaften von größter Bedeutung, in denen sich die Bürger in der Regel
Bedürfnishierarchie (hierarchy of needs; Bedürfnispyramide): Maslows Pyramide der menschlichen Bedürfnisse; beginnend mit den physiologischen Bedürfnissen, die erst erfüllt sein müssen, bevor auf einer höheren Stufe das Bedürfnis nach Sicherheit und danach die psychischen Bedürfnisse aktuell werden
»Hunger ist die dringlichste Form der Armut.« Alliance to End Hunger (2002)
516
Kapitel 12 · Motivation
. Abb. 12.2a–e. Maslows Bedürfnishierarchie bzw. Bedürfnispyramide Sind unsere Bedürfnisse auf einem unteren Niveau erst einmal befriedigt, beginnen wir, uns unsere Bedürfnisse auf einem höheren Niveau zu erfüllen. Während diese Überlebenden des Hurrikans 2005 in New Orleans damit rangen, ihre Grundbedürfnisse nach Wasser, Essen, sicherer Unterkunft und medizinischer Versorgung zu befriedigen, kümmerten sie sich wahrscheinlich nicht unmittelbar um die Bedürfnisse auf einem höheren Niveau in Maslows Hierarchie, wie etwa Selbstwertgefühl und Selbstverwirklichung. (Nach Maslow 1970)
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Joe Skipper/Reuters/Corbis
c picture-alliance/dpa
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b Menahem Kahana/AFP/Getty Images
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d
e
eher auf persönliche Ziele konzentrieren als darauf, sich mit der Familie und der Gemeinschaft zu identifizieren. Im Folgenden werden wir uns näher mit 4 repräsentativen Motiven beschäftigen: Wir beginnen mit dem grundlegenden physiologischen Motiv des Hungers (7 Abschn. 12.2), dann kommt die sexuelle Motivation (7 Abschn. 12.3) und schließlich die Bedürfnisse auf höherer Ebene, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit (7 Abschn. 12.4) und die Leistungsmotivation (7 Abschn. 12.5).
517 12.2 · Hunger
Lernziele Abschnitt 12.1 Motivationskonzepte Ziel 1: Definieren Sie Motivation so, wie Psychologen den Begriff heute verwenden, und geben Sie Sichtweisen an, die sich als nützlich erwiesen haben, um motiviertes Verhalten zu untersuchen. Psychologen beschreiben Motivation als etwas, was das Verhalten mobilisiert und es steuert. Die 4 Sichtweisen, die in diesem Kapitel behandelt wurden, sind die Instinkttheorie/evolutionäre Theorie, die Triebreduktionstheorie, die Erregungstheorie und die Bedürfnishierarchie. Ziel 2: Erörtern Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Instinkttheorie und der evolutionären Sichtweise. Instinkte sind rigide geformte, komplexe Verhaltensweisen, die man bei einer gesamten Spezies findet, wie etwa das Nestbauverhalten bei der Spezies der Vögel. Frühe Instinkttheoretiker, die durch Darwins Theorie der natürlichen Selektion beeinflusst wurden, versuchten die Verhaltensweisen des Menschen so zu klassifizieren, als wären sie von solchen Instinkten geleitet. Als klar wurde, dass sie nur Verhaltensweisen benannten, sie aber nicht erklärten, verlor dieser Ansatz an Bedeutung. Der Grundgedanke – dass Gene uns für ein arttypisches Verhalten prädisponieren – übt jedoch auch heute noch einen Einfluss auf die evolutionäre Psychologie aus, die Verhaltensweisen in Bezug auf ihre Funktionen für die Anpassung untersucht. Ziel 3: Erklären Sie, wie man in der Triebreduktionstheorie die Motivation beim Menschen sieht. Die Triebreduktionstheorie geht davon aus, dass physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst) zu psychischen Zuständen führen, die dazu anregen (dazu motivieren), diese Bedürfnisse (durch Essen bzw. Trinken) abzubauen oder zu befriedigen. Das physiologische Ziel der Triebreduktion ist die innere Stabilität oder Homöostase. Wir werden am stärksten zu etwas angeregt, wenn wir von unserem Bedürfnis, einen Trieb zu reduzieren (z. B. den Hunger zu befriedigen) angetrieben, und auch durch
12.2
einen äußeren Anreiz von etwas angezogen werden (z. B. durch den Geruch frisch gekochten Essens). Je nach unserer persönlichen Lebensgeschichte oder der Geschichte unserer Kultur reagieren wir auf manche Reize (z. B. auf rohe Austern) stärker als auf andere. Ziel 4: Erörtern Sie, welchen Beitrag die Erregungstheorie bei Motivationsstudien geleistet hat. Nicht alle Verhaltensweisen verringern unmittelbare physiologische Bedürfnisse oder Spannungszustände. Die Erregungstheorie trägt dazu bei, die Motivation für diese Verhaltensweisen zu erklären. Beispielsweise deuten Verhaltensweisen, die durch Neugier angeregt werden, darauf hin, dass sowohl zu wenig als auch zu viel Stimulierung Menschen dazu motivieren kann, ein optimales Erregungsniveau anzustreben. Ziel 5: Beschreiben Sie Maslows Bedürfnishierarchie. Maslows Bedürfnishierarchie geht von einer pyramidenförmigen Ordnung aus, bei der Bedürfnisse eines unteren Niveaus (wie etwa Hunger und Durst) weniger leicht zu ignorieren sind als Bedürfnisse eines höheren Niveaus (wie etwa die Bedürfnisse, geliebt zu werden, sich zugehörig zu anderen zu fühlen oder anerkannt zu werden). Obwohl Kritiker anmerken, dass Maslows Abfolge der Bedürfnisse nicht universell gültig ist, liefert seine Hierarchie eine Rahmenvorstellung für motivierte Verhaltensweisen. > Denken Sie weiter: Denken Sie über Ihre eigenen Erfahrungen mit Maslows Bedürfnishierarchie nach. Haben Sie jemals echten Hunger oder Durst erlebt, der Ihnen das Interesse an anderen Bedürfnissen höherer Ebene nahm? Fühlen Sie sich normalerweise sicher, geliebt, zufrieden? Wie oft fühlen Sie sich in der Lage, sich mit dem zu beschäftigen, was Maslow das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung nannte?
Hunger
Eine lebensnahe Demonstration der alles überlagernden Bedeutung physiologischer Bedürfnisse findet man in den Berichten über die Hungersnot in Lagern und besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg. Mandel (1983), ein Mann, der ein Konzentrationslager überlebt hat, erinnert sich daran, wie ein »hungernder Vater und ein hungernder Sohn um ein Stück Brot kämpfen. Wie Hunde.« Ein Vater, dessen 20-jähriger Sohn ihm das Brot unter dem Kopfkissen wegstahl, während er schlief, verfiel in eine tiefe Depression und fragte sich immer wieder, wie sein Sohn so etwas tun konnte. Am nächsten Tag starb der Vater. »Hunger bewirkt etwas bei Menschen, was schwer zu beschreiben ist«, erklärte Mandel. Um mehr darüber zu erfahren, welche Folgen es hat, wenn man fast verhungert, gaben Keys et al. (1950) 36 jungen Männern, die alle Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen waren und die freiwillig am Experiment teilnahmen, gerade so viel Nahrung, dass sie ihr ursprüngliches Gewicht beibehielten. Dann bekamen sie 6 Monate lang nur die halbe Nahrungsmenge. Die Auswirkungen waren bald deutlich sichtbar. Ohne groß darüber nachzudenken, fingen die Männer an, Energie zu sparen; sie schienen lustlos und apathisch zu sein. Ihr Körpergewicht nahm rapide ab und pendelte sich schließlich bei ungefähr 75% ihres Ausgangsgewichts ein. Doch die psychischen Auswirkungen waren besonders dramatisch. Im Einklang mit Maslows Vorstellung von
»Wer hungrig ist, will keinen Kuss.« Dorothea Dix (1801–1887)
12
518
Kapitel 12 · Motivation
der Bedürfnishierarchie waren die Männer wie besessen vom Thema Essen. Sie sprachen über Essen. Sie fantasierten über Essen. Sie sammelten Rezepte, lasen Kochbücher, und verbotene Delikatessen waren für sie eine Augenweide. Gleichzeitig verloren sie das Interesse an Sexualität und sozialen Aktivitäten. Sie waren vollauf mit ihren unerfüllten Grundbedürfnissen beschäftigt. Ein Teilnehmer berichtete: »Als wir uns eine Sendung im Fernsehen ansahen, waren die Szenen, in denen Menschen aßen, die interessantesten. Ich konnte über das lustigste Bild nicht lachen, und Liebesszenen waren für mich stumpfsinnig.«
12.2.1
Physiologie des Hungers
Ziel 6: Beschreiben Sie die physiologischen Einflussfaktoren auf Hunger.
»Ein satter Mensch kann die Bedürfnisse des Hungrigen nicht verstehen.« Irisches Sprichwort
Die halb verhungerten Teilnehmer an Keys Experiment empfanden den Hunger als Reaktion ihres homöostatischen Systems, das so angelegt ist, dass das normale Körpergewicht und eine angemessene Versorgung mit Nahrung aufrechterhalten werden. Aber was genau löst das Hungergefühl aus? Ist es das Knurren eines leeren Magens? So fühlt sich Hunger zumindest an. Und so war es anscheinend auch, als Washburn (Cannon u. Washburn 1912) zum ersten Mal einen Ballon geschluckt hatte. Als der Ballon in seinem Magen aufgeblasen wurde, übermittelte er die Kontraktionen des Magens an einen Sensor (. Abb. 12.3). Während sein Magen überwacht wurde, drückte Washburn jedes Mal auf einen Knopf, wenn er hungrig wurde. Die Entdeckung: Washburns Magen zog sich tatsächlich zusammen, wenn er hungrig war. Was bliebe vom Hunger übrig, wenn der Magen nicht mehr knurrte? Forscher beantworteten diese Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sie die Mägen einiger Ratten entfernten und die Speiseröhren am Dünndarm befestigten (Tsang 1938). Fraßen die Ratten noch? Sie taten es tatsächlich. Auch Menschen, deren Mägen wegen eines Geschwürs oder wegen Krebs entfernt wurden, empfinden noch immer einen gewissen Hunger. Sie und ich, wir können uns sogar mit vollem Bauch hungrig fühlen. Und das können auch Tiere, die ihre Mägen mit kalorienarmem Futter füllen; sie fressen mehr als Tiere, die Futter mit vielen Kalorien, aber weniger Masse bekommen (McHugh u. Moran 1978). Ist das Magenknurren also doch nicht die einzige Ursache des Hungers? Informationen über die Körperchemie und die Zustände im Gehirn führen zu neuen Einblicken.
Körperchemie und Gehirn
12
Glukose (glucose): Form des Zuckers, die im Blut zirkuliert und die Hauptenergiequelle für das Körpergewebe darstellt. Sinkt der Glukosespiegel, fühlen wir uns hungrig.
. Abb. 12.3. Die Aufzeichnung von Magenkontraktionen Mit dieser Prozedur zeigte Washburn, dass Hungergefühle (die mit einem Knopfdruck gemeldet wurden) mit Magenkontraktionen (übermittelt durch den Magenballon) einhergehen. (Aus Cannon 1929)
Um einen Energiemangel zu vermeiden und das Körpergewicht stabil zu halten, reguliert der Mensch – genau wie andere Tiere – seine Kalorienaufnahme automatisch. Der Körper führt also irgendwie und irgendwo Buch über seine verfügbaren Ressourcen. Die Glukose, der Blutzucker, ist eine solche Ressource. Das Hormon Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet wird, baut den Blutzucker ab, indem es ihn teilweise in Körperfett verwandelt. Ihr Körper versucht
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12
. Abb. 12.4. Der Hypothalamus Wie wir schon in 7 Kap. 2 gesehen haben, steuert der Hypothalamus (rot) viele Funktionen zur Aufrechterhaltung des Körpers, darunter den Hunger. Blutgefäße versorgen den Hypothalamus, dadurch kann er auf die aktuelle chemische Zusammensetzung des Blutes und auf die eingehenden neuronalen Informationen über den Zustand des Körpers reagieren
Richard Howard
normalerweise, den Blutzuckerspiegel stabil zu halten. Sinkt er plötzlich, nimmt Ihr Hunger zu. Sie fühlen diese Veränderung in der Zusammensetzung Ihres Blutes nicht bewusst. Ihr Gehirn überwacht jedoch die Verhältnisse im Inneren Ihres Körpers. Magen, Darm und Leber signalisieren Ihrem Gehirn, ob gerade genügend Glukose vorhanden ist oder nicht, also, ob gegessen werden soll oder nicht. Wo im Gehirn werden diese Signale verarbeitet? Während der 1940er und 1950er Jahre fand man heraus, dass der Hypothalamus, ein kleiner, aber komplexer neuronaler Knotenpunkt tief im Gehirn das Hungergefühl steuert (. Abb. 12.4). Zwei verschiedene hypothalamische Zentren tragen dazu bei, den Hunger zu steuern. Experimente in den 1960er Jahren zeigten, dass die Aktivierung der seitlichen Teile des Hypothalamus (des lateralen Hypothalamus) hungrig macht. Werden gut gefütterte Tiere dort stimuliert, beginnen sie zu fressen. Wurde dieser Teil aber zerstört, interessierten sich auch hungernde Tiere nicht für Futter. Forschungsergebnisse vom Ende des 20. Jahrhunderts trugen zu einer Erklärung bei. Bekommt eine Ratte nichts zu fressen und sinkt der Blutzuckerspiegel, schüttet der laterale Hypothalamus das Hungerhormon Orexin aus. Führt man Ratten Orexin zu, werden sie sehr hungrig (Sakurai et al. 1998). Die Aktivierung im zweiten Zentrum, dem unteren mittleren Teils des Hypothalamus (dem ventromedialen Hypothalamus) unterdrückt den Hunger. Stimuliert man dieses Areal, hört ein Tier auf zu fressen. Zerstört man es, verarbeiten Magen und Darm des Tieres das Futter schneller; dies führt dazu, dass es extrem dick wird (Duggan u. Booth 1986; Hoebel u. Teitelbaum 1966). Nach diesen Läsionen im mittleren Hypothalamus fressen die Ratten häufiger, produzieren mehr Fett und verbrauchen weniger Fett zur Energiemobilisierung; das lässt sich mit einem Geizkragen vergleichen, der jeden Euro, den er übrig hat, auf die Bank bringt und der Versuchung widersteht, irgendetwas abzuheben (Pinel 1993). Diese Entdeckung erklärt auch, warum einige Patienten mit tief im Gehirn befindlichen Tumoren (dort, wo der Hypothalamus sitzt), exzessiv essen und übergewichtig werden (Miller 1995). Der Hypothalamus überwacht den Hormonspiegel in Bezug auf die Appetithormone des Körpers (. Abb. 12.5). Ein interessanter Forschungsstrang konzentriert sich auf Ghrelin, ein Hormon, das Hunger hervorruft und bei leerem Magen ausgeschüttet wird. Wenn sich Personen mit schwerer Fettleibigkeit einer Bypass-Operation unterziehen, bei der ein Teil des Magens versiegelt wird, produziert der verbleibende Magen weniger Ghrelin, und der Appetit geht zurück (Lemonick 2002). Die Stimulierung des Appetithormons, die man in Experimenten vornahm, weckte durchaus die Hoffnung, dass man einen Appetitzügler finden könnte. Eine solche Pille könnte den Hunger produzierenden chemischen Stoffen des Körpers entgegenwirken,
Pix*Elation from Fran Heyl Associates
12.2 · Hunger
Belege für die Steuerung des Hungers durch das Gehirn Eine Läsion des ventromedialen (mittleren) Areals im Hypothalamus führte dazu, dass sich das Gewicht dieser Ratte verdreifachte
. Abb. 12.5. Die Appetithormone Insulin: von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttetes Hormon; steuert den Blutzuckerspiegel. Leptin: von den Fettzellen ausgeschüttetes Protein; wenn es im Überfluss vorhanden ist, veranlasst es das Gehirn, den Stoffwechsel in Gang zu bringen und den Hunger abnehmen zu lassen. Orexin: vom Hypothalamus ausgeschüttetes Hormon, das Hunger auslöst. Ghrelin: vom leeren Magen ausgeschüttetes Hormon, sendet das Signal ans Gehirn: »Ich bin hungrig.« PYY: Hormon des Verdauungstrakts, sendet das Signal ans Gehirn: »Ich bin nicht hungrig.«
520
Kapitel 12 · Motivation
»Um es einfach auszudrücken: PYY ist das Völlehormon und Ghrelin das Hungerhormon«. Hungerforscher Stephen R. Bloom (2002)
Set Point (Sollwert): Punkt, auf den der individuelle »Körperthermostat« ausgerichtet ist. Fällt das Körpergewicht unter diesen Punkt, führt normalerweise eine Steigerung des Hungers und eine Senkung des Stoffwechsels dazu, dass man wieder zunimmt.
Grundumsatz (basal metabolic rate): Energiemenge, die ein Körper im Ruhezustand verbraucht.
12
z. B. dem Ghrelin, und die Wirkung der chemischen Stoffe verstärken, die den Hunger abbauen, wie die des von den Fettzellen ausgeschütteten Leptins. Oder sie könnte den PYY-Spiegel erhöhen, den Spiegel eines Verdauungshormons, das den Appetit unterdrückt. Die ganze Aufregung über das vom Darm ausgeschüttete Peptid YY 3-36 in der letzten Zeit zeigt, wie intensiv nach einer Substanz gesucht wird, die eines Tages zu einer Behandlung führen, wenn nicht gar zu einer magischen Waffe gegen Fettleibigkeit werden könnte. Auf den ursprünglichen Bericht, dass PYY den Appetit unterdrückt, folgte eine eher skeptische Verlautbarung von 12 Labors, die von einer riesengroßen Enttäuschung berichteten: Der PYY-Befund hatte sich nicht durch weitere Untersuchungen bestätigen lassen. Einige Monate später jedoch folgten weitere Untersuchungen, bei denen man mit Hilfe anderer Methoden zumindest eine zeitweilige Appetit zügelnde Wirkung fand (Gura 2004). Eine ältere Theorie über den Hunger besagt, dass man über eine Beeinflussung des lateralen und ventromedialen Hypothalamus am »Gewichtsthermostat« des Körpers dreht, der wiederum unser Körpergewicht an einem bestimmten »Set Point« stabil erhält (Keesey u. Corbett 1983). Verlieren halb verhungerte Ratten Gewicht, setzt ein biologischer Druck ein, mit dem versucht wird, das verlorene Gewicht wiederherzustellen: Der Hunger der Tiere wird größer und ihr Energieverbrauch geringer. Steigt das Körpergewicht an – z. B. wenn Ratten zwangsweise gefüttert werden –, verringert sich ihr Hunger, und ihr Energieverbrauch steigt an. Das stabile Gewicht, auf das sich die hungernden und die gesättigten Ratten zubewegen, ist ihr Set Point. Bei Ratten und bei Menschen beeinflusst das Erbgut die Körperform und den Set Point. Der menschliche Körper reguliert sein Gewicht über die Steuerung der Nahrungsaufnahme, des Energieverbrauchs und des Grundumsatzes, d. h. der Energiemenge, die für die Erhaltung der grundlegenden Körperfunktionen im Ruhezustand benötigt wird. Als sie nach 24 Wochen aufhörten zu hungern, hatten sich die Männer, die an Keys Experiment teilnahmen, auf 75% ihres Ausgangsgewichts eingependelt, obwohl sie nur halb so viel aßen wie zuvor. Diese Stabilisierung ergab sich aus einer Verringerung ihres Energieverbrauchs, der zum Teil durch körperliche Lethargie bewirkt wurde, und teilweise durch eine Herabsetzung ihres Grundumsatzes um 29%. In einem anderen Experiment erhielten Versuchspersonen 8 Wochen lang 1000 Kalorien zu viel pro Tag. Die Teilnehmer, die am wenigsten zunahmen, neigten dazu, die zusätzlichen Kalorien durch Zappeligkeit und Unruhe zu verbrauchen (Levine et al. 1999). Unter normalen Umständen wiegen diejenigen, die nicht still sitzen können (und mehr Kalorien verbrennen), weniger als die eher inaktiven fettleibigen Menschen, berichten Levine et al. (2005). (Die Forscher statteten die Teilnehmer an der Untersuchung mit einer Unterwäsche aus, die 10 Tage lang zweimal pro Sekunde ihre Bewegungen registrierte.) Einige Forscher bezweifeln jedoch, dass der Körper einen präzisen Set Point hat, der den Hunger steuert. Sie glauben, dass langsame, anhaltende Veränderungen des Körpergewichts zu einer Anpassung des Set Points führen könnten. Dies lässt Zweifel an der Vorstellung aufkommen, dass unser Körper über eine voreingestellte Tendenz verfügt, das optimale Körpergewicht aufrechtzuerhalten (Assanand et al. 1998). Psychische Faktoren können unsere Hungergefühle beeinflussen. Wenn sie Zugang zu einer breiten Vielfalt wohlschmeckender Nahrungsmittel haben, neigen Menschen und andere Lebewesen dazu, zu viel zu essen und zuzunehmen. Aus all diesen Gründen haben einige Forscher die Vorstellung eines biologisch feststehenden Set Points aufgegeben. Sie ziehen den Begriff Einstellpunkt (settling point) vor, um auf das Niveau zu verweisen, auf den sich das Gewicht einer Person in Reaktion auf die Kalorienaufnahme und die Verausgabung einstellt (dies wird von der Umwelt, aber auch von der Biologie beeinflusst).
12.2.2
Psychologie des Hungers
Ziel 7: Erörtern Sie psychische und kulturelle Einflüsse auf den Hunger.
Unsere Bereitschaft zu essen wird tatsächlich von unserem physiologischen Zustand angetrieben, von unserer Körperchemie und der Aktivität des Hypothalamus. Trotzdem spielt beim Hunger nicht nur der Magen eine Rolle. Dies wurde sehr deutlich, als Rozin et al. (1998) 2 Patienten mit Amnesie untersuchten, die sich nicht an Ereignisse erinnern konnten, die länger als 1 Minute
521 12.2 · Hunger
Erworbener Geschmack Für diese Campa-Indianer in Peru sind geröstete Ameisen eine Köstlichkeit. Überall auf der Welt lernen Menschen, das fette, bittere oder scharfe Essen zu schätzen, das für ihre Kultur typisch ist
Victor Englebert
zurücklagen. Bot man den Patienten 20 Minuten nach ihrem normalen Mittagessen eine weitere Mahlzeit an, verspeisten beide Patienten auch diese bereitwillig … und normalerweise auch noch eine dritte Mahlzeit 20 Minuten nach Beendigung der zweiten. Daraus lässt sich folgern, dass ein Teil unseres Wissens, wann wir essen sollen, daraus entsteht, dass wir uns daran erinnern, wann wir das letzte Mal gegessen haben. Ist eine geraume Zeit seit unserer letzten Mahlzeit verstrichen, wissen wir, dass es bald wieder Essen gibt, und werden hungrig.
12
Geschmacksvorlieben: Biologie oder Kultur? Die Körperchemie und äußere Faktoren haben nicht nur Einfluss darauf, wann wir hungrig werden, sondern auch, worauf wir Hunger haben; sie haben also Einfluss auf unsere Geschmacksvorlieben. Wenn Sie sich angespannt und deprimiert fühlen, spüren Sie dann ein Verlangen nach Essen mit vielen Kohlenhydraten? Kohlenhydrate tragen dazu bei, dass der Neurotransmitter Serotonin, der beruhigend wirkt, vermehrt ausgeschüttet wird. Unsere Vorliebe für süße und salzige Nahrungsmittel ist angeboren und universell. Andere Geschmacksvorlieben werden erlernt; so entwickeln Menschen z. B. eine Vorliebe für stark gesalzene Nahrungsmittel, wenn sie sie häufig bekommen haben (Beauchamp 1987). Oder sie entwickeln eine Aversion gegen ein bestimmtes Nahrungsmittel, wenn sie kurz danach ernsthaft krank geworden sind. (Die Häufigkeit, mit der Kinder krank werden, vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass sie Aversionen gegen Nahrungsmittel erlernen.) Auch die Kultur beeinflusst die Geschmacksvorlieben. Beduinen essen gerne Kamelaugen, die viele Menschen aus westlichen Kulturen ekelhaft finden. Amerikaner und Europäer lehnen überwiegend ab, Hunde-, Ratten- und Pferdefleisch zu essen, das in anderen Erdteilen als Delikatesse gilt. Unsere natürliche Vorsicht gegenüber Dingen, die uns nicht vertraut sind, weitet sich auf neuartige Nahrungsmittel aus (besonders auf Nahrungsmittel tierischen Ursprungs, weniger auf vegetarisches Essen). In Experimenten probierten Menschen neue Obstsäfte oder Speisen aus einer anderen Kultur. Je häufiger sie die Nahrung zu sich nahmen, desto mehr gefiel ihnen meistens auch der neue Geschmack. Auch erhöht sich unsere Bereitschaft, etwas Neues zu kosten, sobald wir einmal eine solche Erfahrung gemacht haben (Pliner 1982; Pliner et al. 1993). Auch Ratten neigen dazu, ihnen nicht vertraute Nahrung zu meiden (Sclafani 1995). Für unsere Vorfahren war diese Neophobie (die Angst gegenüber dem Neuen) gewiss sinnvoll, denn sie war auch ein Schutz vor möglicherweise giftigen Substanzen. Andere Geschmacksvorlieben haben ebenso einen Sinn für die Anpassung. So verhindern z. B. die Gewürze, deren Verwendung in heißen Ländern verbreitet ist, wo Speisen – vor allem Fleisch – schnell verderben, das Wachstum von Bakterien (. Abb. 12.6). Schwangerschaftsübelkeit ist ein weiteres Beispiel für nützliche Geschmacksvorlieben. Nahrungsmittelaversionen, die auf diese Übelkeit zurückgehen und den sich entwickelnden Embryo schützen, treten vor allem um die 10. Woche herum auf, wenn die Gefahr am größten ist, dass der Embryo durch Giftstoffe geschädigt wird.
. Abb. 12.6. In heißen Regionen liebt man scharfe Gewürze In Ländern mit heißem Klima, wo Nahrung immer schon schneller verdarb, entwickelten sich Rezepte mit mehr Gewürzen, die Bakterien abtöten (Sherman u. Flaxman 2001). In Indien würzt man ein Fleischgericht durchschnittlich mit 10, in Finnland mit 2 Gewürzen
522
Kapitel 12 · Motivation
Essstörungen Ziel 8: Erklären Sie, in welcher Weise die Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa zeigen, welchen Einfluss psychische Faktoren auf physiologisch motivierte Verhaltensweisen haben.
Anorexia nervosa (anorexia nervosa): Essstörung, bei der eine normalgewichtige Person (meistens ein Mädchen in der Adoleszenz) Diät hält und deutlich untergewichtig wird (15% oder mehr), sich aber trotzdem zu dick fühlt und weiter hungert Bulimia nervosa (bulimia nervosa): Essstörung, die durch Fressepisoden gekennzeichnet ist, bei denen meistens riesige Kalorienmengen aufgenommen werden, gefolgt von Erbrechen, der Verwendung von Abführmitteln, Fasten oder exzessivem Sport
Zum Sterben dünn Anorexie wurde in den 1870er Jahren erstmals beschrieben und diagnostiziert, als sie unter Mädchen aus wohlhabenden Familien auftrat (Brumberg 2000). Dieses Foto von 1930 zeigt den körperlichen Zustand einer anorektischen Frau (links). Viele Stars von heute kämpfen öffentlich mit Essstörungen; dazu gehört auch die millionenschwere junge Schauspielerin Mary-Kate Olsen (rechts)
From New England Journal of Medicine, 207 (1932), 613–617
12
Cinetext/Allstar
Psychische Einflüsse auf unser Essverhalten werden besonders offenkundig, wenn der Wunsch nach extremer Schlankheit stärker wird als das Prinzip der physiologischen Homöostase. Zwei solcher Essstörungen sind die Anorexia nervosa und die Bulimia nervosa. Die Anorexia nervosa beginnt immer mit einem Versuch abzunehmen. Menschen mit dieser Störung liegen dann deutlich unter ihrem Normalgewicht (meist 15% oder mehr), sie fühlen sich aber trotzdem noch dick und sind davon besessen abzunehmen. Sogar wenn diese Personen – gewöhnlich Jugendliche und in 9 von 10 Fällen weiblich – schon abgemagert sind, beschränken sie weiterhin ihre Nahrungsaufnahme. Die Bulimia nervosa setzt fast immer ein, wenn eine Person, die eine Schlankheitskur macht, die Beschränkungen, die sie sich in der Kur auferlegt hat, durchbrochen und gierig etwas verschlungen hat. Personen mit Bulimie durchlaufen wiederholte Episoden mit Fressanfällen, auf die eine Kompensation durch Erbrechen, Benutzung von Abführmitteln, Fasten oder durch exzessive sportliche Aktivität folgt. Die meisten Bulimikerinnen sind Frauen kurz vor oder Anfang 20. Sie essen so, wie einige Menschen mit Alkoholabhängigkeit trinken – in Schüben, manchmal beeinflusst durch Freundinnen, die Fressanfälle haben (Crandall 1988). Wie Anorektikerinnen beschäftigen sich auch Bulimiekranke vor allem mit dem Thema Essen (sie gieren nach süßen und fettreichen Speisen) und haben Angst davor, übergewichtig zu werden; sie machen Angstattacken und depressive Verstimmungen durch, die während und nach den Fressanfällen am schlimmsten sind (Hinz u. Williamson 1987; Johnson et al. 2002). Ungefähr die Hälfte der an Anorexie Erkrankten haben auch Fress-Brech-Anfälle mit anschließender Depression. Im Gegensatz zu Anorektikerinnen nehmen Bulimikerinnen meist nicht so stark ab, sondern ihr Gewicht fluktuiert um ihr Normalgewicht. Dadurch kann die Störung besser verborgen werden. Essstörungen sind kein offenkundiges Zeichen für sexuellen Missbrauch in der Kindheit, wie von manchen vermutet wurde (Smolak u. Murnen 2002; Stice 2002). Trotzdem ist die Familie häufig ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung einer Essstörung, wenn auch auf andere Weise. Die Mütter essgestörter Mädchen beschäftigen sich häufig ebenfalls intensiv mit ihrem Gewicht sowie mit Gewicht und Aussehen ihrer Töchter (Pike u. Rodin 1991). Bei Familien von Bulimie-Patientinnen kommt Fettleibigkeit in der Kindheit und eine negative Selbstbewertung häufiger als gewöhnlich vor; sie kommen oft aus Familien, die konkurrenzorientiert, sehr leistungsfähig und beschützend sind (Pate et al. 1992; Yates 1989, 1990). Die Betroffenen setzen sich perfektionistische Standards, machen sich Sorgen, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen, und machen sich sehr viele Gedanken darüber, wie andere sie wahrnehmen (Polivy u. Herman 2002; Striegel-Moore et al. 1993). Aufgrund einiger dieser Faktoren lässt sich auch bei Jungen im Teenageralter vorhersagen, dass sie ein unrealistisches Muskelwachstum anstreben werden (Ricciardelli u. McCabe 2004).
523 12.2 · Hunger
12
! Es besteht ein Zusammenhang zwischen Essstörungen und der familiären Situation der Betroffenen, doch scheinen auch genetische Einflüsse bei der Entstehung von Essstörungen eine Rolle zu spielen.
Bei eineiigen Zwillingen ist im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein Zwilling erkrankt, wenn der andere bereits krank ist (Fairburn et al. 1999; Kaplan 2004). Möglicherweise wurden derartige Gene durch die Evolution vorher festgelegt, merkt Guisinger (2004) an. Angesichts von Hungersnöten war vielleicht bei denjenigen unserer Vorfahren, die sich gegen das Verhungern stemmten und eher hyperaktiv wurden, als Ruhe zu geben und sich hinzusetzen, die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie nach Nahrung suchten. Es gibt außerdem noch eine kulturelle Erklärung dafür, dass Anorexie und Bulimie meist bei Frauen auftreten, und in Gesellschaften, die sehr auf das Gewicht bedacht sind. Die Vorstellungen vom idealen Körper sind von Kultur zu Kultur je nach der Zeit unterschiedlich. In Indien stufen Studentinnen ihre idealen Körpermaße nahe ihren tatsächlichen Maßen ein. In großen Teilen Afrikas – wo Schlankheit ein Signal für Armut, AIDS und Hunger ist und die Reichen pummelig sind – ist dicker gleichbedeutend mit besser (Knickmeyer 2001). Nach einer neueren Analyse von 222 Studien mit 141.000 Personen fiel jedoch in westlichen Kulturen der Anstieg der Essstörungen während der letzten 50 Jahre mit einer dramatischen Zunahme von Frauen zusammen, die ein negatives Bild von ihrem Körper haben (Feingold u. Mazzella 1998). In anderen Forschungsarbeiten wurde bestätigt, dass Menschen, die anfällig für Essstörungen sind, auch diejenigen sind, die Schlankheit am stärksten idealisieren und die mit ihrem Körper am unzufriedensten sind (Stice 2002; Thompson u. Stice 2001; Vohs et al. 2001). Es überrascht nicht, dass es sich hier am häufigsten um Frauen handelt. In einer nationalen Umfrage berichteten fast die Hälfte der Bürgerinnen der USA, dass sie mit ihrem Aussehen nicht zufrieden sind und Angst davor haben, zu dick zu werden (Cash u. Henry 1995). Und bei einer Umfrage unter 3500 Angestellten von Banken und Universitäten in Großbritannien waren tatsächlich eher die Männer übergewichtig; doch die Frauen nahmen sich selbst als dick wahr (Emslie et al. 2001). Zu ähnlichen Geschlechtsunterschieden kam es in einem Experiment von Fredrickson (1998), die Männer und Frauen darum bat, einen Pullover oder einen Badeanzug anzuziehen und einen Mathematiktest zu machen, während sie allein im Umkleideraum waren. Bei den Frauen – nicht jedoch bei den Männern – führte
»Diana blieb tief in ihrem Herzen ein sehr unsicherer Mensch, sie war fast kindlich in ihrem Verlangen, für andere Gutes zu tun. Auf diese Weise konnte sie sich von ihren intensiv empfundenen Gefühlen, wertlos zu sein, befreien, für die ihre Essstörungen nur ein Symptom waren.« Charles, 9. Earl of Spencer, in der Grabrede für seine Schwester, Prinzessin Diana, 1997
. Abb. 12.7. Analyseniveaus bei der Hungermotivation Wir werden eindeutig von unserer Biologie dazu gebracht zu essen. Doch psychische und soziokulturelle Faktoren haben einen Einfluss darauf, was, wann und wie viel wir essen
524
Kapitel 12 · Motivation
das Tragen des Badeanzugs und die damit verbundene Selbstaufmerksamkeit und Scham dazu, dass ihre Leistung im Mathematiktest sank. Bei einer informellen Umfrage unter 60.000 Befragten sagten 90% der Frauen, sie hätten lieber selbst einen vollkommenen Körper als einen Partner mit einem vollkommenen Körper; 60% der Männer bevorzugten das Umgekehrte (Lever 2003). ! Ein Teil des kulturellen Drucks, dünn zu sein, wird ganz sicher auch durch das »Schlankheitsideal« übermittelt, das z. B. in Modemagazinen, Werbespots und sogar bei einigen Spielzeugen zum Ausdruck kommt.
»Warum haben Frauen ein so geringes Selbstwertgefühl? Es gibt viele komplexe psychische und gesellschaftliche Gründe dafür; und ein wichtiger Grund ist Barbie.« Dave Barry (1999)
Was passiert Ihrer Meinung nach mit jungen Mädchen, die in Modemagazinen immer wieder retuschierte Fotos von Models sehen, die unnatürlich dünn zu sein scheinen (Tovee et al. 1997)? Stice u. Shaw (1994) sowie Posavac et al. (1998) berichten, dass sich Frauen oft genieren, depressiv werden und mit ihrem Körper unzufrieden sind. Genau diese Haltung führt jedoch zu Essstörungen. Als Stice et al. (2001) einigen jungen Mädchen für 15 Monate ein Abonnement einer Modezeitschrift für Teenager schenkten (anderen aber nicht), waren diese Mädchen unzufriedener mit ihrem Körper und hatten stärkere Tendenzen zu Essstörungen. Aber sogar die ultradünnen Models entsprechen nicht dem nahezu unerreichbaren Standard der klassischen Barbiepuppe. Wäre sie 1,80 Meter groß, wären ihre Maße 82–41–73 (Brüste, Taille, Hüften in Zentimetern), ein Bild, dem weniger als eine Frau unter 100.000 entspricht (Norton et al. 1996). Es scheint klar zu sein, dass das Krankhafte an den heutigen Essstörungen nicht nur in den Betroffenen zu suchen ist, sondern auch in unserer von Schlankheit besessenen Kultur. Es ist eine Kultur, die auf vielfältige Weise sagt: »Dick ist gleichbedeutend mit schlecht.« Dies motiviert Millionen von Frauen dazu, ständig Diäten zu machen – und löst gleichzeitig Fressanfälle aus, da Frauen permanent in einem Zustand leben, in dem sie halb verhungert sind. So unwiderstehlich unsere biologischen Motive auch sein mögen, das Essverhalten wird eindeutig durch psychische und soziokulturelle Faktoren beeinflusst (. Abb. 12.7).
Lernziele Abschnitt 12.2 Hunger
12
Ziel 6: Beschreiben Sie die physiologischen Einflussfaktoren auf Hunger. Washburn u. Cannon haben gezeigt, dass der innere Druck durch Hunger den Kontraktionen des Magens entspricht, aber Hunger hat andere Ursachen. In der Körperchemie, die unser Hungergefühl beeinflusst, können individuelle Unterschiede mit den folgenden Stoffen zu tun haben: Insulin (von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet; steuert den Blutzuckerspiegel), Leptin (von den Fettzellen ausgeschüttet; sendet ein Signal ans Gehirn, den Stoffwechsel in Gang zu setzen und den Hunger abnehmen zu lassen), Orexin (vom Hypothalamus ausgeschüttet; löst Hunger aus), Ghrelin (durch einen leeren Magen ausgeschüttet; sendet Hungersignale ans Gehirn) und PYY (vom Verdauungstrakt ausgeschüttet; sendet das Signal ans Gehirn, dass man nicht hungrig ist). All diese Informationen kommen in den beiden Arealen des Hypothalamus zusammen, die das Körpergewicht regulieren, indem sie unser Gefühl des Hungers und der Sättigung beeinflussen. Die Wissenschaftler sind unterschiedlicher Auffassung darüber, ob der Körper einen genau festgelegten Set Point hat (eine biologisch angelegte Neigung, ein optimales Gewicht aufrechtzuerhalten) oder einen Einstellpunkt (settling point; ein von der Umwelt und der Biologie beeinflusstes Niveau, auf das sich das Gewicht in Reaktion auf Kalorienaufnahme und -verausgabung einstellt).
Ziel 7: Erörtern Sie psychische und kulturelle Einflüsse auf den Hunger. Der Hunger wird bei uns nicht nur vom körperlichen Zustand beeinflusst, sondern auch von unserer Erinnerung daran, wann wir das letzte Mal gegessen haben, und von unserer Erwartung in Bezug darauf, wann wir wieder essen sollten. Und obwohl wir Menschen als Art bestimmte Geschmäcker bevorzugen (wie etwa süß und salzig), lernen wir, diesen Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel im Kontext unserer Familie und unserer Kultur nachzugehen. Einige unserer Geschmacksvorlieben (z. B. die Vermeidung neuer Nahrungsmittel oder solcher, die uns krank werden ließen) haben einen Wert für das Überleben. Ziel 8: Erklären Sie, in welcher Weise die Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa zeigen, welchen Einfluss psychische Faktoren auf physiologisch motivierte Verhaltensweisen haben. In den letzten 50 Jahren verschlechterte sich das Bild, das Frauen von ihrem Körper haben, zunehmend; damit nahmen in den westlichen Kulturen auch die Essstörungen bei Frauen zu. Sowohl bei der Anorexie als auch bei der Bulimie bringen psychische Faktoren (z. B. schwierige Konstellationen in der Familie und die Gewichtsfixierung der Gesellschaft) den homöostatischen Antrieb durcheinander, einen ausbalancierten inneren Zustand aufrechtzuerhalten. Menschen mit Anorexia nervosa (gewöhnlich Mädchen im Jugendalter) verhungern fast, setzen aber ihre Diät fort, weil sie sich selbst zu dick finden. Personen mit Bulimia nervosa (vorwiegend weiblich im Alter zwischen 10 und 30) haben heimlich 6
525 12.3 · Sexuelle Motivation
Fressattacken und entleeren dann künstlich ihren Darm bzw. Magen. Zusätzlich zum kulturellen Druck scheinen ein geringes Selbstwertgefühl und negative Emotionen mit belastenden Lebenserfahrungen zu interagieren; das alles führt zu diesen Störungen. Die Zwillingsforschung deutet jedoch auch darauf hin, dass diese Essstörungen eine genetische Komponente haben können.
> Denken Sie weiter: Sind Ihnen die Hungersignale Ihres Körpers bekannt? Essen Sie, wenn Ihr Körper Nahrung braucht? Oder neigen Sie dazu, eher von äußeren Faktoren beeinflusst zu werden, z. B. von verlockendem Essen, selbst wenn Sie schon satt sind?
Sexuelle Motivation
Sexualität gehört zum Leben. Hätten Ihre Vorfahren das nicht so empfunden, würden Sie dieses Buch nicht lesen. Sexuelle Motivation ist der clevere Trick der Natur, die Menschen dazu zu bringen, sich fortzupflanzen und damit das Überleben ihrer Art zu sichern. Fühlen sich 2 Menschen voneinander angezogen, halten sie selten inne, um darüber nachzudenken, dass sie gerade von ihren Genen gesteuert werden. Ist die Lust, die wir beim Essen empfinden, die einfallsreiche Methode der Natur dafür, die Nahrungsaufnahme zu sichern, dann ist die Lust am und beim Sex die Methode unserer Gene, sich zu erhalten und weitergegeben zu werden. Die ersten Beschreibungen des Sexualverhaltens in den USA stammen von dem Biologen Alfred Kinsey und seinen Kollegen (Kinsey et al. 1948, 1953). Sie stellten fest, dass sie manche Fragen ihrer Studierenden über die Sexualpraktiken beim Menschen nicht beantworten konnten und machten sich auf die Suche nach Antworten. Für die Leserschaft in den 1940er Jahren waren Kinseys kontrovers diskutierten Forschungsarbeiten schockierend. Sozialwissenschaftler waren schnell bei der Hand mit Kritik, dass seine Stichprobe nicht nach dem Zufall ausgewählt worden war und überzufällig viele gut ausgebildete weiße Städter enthielt, was Kinsey jedoch schon selbst angemerkt hatte. Trotzdem wurden seine Veröffentlichungen, die viele Statistiken enthielten, zu Verkaufsschlagern. Hier erfuhren die Leser überraschende Neuigkeiten: dass beispielsweise die meisten Männer und fast die Hälfte der Frauen vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hatten, dass die meisten Frauen und so gut wie alle Männer masturbierten und dass Frauen, die vor der Ehe schon bis zum Orgasmus masturbiert hatten, nach der Eheschließung selten Orgasmusprobleme hatten. Kinseys Bücher berichteten außerdem von einer enormen Variationsbreite sexuellen Verhaltens. Einige Männer und Frauen sagten, sie hätten noch nie einen Orgasmus gehabt, während andere 4 oder mehr Orgasmen pro Tag angaben. ! Kinseys nicht repräsentative Stichprobe und auch zuverlässigere Befunde aus anderen Studien machen deutlich, welche Unterschiede es bei dem gibt, was überall auf der Welt als »normales« sexuelles Verhalten bezeichnet wird.
Geht man von dieser riesigen Spannbreite sexueller Triebe und sexuellen Verhaltens aus, fallen unsere eigenen sexuellen Interessen wahrscheinlich problemlos unter das, was als »normal« gilt.
12.3.1
Physiologie der Sexualität
Genauso wie der Hunger ergibt sich auch die sexuelle Erregung aus einem Zusammenspiel von inneren und äußeren Reizen. Um die sexuelle Motivation verstehen zu können, müssen wir beides berücksichtigen.
Der sexuelle Reaktionszyklus Ziel 9: Beschreiben Sie den sexuellen Reaktionszyklus beim Menschen, und erörtern Sie einige Ursachen für sexuelle Störungen.
Die Schlagzeilen, die schon nach Kinseys Umfragen in den 1940er Jahren zu lesen gewesen waren, erschienen in den 1960ern erneut, nachdem andere Wissenschaftler die physiologischen Reaktionen von Freiwilligen aufzeichneten, die vor ihren Augen masturbierten oder Geschlechtsver-
»Vielleicht … beginnt es mit einem Kuss.« Der Fotograph Lennart Nilsson, der mit Fotos von Embryos berühmt wurde, als Antwort auf die Frage: »Wann beginnt das Leben?«
Bei einer Umfrage unter 18.876 Personen gaben 1% an, asexuell zu sein und »noch nie das Gefühl gehabt zu haben, dass überhaupt irgendjemand für sie sexuell attraktiv ist«. (Bogaert 2004)
C. Styrsky
12.3
12
526
Kapitel 12 · Motivation
Sexueller Reaktionszyklus (sexual response cycle): die 4 Phasen der sexuellen Reaktion, die von Masters u. Johnson beschrieben wurden: Erregung, Plateau, Orgasmus und Entspannung.
Das Risiko für einen Herzinfarkt liegt bei einem nicht rauchenden 50-jährigen Mann in einer beliebigen Stunde bei 1:1.000.000. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich auf 2:1.000.000 in der Stunde nach dem Geschlechtsverkehr (das gilt nicht für Männer, die regelmäßig Sport treiben). Wenn man das mit den Risiken bei starker Anstrengung oder Ärger (7 Kap. 16) vergleicht, muss man sich keine schlaflosen (oder sexlosen) Nächte machen (Muller et al. 1996).
12
Refraktärphase (refractory period): Ruheperiode nach dem Orgasmus, während der ein Mann keinen weiteren Orgasmus haben kann.
Sexuelle Störung (sexual disorder): anhaltende Störung der sexuellen Erregung oder Funktionsfähigkeit.
kehr hatten. Mit der Hilfe von 382 weiblichen und 312 männlichen Freiwilligen – einer etwas unrepräsentativen Stichprobe, da sie nur aus Menschen bestand, die in der Lage und bereit dazu waren, ihre Erregung und ihren Orgasmus unter Beobachtung in einem Labor zu erleben – beobachteten und filmten Masters u. Johnson (1966) mehr als 10.000 sexuelle »Zyklen«. Bei ihrer Beschreibung des sexuellen Reaktionszyklus machten sie 4 Phasen aus, die bei Männern und Frauen ähnlich verliefen. Während der ersten Erregungsphase füllen sich die Genitalien mit Blut. Die Vagina erweitert sich und wird feucht, manchmal vergrößern sich außerdem die Brüste und Brustwarzen der Frau. In der Plateauphase erreicht die Erregung mit einem Anstieg der Atmung, des Pulses und des Blutdrucks ihren Höhepunkt. Der Penis erigiert vollständig, und etwas Flüssigkeit – die meistens genügend Sperma für eine Befruchtung enthält – tritt vorne aus. In der Vagina wird Flüssigkeit abgesondert, die Klitoris wird wieder kleiner, und der Orgasmus steht bevor. Masters u. Johnson beobachteten, dass während des Orgasmus die Muskeln im ganzen Körper angespannt sind; dies geht mit einer weiteren Erhöhung von Atmung, Puls und Blutdruck einher. Die Erregung und der Orgasmus der Frau wirken sich fördernd auf die Befruchtung aus. Denn die Gebärmutter nimmt eine Position ein, die es leichter macht, Spermien aufzunehmen und sie nach innen weiterzuleiten. Der weibliche Orgasmus verstärkt also nicht nur den Geschlechtsverkehr, der für die natürliche Fortpflanzung wesentlich ist, sondern führt auch dazu, dass das ausgeschüttete Sperma im weiblichen Körper zurückgehalten wird (Furlow u. Thornhill 1996). In der Hitze des Augenblicks sind sich Frauen und Männern all dessen kaum bewusst, wenn sie sich auf ihre rhythmischen genitalen Bewegungen konzentrieren, die ein angenehmes Gefühl der sexuellen Entspannung schaffen. Anscheinend sind die Empfindungen bei Männern und Frauen hier annähernd gleich. In einer Studie konnte eine Stichprobe von Experten nicht zwischen den Orgasmusbeschreibungen von Männern oder Frauen unterscheiden (Vance u. Wagner 1976). Holstege et al. (2003a, b), Neurowissenschaftler von der Universität Groningen, wissen jetzt warum. Sie entdeckten bei PETSchichtaufnahmen des Gehirns, dass während des Orgasmus bei Männern und Frauen dieselben subkortikalen Regionen auf den Bildern aufleuchteten. Und wenn man bei Personen, die leidenschaftlich verliebt sind, fMRI-Schichtaufnahmen des Gehirns macht, während sie sich das Foto ihres Geliebten bzw. einer fremden Person ansehen, dann sind sich die Hirnreaktionen von Männern und Frauen auf ihren Partner recht ähnlich (Fisher et al. 2002). Nach dem Orgasmus kehrt der Körper nach und nach wieder in seinen nicht erregten Zustand zurück. Aus den erweiterten genitalen Blutgefäßen fließt das Blut wieder ab – sehr schnell, wenn es zum Orgasmus gekommen ist, ansonsten ziemlich langsam. (Genauso wie das Jucken der Nase, das nach dem Niesen sofort weg ist, sonst aber noch länger zu spüren ist.) Während dieser Entspannungsphase erlebt ein Mann eine Refraktärphase, in der er keinen weiteren Orgasmus haben kann und die einige Minuten bis Tage dauern kann. Die viel kürzere Refraktärphase der Frau versetzt sie möglicherweise in die Lage, einen weiteren Orgasmus zu haben, wenn sie während oder kurz nach der Entspannungsphase erneut stimuliert wird. Masters u. Johnson wollten den menschlichen sexuellen Reaktionszyklus nicht nur beschreiben, sondern auch herausfinden, warum manche Menschen nicht fähig sind, ihn vollständig zu erleben, um eine Behandlung für diese Störung zu finden. Sexuelle Störungen sind Probleme, welche die sexuelle Funktionsfähigkeit anhaltend beeinträchtigen. Manche Störungen betreffen die sexuelle Motivation, es fehlt hier vor allem an sexueller Energie und der Fähigkeit, erregt zu werden. Andere Störungen, wie die vorzeitige Ejakulation oder Erektionsstörungen (die Unfähigkeit, eine Erektion zu bekommen oder zu halten), treten bei Männern auf, zu Orgasmusstörungen (wenn Orgasmen nur unregelmäßig oder nie erlebt werden) kommt es eher bei Frauen. Was führt zu diesen Problemen? Die Auffassung, dass Persönlichkeitsstörungen die Ursache sein könnten, wurde weithin abgelehnt. Die meisten Frauen mit sexuellen Problemen führen sie auf ihre emotionale Beziehung zum Partner während des Geschlechtsverkehrs zurück, nicht auf körperliche Aspekte der Aktivität (Bancroft et al. 2003). Männer und Frauen mit einer sexuellen Störung können von einer Verhaltenstherapie profitieren: Mit therapeutischer Hilfe kann der Mann lernen, den Ejakulationsdrang zu steuern, während die Frau Übungen erlernt, mit denen sie sich selbst zum Orgasmus bringen kann. Seit der Einführung von Viagra 1998 werden Erektionsstörungen routinemäßig mit diesem Medikament behandelt.
527 12.3 · Sexuelle Motivation
12
Hormone und Sexualität Ziel 10: Erörtern Sie den Einfluss der Hormone auf die sexuelle Motivation und das Sexualverhalten.
Geschlechtshormone haben 2 Wirkungen: Sie steuern die körperliche Entwicklung der männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmale und aktivieren (vor allem bei Tieren) das Sexualverhalten. Bei den meisten Säugetieren sind Sexualität und Fruchtbarkeit verknüpft. Das weibliche Tier wird sexuell empfänglich (»heiß«), wenn die Produktion des weiblichen Hormons Östrogen während des Eisprungs ihren Höhepunkt erreicht. In Experimenten können Wissenschaftler die sexuelle Empfänglichkeit weiblicher Tiere mit Östrogen stimulieren. Der Hormonspiegel des Mannes ist konstanter, und Forscher können das Sexualverhalten männlicher Tiere nicht so leicht mit Hormonen manipulieren (Feder 1984). Trotzdem verlieren kastrierte Ratten ohne Hoden, die normalerweise das Geschlechtshormon Testosteron produzieren, einen Großteil ihres Interesses an empfangsbereiten weiblichen Tieren. Injiziert man ihnen Testosteron, kommt es jedoch nach und nach zurück. Bei Menschen ist der Einfluss der Geschlechtshormone auf das menschliche Sexualverhalten nicht so eindeutig festzumachen, obwohl das sexuelle Verlangen bei Frauen mit Partnern während des Eisprungs leicht zunimmt (Pillsworth et al. 2004). In einer Studie wurden Frauen mit einer Beziehung, die nicht dem Risiko einer Schwangerschaft ausgesetzt waren, gebeten, ein Tagebuch über ihre sexuellen Aktivitäten zu führen. (Diese Frauen verwendeten entweder ein intrauterines Pessar oder hatten sich sterilisieren lassen.) In den Tagen um den Eisprung hatten sie um 24% häufiger Geschlechtsverkehr als sonst (Wilcox et al. 2004). Die Sexualität der Frau unterscheidet sich jedoch auch darin von der Sexualität anderer weiblicher Säugetiere, dass Frauen stärker auf den Testosteronspiegel reagieren als auf den Östrogenspiegel (Meston u. Frohlich 2000; Reichman 1998). Sinkt der weibliche Testosteronspiegel (z. B. nach einer Entfernung der Eierstöcke oder der Nebenniere) schwindet bei der betroffenen Frau häufig das sexuelle Verlangen. Aber durch eine Testosteronersatztherapie kann das sexuelle Verlangen wiederhergestellt werden. Dies war bei 549 Frauen mit natürlich eingetretener Menopause der Fall, bei denen durch Testosteronersatz mit Hilfe eines Pflasters die sexuelle Aktivität, die Erregung und die Lust in stärkerem Maße wiederkehrte als durch ein Placebo (Davis et al. 2003; Kroll et al. 2004). Bei Männern haben Schwankungen im Testosteronspiegel, die von Mann zu Mann und über die Zeit hinweg auftreten, kaum Auswirkungen auf das sexuelle Verlangen (Byrne 1982). Fluktuationen im männlichen Hormonspiegel entstehen nämlich als Reaktion auf sexuelle Stimulation. Als Dabbs et al. (1987, 2000) heterosexuelle männliche Studenten darum baten, ein Vieraugengespräch mit einem Mann oder einer Frau zu führen, stieg ihr Testosteronspiegel bei jeder sozialen Interaktion an, vor allem aber dann, wenn sie mit Frauen sprachen. Die sexuelle Erregung kann daher sowohl Ursache als auch Ergebnis einer Erhöhung des Testosteronspiegels sein. ! Obwohl die normalen kurzfristigen hormonellen Veränderungen kaum einen Einfluss auf das sexuelle Verlangen von Männern und Frauen haben, wirken sich größere Schwankungen des Hormonspiegels doch im Lauf des Lebens aus.
Der Wunsch nach Verabredungen und sexuellen Kontakten nimmt in der Pubertät normalerweise in dem Maße zu, in dem mehr Geschlechtshormone produziert werden, wie es in Bezug auf den Testosteronspiegel bei Jungen in dieser Zeit geschieht. Wird dieser hormonelle Anstieg unterbrochen – dies geschah im 16. und 17. Jahrhundert bei einigen Jungen, die vor der Pubertät kastriert wurden, um ihre Sopranstimmen für die italienische Oper zu erhalten –, bleiben die normale Entwicklung der Geschlechtsmerkmale und das Verlangen nach Sexualität aus (Peschel u. Peschel 1987). Auch bei erwachsenen Männern, die kastriert werden, nimmt der Sexualtrieb normalerweise mit der Verminderung des Testosteronspiegels ab (Hucker u. Bain 1990). Männliche Sexualstraftäter verlieren einen Großteil ihres Geschlechtstriebs, wenn sie freiwillig das Medikament Depo-Provera einnehmen, das den Testosteronspiegel auf den eines präpubertären Jungen reduziert (Money et al. 1983). Im späteren Leben, wenn weniger Geschlechtshormone produziert werden, nimmt auch die Häufigkeit der sexuellen Fantasien und des Geschlechtsverkehrs ab (Leitenberg u. Henning 1995). Männern mit unnormal niedrigem Testosteronspiegel kann normalerweise eine Testosteronersatztherapie helfen, die häufig ihren Geschlechtstrieb und gleichzeitig auch ihre Energie und Vitalität steigert (Yates 2000).
Östrogen (estrogen): Geschlechtshormon, das bei Frauen in größerem Umfang vorkommt als bei Männern. Bei nichtmenschlichen weiblichen Säugetieren erreicht der Östrogenspiegel beim Eisprung seinen Höhepunkt und regt die sexuelle Empfänglichkeit an.
Testosteron (testosterone): das wichtigste männliche Geschlechtshormon; es kommt sowohl bei Frauen als auch bei Männern vor. Aber das zusätzliche Testoteron bei männlichen Lebewesen stimuliert das Wachstum der männlichen Geschlechtsorgane im Fötus und die Entwicklung der männlichen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät.
528
Kapitel 12 · Motivation
Zusammenfassend können wir sagen: Die menschlichen Geschlechtshormone sind so etwas wie der Treibstoff eines Autos. Ohne Benzin fährt ein Auto nicht. Tankt man aber genügend, um es wieder starten zu können, wird mehr Benzin nicht dazu führen, dass das Auto anders fährt. Allerdings hinkt dieser Vergleich, weil die Interaktion zwischen Hormonen und Sexualität keine Einbahnstraße ist. Trotzdem wird daran aber recht deutlich, dass die Biologie zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Erklärung für das menschliche Sexualverhalten liefert. Der hormonelle Treibstoff ist von wesentlicher Bedeutung, genauso aber die psychischen Reize, die den Motor anlassen, ihn am Laufen halten und ihn einen Gang zulegen lassen.
12.3.2
Psychologie der Sexualität
Ziel 11: Beschreiben Sie, welche Rolle äußere Reize und Fantasien bei der sexuellen Motivation und beim Sexualverhalten spielen.
Hunger und Sexualität sind verschiedene Arten der Motivation. Hunger entsteht aus einer Notwendigkeit. Essen wir nicht, dann sterben wir. So gesehen ist Sexualität keine Notwendigkeit. Ohne Sex fühlen wir uns vielleicht, als ob wir sterben müssten, aber wir tun es nicht. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten zwischen Hunger und Sexualität als Motivation. Beide hängen von inneren physiologischen Faktoren ab. Und beide werden von äußeren und vorgestellten Reizen sowie von kulturellen Erwartungen beeinflusst (. Abb. 12.8).
Äußere Reize »Wir haben eine Gesellschaft, die unser Interesse an Sex durch einen ständigen Kitzel anregt … Kino, Fernsehen und die ganze riesige Vielfalt unserer Marketingtechniken projizieren die sehr wirkungsvollen Formen des Kitzels und die Vorurteile über den Mann als sexy Tier in jeden Winkel jeder Bruchbude auf der Welt.« Germaine Greer (1984)
12
. Abb. 12.8. Analyseniveaus bei der sexuellen Motivation Verglichen mit unserer Motivation beim Essen wird bei uns die sexuelle Motivation weniger stark durch biologische Faktoren beeinflusst. Psychologische und soziokulturelle Faktoren spielen hier eine größere Rolle
Viele Studien bestätigen, dass Männer erregt werden, wenn sie erotisches Material sehen, hören oder lesen. Für viele überraschend ist die Tatsache (weil eindeutig sexuelle Medienerzeugnisse meist an Männer verkauft werden), dass die meisten Frauen, zumindest die weniger gehemmten Frauen, die freiwillig an diesen Studien teilnahmen, berichten, von denselben Reizen fast genauso stark erregt zu werden wie die Männer (Heiman 1975; Stockton u. Murnen 1992). (Ihre Gehirne reagieren jedoch durchaus unterschiedlich: fMRI-Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen eine aktivere Amygdala bei Männern, die sich erotische Bilder ansehen [Hamann et al. 2004].) Diese Erregung kann als angenehm oder als störend angesehen werden. (Diejenigen, die sich davon gestört fühlen, versuchen häufig, derartige Stimuli zu vermeiden, so wie Menschen, die Diät halten wollen, Schlüsselreize für Essen vermeiden.) Je öfter man sich erotischen Reizen aussetzt, desto stärker habituiert die emotionale Reaktion darauf, d. h. sie nimmt ab. Als in den 1920er
529 12.3 · Sexuelle Motivation
Jahren die Röcke von Frauen erstmals nur bis zum Knie gingen, stellte das nackte Bein der Frau einen erotischen Reiz dar, ebenso wie die (aus heutiger Sicht) sittsamen zweiteiligen Badeanzüge und die Filmszenen, in denen sich ein Paar küsste. Kann sexuell eindeutiges Material auch eine negative Wirkung haben? Forschungsergebnisse deuten diese Möglichkeit an. Bilder von Frauen, die zum Sex gezwungen werden und es sichtlich genießen, führen beim Betrachter zu einer Verbreitung der Vorstellung, dass Frauen Vergewaltigungen genießen, und erhöhen die Bereitschaft von Männern, Frauen zu verletzen (Malamuth u. Check 1981; Zillmann 1989). Menschen, die Bilder attraktiver und verführerischer Frauen und Männer betrachten, neigen dazu, ihre eigenen Partner und die Beziehung zu entwerten. Nachdem männliche Studenten im Fernsehen oder in Zeitschriften Bilder von attraktiven Frauen gesehen haben, finden sie häufig durchschnittliche Frauen oder ihre eigenen Freundinnen oder Ehefrauen weniger attraktiv (Kenrick u. Gutierres 1980; Kenrick et al. 1989; Weaver et al. 1984). Auch das Anschauen von Erotikfilmen führt dazu, dass die Zufriedenheit mit den eigenen Partnern abnimmt (Zillmann 1989). Einige Forscher haben die Vermutung geäußert, dass das Betrachten oder Lesen erotischen Materials Erwartungen erzeugen kann, die kaum ein Mann und kaum eine Frau wirklich erfüllt.
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Eindeutig sexuell gefärbte Fernsehsendungen lenken die Aufmerksamkeit von den Werbespots ab, die daraufhin leichter in Vergessenheit geraten. An Werbespots im Rahmen von nicht sexuell gefärbten oder nicht gewalttätigen Sendungen erinnert man sich besser (Bushman u. Bonacci 2002).
In der Fantasie vorgestellte Reize Manche sagen, das Gehirn sei unser wichtigstes Geschlechtsorgan. Die Reize in unserem Kopf – in unserer Vorstellung – können die sexuelle Erregung und das sexuelle Verlangen beeinflussen. Menschen, die nach einer Verletzung des Rückenmarks ihre Genitalien nicht mehr spüren können, empfinden trotzdem noch sexuelles Verlangen (Willmuth 1987). Denken Sie auch an das erotische Potenzial von Träumen. Schlafforscher haben entdeckt, dass jede Art von Träumen von sexueller Erregung begleitet wird, obwohl die meisten Träume keinen sexuellen Inhalt haben. Aber fast alle Männer und ungefähr 40% der Frauen (Wells 1986) haben manchmal Träume mit sexuellem Inhalt, die bis zum Orgasmus führen. Bei Männern sind nächtliche Orgasmen und Samenergüsse (»feuchte Träume«) wahrscheinlicher, wenn es nicht vor dem Einschlafen zum Orgasmus kam. Auch wache Menschen fühlen sexuelle Erregung nicht nur, wenn sie sich an frühere sexuelle Erlebnisse erinnern, auch sexuelle Fantasien lösen Erregung aus. In einer Umfrage über Masturbationsfantasien (Hunt 1974) erklärten 19% der Frauen und 10% der Männer, dass sie sich manchmal vorstellten, von jemandem »genommen« zu werden, der von Leidenschaft für sie überwältigt wird. Fantasie ist jedoch keine Realität. Oder im Sinne von Brownmiller (1975): Es ist ein großer Unterschied, sich vorzustellen, dass Brad Pitt Ihr »Nein« einfach nicht als Antwort akzeptiert, oder zu erleben, dass ein fremder Mann sich Ihnen aufdrängt, den Sie als feindselig erleben. (7 Diskussion zum Thema des Vergewaltigungsmythos in 7 Kap. 15.) Ungefähr 95% der Männer und Frauen geben an, dass sie sexuelle Fantasien hatten. Aber Männer (ob homo- oder heterosexuell) haben häufiger sexuelle Fantasien; diese richten sich eher auf körperliche Merkmale und sind weniger romantisch. Männer bevorzugen auch sexuelle Inhalte in Büchern und Filmen, die weniger personalisiert sind und schneller »zur Sache« kommen (Leitenberg u. Henning 1995). Sexuelle Fantasien sind kein Anzeichen für sexuelle Störungen oder mangelnde Befriedigung. Wenn es überhaupt einen Zusammenhang gibt, dann haben sexuell aktive Menschen häufiger sexuelle Fantasien.
12.3.3
Sexualität im Jugendalter
Ziel 12: Erörtern Sie einige Faktoren, die bei Jugendlichen einen Einfluss auf Schwangerschaft und die Einstellungen zur Empfängnisverhütung haben.
Die körperliche Entwicklung von Jugendlichen fügt ihrer Persönlichkeit eine sexuelle Dimension hinzu. Die Art, wie Sexualität ausgelebt wird, unterscheidet sich in verschiedenen Kulturen und über die Zeit hinweg sehr stark.
»Es macht keinen Unterschied, ob man vergewaltigt wird oder ob man von einem Lastwagen überfahren wird, nur dass Männer hinterher fragen, ob man Spaß daran hatte.« Marge Piercy, »Rape Poem« (1976)
530
Kapitel 12 · Motivation
Kulturelle Einflüsse Die Hälfte der amerikanischen Neunt- bis Zwölftklässler berichten, sie hätten bereits Geschlechtsverkehr gehabt, ebenso 42% der 16-jährigen Kanadier (Boroditsky et al. 1995; CDC, 2004). Von den vor 1900 geborenen amerikanischen Frauen hatten ganze 3% im Alter von 18 Jahren voreheliche sexuelle Erfahrungen gehabt (Smith 1998). In Deutschland geben gemäß einer Repräsentativbefragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2001) unter den 16-Jährigen 40% der Mädchen und 37% der Jungen an, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Und nur 11% der Mädchen und 13% der Jungen geben in diesem Alter an, noch keinerlei sexuelle Erfahrungen zu haben. In arabischen und asiatischen Ländern haben Teenager jedoch deutlich seltener Geschlechtsverkehr. Auch amerikanische Teenager asiatischer Abstammung machen seltener sexuelle Erfahrungen (McLaughlin et al. 1997). Bei einer Umfrage gaben nur 2,5% von 4688 unverheirateten chinesischen Studienanfängern an einer der 6 Universitäten in Hongkong an, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben (Meston et al. 1996). In den westlichen Staaten führte eine Steigerung der sexuellen Aktivität bei Jugendlichen im 20. Jahrhundert auch dazu, dass Teenagerschwangerschaften zunahmen. Die oft schlimmen materiellen Bedingungen bei den jugendlichen Müttern und ihren Kindern in einem Haushalt ohne den Vater führte dazu, dass eine Reihe von Forschungsarbeiten über die Verwendung empfängnisverhütender Mittel durch Jugendliche und zu ihrem Risiko, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken, durchgeführt wurden.
Teenagerschwangerschaften
12
»Wird Ihr Kind lernen, sich zu multiplizieren, bevor es subtrahieren kann?« Poster gegen Schwangerschaft bei Jugendlichen, Children’s Defense Fund
»Kondome sollten bei jeder vorstellbaren Gelegenheit verwendet werden.« Anonymus
Verglichen mit europäischen Jugendlichen haben amerikanische Jugendliche weniger Sex, benutzen aber auch weniger oft Verhütungsmittel, werden häufiger schwanger und treiben häufiger ab (Call et al. 2002) Nur ein Drittel der sexuell aktiven männlichen Teenager benutzt regelmäßig Kondome (Sonenstein 1992). Wie kommt das? 1. Unwissenheit: In Deutschland sind es unter den 17-Jährigen immerhin noch 48% der Jungen und 28% der Mädchen, die zugeben müssen, die fruchtbaren Tage der Frau nicht bestimmen zu können (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001). Die Hälfte der sexuell aktiven kanadischen Mädchen hat falsche Vorstellungen davon, wie sie sich vor Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten schützen können (Immen 1995). Die meisten Teenager überschätzen die sexuelle Aktivität ihrer Peergroup; diese Fehlwahrnehmung könnte ihr eigenes Verhalten beeinflussen (Child Trends 2001). 2. Schuldgefühle: Bei einer Umfrage gaben 72% der 12- bis 17-jährigen Amerikanerinnen, die Sex gehabt hatten, an, sie bedauerten es (Reuters 2000). Sexuelle Hemmungen können dazu führen, dass die sexuelle Aktivität seltener wird, gleichzeitig aber auch dazu, dass Verhütungsmaßnahmen vernachlässigt werden, wenn die Leidenschaft stärker ist als die guten Absichten (Gerrard u. Luus 1995). Jugendliche zögern häufig, ein Kondom mit sich zu tragen und zu verwenden, um zu verhindern, dass sie der Promiskuität oder der sexuellen Freizügigkeit beschuldigt werden. Dadurch kann es dann zu einer Schwangerschaft kommen. 3. Minimale Kommunikation über Verhütung: Viele amerikanische Teenager reden nicht gerne mit ihren Eltern, Partnern und Gleichaltrigen über Verhütung (Kotva u. Schneider 1990; Milan u. Killmann 1987). Jugendliche, die mit ihren Freunden oder Eltern frei reden können oder eine Partnerschaft haben, die es ihnen erlaubt, offen zu kommunizieren, benutzen mit höherer Wahrscheinlichkeit Kondome. Erfreulich ist daher, dass das Aufklärungsverhalten der Eltern, was die Verwendung von Verhütungsmitteln angeht, in Deutschland stetig zunimmt. Gaben 1980 nur 37% der Mädchen und 25% der Jungen an, von ihren Eltern über Empfängnisverhütung aufgeklärt worden zu sein, so waren es im Jahr 2001 bereits 72% der Mädchen und 57% der Jungen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001). 4. Alkoholgenuss: Jugendliche, die sexuell aktiv sind, trinken typischerweise auch Alkohol (Albert et al. 2003; National Research Council 1987). Außerdem verhüten diejenigen, die vor dem Sex Alkohol trinken, mit geringerer Wahrscheinlichkeit mit Kondomen (Kotchick et al. 2001). Alkohol wirkt hemmend auf gewisse Teile des Gehirns, die Hemmung, Urteilskraft und Selbstbewusstheit steuern, und kann daher die normale Zurückhaltung lockern. Auch in Deutschland geben rund 20% Alkohol und Drogen als Grund für mangelnde Verhütung beim ersten Geschlechtsverkehr an (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001).
531 12.3 · Sexuelle Motivation
5. Darstellung freizügigen sexuellenVerhaltens in den Medien: Bei den 3 großen amerikanischen Fernsehanstalten enthält eine Stunde Programm zur Hauptsendezeit im Schnitt etwa 15 Sexualakte, sexuell eingefärbte Wörter und sexuelle Anspielungen. In fast allen Fällen geht es dabei um unverheiratete Partner; etwa die Hälfte von ihnen hatten vorher keine Liebesbeziehung miteinander oder haben sich gerade kennengelernt; und nur für wenige sind Verhütung oder Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten ein Thema (Brown et al. 2002; Kunkel 2001; Sapolsky u. Tabarlet 1991). Diese Art der Darstellung von unsicherem Sex ohne Folgen in Film und Fernsehen, so merkt der Verein Planned Parenthood an, kommt einer Kampagne zur Fehlinformation in Sachen Sexualität gleich.
Sexuell übertragbare Krankheiten Ziel 13: Beschreiben Sie die Entwicklung bei der Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten.
Ungeschützter Sex hat zu einer größeren Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten geführt. Mehr als 65% der Neuinfektionen treten bei Menschen unter 25 Jahren auf (ASHA 2003). Junge Mädchen sind wegen ihres noch nicht voll entwickelten Körpers und des geringeren Anteils an Antikörpern besonders anfällig für sexuell übertragbare Krankheiten (Guttmacher 1994; Morell 1995). Stimmen werden lauter, die eine Auflösung des familiären Zusammenhalts beklagen und einen Mittelweg zwischen sexueller Freizügigkeit und Einschränkung fordern. In Westdeutschland stieg die Zahl der Teenager, die angeben, dass Sex nur in Verbindung mit einer Liebesbeziehung stehen sollte, deutlich an. Männliche Jugendliche haben sich dabei in ihren Einstellungen den Mädchen angenähert. Während in Deutschland 1970 noch 46% der 16- bis 17-jährigen Jungen angaben, dass sie Geschlechtsverkehr nur mit einem Partner wollen, »den sie wirklich lieben«, waren dies 1990 schon 71%. Bei den Mädchen lag der Anteil schon immer höher, 1970 waren 80% dieser Ansicht, 1990 81% (Schmidt 1993). Um die mathematische Seite sexuell übertragbarer Krankheiten zu verstehen, stellen Sie sich einmal das folgende Szenario vor: Im Laufe eines Jahres hat Patrizia Sex mit 9 Männern, die in derselben Zeit jeweils wieder Sex mit 9 Frauen haben, die jeweils Sex mit 9 Männern haben. Wie viele Phantom-Sexualpartner (verflossene Partner von Partnern) wird Patrizia haben? Brannon u. Brock (1994) berichten, dass die tatsächliche Anzahl (83 – 1 = 511) fünfmal höher ist als die Schätzung, die ein Student im Schnitt abgibt. Angesichts dieser Zahlen ist die schnelle Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten nicht überraschend. Auch Kondome schützen nicht vor bestimmten von Haut zu Haut übertragbaren Krankheiten, vor allem nicht vor dem Humanpapillomavirus, auf den die meisten Krebserkrankungen im Genitalbereich zurückzuführen sind (Medical Institute 1994; NIH 2001). Kondome vermindern jedoch das Risiko einer Übertragung des HIV (Human Immunodeficiency Virus), des Virus, das Aids verursacht, mindestens um den Faktor 10 (Pinkerton u. Abramson 1997; 7 Kap. 16). Eine Reaktion auf diese Tatsachen des Lebens war – in den USA – die größere Betonung der Enthaltsamkeit bei Jugendlichen; dies geschah in einem umfassenden Programm zur Sexualerziehung. In einer landesweiten Längsschnittstudie zur Gesundheit bei Jugendlichen (National Longitudinal Study of Adolescent Health) fand man bei 12.000 Jugendlichen mehrere Prädiktoren für sexuelle Zurückhaltung: 4 Hohe Intelligenz: Teenager mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz schieben Sex oft für einen späteren Zeitpunkt auf, offensichtlich weil sie mögliche negative Folgen fürchten und sich stärker auf die künftige Leistung konzentrieren als auf die Freuden im Hier und Jetzt (Halpern et al. 2000). 4 Religiosität: Religiös aktive Teenager und Erwachsene bewahren sich die Sexualität für eine eheliche Verpflichtung auf (Rostosky et al. 2004; Smith 1998). 4 Vorhandensein eines Vaters: In Studien, bei denen Hunderte von Mädchen von 5 bis 18 Jahren in Neuseeland und in den USA begleitet wurden, ergab sich eine Korrelation zwischen einem Haushalt ohne Vater und sexueller Aktivität vor 16 sowie Teenagerschwangerschaften (Ellis et al. 2003). Diese Zusammenhänge blieben auch erhalten, als man andere konkurrierende Einflussfaktoren wie etwa Armut statistisch konstant hielt.
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»Wir Filmemacher sind alle Lehrer, und zwar Lehrer mit einer sehr lauten Stimme.« Filmproduzent George Lucas bei der Oscarverleihung 1992
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Kapitel 12 · Motivation
Lernprogramm durch Teilnahme an Dienstleistungen: In mehreren Experimenten kam es bei Teenagern, die sich freiwillig als Tutoren oder als Helfer eines Lehrers betätigten oder an Gemeindeprogrammen teilnahmen, seltener zu Schwangerschaften als bei Teenagern, die nach dem Zufall der Kontrollgruppe zugeordnet worden waren (Kirby 2002; O’Donnell et al. 2002). Über die Gründe dafür sind sich die Forscher nicht einig. Fördert das Ausüben gemeinnütziger Tätigkeiten ein Gefühl für eigene Kompetenz, Kontrolle und Verantwortung? Ermutigt es stärker zu zukunftsgerichtetem Denken? Oder vermindert es einfach nur die Gelegenheit zu ungeschütztem Sex? In der neueren Geschichte schwang das Pendel der sexuellen Werte mehrfach hin und her: von der erotischen Freizügigkeit im Europa des frühen 19. Jahrhunderts hin zur konservativen viktorianischen Ära im späten 19. Jahrhundert, wieder zurück zur sexuellen Freiheit in den »Golden Twenties« des 20. Jahrhunderts und dann zu einer Ära der Wertschätzung familiärer Werte in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute scheint das Pendel wieder mehr in Richtung einer stärkeren Verpflichtung dem Partner gegenüber zu schwingen. Die Teenagerschwangerschaften nehmen seit 1991 ab, und die Anzahl der Jungfrauen unter den Mädchen in den USA zwischen 15 und 19 Jahren (54% im Jahr 2002) ist jetzt größer als die der Nichtjungfrauen (46%) (CDC 2004; Mohn et al. 2003).
12.3.4
Sexuelle Orientierung
Ziel 14: Fassen Sie die gegenwärtigen Meinungen darüber zusammen, wie hoch die Anzahl der Menschen mit einer homosexuellen Orientierung ist, und erörtern Sie die Forschung zu biologischen und Umwelteinflüssen auf die sexuelle Orientierung. Sexuelle Orientierung (sexual orientation): konsistente Ausrichtung des sexuellen Interesses auf Menschen desselben Geschlechts (Homosexualität) oder des anderen Geschlechts (Heterosexualität).
12
Motivieren bedeutet, Verhalten auszulösen und zu lenken. Bis jetzt haben wir uns vor allem damit beschäftigt, wodurch sexuelle Motivation ausgelöst wird, nicht so sehr mit ihrer Richtung. Wir leben die Richtung unseres sexuellen Interesses in unserer sexuellen Orientierung aus: Darunter verstehen wir unsere konsistente Ausrichtung auf Menschen unseres Geschlechts (homosexuelle Orientierung) oder des anderen Geschlechts (heterosexuelle Orientierung). Die Kulturen unterscheiden sich in ihrer Haltung gegenüber der Homosexualität. Aber nach allem, was uns bekannt ist, überwog in allen Gesellschaften zu allen Zeiten die Heterosexualität (Bullough 1990). Schwule Männer und lesbische Frauen erinnern sich oft daran, in ihrer Kindheit Spiele gespielt zu haben, die eigentlich typisch für das andere Geschlecht sind (Bailey u. Zucker 1995). Aber die meisten homosexuellen Menschen berichten auch, sich ihrer sexuellen Orientierung erst während oder kurz nach ihrer Pubertät bewusst geworden zu sein und sich vor ihrem 20. Lebensjahr nicht selbst als schwul oder lesbisch empfunden zu haben (Garnets u. Kimmel 1990).
Statistiken zur sexuellen Orientierung »Jahrelang wurde behauptet, dass wir alle nur etwa 10% der Kapazität unseres Gehirns nutzen, dass ein Kondom in 10% der Fälle versagt und – bis letztes Jahr – dass 10% der Amerikaner homosexuell sind. Derartige Statistiken sind meiner Vermutung nach reine Kunstprodukte unseres Dezimalsystems; in einem Duodezimalsystem, einem Stellenwertsystem auf der Basis 12, würden wir gewiss eine ähnliche Affinität gegenüber Statistiken aufweisen, die ein Vielfaches von 8,333% sind.« John Allen Paulos, »Counting on Dyscalculia« (1993)
Wie viele Menschen sind ausschließlich homosexuell? Bis vor kurzem veröffentlichte die Populärpresse regelmäßig, ungefähr 10% der Menschen seien homosexuell. In einer Gallup-Umfrage von 2002 schätzten die Befragten in den USA, es gäbe 21% homosexuelle Männer und 22% homosexuelle Frauen (Robinson 2002). Aber sowohl in Europa als auch in den USA wurden in den frühen 1990er Jahren Studien zum Thema sexuelle Orientierung durchgeführt, die aktiv die Anonymität der Befragten schützten. Das Ergebnis war relativ einheitlich: Ungefähr 3–4% der Männer und 2–3% der Frauen bezeichnen sich als homosexuell (Laumann et al. 1994; National Center for Health Statistics 1991; Smith 1998). Nach Schätzungen auf der Grundlage des U.S. Census von 2000 sind 2,5% der Bevölkerung schwul oder lesbisch (Tarmann 2002). Weniger als 1% der Befragten, z. B. 12 von 7076 holländischen Erwachsenen in einer aktuellen Studie (Sandfort et al. 2001), geben an, aktiv bisexuell zu sein. (Studien deuten darauf hin, dass Männer, die sich selbst als bisexuell beschreiben, dazu neigen, wie homosexuelle Männer zu reagieren; typischerweise haben sie eine genitale Erregung in Bezug auf dieselben sexuell-erotischen Reize [Rieger et al. 2005]) In der niederländischen Studie sagt eine viel größere Anzahl von Menschen, dass sie eine einzelne homosexuelle Erfahrung hatten. Und die meisten Menschen gaben an, ab und an homosexuelle Fantasien zu haben. Für Gesundheitsexperten mag es hilfreich sein, über sexuelle Statistiken Bescheid zu wissen, aber Quoten sagen nichts über Menschenrechtsfragen aus.
533 12.3 · Sexuelle Motivation
Wie fühlt man sich als Homosexueller in einer heterosexuellen Gesellschaft? Falls Sie heterosexuell sind, stellen Sie sich doch einmal vor, geächtet oder entlassen zu werden, weil Sie offen zeigen, dass Sie Gefühle für eine Person des anderen Geschlechts haben; oder zu hören, wie andere rohe Witze über Heterosexuelle machen; oder wie es wäre, wenn fast alle Filme, Fernsehsendungen und Werbespots fast ausschließlich homosexuelle Paare zeigen würden; oder wenn Ihre Familie Sie anbetteln würde, Ihre Heterosexualität aufzugeben und endlich eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft einzugehen. Angesichts solcher Reaktionen von Familie und Umfeld, die für sie alltäglich sind, kämpfen homosexuelle Menschen oft gegen ihre sexuelle Orientierung an. Zunächst versuchen sie häufig, ihre Wünsche zu ignorieren und zu verleugnen, und hoffen, dass sie verschwinden. Aber sie verschwinden nicht. Dann versuchen sie vielleicht, sich selbst zu ändern, durch Psychotherapie, Willenskraft oder Gebete. Aber ihre Gefühle bleiben normalerweise bestehen, wie die der heterosexuellen Menschen, die ebenso wenig einfach homosexuell werden können (Haldeman 1994, 2002; Myers u. Scanzoni 2005). Die meisten Psychologen nehmen deshalb heute an, dass die sexuelle Orientierung weder frei gewählt wurde noch willentlich verändert werden kann.
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Die sexuelle Orientierung wird weniger von persönlichen Wertvorstellungen beeinflusst als andere Formen des Sexualverhaltens. Beispiel: Gottesdienstbesucher. Verglichen mit Menschen, die kaum einmal in die Kirche gehen, haben regelmäßige Gottesdienstbesucher nur mit 30% Wahrscheinlichkeit vorehelichen Geschlechtsverkehr und haben auch nicht so viele verschiedene Partner. Aber die Männer in beiden Gruppen haben die gleiche Wahrscheinlichkeit, homosexuell zu sein (Smith 1998).
! Mit der sexuellen Orientierung ist es ähnlich wie mit der Händigkeit: Die meisten Menschen sind so, einige anders. Die wenigsten sind sowohl als auch. Aber egal, wie sie sind, sie bleiben so.
Die sexuelle Orientierung bei Frauen ist fließender und weniger stark ausgeprägt und ist möglicherweise leichter zu verändern als die männliche (Diamond 2000, 2003; Peplau u. Garnets 2000). Wie Baumeister (2000) bemerkte, zeigt sich die geringere Variabilität der männlichen Sexualität auch auf vielerlei Weise. Über die Zeit, über Kulturen und Situationen hinweg, in verschiedenen Bildungsschichten, Religionen und Sozialgefügen ist der weibliche Sexualtrieb flexibler und veränderlicher als der bei männlichen Erwachsenen. Im Gegensatz zu Männern schätzen es Frauen, wenn sich Phasen hoher sexueller Aktivität mit Zeiten fast ohne Sex abwechseln. Und bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit etwas höher als bei Männern, dass sie eine bisexuelle Anziehung empfinden. Baumeister bezeichnet dieses Phänomen als Geschlechtsunterschied in Bezug auf die erotische Plastizität. Schwule und Lesben leiden häufiger unter Depressionen und haben ein höheres Risiko, einen Suizidversuch zu unternehmen; die Forscher vermuten, dass dies eine Folge ihrer Erfahrungen mit Drangsalierung, Belästigung und Diskriminierung ist (Sandfort et al. 2001; Warner et al. 2004). Die meisten Menschen, ob homo- oder heterosexuell, akzeptieren ihre Orientierung: Sie entscheiden sich für ein zölibatäres Leben oder haben viele sexuelle Kontakte mit verschiedenen Partnern (was schwule Männer etwas häufiger tun als lesbische Frauen) oder leben in einer langfristig angelegten Liebesbeziehung (wie sie lesbische Frauen etwas häufiger haben als schwule Männer) (Kulkin et al. 2000; Peplau 1982; Remafedi 1999; Weinberg u. Williams 1974). Heutzutage akzeptieren die meisten im psychosozialen Bereich Arbeitenden die sexuelle Orientierung ihrer Klienten. 1973 strich die American Psychiatric Association Homosexualität aus ihrer Klassifikation psychischer Störungen, dem DSM; ebenso verfuhren 1993 die Weltgesundheitsorganisation mit ihrem Klassifikationssystem, der ICD, sowie die psychiatrischen Berufsverbände in Japan (1995) und in China (2001).
Ursprünge der sexuellen Orientierung Wie entstehen diese sexuellen Vorlieben, die wir uns nicht aussuchen und anscheinend auch nicht verändern können? Wie werden wir homosexuell oder heterosexuell? Überlegen Sie einmal, wie der aktuelle Konsens, der sich aus den Ergebnissen von Hunderten von Studien ergeben hat, heute aussehen könnte, und beantworten Sie die folgenden Fragen mit Ja oder Nein: 1. Hat Homosexualität etwas mit einer problematischen Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern zu tun? Sind z. B. die Mütter eher dominierend und die Väter eher schwach, oder sind die Mütter besitzergreifend und die Väter ablehnend? 2. Empfinden homosexuelle Menschen Angst oder Hass gegenüber Menschen des anderen Geschlechts? Richten sie deshalb ihr sexuelles Interesse auf Menschen des eigenen Geschlechts? 3. Hängt Homosexualität mit einer bestimmten Menge von Geschlechtshormonen im Blut zusammen?
Sie sollten darauf achten, dass die wissenschaftliche Frage nicht lautet »Was verursacht Homosexualität?« oder »Was verursacht Heterosexualität?«, sondern »Was verursacht unterschiedliche sexuelle Orientierungen?«. Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, vergleicht die wissenschaftliche Psychologie den Hintergrund und die Physiologie von Menschen, die sich in ihrer sexuellen Orientierung unterscheiden.
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4. Wurden viele Homosexuelle in ihrer Kindheit von einem Erwachsenen belästigt, verführt oder auf andere Weise Opfer eines erwachsenen Homosexuellen?
Felix hat 2 Väter In der »Lindenstraße« adoptieren Carsten Flöter (G. Uecker, rechts) und »Käthe« Eschweiler (C. Vinçon) gemeinsam den 11-jährigen Felix (M. O. Moro). Wie in der Fernsehserie haben auch in der Realität immer mehr Homosexuelle den Wunsch nach Kindern. Es gibt Schätzungen, dass in Deutschland bereits jede dritte lesbische Frau und jeder fünfte schwule Mann Kinder haben. Studien zeigen, dass die sexuelle Orientierung von Kindern nicht merklich dadurch beeinflusst wird, dass sie von lesbischen oder schwulen Eltern aufgezogen werden
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Die Antwort auf alle diese Fragen lautet: Nein (Storms 1983). Interessant sind vor allem die Ergebnisse der langen Interviews des Kinsey Instituts mit annähernd 1000 Homo- und 500 Heterosexuellen (Bell et al. 1981; Hammersmith 1982). Die Forscher fragten nach beinahe jeder nur vorstellbaren psychischen Ursache für die Entstehung von Homosexualität: nach dem Verhältnis der Eltern zueinander, sexuellen Erfahrungen in der Kindheit, Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erfahrungen mit Vertretern des anderen Geschlechts. Beide Gruppen hatten einen vergleichbaren gesellschaftlichen Hintergrund. Homosexuelle wurden nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit als Heterosexuelle von Mutterliebe erdrückt, von ihrem Vater vernachlässigt oder sexuell missbraucht. Und stellen Sie sich folgende Frage: Wenn »distanzierte Väter« (innerlich oder äußerlich abwesende) ihre Söhne homosexuell »machen« würden, müssten dann nicht die Jungen, die ganz ohne Vater aufwachsen, häufiger schwul werden? (Sie werden es nicht.) Und sollte die steigende Anzahl solcher Haushalte nicht zu einem drastischen Anstieg der Zahl der Homosexuellen führen? (Das ist nicht der Fall.) Homosexuelle kommen jedoch häufiger in bestimmten Gruppen vor. Die Durchsicht der Biographien von 1004 hervorragenden Persönlichkeiten ergab, dass homosexuelle und bisexuelle Menschen (11% der Stichprobe) vor allem unter Dichtern (24%), Schriftstellern (21%), Schauspielern und Musikern (15%) überrepräsentiert sind (Ludwig 1995). Männer, die einen älteren Bruder haben, sind mit einer etwas größeren Wahrscheinlichkeit schwul, wie Blanchard (1997, 2001) und Bogaert (2003) berichten. Liegt die Wahrscheinlichkeit, schwul zu sein, für den ersten Sohn bei 3%, steigt sie auf 4% für den zweiten Sohn, auf etwas mehr als 5% für den dritten Sohn und so weiter. Die Ursache für dieses sonderbare Phänomen, den brüderlichen Geburtsreihenfolgeneffekt, ist unbekannt. Blanchard nimmt an, dass die Ursache in der Immunabwehr der Mütter liegt, die einen männlichen Fötus in sich tragen. Die mütterlichen Antikörper werden vielleicht nach jeder Schwangerschaft mit einem männlichen Fötus stärker und könnten verhindern, dass sich das Gehirn des Sohnes in einer für Männer typischen Weise entwickelt. Frauen mit älteren Schwestern oder mit Zwillingsbrüdern werden nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit lesbisch (Rose et al. 2002). Doch was sonst könnte Einfluss auf die sexuelle Orientierung haben? Eine Theorie besagt, dass Menschen die erotische Vorliebe für ihr eigenes Geschlecht entwickeln, wenn sie während der Zeit, in der sich ihr Sexualtrieb entwickelt, vom anderen Geschlecht getrennt sind (Storms 1981). Tatsächlich erinnern sich schwule Männer daran, früher in die Pubertät gekommen zu sein, in einem Alter, in dem der Freundeskreis noch eher nur aus Jungen als auch aus Mädchen bestand (Bogaert et al. 2002). Aber sogar in Stammeskulturen, in denen homosexuelles Verhalten vor der Ehe von allen Jungen erwartet wird, überwiegt die Heterosexualität (Money 1987). (Daran zeigt sich, dass homosexuelles Verhalten nicht dasselbe ist wie eine homosexuelle Orientierung.) ! Ein Fazit lässt sich aus einem halben Jahrhundert Theoriebildung und Forschung zu den Ursachen der Homosexualität ziehen: Sollte es tatsächlich Umweltfaktoren geben, die die sexuelle Orientierung beeinflussen, so kennen wir sie nicht.
Diese Realität hat die Forscher dazu angeregt, sorgfältiger als bisher die möglichen biologischen Einflüsse auf die Orientierung zu bedenken. Und dazu gehören auch die Befunde zur Homosexualität in der Tierwelt und zu den Einflüssen unterschiedlicher Gehirnzentren, der Genetik und pränataler Erfahrungen mit Hormonen.
Anziehung durch dasselbe Geschlecht bei Tieren Im New York Aquarium auf Coney Island verbrachten Wendell und Cass mehrere Jahre als treue Partner des gleichen Geschlechts. Und so verhält es sich auch mit den Pinguinen Silo und Roy im Central Park Zoo. Bagermihl (1999) machte einige hundert Arten aus, bei denen zumindest gelegentlich sexuelle Beziehungen zum gleichen Geschlecht beobachtet wurden. Auf der langen Liste finden sich Grizzlybären, Gorillas und andere Affen, Flamingos und Eulen. Bei Steinböcken z. B. zeigen zwischen 6 und 10% der Tiere, dass sie sich vom gleichen Geschlecht angezogen fühlen, indem sie sich von weiblichen Tieren fernhalten und versuchen, andere Böcke zu besteigen (Per-
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kins u. Fitzgerald 1997). Ein gewisses Ausmaß an Homosexualität scheint also auch in der Tierwelt ganz natürlich zu sein.
LeVay (1991) untersuchte Abschnitte des Hypothalamus von verstorbenen homo- und heterosexuellen Menschen. Als schwuler Wissenschaftler wollte er etwas tun, »das mit meiner schwulen Identität zu tun hat«. Er wusste, wie wichtig es war, die Ergebnisse nicht durch irgendwelche Vorurteile systematisch zu verfälschen. Deshalb führte er seine Untersuchungen »blind« durch, ohne zu wissen, welche der Spender homosexuell waren. Neun Monate lang betrachtete er durch sein Mikroskop eine Zellansammlung im Hypothalamus, die ihm kritisch erschien. Eines Morgens entschlüsselte er dann den Code. Seine Entdeckung: Bei heterosexuellen Männern war das Zellcluster zuverlässig größer als bei Frauen und homosexuellen Männern. Als dieser Unterschied in den Gehirnen offensichtlich wurde, merkte LeVay (1991) an: »Ich war geschockt … ich ging allein auf den Klippen am Meer spazieren. Ich setzte mich eine halbe Stunde lang hin und dachte nur darüber nach, was das bedeuten könnte.« Die Tatsache, dass die Unterschiede in der sexuellen Orientierung sich im Aufbau des Gehirns abzeichnen, sollte uns nicht überraschen. Erinnern Sie sich an unsere Maxime: Alles, was psychologisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Die kritische Frage ist jedoch: Wann begann die Differenzierung des Gehirns: bei der Empfängnis, im Mutterleib oder erst während der Kindheit oder Jugend? Entstand sie durch Erfahrungen oder durch Gene oder durch pränatale Hormone (oder Gene vermittelt über pränatale Hormone)? LeVay glaubt nicht, dass dieses neuronale Zentrum das Zentrum der sexuellen Orientierung ist; er glaubt vielmehr, dass es ein wichtiger Teil der neuronalen Verbindung ist, über die das sexuelle Verhalten gesteuert wird. Er erkennt an, dass auch das sexuelle Verhalten den Aufbau des Gehirns beeinflussen kann. Bei Fischen, Vögeln, Ratten und Menschen verändert sich die Struktur des Gehirns durch ihre Erfahrungen, auch durch die sexuelle Erfahrung, wie Breedlove (1997) berichtet. Aber LeVay glaubt, dass die sexuelle Orientierung mit größerer Wahrscheinlichkeit durch den Aufbau des Gehirns beeinflusst wird. Seine Annahme wird durch den Befund gestützt, dass sich auch die Hypothalami der 6–10% der »homosexuellen« Schafe von denen der über 90% der männlichen Schafe unterscheiden, die sich von weiblichen Schafen angezogen fühlen (Larkin et al. 2002; Roselli et al. 2002). Zudem berichten die Psychologen Rahman u. Wilson (2003) von der University of London: »Die neuroanatomischen Korrelate der Homosexualität des Mannes differenzieren sich sehr früh nach der Geburt heraus, wenn nicht sogar schon vorher.« Ein funktionaler Unterschied im Hypothalamus zeigte sich in neueren Berichten über die Hirnreaktionen auf Gerüche, die auf Sexualhormone zurückgehen. Schwedische Forscher (Savic et al. 2005) berichten, dass bei heterosexuellen Frauen, die man nur einem Hauch vom Geruch des Schweißes von einem Mann aussetzt, in einem Bereich des Hypothalamus, der die sexuelle Erregung steuert, Aktivität angezeigt wird. Die Gehirne schwuler Männer reagierten ähnlich auf Männerschweiß, die Gehirne heterosexueller Männer jedoch zeigten die Erregungsreaktion nur bei Gerüchen, die an ein weibliches Hormon erinnerten. Es überrascht daher nicht, dass ein weiteres Forscherteam später berichtete, dass sich Schwule und Lesben von heterosexuellen Menschen in ihren Vorlieben für Schweißgerüche mit sexuellem Bezug unterscheiden (Martins et al 2005). Gerüche z. B., die man von schwulen Männern nahm, mochten andere schwule Männer, nicht jedoch heterosexuelle Männer. Allen u. Gorski (1992) fanden einen weiteren Hinweis darauf, dass die sexuelle Orientierung durch den Gehirnaufbau beeinflusst wird. Sie entdeckten, dass ein Teil der Commissura anterior (Nervenfasern, die wie das Corpus callosum die rechte und linke Hemisphäre miteinander verbinden) bei homosexuellen Männern um ein Drittel länger ist als bei heterosexuellen Männern. »Das neuroanatomische Bild, das sich daraus ergibt«, sagte Gladue (1994), »ist das Bild einer Neuroanatomie homosexueller Männer, die eher der von Frauen entspricht als der von heterosexuellen Männern«.
Gene und sexuelle Orientierung Es gibt Befunde, die bei der sexuellen Orientierung auf einen genetischen Einfluss hindeuten. »Erstens scheint Homosexualität in bestimmten Familien gehäuft vorzukommen«, merken Mus-
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Gehirn und sexuelle Orientierung
»Schwule« Meerschweinchen Wie der Verhaltensforscher Norbert Sachser von der Universität Bayreuth herausfand, ist ungefähr jedes zehnte Meerschweinchen homosexuell – damit sind sie im Tierbereich keineswegs eine seltene Ausnahme
»Schwule Männer haben ganz einfach nicht die Gehirnzellen, die nötig sind, um sich von Frauen angezogen zu fühlen.« Simon LeVay (»The Sexual Brain«, 1993)
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»Studien deuten darauf hin, dass die Homosexualität des Mannes mit größerer Wahrscheinlichkeit von der mütterlichen Seite der Familie weitergegeben wird.« Michael Rutter, »Behavior Genetics« (1997)
tanski u. Bailey (2003) an. »Zweitens wurde in Zwillingsstudien bestätigt, dass Gene eine wesentliche Rolle bei der Erklärung der Unterschiede in Bezug auf die sexuelle Orientierung spielen.« Obwohl die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen, hat ein eineiiger Zwilling eine etwas größere Wahrscheinlichkeit als ein zweieiiger Zwilling, dieselbe sexuelle Orientierung zu haben wie sein Zwillingsbruder. Bei vielen eineiigen Zwillingspaaren jedoch (vor allem bei Zwillingsschwestern) sind die sexuellen Orientierungen der Zwillinge durchaus unterschiedlich. Dies deutet darauf hin, dass hier andere Faktoren außer den Genen wirksam sind. Und außerdem hat man es durch Experimente mit Hilfe der Genmanipulation geschafft, weibliche Fruchtfliegen zu erzeugen, die sich beim Werben um den Partner wie männliche Exemplare verhalten (Verjagen von weiblichen Fruchtfliegen), und männliche Fruchtfliegen, die sich wie weibliche Fruchtfliegen verhalten (Demir u. Dickson 2005). »Wir haben gezeigt, dass ein einziges Gen in der Fruchtfliege ausreicht, um alle Aspekte der sexuellen Orientierung und des Sexualverhaltens bei den Fliegen zu bestimmen«, erklärt Dickson (2005). Aber warum, fragen sich viele Menschen, sollte es überhaupt »Schwulengene« geben? Wenn ein Paar vom gleichen Geschlecht ist, kann es sich nicht fortpflanzen. Wie konnten dann Gene, die zu Homosexualität prädisponieren, im Genpool des Menschen überleben? Forscher haben darüber spekuliert, welche Gründe es dafür geben könnte. Vielleicht ist hier die Auswahl unter Verwandten am Werk. Erinnern Sie sich an das, was die evolutionäre Psychologie sagt, nämlich dass viele unserer Gene auch in unseren biologischen Verwandten sitzen. Vielleicht leben dann die Gene von Menschen dadurch weiter, dass sie das Überleben und den Fortpflanzungserfolg ihrer Nichten, Neffen und anderer Verwandten fördern (die auch Träger vieler der gleichen Gene sind). Oder vielleicht wirken die Gene der Mutter. Eine kürzlich in Italien durchgeführte Studie (Camperio-Ciani et al. 2004) bestätigt, was andere schon herausgefunden hatten – dass homosexuelle Männer mehr homosexuelle Verwandte mütterlicherseits als väterlicherseits haben. Man fand auch heraus, dass die Verwandten homosexueller Männer mütterlicherseits verglichen mit den Verwandten heterosexueller Männer mütterlicherseits mehr Nachkommen hervorbringen. Vielleicht, so spekulierten die Forscher beeinflussen die Gene, die den Müttern einen Vorteil bei der Fortpflanzung verschaffen, auf irgendeine Weise die sexuelle Orientierung ihrer Söhne und Neffen.
Pränatale Hormone und sexuelle Orientierung
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@ Genetische Studie zur sexuellen Orientierung: Gehören Sie (Ihrem Wissen nach) zu einer Familie mit 2 oder mehreren schwulen Brüdern? Wenn dies der Fall ist, möchte eine Studie, die landesweit in den USA von einem Forschungsteams der University of Chicago und der University of Illinois in Chicago durchgeführt wird, Sie bitten, die Internetseite www.gaybros.com aufzusuchen.
»Wäre da nicht die fein ausbalancierte Kombination aus genetischen, neurologischen, hormonellen und Umweltfaktoren, die ihre Wirkung großenteils vor der Geburt entfalten, wären wir wirklich alle homosexuell.« Lee Ellis und M. Ashley Ames (1987)
Bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen findet sich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie homosexuell sind; dies deutet darauf hin, dass nicht nur gemeinsame Gene, sondern auch eine gemeinsame pränatale Umwelt ein Faktor sein kann. Bei Tieren und einigen wenigen menschlichen Fällen änderte sich die sexuelle Orientierung eines Menschen (d.h. er wurde homosexuell), wenn der Fötus im Mutterleib abnormalen hormonellen Bedingungen ausgesetzt war. Der deutsche Forscher Gunter Dorner (1976, 1988) wurde zum Pionier dieser Forschung, als er die männlichen Hormone veränderte, denen eine ungeborene Ratte ausgesetzt war, und somit auch ihre sexuelle Orientierung. Auch weibliche Schafe zeigen homosexuelles Verhalten, wenn man ihren Müttern in einer kritischen Phase der Schwangerschaft Testosteron injiziert (Money 1987). Bei Menschen scheint es eine kritische Phase für die Entwicklung des neuronalen Hormonkontrollsystems des Gehirns in der Mitte des 2. und des 5. Monats nach der Empfängnis zu geben (Ellis u. Ames 1987; Gladue 1990; Meyer-Bahlburg 1995). Wird ein Fötus während dieser Zeit den Hormonen ausgesetzt, die normalerweise für weibliche Föten bestimmt sind, scheint die Vorliebe für Männer im späteren Leben festgelegt zu werden, unabhängig davon, ob der Fötus männlich oder weiblich ist. In einigen Forschungsarbeiten fand man heraus, dass homosexuelle Personen beider Geschlechter viele Persönlichkeitsmerkmale haben, die zwischen denen heterosexueller Frauen und Männer liegen (. Tab. 12.1). Beispielsweise zeigte sich in einigen (jedoch nicht in allen) Studien, dass selbst die Fingerabdrücke schwuler Männer denen heterosexueller Frauen ähneln (Mustanski et al. 2002; Sanders et al. 2002). Die meisten Menschen haben an der rechten Hand mehr Fingerabdruckrillen als an der linken. Hall u. Kimura (1994) beobachteten zuerst, dass dieser Unterschied zwischen den Händen bei heterosexuellen Männern größer ist als bei Frauen und homosexuellen Männern. Da die Entwicklung der Rillen des Fingerabdrucks schon in der 16. Schwangerschaftswoche abgeschlossen ist, nehmen die Forscher an, dass die Unterschiede durch pränatale
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. Tabelle 12.1. Biologische Korrelate der sexuellen Orientierung Unterschiede im Gehirnaufbau
5
Genetische Einflüsse
5 Eineiige Zwillinge haben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als zweieiige Zwillinge dieselbe sexuelle Orientierung 5 Die sexuelle Orientierung kann bei Fruchtfliegen genetisch manipuliert werden
Einflüsse der pränatalen Hormone
5 Bei Tieren und Menschen kann eine Veränderung des pränatalen Hormonspiegels zu Homosexualität führen 5 Männer mit mehreren älteren Brüdern sind mit höherer Wahrscheinlichkeit schwul
Beobachtbare Unterschiede zwischen homo- und heterosexuellen Menschen
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Eine Zellansammlung im Hypothalamus ist bei heterosexuellen Männern größer als bei Frauen und schwulen Männern 5 Das Commissura anterior ist bei schwulen Männern größer als bei Frauen oder heterosexuellen Männern 5 Der Hypothalamus reagiert bei schwulen Männern auf den Geruch von Hormonen mit sexuellem Bezug wie der einer Frau
Räumliches Vorstellungsvermögen Anzahl der Rillen im Fingerabdruck Entwicklung des auditiven Systems Händigkeit Berufswahl Relative Fingerlänge Geschlechtlicher Nonkonformismus Alter bei Pubertätseintritt bei Jungen Körpergröße (Männer) Länge des Schlafs Hörsystem
Hormone bedingt sind. Pränatale Hormone sind wahrscheinlich auch der Grund, warum laut 20 Studien »homosexuelle Versuchsteilnehmer mit einer um 39% größeren Wahrscheinlichkeit keine Rechtshänder sind« (Lalumière et al. 2000). Auch lesbische Frauen scheinen einige Persönlichkeitsmerkmale zu haben, die eher für Männer typisch sind. Zum Beispiel entwickeln sich die Cochlea und das auditive System von lesbischen Frauen auf eine Weise, die zwischen der von heterosexuellen Frauen und Männern liegt. Dies scheint auf den Einfluss pränataler Hormone zurückzuführen zu sein (McFadden 2002). Eine weitere verblüffende Illustration für die Unterschiede zwischen hetero- und homosexuellen Personen wird in Studien erwähnt, die zeigen, dass die räumlichen Fähigkeiten homosexueller Männer denen ähneln, wie sie für heterosexuelle Frauen typisch sind (Cohen 2002; Gladue 1994; McCormick u. Witelson 1991; Sanders u. Wright 1997). Bei Aufgaben zur mentalen Rotation wie z. B. der, die in . Abb. 12.9 dargestellt ist, erzielen die heterosexuellen Männer meist bessere Ergebnisse als Frauen. Bei einer Studie von Rahman et al. (2003) fand man heraus, dass die Ergebnisse sowohl der homosexuellen Männer als auch der homosexuellen Frauen wie bei einer Reihe anderer Maße zwischen denen heterosexueller Männer und Frauen liegen. Da all diese Ergebnisse jedoch vorläufig und umstritten sind, bleiben einige Wissenschaftler skeptisch. Statt anzunehmen, dass die biologischen Faktoren die sexuelle Orientierung beeinflussen, schlagen sie vor, dass biologische Faktoren auch ein Temperament prädisponieren könnten, das die Sexualität »im Kontext des individuellen Lernens und der Erfahrung« beeinflusst (Byne u. Parsens 1993). Bem (1996, 1998, 2000) nahm Folgendes an: Die Gene kodieren pränatale Hormone und eine Gehirnanatomie, die zur Entstehung verschiedener Temperamente führen, die es wiederum wahrscheinlicher machen, dass Kinder eher geschlechtstypische oder -untypische Spiele spielen und sich entsprechende Freunde suchen. Durch diese Vorlieben fühlen sich die Kinder später vielleicht von dem Geschlecht angezogen, das sich fremd anfühlt. Das unbekannte Geschlecht (egal ob es zu unserer Anatomie passt oder nicht) wird mit Gefühlen wie Angst und Aufregung assoziiert, die später in eine liebevolle Erregung umgewandelt werden. Was exotisch ist, wird erotisch.
An Berufen wie Dekorateur, Florist oder Stewart, die oft von Frauen ausgeübt werden, sind homosexuelle Männer häufiger interessiert als heterosexuelle Männer (Lippa 2002). (Nimmt man jedoch an, dass 96% der Männer nicht schwul sind, ist auch in diesen Berufen die Mehrzahl der Männer heterosexuell.)
»Die Anzahl der Belege dafür, dass die Biologie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der männlichen und weiblichen sexuellen Orientierung spielt, wächst rasant.« Scott L. Hershberger (2001)
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. Abb. 12.9. Räumliche Fähigkeiten und sexuelle Orientierung Welche der 4 Figuren lässt sich so drehen, dass sie der Zielfigur (oben) entspricht? Heterosexuelle Männer empfinden diese Aufgabe gewöhnlich als leichter als heterosexuelle Frauen; Schwule und Lesben liegen im Bereich dazwischen. (Nach Rahman et al. 2004; in jeder Gruppe wurden jeweils 60 Personen getestet)
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Unabhängig von diesen möglichen sozialen Einflüssen deutet die Konsistenz der Ergebnisse in Genetik, Pränataldiagnostik und Gehirnforschung immer stärker darauf hin, dass man die sexuelle Orientierung biologisch erklären muss (Rahman u. Wilson 2003). Folgt man den Forschungsergebnissen, so bestimmt eher die Anlage als die Umwelt die sexuelle Orientierung (Vreeland et al. 1995). Dies könnte auch erklären, warum die sexuelle Orientierung so schwer zu verändern ist. Trotzdem fragen sich viele Menschen, ob diese Frage überhaupt von Bedeutung sein sollte. Vielleicht sollte sie es nicht, aber menschliche Vorurteile sind von Bedeutung. Menschen, die wie 40% der Amerikaner (nach 13% im Jahre 1977) und die meisten Schwulen und Lesben glauben, dass die sexuelle Orientierung biologisch determiniert ist, also eine überdauernde Identität darstellt, die nicht gewählt wird, bringen in stärkerem Maße positiv-akzeptierende Einstellungen gegenüber Homosexuellen zum Ausdruck (Allen et al. 1996; Furnham u. Taylor 1990; Kaiser 2001; Whitley 1990). Bedenken Sie Folgendes: 4 Zwischen 1977 und 2002 zeigten die Gallup-Umfragen, dass die Forderungen nach gleichen Rechten für Homosexuelle bei der Arbeit von 56 auf 85% stiegen, und die Zustimmung dafür, dass »Homosexualität als alternative Lebensweise akzeptiert werden sollte«, stieg von 34 auf 52%. 4 Bei Umfragen in Kanada verdoppelte sich die Zahl derer, die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften unterstützen, von 1992 bis 2001 und stieg von 24% auf 46% (Mazzuca 2002); und diese Zahl wird wahrscheinlich weiter steigen, wo doch Kanada die gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen hat. 4 In Deutschland stieg gemäß der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS 1994, 2002) der Anteil derjenigen, die Homosexualität als »weniger oder nicht schlimm« empfanden, von rund 45% im Jahr 1994 auf rund 75% im Jahr 2002. 4 Vor allem Frauen akzeptieren Homosexualität, außerdem Menschen, die einen homosexuellen Freund oder Verwandten haben, sowie jüngere Erwachsene (Altmeyer 2001; Herek u. Capitanio 1996; Kaiser 2001; Kite u. Whitley 1996; Whitley 2002). In den Gallup-Umfragen und denen der Kaiser Family Foundation im Jahr 2001 gaben 60–65% der 18- bis 29-Jährigen an, schwule bzw. lesbische Lebensgemeinschaften und legale Beziehungen zu unterstützen – doppelt so viele wie bei den über 65-Jährigen (Carlson 2002; Kaiser 2001). Außerdem nahm seit 1987 die Zahl der Studienanfänger drastisch ab, die für Gesetze sind, die gleichgeschlechtliche Beziehungen verbieten (. Abb. 12.10). Diese deutliche Veränderung in der Einstellung gegenüber Homosexuellen steht aber nicht für eine allgemeine Liberalisierung der mit Sex verbundenen Einstellungen. Zum Beispiel sind in den USA heute mehr Menschen (79,4% im Jahr 2000) der Meinung, dass außerehelicher Sex »immer schlecht ist«, als 1973 (69,6%) (NORC 2002). Auch in Deutschland empfanden 2002 über 72% der Befragten einen Seitensprung in der Ehe als »sehr oder ziemlich schlimm«, allerdings lag der entsprechende Anteil 1994 mit über 82% noch höher (ALLBUS 1994, 2002). Für Homosexuelle ist die neue biologische Forschung jedoch ein zweischneidiges Schwert (Diamond 1993). Ist die sexuelle Orientierung wie die Hautfarbe und das Geschlecht erblich bedingt, ist dies ein Grund, die Bürgerrechte der Homosexuellen zu schützen. Außerdem könnten
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. Abb. 12.10. Sich wandelnde Einstellungen Daten der jährlichen Umfrage der UCLA/American Councils on Education unter ca. 7 Mio. Studienanfängern
sich die Sorgen von Eltern ausräumen lassen, dass ihre Kinder in unangemessener Weise durch homosexuelle Lehrer und deren Rollenvorbild beeinflusst werden. Allerdings wachsen Befürchtungen, dass die sexuelle Orientierung eines Tages pränatal diagnostiziert werden könnte und Kinder vielleicht nur wegen ihrer voraussichtlich unerwünschten Orientierung abgetrieben werden könnten.
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Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen
Weil die meisten Sexualforscher und Sexualpädagogen erkennen, dass Wertvorstellungen sowohl etwas Persönliches als auch etwas Kulturelles sind, streben sie an, ihre Veröffentlichungen möglichst wertfrei zu halten. Aber kann die Erforschung des Sexualverhaltens und dessen, was die Motivation für Sexualität ist, je frei von Wertungen sein? Eben die Wörter, die wir bei der Beschreibung des Verhaltens verwenden, bringen unsere persönlichen Wertvorstellungen zum Ausdruck. Das ist etwa der Fall, wenn Sexualforscher sexuell gehemmte Menschen als »erotophob« titulieren und sagen, sie hätten »viele Schuldgefühle beim Sex«. Ob wir Sexualpraktiken, die wir selbst nicht ausüben, als »Perversionen«, »Abweichungen« oder als Bestandteil einer »anderen sexuellen Lebensweise« etikettieren, hängt von unserer Einstellung gegenüber diesen Verhaltensweisen ab. Etikettierungen beschreiben, aber sie bewerten auch. Sexualerziehung, die vom Kontext der Wertvorstellungen von Menschen losgelöst wird, könnte manchen Studierenden auch die Vorstellung vermitteln, Geschlechtsverkehr sei einfach eine Freizeitaktivität. Baumrind (1982), eine Expertin im Bereich der Kindererziehung von der University of California, beobachtete, dass die Schlussfolgerung, Erwachsene seien dem Sexualverhalten von Jugendlichen gegenüber neutral eingestellt, unglückselig ist, weil Freizeitsex mit vielen Partnern bestimmte psychische, gesellschaftliche, medizinische und moralische Probleme aufwirft, denen man sich realistischerweise stellen muss. Vielleicht stimmen wir darin überein, dass das Wissen, das die Sexualforschung liefert, dem Unwissen vorzuziehen ist und dass die Wertvorstellungen der Forscher offen ausgesprochen werden sollten. Denn dies versetzt uns in die Lage, über sie zu diskutieren und über unsere eigenen Wertvorstellungen nachzudenken. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass die wissenschaftliche Forschung zur sexuellen Motivation nicht darauf abzielt, die persönliche Bedeutung der Sexualität in unserem Leben zu definieren. Man kann zwar alle verfügbaren Einzelheiten zur Sexualität kennen – dass die anfänglichen Spasmen beim männlichen und weiblichen Orgasmus im Abstand von 0,8 Sek. erfolgen, dass sich die Brustwarzen der Frau auf dem Höhepunkt der sexuellen Erregung um 10 mm erweitern, dass der systolische Blutdruck um 60 Punkte ansteigt und die Atemfrequenz auf 40 Atemzüge pro Minute –, und trotzdem nicht die Bedeutung der sexuellen Intimität für den Menschen begreifen.
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Ziel 15: Erörtern Sie die Rolle von Wertvorstellungen bei der Forschung zur Sexualität.
Das gemeinsame Erlebnis der Liebe Für die meisten Erwachsenen erfüllt sich durch eine sexuelle Beziehung nicht nur ein biologisches Motiv, sondern auch ein soziales Bedürfnis nach Intimität und Vertrautheit
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Gewiss ist eine Bedeutung der sexuellen Intimität, dass sie unsere tiefgehend soziale Natur zum Ausdruck bringt. Sex ist ein sozial bedeutsamer Akt. Männer und Frauen können den Orgasmus alleine erreichen, doch die meisten Menschen empfinden eine größere Befriedigung, wenn sie dabei einen geliebten Menschen umarmen. Bei der sexuellen Motivation gibt es ein Verlangen nach Nähe. Sex ist beim Menschen im besten Fall Lebensvereinigung und Liebeserneuerung. Lernziele Abschnitt 12.3 Sexuelle Motivation Ziel 9: Beschreiben Sie den sexuellen Reaktionszyklus beim Menschen, und erörtern Sie einige Ursachen für sexuelle Störungen. Masters und Johnson haben 4 Phasen des sexuellen Reaktionszyklus beim Menschen beschrieben: Erregung, Plateau, Orgasmus (anscheinend treten hier bei Männern und Frauen ähnliche Gefühle und eine ähnliche Hirnaktivität auf ) und Entspannung. Während der Entspannungsphase erleben Männer eine Refraktärphase, in der erneute Erregung und ein erneuter Orgasmus nicht möglich sind. Sexuelle Funktionsstörungen (Probleme, die konsistent die sexuelle Erregung und Funktionsweise beeinträchtigen, wie etwa vorzeitige Ejakulation, Erektionsstörungen oder Orgasmusstörungen bei Frauen) lassen sich erfolgreich mit Hilfe einer medikamentösen Therapie oder Verhaltenstherapie behandeln. Bei der Verhaltenstherapie wird angenommen, dass Menschen ihre sexuellen Reaktionen lernen und sie modifizieren können.
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Ziel 10: Erörtern Sie den Einfluss der Hormone auf die sexuelle Motivation und das Sexualverhalten. Die Sexualhormone Testosteron und Östrogen sind sowohl bei Männern als auch bei Frauen vorhanden. Doch Männer haben einen höheren Testosteronspiegel und Frauen einen höheren Östrogenspiegel. Diese Hormone tragen dazu bei, dass sich unser Körper als Körper eines Mannes oder einer Frau entwickelt und entsprechende Funktionen ausbildet. Bei Tieren helfen sie auch, die sexuelle Aktivität zu stimulieren. Bei einem normalen Hormonniveau haben Hormone keinen großen Einfluss auf das Sexualverhalten des Menschen, wenn auch das Verlangen bei Frauen mit Partner während des Eisprungs ansteigt. Im Unterschied zu den Weibchen bei anderen Säugetieren reagiert die Sexualität der Frau stärker auf den Testosteronspiegel als auf den Östrogenspiegel. Bei Männern sind kurzfristige Veränderungen des Testosteronspiegels normal. Ziel 11: Beschreiben Sie, welche Rolle äußere Reize und Fantasien bei der sexuellen Motivation und beim Sexualverhalten spielen. Erotisches Material und andere äußere Reize können sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine sexuelle Erregung auslösen, obwohl dabei leicht unterschiedliche Hirnareale aktiviert werden. Sexuell eindeutiges Material kann dazu führen, dass Menschen ihren Partner als vergleichsweise weniger reizvoll wahrnehmen und die Beziehung abgewertet wird. Sexuell gewalttätiges Material lässt beim Betrachter die Tendenz zunehmen, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen zu akzeptieren. Zusammen mit einem inneren hormonellen Druck und einer äußeren Wirkung sexueller Reize beeinflussen Fantasien (vorgestellte Reize) die sexuelle Erregung.
Ziel 12: Erörtern Sie einige Faktoren, die bei Jugendlichen einen Einfluss auf Schwangerschaft und die Einstellungen zur Empfängnisverhütung haben. Die körperliche Reifung von Jugendlichen fügt ihrer sich entwickelnden Identität eine sexuelle Dimension hinzu; doch die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs bei Teenagern ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Im 20. Jahrhundert kam die zunehmende sexuelle Aktivität amerikanischer, aber auch europäischer Teenager in der steigenden Zahl von Teenagerschwangerschaften zum Ausdruck. Zu den Faktoren, die dazu beitragen, gehören Unwissen über die potenziellen Folgen einer sexuellen Aktivität, Schuldgefühle wegen sexueller Aktivität, wenig Austausch mit Eltern, Partnern und Gleichaltrigen über Empfängnisverhütung sowie die häufigen Beispiele für ungeschützte Promiskuität in den Massenmedien. Ziel 13: Beschreiben Sie die Entwicklung bei der Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten. Sexuell übertragbare Infektionen wie Infektionen durch das Humanpapillomavirus, HIV und andere Erreger haben sich rasch ausgebreitet. Zwei Drittel dieser Infektionen treten bei Personen unter 25 Jahren auf. Wegen ihres weniger reifen Körpers und einer geringeren Menge schützender Antikörper scheinen Mädchen besonders anfällig dafür zu sein. Zu den Versuchen, Teenager durch umfassende Aufklärungsprogramme zu schützen, gehören in den USA eine stärkere Betonung der Enthaltsamkeit bei Jugendlichen. Hohe Intelligenz, Religiosität, Haushalt mit Vater und Teilnahme an Programmen, bei denen man soziale Tätigkeiten erlernt, sind gewöhnlich gute Prädiktoren für sexuelle Zurückhaltung bei Teenagern. Ziel 14: Fassen Sie die gegenwärtigen Auffassungen darüber zusammen, wie hoch die Anzahl der Menschen mit einer homosexuellen Orientierung ist, und erörtern Sie die Forschung zu biologischen und Umwelteinflüssen auf die sexuelle Orientierung. Untersuchungen deuten darauf hin, dass 3–4% der Männer und 1–2% der Frauen homosexuell sind und dass die sexuelle Orientierung von Dauer ist. In der Forschung wird kein Ursache-Wirkungszusammenhang zwischen Homosexualität und irgendeinem der folgenden Faktoren belegt: Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern, Haushalt ohne Vater, Angst vor und Hass gegenüber Menschen des anderen Geschlechts, sexuelle Erfahrungen in der Kindheit, Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erfahrungen mit Verabredungen. Empirische Belege dafür, dass eine biologische Komponente der Homosexualität wahrscheinlich ist, finden sich in Studien zum gleichgeschlechtlichen Verhalten bei mehreren hundert Spezies, zu Unterschieden zwischen 6
541 12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Hetero- und Homosexuellen in Bezug auf Merkmale in Körper und Gehirn, zu genetischen Merkmalen bei Familienmitgliedern und Zwillingen sowie zur Wirkung dessen, dass man in kritischen Phasen der pränatalen Entwicklung bestimmten Hormonen ausgesetzt war. Die Öffentlichkeit nimmt immer stärker die biologischen Grundlagen der sexuellen Orientierung wahr; diese Wahrnehmung geht einher mit einer breiteren Akzeptanz von Homosexuellen und ihren Partnerschaften.
Ziel 15: Erörtern Sie die Rolle von Wertvorstellungen bei der Forschung zur Sexualität. In der wissenschaftlichen Forschung zur sexuellen Motivation wird nicht der Versuch unternommen, die persönliche Bedeutung der Sexualität in unserem Leben zu definieren. Die Sexualforschung und Sexualpädagogik arbeiten jedoch nicht wertfrei. Manche sagen, Forscher und Pädagogen sollten offen ihre Wertvorstellungen in Bezug auf Sexualität bekennen und die emotionale Bedeutung des sexuellen Ausdrucks anerkennen. > Denken Sie weiter: Was wäre Ihrer Meinung nach eine effektive Strategie zur Reduzierung von Teenagerschwangerschaften?
12.4
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Ziel 16: Beschreiben Sie, welchen adaptiven Wert soziale Bindungen haben, und geben Sie an, welche gesunden und ungesunden Folgen unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat.
Getrennt von Freunden und Familien – isoliert im Gefängnis, neu in der Schule, in einem fremden Land lebend – spüren die meisten Menschen den Verlust der Verbindung zu ihren wichtigsten Bezugspersonen. Wir sind soziale Wesen. In der »Nikomachischen Ethik« schrieb Aristoteles: »Ohne Freunde würde sich niemand für das Leben entscheiden, wenn er auch alle anderen Güter hätte.« Wir fühlen das Bedürfnis, uns mit anderen zu verbinden, mit einigen – wenn möglich – sogar in dauerhaften, engen Beziehungen. Wie der Persönlichkeitstheoretiker Alfred Adler feststellte, ist den Menschen ein »Streben nach Gemeinschaft« eigen (Ferguson 1989). Auch empirisch konnte dieses tiefe Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachgewiesen werden (Baumeister u. Leary 1995).
Soziale Bindung als Überlebenshilfe Soziale Bindungen haben die Überlebenschancen unserer Vorfahren verbessert. Die Menschen behielten ihre Kinder in ihrer Nähe, und diese Bindung war ein machtvoller Überlebensimpuls. Bei Erwachsenen hatte die Bindung den Sinn, sich zu begegnen, um sich zu vermehren, und dann zusammenzubleiben, um den gemeinsamen Nachwuchs bis zur Geschlechtsreife aufzuziehen. Die englische Wendung »to be wretched«, die auf Deutsch »unglücklich sein, sich miserabel fühlen« bedeutet, hatte die ursprüngliche mittelenglische Bedeutung (»wrecche«) »ohne nahe Verwandte sein«. Auch die Zusammenarbeit in Gruppen erleichterte das Überleben. Als Einzelkämpfer waren unsere Vorfahren nicht gerade die stärksten Raubtiere. Als Jäger lernten sie jedoch, dass 6 Hände mehr erreichen als 2. Und bei der Nahrungssuche schützten sie sich gegenseitig vor Raubtieren und vor Feinden, indem sie sich zusammen in Gruppen bewegten. Diejenigen, die ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit hatten, überlebten und pflanzten sich erfolgreich fort; ihre Gene haben sich durchgesetzt und dominieren noch heute. Wir sind von Geburt an auf Gemeinschaft angelegte Geschöpfe. In jeder Gesellschaft auf dieser Erde gehören Menschen einer Gruppe an (und, wie 7 Kap. 15 erklärt, ist die Unterscheidung zwischen »uns« und »den anderen« wichtig dafür, wen wir gern haben und lieber mögen).
Wunsch nach Zugehörigkeit Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit färbt auf unsere Gedanken und Gefühle ab. Wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit damit, über tatsächliche und erhoffte Beziehungen nachzudenken. Wenn Beziehungen entstehen, erleben wir das oft als Freude. Menschen, die sich verlieben, spüren häufig Schmerzen in den Wangen, weil sie nicht mehr aufhören können zu lächeln. Fragt man sie: »Warum bist du so glücklich?« oder »Was gibt deinem Leben Sinn?«, erwähnen die meisten Menschen vor allem anderen ihre nahen, befriedigenden Beziehungen zu ihrer Familie, ihren Freunden und Partnern (Berscheid 1985). Das Glück liegt oft sehr nahe.
12
Kapitel 12 · Motivation
Cinetext
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Trennung verstärkt das subjektiv empfundene Bedürfnis nach Zugehörigkeit Im Film »Verschollen« kämpft Chuck Noland (gespielt von Tom Hanks) gegen die soziale Isolierung an, indem er mit einer Zeichnung von seiner Freundin und einem Volleyball, den er Wilson nennt, redet
Halten Sie für einen Moment inne, um über etwas nachzudenken: Was war für Sie in der letzten Woche der befriedigendste Augenblick? Sheldon et al. (2001) stellten diese Fragen Studierenden in den USA und Südkorea und fragten dann weiter, wie sehr diese höchste Erfahrung verschiedene Bedürfnisse zufrieden stellte. In beiden Staaten waren die Bedürfnisse Erfüllung des Selbstwertgefühls und Beziehung/Zugehörigkeit die beiden wichtigsten Beiträge für den höchsten Augenblick. In einer weiteren Studie fand man heraus, dass sich sehr glückliche Studierende von anderen nicht durch ihr Geld unterscheiden, sondern durch »reichhaltige und befriedigende enge Beziehungen« (Diener u. Seligman 2002). Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit geht anscheinend tiefer als irgendein Bedürfnis nach Reichtum. Die Südafrikaner haben ein Wort für diese Verbundenheit unter den Menschen, durch die wir uns alle definieren. Ubuntu, erklärt Tutu (1999), bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass »mein Menschsein kunstvoll verschlungen ist mit deinem«. In einer Maxime der Zulus wird dieser Gedanke festgehalten: Umuntu ngumuntu ngabantu – »Eine Person ist durch andere Personen eine Person«.
Soziale Akzeptanz durch Handeln erwerben Fühlen wir uns zugehörig, akzeptiert und von unseren Angehörigen geliebt, dann wächst unser Selbstbewusstsein. Laut Leary et al. (1998) ist das Selbstbewusstsein nämlich ein Maß dafür, wie anerkannt und akzeptiert wir uns fühlen. Deshalb zielt ein großer Teil unseres Sozialverhaltens darauf ab, dazuzugehören, gesellschaftlich akzeptiert und Teil einer Gruppe zu sein. Um Zurückweisungen zu vermeiden, passen wir uns i. Allg. den jeweiligen Gruppennormen an und versuchen, einen günstigen Eindruck zu vermitteln (mehr darüber in 7 Kap. 15). Wir beobachten unser eigenes Verhalten und hoffen, den richtigen Eindruck zu erwecken, um Freundschaft und Wertschätzung zu erlangen. Weil wir uns nach Liebe und Zugehörigkeit sehnen, geben wir Milliarden für Kleider, Kosmetika, Diät und Fitness aus: All das wird dadurch motiviert, dass wir auf Akzeptanz aus sind. Genauso wie die sexuelle Motivation zu Liebe und zu Missbrauch führt, führt auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit einerseits zu engen Bindungen, andererseits zu Bedrohungen. Aus unserem Wunsch, Teil eines »Wir« zu sein, entstehen Familien, treue Freundschaften und Teamgeist, aber auch Gangs, ethnische Rivalitäten und fanatischer Nationalismus.
Beziehungen aufrechterhalten
C. Styrsky
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Für die meisten von uns bedeutet Familienleben, dass man geschätzt wird, nicht aber, dass man verachtet wird. Wir brechen soziale Bindungen nicht ohne weiteres ab. Als Gruppe in der Schule, im Ferienlager oder auf einer Reise wehren wir uns, wenn diese Gruppe aufgelöst werden soll. In der Hoffnung, Beziehungen lebendig halten zu können, versprechen wir, anzurufen, zu schreiben und zurückzukommen. Weggehen ist schmerzhaft. Bindungen können Menschen sogar in Beziehungen festhalten, in denen sie missbraucht werden, wenn die Angst vor dem Alleinsein größer ist als der Schmerz bei körperlichem oder seelischem Missbrauch. Menschen leiden sogar, wenn schlechte Beziehungen auseinandergehen. In einer Umfrage in 16 Ländern gaben getrennt lebende oder geschiedene Menschen nur halb so oft wie die Verheirateten an, sie seien »sehr glücklich« (Inglehart 1990). Nach solchen Trennungen tritt oft das Gefühl der Einsamkeit und der Wut auf – und bisweilen sogar ein seltsames Verlangen, in der Nähe des ehemaligen Partners zu sein. Die Angst, alleine zu sein oder alleine zu bleiben, entspricht zum Teil der Realität. Kinder, die in verschiedenen Pflegefamilien aufwachsen, und deren Versuche, Beziehungen aufzubauen, immer wieder scheitern, haben wahrscheinlich auch später Probleme damit, sich auf echte Beziehungen einzulassen. Und Kinder, die in Institutionen aufwachsen, in denen ihnen nicht das Gefühl vermittelt wird, zu irgendjemandem zu gehören, oder die zu Hause unter extremer Vernachlässigung ausgesperrt werden, werden zu mitleiderregenden Geschöpfen: in sich zurückgezogen, verängstigt, sprachlos. Wenn etwas unser soziales Netz bedroht oder wenn eine Bindung gelöst wird, werden wir von negativen Emotionen überwältigt. Die ersten Wochen in einer Universität weit weg von zu Hause sind für viele Studenten eine schwierige Zeit. Je mehr der Student sich dann aber akzeptiert fühlt und Beziehungen aufbaut, desto stärker wird sein Selbstwertgefühl, seine positiven Gefühle und der Wunsch, anderen lieber zu helfen, als sie zu verletzen (Buckley u. Leary 2001). Immigranten und Flüchtlinge, die ohne ihre Familie ihre Heimat verlassen und an einen neuen Ort ziehen
543 12.4 · Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
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müssen, können unter der Belastung und der Einsamkeit depressiv werden. Nachdem solche Familien jahrelang allein in Gemeinden angesiedelt wurden, ist die heutige Politik die der »Kettenmigration« (Pipher 2002). Die zweite sudanesische Flüchtlingsfamilie, die in einem Ort ansässig wird, hat es meistens leichter als die erste.
Manchmal jedoch stößt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht auf Gegenliebe. Vielleicht können Sie sich an eine derartige Zeit erinnern, als sie sich ausgeschlossen, ignoriert oder ausgestoßen fühlten. Möglicherweise stießen Sie auf stille Ablehnung. Eventuell wurden Sie von anderen gemieden, oder sie verdrehten, wenn Sie anwesend waren, die Augen oder spotteten hinter Ihrem Rücken über Sie. Der Sozialpsychologe Williams (2002) und seine Kollegen haben solche Erfahrungen der Ächtung – des sozialen Ausschlusses – sowohl unter natürlichen Bedingungen als auch im Labor untersucht. Überall auf der Welt setzen Menschen Ächtung ein, um durch die bestrafende Wirkung Sozialverhalten zu steuern. Für Kinder kann auch eine kurze Auszeit in sozialer Isolation bestrafend wirken. Für Erwachsene kann Ächtung sogar noch schmerzhafter sein. Exil, Inhaftierung und Einzelhaft sind (hier der Schwere nach geordnete) Formen der Bestrafung. Sogar ausgestoßen zu werden – jemandem die kalte Schulter zu zeigen oder ihn still abzulehnen, indem man den Blickkontakt meidet – ist gleichbedeutend damit, dass man jemandem das Bedürfnis nach Zugehörigkeit abspricht, merken Williams u. Zadro (2001) an. »Es ist das Gemeinste, was man jemandem antun kann, vor allem wenn man weiß, dass er sich nicht wehren kann. Ich hätte nie auf die Welt kommen sollen«, sagt Lea, die ihr Leben lang ein Opfer der stillen Ablehnung durch ihre Mutter und ihre Großmutter gewesen ist. Wie Lea reagieren Menschen auf soziale Ächtung oft mit depressiver Stimmung, anfänglichen Bemühungen, wieder akzeptiert zu werden, und dann mit Rückzug. »Wenn ich abends nach Hause kam, weinte ich immer. Ich verlor 11 Kilo, hatte kein Selbstwertgefühl mehr und hatte das Gefühl, ich sei nichts wert«, berichtete Richard, nachdem er von seinem Vorgesetzten 2 Jahre lang abgelehnt worden war. Werden Menschen zurückgewiesen und können nichts dagegen tun, werden sie häufig selbst aggressiv. In einer Reihe von Studien sagten Twenge et al. (2001, 2002; Baumeister et al. 2002) einigen Probanden nach einem Persönlichkeitstest, sie seien »der Typ, der am Ende später im Leben allein ist«, oder andere, die sie getroffen hatten, wollten sie nicht in einer Gruppe haben, die sich gerade bildete. Anderen Probanden wurde gesagt, dass sie »ihr Leben lang angenehme Beziehungen haben würden« oder dass »jeder Sie ausgewählt hat, um mit Ihnen zusammenzuarbeiten«. Die Versuchsteilnehmer, die sich ausgeschlossen fühlten, stellten sich später häufiger schlecht dar und schnitten in Eignungstests schlechter ab. Außerdem verhielten sie sich unsozial, äußerten sich abschätzig oder aggressiv (und das nicht gerade leise) gegenüber denen, die sie beleidigt hatten. »Wenn intelligente, gut angepasste und erfolgreiche Studierende durch ein kleines Experiment im Labor so aggressiv werden können, wenn sie Erfahrung mit sozialem Ausgeschlossensein machen, mag man sich gar nicht ausmalen, welche aggressiven Tendenzen aufkommen können, wenn jemand eine Reihe von Zurückweisungen von anderen, ihm wichtigen Personen erlebt und sich in seinem wirklichen Sozialleben ausgeschlossen fühlt«, bemerkte die Forschergruppe.
AP/Wide World Photos
Der Schmerz der Ächtung
Kontaktbedürfnis An 6 Tagen der Woche arbeiten Frauen von den Philippinen als Haushaltshilfen in 154.000 Haushalten in Hongkong. Sonntags strömen sie ins Geschäftszentrum, um zu picknicken, zu tanzen, sich zu unterhalten und zu lachen. »Die Menschheit könnte kein schöneres Bild des Glücks inszenieren«, beschrieb ein Beobachter die Szene. (»Economist« 2001)
Haben Sie enge Freunde? Solche, mit denen Sie freimütig über all das Gute und Schlechte in Ihrem Leben reden können? In 7 Kap. 13 werden wir zeigen, dass Menschen, die enge Freunde haben, in der Regel glücklicher sind. Wie wir in 7 Kap. 16 sehen werden, sind Menschen, die sich in guten Beziehungen aufgehoben fühlen, auch gesünder und haben ein geringeres Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden und vorzeitig zu sterben, als jene, die kein soziales Netz haben. Im Vergleich zu Singles erkranken verheiratete Menschen z. B. mit geringerer Wahrscheinlichkeit an Depressionen, verüben seltener Suizid und sterben seltener früh. All dies belegt Baumeister u. Learys These (1995), dass »Menschen von einem fundamentalen und umfassenden Bedürfnis nach Zugehörigkeit motiviert werden«.
AP
Gesundheit stärken Manchmal rasten Außenseiter aus Die meisten Teenager, die Außenseiter sind, werden nicht gewalttätig, aber einige schon. Robert Steinhäuser galt bei manchen seiner Mitschüler als Außenseiter, wurde als introvertiert oder arrogant angesehen. Mit dem Schulverweis und dem Ausschluss vom Abitur kam er nicht zurecht, er erschoss 2002 in Erfurt in seiner ehemaligen Schule 17 Menschen und anschließend sich selbst
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Kapitel 12 · Motivation
Lernziele Abschnitt 12.4 Bedürfnis nach Zugehörigkeit Ziel 16: Beschreiben Sie, welchen adaptiven Wert soziale Bindungen haben, und geben Sie an, welche gesunden und ungesunden Folgen unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat. Unser Bedürfnis, uns anderen anzuschließen, uns verbunden zu fühlen und uns mit anderen identifizieren zu können, verbesserte die Überlebenschancen unserer Vorfahren; dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass Menschen in allen Gesellschaften in Gruppen leben. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit tritt auf, wenn Menschen danach streben, sozial akzeptiert zu werden, daran arbeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten (oder einen Verlust betrauern) oder die Freude der Liebe (oder den Trübsinn der Einsamkeit) empfinden. Geächtete Menschen, die von anderen ausgeschlossen oder ausgestoßen werden, leiden unter Stress und De-
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pression – einer wirklich schmerzhaften Empfindung, die die Aktivität in dem Hirnareal zunehmen lässt, das auch auf körperlichen Schmerz reagiert. Wenn sich Menschen in ihren Freundschaften, Familien oder Ehen sicher aufgehoben fühlen, sind sie gewöhnlich gesünder, und bei ihnen kommen Depression, Selbstmord oder früher Tod nicht so häufig vor. Wenn sie dagegen sozial ausgeschlossen werden, werten sie sich möglicherweise selbst ab (zeigen Leistungen unter ihrem Fähigkeitsniveau) oder verhalten sich antisozial. > Denken Sie weiter: Gab es Zeiten, in denen Sie sich mit Ihrer Familie und Ihren Freunden nicht mehr verbunden oder sogar von ihnen geächtet fühlten? Wie haben Sie darauf reagiert?
Leistungsmotivation
Ziel 17: Definieren Sie Leistungsmotivation.
Leistungsmotivation (achievement motivation): Ausmaß des Strebens nach herausragenden Leistungen; beinhaltet einen Wunsch nach Kontrolle und nach schnellem Erreichen eines hohen Standards.
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Ein weiteres wichtiges Motiv, das uns Menschen antreibt, ist das Leistungsmotiv. Lassen Sie uns einen näheren Blick darauf werfen, warum sich einige Menschen hohe Leistungsstandards setzen und schwer zu erreichende Ziele verfolgen und andere dies in nicht so starkem Maße machen. Warum erreichen manche Menschen mehr als andere, warum sind sie erfolgreicher? Denken Sie an jemanden, der danach strebt, erfolgreich zu sein und die ihm gestellten Aufgaben hervorragend zu lösen. Gemäß Murray (1938) ist eine solche Person durch eine hohe Leistungsmotivation gekennzeichnet. Diese ist definiert als Streben nach herausragenden Leistungen zusammen mit dem Wunsch nach Kontrolle und nach schnellem Erreichen eines hohen Standards. Das Leistungsmotiv wurde von McClelland und seiner Arbeitsgruppe empirisch untersucht (z. B. McClelland et al. 1976). Dabei fanden sie 2 unterschiedliche Motivationstendenzen: Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg (7 Kap. 20). Zur Messung dieses Motivs entwickelte bereits Murray den »Thematischen Apperzeptionstest« (TAT, 7 Kap. 14). Wie aufgrund ihrer Beharrlichkeit und ihres Eifers nach realistischen Herausforderungen zu erwarten ist, leisten Menschen mit hoher Leistungsmotivation mehr. Eine Studie verfolgte die Lebensläufe von 1528 kalifornischen Kindern, deren Intelligenztestwerte im Bereich der oberen 1% lagen. 40 Jahre später verglichen die Forscher diejenigen, die beruflich am meisten, und diejenigen, die am wenigsten erfolgreich waren, und fanden eine unterschiedlich ausgeprägte Motivation. Die besonders Erfolgreichen waren ambitionierter, aktiver und ausdauernder. Als Kinder hatten sie mehr aktive Hobbys. Als Erwachsene nahmen sie an mehr Gruppenaktivitäten teil und waren lieber im Sport aktiv, als bloß zuzusehen (Goleman 1980). In anderen Studien an Sekundarstufenschülern und an Studierenden war die Selbstdisziplin ein besserer Prädiktor der Schul- bzw. Studienleistung, der Teilnahme an Veranstaltungen und der Auszeichnung beim Abschluss als Intelligenztestwerte. »Disziplin ist wichtiger als Begabung«, schlossen die Forscher Duckworth u. Seligman (2005) daraus. Anfang 20 können Spitzengeiger auf eine Praxis von mehr als 10.000 Übungsstunden zurückblicken – das sind doppelt so viele Übungsstunden wie bei anderen Geigern, die Musiklehrer werden wollen (Ericsson et al. 1993, 2001). Aufgrund seiner Untersuchungen schätzt Simon (1998), ein Psychologe, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen hat, dass Experten von Weltruf in einem Bereich typischerweise »mindestens 10 Jahre harter Arbeit investiert haben – sagen wir 40 Stunden pro Woche an 50 Wochen im Jahr«. In ähnlichem Sinne untersuchte eine Studie herausragende Wissenschaftler, Sportler und Künstler, die alle hochmotiviert und diszipliniert waren; sie waren bereit, jeden Tag Stunden zu opfern, um ihre Ziele zu erreichen (Bloom 1985). Diese Super-Erfolgstypen unterschieden sich weniger in ihrem außergewöhnlichen natürlichen Talent als durch ihre außergewöhnliche tägliche
545 12.5 · Leistungsmotivation
Disziplin. Große Leistungen sind, so scheint es, eine Mischung aus ein wenig Inspiration und viel Transpiration. Der Unterschied zwischen sehr erfolgreichen und ähnlich begabten anderen Menschen, merken Duckworth u. Seligman an, liegt in der Entschlossenheit: Sie widmen sich einer Sache mit Leidenschaft und verfolgen ehrgeizig ein langfristiges Ziel. Obwohl Intelligenz normalverteilt ist, sind es bedeutende Leistungen nicht. Dies zeigt uns, dass solche Leistungen mehr beinhalten als die bloße Fähigkeit; eine hohe Leistungsmotivation ist hier von zentraler Bedeutung. Lernziele Abschnitt 12.5 Leistungsmotivation Ziel 17: Definieren Sie Leistungsmotivation. Leistungsmotivation ist das Verlangen, etwas Bedeutsames zu erreichen, Dinge, Menschen und Ideen zu beherrschen sowie hohe Standards aufrechtzuerhalten.
> Denken Sie weiter: Sind Sie selbst stark oder weniger stark motiviert, an der Uni oder im Beruf gute Leistungen zu erbringen? Wie hoch schätzen Sie Ihre Leistungsmotivation ein?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Während Sie auf einer langen Reise mit dem Auto unterwegs sind, fühlen Sie sich plötzlich sehr einsam, wollen an den Straßenrand fahren und einen geliebten Menschen anrufen. Aber der dunkle, verlassene Straßenabschnitt löst Angst in Ihnen aus; deshalb fahren Sie weiter. Welche Auffassung innerhalb der Motivationspsychologie würde dieses Verhalten am ehesten erklären und warum? 2. Sie sind auf einer Reise und haben seit 8 Stunden lang nichts gegessen. Als das lang und heiß ersehnte Lieblingsgericht vor Ihnen auf dem Tisch steht, läuft Ihnen das Wasser im Mund zusammen. Selbst wenn Sie sich das nur vorstellen, kann es bei Ihnen zu dieser Reaktion führen. Was löst diese Vorwegbegeisterung aus? 3. Wie könnten die Triebreduktionstheorie, die Erregungstheorie und die evolutionäre Sichtweise unsere sexuelle Motivation erklären? 4. Wie könnten die Triebreduktionstheorie, die Erregungstheorie und die evolutionäre Sichtweise unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit erklären?
L Deutsche Literatur zum Thema Birbaumer, N. & Schmidt, R.F. (2006). Biologische Psychologie, 6. Aufl. Heidelberg: Springer. Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2006). Motivation und Handeln, 3. Aufl. Heidelberg: Springer. Rheinberg F. (2002). Motivation. Stuttgart: Kohlhammer Rudolph, U. (2007). Motivationspsychologie, 2. Aufl. Weinheim: Beltz. Schmalt, H. D. & Schneider, K. (2000). Motivation. Stuttgart: Kohlhammer. Schweizer, K. (2006). Leistung und Leistungsdiagnostik. Heidelberg: Springer. Tietz, L., Timmermanns, S. & Tuider, E. (2004). Homosexualität verstehen. Kritische Konzepte für die psychologische und pädagogische Praxis. Hamburg: Männerschwarmskript.
12
13 Emotion 13.1
Emotionstheorien
– 548
13.2
Emotion und Körper – 551
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4
Emotionen und das autonome Nervensystem – 551 Physiologische Ähnlichkeiten zwischen spezifischen Emotionen – 552 Physiologische Unterschiede zwischen spezifischen Emotionen – 553 Kognition und Emotion – 554
13.3
Emotion und Ausdruck – 560
13.3.1 13.3.2 13.3.3
Nonverbale Kommunikation – 560 Emotionsausdruck im kulturellen Kontext – 564 Mimischer Ausdruck – 566
13.4
Emotion und Erfahrung
13.4.1 13.4.2 13.4.3
Angst – 570 Wut – 573 Glücklichsein – 575
– 569
Andere Kulturen, andere Perspektiven Kürzlich hatte ich bei einer Reise auf eine Ihrer wunderschönen Inseln die Gelegenheit, auszuspannen und fischen zu gehen. Dabei hörte ich eine Unterhaltung zwischen einem Harvard-Geschäftsmann auf Urlaub und einem der örtlichen Fischer mit an. Der Fischer hatte ein kleines Boot mit mehreren großen Gelbflossen-Thunfischen an Bord … Der Geschäftsmann machte dem Mann Komplimente, was die Qualität seiner Fische anging, und fragte ihn, wie lange es gedauert hätte, sie zu fangen. Der Fischer erwiderte: »Nur kurze Zeit.« Der Geschäftsmann fragte, warum er nicht länger geblieben sei, um noch mehr Fische zu fangen. Der Fischer antwortete, er habe genug, um die Grundbedürfnisse seiner Familie zu befriedigen.
Dann fragte der Geschäftsmann: »Aber was machen Sie mit Ihrer übrigen Zeit?« Der Fischer sagte: »Ich schlafe aus, fische ein wenig, spiele mit meinen Kindern, mache mit meiner Frau zusammen ein Nickerchen, gehe jeden Abend im Dorf spazieren, wo ich ein Bier trinke und mit meinen
Freunden zusammen auf der Ukulele spiele. Ich habe ein erfülltes und wunderschönes Leben.« Der Geschäftsmann spottete: »Ich habe einen Master of Business Administration von der Harvard University und könnte Ihnen helfen. Sie sollten mehr Zeit beim Fischen verbringen, und dann könnten Sie sich ein größeres Boot kaufen. Und mit dem Geld, das Sie aufgrund des größeren Boots verdienen, könnten Sie sich mehrere Boote leisten. Am Ende werden Sie eine Flotte von Fischerbooten besitzen … Und Sie verdienen Millionen von Dollars!« »Aber was dann?«, fragte der Fischer. Der Geschäftsmann sagte: »Dann könnten Sie sich zur Ruhe setzen und in ein kleines Fischerdorf ziehen, wo Sie dann ausschlafen, … ein wenig fischen, … mit Ihren Kindern spielen, … mit Ihrer Frau zusammen ein Nickerchen machen, … jeden Abend im Dorf spazieren gehen, … wo Sie ein Bier trinken… und mit Ihren Freunden zusammen auf der Ukulele spielen könnten.«
Admiral Dennis Blair, Oberbefehlshaber der U.S. Pazifikstreitkräfte, Anmerkung auf der Pacific Islands Conference of Leaders, 31. Januar 2001, East-West Center, Honolulu
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Kapitel 13 · Emotion
Emotion > Niemand muss Ihnen sagen, dass Ihre Gefühle Farbe in Ihr Leben bringen, dass sie in angespannten Zeiten Ihr Leben stören oder auch retten können. Von allen Arten auf der Erde scheinen wir die mit den meisten Gefühlen zu sein (Hebb 1980). Öfter als jedes andere Lebewesen bewegen uns Angst, Wut, Trauer, Freude oder Liebe. Wir alle können uns an Momente erinnern, in denen wir von Gefühlen überwältigt wurden. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich mit meinem Sohn Peter, meinem Erstgeborenen, der damals noch ein Kleinkind war, in ein großes Einkaufszentrum ging, um einen Film abzugeben. Als ich Peter auf seine Füße stellte, um den Abholschein auszufüllen, warnte mich ein Vorübergehender: »Sie sollten besser auf den Jungen aufpassen, sonst kommt er Ihnen noch abhanden.« Nur wenige Augenblicke später, als ich den Film eingeworfen hatte, drehte ich mich um und sah keinen Peter mehr neben mir. Mit einem leichten Angstgefühl schaute ich zu dem einen Ende des Schalters. Kein Peter in Sicht. Mit etwas mehr Angst schaute ich zum anderen Ende. Auch dort kein Peter. Nun ging ich um die anderen Schalter herum, dabei schlug mein Herz immer schneller und lauter. Immer noch keine Spur von Peter. Meine Angst wurde zur Panik, und ich rannte die Gänge zwischen den Regalen auf und ab. Er war nirgends zu finden. Durch mein Verhalten aufmerksam geworden, setzte der Filialleiter die Lautsprecheranlage ein, um die Kunden zu bitten, bei der Suche nach einem verloren gegangenen Kind zu helfen. Kurz darauf kam ich an dem Kunden vorbei, der mich gewarnt hatte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie ihn verlieren werden!«, sagte er mit Verachtung in der Stimme. Mit Bildern von einem Kidnapping im Kopf (Fremde hatten schon immer bewundert, was für ein hübsches Kind Peter sei), spielte ich mit den schlimmsten Gedanken. Ich befürchtete, dass meine Achtlosigkeit zumVerlust des Meistgeliebten in meinem Leben führen würde, und ich stellte mir vor, dass ich nach Hause gehen und meiner Frau ohne unser einziges Kind gegenübertreten müsste. Aber dann, als ich erneut am Serviceschalter vorbeikam, war er wieder da. Er war von einem freundlichen Kunden gefunden und zurückgebracht worden. Innerhalb einer Sekunde verwandelte sich meine Angst in große Freude. Als ich meinen Sohn umarmte, standen mir die Tränen in den Augen, und ich war nicht einmal mehr in der Lage, mich zu bedanken, sondern stolperte einfach aus dem Laden, fast aufgelöst vor Freude.
Woher kommen solche Gefühle? Warum haben wir sie? Wie setzen sie sich zusammen? Gefühle sind die Anpassungsreaktionen unseres Körpers auf äußere Reize. Es gibt sie nicht deshalb, weil sie uns interessante Erlebnisse ermöglichen, sondern um unsere Überlebenschancen zu verbessern. Wenn wir uns Herausforderungen gegenübergestellt sehen, bringen uns unsere Gefühle dazu, unsere Aufmerksamkeit zu bündeln und spornen uns zum Handeln an. Unser Herz rast. Wir gehen schneller. Alle Sinne sind bereit. Wenn wir unerwartet gute Nachrichten bekommen, können uns Tränen in die Augen treten. Wir werfen triumphierend die Arme in die Luft. Wir fühlen neuen Schwung und eine neue Sicherheit. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns damit, was unter emotionsbezogenen Gefühlen, Gedanken und Handlungen in der Psychologie zu verstehen ist. Und wir werden kurz auf Angst, Wut und Glück eingehen.
13
13.1
Emotionstheorien
Ziel 1: Geben Sie die 3 Komponenten von Emotionen an, und stellen Sie die Emotionstheorien von James und Lange, von Cannon und Bard sowie die Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion einander gegenüber. Emotion (emotion): Reaktion des gesamten Organismus, die 1. physiologische Erregung, 2. Ausdrucksverhalten und 3. bewusste Erfahrung beinhaltet.
Wie meine qualvolle Suche nach Peter zeigt, sind Emotionen, eine Mischung aus 1. physiologischer Erregung (Herzrasen), 2. Ausdrucksverhalten (beschleunigter Schritt) und 3. bewusster Erfahrung, die aus Gedanken (»Ist das eine Entführung?«) und Gefühlen (Angst, später Freude) besteht. Das Problem für die Psychologen bestand darin, herauszufinden, wie diese 3 Teile zusammenpassen.
549 13.1 · Emotionstheorien
Nicht nur Emotionen, sondern fast alle psychischen Phänomene (wie Wahrnehmung, Schlaf, Gedächtnis, Sexualität und so weiter) können unter diesen 3 Aspekten betrachtet werden: physiologisch, kognitiv und auf der Verhaltensebene.
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Es gibt 2 Kontroversen über das Zusammenspiel zwischen der Physiologie, dem Ausdruck und der Erfahrung von Emotionen. Die erste, eine Huhn-oder-Ei-Debatte, ist alt: Kommt die physiologische Erregung zuerst, oder folgt sie dem bewussten »Gefühl«? (Habe ich zuerst bemerkt, wie mein Herz schlägt und ich schneller gehe, und merke dann, dass ich Angst habe, Peter verloren zu haben? Oder kommt zuerst das Gefühl der Angst, das bei mir zur Reaktion des Herzens und der Füße führte?) Die zweite Kontroverse betrifft die Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen: Kommt die Kognition immer vor der Emotion? (War es erforderlich, dass ich die Gefahr eines Kidnapping bewusst einschätzte, bevor ich gefühlsmäßig reagieren konnte?) Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir weinen, weil wir traurig sind, auf den Tisch hauen, weil wir wütend sind, und zittern, weil wir ängstlich sind. Zuerst kommt die bewusste Wahrnehmung, dann folgen die physiologischen Zutaten. Aber der Pionier der psychologischen Forschung William James war der Meinung, dass der emotionale Prozess genau anders herum abläuft. Laut James »fühlen wir uns traurig, weil wir weinen, wütend, weil wir zuschlagen, ängstlich, weil wir zittern« (1890). Vielleicht erinnern Sie sich an einen Moment, als Ihr Auto auf rutschigem Untergrund ins Schleudern kam. Als Sie wie verrückt schleuderten, traten Sie auf die Bremse und hatten das Auto wieder in der Gewalt. Als dieser Moment vorbei war, merkten Sie, wie laut Ihr Herz schlug und erst dann kam die Angst mit einem Schlag. Ihr Gefühl von Angst folgte also auf die Reaktion Ihres Körpers. Die Idee von James, die auch von dem dänischen Physiologen Carl Lange unterstützt wurde, wird heute als James-Lange-Theorie bezeichnet. Die James-Lange-Theorie schien dem amerikanischen Physiologen Walter Cannon (1871– 1943) nicht plausibel. Cannon war der Meinung, dass die Reaktionen des Körpers nicht spezifisch genug seien, um für die vielen verschiedenen Gefühle verantwortlich sein zu können. Signalisiert ein schnell schlagendes Herz Angst, Wut oder Liebe? Außerdem gehen Veränderungen wie die Beschleunigung des Herzschlags, Schwitzen und Veränderungen der Körpertemperatur zu langsam vor sich, um plötzliche Gefühle entstehen lassen zu können. Cannon, und später ein anderer Physiologe, Philip Bard, schlossen daraus, dass die physiologische Aktivierung und die Erfahrung von Emotionen gleichzeitig entstehen: Der Reiz, der die entsprechende Emotion auslöst, wird zum zerebralen Kortex geleitet, wo er die Empfindung der Emotion auslöst, und gleichzeitig zum Sympathikus, wo er die Reaktion des Körpers auslöst. Diese Cannon-Bard-Theorie sagt aus, dass Ihr Herz dann zu schlagen beginnt, wenn Sie Angst empfinden: das eine bedingt nicht das andere. Jetzt lassen Sie uns einmal überprüfen, ob Ihnen die James-Lange- und die Cannon-BardTheorie klar geworden sind. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Gehirn Ihren Herzschlag oder ein ungutes Gefühl im Bauch nicht fühlen könnte. Wie würde das nach diesen beiden Theorien Ihre Emotionen beeinflussen? Cannon und Bard hätten erwartet, dass Sie Ihre Emotionen nicht anders wahrnehmen als sonst, da sie glaubten, dass Emotionen zwar gleichzeitig mit der physischen Erregung des Körpers entstünden, jedoch davon unabhängig wären. James und Lange hätten erwartet, dass Sie Ihre Emotionen weniger stark empfinden als sonst, da Sie ihrer Meinung nach zuerst die Erregung des Körpers wahrnehmen müssten, um eine Emotion zu haben. Schachter u. Singer (1962) schlugen eine dritte Theorie vor: dass unsere Physiologie und unsere Kognitionen – Wahrnehmungen, Erinnerungen und Interpretationen – gemeinsam die Emotion hervorrufen. Nach ihrer Zwei-Faktoren-Theorie haben Emotionen daher 2 Bestandteile: körperliche Erregung und die kognitive Interpretation (. Abb. 13.1). Wie James und Lange nahmen Schachter und Singer an, dass unser Emotionserleben aus unserem Bewusstsein für die Erregung unseres Körpers entsteht. Doch wie Cannon und Bard waren auch Schachter und Singer der Auffassung, dass Emotionen physiologisch einander ähnlich sind. Daher setzt ihrer Meinung nach eine emotionale Erfahrung eine bewusste Interpretation der Erregung voraus. Um die Theorien von James und Lange, von Cannon und Bard sowie die Zwei-Faktoren-Theorie zu bewerten, wollen wir im nächsten Abschnitt die Antworten berücksichtigen, die die Forscher auf 3 Fragen gegeben haben: 4 Geht der emotionalen Erfahrung immer eine physiologische Erregung voraus? 4 Sind unterschiedliche Emotionen durch klar voneinander unterscheidbare physiologische Reaktionen gekennzeichnet? 4 Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem, was wir denken, und der Art und Weise, wie wir uns fühlen?
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Freuden der Freundschaft Nach der Theorie von James und Lange lächeln wir nicht nur, weil wir an der Freude einer Freundin teilhaben. Wir teilen auch die Freude mit ihr, weil wir mit ihr zusammen lächeln
James-Lange-Theorie (James-Lange theory): sagt aus, dass unsere Emotionserfahrung dadurch entsteht, dass wir uns unserer physiologischen Reaktionen auf emotionserregende Reize bewusst werden. Cannon-Bard-Theorie (Cannon-Bard theory): sagt aus, dass ein emotionserregender Reiz gleichzeitig 1. physiologische Reaktionen und 2. die subjektive Erfahrung der Emotion auslöst. Zwei-Faktoren-Theorie (two-factor theory): Schachters und Singers Theorie sagt aus, dass man, um Emotionen zu erfahren, 1. physiologisch erregt sein und 2. diese Erregung kognitiv interpretieren muss.
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Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.1. Emotionstheorien
13 Lernziele Abschnitt 13.1 Emotionstheorien Ziel 1: Geben Sie die 3 Komponenten von Emotionen an, und stellen Sie die Emotionstheorien von James und Lange, von Cannon und Bard sowie die Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion einander gegenüber. Die 3 Komponenten der Emotionen sind 1. die physiologische Erregung, 2. das Ausdrucksverhalten und 3. die bewusste Erfahrung. William James und Carl Lange nahmen an, dass wir Emotionen fühlen, nachdem wir unsere physiologischen Reaktionen wahrgenommen haben. Walter Cannon und Philip Bard glaubten, dass wir die Emotionen gleichzeitig mit der Reaktion unseres Körpers empfinden. Die Zwei-Faktoren-Theorie
der Emotion von Schachter und Singer konzentrierte sich auf das Zusammenspiel von Denken und Fühlen, nicht auf die zeitliche Abstimmung der Gefühle. Sie machten den Vorschlag, dass Emotionen 2 Komponenten haben, die körperliche Erregung und eine kognitive Interpretation. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie allmählich aus der Fassung gerieten oder beunruhigt waren, und erst später diese Gefühle interpretiert haben?
551 13.2 · Emotion und Körper
13.2
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Emotion und Körper
Ob Sie nun ungeduldig auf einen lang ersehnten Urlaub warten, ob Sie sich verlieben oder um einen geliebten Menschen trauern, Sie müssen nicht lange davon überzeugt werden, dass an diesen Emotionen auch Ihr Körper beteiligt ist. Fühlen ohne einen Körper ist wie atmen ohne Lungen. Einige körperliche Reaktionen sind leicht zu erkennen, andere treten ein, ohne dass Sie sich ihrer bewusst sind (viele erfolgen auf dem Niveau der Nervenzellen im Gehirn). Wenn ein Motorradfahrer hinter Ihnen in einer dunklen Straße seinen Motor aufheulen lässt, spannen sich Ihre Muskeln an, es kribbelt im Bauch, und Ihr Mund wird trocken.
13.2.1
Emotionen und das autonome Nervensystem
Ziel 2: Beschreiben Sie, welche Rolle das autonome Nervensystem spielt, wenn Sie emotional erregt sind.
Wenn sich Ihr autonomes Nervensystem auf eine Aktivierung vorbereitet, reagiert auch Ihr Körper auf die Aktivität; das ist aber nicht so deutlich zu spüren. Um Energie zur Verfügung zu stellen, schüttet Ihre Leber zusätzlich Zucker ins Blut aus. Die Atmung nimmt zu, damit ausreichend Sauerstoff vorhanden ist. Die Verdauung verlangsamt sich, da das Blut von den inneren Organen zu den Muskeln geleitet wird. In dem Maße, in dem mehr Blutzucker in den großen Muskeln der Beine ist, kann man leichter laufen. Die Pupillen weiten sich und lassen mehr Licht ein. Um Ihren aufgeheizten Körper zu kühlen, schwitzen Sie. Wenn Sie verwundet würden, würde Ihr Blut schneller gerinnen. Nach Ihrem nächsten Schreck denken Sie bitte einmal darüber nach: Ohne jede bewusste Anstrengung wäre die Reaktion Ihres Körpers auf eine Gefahr unglaublich koordiniert und an die Situation angepasst; sie würde Sie in die Lage versetzten, zu fliehen oder zu kämpfen. Wie wir in 7 Kap. 2 gesehen haben, reguliert unser vegetatives (autonomes) Nervensystem die Erregung (. Abb. 13.2). Der Teil des Systems, der Sympathikus genannt wird, bewirkt, dass die Nebennieren die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin ausschütten. Dieser Anstieg des Hormonspiegels beschleunigt den Herzschlag und erhöht den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel. Wenn der kritische Augenblick vorübergeht, reagiert der Parasympathikus: Er fährt die Aktivität wieder herunter. Aber auch nachdem der Parasympathikus die weitere Ausschüttung von Stresshormonen gehemmt hat, bleiben noch die Hormonmoleküle erhalten, die bereits im Blut sind, und die Stressreaktion klingt nur langsam ab.
»Den Füßen fügt die Furcht Flügel hinzu« Vergil (»Aeneis«, 19 v. Chr.)
Eine Erklärung für den plötzlichen Tod durch einen »Voodoo-Fluch« ist die folgende: Der Parasympathikus, der die Funktion hat, den Körper zu beruhigen, überreagiert auf die extreme Erregung, indem er den Herzschlag so stark verlangsamt, dass das Herz aufhört zu schlagen (Seligman 1974).
. Abb. 13.2. Emotionale Erregung Zur emotionalen Erregung gehört die Aktivierung des vegetativen Nervensystems
552
Kapitel 13 · Emotion
Erregung und Leistung Ziel 3: Erörtern Sie die Beziehung zwischen Erregung und Leistung.
Bleibt die physiologische Erregung durch anhaltenden Stress lange bestehen, belastet dies den Körper (mehr darüber in 7 Kap. 16). Doch meistens passt sich die Erregung der Situation an. Zu wenig Erregung (oder eine Art Schläfrigkeit) kann genauso störend sein wie extrem hohe Erregung. Wenn Sie eine Prüfung machen müssen, ist es am besten, wenn Sie mäßig erregt sind: hellwach, aber nicht vor Nervosität zitternd. Obwohl wir normalerweise die besten Leistungen bringen, wenn wir mäßig erregt sind, ist das Erregungsniveau für optimale Leistungen je nach Aufgabe unterschiedlich. Bei leichten oder gut gelernten Aufgaben kommt man mit relativ hoher Erregung zu den besten Leistungen. Bei schweren oder schlecht gelernten Aufgaben ist der optimale Erregungsgrad etwas niedriger (. Abb. 13.3). Läufer – Laufen ist für sie etwas, was sie bestens beherrschen – erreichen gewöhnlich die besten Leistungen, wenn der Grad ihrer Erregung durch die Wettkampfsituation hoch ist. Basketballspieler, die einen Freiwurf ausführen, der nicht so automatisiert abläuft wie das Laufen, zielen häufig schlechter, wenn sie in einem vollen Stadion sehr aufgeregt sind (Sokoll u. Mynatt 1984). Genauso ist es bei sehr ängstlichen Studierenden, die in Prüfungen schlechter abschneiden als andere mit ähnlichen Fähigkeiten, die aber ein ausgeprägteres Selbstbewusstsein besitzen. Wenn man ängstlichen Studenten beibringt, sich vor Prüfungen zu entspannen, schneiden sie oft besser ab (Hembree 1988). . Abb. 13.3. Erregung und Leistung Die Leistung erreicht bei schwierigen Aufgaben ihren Höhepunkt, wenn die Erregung etwas niedriger ist, bei leichten oder gut geübten Aufgaben dann, wenn die Erregung höher ist
13 13.2.2
Physiologische Ähnlichkeiten zwischen spezifischen Emotionen
Ziel 4: Geben Sie 3 Emotionen an, die mit einer ähnlichen physiologischen Erregung einhergehen. »Niemand hat mir je gesagt, dass sich Trauer so sehr wie Angst anfühlt. Ich habe keine Angst, aber das Gefühl ist so, als hätte ich Angst. Die gleiche Unruhe im Bauch, die gleiche Rastlosigkeit, das gleiche Gähnen. Und ich muss ständig schlucken.« C. S. Lewis, »Über die Trauer« (2006)
Stellen Sie sich vor, Sie seien Versuchsleiter bei einem Experiment, bei dem die physiologischen Reaktionen auf Emotionen untersucht werden sollen. In 4 Räumen sitzen Teilnehmer, die sich einen Film ansehen: Der Versuchsteilnehmer im ersten Raum sieht sich einen Horrorfilm an, der im zweiten einen, der wütend macht, der Teilnehmer im dritten einen sexuell erregenden Film und der im vierten einen ausgesprochen langweiligen Film. Vom Kontrollzentrum aus können Sie die physiologischen Reaktionen jedes Teilnehmers beobachten: Schweißausbrüche werden registriert, und Atmung und Herzschlag werden gemessen. Glauben Sie, Sie könnten herausfinden, wer ängstlich, wer wütend, wer sexuell erregt ist und wer sich langweilt? Wenn Sie eine Weile üben, können Sie wahrscheinlich den gelangweilten Zuschauer herausfinden. Aber zwischen den physiologischen Reaktionen bei Angst, Wut und Sexualität zu unterscheiden, ist sehr viel schwerer, da die Emotionen einen ähnlich hohen Erregungsgrad haben, aber natürlich unterschiedlich bewertet werden (Cacioppo et al. 1997; Zillmann 1986).
553 13.2 · Emotion und Körper
13.2.3
Emotionale Erregung Die physiologische Erregung bei Aufregung sieht sehr ähnlich aus wie die Erregung bei Panik. Deshalb können wir zwischen diesen beiden Emotionen schnell hin- und herwechseln
Bill Varie/Corbis
Für Sie und mich fühlen sich sexuelle Erregung, Angst und Wut trotz allem unterschiedlich an. Bei sexueller Stimulation spüren Sie die Reaktionen Ihrer Genitalien. Wenn Sie ängstlich sind, haben Sie vielleicht ein Gefühl von Beklemmung in der Brust und dass Ihnen etwas schwer im Magen liegt. Wenn Sie wütend sind, spüren Sie, wie Ihnen heiß wird, und Sie erleben ein Gefühl der zunehmenden inneren Spannung. Und obwohl die Erregung ähnlich ist, fühlen sich Angst und Wut nicht nur unterschiedlich an, sie sehen auch unterschiedlich aus. Menschen sind manchmal »starr vor Angst« oder »explodieren gleich vor Wut«. Kann die Forschung demnach physiologische Indikatoren festlegen, anhand derer die Unterschiede zwischen den einzelnen Emotionen zu erkennen wären? Manchmal. Lesen Sie mehr dazu.
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Physiologische Unterschiede zwischen spezifischen Emotionen
Ziel 5: Beschreiben Sie einige physiologische Indikatoren und Hirnaktivitätsmuster als Indikatoren für bestimmte Emotionen.
Die Temperatur der Finger und die Hormonausschüttung, die mit Angst und Wut einhergehen, unterscheiden sich manchmal (Ax 1953; Levenson 1992). Und obwohl Angst und Freude den Herzschlag in gleichem Maße beschleunigen, stimulieren sie unterschiedliche Gesichtsmuskeln. Bei Angst spannen sich die Muskeln der Augenbrauen an. Bei Freude verziehen sich die Muskeln in den Wangen und unter den Augen zu einem Lächeln (Witvliet u. Vrana 1995). ! Bei unterschiedlichen Emotionen werden unterschiedliche Gehirnkreisläufe aktiviert (Kalin 1993; Panksepp 1982).
Beobachter, die ängstliche Gesichter betrachten (und sie in subtiler Weise nachahmen), zeigen mehr Aktivität in der Amygdala als solche, die wütende Gesichter betrachten (Whalen et al. 2001). Sie erinnern sich gewiss noch an den Einfluss der Amygdala, der in 7 Kap. 2 besprochen wurde. Dort wurde beschrieben, wie die Stimulierung eines bestimmten Areals der Amygdala einer Katze dazu führt, dass diese beim Anblick einer Maus vor Angst wegspringt. Bei der Stimulierung eines anderen Teils der Amygdala wird die Katze wütend: Ihre Pupillen weiten sich, Fell und Schwanz sind gesträubt, sie macht einen Buckel, fährt die Krallen aus, und sie faucht wütend. Bei Emotionen werden auch unterschiedliche Bereiche im Kortex des Gehirns aktiviert. Wenn Menschen negative Emotionen wie Ekel empfinden, zeigen sie mehr Aktivität im rechten präfrontalen Kortex als im linken; das Gleiche gilt auch für Menschen, die anfällig für Depressionen sind, und diejenigen, die allgemein negativ eingestellt sind (Harmon-Jones et al. 2002). Ein Mann, der einen Teil seines rechten Frontallappens bei einer Operation verloren hatte, war danach – wie seine darüber nicht eben unglückliche Frau berichtete – weniger reizbar und gefühlsbetonter (Goleman 1995). Mein Vater lebte nach einem Schlaganfall in der rechten Hirnhälfte im Alter von 92 Jahren die letzten beiden Jahre seines Lebens in glücklicher Dankbarkeit und ohne eine Klage bzw. eine negative Emotion. Wenn Menschen positive Stimmungen erleben – wie beispielsweise freudig erregte und glückliche Erwachsene –, zeigt sich in Schichtaufnahmen des Gehirns und im EEG mehr Aktivität im linken Frontallappen als im rechten (Davidson 2000, 2003; Urry et al. 2004). Tatsächlich: Je stärker sich die Grundaktivität im Frontallappen eines Menschen auf die linke Seite konzentriert, desto optimistischer ist er typischerweise. (Wenn Sie glücklich sind und Ihnen das bewusst ist, wird es ganz gewiss in Ihrem Gehirn zu sehen sein.) Eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen einer aktiven linken Hemisphäre und einer lebhaften Persönlichkeit könnte darin liegen, dass im linken Frontallappen ein großer Vorrat an Dopaminrezeptoren zu finden ist. Eine Nervenbahn, die den Dopaminspiegel ansteigen lässt, läuft von den Frontallappen zu einer nahe gelegenen Ansammlung von Neuronen, dem Nucleus ac-
1966 tötete ein junger Mann namens Charles Whitman seine Frau und seine Mutter. Dann stieg er auf einen Turm an der University of Texas und erschoss 17 Menschen, bevor er von der Polizei erschossen wurde. Bei der Autopsie kam Folgendes heraus: Ein Tumor hatte gegen seine Amygdala gedrückt, was dazu beigetragen haben könnte, dass er so gewalttätig war.
Wenn man die körperlichen Indikatoren einer Emotion als gegeben annimmt, könnten wir uns dann beim Lügen wie Pinocchio durch irgendein Zeichen verraten? (7 Kritisch hinterfragt: »Lügendetektoren«)
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Kapitel 13 · Emotion
»Jeder Augenblick ist intensiver.« Christopher Reeve (1952–2004) nach seiner Lähmung
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cumbens. Dieser kleine Bereich zeigt Aktivität an, wenn die Menschen eine natürliche oder eine durch Medikamente hervorgerufene Freude erleben. In Fallstudien hat die elektrische Stimulierung des Nucleus accumbens bei depressiven Patienten Lächeln, Lachen und eine impulsive Euphorie ausgelöst (Okun et al. 2004). Lassen Sie uns zur Bewertung der Theorie von James und Lange, der Theorie von Cannon und Bard sowie der Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion zurückkehren. Wir haben gesehen, dass so unterschiedliche Emotionen wie Angst, Freude und Wut mit einer ähnlichen allgemeinen autonomen Erregung einhergehen (z. B. einer ähnlichen Herzfrequenz). Wir haben jedoch auch gesehen, dass reale, wenn auch subtile physiologische Unterschiede und Unterschiede in Bezug auf Muster der Hirnaktivität etwas zur Erklärung beitragen, warum wir die Emotionen so unterschiedlich erleben. Solange die Befundlage darauf hindeutete, dass unsere physiologischen Reaktionen auf unterschiedliche Emotionen ziemlich gleich waren, schien die Annahme von James und Lange, dass wir unsere Emotionen durch unterschiedliche körperliche Zustände erleben, unwahrscheinlich zu sein. Doch diese neue Befundlage, bei der subtile physiologische Unterschiede zwischen den Emotionen sichtbar werden, lässt die Theorie von James und Lange wieder plausibel werden. Die Theorie von James und Lange wird auch bestätigt durch Beobachtungen an Menschen mit schweren Verletzungen des Rückenmarks. 1966 interviewte der Psychologe Hohmann 25 Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg solche Verletzungen erlitten hatten. Er bat sie, sich emotionale Ereignisse vorzustellen, die sich vor und nach der Verletzung ereignet hatten. Die Patienten mit Verletzungen am unteren Teil des Rückenmarks, die nur die Empfindungen in ihren Beinen verloren hatten, berichteten von nur geringfügigen Veränderungen ihrer Gefühle. Die Soldaten jedoch, die vom Nacken abwärts nichts spüren konnten, berichteten von einem beträchtlichen Rückgang der Stärke ihrer Gefühle (wie James und Lange dies vorausgesagt hätten). Die Wut hat »nicht mehr die Kraft wie früher. Es ist eher eine kognitive Art von Wut«, wie ein Mann berichtete. Jedoch empfinden Patienten mit Verletzungen des Rückenmarks Gefühle, die Körperteile oberhalb des Nackens betreffen, umso intensiver. Praktisch jeder der Männer, die Hohmann interviewte, berichtete, er müsse öfter weinen als früher, spüre öfter einen Kloß im Hals und sei beim Abschiednehmen, beim Beten und beim Ansehen eines emotionalen Films stärker gerührt als früher. Diese Ergebnisse haben die James-Lange-Theorie neu belebt und einige Forscher dazu verleitet, Gefühle »weitgehend als Schatten« unserer körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen zu sehen (Damasio 2003). Aber die meisten Wissenschaftler stimmen mit Cannon und Bard darin überein, dass die Emotionen, die wir empfinden, auch Kognitionen enthalten (Averill 1993). Ob wir auf einer dunklen Straße Angst vor dem Mann hinter uns haben, hängt ganz allein davon ab, ob wir seine Handlungen als bedrohlich oder als freundlich interpretieren. In Übereinstimmung mit James und Lange können wir daher sagen, dass die physiologischen Reaktionen unseres Körpers ein wichtiger Teil unserer Emotionen sind. Und mit Cannon und Bard stimmen wir darin überein, dass die Empfindung von Emotionen mehr ist, als nur die Reaktionen unseres Körpers zu interpretieren.
13.2.4
Kognition und Emotion
Wie hängt das, was wir fühlen, mit dem zusammen, was wir denken? Was ist hier das Huhn oder was das Ei? Wir wissen, dass unsere Emotionen unser Denken beeinflussen. Wenn wir uns fühlen, als müssten wir singen »Oh, what a beautiful morning!«, sehen wir die Welt und die Menschen um uns tatsächlich als etwas Wunderschönes. Wenn wir dann am nächsten Morgen schlecht gelaunt sind, erscheinen uns die Welt und die Menschen überhaupt nicht mehr schön. Können wir Emotionen haben, ohne zu denken? Oder werden wir zu dem, was wir denken? Diese Frage hat praktische Relevanz dafür, wie wir uns selbst verbessern können. Können wir unsere Gefühle verändern, indem wir unsere Gedanken ändern?
555 13.2 · Emotion und Körper
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Die Kognition kann die Emotion festlegen
! Die physiologische Erregung treibt die Emotionen an, die Kognition weist ihnen die Richtung.
AP Photo/Nati Harnik
Manchmal überträgt sich die physiologische Erregung von einem Ereignis auf ein darauf folgendes. Stellen Sie sich vor, dass Sie nach einem Dauerlauf nach Hause kommen und dort einen Brief mit einer Einladung zu einem Bewerbungsgespräch finden, auf den Sie schon lange gewartet hatten. Meinen Sie, dass Sie sich, erregt wie Sie durch den Lauf sind, noch mehr freuen, als Sie es getan hätten, wenn Sie die Nachricht nach einem kleinen Schläfchen erhalten hätten? Um herauszufinden, ob es einen solchen Übertragungseffekt überhaupt gibt, lösten Stanley Schachter u. Jerome Singer (1962) bei Studierenden eine physiologische Erregung durch eine Adrenalininjektion aus. Stellen Sie sich vor, einer der Versuchsteilnehmer zu sein: Nachdem Sie die Injektion erhalten haben, gehen Sie ins Wartezimmer, wo Sie einen anderen Versuchsteilnehmer vorfinden (in Wahrheit ein Mitarbeiter der Forscher), der entweder euphorisch gut gelaunt oder wütend ist. Während Sie diese Person beobachten, beginnt Ihr Herz zu schlagen, Sie schwitzen und Ihre Atmung beschleunigt sich. Wenn man Ihnen sagte, dass diese Effekte auf die Spritze zurückgehen, was würden Sie dann empfinden? Die Versuchsteilnehmer von Schachter und Singer meinten, wenig zu fühlen, weil sie ihre Erregung dem Medikament zuschrieben. Aber wenn Sie wüssten, dass die Injektion keinerlei Folgen hat, was würden Sie dann fühlen? Vielleicht würden Sie, wie eine andere Gruppe von Versuchsteilnehmern, die Emotionen der anderen Person »übernehmen« – also fröhlich werden, wenn ihr Gegenüber gut gelaunt ist, und reizbar, wenn der Betreffende wütend ist. Die Entdeckung, dass derselbe physiologische Erregungszustand einmal als eine bestimmte Emotion und ein anderes Mal als eine völlig andere empfunden werden kann, je nachdem, wie die Situation interpretiert und benannt wird, wurde in Dutzenden von Experimenten repliziert. Beleidigt man Menschen, die gerade durch das Treten auf einem Hometrainer oder durch Musikvideos erregt sind, geschieht es leicht, dass sie ihre Erregung auf die Beleidigung zurückführen. Ihre Empörung ist größer als die anderer Menschen, die auf ähnliche Weise beleidigt wurden, aber vorher nicht erregt waren. Die physiologische Erregung bei Gefühlen, die so unterschiedlich sind wie Wut, Angst und sexuelle Erregung können sich von einem Gefühl auf das nächste übertragen. In Situationen, die Wut auslösen, handeln sexuell erregte Menschen feindseliger; und die Erregung, die nach einem Streit oder einem beängstigenden Moment entsteht, kann wiederum sexuelle Erregung verstärken (Palace 1995). Wie durch die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter u. Singer vorhergesagt: Erregung + Interpretation = Emotion. Wie wir gesehen haben, ist die emotionale Erregung nicht so undifferenziert, wie Schachter und Singer geglaubt hatten. Aber die Erregung kann sich durchaus von einer Emotion auf eine andere übertragen – und das trifft auf so unterschiedliche Emotionen zu wie Wut, Angst und sexuelle Erregung (Reisenzein 1983; Sinclair et al. 1994; Zillmann 1986).
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Ziel 6: Erklären Sie, wie der Übertragungseffekt unser Emotionserleben beeinflusst.
Übertragung von Erregung Die Erregung, die bei einem Fußballspiel oder bei politischem Protest aufkommt, kann bei der Begegnung mit gegnerischen Fans bzw. Polizisten als Wut auf diese Gruppe interpretiert werden – und in Kämpfe oder andere gewalttätige Konfrontationen ausarten
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Kapitel 13 · Emotion
Kritisch nachgefragt
13
Die Erfinder und Benutzer eines Lügendetektors oder Polygraphen glaubten, dass die körperlichen Indikatoren einer Emotion uns so etwas liefern könnten, wie es die verräterische Nase bei Pinocchio war. Polygraphen decken jedoch nicht im wörtlichen Sinne Lügen auf, und ihre Genauigkeit wurde in dem Maße in Frage gestellt, in dem unser Wissen über physiologische Maße einer Emotion größer geworden ist. Polygraphen messen verschiedene physiologische Reaktionen, die normalerweise im Zusammenhang mit Emotionen auftreten, etwa eine Veränderung der Atmung, der Herz-Kreislauf-Aktivität und der Transpiration. Während der Proband versucht, sich zu entspannen, zeichnet das Gerät die Reaktionen auf, die mit Antworten auf verschiedene Fragen einhergehen. Manche Fragen, die sog. Kontrollfragen, zielen darauf, den Befragten etwas nervös zu machen. Bei der Frage »Haben Sie in den letzten 20 Jahren jemals etwas mitgenommen, was Ihnen nicht gehörte?«, schwindeln viele Menschen und verneinen dies. Doch das Schwindeln bewirkt eine Erregung, die den Polygraphen ausschlagen lässt. Wenn die physiologischen Reaktionen auf die kritischen Fragen (»Haben Sie jemals Ihren vorigen Arbeitgeber bestohlen?«) schwächer sind als die auf die Kontrollfrage, schließt der Untersucher daraus, dass der Proband die Wahrheit gesagt hat. Diese Schlussfolgerung beruht auf der Annahme, dass nur ein Dieb aufgeregt ist, wenn er einen Diebstahl verneint. Doch es gibt 2 Probleme dabei: Einerseits ist die physiologische Erregung bei uns, wie wir gesehen haben, von einer Emotion zur anderen recht ähnlich: Angst, Unruhe und Schuld führen zu ähnlichen physiologischen Reaktionen. Andererseits führen Lügendetektortests in einem Drittel der Fälle in die Irre, vor allem wenn unschuldige Menschen mit erhöhter Spannung auf Anschuldigungen reagieren, die die relevanten Fragen mit enthalten (. Abb. 13.4). Auch viele Opfer von Vergewaltigungen »versagen« bei diesem Test, weil sie sehr emotional reagieren, wenn sie die Wahrheit über den Angriff auf sie sagen (Lykken 1991). Ein guter Rat: Niemals einem Lügendetektortest zustimmen, wenn man unschuldig ist. In einem Bericht der U.S. National Academy of Sciences aus dem Jahre 2002 heißt es: »Kein Spion wurde je mit Hilfe eines Polygraphen dingfest gemacht.« Es ist nicht so, dass man es nicht versucht hätte. Das FBI, die CIA und die US-Ministerien für Verteidigung und Energie verwendeten Millionen von Dollars darauf, Zehntausende von Angestellten zu testen. In der Zwischenzeit kam Aldrich Ames, der als russischer Spion innerhalb der CIA einen unerklärbar luxuriösen Lebensstil pflegte, unerkannt davon. Ames »machte eine ganze Reihe von Polygraphentests und bestand sie alle«, merkte Park (1999) an. »Niemand dachte daran, nach der Quelle für seinen plötzlichen Reichtum zu suchen – schließlich hatte er die Lügendetektortests bestanden.« Die Wahrheit ist: Lügendetektoren können lügen. In einer aktuellen Befragung sind sich 9 von 10 Psychophysiologen und Psychologen darin einig, dass sich gerissene Kriminelle und Spione durch den Test mogeln können, wenn sie ihre Erregung bei den Kontrollfragen steigern, indem sie sich beispielsweise auf die Zunge beißen (Iacono u. Lykken 1997). Der Serienvergewaltiger und -mörder Gary
Richard T. Nowitz/Photo Researchers Inc.
Lügendetektoren
Kann man mit Polygraphentests herausbekommen, wer lügt?
Polygraph: misst die physiologischen Reaktionen, die mit Emotionen einhergehen (wie Änderungen in der Schweißproduktion, im Herzschlag und in der Atmung); wird meist mit dem Ziel verwendet, Lügen aufzudecken.
. Abb. 13.4. Wie häufig lügen Lügendetektoren? Kleinmuntz u. Szucko (1984) baten, Polygraphenexperten die Polygraphendaten von 50 des Diebstahls Verdächtigten, die später gestanden, schuldig zu sein, und 50 Verdächtigen auszuwerten, deren Unschuld später durch Geständnisse anderer nachgewiesen wurde. Wären die Polygraphenexperten die Richter gewesen, wäre mehr als ein Drittel der Unschuldigen für schuldig erklärt worden, und fast ein Viertel der Schuldigen wäre für unschuldig erklärt worden
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557 13.2 · Emotion und Körper
Ridgway, der 48 Morde im Gebiet von Seattle zugab (»Ich habe so viele Frauen getötet, dass es mir schwer fällt, mich richtig an sie zu erinnern«), wurde schon früh verdächtigt, aber er galt nicht mehr als verdächtig, weil er den Polygraphentest schaffte (Johnson 2003). Ein effektiverer Ansatz ist der Schuld-Wissens-Test, der die physiologischen Reaktionen der Person auf Details des Falls prüft, von denen nur die Polizei und der Schuldige wissen können (Ben-Shakhar u. Elaad 2003). Wenn z. B. eine Kamera und Bargeld gestohlen wurden, würde beispielsweise nur der Tatschuldige stark auf den speziellen Markennamen dieser Handelsartikel reagieren. Wenn man genügend dieser speziellen Sondierungsitems zur Verfügung hat, wird nur in seltenen Fällen ein Unschuldiger fälschlicherweise angeklagt werden. Mehrere Forscherteams suchen im 21. Jahrhundert nach neuen Wegen, Lügner zu überführen. Einige entwickeln Computer-Software, bei der die Sprache der Menschen, die die Wahrheit sagen, mit der von jenen verglichen wird, die lügen (Letztere verwenden weniger Personalpronomina der ersten Person und mehr Wörter mit negativen Emotionen). Andere Software analysiert Details des Gesichtsausdrucks, wie sie für das Lügen typisch sind (Adelson 2004; Newman et al. 2003). Der Psychologe Paul Ekman (2003) führt Trainingsseminare durch, bei denen
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Ermittlungsbeamten beigebracht wird, wie man die flüchtigen Signale der Täuschung im Gesichtsausdruck entdecken kann (7 nächster Abschnitt). Weitere Forscher beschäftigen sich unmittelbar mit der Stelle, wo die Täuschung sitzt: mit dem Gehirn. EEG-Aufzeichnungen erbrachten eine Art von Gehirnwellen, die auf eine Vertrautheit mit dem Tatort hindeutet; und fMRI-Schichtaufnahmen haben gezeigt, dass in den Gehirnen von Lügnern Aktivität an Stellen im Gehirn auftritt, an denen sie in den Gehirnen ehrlicher Menschen nicht stattfindet (Faro et al. 2004; Farewell u. Smith 2001; Langleben et al. 2002, 2005). Weil derartige Geräte unhandlich und teuer sind, testen Forscher auch ein tragbares Gerät, das mit Nahem Infrarot (d.h. kurzwelliger Infrarotstrahlung) arbeitet und das ebenfalls Blutflussmuster im Gehirn aufdeckt, wie sie mit Lügen einhergehen (Izzetoglu et al. 2003). Pinocchios verräterisches Signal fürs Lügen war vielleicht gar nicht seine lange Nase, sondern eher die verräterische Aktivität an Stellen wie etwa seinem linken Frontallappen oder dem vorderen Gyrus cinguli. Kritiker merken jedoch an, dass es noch ein langer Weg ist, bis dies in ein handelsübliches Produkt überführt werden kann (Illes 2004).
Die Kognition geht der Emotion nicht immer voraus Ziel 7: Unterscheiden Sie zwischen 2 alternativen Bahnen, auf denen sensorische Reize weitergeleitet werden, wenn sie eine emotionale Reaktion auslösen.
Müssen wir also zuerst unsere physiologische Erregung benennen, um ein Gefühl haben zu können? Manchmal erleben wir eine nicht benannte Emotion. Stellen Sie sich vor, dass Sie eine beunruhigende Nachricht bekommen. Sie hatten einen Termin, den Sie vergessen haben; oder Sie entdecken, dass Sie bei jemandem Gefühle verletzt haben. In dem Maße, wie die laufende Unterhaltung Ihre Aufmerksamkeit ablenkt, sind Sie sich der schlechten Nachricht immer weniger bewusst. Während die körperlichen Wirkungen noch in Ihnen lauern, wühlt Sie das noch uninterpretierte Gefühl auf. Sie fühlen sich ein wenig schlecht. Sie wissen, dass es einen Grund dafür gibt. Doch in diesem Augenblick können Sie das Gefühl nicht genau identifizieren. Robert Zajonc (1980,1984a) hat behauptet, dass wir tatsächlich viele emotionale Reaktionen haben, die unabhängig von unserer Interpretation einer Situation sind und sogar davor auftreten können. In früheren Kapiteln haben wir gesehen, dass Menschen, denen wiederholt ein Reiz gezeigt wurde, aber nur so kurz, dass sie ihn nicht bewusst wahrnahmen, diesen Reiz später trotzdem anderen vorzogen. Obwohl sie gar nicht wussten, dass sie diesen Reiz schon einmal gesehen hatten, mochten sie ihn gerne. Ein unterschwellig eingeblendetes lachendes oder ärgerliches Gesicht kann ebenso als Priming dienen und bewirken, dass ein darauf folgender Reiz positiver oder negativer interpretiert wird (Murphy et al. 1995). Bei einer Versuchsreihe tranken durstige Menschen etwa 50% mehr Getränke mit Fruchtgeschmack, nachdem sie vorher ein subliminal aufblitzendes (und daher nicht wahrgenommenes) glückliches Gesicht betrachtet hatten, als wenn es neutral war (Berridge u. Winkielman 2003). Wenn ein ärgerliches Gesicht aufblitzte, tranken sie weniger. Die Forschung zu neurologischen Prozessen zeigt, wie wir eine Emotion vor einer Kognition unbewusst erleben können. Wie schnelle Reflexe, die getrennt vom Denken des Gehirns im Kortex erfolgen, nehmen einige Emotionen den »unteren Weg« über die Nervenbahnen, die am Kortex vorbeigehen (der Kortex ist die Alternative, der »obere Weg«). Eine Nervenbahn am unteren Weg verläuft vom Auge oder Ohr über den Thalamus zur Amygdala, einem Steuerzentrum für Emotionen (. Abb. 13.5). Diese Abkürzung über die Amygdala am Kortex vorbei befähigt uns zu einer blitzschnellen, sozusagen geschmierten emotionalen Reaktion, bevor der Intellekt dazwischenkommt. Die Reaktion der
Können Sie sich daran erinnern, irgendetwas oder irgendjemanden sofort gemocht zu haben, ohne zu wissen warum?
Die Amygdala, merkt der Biologe Robert Sapolsky (2003) an, »ist auch von zentraler Bedeutung für die Aggression; dies bekräftigt die Tatsache, dass Aggression ihre Wurzeln in Angst haben kann – eine Beobachtung, die als Erklärung für einen Großteil des soziopolitischen Verhaltens dienen kann«.
558
Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.5. Abkürzungswege für Emotionen im Gehirn Sensorischer Input kann entweder a direkt zur Amygdala (über den Thalamus) geleitet werden, um eine schnelle emotionale Reaktion zu ermöglichen, oder b zum Kortex zur weiteren Auswertung
»Oh! Du nimmst den oberen Weg, und ich nehme den unteren Weg. Und ich werde vor dir in Schottland sein.« Bonnie Banks O’Loch Lomond
. Abb. 13.6. Die Sensibilität des Gehirns für Bedrohungen Auch wenn die ängstlichen Augen (links) zu kurz aufblitzten, als dass sie von Menschen bewusst wahrgenommen werden könnten, zeigten fMRISchichtaufnahmen, dass ihre überaus wachsame Amygdala darauf aufmerksam geworden war (Whalen et al. 2004)
Courtesy of Paul J. Whalen, PhD, Dartmouth College, www.whalenlab.info
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Amygdala erfolgt so schnell, dass wir es gar nicht bewusst wahrnehmen können (Dimberg et al. 2000). In einem spannenden Experiment verwendeten Whalen et al. (2004) fMRI-Schichtaufnahmen, um die Reaktion der Amygdala auf subliminal dargebotene ängstliche Augen zu beobachten (. Abb. 13.6). Verglichen mit einer Kontrollbedingung, bei der das Weiß glücklicher Augen dargeboten wurde, lösten die ängstlichen Augen eine höhere Aktivität in der Amygdala aus (obwohl sie niemand bewusst wahrgenommen hat). Von der Amygdala gehen mehr Nervenbahnen zum Kortex als umgekehrt. Deshalb haben unsere Gefühle mehr Gewalt über unsere Gedanken als unser Denken über unsere Gefühle, wie LeDoux u. Armony (1999) anmerken. Im Wald zucken wir beim Geräusch von raschelnden Blättern zusammen und überlassen es dem Kortex, später zu entscheiden, ob tatsächlich ein wildes Tier in der Nähe war oder ob nur der Wind in den Büschen geraschelt hat. Diese Erfahrung unterstützt Zajoncs Theorie, nach der einige unserer emotionalen Reaktionen nicht auf bewusstem Denken aufbauen, dass also Kognitionen für Emotionen nicht unbedingt erforderlich sind. Das Herz ist dem Geist nicht immer untertan. Der Emotionsforscher Lazarus (1991, 1998) gestand zu, dass unser Gehirn einen großen Teil der Informationsverarbeitung ohne unsere bewusste Wahrnehmung durchführt und dass einige emotionale Reaktionen ohne bewusstes Denken ablaufen. Aber er merkte an, dass nicht einmal spontan empfundene Emotionen ohne irgendeine Art kognitiver Bewertung der Situation zustande kommen. Denn wie würden wir sonst wissen, warum wir reagieren? Die Bewertung kann zwar mühelos erfolgen, und wir müssen uns ihrer noch nicht einmal bewusst sein; aber sie bleibt trotzdem eine Funktion des Geistes. Gefühle entstehen, wenn wir ein Ereignis als positiv oder negativ für unser Wohlbefinden bewerten, ob wir es nun tatsächlich wissen oder nicht. Wir bewerten das Geräusch der raschelnden Blätter so, dass eine bedrohliche Situation vorliegt. Später merken wir, dass es »nur der Wind« war. Komplexe Emotionen wie Schuld, Glück und Liebe entstehen eindeutig aus unseren Interpretationen und ErwarÄngstlich Glücklich tungen. Sehr emotionale Menschen sind
559 13.2 · Emotion und Körper
z. T. aufgrund ihrer Interpretationen so gefühlsbetont. Sie personalisieren vielleicht Situationen, beziehen also Geschehenes auf sich, und sie generalisieren ihre Erfahrungen, indem sie einzelne Ereignisse überbetonen (Larsen et al. 1987). Wir attribuieren möglicherweise unser Versagen auf eine unfaire Prüfung und sind wütend, oder auf die eigene Unfähigkeit und fühlen uns deprimiert, oder auf die ungenügende Vorbereitung und haben das Gefühl, uns dem fügen zu müssen (Weiner 1985). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, wie von Zajonc und LeDoux gezeigt, einige emotionale Reaktionen, vor allem einfache Sympathien, Abneigungen und Phobien, oft ohne kognitive Beteiligung ablaufen (. Abb. 13.7). Wir können Angst vor einer Spinne haben, auch wenn wir »wissen«, dass sie harmlos ist. Solche Reaktionen lassen sich auch durch veränderte Denkmuster nur schwer verändern. Andere Emotionen, z. B. Stimmungen wie Depression und komplexe Gefühle wie Hass und Liebe, werden, wie von Lazarus, Schachter und Singer vorhergesagt, durch unsere Interpretationen, Erinnerungen und Erwartungen stark beeinflusst. Wenn man es lernt, positiver über sich selbst und die Umwelt zu denken, trägt das bei diesen Emotionen dazu bei, dass man sich besser fühlt (7 Kap.17).
. Abb. 13.7. Zwei Routen zur Emotion Zajonc u. LeDoux betonen, dass einige emotionale Reaktionen sofort erfolgen, und zwar vor jeder bewussten Bewertung. Lazarus et al. heben hervor, dass unsere Bewertung und Interpretation von Ereignissen auch unsere emotionalen Reaktionen bestimmt
Lernziele Abschnitt 13.2 Emotion und Körper Ziel 2: Beschreiben Sie, welche Rolle das autonome Nervensystem spielt, wenn Sie emotional erregt sind. Das autonome Nervensystem steuert die Erregung. Ein Teil des autonomen Nervensystems, der Sympathikus, mobilisiert uns für Handlungen, indem er die Nebennierenrinde dazu veranlasst, Stresshormone auszuschütten, die wiederum die Herzfrequenz, den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel erhöhen, und indem er bei uns die anderen körperlichen Abwehrreaktionen auslöst. Der andere Teil des autonomen Nervensystems, der Parasympathikus, beruhigt uns, nachdem wir die Krisensituation hinter uns haben, doch die Erregung nimmt nur allmählich ab. Ziel 3: Erörtern Sie die Beziehung zwischen Erregung und Leistung. Sehr starke oder sehr geringe Erregung kann störend sein. Wir zeigen die beste Leistung, wenn die Erregung im mittleren Bereich liegt, obwohl dies auch von der Schwierigkeit der Aufgabe abhängt. Bei einfachen, gut erlernten Aufgaben wird die beste Leistung mit starker Erregung in Zusammenhang gebracht. Bei schwierigen Aufgaben werden die Spitzenleistungen bei einem geringeren Erregungsniveau erreicht. Ziel 4: Geben Sie 3 Emotionen an, die mit einer ähnlichen physiologischen Erregung einhergehen. Bei Angst, Wut und sexueller Erregung weisen wir eine ähnliche physiologische Erregung auf. Beobachter haben Schwierigkeiten damit, diese Zustände zu unterscheiden, wenn man nur physiologische Maße erfasst; doch unsere emotionalen Erfahrungen (und manchmal auch unser Gesichtsausdruck) sind bei diesen 3 Zuständen unterschiedlich. Ziel 5: Beschreiben Sie einige physiologische Indikatoren und Hirnaktivitätsmuster als Indikatoren für bestimmte Emotionen. Mit Hilfe komplizierter Geräte haben Forscher Zusammenhänge zwischen einigen Emotionen und leichten Muskelbewegungen in der Braue (bei Angst) und den Wangen (bei Freude) sowie unter den Augen (bei Freude) gefunden. Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen bei Angst
13
auch eine erhöhte Aktivität in der Amygdala. Unterschiede tauchen auch in den kortikalen Arealen des Gehirns auf. Negative Emotionen (z. B. Ekel) lösen mehr Aktivität im rechten präfrontalen Kortex aus, während sich positive Stimmungen (z. B. Begeisterung) im linken Frontallappen feststellen lassen, in dem es eine reichhaltige Versorgung mit Dopaminrezeptoren gibt. Ziel 6: Erklären Sie wie der Übertragungseffekt unser Emotionserleben beeinflusst. Der Übertragungseffekt tritt auf, wenn unsere Erregung bei einem Ereignis unsere Reaktion bei anderen Ereignissen beeinflusst. Auch wenn eine emotionale Erregung nicht völlig undifferenziert ist, so ist sie manchmal doch so allgemein, dass es erforderlich ist, die Emotion zu definieren, die wir erleben. Die physiologische Erregung treibt die Emotionen an, die Kognition weist ihnen die Richtung. Ziel 7: Unterscheiden Sie zwischen 2 alternativen Bahnen, auf denen sensorische Reize weitergeleitet werden, wenn sie eine emotionale Reaktion auslösen. Emotionale Reaktionen erfolgen unmittelbar, wenn das sensorische Signal über den Thalamus direkt zur Amygdala geleitet wird; es geht dann nicht über den Kortex und löst eine schnelle Reaktion aus, die uns oft nicht bewusst ist. Reaktionen auf komplexe Emotionen (wie etwa Schuld, Glück oder Liebe) machen eine Interpretation erforderlich und werden über die langsamere Route zum Kortex zur weiteren Auswertung geleitet. > Denken Sie weiter: Können Sie sich daran erinnern, wie Sie bemerkten, dass Ihr Körper auf eine emotionsgeladene Situation reagierte, z. B. auf eine schwierige soziale Situation oder vielleicht sogar auf einen Test oder ein Spiel, vor dem Sie sich zuvor gefürchtet hatten? Haben Sie die Situation als Herausforderung angenommen, oder stellte sie eine Bedrohung dar? Wie haben Sie abgeschnitten?
560
Kapitel 13 · Emotion
13.3
Emotion und Ausdruck
Es gibt eine einfachere Methode, die Emotionen von Menschen zu entschlüsseln. Wir verstehen die Reaktionen ihres Körpers, wir hören den Ton in ihrer Stimme, und wir betrachten ihr Gesicht. Ist diese nonverbale Sprache kulturspezifisch oder universell? Und beeinflusst unser Ausdruck die Emotionen, die wir erleben?
13.3.1
Nonverbale Kommunikation
Ziel 8: Beschreiben Sie einige der Faktoren, die einen Einfluss auf unsere Fähigkeit haben, nonverbale Hinweisreize zu entschlüsseln. »Ihr Antlitz, Herr, ist wie ein Buch, in dem befremdliche Dinge stehen.« Lady Macbeth zu ihrem Gatten in William Shakespeares »Macbeth«
Im Kampf gegen die Falten injiziertes Botox lähmt die Gesichtsmuskeln, die Falten verursachen, und glättet dadurch die darüber liegende Haut. Indem man den subtilen Ausdruck eines Stirnrunzelns oder von lächelnden Augen auslöscht, versteckt man durch diese Operation vielleicht subtile Emotionen?
13 . Abb. 13.8. Radar für Bedrohungen: Ein wütendes Gesicht fällt auf Unser Emotionserkennungsradar funktioniert am besten, wenn es darum geht, Bedrohungen zu melden, wie z. B. ein wütendes Gesicht. Durch die Verwendung solcher Reize fanden Öhman et al. (2001) heraus, dass Menschen schneller ein wütendes Gesicht bemerken als ein freundliches. In anderen »Wo-ist-Waldo?«-ähnlichen Experimenten entdeckten die Versuchsteilnehmer bereitwilliger Bilder mit Schlangen, die für eine Bedrohung relevant sind, als Bilder mit Blumen (Öhman et al. 2001)
Wir alle kommunizieren sowohl nonverbal als auch verbal. Bei Menschen aus westlichen Ländern ruft ein starker Händedruck sofort das Gefühl hervor, einer kontaktfreudigen, ausdrucksstarken Persönlichkeit gegenüberzustehen (Chaplin et al. 2000). Mit einem Blick, durch Abwenden oder Anstarren, können wir Intimität, Unterordnung oder Dominanz vermitteln (Kleinke 1986). Menschen, die sich lieben, schauen einander oft lange in die Augen (Rubin 1970). Kellerman et al. (1989) fragten sich, ob intime Blicke solche Gefühle auch zwischen Fremden auslösen würden. Um das herauszufinden, baten sie einander unbekannte Männer und Frauen, 2 Minuten lang entweder auf die Hand oder in die Augen des Partners zu starren; dann gingen sie auseinander. Nachdem die Paare getrennt worden waren, berichteten die, die sich in die Augen geschaut hatten, sie hätten sich vom anderen angezogen gefühlt. Was tun Sie, wenn Sie nicht wollen, dass andere wissen, was Sie fühlen, oder wenn Sie sich gar nicht so fühlen wollen, wie Sie sich fühlen? Können wir den Ausdruck unserer Emotionen unterdrücken? Manchmal. Aber wie Richards u. Gross (2000) entdeckten, hat der Versuch, den Ausdruck von Gefühlen zu unterdrücken, Folgen. Im Vergleich zu denen, die einen verstörenden Film nur ansahen, konnten sich Versuchsteilnehmer, die den Film sahen und dabei versuchten, ihre Gefühle zu unterdrücken, später nicht so gut an Details des Films erinnern. Die meisten Menschen können nonverbale Hinweise gut genug entschlüsseln, um die Emotionen in alten Stummfilmen benennen zu können. Besonders gut können wir nonverbale Bedrohungen erkennen. Wenn man Emotionen in verschiedenen Sprachen hört, hört man Wut am leichtesten heraus (Scherer et al. 2001). Wenn wir uns subliminal aufblitzende Wörter ansehen, nehmen wir häufiger wahr, dass da ein negatives Wort (wie etwa Schlange oder Bombe) gezeigt wurde (Dijksterhuis u. Aarts 2003). Aus einer Menge von Gesichtern sticht ein einzelnes wütendes (. Abb. 13.8) schneller hervor als ein einzelnes fröhliches (Fox et al. 2000; Hansen u. Hansen 1988). Kestenbaum (1992) zeigte Versuchsteilnehmern verschiedene Teile von gefühlsbewegten Gesichtern und fand heraus, dass wir Angst und Wut vor allem aus der Augenpartie, Freude aus der Mundpartie herauslesen. Flüchtige Veränderungen im Ausdruck
561 13.3 · Emotion und Ausdruck
13
tragen auch dazu bei, dass wir etwas aus einem Gesicht ablesen können (Ambadar et al. 2005). ! Manche Menschen reagieren sensibler auf nonverbale Hinweisreize als andere.
Rosenthal et al. (1979) zeigten Hunderten von Versuchsteilnehmern kurze Filmausschnitte mit Teilen des Gesichts oder des Körpers von Personen, die gerade Emotionen zum Ausdruck brachten, zum Teil mit verzerrter Stimme. Beispielsweise wurde den Versuchsteilnehmern eine 2-Sekunden-Szene gezeigt, in der nur das Gesicht einer aufgebrachten Frau zu sehen war, und die Forscher fragten nachher, ob die Frau jemanden kritisierte, weil er zu spät gekommen war, oder ob sie über ihre Scheidung redete. Rosenthal u. Hall berichteten, dass manche Menschen, wenn man ihnen diese kleinen Ausschnitte vorspielt, besser als andere Emotionen erkennen können. Introvertierte Menschen scheinen begabter darin zu sein, anderen Emotionen aus dem Gesicht abzulesen, während sich aus den Gesichtern von Extravertierten besser Emotionen ablesen lassen (Ambady et al. 1995). Die Erfahrung kann uns dafür sensibilisieren, bestimmte Emotionen zu erkennen. Zeigt man Kindern eine Reihe von Gesichtsausdrücken, die von Traurigkeit über Angst bis zu Wut reichen, bemerken körperlich misshandelte Kinder viel schneller Wut als andere (. Abb. 13.9). Zeigt man ihnen ein Gesicht, das zu 60% Angst und zu 40% Wut zeigt, nehmen sie viel schneller Wut wahr. Ihre Wahrnehmung reagiert empfindlich auf Anzeichen von Gefahr, die nicht misshandelte Kinder übersehen.
Geschlecht, Emotion und nonverbales Verhalten Ziel 9: Beschreiben Sie Geschlechtsunterschiede in Emotionswahrnehmung und Emotionsausdruck.
. Abb. 13.9. Unsere Erfahrungen beeinflussen, wie wir Emotionen wahrnehmen Wird Kindern eines der durch Morphing (stetige Transformation eines Bildes in ein anderes) hergestellten Gesichter in der Mitte gezeigt, auf denen Angst oder Traurigkeit und Wut gleichermaßen zu sehen sind, beschreiben es körperlich misshandelte Kinder häufiger als drohender als nicht misshandelte. (Pollak u. Kistler 2002; Pollak u. Tolley-Schell 2003)
Mit Genehmigung von S. D. Pollak, D. J. Kistler und der National Academy of Sciences.
Ist die weibliche Intuition, wie manche meinen, der männlichen überlegen? Denken Sie einmal über Folgendes nach: Als Jackie Larsen aus Grand Marais (Minnesota) ihre kirchliche Gebetsgruppe an einem Aprilmorgen im Jahre 2001 verließ, begegnete sie Christopher Bono, einem Jugendlichen mit kurz geschnittenen Haaren und guten Manieren. Bonos Wagen war liegen geblieben, und er fragte sie, ob sie ihn mitnehmen könne, weil er Freunde in Thunder Bay besuchen wolle. Als Bono später im Geschäft von Frau Larsen auftauchte, wo er wie von ihr versprochen mit seinen Freunden telefonieren konnte, hatte sie plötzlich ein seltsames Gefühl im Bauch. Intuitiv nahm sie war, dass mit diesem jungen Mann etwas tiefgründig nicht stimmte. Sie beharrte darauf, dass sie draußen auf dem Bürgersteig miteinander redeten. »Ich sagte: ›Ich bin eine Mutter, und ich muss mit dir wie eine Mutter reden … Wegen deiner Manieren kann ich sagen, dass du eine nette Mutter hast.‹« Bei der Erwähnung seiner Mutter sah er sie starr an. »Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist«, sagte er. Als das Gespräch zu Ende war, begleitete Frau Larsen Bono zur Kirche, damit er mit dem Pastor sprach. Sie rief auch die Polizei an und empfahl, man solle doch einmal sein polizeiliches Kennzeichen zurückverfolgen. Der Wagen war auf den Namen seiner Mutter im südlichen Illinois registriert. Als Polizisten in ihre Wohnung gingen, fanden sie alles blutverschmiert vor; Lucia Bono lag tot in der Badewanne. Christopher Bono, 16, wurde wegen Mordes angeklagt (Biggs 2001). War es ein Zufall, dass Frau Larsen, die durch Bonos ruhige äußere Fassade hindurchsah, eine Frau ist? Einige Psychologen verneinen dies. In ihrem Überblick über 125 Studien zur Sensibilität gegenüber nonverbalen Hinweisen stellte Hall (1984, 1987) fest, dass Frauen i. Allg. Männer darin übertreffen, nonverbale Hinweisreize zu entschlüsseln. Ihre stärkere Sensibilität lässt Frauen eher bemerken, wenn gelogen wird (DePaulo 1994). Und Frauen sind auch besser darin zu beurteilen, ob
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Kapitel 13 · Emotion
es sich bei einem Paar um ein echtes Liebespaar handelt oder ob es nur schauspielert, und nach einem Foto mit 2 Menschen zu entscheiden, wer wessen Vorgesetzter ist (Barnes u. Sternberg 1989). ! Die weibliche Sensibilität gegenüber nonverbalen Reizen trägt zur größeren emotionalen Intelligenz von Frauen bei.
13
. Abb. 13.10. Geschlecht und Gefühlsausdruck Obwohl weibliche und männliche Studenten ihre emotionalen Reaktionen auf Filme ähnlich beschrieben und auch die Messung ihrer physiologischen Reaktionen darauf keine wesentlichen Unterschiede zeigte, war in den Gesichtern der Frauen mehr Gefühl zu erkennen. (Aus Kring u. Gordon 1998)
Barrett et al. (2000) baten Männer, ihre Gefühle in bestimmten Situationen zu beschreiben. Die Männer beschrieben einfachere emotionale Reaktionen. Sie können das selbst ausprobieren: Fragen Sie ein paar Menschen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie sich nach dem Abschlussexamen von ihren Studienfreunden verabschieden müssten. Nach Barrets Ergebnissen ist es wahrscheinlich, dass Männer einfach sagen würden: »Ich würde mich schlecht fühlen«, während Frauen komplexere Emotionen ausdrücken würden: »Ich wäre gespalten; einerseits würde ich mich freuen, andererseits wäre ich traurig.« Die Fähigkeit von Frauen beim Entschlüsseln von Emotionen könnte auch dazu beitragen, dass sie sowohl in positiven als auch in negativen Situationen häufig emotionaler reagieren (Grossman u. Wood 1993; Sprecher u. Sedikides 1993; Stoppard u. Gruchy 1993). Studien mit insgesamt 23.000 Versuchsteilnehmern ergaben, dass Frauen häufiger als Männer berichteten, Gefühle zuzulassen (Costa et al. 2001). Das erklärt die weithin vertretene Einschätzung, dass Emotionalität »eher ein weiblicher Charakterzug ist« – eine Meinung, die in den USA von fast 100% der 18- bis 29-Jährigen vertreten wird (Newport 2001). Weit häufiger als Männer beschreiben sich Frauen zudem bei einer Befragung als empathisch. Wer empathisch ist, identifiziert sich mit anderen und stellt sich vor, wie es sein muss, in der Haut einer anderen Person zu stecken. Man freut sich mit denen, die sich freuen, und weint mit denen, die weinen. Erfasst man die physiologischen Komponenten von Empathie, wie z. B. den Herzschlag von Versuchsteilnehmern, die andere traurige Menschen beobachten, zeigen sich weitaus weniger Geschlechtsunterschiede als in Befragungen (Eisenberg u. Lennon 1983). Dennoch zeigen Frauen häufiger ihre Empathie – indem sie weinen oder Trauer ausdrücken, wenn sie Traurigkeit sehen. Kring u. Gorden (1998) beobachteten die Geschlechtsunterschiede bei männlichen und weiblichen Studierenden, die kurze Filme sahen, die traurig (Kinder mit einem sterbenden Elternteil), fröhlich (Slapstick) oder beängstigend (ein Mann, der fast von einem großen Gebäude fällt) waren. Wie in . Abb. 13.10 zu sehen ist, reagierten die Frauen deutlicher erkennbar auf jedes dieser Filmgenres. Frauen erleben gewöhnlich auch emotionale Ereignisse (z. B. das Betrachten von Bildern einer Verstümmelung) tiefer – mit einer stärkeren Aktivierung des Gehirns in Arealen, die sensibel für Emotionen sind – und erinnern sich dann 3 Wochen später besser an die Szenen (Canli et al. 2002). In einer anderen Studie zum Thema Geschlecht und Gesichtsausdruck belebten Hill u. Johnston (2001) ein Bild eines Durchschnittskopfs mit Gesichtsausdrücken (Grinsen, Kopfschütteln, hochgezogene Augenbrauen), die sie digital von Studierenden der Londoner Universität aufgenommen hatten, als sie eine witzige Geschichte lasen. Obwohl sie keinen anatomischen Hinweis auf das Geschlecht der Person hatten, konnten die Beobachter meistens das Geschlecht an der ausdrucksvollen Mimik erkennen. Geschlechtsunterschiede zeigen sich auch bei den Emotionen, die Frauen und Männer am besten zum Ausdruck bringen können. Coats u. Feldman (1996) hatten Studierende gebeten, über Situationen zu berichten, in denen sie glücklich, traurig und wütend waren. Danach zeigten sie den Teilnehmern, die als Beurteiler fungieren sollten, 5-Sekunden-Videos ohne Ton über diese Berichte. Die Versuchsteilnehmer beurteilten die Erinnerungen der Frauen an glückliche Situationen in fast zwei Drittel der Fälle korrekt, aber bei den Erinnerungen der Männer erkannten sie nur knapp die Hälfte. Männer können jedoch etwas besser ihre Wut zeigen als Frauen.
563 13.3 · Emotion und Ausdruck
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Gefühle erkennen und interpretieren
Einige Gesichtsmuskeln, die schwer zu steuern sind, bringen Emotionen zum Vorschein, die Sie vielleicht verbergen wollen. Heben Sie nur den inneren Teil Ihrer Augenbrauen etwas an, was kaum ein Mensch bewusst macht, und Sie zeigen Sorge oder Traurigkeit. Hochgezogene und zusammengezogene Augenbrauen signalisieren Angst. Spannt man die Muskeln unterhalb des Auges an und hebt die Mundwinkel, dann ergibt sich daraus ein natürliches Lächeln. Ein vorgetäuschtes Lächeln, wie wir es z. B. beim Fotografen machen, muss oft länger als 4 oder 5 Sekunden aufrechterhalten werden. Die meisten authentischen Gesichtsausdrücke sind in dieser Zeitspanne schon wieder verschwunden. Ein vorgetäuschtes Lächeln wird auch schneller »eingeschaltet« und verschwindet plötzlicher als ein echtes freudiges Lächeln (Bugental 1986). Die meisten Menschen bemerken kaum, wenn ein Gesichtsausdruck nur vorgetäuscht wird. In einer Zusammenfassung von 186 Studien zur Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit lagen die Befragten in nur 54% der Fälle richtig – kaum besser, als wenn sie eine Münze geworfen hätten (Bond u. DePaulo 2005). Können wir unsere Fähigkeit zum Erkennen solcher Täuschungen verbessern? Ekman u. O’Sullivan (1991) fanden heraus, dass sie Wissenschaftlern beibringen konnten, auf äußerliche Anzeichen von Lügen zu achten, wie z. B. das Ansteigen der Tonlage beim Sprechen; dadurch verbesserten die Wissenschaftler ihre Trefferquote beträchtlich. Sie baten Studierende, entweder einen Naturfilm oder einen grausamen und erschütternden Film anzusehen. Ganz gleich, welchen Film sie gesehen hatten, sollten sie dabei so tun, als würden sie gerade mit Vergnügen den Naturfilm anschauen und darüber reden. Nach einem Training konnten die Wissenschaftler mit 86% Genauigkeit zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden. Können wir, indem wir unsere Intuition benutzen, genauso gut zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden? Sehr unwahrscheinlich. Ekman u. O’Sullivan baten 39 Studenten, 67 Psychiater, 110 Richter, 126 Polizisten und 90 staatliche Experten für Polygraphentests, die Lügner herauszufiltern. Alle 5 Gruppen lagen, wie wir zuvor schon aus anderen Untersuchungen berichtet haben, in ihren Urteilen nahe der Zufallsrate (50% richtige Antworten). Nur eine sechste Gruppe von erfahrenen Beobachtern, die es häufig mit Menschenmengen zu tun haben (Agenten des amerikanischen Geheimdienstes), lagen über der Zufallsquote. Aber auch ihre Antworten waren nur zu 64% korrekt. In einer Folgestudie fanden Ekman et al. (1999) drei weitere Gruppen von Menschen, die sich nichts vormachen lassen. Beim Betrachten von Videos, auf denen Menschen ihre Meinung zur Todesstrafe darlegten – oder gerade das Gegenteil ihrer eigentlichen Meinung – fanden Gesetzeshüter (überwiegend Agenten der CIA) in 73% der Fälle heraus, wer log und wer die Wahrheit sagte. Klinische Psychologen, die sich mit Lügenforschung beschäftigen, lagen in 68% der Fälle richtig, und Bezirkssheriffs aus Los Angeles fast genauso oft: in 67% der Fälle. Erfahrene polizeiliche Ermittler in Großbritannien wiesen eine ähnliche Genauigkeit auf (Mann et al. 2004). Es scheint, dass es mit Erfahrung, also trainierter Intuition, tatsächlich möglich ist, Lügner daran zu erkennen, dass die mikroskopisch kleinen Veränderungen des Gesichtsausdrucks fehlen, die von Schuld, Verzweiflung und Angst zeugen. Wenn wir es aber nicht mit Täuschung zu tun haben, schneiden wir weitaus besser ab. Wie wir bereits festgestellt haben, ist unser Gehirn erstaunlich gut in der Lage, auf subtile Weise Emotionen zu erkennen. Wie gut es diese Aufgabe erfüllt, entdeckten Babad et al. (1991), als sie ein Video von Lehrern aufzeichneten, die zu Kindern sprachen, die auf dem Band nicht zu sehen waren. Nur 10 Sekunden Film mit der Stimme oder dem Gesicht des Lehrers lieferten jungen und älteren Beobachtern genügend Hinweise, um zu beurteilen, ob der Lehrer das Kind mochte, mit dem er gerade redete, oder es sogar bewunderte. Lehrer mögen glauben, sie könnten ihre Gefühle verbergen und objektiv bleiben, aber die Schüler nehmen durchaus wahr, was der Ton des stimmlichen Ausdrucks und die Gestik bei ihnen offenbaren.
Dr. Paul Ekman, University of California, San Fransisco
Ziel 10: Erörtern Sie die Forschung zu der Frage, wie man jemandem etwas vom Gesicht abliest (bzw. es fehldeutet), und die Forschung zu Verhaltensindikatoren für Emotionen.
Welches Lächeln von Paul Ekman ist vorgetäuscht, welches echt? Beim rechten Lächeln sind auch die Gesichtsmuskeln beteiligt, die ein natürliches Lächeln ausmachen
Kapitel 13 · Emotion
Network Photographers/Alamy
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Eine stille Sprache der Gefühle Traditionelle hinduistische Tänzer benutzen ihren Körper und ihr Gesicht, um den Betrachtern zehn verschiedene Gefühle zu vermitteln. (Hejmadi et al. 2000)
Die Bedeutung der Körpersprache rückt immer stärker ins Bewusstsein und führt zu Studien, bei denen untersucht wird, wie Bewerber und Gegenüber bei einem Bewerbungsgespräch nonverbal kommunizieren (oder wie ihre Kommunikation fehlschlägt). Weit verbreitete Ratgeber und Artikel bieten Tipps an, wie man nonverbale Hinweise interpretieren soll, wenn man einen Vertrag aushandelt, ein Produkt verkaufen will oder flirtet. Es zahlt sich aus, die Gefühle erkennen zu können, die sich in subtiler Mimik, in Bewegungen und Körperhaltungen ausdrücken. Wer z. B. zappelig ist, könnte ängstlich oder gelangweilt sein. Eindeutige Interpretationen von Körperhaltung und Gestik sind jedoch schwierig, weil die gleiche Emotion unterschiedlich ausgedrückt werden kann: Feindseligkeit könnte z. B. durch einen abschätzigen Blick oder durch das Vermeiden des Blickkontakts gezeigt werden. Eine einzige Geste kann für sehr unterschiedliche Emotionen stehen: Verschränkte Arme können z. B. Verärgerung oder Entspannung signalisieren. Solche Gesten und Gesichtsausdrücke und auch der Klang der Stimme fehlen in Briefen und bei der heute immer mehr zunehmenden elektronischen Kommunikation vollständig. In E-Mails werden deshalb manchmal »Emoticons« wie ; -) für ein Zwinkern (»War nicht so gemeint …«) und : -( für ein trauriges Gesicht (»Find ich schade …«) verwendet. Doch den E-Mails und Internetdiskussionen fehlen auch andere nonverbale Hinweise, etwa auf Ihren Status, Ihre Persönlichkeit und Ihr Alter. Der Empfänger weiß häufig nicht, wie Sie aussehen, wie Ihre Stimme klingt oder hat oft keinerlei Hintergrundinformationen über Sie. Sie werden ausschließlich nach Ihren Worten beurteilt. Wenn Menschen einer E-Mail-Bekanntschaft von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen, sind sie oft überrascht, wem sie da begegnen. Es geschieht daher auch oft, dass E-Mail-Kommunikation missverstanden wird, bei der die Emotion, ohne dass sie erkennbar zum Ausdruck gebracht wird, mehrdeutig werden kann. Es fehlt auch die Stimme, deren Klang signalisiert, ob eine Aussage ernst zu nehmen ist, ob sie ein Scherz oder eine sarkastische Bemerkung sein soll. Die Forschung von Kruger et al. (1999) zeigt, dass diejenigen, die auf diese Weise kommunizieren, oft glauben, es müsse jedermann klar sein, dass sie »nur Spaß machen«, egal ob per E-Mail oder im persönlichen Gespräch. Doch diese Annahme ist egozentrisch, denn sie lässt außer Acht, dass es ohne nonverbale Hinweise zu Missverständnissen kommen kann.
13.3.2
Emotionsausdruck im kulturellen Kontext
Ziel 11: Erörtern Sie die kulturspezifischen und die kulturübergreifenden Aspekte des Emotionsausdrucks, und erklären Sie, wie dieser die Überlebenschancen verbessert.
C. Styrsky
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Anmerkung des Übersetzers: 1. Wir kommen in Frieden. 2. Bei der Kommunikation mit Menschen nicht vergessen: lächeln…immer lächeln!
Die Bedeutung von Gesten variiert je nach Kultur. Vor etlichen Jahren bemerkte der Psychologe Klineberg (1938), dass die Protagonisten in der chinesischen Literatur in die Hände klatschen, wenn sie Sorge oder Enttäuschung ausdrücken wollen, ein lautes »Ho-Ho« lachen, wenn sie wütend sind, und die Zunge herausstrecken, wenn sie überrascht sind. Der ausgestreckte Daumen, der in Nordamerika und Europa »OK« bedeuten soll, kann in verschiedenen Kulturen als Beleidigung aufgefasst werden. (Als der ehemalige amerikanische Präsident Richard Nixon das Zeichen in Brasilien machte, war ihm nicht bewusst, dass er damit zum Geschlechtsverkehr aufforderte.) Wie wichtig die kulturspezifischen Definitionen von Gesten sein können, zeigte sich 1968, als die nordkoreanische Regierung ein Foto mit angeblich glücklichen Gefangenen von einem Spionageschiff der U.S. Navy veröffentlichte. Darauf waren drei der Männer mit erhobenem Mittelfinger zu sehen; sie hatten den Nordkoreanern, die sie gefangen genommen hatten, erzählt, dies sei »auf Hawaii das Zeichen für ›Viel Glück‹« (Fleming u. Scott 1991). Hat auch die Mimik in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen? Um das herauszufinden, zeigten 2 Forschergruppen – eine unter der Leitung von Ekman und Friesen (Ekman u. Friesen 1975; Ekman et al. 1987; Ekman 1994), die andere geleitet von Izard (1977, 1994) – in vielen anderen Ländern Fotos mit mimisch dargestellten Emotionen und baten die
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Betrachter, die darauf gezeigten Emotionen zu erraten. Sie können diese Aufgabe selbst ausprobieren, indem sie die 6 Emotionen in . Abb. 13.11 den 6 Gesichtern zuordnen. Wahrscheinlich haben Sie ganz gut abgeschnitten, ganz gleich, welchen kulturellen Hintergrund Sie haben. Ein Lächeln ist auf der ganzen Welt ein Lächeln. Dasselbe gilt für Wut, und in etwas geringerem Maß auch für andere grundlegende Emotionen (Elfenbein u. Ambady 1999). (Wir kennen keine Kultur, in der Menschen die Stirn runzeln, wenn sie glücklich sind). Obwohl es einige Unterschiede gibt, haben Kulturen und Sprachen viele Gemeinsamkeiten darin, wie sie Emotionen einordnen – als Zorn, Angst und so weiter. Haben Menschen aus verschiedenen Kulturen deswegen ähnliche Gesichtsausdrücke, weil sie demselben Einfluss ausgesetzt sind, nämlich dem von amerikanischen Filmen, von BBC und von CNN? Auf keinen Fall. Ekman und seine Gruppe baten Menschen aus Neuguinea, die bis dahin keinen Kontakt zur amerikanischen Zivilisation gehabt hatten, verschiedene Emotionen als Reaktion auf Sätze wie »Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wäre gestorben« vorzuspielen. Als die Forscher amerikanischen Studierenden die Videofilme mit den Gesichtern aus Neuguinea zeigten, konnten diese die dargestellten Emotionen leicht erkennen. Gesichtsausdrücke enthalten einige nonverbale Akzentuierungen, aus denen sich Hinweise auf die jeweilige Kultur ergeben (Marsh et al. 2003). Es überrascht deshalb nicht, dass die Befunde aus 182 Studien eine leicht erhöhte Trefferquote aufweisen, wenn Menschen Emotionen aus der eigenen Kultur beurteilen (Elfenbein u. Ambady 2002, 2003a, b). Dennoch sind die verräterischen Anzeichen für Emotionen i. Allg. interkulturell. Die Mimik von Kindern bei Emotionen – sogar von blinden Kindern, die niemals ein Gesicht gesehen haben – ist ebenfalls auf der ganzen Welt ähnlich (Eibl-Eibesfeldt 1971). Menschen, die von Geburt an blind sind, zeigen spontan die »normale« Mimik, die mit Emotionen wie Freude, Trauer, Angst und Wut verbunden ist (Galati et al. 1997). Überall auf der Welt weinen Kinder, wenn sie Kummer haben, und lächeln, wenn sie sich freuen. Die Entdeckung, dass die Gesichtsmuskeln eine fast universelle Sprache sprechen, wäre für den Pionier der Emotionsforschung Charles Darwin (1809–1882) keine Überraschung gewesen. Er nahm an, dass in prähistorischen Zeiten, bevor unsere Vorfahren mit Worten kommunizierten, ihre Fähigkeit, Bedrohungen, Grüße und Unterordnung mit ihrer Mimik zu übermitteln, zu ihrem Überleben beitrug. Dank dieses gemeinsamen Erbes drücken alle Menschen die Grundemotionen mit einer ähnlichen Mimik aus. Ein höhnisches Lächeln enthält beispielsweise bestimmte Elemente des Zähnebleckens von Hunden beim Knurren. Lächeln ist nicht nur ein emotionaler Reflex, sondern auch ein soziales Phänomen. Bowlingspieler lachen nicht, wenn sie alle Zehne werfen – sie lachen, wenn sie ihr Gesicht ihren Mitspielern zuwenden (Jones et al. 1991; Kraut u. Johnston 1979). Sogar euphorische Gewinner von olympischen Goldmedaillen lächeln normalerweise nicht, während sie auf die Siegerehrung warten, wohl aber, wenn ihnen gratuliert wird oder wenn sie einer Kamera oder dem Publikum gegenüberstehen (Fernández-Dols u. Ruiz-Belda 1995). Außerdem scheint es auch nützlich für uns zu sein, die Mimik eines Menschen in einem bestimmten Kontext zu interpretieren. (Denken Sie an die Abbildungen in 7 Kap. 6 über Wahrnehmung in einem bestimmten Kontext.) Menschen beurteilen ein finsteres Gesicht in einem beängstigenden Kontext als ängstlich. Ebenso interpretieren sie ein ängstliches Gesicht in einer schmerzhaften Situation als schmerzverzerrt (Carroll u. Russell 1996). Filmregisseure machen sich dieses Phänomen zunutze, wenn sie Kontexte und Soundtracks so inszenieren, dass die Wahrnehmung bestimmter Emotionen verstärkt wird. Unser emotionaler Ausdruck könnte das Überleben auch noch auf eine andere Art sichern. Sind wir überrascht, heben wir die Augenbrauen, und die Augen werden größer, so dass wir mehr Informationen aufnehmen können. Bei Ekel rümpfen wir die Nase und schließen sie damit vor giftigen Dämpfen.
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Ekman, P. & Matsumoto, D.: Japanese and Caucasian Facial expressions of emotions
13.3 · Emotion und Ausdruck
. Abb. 13.11. Kulturspezifischer oder interkultureller Gesichtsausdruck? ? Die Sprachen der verschiedenen Kulturen unterscheiden sich. Unterscheidet sich auch die Sprache unserer Gesichter? Welches Gesicht drückt Ekel aus? Wut? Angst? Glück? Traurigkeit? Überraschung? (Aus Matsumoto u. Ekman 1989) (7 Antwort 13.1 am Ende des Kapitels)
»Willst du wissen, was das Herz denkt, dann frag das Gesicht.« Sprichwort aus Guinea In der Schwerelosigkeit bewegt sich die Körperflüssigkeit von Astronauten in die höheren Körperregionen, und ihr Gesicht schwillt an. Dies erschwert die nonverbale Kommunikation, und damit wird das Risiko für Missverständnisse größer, besonders bei Mannschaften aus verschiedenen Ländern (Gelman 1989).
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Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.12. Analyseniveaus in der Emotionsforschung Wie bei anderen psychologischen Phänomenen erkunden die Forscher Emotionen auf einem biologischen, einem psychologischen und einem soziokulturellen Niveau
! Obwohl alle Kulturen eine gemeinsame Ausdruckssprache für grundlegende Emotionen teilen, unterscheiden sie sich doch deutlich darin, wie stark die Menschen ihre Emotionen ausdrücken.
In individualistischen Kulturen wie Westeuropa, Australien, Neuseeland und Nordamerika werden Gefühle häufig intensiv und lange zur Schau gestellt. Die Menschen richten ihr Augenmerk auf ihre eigenen Ziele und Haltungen und bringen das auch entsprechend zum Ausdruck. Beim Ansehen eines Filmes, der zeigt, wie jemandem die Hand amputiert wird, machen Amerikaner eine Grimasse (ob allein oder mit anderen zusammen). Japaner dagegen verstecken ihre Gefühle, wenn andere Menschen dabei sind (Triandis 1994). Dabei gibt es jedoch kulturelle Unterschiede sowohl zwischen Ländern als auch innerhalb eines Landes. Die Iren und irischstämmigen Amerikaner kommunizieren gewöhnlich ausdrucksvoller als die Skandinavier und skandinavischstämmigen Amerikaner (Tsai u. Chentsova-Dutton 2003). Wie die meisten psychischen Ereignisse kann man die Emotion am besten verstehen, wenn man sie nicht nur als ein biologisches und kognitives Phänomen begreift, sondern auch als ein soziokulturelles (. Abb. 13.12).
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13.3.3
Mimischer Ausdruck
Ziel 12: Erörtern Sie die Phänomene der Rückkopplung über das Gesicht und der Rückkopplung über das Verhalten, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür.
»Immer wenn ich Angst habe, werfe ich meinen Kopf nach hinten und pfeife ein fröhliches Lied.« Richard Rogers und Oscar Hammerstein (»The King and I«, 1958)
Als William James mit Gefühlen der Depression und Trauer kämpfte, kam er zu der Auffassung, wir könnten Emotionen dadurch steuern, dass wir »die äußeren Bewegungen« jeder Emotion durchlaufen, die wir erleben wollen. »Um sich vergnügt zu fühlen«, so riet er, »setzen Sie sich vergnügt hin, sehen Sie vergnügt in die Gegend, und handeln Sie so, als wäre die Vergnügtheit bereits da.« Aktuelle Befunde zu den emotionalen Auswirkungen von Gesichtsausdrücken bestätigen genau das, was James vorhergesagt haben könnte. Über die Mimik werden Emotionen nicht nur kommuniziert, sondern auch verstärkt und reguliert. In seinem Buch »The Expression of the Emotions in Men and Animals« (dtsch.: »Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren«) aus dem Jahre 1872 stellte Darwin fest, dass »der freie Ausdruck von
567 13.3 · Emotion und Ausdruck
Emotionen in äußeren Anzeichen die Emotion verstärkt. . . . Wer seinen gewalttätigen Gesten freien Lauf lässt, wird seine Wut verstärken.« Lag Darwin richtig? Ich fuhr einmal im Auto, als das Lied »Put on a Happy Face« im Radio gespielt wurde. So eine Heuchelei, dachte ich. Trotzdem habe ich Darwins Hypothese gestestet, was auch Sie tun können. Grinsen Sie mal breit. Nun schauen Sie mürrisch. Können Sie den Unterschied zum Lachen einen Moment vorher spüren? Die Teilnehmer an Dutzenden von Experimenten haben den Unterschied gespürt. Zum Beispiel induzierten Laird et al. (1974, 1984, 1989) einen mürrischen Gesichtsausruck bei Studierenden, indem sie sie baten, »diese Muskeln anzuspannen« und »die Augenbrauen zusammenzuziehen« (vorgeblich, um den Wissenschaftlern zu ermöglichen, Elektroden im Gesicht anzubringen). Das Ergebnis? Die Studierenden berichteten, etwas ärgerlich zu sein. Studierende, die auf die gleiche Weise dazu gebracht wurden zu lächeln, fanden Cartoons witziger und erinnerten sich an fröhlichere Situationen als die grimmigen Studierenden. Menschen, die dazu gebracht wurden, mimisch bestimmte Grundemotionen zum Ausdruck zu bringen, erlebten diese Emotionen auch. Wenn sie z. B. einen furchtsamen Gesichtsausdruck zeigen sollten, berichteten sie eher, Angst zu empfinden als Wut, Traurigkeit oder Ekel: »Ziehen Sie die Augenbrauen hoch, und öffnen Sie die Augen weit. Werfen Sie den Kopf nach hinten, und bewegen Sie Ihr Kinn in Richtung Brust. Entspannen Sie den Mund und lassen Sie ihn etwas offen stehen« (Duclos et al. 1989).
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»Wenn Sie sich dagegen sperren, eine Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, stirbt sie ab … Wenn wir unerwünschte emotionale Tendenzen in uns besiegen wollen, müssen wir … die äußeren Bewegungen der entgegengesetzten Dispositionen durchlaufen, die wir lieber ausbilden wollen.« William James, »Principles of Psychology« (1890)
! Das Gesicht ist mehr als eine Litfaßsäule, die unsere Gefühle anzeigt; es facht auch unsere Gefühle an.
With kind permission of Paula M. Niedenthal.
Gibt es keine konkurrierenden Emotionen, ist der Rückkopplungseffekt des Gesichtsausdrucks zwar subtil, aber durchaus nachweisbar. Schauen Sie sich diese Ergebnisse an: 4 Bringt man Versuchsteilnehmer dazu, den Abstand zwischen ihren Augenbrauen zu verringern (. Abb. 13.13), werden sie trauriger, wenn sie bedrückende Fotos ansehen. 4 Ob Sie es glauben oder nicht, wenn Versuchsteilnehmer die Phoneme »i« und »ey« aussprechen, aktivieren sie ihre »Lächel«-Muskeln und sind besser gelaunt, als wenn sie ein »ü« aussprechen, da sie damit Muskeln aktivieren, die mit negativen Gefühlen verbunden sind (Zajonc et al. 1989). 4 Schon das Anspannen der Muskeln, die man zum Lächeln braucht, durch das Halten eines Stifts zwischen den Zähnen (nicht zwischen den Lippen, denn dadurch werden »grimmige« Muskeln aktiviert) reicht aus, um Cartoons witziger erscheinen zu lassen (Strack et al. 1988). Ein herzlicheres Lächeln – das nicht nur mit dem Mund erzeugt wird, sondern mit angehobenen Wangen, so dass es zu Falten um die Augen kommt – verstärkt die positiven Gefühle sogar noch mehr, wenn Sie auf etwas Angenehmes oder Lustiges reagieren (Soussignan 2001). Schauen Sie dabei in den Spiegel, nimmt der Effekt noch weiter zu (Kleinke et al. 1998). Wenn Sie warmherzig nach außen lächeln, fühlen Sie sich innen besser. Wenn Sie knurren, knurrt die Welt zurück.
Eine Bitte des Autors: Lächeln Sie oft, während Sie dieses Buch lesen.
. Abb. 13.13. Wie bringt man jemanden dazu, die Stirn zu runzeln, ohne es ihm ausdrücklich aufzutragen? Larsen et al. (1992) fanden folgende Lösung: Bringen Sie zwei Golf-Tees über den Augenbrauen der Versuchsperson an und bitten Sie sie, ihr Gesicht so zu verziehen, dass sie sich berühren. Die Versuchsteilnehmer fühlten sich traurig, als sie Kriegsszenen betrachteten, und noch trauriger, als ihre »Traurigkeitsmuskeln« durch den Trick mit den Golf-Tees angespannt waren
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Kapitel 13 · Emotion
Snodgrass et al. (1986) beobachteten dieses Phänomen einer Verhaltensrückkopplung beim Gehen. Sie können die Erfahrungen ihrer Versuchsteilnehmer nachvollziehen: Gehen Sie ein paar Minuten mit kurzen, schlurfenden Schritten und mit gesenktem Blick. Dann gehen Sie mit großen Schritten und schwingenden Armen und richten Ihren Blick geradeaus. Können Sie fühlen, wie sich Ihre Stimmung verändert? Wenn man die Bewegungen durchläuft, werden die Emotionen geweckt. Noch besser ist es, wenn Sie Ihr Gesicht und Ihre Haltung verändern, wie Flack et al. (1999) berichten. Um beispielsweise wütend zu werden, müssen Sie den Anweisungen folgen, die sie ihren Versuchsteilnehmern gaben: Verringern Sie den Abstand Ihrer Augenbrauen, und ziehen Sie sie nach unten. Pressen Sie Ihre Zähne und Lippen zusammen. Stellen Sie die Füße senkrecht unterhalb der Knie flach auf den Boden, und legen Sie die Unterarme und Ellenbogen auf die Armlehnen Ihres Stuhls. Nun ballen Sie Ihre Hände zu Fäusten und beugen Ihren Oberkörper etwas vor.
Nun aber wollen wir Sie fröhlicher werden lassen: Ziehen Sie Ihre Mundwinkel hoch und zurück, und lassen Sie den Mund dabei etwas offen. Setzen Sie sich so gerade wie möglich im Stuhl auf. Legen Sie die Hände auf die Enden der Armlehnen und stellen Sie sicher, dass die Beine genau vor Ihnen sind, Knie durchgedrückt und die Füße senkrecht unterhalb der Knie.
Wenn man davon ausgeht, dass der emotionale Ausdruck und die Haltung ein Gefühl auslösen können, trägt es dann dazu bei, zu fühlen, was andere fühlen, wenn man ihr Ausdrucksverhalten nachmacht? Bei der Beantwortung dieser Frage helfen uns Befunde aus dem Labor. Vaughn u. Lanzetta (1981) baten einige Studierende, ein schmerzerfülltes Gesicht zu machen, wenn sie beobachteten, wie einem anderen offensichtlich ein elektrischer Schock gegeben wurde. Eine andere Gruppe sah die gleiche Szene, wurde aber nicht darum gebeten, ein entsprechendes Gesicht zu machen. Bei jedem Schock schwitzten die Beobachter der ersten Gruppe mehr und hatten einen höheren Herzschlag als die anderen Beobachter, die den Gesichtsausdruck nicht nachahmten. Wenn man auch nur zusieht, wie ein geliebter Mensch bei einem leichten elektrischen Schock winselt, wird ebenfalls die Schmerzregion im Gehirn aktiviert. Dies deutet auf eine neuronale Grundlage der Empathie hin – darauf, buchstäblich den Schmerz des anderen mitzufühlen (Singer et al. 2004). Daher ist ein Schritt hin zu mehr Empathie – so zu fühlen, wie andere fühlen –, auf dem eigenen Gesicht den Gesichtsausdruck des anderen anzunehmen. Wie der andere zu handeln, hilft uns, zu fühlen, wie der andere fühlt. Tatsächlich trägt die natürliche Nachahmung der Emotionen anderer zur Erklärung der Tatsache bei, dass Emotionen ansteckend sind (Dimberg et al. 2000; Newmann u. Strack 2000).
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Lernziele Abschnitt 13.3 Emotion und Ausdruck Ziel 8: Beschreiben Sie einige der Faktoren, die einen Einfluss auf unsere Fähigkeit haben, nonverbale Hinweisreize zu entschlüsseln. Die meisten Menschen können nonverbale Hinweisreize erkennen, und wir sind besonders sensibel für nonverbale Bedrohungen. Wie Untersuchungen mit missbrauchten Kindern gezeigt haben, trägt Erleben dazu bei, dass wir für Hinweisreize sensibel sind. Ziel 9: Beschreiben Sie Geschlechtsunterschiede in Emotionswahrnehmung und Emotionsausdruck. Frauen können i. Allg. die emotionalen Hinweisreize von Menschen besser verstehen als Männer; und dazu gehören auch die Hinweisreize, die bei einer Täuschung auftreten. Frauen geben auch detailreichere Be-
schreibungen ihrer emotionalen Reaktionen, beschreiben sich selbst bereitwilliger als emotional und bringen häufiger sowohl in Worten als auch im Gesichtsausdruck Empathie zum Ausdruck. Frauen sind Männern darin überlegen, zu zeigen, dass sie glücklich sind; doch Männer können Ärger besser mitteilen. Ziel 10: Auf welche Weise wird die Frage, wie man jemandem etwas vom Gesicht abliest (bzw. es fehldeutet), wissenschaftlich angegangen? Welche Forschung gibt es zu Verhaltensindikatoren für Emotionen? Die Gesichtsmuskeln geben Hinweise auf eine Emotion. Aber es gibt noch keine Lügendetektormethode, die sich am Gesichtsausdruck orientiert; und die meisten von uns haben Schwierigkeiten, den Ausdruck von 6
569 13.4 · Emotion und Erfahrung
Täuschung zu erkennen. Da es in E-Mails keine stimmlichen oder emotionalen Hinweisreize gibt, sind wir von einer wichtigen Informationsquelle abgeschnitten. Ziel 11: Erörtern Sie die kulturspezifischen und die kulturübergreifenden Aspekte des Emotionsausdrucks, und erklären Sie, wie dieser die Überlebenschancen verbessert. Die Bedeutung von Gesten ist in den Kulturen recht unterschiedlich, doch viele Gesichtsausdrücke, etwa die für Glück und Angst, finden sich überall auf der Welt (sogar bei blind geborenen Kindern). Dies deutet darauf hin, dass die Gesichtsausdrücke kulturübergreifende Aspekte der Emotion sind. Kulturen unterscheiden sich jedoch darin, wie viel emotionaler Audruck bei ihnen für akzeptabel gehalten wird. In vorsprachlichen prähistorischen Zeiten könnte der Ausdruck von Emotionen die Überlebenschancen dadurch verbessert haben, dass er es ermöglichte, über Bedrohungen, Begrüßungen und Unterwerfung zu kommunizieren. Manches emotionale Ausdrucksverhalten trägt dazu bei, mehr sensorische Informationen aufzunehmen und zu verhindern, dass giftige Substanzen aufgenommen werden.
13.4
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Ziel 12: Erörtern Sie die Phänomene der Rückkopplung über das Gesicht und der Rückkopplung über das Verhalten, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür. Mit der Hypothese der Rückkopplung über das Gesicht wird Folgendes nahe gelegt: Das Ausdrucksverhalten lässt unsere Emotionen intensiver werden, indem Muskeln aktiviert werden, die mit bestimmten Zuständen assoziiert werden. Und die Muskeln signalisieren dem Körper, so zu reagieren, als erlebten wir diese Zustände. Wenn wir den Gesichtsausdruck, der normalerweise mit Glück assoziiert wird, simulieren, kann es sein, dass wir uns glücklicher fühlen. Bei der Hypothese zur Rückkopplung über das Verhalten wird Folgendes angenommen: Wenn wir unseren Körper so bewegen, wie wir es tun würden, wenn wir eine bestimmte Emotion erleben (mit gesenkten Augen dahinschlurfen, wenn wir traurig sind), ist es wahrscheinlich, dass wir diese Emotion in gewissem Maße auch empfinden. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie gerne Ihre Gefühle verändert hätten? Und können Sie einen einfachen Plan entwerfen, wie man das umsetzt?Wenn Sie z. B. morgen auf Ihrem Weg zum Seminar besser gelaunt sein wollen, könnten Sie versuchen, forsch zu gehen, mit erhobenem Kopf und dem Ausdruck guter Laune auf dem Gesicht, statt sich einfach nur dorthin zu schleppen.
Emotion und Erfahrung
Ziel 13: Nennen Sie mehrere Grundemotionen, und beschreiben Sie 2 Dimensionen, die Psychologen verwenden, um Emotionen voneinander zu unterscheiden.
e Überraschung (Augenbrauen angehoben, Augen weit auf, Mund zu einer ovalen Form gerundet)
c Interesse (Augenbrauen hochgezogen oder gerunzelt, Mund leicht gerundet, Lippen eventuell geschürzt)
d Ekel (Nase gerümpft, Unterlippe hochgezogen, Zunge nach vorn gedrückt)
Michael Newman/PhotoEdit
b Wut (Brauen zusammenund heruntergezogen, starrer Blick, zusammengekniffener Mund)
photos.com
© Andreas Koch – Fotolia.com
a Freude (Mund zum Lächeln geformt, Wangen hochgezogen, Zwinkern in den Augen)
C. Grosser
C. Grosser
M. Barton
photos.com
Wie viele unterschiedliche Emotionen gibt es? Izard (1977) arbeitete 10 Grundemotionen heraus (Freude, Interesse/Begeisterung, Überraschung, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, Angst/Furcht, Scham und Schuld), die meist schon im Kindesalter zu beobachten sind (. Abb. 13.14). Tracey u.
f Traurigkeit (innerer Teil der Augenbrauen angehoben, Mundwinkel hängen herab)
g Angst (Augenbrauen eben, nach innen und oben gezogen, Augenlider geöffnet, Mundwinkel nach hinten gezogen)
. Abb. 13.14. Natürlich auftretende Emotionen bei Säuglingen Um die von Geburt an vorhandenen Emotionen auszumachen, hat Carroll Izard den Gesichtsdruck bei kleinen Säuglingen analysiert
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Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.15. Zwei Dimensionen der Emotion Russell, Watson und auch andere beschreiben Emotionen als Variationen auf 2 Dimensionen: Erregung (gering versus stark) und Valenz (angenehmes versus unangenehmes Gefühl)
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Robins (2004) sind der Auffassung, Stolz sei ebenfalls eine unterscheidbare Emotion, die durch ein kurzes Lächeln, einen leicht nach hinten geworfenen Kopf und eine offene Körperhaltung signalisiert wird. Und Shaver et al. (1996) meinen, dass auch Liebe eine Grundemotion sein könnte. Aber Izard argumentiert, dass andere Emotionen Kombinationen aus diesen 10 Grundemotionen sind. Liebe, führt er an, sei eine Kombination aus Freude und Interesse/Begeisterung. Zu den Bestandteilen der Emotion gehören nicht nur die Physiologie und das Ausdrucksverhalten, sondern auch unsere bewusste Erfahrung. Wir erleben Gefühle manchmal als »unscharf und verworren«, merkte Benjamin Constant de Rebecque im Jahr 1816 an. Um diese Unschärfe genauer zu analysieren, haben Psychologen Personen gebeten, ihre Emotionen zu beschreiben. Unterschiedlichste Menschen (etwa Esten, Polen, Griechen, Chinesen, Kanadier) ordnen Emotionen auf 2 Dimensionen an, wie sie in . Abb. 13.15 dargestellt sind: angenehme (oder positive) versus unangenehme (oder negative) Valenz und geringe versus starke Erregung (Russell et al. 1989, 1999a, b; Watson et al. 1999). Turner, die bei der Olympiade erfolgreich waren, und Studierende mit einem sehr guten Abschluss bezeichnen Erregung als etwas, was sie mobilisiert, als etwas, was sie in Schwung bringt (Raglin 1992). Für sie hat Erregung eine positive Valenz, während sie für Personen mit Lampenfieber eine negative Valenz hat. In ähnlicher Weise begrüßen erfahrene Professoren und Redner eine gewisse Erregung vor einem Vortrag als Hinweis darauf, dass sie beschwingt und bei der Sache sind und nicht emotionslos. Auf der Valenz- und auf der Erregungsdimension ist entsetzt erschrockener (unangenehmer und erregter) als verängstigt, aufgebracht ist wütender als ärgerlich, entzückt ist glücklicher als glücklich. Wir wollen uns mit 3 dieser Gefühle näher beschäftigen: Angst, Wut und Glück. Welche Funktionen haben sie? Wie wird unsere Erfahrung der einzelnen Emotionen beeinflusst?
13.4.1
Angst
Angst kann wie ein Gift wirken. Sie kann uns quälen, uns den Schlaf rauben und unser Denken beherrschen. Menschen können buchstäblich vor Angst sterben. Angst kann auch ansteckend wirken. Im Jahr 1903 schrie jemand »Feuer!«, als in einem Theater in Chicago ein Feuer ausgebrochen war. Eddie Foy, ein Komödiant, der gerade auf der Bühne stand, versuchte noch, die Menge zu beruhigen, indem er rief: »Regen Sie sich nicht auf! Es besteht keine Gefahr! Bleiben Sie ruhig!« Doch Panik brach aus. In den 10 Minuten, bis die Feuerwehr kam und das Feuer problemlos
571 13.4 · Emotion und Erfahrung
löschen konnte, kamen mehr als 500 Menschen um, die meisten von ihnen wurden von der Menge zu Tode getrampelt oder erdrückt. Die Körper der Toten lagen 1–2 m hoch in den Treppenaufgängen, und auf vielen Gesichtern waren Fußabdrücke zu sehen (Brown 1965). Meistens aber ist die Angst der Situation angemessener. Sie dient als Alarmsystem, damit unser Körper in gefährlichen Situationen zur Flucht vor Gefahr bereit ist. Die Angst vor wirklichen oder eingebildeten Feinden verbindet Menschen in Familien, Stämmen und Nationen. Die Angst vor Verletzungen schützt uns vor Unfällen. Die Angst vor Bestrafung oder vor Vergeltung kann uns daran hindern, uns gegenseitig zu verletzen. Wenn wir ängstlich sind, konzentrieren wir uns auf ein Problem und suchen nach Strategien, um es zu lösen.
Lernen, Angst zu haben Ziel 14: Geben Sie 2 Arten an, wie wir lernen, Angst zu haben.
Menschen können vor fast allem Angst haben: »Angst vor der Wahrheit, Angst vor dem Schicksal, Angst vor dem Tod und Angst voreinander«, wie der Schriftsteller Ralph Waldo Emerson beobachtete. Warum gibt es so viele Ängste? Erinnern Sie sich an 7 Kap. 8, wo beschrieben wurde, dass Kinder lernen können, sich vor pelzigen Dingen zu fürchten, wenn sie ihnen zusammen mit einem angsterregenden Geräusch dargeboten werden. In der Entwicklungspsychologie weiß man inzwischen, dass Kinder, wenn sie anfangen zu krabbeln, aus ihren Stürzen oder Fast-Stürzen lernen und damit allmählich eine Höhenangst entwickeln (Campos et al. 1992). Durch solche Bedingungen kann sich aus der kurzen Liste der von Natur aus schmerzlichen und beängstigenden Erfahrungen eine lange Liste menschlicher Ängste entwickeln: Angst vor dem Autofahren oder dem Fliegen, Angst vor Mäusen oder Kakerlaken, Angst vor geschlossenen oder offenen Räumen, Versagensangst, Erfolgsangst, Angst vor einer anderen Rasse oder Nation. Durch Beobachtungslernen wird die Liste noch länger. Mineka (1985) versuchte zu erklären, warum sich fast alle in der Wildnis aufgewachsenen Affen vor Schlangen fürchten, während im Labor aufgewachsene Affen diese Angst nicht kennen. Natürlich sind längst nicht alle wilden Affen schon einmal von einer Schlange gebissen worden. Lernen sie ihre Angst durch Beobachtung? Um das herauszufinden, machte Mineka Experimente mit 6 Affen, die in der Wildnis aufgewachsen waren (und alle große Angst vor Schlangen hatten) und ihrem Nachwuchs, der im Labor geboren worden war (und sich vor Schlangen nicht fürchtete). Nachdem sie immer wieder beobachtet hatten, wie sich ihre Eltern oder Gleichaltrige geweigert hatten, nach Futter zu greifen, wenn eine Schlange in der Nähe war, entwickelten die jüngeren Affen eine ähnlich starke Schlangenangst. Ein Test nach 3 Monaten zeigte, dass die gelernte Angst erhalten geblieben war. Daraus kann man schließen, dass unsere Ängste nicht nur von unseren eigenen Traumata zeugen, sondern auch von den Ängsten, die wir von unseren Eltern und Freunden übernommen – »gelernt« – haben. Man musste nicht direkt betroffen gewesen sein, um nach dem Trauma vom 11. September ängstlicher zu werden. Zehntausende von Kindern leiden in New York City an Albträumen und Angst vor öffentlichen Plätzen, wie eine Studie über das Schulsystem zeigte (Goodnough 2002). Landesweit reagierten Frauen eher mit Angst auf den Anschlag, während Männer eher wütend wurden (Lerner et al. 2002). Vier Wochen nach dem Anschlag berichteten 27% der Frauen und 10% der Männer, Angst vorm Fliegen zu haben (ICR 2001).
Biologie der Angst Ziel 15: Erörtern Sie einige der biologischen Komponenten der Angst.
Wir scheinen genetisch darauf programmiert zu sein, bestimmte Ängste schneller als andere zu lernen. Affen lernen die Angst vor Schlangen allein durch das Ansehen von Videobändern, auf denen Affen zu sehen sind, die ängstlich auf eine Schlange reagieren. Sie lernen jedoch nicht, sich vor Blumen zu fürchten, wenn der angstauslösende Reiz auf dem Videofilm später in eine Blume verwandelt wird (Cook u. Mineka 1991). Wir Menschen lernen schnell, uns vor Schlangen, Spinnen und Abgründen zu fürchten – lauter Ängste, die unseren Vorfahren wahrscheinlich das Überleben sicherten (Öhman u. Mineka 2003). Aber unsere Ängste aus der Steinzeit sorgen dafür, dass wir nicht auf Hightech-Gefahren vorbereitet sind – Autos, Elektrizität, Bomben und globale Erwärmung – lauter Dinge, die heute viel gefährlicher sind als Schlangen (Lumsden u. Wilson 1983; McNally 1987).
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Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.16. Die Amygdala – der neuronale Schlüssel für das Erlernen von Angst Zwei Nervenbahnen, die aus diesem Neuronenknoten auf beiden Seiten aus dem Gehirnzentrum austreten, leiten Informationen weiter, die den Herzschlag, die Schweißproduktion, die Stresshormone, die Aufmerksamkeit und weitere Motoren steuern, die in bedrohlichen Situationen anspringen
Fest verdrahtete Ängste Die Unterhaltungsindustrie macht Geld mit unseren Überlebenskreisläufen. Obwohl wir wissen, dass es auf Jahrmärkten nur sehr selten zu Todesfällen kommt, bewirkt das Angstalarmsystem bei uns einen Adrenalinschub und nasse Handflächen, wenn wir uns dort im Freifallturm oder anderen Fahrgeschäften befinden
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13
Ein Knotenpunkt für das Erlernen von Angst liegt in der Amygdala, dem Nervenzentrum im limbischen System tief im Inneren des Gehirns (. Abb. 13.16). Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle bei der Entstehung verschiedenster Emotionen, darunter Angst in bestimmten Situationen (Barinaga 1992b). Kaninchen lernen, mit Angst auf einen Ton zu reagieren, der einen leichten Elektroschock ankündigt, aber nur, wenn ihre Amygdala unversehrt ist. Wird die Amygdala von Ratten durch ein Medikament stillgelegt, das die Verstärkung neuronaler Verbindungen blockiert, können auch die Ratten keine Angstreaktionen mehr lernen. Die Amygdala erhält Signale aus Regionen wie dem Cingulus anterior im Kortex, ein auf einem oberen Niveau angesiedelten Zentrum zur Verarbeitung von Emotionen. Und sie sendet Signale zu allen Teilen des Gehirns, die körperliche Reaktionen auf extreme Angst steuern, wie etwa Durchfall und Kurzatmigkeit. Die Amygdala ist auf ähnliche Weise an menschlichen Ängsten beteiligt. Bläst man Versuchsteilnehmern wiederholt mit einem plärrenden Horn in die Ohren, nachdem man ihnen ein blaues Dia gezeigt hat, werden sie auch emotional auf das blaue Dia reagieren (wie man durch die Messung der Leitfähigkeit der schwitzenden Haut nachweisen kann). Leiden diese Versuchsteilnehmer unter einer Verletzung des benachbarten Hippocampus, reagieren sie emotional genauso wie unverletzte Personen, können sich aber nicht an den Auslöser ihrer Reaktion erinnern. Wurde aber ihre Amygdala verletzt, werden sie sich zwar an den Vorgang der Konditionierung erinnern können, aber emotional nicht reagieren (Schacter 1996). Die psychologische Forschung hat diese Kreisläufe zueinander in Beziehung gesetzt, um herauszufinden, welche Teile des Gehirns aktiviert werden, wenn Menschen und Tiere Ängste lernen. Hören Versuchsteilnehmer einen unangenehmen Ton beim Ansehen von Gesichtern, werden die neuronalen Bahnen der Amygdala bei nochmaligem Betrachten der Gesichter aktiviert (Buchel et al. 1998; Morris et al. 1998). Patienten, deren Amygdala nicht mehr aktivierbar ist, vertrauen bedrohlich aussehenden Menschen in ungewöhnlich hohem Maße (Adolphs et al. 1998). Es gibt aber natürlich auch Menschen, deren Ängste aus dem Rahmen fallen. Einige Menschen mit Phobien haben eine intensive Furcht vor bestimmten Objekten (wie z. B. vor Insekten) oder Situationen (wie dem Sprechen in der Öffentlichkeit); dies behindert sie dabei, mit ihrem Leben zu-
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rechtzukommen. Sie können z. B. ständig Angst davor haben, in peinliche oder bedrohliche Situationen zu geraten. Wer immer wachsam nach potenziellen Bedrohungen Ausschau hält, ist chronisch ängstlich (Mineka u. Sutton 1992). Aber andere – mutige Helden und gewissenlose Verbrecher – sind weniger ängstlich als die meisten von uns. Kühne und unerschrockene Astronauten und Abenteurer, die nie den Kopf verlieren und auch unter starkem Stress kühl und effektiv reagieren, scheinen in riskanten Situationen aufzublühen. Genau wie Trickbetrüger und Mörder, die ihre Opfer charmant einwickeln, ohne ein Zeichen von Nervosität zu zeigen. In Labortests zeigen sie bei einem Ton, der einen schmerzhaften Elektroschock ankündigt, nur wenig Angst.
In den 7 Kap. 17 und 18 werden wir erörtern, wie solche sog. Phobien entstehen und wie sie behandelt werden können.
! Unsere Ängstlichkeit oder Furchtlosigkeit wird durch unsere Erfahrungen geprägt, aber auch durch unsere Gene.
Erinnern Sie sich an 7 Kap. 3, in dem beschrieben wurde, dass Gene unser Temperament, also unsere emotionale Reaktionsbereitschaft, beeinflussen. Unter eineiigen Zwillingen ist ein Zwilling genau so ängstlich wie der andere, selbst wenn sie getrennt aufgewachsen sind (Lykken 1982). Die Forscher konnten ein Gen isolieren, das die Reaktion der Amygdala auf beängstigende Situationen beeinflusst (Hariri et al. 2002). Menschen mit einer alternativen Version dieses Gens verfügen in geringerem Maße als andere über ein bestimmtes Protein, das die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin beschleunigt. Bei ihnen steht also mehr Serotonin zur Verfügung, um die Neuronen der Amygdala zu aktivieren, und ihre Amygdala reagiert folglich stärker auf beängstigende Bilder.
13.4.2
Wut
Ziel 16: Geben Sie einige verbreitete Auslöser und Folgen von Wut an, und beurteilen Sie den Wert der Katharsishypothese.
Wut ist, wie die Weisen sagten, »ein kurzer Wahnsinn« (Horaz, 65–8 v. Chr.), der den »Verstand wegspült« (Vergil, 70–19 v. Chr.), und sie kann »hundertmal so schmerzlich sein … wie die Verletzung, die sie herbeigeführt hat« (Thomas Fuller, 1654–1734). Aber sie sprachen auch von »edler Wut« (William Shakespeare, 1564–1616), die »jeden Feigling mutig macht« (Cato, 234–149 v. Chr.) und »Stärke wiederbringt« (Vergil). Warum werden wir wütend? Um das herauszufinden, bat Averill (1983) Versuchsteilnehmer, sich an Situationen zu erinnern, in denen sie wütend gewesen sind, oder über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu notieren, wann sie wütend oder ärgerlich wurden. Die meisten berichteten, einige Male pro Woche zumindest etwas wütend zu werden, manche sogar mehrmals täglich. Oft war die Wut eine Reaktion auf etwas, was Freunde oder Partner ihrer Meinung nach falsch gemacht hatten, vor allem, wenn es mit Absicht geschah, ungerechtfertigt und vermeidbar war. Aber auch zufällige Belästigungen wie unangenehme Gerüche, Hitze, ein Verkehrsstau, Schmerzen und Wehwehchen können uns verärgern (Berkowitz 1990). Was machen wir mit unserer Wut? Und was sollten wir mit ihr machen? In einer Gallup-Umfrage unter Jugendlichen berichteten mehr Jungen als Mädchen darüber, dass sie vor der Situation weglaufen oder beim Sport Dampf ablassen; Mädchen gaben häufiger an, dass sie mit einer Freundin darüber sprachen, sich Musik anhörten oder schrieben (Ray 2005). Wenn die Wut uns dazu bringt, körperlich oder verbal aggressiv zu werden, und wir das später bereuen, dann ist sie für uns schädlich. Wut ist auch ein Nährboden für Vorurteile. Und nach dem 11. September 2001 zeigten Amerikaner, die eher mit Wut als mit Angst reagierten, Intoleranz gegenüber Einwanderern und Muslimen (DeSteno et al. 2004; Skitka et al. 2004). Und Wut kann uns sogar krank machen: Chronisch ärgerlich oder wütend zu sein kann zu Herzerkrankungen führen (7 Kap. 16). Es ist besser für uns, unsere Wut kontrolliert auszudrücken, als Wutausbrüche zu haben oder unseren Ärger ständig zu verdrängen. Averills Versuchsteilnehmer erinnerten sich, dass sie, wenn sie wütend waren, eher entschlossen handelten, als andere zu verletzen. Die Wut brachte sie dazu, mit dem Gegenüber über das Thema zu reden, und dabei entspannte sich die Situation häufig.
»Solange wir Groll in der Seele haben, wird die Wut nicht verschwinden.« Buddha, 500 v. Chr.
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Kapitel 13 · Emotion
Katharsis: emotionale Befreiung. Die Katharsishypothese der Psychologie sagt aus, dass man sich durch das »Herauslassen« aggressiver Energie (durch Handlungen oder in der Phantasie) von aggressiven Impulsen befreien kann.
Eine »coole« Kultur Häusliche Gewalt kommt selten vor in Mikronesien. Das Gemeinschaftsleben auf der Insel Pulap, das auf diesem Foto dargestellt ist, gibt einen Hinweis auf die Ursache dafür: Das Familienleben findet auf dieser Insel vor allem in der Öffentlichkeit statt. Die Verwandten und Nachbarn, die Wutausbrüche beobachten, können eingreifen, bevor es zu Misshandlungen von Kindern, Ehepartnern oder Älteren kommen kann
© Wolfgang Kaehler, www.wkaehlerphoto.com
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Populäre Bücher und Artikel zum Thema Aggression raten manchmal dazu, die Wut lieber in Wutausbrüchen herauszulassen, statt sie in sich hineinzufressen. Wenn uns jemand ärgert, sollen wir dann auf den, der uns verletzt hat, einschlagen? Lag Landers (1969) richtig, als sie sagte: »Junge Leute sollten lernen, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen.«? Haben »Aufdeckungstherapeuten« Recht, wenn sie Patienten dazu ermutigen, gegen ihre toten Eltern zu wettern, den Chef zumindest in der Vorstellung zu verfluchen, oder denjenigen, der die Patientin in der Kindheit missbraucht hat, zu konfrontieren? Die Ermutigung, unsere Wut ungehindert herauszulassen, ist typisch für individualistische Kulturen, wird aber selten in Kulturen zu vernehmen sein, in denen sich der Einzelne stark mit seiner Gruppe identifiziert. Menschen, die sich vor allem über ihre Verbundenheit mit den Mitgliedern ihrer Gruppe (Interdependenz) definieren, betrachten Wut und Ärger als eine Bedrohung für die Gruppenharmonie (Markus u. Kitayama 1991). In Tahiti lernen Menschen z. B., rücksichtsvoll und höflich zu sein. Japaner zeigen von Kindheit an ihren Ärger weniger häufig als Menschen in westlichen Kulturen. Der Ratschlag in westlichen Kulturen »Leben Sie Ihre Wut aus« beruht auf der Annahme, dass wir durch aggressive Handlungen oder Fantasien eine emotionale Erleichterung oder sogar Katharsis erreichen können. Forscher berichten, dass sich Menschen, wenn sie sich gegen andere wehren, von denen sie provoziert wurden, manchmal tatsächlich beruhigen können. Doch das ist gewöhnlich nur dann der Fall, wenn ihre Gegenwehr direkt auf den ausgerichtet ist, der sie provoziert hat, wenn die Gegenwehr gerechtfertigt erscheint und wenn das Gegenüber nicht überlegen ist (Geen u. Quanty 1977; Hokanson u. Edelman 1966). Kurz gesagt, wir fühlen uns kurzzeitig erleichtert, wenn wir unseren Ärger ausgelebt haben, allerdings nur, wenn wir uns danach nicht schuldig oder ängstlich fühlen. Trotzdem ist es nach einem Gefühlsausbruch – Menschen fühlen sich manchmal oft über Stunden hinweg besser – normalerweise nicht so, dass die Katharsis uns tatsächlich von der Wut geläutert hätte. Viel häufiger führt der Ausdruck von Ärger zu mehr Ärger. Einerseits provoziert man durch aggressives Handeln den Wunsch des Gegenübers nach weiterer Vergeltung; und dadurch wird aus einem kleinen Konflikt oft eine große Konfrontation. Andererseits wird die Wut vielleicht noch größer, wenn man sie zum Ausdruck bringt. (Erinnern Sie sich an die Forschung zur Rückkopplung über das Verhalten: Wenn wir uns wütend verhalten, kann dies dazu führen, dass wir uns noch wütender fühlen.) Ebbesen et al. (1975) bestätigten dies, als sie 100 entmutigte Ingenieure und Techniker befragten, die gerade von einem Luftfahrtunternehmen entlassen worden waren. Sie stellten einigen der ehemaligen Angestellten Fragen, die bei ihnen ihre Wut hervorrufen sollten, wie »Erinnern Sie sich an Gelegenheiten, bei denen die Firma Sie unfair behandelt hat?« Als diese Befragten später einen Fragebogen über ihre Haltung gegenüber der Firma ausfüllen sollten, hätten sie ja eigentlich eine positivere Einstellung darlegen müssen, da sie ihre Wut ja schon vorher »ausleben« konnten. Aber das Gegenteil war der Fall. Im Vergleich mit denen, die ihrer Wut nicht Ausdruck verliehen hatten, schienen sie auf die Firma noch wütender zu sein. Sogar wenn Menschen, die vorher provoziert worden waren, an den Katharsiseffekt glauben, der eintritt, wenn sie auf einen Punchingball einschlagen, ist der Effekt genau gegenteilig: Sie werden noch aggressiver (Bushman et al. 1999). Und wenn sie einen Punchingball bearbeiten, während sie über die Person grübeln, die sie wütend gemacht hat, werden sie noch aggressiver, sobald sie die Chance haben, Rache zu üben. »Die Wut herauszulassen, um den Ärger abzubauen, ist, als würde man Benzin ins Feuer schütten, um es zu löschen«, so Bushman (2002). Wenn Wutausbrüche uns zeitweilig beruhigen, kann dies seltsamerweise sogar verstärkend wirken und zur Gewohnheit werden. Wenn gestresste Manager die Erfahrung machen, dass sie etwas von ihrer Anspannung ablassen können, indem sie einen Angestellten anschreien, explodieren sie mit Sicherheit wieder, wenn sie sich das nächste Mal gereizt und angespannt fühlen. Wie sollte man also mit Ärger und Wut umgehen? Experten machen 2 Vorschläge. 1. Warten Sie. Sie können das physiologische Erregungsniveau durch Abwarten senken. »Körper funktionieren so wie Pfeile«, stellte Tavris (1982) fest, »was hoch geht, muss auch wieder runterkommen. Jede emotionale Erregung nimmt ab, wenn Sie nur lange genug warten.«
575 13.4 · Emotion und Erfahrung
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2. Gehen Sie mit dem Ärger so um, dass Sie weder chronisch ärgerlich auf alles Ungelegene reagieren noch passiv den Ärger in sich hineinfressen und in Gedanken hin und her wälzen. Denkt man ständig über die Ursachen seiner Wut nach, vergrößert man sie nur (Rusting u. NolenHoeksema 1998). Werden Sie nicht jemand, der seine Gefühle über eine Reihe von Provokationen sammelt und dann plötzlich bei einem einzelnen Ergebnis überreagiert (Baumeister et al. 1990). Versuchen Sie, sich auf anderen Wegen zu beruhigen, indem Sie z. B. Sport treiben, ein Instrument spielen oder Ihre Gefühle mit einem Freund besprechen. Wut vermittelt den Eindruck von Stärke und Kompetenz (Tiedens 2001). Es kann aber für eine Beziehung sogar nützlich und hilfreich sein, wenn die Klagen so vorgebracht werden, dass Versöhnung und nicht Vergeltung im Vordergrund steht. Höflichkeit bedeutet nicht nur, bei trivialen Differenzen ruhig zu bleiben, sondern auch, wichtige Anlässe für Ärger und Streit klar und bestimmt anzusprechen. Eine Bemerkung über ein Gefühl, die keine Anklage ist (z. B. einen Mitbewohner wissen zu lassen, dass »es mich ärgert, wenn du dein Geschirr immer stehen lässt, so dass ich es abspülen muss«), kann den Konflikt lösen, der zur Wut geführt hat. Was aber, wenn das Verhalten eines Menschen wirklich verletzend wirkt? Forscher meinen, dass der jahrhundertealte Ratschlag, zu vergeben, der richtige sein könnte. Ohne das Gegenüber aus der Verantwortung zu entlassen oder noch mehr Verletzungen herauszufordern, kann man durch Vergebung die Wut abbauen und den Körper beruhigen. Um die körperlichen Effekte von Vergebung zu ergründen, baten Witvliet et al. (2001) Studierende, sich an eine Situation zu erinnern, in der sie von anderen verletzt worden waren. Als die Studierenden in Gedanken Vergebung übten, waren ihre negativen Gefühle – und ihre Schweißproduktion, der Blutdruck, Herzschlag und die Anspannung im Gesicht – geringer, als wenn sie über ihren Groll nachgrübelten.
13.4.3
Glücklichsein
Ziel 17: Beschreiben Sie, wie das Phänomen »Du fühlst dich gut und tust Gutes« funktioniert, und erörtern Sie die Bedeutung der Forschung zum subjektiven Wohlbefinden.
»Glücklich zu werden, glücklich zu bleiben und Glück wiederzugewinnen, ist tatsächlich für fast jeden Menschen das geheime Motiv für alles, was er tut,« stellte William James (1902, S. 76) fest. Menschen überall auf der Welt – bei einer Studie in 48 Ländern auf 6 Kontinenten – wünschen sich auch, dass ihre Kinder glücklich sind (Diener u. Lucas 2004). Das ist nur allzu verständlich; denn ob man glücklich oder unglücklich ist, beeinflusst alles im Leben. Menschen, die glücklich sind, fühlen sich sicherer in der Welt, treffen leichter Entscheidungen, bewerten Bewerber für eine Arbeitsstelle positiver, sind kooperativer und leben ihr Leben gesünder, energischer und zufriedener (Lyukomirsky et al. 2005; Myers 1993). Sind Sie trübsinnig und brüten ständig über Ihren Problemen, erscheint Ihr Leben insgesamt deprimierend. Hellt sich Ihre Stimmung auf, dann denken Sie auch über anderes nach und Ihre Gedanken werden spielerisch und kreativ (Fredrickson 2002, 2003). Ihre Beziehungen, Ihr Selbstbild und Ihre Zukunftserwartungen wenden sich zum Besseren. ! Positive Emotionen wirken als Motor für eine Aufwärtsspirale.
Außerdem – und dieses Ergebnis ist eines der konsistentesten in der Psychologie – sind wir eher bereit, anderen zu helfen, wenn wir glücklich sind. Eine Studie nach der anderen zeigte Folgendes: Ein stimmungsaufhellendes Ereignis (Geld zu finden, eine schwierige Aufgabe erfolgreich zu lösen, sich an einen glücklichen Moment zu erinnern) veranlasste die Versuchsteilnehmer mit höherer Wahrscheinlichkeit dazu, Geld zu spenden, fallengelassene Papiere aufzuheben, sich freiwillig Zeit für etwas zu nehmen und andere gute Taten zu vollbringen. Psychologen nennen es das Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes« (Salovey 1990). Menschen haben die Tendenz, Gutes zu tun, wenn sie in guter Stimmung sind. Glück gibt einem nicht nur ein gutes Gefühl, sondern es bewirkt auch etwas Gutes. (Etwas Gutes zu tun, gibt einem auch ein gutes Gefühl; hier handelt es sich um ein Phänomen, das von einigen Glückstrainern und Glückspädagogen nutzbar
Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes« (feel-good, do-good phenomenon): die Tendenz von Menschen, hilfreich zu sein, wenn sie bereits in einer guten Stimmung sind.
Kapitel 13 · Emotion
Wie Menschen mit Rückschlägen umgehen Anna Putt aus den südlichen Midlands in England (hier mit ihrem Mann Des abgebildet) erlitt 7 Wochen nach ihrer Hochzeit im Jahre 1994 einen Schlaganfall im Bereich des Hirnstamms, der zu einem sog. »Locked-In-Syndrom« führte. Monate danach erinnerte sie sich: »Ich war vom Hals herab gelähmt und nicht imstande zu kommunizieren. Das war eine sehr, sehr erschreckende Zeit. Aber aufgrund der Ermutigung durch die Familie und Freunde, aufgrund meines Glaubens und durch die Unterstützung vonseiten der Mediziner versuchte ich eine positive Einstellung zu bewahren.« In den folgenden 3 Jahren wurde Anna Putt in die Lage versetzt, zu »sprechen« (durch Nicken angesichts von Buchstaben), einen elektrischen Rollstuhl mit dem Kopf zu steuern und einen Computer zu nutzen (durch Nicken, wenn sie eine Brille trug, mit der sie einen Cursor lenken konnte). Trotz ihrer Lähmung berichtet sie: »Mir macht es Spaß, an die frische Luft zu gehen. Mein Motto ist: ›Schau nicht zurück, beweg dich vorwärts.‹ Gott würde nicht wollen, dass ich aufhöre, es zu versuchen, und ich habe nicht die Absicht, das zu tun. Leben ist das, was man daraus macht.«
Subjektives Wohlbefinden: selbst wahrgenommenes Gefühl des Glücks im Leben oder der Zufriedenheit mit dem Leben. Wird zusammen mit Maßen des objektiven Wohlbefindens verwendet (beispielsweise körperliche und ökonomische Faktoren), um die Lebensqualität eines Menschen zu erfassen.
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gemacht wird: Sie weisen Menschen den Auftrag zu, täglich einen »zufälligen Akt der Nettigkeit« auszuführen und die Ergebnisse zu registrieren.) Trotz der Bedeutung des Glücks beschäftigte sich die psychologische Forschung in ihrer Geschichte meist mit negativen Gefühlen. In den »Psychological Abstracts« (einem Nachschlagewerk zur psychologischen Literatur) sind für den Zeitraum von 1887 bis heute 12.876 Artikel zum Thema Wut und Ärger, 82.297 zu Angst und 103.840 zu Depression aufgeführt. Auf 17 dieser Artikel kommt nur einer, der sich mit einem der positiven Themen Freude (1450), Zufriedenheit im Leben (5263) oder Glück (4727) befasst. Es gibt natürlich viele gute Gründe, warum man sich auf die negativen Emotionen konzentriert; sie können unser Leben unerträglich machen und uns dazu bringen, Hilfe zu suchen. Aber heutzutage interessieren sich Forscher zunehmend für das subjektive Wohlbefinden, das einerseits als Glücksgefühl (manchmal definiert als höherer Anteil der guten im Verhältnis zu den schlechten Gefühlen), andererseits als ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Leben erfasst wird. Eine neue »positive Psychologie« entsteht (7 Kap. 14). Mit diesem Thema verhält es sich wie mit vielen anderen: Was immer Psychologen herausfinden, wird von anderen widerlegt. Wir sind mit vielen widersprüchlichen Ratschlägen zum Glücklichwerden aufgewachsen: Alles ginge darauf zurück, die Wahrheit zu erkennen – oder sich Illusionen zu bewahren; man solle in der Gegenwart leben – oder für die Zukunft; man solle Beziehungen zu Menschen haben – oder in friedlicher Einsamkeit leben (Tatarkiewicz 1976). Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen, was die Aufgabe der Wissenschaft klar werden lässt: herauszufinden, welche dieser konkurrierenden Ideen wirklich zum Ziel führen. Wer versucht, die tatsächlichen Faktoren für Glück zu finden, muss suchen und forschen.
Das kurze Leben der emotionalen Hochs und Tiefs Ziel 18: Diskutieren Sie die Wechselhaftigkeit von Emotionen, bezogen auf einen Tag und langfristig.
Bei ihrer Glücksforschung untersuchten die Psychologen Faktoren, die einerseits etwas mit unseren momentanen Stimmungslagen zu tun haben und andererseits mit lang anhaltender Lebenszufriedenheit. Als Watson (2000) und Kahneman et al. (2004) den Wechsel der Stimmungslagen untersuchten, entdeckten sie, dass positive Emotionen meist vom frühen bis zum mittleren Teil des Tages zunehmen (. Abb. 13.17). Beschäftigt man sich mit dem, was Menschen über ihre täglichen Launen berichten, zeigt sich, dass belastende Ereignisse, wie ein Streit, ein krankes Kind oder ein Problem mit dem Auto für schlechte Laune sorgen. Das ist wirklich keine Überraschung. Aber schon am nächsten Tag verschwindet die schlechte Laune meist (Affleck et al. 1994; Bolger et al. 1989; Stone u. Neale 1984). Menschen scheinen sich von einem schlechten Tag sogar so weit zu erholen, dass ihre Stimmung am nächsten Tag besser ist als gewöhnlich. Wenn Sie einmal schlecht gelaunt sind, können Sie sich auch darauf verlassen, dass es Ihnen in einem oder zwei Tagen besser geht? Und fällt es Ihnen auch schwer, bei guter Laune zu bleiben? Über einen längeren Zeitraum hinweg scheinen sich unsere emotionalen Hochs und Tiefs auszugleichen.
Courtesy of Anna Putt
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577 13.4 · Emotion und Erfahrung
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. Abb. 13.17. Stimmungsveränderungen im Tagesablauf Als der Psychologe Watson (2000) eine Stichprobe von 4500 Stimmungsberichten von 150 Menschen sammelte, fand er dieses Muster, nach dem sich das durchschnittliche Niveau positiver und negativer Emotionen verändert
Außer einer langen Trauerphase nach dem Tod eines geliebten Menschen oder einer anhaltenden Ängstlichkeit nach einem Trauma (wie z. B. Kindesmissbrauch, einer Vergewaltigung oder den Schrecken des Krieges) gibt es kaum Tragödien, die zu anhaltenden Depressionen führen. Zu erfahren, dass man HIV-positiv ist, ist niederschmetternd. Aber nach 5 Wochen, in denen sich die Patienten an die Diagnose gewöhnen konnten, fühlten sie sich weniger verstört, als sie erwartet hatten (Sieff et al. 1999). Menschen, die wegen einer Nierenschädigung zur Dialyse müssen, berichten, dass sie trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung oft eine Zeit lang genauso glücklich sind wie Gesunde (Riis et al. 2005). Menschen, die erblinden oder gelähmt sind, erholen sich häufig wieder und unterliegen dann, was das Glücksniveau angeht, den normalen täglichen Schwankungen (Gerhart et al. 1994; Myers 1993). In einer deutschen Stichprobe mit Menschen, die erheblich behindert waren durch ALS (amyotrophische Lateralsklerose; eine fortschreitende neurologische Erkrankung, die zu einer zunehmenden Lähmung führt), stuften erstaunliche 85% ihre Lebensqualität als »befriedigend«, »gut« oder »sehr gut« ein. Außerdem wurden ihre Einstufungen nicht sehr stark davon beeinflusst, ob sie Beatmungsgeräte oder Nahrungssonden benötigten oder nicht (Kübler et al. 2005). »Wenn man querschnittsgelähmt ist«, erklärt Kahneman (2005), »wird man allmählich beginnen, an andere Dinge zu denken; und je länger man an andere Dinge denkt, desto weniger erbärmlich geht es einem.« Eine schwerwiegende Behinderung führt oft dazu, dass die Betroffenen etwas weniger glücklich sind als der Durchschnittsmensch (Lucas 2005). Aber den Berichten nach geben sie an, sehr viel glücklicher zu sein, als Menschen mit einem gesunden Körper, aber einer Depression (Schwartz u. Estrin 2004; Kübler et al. in Druck). Selbst Patienten, die in einem bewegungslosen Körper gefangen sind, »wollen nur in seltenen Fällen sterben«, berichten Smith u. Delargy (2005), was »einer beliebten Fehlvorstellung widerspricht, dass derartige Patienten besser dran wären, wenn sie tot wären«. In weniger lebensbedrohlichen Kontexten setzt sich das fort. Universitätsangehörige, die sich auf eine Dauerstelle bewerben, gehen häufig davon aus, dass ihr Leben zerstört sei, wenn sie abgelehnt würden. Tatsächlich ist es aber so, dass nach 5–10 Jahren die damals Abgelehnten kaum weniger glücklich als die Erfolgreichen sind (Gilbert et al. 1998). Das gilt auch für das Ende von Liebesbeziehungen, das zu einem niederschmetternden Gefühl führt. Die überraschende Wahrheit: Wir überschätzen die Dauerhaftigkeit von Emotionen und unterschätzen unsere Fähigkeit, uns anzupassen.
»Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist die Freude.« Psalm 30, Vers 6
Wohlstand und Wohlbefinden Ziel 19: Fassen Sie die Befunde über den Zusammenhang zwischen Reichtum und Glück zusammen.
Die emotionale Wirkung positiver Ereignisse hält nicht so lange an, wie wir vielleicht erwarten. Wenn die Euphorie des Erfolgs erst einmal vorüber ist, sind Lottogewinner genauso glücklich wie vor dem Gewinn (Brickman et al. 1978). Andere Forschungsergebnisse bestätigen, dass zum Glücklichsein mehr gehört als Reichtum. Viele Menschen (darunter fast alle Deutschen und die meisten amerikanischen Studienanfänger, wie in . Abb. 13.18 dargestellt) glauben, sie wären glücklicher, wenn sie mehr Geld hätten (Csikszentmihalyi 1999).
»Ich habe eine ›Lebensregel aus einem Glückskeks‹, auf die ich sehr stolz bin: Wenn Sie einmal darüber nachdenken, ist nichts im Leben wirklich so bedeutsam, wie Sie meinen. Deshalb wird Sie nichts so glücklich machen, wie Sie meinen.« Der Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman in einem Gallup-Interview, »What were they thinking« (2005)
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Kapitel 13 · Emotion
. Abb. 13.18. Wie sich der Materialismus von Erstsemestern verändert Von 1970 bis weit in die 1980er hinein durchgeführte Umfragen unter mehr als 200.000 Studienanfängern amerikanischer Colleges zeigen einen wachsenden Wunsch nach Wohlstand. (Aus den Umfragen »The American Freshman«, UCLA 1966–2002)
Sie wären es wahrscheinlich auch – für eine gewisse Zeit. Bedenken Sie: 4 In den meisten Überflussgesellschaften sind Menschen mit viel Geld etwas glücklicher als die, die damit kämpfen, ihre Grundbedürfnisse befriedigen zu können (Di Tella et al. 2001) 4 Menschen in reichen Ländern sind ebenfalls etwas glücklicher als solche in armen Ländern (Steel u. Ones 2002). 4 Menschen, die gerade einen unerwarteten Geldsegen durch einen Lotteriegewinn, eine Erbschaft oder durch einen Konjunkturaufschwung erhalten haben, sind typischerweise glücklicher (Diener u. Oishi 2000; Gardner u. Oswald 2001). Einen noch größeren emotionalen Einfluss hat es, wenn man Geld verliert (Hobfoll et al. 2003; Kahneman u. Tversky 1979). Das veranschaulicht ein grundlegendes Prinzip, merken Baumeister et al. (2001) an: »Schlecht ist stärker als gut.« Verluste spielen eine größere Rolle als Gewinne, böse Worte haben einen stärkeren Nachhall als höfliche, einen schlechten Ruf bekommt man leichter als einen guten, und Schmerz ruft mehr Elend hervor, als Gesundheit Freude bereitet.
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»Die heutigen Australier sind dreimal reicher, als es ihre Eltern und Großeltern in der 1950er Jahren waren. Aber sie sind nicht glücklicher.« Ein Manifest zum Wohlbefinden (2005)
Längerfristig gesehen beeinflusst größerer Reichtum jedoch die Glücksgefühle eines Menschen kaum. Sogar in den Slums von Kalkutta oder Karatschi sind Menschen »zufriedener, als man annehmen könnte« (Biswas-Diener u. Diener 2001; Suhail u. Chaudry 2004). Reichtum ist wie Gesundheit: Wenn man ihn nicht hat, ist man unglücklich, doch reich zu sein, ist keine Garantie für Glück. Wenn man arm aufwächst, hat man ein erhöhtes Risiko für bestimmte Probleme; aber das trifft auch auf die zu, die reich aufwachsen. Die Kinder des Überflusses haben ein höheres Risiko für Drogenmissbrauch, Angst und Depression (Luthar u. Latendresse 2005). Wichtiger als das Geld ist, wie man sich mit dem fühlt, was man hat (unter der Voraussetzung, dass man sich den Grundbedarf für das Leben in einem Gefühl der Sicherheit leisten kann). Glücklicher sind diejenigen, die in einem Gefühl der Dankbarkeit leben (oder die ihre Dankbarkeit dadurch weiterentwickeln, dass sie jeden Tag aufschreiben, wofür sie dankbar sind) (McCullough et al. 2004; Watkins 2004). Die meisten Menschen sind sich darin einig, dass man mit Geld kein Glück kaufen kann, meinen aber trotzdem, dass ein wenig mehr Geld sie ein wenig glücklicher, sicherer und zufriedener machen würde. Wächst im Lauf der Zeit unser Glücksgefühl also Schritt für Schritt mit unserer monatlichen Gehaltsüberweisung? Wenn die australische Regierung ein Wachstum von 4% im Jahr erreicht, wären die Australier in 20 Jahren doppelt so reich wie heute, wie Eckersley (2001) bemerkte, »und 10-mal reicher als vor 100 Jahren. Können wir sicher sein, dass dieser wachsende Wohlstand auch zu unserem sozialen und persönlichen Wohlbefinden beiträgt?« Nein, das können wir nicht. In den letzten 4 Jahrzehnten hat sich die Kaufkraft der Bürger in den westlichen Ländern mehr als verdoppelt. Konnte man mit diesem mehr als doppelt so großen Reichtum, der es uns ermöglicht, pro Person mehr als doppelt so viele Autos zu besitzen – von iPods, Laptops und Kamera-Handys wollen wir ja gar nicht reden – auch Glück kaufen? Sind Menschen glücklicher, die sich am Überfluss des reichen Westens erfreuen, wo auf Knopfdruck Häuser auf genau die gewünschte Temperatur erwärmt oder gekühlt werden können, klares Wasser für eine warme Dusche oder einen kühlen Drink auf Wunsch aus den Leitungen fließt und
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. Abb. 13.19. Macht Geld glücklich? Ganz bestimmt kann man mit Geld verschiedenste Sorgen und Kümmernisse vermeiden. Doch obwohl sich die Kaufkraft seit den 1950er Jahren fast verdreifacht hat, sagt der durchschnittliche Amerikaner nicht, dass er glücklicher ist. (Glücksangaben aus Umfragen des »National Opinion Research Center«; Einkommensangaben aus den »Historical Statistics of the United States« und »Economic Indicators«)
unser ausreichend vorhandenes Essen in der Mikrowelle erwärmt werden kann? Wie . Abb. 13.19 zeigt, ist der heute lebende Durchschnittsamerikaner zwar sicherlich reicher, aber kein bisschen glücklicher. 1957 sagten etwa 35% der Menschen, sie seien »sehr glücklich«, praktisch genauso viele wie die knapp 34% im Jahr 2004. Nach den Statistiken zu urteilen, die aussagen, dass sich in den USA die Scheidungsrate verdoppelt hat, die Rate der Suizide im Teenageralter mehr als verdoppelt hat und sich Depressionen ständig weiter ausbreiten, geht es dem heutigen Amerikaner sogar schlechter. Das gilt auch für die europäischen Länder, Australien und Japan: In diesen Ländern sind die Bürger besser ernährt, genießen Gesundheitsvorsorge, Bildung und Wissenschaft und sind etwas glücklicher als die Bürger ärmerer Länder (Diener u. Biswas-Diener 2002; Eckersley 2000). Trotzdem folgte auf das steigende Realeinkommen der Menschen kein steigendes Glücksgefühl. Derartige Ergebnisse sollten in den modernen Materialismus wie eine Bombe einschlagen. ! Das ökonomische Wachstum in reichen Ländern hat allem Anschein nach nicht zu einer wahrnehmbaren Steigerung der Moral oder des sozialen Wohlbefindens geführt.
Das Phänomen, dass die Menschen reicher, aber nicht glücklicher sind, gibt es sogar in China, das im Jahrzehnt nach 1994 einen enormen wirtschaftlichen Fortschritt erlebt hat. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen hat sich verdoppelt. Dadurch wuchs die Anzahl der Haushalte mit Farbfernseher von 40 auf 82%, derer mit einem Festnetztelefonanschluss von 10 auf 63% und derer mit einem Handy von 0 auf 48%. Trotz dieses dramatischen Wachstums in Bezug auf Einkommen und Konsum erbrachte eine landesweite Gallup-Umfrage, dass der Anteil der Chinesen, die Zufriedenheit mit ihrem Leben zum Ausdruck bringen, gleichzeitig zurückgegangen ist (Burkholder 2005a, b). Zudem empfanden die besser gestellten Chinesen in den Großstädten eher Unzufriedenheit als die ärmeren Chinesen vom Lande. Und nach dem neuesten World Values Survey, der auch die subjektive Einschätzung des Wohlbefindens in 82 Ländern erfasst, waren die beiden glücklichsten – Puerto Rico und Mexiko – weit davon entfernt, die reichsten zu sein (obwohl die unglücklichsten, meist in Osteuropa, unter wirtschaftlichen Belastungen litten; . Tab. 13.1).
»Die Amerikaner sagen, dass Geld kein Glück bringt. Aber es hilft Ihnen, im Elend ein sorgenfreies Leben zu führen.« Farah Dibah Pahlewi, Witwe des reichen Schahs von Persien im Exil (2004)
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Kapitel 13 · Emotion
. Tabelle 13.1. Subjektives Wohlbefinden (Kombination aus Glück und Zufriedenheit) in 82 Gesellschaften nach Inglehart et al. (2004) (Die Vereinigten Staaten und Australien waren nahezu gleichauf auf dem 15. Platz. Deutschland belegte den 33. Platz.)
Die oberen 10
Die unteren 10
1. Puerto Rico
73. Bulgarien
2. Mexiko
74. Weißrussland
3. Dänemark
75. Georgien
4. Irland
76. Rumänien
5. Island
77. Moldawien
6. Schweiz
78. Russland
7. Nordirland
79. Armenien
8. Kolumbien
80. Ukraine
9. Niederlande
81. Simbabwe
10. Kanada
82. Indonesien
Gleichermaßen interessant ist, dass die, die am stärksten nach Reichtum streben, eher unzufrieden mit ihrem Leben sind, ein Befund, der »sich in jeder Kultur zeigt, mit der ich mich näher beschäftigt habe«, berichtet Ryan (1999). Das gilt besonders für Menschen, die unbedingt an Geld gelangen wollen, um sich selbst etwas zu beweisen, um Macht zu erlangen oder um anzugeben, statt damit ihre Familie zu unterstützen (Srivastava et al. 2001). Ryans Mitarbeiter Kasser (2000, 2002) schließt aus den Untersuchungen, dass Menschen, die sich im Gegensatz dazu an Werten wie »Vertrautheit, persönliches Wachstum und Beitrag für die Allgemeinheit« orientieren, eine höhere Lebensqualität haben. Damit wird ein früheres Ergebnis von Perkins (1991) repliziert: Unter 800 Kollegen, die er befragte, bezeichneten sich die, die ein hohes Einkommen, beruflichen Erfolg und Prestige festen Freundschaften und einer Ehe vorzogen, doppelt so häufig wie ihre anders denkenden Studienkollegen als »ziemlich« oder »sehr« unglücklich. Eine ähnliche Korrelation zeigt sich bei der Befragung von 7167 Studenten in 41 Ländern. Diejenigen, für die Liebe wichtiger ist als Geld, bezeichnen sich selbst als zufriedener mit ihrem Leben als ihre »geldgierigen« Altersgenossen (. Abb. 13.20). Wenn wir sowohl reicher als auch gesünder sind, als es unsere Großeltern in unserem Alter waren, sollten sich dann unseren nationalen Prioritäten nicht darauf konzentrieren, für ein besseres psychisches Wohlbefinden zu sorgen? In Bhutan sagte König Jigme Singye Wangchuk: »Das
13 . Abb. 13. 20. Wertvorstellungen und Lebenszufriedenheit Weltweit geben Studierende mit einer hohen Lebenszufriedenheit der Liebe eine höhere Priorität als dem Wohlstand. (Aus Diener u. Oishi 2000)
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Bruttosozialglück ist wichtiger als das Bruttosozialprodukt.« Der Premierminister von Bhutan gründet seinen Jahresbericht auf die 4 Säulen des Fortschritts in Richtung auf nationales Glück: »Die Förderung einer für jeden gleichen und nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklung, die Erhaltung und Förderung kultureller Werte, die Bewahrung der natürlichen Umwelt und die Einrichtung einer guten Regierungsführung« (Esty 2004). Diener u. Seligman (2004) haben Methoden vorgeschlagen, mit denen das U.S. Census Bureau und andere landesweite Organisationen das nationale Wohlbefinden erfassen könnten. Sie merken an: »Wenn ein ausgeprägtes Wohlbefinden das allumfassende Ziel aller Nationen ist, sind nationale Indikatoren für Wohlbefinden von wesentlicher Bedeutung, um den Einfluss der politischen Aktivitäten von Nationen und Konzernen zu bewerten.«
Zwei psychologische Prinzipien: Anpassung und Vergleich Ziel 20: Beschreiben Sie, in welcher Form Anpassung und relative Deprivation einen Einfluss darauf haben, wie wir unsere eigene Leistung bewerten.
Zwei psychologische Prinzipien bieten eine Erklärung dafür, warum niemand, der nicht wirklich arm ist, für längere Zeit durch eine Steigerung seines Budgets glücklicher wird und warum unsere Emotionen anscheinend an Gummibändern hängen, die uns aus allen Höhen und Tiefen zurückschnellen lassen. Auf ihre eigene Art und Weise erklären beide Prinzipien, dass Glück etwas Relatives ist.
»Kein Glück bleibt lange bestehen.« Seneca (»Agamemnon«, 60 n. Chr.)
Glück und Vorerfahrung Das Phänomen des Anpassungsniveaus beschreibt unsere Tendenz, verschiedene Reize in ein Verhältnis zu denen zu setzen und zu bewerten, die wir bereits kennen. Helson (1898–1977) erklärte, dass wir unseren »subjektiven Nullpunkt« – also den Punkt, an dem sich Geräusche weder laut noch leise anhören, Temperaturen weder heiß noch kalt und Ereignisse weder positiv noch negativ sind – aufgrund unserer Erfahrung festlegen. Von diesem Niveau aus registrieren wir Abweichungen nach oben und unten und reagieren darauf. Wenn sich unser momentaner Zustand – unser Einkommen, unsere Durchschnittsnote oder unser soziales Prestige – verbessert, fühlen wir uns für einen Augenblick glücklicher. Dann aber passen wir uns an die neue Situation an, wir gewöhnen uns daran und finden bald darauf etwas noch Besseres, was uns noch glücklicher machen könnte. Ich erinnere mich an die Aufregung in meiner Kindheit, als meine Familie und ich zum ersten Mal mit dem neuen Schwarz-Weiß-Fernsehgerät mit Dreißig-Zentimeter-Röhre fernsahen. Wenn heute bei meinem doppelt so großen Fernseher die Farbe ausfällt, fehlt mir etwas. Ich habe mich dem höheren Standard angepasst und beurteile das als negativ, was früher einmal positiv war.
Anpassungsniveau (adaptation level): Unsere Tendenz, uns ein Urteil (über Töne, Lichter oder Einkommen) aufgrund eines neutralen Niveaus zu bilden, das durch unsere Vorerfahrung bestimmt wird.
»Immer währender Genuss nutzt sich ab. Wir brauchen immer wieder etwas Neues, was wir genießen können. Wenn wir ein Bedürfnis ständig befriedigen können, genießen wir dies nicht mehr.« Der niederländische Psychologe Nico Frijda (1988)
! Zufriedenheit und Unzufriedenheit, Erfolg und Versagen – all das ist relativ zu unserer persönlichen Erfahrung. Zufriedenheit hat, wie Ryan (1999) sagte, »eine kurze Halbwertszeit«.
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Könnten wir uns also jemals ein beständiges soziales Paradies schaffen? Der Sozialpsychologe Campbell (1975) verneinte dies: Würden Sie morgen in Utopia aufwachen – vielleicht in einer Welt ohne Steuern, ohne Krankheiten, mit perfekten Noten und einem Menschen, der Sie bedingungslos liebt – wären Sie eine Zeit lang euphorisch glücklich. Aber dann würden Sie allmählich Ihr Anpassungsniveau neu justieren. Es dauert nicht lange, und Sie würden sich wieder freuen (wenn
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Kapitel 13 · Emotion
»Der Geist jedes Menschen kehrt früher oder später in seinen natürlichen und gewohnten Zustand der Gelassenheit zurück. Im Wohlstand greift er nach einer bestimmten Zeit auf diesen Zustand zurück; in der Not erlangt er sie nach einer bestimmten Zeit wieder« Adam Smith, »Theorie der ethischen Gefühle« (1759) »Ich habe auch erfahren, warum Menschen so hart daran arbeiten, Erfolg zu haben: Es liegt daran, dass sie neidisch auf das sind, was die Nachbarn haben. Das ist jedoch sinnlos. Es ist, als jage man den Wind … Es ist besser, nur ein wenig zu haben, dafür aber den Seelenfrieden, als die ganze Zeit über alle Hände mit dem Versuch zu tun zu haben, dass man den Wind einfängt.« Ekklesiastes 4:4
Relative Deprivation: Wahrnehmung, dass es einem selbst schlechter geht als denen, mit denen man sich vergleicht.
»Unsere Armut wurde zu einer Realität. Nicht weil wir weniger hatten, sondern weil unsere Nachbarn mehr hatten.« Will Campbell, »Brother of Dragonfly« (1977)
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»Wenn andre klüger sind als wir, das macht uns selten nur Pläsier, doch die Gewissheit, dass sie dümmer, erfreut fast immer.« Wilhelm Busch
das Erreichte die Erwartungen übersteigt) oder sich schlecht fühlen (wenn Sie nicht bekommen, was Sie haben wollen), ansonsten würden Sie sich eher neutral fühlen. Das erklärt, warum materielle Bedürfnisse nicht zu stillen sind, warum so manches Kind mehr als ein Nintendospiel »braucht«. Wenn Britney Spears keine Fans mehr hat und wenn sich Paris Hilton schon alle Verrückheiten geleistet hat, läuft das Anpassungsniveau Amok. Wer nach Glück strebt, indem er materielle Wünsche zu stillen sucht, braucht immer mehr, als er hat (und das bedeutet, dass wir Raubbau an den Ressourcen der Erde betreiben). Am Ende der »Chronik von Narnia« beschreibt Lewis den Himmel als einen Platz, wo es immer noch weitere gute Dinge gibt und wo das Leben eine unendliche Geschichte ist, bei der »jedes Kapitel besser ist als das vorherige«. Hier auf Erden schließt das unvermeidliche Auf und Ab des Lebens ein nicht endendes Hochgefühl aus.
Glück und das, was die anderen erreicht haben Ob wir uns glücklich fühlen oder nicht, hängt nicht allein von unseren Vorerfahrungen ab, sondern auch von unseren Vergleichen mit anderen Menschen (Lyubomirsky 2001). Wir vergleichen uns ständig mit anderen, sowohl mit jenen, denen es besser geht als uns (Aufwärtsvergleich), als auch mit jenen, denen es schlechter geht (Abwärtsvergleich). Und ob wir uns gut oder schlecht fühlen, hängt davon ab, mit welcher dieser Gruppen wir uns vergleichen. Begriffsstutzig oder schwerfällig sind wir nur dann, wenn die anderen geistig rege oder agil sind. Zwei Beispiele: Um die Verdrossenheit zu erklären, die Soldaten der US-Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs äußerten, formulierten die Forscher das Konzept der relativen Deprivation – des Gefühls, dass es uns schlechter geht als anderen, mit denen wir uns vergleichen. Trotz einer recht hohen Beförderungsrate in ihrer Gruppe fühlten sich viele Soldaten bei der Beförderung übergangen (Merton u. Kitt 1950). Offenbar hatte die Häufigkeit, mit der die Soldaten die Beförderung von anderen miterlebt hatten, ihre Erwartungen größer werden lassen. Und wenn die Erwartungen größer sind als die wirklichen Erfolge, kommt es zu Enttäuschung. Der 252-Mio.Dollar-Vertrag machte den Baseballspieler Alex Rodriguez zeitweilig bestimmt glücklich; er führte jedoch auch dazu, dass die Zufriedenheit anderer Spieler mit ihren neunstelligen, aber geringer dotierten Verträgen abnahm. Entsprechend hat der wirtschaftliche Aufschwung, der einige Chinesen in den Großstädten sehr reich werden ließ, möglicherweise bei anderen ein Gefühl der relativen Deprivation aufkommen lassen. Solche Vergleiche erklären, warum die Menschen in der Mittel- und Oberklasse eines bestimmten Landes, die sich mit ihren ärmeren Mitbürgern vergleichen können, etwas zufriedener mit ihrem Leben sind, als die vom Glück weniger bedachten. Doch ab einem bestimmten Standard führt eine weitere Vermehrung des Besitzes nicht mehr dazu, dass die Besitzenden noch glücklicher werden. Warum? Weil sich die Menschen, die die Erfolgsleiter hinaufklettern, meist mit denen vergleichen, die auf derselben Stufe wie sie oder auf einer noch höheren stehen (Gruder 1977; Suls u. Tesch 1978). »Bettler beneiden nicht die Millionäre, sondern andere Bettler, die erfolgreicher sind als sie selbst«, bemerkte Bertrand Russell (1930, S. 90). »Napoleon war neidisch auf Cäsar, Cäsar auf Alexander den Großen, und Alexander, wage ich zu behaupten, auf Herkules, den es wahrscheinlich nie gegeben hat. Daher kann man nur durch Erfolg dem Neid nicht entkommen; denn in der Geschichte oder im Reich der Mythen wird es immer wieder eine Person geben, die sogar noch erfolgreicher war als man selbst« (S. 68–69). Vergleichen wir uns also nur mit denen, denen es besser geht, werden wir neidisch. Doch unsere Zufriedenheit wird zunehmen, wenn wir das berücksichtigen, womit wir gesegnet sind, und uns mit denen vergleichen, die weniger haben. Dermer et al. (1979) demonstrierten dies, als sie Frauen an der Universität von Wisconsin-Milwaukee baten, die Benachteiligungen und das Leiden anderer zu untersuchen. Nachdem die Frauen eine lebendige Darstellung dessen gesehen hatten, wie entbehrungsreich das Leben in Milwaukee im Jahr 1900 gewesen war, oder nachdem sie sich verschiedene persönliche Tragödien vorgestellt und sie niedergeschrieben hatten, z. B. durch einen Brand entstellt zu werden, drückten die Frauen eine größere Zufriedenheit mit ihrem Leben aus. Ähnlich geht es leicht depressiven Patienten, die über Menschen mit einer noch stärkeren Depression lesen, und sich daraufhin etwas besser fühlen (Gibbons 1986). »Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte«, heißt es in einem persischen Sprichwort, »bis ich auf einen Mann stieß, der keine Füße hatte.«
583 13.4 · Emotion und Erfahrung
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Prädiktoren für das Glücklichsein
Wenn unsere Emotionen, wie beim Phänomen des Anpassungsniveaus angenommen, immer um einen subjektiven Nullpunkt schwanken, warum scheinen dann manche Menschen so voller Freude zu sein, während andere Tag für Tag schlecht gelaunt sind? Wie kommt es, dass Glücklichsein nicht der Normalzustand für alle Menschen ist? Unterschiedliche Kulturen haben verschiedene Antworten darauf. In individualistischen westlichen Kulturen hat das Selbstwertgefühl mehr Bedeutung als in den mehr auf die Gemeinschaft ausgerichteten Kulturen, bei denen es wichtiger ist, sozial akzeptiert zu sein (Diener et al. 2003). Wie die Forschung zeigt, scheint es aber in vielen Kulturen allgemeingültige Faktoren für das Glücklichsein zu geben (. Tabelle 13.2). ! Obwohl Aufgaben und Beziehungen einen Einfluss darauf haben, ob wir glücklich sind, haben auch unsere genetischen Anlagen eine wichtige Bedeutung.
Aus einer Studie mit 254 ein- und zweieiigen Zwillingen von Lykken u. Tellegen (1996) lässt sich schließen, dass die Hälfte der interindividuellen Unterschiede im Glücklichsein durch genetische Einflüsse erklärt werden kann. Sogar getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sind oft in ähnlichem Maß glücklich. Je nach unseren Erwartungen und Erfahrungen, die wir in letzter Zeit gemacht haben, scheint sich unser Glücksgefühl um einen individuellen »Glücks-Sollwert« zu bewegen; er disponiert manche Menschen dazu, immer etwas glücklicher zu sein, und andere, etwas trauriger und negativer eingestellt zu sein. Aber als Forscher Tausende von lebenden Personen über 2 Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich begleiteten, beobachteten sie, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen nichts Feststehendes ist. Die Zufriedenheit kann größer oder kleiner werden; und Glück kann durch Faktoren beeinflusst werden, durch die wir selbst es in der Hand haben, ob wir glücklich sind oder nicht (7 Unter der Lupe: »Wie man glücklicher wird«). Alle Studien über Glücklichsein erinnern uns daran, dass bei Emotionen physiologische Aktivierung (vor allem in der linken Hirnhälfte), Ausdrucksverhalten (breites Lächeln) und bewusste Erfahrung – und dazu gehören auch Gedanken (Ich hatte mich so gut auf den Test vorbereitet) und Gefühle (Stolz, Zufriedenheit) – zusammenkommen. Angst, Wut, Glücklichsein und so vieles anderes haben eines gemeinsam: Es handelt sich um biopsychosoziale Phänomene. Unsere genetischen Prädispositionen, unsere Hirnaktivität, unsere Einstellungen, Erfahrungen, Beziehungen und Kulturen – all dies zusammen formt uns.
. Tabelle 13.2. Glück ist … (Nach DeNeve u. Cooper 1998; Diener et al. 2003; Lucas et al. 2004; Myers 1993, 2000; Myers u. Diener 1995, 1996)
Forschungsergebnisse zeigen, dass glückliche Menschen eher …
Jedoch scheint das Glücklichsein nicht mit anderen Faktoren zusammenzuhängen, wie …
4 Ein ausgeprägteres Selbstwertgefühl haben (in individualistischen Staaten)
4 Alter
4 Optimistisch sind, aus sich herausgehen und liebenswürdig sind
4 Geschlecht (Frauen sind häufiger niedergeschlagen, aber auch häufiger fröhlich)
4 Enge Freundschaften haben oder glücklich verheiratet sind
4 Bildungsgrad
4 Eine Arbeitsstelle und Hobbys haben, bei denen sie ihre Fähigkeiten einsetzen können
4 Elternschaft (ob man Kinder hat oder nicht)
4 Einen Sinn stiftenden religiösen Glauben haben
4 Körperliche Attraktivität
4 Gut schlafen und Sport treiben
C. Styrsky
Ziel 21: Fassen Sie die Methoden zusammen, mit denen wir unser eigenes Glücksniveau beeinflussen können.
»Ich habe mein Haus verschenkt, meine Aktien Greenpeace überschrieben und meiner Schwiegermutter die Meinung gesagt – und wann werde ich jetzt glücklich?!«
Schüler vergleichen die eigene Leistung mit der Leistung anderer. Dies erklärt auch, warum Schüler mit einem bestimmten Grad an schulischen Fähigkeiten ein ausgeprägteres Selbstkonzept haben, wenn sie eine Schule besuchen, die vor allem von Schülern mit geringeren Fähigkeiten besucht wird (Marsh u. Parker 1984). Wenn Sie im Gymnasium zu den besten Schülern Ihres Jahrgangs gehörten, wäre es möglich, dass Sie sich plötzlich nicht mehr so gut fühlen, wenn Sie auf der Universität ausschließlich mit Kommilitonen zusammen sind, die auch die Besten in der Schule waren. Studien in Zoos zeigen, dass Glücklichsein bei Schimpansen (beurteilt von 200 Zooangestellten) auch genetisch beeinflusst ist (Weiss et al. 2000, 2002).
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Kapitel 13 · Emotion
Unter der Lupe
Wie man glücklicher wird Glücklichsein ist – wie der Cholesterinspiegel – ein genetisch determiniertes Persönlichkeitsmerkmal. Wie wir auf unseren Cholesterinspiegel durch Ernährung und Sport Einfluss nehmen können, sind wir bis zu einem gewissen Grad auch in der Lage, unser Glücksgefühl durch unser persönliches Verhalten zu kontrollieren. Hier sind einige auf Forschungsergebnissen beruhende Vorschläge, wie Sie Ihre eigene Stimmung verbessern und mehr Lebenszufriedenheit erreichen können (Myers 1993): 1. Machen Sie sich klar, dass anhaltendes Glück nicht von finanziellem Erfolg abhängt. Menschen passen sich an neue Situationen an – sogar an Reichtum und an eine Behinderung. Reichtum ist also wie Gesundheit: Es bereitet Kummer, wenn man ihn nicht hat; wenn er aber vorhanden ist, dann ist er – wie alles, wonach wir uns sehnen – kein Garant für Glück. 2. Behalten Sie die Entscheidungsfreiheit über Ihre Zeit. Glückliche Menschen haben das Gefühl, ihr Leben im Griff zu haben. Dabei hilft es ihnen, selbst darüber zu entscheiden, wie sie ihre Zeit verwenden. Es ist sinnvoll, sich selbst Ziele zu setzen und sie wiederum in Teilziele in Bezug auf das zu unterteilen, was man an diesem Tag erreichen möchte. Obwohl wir häufig überschätzen, wie viel wir an einem bestimmtenTag erreichen können (was uns unzufrieden macht), unterschätzen wir i. Allg., wie viel wir in einem Jahr erreichen können, wenn wir an jedem einzelnen Tag etwas schaffen. 3. Handeln Sie, als wären Sie glücklich. Wir können uns manchmal durch unsere Handlungen in einen anderen emotionalen Zustand bringen. Bringt man Menschen dazu, ihre Gesichtsmuskeln so anzuspannen, dass sie lächeln, fühlen sie sich besser; wenn sie griesgrämig schauen, knurrt die Welt zurück. Also setzen Sie ein fröhliches Gesicht auf. Reden Sie, als ob Sie ein positives Selbstwertgefühl hätten, als ob Sie optimistisch und extravertiert wären. Die Bewegungen nachzumachen, kann durch Rückwirkung die Emotionen auslösen. 4. Suchen Sie sich eine Arbeit und Hobbys, bei denen Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen können. Glückliche Menschen erleben oft ein »Flow«-Gefühl, also eine völlige Hingabe an eine Herausforderung,
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die sie jedoch nicht überfordert. Sehr teure Formen der Freizeitgestaltung (auf einer Yacht sitzen) liefern häufig weniger Flow-Erleben als Gartenarbeit, Zeit mit Freunden oder handwerkliche Arbeiten. Schwimmen Sie auf der »Fitnesswelle« mit. Eine zunehmende Anzahl von Studien zeigt, dass Aerobic nicht nur für Gesundheit und Kraft sorgt, sondern auch leichte Depressionen und Ängstlichkeit verringert. Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper. Schlafen Sie so viel, wie Ihr Körper will. Glückliche Menschen leben ein aktives und kraftvolles Leben, doch sie nehmen sich auch Zeit für Erneuerung durch Schlaf und Alleinsein. Viele Menschen leiden an Schlafmangel und sind deshalb müde, unaufmerksam und schlecht gelaunt. Geben Sie engen Beziehungen denVorrang. Enge Freundschaften mit Menschen, die echtes Interesse an Ihnen haben, können Ihnen auch über schwere Zeiten hinweghelfen. Sich jemandem anvertrauen zu können, ist wichtig für Seele und Körper. Entschließen Sie sich, Ihre engsten Beziehungen zu pflegen: Nehmen Sie sie nicht als selbstverständlich hin, seien Sie zu Ihren Freunden so freundlich wie zu anderen Menschen, festigen Sie Ihre Beziehung zueinander, und machen Sie etwas gemeinsam mit ihnen. Blicken Sie über sich hinaus. Helfen Sie in Not geratenen Menschen. Glücklichsein fördert Hilfsbereitschaft: Wer sich gut fühlt, tut Gutes. Aber Gutes zu tun hilft einem auch, sich gut zu fühlen. Seien Sie dankbar. Menschen, die ein Dankbarkeitstagebuch führen, die sich also jedenTag die Zeit nehmen, über die positiven Seiten ihres Lebens nachzudenken (ihre Gesundheit, ihre Freunde und Familie, ihre Freiheit, ihre Bildung, ihren Verstand, die Natur und so weiter) fühlen sich besser. Pflegen Sie Ihr spirituelles Selbst. Viele Menschen fühlen sich durch ihren Glauben in einer religiösen Gemeinschaft aufgehoben, können dadurch ihren Blick nach außen wenden und empfinden ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Hoffnung. Das erklärt, warum Menschen die in Glaubensgemeinschaften aktiv sind, berichten, dass sie glücklicher sind und gut mit Krisen zurechtkommen.
Lernziele Abschnitt 13.4 Emotion und Erfahrung Ziel 13: Nennen Sie mehrere Grundemotionen, und beschreiben Sie 2 Dimensionen, die Psychologen verwenden, um Emotionen voneinander zu unterscheiden. Caroll Izard fand in ihren Forschungsarbeiten 10 Grundemotionen: Freude, Interesse/Begeisterung, Überraschung, Trauer, Wut, Ekel,Verachtung, Angst/Furcht, Scham und Schuld. Einige Psychologen sind der Auffassung, dass Stolz und Liebe ebenfalls Grundemotionen sind. Emotionen können in einem System aus 2 grundlegenden Dimensionen dargestellt werden: Erregung (stark versus gering) und Valenz (angenehm/positiv versus unangenehm/negativ).
Ziel 14: Geben Sie 2 Arten an, wie wir lernen, Angst zu haben. Was wir durch Erfahrung lernen, erklärt die Vielfalt der Ängste der Menschen am besten. Spezifische Ängste lernen wir durch Konditionierung (Assoziieren von Emotionen mit speziellen Situationen) und durch Beobachtungslernen (Zusehen, wie andere Angst als Reaktion auf bestimmte Ereignisse oder äußere Umstände zeigen). Ziel 15: Erörtern Sie einige der biologischen Komponenten der Angst. Wir sind biologisch darauf vorbereitet, einige Ängste (gegenüber Schlangen, Spinnen und Höhen) zu lernen und andere nicht (gegenüber schnellem Fahren, Bomben und Elektrizität). Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle beim Lernen von Angst, bei dem Angst mit bestimmten 6
585 13.4 · Emotion und Erfahrung
Situationen assoziiert wird. Die Amygdala erhält Informationen aus kortikalen Arealen, die Emotionen verarbeiten, und sendet Informationen zu anderen Arealen, die körperliche Symptome der Angst hervorbringen. Die Menschen unterscheiden sich in dem Maß, wie sie furchtsam oder furchtlos sind; und dieser Unterschied ist z. T. genetisch bedingt. Ziel 16: Geben Sie einige verbreitete Auslöser und Folgen von Wut an, und beurteilen Sie den Wert der Katharsishypothese. Enttäuschende und verletzende Handlungen, die wir als absichtlich, ungerechtfertigt und vermeidbar interpretieren, können Wut hervorrufen. Die Katharsishypothese (die Vorstellung, dass wir aggressive Tendenzen abreagieren können, wenn wir negative Energie abführen) wird nicht durch die Forschung gestützt. Dampf ablassen kann uns zeitweilig beruhigen, aber langfristig verringert es die Wut nicht und kann sie vielleicht sogar stärker werden lassen. Mit Wut geht man besser so um, dass man abwartet, bis das Niveau der körperlichen Erregung heruntergeht, man sich beruhigt und seinen Groll auf eine Weise zum Ausdruck bringt, die eher zu Versöhnung als zu Vergeltung führt. Wenn die Versöhnung scheitert, lassen sich durch Versöhnlichkeit die eigene Wut und die damit verbundenen körperlichen Symptome abbauen.
Ziel 19: Fassen Sie die Befunde über den Zusammenhang zwischen Reichtum und Glück zusammen. Auf einem elementaren Niveau trägt Geld dazu bei, Kummer zu vermeiden, indem es eine bessere Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung und ein Studium ermöglicht; doch all dies macht wiederum selbst glücklich. Mehr Wohlstand kann auch kurzfristig glücklicher machen. Langfristig jedoch, so zeigt die Forschung, wird man nicht glücklicher, wenn man individuell und im Vergleich zu anderen Staaten im Reichtum lebt. Ziel 20: Beschreiben Sie, in welcher Form Anpassung und relative Deprivation einen Einfluss darauf haben, wie wir unsere eigene Leistung bewerten. Beim Phänomen des Anpassungsniveaus geht es um unsere Tendenz, Reize (einschließlich materieller Besitztümer) dadurch zu erfassen, dass wir sie in einen Gegensatz zu einem neutralen Niveau stellen, das sich mit unserer Erfahrung wandelt. Das Prinzip der relativen Deprivation besteht in unserer Wahrnehmung, dass es uns schlechter geht als anderen, mit denen wir uns selbst vergleichen. Glück ist daher etwas Relatives, relativ sowohl zu früheren Erfahrungen als auch im Vergleich mit anderen.
Ziel 17: Beschreiben Sie, wie das Phänomen »Du fühlst dich gut und tust Gutes« funktioniert, und erörtern Sie die Bedeutung der Forschung zum subjektiven Wohlbefinden. Das Phänomen »Du fühlst dich gut und tust Gutes« besteht in unserer größeren Bereitschaft, anderen zu helfen, wenn wir in einer guten Stimmung sind. Die Forschungsrichtung der positiven Psychologie erkundet momentan die Ursachen und Folgen des subjektiven Wohlbefindens (selbst empfundenes Glücksgefühl oder Lebenszufriedenheit); dies ist eine Ergänzung zur traditionellen Konzentration der Psychologie auf negative Emotionen.
Ziel 21: Fassen Sie die Methoden zusammen, mit denen wir unser eigenes Glücksniveau beeinflussen können. Glücklichsein wird z. T. genetisch vererbt und ist z. T. unter unserer eigenen Kontrolle. Die Empfehlungen zur Verbesserung unseres Glücksniveaus, die auf Forschungsarbeiten beruhen, lauten: 1. Machen Sie sich klar, dass anhaltendes Glück nicht von finanziellem Erfolg abhängt. 2. Behalten Sie die Entscheidungsfreiheit über Ihre Zeit. 3. Handeln Sie, als wären Sie glücklich. 4. Suchen Sie sich eine Arbeit und Hobbys, bei denen Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen können. 5. Treiben Sie regelmäßig Sport. 6. Sorgen Sie dafür, dass Sie genug Schlaf bekommen. 7. Pflegen Sie enge Beziehungen. 8. Blicken Sie über sich hinaus. 9. Seien Sie dankbar für das, was Sie haben. 10. Pflegen Sie Ihr spirituelles Selbst.
Ziel 18: Diskutieren Sie die Wechselhaftigkeit von Emotionen, bezogen auf einen Tag und langfristig. Negative Emotionen sind am intensivsten, kurz nachdem wir aufwachen oder kurz bevor wir einschlafen. Die Stimmung, die durch die positiven oder negativen Ereignisse eines Tages aufgekommen ist, hält selten länger als diesen einen Tag an. Selbst bedeutsame schlechte Ereignisse, wie etwa eine schwere Krankheit, machen nur in seltenen Fällen ein Glücksgefühl für lange Zeit zunichte, obwohl wir gewöhnlich unsere Anpassungsfähigkeit unterschätzen.
> Denken Sie weiter: Wenn wir unsere emotionalen Reaktionen lernen, könnten wir auch in der Lage sein, neue Reaktionen zu erlernen, die die alten ersetzen. Würden Sie gerne eine Ihrer emotionalen Reaktionen verändern? Glauben Sie z. B., dass Sie sich leicht zu Wut oder Angst provozieren lassen? Wie könnten Sie Ihr Verhalten oder Ihre Denkweise ändern, um Ihre emotionalen Reaktionen zu verändern?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Christine hält gerade ihr 8 Monate altes Baby auf dem Arm, als ein wütender Hund aus dem Nichts auftaucht und mit gefletschten Zähnen auf das Gesicht des Babys zuspringt. Christine duckt sich sofort, um das Baby zu schützen, und schreit den Hund an; dann bemerkt sie, dass ihr Herz pocht und dass ihr der kalte Schweiß ausgebrochen ist. Wie ließe sich Christines emotionale Reaktion erklären, mit Hilfe der Theorie von James und Lange, der Theorie von Cannon und Bard sowie mit Hilfe der Zwei-Faktoren-Theorie? 2. Wie tragen die beiden Teile des autonomen Nervensystems dazu dabei, dass wir auf eine Krise reagieren und uns von ihr erholen? Und warum ist das für die Erforschung der Emotionen von Bedeutung? 3. Wer neigt stärker dazu, Emotionen zum Ausdruck zu bringen, Männer oder Frauen? Woher kennen wir die Antwort auf diese Frage? 4. Womit kann man selbst empfundenes Glücklichsein vorhersagen (und womit nicht)?
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Kapitel 13 · Emotion
Antworten zur Frage in Abb. 13.11, S. 565
13.1
Von links nach rechts und oben nach unten: Glück, Überraschung, Angst, Traurigkeit, Wut, Ekel.
L Deutsche Literatur zum Thema Berking, M. (2008). Training emotionaler Kompetenzen. Heidelberg: Springer. Hülshoff, Th. (2006). Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe, 3. Aufl. Stuttgart: UTB. Merten, J. (2003). Einführung in die Emotionspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Meyer, W. -U., Reisenzein, R., Schützwohl, A. (2003). Einführung in die Emotionspsychologie, 3 Bde. Bern: Huber. Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2003). Emotionale Kompetenz bei Kindern. Göttingen: Hogrefe.
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14 Persönlichkeit 14.1
Psychoanalytischer Ansatz – 589
14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4
Erforschung des Unbewussten – 590 Neofreudianische und psychodynamische Theorien – 594 Erfassung unbewusster Prozesse – 595 Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes – 597
14.2
Humanistischer Ansatz – 603
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4
Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung – 603 Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz – 604 Erfassung des Selbst – 605 Bewertung des humanistischen Ansatzes – 605
14.3
Trait-Ansatz – 607
14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4
Exploration von Merkmalen – 609 Erfassung von Merkmalen – 610 Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) – 613 Bewertung des Trait-Ansatzes – 614
14.4
Sozial-kognitiver Ansatz – 619
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung – 619 Persönliche Kontrolle – 620 Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes – 626
14.5
Das Selbst – 627
14.5.1 14.5.2 14.4.3
Die Vorteile des Selbstwertgefühls – 628 Kultur und Selbstwertgefühl – 629 Selbstwertdienliche Verzerrung – 629
– 625
Andere Kulturen, andere Perspektiven So fuhren wir zwischen dem grünen Park und der steinernen, leblosen Vornehmheit der Hotels und Apartmenthäuser dahin, und dann durch die lebensvollen, todbringenden Straßen unserer Kindheit. Diese Straßen hatten sich nicht verändert, obgleich jetzt überall Hochhäuser aufragten, die wie Felsen inmitten einer kochenden See wirkten. Von den Häusern, in denen wir und unsere Schulkameraden gewohnt hatten, waren die meisten verschwunden … Aber noch immer beherrschten
Häuser wie die unserer Kindheit das Straßenbild, kamen Jungen, die – wie wir damals – in diesen Häusern zu ersticken glaubten, auf die Straße heraus, suchten Licht und Luft und liefen dem Unheil in die Hände. Einige entrannen dieser Falle, die meisten nicht. Wer sich retten konnte, der ließ immer ein Stück von sich zurück, so wie manche Tiere, um mit dem Leben davonzukommen, ein Bein in der Falkle zurücklassen. Man hätte sagen können, dass ich zu den glücklich Entronnenen gehörte,
James Baldwin (1924–1987), Sonnys Blues, 1957
denn ich war ja Lehrer; oder dass Sonny entkommen war, denn er wohnte ja seit Jahren nicht mehr in Harlem. Und doch, als nun das Taxi nach Norden fuhr, durch Straßen, die sich schlagartig mit dunklen Gesichtern zu verdunkeln schienen, da wurde mir klar, dass wir beide – jeder durch sein Taxifenster – jenen Teil unseres Selbst suchten, den wir zurückgelassen hatten. Es ist stets die Stunde des Leides und der Prüfung, in der das abgetrennte Glied zu schmerzen beginnt.
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Persönlichkeit > Der Held in Tolkiens »Herr der Ringe«, der Hobbit Frodo Beutlin, wusste, dass auf seiner ganzen qualvollen Reise einer ihn nie im Stich lassen würde: Sam Gamdschie, sein treuer und stets heiterer Gefährte. Ehe sie aus ihrem geliebten Heimatdorf aufbrachen, warnte Frodo Sam vor der schwierigen Reise: »Es wird sehr gefährlich werden, Sam. Es ist schon jetzt gefährlich. Höchstwahrscheinlich wird keiner von uns zurückkommen.« »Wenn du nicht zurückkehrst, Herr, dann ich auch nicht, das ist gewiss«, sagte Sam. »[Die Elfen sagten zu mir:] ›Lass ihn nicht im Stich!‹ Ihn im Stich lassen! habe ich gesagt. Ich denke nicht daran. Ich gehe mit ihm, und wenn er auf den Mond klettert. Und wenn einer von diesen Schwarzen Reitern ihn aufzuhalten versucht, dann bekommt er es mit Sam Gamdschie zu tun.« Und so geschah es auch. Als sich im Verlauf der Geschichte herausstellte, dass Frodo es wagen musste, das furchtbare Land von Mordor ohne seine Gefährten zu betreten, bestand Sam als Einziger darauf, ihn zu begleiten – komme, was wolle. Mit seinen Liedern und Geschichten aus ihrer Kindheit machte er Frodo Mut. Und auf Sam stützte Frodo sich, als er fast nicht weitergehen konnte. Als Frodo von dem Bösen überwältigt wurde, welches aus dem Ring kam, den er trug, war es Sam, der ihn davor bewahrte, dem Bösen völlig zu erliegen. Und am Schluss war es wieder Sam, mit dessen Hilfe Frodo seine Reise erfolgreich zu Ende brachte. Sam Gamdschie, der heitere, gewissenhafte, belastbare Optimist, der nie wankend wurde in seiner Treue oder seiner Gewissheit, dass sie die drohende Dunkelheit besiegen würden. Ziel 1: Definieren Sie Persönlichkeit. Persönlichkeit (personality): das für ein Individuum charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns.
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In Tolkiens Figur Sam Gamdschie zeigen sich die Eigenart und die Beständigkeit, die eine Persönlichkeit ausmachen – ein individuelles charakteristisches Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die Ähnlichkeiten hervorgehoben: Wir alle entwickeln uns in ähnlicher Weise, beim Wahrnehmen, Lernen, Denken und Fühlen sind wir uns alle ähnlich. Doch dieses Kapitel befasst sich mit der Einzigartigkeit. Ein großer Teil dieses Buches beschäftigt sich mit der Persönlichkeit: In den vorangegangenen Kapiteln haben wir den Einfluss der Biologie auf die Persönlichkeit kennen gelernt, wir haben etwas über die Entwicklung der Persönlichkeit im Verlauf des Lebens erfahren und haben uns mit den Aspekten des Lernens, der Motivation, der Emotion und der Gesundheit beschäftigt, die in Zusammenhang mit der Persönlichkeit stehen. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden die Persönlichkeitsstörungen und die sozialen Einflüsse auf die Persönlichkeit erörtert. In diesem Kapitel beginnen wir mit 2 großen, historisch bedeutsamen Theorien, die dazu beitrugen, das Gebiet der Persönlichkeitspsychologie (auch als differentielle Psychologie bezeichnet) zu begründen. Durch sie wurden die Schlüsselfragen aufgeworfen, mit denen sich die heutige Forschung und die klinische Arbeit immer noch beschäftigen und die Teil des kulturellen Erbes geworden sind: 4 Sigmund Freuds psychoanalytische Persönlichkeitstheorie beruht auf der Annahme, dass sich die Persönlichkeit unter dem Einfluss der psychosexuellen Entwicklung in der Kindheit und aufgrund von unbewussten Trieben entwickelt. 4 Die humanistische Persönlichkeitstheorie stellt die Fähigkeit zu Wachstum und Selbsterfüllung in den Mittelpunkt. Diese historischen Theorien, die jeweils einen umfassenden Ansatz zum Wesen des Menschen liefern, werden ergänzt durch das, was in diesem Kapitel weiterhin erkundet wird: die moderne wissenschaftliche Forschung zu spezifischen Aspekten der Persönlichkeit, die sich stärker auf bestimmte Themen konzentriert und realistischer ist. Die heutigen Persönlichkeitsforscher führten spezialisierte Analysen im Bereich der Persönlichkeit und der ihr zugrunde liegenden Dimensionen durch. Im Einzelnen ging es um: 4 ihren Einfluss auf das Verhalten, 4 die biologischen Ursprünge dieser Grunddimensionen,
589 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
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die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt, das Selbstwertgefühl, die selbstwertdienliche Verzerrung und die Einflüsse der Kultur auf das Selbstgefühl.
Dabei werden wir immer wieder auch aktuelle Befunde zum Unbewussten anführen – Befunde, die wahrscheinlich sogar Freud überrascht hätten. Lernziele Abschnitt 14.1 Persönlichkeit Ziel 1: Definieren Sie Persönlichkeit. Psychologen definieren Persönlichkeit als das für ein Individuum charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Die frühen großen Persönlichkeitstheorien versuchten, das Wesen des Menschen zu erklären, die aktuellen Persönlichkeitstheorien jedoch konzentrieren sich gewöhnlich auf spezifische Aspekte der Persönlichkeit wie die Per-
14.1
sönlichkeitsmerkmale, die Einzigartigkeit, das Gefühl der Kontrolle über uns selbst und das Selbstkonzept. > Denken Sie weiter: Wie würden Sie Ihre Persönlichkeit beschreiben? Welche charakteristischen Merkmale beschreiben Ihre typischen Muster des Denkens, Fühlens und Handelns?
Psychoanalytischer Ansatz
Ziel 2: Erklären Sie, wie Freuds Erfahrungen aus seiner Privatpraxis zu seiner Theorie der Psychoanalyse führten.
»Sigmund Freud hat wichtige und aus meiner Sicht unauslöschliche Spuren in unserem Selbstverständnis als Mensch hinterlassen«, merkte Westen (1998) an. Ob Sie Freud nun mögen oder nicht: Er hat die westliche Kultur zutiefst beeinflusst. »Wenn Sie 100 Menschen auf der Straße nach dem Namen eines bekannten verstorbenen Psychologen fragten«, schlägt der Psychologe Stanovich (1996, S. 1) vor, »wäre Freud der Gewinner auf der ganzen Linie.« Im populärwissenschaftlichen Verständnis hat er für die Geschichte der Psychologie die gleiche Bedeutung wie etwa Elvis für die Geschichte der Rockmusik. Er beeinflusst zudem die Interpretation von Literatur und Film, er wirkt weiter in der Psychiatrie (»Ich war der einzige Arbeiter auf einem neuen Feld«) und nicht zuletzt in der populärwissenschaftlichen Psychologie. Was für ein Mensch war dieser frühe Persönlichkeitstheoretiker, und worin bestand seine Lehre? Lange bevor er 1873 die Universität Wien besuchte, war der junge Sigmund Freud ein brillanter Denker mit eigenständigen Vorstellungen. Er hatte ein hervorragendes Gedächtnis und las gerne Theaterstücke, Gedichte und philosophische Werke. Als Jugendlicher nahm er oft sein Abendessen mit auf sein winziges Zimmer, um ohne Zeitverlust weiterlernen zu können. Freud studierte Medizin und eröffnete nach seiner Promotion eine private neurologische Praxis. Doch es zeigte sich bald, dass ihn Patienten aufsuchten, deren Störungen neurologisch nicht zu erklären waren. So kam zum Beispiel ein Patient, der in einer Hand keinerlei Gefühl hatte. Doch es gibt keinen sensorischen Nerv, der zu einer Taubheit in der gesamten Hand und nirgendwo sonst führt. Die Suche nach einer möglichen Ursache beschäftigte Freud sehr und brachte ihn ins Grübeln. Bei der Behandlung seiner Patienten und durch Selbstanalyse entwickelte Freud seine Gedanken und Vorstellungen, die heute 18 Bände füllen (Freud 1999), veröffentlicht zwischen 1888 und 1939. Bei der Publikation seines ersten Buches, »Die Traumdeutung« (1900), stand er mit seinen Ideen noch allein. Doch bald fanden sich sowohl begeisterte Anhänger als auch scharfe Kritiker. Wir wollen indessen unser Urteil über Freuds Theorie erst einmal verschieben und zunächst versuchen, die Dinge so zu sehen, wie er sie sah. Es ist natürlich nicht möglich, 18 Bände auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Doch können wir näher auf Freuds psychoanalytische Theorie eingehen: Es handelte sich um die erste umfassende Persönlichkeitstheorie mit Vorstellungen zum unbewussten Bereich der Seele, zu den psychosexuellen Stadien und zu den Abwehrmechanismen, die die Angst unter Kontrolle bringen sollten.
Sigmund Freud (1856–1939) »Ich war der einzige Arbeiter auf einem neuen Feld.«
14
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
© The New Yorker Collection, 1979, Dana Fradon from cartoonbank.com. All Rights Reserved.
14.1.1
Ziel 3: Erörtern Sie Freuds Auffassung von der Seele als Eisberg, und erklären Sie, wie er dieses Bild nutzte, um die bewussten und unbewussten Bereiche der Seele darzustellen.
»Gute Morgen, Geköpfte – äh, ich meine: Geliebte.«
Freie Assoziation (free association): psychoanalytische Methode zur Erforschung des Unbewussten, bei der der Patient sich entspannt und alles ausspricht, was ihm durch den Kopf geht, auch wenn es nichtssagend oder peinlich ist. Psychoanalyse (psychoanalysis): Freuds Persönlichkeitstheorie, die alle unsere Gedanken und Handlungen unbewussten Motiven und Konflikten zuschreibt; der Begriff umschreibt auch die bei der Behandlung psychischer Störungen verwendeten Techniken, mit deren Hilfe unbewusste Spannungen aufgedeckt und interpretiert werden. Das Unbewusste (unconscious): ist laut Freud ein Auffangbecken für meist inakzeptable Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen. In der heutigen Psychologie steht der Begriff für eine Form der Informationsverarbeitung, derer wir uns nicht bewusst sind.
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Erforschung des Unbewussten
. Abb. 14.1. Freuds Vorstellung vom Aufbau des psychischen Apparats Das Bewusstsein ist wie die sichtbare Spitze eines Eisbergs. Wie Sie sehen, ist das Es vollständig unbewusst, während Ich und Über-Ich sowohl bewusste als auch unbewusste Anteile enthalten. (Nach Freud 1913, S. 111)
Könnte es sein, dass manche neurologische Erkrankungen eher psychische als physiologische Ursachen haben? Durch die Beobachtung von Patienten kam Freud zur »Entdeckung« des Unbewussten. Er nahm beispielsweise an, dass der seltsame Verlust des Gefühls in einer Hand durch die Angst verursacht worden sein könnte, die eigenen Geschlechtsteile zu berühren, dass die Ursache einer unerklärten Blindheit oder Taubheit möglicherweise darin zu suchen sei, dass der Patient etwas nicht hören oder sehen wollte, was große Angst auslöste. Ursprünglich glaubte Freud, Hypnose könne das Tor zum Unbewussten öffnen, doch seine Patienten waren nicht alle gleichermaßen für Hypnose geeignet. Er wandte sich deshalb der freien Assoziation zu, einer Methode, bei der er den Patienten lediglich aufforderte, sich zu entspannen und einfach auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging, ganz gleich, ob es sich um etwas Peinliches oder etwas Nichtssagendes handelte. Freuds Annahme dabei war, dass eine Reihe von seelischen Dominosteinen umfallen würde, die aus der fernen Vergangenheit bis zu den Problemen der Gegenwart reichte. Mit Hilfe der freien Assoziation, so glaubte Freud, könne er die Spur zurückverfolgen und dadurch eine Gedankenkette weiterdenken, die bis ins Unbewusste des Patienten reichte, wodurch die schmerzlichen unbewussten Erinnerungen geweckt und befreit werden könnten, die oft aus der Kindheit stammten. Diese Persönlichkeitstheorie und die damit verbundenen therapeutischen Vorgehensweisen nannte Freud Psychoanalyse. ! Freuds Theorie beruhte auf der Überzeugung, dass man die Seele mit einem Eisberg vergleichen kann: Ihr größter Teil ist verborgen.
Unsere bewusste Wahrnehmung ist der Teil, der an der Oberfläche schwimmt. Unter der Oberfläche liegt jedoch ein viel größerer Bereich, der Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen enthält, derer wir uns nicht bewusst sind (. Abb. 14.1). Manche dieser Gedanken speichern wir eine Zeitlang in einem vorbewussten Bereich, aus dem wir sie in die bewusste Wahrnehmung überführen können. Dieser Bereich wird im heutigen Sprachgebrauch auch als Unterbewusstsein bezeichnet. Noch mehr interessierte sich Freud für das Unbewusste, d. h. für die Menge an inakzeptablen Leidenschaften und Gedanken, von denen er annahm, dass wir sie verdrängen oder gewaltsam vom Bewusstsein fernhalten, weil uns die Kenntnis dieser Dinge zu sehr aus dem Gleichgewicht brächte. Freud glaubte, dass diese beunruhigenden Gefühle und Vorstellungen,
591 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
auch wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind, uns sehr stark beeinflussen; manchmal kommen sie in verborgener Form zum Ausdruck: in der Arbeit, für die wir uns entscheiden, in unseren Überzeugungen, Alltagsgewohnheiten und beunruhigenden Symptomen. Freud war ein Determinist, für ihn geschah nichts zufällig. Er glaubte, er könne das Wirken des Unbewussten nicht nur in den freien Assoziationen, den Überzeugungen, Gewohnheiten und Symptomen erkennen, sondern auch in den Fehlhandlungen, den Versprechern und den unwillkürlichen Schreibfehlern. Er sammelte viele Beispiele für solche »Fehlleistungen« und schildert u. a. die Aussage eines Vorsitzenden während einer stürmischen Generalversammlung »Wir streiten jetzt zu Punkt 4 der Tagesordnung« (statt »schreiten«) oder das Angebot eines Herrn an eine junge Dame »Ich würde Sie gerne begleitigen« (nach Freuds Interpretation gebildet aus dem intendierten »begleiten« und »beleidigen«). Für Freud waren solche Fehlleistungen und auch Witze ein Ausdruck von verdrängten sexuellen und aggressiven Tendenzen; Träume nannte er »den Königsweg zum Unbewussten«. Den erinnerten Trauminhalt, den manifesten Inhalt, hielt Freud für den zensierten Ausdruck der unbewussten Wünsche des Träumers, die den latenten Trauminhalt bilden. In der Traumdeutung suchte Freud bei seinen Patienten nach dem Kern der inneren Konflikte und nach der Freisetzung der inneren Spannungen.
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»Boris Becker hat heute das WC-Turnier gewonnen.« Dagmar Berghoff in der Tagesschau
»For seven and a half years I’ve worked alongside President Reagan. We’ve had triumphs. Made some mistakes. We’ve had some sex … uh … setbacks.« George H. W. Bush (1988); (setbacks = Rückschläge)
Struktur der Persönlichkeit Ziel 4: Beschreiben Sie Freuds Auffassung von der Persönlichkeitsstruktur, und erörtern Sie die Wechselwirkungen zwischen Es, Ich und Über-Ich.
Freud vertrat die Auffassung, dass die Persönlichkeit eines Menschen – einschließlich der Emotionen und Triebe – aus dem Konflikt zwischen den aggressiven und Lust suchenden biologischen Triebregungen und den internalisierten sozialen Zwängen erwächst, die diese Triebregungen hemmen. Die Persönlichkeit ist laut Freud das Ergebnis unserer Bemühungen, diesen Grundkonflikt zu lösen, indem wir diese Triebregungen in einer Weise leben, die zwar zur Befriedigung führt, aber Strafe oder Schuldgefühle vermeidet. Um die seelische Dynamik während dieses Konflikts zu verstehen, schlug Freud 3 Systeme vor, die miteinander in Wechselwirkung stehen: das Es, das Ich und das Über-Ich (. Abb. 14.1). Das Es verfügt über ein Reservoir an unbewusster psychischer Energie, die ständig darum kämpft, die grundlegenden Triebe zu befriedigen: den Überlebens-, den Fortpflanzungs- und den Aggressionstrieb. Das Es handelt aus dem Lustprinzip heraus: Wird es nicht von der Realität eingeschränkt, dann sucht es sofortige Befriedigung. Um sich das Es besser vorstellen zu können, sollten Sie an Neugeborene denken: Sie schreien, um die sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse durchzusetzen, ohne sich auch nur im Geringsten um die Bedingungen und Forderungen der Außenwelt zu kümmern. Oder denken Sie an Menschen, die mehr in der Gegenwart leben, als an die Zukunft zu denken: Sie rauchen, trinken Alkohol und nehmen Drogen, sie feiern lieber heute, als dass sie um ihrer zukünftigen Erfolge willen auf das Vergnügen verzichten, das der heutige Tag verspricht. In dem Maße, wie sich das Ich entwickelt, lernt das kleine Kind den Umgang mit der Realität. Das Ich handelt nach dem Realitätsprinzip, bemüht sich, die Triebregungen des Es so zu leben, dass sie mit der Realität in Einklang stehen und auf lange Sicht mehr Lust als Schmerz oder Zerstörung bringen. (Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn wir unsere ungebremsten sexuellen oder aggressiven Triebregungen auslebten, sobald wir sie empfinden!) Das Ich enthält die bewussten Wahrnehmungen, die Gedanken, Erinnerungen und Urteile. Nach Freuds Theorie beginnt ein Kind im Alter von 4–5 Jahren, die Forderungen des neu auftauchenden Über-Ichs zu erkennen: die Stimme des Gewissens, die das Ich zwingt, nicht nur das Reale zu berücksichtigen, sondern auch das Ideale; das Über-Ich konzentriert sich ausschließlich darauf, wie man sich benehmen sollte. Das Über-Ich strebt nach Perfektion, bewertet alles, was wir tun und erzeugt positive Gefühle des Stolzes oder negative Schuldgefühle. Menschen mit einem sehr ausgeprägten Über-Ich können ungemein tüchtig sein, dabei aber ständig von Schuldgefühlen geplagt werden, während ein Mensch mit einem schwachen Über-Ich überaus nachsichtig mit sich selbst ist und weniger Gewissensbisse hat. ! Die Forderungen des Über-Ichs stehen häufig im Gegensatz zu den Wünschen des Es, und das Ich kämpft darum, die beiden Instanzen in Einklang zu bringen.
Es (id): enthält ein Reservoir unbewusster Energie, deren Streben laut Freud auf die Erfüllung grundlegender sexueller und aggressiver Triebe gerichtet ist. Das Es handelt nach dem Lustprinzip und verlangt sofortige Befriedigung.
Ich (ego): das weitgehend bewusst arbeitende »ausführende Organ« der Persönlichkeit, das nach Freuds Meinung einen Kompromiss zwischen den Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität sucht. Das Ich arbeitet nach dem Realitätsprinzip und befriedigt die Wünsche des Es auf eine Weise, dass eher Lust als Schmerz zu erwarten ist. Über-Ich (superego): Teil der Persönlichkeit, der laut Freud die internalisierten Ideale und Normen repräsentiert, die Richtschnur für die Urteilsfähigkeit (Gewissen) liefert und Ziele für die Zukunft setzt.
592
Kapitel 14 · Persönlichkeit
Das Ich ist das »ausführende Organ« der Persönlichkeit, es wirkt als Vermittler zwischen Innenund Außenwelt und vermittelt zwischen den triebhaften Forderungen des Es, den bremsenden Forderungen des Über-Ichs und den Forderungen der Realität in der Außenwelt. Wenn sich die schüchterne Jane von Markus sexuell angezogen fühlt, kann sie vielleicht ihr Es und ihr Über-Ich dadurch zufriedenstellen, dass sie sich einer Hilfsorganisation anschließt, der auch Marcus angehört.
Entwicklung der Persönlichkeit Ziel 5: Geben Sie Freuds Phasen der psychosexuellen Entwicklung an, und beschreiben Sie die Auswirkungen der Fixierung auf ein Verhalten. Psychosexuelle Phasen (psychosexual stages): Entwicklungsphasen in der Kindheit (oral, anal, phallisch, latent und genital), in denen sich laut Freud die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte erogene Zonen richten.
Ödipuskomplex (Oedipus complex): nach Freud die sexuellen Wünsche von Söhnen gegenüber der Mutter und die damit verbundenen Gefühle von Hass und Eifersucht gegenüber dem Vater, der als Rivale erlebt wird.
Identifizierung (identification): Prozess, durch den nach Freuds Auffassung Kinder die Wertvorstellungen ihrer Eltern in ihr eigenes Über-Ich integrieren.
Die Analyse der persönlichen Vergangenheit seiner Patienten brachte Freud zu der Überzeugung, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen in den ersten Lebensjahren bildet. Immer wieder stieß er darauf, dass die Symptome seiner Patienten ihre Wurzeln in ungelösten Konflikten der frühen Kindheit hatten. Aus der Art der Symptome schloss er, dass Kinder in ihrer Entwicklung eine Reihe psychosexueller Phasen durchlaufen. In jeder dieser Phasen konzentrieren sich die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte lustbetonte Bereiche des Körpers, die Freud erogene Zonen nannte (. Tabelle 14.1). Nach Freud suchen Jungen in der phallischen Phase die genitale Stimulierung. Unbewusst richten sie ihre sexuellen Wünsche auf die Mutter und entwickeln Eifersucht und Hass auf den Vater, den sie als Rivalen betrachten. Mit solchen Gefühlen entwickeln Jungen vermutlich Schuldgefühle und eine schleichende Angst vor Bestrafung – vielleicht durch Kastration – durch den Vater. Diese Ansammlung von Gefühlen nannte Freud Ödipuskomplex, wobei er sich auf den griechischen Mythos von Ödipus bezog, der, ohne es zu wissen, seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete. Manche Psychoanalytiker zu Freuds Zeiten glaubten, dass Mädchen einen ähnlich gelagerten Elektrakomplex durchleben. Freud selber äußerte sich nicht eindeutig zu diesem Thema. Kinder müssen sich nach Freud gegen bedrohliche Gefühle wehren, und sie tun das, indem sie sie verdrängen und sich mit dem rivalisierenden (gleichgeschlechtlichen) Elternteil identifizieren (sie versuchen, ihm in jeder Hinsicht ähnlich zu sein). Es ist, als sagte eine Instanz im Inneren des Kindes: »Wenn du ihn (den gleichgeschlechtlichen Elternteil) nicht ausstechen kannst, dann verbünde dich mit ihm.« Durch diesen Prozess der Identifizierung gewinnt das Über-Ich des Kindes an Stärke, denn das Kind übernimmt viele elterliche Wertvorstellungen. Freud war der Meinung, dass die Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil das bewirkt, was die Psychologen heute als Geschlechtsidentität bezeichnen: unser Gefühl dafür, männlich oder weiblich zu sein. Dies veranschaulicht, was sowohl Freud als auch die heutigen Theorien der Objektbeziehungen annehmen, nämlich dass in der frühen Kindheit die Beziehungen zu Eltern, Betreuungspersonen und zu allem anderen Einfluss darauf haben, wie sich unsere Identität, unsere Persönlichkeit und unsere Schwächen entwickeln. ! Konflikte, die während der frühen psychosexuellen Phasen auftraten und nicht gelöst worden sind, können nach Freud in fehlangepassten Verhaltensweisen während des Erwachsenenalters zum Ausdruck kommen.
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. Tabelle 14.1. Phasen der psychosexuellen Entwicklung nach Freud
Identifizierung Freud glaubte, dass Kinder bedrohliche Gefühle der Konkurrenz mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil durch Identifizierung mit diesem Elternteil bewältigen
Phase
Lustzentrum
Orale Phase (0–18 Monate)
Lustgefühl konzentriert sich auf den Mund: saugen, beißen, kauen
Anale Phase (18–36 Monate)
Lustgefühle bei Blasen- und Darmentleerung; Toilettentraining, Erziehung zur Sauberkeit
Phallische Phase (3–6 Jahre)
Genitalien sind lustbetonte Zone; Kampf gegen inzestuöse sexuelle Gefühle
Latenzphase (6 Jahre – Pubertät)
Keine expliziten sexuellen Gefühle; Ruhepause
Genitale Phase (ab der Pubertät)
Reifung des Interesses an Sexualität
593 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
An jedem Punkt der oralen, analen oder phallischen Phase könnte ein starker Konflikt die Lust suchenden Energien dieser Phase abblocken oder fixieren. Ein Mensch beispielsweise, der oral übermäßig verwöhnt oder benachteiligt ist (vielleicht durch ein frühes und abruptes Abstillen), könnte etwa auf diese orale Phase fixiert bleiben. Dieser oral fixierte Erwachsene könnte entweder in passiver Abhängigkeit (wie ein Säugling) verharren oder diese Abhängigkeit – und andere Formen davon – vehement leugnen; dies kann in besonders aggressivem Verhalten oder in ständigen sarkastischen Bemerkungen zum Ausdruck kommen. Vielleicht sucht die Person aber auch weiterhin nach oraler Befriedigung, indem sie exzessiv raucht oder isst. Durch solche Erfahrungen würden laut Freud die Zweige der Persönlichkeit schon in den ersten Lebensjahren in eine bestimmte Richtung gebogen.
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Fixierung (fixation): nach Freud eine Bindung der Lust suchenden Energien an eine vorhergehende psychosexuelle Phase, in der Konflikte nicht gelöst wurden.
Abwehrmechanismen Ziel 6: Beschreiben Sie die Funktion der Abwehrmechanismen, und nennen Sie einige von ihnen.
Angst ist der Preis, den wir für unsere Zivilisation zahlen, stellte Freud fest. Da wir einer sozialen Gruppe angehören, dürfen wir unsere sexuellen und aggressiven Triebregungen nicht ausleben, sondern müssen sie unter Kontrolle halten. Manchmal fürchtet das Ich jedoch, die Kontrolle über den inneren Kampf zwischen den Forderungen des Es und denen des Über-Ichs zu verlieren; die Folge davon ist eine unspezifische Furcht, die sich wie eine dunkle Wolke über uns legt: Wir fühlen uns beunruhigt, wissen aber nicht genau warum. Das Ich greift zu Abwehrmechanismen, um sich vor dieser Furcht zu schützen, meinte Freud. Mit dieser Taktik kann die Angst vermindert oder in eine andere Richtung geleitet werden, indem die Realität verzerrt wird. Hier sind 6 Beispiele für Abwehrmechanismen: 4 Verdrängung verbannt Angst erregende Gedanken und Gefühle aus dem Bewusstsein. Für Freud liegt die Verdrängung allen anderen Abwehrmechanismen zugrunde. Denn alle Abwehrmechanismen verbergen bedrohliche Triebregungen und hindern sie daran, ins Bewusstsein zu gelangen. Nach Freuds Meinung erklärt das Konzept der Verdrängung, warum wir uns nicht daran erinnern, in der Kindheit den gegengeschlechtlichen Elternteil sexuell begehrt zu haben. Seiner Meinung nach ist die Verdrängung oft unvollständig, und die verdrängten Gefühle kommen in Form von Traumsymbolen und Versprechern zum Vorschein. 4 Die Regression ermöglicht es uns, uns in ein früheres, infantileres Entwicklungsstadium zurückzuziehen. Ein Kind, das sich vor dem ersten Schultag fürchtet, wird vielleicht zu dem oralen Trost des Daumenlutschens regredieren. Wenn heranwachsende Affen Angst haben, regredieren sie auf das kindliche Anklammern an die Mutter, oder sie klammern sich aneinander (Suomi 1987). Auch Studierende, die in den ersten Wochen an einem neuen College oder an der Universität unter Heimweh leiden, sehnen sich nach der tröstlichen Geborgenheit ihres Elternhauses.
Abwehrmechanismen (defense mechanisms): in der psychoanalytischen Theorie die Schutzmechanismen des Ichs, durch die Ängste verringert werden, indem unbewusst die Realität verzerrt wird.
Verdrängung (repression): in der psychoanalytischen Theorie der Abwehrmechanismus, auf dem alle anderen Formen der Abwehr beruhen. Angst erregende Gefühle, Gedanken und Erinnerungen werden aus dem Bewusstsein verdrängt.
Regression (regression): in der psychoanalytischen Theorie ein Abwehrmechanismus, bei dem sich ein Individuum auf eine infantilere Phase der psychosexuellen Entwicklung zurückzieht, auf die ein Teil der psychischen Energie fixiert geblieben ist.
Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison
M. Barton
Regression Bei der Konfrontation mit einem leichten Stressor regredieren Kinder und junge Affen auf das, was auf einer früheren Stufe des Verhaltens Trost bot
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Reaktionsbildung (reaction formation): Abwehrmechanismus, bei dem das Ich inakzeptable Triebregungen unbewusst in ihr Gegenteil umwandelt. Manchmal bringen Menschen Gefühle zum Ausdruck, die das Gegenteil der eigenen Angst erregenden unbewussten Gefühle sind. Projektion (projection): Abwehrmechanismus, durch den Personen die eigenen bedrohlichen Impulse dadurch verbergen, dass sie sie anderen Menschen zuschreiben. Rationalisierung (rationalization): Abwehrmechanismus, der eine Erklärung und Rechtfertigung des eigenen Verhaltens liefert, statt sich mit den echten bedrohlichen, unbewussten Handlungsmotiven auseinanderzusetzen. Verschiebung (displacement): Abwehrmechanismus, bei dem sexuelle oder aggressive Triebregungen auf ein akzeptableres oder weniger bedrohliches Objekt (oder einen Menschen) verschoben werden; so kann Wut in eine weniger gefährliche Richtung verschoben werden.
4 Bei der Reaktionsbildung verwandelt das Ich inakzeptable Triebregungen unbewusst in ihr Gegenteil: Aus dem inakzeptablen »Ich hasse ihn« wird auf dem Weg zum Bewusstsein ein »Ich liebe ihn«. Schüchternheit wird zu Kühnheit, das Gefühl der Unzulänglichkeit zu Draufgängertum. 4 Die Projektion verbirgt bedrohliche Triebregungen dadurch, dass sie sie anderen Menschen zuschreibt. Die Aussage »Er traut mir nicht« könnte eine Projektion der eigentlichen Aussage sein, die lautet: »Ich traue ihm nicht«, oder auch: »Ich traue mir selbst nicht«. Ein Sprichwort in El Salvador sagt: »Ein Dieb hält alle Menschen für Diebe.« 4 Die Rationalisierung findet statt, wenn wir unbewusst Erklärungen zur Rechtfertigung unseres Verhaltens abgeben und dadurch die eigentlichen Gründe für unsere Handlungen verschleiern. Gewohnheitstrinker sagen dann etwa, sie trinken mit ihren Freunden, »um nicht ungesellig zu sein.« Und Studierende, die ihr Studium verpatzen, rationalisieren das mit einem »Nur Arbeit und kein Spaß, da wird man ja zum Langeweiler«. 4 Bei der Verschiebung werden eigene sexuelle oder aggressive Triebregungen auf ein Objekt oder einen Menschen umgelenkt, der psychologisch akzeptabler scheint als der (oder die), durch den die Triebregungen geweckt wurden. Kinder, die nicht wagen, ihre Wut auf die Eltern auszudrücken, tun das vielleicht, indem sie ihrem Kuscheltier einen Tritt versetzen. Ein Student, der sich über eine Prüfung geärgert hat, faucht vielleicht seinen Mitbewohner an. Beachten Sie bitte, dass all diese Abwehrmechanismen indirekt und unbewusst wirken. Sie verringern die Angst, indem sie unsere bedrohlichen Triebregungen verbergen. Wie der Körper eine Krankheit unbewusst abwehrt, so wehrt nach Freud auch das Ich unbewusst die Angst ab.
14.1.2
Neofreudianische und psychodynamische Theorien
Ziel 7: Stellen Sie die neofreudianischen und psychodynamischen Theorien der ursprünglichen Theorie von Freud gegenüber.
14 »Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt.« Freud, »Über die weibliche Sexualität«, Schriften über die Sexualität. Frankfurt: Fischer (1994/1931), S. 195
Kollektives Unbewusstes (collective unconscious): Carl Jungs Konzept einer gemeinsamen Erbmasse an Erinnerungsspuren aus der Geschichte unserer Art.
Freuds Schriften lösten Kontroversen aus, doch sie zogen bald Anhänger an, zumeist ehrgeizige junge Ärzte, die sich um den kühnen Vordenker sammelten. Diese Pioniere der Psychoanalyse und andere Personen, die wir heute Neofreudianer nennen, akzeptierten Freuds grundlegende Vorstellung: die aus Ich, Es und Über-Ich bestehende Persönlichkeitsstruktur, die Bedeutung des Unbewussten, die Ausbildung der Persönlichkeit in der Kindheit sowie die Dynamik von Angst und Abwehrmechanismen. Doch sie gingen in 2 wichtigen Punkten zu Freud auf Distanz: In stärkerem Maße betonten sie erstens die Rolle der bewussten Seele bei der Deutung der Erfahrung und beim Umgang mit der Umwelt. Und zweitens stellten sie in Zweifel, dass Sexualität und Aggression die beiden Triebe seien, die alle Energie für sich beanspruchen. Stattdessen legten sie den Akzent auf höhere Motive und auf die soziale Interaktion. Die folgenden Beispiele werden das illustrieren. Alfred Adler und Karen Horney stimmten mit Freud darin überein, dass die Kindheit wichtig ist. Aber sie waren der Überzeugung, dass die sozialen und nicht die sexuellen Spannungen in der Kindheit entscheidend für die Ausbildung der Persönlichkeit sind. Adler selbst (der die immer noch populäre Vorstellung vom Minderwertigkeitskomplex entwickelt hat) kämpfte damit, die Folgen von Krankheiten und Unfällen in der Kindheit zu bewältigen, und er war der Auffassung, dass ein Großteil unseres Verhaltens durch Bemühungen motiviert ist, die Minderwertigkeitsgefühle aus der Kindheit zu überwinden, Gefühle, die bei uns dazu führen, dass wir nach Überlegenheit und Macht streben. Horney meinte, dass die Ängste der Kindheit, die beim abhängigen Kind durch das Gefühl der Hilflosigkeit verursacht werden, bei uns das Verlangen nach Liebe und Sicherheit auslösen. Horney trat Freuds Auffassung entgegen, dass Frauen ein schwaches Über-Ich hätten und unter »Penisneid« litten; und sie versuchte, den systematischen Fehler zu korrigieren, den sie in seiner männlichen Sicht der Psychologie erkannte. Im Unterschied zu anderen Neofreudianern betonte Carl Jung – ein Schüler von Freud, der sich später von ihm abwandte – weniger die sozialen Faktoren und stimmte mit Freud darin überein, dass das Unbewusste einen machtvollen Einfluss ausübt. Doch für Jung besteht das Unbewusste aus mehr als unseren verdrängten Gedanken und Gefühlen. Er war der Meinung, dass wir auch ein kollektives Unbewusstes haben, eine gemeinsame Erbmasse an Bildern, die sich aus den
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Archive of the History of American Psychology – University of Akron
The Bettman Archive/Corbis
National Library of Medicine
14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
Alfred Adler »Das Individuum fühlt sich im Leben gut aufgehoben und hat das Gefühl, dass seine Existenz berechtigt ist, allerdings nur insofern, als es anderen nützen und seine Gefühle der Minderwertigkeit überwinden kann« (1929).
Karen Horney »Die Ansicht, dass Frauen infantile und gefühlsbetonte Wesen sind und als solche unfähig zu Verantwortung und Selbstständigkeit, ist das Werk der männlichen Tendenz, die Selbstachtung der Frauen herabzusetzen« (1933).
Carl Gustav Jung »Wir können einem Kind jegliche Kenntnis früher Mythen vorenthalten, doch das Bedürfnis nach Mythologie können wir nicht aus seinem Geist entfernen« (1912).
universellen Erfahrungen unserer Spezies ableiten. Seiner Auffassung nach liefert das kollektive Unbewusste eine Erklärung dafür, dass bei vielen Menschen die Spiritualität so tief verwurzelt ist und dass bestimmte Mythen und Bilder in unterschiedlichen Kulturen zu finden sind, wie etwa das Bild der Mutter als Symbol der Nährenden. (Die heutigen Psychologen bestreiten, dass es so etwas wie ererbte Erfahrungen gibt. Doch viele glauben trotzdem, dass unsere gemeinsame Evolutionsgeschichte zur Bildung einiger universeller Dispositionen geführt hat.) Freud ist 1939 gestorben. Seit dieser Zeit sind einige seiner Gedanken in die psychodynamische Theorie eingeflossen. »Heute fühlen sich die meisten Theoretiker und Praktiker nicht an die Vorstellung gebunden, dass Sexualität die Basis der Persönlichkeit bildet«, merkt Westen (1996) an. Man »spricht heute nicht von Es und Ich und klassifiziert die Patienten auch nicht nach den Kriterien oral, anal oder phallisch«. Übereinstimmung mit Freud herrscht jedoch bei der Annahme, dass viel von unserem Seelenleben unbewusst abläuft, dass wir häufig mit inneren Konflikten zwischen unseren Wünschen, Ängsten und Wertvorstellungen zu kämpfen haben und dass Persönlichkeit und Bindungsfähigkeit in der Kindheit geformt werden. Beispielsweise bildete Freuds Gedanke, frühe Erfahrungen in der Kindheit mit Betreuungspersonen seien der Schlüssel für die Entwicklung der Persönlichkeit, die Grundlage für die spätere Theorie und Forschung zur Bindung bei Säuglingen und zu den damit verbundenen langfristigen Folgen (7 Kap. 4).
14.1.2
Erfassung unbewusster Prozesse
Ziel 8: Beschreiben Sie 2 projektive Tests, die verwendet werden, um die Persönlichkeit zu erfassen, und erörtern Sie einige Kritikpunkte daran.
Wer sich mit dem Konzept der Persönlichkeit befasst oder wer therapeutisch arbeitet, braucht eine Methode zur Evaluation der charakteristischen Merkmale der Persönlichkeit. Die verschiedenen Methoden zur Erfassung unterscheiden sich voneinander, denn sie sind jeweils auf eine der unterschiedlichen Persönlichkeitstheorien zugeschnitten. Welche Methode könnte ein Analytiker wählen, der in der Tradition Freuds arbeitet? Wenn man die Persönlichkeit mit Hilfe dieses Ansatzes erfassen will, dann würde man den Weg über das Unbewusste wählen, das Reste der Erfahrungen aus der frühen Kindheit enthalten soll. (Erinnern Sie sich daran, dass Freud die Auffassung vertrat, freie Assoziationen und Traumdeutung könnten ein Zugang zum Unbewussten sein.) Psychoanalytiker verzichten auf objektive Messmethoden wie Fragebögen mit Ja-nein- oder Richtig-falsch-Antworten, die ihrer Meinung nach nur die bewusste Oberfläche eines Menschen berühren. Sie verwenden lieber einen Test, der unter die Oberfläche der Ambitionen schaut und die geheimen Triebregungen und Konflikte aufdeckt.
»Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind.« Der Talmud
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Projektiver Test (projective text): Persönlichkeitstest (z. B. Rorschach-Test oder TAT), der vieldeutige Reize vorgibt, um eine eine Projektion der inneren Dynamik des Probanden hervorzurufen.
Thematischer Apperzeptionstest (TAT; Thematic Apperception Test): projektiver Test, dem die Annahme zugrunde liegt, dass der Proband seine inneren Gefühle und Interessen durch die Geschichten zum Ausdruck bringt, die ihm beim Anblick der vieldeutigen Szenen einfallen. Rorschach-Test (Rorschach inkblot test): am weitesten verbreiteter projektiver Test. Er besteht aus einem Satz von 10 Tintenklecksbildern, die von Hermann Rorschach entworfen wurden. Die Auswertung der Art und Weise, wie der Proband die Kleckse deutet, soll seine inneren Gefühle deutlich machen.
M. Barton
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© 1943 by the President and Fellows of Harvard College. © 1971 by Henry Alexander Murray.
»Wenn ein Psychologe Sie in einer Situation, von der für Sie einiges abhängt, ›testet‹, indem er Sie nach der Bedeutung von Tintenklecksen fragt, … dann stehen Sie auf und verlassen Sie die Praxis.« Robyn Dawes (»House of Cards: Psychology and Psychotherapy Based on Myth«, 1994)
Mit projektiven Tests soll dieser Blick ins Unbewusste dadurch ermöglicht werden, dass der dargebotene Reiz vieldeutig ist. Der Proband wird gebeten, den Reiz zu beschreiben oder eine Geschichte darüber zu erzählen. Der Reiz als solcher hat keine Bedeutung, so dass alles, was die Testteilnehmer mit ihm in Verbindung bringt, mit großer Wahrscheinlichkeit eine Projektion ihrer eigenen Interessen und Konflikte ist. Murray (1933) demonstrierte bei einer Party, die seine 11-jährige Tochter gab, auf welcher Basis ein solcher Test entwickelt werden könnte. Murray lud die Kinder zu einem Angst erregenden »Mörderspiel« ein. Hinterher zeigte er den Kindern ein paar Fotos, und die Kinder beurteilten diese Fotos als bösartiger und tückischer, als sie es vor dem Spiel getan hatten. Nach Murrays Überzeugung hatten die Kinder ihre inneren Gefühle auf die Fotos projiziert. Ein paar Jahre später stellte Murray den »Thematischen Apperzeptionstest« (TAT) vor. Bei diesem Test betrachten die Probanden vieldeutige Bilder und erzählen dann eine Geschichte darüber, die als Projektion seiner Hoffnungen, Ängste und Interessen angesehen wird (. Abb. 14.2). Ein Verwendungszweck des Tests bestand darin, aus den Geschichten des Probanden Rückschlüsse auf seine Leistungsmotivation zu ziehen. Zeigt das Bild einen in Tagträume versunkenen Jungen und lautet die anschließende Interpretation des Probanden, der Junge träume offenbar von Zielen, die er zu erreichen hoffe, dann geht man davon aus, dass der Proband seine eigenen Ziele projiziert. Andere projektive Tests bitten die Probanden, eine Person zu malen, Sätze zu vervollständigen (»Meine Mutter…«) oder das erste Wort auszusprechen, das ihnen einfällt, wenn der Psychologe ein Testwort sagt. Früher wurde der berühmte Rorschach-Test (auch Tintenkleckstest) sehr häufig verwendet, der 1921 von dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach vorgestellt wurde. Der Test beruht auf der Annahme, dass das, was wir in den 10 Tintenklecksen sehen, unsere inneren Gefühle und Konflikte zum Ausdruck bringt (. Abb. 14.3). Wenn wir darin z. B. Raubtiere oder Waffen sehen, wird der Testleiter daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass wir aggressive Tendenzen haben. Ist diese Annahme realistisch? Könnte ein Psychologe den Rorschach-Test einsetzen, um die Persönlichkeit eines Menschen zu erfassen oder eine emotionale Störung zu diagnostizieren? Rufen Sie sich ins Gedächtnis, was Sie in 7 Kap. 11 über Intelligenztests gelernt haben: Zwei sehr wichtige Kriterien eines guten Tests sind die Reliabilität (Zuverlässigkeit; konsistente Ergebnisse) und die Validität (Gültigkeit; korrekte Vorhersage). Wie gut erfüllt der Rorschach-Test diese Kriterien?
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. Abb. 14.2a, b. TAT und Scenotest Projektive Testverfahren nutzen mehrdeutiges Material, um Aufschluss über die inneren Gefühle der Probanden zu erhalten
. Abb. 14.3. Rorschach-Test Bei diesem projektiven Test berichten die Probanden, was sie in einer Serie symmetrischer Tintenkleckse sehen. Wer mit diesem Test arbeitet, vertraut darauf, dass die Deutung der vieldeutigen Reize unbewusste Aspekte der Persönlichkeit des Probanden aufzeigt. Manchmal wird der Test auch verwendet, um das Eis zu brechen oder um Informationen zu ergänzen, die auf andere Weise gewonnen wurden
597 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten Kritiker darauf hingewiesen, dass für den Rorschach-Test kein allgemein akzeptiertes Bewertungs- und Deutungssystem vorliegt (Sechrest et al. 1998). Bei 2 Testleitern, die in ihrer Ausbildung 2 verschiedene Bewertungssysteme kennen gelernt haben, wird die Übereinstimmung der Ergebnisse beim selben Test immer nur minimal sein. Der Rorschach-Test gilt auch als wenig erfolgreich zur Vorhersage eines Verhaltens oder zur Unterscheidung von Gruppen (um beispielsweise herauszufinden, wer suizidgefährdet ist und wer nicht). Der Rorschach-Test ist kein MRT (Kernspintomograph) für Emotionen. Bei aller Kritik bleibt der Rorschach-Test »zugleich das am meisten geschätzte und das am meisten geschmähte aller psychologischen Erhebungsinstrumente« (Hunsley u. Bailey 1999). Kliniker – 82% von ihnen geben an, dass sie ihn zumindest gelegentlich verwenden – loben den Rorschach-Test oft (Watkins et al. 1995; Lilienfeld et al. 2000). Einige liefern Richtern Einschätzungen zum kriminellen Gewaltpotenzial bei einer Person, die auf dem Rorschach-Test beruhen. Andere Kliniker sehen ihn als ein Diagnoseinstrument, als Quelle für suggestive Hinweise oder als Eisbrecher und erfolgreiche Interviewtechnik. Aronow et al. (1995) berichten über den Fall einer Frau, die auf einer Rorschach-Tafel »4 rosa Gänse« ausmachte und sich dann unter Anleitung daran erinnerte, dass ihr Onkel, ein Bauer, sie belästigt hatte, dass er 4 Töchter hatte und dass seine weißen Gänse beim Schlachten rosa wurden. Es gibt heute ein forschungsbasiertes und computerunterstütztes Hilfsmittel für die Kodierung und Deutung, mit dem angestrebt wird, sowohl die Übereinstimmung unter den Auswertern als auch die Validität des Tests zu verbessern (Erdberg 1990; Exner 2003). Beispielsweise würde die Tatsache, dass eine Person in den Klecksen viele Reflektionen sieht und diese wie Spiegel behandelt, auf Selbstzentriertheit hindeuten. Die Society for Personality Assessment erkennt an, dass man »die Befunde des Rorschach-Tests allein nicht dazu verwenden soll, juristische Konsequenzen zu ziehen« oder zu entscheiden, ob beispielsweise ein sexueller Kindesmissbrauch stattgefunden hat. Aber die Gesellschaft behauptet auch, dass »der Rorschach-Test über eine dokumentierte Reliabilität und Validität verfügt« und dass sein Einsatz als Persönlichkeitstest »angemessen und gerechtfertigt« ist. Aber die empirischen Belege reichen den Kritikern nicht aus; sie argumentieren, dass der Test eine sehr eingeschränkte Validität hat. Sie verweisen darauf, dass die Tintenklecksdiagnose so manchen normalen Erwachsenen als pathologische Persönlichkeit diagnostizieren würde (Wood et al. 2003, 2006). Sie führen an, dass nur wenige der vielen vom Rorschach-Test abgeleiteten Werte, wie z. B. die für Feindseligkeit und Angst, eine nachgewiesene Validität haben. Andere Kritiker finden »keine wissenschaftliche Basis, die es rechtfertigen würde, die Rorschach-Skalen in der psychologischen Diagnostik einzusetzen« (Hunsley u. Bailey 1999). Sie schlagen sogar ein Moratorium für die klinische und forensische Verwendung des Tests vor (Garb et al. 2005). »Würden Psychologen Teeblätter anstelle des Rorschachs verwenden, wären wir wahrscheinlich besser dran«, empfiehlt der Psychologe und Rorschach-Kritiker James Wood (2003), »weil dann zumindest keiner die Ergebnisse ernst nähme«. Ähnlich kritisch werden teilweise auch andere projektive Tests wie der TAT und der Sceno-Test beurteilt, schließen Lilienfeld et al. (2001). »Selbst erfahrene Profis«, warnen sie, »können sich durch ihre Intuitionen und durch ihren Glauben an die Hilfsmittel, für die es keine guten Effektivitätsnachweise gibt, täuschen lassen. Wenn eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zeigt, dass die alten Intuitionen falsch sind, ist es an der Zeit, sich einer neuen Denkweise zu bedienen.« Freud selbst hätte wahrscheinlich ein ungutes Gefühl dabei gehabt, wenn er versucht hätte, Patienten aufgrund von Tests zu diagnostizieren; er wäre gewiss mehr an den Interaktionen zwischen Therapeut und Patient interessiert gewesen, die während des Tests stattfinden.
14.1.4
»Der Rorschach-Test hat sich allseits diskreditiert … Ich bezeichne ihn als den Dracula der psychologischen Tests, weil es niemand geschafft hat, dem verfluchten Ding einen Pfahl durchs Herz zu treiben.« Carol Tavris, »Mind Games: Psychological Warfare between Therapists and Scientists« (2003)
»Dawkins’ Gesetz der Debatte zwischen Widersachern: ›Wenn 2 nicht miteinander vereinbare Überzeugungen mit gleicher Intensität propagiert werden, liegt die Wahrheit nicht in der Mitte zwischen ihnen.« Richard Dawkins (2004)
Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes
Ziel 9: Fassen Sie zusammen, wie die heutige Psychologie Freuds Theorie der Psychoanalyse beurteilt.
Widersprüchliche Befunde aus der modernen Forschung Wir kritisieren Freud aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts, aber auch diese Sichtweise ist sicher nicht endgültig. Freud hatte keinen Zugang zu all dem Wissen über die Entwicklung des Menschen, sein Denken und seine Emotionen, das wir seither erworben haben. Er
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»Viele Aspekte der Freud’schen Theorie sind tatsächlich überholt, und das sollten sie auch sein: Freud ist 1939 gestorben, und er war nicht der schnellste darin, weitere Korrekturen vorzunehmen.« Der Psychologe Drew Weston (1998)
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
wusste nichts von Neurotransmittern oder von der DNA. Wenn wir also, sagen seine Anhänger, Freuds Theorien mit modernen Konzepten vergleichen, dann ist das so, als wollten wir den ersten Volkswagen mit einem heute gebauten Porsche vergleichen. ! Freuds Anhänger und seine Kritiker sind gleichermaßen der Meinung, dass die neuere Forschung im Widerspruch zu vielen seiner spezifischen Vorstellungen steht.
Die moderne Entwicklungspsychologie sieht Entwicklung als lebenslangen Prozess, der nicht auf die Kindheit beschränkt ist. Es wird auch die Ansicht vertreten, dass Freud den elterlichen Einfluss überschätzte, den Einfluss der Gleichaltrigen dagegen unterschätzte. Es wird auch bezweifelt, dass sich das Gewissen und die Geschlechtsidentität ausbilden, wenn das Kind im Alter von 5 oder 6 Jahren mit dem Ödipuskomplex konfrontiert ist. Die Geschlechtsidentität entsteht früher und wird auch ohne einen gleichgeschlechtlichen Elternteil ausdrücklich männlich oder weiblich. Und es wird angeführt, Freuds Theorie über die kindliche Sexualität sei daraus entstanden, dass er den Berichten seiner Patientinnen über sexuellen Missbrauch nicht glaubte, sondern sie ihren kindlichen sexuellen Wünschen und Konflikten zuschrieb (Esterson 2001; Powell u. Boer 1994). Freud ging grundsätzlich davon aus, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit nicht vorkommt. Wir wissen jedoch heute, dass diese Einschätzung falsch ist: Sexueller Missbrauch von Kindern ist eine traurige Realität. Wie wir in 7 Kap. 7 gesehen haben, stellen neue Forschungsergebnisse Freuds Auffassung in Frage, dass Träume unsere Wünsche maskieren und erfüllen. Und ein Versprecher lässt sich erklären als Wettstreit zwischen ähnlich klingenden Wörtern, der im Netzwerk des Gedächtnisses ausgetragen wird. Wenn jemand sagt: »Ich will das nicht tun, ›it’s a lot of brothel‹« (Bordell), dann ist das vermutlich einfach eine Vermischung der Wörter »bother« (Unannehmlichkeit) und »trouble« (Problem) (Foss u. Hakes 1978). Die Forscher finden auch kaum etwas, was Freuds These von den Mechanismen der Verdrängung und Maskierung sexueller und aggressiver Triebregungen belegt (obwohl wir uns kognitiv drehen und winden, um unser Selbstwertgefühl zu schützen). In der Geschichte der Psychologie wurde noch eine weitere von Freuds Theorien nicht gestützt: die Überzeugung, dass unterdrückte Sexualität zu psychischen Störungen führt. Seit Freuds Zeiten ist die sexuelle Gehemmtheit immer stärker zurückgegangen, die psychischen Störungen allerdings nicht.
Ist Verdrängung ein Mythos?
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Die gesamte Theorie der Psychoanalyse beruht auf Freuds Annahme, dass die Seele des Menschen schmerzliche Erfahrungen häufig verdrängt, indem sie sie ins Unbewusste verbannt, bis wir sie unter Anleitung eines Helfers wiederentdecken und unversehrt vorfinden wie längst vergessene Bücher auf einem staubigen Dachboden. Werden die verdrängten schmerzlichen Erfahrungen unserer Kindheit wieder aufgedeckt und lösen sie sich, sollten emotionale Verletzungen geheilt werden. Unter Freuds Einfluss wurde die Verdrängung zu einem weithin akzeptierten Konzept, das dazu genutzt wurde, hypnotische Phänomene, psychische Störungen und scheinbar verloren gegangene und wieder aufgedeckte Erinnerungen an Kindheitstraumata zu erklären (Cheit 1998). Eine Befragung von Studierenden ergab, dass 88% von ihnen daran glaubten, schmerzliche Erfahrungen würden aus der bewussten Wahrnehmung ins Unbewusste verlagert (Garry et al. 1994). Tatsächlich, so meinen viele Wissenschaftler heute, ist Verdrängung, wenn sie überhaupt stattfindet, eine selten auftretende mentale Reaktion auf ein schreckliches Trauma. »Das volkstümliche Konzept der Verdrängung ist . . . teilweise widerlegt, teilweise nicht überprüft und teilweise nicht überprüfbar«, so Loftus (1995). Bei Ihren Überlegungen sollten Sie folgende Fakten in Betracht ziehen: Wenn die menschliche Seele tatsächlich schmerzliche Erfahrungen verbannt: Wie lassen sich dann diese merkwürdigen Befunde erklären? 4 Müssten wir nicht erwarten, dass Kinder, die die Ermordung eines Elternteils mit ansehen mussten, diese Erfahrung verdrängen würden? Eine Studie mit 16 Kindern im Alter zwischen 5 und 10 Jahren, die diese furchtbare Erfahrung gemacht hatten, ergab, dass keines der Kinder die Erinnerung daran verdrängt hatte (Malmquist 1986). 4 Sollten die Überlebenden der Vernichtungslager im Dritten Reich die Erinnerungen an die erlittenen Grausamkeiten nicht aus ihrem Bewusstsein verbannen? Bis auf sehr wenige Ausnahmen erinnern sie sich nur zu gut – und viele von ihnen empfinden eine Erleichterung, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen (Helmreich 1992, 1994; Pennebaker 1990).
599 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
4 Sollten Kriegsteilnehmer nicht ihre schlimmsten Erlebnisse unter einer Amnesie begraben? In der neurologischen Abteilung eines englischen Krankenhauses litten 35% der Militärangehörigen, die als Patienten kamen, nach schweren Kämpfen im Zweiten Weltkrieg unter Amnesie (Arrigo u. Pezdek 1997; Karon u. Widener 1997, 1998). Doch es zeigt sich, dass solche Fälle häufig auf eine Gehirnerschütterung zurückzuführen sind oder es sich um eine falsche Amnesie handelt, eine Taktik, um einer unerträglichen Situation zu entkommen (Holmes 1990, 1994). Volkstümliche Berichte von wiedergefundenen Erinnerungen an schreckliche Kriegserlebnisse ließen sich entweder nicht bestätigen oder standen in Zusammenhang mit therapeutischen Suggestivtechniken. Ausnahmen gibt es durchaus: Einem Bericht zufolge vergaß eine Überlebende eines Konzentrationslagers über 30 Jahre lang, wie ihr kleiner Sohn ihr entrissen und erschossen worden war (Kraft 1996). Manche Forscher glauben, dass lang anhaltender extremer Stress, wie ihn manche schwer missbrauchten Kinder erleben, das Gedächtnis durch eine Schädigung des Hippocampus beeinträchtigen kann (Schacter 1996). Doch es entspricht viel eher der Realität, dass starker Stress (und die damit einhergehenden Hormone) das Erinnerungsvermögen verbessert (7 Kap. 9 über Gedächtnis). Sehr negative emotionale Ereignisse werden daher gut erinnert (Alexander et al. 2005; Shobe u. Kihlstrom 1997). Zu gut sogar: Traumatische Ereignisse wie Vergewaltigung und Folter verfolgen die Überlebenden mit ungewollten Flashbacks, blitzartigen, aber deutlichen Erinnerungen, die in die Seele eingebrannt sind. »Du siehst die Babys«, sagt die Holocaust-Überlebende Sally H. (1979). »Du siehst die schreienden Mütter. Du siehst, wie Menschen aufgehängt werden. Du sitzt da und siehst dieses Gesicht. Das kann man nicht vergessen.«
Wie sehen wir heute das Unbewusste? Freud hatte zumindest in einer Beziehung Recht: Unser Zugang zu dem, was in unserer Seele vor sich geht, ist wirklich begrenzt (Erdelyi 1985, 1988; Kihlstrom 1990). Tatsächlich ist unsere Fähigkeit zum unbewussten Lernen eine komplizierte und komplexe Angelegenheit. Lewicki et al. (1992, 1997) entdeckten, dass man mit Hilfe nicht bewusster Lernvorgänge Muster im Voraus erraten kann, die »zu komplex und zu verwirrend sind, um vom Bewusstsein registriert zu werden«. In einer Studie beobachteten Studierende, wie die Zahl 6 auf einem Computerbildschirm von einem Quadranten zum anderen sprang; eine Kontrollgruppe bekam diese Sprünge nicht zu sehen. Zwar schien die Bewegung der Zahl rein zufällig zu sein – jedenfalls konnte niemand bewusst eine Regel erkennen –, doch gab es ein komplexes, verborgenes Muster, das dem Ganzen zugrunde lag. In den folgenden Durchgängen, in denen die 6 in einem Bildschirm voller Zahlen verborgen war, fanden die Versuchsteilnehmer, die die Sprünge der 6 schon vorher beobachtet hatten, schneller heraus, an welcher Stelle sich die 6 befand, als die Kontrollgruppe. Ohne zu wissen, wie sie das anstellten, verbesserte sich ihre Fähigkeit, die Sprünge der Zahl von einem Quadranten zum anderen zu verfolgen. Als dann die Bewegungen der 6 tatsächlich nach dem Zufallsprinzip erfolgten, sank ihre Leistung ab. Lewicki wiederholte das Experiment mit seinen schlauen Kollegen, den Professoren vom Fachbereich Psychologie, die über seine Untersuchungen zum nicht bewussten Lernen Bescheid wussten. Auch sie konnten immer schneller lokalisieren, wo die Zahl als Nächstes auftauchen würde, und auch sie wussten nicht, woran dies lag. Als der Versuchsleiter den Zufallsschalter drückte und die Trefferquote sank, stellten die Professoren allerhand Mutmaßungen über die Gründe ihrer nachlassenden Leistung auf (vielleicht subliminale Drohbotschaften?). Den Studierenden, die ein nicht bewusstes Lernen demonstriert hatten, bot Lewicki 100 Dollar, wenn sie das versteckte Bewegungsmuster entdecken könnten. Manche von ihnen verbrachten Stunden damit, die Sequenz zu entziffern. Keinem gelang es. Andere Forscher bestätigten, dass nicht bewusstes implizites Lernen ein reales Phänomen ist (Fletcher et al. 2005; Frensch u. Rünger, 2003). Dies weist auf einen weiten Bereich hin, in dem noch Experimente mit nicht sichtbaren Informationen durchgeführt werden können. Dennoch unterscheidet sich die Vorstellung vom »Eisberg« in der heutigen Forschung von Freuds Annahme; und zwar so sehr, meint Greenwald (1992), dass es an der Zeit ist, Freuds Standpunkt zum Unbewussten aufzugeben. Wie wir bereits in früheren Kapiteln gesehen haben, halten viele heute
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»Warnung! 70 Jahre Forschung haben keinen objektiven Beweis erbracht, mit dem sich das Konzept der Verdrängung stützen ließe.« Der Psychologe David S. Holmes (1994)
»Während des Holocausts … wurden viele Kinder gezwungen, das Unerträgliche zu ertragen. Für diejenigen, die weiterhin leiden, ist [der] Schmerz noch da, viele Jahre später, so real wie am Tag, als es geschah.« Eric Zillmer, Molly Harrower, Barry Ritzler u. Robert Archer, »The Quest for the Nazi Personality« (1995)
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
das Unbewusste nicht für einen Kessel voller brodelnder Leidenschaften und einen repressiven Zensor, sondern für einen kühlen Informationsverarbeiter, dessen Aktivität wir nicht wahrnehmen. Für diese Wissenschaftler gehört u. a. auch Folgendes zum Unbewussten: 4 Schemata, die unsere Wahrnehmungen und Interpretationen automatisch steuern (7 Kap. 6); 4 Priming durch Reize, die wir nicht bewusst beachtet haben (7 Kap. 5 und 9); 4 rechtshemisphärische Aktivität, die die linke Hand eines Split-Brain-Patienten in die Lage versetzt, einen Befehl auszuführen, den der Patient nicht in Worten formulieren kann (7 Kap. 2); 4 Parallelverarbeitung verschiedener Aspekte des Sehens und Denkens (7 Kap. 5 und 10); 4 implizite Erinnerungen, die ohne bewussten Abruf wirken, auch bei Menschen mit Amnesie (7 Kap. 9); 4 Emotionen, die zu sofortigen Reaktionen führen, noch vor der bewussten Analyse der Situation (7 Kap. 13); 4 Selbstkonzept und Stereotype, die automatisch und unbewusst Einfluss darauf nehmen, wie wir Informationen über uns und andere verarbeiten (7 Kap. 15). »Zwei Passagiere lehnten sich gegen die Reling des Schiffs und starrten aufs Meer. ›Es ist sicher eine ganze Menge Wasser im Ozean‹, sagte einer. ›Ja‹, antwortete sein Freund, ›wir sehen ja nur die oberen Schichten.‹« Der Psychologe George A. Miller (1962) »Ich möchte nicht durch meine Arbeit Unsterblichkeit erlangen; ich möchte dadurch unsterblich werden, dass ich nicht sterbe.« Woody Allen
Terrormanagementtheorie (terror-management theory): besagt, dass der Glaube an die eigene Weltanschauung und das Streben nach einem hohen Selbstwertgefühl Schutz bieten gegen eine tief verwurzelte Todesangst.
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Mehr als wir glauben, fliegen wir mit Hilfe eines Autopilots. Unser Leben wird gelenkt durch eine nicht bewusste Informationsverarbeitung, die unsichtbar im wirklichen Leben stattfindet. Dieses Verständnis der nicht bewussten Informationsverarbeitung entspricht eher den Auffassungen aus der Zeit vor Freud: ein im Untergrund fließender Strom von Gedanken, aus dem spontan kreative Ideen auftauchen. Die neuere Geschichte unterstützte Freuds Annahme, dass wir uns gegen Ängste wehren. Doch wieder unterscheidet sich die heutige Vorstellung von der Freuds. Greenberg et al. (1997) glauben, dass eine Quelle für Angst »das Erschrecken ist, das aus unserer Wahrnehmung der Verwundbarkeit und des Todes rührt«. Mehr als 130 Studien, in denen sie ihre Terrormanagementtheorie testeten, zeigen, dass das Nachdenken über die eigene Sterblichkeit – indem man beispielsweise einen kurzen Aufsatz über das Sterben und die damit verbundenen Gefühle schreibt – genügend Angst hervorruft, um Vorurteile stärker werden zu lassen. Todesangst ist ein Motiv für die Verachtung anderer und für die Wertschätzung der eigenen Person. Angesichts einer bedrohlichen Welt bemühen sich die Menschen nicht nur um eine Verbesserung ihres Selbstwertgefühls, sondern suchen auch verstärkt nach Weltanschauungen, die eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben. Außerdem hängen sie an engen Beziehungen (Mikulincer et al. 2003). Die Ereignisse des 11. September – ein schlagendes Beispiel für die Schrecken des Todes – brachte die im World Trade Center gefangenen Menschen dazu, die letzten Augenblicke ihres Lebens damit zu verbringen, die Menschen anzurufen, die ihnen lieb und wichtig waren. Und sie brachten die meisten Amerikaner dazu, die Hand nach Familie und Freunden auszustrecken. Die neuere Forschung stützte in gewisser Weise auch Freuds These zu den Abwehrmechanismen (auch wenn diese nicht so funktionieren, wie Freud annahm). So fanden beispielsweise Baumeister et al. (1998), dass die Menschen dazu neigen, ihre eigenen Schwächen und Einstellungen bei anderen zu sehen; Freud nannte dieses Phänomen Projektion, die heutige Forschung nennt es Konsensüberschätzung, die Tendenz nämlich, zu überschätzen, wie viele andere Menschen die gleichen Überzeugungen und Verhaltensweisen haben wie wir (7 Kap. 1). Wer bei der Steuererklärung mogelt oder Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht beachtet, neigt zu der Auffassung, dass viele andere genauso handeln. Täuscht man jemandem vor, er habe hohe Werte bei unterdrückter Wut oder Unaufrichtigkeit, dann sieht dieser Mensch diese Fehler tendenziell häufiger auch bei anderen Menschen (Schimel et al. 2003). Mehr noch: Wenn wir versuchen, das Nachdenken über unsere eigenen Fehler zu unterdrücken, dann werden wir sie mit größerer Wahrscheinlichkeit bei anderen sehen (Newman et al. 1997). Andere Abwehrmechanismen, die an instinktive Energie gebunden sind (etwa die Verschiebung), sind allerdings wissenschaftlich kaum gesichert. Es gibt jedoch mehr Belege für Abwehrmechanismen, die das Selbstwertgefühl festigen, wie z. B. die Reaktionsbildung. Baumeisters Schlussfolgerung: ! Das Motiv für Abwehrmechanismen sind weniger die von Freud vermuteten Triebregungen, sondern unser Bedürfnis, das Selbstbild zu schützen.
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601 14.1 · Psychoanalytischer Ansatz
Auch wegen wissenschaftlicher Mängel wird Freuds Theorie von Psychologen kritisiert. Rufen Sie sich in Erinnerung, was in 7 Kap. 7 über eine gute wissenschaftliche Theorie gesagt wurde: dass sie eine Erklärung bietet für das, was beobachtet wurde, und dass sich daraus Hypothesen generieren lassen, die überprüfbar sind. Freuds Theorie beruht auf wenigen objektiven Beobachtungen und liefert z. T. nur wenige Hypothesen, die sich bestätigen lassen oder verworfen werden könnten. (Freud selbst begnügte sich offenbar mit seinen eigenen Erinnerungen und Deutungen der freien Assoziationen, der Träume und der Versprecher seiner Patienten.) ! Das größte Problem mit Freuds Theorie besteht darin, dass sie nachträgliche Erklärungen für Eigenschaften und Verhaltensweisen liefert (der eine Patient raucht, der andere hat Angst vor Pferden, beim dritten geht es um die sexuelle Orientierung), diese allerdings nicht vorhersagen kann.
Wenn Sie über den Tod Ihrer Mutter zornig sind, dann ist das nach Freuds Theorie ein Beleg dafür, dass »Ihre in der Kindheit nicht erfüllten Abhängigkeitsbedürfnisse bedroht werden«. Wenn Sie nicht zornig sind, dann ist das ein Beleg dafür, dass »Sie Ihre Wut verdrängen«. Dieses Vorgehen, sagen Hall u. Lindzey (1978, S. 68) ist so, »als wollte man auf ein Pferd wetten, wenn das Rennen schon gelaufen ist«. Eine gute Theorie macht überprüfbare Vorhersagen. Aus diesen Gründen bedienen sich einige von Freuds Kritikern harter Worte. Nach ihrem Verständnis bricht das theoretische Gebäude von Freud in sich zusammen, weil es auf dem Sumpf der kindlichen Sexualität, der Verdrängung, der Traumdeutung und der nachträglichen Spekulation erbaut wurde. »Wenn wir auf [Freuds] Schultern stehen, entdecken wir lediglich, dass wir weiterhin in die falsche Richtung blicken«, schreibt Kihlstrom (1997). Freuds schärfster Kritiker, Crews (1998), vergleicht Freud mit dem von Peter Sellers gespielten, stotternden Inspektor Clouseau – er verfüge über die einzigartige Begabung, ein ganzes Jahrhundert übers Ohr zu hauen. Was an Freuds Vorstellungen originell ist, ist nicht gut; und was gut ist, ist nicht originell (die unbewusste Seele ist ein Gedanke, der auf Plato zurückgeht). Sollte die Psychologie daher diese alte Theorie mit dem Vermerk »Bitte nicht wiederbeleben« versehen? Die Anhänger von Freud widersprechen. Sie sagen: Wenn man Freuds Theorie dahingehend kritisiert, dass sie nicht überprüfbare Vorhersagen macht, dann ist das so, als kritisiere man Fußball dafür, dass es sich hier nicht um Turmspringen handelt, also für etwas, was es nie sein sollte. Im Gegensatz zu vielen späteren Psychoanalytikern hat Freud für die Psychoanalyse nie die Bezeichnung »Wissenschaft mit Vorhersagewert« in Anspruch genommen. Er hat lediglich behauptet, ein Psychoanalytiker könne in unserem Seelenzustand rückblickend Dinge von Bedeutung finden (Rieff 1979). Freuds Anhänger verweisen auch darauf, dass einige von Freuds Gedanken immer noch aktuell sind. Freud war es, der die Aufmerksamkeit auf das Unbewusste und das Irrationale lenkte, auf unsere uns selbst schützenden Abwehrmechanismen, auf die Bedeutung, die die Sexualität für den Menschen hat, und auf die Spannung, die zwischen den Triebregungen unserer Biologie und unserem sozialen Wohlbefinden herrscht. Freud stellte unsere Selbstgerechtigkeit in Frage, beschäftigte sich genauer mit unseren Absichten und rief uns ins Gedächtnis, dass uns das Böse nicht fremd ist. In der Wissenschaft lebt Darwins Vermächtnis weiter, während das von Freud verblasst (Bornstein 2001). Freuds Vermächtnis lebt dagegen in der Alltagskultur weiter. Dazu gehören manche Gedanken, die von vielen Menschen für wahr gehalten werden: dass die Persönlichkeit durch Kindheitserfahrungen geformt wird, dass Träume uns etwas zu sagen haben und dass viele Verhaltensweisen aus Motiven entspringen, die nicht deutlich sichtbar, sondern maskiert sind. Freuds Konzepte, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, durchdringen auch die Sprache des 21. Jahrhunderts. Ohne zu wissen, aus welcher Quelle die Wörter stammen, sprechen wir von Ich, Verdrängung, Projektion, Komplex (etwa beim Minderwertigkeitskomplex), Geschwisterrivalität, Freud’scher Fehlleistung oder Fixierung. »Freuds Prämissen mögen in der Wissenschaftsgemeinde einen stetigen Niedergang erlebt haben«, bemerkt Seligman (1994), »doch in Hollywood, in Talkshows, bei vielen Therapeuten und in der allgemeinen Öffentlichkeit erfreuen sie sich nach wie vor großer Beliebtheit.«
C. Styrsky
Freuds Thesen als wissenschaftliche Theorie
Wenn ich einen Anderen geheiratet hätte, hätte ich mit dessen Geburtsdatum sicher schon gewonnen!
»Wir argumentieren wie der Mann, der sagte: »Wenn auf diesem Stuhl eine unsichtbare Katze säße, sähe der Stuhl leer aus: Der Stuhl sieht tatsächlich leer aus, folglich sitzt eine unsichtbare Katze darauf.« C. S. Lewis (»Four Loves«, 1958)
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Lernziele Abschnitt 14.2 Psychoanalytische Ansätze Ziel 2: Erklären Sie, wie Freuds Erfahrungen aus seiner Privatpraxis zu seiner Theorie der Psychoanalyse führten. Als Arzt, der auf neurologische Störungen spezialisiert war, traf Freud auf Patienten, deren Beschwerden nicht durch rein körperliche Ursachen erklärt werden konnten. Sein Versuch, diese Zustände zu verstehen, führte ihn zu seiner Theorie der Psychoanalyse, der ersten umfassenden Persönlichkeitstheorie. Ziel 3: Erörtern Sie Freuds Auffassung von der Seele als Eisberg, und erklären Sie, wie er dieses Bild nutzte, um die bewussten und unbewussten Bereiche der Seele darzustellen. Freud verglich die Seele des Menschen mit einem Eisberg, weil er der Auffassung war, dass die Seele zum größten Teil – das betrifft den unbewussten Teil – verborgen bleibt (wie der größte Teil eines Eisbergs unter dem Wasser verborgen ist); denn wir verdrängen die Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen, die Angstgefühle hervorrufen. Nach seiner Auffassung gelingt diese Verdrängung nicht vollständig; und die unangenehmen Gedanken und Gefühle kommen in versteckter Form zum Ausdruck, wenn wir sie uns nicht ins Bewusstsein rufen und uns von den Spannungen befreien, die sie erzeugen. Er versuchte, diese unbewusste Dynamik durch freie Assoziation und Traumdeutung zu analysieren.
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Ziel 4: Beschreiben Sie Freuds Auffassung von der Persönlichkeitsstruktur, und erörtern Sie die Wechselwirkungen zwischen Es, Ich und Über-Ich. Freud verstand die Persönlichkeit als Produkt eines Konflikts zwischen unseren biologischen Triebregungen und unseren sozialen Zwängen in Bezug auf diese Triebregungen. Eine wichtige Rolle in diesem Konflikt spielen 3 Systeme, die miteinander in Wechselwirkung stehen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es, das die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung will, wirkt im Unbewussten und versucht, die grundlegenden sexuellen und aggressiven Triebe zu befriedigen. Das Über-Ich, unsere internalisierten Idealvorstellungen, ist die Stimme des Gewissens, die unsere Handlungen beurteilt und Gefühle des Stolzes und der Schuld hervorruft. Zwischen ihnen steht das Ich, das großenteils bewusste, an der Realität orientierte ausführende Organ, das versucht, die Triebregungen des Es mit den Forderungen des Über-Ichs und denen der Außenwelt zu versöhnen. Ziel 5: Geben Sie Freuds Phasen der psychosexuellen Entwicklung an, und beschreiben Sie die Auswirkungen der Fixierung auf das Verhalten. Freud war der Auffassung, dass Kinder psychosexuelle Phasen durchleben – die orale, die anale, die phallische, die Latenzperiode und die genitale Phase –, in der sich das Es auf eine bestimmte erogene Zone konzentriert. Während der phallischen Phase z. B. können Jungen ein Verlangen nach ihrer Mutter haben und die Bestrafung wegen dieser Gefühle durch den Vater fürchten: eine Gruppe von Reaktionen, die Freud als Ödipuskomplex bezeichnete. Eine Person, die die Konflikte im Zusammenhang mit einer psychosexuellen Phase nicht lösen kann, kann auf diese Phase fixiert bzw. in ihr gefangen bleiben. In der Persön-
lichkeit eines Menschen werden sich die Symptome dieser Fixierung als fehlangepasstes Verhalten zeigen; es konzentriert sich auf die erogene Zone, die in dieser Phase dominierend ist. Ziel 6: Beschreiben Sie die Funktion der Abwehrmechanismen, und nennen Sie einige von ihnen. Freud war der Überzeugung, das Ich verwende die Abwehrmechanismen dazu, sich selbst vor Angst zu schützen, die als Nebenprodukt des Konflikts zwischen den konkurrierenden Forderungen des Es und des Über-Ichs entsteht. Der grundlegende Abwehrmechanismus ist nach Freud die Verdrängung (Verbannung lästiger Gedanken und Gefühle ins Unbewusste); weitere sind die Regression (Rückzug in eine infantile Phase), die Reaktionsbildung (Umwandlung nicht akzeptablerTriebregungen ins akzeptable Gegenteil), die Projektion (Attribuierung der eigenen nicht akzeptablen Triebregungen auf andere), die Rationalisierung (Erklärung des eigenen Verhaltens eher mit Hilfe von Motiven, die das Selbst rechtfertigen, als durch inakzeptable Motive) und die Verschiebung (Konzentration sexueller oder aggressiver Triebregungen auf jemanden, der akzeptabler ist als die Person, die die Emotion erregt hat). Ziel 7: Stellen Sie die neofreudianischen und psychodynamischen Theorien der ursprünglichen Theorie von Freud gegenüber. Die Neofreudianer akzeptierten Freuds grundlegende Auffassungen (die Struktur aus Es, Ich und Über-Ich, die Bedeutung des Unbewussten, die Ausbildung der Persönlichkeit in der Kindheit sowie die Dynamik der Angst und der Abwehrmechanismen). Sie argumentierten aber auch, dass wir noch andere Motive außer Sexualität und Aggression hätten und dass die bewusste Kontrolle des Ichs stärker sei als vermutet. Alfred Adler (der den Begriff Minderwertigkeitskomplex prägte) und Karen Horney (die Freuds Auffassung von der Minderwertigkeit der Frauen widerlegte) vertraten die Meinung, dass nicht sexuelle, sondern soziale Spannungen entscheidend für die Ausbildung der Persönlichkeit sind. Carl Jung schlug ein kollektives Unbewusstes vor, das Erinnerungsspuren aus der Geschichte der Spezies enthält. Die heutigen psychodynamischen Theoretiker und Therapeuten lehnen einige Aspekte von Freuds Theorie ab, so etwa den Gedanken, dass sexuelle Spannungen zentral für die Ausbildung der Persönlichkeit sind. Sie sind aber gemeinsam mit Freud der Auffassung, dass ein Großteil unseres Seelenlebens unbewusst ist, dass die Kindheit unsere Persönlichkeit und die Bindungsstile formt und dass wir innere Konflikte zwischen unseren Wünschen, Ängsten und Wertvorstellungen erleben. Ziel 8: Beschreiben Sie 2 projektive Tests, die verwendet werden, um die Persönlichkeit zu erfassen, und erörtern Sie einige Kritikpunkte daran. Der Thematische Apperzeptions Test (TAT) besteht aus einer Reihe von vieldeutigen Bildern, die dazu verwendet werden, eine Geschichte erzählen zu lassen, bei der die Probanden ihre eigenen inneren Gefühle und Interessen zum Ausdruck bringen. Anwender des Rorschach-Tests (»Tintenklecks-Test«), des am stärksten verbreiteten projektiven Tests, bitten die Probanden, eine Reihe von Tintenklecksen zu deuten. Dies 6
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geschieht wieder unter der Annahme, dass die Probanden so ihre verborgenen Gefühle offenbaren. Keiner dieser Tests ist bekannt für seine Reliabilität (Konsistenz der Ergebnisse) oder für seine Validität (vorherzusagen, was sie vorhersagen sollen). Ziel 9: Fassen Sie zusammen, wie die heutige Psychologie Freuds Theorie der Psychoanalyse beurteilt. Die neuere Forschung steht im Widerspruch zu vielen von Freuds grundlegenden Auffassungen; z. B. zur überragenden Bedeutung der Kindheitserlebnisse, dem Ausmaß des elterlichen Einflusses, der zeitlichen Abfolge der Ausbildung der Geschlechtsidentität, der Bedeutung der Sexualität in der Kindheit, dem Vorhandensein eines verborgenen Inhalts in Träumen und der Häufigkeit verdrängter Erinnerungen. Kritiker merken an, dass Freuds Vorstellungen nicht durch wissenschaftliche Methoden verifizierbar sind und dass seine Theorie nur nachträgliche Erklärungen liefert. Freuds Anhänger erwidern, dass für Freud die Psychoanalyse nur eine Möglichkeit war, einen Sinn in unserer Existenz zu finden, und er sie nicht als prädiktive Wissenschaft ansah. Freud lenkte die Aufmerksamkeit der Psychologie auf das Unbewusste und den Kampf darum, die Angst zu bewältigen. Obwohl die heutige Forschung
14.2
14
Freuds Auffassung von der unbewussten Seele als Speicher für Gedanken und Gefühle nicht bestätigen konnte, deuten die in diesem Buch angeführten Befunde darauf hin, dass es zu einer umfassenden Informationsverarbeitung kommt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Die momentane Forschung konnte das Vorhandensein einiger Abwehrmechanismen nicht bestätigen, die eng mit der Abwehr des Unbewussten zusammenhängen. Sie bestätigt aber das Vorhandensein anderer Abwehrmechanismen, die das Selbstwertgefühl schützen, wie etwa der Reaktionsbildung, des Effekts der Konsensüberschätzung (ähnlich dem Abwehrmechanismus der Projektion bei Freud) und des Terrormanagements (Abwehr der Todesangst durch Streben nach Selbstwertgefühl oder durch festen Glauben an die eigene Sicht der Welt). Schließlich kommt Freud das Verdienst zu, die Aufmerksamkeit auf den Konflikt zwischen den biologischen Triebregungen und den sozialen Zwängen gerichtet zu haben. Und fraglos war sein Einfluss auf unsere Kultur beträchtlich. > Denken Sie weiter: Welche Vorstellung von Freud und seiner Lehre hatten Sie, ehe Sie mit diesem Kapitel anfingen? Hat sich nach der Lektüre daran etwas geändert?
Humanistischer Ansatz
Etwa um 1960 wuchs die Unzufriedenheit mancher Persönlichkeitspsychologen mit Freuds negativem Menschenbild und mit der mechanistischen Psychologie des Behaviorismus von B.F. Skinner. Freuds Interesse galt »kranken« Menschen; dagegen interessierten sich die humanistischen Psychologen dafür, auf welche Weise »gesunde« Menschen ihr Streben nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umsetzen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Objektivität des Behaviorismus untersuchten sie Menschen mit Hilfe ihrer eigenen, von ihnen selbst berichteten Erlebnisse und Gefühle. Die beiden Pioniere der Bewegung – Abraham Maslow (1908–1970) und Carl Rogers (1902– 1987) – boten einen Ansatz an, der ihrem Anspruch nach über Freud und Skinner hinausging: Sie legten ein besonderes Gewicht auf das Potenzial des Menschen und sahen dabei die Welt nicht mit den Augen des Wissenschaftlers, sondern aus einem allgemein menschlichen Blickwinkel.
14.2.1
Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung
Ziel 10: Fassen Sie Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung zusammen, und erklären Sie, wie seine Gedanken den humanistischen Ansatz veranschaulichen. Abraham Maslow »Jede Motivationstheorie, die unsere Aufmerksamkeit verdient, muss sich mit den größten Fähigkeiten eines gesunden und starken Menschen ebenso befassen wie mit den Abwehrmanövern einer verkümmerten Seele.« (Maslow 1970)
Bettmann/Corbis
Maslow nahm an, dass der Mensch seine Motivation an einer Bedürfnishierarchie orientiert (7 Kap. 12). Sobald die physiologischen Bedürfnisse befriedigt sind, strebt der Mensch nach Sicherheit. Ist das Bedürfnis nach Sicherheit gestillt, erwacht das Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit: Man will lieben, geliebt werden und sich selbst lieben. Sobald auch dieses Bedürfnis befriedigt ist, strebt der Mensch nach einem positiven Selbstwertgefühl. Hat er dies erreicht, ist sein nächstes Ziel
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Selbstverwirklichung (self-actualization): nach Maslow das höchste psychologische Bedürfnis, das auftritt, wenn alle physischen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllt sind und Selbstwertgefühl erlangt wurde; Selbstverwirklichung ist die Motivation, das eigene Potenzial zu verwirklichen.
die Selbstverwirklichung, in Maslows Theorie der Prozess der Verwirklichung des eigenen Potenzials. Maslow (1970) entwickelte seine Ideen weniger bei der Untersuchung klinischer Problemfälle als bei der Beobachtung gesunder, kreativer Menschen. Als Grundlage seiner Beschreibung des Konzepts der Selbstverwirklichung diente ihm eine Studie über Menschen, die für ihr erfülltes und produktives Leben bekannt waren; dazu gehörten Abraham Lincoln, Thomas Jefferson und Eleanor Roosevelt. Maslow fand, dass all diese Menschen bestimmte charakteristische Merkmale aufwiesen: Sie waren sich ihrer selbst bewusst, akzeptierten sich, waren offen und spontan, liebevoll und fürsorglich und ließen sich von der Meinung anderer nicht lähmen. Da ihnen ihr Gefühl dafür, wer sie waren, Sicherheit verlieh, waren ihre Interessen eher problemzentriert als selbstzentriert. Sie steckten ihre Energie in eine bestimmte Aufgabe, die sie oft als ihre Mission betrachteten. Die meisten von ihnen hatten lieber einige wenige tiefe als viele oberflächliche Beziehungen. Bei vielen stand am Anfang eine persönliche oder spirituelle höchste Erfahrung, die über das normale Bewusstsein hinausging. Das sind die Persönlichkeitsmerkmale, die ein reifer Erwachsener haben sollte, sagte Maslow. Es handelt sich um die Eigenschaften, die man bei denen findet, die genug über das Leben gelernt haben, um Mitgefühl zeigen zu können, die, die aus ihren gemischten Gefühlen gegenüber den Eltern herausgewachsen sind, die, die ihre Berufung gefunden haben und »genügend Mut erworben haben, um sich unbeliebt zu machen, sich nicht zu genieren, offen ihre Tugendhaftigkeit zu zeigen etc.«. Maslows Arbeit mit Studierenden brachte ihn dazu, Mutmaßungen anzustellen, wer wahrscheinlich bis zur Selbstverwirklichung gelangen würde: Es waren die, die liebenswürdig, fürsorglich waren und »sich auch privat freundschaftlich den älteren Menschen zuwandten, die es verdient hatten« und die »insgeheim ein Unbehagen gegenüber der Grausamkeit, der Gemeinheit und der Mobbing-Atmosphäre hatten, wie man sie so oft unter jungen Menschen findet«.
14.2.2
Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz
Ziel 11: Erörtern Sie die personzentrierte Sichtweise von Carl Rogers, und erklären Sie, warum die unbedingte Wertschätzung wichtig ist.
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Rogers war ebenfalls ein humanistischer Psychologe und stimmte in vielem mit Maslows Gedanken überein. Rogers glaubte, der Mensch sei im Grunde gut und habe die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung. Wenn die Umwelt das Wachstum nicht behindert oder durchkreuzt, dann ist jeder Mensch der Eichel gleich, die keimt und wächst und als Baum ihren Lebenssinn erfüllt.
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! Rogers (1980) vertritt die Ansicht, dass für ein Wachstum förderndes Klima 3 Faktoren unabdingbar sind: Echtheit, unbedingte Wertschätzung und Empathie. Empathie Sich offen zu zeigen und vertraulich miteinander zu sprechen ist leichter, wenn der Zuhörer echtes Verständnis aufbringt. In solchen Beziehungen kann man sich entspannen und das eigene Selbst in seiner ganzen Fülle zum Ausdruck bringen
Unbedingte Wertschätzung (unconditional positive regard): nach Rogers eine Einstellung, die durch das vollkommene Akzeptieren eines anderen Menschen gekennzeichnet ist.
Nach Rogers Meinung wird unser Wachstum von anderen Menschen gefördert, wenn sie echt sind, d. h. ihre eigenen Gefühle offen akzeptieren, keine Fassade aufrechterhalten, durchschaubar und offenherzig sind. Auch akzeptierende Menschen fördern unser Wachstum: Menschen, die uns das schenken, was Rogers unbedingte Wertschätzung nannte. Damit ist eine wohlwollende Einstellung gemeint, die unseren Wert trotz unserer Versäumnisse schätzt. Es ist eine große Erleichterung, Ansprüche fallen zu lassen, die schlimmsten Gefühle offen einzugestehen, und dann zu entdecken, dass man immer noch akzeptiert wird. In einer guten Ehe, einer engen Familienbindung oder einer tiefen Freundschaft haben wir die Freiheit, spontan zu sein, ohne dabei befürchten zu müssen, die Wertschätzung der anderen zu verlieren. Auch empathisches Verhalten fördert unser Wachstum: Mitgefühl zu bekommen und unsere Gefühle, Gedanken und deren Bedeutung für uns gespiegelt zu sehen. »Wir hören kaum einmal mit echtem Verständnis, wahrer Empathie zu«, sagte Rogers. »Doch diese ganz spezielle Art des Zuhörens ist eine der stärksten Kräfte, die ich kenne, um Veränderungen zu bewirken.« Rogers meinte, dass Echtheit, Wertschätzung und Empathie das Wachstum nicht nur im therapeutischen Setting fördern, also in der Beziehung zwischen Therapeut und Klient, sondern in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Gruppenleiter und Gruppe, Lehrer und
605 14.2 · Humanistischer Ansatz
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Schüler, Verwaltung und Lehrkörper – kurzum, in zwischenmenschlichen Beziehungen jeglicher Art. ! Für Maslow – und noch mehr für Rogers – ist das Selbstkonzept ein zentrales Merkmal der Persönlichkeit: Gedanken und Gefühle, die als Reaktion auf die Frage »Wer bin ich?« auftreten.
Menschen mit positivem Selbstkonzept nehmen die Welt positiv wahr und handeln entsprechend. Mit einem negativen Selbstkonzept – wenn wir in unseren eigenen Augen zu weit entfernt von unserem »Ideal-Selbst« sind –, fühlen wir uns nach Rogers unzufrieden und unglücklich. Ein sinnvolles Ziel ist demnach für Therapeuten, Eltern, Lehrer und Freunde, anderen zu helfen, sich selbst zu erkennen, zu akzeptieren und zu sich selbst ehrlich zu sein. Die auf dem Ansatz von Rogers basierende Form der Psychotherapie ist heute als personzentrierte Psychotherapie bzw. als Gesprächspsychotherapie oder nicht-direktive Psychotherapie bekannt und wird in 7 Kap. 18 dargestellt.
14.2.3
Erfassung des Selbst
Ziel 12: Erklären Sie, wie die humanistischen Psychologen die Persönlichkeit erfasst haben.
Manchmal haben humanistische Psychologen Fragebögen bei der Erfassung des Selbst verwendet und Menschen gebeten, Fragebögen zur Bewertung des Selbstkonzepts auszufüllen. In einem im Geist Carl Rogers’ entwickelten Fragebogen sollten die Probanden sich selbst beschreiben, und zwar einmal so, wie sie idealerweise gerne wären, und einmal so, wie sie tatsächlich sind. Sind ideales Selbst und tatsächliches Selbst annähernd gleich, sagte Rogers, hat diese Person ein positives Selbstkonzept. Wenn Rogers im Rahmen einer Therapie das persönliche Wachstum seiner Klienten immer wieder erfasste, achtete er bei dem Klienten vor allem auf immer näher beieinander liegenden Einstufungen des tatsächlichen und des idealen Selbst. Manche humanistischen Psychologen vertraten die Ansicht, dass eine standardisierte Erfassung der Persönlichkeit, sogar durch einen Fragebogen, eine Depersonalisierung darstellt. Sie wollten den Klienten nicht zwingen, ihre Antworten in eng gefasste Kategorien zu zwängen. Diese humanistischen Psychologen gingen dagegen davon aus, dass ein Interview und ein offenes Gespräch ein besseres Verständnis für die einzigartigen Erfahrungen eines jeden Menschen liefern würden.
14.2.4
Bewertung des humanistischen Ansatzes
Ziel 13: Nennen Sie den Hauptkritikpunkt an der humanistischen Sichtweise der Persönlichkeit.
Etwas, was Freud nachgesagt wird, kann man auch über die humanistischen Psychologen sagen: Ihr Einfluss war überall zu sehen. Ihre Gedankenwelt hat die Beratung, die Bildung, die Kindererziehung und das Management beeinflusst. Auch auf die Populärpsychologie unserer Zeit haben sie Einfluss genommen, manchmal sogar unabsichtlich. Viele Menschen haben die Gedanken von Maslow und Rogers in sich aufgenommen: dass ein positives Selbstkonzept der Schlüssel zu Glück und Erfolg ist, dass die Akzeptanz und Empathie, die einem entgegengebracht werden, die eigenen positiven Gefühle stärken und dass Menschen grundsätzlich gut sind und auch durchaus fähig, besser zu werden. Eine Untersuchung besagte, dass viermal so viele Amerikaner davon überzeugt sind, dass »die menschliche Natur grundsätzlich gut ist«, als die, die glauben, der Mensch sei »im Grunde seines Herzens pervers und korrupt« (NORC 1985). Die humanistischen Psychologen können sich auch zufrieden auf die Schulter klopfen: Sie haben die Beantwortung eines Items des MMPI (des am stärksten verbreiteten Persönlichkeitstests) beeinflusst: Bei der 1930 standardisierten Stichprobe gaben nur 9% an, »ein wichtiger Mensch zu sein«; Mitte der 80er Jahre gaben mehr als die Hälfte der Testpersonen diese Antwort. Nach
Selbstkonzept (self-concept): alle Gedanken und Gefühle, die bei der Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« aufkommen.
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
einer Gallup-Umfrage bewerteten 85% der Amerikaner die Aussage: »Ich habe ein gutes Selbstbild oder Selbstachtung« als sehr wichtig; und niemand stufte sie als unwichtig ein. Und bei einer 1992 von der Zeitung »Newsweek« durchgeführten Gallup-Befragung gaben 89% an, »Selbstwertgefühl ist sehr wichtig für die Motivation eines Menschen, hart zu arbeiten und Erfolg zu haben«. Die Botschaft der humanistischen Psychologie war angekommen. Vielleicht wurde die Botschaft deshalb so bereitwillig akzeptiert, weil der Akzent auf dem eigenen Selbst liegt und weil die kulturellen Werte der westlichen Welt hier bekräftigt werden. Drehbuchautoren beschreiben zerlumpte Individualisten, die sich selbst treu bleiben, gegen gesellschaftliche Konventionen ankämpfen oder gar das Gesetz in die eigene Hand nehmen. Populäre Songs proklamieren »I Did it My Way« und erinnern uns daran, dass die Liebe zu sich selbst »The Greatest Love of All« ist (Schoeneman 1994). Dass der humanistische Ansatz auf eine so breite Resonanz stieß, führte aber auch zu heftiger Kritik. Erstens, argumentierten die Kritiker, sind die Konzepte verschwommen und subjektiv. Nehmen wir nur einmal die Beschreibung von »sich selbst verwirklichenden« Menschen: Sie sind offen, spontan, liebevoll, produktiv und akzeptieren sich selbst. Ist das eine wissenschaftliche Beschreibung? Ist das nicht vielmehr eine Beschreibung von Maslows eigenen Werten und Idealen? Smith (1978) merkte dazu an: Maslow lieferte uns einen Eindruck von seinen persönlichen Heldenfiguren. Aber stellen Sie sich vor, ein anderer Theoretiker hätte andere Helden, vielleicht Napoleon, Alexander den Großen und John D. Rockefeller sen. Dieser Theoretiker würde wahrscheinlich einen sich selbst verwirklichenden Menschen als »unbeeinträchtigt von den Bedürfnissen anderer Menschen«, »leistungsmotiviert« und »machtbesessen« beschreiben. Die Kritiker hatten auch Einwände gegen folgende Formulierung von Carl Rogers: »Die einzige wirklich wichtige Frage ist: ›Lebe ich auf eine Weise, die mich zutiefst befriedigt und in der ich mein wahres Wesen zum Ausdruck bringen kann?‹« (Wallach u. Wallach 1985). Die humanistische Psychologie ermutigte zum Individualismus – handeln im Vertrauen auf die eigenen Gefühle, sich selbst gegenüber wahrhaftig sein und nach Selbsterfüllung streben. Doch kann dies auch, wie die Kritiker anmerkten, zu Zügellosigkeit, Selbstsucht und zur Erosion moralischer Hemmungen führen (Campbell u. Specht 1985; Wallach u. Wallach 1983). Tatsächlich sind es jene, die ihr Interesse über das eigene Selbst stellen, die mit größter Wahrscheinlichkeit soziale Unterstützung erfahren, das Leben genießen und vernünftig mit Stress umgehen (Crandall 1984). Die humanistischen Psychologen halten dagegen, dass eine sichere, nicht abwehrende Akzeptanz ja nur der erste Schritt auf dem Weg zur Nächstenliebe ist. Menschen, die sich intrinsisch gemocht und akzeptiert fühlen – d. h. um ihrer selbst willen, nicht wegen ihrer Leistungen – zeigen nicht so viele Abwehrhaltungen (Schimel et al. 2001). ! Ein zentraler Vorwurf, der gegen die humanistische Psychologie erhoben wird, besteht darin, dass die Realität unseres Potenzials zum Bösen nicht berücksichtigt wird.
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Angesichts der globalen Erwärmung, der Überbevölkerung, des Terrorismus und der Verbreitung von Atomwaffen könnten wir leicht in Apathie versinken und das auf 2 Arten rationalisieren: Die eine ist der naive Optimismus, der die Bedrohung leugnet (»Im Grunde ihres Herzens sind die Menschen gut, und alles wird in Ordnung kommen«); die andere ist die fatalistische Verzweiflung (»Es ist hoffnungslos; warum also versuchen, etwas zu verändern?«). Wer handelt, braucht genügend Realismus, um der Betroffenheit Energie zu verleihen; er braucht aber auch genügend Optimismus, um die Hoffnung nicht völlig aufzugeben. Die humanistische Psychologie, sagen die Kritiker, ermutigt zwar zu der notwendigen Hoffnung, nicht aber zu der gleichfalls notwendigen realistischen Einstellung gegenüber dem Bösen. Auch innerhalb der humanistischen Psychologie gab es Debatten über das Thema, ob die Menschen grundsätzlich gut sind. Carl Rogers war eindeutig davon überzeugt. Obgleich ihm die »unglaubliche Fülle« grausamer, destruktiver Verhaltensweisen in der Welt durchaus bewusst war, fand er doch nicht, dass »dieses Böse der menschlichen Natur inhärent ist«. Er stellte fest, er habe nie einen Menschen kennen gelernt, der, wenn man ihn in einen Wachstum fördernden Kontext stellt, den »Weg der Grausamkeit und der Destruktion« gewählt hätte (Rogers 1981). Nach Rogers entspringt das Böse nicht der menschlichen Natur, sondern ist das Ergebnis des »einengenden, destruktiven Einflusses des Erziehungssystems, der ungerechten Verteilung des Reichtums [und] unserer kulturbedingten Vorurteile gegenüber Individuen, die anders sind«.
607 14.3 · Trait-Ansatz
Sein Kollege Rollo May, gleichfalls humanistischer Psychologe, war anderer Meinung. Natürlich spielt der kulturelle Kontext eine Rolle, sagte er. Doch: »Wer macht denn die Kultur? Das sind doch Menschen wie du und ich. Kultur ist böse und gut zugleich, weil wir, die Menschen, die diese Kultur konstituieren, auch böse und zugleich gut sind.« May stimmte den Kritikern zu, die beobachteten, wie Menschen sich der humanistischen Bewegung anschlossen und nach einer »Gemeinschaft von Gleichgesinnten« suchten, »die sich auch den Übeln gegenüber, die uns umgeben, tot stellen«. Wer die Realität des Bösen im Menschen akzeptieren will, braucht »die uralten religiösen Wahrheiten, die von Gnade und Vergebung sprechen«, sagte er. »Und da ist kein Raum für Selbstgerechtigkeit« (May 1982). Lernziele Abschnitt 14.2 Humanistische Ansätze Ziel 10: Fassen Sie Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung zusammen, und erklären Sie, wie seine Gedanken den humanistischen Ansatz veranschaulichen. Maslow schlug eine Bedürfnishierarchie vor, die von den grundlegendsten physiologischen Bedürfnissen bis zum höchsten Bedürfnis der Selbstverwirklichung reichte. Er war der Auffassung, dass die Menschen, nachdem sie die anderen Bedürfnisse (physiologische, Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe, Selbstwertgefühl) befriedigt haben, motiviert sein werden, ihr höchstes Potenzial auszuschöpfen. Er kam zu seiner Beschreibung einer selbstverwirklichten Person, indem er die Eigenschaften gesunder und kreativer Menschen, die ein beispielhaftes Leben führten, untersuchte und zusammenfasste. Maslow stellt den Versuch der humanistischen Psychologen, die Aufmerksamkeit der Psychologie von den grundlegenderen Motiven und der Konditionierung durch die Umgebung weg und auf das Wachstumspotenzial gesunder Menschen hin zu lenken, als etwas elementar Gutes dar. Ziel 11: Erörtern Sie die personzentrierte Sichtweise von Carl Rogers, und erklären Sie, warum die unbedingte Wertschätzung wichtig ist. Wie Maslow glaubte Rogers daran, dass Menschen wachsen und ihre Tendenzen zur Selbstverwirklichung in die Tat umsetzen werden, wenn dies nicht durch ihre Umwelt hintertrieben wird. Wir können das Wachstum bei anderen hin zu einem tieferen Selbst dadurch fortentwickeln, dass wir echt, akzeptierend und empathisch sind. Rogers’Meinung nach ist ein Teil dieser akzeptierenden Haltung die unbedingte Wertschätzung – eine Einstellung der vollständigen Akzeptanz gegenüber der
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anderen Person. Nach seiner Auffassung ist unser Selbstkonzept ein zentrales Merkmal der Persönlichkeit; dabei handelt es sich um unsere Gedanken und Gefühle in Reaktion auf die Frage »Wer bin ich?«. Ziel 12: Erklären Sie, wie die humanistischen Psychologen die Persönlichkeit erfasst haben. Zur Erfassung der Persönlichkeit verwendeten einige humanistischen Psychologen Fragebögen, auf denen die Befragten ihr Selbstkonzept beschreiben konnten, z. B. indem sie ihr tatsächliches Selbst mit ihrem idealen Selbst verglichen. Andere glaubten, dass wir die subjektiven persönlichen Erfahrungen einer Person nur über Interviews und vertrauliche Gespräche verstehen könnten. Ziel 13: Nennen Sie den Hauptkritikpunkt an der humanistischen Sichtweise der Persönlichkeit. Dank der humanistischen Psychologie wurde das Interesse der Psychologie am Selbst wieder neu geweckt. Die Kritiker dieses Ansatzes klagen jedoch darüber, dass die Konzepte verschwommen und subjektiv sind; die Wertvorstellungen der humanistischen Psychologen seien individualistisch und auf das eigene Selbst zentriert, und die Annahmen der humanistischen Psychologie seien in naiver Weise optimistisch. > Denken Sie weiter: Gab es in Ihrem Leben jemanden, der Sie bedingungslos akzeptiert hat? Glauben Sie, dass dieser Mensch Ihnen geholfen hat, sich selbst besser zu erkennen und ein besseres Selbstbild zu entwickeln?
Trait-Ansatz
Ziel 14: Geben Sie den Hauptunterschied zwischen dem Trait-Ansatz und dem psychoanalytischen Ansatz zur Persönlichkeit an.
Die Trait-Forschung versucht, die Persönlichkeit im Sinne stabiler und zeitüberdauernder Verhaltensmuster zu definieren, wie etwa bei der Treue und beim Optimismus eines Sam Gamdschie. Die Spur der Trait-Perspektive führt zum Teil zurück zu einer bemerkenswerten Begegnung im Jahr 1919, als der 22-jährige Psychologiestudent Gordon Allport in Wien ein Gespräch mit Sigmund Freud führte. Allport merkte sehr bald, dass das vorherrschende Interesse des Begründers der Psychoanalyse darin bestand, verborgene Motive aufzudecken (Allport 1967, S. 7–8):
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Gleich nachdem ich den berühmten roten Raum mit den Traumbildern an den Wänden betreten hatte, rief mich Freud in sein Arbeitszimmer. Er sprach mich nicht an, sondern saß nur in erwartungsvollem Schweigen und wartete, dass ich ihm mein Anliegen nennen sollte. Auf Schweigen war ich nicht vorbereitet, und ich dachte schnell darüber nach, womit ich das Gespräch eröffnen könnte. Ich erzählte ihm, was ich auf der Fahrt zu ihm in der Straßenbahn erlebt hatte. Ein kleiner Junge von etwa 4 Jahren hatte eine verdächtige Schmutzphobie gezeigt. Er sagte ständig zu seiner Mutter: »Da will ich nicht sitzen … der dreckige Mann soll nicht neben mir sitzen.« Für ihn war alles schmutzig. Seine Mutter war eine Hausfrau in gestärkter Kleidung, sie sah so dominant und zielstrebig aus, dass mir schien, als seien Ursache und Wirkung hier ganz offensichtlich. Als ich mit meiner Geschichte zu Ende gekommen war, richtete Freud seinen freundlichen Therapeutenblick auf mich und sagte: »Und waren Sie der kleine Junge?« Völlig verblüfft und ein bisschen schuldbewusst suchte ich nach einem neuen Gesprächsthema. Dass Freud meine Motivation so missverstanden hatte, belustigte mich, doch es setzte auch ein tiefes Nachdenken in Gang. Trait (Merkmal, Persönlichkeitszug): für einen bestimmten Menschen typisches Verhaltensoder Veranlagungsmuster, das sich in seiner Art zu fühlen und zu handeln ausdrückt; kann erfasst werden durch Fragebögen zur Erhebung der Selbst- und der Fremdeinschätzung.
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Dieses Nachdenken brachte Allport letztlich dazu, das zu tun, was Freud nicht tat: den Begriff der Persönlichkeit anhand von grundlegenden Eigenschaften, sog. Traits (»trait« = Eigenschaft, heute spricht man eher von Merkmalen), zu beschreiben, d. h. anhand der typischen Verhaltensweisen und bewussten Motive eines Menschen (wie beispielsweise der professionellen Neugier, die Allport motiviert hatte, Freud kennen zu lernen). Meine Begegnung mit Freud, sagte Allport, »lehrte mich, dass [Psychoanalyse] trotz all ihrer Verdienste vielleicht zu sehr in die Tiefe geht und dass Psychologen wohl gut daran täten, zunächst den manifesten Motiven ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, ehe sie ins Unbewusste vordringen«. Es gelang Allport, eine Definition von Persönlichkeit zu entwickeln, die auf identifizierbaren Verhaltensmustern beruhte. Sein Anliegen bestand weniger darin, individuelle Eigenschaften zu erklären, sondern eher darin, sie zu beschreiben. Wie können Theoretiker dann Persönlichkeitsmerkmale dazu nutzen, Persönlichkeiten zu beschreiben und zu klassifizieren? Eine Möglichkeit ist, Menschen mit Hilfe breit gefasster »Typen« von Persönlichkeit zu beschreiben, die Ausdruck des bemerkenswertesten Persönlichkeitsmerkmals und der damit verbundenen charakteristischen Kennzeichen sind. Zum besseren Verständnis wollen wir eine Analogie heranziehen. Stellen Sie sich vor, Sie wollten Äpfel beschreiben und in Gruppen zusammenfassen. Vielleicht sagt jemand völlig zu Recht, dass jeder Apfel ein einzigartiges Exemplar ist. Doch Sie finden es immer noch nützlich, die Äpfel erst einmal nach bestimmten Typen zu ordnen: Granny Smith, Boskop, Red oder Golden Delicious usw. Auf diese Art haben die alten Griechen den Begriff der Persönlichkeit beschrieben: Sie haben die Menschen nach 4 Typen geordnet. Je nachdem, welche »Körperflüssigkeit« ihrer Meinung nach vorherrschend war, unterschieden sie zwischen melancholisch (depressiv), sanguinisch (fröhlich), phlegmatisch (gefühlsarm) und cholerisch (reizbar). Eine neuere Klassifikation, die von Isabel Briggs Myers (1987) und ihrer Mutter Kathleen Briggs formuliert wurde, ist ein Versuch, Menschen in C.G. Jungs Schema der Persönlichkeitstypen einzuordnen. Der »Myers-Briggs-Typenindikator«, der jährlich bei 2,5 Mio. Amerikaner zur Anwendung kommt und von 89% der größten Konzerne verwendet wird, ist recht einfach (Gladwell 2004). Es werden Fragen gestellt wie beispielsweise: »Bewerten Sie normalerweise Gefühl höher als Logik, oder bewerten Sie Logik höher als Gefühl?« Dann werden die Vorlieben des Probanden ausgezählt, die Antworten werden als Indikator für einen »Fühl«- oder »Denktyp« gewertet und dann der Testperson mit ergänzenden Bemerkungen zurückgemeldet. Einem Fühltyp sagt man beispielsweise, er reagiere sensibel auf Wertvorstellungen, sei »sympathisch, verständnisvoll und habe Taktgefühl«, während ein Denktyp erfährt, dass er »objektive Wahrheit zu schätzen wisse« und »gut im Analysieren« sei. (Jeder Typus hat seine Stärken, so dass jedem geschmeichelt wird.) Die meisten Menschen stimmen diesem Typenprofil zu; denn es gibt ja ihre erklärten Stärken und Vorlieben wieder und hinterlässt bei ihnen ein gutes Gefühl. Vielleicht akzeptieren sie auch ihre Kategorisierung als Basis dafür, dass sie zu den Arbeitspartnern passen und dass man ihnen die Aufgabe überträgt, die ihrem Temperament vermutlich entspricht. Ein Bericht des amerikanischen National Research Council merkte jedoch an, dass sich der Einsatz des Tests trotz seiner Beliebtheit im Geschäftsleben und in der Personalberatung verselbständigt hat und über seinen ursprünglichen Anwendungsbereich, die Vorhersage der Arbeitsleistung, hinausgegangen ist und dass »die Verbreitung dieses Instruments ohne Nachweis des wissenschaftlichen Werts eine be-
609 14.3 · Trait-Ansatz
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unruhigende Vorstellung ist« (Druckman u. Bjork 1991, S.101; Pittenger 1993). Seit diese Warnung ausgesprochen wurde, hat sich die Forschung über den Myers-Briggs-Test verstärkt, auch dank Zeitschriften wie »The Journal of Psychological Type«.
14.3.1
Exploration von Merkmalen
Menschen als den einen oder anderen Persönlichkeitstyp zu klassifizieren, wird ihrer vollen Individualität nicht gerecht. Wir sind alle jeweils eine einzigartige Gesamtheit mehrerer Persönlichkeitsmerkmale. Aber wie sonst können wir unsere Persönlichkeiten beschreiben? Nehmen wir noch einmal die Apfelanalogie: Wir könnten einen Apfel auch beschreiben, indem wir ihn auf mehreren Merkmalsdimensionen einordnen. Ein Apfel könnte relativ groß oder klein sein, rot oder gelb, süß oder säuerlich. Bei gleichzeitiger Verwendung mehrerer Merkmalsdimensionen kann der Psychologe unzählige individuelle Persönlichkeitsvarianten beschreiben. (Denken Sie an 7 Kap. 5, in dem dargestellt wird, wie die Variationen auf nur 3 Farbdimensionen – Schattierung, Farbsattheit und Leuchtkraft – schon ein paar Tausend Farben hervorbringen.) Mit welchen Merkmals- oder Eigenschaftsdimensionen lässt sich Persönlichkeit beschreiben? Hätten Sie sich zu einem »blind date« verabredet: Welche Persönlichkeitsmerkmale könnten Ihnen dann ein genaues Gefühl von der Person vermitteln, die Sie treffen wollen? Allport u. Odbert (1936) griffen zur ungekürzten Fassung eines Lexikon der englischen Sprache und zählten buchstäblich alle Wörter aus, mit denen Menschen beschrieben werden. Was meinen Sie, wie viele es waren? Fast 18.000! Auf welche Weise haben nun die Psychologen diese Menge auf eine handhabbare Liste grundlegender Merkmale reduziert?
Faktorenanalyse Eine Möglichkeit bestand darin, gewisse Merkmale auszuwählen, etwa Angst, die in manchen Theorien als grundlegende Eigenschaft betrachtet wird. Ein moderneres statistisches Verfahren ist die Faktorenanalyse (7 Kap. 11) zur Identifizierung der Gruppen von Testitems, die etwa dem Merkmal Intelligenz zugeordnet werden und in Skalen zusammengefasst werden können (z. B. räumliche Fähigkeiten oder verbale Fertigkeiten). Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich selbst als offen und unternehmungslustig bezeichnet: Er würde wohl auch sagen, dass er Aufregung liebt, gerne Witze macht, dass aber stille Lektüre nicht so sehr sein Fall ist. Eine solche statistisch miteinander korrelierende Gruppe von Verhaltensweisen ist Ausdruck eines grundlegenden Faktors – oder eines Persönlichkeitsmerkmals –, in unserem hypothetischen Fall hier des Merkmals Extraversion. Die britischen Psychologen Hans und Sybil Eysenck glaubten, dass sich viele unserer normalen individuellen Variationen auf 2 oder 3 Dimensionen reduzieren lassen; dazu gehören »Extraversion–Introversion« und »emotionale Stabilität–Labilität« (. Abb. 14.4). Menschen in 35 Ländern auf der ganzen Welt, von China über Russland bis Uganda, haben den »Eysenck Personality Questionnaire« durchgeführt. Nach Auswertung ihrer Antworten tauchten unweigerlich die grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen auf (Eysenck 1990, 1992). Die Eysencks glaubten, dass die Faktoren genetisch beeinflusst sind, und durch die neuere Forschung wird diese Auffassung bestätigt.
. Abb. 14.4. Zwei Persönlichkeitsfaktoren Die Hersteller von Landkarten können uns viel erzählen über den Nutzen von 2 Achsen (NordSüd- und Ost-West-Achse). Eysenck u. Eysenck (1963) verwendeten 2 primäre Persönlichkeitsfaktoren – Extraversion–Introversion und Stabilität–Instabilität – als Achsen zur Beschreibung von Persönlichkeitsunterschieden. Andere spezifischere Merkmale werden durch verschiedene Kombinationen definiert
Cinetext/VE
Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Versuche, die Psychologen unternommen haben, eine Liste der grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale zusammenzustellen.
Extravertierter Entertainer Der Moderator und Musiker Stefan Raab gilt als offen und extravertiert. Eigenschaften wie Extraversion beschreiben Temperament und typische Verhaltensweisen
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Biologie und Persönlichkeit Schichtaufnahmen von der Hirnaktivität extravertierter Menschen fügen sich ein in die immer größer werdende Liste von Merkmalen und mentalen Zuständen, die mit Hilfe bildgebender Verfahren untersucht wurden. (Zum Zeitpunkt, als dieses Buch geschrieben wurde, gehören zu der Liste Intelligenz, Impulsivität, suchtartiges Verlangen, sexuelle Anziehung, Aggressivität, Empathie, spirituelle Erfahrung und sogar politische bzw. rassistische Einstellungen [Olson 2005].) Diese Studien deuten darauf hin, dass extravertierte Menschen Anregung suchen, weil bei ihnen die normale Erregung des Gehirns relativ gering ist. PET-Untersuchungen z. B. zeigen, dass bei extravertierten Menschen der Bereich des Frontallappens, der bei der Hemmung von Verhalten eine Rolle spielt, weniger aktiv ist als bei introvertierten Menschen (Johnson et al. 1999). Unsere Biologie beeinflusst unsere Persönlichkeit auch auf andere Weise. Gene sind bedeutsam für die Ausbildung des Temperaments – unserer Reaktionsbereitschaft – und des Verhaltensstils, die beide zur Definition der Persönlichkeit beitragen. Kagan z. B. schreibt Unterschiede im Grad der Schüchternheit und Gehemmtheit von Kindern der Reaktionsfähigkeit ihres autonomen Nervensystems zu. Bei einem reaktiven autonomen Nervensystem reagiert man auf Stress mit größerer Angst und mehr Hemmung. Aus dem furchtlosen, neugierigen Kind mag ein Kletterer werden oder ein Erwachsener, der schnelle Autos liebt. Und wie Sie sich vielleicht noch von den Zwillings- und Adoptionsstudien (7 Kap. 3) erinnern: Die Persönlichkeit bildet sich unter dem Einfluss der Gene. Mit diesem Geheimnis des Lebens haben wir es auch bei Tierpersönlichkeiten zu tun. Gosling et al. (2003) berichten, dass sich Persönlichkeitsunterschiede bei Hunden (in Bezug auf Tatkraft, Gefühlsbetontheit, Reaktionsbereitschaft und neugierige Intelligenz) so deutlich zeigen und so konsistent eingestuft werden wie Persönlichkeitsunterschiede beim Menschen. Selbst Vögel weisen stabile Persönlichkeiten auf. Bei den Meisen sehen sich freche Vögel schneller neue Gegenstände in ihrer Umgebung an und erkunden rascher Bäume (Groothuis u. Carere 2005; Verbeek et al. 1994). Durch selektive Züchtung können Forscher freche oder schüchterne Vögel hervorbringen. Und beide haben ihren Platz in der Geschichte der Natur. In mageren Jahren finden die frechen Vögel mit größerer Wahrscheinlichkeit etwas zu fressen; in üppigen Jahren gehen die schüchternen Vögel bei der Nahrungssuche ein geringeres Risiko ein.
14.3.2
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Persönlichkeitsinventar (personality inventory): Fragebogen, bei dem die Probanden auf Items (oft Richtig-falsch-Items oder Aussagen, die mit »stimme zu – stimme nicht zu« zu beantworten sind) antworten, die so konzipiert sind, dass sie einen weiten Bereich von Gefühlen und Verhaltensweisen abdecken; wird zur Erfassung ausgewählter Persönlichkeitsmerkmale eingesetzt.
Minnesota Multiphasic Personality Inventory (abgek. MMPI): der am besten erforschte und in den USA am häufigsten klinisch angewandte Persönlichkeitstest. Ursprünglich entwickelt zur Diagnose emotionaler Störungen (was auch heute noch als sein bestes Einsatzgebiet gilt). Er wird heute für vielfältige andere Zwecke wie etwa zum Screening eingesetzt.
Erfassung von Merkmalen
Ziel 16: Erklären Sie, wie Psychologen Persönlichkeitsinventare einsetzen, und erörtern Sie die am häufigsten verwendeten Persönlichkeitsinventare.
Wenn unsere Handlungen von stabilen und dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen gesteuert werden, können wir dann valide und reliable Tests entwickeln, um sie zu erfassen? Es gibt eine Reihe von Erhebungsverfahren für Persönlichkeitsmerkmale. Manche erstellen eher ein Profil des Verhaltensmusters einer Person und erfassen schnell ein einzelnes Merkmal, etwa das Merkmal Extraversion, Ängstlichkeit oder Selbstwertgefühl. Persönlichkeitsinventare, längere Fragebogen, die einen breiten Bereich von Gefühlen und Verhaltensweisen abdecken, wurden entwickelt, um mehrere Persönlichkeitsmerkmale auf einmal zu erfassen. Das am besten wissenschaftlich erforschte Persönlichkeitsinventar ist der Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI); in Deutschland ist der Test allerdings umstritten. Der Fragebogen erfasst eher »abnorme« Tendenzen einer Persönlichkeit als die normalen Persönlichkeitsmerkmale. Anhand des MMPI lässt sich jedoch sehr gut veranschaulichen, auf welche Weise ein Persönlichkeitsinventar entwickelt wird. Der an der Entwicklung beteiligte Hathaway (1960) verglich seine Arbeit mit der von Alfred Binet (7 Kap. 11). Wie erwähnt hatte Binet den ersten Intelligenztest dadurch entwickelt, dass er Items auswählte, mit denen er Kinder herausfiltern konnte, die später möglicherweise Schulprobleme haben würden. Wie es bei der Testkonstruktion heute Standard ist, gingen Hathaway und seine Kollegen empirisch so vor, dass sie aus einem großen Pool von Items diejenigen auswählten, bei denen sich bestimmte diagnostische Gruppen unterschieden. Dann gruppierten sie die Fragen in 10 klinische Skalen.
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Kritisch nachgefragt
Wie werde ich ein »erfolgreicher« Astrologe und Handlinienleser
Mit freundlicher Genehmigung von Rob Pudim, Skeptical Inquirer.
Können wir die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen nach der Stellung der Sterne und Planeten zum Zeitpunkt ihrer Geburt unterscheiden? Gibt die Handschrift Aufschluss über sie? Oder verraten die Linien der Handfläche ihre tiefen Geheimnisse? Astronomen können nur spöttisch lächeln über die Naivität von Astrologen: In den Jahrtausenden, die vergangen sind, seit Astrologen ihre Vorhersagen machen, haben sich die Planetenkonstellationen verschoben (Kelly 1997,1998). Spaßvögel machen sich darüber lustig. »Ich will Sie ja nicht kränken«, schreibt Dave Barry, »aber wenn Sie tatsächlich an Horoskope glauben, dann kann Ihr Frontallappen nicht größer sein als eine Rosine.« Psychologen stellen stattdessen Fragen: Funktioniert es? Gibt es eine Korrelation zwischen dem Zeitpunkt der Geburt und den Charaktermerkmalen? Können Astrologen, wenn man ihnen ein Geburtsdatum vorlegt, aus einer Liste mit Beschreibungen verschiedener Persönlichkeiten die richtige herausfinden, und zwar mit einer Genauigkeit, die höher ist als ein Zufallstreffer? Kann jemand sein eigenes Horoskop aus einer Liste von Horoskopen herausfinden? Die Antworten auf diese Fragen waren konsistent: Nein, nein, nein und abermals nein (British Psychological Society 1993; Carlson 1985; Kelly 1997). Auch bei den Graphologen, die Vorhersagen aufgrund von Schriftproben machen, lag die Trefferquote nicht über der Zufallsquote, wenn sie nach der Untersuchung mehrerer handgeschriebener Seiten angeben sollten, was der Schreiber beruflich macht (Beyerstein u. Beyerstein 1992; Dean et al. 1992). Trotzdem sehen Graphologen – und manchmal auch Studierende der Psychologie im ersten Semester – Korrelationen zwischen der Persönlichkeit und der Handschrift, auch wenn gar keine vorhanden sind (King u. Koehler 2000). Bei genauerem Hinsehen lösen sich all diese subjektiv wahrgenommenen Korrelationen in Luft auf. Wie aber stellen es Astrologen und ihresgleichen an, dass Tausende von Zeitungen und Zeitschriften sowie
Millionen Menschen auf der ganzen Welt für ihre Ratschläge Geld ausgeben? Hyman (1981) war Handlinienleser, wechselte aber die Seiten und ist nun wissenschaftlich arbeitender Psychologe. Er enthüllte die Methoden, mit denen Astrologen, Handlinienleser und Kristallkugelwahrsager ihr Publikum für dumm verkaufen. Zuerst wenden sie eine Technik des Wahrsagens an, die psychologisches Wissen einbezieht. Die Technik wird im englischen Sprachraum als »stock spiel« bezeichnet und beruht auf der Beobachtung, dass jeder von uns in gewisser Weise einmalig ist, andererseits aber auch genauso, wie alle anderen. Die Tatsache, dass manche Dinge für uns alle gelten, gibt dem »Seher« die Möglichkeit, Aussagen zu machen, deren Stimmigkeit beeindruckend ist. »Ich spüre, dass Sie sich Sorgen über etwas machen, und zwar mehr Sorgen, als Sie nach außen zeigen, nicht einmal gegenüber Ihren besten Freunden.« Eine Reihe solcher Aussagen treffen i. Allg. zu und lassen sich zu einer Beschreibung der Persönlichkeit zusammensetzen. Stellen Sie sich vor, Sie machen einen Persönlichkeitstest und werden dann folgendermaßen charakterisiert:
Ihr Bedürfnis, von anderen Menschen geschätzt und bewundert zu werden, ist stark ausgeprägt. Sie neigen dazu, sich selbst zu kritisieren. … Sie rühmen sich, selbstständig zu denken und akzeptieren andere Ansichten nur, wenn diese hinreichend belegt werden. Sie finden es nicht klug, anderen gegenüber zu freimütig zu sein und zu viel von sich selbst zu zeigen. Manchmal sind Sie extravertiert, gesprächig und gesellig, manchmal aber auch introvertiert, argwöhnisch und zurückhaltend. Manches von dem, was Sie anstreben, ist ziemlich unrealistisch (Davies 1997; Forer 1949). Bei Experimenten wurden Beurteilungen wie die obige, die aus einem neueren Astrologiebuch stammt, an Studierende verteilt. Wenn sie den Schwindel nicht erkennen, sondern glauben, ihre Persönlichkeit werde hier beschrieben, und wenn die Beschreibung in allgemeinen Wendungen gehalten und vorwiegend positiv ist, bewerten sie die Beschreibung fast immer als »gut« oder »ausgezeichnet« (Davies 1997). Glick et al. (1989) fanden Folgendes heraus: Wer eine schmeichelhafte Beschreibung seiner Persönlichkeit bekommt, die angeblich von einem Astrologen stammt, freundet sich mit dem Gedanken an, dass »vielleicht trotzdem irgendwas an dieser Astrologiegeschichte dran ist«, auch wenn er der Astrologie eigentlich skeptisch gegenübersteht. Ein Astrologe, sagt man, ist jemand, »der darauf vorbereitet ist, dir zu erzählen, was du von dir selbst hältst« (Jones 2000). Der französische Psychologe Gauguelin setzte eine Anzeige in eine Pariser Tageszeitung und bot darin ein kostenloses persönliches Horoskop an. 94% der Menschen, die sich das Horoskop geben ließen, rühmten die Genauigkeit der Beschreibung. Und wessen Horoskop hatten sie tatsächlich bekommen? Das von Dr. Petiot, einem berüchtigten Massenmörder (Kurtz 1983). Dieses Annehmen abgedroschener positiver Beschreibungen wird Barnum-Effekt genannt, zu Ehren des großen Showmasters P.T. Barnum, der das Wort prägte: »Jede Minute bringt einen Dummkopf hervor.« 6
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Eine zweite Technik, die gern von Wahrsehern angewandt wird, besteht darin, Ihre Kleidung, Ihr Aussehen, Ihr nonverbales Verhalten und Ihre Reaktionen auf das, was Sie zu hören bekommen, zu »lesen«. Stellen Sie sich vor, Sie seien der Wahrseher, zu dem eine junge Frau Ende 20 oder Anfang 30 kommt. Hyman beschrieb die Frau so: »Sie trug teuren Schmuck, einen Ehering und ein schwarzes Kleid aus billigem Material. Der aufmerksame Beobachter bemerkte, dass sie Schuhe trug, die in der Werbung für Menschen mit Fußproblemen empfohlen wurden.« Legen diese Hinweise Schlussfolgerungen nahe? Der Wahrseher zog seine Schlüsse aus diesen Beobachtungen und begann, seine Klientin mit seinen Einblicken in Erstaunen zu versetzen. Er nahm an, die Frau sei wegen finanziellen oder Liebesproblemen zu ihm gekommen. Denn das galt für die Mehrzahl seiner weiblichen Kunden. Das schwarze Kleid und der Ehering ließen ihn vermuten, dass ihr Mann kürzlich verstorben war. Der teure Schmuck verriet, dass sie während der Ehe wahrscheinlich in guten finanziellenVerhältnissen gelebt hatte; doch das billige Kleid wies daraufhin, dass der Tod des Mannes sie wohl verarmt zurückgelassen hatte. Die orthopädischen Schuhe mochten bedeuten, dass sie jetzt mehr laufen musste als früher; dies deutete darauf hin, dass sie seit dem Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt hatte verdienen müssen. Aufgrund dieser Einsichten riet der Wahrseher ganz korrekt, dass sich die Frau fragte, ob sie sich wieder verheiraten solle, um ihre schlechte wirtschaftliche Lage zu verbessern. Stellen Sie sich vor, ein
Wahrseher kann die Person, über die er etwas aussagen soll, nicht sehen. Es ist kein Wunder, sagen die Skeptiker, dass in diesem Fall die Klienten von Wahrsehern die Aussagen, die für sie gemeint waren, nicht von anderen Aussagen unterscheiden können (O’Keeffe u. Wiseman 2005). Wenn Sie nicht so schlau sind wie der Wahrseher, dann macht das fast gar nichts, sagt Hyman. Wenn Menschen Sie aufsuchen, damit Sie ihnen etwas offenbaren, dann fangen Sie einfach mit einer mitfühlenden Äußerung an: »Ich spüre, dass Sie in letzter Zeit Probleme hatten. Sie scheinen nicht sicher zu sein, was Sie tun sollen. Ich spüre, dass das mit noch einem anderen Menschen zu tun hat.« Anschließend sagen Sie ihnen, was sie hören wollen. Rufen Sie sich ein paar von Barnums Aussagen aus den Astrologie- und Prophezeiungsmanualen ins Gedächtnis, und verwenden Sie sie großzügig. Sagen Sie den Leuten, dass sie selbst dafür verantwortlich sind zu kooperieren, indem sie die Botschaft, die Sie ihnen vermitteln, auf ihre speziellen Erfahrungen anwenden. Später werden sich die Leute daran erinnern, dass Sie genau diese Einzelheiten vorhergesagt haben. Formulieren Sie Aussagen als Fragen, und wenn Sie eine positive Reaktion darauf entdecken können, bestätigen Sie Ihre Aussage nochmals nachdrücklich. Besser ist es allerdings, wenn Sie einen Bogen um die machen, die die Menschen mit derlei Techniken ausbeuten und deshalb wohl eher ihre eigene Zukunft vergolden, wenn sie ihnen eine goldene Zukunft prophezeien.
Zunächst boten Hathaway und seine Kollegen Hunderte von Richtig-falsch-Aussagen an (»Mich scheint nie jemand zu verstehen«; »Ich kriege die ganze Sympathie, die mir zusteht«; »Ich liebe Poesie«); ihre Probanden waren psychisch gestörte Patienten und »normale« Menschen. Sie beachteten jede Aussage, auch wenn sie noch so dumm klang, bei der sich die Antwort der Gruppe dieses betreffenden Patienten von der Antwort der normalen Gruppe unterschied. »Das einzige, was mich an der Zeitung interessiert, sind die Comics«, mag sinnlos klingen; aber es kam eben vor, dass Depressive mit größerer Wahrscheinlichkeit »richtig« ankreuzten als nicht Depressive. [Trotzdem: Die Leute machten sich einen Spaß daraus, den MMPI zu parodieren: »Beim Weinen kriege ich Tränen in die Augen« oder »Hektisches Rumgebrülle macht mich nervös« und »Ich bleibe so lange in der Badewanne, bis ich so verschrumpelt wie eine Rosine aussehe« (Frankel et al. 1983)]. Der heutige MMPI-2 enthält auch neuere Skalen, die beispielsweise die Einstellung zur Arbeit, Familienprobleme und Wut erfassen.
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! Die Objektivität ist ein zentrales Gütekriterium bei der Konstruktion und auch bei der Auswertung von Persönlichkeitsinventaren.
Im Gegensatz zu der von Psychoanalytikern bevorzugten Subjektivität der meisten projektiven Tests werden Persönlichkeitsinventare objektiv ausgewertet – so objektiv, dass ein Computer sie der Testperson vorlegen und anschließend auswerten kann. (Der Computer kann auch Beschreibungen von Testpersonen liefern, die zu einem früheren Zeitpunkt eine ähnliche Antwort gegeben haben.) Objektivität ist allerdings kein Nachweis der Validität. Soll beispielsweise jemand den MMPI ausfüllen, dann kann er sozial erwünschte Antworten geben, um einen guten Eindruck zu machen. Allerdings sollte er dann auch hohe Werte auf der »Lügenskala« erreichen, die Verstellungen erfasst (z. B. wenn jemand mit »falsch« auf eine universell wahre Aussage antwortet, wie etwa »Ich werde manchmal wütend«). Ob es nun schlecht ist oder gut, die Objektivität des MMPI trägt zu seiner Beliebtheit bei und dazu, dass er in mehr als 100 Sprachen übersetzt wurde. Die im deutschen Sprachraum am häufigsten verwendeten Persönlichkeitsinventare sind in . Tab. 14.2 wiedergegeben.
613 14.3 · Trait-Ansatz
. Tabelle 14.2. Auswahl von in Deutschland eingesetzten Testverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik
Bezeichnung
Abkürzung
Autoren
Skalen
Deutsche Personality Research Form
D-PRF
Stumpf et al. (1985)
14 Skalen (z. B. Leistungsstreben, Geselligkeit, Aggressivität, Hilfsbereitschaft)
Freiburger Persönlichkeitsinventar
FPI-R
Fahrenberg et al. (1994)
9 Skalen (z. B. Soziale Orientierung, Leistungsorientierung. Revidierte Fassung: Gehemmtheit, Beanspruchung, Lebenszufriedenheit)
NEO-Fünf-FaktorenInventar
NEO-FFI
Borkenau u. Ostendorf (1993)
5 Skalen: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit
16 PersönlichkeitsFaktoren-Test – revidierte Fassung
16 PF-R
Schneewind u. Graf (1998)
16 Skalen (z. B. Wärme, Dominanz, emotionale Stabilität, Regelbewusstsein, soziale Kompetenz, Empfindsamkeit)
14.3.3
Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«)
Ziel 17: Geben Sie die Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren an, und erörtern Sie einige der Stärken dieses Ansatzes zur Untersuchung der Persönlichkeit.
In der heutigen Forschung über Persönlichkeitsmerkmale ist man der Auffassung, dass die früheren Merkmalsdimensionen, beispielsweise Eysencks Dimensionen »introvertiert–extravertiert« und »labil–stabil«, zwar wichtig sind, aber nicht das ganze Spektrum abdecken. Eine geringfügig erweiterte Gruppe von Faktoren – scherzhaft »The Big Five« getauft – ist besser geeignet (John u. Srivastava 1999; McCrae u. Costa 1999). ! Bei den Big Five handelt es sich um die Merkmale Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion.
Erhoben werden diese Big Five ebenfalls mit Fragebögen, z. B. dem NEO-PI von Costa u. McCrae (1992) oder im deutschsprachigen Raum mit dem NEO-FFI von Borkenau u. Ostendorf (1993). Wenn man mit Hilfe eines Tests genau angeben kann, an welcher Stelle der 5 Dimensionen (Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion; . Tab. 14.3) Sie stehen, dann sagt er bereits viel von dem aus, was es über Ihre Persönlichkeit auszusagen gibt. Weltweit beschreiben Menschen andere Menschen in Begriffen, die grob mit den folgenden Merkmalsdimensionen konsistent sind. . Tabelle 14.3. Die 5 großen Faktoren der Persönlichkeit. (»The Big Five«; nach McCrae u. Costa 1986; dtsch: NEO-FFI; Borkenau u. Ostendorf 1993)
Merkmalsdimension
Inhalte
Gewissenhaftigkeit
Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Anstrengungsbereitschaft, Pünktlichkeit, Disziplin, Ehrgeiz
Verträglichkeit
Altruismus, Mitgefühl, Verständnis, Wohlwollen, Vertrauen, Kooperativität, Nachgiebigkeit, starkes Harmoniebedürfnis
Neurotizismus
Nervosität, Ängstlichkeit, Traurigkeit, Unsicherheit, Verlegenheit, Gesundheitssorgen, Neigung zu unrealistischen Ideen, geringe Bedürfniskontrolle, unangemessene Reaktionen auf Stress
Offenheit für Erfahrung
Hohe Wertschätzung für neue Erfahrungen und Abwechslung, Wissbegierde, Kreativität, Fantasie, Unabhängigkeit im Urteil, vielfältige kulturelle Interessen, Interesse an öffentlichen Ereignissen
Extraversion
Geselligkeit, Aktivität, Gesprächigkeit, Personenorientierung, Herzlichkeit, Optimismus, Heiterkeit, Empfänglichkeit für Anregungen und Aufregungen
14
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Doch das letzte Wort ist über die Big Five noch nicht gesprochen: Inzwischen denken andere Forscher und Theoretiker auf dem Gebiet der Faktorenanalyse darüber nach, ob es sinnvoll wäre, weitere Dimensionen hinzuzunehmen, etwa Selbstbewusstsein, Männlichkeit versus Weiblichkeit, Intellekt versus Vorstellungskraft, Religiosität oder positive versus negative Emotionen (Ashton et al. 2004). Aber momentan gilt die »Fünf« als die richtige Zahl für die Persönlichkeitsdimensionen. Die Big Five – der heutige »gemeinsame Nenner der Persönlichkeitspsychologie« (Funder 2001) – waren seit den 1990er Jahren das wichtigste Projekt in der Persönlichkeitsforschung. Und die Big Five sind bis heute die beste Annäherung an das, was man als die grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen bezeichnen kann (Endler & Speer 1998). In jüngerer Zeit geht die Forschung zu den Big Five verschiedenen Fragen nach: 4 Wie stabil sind diese Persönlichkeitsmerkmale? Bei Erwachsenen sind die Big Five relativ stabil. Es zeigen sich ein paar Tendenzen (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit), die in den Jahren nach der Hochschule leicht abnehmen, und andere (Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit), die zunehmen (McCrae et al. 1999; Vaidya et al. 2002). Gewissenhaftigkeit nimmt bei den meisten Menschen bis zum 30. Lebensjahr in dem Maße zu, wie sie reifen und lernen, ihre beruflichen Verhältnisse und ihre persönlichen Beziehungen in den Griff zu bekommen. Verträglichkeit nimmt bei den meisten Menschen bis Ende 30 zu und dann weiterhin zwischen 60 und 70. 4 Sind diese Persönlichkeitsmerkmale erblich? Die Erblichkeit individueller Unterschiede variiert, je nachdem, welche Menschen untersucht werden. Ganz allgemein liegt die Erblichkeit jeder Dimension bei etwa 50% oder etwas darüber (Loehlin et al. 1998). 4 Lassen sich die Big Five auch auf die unterschiedlichen Kulturen anwenden? Die Dimensionen der Big Five beschreiben die Persönlichkeit in unterschiedlichen Kulturen relativ gut (McCrae 2001; Paunonen et al. 2000). »Kennzeichen von Persönlichkeitsmerkmalen sind allen Gruppen von Menschen gemeinsam«, schließen McCrae et al. (2005) aus ihrer Untersuchung in 50 Kulturen. 4 Sind diese Traits auch Prädiktoren für andere Persönlichkeitsmerkmale? Nochmals ja. Zwei Beispiele: Ausgesprochen gewissenhafte Menschen sind mit größerer Wahrscheinlichkeit Morgentypen; Abendtypen sind etwas extravertierter (Jackson u. Gerard 1996). Wenn ein Ehepartner niedrigere Werte auf den Skalen für Verträglichkeit, Stabilität und Offenheit erreicht als der andere, könnten darunter die Zufriedenheit mit der Ehe und der Sexualität leiden (Botwin et al. 1997; Donnellan et al. 2004). Die Big-Five-Forschung zu diesen Fragen verlieh der Psychologie der Persönlichkeitsmerkmale neuen Schwung, und die Persönlichkeitsforschung erlangte neue Bedeutung.
14.3.4
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»Es gibt einen ebenso großen Unterschied zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.« Michel de Montaigne, »Essais« (1588)
Bewertung des Trait-Ansatzes
Sind unsere Persönlichkeitsmerkmale stabil und dauerhaft? Oder hängt unser Verhalten davon ab, wo und in wessen Gesellschaft wir uns befinden? Tolkien schuf Charaktere wie den treuen Sam Gamdschie, dessen Eigenschaften an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten immer gleich blieben. Der italienische Dramatiker Pirandello vertrat eine andere Ansicht. Für ihn war Persönlichkeit etwas, was sich ständig änderte, sich einer bestimmten Rolle oder Situation anpasste. In einem von Pirandellos Stücken gibt Lamberto Laudisi eine Beschreibung seiner eigenen Person: »Ich bin tatsächlich der, für den Sie mich halten, obgleich, verehrte Dame, mich das nicht hindert, auch tatsächlich der zu sein, für den Ihr Gatte, meine Schwester, meine Nichte und Signora Cini mich halten – denn auch sie haben allesamt Recht!« Worauf Signora Sirelli antwortet: »In anderen Worten, Sie sind für jeden von uns ein anderer.«
Person oder Situation? Ziel 18: Fassen Sie die Kontroverse zur Frage Person oder Situation zusammen, und erläutern Sie ihre Bedeutung in einem Kommentar zum Trait-Ansatz.
Wen sollen wir also als repräsentativ für die Persönlichkeit eines Menschen ansehen: Tolkiens konsistenten Sam Gamdschie oder Pirandellos inkonsistenten Lamberto Laudisi? Die Antwort
615 14.3 · Trait-Ansatz
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. Abb. 14.5. Stabilität der Persönlichkeit Je älter man wird, desto stabiler werden die Persönlichkeitsmerkmale. Dies zeigt sich in der Korrelation zwischen den Testwerten für Persönlichkeitsmerkmale und den entsprechenden Testwerten 7 Jahre später (Befunde nach Roberts u. Del Vecchio 2000)
lautet: beide. Unser Verhalten wird beeinflusst von der Interaktion zwischen unserer inneren Disposition und unserer Umgebung. Doch die Frage steht weiterhin im Raum: Welcher der beiden Faktoren ist der wichtigere? Sind wir eher so, wie sich Tolkien den Menschen vorstellte, oder entsprechen wir eher Pirandellos Menschenbild? Um die Frage, ob die Person oder die Situation wichtiger ist, genauer zu erforschen, suchen wir nach echten Persönlichkeitsmerkmalen, die über die Zeit und über Situationen hinweg unverändert bleiben. Sind manche Menschen immer gewissenhaft und andere unzuverlässig, manche fröhlich und andere mürrisch, manche freundlich und aus sich herausgehend und andere schüchtern? Wenn wir Freundlichkeit als Merkmal ansehen sollen, dann muss ein freundlicher Mensch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten freundlich sein. Wir haben festgestellt, dass manche Geisteswissenschaftler (vor allem die, die Studien mit Kindern durchführen) davon beeindruckt sind, dass sich die Persönlichkeit verändert; andere Forscher sind dagegen überrascht, wie stabil die Persönlichkeit eines Erwachsenen bleibt. Wie in . Abb. 14.5 dargestellt, zeigen Daten aus 152 Langzeitstudien, dass die Werte für Persönlichkeitsmerkmale positiv mit Testwerten korrelieren, die 7 Jahre später erhoben wurden, und dass sich die Persönlichkeit stabilisiert, wenn die Menschen älter werden. Die Interessen mögen sich ändern – der begeisterte Sammler tropischer Fische mag ein eifriger Gärtner werden, und aus dem überzeugten Handelsvertreter wird vielleicht ein begeisterter Sozialarbeiter; Beziehungen unterliegen dem Wandel – der feindselige Ehepartner macht vielleicht mit einem anderen Partner einen Neuanfang. Doch die meisten Menschen erkennen ihre Eigenschaften als etwas an, was zu ihnen gehört, merken McCrae u. Costa (1994) an. »Und das ist gut so. Die Anerkennung der unausweichlichen eigenen und unverwechselbaren Persönlichkeit … ist das Höchste an Lebensweisheit.« Daher würden die meisten Menschen – auch die meisten Psychologen – Tolkiens Annahme von der Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale unterstützen. Aber die Konsistenz spezifischer Verhaltensweisen über verschiedene Situationen hinweg ist eine andere Sache. Wie Mischel (1968, 1984, 2004) unterstrich, ist menschliches Handeln nicht in vorhersagbarer Weise konsistent. Mischel untersuchte bei Studierenden das Merkmal Gewissenhaftigkeit und fand nur einen leichten Zusammenhang zwischen der Gewissenhaftigkeit bei einer bestimmten Gelegenheit (etwa pünktlich zur Vorlesung zu kommen) und bei einer anderen Gelegenheit (etwa Arbeiten rechtzeitig abzugeben). Pirandello wäre nicht überrascht gewesen. Wenn Sie an sich selbst schon einmal bemerkt haben, wie sehr Sie in einigen Situationen aus sich herausgehen und wie reserviert Sie in anderen sind, überrascht es Sie vielleicht gar nicht (obwohl Sie sich selbst möglicherweise bei bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, so Mischel, mit einiger Genauigkeit als konsistenter einstufen). Diese Inkonsistenz in Bezug auf das Verhalten lässt Persönlichkeitstests auch zu schwachen Prädiktoren des Verhaltens werden. So sagen die Testwerte einer Person in Bezug auf Extraversion nicht eindeutig vorher, wie gesellig sie bei einer bestimmten Gelegenheit ist. (Die konkrete Ausprägung von Extraversion oder anderen Eigenschaften in einer bestimmten Situation wird als »state« bezeichnet.) Wenn wir solche Ergebnisse im Hinterkopf behalten, sagt Mischel, dann werden wir etwas vorsichtiger mit der Etikettierung und Einordnung von Individuen sein. Wir werden
Genau genommen sind die jeweiligen äußeren Einflusse auf das Verhalten das Thema der Sozialpsychologie, während die zeitüberdauernden inneren Einflüsse zum Bereich der Persönlichkeitspsychologie gehören. Das tatsächliche Verhalten hängt von der Interaktion zwischen dem Menschen und der Situation ab.
Wandel und Beständigkeit können nebeneinander Bestand haben. Wenn alle Menschen mit zunehmendem Alter etwas weniger schüchtern wären, hätten wir eine Veränderung in der Persönlichkeit, aber auch eine relative Stabilität und Vorhersagbarkeit.
Kapitel 14 · Persönlichkeit
M. Barton
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Unser persönlicher Raum ist Ausdruck der Persönlichkeit Selbst wenn jemand einen Menschen gar nicht kennt, kann er etwas von der Persönlichkeit des anderen mitbekommen, wenn er einen Blick auf seine Internetseite, sein Schlafzimmer oder sein Büro wirft. Was können Sie auf dem Foto erkennen?
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uns etwas zurückhalten mit der Antwort auf die Frage, ob jemand wahrscheinlich sein Ehrenwort bricht, Selbstmord begeht oder ein tüchtiger Angestellter wird. Die Wissenschaft kann uns Jahrzehnte im Voraus die Mondphase für jedes beliebige Datum nennen, die Meteorologie kann das Wetter des folgenden Tages vorhersagen, doch wir Psychologen sind weit davon entfernt, vorhersagen zu können, wie Sie sich morgen fühlen und was Sie tun werden. In seiner Verteidigung der Trait-Theorien blieb Epstein (1983a, b) dabei, dass der Versuch, eine bestimmte Handlung aufgrund der Ergebnisse eines Persönlichkeitstests vorhersagen zu wollen, so ähnlich ist wie der Versuch, Ihre Antwort auf eine Frage, die spezifische Fähigkeiten voraussetzt, auf der Basis der Ergebnisse eines Intelligenztests vorhersagen zu wollen. Ihre Antwort auf eine Frage, ganz gleich aus welchem Bereich sie kommt, ist nicht vorhersagbar. Denn sie hängt von einer Vielzahl von Variablen ab (von Ihrer Intelligenz, aber auch davon, ob Sie zu dieser Frage etwas gelesen haben, von Ihrer augenblicklichen Konzentrationsfähigkeit und natürlich auch vom Zufall). Eher vorhersagbar ist die Durchschnittsmenge der richtigen Antworten, berechnet über viele Fragen aus mehreren Tests. Ebenso ist der Durchschnitt an Extravertiertheit, Glücklichsein oder Nachlässigkeit über viele Situationen hinweg vorhersagbar, meinte Epstein. Bei der Bewertung der Schüchternheit oder des angenehmen Wesens eines Menschen ist es diese Konsistenz, die bewirkt, dass die, die diesen Menschen gut kennen, der Bewertung zustimmen (Kenrick u. Funder 1988). Wie unsere besten Freunde bestätigen werden, haben wir tatsächlich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, genetisch beeinflusste Eigenschaften, wie wir heute wissen. Außerdem sind unsere Eigenschaften sozial bedeutsam. Sie beeinflussen unsere Gesundheit, unser Denken und unsere Leistungen im Beruf (Deary u. Matthews 1993; Hogan 1998). Unsere Persönlichkeitsmerkmale scheinen, so ein Bericht von Gosling et al. nach einer Untersuchungsreihe, in Folgendem durch: 4 Vorlieben in Bezug auf Musik. Liebhaber klassischer Musik, von Jazz, Blues und Folk sind gewöhnlich offen für neue Erfahrungen und sind verbal intelligent; Liebhaber von Country, Pop und Gospel sind in der Regel fröhlich, extravertiert und gewissenhaft (Rentfrow u. Gosling 2003). 4 Zimmer im Studentenheim und Büros. Unser persönlicher Raum zeigt unsere Identität an und hinterlässt einen Verhaltensrest (in herumliegender Wäsche oder auf einem sauber aufgeräumten Schreibtisch). Und das trägt zu einer Erklärung bei, warum ein kurzer Blick in einen Lebens- und Arbeitsraum jemanden in die Lage versetzen kann, mit einiger Genauigkeit unsere Gewissenhaftigkeit, unsere Offenheit für Erfahrung und selbst unsere emotionale Stabilität zu erfassen (Gosling et al. 2002). 4 Persönlicher Internetauftritt. Bringt auch der persönliche Internetauftritt etwas über das Selbst zum Ausdruck? Oder stellt er eine Möglichkeit für Menschen dar, sich selbst in falscher oder irreführender Weise darzustellen? Es handelt sich eher um das Erstere, berichten Vazire u. Gosling (2004). Besucher persönlicher Webseiten bekommen bezüglich dieser Person schnell wichtige Hinweise auf die Extraversion, die Gewissenhaftigkeit und die Offenheit für Erfahrung. ! Der Grundkonsens zur Bedeutung von Traits lautet: Es gibt stabile, zeitlich überdauernde Merkmale. Menschen unterscheiden sich in diesen Persönlichkeitsmerkmalen.
Konsistenz des expressiven Stils Ziel 19: Erklären Sie, warum Psychologen an der Konsistenz des Merkmals der Expressivität interessiert sind.
In Situationen, in denen es förmlich zugeht oder die uns nicht vertraut sind – vielleicht als Gast im Haus eines Menschen, der einer anderen Kultur angehört – mögen unsere Persönlichkeitsmerkmale verborgen bleiben, weil wir uns zunächst sorgfältig an gesellschaftlichen Hinweisen orientieren. In vertrauten, informellen Situationen – mit Freunden herumhängen – fühlen wir uns weniger eingeengt und lassen unsere Merkmale hervortreten (Buss 1989). In diesen informellen
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Situationen ist unsere Expressivität – unsere Lebhaftigkeit, die Art, wie wir sprechen und gestikulieren – beeindruckend konsistent. Oft hinterlassen wir einen bleibenden Eindruck bei jemandem, dem wir nur kurz begegnet sind. Ambady u. Rosenthal (1992, 1993) machten Videoaufnahmen von 13 Graduierten in Harvard, die Lehrveranstaltungen für Studienanfänger hielten. Dann zeigten sie Beobachtern kurze Ausschnitte daraus, die das Verhalten jedes Dozenten zeigten. Es waren nur 10-Sekunden-Clips, jeweils vom Anfang, von der Mitte und vom Ende der Vorlesung. Dann wurde das Verhalten bewertet: in Bezug auf Selbstvertrauen, Aktivität, Wärme etc. Diese Bewertungen des Verhaltens auf der Grundlage von nur 30 Sekunden einer Lehrveranstaltung, die ein Semester lang gehalten wurde, sagten erstaunlich gut vorher, wie die Studierenden am Ende des Semesters den Dozenten bewerten würden. Auch wenn die Clips noch kürzer waren – 3 Clips von jeweils 2 Sekunden Dauer – korrelierten die abgegebenen Bewertungen immer noch zu +0,72 mit der Bewertung durch die Studierenden. Der erste Eindruck, den ein paar Menschen vom Ausdrucksverhalten zurückbehielten, war ein Prädiktor für den bleibenden Eindruck, den andere Menschen gewonnen hatten. Ein nur flüchtiger Blick auf das Verhalten eines Menschen kann vieles zeigen, weil Merkmale wie Ausdrucksstärke eine große Wirkung entfalten. In einer Studie zu Kunstfehlerprozessen gegen Ärzte filterten Ambady et al. (2002) 10-Sekunden-Ausschnitte aus Gesprächen zwischen je einem Arzt und einem Patienten heraus und veränderten dabei die Sprache so, dass man den Einzelnen nicht mehr erkennen konnte, behielten aber die Intonation, die Tonhöhe und den Sprachrhythmus bei. Aus den verbleibenden Hinweisen waren die Hörer imstande, die Wärme, die Feindseligkeit und die Dominanz der Chirurgen zu erkennen und genau anzugeben, wer von ihnen sich vor Gericht verteidigen musste. Obwohl die Hörer nichts über die Fähigkeiten des Chirurgen sagen konnten oder darüber, was geredet worden war, konnten sie dennoch aus dem Sprachton ein Gefühl dafür ableiten, ob der Arzt empathisch oder arrogant war; und das reichte aus, um die Reaktionen der Patienten korrekt vorherzusagen. Manche Menschen sind von Natur aus ausdrucksstark (und haben deshalb Talent für Pantomimen und Scharaden); andere sind weniger ausdrucksstark (und sind deshalb bessere Pokerspieler). Um die willentliche Kontrolle der Expressivität eines Menschen zu erfassen, baten DePaulo et al. (1992) ein paar Testpersonen, eine Meinung zu vertreten und dabei entweder so ausdrucksstark oder so gehemmt wie möglich zu sein. Das bemerkenswerte Resultat: Nicht ausdrucksstarke Menschen waren, auch wenn sie Ausdrucksstärke vortäuschten, weniger ausdrucksstark als ausdrucksstarke Menschen, die sich natürlich gaben. Genau so war es im umgekehrten Fall: Ausdrucksstarke Menschen wirkten weniger gehemmt, wenn sie Gehemmtsein vortäuschten, als die nicht ausdrucksstarken Menschen, die sich natürlich gaben. ! Es ist schwer, jemand zu sein, der man nicht ist, oder nicht zu sein, was man ist. Expressivität lässt sich nicht unterdrücken.
Die Tatsache, dass sich Expressivität nicht unterdrücken lässt, ist die Erklärung dafür, dass wir in Sekundenschnelle hochrechnen können, wie unternehmungslustig jemand ist. Stellen Sie sich folgendes Experiment vor, das Levesque u. Kenny (1993) durchführten: Sie setzten Gruppen mit jeweils 4 Studentinnen an einen runden Tisch und baten jede Frau, nur kurz ihren Namen zu sagen, die Anzahl der Studienjahre, ihre Heimatstadt zu nennen und zu sagen, wo sich ihre Hochschule befand. Dann sollten sich die Frauen untereinander nach ihrer Gesprächigkeit bewerten, wobei sie als Anhaltspunkte nur diese wenigen Sekunden verbalen und nonverbalen Verhaltens hatten. (Wie würden Sie abschneiden, wenn Sie die Gesprächigkeit eines Menschen auf der Grundlage eines so kurzen Augenblicks zu bewerten hätten?) Als man später die tatsächliche Gesprächigkeit einer jeden Frau in Zweiergesprächen feststellte, die auf Video aufgenommen wurden, und die Ergebnisse mit denen der Augenblicksurteile korrelierte, ergab sich ein erstaunlich hoher Zusammenhang. Und das war auch bei Borkenau et al. (2004) der Fall, die deutsche Erwachsene bei unterschiedlichen Verhaltensweisen auf Video aufnahmen: vom Erfinden einer kurzen Geschichte über das Lesen kurzer Sätze bis hin zur Vorstellung einer anderen Person. Trotz der Situationsabhängigkeit des Verhaltens kam die Persönlichkeit durch. Jemand, der in einer Situation klug oder extravertiert zu sein schien, machte gewöhnlich (gegenüber einer anderen Person) auch in einer anderen Situa-
14 C. Styrsky
14.3 · Trait-Ansatz
Wieso habe ich bloß den Eindruck, dass Sie nicht der sind, für den Sie sich halten?
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
tion einen klugen oder extravertierten Eindruck. Wenn wir expressive Merkmale wie Extravertiertheit oder Offenheit zu beurteilen haben, können schon kurze Momente viel verraten. Zusammenfassend kann man sagen, dass in jedem Augenblick die jeweilige Situation das Verhalten eines Menschen stark beeinflusst, vor allem, wenn die Situation einen deutlichen Aufforderungscharakter hat. Das Verhalten eines Autofahrers an einer Ampel können wir besser vorhersagen, wenn wir die Farben der Ampel kennen, als wenn wir die Persönlichkeit des Fahrers kennen. Deshalb mag ein Professor bestimmte Studierende als unterwürfig wahrnehmen (aufgrund ihres Verhaltens im Seminarraum), Freunde mögen sie jedoch als ziemlich wild wahrnehmen (aufgrund ihres Verhaltens bei Partys). Nimmt man jedoch den Verhaltensdurchschnitt über viele Gelegenheiten hinweg, dann zeigen sich deutlich voneinander unterschiedene Persönlichkeitsmerkmale. Außerdem können wir individuelle Unterschiede bei manchen Merkmalen, etwa bei der Ausdrucksfähigkeit, blitzartig wahrnehmen. Lernziele Abschnitt 14.3 Trait-Ansatz
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Ziel 14: Geben Sie den Hauptunterschied zwischen dem Trait-Ansatz und dem psychoanalytischen Ansatz zur Persönlichkeit an. Statt Persönlichkeit durch sexuelle Vorstellungen in der Kindheit und durch unbewusste Motivationen erklären zu wollen, wie Freud es machte, versuchen die Trait-Theoretiker die Persönlichkeit mit Hilfe stabiler und dauerhafter Verhaltensmuster oder Prädispositionen in Bezug auf Fühlen und Handeln zu beschreiben. Einige Psychologen haben den Versuch unternommen, dominierende Persönlichkeitsmerkmale zu nutzen, um »Persönlichkeitstypen« zu beschreiben.
Ziel 17: Geben Sie die Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren an, und erörtern Sie einige der Stärken dieses Ansatzes zur Untersuchung der Persönlichkeit. Die 5 Persönlichkeitsfaktoren (die »Big Five«) sind Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion. Diese Merkmale scheinen im Erwachsenenalter stabil zu sein, in starkem Maße erblich, auf alle Kulturen anwendbar, und sie sind gute Prädiktoren für andere Persönlichkeitsmerkmale. Wenn man ein Individuum auf diesen 5 Dimensionen einordnet, ergibt sich daraus das momentan umfassendste Bild der Persönlichkeit.
Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Versuche, die Psychologen unternommen haben, eine Liste der grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale zusammenzustellen. Trait-Forscher versuchen, die Persönlichkeit dadurch zu beschreiben, dass sie Individuen an bestimmten Punkten auf mehreren Persönlichkeitsdimensionen gleichzeitig anordnen. Einige von ihnen haben den Versuch unternommen, mit Hilfe der Faktorenanalyse wichtige Persönlichkeitsdimensionen zu isolieren. Hans und Sybil Eysenck vertraten die Auffassung, dass 2 primäre, genetisch beeinflusste Dimensionen (Extraversion– Introversion, emotionale Stabilität–Labilität) die normalen individuellen Unterschiede erklären. Schichtaufnahmen der Hirnaktivität deuten darauf hin, dass sich Extravertierte und Introvertierte in Bezug auf das Erregungsniveau im Gehirn unterscheiden. Jerome Kagan ist der Meinung, dass die Vererbung über den Einfluss auf die Reaktionsbereitschaft des autonomen Nervensystems auch das Temperament und die Verhaltensstile beeinflusst, die dazu beitragen, die Persönlichkeit zu definieren.
Ziel 18: Fassen Sie die Kontroverse zur Frage Person oder Situation zusammen, und erläutern Sie ihre Bedeutung in einem Kommentar zum Trait-Ansatz. Kritiker des Trait-Ansatzes weisen darauf hin, dass das spezifische Verhalten der Menschen, obwohl ihre allgemeinen Persönlichkeitsmerkmale dauerhaft sind, von einer Situation zur nächsten unterschiedlich ist, weil ihre innere Disposition in Wechselwirkung mit einer bestimmten Umgebung tritt. Daher sind Persönlichkeitsmerkmale keine guten Prädiktoren für Verhalten. Trait-Theoretiker erwidern, dass trotz dieser unterschiedlichen Ausprägungen das durchschnittliche Verhalten eines Menschen über viele Situationen hinweg dazu tendiert, relativ konsistent zu sein.
Ziel 16: Erklären Sie, wie Psychologen Persönlichkeitsinventare einsetzen, und erörtern Sie die am häufigsten verwendeten Persönlichkeitsinventare. Persönlichkeitsinventare sind Fragebögen, bei denen man Items beantwortet, die so konzipiert sind, dass sie eine breite Vielfalt von Gefühlen und Verhaltensweisen messen. Der MMPI-2 und im deutschsprachigen Raum der FPI sind die am häufigsten verwendeten Persönlichkeitsinventare. Die Testitems wurden empirisch ermittelt, und die Tests werden objektiv ausgewertet. Objektivität allein ist jedoch keine Garantie für Validität (messen, was der Test messen soll); und die Probanden beantworten eventuell die Fragen eines Persönlichkeitsinventars auf eine Art und Weise, die sozial angemessen, aber nicht ehrlich ist.
Ziel 19: Erklären Sie, warum Psychologen an der Konsistenz des Merkmals der Expressivität interessiert sind. Expressive Stile wie Lebhaftigkeit, Sprechweise und Gesten zeigen, wie konsistent Persönlichkeitsmerkmale trotz der situativen Variationen des Verhaltens sein können. Beobachter waren imstande, die Expressivität nach Videoausschnitten zu beurteilen, die nur 2 Sekunden dauerten. Wir haben nur eine geringe willkürliche Kontrolle über unsere Expressivität. > Denken Sie weiter: Wo würden Sie sich selbst auf den 5 Persönlichkeitsdimensionen Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung und Extraversion einstufen? Wo auf diesen Dimensionen würden Ihre Familie und Ihre Freunde Sie platzieren?
619 14.4 · Sozial-kognitiver Ansatz
14.4
14
Sozial-kognitiver Ansatz
Ziel 20: Beschreiben Sie den sozial-kognitiven Ansatz, und erklären Sie, wie der reziproke Determinismus diesen Ansatz veranschaulicht.
Die heutige Psychologie als Wissenschaft sieht Personen als biopsychosoziale Organismen an. Wie gerade erwähnt, treten die biologisch beeinflussten psychologischen Persönlichkeitsmerkmale von Menschen in eine Wechselwirkung mit der Situation. Der sozial-kognitive Ansatz, der von Albert Bandura (1986, 2001, 2005) vorgeschlagen wurde, legt den Akzent auf die Interaktion von Person und Situation. So wie Anlage und Umwelt immer zusammenwirken, ist dies auch für Person und Situation der Fall. Wie die Lerntheoretiker glauben die sozial-kognitiven Theoretiker, dass wir viele unserer Verhaltensweisen erlernen, sei es durch Konditionierung oder dadurch, dass wir andere beobachten und unser Verhalten an ihrem ausrichten. (Das ist der »soziale« Aspekt.) Gleichfalls hervorgehoben wird die Bedeutung mentaler Prozesse: Wie wir eine Situation beurteilen, beeinflusst unser Verhalten. (Das ist der »kognitive« Aspekt.) Statt sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, in welcher Weise die Umwelt uns und unser Verhalten kontrolliert (Behaviorismus), achten die sozial-kognitiven Theoretiker darauf, wie wir und unsere Umwelt interagieren: Wie interpretieren wir äußere Ereignisse, und wie reagieren wir darauf? Welchen Einfluss haben Schemata, Erinnerungen und Erwartungen auf unsere Verhaltensmuster?
14.4.1
Sozial-kognitiver Ansatz (social-cognitive approach): sieht Verhalten als beeinflusst von der Interaktion zwischen dem Individuum (und seinem Denken) und seinem sozialen Umfeld.
Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung
Bandura (1986) nannte den Prozess des Interagierens mit unserer Umwelt reziproken Determinismus. »Verhalten, interne persönliche Faktoren und Umwelteinflüsse«, sagte er, »wirken alle als miteinander verflochtene Determinanten aufeinander ein« (. Abb. 14.6). So beeinflusst das Fernsehverhalten von Kindern (Verhalten in der Vergangenheit) ihre Präferenzen für bestimmte Sendungen (innerer Faktor), was wiederum Einfluss darauf hat, wie sich das Fernsehen (Umweltfaktor) auf das aktuelle Verhalten der Kinder auswirkt. Die Einflüsse gehen immer in beide Richtungen: Sie sind wechselseitig. Lassen Sie uns 3 spezifische Arten der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt genauer betrachten:
Reziproker Determinismus (reciprocal determinism): bezeichnet die interagierenden Einflüsse von Persönlichkeit und Umweltfaktoren.
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. Abb. 14.6. Reziproker Determinismus Der sozial-kognitive Ansatz verweist darauf, dass die Persönlichkeit von der Interaktion zwischen persönlichen bzw. kognitiven Faktoren (Gefühle und Gedanken), der Umwelt und den eigenen Verhaltensweisen geformt wird
620
Kapitel 14 · Persönlichkeit
. Abb. 14.7. Der biopsychosoziale Ansatz zur Erforschung der Persönlichkeit Wie bei anderen psychologischen Phänomenen lässt sich die Persönlichkeit produktiv auf mehreren Niveaus untersuchen
1. Unterschiedliche Menschen suchen sich unterschiedliche Umwelten. Welche Schule Sie besuchen, was Sie lesen, welche Fernsehprogramme Sie sich anschauen, welche Musik Sie hören und mit wem Sie befreundet sind: All das gehört zu der Umwelt, die Sie für sich gewählt haben, wobei Ihre Auswahl zum Teil auf Ihren Dispositionen (Ickes et al. 1997) beruhte. Sie haben Ihre Umwelt ausgewählt, und diese Umwelt formt Sie nun. 2. Die Persönlichkeit bildet sich durch die Art und Weise, wie wir Ereignisse interpretieren und darauf reagieren. So sind beispielsweise ängstliche Menschen auf bedrohliche Ereignisse eingestellt (Eysenck et al. 1987). Für sie ist die Welt bedrohlich, und sie reagieren entsprechend. 3. Unsere Persönlichkeit schafft die Situationen, auf die wir reagieren. In vielen Versuchen zeigte sich, dass die Art, wie wir Menschen sehen und mit ihnen umgehen, einen Einfluss darauf hat, wie diese ihrerseits mit uns umgehen. Wenn wir davon ausgehen, dass jemand auf uns böse ist, dann werden wir diesem Menschen wahrscheinlich kühl begegnen und damit genau den Ärger auslösen, den wir erwarten. Haben wir eine freundliche, positive Disposition, wird es uns wahrscheinlich leichter fallen, enge, unterstützende Freundschaften zu schließen (Donnellan et al. 2005; Kendler 1997). ! Reziproker Determinismus bedeutet: Wir sind sowohl Architekten unserer Umwelt als auch ihr Produkt.
Wenn das alles für Sie sehr vertraut klingt, dann mag das daran liegen, dass es hier Parallelen und Bestätigungen zu einem Dauerthema der Psychologie (und hier in diesem Buch) gibt: Verhalten entsteht aus dem Zusammenspiel von äußeren und inneren Einflüssen. Kochendes Wasser lässt ein Ei hart, aber eine Kartoffel weich werden. Eine bedrohliche Umgebung macht aus dem einen einen Helden, aus dem anderen einen Halunken. In jedem Augenblick wird unser Verhalten von unserer Biologie, unseren sozialen Erfahrungen sowie von unserer Kognition und Persönlichkeit beeinflusst. Und genau darum profitiert die Psychologie von diesen unterschiedlichen Analyseniveaus (. Abb. 14.7).
14.4.2
14
Persönliche Kontrolle
Ziel 21: Erörtern Sie, wie sich die Wahrnehmung der internalen oder externalen Kontrolle auswirkt, und beschreiben Sie das Konzept der erlernten Hilflosigkeit. Persönliche Kontrolle (personal control): unser Gefühl, die Umwelt unter Kontrolle zu haben, statt uns hilflos zu fühlen.
Wenn die sozial-kognitiven Psychologen untersuchen, wie die Interaktion zwischen Persönlichkeit und Umwelt funktioniert, dann betonen sie vor allem das Gefühl der persönlichen Kontrolle: Lernen wir, uns als jemanden wahrzunehmen, der seine Umwelt kontrolliert, oder eher als jemanden, der von der Umwelt kontrolliert wird? Die Psychologen haben 2 Möglichkeiten, um die Wirkung der persönlichen Kontrolle (oder jedes anderen Persönlichkeitsfaktors) zu erkennen: 1. das Gefühl der Kontrolle, das jemand nach eigener Aussage hat, mit seinem Verhalten und seinen Leistungen zu korrelieren, 2. ein Experiment durchzuführen, bei dem das Gefühl der Kontrolle verstärkt oder vermindert wird, und die Wirkung zu beobachten. Am besten machen wir beides zugleich.
Internale versus externale Kontrollüberzeugung (»Locus of control«) Betrachten Sie einmal Ihr eigenes Gefühl der Kontrolle näher. Glauben Sie, dass sich Ihr Leben Ihrer Kontrolle entzieht? Dass die Welt von ein paar Mächtigen beherrscht wird? Dass eine gute
621 14.4 · Sozial-kognitiver Ansatz
Stelle hauptsächlich davon abhängt, dass man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist? Oder glauben Sie eher, dass alles, was Ihnen widerfährt, die Folge Ihrer Handlungen ist? Dass der Durchschnittsbürger die Entscheidungen der Regierung beeinflussen kann? Dass erfolgreich zu sein eher etwas mit harter Arbeit zu tun hat als mit Glück? In Hunderten von Untersuchungen wurden Menschen miteinander verglichen, die sich in ihrer Wahrnehmung der Kontrolle unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die, die das haben, was Rotter (1954) externale Kontrollüberzeugung nennt, dass nämlich der Zufall oder äußere Kräfte das eigene Schicksal bestimmen. Demgegenüber gibt es die, die eine internale Kontrollüberzeugung haben und glauben, dass sie ihre Geschicke weitgehend selbst steuern können. In einer Studie nach der anderen wurde nachgewiesen, dass die »Internalen« bessere Schulleistungen erbringen, selbstständiger handeln, gesünder und weniger depressiv sind als die »Externalen« (Lachman u. Weaver 1998; Lefcourt 1982; Presson u. Benassi 1996). Des Weiteren sind sie eher imstande, auf Belohnungen zu warten und können besser mit verschiedenen Formen von Stress fertig werden (Miller et al. 1986). Selbstkontrolle – die Fähigkeit, die eigenen Impulse zu kontrollieren und Belohnung aufzuschieben – ist wiederum ein Prädiktor für gute Anpassungsfähigkeit, bessere Schulnoten und sozialen Erfolg, berichten Tangney et al. (2004). Studierende, die ihren Tag planen und dann auch ihre Aktivitäten wie geplant ausführen, haben auch ein geringes Depressionsrisiko (Nezlek 2001). Keiner von uns kann die Selbstkontrolle durchgehend aufrechterhalten. Selbstkontrolle erfordert Aufmerksamkeit und Energie. Wie ein Muskel ist die Selbstkontrolle nach einem Einsatz eine Zeit lang schwächer, erholt sich in Ruhephasen und wird durch Training stärker, berichten Baumeister u. Exline (2000). Wenn man Willenskraft aufbringt, wird mentale Energie verbraucht. In einem Experiment führte der Widerstand hungriger Menschen gegen die Versuchung, Schokoladenplätzchen zu essen, dazu, dass sie die Arbeit an einer ermüdenden Aufgabe eher abbrachen.
14
Externale Kontrollüberzeugung (external locus of control): die Wahrnehmung, dass das eigene Schicksal vom Zufall oder von äußeren Kräften bestimmt wird, die sich der eigenen Kontrolle entziehen. Internale Kontrollüberzeugung (internal locus of control): die Wahrnehmung, dass man seine eigenen Geschicke steuern kann.
Erlernte Hilflosigkeit versus persönliche Kontrolle Menschen, die sich hilflos und ausgeliefert fühlen, sind häufig der Überzeugung, dass ihr Leben von außen kontrolliert wird. Diese Wahrnehmung mag dann zu verstärkter Resignation führen. Das ist genau das Ergebnis, das Seligman (1975, 1991) und andere bei Versuchen fanden, die sie sowohl mit Tieren als auch mit Menschen durchführten. Hunde wurden mit einem Hundegeschirr festgehalten und erhielten immer wieder Stromstöße, hatten jedoch keine Möglichkeit, den Stromstößen aus dem Weg zu gehen: Sie lernten das Gefühl der Hilflosigkeit. Später wurde die Versuchssituation dahingehend verändert, dass sie den Stromstößen entgehen konnten, indem sie einfach über ein Gitter sprangen. Doch die Hunde blieben hocken, als hätten sie jegliche Hoffnung verloren.
Erlernte Hilflosigkeit (learned helplessness): Hoffnungslosigkeit und passive Resignation, die Tiere und Menschen lernen, wenn sie wiederholt auftretenden aversiven Ereignissen nicht ausweichen können.
! Wird ein Mensch ständig mit traumatisierenden Ereignissen konfrontiert, die er nicht beeinflussen kann – über die er demnach keine Kontrolle hat –, fängt er allmählich auch an, sich hilflos zu fühlen, verliert die Hoffnung und wird depressiv.
Psychologen nennen diese passive Resignation erlernte Hilflosigkeit (. Abb. 14.8). Tiere, die in der ersten Versuchssituation den Stromstößen entfliehen konnten, lernten dagegen persönliche Kontrolle und entflohen mühelos den Stromstößen, denen sie in der neuen Situation ausgesetzt waren. Der Schock, den wir mitunter in einer fremden Kultur empfinden, geht zumindest zum Teil auf das Gefühl geringerer Kontrolle zurück, wenn wir die Reaktionen der Menschen in dieser neuen Umgebung nicht sicher einschätzen können (Triandis 1994). Auch in Gefängnissen, Fabriken und Pflegeheimen haben die Menschen nur wenig Kontrolle über ihre Welt, was wiederum ihre Stimmung senkt und den Stress vergrößert. Maßnahmen, die das Gefühl vermitteln, etwas mehr Kontrolle zu haben – wenn man Strafgefangenen gestattet, die Stühle anders hinzustellen, das Licht im Raum zu kontrollieren und das Fernsehprogramm zu wechseln, wenn Arbeiter an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden oder Heiminsassen
. Abb. 14.8. Erlernte Hilflosigkeit Wenn Tiere und Menschen die Erfahrung machen, dass sie keine Kontrolle über wiederholt auftretende aversive Ereignisse haben, erlernen sie häufig Hilflosigkeit
Kapitel 14 · Persönlichkeit
Peter Turnley/Corbis
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Glücklich sind die, die sich für ihren eigenen Weg entscheiden Diese glücklichen Ostberliner, die nach dem Fall der Mauer im Jahre 1989 nach Westberlin herüberkommen, scheinen das Gefühl zu personifizieren, das wir vom römischen Philosophen Seneca her kennen (»Vom glücklichen Leben«)
14
über ihre Umgebung entscheiden dürfen – führen bei den Betroffenen zu einer merklichen Verbesserung der Stimmung und des Gesundheitszustands (Miller u. Monge 1986; Ruback et al. 1986; Werner et al. 1987). Eine berühmte Studie mit Insassen eines Pflegeheims zeigte, dass 93% der Heimbewohner lebhafter, aktiver und glücklicher waren, als sie ermuntert wurden, mehr Kontrolle auszuüben (Rodin 1986). Langer (1983, S 291) schlussfolgerte: »Die Erfahrung, Kontrolle ausüben zu können, spielt eine primäre Rolle bei der Funktionsfähigkeit des Menschen.« Sie betont, dass es für Alt und Jung gleich wichtig ist, in einer Umgebung zu leben, die das Gefühl von Kontrolle und persönlicher Einflussnahme verstärkt. Es ist also kein Wunder, dass so viele Menschen ihre iPods und Tivolis mögen, weil sie ihnen Kontrolle darüber geben, was sie hören, wann dies geschieht und in welcher zeitlichen Reihenfolge. Das aus diesen Studien abzuleitende Urteil ist eindeutig. Unter der Bedingung der Freiheit und Befähigung im persönlichen Bereich blühen die Menschen auf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bürger stabiler Demokratien höhere Glückswerte angeben (Inglehart 1990). Kurz vor dem Fall der Mauer in der früheren DDR untersuchten Oettingen u. Seligman (1990) die aufschlussreiche Körpersprache von Arbeitern in den Kneipen von Ost- und Westberlin. Verglichen mit seinem Gegenstück auf der anderen Seite der Mauer lachte der Westberliner sehr viel häufiger, saß aufrecht, nicht geduckt, und seine Mundwinkel zeigten eher nach oben als nach unten. Seit diese Daten erhoben wurden, hat bei vielen Bewohnern Osteuropas durch die Demokratiebewegungen das Gefühl der persönlichen Kontrolle zugenommen. Das trifft nicht in dem Maße auf US-amerikanische Studierende zu, die angeben, dass sie ihrem Gefühl nach einer immer stärkeren äußeren Kontrolle ausgesetzt sind. »Der Studierende des Jahres 2002 hat im Mittel eine stärkere externale Kontrollüberzeugung als 80% der Studierenden in den frühen 1960er Jahren«, berichten Twenge et al. (2004). Etwas Freiheit und etwas Kontrolle ist besser als gar keine, merkt Schwartz (2000, 2004) an. Aber führt die immer weiter zunehmende Entscheidungsfreiheit zu einem glücklicheren Leben? Offensichtlich nicht. Schwartz schreibt, dass das »Übermaß an Freiheit« in den heutigen westlichen Kulturen zu einer abnehmenden Lebenszufriedenheit, zu mehr Depressionen und manchmal zur Lähmung beiträgt. (Ein Grund dafür, warum ich meinen rostigen 12 Jahre alten Wagen noch nicht ersetzt habe, ist meine Angst davor, mich mit all diesen Wahlmöglichkeiten beschäftigen zu müssen.) Immer mehr Wahlmöglichkeiten für Verbraucher sind ein zweifelhaftes Vergnügen. Nachdem Menschen die Möglichkeit hatten, zwischen 30 Marken von Marmelade bzw. Schokolade auswählen zu können, bringen sie weniger Zufriedenheit zum Ausdruck als diejenigen, die unter einem halben Dutzend Möglichkeiten auswählen konnten (Iyengar u. Lepper 2000). Die Qual der Wahl führte zu einer Informationsüberflutung; und damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass wir es vielleicht bedauern werden, uns für die meisten der Wahlmöglichkeiten nicht entschieden zu haben.
Optimismus versus Pessimismus
C. Styrsky
Ziel 22: Erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Leistung und optimistischem bzw. pessimistischem Attributionsstil, und stellen Sie die positive Psychologie der humanistischen Psychologie gegenüber.
Schatz, sieh es doch positiv! Hätten wir letzte Woche den Neuwagen gekauft, wäre der jetzt Schrott.
Wie hilflos oder wie lebenstüchtig wir uns fühlen, wird daran gemessen, an welcher Stelle auf einem Kontinuum zwischen Optimismus und Pessimismus wir uns befinden (»Optimismus-Pessimismus-Skala«; Seligman 1998). Welche Erklärung negativer und positiver Ereignisse ist typisch für Sie? Vielleicht haben Sie Studierende kennen gelernt, deren Attributionsstil negativ ist: Eine schwache Leistung schreiben sie ihren mangelnden Fähigkeiten zu (»Ich kann das nicht«) oder einer Situation, die sich auf Dauer ihrer Kontrolle entzieht (»Da kann ich gar nichts machen«). Für diese Studierenden ist die Wahrscheinlichkeit, weiterhin schlechte Noten zu erzielen, höher als für Studierende, die eher zuversichtlich sind, dass Fleiß, gute Lerngewohnheiten und Selbstdisziplin sehr wohl etwas zu ändern vermögen (Noel et al. 1987; Peterson u. Barret 1987). Zwar können sich
623 14.4 · Sozial-kognitiver Ansatz
14
reine Fantasien nicht positiv auf Motivation und Erfolg auswirken, doch realistische positive Erwartungen tun das sehr wohl (Oettingen u. Mayer 2002). In ihrer Studie über Leistung im Beruf verglichen Seligman u. Schulman (1986) die Verkäufe von neu eingestellten Vertretern für Lebensversicherungen, die teils mehr, teils weniger optimistisch in die Zukunft blickten. Diejenigen, die ihren Rückschlägen einen optimistischen »Dreh« verliehen, indem sie sie als Pech oder als Aufforderung definierten, eine neue Art des Zugehens auf den Kunden zu lernen, verkauften in ihrem ersten Jahr mehr Policen; und im Vergleich zu den pessimistischeren Kollegen war die Wahrscheinlichkeit nur halb so groß, dass sie den Job wieder aufgeben. Sein Untersuchungsergebnis konnte Seligman schließlich an sich selbst nachvollziehen, als Bob Dell, einer der optimistischen Studienteilnehmer, der nach der Teilnahme an Seligmans Optimismus-Test (s. oben) Vertreter für Metropolitan Life geworden war, seinen ehemaligen Dozenten anrief – und ihm eine Lebensversicherung verkaufte. Auch die Gesundheit profitiert von einer optimistischen Grundhaltung. Wie wir in 7 Kap. 16 sehen werden, wirkt eine depressive Hoffnungslosigkeit dämpfend auf die Immunabwehr des Körpers. In immer neuen Studien zeigt sich, dass Optimisten länger leben als Pessimisten oder weniger häufig krank sind. Derartige Studien brachten Seligman dazu, eine positive Psychologie vorzuschlagen (7 Unter der Lupe: »Positive Psychologie«). Wenn sich positives Denken angesichts von Widrigkeiten auszahlt, dann gilt das auch für eine Prise Realismus (Schneider 2001). Erklärungen für frühere Fehler und Versäumnisse, mit denen man sich selbst herabsetzt, können den Ehrgeiz unterdrücken, doch eine realistische Angst vor möglichen künftigen Fehlern kann als Ansporn dienen, diese zu vermeiden (Norem 2001; Goodhart 1986; Showers 1992). Studierende, die bei dem Gedanken beunruhigt sind, sie könnten bei einer bevorstehenden Prüfung versagen, lernen gründlich und überflügeln damit nicht selten die, die die gleichen Fähigkeiten haben, aber zu viel Vertrauen in ihr Wissen setzen. Chang (2001) berichtet, dass bei einem Vergleich zwischen Studierenden europäisch-amerikanischer Abstammung und Studierenden asiatisch-amerikanischer Herkunft Letztere einen größeren Pessimismus an den Tag legen, was, wie er vermutet, ihre beeindruckenden akademischen Leistungen erklären könnte. ! Erfolg erfordert hinreichend viel Optimismus, um Hoffnung und Zuversicht entstehen zu lassen, aber auch hinreichend viel Pessimismus, um Selbstzufriedenheit zu verhindern.
Exzessiver Optimismus kann uns blind gegenüber tatsächlichen Risiken machen. Weinstein (1980, 1982, 1996) zeigte, wie unsere angeborene positive Denkweise zur Verzerrung der Wirklichkeit führen und »einem unrealistischen Optimismus über zukünftige Lebensereignisse« Vorschub leisten kann. Die meisten Studierenden glauben von sich selbst, sie seien weniger gefährdet als ihre Studienkollegen, ein Alkoholproblem zu entwickeln, das Studium abzubrechen oder im Alter von 40 Jahren einen Herzanfall zu erleiden. Die meisten Jugendlichen in der späten Adoleszenz halten sich selbst für viel weniger anfällig für das Aids-Virus als ihre Altersgenossen (Abrams 1991). Unser angeborener Verzerrungseffekt durch positives Denken scheint jedoch dahinzuschwinden, sobald wir uns für eine Rückmeldung wappnen müssen, etwa für Prüfungsergebnisse (Taylor u. Shepperd 1998). (Haben Sie schon einmal bemerkt, dass, wenn sich ein Fußballspiel dem Ende nähert, das Ergebnis ungewisser ist, wenn Ihre Mannschaft vorne liegt, als wenn sie hinten liegt?) Die positiven Illusionen lösen sich auch in Luft auf, wenn man ein Trauma erlebt. So erging es den Opfern des furchtbaren Erdbebens in Kalifornien, die ihre Illusionen aufgeben mussten, sie seien für Erdbeben weniger anfällig als andere (Helweg-Larsen 1999). Wegen des illusorischen Optimismus, der in etwa 200 Forschungsberichten dokumentiert wird, versäumen es die Menschen möglicherweise, sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die meisten jungen Amerikaner wissen, dass in den USA etwa die Hälfte aller geschlossenen Ehen mit der Scheidung endet. Doch sie sind sich sicher, dass ihre Ehe halten wird (Lehman u. Nisbett 1985). Die meisten Raucher rauchen Zigaretten mit hohem Teergehalt; aber nur 17% glauben, ihre Tabakmischung habe einen gefährlicheren Teergehalt als die meisten anderen Zigaretten (Segerstrom et al. 1993). Sexuell aktive Studentinnen in den ersten Semestern, vor allem die, die nicht konsequent verhüten, halten sich im Vergleich zu anderen Frauen an ihrer Universität für weniger gefährdet, ungewollt schwanger zu werden (Burger u. Burns 1988). Diejenigen, die sich
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die nicht zu ändern sind, den Mut, Dinge zu ändern, die verändert werden sollten, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Reinhold Niebuhr, »Gelassenheitsgebet« (1943)
»Ich hätte nie geglaubt, dass mir das passieren könnte.« Der Basketballer Earvin »Magic« Johnson (»My Life« 1993; nach der Ansteckung mit HIV)
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Unter der Lupe
14
Im ersten Jahrhundert ihres Bestehens konzentrierte sich die Psychologie vorwiegend darauf, negative Zustände zu verstehen und leichter erträglich zu machen. Psychologen untersuchten Missbrauch und Angst, Depression und Krankheit, Armut und Vorurteile. Wie in 7 Kap. 13 erwähnt, stand die Zahl der seit 1887 über ausgewählte negative Emotionen veröffentlichten Artikel im Verhältnis 17:1 zu den Veröffentlichungen über positive Emotionen. In der Vergangenheit, so der Präsident der American Psychological Association, Martin Seligman (2002), waren Jahre des Friedens und des Wohlstands zugleich Zeiten, in denen sich eine Kultur oder eine Gesellschaft weniger um die Heilung von Schwächen und Schädigungen bemühte als um die Förderung »höchster Lebensqualität«. Das reiche Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts pflegte Philosophie und Demokratie. Das blühende Florenz des 15. Jahrhunderts förderte die große Kunst. Das viktorianische England ließ im Hochgefühl des britischen Empires und seiner Reichtümer Tugenden gedeihen wie Ehre, Disziplin und Pflichtgefühl. Uns bietet sich in diesem neuen Jahrtausend eine vergleichbare Gelegenheit, glaubt Martin Seligman. Die reichen Länder des hoch entwickelten Westens könnten, als »Denkmal für eine menschliche Wissenschaft«, eine positive Psychologie schaffen, die sich nicht nur mit Schwäche und Scheitern bePositive Psychologie (positive psyschäftigt, sondern auch mit chology): wissenschaftliche UntersuStärke und Erfolg. Dank seiner chung der optimalen FunktionsfähigTatkraft und dank 20 Mio. Euro keit des Menschen; hat zum Ziel, die neuer Spenden gewinnt die Stärken und guten Eigenschaften zu entdecken und zu fördern, die das neue Bewegung der positiven Gedeihen des Einzelnen und der GePsychologie an Stärke (Seligmeinschaft ermöglichen. mann 2004). Mit der humanistischen Psychologie teilt die positive Psychologie das Interesse an der Förderung eines erfüllten menschlichen Lebens; doch die positive Psychologie arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden. Aus diesen Wurzeln entstanden nicht nur neue Studien über Glück (7 Kap. 13) und Gesundheit (7 Kap. 16), auch die Betonung verschob sich von der erlernten Hilflosigkeit und Depression hin zu Optimismus und Erfolg. »Positive Psychologie«, so Seligman et al. (2005), »ist ein umfassender Begriff für die Untersuchung positiver Emotionen, positiver Charaktermerkmale und von Institutionen, die zu solchen Dingen befähigen. Zufrieden mit der Vergangenheit, glücklich mit der Gegenwart und optimistisch beim Blick in die Zukunft – dies alles zusammen ergibt positive Emotionen und definiert den ersten Eckpfeiler der neuen Bewegung der Psychologie. Glück, so argumentiert Seligman, ist ein Nebenprodukt eines angenehmen, engagierten und sinnvollen Lebens.
»Ignoranz erzeugt leichter Selbstvertrauen, als Wissen es tut.« Charles Darwin (»The Descent of Man«, 1871; dtsch. »Die Abstammung des Menschen«)
Courtesy of Martin E. P. Seligman
Positive Psychologie
Martin E.P. Seligman »Das Hauptziel einer positiven Psychologie besteht darin, die Stärken und die echten Tugenden eines Menschen zu erheben, zu verstehen und sie dann aufzubauen.«
Bei der positiven Psychologie geht es nicht nur darum, ein angenehmes Leben zu führen, meint Seligman, sondern auch ein gutes Leben, bei dem die eigenen Fähigkeiten genutzt werden, und ein sinnvolles Leben, das über uns selbst hinausweist. Der zweite Eckpfeiler heißt daher positiver Charakter. Dabei konzentriert man sich darauf, bestimmte Merkmale zu erkunden und zu verbessern, wie Kreativität, Mut, Mitgefühl, Integrität, Selbstkontrolle, Führungsqualitäten, Weisheit und Spiritualität untersucht werden. Die aktuelle Forschung untersucht den Ursprung und die Wirkung dieserTugenden, und manchmal geschieht dies anhand der Lebensgeschichte von Menschen, die diese Merkmale in exemplarischer Weise verkörpern. Der dritte Eckpfeiler betrifft positive Gruppen, Gemeinden und Kulturen. Der Akzent liegt hier auf einer positiv ausgerichteten sozialen Ökologie, zu der auch intakte Familien, nachbarschaftliche Gemeinschaften, gute Schulen, Medien mit sozialem Verantwortungsbewusstsein und ein Bürgerdialog gehören. Wird die Aufgabe der Psychologie in diesem Jahrhundert mehr auf die positiven Seiten des menschlichen Lebens gerichtet sein? Die Anhänger der positiven Psychologie hoffen es, wenn auch die Notwendigkeit, Schädigungen zu lindern und Krankheiten zu heilen, nicht auf die leichte Schulter genommen werden soll. Mit Sonderausgaben von Fachzeitschriften wie »American Psychologist« und »British Psychologist« zu diesem Thema, mit neuen Büchern – »Authentic Happiness« (Seligman 2004), »A Psychology of Human Strengths« (Aspinwall u. Staudinger 2002), »Character Strengths and Virtues« (Peterson u. Seligman 2004) oder »Positive Psychologie« (Auhagen 2004) – mit jüngst ausgesetzten Preisen, Forschungsgeldern und Sommerkursen, die Stipendien zur Förderung der positiven Psychologie gewähren, haben die Psychologen allen Grund, positiv in die Zukunft zu blicken.
voller Optimismus in Beziehungen stürzen, die nur schlecht ausgehen können, ebenso auch diejenigen, die die Wirkung des Rauchens leugnen oder ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, erinnern uns daran, dass – wie Hochmut – blinder Optimismus vor dem Fall kommt. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass häufig gerade die am wenigsten kompetenten Menschen die größten Optimisten sind. Das liegt daran, dass man Kompetenz braucht, um Kompetenz erkennen zu können, bemerken Kruger u. Dunning (1999). Sie fanden heraus, dass die meisten Studierenden, die mit ihren Werten am unteren Ende der Skala für Grammatik und Logik lagen,
625 14.4 · Sozial-kognitiver Ansatz
glaubten, sie lägen in der oberen Hälfte. Wenn sie nicht wissen, was gute Grammatikkenntnisse sind, dann merken sie wahrscheinlich gar nicht, wie dürftig ihre Grammatikkenntnisse sind. Dieses Phänomen des »Unwissens über die eigene Inkompetenz« findet seine Parallele bei Schwerhörigen, die ein Problem damit haben, ihren eigenen Hörverlust zu erkennen (und das kann ich nur bestätigen). Wir sind gar nicht so sehr in einer »Abwehrhaltung«, wir sind uns einfach nur nicht der Tatsache bewusst, dass wir nicht hören. Wenn ich nicht hören kann, wie ein Freund meinen Namen ruft, bemerkt der Freund meine Unaufmerksamkeit. Doch für mich handelt es sich um ein Nicht-Ereignis. Ich höre, was ich höre – was mir ziemlich normal erscheint. Die Schwierigkeit, seine eigene Inkompetenz zu erkennen, kann als Erklärung dafür dienen, dass so viele Studierende mit schlechten Prüfungsergebnissen verblüfft sind, wenn sie in einer Prüfung schlecht abgeschnitten haben. Wenn Sie nicht alle Möglichkeiten für Scrabble-Wörter kennen, die Sie übersehen haben, fühlen Sie sich ganz schön schlau – bis Sie jemand darauf hinweist. Wie Caputo u. Dunning (2005) in Experimenten, in denen dieses Phänomen nachgestellt wurde, belegten, erhält unser Unwissen in Bezug auf das, was wir nicht wissen, unser Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten aufrecht.
14.4.3
Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten
Ziel 23: Erklären Sie, warum die sozial-kognitive Forschung das Verhalten in realistischen Situationen erfasst.
Die sozial-kognitive Psychologie erforscht die Wechselwirkung zwischen Menschen und Situationen. Um Verhalten vorherzusagen, beobachtet man oft das Verhalten in realistischen Situationen. Der Gedanke ist nicht neu, aber wirkungsvoll. Ein ehrgeiziges Beispiel dafür war die Strategie zur Bewertung von Kandidaten für Spionageaufträge, die von der US-Armee im 2. Weltkrieg entwickelt wurde. Die Militärpsychologen verzichteten auf schriftliche Tests; stattdessen unterzogen sie die Kandidaten simulierten geheimen Missionen. Sie testeten, wie die Kandidaten mit Stress fertig wurden, wie sie Probleme angingen und lösten, ob sie die Führungsrolle aufrechterhalten und einem intensiven Verhör standhalten konnten, ohne ihre Deckung aufzugeben. Zwar war das langwierig und teuer, doch konnte man mit dieser Form der Erfassung des Verhaltens in realistischen Situationen vorhersagen, ob eine spätere Spionagemission erfolgreich verlaufen würde (OSS Assessment Staff 1948). Organisationen der Armee und des Erziehungswesens und viele »Fortune-500-Firmen« – das sind die 500 größten amerikanischen Industrieunternehmen – nutzen ähnliche Strategien noch heute alljährlich, wenn sie in Assessment Centern Tausende von Menschen evaluieren (Bray et al. 1991, 1997; Spychalski et al. 1997; 7 Kap. 20). Bei großen Unternehmen, z. B. der Lufthansa, wurden künftige Manager bei der Erledigung simulierter Manageraufgaben beobachtet. Universitäten erfassen die Lehrfähigkeit von potenziellen Lehrstuhlinhabern durch Beobachtung: Sie beobachten während des Berufungsverfahrens ihre Art zu lehren in einer »Probevorlesung«. Lehrproben während des Referendariats gehören auch zur Ausbildung bei zukünftigen Lehrern. Die Armee testet ihre Soldaten im Rahmen von Militärübungen. In den meisten amerikanischen Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern setzt man Assessment Center ein, um Polizisten und Feuerwehrmänner zu bewerten (Lowry 1997). Dieser Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass die beste Vorhersage über künftiges Verhalten weder mit Hilfe eines Persönlichkeitstests noch mit Hilfe der Intuition des Interviewers erreicht wird. Es ist vielmehr das frühere Verhalten eines Menschen in vergleichbaren Situationen, das hier aufschlussreich ist (Mischel 1981; Ouellette u. Wood 1998; Schmidt u. Hunter 1998a). Wenn Situation und Person mehr oder weniger gleich bleiben, ist die bisher im Beruf gezeigte Leistung der beste Prädiktor für künftige Leistungen. Der beste Prädiktor für Prüfungsnoten sind die bisherigen Noten; der beste Prädiktor für aggressives Verhalten ist aggressives Verhalten in der Vergangenheit; der beste Prädiktor für Drogenkonsum in den frühen Erwachsenenjahren ist Drogenkonsum in der Schulzeit. Haben Sie keine Möglichkeit, Informationen über das frühere
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»Der Wohnzimmer-Scrabble-Spieler hat Glück … Er hat keine Ahnung davon, wie elend er bei jedem Zug versagt, wie viele mögliche Wörter oder optimale Spielzüge ihm unerkannt entgehen.« Stephen Fatsis, »Word Freak« (2001), einem Roman über einen professionellen Scrabble-Spieler
626
Kapitel 14 · Persönlichkeit
Verhalten eines Menschen zu bekommen, dann ist die zweitbeste Möglichkeit eine Situation, in der die Aufgabe simuliert wird. Auf diese Weise können Sie erfassen, wie Ihr Kandidat damit fertig wird.
14.4.4
Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes
Ziel 24: Nennen Sie die Hauptkritikpunkte am sozial-kognitiven Ansatz.
Der sozial-kognitive Ansatz in der Persönlichkeitsforschung sensibilisiert die Forscher dafür, welchen Einfluss eine Situation auf einen Menschen hat und wie dieser Mensch dann wiederum die Situation beeinflusst. Dieser Forschungsansatz beruht mehr als andere auf den Ergebnissen der Forschung im Bereich Lernen und Kognition. Kritiker bemängeln indes, dass sich der sozial-kognitive Denkansatz so stark auf die Situation konzentriert, dass die inneren Merkmale nicht berücksichtigt werden. »Wo bleibt das Individuum bei dieser Sicht auf die Persönlichkeit?«, fragen die, die anderer Meinung sind (Carlson 1984). Und wo sind die Emotionen? Sicher, die Situation steuert unser Verhalten, sagen die Kritiker, doch bei vielen Gelegenheiten zeigen sich deutlich die unbewussten Motive, die Emotionen und die typischen Merkmale. Es hat sich gezeigt, dass man aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen Verhalten bei der Arbeit, beim Spiel und in der Liebe vorhersagen kann. Traits sind bedeutsam. Nehmen Sie z. B. Percy Ray Pridgen und Charles Gill. Beide standen vor derselben Situation: Sie hatten im Lotto einen 90-Mio.-Dollar-Jackpot gewonnen (Harrison 1993). Als Pridgen die Gewinnzahl erfuhr, begann er unkontrolliert zu zittern, versteckte sich mit einem Freund hinter der Badezimmertür, als der Gewinn bestätigt wurde, und brach dann in Schluchzen aus. Als Gill von seinem Gewinn erfuhr, erzählte er es seiner Frau und ging dann schlafen. Lernziele Abschnitt 14.4 Sozial-kognitiver Ansatz
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Ziel 20: Beschreiben Sie den sozial-kognitiven Ansatz, und erklären Sie, wie der reziproke Determinismus diesen Ansatz veranschaulicht. Der reziproke Determinismus ist ein Begriff, der auf die Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Umweltfaktoren angewandt wird. Diese Wechselwirkung ist zentral für den sozial-kognitiven Ansatz, bei dem Lernprinzipien (Lernen durch Konditionierung und Lernen durch Beobachtung) und kognitive Prinzipien (unser Denken über unsere Situation) auf die Untersuchung der Persönlichkeit angewandt werden. Die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt treten z. B. auf, wenn wir uns für eine Umwelt entscheiden, die uns dann formt, wenn unsere Persönlichkeit die Art und Weise beeinflusst, wie wir Ereignisse interpretieren und darauf reagieren, und wenn unsere Persönlichkeit dazu beiträgt, Situationen zu erzeugen, auf die wir reagieren. Ziel 21: Erörtern Sie, wie sich die Wahrnehmung der internalen oder externalen Kontrolle auswirkt, und beschreiben Sie das Konzept der erlernten Hilflosigkeit. Menschen mit einer internalen Kontrollüberzeugung (die glauben, sie bestimmten ihr eigenes Schicksal) neigen dazu, bessere Leistung in der Schule, eine bessere Gesundheit, weniger Depressionen und eine bessere Selbstkontrolle aufzuweisen als Menschen mit einer externalen Kontrollüberzeugung (die glauben, Kräfte außerhalb ihrer Kontrolle bestimmten ihr Schicksal). Die erlernte Hilflosigkeit ist eine er-
worbene Reaktion auf Hoffnungslosigkeit und passive Resignation, die Tiere und Menschen zeigen, nachdem sie wiederholt mit traumatischen Ereignissen konfrontiert wurden, die sie nicht kontrollieren können. Eine Umwelt, in der bei den Menschen das Gefühl der Kontrolle zunimmt, kann bei ihnen die Stimmung verbessern und Fähigkeiten mobilisieren. Eine immer größere persönliche Freiheit jedoch in Form einer Vielfalt von Wahlmöglichkeiten für Verbraucher kann zur Qual der Wahl führen, durch die möglicherweise die Lebenszufriedenheit abnimmt, und Depressionen und Gefühle der Lähmung zunehmen. Ziel 22: Erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Leistung und optimistischem bzw. pessimistischem Attributionsstil, und stellen Sie die positive Psychologie der humanistischen Psychologie gegenüber. Ein optimistischer bzw. ein pessimistischer Attributionsstil (die Art und Weise, wie man Ereignisse erklärt) kann ein Hinweis darauf sein, wie lebenstüchtig oder hilflos man sich fühlt. Studierende, die eine Einstellung des hoffnungsvollen Optimismus zum Ausdruck bringen, haben gewöhnlich bessere Noten als die mit einem negativen Attributionsstil. Aber übermäßiger Optimismus kann auch zu Gefühlen der Unbesiegbarkeit führen, die uns unnötigen Risiken aussetzen. Die positive Psychologie versucht wie die humanistische Psychologie, das Gefühl der Erfülltheit beim Menschen zu fördern. Sie unterscheidet sich jedoch von der humanistischen Psychologie durch ihre wissen6
627 14.5 · Das Selbst
schaftlichen Methoden. Die 3 Ziele der positiven Psychologie sind: Untersuchung und Förderung des positiven subjektiven Wohlbefindens, der positive Charakter sowie positive Gruppen, positive Gemeinschaften und positive Kulturen. Ziel 23: Erklären Sie, warum die sozial-kognitive Forschung das Verhalten in realistischen Situationen erfasst. Die sozial-kognitiven Theoretiker interessieren sich dafür, wie sich Verhalten und Überzeugungen eines Menschen auswirken und wie sich die Umgebung auswirkt. Sie beobachten Menschen in realistischen Situationen, weil sie herausgefunden haben, dass die beste Möglichkeit, das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation vorherzusagen, darin besteht, die Verhaltensmuster dieses Menschen in vergleichbaren Situationen zu beobachten.
14.5
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Ziel 24: Nennen Sie die Hauptkritikpunkte am sozial-kognitiven Ansatz. Kritiker werfen dem sozial-kognitiven Ansatz vor, sich so sehr auf die Situation zu konzentrieren, dass er die Person aus dem Blick verliert. Sie vertreten die Auffassung, dieser Ansatz unterschätze die Bedeutung der unbewussten Dynamik, der Emotionen und der biologisch beeinflussten Merkmale. > Denken Sie weiter: Sind Sie ein Pessimist? Rechnen Sie ständig mit Katastrophen? Sind Ihre Erwartungen gering? Schreiben Sie unerfreuliche Ereignisse Ihrer eigenen Unfähigkeit zu oder Umständen, die sich Ihrer Kontrolle entziehen? Oder sind Sie ein Optimist? Vielleicht sogar jemand, der häufig einen »illusorischen Optimismus« an den Tag legt? Hatte die eine oder die andere Tendenz – je nachdem, welche Sie sich selbst zuschreiben – einen Einfluss darauf, welche Universität und welche Seminare Sie ausgewählt haben?
Das Selbst
Ziel 25: Erklären Sie, warum sich die Psychologie in der Forschung so intensiv mit dem Selbst beschäftigt hat, und geben Sie 3 Beispiele für die aktuelle Forschung zum Selbst.
Das Nachdenken über das Selbstempfinden des Menschen reicht mindestens bis zur Zeit von William James zurück, der in seinen »Principles of Psychology« (1890) über 100 Seiten zu diesem Thema schrieb. Etwa um 1943 klagte Gordon Allport, das Selbst sei »aus dem Blickfeld geraten«. Obwohl die humanistische Psychologie mit ihrer Betonung des Selbst nicht zu vielen wissenschaftlichen Forschungarbeiten führte, kam es dennoch zu einer Erneuerung und Belebung des Konzepts des Selbst. Heute, mehr als 100 Jahre nach James, gehört das Selbst zu den Themen, die in der Psychologie der westlichen Länder mit großem Eifer untersucht werden. Alljährlich erscheinen reihenweise neue Studien über Selbstwert, Selbstöffnung, Selbstwahrnehmung, Selbstschema, Selbstüberwachung etc. – seit 1967 über 220.000 Artikel! Dieser Forschung liegt die Annahme zugrunde, dass das Selbst, der Organisator unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen, den Dreh- und Angelpunkt der Persönlichkeit darstellt. Ein Beispiel für eine Denkrichtung ist das Konzept der »möglichen Selbste« (»possible selves«), das Markus und ihre Kollegen entwickelt haben (Cross u. Markus 1991; Markus u. Nurius 1986). Zu Ihrem möglichen Selbst gehören Visionen, die das Selbst zeigen, zu dem Sie gern werden möchten: das reiche Selbst, das erfolgreiche Selbst, das geliebte Selbst, das bewunderte Selbst. Dazu gehört aber auch das Selbst, das Sie zu werden befürchten: das arbeitslose Selbst, das einsame Selbst, das beim Studium gescheiterte Selbst. Ein solches mögliches Selbst motiviert uns, uns spezifische Ziele zu setzen und die Energie aufzubringen, dass wir darauf hinarbeiten. An der University of Michigan erreichen Studenten, die an einem kombinierten Programm für Studienanfänger im Fach Medizin teilnehmen, bessere Noten, wenn sie das Programm mit einer deutlichen Vision von sich selbst als erfolgreichen Ärzten durchlaufen. Träume sind oft die Mutter dessen, was man erreicht. Unsere egozentrische Perspektive kann uns motivieren, sie kann uns aber auch dazu verleiten, anzunehmen, dass andere uns bemerken und bewerten. Gilovich (1996) demonstrierte diesen »Spotlight-Effekt«: Er ließ einzelne Studierende Barry-Manilow-T-Shirts anziehen und dann in den Raum zu den anderen Studierenden gehen. Die T-Shirt-Träger waren sich ihrer selbst bewusst und schätzten, dass die Hälfte der anderen Studenten das T-Shirt bemerken würde, sobald sie hereinkämen. Tatsächlich wurden sie aber nur von 23% der Studierenden bemerkt. Diese fehlende Aufmerksamkeit betrifft nicht nur auffällige Kleidung und schlecht gekämmte Haare, sondern auch unsere Nervosität, Gereiztheit oder Attraktivität: Dies alles wird von viel weniger Menschen bemerkt, als wir annehmen. (Gilovich u. Savitsky 1999). Die anderen nehmen auch die Verände-
»Der erste Schritt auf dem Weg zu besseren Zeiten besteht darin, sie sich vorzustellen.« Aus einem chinesischen Glückskeks
Spotlight-Effekt (spotlight effect): Überschätzen der Wahrnehmung und Bewertung unserer äußeren Erscheinung, Leistungen und Fehlleistungen durch andere Menschen (als ob wir im Licht eines Scheinwerfers stünden).
Kapitel 14 · Persönlichkeit
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Das mögliche Selbst Spiele, bei denen man »so tut, als ob«, eröffnen Kindern die Möglichkeit, viele verschiedene Rollen des Selbst auszuprobieren und dadurch emotional, sozial und kognitiv zu wachsen. Zwar wird dieses kleine Mädchen vielleicht nicht Ärztin werden, doch das Spiel mit Erwachsenenrollen bereitet den Boden für eine breitere Perspektive auf das, was sie einmal werden könnte
Selbstwertgefühl (self-esteem): Gefühl für den hohen oder geringen Wert der eigenen Person.
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»Heute wird ja viel von Selbstwertgefühl gesprochen. Für mich ist das etwas Unverzichtbares. Wenn du stolz auf dich sein willst, musst du etwas tun, worauf du stolz sein kannst.« Oseola McCarty, Waschfrau aus Mississippi, nachdem sie der University of Southern Mississippi 150.000 Dollar gespendet hatte
rungen – das Auf und Ab – unserer äußeren Erscheinung und unserer Leistung weniger wahr (Gilovich et al. 2002). Selbst wenn wir uns tölpelhaft aufführen (die Alarmanlage in der Bibliothek auslösen, in den falschen Klamotten zu einer Party auftauchen), erregen wir weniger Aufsehen, als wir uns einbilden (Savitsky et al. 2001). Wenn wir uns des Spotlight-Effekts bewusst sind, kann das Fähigkeiten mobilisieren. Wenn man Vortragenden hilft, zu verstehen, dass ihre natürliche Nervosität für das Publikum nicht so offensichtlich ist, wird ihre Leistung beim Vortrag besser werden (Savitsky u. Gilovich 2003). Diese egozentrische Haltung hat auch Auswirkungen auf unser Gedächtnis, allerdings in eher konstruktiver Weise: Wir erinnern uns an Informationen besser, wenn wir sie beim Enkodieren mit unserer eigenen Person in Zusammenhang bringen. Higgins u. Bargh (1987) demonstrierten dieses Phänomen des Selbstbezugs, indem sie Versuchsteilnehmer baten, darüber nachzudenken, ob bestimmte Wörter wie z. B. »freundlich« mehr sie selbst oder eher jemanden anders beschrieben. Die Teilnehmer erinnerten sich besser an die Wörter, die sie in einen Zusammenhang mit sich selbst gebracht hatten.
14.5.1
Die Vorteile des Selbstwertgefühls
Ziel 26: Geben Sie 2 alternative Erklärungen für die positive Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und persönlichen Problemen.
Was wir von uns selbst halten, ist gleichfalls von Bedeutung. Ein hohes Selbstwertgefühl – das Gefühl für das, was man wert ist – zahlt sich aus. Wer sich mit sich selbst wohl fühlt (wer bei selbstbestätigenden Aussagen in entsprechenden Fragebögen hohe Zustimmung äußert), erlebt seltener schlaflose Nächte, erliegt weniger leicht dem Druck zur Konformität, zeigt mehr Ausdauer bei schwierigen Aufgaben, ist weniger schüchtern, weniger einsam und einfach glücklicher (Crocker u. Wolfe 1999; Leary 1999; Murray et al. 2002; Watson et al. 2002). Wenn Sie Menschen mit einem hohen Selbstwertgefühl gute Nachrichten überbringen, ist es wahrscheinlicher als bei Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl, dass sie diese genießen und nicht versuchen sie herunterzuspielen (Wood et al. 2003). Diejenigen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, sehen sich selbst nicht notwendigerweise als wertlos oder bösartig, aber sie sagen nur selten etwas Gutes über sich selbst. Ein geringes Selbstwertgefühl geht häufig mit Unglück und Verzweiflung einher, wie der Psychotherapieforscher Strupp (1982) anmerkt: »Sobald man der Geschichte eines Patienten zuhört, stößt man auf das Gefühl, unglücklich zu sein, auf Frustration und Verzweiflung. . . . Die Grundlage all dieser Schwierigkeiten ist ein Mangel an Selbstakzeptanz und ein geschädigtes Selbstwertgefühl.« Wenn ein geringes Selbstwertgefühl als Signal für soziale Ablehnung empfunden wird, dient es vielleicht als Überlebenshilfe. Denn es motiviert die Menschen, sich so zu verhalten, dass sie wieder in einer stützenden Gruppe Zuflucht finden (Leary et al. 1995). Die Korrelationen zwischen einem geringen Selbstwertgefühl und persönlichen Problemen lassen sich auch anders interpretieren. Baumeister et al. (2003, 2005), Damon (1995), Dawes (1994), Leary (1999) und Seligman (1994, 2002) melden Zweifel an der These an, dass ein hohes Selbstwertgefühl wirklich »die schützende Rüstung der Kinder« vor den Problemen des Lebens darstellt. Vielleicht ist das Selbstwertgefühl einfach ein Spiegel der Realität. Vielleicht ist »sich gut fühlen« die Folge von »etwas gut machen«. Vielleicht ist ein hohes Selbstwertgefühl ein Nebenprodukt, das entsteht, wenn man auf Herausforderungen stößt und Schwierigkeiten überwindet. Möglicherweise ist das Selbstwertgefühl auch ein feines Messinstrument, das uns den Zustand unserer Beziehungen zu anderen angibt. Nehmen wir einmal an, dass dies so ist: Bedeutet es dann nicht, wenn man das Messinstrument künstlich höher einstellt, dass man die Benzinanzeige zwangsweise dazu bringt, »Voll« anzuzeigen, obwohl der Tank leer ist? Und wenn Probleme und Scheitern zu einem geringen Selbstwertgefühl führen, wird der Auftrieb deshalb nicht daher kommen, dass man Kindern pausenlos erzählt, wie toll sie sind. Das Selbstwertgefühl steigert sich eher, wenn sie mit Problemen wirkungsvoll fertig werden und etwas Schwieriges vollbracht haben. In Experimenten zeigt sich jedoch ein Effekt des geringen Selbstwertgefühls. Versetzt man dem Selbstbild eines Menschen für einen Moment einen Schlag (indem man ihm etwa mitteilt, dass er
629 14.5 · Das Selbst
14 © The New Yorker Collection, 1996, Mike Twohy from cartoonbank.com. All Rights Reserved.
bei einem Leistungstest schlecht abgeschnitten hat oder indem man seine Persönlichkeit herabsetzt), dann steigt die Wahrscheinlichkeit, mit der er andere Menschen herabsetzt oder beispielsweise stärkere rassistische Vorurteile zum Ausdruck bringt (Ybarra 1999). Wer sich selbst gegenüber eine negative Einstellung hat, ist auch tendenziell dünnhäutig und verurteilt gern andere (Baumeister et al. 1989; Pelham 1993). Manch einer »liebt seinen Nächsten wie sich selbst«, andere hassen und verachten ihren Nächsten wie sich selbst. Bei Experimenten werden die Teilnehmer, die dazu gebracht werden, sich unsicher zu fühlen, außerordentlich kritikfreudig, als wollten sie andere mit ihren brillanten Analysen beeindrucken (Amabile 1983). ! Die Forschungsergebnisse sind konsistent mit der Annahme von Maslow und Rogers, dass sich ein gesundes Selbstbild auszahlt. Akzeptiere dich selbst, und du wirst andere leichter akzeptieren können. Wenn Sie sich selbst gering schätzen, werden Sie zur Geringschätzung anderer neigen.
14.5.2
Kultur und Selbstwertgefühl
Ziel 27: Erörtern Sie einige Methoden, wie Menschen unter Bedingungen der Diskriminierung oder eines geringen sozialen Status ihr Selbstwertgefühl aufrechterhalten.
Stimmt es, dass, wie so viele annehmen, ethnische Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und viele Frauen ein Leben führen, das durch ein geringes Selbstwertgefühl eingeschränkt ist? Nach allem, was wir an Befunden sammeln konnten, kann diese Frage verneint werden. Die 1980 vom National Institute of Mental Health durchgeführte Studie über psychische Störungen in Amerika ergab: Die Depressions- und Alkoholismusquote bei Afro- und Hispanoamerikanern ist fast genauso hoch wie bei anderen Amerikanern (wenn überhaupt, leiden die ethnischen Minderheiten in den USA geringfügig weniger unter Depressionen). In neuerer Zeit erbrachten 261 Vergleichsuntersuchungen von mehr als einer halben Million Menschen leicht erhöhte Werte in Bezug auf das Selbstwertgefühl bei Schwarzen im Vergleich zu weißen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Gray-Little u. Hafdahl 2000; Twenge u. Crocker 2002). Darüber kann man sich wundern: Wie ist das möglich? Manche Mitglieder stigmatisierter Gruppen waren mit Diskriminierung und niedrigem sozialem Status konfrontiert und haben laut Crocker u. Major (1989) ihr Selbstwertgefühl auf dreierlei Weise aufrechterhalten: 4 Sie ordnen den Dingen, in denen sie sehr gut sind, einen hohen Stellenwert zu. 4 Sie schreiben Probleme den Vorurteilen zu. 4 Sie tun, was alle Menschen tun: Sie vergleichen sich mit den Menschen in ihrer eigenen Gruppe. Anhand dieser Befunde kann man leichter verstehen, wie es kommt, dass solche Gruppen, obwohl die Vorurteile eine Realität darstellen, nicht weniger glücklich sind als andere.
14.5.3
Selbstwertdienliche Verzerrung
Ziel 28: Erörtern Sie das Phänomen der selbstwertdienlichen Verzerrung, und stellen Sie das defensive und das sichere Selbstwertgefühl einander gegenüber.
Rogers (1958) hielt der christlichen Lehre einmal vor, sie verkünde, dass die Probleme der Menschheit ihre Ursache in der exzessiven Eigenliebe und dem Hochmut der Menschen haben. Er sagte dazu, die meisten Menschen, die er kennen gelernt hätte, »verachten sich selbst, betrachten sich als wertlos und nicht liebenswert«. Mark Twain hatte eine ähnliche Idee: »In der Tiefe seines Herzens hat kein Mensch irgendeine Art von Achtung vor sich selbst.« ! Tatsächlich haben die meisten von uns eine gute Meinung von sich selbst.
Wollen Sie wissen, wie das Phänomen etwas geringzuschätzen auf Englisch heißt? »Floccinaucinihilipilification of others«. Das ist nebenbei das längste Wort aus dem Oxford English Dictionary.
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Selbstwertdienliche Verzerrung (self-serving bias): Bereitschaft, uns selbst in einem günstigen Licht zu sehen.
»Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!« Redensart
»Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Liebesgeschichte.« Oscar Wilde (»An Ideal Husband«, 1895)
»Die (Selbst-)Beschreibungen, an die wir eigentlich glauben, wenn man uns die Freiheit lässt, sie in Worte zu fassen, sind wesentlich positiver, als sich realistischerweise rechtfertigen ließe.« Shelley Taylor, »Positive Illusionen« (1993)
Drei von 4 Haustierbesitzern sind der Überzeugung, ihr Haustier sei klüger als der Durchschnitt (Nier 2004).
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Bei Studien zum Selbstwertgefühl liegen sogar die Befragten mit einem gering ausgeprägten Selbstwertgefühl bei den Antworten etwa in der Mitte (Ein Mensch mit »geringem« Selbstwertgefühl antwortet auf Sätze wie »Ich habe gute Einfälle« mit einschränkenden Adverbien wie »irgendwie« oder »manchmal«.) Mehr noch, eine provokative und gut gesicherte psychologische Erkenntnis aus jüngerer Zeit betrifft die selbstwertdienliche Verzerrung (»self-serving bias«) – unsere Bereitschaft, uns selbst in einem günstigen Licht zu sehen (Mezulis et al. 2004; Myers 2005). Sehen Sie sich dazu folgende Ergebnisse an: 4 Die Menschen übernehmen mehr Verantwortung für gute Taten als für schlechte und mehr für Erfolge als für Misserfolge. Insgeheim schreiben Sportler ihre Siege dem eigenen überragenden Können zu. Aber wenn sie verlieren, hatten sie eine Pechsträhne, der Trainer war lausig, oder die Leistung der gegnerischen Mannschaft außergewöhnlich gut. Die meisten Studierenden üben Kritik an der Prüfung, wenn sie schlecht abgeschnitten hatten, nicht an sich selbst; das wird durch ein halbes Dutzend Studien bestätigt. Auf Versicherungsformularen beschrieben Autofahrer Unfallursachen folgendermaßen: »Ein unsichtbares Auto kam aus dem Nichts, stieß mit meinem Wagen zusammen und verschwand.« – »Als ich an die Kreuzung kam, tauchte plötzlich eine Hecke auf und nahm mir die Sicht, und ich habe den anderen Wagen nicht gesehen.« – »Ein Fußgänger stieß gegen meinen Wagen und schmiss sich darunter.« Die Frage »Was habe ich getan, um das zu verdienen?« stellen wir uns in solch schwierigen Situationen normalerweise nicht. Wenn wir aber erfolgreich sind, nehmen wir an, den Erfolg selbst verdient zu haben. 4 Die meisten Menschen halten sich selbst für besser als den Durchschnitt. Das gilt für beinahe jede subjektive und sozial erwünschte Dimension. Bei landesweiten Umfragen sagen die meisten leitenden Angestellten, sie handelten ethischer als ihre durchschnittlichen Standesgenossen. In mehreren Studien bewerteten 90% der Manager und über 90% der Professoren ihre Leistung als höher als die ihrer durchschnittlichen Kollegen. In Australien beurteilen 86% der Menschen ihre Leistung im Beruf als überdurchschnittlich, nur 1% betrachtet sie als unterdurchschnittlich. Dieses Phänomen, das eher die Überschätzung des eigenen Selbst als die Unterschätzung anderer Menschen widerspiegelt (Epley u. Dunning 2000), ist weniger ausgeprägt in asiatischen Ländern, wo Bescheidenheit als Wert gilt. Doch die selbstwertdienliche Verzerrung konnte weltweit beobachtet werden: bei holländischen, australischen und chinesischen Studenten, japanischen Autofahrern, bei Indern und Franzosen in jedem möglichen Beruf. Komischerweise hält jeder Einzelne sich selbst für besser geschützt gegen die selbstwertdienliche Verzerrung als andere (Pronin et al. 2002). Die Welt ist allem Anschein nach so wie in Garrison Keillors Radiosendung »Lake Wobegon«: ein Ort, wo »alle Frauen stark sind, alle Männer gut aussehend und alle Kinder überdurchschnittlich«. Und wer hat zumindest eine gewisse Chance, in den Himmel zu kommen? Von den Amerikanern, die bei einer Studie von U.S. News (1997) befragt wurden, dachten 19% von O.J. Simpson, er würde es schaffen. Optimistischer waren sie in Bezug auf Bill Clinton (52%), Prinzessin Diana (60%) und Michael Jordan (65%). Die Person des öffentlichen Lebens, die sich als aussichtsreichster Kandidat für den Himmel erwies, war Mutter Teresa (79%). Sie wurde nur noch von den Befragten der Untersuchung selbst übertroffen, von denen 87% glaubten, sie seien selbst für die ewige Glückseligkeit vorgesehen. Die selbstwertdienliche Verzerrung ist ein Schlag ins Gesicht der Populärpsychologie. »Jeder von uns hat einen Minderwertigkeitskomplex«, schrieb Powell (1989). »Die, die scheinbar keinen Minderwertigkeitskomplex haben, tun nur so.« Doch weitere Befunde vertreiben jeglichen Zweifel (Myers 2005): 4 Unsere früheren Handlungen erinnern und rechtfertigen wir in einer Weise, die uns selbst besser dastehen lässt. 4 Wir setzen ein übertriebenes Vertrauen in unser Urteil und unsere Überzeugungen. 4 Wir überschätzen, wie erstrebenswert wir uns in einer Situation verhalten würden, in der sich die meisten Menschen weniger vorbildlich benehmen. 4 Wir wählen gern positive, beschönigende Informationen über uns selbst aus. 4 Wir schenken einer schmeichelhaften Beschreibung unserer eigenen Person eher Glauben als einer nicht so schmeichelhaften, und wir lassen uns von psychologischen Tests beeindrucken, die uns in einem guten Licht zeigen.
631 14.5 · Das Selbst
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4 Wir stützen unser Selbstbild dadurch, dass wir überschätzen, wie verbreitet unsere Schwächen sind, und dass wir unterschätzen, wie weit verbreitet unsere Stärken sind. 4 Wir zeigen Stolz auf die eigene Gruppe: eine Tendenz, unsere Gruppe (Schule, Land oder Rasse) als überlegen anzusehen. Aber Hochmut kommt oft vor dem Fall. Selbstwertdienliche Wahrnehmungen sind oft die Ursache von Konflikten, die vom Tadel für den Partner wegen ehelicher Missstimmung bis hin zur arroganten Darstellung der eigenen ethnischen Überlegenheit reichen. Der »Stolz auf die arische Rasse« war eine der Ursachen für die Grausamkeiten der Nationalsozialisten. Nicht verwunderlich also, dass in religiösen Schriften und in der Literatur so oft vor den Fallstricken eines übermäßigen Hochmuts gewarnt wird. Wenn ein Mensch mit einem großen Ego sein Selbstwertgefühl bedroht sieht, dann begnügt er sich nicht damit, andere niederzumachen: Er kann auch gewalttätig werden. Wenn man den sozialschädlichen Ansatz verfolgen wollte, Kinder ständig gegeneinander kämpfen zu lassen, wäre das beste Rezept eine Mischung aus hohem Selbstwertgefühl und sozialer Ablehnung. Ein Jugendlicher oder Erwachsener, dem »der Kamm geschwollen« ist und der sich beleidigt fühlt, ist potenziell gefährlich. Bushman u. Baumeister (1998) experimentierten mit dieser »dunklen Seite des Selbstwerts«. Sie ließen 540 Studienanfänger einen kurzen Artikel schreiben, der dann von einem anderen Studenten (der allerdings kein Student war, sondern zum Versuchsleiterteam gehörte) entweder sehr gelobt (»hervorragender Aufsatz«) oder scharf kritisiert wurde (»selten einen so schlechten Aufsatz gelesen«). Dann trat der Aufsatzschreiber gegen diesen anderen Studenten in einem Spiel an, in dem es um Reaktionszeiten ging. Nach einem Sieg durften sie ihren Kontrahenten mit Lärm zudröhnen, so laut und so lange, wie sie wollten. Können Sie sich vorstellen, was dabei herauskam? Nach der Kritik waren diejenigen mit unrealistisch hohem Selbstwertgefühl »außergewöhnlich aggressiv«. Sie drehten die Gehörfolter 3-mal stärker auf als die Personen mit einem normalen Selbstwertgefühl. »Bedrohter Egoismus«, so scheint es, löst mehr Aggression aus als geringes Selbstwertgefühl. »Ermuntert man jemanden, eine gute Meinung über sich selbst zu haben, wenn er sie nicht verdient hat«, so schafft das Probleme, ist Baumeisters (2001) Schlussfolgerung. »Eingebildete Wichtigtuer werden bösartig gegenüber denen, die die Seifenblasen ihrer Eigenliebe platzen lassen.« Trotz der aufgezeigten Gefahren, die der Hochmut mit sich bringt, weisen viele Menschen die Vorstellung von einer selbstwertdienlichen Verzerrung zurück und behaupten, diejenigen, die sich wertlos und nicht liebenswert fühlen und sich anscheinend selbst verachten, würden übersehen. Wenn die selbstwertdienliche Verzerrung so weit verbreitet ist: Warum setzen so viele Menschen sich selbst herab? Aus 3 Gründen: 4 Manchmal ist Selbsterniedrigung Teil einer subtilen Taktik: Sie lockt beruhigende Streicheleinheiten hervor (»fishing for compliments«). Ein Satz wie, »Niemand liebt mich«, kann zumindest ein »Aber keiner hat dich bisher richtig kennen gelernt!« hervorlocken. 4 In anderen Momenten, etwa vor einem Wettspiel oder einer Prüfung können selbsterniedrigende Kommentare uns auf ein mögliches Versagen vorbereiten. Der Mannschaftsführer, der die Stärke und Überlegenheit des Gegners preist, lässt die Niederlage verständlich und den Sieg bemerkenswert werden. 4 Selbsterniedrigung schließlich bezieht sich auch häufig auf ein altes Selbst. Man ist gegenüber dem Selbst der fernen Vergangenheit viel kritischer eingestellt als gegenüber dem aktuellen Selbst – sogar, wenn es sich gar nicht verändert hat (Wilson u. Ross 2001). »Mit 18 war ich ein Stoffel, heute bin ich viel sensibler.« Wer gestern ein Unhold war, ist heute ein Held. Aber auch so stimmt es: Jeder fühlt sich manchmal – und manche oft – unterlegen, vor allem, wenn wir uns mit jenen vergleichen, die 1 oder 2 Sprossen höher auf der Leiter für Status, Aussehen, Einkommen oder Können stehen. Je tiefer solche Gefühle gehen und je öfter wir sie haben, desto unglücklicher sind wir und werden sogar depressiv. Doch für die meisten Menschen hat Denken einen von Natur aus positiven Verzerrungseffekt. Während einige Forscher die dunkle Seite der selbstwertdienlichen Verzerrung und des Selbstwertgefühls anerkennen, ziehen sie es doch vor, die Wirkungen zweier Arten des Selbstwertgefühls zu isolieren – des defensiven und des sicheren Selbstwertgefühls (Jordan et al. 2003; Kernis 2003;
»Die begeisterten Behauptungen der Bewegung, die das Selbstwertgefühl propagiert, reichen vom Hirngespinst bis zum Gewäsch. Die Auswirkungen des Selbstwertgefühls sind gering, begrenzt und nicht immer gut.« Roy Baumeister (1996)
»Wenn du dich mit anderen vergleichst, wirst du leicht eitel und bitter, denn immer wird es jemanden geben, der größer oder geringer ist als du.« Max Ehrmann (»Desiderata«, 1927)
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Kapitel 14 · Persönlichkeit
Ryan u. Deci 2004). Das defensive Selbstwertgefühl ist etwas Zerbrechliches. Es konzentriert sich darauf, sich selbst zu erhalten; dies lässt Versagen und Kritik als bedrohlich erscheinen. Ein solcher Egoismus setzt die Person subjektiv wahrgenommenen Bedrohungen aus, die Wut entfachen und Störungen fördern, merken Crocker u. Park (2004) an. Daher korreliert ein defensives Selbstwertgefühl ebenso wie geringes Selbstwertgefühl mit aggressivem und antisozialem Verhalten (Donnellan et al. 2005). Ein sicheres Selbstwertgefühl ist weniger zerbrechlich, weil es weniger stark von äußeren Bewertungen abhängig ist. Es befreit uns von dem Druck, Erfolg haben zu müssen, wenn wir akzeptiert werden, wie wir sind, und nicht dafür, wie wir aussehen, wie reich wir sind und wie viel Beifall wir bekommen, und es versetzt uns in die Lage, über unseren Tellerrand hinauszuschauen. Indem wir uns in Beziehungen und Ziele vertiefen, die über uns selbst hinausgehen, fügen Crocker u. Park hinzu, können wir ein sichereres Selbstwertgefühl und eine bessere Lebensqualität erreichen. Die Psychologen Baumeister (1989), Brown (1991) und Taylor (1989; Taylor et al. 2003), die all die Gefahren der Selbstgerechtigkeit einerseits und die Früchte eines positiven Selbstwertgefühls andererseits erkannten, vertraten die Meinung, dass die Menschen mit leicht selbstbekräftigenden Illusionen am besten funktionieren. Wie Magnetbahnen funktionieren wir am besten, wenn wir knapp über den Schienen schweben, merkt Brown an – nicht so hoch, dass wir ins Schleudern geraten und abstürzen, doch auch nicht mit so viel Bodenhaftung, dass wir knirschend stehen bleiben. Lernziele zu Abschnitt 14.5 Das Selbst Ziel 25: Erklären Sie, warum die Psychologie sich in der Forschung so intensiv mit dem Selbst beschäftigt hat, und geben Sie 3 Beispiele für die aktuelle Forschung zum Selbst. Die psychologische Forschung zum Selbst hat seit mehr als einem Jahrhundert neue Erkenntnisse angehäuft. Viele Psychologen sehen das Selbst – den Organisator unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen – als entscheidenden Teil der Persönlichkeit. Ein neueres Beispiel für die Forschung zum Selbst ist die Studie zum Einfluss des Konzepts der »möglichen Selbste«, der Vorstellung eines Selbst, von dem wir träumen, so zu werden, oder vor dem wir Angst haben, dass wir so werden könnten. Ein weiteres Beispiel ist das Konzept des Spotlight-Effekts, der Annahme, dass wir überschätzen, inwieweit andere unser Äußeres, unsere Leistungen und Fehlleistungen bemerken und bewerten. Ein drittes Beispiel ist der Selbstbezugseffekt, die Fähigkeit, sich besser an Informationen zu erinnern, wenn wir sie zu unserer eigenen Person oder zu unserem eigenen Leben in Beziehung setzen können.
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Ziel 26: Geben Sie 2 alternative Erklärungen für die positive Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und persönlichen Problemen. Abraham Maslow und Carl Rogers argumentierten, dass sich ein gesundes Selbstbild (starkes Selbstwertgefühl) durch ein persönlich erfüllendes und erfolgreiches Leben auszahlt; und durch einige Experimente ließ sich die zerstörerische Kraft eines negativen Selbstbildes belegen. Doch andere Psychologen haben eine Alternativerklärung für den Zusammenhang zwischen einem geringen Selbstwertgefühl und persönlichen Problemen angeboten: dass das Selbstwertgefühl, sei es nun gering oder stark, Ausdruck einer Realität ist, dass es eine Nebenwirkung dessen ist, ob man erfolgreich die Herausforderungen bewältigt und Schwierigkeiten überwindet oder nicht. Nach dieser Auffassung wäre es die beste Stützung des Selbstwertgefühls, wenn man Kindern dabei
hilft, Herausforderungen anzunehmen und sie nicht belohnt, wenn sie versagen. Ziel 27: Erörtern Sie einige Methoden, wie Menschen unter Bedingungen der Diskriminierung oder eines geringen sozialen Status ihr Selbstwertgefühl aufrechterhalten. Untersuchungen zeigen, dass Menschen unter Bedingungen von Diskriminierung und eines geringen sozialen Status – oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe, mit einer Behinderung, aber auch Frauen – ihr Selbstwertgefühl aufrechterhalten, indem sie Bereichen einen Wert beimessen, in denen sie sehr gute Leistungen aufweisen, indem sie Probleme auf Vorurteile attribuieren und indem sie sich selbst mit Menschen vergleichen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Ziel 28: Erörtern Sie das Phänomen der selbstwertdienlichen Verzerrung, und stellen Sie das defensive und das sichere Selbstwertgefühl einander gegenüber. Zur selbstwertdienlichen Verzerrung (unsere Bereitschaft, uns selbst in einem günstigen Licht zu sehen) gehören Tendenzen, (1) bereitwilliger die Verantwortung für gute Taten und für Erfolge zu übernehmen als für böse Taten und für Misserfolge und (2) uns selbst für besser zu halten als den Durchschnitt. Das defensive Selbstwertgefühl ist etwas Zerbrechliches, und es nimmt die Form des Egoismus an, der sich darauf konzentriert, sich selbst aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle. Ein sicheres Selbstwertgefühl ist weniger zerbrechlich und hängt weniger stark von äußeren Bewertungen ab. > Denken Sie weiter: Welches mögliche Selbst sehen Sie für sich in der Zukunft? Wie stark wirkt dieses Selbst Ihrer Vorstellung auf Ihre momentane Motivation?
633 14.5 · Das Selbst
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Was waren nach Freud einige der wichtigen Abwehrmechanismen, und was wehren sie ab? Wie viele von ihnen wurden durch die neuere Forschung bestätigt? 2. Was heißt es, empathisch zu sein, und was, sich selbst zu verwirklichen? 3. Wie viele Persönlichkeitsdimensionen werden momentan zur Beschreibung einer Persönlichkeit verwendet, und um welche Dimensionen handelt es sich? 4. Wie beeinflussen erlernte Hilflosigkeit und Optimismus das Verhalten? 5. Im Jahr 1997 schätzten die weißen Amerikaner bei einer Gallup-Umfrage 44% der anderen weißen Amerikaner als stark vorurteilsbehaftet ein (sie gaben ihnen einen Wert von 5 oder höher auf einer 10-Punkte-Skala). Wie viele von ihnen stuften sich ähnlich in Bezug auf Vorurteile ein? Nur 14%. Welches Phänomen wird dadurch veranschaulicht?
L Deutsche Literatur zum Thema Amelang, M. & Bartussek, D. (2001). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Asendorpf, J. (2007). Psychologie der Persönlichkeit, 4. Aufl. Heidelberg: Springer. Auhagen, A. E. (2004). Positive Psychologie. Anleitung zum »besseren« Leben. Weinheim: Beltz. Fisseni, H. -J. (2003). Persönlichkeitspsychologie, 5. Aufl. Göttingen: Hogrefe. Frank, R. (2007). Therapieziel Wohlbefinden. Heidelberg: Springer. Greve, W. (2000). Psychologie des Selbst. Weinheim: PsychologieVerlagsUnion.
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15 Sozialpsychologie 15.1
Soziales Denken
15.1.1 15.1.2
Attribution von Verhalten – 637 Einstellungen und Handlungen – 639
– 636
15.2
Sozialer Einfluss
15.2.1 15.2.2
Konformität und Gehorsam Gruppeneinfluss – 651
– 644
15.3
Soziale Beziehungen
15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6
Vorurteil – 658 Aggression – 664 Konflikt – 673 Interpersonale Anziehung Altruismus – 682 Frieden stiften – 685
– 644
– 658
– 675
Andere Kulturen, andere Perspektiven I could wake up in the morning without a warning and my world could change:
blink your eyes. All depends, all depends on the skin, all depends on the skin you’re living in.
Sekou Sundiata (geb. 1948), aus »Blink Your Eyes« (1995), The Blue Oneness Dreams
636
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Sozialpsychologie > Am 11. September 2001 telefonierte ich, kurz nachdem Terroristen mit den gekidnappten Flugzeugen in das World Trade Center geflogen waren, mit meiner Tochter Laura. Sie war in Manhattan auf der Straße unterwegs und beschrieb das Chaos, als sie plötzlich »Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!« schrie und der zweite riesige Turm vor ihren Augen einstürzte. Fast jeder hält diese katastrophale Gewalt, die von nur 19 Männern mit Teppichmessern ausgelöst wurde, für einen teuflischen Akt. Ein einziger Tritt eines Rüpels, durch den eine gerade fertiggestellte Sandburg in sich zusammenfällt, löst sowohl Schrecken als auch Wut aus. Und in noch weit größerem Maße rief auch der 11. September bei Millionen von Amerikanern Angst vor dem hervor, was als Nächstes kommen könnte, und den leidenschaftlichen Wunsch nach Rache. Aber dieser Gewaltakt löste auch eine Welle der Liebe und des Mitgefühls aus. Überall aus Amerika und aus der ganzen Welt trafen Geld und unzählige Lkw-Ladungen mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Teddybären ein, wahrscheinlich mehr als die New Yorker gebrauchen konnten. Menschen aus Toledo, Fargo und Stockholm weinten mit den Weinenden. In der 6th Avenue und in der 24th Street umarmten sich Fremde, kamen miteinander ins Gespräch und versuchten, in der sinnlosen Zerstörung einen Sinn zu finden. Auch wenn nur wenige Transfusionen gebraucht würden, bildeten bereitwillige Spender lange Schlangen vor den Blutspendezentralen. »Überall, wo ich hingehe, sehe ich Betroffenheit«, schrieb Laura an diesem Abend. Ich sehe Mitgefühl. Ich sehe die unterschiedlichsten Menschen vereint. Ich sehe keine Gewalt. Ich sehe keine Ungeduld. Ich sehe keine Grausamkeit. Außer wenn ich zur Rauchwolke schaue, die die ganze Zeit im Hintergrund zu sehen ist. Die Menschen helfen einander. Die Menschen sind verzweifelt bemüht, zu tun, was sie nur können. Inmitten dieses Albtraums empfinde ich tiefe Liebe für die Menschen in dieser Stadt. Ihre Reaktionen sind unglaublich. Ich habe eine Gänsehaut. Mein Glaube an die Menschheit erhebt sich über diese Rauchwolke, und ich sehe Güte und Respekt. Ziel 1: Beschreiben Sie die 3 Aspekte, auf die die Sozialpsychologie ihr Augenmerk richtet.
15
Sozialpsychologie (social psychology): Teilgebiet der Psychologie, das sich damit beschäftigt, wie wir voneinander denken, uns gegenseitig beeinflussen und in welcher Beziehung wir zueinander stehen.
Wir schauen zu und fragen uns: Was bringt Menschen dazu, solchen Hass zu empfinden und so viele unschuldige Leben auszulöschen? Und welche Motivation liegt dem heroischen Altruismus derer zugrunde, die starben, als sie versuchten, andere zu retten, und dem zahlloser anderer, die sich um die Menschen kümmerten, die mit Verlusten fertig werden mussten? Wie der Schrecken des 11. September deutlich zeigt, sind wir soziale Geschöpfe. Je nachdem, wer oder was unser Denken beeinflusst, vermuten wir in unserem Nächsten das Beste oder das Schlimmste. Und je nach Einstellung nähern wir uns ihm mit geballten Fäusten oder mit offenen Armen. »Wir können nicht allein leben«, stellte der Schriftsteller Herman Melville fest. »Unser Leben ist von Tausenden unsichtbarer Fäden durchzogen.« Sozialpsychologen erforschen diese Verbindungen, indem sie wissenschaftlich untersuchen, wie wir voneinander denken, uns gegenseitig beeinflussen und in welcher Beziehung wir zueinander stehen.
15.1
Soziales Denken
Gerade wenn das Unerwartete eintritt, analysieren wir, warum Menschen bestimmte Handlungen vollziehen. Drückt die Wärme dieser Frau ein romantisches Interesse aus, oder reagiert sie so auf jeden? Deutet das Fehlen dieses Mannes am Arbeitsplatz darauf hin, dass er krank ist oder faul oder dass die Arbeitsatmosphäre sehr stressig ist? War der Schrecken des 11. September eher die Tat verrückter oder vielmehr ganz gewöhnlicher Menschen, die durch Ereignisse in ihrem Leben dazu verführt wurden?
637 15.1 · Soziales Denken
15.1.1
15
Attribution von Verhalten
Ziel 2: Stellen Sie dispositionale und situationale Attributionen einander gegenüber, und erklären Sie, wie der fundamentale Attributionsfehler unsere Verhaltensanalysen beeinflussen kann. Attributionstheorie (attribution theory): legt nahe, wie wir das Verhalten eines Menschen erklären, und zwar indem wir die Verantwortung dafür entweder der Situation oder der Veranlagung des betreffenden Menschen zuschreiben.
Fundamentaler Attributionsfehler (fundamental attribution error): Tendenz, dass ein Beobachter bei der Analyse des Verhaltens eines Menschen den Einfluss der Situation unter- und den Einfluss der persönlichen Veranlagung überschätzt.
Der fundamentale Attributionsfehler Wenn sich unsere neue Kollegin bei der Arbeit griesgrämig verhält, schließen wir daraus vielleicht, dass sie ein griesgrämiger Mensch ist, und berücksichtigen nicht, dass sie vielleicht wegen eines privaten Problems zu wenig geschlafen hat, auf dem Weg zur Arbeit einen Platten hatte und außerdem keinen Parkplatz finden konnte
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Nachdem Fritz Heider (1958) untersucht hatte, wie Menschen das Verhalten ihrer Mitmenschen erklären, stellte er eine Attributionstheorie vor. Heider stellte fest, dass Menschen normalerweise das Verhalten ihrer Mitmenschen entweder inneren Veranlagungen oder äußeren Situationen zuschreiben. So kann sich ein Lehrer beispielsweise fragen, ob die Feindseligkeit eines Kindes dessen aggressive Persönlichkeit zum Ausdruck bringt (eine dispositionale, interne Attribution) oder ob sie eine Reaktion auf Stress oder Missbrauch ist (eine situationale, externe Attribution). Im Klassenzimmer stellen wir fest, dass Julia nur selten etwas sagt; Jonas redet beim Kaffeetrinken ohne Punkt und Komma. Schreiben wir ihr Verhalten ihren persönlichen Veranlagungen zu, kommen wir zu dem Schluss, dass Julia schüchtern ist und Jonas kontaktfreudig. Da Menschen dauerhafte Persönlichkeitsmerkmale haben, treffen solche Attributionen manchmal zu. Allerdings unterliegen wir oft dem fundamentalen Attributionsfehler, indem wir den Einfluss der Persönlichkeit überschätzen und die Bedeutung von Situationen unterschätzen. Im Klassenzimmer ist Jonas möglicherweise ebenso schüchtern wie Julia. Wenn man Julia auf eine Party mitnimmt, erkennt man die ruhige Klassenkameradin vielleicht kaum wieder. Ein Versuch von Napolitan u. Goethals (1979) veranschaulicht dieses Phänomen. Sie ließen jeweils einen Studenten mit einer jungen Frau sprechen, die sich entweder unnahbar und kritisch oder warmherzig und freundlich verhielt. Vorher sagten sie der einen Hälfte der Studenten, dass das Verhalten der Frau spontan sei. Der anderen Hälfte sagten sie die Wahrheit – dass sie beauftragt worden war, sich freundlich (oder unfreundlich) zu verhalten. Was glauben Sie, welche Auswirkung es hatte, dass man die Wahrheit sagte? Es gab gar keine Auswirkung. Die Studenten missachteten diese Information. Wenn sich die Frau freundlich verhielt, folgerten sie daraus, dass sie ein warmherziger Mensch sei. Verhielt sie sich unfreundlich, zogen sie daraus den Schluss, dass sie tatsächlich auch unfreundlich war. Anders gesagt, schrieben sie ihr Verhalten auch dann ihrer persönlichen Veranlagung zu, wenn ihnen gesagt wurde, dass ihr Verhalten situationsbedingt sei, dass sie sich also nur zu Versuchszwecken so verhielt. Obwohl der fundamentale Attributionsfehler in allen Kulturen auftrat, in denen man ihn untersucht hat, ist diese Neigung, das Verhalten den Veranlagungen von Menschen zuzuschreiben (es darauf zu attribuieren) in den individualistischen westlichen Staaten besonders stark ausgeprägt. In den östlichen asiatischen Kulturen z. B. sind die Menschen empfänglicher für die Wirkungskraft der Situation (Masuda u. Kitayama 2004). Wie bei anderen Verzerrungen (z. B. bei der selbstwertdienlichen Verzerrung, die in 7 Kap. 14 beschrieben wurde) sehen sich die Menschen selbst als weniger anfällig als andere für das Phänomen (Pronin et al. 2004). Es ist jedoch fast unmöglich, dem fundamentalen Attributionsfehler zu widerstehen. In einem Schülertheater spielte eine talentierte 16-Jährige überzeugend die Rolle einer verbitterten alten Frau; so überzeugend, dass ich, obwohl ich mich an den fundamentalen Attributionsfehler erinnerte, immer noch annahm, dass die junge Schauspielerin für diese Rolle ausgewählt wurde, weil sie ihr wie auf den Leib geschrieben war. Als ich sie später auf einer Party traf, stellte ich fest, dass sie von der Anlage her eigentlich ein sehr liebenswürdiger Mensch war. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich sie einige Monate zuvor die Rolle einer charmanten 10-Jährigen hatte spielen sehen. Auch Sie sind sicher schon dem fundamentalen Attributionsfehler zum Opfer
638
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
gefallen. Als Sie überlegten, ob Ihr Psychologiedozent schüchtern oder kontaktfreudig ist, haben Sie vielleicht bisher gefolgert, dass er über eine kontaktfreudige Persönlichkeit verfügt. Aber Sie kennen Ihren Dozenten nur aus dem Hörsaal, aus einer Situation, die kontaktfreudiges Verhalten erfordert. Erwischen Sie ihn in einer anderen Situation, werden Sie möglicherweise überrascht sein (wie es einige meiner Studierenden waren, als sie mich bei einem Basketballspiel trafen); außerhalb ihrer zugewiesenen Rollen verhalten sich Professoren weniger professoral, Präsidenten weniger präsidentenhaft und Bedienstete weniger dienstbeflissen. Der Dozent beobachtet sein eigenes Verhalten in vielen verschiedenen Situationen – im Hörsaal, bei Besprechungen, zu Hause – und er könnte vielleicht sagen: »Ich und kontaktfreudig? Das hängt ganz von der Situation ab. Im Hörsaal oder mit guten Freunden, ja, da bin ich kontaktfreudig. Aber in Versammlungen bin ich wirklich eher schüchtern.« Folglich sind wir, wenn wir unser eigenes Verhalten oder das Verhalten derjenigen erklären, die wir gut kennen und die wir in unterschiedlichen Situationen sehen, auch empfindsam dafür, wie sich das Verhalten je nach Situation ändert (Idson u. Mischel 2001). ! Wenn wir das Verhalten anderer erklären, insbesondere das von Fremden, die wir nur in einer bestimmten Situation beobachtet haben, erliegen wir oft dem fundamentalen Attributionsfehler: Wir blenden die Situation aus und gelangen zu ungerechtfertigten Schlussfolgerungen über Persönlichkeitsmerkmale.
Viele Menschen gehen vielleicht zunächst davon aus, dass die Kommandanten nationalsozialistischer Vernichtungslager ein konsistent bösartiges Verhalten zeigten; eigentlich waren viele von ihnen Durchschnittsmenschen, die nach der Brutalität ihres Alltags nach Hause gingen und sich vielleicht bei einem guten Buch und den Klängen klassischer Musik entspannten. Auch nahmen viele von uns zunächst an, dass die Terroristen des 11. September offensichtlich verrückt waren; allerdings hatten sie ganz unauffällig in ihren Wohnvierteln gelebt, waren ins Fitnessstudio und in ihre Lieblingsrestaurants gegangen. Forscher zeigten Versuchsteilnehmern jeweils ein Video aus der Perspektive der handelnden Person und eines aus der Perspektive der beobachtenden Person. Dadurch, dass die Versuchsteilnehmer dieselbe Szene aus einer anderen Perspektive sahen, kehrten sich auch ihre Attributionen um (Lassiter u. Irvine 1986; Storms 1973). Wenn sie die Welt aus der Perspektive des Handelnden sahen, stuften sie den Einfluss situativer Faktoren als bedeutsamer ein. Wenn sie die Sichtweise des Beobachters einnahmen, hielten sie den persönlichen Stils für wichtiger.
In 7 Kap. 14 wurde erläutert, dass Persönlichkeitspsychologen dauerhafte, innere Verhaltensdeterminanten untersuchen, die erklären, warum unterschiedliche Menschen in einer bestimmten Situation unterschiedlich handeln. Sozialpsychologen untersuchen soziale Einflüsse, die erklären, warum ein und dieselbe Person in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich handelt.
Attributionseffekte »Das Attentat vom 11. September als sinnlos, kopflos, geistesgestört oder als die Tat von Verrückten zu bezeichnen, ist falsch . . . es lässt die Perspektive der Attentäter außer Acht. Sie haben mit einer klar definierten Absicht gehandelt, die wir verstehen müssen, um ihnen so effektiv wie möglich zu begegnen.« Der Psychologe Philip G. Zimbardo (»Fighting Terrorism by Understanding Man’s Capacity for Evil«, 16. September 2001)
Eine Frage der Attribution Manche Menschen gaben den Einwohnern von New Orleans die Schuld für ihre Misere, weil sie das Gebiet nicht verlassen hätten, bevor der Hurrikan Katrina wie angekündigt eintraf. Andere attribuierten die Untätigkeit der Einwohner auf die Situation, dass sie kein Auto hatten und man ihnen keinen Bustransport anbot
Rick Wilking/Reuters/Corbis
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Im Alltag haben wir oft Probleme, uns die Handlungen unserer Mitmenschen zu erklären. Ein Richter muss entscheiden, ob ein Angeklagter mit dem Ziel, einen anderen zu schädigen, oder aus Notwehr geschossen hat. Ein Personalchef muss beurteilen, ob ein Bewerber wirklich so genial ist. In diesen Fällen haben unsere personen- oder situationsbezogenen Attributionen wichtige Konsequenzen (Fincham u. Bradbury 1993; Fletcher et al. 1990). Glücklich verheiratete Paare schreiben die spitze Bemerkung des Partners oder der Partnerin der jeweiligen Situation zu (»Sie hat wohl bei der Arbeit einen schlechten Tag gehabt«). Unglücklich verheiratete Menschen schreiben dieselbe Bemerkung einer schlechten Veranlagung zu (»Warum habe ich so einen feindseligen Menschen geheiratet?«). Oder denken Sie an die politischen Attributionseffekte: Wie erklären Sie sich Armut oder Arbeitslosigkeit? Forscher in Großbritannien, Indien, Australien und den USA (Furnham 1982; Pandey et al. 1982; Wagstaff 1982; Zucker u. Weiner 1993) berichten, dass politisch Konservative dazu neigen, diese sozialen Probleme der persönlichen Veranlagung der Armen und Arbeitslosen selbst zu-
639 15.1 · Soziales Denken
15
. Abb. 15.1. Attributionen und Reaktionen Wie wir das Verhalten eines Menschen erklären, hat einen Einfluss darauf, wie wir darauf reagieren
zuschreiben: »Man bekommt im Allgemeinen das, was man verdient. Wer nicht arbeitet, ist oft ein Schmarotzer. Jeder, der die Initiative ergreift, kann auch etwas erreichen.« »Wir dürfen nicht die Gesellschaft für Verbrechen verantwortlich machen, sondern die Verbrecher«, sagte ein konservativer amerikanischer Präsidentschaftskandidat (Dole 1996). Politisch aufgeschlossene Menschen (und Sozialwissenschaftler) machen eher frühere und momentane Situationen dafür verantwortlich: Wenn Sie oder ich mit derselben mangelhaften Schulbildung, demselben Mangel an Gelegenheiten und derselben Diskriminierung leben müssten, würden wir uns dann nicht genauso verhalten? Um den Terrorismus zu verstehen und ihn zu verhindern, sagen sie, sollte man sich mit den Situationen beschäftigen, die Terroristen hervorbringen. Man sollte lieber die Sümpfe austrocknen, als die Moskitos totzuschlagen. Auch Manager müssen Attributionen vornehmen. Wenn sie ihre Angestellten beurteilen, schreiben sie schlechte Leistungen vermutlich eher persönlichen Faktoren zu, wie etwa geringen Fähigkeiten oder fehlender Motivation. Aber erinnern wir uns an die Sichtweise der handelnden Person: Wer schlecht arbeitet, nimmt selbst eher die situationsbedingten Einflüsse wahr, wie etwa fehlerhafte Lieferungen, schlechte Arbeitsbedingungen, schwierige Kollegen oder nicht erfüllbare Anforderungen (Rice 1985). ! Unsere Attributionen in Bezug auf individuelle Veranlagungen oder auf die jeweilige Situation haben reale Konsequenzen (. Abb. 15.1).
15.1.2
Einstellungen und Handlungen
Ziel 3: Definieren Sie Einstellung.
Einstellung (attitude): Überzeugung oder Gefühl, das Menschen prädisponiert, in einer bestimmten Art und Weise auf Dinge, Menschen und Ereignisse zu reagieren.
Einstellungen sind Gefühle, die auf unseren Überzeugungen beruhen und uns dazu prädisponie-
ren, gegenüber Dingen, Menschen und Ereignissen in einer bestimmten Weise zu reagieren. Wenn wir glauben, dass jemand gemein ist, haben wir möglicherweise ein Gefühl der Abneigung gegenüber diesem Menschen und verhalten uns unfreundlich. »Verändern Sie die Denkweise der Menschen«, sagte der südafrikanische Bürgerrechtler und Märtyrer Steve Biko, »und die Dinge werden nie mehr sein, wie sie waren.« So stark kann die Wirkung der Überzeugung sein.
»Denken ist leicht, handeln schwierig, und die eigenen Gedanken in die Tat umzusetzen, ist die schwierigste Sache der Welt.« Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
640
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Einstellungen können unsere Handlungen beeinflussen Ziel 4: Beschreiben Sie die Bedingungen, unter denen Einstellungen unser Handeln beeinflussen können.
Anhand unserer Einstellungen kann man unser Verhalten nur unvollkommen vorhersagen, weil auch andere Faktoren (u. a. die äußere Situation) das Verhalten beeinflussen. Starker sozialer Druck kann die Verbindung zwischen Einstellung und Verhalten schwächer werden lassen (Wallace et al. 2005): Beispielsweise brachte die überwältigende Unterstützung der amerikanischen Öffentlichkeit für die Vorbereitung eines Angriffs auf den Irak durch Präsident George W. Bush die führenden demokratischen Politiker dazu, trotz persönlicher Vorbehalte für eine Unterstützung von Bushs Kriegsplan zu stimmen (Nagourney 2002). Trotzdem können Einstellungen tatsächlich das Verhalten beeinflussen, wenn andere Einflüsse gering sind, wenn die Einstellung speziell auf das Verhalten abzielt und wenn wir uns unserer Einstellungen deutlich bewusst sind.
Handlungen können unsere Einstellungen beeinflussen Ziel 5: Erklären Sie, inwiefern das Foot-in-the-Door-Phänomen, das Rollenspiel und die kognitive Dissonanz den Einfluss von Handlungen auf Einstellungen veranschaulichen.
Lassen Sie uns nun auf ein überraschenderes Prinzip eingehen: Menschen werden nicht nur bisweilen für etwas eintreten, wovon sie überzeugt sind, sie werden allmählich an die Dinge glauben, für die sie eingetreten sind. Zahlreiche Befunde bestätigen, dass Einstellungen dem Verhalten folgen (. Abb. 15.2).
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Foot-in-the-Door-Technik
. Abb. 15.2. Einstellungen folgen dem Verhalten Kooperative Handlungen, wie etwa jene, die Menschen im Mannschaftssport ausführen, fördern gegenseitige Sympathie. Solche Einstellungen dienen wiederum einem positiven Verhalten
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Foot-in-the-Door-Technik (foot-in-the-door phenomenon): Neigung von Menschen, die zunächst einer bescheidenen Forderung zugestimmt haben, später auch einer weiter gehenden Forderung zuzustimmen.
Wenn man Menschen dazu überredet, gegen ihre Überzeugungen zu handeln, kann dies einen Einfluss auf ihre Einstellung haben. Während des Korea-Kriegs wurden viele US-Soldaten in Kriegsgefangenenlagern von chinesischen Kommunisten festgehalten. Ohne brutale Mittel anzuwenden, sicherten sich die Chinesen die Mitarbeit Hunderter ihrer Gefangenen durch verschiedene Aktivitäten. Einige der Gefangenen führten lediglich Aufträge aus oder taten den Chinesen einen Gefallen. Andere erklärten sich zu Aufrufen im Radio und falschen Geständnissen bereit. Wieder andere spionierten ihre Mitgefangenen aus und gaben militärische Informationen preis. Als der Krieg zu Ende war, entschieden sich 21 Gefangene dafür, bei den Kommunisten zu bleiben. Viele kehrten nach einer »Gehirnwäsche« nach Hause zurück und waren überzeugt davon, dass der Kommunismus gut für Asien war. Ein Hauptbestandteil des chinesischen Programms zur »Gedankenkontrolle« war die wirkungsvolle Anwendung der Foot-in-the-Door-Technik. Diese Vorgehensweise bringt die Menschen, die einer belanglosen Handlung zustimmen, dazu, später an einer Handlung mit weitreichenderen Konsequenzen mitzuwirken. Die Chinesen begannen mit harmlosen Forderungen und steigerten ihre Forderungen an die Gefangenen allmählich (Schein 1956). Nachdem die Kommunisten die Gefangenen »trainiert« hatten, triviale Aussagen zu machen oder niederzuschreiben, baten sie sie, etwas Wichtigeres abzuschreiben oder es zu entwerfen, wie z. B. die Mängel des Kapitalismus zu notieren. Anschließend nahmen die Gefangenen, vielleicht um bestimmte Vorrechte zu bekommen, an Gruppendiskussionen teil, schrieben Selbstkritiken oder machten öffentliche Geständnisse. Nachdem sie das getan hatten, um sich möglicherweise Vorteile zu verschaffen, korrigierten sie häufig ihre Meinung in Richtung auf eine größere Übereinstimmung mit ihren öffentlichen Handlungen. Die Sache verhält sich ganz einfach, stellt Cialdini (1993) fest: Um Leute dazu zu bringen, einer großen Sache zuzustimmen, muss man »klein anfangen und dann darauf aufbauen«. Und seien Sie vorsichtig gegenüber denen, die Sie taktisch überrumpeln wollen. Diese Henne-und-Ei-Spirale von Handlungen, die Einstellungen nach sich ziehen, die wiederum Handlungen nach sich ziehen, kann zur Eskalation des Verhaltens führen. ! Eine vergleichsweise unbedeutende Handlung lässt eine weitere Handlung leichter werden. Unterliegen Sie einer Versuchung, wird es bei der nächsten Versuchung für Sie schwieriger sein zu widerstehen.
641 15.1 · Soziales Denken
15
In Dutzenden von Experimenten wurde ein Teil der Erfahrungen der Kriegsgefangenen dadurch simuliert, dass man die Menschen dazu brachte, ihren Einstellungen zuwider zu handeln oder ihre eigenen moralischen Standards zu missachten. Aus Worten werden Überzeugungen. Wenn man Menschen dazu verleitet, einem unschuldigen Opfer Schaden zuzufügen – durch hässliche Bemerkungen oder durch die Verabreichung elektrischer Stromstöße –, fangen sie an, ihr Opfer zu verachten. Ähnliches gilt, wenn man dazu gebracht wird, schriftlich oder mündlich eine Position zu vertreten, an der man vorher Zweifel hatte. Man beginnt dann, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken. Glücklicherweise funktioniert das Prinzip »Die Einstellung folgt dem Verhalten« nicht nur bei schlechten, sondern auch bei guten Taten. Die Foot-in-the-Door-Technik ist hilfreich dabei, karitative Beiträge, Blutspenden und Produktverkäufe zu fördern. In einem Versuch gaben Forscher vor, sich für mehr Sicherheit im Straßenverkehr einzusetzen, und baten Kalifornier, in ihren Vorgärten ein großes, schlecht gestaltetes Schild mit der Botschaft »Fahren Sie vorsichtig« aufstellen zu dürfen. Nur 17% stimmten zu. Bei anderen Hausbesitzern brachten sie zunächst eine kleine Bitte vor, nämlich ob sie es gestatten würden, dass sie ein kleines Schild mit der Aufschrift »Seien Sie ein sicherer Fahrer« aufstellen. Fast alle stimmten zu. Als die Forscher 2 Wochen später zurückkamen und sie darum baten, das große, hässliche Schild in ihren Vorgärten aufstellen zu dürfen, stimmten 76% zu (Freedman u. Fraser 1966). Einstellungen gegenüber Ethnien folgen auf ähnliche Weise dem Verhalten. In den Jahren unmittelbar nach der Aufhebung der Rassentrennung in den USA und nach der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze 1964 brachten weiße Amerikaner immer weniger rassistische Vorurteile zum Ausdruck. Und in dem Maße, wie sich die Amerikaner in unterschiedlichen Regionen in ihren Verhaltensweisen aneinander anglichen – aufgrund der einheitlicheren landesweiten Standards gegen Diskriminierung –, fingen sie auch an, ähnlicher zu denken. Experimente bestätigen diese Beobachtung: Moralisches Handeln festigt moralische Überzeugungen.
Rollenverhalten beeinflusst Einstellungen
Die Wirkungskraft der Situation In der Stanford Prison Simulation von Philip Zimbardo, einer Gefängnissituation voller Sprengkraft, wurde bei denjenigen, denen eine Wärterrolle zugewiesen wurde, abwertendes Verhalten ausgelöst
Philip G. Zimbardo, Inc.
Wenn Sie eine neue Rolle einnehmen – wenn Sie zu studieren beginnen, heiraten oder eine neue Arbeit antreten –, sind Sie bestrebt, sich an die gesellschaftlichen Vorgaben zu halten. Zunächst mag sich Ihr Verhalten unecht anfühlen, weil Sie eine Rolle spielen. Die ersten Wochen im Militärdienst fühlen sich irgendwie künstlich an, als täte man nur so, als sei man ein Soldat. Die ersten Wochen einer Ehe mögen sich anfühlen, als würden Sie »Verheiratetsein« spielen. Nach einer Weile geschieht jedoch Folgendes: Was als Theaterspiel auf der Bühne des Lebens begann, wird zum Leben selbst. Forscher bestätigten diesen Effekt dadurch, dass sie die Einstellungen von Menschen vor und nach der Übernahme einer neuen Rolle untersuchten. Dies geschah teilweise in Versuchssituationen, teilweise aber auch in Alltagssituationen, wie etwa vor und nach dem Antritt einer neuen Stelle. In einer recht bekannten Laborstudie – dem sog. Stanford Prison Experiment – sollten männliche Studierende 2 Wochen in einem simulierten Gefängnis unter der Leitung des Psychologen Philip Zimbardo (1972) verbringen. Nach dem Zufallsprinzip ernannte er einige zu Wachpersonal; er gab ihnen Uniformen, Knüppel und Pfeifen und leitete sie an, bestimmte Regeln durchzusetzen. Der Rest wurde zu Gefangenen; sie wurden in leere Zellen gesperrt und dazu gezwungen, erniedrigende Kleidung zu tragen. Nach ein oder zwei Tagen, an denen die Freiwilligen selbstbewusst ihre Rollen »spielten«, wurde die Situation real – allzu real. Die meisten Wachleute entwickelten abschätzige Einstellungen; einige führten grausame und erniedrigende Routinen ein. Nach und nach brachen die Gefangenen zusammen, rebellierten oder resignierten, was Zimbardo dazu veranlasste, die Studie nach nur 6 Tagen abzubrechen. In neuerer Zeit haben sich ähnliche Situationen in der realen Welt abgespielt – wie im irakischen Gefängnis Abu Ghraib (7 Unter der Lupe »Gefängnis Abu Ghraib: Eine Situation, ›die Grausamkeit hervorbringt‹«). Die griechische Militärjunta bediente sich in den frühen 70er-Jahren der Effekte des Rollenspiels, um eine Gruppe von Männern zu Folterern auszubilden (Staub 1989). Die Indoktrinierung der Männer erfolgte in kleinen Schritten. Zunächst stand der Auszubildende vor den Verhörzellen Wache – der Foot-in-the-Door-
642
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Unter der Lupe
Gefängnis Abu Ghraib: Eine »Situation, die Grausamkeit hervorbringt«
Ausnahme – oder in bestimmten Situationen die Regel? Sowohl beim Gefängnisexperiment an der Stanford University im Jahre 1972 als auch beim Fiasko im realen Gefängnis von Abu Ghraib handelte es sich um »toxische Situationen«, Situationen mit Sprengkraft, behauptet der Sozialpsychologe Philip Zimbardo
Originally published in The New Yorker
Als 2004 die ersten Fotos vom Gefängnis Abu Ghraib im Irak auftauchten, war die zivisilierte Welt schockiert. Die Fotos zeigten US-amerikanische Militärwachen, die Gefangene nackt ausgezogen und ihnen Hauben aufgesetzt hatten, sie übereinander gestapelt hatten, sie mit Stromstößen antrieben, scheinbar Hunde auf sie hetzten und sie Schlafentzug, Erniedrigung und extremen Belastungen aussetzten. Bestand das Problem darin, wie so viele Menschen annahmen, dass es eben immer ein paar Missetäter gibt: unverantwortliche oder gar sadistische Wachen? Das war anscheinend das Urteil in der U.S. Army, als sie einige der Wachen vor ein Kriegsgericht stellte und ins Gefängnis brachte sowie danach 4 der 5 befehlshabenden Offiziere von der Verantwortung für die Verfahrensweisen und konkreten Handlungen in Abu Ghraib freisprach. Die unteren Chargen im Militär waren die »kranken Schweine«, erklärte der Verteidiger der befehlshabenden Offiziere (Tarbert 2004). Viele Sozialpsychologen erinnerten jedoch daran, dass in einer giftigen Umgebung selbst gute Äpfel schlecht werden können (Fiske et al. 2004). »Wenn ganz gewöhnliche Menschen an einen neuartigen bösen Ort (wie es etwa die meisten Gefängnisse sind) versetzt werden, wird die Situation gewinnen und die Menschen verlieren«, erklärte Zimbardo (2004) und fügte hinzu: »Das trifft auf die Mehrheit der Menschen in allen relevanten sozialpsychologischen Untersuchungen zu, die über die letzten 40 Jahre durchgeführt wurden.« Denken Sie an die Situation, schreibt Zimbardo. Die Wachen, einige von ihnen vorbildliche Soldaten, Reservisten ohne kriminellen Hintergrund oder Sadismus in der Vorgeschichte, waren von der Arbeit in 12-StundenSchichten erschöpft – 7 Tage die Woche und mehr als einen Monat lang.
Sie hatten es mit einem wirklichen Gegner zu tun; ihre Vorurteile wurden durch Ängste vor tödlichen Angriffen und durch gewaltsame Tode vieler Mitsoldaten gefestigt. Ohne eine ausreichende Ausbildung und Überwachung schoben sie personell unterbesetzt Wache. Sie wurden dazu ermutigt, die zum Verhör Inhaftierten, denen Besuche vom Roten Kreuz verwehrt wurden, »aufzuweichen«. »Wenn man dieses Bündel horrender Arbeitsbedingungen und äußerer Faktoren zusammennimmt, bringt es das Fass zum Überlaufen. Nahezu jeder würde, in eine solche Situation versetzt, diese Art bösartigen Verhaltens zeigen.« (Zimbardo 2005).
Effekt. Dann stand er Wache in der Zelle. Erst danach sollte er aktiv in das Verhör und die Folter einbezogen werden. Nathaniel Hawthorne, amerikanischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, bemerkte: »Niemand kann über eine gewisse Zeit hinweg sich selbst gegenüber das eine und der Menge gegenüber ein anderes Gesicht zeigen; denn am Ende weiß er nicht mehr, welches Gesicht denn nun echt ist.«
Kognitive Dissonanz: Freisetzung von Spannung
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Theorie der kognitiven Dissonanz (cognitive dissonance theory): besagt, dass wir handeln, um den unangenehmen Zustand (kognitive Dissonanz), den wir empfinden, wenn 2 unserer Gedanken (Kognitionen) miteinander inkonsistent sind, zu verringern. Wenn beispielsweise unsere bewusste Einstellung unseren Handlungen widerspricht, können wir die Dissonanz, die sich daraus ergibt, verringern, indem wir unsere Einstellung ändern.
Bisher haben wir erfahren, dass Handlungen unsere Einstellungen beeinflussen können: Manchmal werden Gefangene zu Kollaborateuren, Zweifler zu Gläubigen, bloße Bekannte zu Freunden und gesetzestreue Wachen zu Misshandlern. Aber warum? Eine Erklärung hierfür ist die Folgende: Wenn wir uns bewusst sind, dass unsere Einstellungen und Handlungen nicht miteinander übereinstimmen, erleben wir einen unangenehmen Spannungszustand oder eine kognitive Dissonanz. Um diese Spannung zu verringern, bringen wir oft laut der von Leon Festinger vorgeschlagenen Theorie der kognitiven Dissonanz unsere Einstellungen in Einklang mit unseren Handlungen. Als würden wir denken: »Wenn ich mich dafür entscheide, es zu tun (oder zu sagen), muss ich auch daran glauben.« Je weniger wir uns genötigt fühlen und je mehr Verantwortung wir für eine schwierige Handlung empfinden, desto mehr Dissonanz nehmen wir wahr. Je mehr Dissonanz wir wahrnehmen, desto geneigter sind wir, nach Harmonie zu streben, indem wir beispielsweise unsere Einstellungen verändern, um unser Tun dadurch eher rechtfertigen zu können. Die U.S.-Invasion im Irak erfolgte hauptsächlich unter der Annahme, dass man durch die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein bedroht würde. Als der Krieg begann, sagten nur 38% der befragten Amerikaner, der Krieg sei gerechtfertigt, auch wenn der Irak keine Massenvernichtungswaffen habe (Gallup 2003); und fast 80% glaubten, dass man derartige Waffen finden würde (Duffy 2003; Newport et al. 2003). Als keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden,
643 15.1 · Soziales Denken
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empfanden viele Amerikaner eine Dissonanz, die verstärkt wurde durch ein Bewusstsein für die Kosten und die menschlichen Verluste, durch chaotische Szenen im Irak und durch die aufkommenden antiamerikanischen und proterroristischen Stimmungen in manchen Teilen der Welt. Um die Dissonanz zu verringern, revidierten einige Menschen ihre Erinnerungen an den Grundgedanken, warum man in den Krieg gezogen war. Aus ihm wurde nun etwas, bei dem unterdrückte Menschen befreit wurden und die Demokratie im Mittleren Osten gefördert wurde. Und es dauerte nicht lange, bis die frühere Minderheitsmeinung zur vorherrschenden Meinung wurde: 58% der Amerikaner sagten, sie unterstützten den Krieg, auch wenn keine Massenvernichtungswaffen gefunden würden (Gallup 2003). »Ob sie nun Massenvernichtungswaffen finden oder nicht, ist ohne Bedeutung« erklärte der republikanische Meinungsforscher Luntz (2003), »weil das dem Krieg zugrunde liegende Prinzip verändert wurde.« Die Hoffnungen auf ein Gedeihen des Friedens wurden erst Ende 2004 geringer, als die Unterstützung der Amerikaner für den Krieg auf unter 50% fiel. In Dutzenden von Versuchen wurde die Theorie der kognitiven Dissonanz dadurch erkundet: Menschen wurden dazu gebracht, Verantwortung für ein Verhalten zu übernehmen, das nicht mit ihren Einstellungen übereinstimmte und das absehbare Konsequenzen hatte. Als Teilnehmer eines dieser Experimente sind Sie vielleicht für mickrige 2 Euro bereit, einem Forscher zu helfen, indem Sie in einem Aufsatz Thesen vertreten, die nicht Ihrer Meinung entsprechen (vielleicht treten Sie für höhere Studiengebühren ein). Wenn Sie sich für Ihre Aussagen (die nicht mit Ihrer Einstellung übereinstimmen) verantwortlich fühlen, nehmen Sie möglicherweise Dissonanz wahr, insbesondere, wenn Sie davon ausgehen, dass ein Angestellter der Universitätsverwaltung Ihren Aufsatz liest. Wie könnten Sie diese unangenehme Dissonanz verringern? Eine Möglichkeit wäre, Ihren unwahren Worten allmählich selbst zu glauben. Ihre vorgetäuschte Meinung würde dann zu Ihrer wahren Meinung werden. ! Unsere Handlungen beeinflussen unsere Einstellungen, indem wir aufgrund unserer Handlungen Rückschlüsse auf unsere zugrunde liegenden Einstellungen ziehen bzw. indem wir unsere Einstellungen, um die kognitive Dissonanz zu verringern, unseren Handlungen anpassen.
Aus dem Prinzip, dass Einstellungen dem Verhalten folgen, ergibt sich eine weitere ermutigende Schlussfolgerung. Zwar können wir nicht alle unsere Gefühle unmittelbar steuern, doch wir können sie beeinflussen, indem wir unser Verhalten ändern. (Erinnern Sie sich aus 7 Kap. 13 an die emotionalen Auswirkungen des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltungen.) Wenn wir uns gerade schlecht fühlen, hilft es möglicherweise, wozu Verhaltenstherapeuten raten, positiver und mit mehr Selbstachtung von uns zu sprechen und uns weniger schlecht zu machen. Wenn wir lieblos sind, können wir dies ändern, indem wir uns verhalten, als wären wir liebevoll. Wir können wohlüberlegt handeln, Zuneigung zum Ausdruck bringen und andere bestätigen. »Nehmt eine Tugend an, die Ihr nicht habt«, sagt Hamlet zu seiner Mutter. »Denn die Übung kann fast das Gepräge der Natur verändern.« Böse Taten formen das Selbst. Aber das trifft auch auf gute Taten zu. Wenn Sie so handeln, als hätten Sie jemanden gern, dann werden Sie es bald tun. Wenn wir unser Verhalten verändern, kann dies unser Denken und unsere Gefühle verändern.
»Sitzen Sie den ganzen Tag in einer trübseligen Haltung da, seufzen Sie und antworten Sie auf alles mit einer düsteren Stimme, und Ihre Melancholie wird bleiben … Wenn wir unerwünschte emotionale Tendenzen in uns überwinden möchten, müssen wir… durch die äußeren Bewegungen dieser konträren Dispositionen hindurchgehen, die wir lieber beibehalten würden.« William James (»Principles of Psychology«, 1890)
Lernziele Abschnitt 15.1 Soziales Denken Ziel 1: Beschreiben Sie die 3 Aspekte, auf die die Sozialpsychologie ihr Augenmerk richtet. Die Sozialpsychologie konzentriert sich auf 3 Punkte: wie Menschen über andere denken, wie sie einander beeinflussen und wie sie in Beziehung zueinander stehen.
Ziel 2: Stellen Sie dispositionale und situationale Attributionen einander gegenüber, und erklären Sie, wie der fundamentale Attributionsfehler unsere Verhaltensanalysen beeinflussen kann. Wir verlassen uns gewöhnlich auf situationale Attributionen und betonen den Einfluss äußerer Ereignisse, um unser eigenes Verhalten zu erklären (und oft das Verhalten derjenigen, die wir gut kennen und in vielen unterschiedlichen Kontexten beobachten). Wenn wir jedoch die 6
644
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Handlungen anderer erklären, greifen wir oft zu dispositionalen Attributionen und nehmen an, das Verhalten unserer Mitmenschen sei auf ihre Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen. Dieser fundamentale Attributionsfehler (wir überschätzen den Einfluss persönlicher Faktoren und unterschätzen den Kontexteffekt) kann zu Ungenauigkeiten in unseren Urteilen über andere Menschen führen. Ziel 3: Definieren Sie Einstellung. Einstellungen sind positive, negative oder gemischte Gefühle aufgrund von Überzeugungen, die uns dafür prädisponieren, in bestimmter Weise auf Gegenstände, Menschen und Ereignisse zu reagieren. Ziel 4: Beschreiben Sie die Bedingungen, unter denen Einstellungen Handlungen beeinflussen können. Unsere Einstellungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit unser Verhalten beeinflussen, wenn andere Einflüsse gering sind, wenn sich die Einstellung auf ein bestimmtes Verhalten bezieht und wenn wir uns unserer Einstellungen bewusst sind.
15.2
Ziel 5: Erklären Sie, inwiefern das Foot-in-the-Door-Phänomen, das Rollenspiel und die kognitive Dissonanz den Einfluss von Handlungen auf Einstellungen veranschaulichen. Das Foot-in-the-Door-Phänomen beschreibt die Bereitschaft von Menschen, auf eine weitergehende Bitte einzugehen, wenn man bereits auf eine damit zusammenhängende geringfügigere Bitte eingegangen ist. In Untersuchungen zum Rollenspiel (z. B. Zimbardos Gefängnisexperiment) haben Personen, die sich durch im Skript festgelegte Szenarios auf eine bestimmte Weise verhalten hatten, Einstellungen übernommen, die mit der im Skript festgelegten Rolle in Einklang standen. Die Theorie der kognitiven Dissonanz von Leon Festinger erklärt, dass wir uns unwohl fühlen, wenn wir so handeln, dass dies im Widerspruch zu unseren Gefühlen und Überzeugungen steht; wir verringern das Unwohlsein, indem wir unsere Einstellungen revidieren und stärker mit unserem Verhalten in Einklang bringen. In allen 3 Fällen werden die Einstellungen an das Verhalten angepasst und nicht umgekehrt. > Denken Sie weiter: Haben Sie eine Einstellung oder Tendenz, die Sie gerne ändern würden? Wie könnten Sie unter Nutzung des Prinzips »Die Einstellung folgt dem Verhalten« vorgehen, um diese Einstellung zu verändern?
Sozialer Einfluss
Die große Lektion der Sozialpsychologie ist die Erkenntnis, wie ungeheuer groß die Wirkung des sozialen Einflusses ist. Dieser Einfluss wird an unserer Konformität, unserem Gehorsam und am Einfluss von Gruppen deutlich. Phänomene wie Selbstmord, Bombendrohungen, Flugzeugentführungen und UFO-Sichtungen haben seltsamerweise eins gemeinsam: Sie treten oft in Gruppen auf. Auf dem Campus tragen wir Jeans; in der New Yorker Wall Street oder der Frankfurter Börse tragen wir Anzug und Krawatte oder Kostüm: Das ist die Norm. Wenn wir wissen, wie wir handeln müssen, welche Art von Körperpflege wir machen müssen, wie wir reden müssen, geht das Leben problemlos vonstatten. Ausgerüstet mit dem Wissen um die Prinzipien der sozialen Einflussnahme setzen sich Werbefachleute, Spendensammler und Mitarbeiter politischer Kampagnen das Ziel, Einfluss zu nehmen auf das, was wir kaufen, spenden und wählen. Wenn Andersdenkende nur unter sich und isoliert sind, werden sie möglicherweise allmählich zu Rebellen, und aus den Rebellen werden vielleicht Terroristen. Im Folgenden werden wir uns mit dem Einfluss solcher gesellschaftlicher Normen beschäftigen. Wie stark sind sie? Wie funktionieren sie?
15
15.2.1
Konformität und Gehorsam
Ziel 6: Beschreiben Sie den Chamäleon-Effekt, und geben Sie ein Beispiel dafür.
Verhalten ist ansteckend. 4 Jemand lacht, hustet oder gähnt, und bald machen die anderen in der Gruppe dasselbe. Auch Schimpansen gähnen mit größerer Wahrscheinlichkeit, nachdem sie beobachtet haben, wie ein anderer Schimpanse gähnt. 4 Wenn mehrere Leute dastehen und nach oben schauen, werden andere Passanten stehen bleiben und es ihnen gleichtun. 4 Barkeeper und Straßenmusikanten wissen, welche Münzen sie in ihre Behälter legen müssen, um zu suggerieren, dass andere bereits etwas gegeben haben.
645 15.2 · Sozialer Einfluss
15
4 Auch Krankheiten können psychologisch»ansteckend« sein. In der angsterfüllten Zeit nach dem 11. September gab es an über zwei Dutzend Grund- und Hauptschulen Fälle von Kindern mit einem roten Hautausschlag, weshalb sich Eltern teilweise fragten, ob biologische Waffen eingesetzt worden waren (Talbot 2002). Einige Fälle können stressbedingt aufgetreten sein, meistens, so die Gesundheitsexperten, fielen den Betroffenen in dieser Situation allerdings lediglich eine normale Akne im Kindes- und Jugendalter, Insektenstiche, Ekzeme und trockene Haut aufgrund überhitzter Klassenzimmer auf.
Chartrand u. Bargh (1999) bezeichnen dies als den »Chamäleon-Effekt«. Unbewusstes Nachahmen der Gesten, Haltungen und der Stimmlage von anderen hilft uns, nachzuempfinden, was sie fühlen. Damit kann man auch erklären, warum wir uns unter fröhlichen Menschen besser fühlen als unter depressiven und warum man bei der Untersuchung verschiedener Gruppen britischer Krankenschwestern und Steuerberater »emotionale Ansteckung« nachweisen konnte – bei Stimmungshochs und –tiefs gleichermaßen (Totterdell et al. 1998). Es ist ein großer Unterschied, ob jemand einen neutralen Text mit einer fröhlichen oder traurigen Stimme vorliest: Die Zuhörer werden von seiner Stimmung angesteckt (Neumann u. Strack 2000). Chartrand u. Bargh (1999) demonstrierten den Chamäleon-Effekt, als sie Studierende zusammen mit einem Vertrauten des Versuchsleiters in einem Zimmer arbeiten ließen. Bisweilen rieb sich diese Person das Gesicht; und ein anderes Mal wackelte sie mit dem Fuß. Mit ziemlicher Sicherheit neigten die Versuchsteilnehmer dazu, sich auch das Gesicht zu reiben, wenn sie mit dem Menschen konfrontiert waren, der sich das Gesicht rieb, und mit ihrem eigenen Fuß zu wackeln, wenn sie mit dem Menschen zusammen waren, der mit dem Fuß wackelte. Eine solche automatische Mimikry ist Teil der Empathie. Die empathischsten Menschen imitieren am meisten – und sind am beliebtesten. Und diejenigen, die am meisten darauf aus sind, in die Gruppe zu passen, scheinen dies intuitiv zu wissen, weil sie in besonderem Maße zu unbewusster Nachahmung neigen (Lakin u. Chartrand 2003). Manchmal sind die Auswirkungen der Beeinflussbarkeit ernsterer Natur. In der Woche nach der Schießerei an der Columbine High School in Colorado im Jahre 1999 wurde in allen amerikanischen Bundesstaaten außer in Vermont mit Nachahmungstaten gedroht. Allein in Pennsylvania kam es zu 60 solcher Drohungen (Cooper 1999). Phillips (1985; Phillips et al. 1989) stellte fest, dass auch Selbstmorde zunahmen, wenn ein Selbstmord in der Presse besonders ausgeschlachtet wurde. Nach dem Selbstmord von Marilyn Monroe am 6. August 1962 überstieg die Zahl der Selbstmorde in den USA den durchschnittliche Augustwert um 200. (In Deutschland kennt man dieses Phänomen der medieninduzierten Selbsttötung als »Werther-Effekt« schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als Johann Wolfgang von Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« eine Reihe von Selbstmorden in ganz Europa auslöste.) Auch wenn nicht in allen Studien das Phänomen des Nachahmungsselbstmords bestätigt werden konnte, traten Selbstmorde teilweise an verschiedenen Stellen häufiger auf. Innerhalb eines Zeitraums von 18 Tagen verzeichnete eine High School mit 1500 Schülerinnen und Schülern 2 vollzogene Selbstmorde, 7 Selbstmordversuche und 23 Schülerinnen und Schüler mit Selbstmordgedanken. Was ist die Ursache für diese Häufung von Selbstmorden? Handeln Menschen ähnlich, weil sie sich gegenseitig beeinflussen? Oder weil sie gleichzeitig denselben Ereignissen und Lebensbedingungen ausgesetzt sind? Auf der Suche nach Antworten führten Sozialpsychologen Versuche zu Gruppendruck und Konformität durch.
Peter Turnley/Corbis
! Menschen haben die Tendenz, das Verhalten anderer nachzuahmen.
Konformismus in Nischen Bewahren diese Punks ihre Individualität, oder identifizieren sie sich mit anderen Personen aus der gleichen Mikrokultur?
Gruppendruck und Konformität Ziel 7: Erörtern Sie Aschs Konformitätsexperimente, und erklären Sie den Unterschied zwischen normativem und informationalem sozialen Einfluss.
Beeinflussbarkeit ist eine subtile Form der Konformität (Anpassung unseres Verhaltens oder Denkens an einen bestimmten Gruppenstandard). Um Konformitätsdruck zu untersuchen, ent-
Konformitätsdruck (conformity): wahrgenommener Druck zur Anpassung des Verhaltens oder Denkens, um mit dem Gruppenstandard übereinzustimmen.
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
a
William Vandivert/Scientific American
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b . Abb. 15.3a, b. Aschs Konformitätsexperimente a Welche der 3 Vergleichslinien entspricht der Standardlinie? Was glauben Sie, würden die meisten Leute sagen, nachdem sie 5-mal gehört haben, dass die anderen mit »Linie 3« antworteten? b In diesem Photo, das bei einem von Aschs Versuchen gemacht wurde, zeigt der Versuchsteilnehmer in der Mitte eine deutliche Anspannung angesichts der Tatsache, dass die übrigen Gruppenmitglieder (Vertraute des Versuchsleiters) andere Antworten gaben
wickelte Solomon Asch (1955) einen einfachen Test. Als Versuchsteilnehmer kommen Sie pünktlich an den Versuchsort, um an einem Tisch Platz zu nehmen, wo bereits 5 Personen sitzen. Der Versuchsleiter fragt, welche von 3 Vergleichslinien mit einer Standardlinie identisch ist (. Abb. 15.3). Sie sehen deutlich, dass die Antwort Linie 2 lautet und warten, bis Sie an der Reihe sind, um nach den anderen diese Antwort zu geben. Dieser Versuch beginnt Sie allmählich zu langweilen, weil sich auch der nächste Linientest als ganz leicht erweist. Jetzt kommt der 3. Versuch, und die richtige Antwort erscheint ebenso offensichtlich, aber der erste Versuchsteilnehmer sagt etwas, was Ihnen falsch erscheint: »Linie 3«. Wenn der 2., 3. und 4. Versuchsteilnehmer ebenfalls die falsche Antwort nennen, setzen Sie sich aufrecht hin, kneifen die Augen zusammen und schauen noch einmal genau hin. Wenn der 5. Versuchsteilnehmer mit den ersten 4 übereinstimmt, merken Sie, wie Ihr Herz laut zu schlagen beginnt. Dann sind Sie an der Reihe. Sie sind hin- und hergerissen zwischen der Einmütigkeit der anderen 5 Befragten und der Realität vor Ihren Augen, Sie fühlen sich angespannt und wesentlich unsicherer als noch vor wenigen Minuten. Sie zögern, bevor Sie antworten, und fragen sich, ob Sie es sich wirklich antun wollen, als Außenseiter zu gelten. Welche Antwort geben Sie? In Versuchen, die von Asch oder anderen nach ihm durchgeführt wurden, erlebten Tausende Studierende diesen Konflikt. Wenn sie die Fragen nach den Linienlängen alleine beantworteten, betrug ihre Fehlerquote weniger als 1%. Aber die Ergebnisse sahen ganz anders aus, wenn mehrere andere (Eingeweihte, die für den Versuchsleiter arbeiteten) falsch antworteten. Asch berichtet, dass über ein Drittel dieser »intelligenten und wohlgesonnenen« studentischen Versuchsteilnehmer bereit waren, sich ein X für ein U vormachen zu lassen, um mit der Gruppe übereinzustimmen.
Konformitätssteigernde Bedingungen
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»Ist Ihnen je aufgefallen, wie ein gutes oder schlechtes Beispiel andere zum Nachahmen verleitet? Wie ein falsch geparktes Fahrzeug anderen die Erlaubnis zu geben scheint, es ebenso zu machen? Wie ein fremdenfeindlicher Witz Tür und Tor für viele weitere öffnet?« Marian Wright Edelman (»The Measure of Our Success«, 1992)
Aschs Vorgehen wurde zu einem Modell für spätere Untersuchungen. Auch wenn in den Versuchen nicht immer ein solches Maß an Konformität nachgewiesen werden konnte, zeigen sie dennoch, dass Konformität zunimmt, wenn 4 man dazu gebracht wird, sich inkompetent oder unsicher zu fühlen. 4 die Gruppe aus mindestens 3 Leuten besteht. 4 die Gruppe sich einig ist. (Die abweichende Meinung nur einer einzigen anderen Person bestärkt den Mut deutlich, ebenfalls anderer Meinung zu sein.) 4 man den Status und die Attraktivität der Gruppe hoch einschätzt. 4 man sich nicht vorher in irgendeiner Weise auf eine Antwort festgelegt hat. 4 man von den anderen in der Gruppe beobachtet wird. 4 man durch die eigene Kultur besonders ermutigt wird, soziale Standards zu respektieren. Demzufolge könnten wir das Verhalten von Joachim, einem enthusiastischen, aber unsicheren neuen Mitglied einer Fußballmannschaft voraussagen: Wenn er feststellt, dass die anderen 20 Gruppenmitglieder einstimmig für eine Sponsorensuche sind, wird er wohl kaum seine Missbilligung zum Ausdruck bringen.
Konformität und ihre Ursachen Fische schwimmen und Vögel fliegen in Schwärmen. Und auch Menschen neigen dazu, sich nach ihrer Gruppe zu richten, ihr Denken und Handeln der Gruppe entsprechend anzupassen. Aber
647 15.2 · Sozialer Einfluss
warum? Warum klatschen wir, wenn andere klatschen, warum essen wir, wie andere essen, warum glauben wir, was andere glauben, warum sehen wir gar, was andere sehen? Häufig geschieht dies, weil wir Ablehnung vermeiden wollen oder nach sozialer Anerkennung streben. In solchen Fällen reagieren wir auf das, was Sozialpsychologen normativen sozialen Einfluss nennen.
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Normativer sozialer Einfluss (normative social influence): Einfluss, der sich aus dem Wunsch einer Person ergibt, Zustimmung zu bekommen und Ablehnung zu vermeiden.
! Wir orientieren uns an sozialen Normen (allgemein gültigen Regeln für anerkanntes und erwartetes Verhalten), weil wir möglicherweise einen hohen Preis zahlen, wenn wir anders sind.
Marco Lokar weiß, wovon wir sprechen. Während des ersten Golfkriegs im Jahre 1991 war Lokar, ein Italiener, der einzige Basketballspieler der Seton Hall University, der sich dafür entschied, keine amerikanische Flagge auf seinem Trikot zu tragen. Als die Mannschaft auf Reisen war, wurden die abfälligen Kommentare der Fans zu seinem nonkonformen Verhalten so unerträglich, dass er die Mannschaft verließ und nach Italien zurückkehrte. Auch Tony Smith weiß, wovon wir sprechen. Als sich der Basketballspieler vom Manhattanville College 2003 auf ähnliche Weise vom drohenden Irak-Krieg distanzierte, indem er sich zur Seite drehte und während der Nationalhymne vor dem Spiel nicht auf die Flagge schaute, war die Empörung ähnlich. Während eines Spiels an einem anderen College erhoben sich die Studierenden und stimmten Sprechchöre an: »Raus aus unserem Land!« Normen zu respektieren, ist nicht der einzige Grund, warum wir zu Konformität neigen: Gruppen liefern ja möglicherweise wertvolle Informationen, und nur ein ungewöhnlich sturer Mensch wird nie auf andere hören. Wenn wir die Meinungen der anderen aus diesem Grund übernehmen, reagieren wir auf den informationalen sozialen Einfluss. »Diejenigen, die nie ihre Meinung ändern, lieben sich selbst mehr als die Wahrheit«, beobachtete der im 18. Jahrhundert lebende französische Schriftsteller Joseph Joubert. Wie Rebecca Denton 2004 zeigte, zahlt es sich manchmal aus, anzunehmen, dass andere Recht haben und ihnen zu folgen. Denton stellte einen Rekord auf für die weiteste Entfernung, die je ein Mensch auf der falschen Seite einer britischen Autobahn mit Grünstreifen in der Mitte gefahren war: 48 km mit nur einem kleinen Schwenker, bevor das Ende der walisischen Autobahn erreicht war und die Polizei ihre Reifen mit Kugeln durchlöchern konnte. Denton erklärte später, sie sei der Meinung gewesen, dass Hunderte anderer Fahrer, die ihr entgegenkamen, alle auf der falschen Seite der Autobahn fuhren (Woolcock 2004). Baron et al. (1996) wiesen auf intelligente Weise unsere Offenheit für informationale Einflüsse bei harten, schwerwiegenden Beurteilungen nach. Sie modernisierten den Asch-Versuch, indem sie Studierenden das Bild einer Person als Reiz zeigten, worauf das Bild einer Gruppe von 4 Personen folgte (. Abb. 15.4). Die Versuchsteilnehmer sollten entscheiden, ob die als Reiz dienende Person auf dem Gruppenbild auftauchte. Im Versuch wurde die Aufgabe einfach (das Gruppenbild 5 Sekunden anschauen) oder schwer (das Gruppenbild nur eine halbe Sekunde anschauen) gehalten. Auch wurden die Versuchsteilnehmer dazu verleitet, ihr Urteil als unwichtig (lediglich ein
Informationaler sozialer Einfluss (informational social influence): Einfluss, der sich aus der Bereitschaft eines Menschen ergibt, die Meinungen anderer über die Wirklichkeit anzunehmen.
. Abb. 15.4. Informationaler Einfluss Musteraufgabe: Nachdem die Versuchsteilnehmer Dia 1 und Dia 2 gesehen hatten, gaben sie ein Urteil ab, welche Person auf Dia 2 dieselbe war wie die auf Dia 1. (Nach Baron et al. 1996)
Dia 1
Dia 2
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Vortest einiger Verfahren zur Augenzeugenidentifizierung) oder als wichtig (Herausbildung von Normen für ein aktuelles Ermittlungsverfahren, mit 20 Dollar Belohnung für die genauesten Teilnehmer) einzustufen. Wenn die Genauigkeit ihrer Beurteilungen wichtig erschien, stimmten die Teilnehmer bei der einfachen Aufgabe selten überein. War die Aufgabe jedoch schwierig, stimmten sie in 50% der Fälle mit den Vertrauten des Versuchsleiters überein. ! Wenn wir unsicher sind, was richtig ist, und wenn es wichtig ist, die richtige Antwort zu geben, sind wir empfänglich für die Antworten anderer.
Es hängt von unseren Wertvorstellungen ab, ob wir soziale Einflüsse für gut oder schlecht halten. Wenn die Einflüsse das unterstützen, was wir für gut halten, jubeln wir denen zu, die »offen« und »sensibel« genug sind, um »darauf zu reagieren«. Wenn die Einflüsse etwas unterstützen, was uns missfällt, verurteilen wir den »unterwürfigen Konformismus« derjenigen, die mit den Wünschen anderer übereinstimmen. Wie wir in 7 Kap. 3 bereits gesehen haben, unterscheiden sich die verschiedenen Kulturen darin, welchen Stellenwert sie dem Individualismus bzw. Kollektivismus einräumen. Westeuropäer und die meisten Menschen, die aus englischsprachigen Ländern stammen, neigen dazu, Individualismus höher zu bewerten als Konformität und Gehorsam. Diese Wertvorstellungen kommen in Versuchen zum sozialen Einfluss zum Ausdruck, die in 17 Ländern durchgeführt wurden: In individualistischen Kulturen ist die Konformitätsrate niedriger (Bond u. Smith 1996).
Gehorsam
Eigentum von The Graduate Center, CUNY
Ziel 8: Beschreiben Sie Milgrams Experimente zum Gehorsam, und skizzieren Sie die Bedingungen, unter denen der Gehorsam am stärksten war.
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Stanley Milgram (1933–1984) Das Gehorsamsexperiment des Sozialpsychologen »gehört zum Bildungskanon unserer Generation« (Sabini 1986)
Der Sozialpsychologe Stanley Milgram (1963, 1974) wusste, dass Menschen häufig dem sozialen Druck nachgeben. Aber wie würden sie auf regelrechte Befehle reagieren? Um dies herauszufinden, führte er ein Experiment durch, das zum berühmtesten und umstrittensten der Sozialpsychologie werden sollte. Stellen Sie sich vor, Sie wären einer der nahezu 1000 Versuchsteilnehmer an Milgrams 20 Experimenten. Sie haben auf eine Anzeige geantwortet und kommen nun zum psychologischen Institut der Yale-Universität, um an einem Versuch teilzunehmen. Der Assistent von Professor Milgram erklärt Ihnen, dass in der Studie untersucht wird, welche Auswirkungen Bestrafung auf das Lernen hat. Sie und eine weitere Versuchsperson ziehen ein Los aus einem Hut, um zu sehen, wer der »Lehrer« sein wird (was auf Ihrem Los steht) und wer der »Schüler«. Der Schüler wird dann in einen angrenzenden Raum geführt und auf einem Stuhl festgeschnallt, der durch die Wand mit einem Gerät zur Verabreichung von Stromstößen verkabelt ist. Sie sitzen vor dem Gerät, das die Stromstöße auslösen kann. Ihre Aufgabe: Sie lehren und prüfen dann eine Liste von Wortpaaren. Für falsche Antworten müssen Sie den Schüler mit leichten Stromstößen bestrafen, wobei Sie mit einer Stufe beginnen, die als »15 Volt – leichter Schock« gekennzeichnet ist. Nach jedem Fehler des Schülers müssen Sie die nächsthöhere Stromstärke wählen. Jedes Mal, wenn Sie einen Stromstoß auslösen, blitzen Lichter auf, klicken Relaisschalter, und ein elektrisches Summen erfüllt den Raum. Wenn Sie den Instruktionen des Versuchsleiters Folge leisten, hören Sie den Schüler seufzen, wenn Sie den 3., 4. und 5. Schalter betätigen. Nach Aktivierung des 8. Schalters (als »120 Volt – mittlerer Schock« gekennzeichnet) ruft der Schüler aus, dass die Schocks schmerzhaft sind. Nach dem 10. Schalter (»150 Volt – schwerwiegender Schock«) schreit er: »Lassen Sie mich hier raus! Ich möchte nicht mehr am Versuch teilnehmen! Ich weigere mich weiter mitzumachen!« Wenn Sie diese Bitten hören, bäumen Sie sich auf. Doch der Versuchsleiter spornt Sie an: »Bitte weitermachen! Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen.« Wenn Sie immer noch zögern, insistiert er: »Es ist ganz wichtig, dass Sie weitermachen« oder »Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen.« Wenn Sie gehorchen, hören Sie, wie die Proteste des Schülers zu Angstschreien eskalieren, während Sie damit fortfahren, die Schockstufe mit jedem weiteren Fehler zu erhöhen. Nach dem 330-Volt-Niveau weigert sich der Schüler zu antworten und wird plötzlich still. Der Versuchsleiter treibt Sie weiter an, bis zum Finale, der 450-Volt-Stufe, weiterzumachen, und befiehlt Ihnen, die Fragen zu stellen und, sollten die Antworten falsch sein, Stromstöße auf dem nächsten Niveau auszulösen.
649 15.2 · Sozialer Einfluss
! Menschen zeigen eine erstaunliche Bereitschaft, sich Anordnungen von oben zu beugen und sich so ihrer eigenen Verantwortung zu entledigen.
. Abb. 15.5. Milgrams Folgeexperiment zum Gehorsam Bei einer Wiederholung des früheren Experiments gehorchten 65% der erwachsenen, männlichen »Lehrer« ohne Widerrede den Befehlen des Versuchsleiters weiterzumachen. Sie taten dies ungeachtet der Tatsache, dass der »Schüler« zuvor eine Herzschwäche erwähnt hatte, und obwohl sie bei 150 Volt Protestschreie und nach 330 Volt Angstschreie hörten. (Aus Milgram 1974)
From the film Obedience © 1968 by Stanley Milgram, © renewed 1993 by Alexandra Milgram and distributed by Penn State Media Sales.
Wie lange würden Sie wohl den Befehlen des Versuchsleiters Folge leisten? Bei einer Befragung, die Milgram vor dem Versuch durchführte, erklärten die meisten Personen, sie würden bald aufhören, eine allem Anschein nach sadistische Rolle zu spielen, wenn der Schüler den ersten Schmerz zum Ausdruck bringen würde, und ganz sicher, bevor er Angstschreie ausstoßen würde. Dies sagten auch alle 40 Psychiater vorher, die Milgram bat, Vermutungen über das Ergebnis anzustellen. Als Milgram dann das Experiment mit Männern zwischen 20 und 50 Jahren durchführte, war er erstaunt darüber, herauszufinden, dass 63% gänzlich einwilligten und bis zur letzten Stufe mitmachten. Zehn spätere Studien, an denen auch Frauen teilnahmen, zeigten, dass die Frauen genauso oft einwilligten wie die Männer (Blass 1999). Durchschauten die »Lehrer« die Täuschung, dass gar kein Schock ausgelöst wurde? Errieten sie korrekterweise, dass der »Schüler« eingeweiht war und nur vorgab, Schocks zu empfinden? Erkannten sie, dass dieser Versuch in Wirklichkeit ihre Bereitschaft testete, Befehlen zu folgen, die eine Bestrafung auslösen? Nein, die Lehrer zeigten normalerweise echte Belastungssymptome: Sie schwitzten, zitterten, lachten nervös und bissen sich auf die Lippen. Die Tatsache, dass sich Milgram Täuschung und Stress zunutze machte, löste eine Debatte über ethische Fragen in der Forschung aus. Zu seiner eigenen Verteidigung führte Milgram an, dass die Versuchsteilnehmer ihre Teilnahme praktisch nicht bereuten, nachdem ihnen die Täuschung und die eigentlichen Forschungsziele mitgeteilt worden waren (obwohl die Versuchsteilnehmer bis dahin ihre Dissonanz verringert hatten). Als 40 der »Lehrer«, die die größten Ängste gezeigt hatten, später von einem Psychiater befragt wurden, schien keiner an emotionalen Nachwirkungen zu leiden. Alles in allem, sagte Milgram, lösten die Versuche weniger dauerhaften Stress aus als die Erfahrungen von Studierenden, die wichtige Prüfungen und ein mögliches Scheitern vor Augen hatten (Blass 1996). Heute würden allerdings derartige Versuche von einer Ethikkommission, die es inzwischen an jeder Universität gibt, bestimmt nicht mehr genehmigt werden. Milgram fragte sich, ob die Versuchsteilnehmer gehorchten, weil die Proteste der Schüler nicht überzeugend waren, und wiederholte daher den Versuch mit 40 neuen Lehrern. Diesmal sagte der Vertraute des Versuchsleiters etwas von einer »Herzschwäche«, während er an den Stuhl geschnallt wurde; er klagte und schrie immer stärker, als die Stromstöße heftiger wurden. Doch auch hier hielten sich 65% der neuen Lehrer vollständig an das, was der Versuchsleiter von ihnen verlangt hatte (7 Abb. 15.5).
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650
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
In späteren Versuchen entdeckte Milgram, dass sich Menschen von subtilen Details einer Situation stark beeinflussen lassen. Wenn er die sozialen Bedingungen veränderte, reichte der Anteil der völlig loyalen Versuchsteilnehmer von 0–93%. Der Gehorsam war am stärksten, wenn 4 derjenige, der die Befehle erteilte, ganz in der Nähe war und als legitime Autoritätsperson wahrgenommen wurde. (So verhielt es sich im Jahr 2005, als der Basketballtrainer der Temple University einen 110 kg schweren Spieler von der Reservebank ins Spiel schickte und ihn aufforderte, »schwere Fouls« zu begehen. Dieser hielt sich an die Anweisung und wurde innerhalb von 4 Minuten des Spielfelds verwiesen, nachdem er einem Spieler der gegnerischen Mannschaft den rechten Arm gebrochen hatte.) 4 die Autoritätsperson von einer namhaften Institution unterstützt wurde – die Fügsamkeit war etwas geringer, wenn Milgram seine Versuche nicht mit der Yale-Universität in Verbindung brachte. 4 das Opfer depersonalisiert wurde oder weiter entfernt war, sogar in einem anderen Zimmer. (Damit ist vergleichbar, dass viele Soldaten im Gefecht mit einem Gegner, den sie sehen können, entweder nicht schießen oder nicht genau zielen. Derartige Verweigerungen, andere zu töten, sind selten unter denen, die die Distanzwaffen der Artillerie oder der Luftwaffe verwenden (Padgett 1989).) 4 es keine Vorbilder für Widerstand gab; d. h. es wurde niemand gesehen, der dem Versuchsleiter nicht gehorchte.
Einsatz für die Demokratie Einige Individuen – etwa jeder Dritte in Milgrams Experimenten – widerstehen dem sozialen Zwang, wie 1989 dieser unbewaffnete Mann in Peking, der einen Tag, nachdem der Studentenaufstand vom Tiananmen-Platz niedergeschlagen worden war, im Alleingang eine vorrückende Panzerlinie herausforderte
AP/Wide World Photos
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Die Macht legitimierter, unmittelbar anwesender Autoritäten wird in den Berichten derer, die auf Befehl die Gräueltaten des Holocaust ausführten bzw. dies nicht taten, auf dramatische Weise deutlich. Nur mit Gehorsam kann man den Holocaust nicht erklären; denn im Dienste des nationalsozialistischen Regimes mit seiner antisemitischen Ideologie standen nicht nur gehorsame Mitläufer, sondern auch kaltblütige Mörder (Mastroianni 2002). Aber Gehorsam spielte ebenfalls eine Rolle. Im Sommer 1942 wurde das Bataillon 101 der Reservepolizei, das aus nahezu 500 deutschen Berufspolizisten und Reservisten mittleren Alters bestand, nach Jozefow in Polen, einem von den Deutschen besetzten Gebiet, versetzt. Am 13. Juli informierte der Kommandant seine Rekruten, von denen die meisten Familienväter waren, dass ihnen der Befehl erteilt worden war, die Juden des Dorfes, denen man nachsagte, sie würden mit dem Feind kollaborieren, zusammenzutreiben. Gesunde Männer wurden in Arbeitslager geschickt, und alle anderen wurden auf der Stelle erschossen. Als man den Soldaten die Möglichkeit gab, die Teilnahme an den Exekutionen abzulehnen, ging nur ungefähr ein Dutzend der Soldaten sofort auf das Angebot ein. Innerhalb von 17 Stunden töteten die übrigen 485 Soldaten 1500 hilflose Frauen, Kinder und ältere Menschen, indem sie diesen Menschen, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, in den Hinterkopf schossen. Als die Soldaten dann die Hilfeschreie der Opfer hörten und die grauenvollen Ergebnisse sahen, verweigerten schließlich ungefähr 20% den Gehorsam, und es gelang ihnen entweder, ihre Opfer nicht zu treffen oder wegzulaufen und sich zu verstecken, bis das Gemetzel vorüber war (Browning 1992). Aber im wirklichen Leben waren, wie auch in Milgrams Experimenten, die Ungehorsamen in der Minderheit. Eine andere Geschichte ereignete sich im französischen Dorf Le Chambon, wo französische Juden, die nach Deutschland deportiert werden sollten, von Dorfbewohnern versteckt wurden, die damit öffentlich den Befehlen der neuen Machthaber trotzten. Die Vorfahren der Dorfbewohner waren selbst verfolgt worden, und von der Kanzel war ihnen gepredigt worden, »stets Widerstand zu leisten, wenn unsere Gegner von uns Gehorsam verlangen, der nicht den Geboten des Evangeliums entspricht« (Rochat 1993). Als sie von der Polizei aufgefordert wurden, eine Liste der versteckten Juden zu erstellen, leistete der Dorfpfarrer mustergültigen Widerstand: »Ich weiß nichts von Juden, ich kenne nur Menschen.« Ohne zu wissen, wie lang und schrecklich der Krieg sein würde oder wie sehr sie bestraft werden würden und wie viel Armut sie würden ertragen müssen, fühlten sich die »résistants« verpflichtet, Widerstand zu leisten. Gestärkt durch ihren Glauben, ihre Vorbilder, ihre gegenseitige Beeinflussung und ihre Eigeninitiative, blieben sie sich selbst bis zum Kriegsende treu.
651 15.2 · Sozialer Einfluss
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Was lehren uns die Studien zu Konformität und Gehorsam? Ziel 9: Erklären Sie, wie Studien zum Konformitätsdruck und zum Gehorsam dazu beitragen können, zu verstehen, warum wir so empfänglich für sozialen Einfluss sind.
Was können wir aus den Experimenten von Asch und Milgram über uns selbst erfahren? Was hat es mit unserem Sozialverhalten im Alltag zu tun, wenn wir die Länge einer Linie beurteilen oder einen Stromschalter betätigen? In 7 Kap. 1 wurde beschrieben, dass psychologische Experimente nicht darauf abzielen, das gewöhnliche Verhalten aus dem Alltagsleben nachzustellen. Es sollen vielmehr die Prozesse erfasst und erkundet werden, die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegen und sie formen. Asch und Milgram entwarfen Experimente, in denen sich die Versuchsteilnehmer entscheiden mussten, ihren eigenen Standards treu zu bleiben oder sich der Meinung anderer anzuschließen, ein Dilemma, mit dem wir alle häufig konfrontiert werden. In Milgrams Experimenten waren die Teilnehmer auch hin- und hergerissen, ob sie auf die Bitten der Opfer oder die Befehle des Versuchsleiters reagieren sollten. Ihr Moralempfinden warnte sie, anderen nicht zu schaden. Doch es zwang sie auch, dem Versuchsleiter zu gehorchen und ein guter Versuchsteilnehmer zu sein. Wenn Menschenfreundlichkeit und Gehorsam aufeinander prallten, siegte normalerweise der Gehorsam. Derartige Experimente zeigen, dass starke soziale Einflüsse Menschen dazu bringen können, falschen Aussagen zuzustimmen oder vor der Grausamkeit zu kapitulieren. »Die wichtigste Lektion unserer Studie« ist nach Milgram (1974, S. 6), »dass ganz normale Menschen, die einfach nur ihren Job machen, in einem furchtbaren destruktiven Vorgang ohne besondere Feindseligkeit oder Bösartigkeit zu den Ausführenden werden können.« Milgram verleitete seine »Lehrer« nicht, indem er sie zuerst bat, die »Schüler« einer so geballten Ladung Elektrizität auszusetzen, dass ihnen die Haare zu Berge stehen würden. Vielmehr nutzte er die Foot-in-the-Door-Technik, indem er mit leichtem Elektrisieren begann und dies Schritt für Schritt eskalieren ließ. Im Bewusstsein derjenigen, die den Schalter umlegten, erschien die erste »kleine« Handlung gerechtfertigt, was wiederum auch den nächsten Schritt tolerierbar machte. In Jozefow, in Le Chambon und in Milgrams Experimenten zeigte sich: Diejenigen, die Widerstand zeigten, taten dies sehr früh. Nach den ersten Akten von Zusammenarbeit oder Widerstand wurden die Einstellungen angepasst und rechtfertigten das jeweilige Verhalten. So etwas geschieht, wenn sich Menschen nach und nach dem Bösen unterwerfen. In jeder Gesellschaft kann die Einstellung, dass man sich einem geringeren Übel fügen muss, zu schlimmen Taten führen. Die Führungsriege der Nationalsozialisten nahm an, dass sich die meisten deutschen Beamten widersetzen würden, selbst Juden zu erschießen oder zu vergasen. Aber sie stellten fest, dass die Beamten überraschenderweise bereit waren, die Verwaltung des Holocausts zu übernehmen (Silver u. Geller 1978). Beunruhigendes stellte auch Milgram fest, als er 40 Männer bat, den »Lerntest« durchzuführen, während jemand anders die Stromstöße austeilte: 93% willigten ein. Im Gegensatz zum Bild vom bestialischen Übeltäter erfordern Gräueltaten keine monströsen Charaktere; man braucht dafür lediglich gewöhnliche Menschen, die von einer problematischen Situation überwältigt werden, wie etwa gewöhnliche Soldaten, die Gefangene foltern, gewöhnliche Angestellte, die Anweisungen folgen und schädliche Produkte herstellen und vermarkten. Vor den Anschlägen des 11. September war Mohamed Atta den Berichten nach ein normaler, rationaler Mensch, der einst ein »braver Junge« und ein hervorragender Student aus guter Familie gewesen war, eben kein böses Ungeheuer, wie wir es uns vorstellen würden.
15.2.2
Gruppeneinfluss
Welche Wirkung hat eine Gruppe auf unser Verhalten? Um dies herauszufinden, untersuchen Sozialpsychologen die verschiedenen Einflüsse, die in der einfachsten aller Gruppen auftreten – nämlich dann, wenn ein Mensch mit einem anderen zusammen ist – ebenso wie die Einflüsse, die in komplexeren Gruppen, wie etwa Familien, Teams oder Ausschüssen zum Tragen kommen.
»Ich habe nur Befehle ausgeführt.« Adolf Eichmann, Organisator der Deportation von Millionen von Juden in Konzentrationslager »Die normale Reaktion auf eine abnormale Situation ist ein abnormales Verhalten.« James Waller (»Becoming Evil: How Ordinary People Commit Genocide and Mass Killing«, 2002)
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Individuelles Verhalten in Anwesenheit anderer Ziel 10: Beschreiben Sie die Bedingungen, unter denen die Anwesenheit anderer wahrscheinlich zu sozialer Erleichterung, zu sozialem Faulenzen und zur Deindividuation führt.
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Angemessenerweise konzentrierten sich die ersten Experimente der Sozialpsychologen auf die einfachste aller Fragen zum sozialen Verhalten: Wie werden wir durch die bloße Anwesenheit anderer beeinflusst, etwa, wenn Menschen uns beobachten oder mit uns gemeinsam etwas tun?
Soziale Erleichterung
Soziale Erleichterung Leistungsstarke Sportlerinnen und Sportler fühlen sich oft durch Zuschauer angespornt. Was sie gut machen, machen sie sogar noch besser, wenn ihnen zugeschaut wird
Soziale Erleichterung (social facilitation): Leistungssteigerung durch die Anwesenheit anderer; tritt bei einfachen oder gut gelernten Aufgaben auf, nicht jedoch bei schwierigen oder noch nicht beherrschten Aufgaben.
Triplett (1898) hatte beobachtet, dass Radrennfahrer schnellere Zeiten fuhren, wenn sie gegeneinander antraten, als wenn sie gegen die Uhr fuhren, und nahm daher an, dass die Anwesenheit anderer sich leistungssteigernd auswirkt. Um seine Hypothese zu überprüfen, ließ Triplett Jugendliche so schnell wie möglich eine Angelspule aufrollen. Er stellte fest, dass sie in der Gegenwart eines weiteren Anwesenden, der dasselbe tat, schneller arbeiteten. Dieses Phänomen stärkerer Leistung in der Gegenwart anderer wird soziale Erleichterung (»social facilitation«) genannt. Beispielsweise brauchen Autofahrer, wenn die Ampel auf grün schaltet, ungefähr 15% weniger Zeit für die nächsten 100 Meter, wenn an der Kreuzung ein anderes Fahrzeug neben ihnen steht, als wenn sie allein an der Kreuzung stehen (Towler 1986). Aber ganz so einfach ist es nicht. Bei schwierigeren Aufgaben (dem Lernen von sinnlosen Silben oder dem Lösen komplexer Multiplikationsaufgaben) leisten Menschen weniger, wenn Beobachter oder andere, die mit derselben Aufgabe beschäftigt sind, anwesend sind. Weitere Studien zeigten, warum die Anwesenheit anderer manchmal leistungsfördernd und manchmal leistungshemmend wirkt (Guerin 1986; Zajonc 1965). Wenn andere uns beobachten, werden wir angeregt. Diese Anregung verstärkt die wahrscheinlichste Reaktion: Eine leichte Aufgabe korrekt und eine schwierige falsch zu lösen. Folglich erledigen wir gut gelernte Aufgaben schneller und präziser, und unbekannte Aufgaben langsamer und weniger präzise. Michaels et al. (1982) fanden heraus, dass Profi-Billardspieler mit 71% Wahrscheinlichkeit trafen, wenn sie allein waren, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 80% , wenn sie von 4 Zuschauern beobachtet wurden. Schlechte Spieler, die mit 36% Wahrscheinlichkeit Treffer erzielten, wenn sie allein waren, trafen nur mit 25% Wahrscheinlichkeit, wenn sie beobachtet wurden. Der energetisierende Effekt eines begeisterten Publikums trägt möglicherweise auch zum Heimvorteil bei, mit dem zahlreiche Mannschaften im Sport Erfahrung gemacht haben. Studien in über 80.000 Sportveranstaltungen in Kanada, den USA und England zeigen, dass die Heimmannschaften ungefähr in 6 von 10 Spielen gewinnen (etwas seltener bei Baseball- und Footballspielen und etwas häufiger bei Basketball- und Fußballspielen; . Tabelle 15.1). ! Was wir gut machen, machen wir wahrscheinlich vor einem Publikum, insbesondere einem freundlichen Publikum, noch besser; was wir normalerweise schwierig finden, kann nahezu als unlösbare Aufgabe erscheinen, wenn wir beobachtet werden.
15
. Tabelle 15.1. Heimvorteile bei populären Mannschaftssportarten. (Aus Courneya u. Carron 1992)
Sportart
Untersuchte Spiele
Prozentsatz der Siege der Heimmannschaft
Baseball
23.034
53,5%
Football
2.592
57,3%
Eishockey
4.322
61,1%
Basketball
13.596
64,4%
Fußball
37.202
69,0%
653 15.2 · Sozialer Einfluss
15
Das Konzept der sozialen Erleichterung kann auch einen komischen Effekt von Menschenansammlungen erklären: Witze, die Menschen in einem eher leeren Raum nur mäßig amüsieren, scheinen in einem vollen Raum lustiger zu sein (Aiello et al. 1983; Freedman u. Perlick 1979). Komiker und Schauspieler wissen, dass ein volles Haus ein »gutes Haus« ist. Die Erregung, die durch die Menschenmenge ausgelöst wird, verstärkt auch andere Reaktionen. Wenn Versuchsteilnehmer eng nebeneinander sitzen, mögen sie einen freundlichen Menschen noch lieber, einen unfreundlichen dagegen noch weniger (Schiffenbauer u. Schiavo 1976; Storms u. Thomas 1977). Hier eine praktische Empfehlung: Wenn man einen Seminarraum auswählt oder Stühle für ein Treffen zusammenstellt, sollte man gerade eben genug Sitze haben.
Soziales Faulenzen In Versuchen zur sozialen Erleichterung wird überprüft, welche Auswirkungen die Anwesenheit oder die Leistung von anderen auf eine individuelle Aufgabe hat, beispielsweise auf Pool-BillardSpiele. Aber wie entwickelt sich die Leistung, wenn Menschen die Aufgabe als Gruppe bewältigen? Stellen Sie sich eine Mannschaft beim Tauziehen vor: Glauben Sie, dass sich jemand in einer Gruppe mehr, genauso oder weniger anstrengt, als wenn er oder sie an einem Einzelwettbewerb teilnehmen würde? Um dies herauszufinden, baten Ingham et al. (1974) zufällig ausgewählte Studierende, »so stark wie möglich an einem Seil zu ziehen«. Als Ingham den Studierenden vorgab, dass noch 3 andere hinter ihnen ziehen würden, zeigten sie nur 82% der Leistung, die sie brachten, wenn sie wussten, dass sie allein zogen. Um diese verringerte Anstrengung zu beschreiben, prägte Latané (1981; Jackson u. Williams 1988) den Begriff des sozialen Faulenzens (»social loafing«). In 78 Versuchen, die in den USA, Indien, Thailand, Japan, China und Taiwan durchgeführt wurden, zeigte sich soziales Faulenzen bei verschiedenen Aufgaben, wenngleich es unter Männern in individualistischen Kulturen besonders häufig vorkam (Karau u. Williams 1993). In einem Versuch von Latané saßen zufällig ausgewählte Versuchspersonen, denen die Augen verbunden worden waren, in einer Gruppe zusammen und klatschten oder schrien, so laut sie konnten, während sie über Kopfhörer lautes Klatschen oder Schreien hörten. Wenn ihnen gesagt wurde, dass sie es gemeinsam mit den anderen machten, produzierten die Versuchsteilnehmer etwa ein Drittel weniger Lärm, als wenn sie dachten, ihre individuellen Anstrengungen wären zu erkennen. Warum kommt es zu dieser Art sozialen Faulenzens? Zunächst fühlen sich Menschen, die als Teil einer Gruppe agieren, weniger verantwortlich und machen sich daher weniger Gedanken, was andere über sie denken. Außerdem sehen sie vielleicht ihre Beiträge als verzichtbar an (Harkins u. Szymanski 1989; Kerr u. Bruun 1983). Was viele Leiter von Organisationen kennen (und Sie haben das möglicherweise auch schon auf studentischen Veranstaltungen beobachtet), wenn Gruppenmitglieder unabhängig von ihrem Beitrag den gleichen Nutzen ziehen, ist die Tatsache, dass sich manche Leute in solchen Fällen zurücklehnen und schonen. Wenn sie nicht hoch motiviert sind und sich in besonderem Maße mit der Gruppe identifizieren, werden sie möglicherweise zu Nutznießern der Anstrengungen der anderen Gruppenmitglieder.
Soziales Faulenzen (social loafing): Tendenz, dass sich Menschen in Gruppen weniger anstrengen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, als wenn sie allein verantwortlich sind.
Deindividuation Die Anwesenheit anderer kann daher Menschen zu größerer Leistung anregen (wie in den Versuchen zur sozialen Erleichterung) oder ihr Verantwortungsgefühl verringern (wie in den Versuchen zum sozialen Faulenzen). Aber manchmal wirkt die Anwesenheit anderer anregend und verringert zugleich das eigene Verantwortungsbewusstsein. Das Ergebnis kann dann ungehemmtes Verhalten sein, das über einen Kampf ums Essen im Speisesaal oder Beschimpfungen eines Schiedsrichters bis hin zu Vandalismus oder Krawallen reicht. Seine eigene Zurückhaltung zugunsten der Macht der Gruppe aufzugeben, bezeichnet man als Deindividuation. ! Deindividuation bedeutet, sich in einer Gruppensituation seiner selbst und der eigenen Grenzen weniger bewusst zu sein.
Deindividuation tritt oft dann auf, wenn Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Erregung empfinden und sich gleichzeitig anonym fühlen. In einem Versuch teilten Studentinnen, die depersonalisierende Ku-Klux-Klan-Hüte aufgesetzt hatten, doppelt so viele Stromstöße an ihr Opfer aus als identifizierbare Frauen (Zimbardo 1970). (Wie in allen derartigen Versuchen erhielt
Deindividuation (deindividuation): Verlust der Selbstwahrnehmung und Zurückhaltung in Gruppensituationen, die Erregung und Anonymität fördern.
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
das »Opfer« die Stromstöße nicht in Wirklichkeit.) Auf ähnliche Weise ist bei Stammeskriegern, die sich durch Gesichtsbemalungen oder Masken depersonalisieren, die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie gefangene Feinde töten, quälen oder verstümmeln, im Vergleich zu Kriegern, die ihr Gesicht zeigen (Watson 1973). Wenn man in einer Menschenmasse, einem Rock-Konzert oder bei einer Sportveranstaltung die Selbstwahrnehmung verliert (deindividuiert ist), bedeutet dies, stärker auf die Gruppenerfahrung anzusprechen.
Effekte von Gruppeninteraktionen Ziel 11: Erörtern Sie, wie die Interaktion in der Gruppe Gruppenpolarisierung und Gruppendenken fördern kann.
Wir haben uns mit den Bedingungen beschäftigt, unter denen bei Anwesenheit anderer 4 Menschen motiviert werden können, sich selbst zu verausgaben oder sich auf Kosten anderer als Trittbrettfahrer zu betätigen; 4 leichte Aufgaben leichter und schwierige Aufgaben schwieriger werden können; 4 Humor gefördert oder Massengewalt angeheizt werden kann. Die Forschung zeigt, dass es sowohl gute als auch schlechte Auswirkungen haben kann, wenn man mit anderen interagiert.
Gruppenpolarisierung
Gruppenpolarisierung (group polarization): Extremisierung der in einer Gruppe vorherrschenden Einstellungen durch Diskussionen in der Gruppe.
. Abb. 15.6. Gruppenpolarisierung Wenn eine Gruppe ähnlich gesinnt ist, verstärkt eine Diskussion die vorherrschenden Meinungen. Gespräche über ethnische Themen vergrößerten die Vorurteile einer Schülergruppe einer Highschool mit großen Vorurteilen und verringerten diese bei einer Gruppe mit nur geringen Vorurteilen. (Aus Myers u. Bishop 1970)
15
Bildungsforscher haben festgestellt, dass über einen gewissen Zeitraum hinweg anfängliche Unterschiede zwischen Gruppen von Studierenden tendenziell zunehmen. Wenn Studierende beispielsweise beim Eintritt in eine Studentenverbindung konservativer orientiert sind als andere, die nicht in eine Verbindung eintreten, wird sich die Kluft in Bezug auf die politischen Einstellungen der beiden Gruppen während der Studienzeit wahrscheinlich vertiefen (Wilson et al. 1975). Das Gleiche stellte Maccoby (2002) fest, nachdem sie jahrzehntelang die Geschlechtsrollenentwicklung beobachtet hatte: Mädchen führen intimere Gespräche als Jungen, spielen weniger aggressiv und haben auch weniger aggressive Phantasien; und diese Geschlechtsunterschiede werden mit der Zeit ausgeprägter, da jede Gruppe am meisten mit dem eigenen Geschlecht zu tun hat. Die Verstärkung der in einer Gruppe vorherrschenden Tendenzen, die sog. Gruppenpolarisierung, tritt auf, wenn Menschen innerhalb einer Gruppe über eine Auffassung diskutieren, die die meisten Gruppenmitglieder entweder befürworten oder ablehnen. Gruppenpolarisierung kann zu positiven Ergebnissen führen, wenn dadurch eine angestrebte Geisteshaltung verstärkt wird, die Entschlossenheit in einer Selbsthilfegruppe bekräftigt wird oder die Gefühle der Toleranz in einer Gruppe mit wenig Vorurteilen intensiver werden. Aber sie kann auch üble Folgen haben. Myers u. Bishop (1970) entdeckten, dass Schüler mit großen Vorurteilen, wenn sie über ethnische Fragen diskutierten, hinterher noch mehr Vorurteile hatten (. Abb. 15.6). (Schüler mit geringen Vorurteilen wurden dagegen toleranter.) Die ideologische Trennung und Polarisierung im Experiment findet allem Anschein nach eine Parallele in der zunehmenden Polarisierung der amerikanischen Politik. Der Prozentanteil von »Landslide Counties« – Kreise, in denen 60% und
655 15.2 · Sozialer Einfluss
15
mehr der Stimmen für einen Präsidentschaftskandidaten abgegeben wurden – nahm von 26% im Jahr 1976 auf 48% im Jahr 2004 zu (Bishop 2004). In immer stärkerem Maße leben die Menschen in der Nähe anderer und erfahren von ihnen, wie sie denken. Der polarisierende Effekt der Interaktion unter Gleichgesinnten lässt sich nicht nur auf U.S.Bundesstaaten anwenden, die die Demokraten oder die Republikaner wählen, sondern auch auf Terroristen, die bereit sind, Selbstmord zu begehen. Nach einer Analyse terroristischer Organisationen auf der ganzen Welt stellten McCauley u. Segal (1987; McCauley 2002) fest, dass eine terroristische Gesinnung nicht aus dem Nichts auftaucht. Vielmehr entwickelt sie sich gewöhnlich unter Menschen, die aus Groll zusammenkommen und deren Haltung dann immer extremer wird, wenn sie abgeschottet von mäßigenden Einflüssen miteinander interagieren. Zunehmend kategorisieren Gruppenmitglieder (die vielleicht mit anderen »Brüdern« und »Schwestern« zusammen isoliert in Lagern leben) die Welt in Begriffe wie »wir« und »sie« (Moghaddam 2005; Qirko 2004). Nur aus einer persönlichen Laune heraus entsteht Selbstmordterrorismus praktisch nie, berichtet die Forscherin Merari (2002). Das Internet stellt ein Medium für Gruppenpolarisierung dar. Zehntausende virtueller Gruppen ermöglichen es z. B. Eltern, die ein Kind verloren haben, oder Menschen mit schweren Erkrankungen, Trost und Unterstützung bei Gleichgesinnten zu finden. Aber das Internet macht es auch möglich, dass beispielsweise Menschen mit übergroßer Todessehnsucht, pädophilen Neigungen oder ausgeprägtem Ausländerhass einander finden und sich in ihren gemeinsamen problematischen bzw. kriminellen Zielsetzungen unterstützen (McKenna u. Bargh 1998).
Gruppendenken Kann eine Gruppeninteraktion wichtige Entscheidungen möglicherweise gar in eine bestimmte Richtung bringen? Der Sozialpsychologe Janis kam auf diesen Gedanken, als er in einem Bericht des Historikers Arthur M. Schlesinger Jr. las. In ihm ging es darum, wie Präsident John F. Kennedy und seine Berater den verhängnisvollen Plan entwarfen, in Kuba mit 1400 vom CIA instruierten Exilkubanern einzumarschieren. Als die Angreifer einfach gefangen genommen wurden und bald mit der US-Regierung in Verbindung gebracht wurden, fragte sich Kennedy im Nachhinein: »Wie konnten wir bloß so dumm sein?« Um dies herauszufinden, untersuchte Janis (1982) den Entscheidungsfindungsprozess, der zu diesem Fiasko führte. Er stellte fest, dass der neu gewählte Präsident und dessen Berater, deren moralische Ansprüche sehr hoch waren, diesem Plan bedingungsloses Vertrauen entgegenbrachten. Zugunsten des guten Gruppengefühls unterdrückten oder zensierten andere ihre abweichenden Meinungen selbst, insbesondere, nachdem Präsident Kennedy seine Begeisterung für dieses Vorgehen zum Ausdruck gebracht hatte. Da sich niemand deutlich gegen diesen Vorschlag äußerte, gingen alle von einer allgemeinen Zustimmung aus. Janis prägte den Begriff Gruppendenken (»groupthink«), um dieses harmonische, aber nicht realitätsangemessene Denken einer Gruppe zu beschreiben. Später untersuchten Janis und andere weitere historische Fiaskos, wie etwa die nicht gelungene Vorhersage des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor im Jahre 1941, die Eskalation des VietnamKriegs, die Watergate-Affäre, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (Reason 1987) und die Explosion der Weltraumfähre Challenger (Esser u. Lindoerfer 1989). Sie stellten fest, dass auch in diesen Fällen das Gruppendenken von übermäßigem Vertrauen, Konformismus, Selbstrechtfertigung und Gruppenpolarisierung gekennzeichnet war. Zu Gruppendenken kam es erneut, berichtet das U.S. Senate Intelligence Committee (2004), als »das Personal, das sich mit der Frage der Massenvernichtungswaffen im Irak beschäftigte, verschiedene Aspekte des Gruppendenkens zeigte: Prüfung weniger Alternativen, selektive Informationssammlung, Druck in Richtung auf Konformität innerhalb der Gruppe oder auf Zurückhaltung der Kritik und kollektive Rationalisierung«. Dieses Gruppendenken brachte die an der Analyse Beteiligten dazu, »vieldeutige Befunde so zu deuten, dass sie für ein Programm zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen sprachen, aber auch Befunde zu ignorieren und in ihrer Bedeutung herunterzuspielen, dass der Irak kein solches Programm hat«. Trotz dieser Fiaskos und Tragödien ist eine Diskussion mit mehreren Teilnehmern sinnvoll, wenn man bestimmte Arten von Problemen lösen will. Weil Janis das wusste, untersuchte er auch
Gruppendenken (groupthink): Denkweise, die dann auftritt, wenn in einer Gruppe das Harmoniebedürfnis bei Entscheidungen stärker ist als die realistische Bewertung von Alternativen.
»Die Wahrheit entspringt der Debatte unter Freunden.« Der Philosoph David Hume (1711–1776)
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Vorkommnisse, in denen amerikanische Präsidenten und ihre Berater gemeinsam richtige Entscheidungen getroffen hatten, wie etwa, als die Truman-Regierung den Marshall-Plan ausarbeitete, der Europa nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte, und als es der Kennedy-Regierung gelang, die Sowjetunion davon abzuhalten, Raketen auf Kuba zu stationieren. In solchen Fällen – Janis geht im Übrigen davon aus, dass dies auch auf die Arbeitswelt zutrifft – wird das Gruppendenken verhindert, wenn der Gruppenleiter für unterschiedliche Meinungen offen ist, die Kritik von Experten bei der Entwicklung von Entwürfen begrüßt und die Teilnehmer auffordert, mögliche Probleme herauszuarbeiten. ! Ebenso wie die Unterdrückung von Meinungsverschiedenheiten durch eine Gruppe falsche Entscheidungen zur Folge haben kann, führen offene Debatten oft zu guten Ergebnissen. Keiner von uns ist so klug wie wir alle zusammen.
Die Macht des Einzelnen
Margaret Bourke-White/Time & Life Pictures/Getty Images © 1946 Time Warner Inc.
Ziel 12: Geben Sie die charakteristischen Merkmale an, die Minderheitspositionen gemeinsam sind, wenn sie die Mehrheit überzeugen.
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Mahatma Gandhi Wie das Leben Gandhis in aller Deutlichkeit bezeugt, kann die konsequente und beharrliche Stimme einer Minderheit manchmal die Mehrheit überzeugen. Die gewaltlosen Aufrufe und Hungerstreiks des Hindus Gandhi, der zu einem nationalen und spirituellen Führer wurde, trugen dazu bei, dass Indien 1947 die Unabhängigkeit von Großbritannien erreichte
Wenn wir die Macht des sozialen Einflusses betonen, dürfen wir unsere Macht als Individuen nicht übersehen. Soziale Kontrolle (die Macht der Situation) und persönliche Kontrolle (die Macht des Individuums) interagieren. Menschen sind keine Billardkugeln. Wenn wir unter Druck geraten, tun wir vielleicht das Gegenteil dessen, was von uns erwartet wird, und betonen so unser Streben nach Freiheit (Brehm u. Brehm 1981). Eine solche Erfahrung machten 3 einzelne Soldaten im Gefängnis Abu Ghraib (O’Connor, 2004). Leutnant David Sutton brach ein Verhör ab und berichtete seinem Kommandeur darüber. Der Marinehundeführer William Kimbro wehrte sich gegen den Druck, an unrechtmäßigen Verhören mit Hilfe von Angriffshunden teilzunehmen. Der Feldjäger Joseph Darby brachte Fotos von diesen schrecklichen Vorfällen ans Licht der Öffentlichkeit und lieferte unanfechtbare Beweise für die Grausamkeiten. Jeder Einzelne von ihnen ging das Risiko ein, lächerlich gemacht oder sogar wegen Befehlsverweigerung vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Wie diese 3 Soldaten entdeckten, kann das Engagement Einzelner die Mehrheit überzeugen und Sozialgeschichte schreiben. Wäre dies nicht so, wäre der Kommunismus eine obskure Theorie geblieben, die Christen eine kleine Sekte im Nahen Osten, und die Weigerung von Rosa Park, sich im Bus nach hinten zu setzen, hätte nicht die Bürgerrechtsbewegung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA ausgelöst. Auch die Geschichte der Technik entsteht oft durch innovative Minderheiten, die den Widerstand der Mehrheit gegenüber Veränderungen überwinden. Die Eisenbahn war für viele eine verrückte Idee; einige Bauern hatten sogar Angst, dass der Lärm der Züge ihre Hennen davon abhalten könnte, Eier zu legen. Die Leute verhöhnten Robert Fultons Dampfschiff als »Fultons Verrücktheit«. Fulton sagte später: »Keine ermunternde Bemerkung, kein Hoffnungsschimmer, kein guter Wunsch ist mir je zu Ohren gekommen.« Der Druckerpresse, dem Telegrafen, der Glühbirne und der Schreibmaschine wurde zunächst ähnliches Misstrauen entgegengebracht (Cantril u. Bumstead 1960). Europäische Sozialpsychologen wollten den Einfluss von Minderheiten, die Macht von einem oder zwei Individuen, Mehrheiten zu überzeugen, besser verstehen (Moscovici 1985). Sie untersuchten Gruppen, in denen ein oder zwei Menschen konsequent eine umstrittene Einstellung oder ein ungewöhnliches Wahrnehmungsurteil zum Ausdruck brachten. Sie stellten wiederholt fest, dass eine Minderheit, die unbeirrbar ihre Meinung vertritt, weit erfolgreicher dabei ist, die Mehrheit zu überzeugen, als eine Minderheit, die unsicher zu sein scheint. Wenn Sie konsequent eine Minderheitenmeinung vertreten, wird Sie das nicht beliebter machen, aber es kann Sie einflussreicher machen. Dies trifft vor allem dann zu, wenn Ihr Selbstvertrauen andere dazu anregt, zu überlegen, warum Sie so reagieren. Auch wenn Menschen in der Öffentlichkeit oft der Mehrheit folgen, entwickeln sie doch manchmal privat eine Sympathie für die Meinung der Minderheit. Sogar wenn der Einfluss einer Minderheit noch nicht sichtbar ist, kann dies dazu führen, dass einige Anhänger der Mehrheitsmeinung ihre Auffassungen überdenken (Wood et al. 1994). Die Macht des sozialen Einflusses ist ungeheuer groß, aber die Macht des Engagements Einzelner ebenso.
657 15.2 · Sozialer Einfluss
Lernziele Abschnitt 15.2 Sozialer Einfluss Ziel 6: Beschreiben Sie den Chamäleon-Effekt, und geben Sie ein Beispiel dafür. Der Chamäleon-Effekt besteht in unserer Neigung, Menschen aus unserer Umgebung unbewusst nachzumachen. So gähnen wir etwa, wenn andere gähnen, oder übernehmen die Stimmung eines glücklichen oder traurigen Menschen. Automatische Mimikry ist ein Bestandteil der Fähigkeit, Empathie für andere zu zeigen. Ziel 7: Erörtern Sie Aschs Konformitätsexperimente, und erklären Sie den Unterschied zwischen normativem und informationalem sozialen Einfluss. Asch fand heraus, dass Menschen mit dem Urteil einer Gruppe übereinstimmen, auch wenn dieses eindeutig falsch ist. Der Konformitätsdruck nimmt zu, wenn wir uns inkompetent oder unsicher fühlen, den Status und die Attraktivität der Gruppe bewundern, uns vorher nicht auf eine Reaktion festgelegt haben, wenn wir von anderen Gruppenmitgliedern beobachtet werden, wenn wir aus einer Kultur stammen, die die Einhaltung der Gruppennorm in starkem Maße fördert, und wenn wir uns in einer Gruppe aus mindestens 3 Mitgliedern befinden, die bei einer Entscheidung alle einer Meinung sind. Wir stimmen möglicherweise entweder zu, um gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen (normativer gesellschaftlicher Einfluss) oder weil wir offen sind für die Informationen, die wir von anderen erhalten (informationaler gesellschaftlicher Einfluss). Am offensten für informationalen gesellschaftlichen Einfluss sind wir, wenn wir unsicher sind, was richtig ist, und es wichtig ist, dass man Recht hat. Ziel 8: Beschreiben Sie Milgrams Experimente zum Gehorsam, und skizzieren Sie die Bedingungen, unter denen der Gehorsam am stärksten war. In Milgrams berühmten Experimenten waren Menschen hin- und hergerissen, entweder dem Versuchsleiter zu gehorchen oder den Bitten eines anderen Menschen zu entsprechen und die Stromstöße einzustellen. Die Mehrheit entschied sich jedoch, die Befehle auszuführen, auch wenn die Betreffenden davon ausgehen mussten, dass sie durch ihren Gehorsam einem anderen Menschen schadeten. Die Teilnehmer am Experiment gehorchten mit der größten Wahrscheinlichkeit, wenn sich die Person, die die Befehle gab, direkt nebenan befand und als eine legitime Autoritätsperson wahrgenommen wurde, wenn die Person, die die Befehle gab, durch eine prestigeträchtige Institution unterstützt wurde, wenn das Opfer depersonalisiert wurde und sich in einer bestimmten Entfernung befand und schließlich wenn keine andere Person als Modell für Ungehorsam zur Verfügung stand. Ziel 9: Erklären Sie, wie Studien zum Konformitätsdruck und zum Gehorsam dazu beitragen können, zu verstehen, warum wir so empfänglich für sozialen Einfluss sind. Bei den Konformitätsstudien erwiesen sich zufällig ausgewählte gewöhnliche Menschen entgegen ihrer eigenen Überzeugung als gruppenkonform. In den Studien zum Gehorsam gehorchten zufällig aus-
gewählte gewöhnliche Menschen den Anweisungen, Bestrafungen auszuteilen, die, wenn sie real gewesen wären, völlig fremde Menschen geschädigt hätten. Personen, die sich den Anweisungen widersetzten, taten dies zu einem frühen Zeitpunkt; danach folgte die Einstellung dem Verhalten. Wenn wir aus diesen Experimenten etwas über die zugrunde liegenden Prozesse lernen, die unser Verhalten formen können, sind wir vielleicht weniger empfänglich für machtvolle soziale Einflüsse in realen Lebenssituationen, bei denen wir uns entscheiden müssen, ob wir unsere eigenen Standards aufrechterhalten oder nur auf andere reagieren. Ziel 10: Beschreiben Sie die Bedingungen, unter denen die Anwesenheit anderer wahrscheinlich zu sozialer Erleichterung, zu sozialem Faulenzen und zur Deindividuation führt. Die Anwesenheit von Beobachtern oder Mitstreitern steigert die Erregung und stärkt die wahrscheinlichste Reaktion. Diese soziale Erleichterung lässt gewöhnlich die Leistung bei leichten oder gut erlernten Aufgaben ansteigen, aber bei schwierigen oder neu erlernten Aufgaben auch abnehmen. Die Anwesenheit anderer, die mit vereinten Kräften auf ein Gruppenziel hinarbeiten, kann zu geringerer Leistung führen, wenn es zu sozialem Faulenzen kommt, bei dem sich einige Personen auf Kosten anderer als Trittbrettfahrer betätigen. Es kann zu einer Deindividuation kommen (einem psychischen Zustand, bei dem sich Menschen ihrer selbst weniger bewusst sind und weniger Selbstbehrrschung zeigen), wenn sich Menschen in einer großen Gruppe aufhalten und sie sich dabei anonym fühlen. Ziel 11: Erörtern Sie, wie die Interaktion in der Gruppe Gruppenpolarisierung und Gruppendenken fördern kann. In Gruppen kommt es durch Diskussionen unter gleichgesinnten Gruppenmitgliedern oft zu einer Gruppenpolarisierung, einer Bekräftigung der in der Gruppe vorherrschenden Meinungen. Dieser Vorgang fördert das Gruppendenken, wenn Gruppen einen Druck auf Mitglieder ausüben, sich konform zu verhalten, abweichende Informationen zu unterdrücken und es nicht schaffen, Alternativen zu berücksichtigen. Um Gruppendenken zu verhindern, können Gruppenleiter klarstellen, dass sie eine Meinungsvielfalt begrüßen, kritische Anmerkungen von Experten begrüßen und einzelnen Personen die Aufgabe zuweisen, mögliche Probleme bei der Entwicklung eines Plans auszumachen. Ziel 12: Geben Sie die charakteristischen Merkmale an, die Minderheitspositionen gemeinsam sind, wenn sie die Mehrheit überzeugen. Minderheiten, die erfolgreich die Gruppenmeinung beeinflussen, bringen ihre Meinungen gewöhnlich in konsistenter Form vor. > Denken Sie weiter: Mit welchen beiden Beispielen für sozialen Einfluss haben Sie diese Woche Erfahrung gemacht (behalten Sie dabei im Hinterkopf, dass der Einfluss auch informational sein kann).
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
15.3
Soziale Beziehungen
Wir haben gezeigt, wie wir über andere denken und wie wir einander beeinflussen. Nun kommen wir zum dritten Schwerpunkt der Sozialpsychologie: zu der Frage, wie wir zueinander in Beziehung treten. Was bringt uns dazu, jemanden zu schädigen, ihm zu helfen oder uns zu verlieben? Wie können wir verhindern, dass die Leute mit den Fäusten aufeinander einschlagen? Sie sollten lieber die Position des anderen verstehen und sich die Hand reichen. Wir werden dabei positive und negative Aspekte berücksichtigen, Vorurteile und Aggressionen, aber auch Attraktivität, Altruismus und die Möglichkeiten, Frieden zu stiften.
15.3.1
Vorurteil
Ziel 13: Nennen Sie die 3 Komponenten des Vorurteils. Vorurteil (prejudice): ungerechtfertigte (und in der Regel negative) Einstellung gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Vorurteile beinhalten i. Allg. stereotype Überzeugungen, negative Gefühle und die Bereitschaft zu diskriminierendem Verhalten. Stereotyp (stereotype): verallgemeinernde (manchmal richtige, oft aber übergeneralisierende) Einstellung gegenüber einer Gruppe von Menschen. Diskriminierung (discrimination): nicht zu rechtfertigendes, negatives Verhalten gegenüber einer Gruppe oder ihren Mitgliedern.
Vorurteil bedeutet »vorzeitige Beurteilung«. Es ist eine ungerechtfertigte und normalerweise negative Einstellung gegenüber einer Gruppe – oft gegenüber einer kulturell, ethnisch oder in Bezug auf das Geschlecht andersartigen Gruppe. Wie alle Einstellungen, so sind auch Vorurteile eine Mischung aus Überzeugungen (Stereotype genannt), Emotionen (Feindseligkeit, Neid oder Angst) und der Bereitschaft, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten (diskriminierend). Wenn man der Überzeugung ist, dass übergewichtige Menschen gefräßig sind, man Antipathien gegenüber Übergewichtigen hegt und niemanden einstellen oder privat treffen möchte, der übergewichtig ist, dann handelt es sich um ein Vorurteil. Beim Vorurteil handelt es sich um eine negative Einstellung; eine Diskriminierung ist ein negatives Verhalten. Wie andere Formen von Vorverurteilungen sind Vorurteile Schemata, die Einfluss darauf nehmen, wie wir Ereignisse wahrnehmen und interpretieren. In einer Studie aus den 1970er Jahren sahen männliche weiße Teilnehmer, wie ein weißer Mann einen schwarzen schubste, und nahmen dies als »herumalbern« wahr. Sahen sie einen schwarzen Mann, der einen weißen schubste, interpretierten sie diesen Akt als »gewalttätige Handlung« (Duncan 1976). ! Durch unsere vorgefassten Meinungen über die Menschen wird unser Eindruck von ihrem Verhalten verzerrt. Vorurteile beeinflussen unsere Wahrnehmung.
Wie sehr sind Menschen von Vorurteilen geprägt? Ziel 14: Stellen Sie subtile und offene Formen des Vorurteils einander gegenüber, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür.
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Um etwas über Vorurteilsniveaus zu erfahren, können wir erfassen, was Menschen sagen und was sie tun. Nach dem, was Amerikaner sagen, haben sich die Einstellungen gegenüber dem anderen Geschlecht und gegenüber ethnischen Gruppen in den letzten 50 Jahren dramatisch verändert. Von einem Drittel der Amerikaner, die im Jahre 1937 sagten, dass sie für eine qualifizierte Frau stimmen würden, wenn ihre Partei eine Präsidentschaftskandidatin nominieren würde, stieg die Zahl auf 87% im Jahre 2003 an (Jones u. Moore 2003). Auch die Unterstützung für alle Formen des Kontakts zwischen den ethnischen Gruppen nahm dramatisch zu, und dazu gehört auch die Ehe von Personen unterschiedlichen ethnischen Hintergrunds (. Abb. 15.7). Fast alle stimmen den Aussagen zu, dass Kinder unterschiedlicher ethnischer Gruppen dieselbe Schule besuchen und dass Frauen und Männer dasselbe Gehalt für die gleiche berufliche Tätigkeit bekommen sollten. Aber auch wenn offene Vorurteile abnehmen, lauern die subtilen Vorurteile im Geheimen. Trotz zunehmender verbaler Unterstützung interethnischer Ehen, geben viele Menschen zu, dass sie sich in einer intimen sozialen Situation (Rendezvous, Tanzen, Heirat) unwohl fühlen würden, wenn jemand von einer anderen ethnischen Gruppe dabei wäre. In Westeuropa, wo am Ende des 20. Jahrhunderts viele »Gastarbeiter« und Flüchtlinge zugezogen sind, hat das »moderne Vorurteil« – Ablehnung von Minderheiten mit Migrationshintergrund bei der Bewerbung um eine berufliche Position aus angeblichen nichtrassistischen Gründen – das offene Vorurteil ersetzt (Jackson et al. 2001; Pettigrew 1998). Bei einer ganzen Reihe kürzlich durchgeführter Experimente
659 15.3 · Soziale Beziehungen
15
. Abb. 15.7. Veränderung von Vorurteilen im Lauf der Zeit Die Zustimmung bei Amerikanern für die Heirat zwischen zwei Mitgliedern unterschiedlicher Ethnien hat während des letzten halben Jahrhunderts zugenommen. (Gallup-Umfrage nach Ludwig 2004)
zeigte sich, dass ein Vorurteil nicht nur subtil sein kann, sondern auch automatisch und unbewusst (7 Unter der Lupe: »Das automatische Vorurteil«). Aber Vorurteile kommen in öffentlichen Situationen immer noch zum Vorschein. In einer Befragung aus dem Jahr 2004 sagten sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien 60% der Menschen, dass Migranten einen schlechten Einfluss auf ihr Land hätten (Lester 2004). Bis heute können Schwule und Lesben an kaum einem Ort der Welt leicht preisgeben, wer sie sind und wen sie lieben. In mehreren Bundesstaaten der USA bilden die schwarzen Autofahrer und jene Personen afroamerikanischer Herkunft die Minderheit unter den Verkehrsteilnehmern und unter den Rasern, aber dennoch die Mehrheit unter den Verkehrsteilnehmern, die von der Polizei angehalten und überprüft werden (Lamberth 1998; Staples 1999a,b). Eine Untersuchung an mautpflichtigen Straßen in New Jersey ergab, dass Afroamerikaner 13,5% aller Autofahrer stellten, 15% der Raser und 35% der angehaltenen Fahrer. Elmo Randolph, Zahnarzt aus New Jersey, wusste es immer schon. Nachdem er in 4 Jahren mehr als 100 Mal angehalten worden war, wenn er mit seinem goldfarbenen BMW von Zuhause zur Praxis fuhr, verkaufte Dr. Randolph seinen Wagen – obwohl sein einziges Vergehen darin bestand, »schwarz Auto zu fahren«. Zurzeit leben in Deutschland knapp 7,3 Mio. Migranten, das sind ca. 8,9% der Gesamtbevölkerung. Die heute zahlenmäßig stärkste Gruppe von in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen sind Einwanderer aus der Türkei und ihre Nachkommen. Bis heute gelten die Türken als die am schwersten zu integrierende Bevölkerungsgruppe. Einer Umfrage zufolge sehen etwa zwei Drittel aller Ost- und Westdeutschen starke Unterschiede im Lebensstil zwischen Türken und Deutschen, unabhängig davon, wie viele Türken in der Nachbarschaft wohnen (Bundeszentrale für politische Bildung 2001). Zwar stimmt nur eine Minderheit unter den Deutschen so platt formulierten Vorurteilen zu wie »Ausländer nehmen uns die Arbeit weg« oder »Ausländer wollen sich nicht anpassen, machen laute Musik, haben nur Ansprüche und wollen nicht arbeiten«. In weiten Kreisen gibt es jedoch Befürchtungen vor einer drohenden »Überfremdung« und den Auswirkungen eines radikalen Islam, und selbst bei Kontakten zu Türken lehnten 28% der West- und 37% der Ostdeutschen Türken als Nachbarn ab (Bundeszentrale für politische Bildung 2001). Auch Menschen anderer Hautfarbe begegnet man mit Vorurteilen; in den 10 Jahren seit der deutschen Einheit wurden sie besonders häufig Opfer fremdenfeindlicher Gewalt. Diese Fälle offener Gewalt bilden jedoch nur die Spitze des Eisbergs eines alltäglichen Rassismus. Dies alles geschieht in einer Welt, die enger vernetzt ist als je zuvor, und einer Welt mit rasch überwindbaren Distanzen. Wir machen als Touristen vielleicht angenehme Erfahrungen mit weit entfernten Kulturen, oder wir lernen sie kennen, wenn unterschiedliche Geschäftskulturen zu einem international operierenden Konzern zusammengeführt werden. Flüchtlingsströme und Arbeitsmigration schaffen überall auf der Welt auch an einem vertrauten Ort viele Möglichkeiten für Begegnungen mit Fremdem und Neuem.
»Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.« Karl Valentin (1882–1948)
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Aber auch das Vorurteil gegenüber dem anderen Geschlecht und die Diskriminierung bestehen weiter fort. Trotz der Gleichheit der Geschlechter bei den Intelligenztestwerten neigen die Menschen dazu, ihre Väter als intelligenter wahrzunehmen als ihre Mütter (Furnham u. Rawles 1995). In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht Auto fahren. In westlichen Ländern bekommen diejenigen, die Maschinen bedienen, mit denen unsere Straßen repariert werden (in der Regel Männer), mehr Lohn als diejenigen, die sich um unsere Kinder kümmern (in der Regel Frauen). Weltweit leben Frauen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in Armut (Lipps 1999), und ihre Analphabetenrate von 31% liegt deutlich über der von Männern (19%; PRB 2002). Weibliche Säuglinge werden nicht mehr in den Bergen ausgesetzt, damit sie an Unterkühlung sterben, wie dies im antiken Griechenland praktiziert wurde. Doch auch heute noch wird den Jungen ein höherer Wert beigemessen als ihren Schwestern. Während der Hungersnot in Bangladesh in den 1970er Jahren waren die Mädchen noch schlechter ernährt als die Jungen, und in vielen Entwicklungsländern sind die Sterblichkeitsraten für Mädchen höher als für Jungen (Bairagi 1987). Aufgrund medizinischer Tests, die Abtreibungen in Abhängigkeit vom Geschlecht des Fötus ermöglichen, ist in mehreren südasiatischen Ländern (einschließlich bestimmter Regionen Chinas und Indiens) ein Rückgang der Geburten von Mädchen registriert worden. Die natürliche weibliche Mortalität und das normale Zahlenverhältnis von 105 Jungen zu 100 Mädchen bei der Geburt erklären die geschätzten 101 Mio. »fehlender Frauen« wohl kaum (Sen 2003). Lassen Sie sich diese Zahl einmal auf der Zunge zergehen. In China wurde verkündet, dass das Zahlenverhältnis bei Neugeborenen 119 Jungen zu 100 Mädchen erreicht hat (Yardley 2005). Aufgrund der demographischen Vorhersage, dass 40 Mio. chinesische Junggesellen nicht imstande sein werden, eine Partnerin zu finden, hat China jetzt die Abtreibung in Abhängigkeit vom Geschlecht – den Frauengenozid – zum kriminellen Vergehen erklärt. Nehmen Sie einmal an, Sie könnten nur ein Kind bekommen. Hätten Sie lieber einen Jungen oder ein Mädchen? Als Gallup Amerikanern diese Frage vorlegte, brachten zwei Drittel eine Geschlechtspräferenz zum Ausdruck; und von diesen wiederum wünschten sich zwei Drittel einen Jungen – im Jahr 2003 ebenso wie 1941 (Lyons 2003). Aber es gibt auch eine gute Nachricht für die Mädchen und Frauen. Die meisten Menschen haben in Bezug auf Frauen i. Allg. positivere Gefühle als in Bezug auf Männer (Eagly 1994; Haddock u. Zanna 1994). Auf der ganzen Welt sehen Menschen es so, dass Frauen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (wie etwa fürsorglich, sensibel und weniger aggressiv) haben, die ihnen besser gefallen (Glick et al. 2004; Swim 1994). Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass Frauen gewöhnlich Frauen lieber mögen als Männer ihre Geschlechtsgenossen (Rudman u. Goodwin 2004). Und vielleicht ziehen die meisten darum auch leicht »feminisierte« am Computer generierte Gesichter – von Männern und Frauen – leicht »maskulinisierten« Gesichtern vor. Perrett et al. (1998) spekulierten, dass ein etwas ins Feminine verändertes Gesicht für Freundlichkeit, Kooperationsbereitschaft und andere Persönlichkeitsmerkmale eines guten Vaters steht. Als die BBC 18.000 Frauen bat, zu raten, welcher der beiden Männer von . Abb. 15.8 wohl eine Kontaktanzeige aufgegeben hatte, in der er auf der Suche nach einer »besonderen Frau, die er immer mögen und zärtlich lieben wird«, war, tippten 66% auf das leicht feminisierte Gesicht (b). Courtesy of David Perrett, St. Andrews University
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. Abb. 15.8a, b. Wer ist Ihnen sympathischer? Wer von beiden gab eine Anzeige auf, in der er eine besondere Frau suchte, die er immer mögen und zärtlich lieben wird?
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Unter der Lupe
Das automatische Vorurteil Wie wir im gesamten Buch erfahren haben, verarbeiten wir Informationen auf 2 Ebenen: der bewussten und der unbewussten Ebene. In bestimmtem Maße sind unser Denken, unsere Erinnerungen und unsere Einstellungen explizit – sie befinden sich auf dem Radarschirm unseres Bewusstseins. Und sogar noch stärker sind die Forscher heute davon überzeugt, dass sie implizit sind – nicht auf dem Radarschirm, außer Sichtweite. Moderne Studien zu impliziten, automatischen Einstellungen deuten darauf hin, dass es sich beim Vorurteil oft eher um einen Reflex als um eine Entscheidung handelt. Beschäftigen wir uns einmal mit den Befunden zu rassistischen Vorurteilen in den USA. Implizite rassistische Assoziationen: Greenwald et al. (1998) zeigten, dass sogar Menschen, die bestreiten, rassistische Vorurteile zu haben, möglicherweise negative Assoziationen aufweisen. Beispielsweise brauchten 90% der weißen Befragten länger, um ein angenehmes Wort (wie Frieden und Paradies) als »gut« einzustufen, wenn gut zusammen mit schwarzen Gesichtern dargeboten wurde, als wenn es zusammen mit weißen Gesichtern präsentiert wurde. Zudem waren, so berichten Hugenberg u. Bodenhausen (2003), Menschen, die bei diesem Test kein offenes, sondern ein eher stillschweigendes Vorurteil aufwiesen, auch am schnellsten dabei, in schwarzen Gesichtern Wut und offene Bedrohung wahrzunehmen. Unbewusste Schonung: Harber (1998) bat weiße Studentinnen, einen fehlerhaften Aufsatz zu bewerten, der angeblich von einem weißen oder einem schwarzen Kommilitonen verfasst worden war. Wenn sie glaubten, der Verfasser sei ein Schwarzer, gaben die Studentinnen deutlich bessere Einstufungen ab und brachten nie die harsche Kritik zum Ausdruck wie bei den Aufsätzen, die sie weißen Verfassern zuordneten. Ein Beispiel: »Wenn ich eine so schlechte Arbeit wie diese lese, will ich am liebsten meinen Kopf auf den Tisch legen und weinen.« Stimmten die Beurteilerinnen ihre Bewertungen mit ihrem ethnischen Stereotyp ab, fragte sich Harber, und kann das dazu geführt haben, dass sie die schwarzen Verfasser durch weniger strenge Standards schonten? Wenn das bei Bewertungen in der realen Welt so gewesen wäre, hätten die geringen Erwartungen und infolgedessen »inflationäres Lob und ungenügende Kritik« den Erfolg von Studierenden aus ethnischen Minderheiten behindern können. (Um derartige Verzerrungen auszuschließen, lesen viele Dozenten Aufsätze in anonymisierter Form.)
Ethnisch beeinflusste Wahrnehmung: Zwei Forscherteams interessierte ein Vorfall, bei dem 2 Polizisten auf einen unbewaffneten Mann im Hauseingang seines Mietshauses in der Bronx schossen, weil sie sein Portemonnaie für eine Schusswaffe hielten. Beide Forschergruppen simulierten die Situation, indem sie Versuchsteilnehmer baten, so schnell wie möglich bestimmte Knöpfe zu drücken, um zu »schießen« oder »nicht zu schießen«, sobald ein Mann auf dem Bildschirm erschien, der entweder eine Waffe in der Hand hielt oder einen harmlosen Gegenstand wie eine Taschenlampe oder eine Flasche (Corell et al. 2002; Greenwald et al. 2003). Die Versuchsteilnehmer (in einer dieser Studien sowohl Schwarze als auch Weiße) schossen häufiger irrtümlich auf Zielpersonen, wenn diese schwarz waren. Schwarz sehen: Zahlreiche Studien zeigen Folgendes: Je stärker die Merkmale einer Person als für ihre ethnische Kategorie typisch angesehen werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass Reaktionen ausgelöst werden, die auf ihrem ethnischen Hintergrund beruhen (Maddox 2004). In einer Studie mit 182 Polizisten fanden Eberhardt et al. (2004) heraus, dass »schwarze Gesichter für Polizisten krimineller aussehen; je schwärzer, desto krimineller«. Reflexartige Körperreaktionen: Der moderne biopsychosoziale Ansatz hat neurowissenschaftliche Studien hervorgebracht, die bei Menschen die unmittelbaren Reaktionen beim Anblick weißer und schwarzer Gesichter erfassen. Bei diesen Studien fand man ein implizites Vorurteil anhand der Gesichtsmuskelreaktionen und der Aktivierung der Amygdala, einem emotionsverarbeitenden Zentrum (Cunningham et al. 2004; Eberhardt 2005; Vanman et al. 2004). Selbst Menschen, die bewusst wenige Vorurteile äußern, senden möglicherweise verräterische Signale aus, wenn ihr Körper selektiv auf die Ethnie eines anderen Menschen reagiert. Wenn Sie einmal selbst Ihre Bauchgefühle überprüfen, dann kommen dabei manchmal Gefühle heraus, die Sie lieber nicht gegenüber anderen Menschen hätten. Aber seien Sie versichert: Sie sind nicht der oder die Einzige. Wichtig ist, was wir mit unseren Gefühlen machen. Indem wir unsere Gefühle und Handlungen beobachten und indem wir alte Gewohnheiten durch neue ersetzen, die auf neuen Freundschaften beruhen, können wir uns von Vorurteilen befreien.
Die gesellschaftlichen Wurzeln von Vorurteilen Ziel 15: Erörtern Sie die sozialen Faktoren, die zum Vorurteil beitragen.
Warum kommt es zur Bildung von Vorurteilen? Ungleichheiten, das Vorhandensein unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und die emotionale Suche nach einem Sündenbock gehören zu den Ursachen.
Soziale Ungleichheit Wenn es Menschen gibt, die Geld, Macht und Prestige haben, und andere, die diese Dinge nicht haben, dann entwickeln die Erstgenannten in der Regel Einstellungen, die diesen Zustand rechtfertigen. Im Extremfall haben Sklavenbesitzer die Sklaven als von Natur aus faul, ignorant und verantwortungslos wahrgenommen; sie schrieben ihnen also genau die Eigenschaften zu, die ihre
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Die Eigengruppe Bayern-Fans – hier in der »Meisterstimmung« der Saison 2007/2008, als München deutlich vor dem Erzrivalen Werder Bremen den Titel holte – teilen eine soziale Identität, die »uns« (die »Bayern«Eigengruppe) und »die anderen« (die BremenFremdgruppe) definiert
Eigengruppe (in-group): »Wir« – die Menschen, mit denen man eine gemeinsame Identität teilt. Fremdgruppe (out-group): »Sie« – diejenigen, die als verschieden oder getrennt von der eigenen Gruppe wahrgenommen werden. Eigengruppen-Verzerrung (in-group bias): Tendenz, die eigene Gruppe anderen vorzuziehen.
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»Alle guten Menschen stimmen überein, Und alle guten Menschen sagen, Nette Menschen sollen wie Wir selber sein Und wer anders ist, gehört zu Denen. Doch fährst du über das weite Meer Statt dich ans Fenster nur zu lehnen Kann es passieren (pass auf) Dass auch Wir selbst auf einmal sehr Aussehen wie eine Art von Denen.« Rudyard Kipling (»Wir und Die«, 1926)
Wut in Frankreich In Frankreich kippte im Jahre 2005 die Toleranz gegenüber den marginalisierten Mitgliedern ethnischer Gruppen, als sie eine Orgie der Zerstörung anzettelten
Wir und sie: Eigengruppe und Fremdgruppe Aufgrund unseres angestammten Bedürfnisses nach Zugehörigkeit (7 Kap. 12) sind wir eine Gruppen bildende Spezies. Wir feuern unsere Gruppe an, wir töten für sie, wir sterben für sie. Tatsächlich definieren wir uns selbst, d. h. unsere Identität, teilweise über Gruppenzugehörigkeiten. Die australischen Psychologen Turner (1987) und Hogg (1996) stellen fest, dass wir uns über unsere sozialen Identitäten als mit bestimmten Gruppen verbunden erleben und uns von anderen abgrenzen. Wenn Stefan sich als Mann, als Deutscher, als Mitglied der Grünen, als Student der Universität Bochum, als Katholik und als ein »Meyer« identifiziert, dann weiß er, wer er ist; und das trifft auch auf uns zu. Die soziale Definition dessen, wer ich bin, definiert auch, wer ich nicht bin. Wenn man im Geist einen Kreis zieht, der definiert, wer »wir« sind (Eigengruppe), schließt das gleichzeitig »die anderen« (Fremdgruppe) aus. Derartige Identifizierungen mit einer Gruppe fördern typischerweise einen Eigengruppen-Verzerrung, die Bevorzugung der eigenen Gruppe. Sogar wenn die Unterscheidung zwischen »uns« und »denen« auf reinem Zufall basiert, wenn Gruppen nach dem Zufallsprinzip des Münzwurfs zusammengestellt werden, führt dies dazu, dass Menschen ihre eigene Gruppe bevorzugen, wenn es darum geht, Belohnungen o. Ä. aufzuteilen (Tajfel 1982; Wilder 1981). Die Notwendigkeit, Feinde von Freunden zu unterscheiden und der eigenen Gruppe zu Dominanz zu verhelfen, legt den Grundstein für Vorurteile gegenüber Fremden (Whitley 1999). Für die Griechen des Altertums waren alle Nichtgriechen »Barbaren« (wörtlich: »Bärtige«). Die meisten Kinder glauben, dass ihre Schule besser ist als die anderen Schulen in der Stadt. Auf vielen höheren Schulen bilden die Schüler Cliquen – Kiffer, Gothic-Fans, Skater, Freaks – und machen alle schlecht, die außerhalb stehen. Sogar Schimpansen wurden dabei beobachtet, wie sie sich die Stelle abwischten, an der sie von einem Schimpansen aus einer anderen Gruppe berührt worden waren (Goodall 1986).
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Versklavung »rechtfertigten«. Weiter verbreitet ist die Wahrnehmung von Frauen als unsicher, aber gefühlvoll, was zu ihrer traditionellen Aufgabe der Kindererziehung passt (Hoffman u. Hurst 1990). Kurz gesagt: Durch Vorurteile werden Ungleichheiten als rational dargestellt. Diskriminierung lässt ebenfalls Vorurteile stärker werden, und zwar über die Reaktionen, die durch sie provoziert werden. In seinem klassischen Werk von 1954, »The Nature of Prejudice«, bemerkte Gordon Allport, dass Diskriminierung in einem Opfer entweder Schuldgefühle oder Wut auslöst. Beide Reaktionen können über die klassische Dynamik der Schuldzuweisung an das Opfer ein Nährboden für neue Vorurteile sein. Wenn die Lebensumstände der Armut zu einer höheren Kriminalitätsrate führen, kann genau diese höhere Rate dazu verwendet werden, die Diskriminierung gegenüber denjenigen zu rechtfertigen, die in Armut leben.
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Emotionale Wurzeln des Vorurteils Ziel 16: Erklären Sie, warum es sich um ein anschauliches Beispiel für die emotionale Komponente des Vorurteils handelt, wenn man jemanden zum Sündenbock macht.
Vorurteile gehen nicht nur darauf zurück, dass es unterschiedliche Gruppierungen in der Gesellschaft gibt, sondern auch auf Affekte. Unter lebensbedrohlichen Umständen nimmt der Patriotismus zu und Abscheu und Aggressionen entstehen gegenüber denen, die die eigene Weltanschauung bedrohen (Pyszczynski et al. 2002). Wenn man sich diese Bedrohung vergegenwärtigt, kann dies die Einstellungen ändern; dies geschah bei den Versuchsteilnehmern, die Landau et al. (2004) an ihre eigene Sterblichkeit oder den Schrecken des 11. September erinnerte. Die Erinnerung an den Schrecken verleitete sie dazu, Präsident Bush in stärkerem Maße zu unterstützen (ein Phänomen, das für die Wahlkampagne des Präsidenten 2004 genutzt wurde). Vorurteile können Wut ausdrücken: Wenn die Dinge schief laufen und man einen Schuldigen dafür ausmacht, hat man ein Ziel, einen Sündenbock für den Ärger. Nachdem die Siedler der Neuenglandstaaten im späten 17. Jahrhundert durch die Indianer und ihre französischen Verbündeten verheerende Verluste erlitten hatten, folterten sie Frauen und hängten sie auf, weil sie angeblich Hexen waren (Norton 2002). Nach dem 11. September 2001 ließen einige Menschen ihre Wut an unschuldigen Amerikanern arabischer Herkunft aus, über die die negativen Stereotype regelrecht ins Kraut schossen. Es mehrten sich auch die Rufe danach, Saddam Hussein zu beseitigen, der bis dahin von den Amerikanern zähneknirschend toleriert worden war. »Angst und Wut führen zu Aggressionen, und Aggressionen gegen Bürger verschiedener Abstammungen oder Rassen erzeugen Rassismus und, im Gegenzug, neue Formen von Terrorismus«, stellte Zimbardo (2001) fest. Belege für diese Sündenbocktheorie des Vorurteils liefern die stark ausgeprägte Vorurteilsbildung unter Menschen, die mit ihrer wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind, sowie Experimente, in denen eine zeitlich begrenzte Frustration die Vorurteile intensiviert. Bei Experimenten, in denen Schüler eine Niederlage erleben oder verunsichert werden, bauen diese oft ihr Selbstwertgefühl wieder auf, indem sie eine rivalisierende Schule oder eine andere Person abwerten (Cialdini u. Richardson 1980; Crocker et al. 1987). Wenn wir unser eigenes Statusgefühl heben wollen, nützen uns andere, die wir schlecht machen können. Aus diesem Grund bereitet uns das Pech eines Konkurrenten manchmal leises Vergnügen. Im Gegensatz dazu werden diejenigen, die sich geliebt und unterstützt fühlen, offener und toleranter gegenüber denen, die anders sind (Mikulincer u. Shaver 2001).
Kognitive Wurzeln von Vorurteilen Ziel 17: Geben Sie 4 Wege an, wie kognitive Prozesse dazu beitragen, ein Vorurteil entstehen zu lassen und es aufrechtzuerhalten.
Vorurteile entstehen aus gesellschaftlichen Ungleichheiten, aus starken Gefühlen und auch aus der Art, wie unser Denken von Natur aus funktioniert. Stereotype Überzeugungen sind eine Begleiterscheinung davon, dass wir die Welt kognitiv vereinfachen.
Sündenbocktheorie (scapegoat theory): besagt, dass Vorurteile ein Ventil für Aggressionen darstellen, indem sie jemanden als Schuldigen definieren.
Sehen Menschen, die einer anderen Ethnie wie wir selbst angehören, alle gleich aus? Ausländische Sonnenhungrige an den Stränden von Bali denken möglicherweise, dass es so ist. Balinesische Masseurinnen tragen zur leichteren Wiedererkennung für die Touristen Zahlen auf ihren Hüten, mit deren Hilfe man sie identifizieren kann
Eine Methode, um unsere Welt zu vereinfachen, ist die Bildung von Kategorien. Ein Chemiker kategorisiert Moleküle als organisch und anorganisch. Ein Psychiater kategorisiert psychische Störungen. Um Menschen in Gruppen kategorisieren zu können, müssen wir sie oft auf Stereotype reduzieren; dadurch wird unsere Wahrnehmung ihrer Vielfalt verzerrt. Wir erkennen, wie sehr wir uns von anderen Individuen in unserer Gruppe unterscheiden. Aber wir überschätzen die Ähnlichkeit von Personen in anderen Gruppen. »Die« (zu einer anderen Gruppe Gehörenden) scheinen alle gleich auszusehen und das Gleiche zu tun, aber »wir« unterscheiden uns voneinander (Bothwell et al. 1989). Für Menschen einer bestimmten ethnischen Gruppe wirken die Menschen einer anderen oft ähnlicher in ihrer Erscheinung, ihrer Persönlichkeit und ihren Meinungen, als es wirk-
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Kategorisierung
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
lich der Fall ist. Je mehr Erfahrungen Menschen mit einer anderen ethnischen Gruppe machen, desto besser können sie individuelle Gesichter aus dieser Gruppe wiedererkennen. Zum Beispiel identifizieren weiße Amerikaner individuelle Gesichter von schwarzen Menschen genauer, wenn sie sich sehr oft Basketball im Fernsehen ansehen. Denn dadurch werden sie mit vielen afroamerikanischen Gesichtern konfrontiert (Li et al. 1996).
Beeindruckende Fälle . Abb. 15.9. Deutliche Beispiele fördern die Bildung von Stereotypen Die islamischen Terroristen des 11. September haben in vielen Köpfen ein übertriebenes Stereotyp von Muslimen als potenziellen Attentätern geschaffen. Tatsächlich sind jedoch die meisten Terroristen keine Muslime, berichtete ein Ausschuss des National Research Council zum Terrorismus, als er diese ungenaue Illustration veröffentlichte, und »die große Mehrheit der islamischen Menschen habe keine Verbindung zum Terrorismus und sympathisiere auch nicht damit«. (Smelser u. Mitchell 2002)
Wie wir in 7 Kap. 10 gesehen haben, beurteilen wir die Häufigkeit von Ereignissen oft danach, wie schnell uns Beispiele dafür einfallen. In einem klassischen Experiment wiesen Rothbart et al. (1978) diese Fähigkeit nach, Fälle überzugeneralisieren, die uns besonders lebhaft in Erinnerung sind. Sie teilten Studierende in 2 Gruppen auf und gaben ihnen dann Informationen über 50 Menschen. Auf der Liste der ersten Gruppe waren 10 Menschen aufgeführt, die wegen nicht gewalttätiger Verbrechen, etwa Fälschung, inhaftiert waren. Die andere Gruppe erhielt eine Liste, auf der 10 Menschen aufgeführt waren, die wegen Gewaltverbrechen, beispielsweise Überfällen, inhaftiert waren. Als dann später beide Gruppen aus dem Gedächtnis sagen sollten, wie viele Männer von ihrer Liste irgendeine Art von Verbrechen begangen hatten, überschätzten die Mitglieder der zweiten Gruppe die Anzahl. Beeindruckende (gewalttätige) Fälle bleiben uns eher im Gedächtnis und beeinflussen unser Urteil über eine Gruppe (. Abb. 15.9).
Glaube an eine gerechte Welt
Gerechte-Welt-Glaube (just-world phenomenon): Tendenz von Menschen, zu glauben, dass die Welt gerecht ist und dass Menschen deshalb bekommen, was sie verdienen, und verdienen, was sie bekommen.
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Aggression (aggression): jedes körperliche oder verbale Verhalten, das mit der Absicht ausgeführt wird, zu verletzen oder zu zerstören.
Wie bereits ausgeführt, rechtfertigen Menschen ihre Vorurteile dadurch, dass sie diejgenigen, gegen die die Vorurteile gerichtet sind, für schuldig halten. Auch Zuschauer suchen die Schuld beim Opfer, weil sie davon ausgehen, dass die Welt gerecht ist, und deshalb »jeder kriegt, was er verdient«. Im Experiment genügte schon das bloße Zuschauen, wie jemand schmerzhafte Stromstöße verabreicht bekam, um schlechter von dem Opfer zu denken (Lerner 1980). Dieser Gerechte-Welt-Glaube (»just-world belief«) ist eine Vorstellung, die wir gern an unsere Kinder weitergeben: Das Gute wird belohnt, und das Böse wird bestraft. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass die Erfolgreichen auch gut sein müssen und die Leidenden schlecht. Aufgrund dieser Argumentation können die Reichen sowohl ihren eigenen Wohlstand als auch das Unglück der Armen als gerechtfertigt ansehen. Oder wie es ein deutscher Zivillist ausgedrückt haben soll, als er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das KZ Bergen-Belsen besuchte: »Was für schreckliche Verbrecher müssen diese Gefangenen gewesen sein, dass sie so behandelt wurden.« Das Phänomen der Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsight-Bias; 7 Kap. 1) spielt hier ebenfalls eine Rolle (Carli u. Leonard 1989). Haben Sie jemals jemanden über Opfer von Vergewaltigungen oder Missbrauch oder über Aidskranke sagen hören, dass diese bekommen hätten, was sie verdienten? In manchen Ländern werden Frauen nach einer Vergewaltigung hart bestraft mit der Begründung, dass sie ein Gesetz gegen Ehebruch verletzt hätten (Mydans 2002). Ein Experiment von Janoff-Bulman et al. (1985) illustriert dieses Phänomen der Schuldzuweisung an das Opfer (»blaming the victim«). Wenn die Teilnehmer die detaillierte Schilderung eines Treffens erhielten, das damit endete, dass die Frau vergewaltigt wurde, wurde das Verhalten der Frau zumindest teilweise dafür mit verantwortlich gemacht. Rückblickend dachten sie: »Sie hätte es besser wissen müssen.« (Dem Opfer die Schuld zu geben, dient Menschen auch zu ihrer eigenen Bestätigung, dass ihnen selbst so etwas nicht passieren könnte.) Andere, denen derselbe Ablauf geschildert worden war, nur ohne die Vergewaltigung am Schluss, beurteilten das Verhalten der Frau nicht so, dass es quasi zur Vergewaltigung eingeladen hätte.
15.3.2
Aggression
Ziel 18: Erklären Sie, inwiefern sich die psychologische Definition der Aggression von der Verwendung dieses Begriffs im Alltag unterscheidet.
Die destruktivste Kraft in unseren sozialen Beziehungen ist die Aggression. In der Psychologie hat Aggression eine genauer eingegrenzte Bedeutung als in der Alltagssprache. Der selbstbewusste,
beharrliche Verkäufer ist nicht aggressiv. Auch der Zahnarzt nicht, der Sie vor Schmerzen wimmern lässt. Aggressiv jedoch ist die Person, die ein übles Gerücht über Sie weitergibt, die Person, die Sie verbal angreift, und der Räuber, der Sie ausraubt. In der Psychologie gilt als Aggression jedes physische oder verbale Verhalten, mit dem die Absicht verfolgt wird, zu verletzen oder zu zerstören, egal ob es reaktiv aus Feindseligkeit entsteht oder aktiv als kalkuliertes Mittel zum Zweck fungiert. Morde und Überfälle, die als Ausbruch von Feindseligkeit verübt werden, sind also aggressiv. Dies gilt auch für die 110 Mio. Todesfälle, die im vergangenen Jahrhundert im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen zu verzeichnen waren, die in vielen Fällen kaltblütig und berechnend waren. Durch die Aggressionsforschung wird bestätigt, dass Verhalten aus einer Interaktion von Biologie und Erfahrung entsteht. Damit ein Revolver feuert, muss der Abzug gedrückt werden; bei manchen Leuten ist es wie bei Waffen, deren Abzug extrem leicht betätigt werden kann: Es braucht nicht viel, um den Schuss auszulösen. Sehen wir uns also erst die biologischen Faktoren an, die unsere Hemmschwelle für aggressives Verhalten beeinflussen, und anschließend die psychologischen Faktoren, die uns auf den Abzug drücken lassen.
Biologie der Aggression Ziel 19: Beschreiben Sie 3 Niveaus von biologischen Einflüssen auf die Aggression.
Aggression ist von Kultur zu Kultur, von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Person zu Person sehr unterschiedlich. Weil Aggression so variiert, kann man sie nicht als angeboren, sondern muss sie als erlernt ansehen. Aber die Biologie beeinflusst die Aggression. Reize, die aggressives Verhalten auslösen, wirken auf unser biologisches System. Wir können auf 3 Niveaus nach biologischen Einflussfaktoren suchen: auf dem genetischen, dem neuronalen und dem biochemischen Niveau. Unsere Gene bauen unser individuelles Nervensystem auf, das elektrochemisch funktioniert.
Genetische Einflussfaktoren Tiere werden so gezüchtet, dass sie aggressiv sind, manchmal auch für den Sport oder zu Forschungszwecken. Zwillingsstudien geben Hinweise darauf, dass Gene auch die menschliche Aggression beeinflussen (Miles u. Carey 1997; Rowe et al. 1999). Wenn ein Zwilling eines eineiigen Paares zugesteht, »ein zu Gewalt neigendes Temperament« zu haben, gibt der andere Zwilling oft unabhängig davon dasselbe zu. Bei zweieiigen Zwillingen ist die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass sie die gleiche Antwort geben. Forscher suchen jetzt nach genetischen Besonderheiten bei denen, die am meisten Gewalt ausüben. (Eine ist bereits gut bekannt und bei der Hälfte der Menschheit vorhanden: das Y-Chromosom.)
Neuronale Einflussfaktoren Die Gehirne von Tieren und Menschen enthalten neuronale Netzwerke, die aggressives Verhalten entweder hemmen oder hervorrufen, wenn sie stimuliert werden (Moyer 1983). Dazu folgende Hinweise: 4 Der dominante Anführer einer in Gefangenschaft lebenden Affenkolonie bekam eine über Funk kontrollierbare Elektrode in ein Hirnareal implantiert, das Aggression hemmt, wenn es stimuliert wird. Nachdem die Forscher einen Schalter im Käfig installiert hatten, mit der die Elektrode aktiviert werden konnte, lernte ein kleiner Affe, diesen Schalter zu drücken, wann immer der Boss bedrohlich wurde. 4 Einer sanftmütigen Frau wurde von Neurochirurgen, die nach der Diagnose für eine Störung suchten, eine Elektrode ins limbische System ihres Gehirns (in die Amygdala) eingesetzt. Weil das Gehirn keine sensorischen Rezeptoren hat, konnte sie die Stimulation nicht spüren. Aber einen Augenblick später knurrte sie: »Messen Sie meinen Blutdruck. Und zwar sofort.« Dann stand sie auf und fing an, auf den Arzt einzuschlagen. 4 Eine intensive Auswertung anhand von 15 Insassen eines Gefängnisses, in dem die Gefangenen auf die Vollstreckung der Todesstrafe warteten, ergab, dass alle 15 in der Vergangenheit schwere Kopfverletzungen erlitten hatten. Obwohl die meisten neurologisch beeinträchtigten Menschen nicht gewalttätig sind, schlossen Lewis et al. (1986) daraus, dass nicht diagnostizier-
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C. Styrsky
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Auch das moderne männliche Revierverhalten lässt zeitweise noch vorgeschichtliche Züge erkennen. In den letzten 25 Jahren wurden in den USA etwa 800.000 Suizide, Morde und fahrlässige Tötungen durch Schusswaffen verursacht. Verglichen mit Menschen, die hinsichtlich Geschlecht, Ethnie, Alter und Wohnumfeld dieselben Voraussetzungen haben, tragen diejenigen mit einer Waffe im Haus (paradoxerweise als Selbstschutz gedacht) ein 3-fach höheres Risiko, zu Hause ermordet zu werden – fast immer von einem Familienmitglied oder einem nahen Bekannten. Auf jeden Gebrauch der Waffe zur Selbstverteidigung kommen 4 unbeabsichtigte Schüsse, 7 kriminelle Angriffe oder Morde sowie 11 Suizidversuche oder vollzogene Suizide (Kellermann et al. 1993, 1997, 1998).
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
© The New Yorker Collection,1995. Donald Reilly from cartoonbank.com. All rights reserved.
te neurologische Störungen ein Faktor sein können, aus dem Gewalttaten entstehen. Studien über Gewaltverbrecher haben eine verminderte Aktivität in den Frontallappen gezeigt, die eine wichtige Rolle bei der Impulskontrolle spielen (Amen et al. 1996; Davidson et al. 2000; Raine 1999). Gibt es im Gehirn also ein »Gewaltzentrum«, das Aggression hervorruft, wenn es stimuliert wird? Tatsächlich gibt es nicht einen einzelnen Punkt im Gehirn, der die Aggression steuert, denn Aggression ist ein komplexes Verhalten, das in bestimmten Kontexten auftritt. Es ist eher so, dass sich im Gehirn neuronale Netzwerke befinden, die das Auftreten von Aggression fördern, wenn es zu einer Provokation kommt. Und es gibt das System der Frontallappen, das Aggressionen hemmt und dessen Beschädigung, Inaktivierung, Abtrennung oder noch nicht vollständige Reifung das Auftreten von Aggression fördert.
Biochemische Einflussfaktoren Hormone, Alkohol und andere Substanzen im Blut beeinflussen das neuronale System, das Aggressionen steuert. Ein wilder Stier wird zu einem zahmen Ochsen, wenn eine Kastration seinen Testosteronspiegel verringert. Dasselbe passiert mit kastrierten Mäusen. Wenn den kastrierten Mäusen dann Testosteron injiziert wird, werden sie wieder aggressiv. Obwohl Menschen weniger sensibel auf hormonelle Veränderungen reagieren, sind gewalttätige Kriminelle häufig muskulöse junge Männer mit einem unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, niedrigem Spiegel des Neurotransmitters Serotonin und überdurchschnittlich hohem Testosteronspiegel (Dabbs et al. 2001a; Pendick 1994). Medikamente, die ihren Testosteronspiegel deutlich verringern, hemmen auch ihre aggressiven Neigungen. Ein hoher Testosteronspiegel korreliert mit Reizbarkeit, geringer Frustrationstoleranz, Selbstsicherheit und Impulsivität – Qualitäten, die dazu prädisponieren, auf Provokationen etwas aggressiver zu reagieren (Dabbs et al. 2001b; Harris 1999). Sowohl unter männlichen Jugendlichen als auch unter erwachsenen Männern korreliert ein hoher Testosteronspiegel mit Delinquenz, dem Konsum harter Drogen und aggressiv-lautstarken Reaktionen auf Frustration (Berman et al. 1993; Dabbs u. Morris 1990; Olweus et al. 1988). Mit zunehmendem Alter verringern sich der Testosteronspiegel – und die Aggressivität. Hormone und Verhalten beeinflussen sich wechselseitig. Testosteron erhöht die Dominanz und die Aggressivität. Aber ein dominantes Auftreten treibt auch den Testosteronspiegel in die Höhe (Mazur u. Booth 1998). In einer Untersuchung wurde der Testosteronspiegel im Speichel männlicher Studenten, die Basketballfans waren, vor und nach einem wichtigen Spiel gemessen. Der Testosteronspiegel war bei den Fans angestiegen, deren Mannschaft gewonnen hatte, und bei denen gesunken, die verloren hatten (Bernhardt et al. 1998). Sowohl aus biologischen als auch aus psychologischen Gründen verleitet Alkohol zu aggressiven Reaktionen auf Frustrationen (Bushman 1993; Ito et al. 1996; Taylor u. Chermack 1993). (Allein zu denken, man hätte Alkohol getrunken, hat schon einen Effekt in dieser Richtung; aber ebenso, wenn einem Getränk Alkohol zugesetzt wurde, ohne dass man es wusste.) Polizeiliche
»Männer!«
»Wir könnten zwei Drittel aller Verbrechen vermeiden, einfach indem wir alle kräftigen jungen Männer im Alter von 12 bis 28 Jahren in einen kryptogenetischen Schlaf versetzen.« David T. Lykken (»The Antisocial Personalities«, 1995)
Mitsuaki Iwago/Minden Pictures
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Eine kleine Kampfmaschine: die weibliche Hyäne voller Testosteron Die ungewöhnliche Embryonalentwicklung der Hyäne bewirkt, dass weibliche Föten viel Testosteron im Blut haben. Das Ergebnis sind aufgedrehte, junge weibliche Hyänen, die wie zum Kampf geboren zu sein scheinen
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Daten und Erhebungen in Gefängnissen bestätigen die Schlussfolgerungen, die aus Experimenten zu Alkohol und Aggression gezogen wurden. Wer zu Aggressionen neigt, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit trinken und im Rausch gewalttätig werden (White et al. 1993). Menschen, die getrunken haben, begehen 4 von 10 gewalttätigen Straftaten und 3 von 4 Vergewaltigungen in der Partnerschaft (Greenfeld 1998).
Psychologie der Aggression Ziel 20: Skizzieren Sie 4 psychologische Auslöser von Aggression.
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Biologische Faktoren beeinflussen die Leichtigkeit, mit der der Abzug betätigt werden kann. Aber welche psychologischen Faktoren führen dazu, dass man dies dann auch tut?
Aversive Ereignisse Obwohl unangenehme und belastende Erfahrungen manchmal den Charakter stärken, können sie auch das Schlechteste in uns zum Vorschein bringen. Studien, bei denen Tiere oder Menschen unangenehme Erfahrungen machen mussten, zeigten, dass die Unglücklichen oft auch andere unglücklich machten (Berkowitz 1983, 1989). Kurz vor dem Ziel aufgehalten zu werden, verstärkt auch die Bereitschaft von Menschen zu aggressivem Verhalten. Dieses Phänomen wird Frustrations-Aggressions-Prinzip genannt: Durch Frustration entsteht Wut, die bei manchen Menschen zu Aggressionen führen kann, besonders wenn ein aggressiver Hinweisreiz vorhanden ist (z. B. eine Waffe). In 7 Kap. 16 werden Sie noch sehen, dass Organismen auf Stress oft mit einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion antworten. Auf die Frustration und den Stress des 11. September reagierten die Amerikaner mit einer erhöhten Kampfbereitschaft. Terrorismus kann in ähnlicher Weise auf ein Rachebedürfnis zurückgehen, manchmal nachdem ein Freund oder ein Familienmitglied getötet oder verletzt wurde. Wie Frustrationen, so können auch andere aversive Reize, wie z. B. körperliche Schmerzen, persönliche Beleidigungen, üble Gerüche, hohe Temperaturen, Zigarettenrauch und große Menschenmengen feindselige Gefühle hervorrufen. So kommen z. B. Gewaltverbrechen und Vergewaltigung in der Partnerschaft in heißen Jahren, Jahreszeiten, Monaten und an heißen Tagen im Schnitt häufiger vor (. Abb. 15.10). Wenn es für Menschen heißer als gewöhnlich ist, denken, fühlen und handeln sie aggressiver. Auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten sagen Anderson et al. (2000) vorher, dass – sofern die anderen Bedingungen gleich bleiben – die globale Erwärmung um 4° Fahrenheit (etwa 2° Celsius) zu mehr als 50.000 zusätzlichen Vergewaltigungen und Morden allein in den USA führen würde.
Frustrations-Aggressions-Prinzip (frustrationaggression principle): besagt, dass durch Frustration, d. h. wenn man daran gehindert wird, ein Ziel zu erreichen, Wut entsteht, die zu Aggressionen führen kann.
. Abb. 15.10. Unangenehm heißes Wetter und aggressive Reaktionen Von 1980 bis 1982 waren Morde und Vergewaltigungen an Tagen mit über 91°Fahrenheit (33°Celsius) in Houston nichts Ungewöhnliches, wie die Grafik zeigt. Dieser Befund stimmt überein mit den Ergebnissen aus Laborexperimenten, bei denen Menschen, die in einem heißen Raum arbeiteten, mit größerer Feindseligkeit auf Provokationen reagierten. (Aus Anderson u. Anderson 1984)
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6,5
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Deindividuation + Wettbewerb + Alkohol = Aggression Durch Ausschreitungen bei einem Fußballspiel in Brüssel 1985 kamen 38 Personen ums Leben, 437 wurden verletzt. Erregt durch den Wettstreit und vollgetankt mit Alkohol, verloren die englischen Fans jede Hemmung, als sie von den italienischen provoziert wurden. Sie griffen die Italiener an, die zurückwichen und dann gegen eine Wand gequetscht wurden
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Ächtung kann, wie in 7 Kap. 12 angemerkt, echtes Leid bedeuten. In einer Reihe von Studien sagten Twenge et al. (2001, 2002, 2003) einigen Personen, dass andere, die sie getroffen hatten, sie nicht in ihrer Gruppe haben wollten, oder dass ein Persönlichkeitstest darauf hindeute, dass »sie wahrscheinlich später im Leben allein sein werden«. Diejenigen, die dazu verleitet wurden, sich sozial ausgeschlossen zu fühlen, neigten eher dazu, jemanden, der sie beleidigt hatte, herabzusetzen oder gar laut gegen ihn zu werden. Diese durch Ablehnung hervorgerufene Aggression erinnert an eine Reihe von Schießereien in nordamerikanischen und europäischen Schulen. Diese wurden von Jugendlichen begangen, die von Gleichaltrigen gemieden und verspottet worden waren. Andere Studien bestätigen, dass Ablehnung die Aggression oft intensiver werden lässt (Catanese u. Tice 2005; Gaertner u. Iuzzini 2005).
Lernen, dass Aggressionen belohnt werden
»Warum töten wir Menschen, die Menschen töten, um zu zeigen, dass es falsch ist, Menschen zu töten?« National Coalition to Abolish the Death Penalty, US-amerikanische Koalition zur Abschaffung der Todesstrafe (1992)
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Aggression ist möglicherweise eine natürliche Reaktion auf aversive Ereignisse, aber Lernen kann die natürlichen Reaktionen verändern. Von Natur aus fressen Tiere, wenn sie hungrig sind. Aber wenn sie entsprechend belohnt oder bestraft werden, kann man ihnen beibringen, sich entweder zu überfressen oder zu verhungern. Wir reagieren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit aggressiv in Situationen, in denen die Erfahrung uns gelehrt hat, dass Aggression sich auszahlt. Kinder, deren Aggression andere Kinder mit Erfolg einschüchtert, werden vielleicht noch aggressiver. Tiere, die erfolgreich um Futter oder Paarung gekämpft haben, werden zunehmend wilder. Verschiedene Kulturen haben hinsichtlich Gewalt unterschiedliche Vorbilder: Sie verstärken und evozieren unterschiedliche Verhaltenstendenzen. So sind z. B. die Verbrechensraten höher (und das durchschnittliche Glücksgefühl geringer) in Ländern, die durch eine große Diskrepanz zwischen Reich und Arm gekennzeichnet sind (Triandis 1994). Nisbett u. Cohen (1996) zeigen, welche Unterschiede in Bezug auf Gewalt es von Kultur zu Kultur und innerhalb eines Landes gibt. Sie analysierten Gewalttaten unter weißen Amerikanern in Städten der amerikanischen Südstaaten, die durch schottische und irische Hirten besiedelt worden waren. In ihrer Tradition wurden die »Mannesehre«, der Waffengebrauch zum Schutz der Herde und die Geschichte der Zwangsversklavung betont. Die Abkömmlinge aus dieser Kultur sind drei Mal so häufig an Morden beteiligt und unterstützen in stärkerem Maße die körperliche Züchtigung von Kindern, Initiativen für einen Krieg und den unkontrollierten Waffenbesitz als ihre weißen Pendants in den Städten Neuenglands, die von Puritanern, Quäkern sowie von holländischen Bauern und Handwerkern gegründet wurden. Sozialer Einfluss zeigt sich auch darin, dass Gewalt häufig in Kulturen und Familien vorkommt, in denen es wenig väterliche Zuwendung gibt (Triandis 1994). So berichtete das amerikanische Bureau of Justice Statistics, dass 70% der inhaftierten Jugendlichen nicht mit beiden Elternteilen aufgewachsen sind (Beck et al. 1988). (Wenn ein Elternteil abwesend ist, dann ist es in der Regel der Vater.) Die Korrelation zwischen Abwesenheit des Vaters und Gewalt gilt in den USA für alle Rassen, Einkommensklassen und Orte (Myers 2000); dies lässt jedoch keine Aussage über Ursache und Wirkung zu. Es ist wichtig, zu erwähnen, wie viele Individuen auch trotz sozialer Stressoren ein friedliches Leben führen, ohne gewalttätig zu werden. Das erinnert uns erneut daran, dass sich Menschen voneinander unterscheiden. Die Person ist wichtig. Dass sich die Menschen unterscheiden, je nachdem, in welcher Zeit der Geschichte und an welchem Ort der Welt sie leben, erinnert uns daran, dass die Umwelt unterschiedlich ist. Aus den plündernden Wikingern von gestern sind heute friedliebende Skandinavier geworden. Wie jedes Verhalten entsteht auch Aggression aus einer Interaktion von Personen und Situationen. ! Sind aggressive Verhaltensmuster erst einmal etabliert, lassen sie sich nur schwer wieder verändern.
Um eine freundlichere, liebevollere Welt zu fördern, wäre es das Beste, wenn Sensibilität und Kooperationsfähigkeit schon im frühen Alter vorgelebt und belohnt würden, z. B. indem den Eltern beigebracht würde, gewaltfrei zu erziehen. Denn Gewalt vormachen – schreien und schlagen – ist genau das, was erschöpfte Eltern oft tun. Eltern straffällig gewordener Jugendlicher disziplinieren ihre Kinder typischerweise durch Schläge; dadurch stellen sie Aggression als eine vorbild-
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liche Methode hin, um mit Problemen umzugehen (Patterson et al. 1982, 1992). Sie werden auch häufig weich, wenn ihre Kinder weinen und einen Wutausbruch haben (Belohnung). Bei Elterntrainingsprogrammen gibt man Tipps für eine positivere Vorgehensweise. Durch diese Programme werden Eltern ermutigt, erwünschte Verhaltensweisen zu verstärken und ihre Aussagen positiv zu formulieren (»Wenn du die Spülmaschine fertig eingeräumt hast, kannst du spielen gehen«, statt »Wenn du die Spülmaschine nicht einräumst, ist nichts mit Spielen.«) Ein »Aggressionsersatzprogramm«, mit dessen Hilfe die Häufigkeit erneuter Verhaftungen jugendlicher Straftäter und Bandenmitglieder gesenkt wurde, brachte den Jugendlichen und ihren Eltern Kommunikationsfertigkeiten bei, trainierte sie darin, wie man seine Wut in den Griff bekommen kann, und förderte eine überlegtere, an Moral orientierte Art zu argumentieren (Goldstein et al. 1998).
Beobachtung von Vorbildern für Aggression Eltern sind kaum die einzigen Modelle für Aggression. Wie wir in 7 Kap. 8 gesehen haben, werden Menschen durch das Beobachten von Gewalt im Fernsehen tendenziell unsensibler und sind eher dazu bereit, auf Provokationen aggressiv zu reagieren. Gilt diese Medienwirkung auch für sexuelle Gewalt? Das Risiko für eine Frau, vergewaltigt zu werden, war in verschiedenen Zeiten und Kulturen unterschiedlich hoch, und sie war am Ende des letzten Jahrhunderts höher als vor 50 Jahren (Koss et al. 1994; Tjaden u. Thoennes 2000). In Umfragen gab etwa ein Fünftel der Frauen an, von einem Mann mit Druck zu einer sexuellen Handlung gebracht worden zu sein, etwa die Hälfte, sie hätten mit einer Form sexuellen Zwangs Erfahrung gemacht, und die meisten, sie hätten bereits eine verbale sexuelle Belästigung erlebt (Craig et al. 1989; Laumann et al. 1994; Sandberg et al. 1985). Umfragen in Kanada, Australien und Neuseeland erbrachten ähnliche Zahlen in Bezug auf die sexuelle Unterdrückung (Koss et al. 1994; Patton u. Mannison 1995). In Deutschland ergaben Studien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001), dass jede 7. Frau schon einmal sexuelle Gewalt erfahren hat. 72% der Frauen gaben an, bereits einmal sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen zu sein. Welche Faktoren können diese gestiegene sexuelle Aggression erklären? Der Alkoholkonsum – oft verbunden mit sexueller Aggression – hat nicht zugenommen. Wir wissen, dass der typische Mann, der sexuellen Zwang ausübt, sexuell ungebunden und feindselig in seinen Beziehungen zu Frauen ist (. Abb. 15.11). Könnten Veränderungen in den Medien zu diesen Tendenzen beigetragen haben? Die Zunahme der sexuellen Aggression fällt zusammen mit dem Aufkommen von Videos, die mehr oder weniger extreme sexuelle Gewalt darstellen. Inhaltsanalysen zeigen, dass in den meisten Filmen, die nicht für Jugendliche unter 18 Jahren freigegeben sind, schneller Gelegenheitssex zwischen Fremden dargestellt wird, dass aber auch durchaus Szenen gezeigt werden, in denen Frauen von Männern vergewaltigt und sexuell ausgebeutet werden (Cowan et al. 1988; NCTV 1987; Yang u. Linz 1990). Allein in den USA werden mit pornographischen Videos, Pornographie durch »pay-per-view« und auf Internetseiten 10–14 Mrd. Dollar umgesetzt – wie die »New York Times« anmerkt ein Geschäft, das größer ist als Profi-Football, Basketball und Baseball zusammen (Rich 2001). Bei einer Umfrage gaben 10% der Studentinnen und 28,4% der Studenten zu, sich häufiger als nur »selten« sexuell explizites Material im Internet anzusehen. Obwohl das explosionsartige Wachstum der Internetpornographie nicht zu einer weiteren Zunahme der angezeigten Vergewaltigungen führte, stellen Forscher dennoch die Frage, ob die Bilder sexueller Ausbeutung die sexuelle Aggression fördern. Häufig stellen Vergewaltigungsszenen das Opfer so dar, dass es erst flüchtet und dann dem Angreifer Widerstand leistet, um dann doch erregt zu werden und schließlich in Ekstase zu geraten. In weniger drastischer Form taucht dieses unrealistische Skript – sie wehrt sich, er lässt nicht locker, sie schmilzt dahin – auch im Fernsehen und romantischen Erzählungen auf. In »Vom Winde verweht« wird Scarlett O’Hara schreiend ins Bett getragen und wacht singend wieder auf. Die meisten Vergewaltiger halten diesen Mythos für wahr – die Vorstellung, dass manche Frauen zu Vergewaltigung einladen, sie genießen und »hingerissen sind«, wenn sie »genommen werden« (Brinson 1992). (In Wirklichkeit ist eine Vergewaltigung traumatisch, und häufig nehmen – ganz abgesehen von dem psychischen Trauma – dadurch die sexuelle Gesundheit und die Gebärfähigkeit der Frau Schaden [Golding 1996].)
. Abb. 15.11. Männer, die Frauen sexuell nötigen Sexuelle Nötigung von Frauen geht auf die Überzeugung zurück, dass Sex unpersönlich ist, und tritt in Kombination mit feindseligem Macho-Gehabe auf. (Nach Malamuth 1996)
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
In Interviews berichten kanadische und amerikanische Sexualstraftäter von einem ungewöhnlich großen Verlangen nach sexuell eindeutigem und in der Regel Gewalt verherrlichendem, pornographischem Material (Marshall 1989; Ressler et al. 1988; Oddone-Paolucci et al. 2000). Beispielsweise berichtete das Los Angeles Police Department, dass in 62% der Fälle von Kindesmissbrauch außerhalb der Familie während der 1980er Jahre »verdächtig oft« pornographisches Material gefunden wurde (Bennett 1991). Aber nutzen Straftäter bei sexuellen Delikten, wie der Sexualforscher Money (1988) vermutete, Pornographie »als Alibi, um sich selbst und ihren Polizisten zu erklären, was ansonsten unerklärlich wäre«? Laborexperimente zeigen Folgendes: Wer wiederholt nicht jugendfreie pornographische Filme (sogar, wenn sie keine Gewalt enthalten) ansieht, für den wirkt später der eigene Partner weniger attraktiv, die Freundlichkeit einer Frau eher sexualisiert und von dem wird sexuelle Aggression als weniger schwerwiegend angesehen (Harris 1994). In einem solchen Experiment zeigten Zillmann u. Bryant (1984) Studenten 6 kurze, sexuell eindeutige Filme pro Woche über einen Zeitraum von 6 Wochen. Eine Kontrollgruppe sah während derselben Zeit nichterotische Filme. Drei Wochen später lasen beide Gruppen einen Zeitungsbericht über einen Mann, der für schuldig befunden worden war, eine Tramperin vergewaltigt zu haben, aber noch nicht verurteilt war. Darum gebeten, eine angemessene Gefängnisstrafe vorzuschlagen, nannten diejenigen, die die pornographischen Filme gesehen hatten, Strafen, die halb so hoch waren wie die Empfehlungen der Kontrollgruppe. Bei Experimenten kann man keine tatsächliche sexuelle Gewalt auslösen; doch kann man hier erfassen, wie hoch die Bereitschaft eines Mannes ist, eine Frau zu verletzen. In der Forschung wird der Effekt gewaltverherrlichender versus gewaltloser erotischer Filme oft daran gemessen, wie sehr ein Mann dazu bereit ist, einer Frau, die Männer zuvor provoziert hat, für real gehaltene Stromstöße zuzufügen. Diese Experimente legen nahe, dass es nicht die Erotik, sondern die Darstellung sexueller Gewalt ist, die sich bei Männern am unmittelbarsten darauf auswirkt, dass Gewalt gegen Frauen akzeptiert und ausgeführt wird. Bei einer Konferenz von 21 Sozialwissenschaftlern, unter ihnen viele der Forscher, die diese Experimente durchgeführt hatten, wurde ein Konsenspapier verabschiedet (Surgeon General 1986): »Pornographie, die sexuelle Aggression als Vergnügen für das Opfer darstellt, lässt die Akzeptanz und die Anwendung von Gewalt in sexuellen Beziehungen zunehmen.« Im Widerspruch zu einer verbreiteten Ansicht wirkt das Betrachten solcher Darstellungen nicht als Ventil für aufgestaute Impulse. Vielmehr zeigt sich »in Laboruntersuchungen, die die kurzfristigen Effekte messen, dass die Konfrontation mit pornographischem Material ein strafendes Verhalten gegenüber Frauen verstärkt«.
Aneignung sozialer Skripte
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Bedeutsame Verhaltensweisen wie Gewalttätigkeit haben in der Regel viele Determinanten, was jede einzelne Erklärung zu einer Übervereinfachung macht. Wenn man fragt, was die Ursache von Gewalt ist, lässt sich das mit der Frage vergleichen, was die Ursache von Krebs ist. Diejenigen, die die Auswirkungen von Asbest auf Krebserkrankungen untersuchen, können uns daran erinnern, dass Asbest in der Tat eine Ursache von Krebs ist, doch nur eine unter vielen. Entsprechend berichten Malamuth et al. (1991, 1995), dass viele Faktoren eine Prädisposition für sexuelle Gewalt schaffen können. Dazu gehören die Medien, aber auch Dominanzmotive, Enthemmung durch Alkohol und eine Missbrauchserfahrung in der eigenen Biographie. Dennoch, wenn Darstellungen von Gewalt in den Medien enthemmen und unsensibel machen können, wenn das Betrachten von sexueller Gewalt feindselige, dominierende Einstellungen und Verhaltensweisen fördert und wenn das Anschauen von Pornographie dazu führt, Vergewaltigung zu bagatellisieren und den eigenen Partner zu entwerten, dann ist der Einfluss der Medien kein peripheres Thema. Sozialpsychologen führen den Einfluss der Medien zum Teil auf die sozialen Skripte zurück, die sie beschreiben (ein Film, der im Kopf abläuft und von unserer Kultur bereitgestellt wird, damit man weiß, wie man sich verhalten soll). Wenn wir uns in neuen Situationen befinden und unsicher sind, wie wir uns verhalten sollen, verlassen wir uns auf soziale Skripte. Nach ungezählten Actionfilmen kann es sein, dass die jungen Zuschauer ein Skript erlernen, das abgespielt wird, wenn sie im realen Leben einen Konflikt erleben. Wenn sie sich bedroht fühlen, können sie »ihren Mann stehen«, indem sie den Angreifer einschüchtern oder die Gefahr beseitigen. In gleicher Weise können Jugendliche sexuelle Skripts erwerben, die sie später in ihren realen Beziehungen umset-
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zen, weil sie die vielfältigen sexuellen Anspielungen und Handlungen im Fernsehen – meistens zur Hauptsendezeit – anschauten, in denen oft impulsive oder kurzfristige Beziehungen eine Rolle spielen (Kunkel et al. 2001; Sapolsky u. Tabarlet 1991). Kann das Bewusstsein der Öffentlichkeit sensibilisiert werden, wenn man den Menschen die Informationen bewusst macht, die Sie eben gelesen haben (7 Unter der Lupe: »Parallelen zwischen der Wirkung von Rauchen und medialer Gewalt«)? In den 1940ern wurde der Afroamerikaner in Filmen oft als kindlicher, abergläubischer Hanswurst dargestellt. Heute würde so eine Darstellung nicht mehr toleriert. In den 60er und 70er Jahren kam es vor, dass Rockmusik und Filme den Drogenkonsum glorifizierten. Als Antwort auf eine zeitgeschichtliche Veränderung kultureller Einstellungen zeigt die Unterhaltungsindustrie jetzt eher die dunklen Seiten des Drogenmissbrauchs. Die Reaktion auf die wachsende öffentliche Besorgnis über Gewalt in den Medien führte dazu, dass die Darstellung von Gewalt im Fernsehen seit Anfang der 90er Jahre zurückging (Gerbner et al. 1993). Die wachsende Sensibilität gegenüber Gewalt lässt hoffen, dass Entertainer, Produzenten und Zuschauer eines Tages mit Empörung auf die Tage zurückschauen werden, in denen Filme mit Folter-, Verstümmelungs- und sexuellen Gewaltszenen »zur Unterhaltung« gezeigt wurden.
Führen Videospiele zu Gewalt? Ziel 21: Erörtern Sie die Auswirkungen gewalttätiger Videospiele auf soziale Einstellungen und auf das Verhalten.
Abstumpfung gegenüber Gewalt
Foto: Dietmar Gust
Gewalthaltige Videospiele wurden nach den Morden durch Teenager in Paducah (Kentucky), in Littleton (Colorado) und an mehr als einem Dutzend anderer Orte zum Thema der öffentlichen Diskussion. Damals schien es so, als hätten die jugendlichen Täter die Gemetzel aus ihren SplatterSpielen nachgeahmt, die sie so oft gespielt hatten. Drei junge Männer aus Grand Rapid (Michigan) verbrachten 2002 einen Teil der Nacht damit, Bier zu trinken und ein Computer-Spiel namens »Grand Theft Auto III« zu spielen, in dem Autos dazu verwendet werden, Fußgänger umzufahren, die dann mit Fäusten geschlagen und als blutige Leichen zurückgelassen werden (Kolker 2002). Anschließend gingen sie hinaus, um wirklich Auto zu fahren, begegneten einem 38-jährigen Mann auf einem Fahrrad, fuhren ihn mit dem Auto um, stiegen aus, prügelten ihn, traten auf ihn ein und kehrten nach Hause zurück, um weiterzuspielen. (Der Mann, ein dreifacher Vater, starb 6 Tage später.) Lernen junge Menschen soziale Skripts, wenn sie solche Spiele spielen? Interaktive Spiele führen den Spieler in eine eigene, lebendige Realität hinein. Wenn Jugendliche »Grand Theft Auto: San Andreas« spielen, können sie Autos entführen, Fußgänger überfahren, im Vorbeifahren auf andere Wagen schießen, eine Prostituierte aufgabeln, mit ihr ins Bett gehen und sie dann töten. Welches Skript haben sie auf diese Weise gelernt? Die meisten missbrauchten Kinder werden selbst nicht zu missbrauchenden Erwachsenen. Und die meisten jungen Leute, die Hunderte von Stunden mit diesen Massenmordsimulationen verbringen, werden nicht zu jugendlichen Mördern. Da uns Rauchen und Kindesmissbrauch als Risikofaktoren bekannt sind, fragen wir uns: Wenn das passive Anschauen von Gewalt die aggressiven Reaktionen auf eine Provokation ansteigen lässt und die Sensibilität für Grausamkeiten verringert, worin besteht dann die Wirkung eines aktiven, aggressiven Rollenspiels? Auch wenn sehr wenige tatsächlich ein Blutbad anrichten werden, wie viele werden unsensibel gegenüber Gewalt und anfälliger für Gewaltakte sein? Achtunddreißig neuere Studien mit mehr als 7000 Teilnehmern geben darauf einige Antworten (Anderson et al. 2004). Ballard u. Wiest (1998) beobachteten bei männlichen Studierenden, wenn sie »Mortal Kombat« spielten, einen Anstieg des Erregungsniveaus und feindseliger Gefühle. In anderen Studien hat man herausgefunden, dass Videospiele aggressive Gedanken vorbereiten und einen Anstieg der Aggression bewirken. Denken Sie einmal über die folgenden Ergebnisse von Anderson u. Dill (2000) nach: Männliche Studierende, die die meisten Stunden mit Gewaltvideospielen verbracht hatten,
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
. Abb. 15.12. Biopsychosoziales Verständnis der Aggression Viele Faktoren tragen zu aggressivem Verhalten bei, doch es gibt auch viele Möglichkeiten, gegen diese Einflüsse anzukämpfen. Und dazu gehören, dass man es lernt, mit Wut umzugehen und zu kommunizieren, und dass man Gewalt in den Medien und in Videospielen meidet
neigten auch am stärksten dazu, körperlich aggressiv zu sein (z. B. gaben sie zu, schon einmal jemanden geschlagen oder angegriffen zu haben). In einem Experiment wurden diejenigen feindseliger, die per Zufall dazu ausgesucht wurden, ein Spiel zu spielen, in dem blutige Morde und stöhnende Opfer vorkamen (im Vergleich zu den Spielern des gewaltfreien Spiels »Myst«). In einer Folgeaufgabe waren sie auch diejenigen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Mitstudenten intensivem Lärm aussetzten. Studien an jungen Erwachsenen von Gentile et al. (2004) zeigen zudem, dass Kinder, die oft gewalttätige Videospiele spielen, die Welt als feindseliger ansehen, sich häufiger streiten oder prügeln und schlechtere Noten bekommen (durch die Spiele haben sie nicht mehr so viel Zeit, zu lesen oder sich auf den Unterricht vorzubereiten). Aber liegt das nicht nur daran, dass sich feindselige Kinder aufgrund ihrer Anlage zu solchen Spielen hingezogen fühlen? Nein, sagt Gentile. Sogar unter Spielern gewalttätiger Spiele, die geringe Werte in Bezug auf Feindseligkeit aufweisen, waren die 38%, die sich an körperlichen Auseinandersetzungen beteiligt hatten, fast 10 Mal so viele wie die 4% unter ihren Altersgenossen, die solche Spiele nicht spielten. Mehr noch, diejenigen, die diese Spiele nicht spielten, waren nur dann mit größerer Wahrscheinlichkeit in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt, wenn sie anfingen, gewalttätige Spiele zu spielen. Anderson (2004a) glaubt, dass u. a. aufgrund der häufigen Wiederholungen und der aktiven Teilnahme an solchen Spielen Videospiele, in denen es um die Anwendung von Gewalt geht, sogar Auswirkungen haben, die stärker sind »als die gut dokumentierten Auswirkungen von Gewalt auf die Zuschauer beim Fernsehen oder im Kino«. Obwohl noch viel über die Zusammenhänge herauszufinden bleibt, widerlegen diese Studien noch einmal die Katharsishypothese, d. h. die Auffassung, dass wir uns besser fühlen, wenn wir »Dampf ablassen«, indem wir unsere Emotionen ausleben (7 Kap. 13). Das Spielen von Gewalt verherrlichenden Videospielen erhöht die Häufigkeit aggressiver Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen. Ein Hersteller bietet als rationale Erklärung an, dass wir »von Natur aus gewalttätig sind [und] dafür Ablassventile brauchen«. »Es handelt sich um eine Methode, wie man gewalttätige Gefühle und Ängste mit Hilfe eines Fantasiemediums verarbeitet«, fügt eine prominente Anwältin für Bürgerrechte hinzu, um ihre vage Ahnung zu erklären, dass das Spielen gewalttätiger Spiele gewalttätige Tendenzen beruhigt (Heins 2004). ! Wut ausleben ruft in Wirklichkeit noch mehr Wut hervor, und Gewalt ausüben bringt weitere Gewalt hervor.
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Die Spiele von morgen können noch stärkere Auswirkungen haben. Die Sozialpsychologen Persky u. Blascovich (2005) erfanden ein gewalttätiges Videospiel für Studierende, das sie zu Hause auf ihrem Computer spielen konnten oder bei dem sie ein Headset aufsetzen und in eine virtuelle Realität eintreten konnten. Wie vorhergesagt verstärkte die virtuelle Realität in dramatischer Weise aggressive Gefühle und aggressives Verhalten während und nach dem Spiel. ! Die Forschung belegt biologische, psychologische und soziale Einflüsse auf aggressives Verhalten. Wie so vieles andere ist Aggression ein biopsychosoziales Phänomen (. Abb. 15.12).
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Unter der Lupe
Parallelen zwischen der Wirkung des Rauchens und der Wirkung medialer Gewalt Bushman u. Anderson (2001) stellen fest, dass die Korrelation zwischen dem Betrachten von Gewalt und aggressivem Verhalten fast genauso hoch ist wie die Korrelation zwischen Rauchen und Lungenkrebs. Sie stellen außerdem weitere Parallelen fest: Nicht jeder Raucher bekommt Lungenkrebs.
Nicht jeder, der Gewaltdarstellungen anschaut, wird selbst aggressiv.
Rauchen ist nur eine Ursache für Lungenkrebs, allerdings eine massive.
Das Betrachten von Gewaltszenen ist nur eine Ursache für aggressives Verhalten, allerdings eine nicht zu unterschätzende.
Die erste Zigarette kann Übelkeit auslösen, doch dieser Effekt verschwindet bei wiederholtem Rauchen.
Das erste Mal kann Ekel und Abwehr auslösen, doch bei wiederholtem Betrachten von Gewaltdarstellungen verschwinden diese Wirkungen.
Der Kurzzeiteffekt einer einzelnen Zigarette ist gering und löst sich innerhalb einer Stunde auf.
Eine einzelne Fernsehsendung mit Gewaltszenen kann aggressiven Vorstellungen den Boden bereiten, doch löst sich dieser Effekt innerhalb einer Stunde wieder auf.
Der langfristige kumulative Effekt des Rauchens ist schwerwiegend.
Der langfristige kumulative Effekt des Betrachtens von Gewaltdarstellungen besteht darin, dass die gewohnheitsmäßige Aggressivität wahrscheinlich wird.
Aus ökonomischen Gründen wurde der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs geleugnet.
Aus ökonomischen Interessen wurde der Zusammenhang zwischen dem Betrachten von Gewaltdarstellungen und Aggression geleugnet.
15.3.3
Konflikt
Ziel 22: Erklären Sie, wie soziale Fallen und die spiegelbildliche Wahrnehmung einen sozialen Konflikt anheizen können.
Wir leben in einer Zeit, die immer wieder für Überraschungen gut ist. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurden im späten 20. Jahrhundert die alten totalitären Systeme in den osteuropäischen Ländern durch demokratische Bewegungen zu Fall gebracht, und nach dem Ende des kalten Krieges scheint sich eine neue Weltordnung zu etablieren. Und dennoch begann das 21. Jahrhundert mit terroristischen Akten und Krieg; weltweit werden weiterhin täglich 2 Mrd. Dollar für Armeen und ihre Waffen ausgegeben – Geld, das für Wohnungen, Ernährung, Erziehung und Gesundheit verwendet werden könnte. Aufgrund des Terrorismus, der durch die Anschläge des 11. September zu einer akuten Bedrohung geworden ist, hat sich diese Entwicklung noch verstärkt. In dem Wissen, dass Kriege in den Köpfen der Menschen anfangen, haben sich Psychologen gefragt: Was im Denken der Menschen verursacht destruktive Konflikte? Wie könnte das Gefühl, von gesellschaftlichen Divergenzen bedroht zu sein, durch einen Gemeinschaftssinn ersetzt werden? Für einen Sozialpsychologen ist ein Konflikt die scheinbare Unvereinbarkeit von Handlungen, Zielen oder Ideen. Die Elemente eines Konflikts sind im Wesentlichen immer dieselben, ganz gleich, auf welcher Ebene der Konflikt stattfindet, ob es sich um kriegführende Staaten handelt, um kulturelle Auseinandersetzungen innerhalb einer Gesellschaft, bis hin zu Paaren, die einen Ehestreit haben. In jeder dieser Situationen werden Menschen in einen potenziell destruktiven sozialen Prozess hineingezogen, der zu Resultaten führen kann, die niemand will. Zu diesen destruktiven Prozessen gehören soziale Fallen und verzerrte Wahrnehmungen.
Soziale Fallen und Dilemmata In manchen Situationen fördern wir unser kollektives Wohlbefinden, wenn wir unsere persönlichen Interessen verfolgen. So schrieb der Kapitalismustheoretiker Adam Smith in »The Wealth of Nations« (1776): »Nicht dank der Mildtätigkeit des Metzgers, Brauers oder Bäckers bekommen
Konflikt (conflict): wahrgenommene Unvereinbarkeit von Handlungen, Zielen oder Ideen.
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
. Abb. 15.13. Matrix eines sozialen Dilemmas Wenn wir nur unseren eigenen Vorteil verfolgen und anderen nicht trauen, können wir am Ende als Verlierer dastehen. Um dies zu illustrieren, stellen Sie sich vor, dieses Spiel zu spielen. Die orangefarbenen Dreiecke zeigen die Ergebnisse für Person 1, die abhängig sind von den Entscheidungen beider Personen. Wenn Sie Person 1 wären, würden Sie dann A oder B wählen? (Dieses Spiel wird »NichtNullsummen-Spiel« genannt, weil die Summe der Ergebnisse nicht Null ergeben muss; beide Seiten können gewinnen oder beide können verlieren.)
Soziale Falle (social trap): Situation, in der sich die am Konflikt beteiligten Parteien in wechselseitig destruktivem Verhalten verfangen, weil jede Partei rational die eigenen Interessen verfolgt.
Nicht in meinem Ozean! Viele Menschen sind für alternative Energiequellen, auch für Windräder. Doch Projekte zum Bau von Windkraftparks in der eigenen Nachbarschaft stoßen auf weniger Widerhall. Ein solches Projekt, bei dem Windräder vor der Küste von Nantucket Island (Massachusetts) aufgestellt werden sollten, führte zu einer hitzigen Debatte über die Vorteile sauberer Energie für die Zukunft im Vergleich zu den Kosten dafür, dass man den finanziell lukrativen Blick auf den Ozean verbaut und möglicherweise auch die Wanderrouten von Vögeln beeinträchtigt
wir unser Abendessen, sondern weil es in ihrem eigenen Interesse liegt.« In anderen Situationen mindern wir unser kollektives Wohlbefinden, wenn wir unseren persönlichen Interessen nachgehen. Solche Situationen werden soziale Fallen genannt. Betrachten Sie die einfache Spielmatrix in . Abb. 15.13, die in Experimenten mit Tausenden von Menschen verwendet wurde. In diesem Spiel können beide Seiten gewinnen oder verlieren, abhängig von den individuell gewählten Schritten der Spielenden. Stellen Sie sich vor, Sie seien Person 1 und Sie und Person 2 erhielten jeweils den angezeigten Betrag, nachdem Sie getrennt voneinander A oder B gewählt hätten. (Sie können jemanden bitten, sich mit Ihnen die Matrix anzuschauen und die Rolle der Person 2 einzunehmen.) Was wählen Sie, A oder B? Wenn Sie über das Spiel nachdenken, werden Sie feststellen, dass Sie und Person 2 sich in einem Dilemma befinden. Wenn Sie beide A wählen, werden Sie beide profitieren, nämlich jeweils 5 Euro gewinnen. Niemand hat einen Nutzen, wenn Sie beide B wählen; denn niemand erhält dann einen Gewinn. Dennoch handeln Sie in jedem Fall in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie B wählen: Sie können nicht verlieren, und möglicherweise gewinnen Sie 10 Euro. Aber das trifft auch für die andere Person zu. Daraus ergibt sich die soziale Falle: Wenn Sie nämlich beide Ihren eigenen unmittelbaren Vorteil verfolgen und B wählen, werden Sie beide am Ende nichts gewinnen – das typische Ergebnis –, obwohl Sie 5 Euro hätten bekommen können. Derartige Spielsituationen lehnen sich an das klassische »Gefangenendilemma« (»prisoner dilemma game«) an, bei dem es anstelle von Spielgewinnen um die Aushandlung des Strafmaßes für 2 Straftäter geht. In vielen Situationen des wirklichen Lebens stehen sich unsere eigenen Interessen und das Gemeinwohl in ähnlicher Weise gegenüber. Einzelne Walfänger argumentierten, dass sie mit den wenigen Walen, die sie fingen, nicht deren Spezies gefährdeten und dass diese Tiere, wenn nicht von ihnen, sowieso von anderen Walfängern gefangen werden würden. Fazit: Manche Walarten sind in ihrem Bestand bedroht. Der individuelle Autohalter und Hausbesitzer argumentiert: »Es würde mir Umstände oder Kosten verursachen, ein Auto oder eine Heizung mit sparsamerem Verbrauch zu kaufen. Außerdem tragen die fossilen Brennstoffe, die ich verbrauche, nicht wesentlich zum Treibhauseffekt bei.« Wenn genügend andere auf die gleiche Weise argumentieren, ist das kollektive Ergebnis eine bedrohliche Katastrophe: die globale Erwärmung, der drohende Anstieg des Meerwasserspiegels und das extremere Wetter. ! Soziale Fallen stellen eine Herausforderung dar. Wir müssen Wege finden, wie wir das Recht darauf, unser persönliches Wohl anzustreben, mit der Verantwortung für das Wohl aller in Einklang bringen können.
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Psychologen erforschen deshalb, auf welchem Weg Menschen dazu gebracht werden können, zugunsten ihres gegenseitigen Vorteils zu kooperieren – durch gemeinsam vereinbarte Regeln, durch bessere Kommunikation und durch die Förderung eines Bewusstseins für unsere Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, dem Staat und der Menschheit insgesamt (Linder 1982; Dawes 1980; Sato 1987). Denn unter diesen Bedingungen kooperieren Menschen häufiger miteinander, sei es beim Spielen in einer Laborsituation oder im wirklichen Leben.
Wahrnehmung des Feindes Psychologen haben festgestellt, dass diejenigen, die sich in einem Konflikt miteinander befinden, die merkwürdige Neigung haben, diabolische Bilder
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vom jeweils anderen zu entwickeln. Diese verzerrten Bilder gleichen sich komischerweise, und zwar so sehr, dass wir sie spiegelbildliche Wahrnehmungen nennen: So wie wir »die anderen« sehen, etwa als nicht vertrauenswürdig und mit bösen Absichten, so sehen »sie« uns. Jeder dämonisiert den anderen. Spiegelbildliche Wahrnehmungen können oft zu einem tödlichen Kreislauf der Feindseligkeit führen. Wenn Thorsten meint, Julia habe sich über ihn geärgert, kann er sie dumm anreden; das wiederum verleitet sie dazu, so zu handeln, dass seine Wahrnehmung gerechtfertigt erscheint. Wie bei Individuen ist es auch bei Staaten. Wahrnehmungen können zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Sie bestätigen sich vielleicht selbst, indem sie das andere Land erst dahingehend beeinflussen, so zu reagieren, dass die Wahrnehmungen gerechtfertigt erscheinen. Zu Beginn des 21. Jahrhundert gab es viele Menschen, die Saddam Hussein verabscheuten. Wie der »böse« Saddam Hussein, so erklärte George W. Bush (2001), sind »manche Tyrannen von heute von einem erbitterten Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika infiziert. Sie hassen unsere Freunde, sie hassen unsere Werte, und sie hassen Demokratie und Freiheit und individuelle Freiheit. Viele von ihnen kümmern sich wenig darum, wie ihr eigenes Volk lebt.« Hussein (2002) hatte eine reziproke Wahrnehmung: Er sah die USA als »einen bösen Tyrannen« der, mit Satan als Beschützer, nach Öl gierte und alle diejenigen aggressiv angriff, die »die gerechte Sache verteidigen«. Es geht hier nicht darum, dass die Wahrheit genau zwischen den beiden Sichtweisen liegen muss (die eine kann durchaus zutreffender sein als die andere). Worum es geht, ist das Phänomen, dass die Wahrnehmungen von Feinden oft spiegelbildlich sind. Darüber hinaus verändern sich die Wahrnehmungen, wenn sich die Feindbilder verändern. In den Köpfen der Amerikaner und in den Medien wurden aus den »blutrünstigen, grausamen, verräterischen« Japanern des Zweiten Weltkriegs später unsere »intelligenten, hart arbeitenden, disziplinierten, kraftvollen japanischen Verbündeten« (Gallup 1972).
15.3.4
Interpersonale Anziehung
Halten Sie einen Moment inne, und denken Sie über Ihre Beziehungen zu 2 Menschen nach: zu einem engen Freund oder einer engen Freundin und zu einer Person, die in Ihnen romantische Liebesgefühle auslöst. Was verbindet uns mit bestimmten Menschen in einer so besonderen Art von Freundschaft, dass uns dies hilft, mit Problemen in anderen Beziehungen fertig zu werden? Die Sozialpsychologie hält hierzu einige Antworten bereit.
Psychologie der interpersonalen Anziehung Ziel 23: Beschreiben Sie den Einfluss von Nähe, physischer Attraktivität und Ähnlichkeit auf die interpersonale Anziehung.
Wir fragen uns immer wieder, wie wir die Zuneigung anderer gewinnen können und was unsere Zuneigung aufblühen oder abflachen lässt. Ruft Vertrautheit Geringschätzung hervor, oder lässt sie unsere Zuneigung stärker werden? Lassen Sie uns 3 Aspekte gegenseitiger Anziehung näher betrachten.
Nähe Bevor Freundschaften eng werden, bedürfen sie eines Anfangs. Nähe – geographische Nähe – ist der wirkungsvollste Prädiktor von Freundschaft. Nähe bietet Gelegenheit zu aggressivem Verhalten, aber viel häufiger entstehen daraus Bindungen. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass Menschen am ehesten diejenigen mögen und sogar heiraten, die im selben Viertel wohnen, die im Klassenzimmer in der Nähe sitzen, die im selben Büro arbeiten, im gleichen Parkhaus parken oder in derselben Kantine essen. Schauen Sie sich um. Warum ist Nähe so nützlich für Bindungen? Eine Teilantwort lautet natürlich: Diejenigen, denen wir oft begegnen, sind leichter verfügbar als andere. Aber das ist nicht der einzige Grund. Tatsache ist, dass der wiederholte Kontakt mit neuen Reizen – seien dies sinnlose Silben, Musikausschnitte, geometrische Figuren, chinesische Zeichen, menschliche Gesichter oder die Buchsta-
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
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Vertrautheit fördert Akzeptanz Wenn seltene Albino-Tiere geboren werden, werden sie häufig zunächst von ihren Artgenossen geächtet. Meist werden die Albinos jedoch nach einigen Wochen allmählich akzeptiert
Mere-Exposure-Effekt (mere exposure effect): Phänomen, dass die wiederholte bloße Darbietung neuer Reize dazu beiträgt, daran Gefallen zu finden.
ben unseres eigenen Namens – unsere Beziehung zu diesen Dingen festigt (Moreland u. Zajonc 1982; Zajonc 2001; Nuttin 1987). Die Menschen heiraten sogar mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit eine Person, deren Vor- oder Nachname ihrem eigenen ähnelt (Jones et al. 2004) Dieses Phänomen, auf das Werbefachleute häufig zurückgreifen, wird Mere-Exposure-Effekt (Effekt der bloßen Darbietung) genannt. Innerhalb bestimmter Grenzen (Bornstein 1989, 1999) führt Vertrautheit zu Zuneigung. Moreland u. Beach (1992) zeigten dies, indem sie 4 gleichermaßen attraktive Frauen schweigend an einer Vorlesung mit 200 Studierenden 5-, 10-, 15-mal oder gar nicht teilnehmen ließen. Am Semesterende wurden den Studierenden Bilder von jeder dieser Frauen gezeigt, und sie wurden gebeten, die Attraktivität jeder einzelnen einzustufen. Welche waren die Attraktivsten? Diejenigen, die sie am häufigsten gesehen hatten. Nicht unbekannt wird dieses Phänomen dem jungen Taiwanesen vorkommen, der seiner Freundin über 700 Liebesbriefe schrieb und sie dazu drängte, ihn zu heiraten. Sie heiratete – allerdings den Briefträger (Steinberg 1993). Kein Gesicht kennen wir besser als unser eigenes. Dies erklärt auch das folgende Experiment: Als DeBruine (2002) Studenten mit einem fiktiven Mitspieler eine Art Gefangenendilemmaspiel spielen ließ, zeigten diese sich vertrauensseliger und kooperativer, wenn in das Bild mit dem Gesicht des anderen Menschen einige Züge eingearbeitet waren, die auch ihr eigenes Gesicht hatte. Mir selbst vertraue ich. In einer Folgestudie fand DeBruine (2004) heraus, dass Männer die Gesichter anderer Männer (und Frauen die Gesichter anderer Frauen) mochten, deren Gesicht einige durch Morphing etwas veränderte Merkmale ihres eigenen Gesichts enthielt. Bei unseren Vorfahren diente das Mere-exposure-Phänomen der Anpassung an die Bedingungen der Evolution. Was einem vertraut vorkam, war i. Allg. sicher, und man konnte sich ihm nähern. Was unvertraut war, war häufiger gefährlich und bedrohlich. Zajonc (1998) kommt zu dem Schluss, dass die Evolution in uns die Tendenz verankert hat, mit den Menschen, die uns vertraut sind, Bindungen einzugehen und uns vor denen in Acht zu nehmen, die uns nicht vertraut sind. Gefühlsmäßige Vorurteile gegenüber Angehörigen anderer Kulturen können daher eine elementare, automatische emotionale Reaktion darstellen (Devine 1995).
Physische Attraktivität Wodurch wird der erste Eindruck am stärksten beeinflusst, wenn es durch räumliche Nähe zu einem Kontakt gekommen ist? Durch die Ehrlichkeit eines Menschen, seine Intelligenz, seine Persönlichkeit? Hunderte von Experimenten zeigen, dass es etwas weit Oberflächlicheres ist: die
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Der Mere-Exposure-Effekt Der Mere-Exposure-Effekt ist sogar auf uns selbst anwendbar. Da das menschliche Gesicht nicht vollkommen symmetrisch ist, ist das Gesicht, das wir im Spiegel sehen, nicht dasselbe, das unsere Freunde sehen. Die meisten von uns mögen das bekannte Spiegelbild lieber, während unsere Freunde das andere Bild vorziehen (Mita et al. 1977). Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist auf der linken Seite abgebildet, wie wir ihn kennen. Auf der rechten Seite ist Steinmeier so abgebildet, wie er sich jeden Morgen im Spiegel sieht und auf diesem Foto würde er sich wahrscheinlich besser gefallen
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äußere Erscheinung. Auch Menschen, die gelernt haben, dass »Schönheit etwas Oberflächliches ist« und dass »Äußerlichkeiten täuschen können«, können angesichts der Wirkungskraft physischer Attraktivität schon einmal schwach werden. In einer frühen Studie stellten Hatfield und ihre Mitarbeiter (Walster et al. 1966) anlässlich einer Disco für Erstsemester Tanzpaare nach dem Zufallsprinzip zusammen. Vor dem Tanz mussten alle Studierenden mehrere Persönlichkeitsund Eignungstests machen. Am Abend des »Blind Date« tanzten und redeten die Paare mehr als 2 Stunden miteinander und machten danach eine kurze Pause, in der sie ihre Partnerin oder ihren Partner einschätzen sollten. Was war entscheidend dafür, ob sie einander mochten? Soweit die Forscher dies feststellen konnten, war nur ein Gesichtspunkt wichtig: physische Attraktivität (die von den Forschern vorab erfasst und bewertet worden war). Sowohl Männer als auch Frauen mochten ein gut aussehendes Gegenüber am liebsten. Auch wenn Frauen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als Männer sagen, dass das Aussehen des anderen sie nicht beeinflusst, hat das Aussehen eines Mannes sehr wohl Einfluss auf das weibliche Verhalten (Feingold 1990; Sprecher 1989; Woll 1986). ! Die physische Attraktivität von Menschen hat weitreichende Folgen. Durch sie wird die Häufigkeit von Verabredungen, das Gefühl, gemocht zu werden, und der erste Eindruck vorhersagbar, den jemand von einer bestimmten Person hat. Prozentsatz von Männern und Frauen, die »ständig an ihr Aussehen denken«. (Aus McCool 1999) Männer
Frauen
Kanada
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USA
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C. Styrsky
Wir nehmen attraktive Menschen als gesünder, glücklicher, sensibler, erfolgreicher und geselliger wahr, allerdings nicht als ehrlicher oder leidenschaftlicher (Eagly et al. 1991; Feingold 1992; Hatfield u. Sprecher 1986). Attraktive, gut gekleidete Menschen machen mit größerer Wahrscheinlichkeit einen guten Eindruck auf potenzielle Arbeitgeber und sind vermutlich im Beruf erfolgreicher (Cash u. Janda 1984; Langlois et al. 2000; Solomon 1987). Einkommensanalysen zeigen, dass man für Unansehnlichkeit oder Fettleibigkeit bestraft und für Schönheit belohnt wird (Engemann u. Owyang 2005). Eine Analyse von 100 sehr beliebten Filmen ab 1940 ergab, dass attraktive Charaktere als moralisch einwandfreier porträtiert wurden als unattraktive (Smith et al. 1999). Aber Hollywoods Vorstellungen darüber, wer ein Vorbild ist, liefern keine Erklärung dafür, dass sogar Babys, gemessen an der Dauer ihres Hinschauens, attraktive Gesichter unattraktiven vorziehen (Langlois et al. 1987). Dass das Aussehen wichtig ist, mag unfair und rückständig erscheinen. Warum sollte es von Bedeutung sein? Der römische Staatsmann Cicero empfand vor 2000 Jahren dasselbe: »Das letztendlich Gute und die oberste Pflicht eines weisen Menschen besteht darin, dem äußeren Anschein zu widerstehen.« Cicero könnte sich in den beiden folgenden Forschungsergebnissen zur Attraktivität bestätigt sehen. Zunächst hat die Attraktivität des Menschen überraschend wenig mit seinem Selbstbewusstsein und seinem Glück zu tun (Diener et al. 1995; Major et al. 1984). Ein Grund hierfür könnte sein, dass sich nur wenige Menschen (vielleicht aufgrund des Mere-Exposure-Effekts) selbst für unattraktiv halten, es sei denn, sie vergleichen sich mit überdurchschnittlich attraktiven Menschen (Thornton u. Moore 1993). Ein anderer Grund hierfür besteht darin, dass auffällig attraktive Menschen manchmal argwöhnen, dass ein Lob für ihre Arbeit möglicherweise nur eine Reaktion auf ihr Aussehen ist. Wenn weniger attraktive Menschen gelobt werden, gehen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es ehrlich gemeint ist (Berscheid 1981). Cicero könnte auch Trost darin finden zu erfahren, dass Attraktivitätsurteile relativ sind. Die Standards, nach denen eine Miss Universum gekürt wird, gelten wohl kaum auf dem ganzen Planeten. Schönheit liegt vielmehr im Auge des Betrachters bzw. seiner Kultur – Schönheitsstandards sind Ausdruck dessen, wo man sich befindet und in welcher Zeit man lebt. In der Hoffnung, attraktiv auszusehen, haben sich Menschen verschiedener Kulturen die Nasen gepierct, den Hals verlängert, die Füße eingebunden oder die Haut geschminkt und das Haar gefärbt. Sie haben übermäßig gegessen, um eine füllige Figur zu erlangen, oder sich Fett absaugen lassen, um schlank zu werden, haben chemische Stoffe in der Hoffnung verwendet, dass sie so ungewollten Haarwuchs loswerden oder dass an den richtigen Stellen wieder Haare wachsen. Man hat Lederunterwäsche getragen, um die Brüste kleiner erscheinen zu lassen, oder die Brüste mit Silikon aufgefüllt und mit Wonderbras hochgepusht, damit sie größer aussehen. In Nordamerika wich das ultra-
Maureen Dowd, Kolumnistin der »New York Times«, über Fettabsaugung (19. Januar 2000): »Frauen in den 50er Jahren mussten den Teppich absaugen. Frauen im Jahr 2000 werden selbst abgesaugt. Unsere Staubsauger haben sich gegen uns gerichtet.«
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Extreme Ummodellierung In wohlhabenden, schönheitsbewussten Kulturen haben sich immer mehr Menschen (wie diese Frau aus der US-amerikanischen Fernsehsendung »Extreme Makeover« der kosmetischen Chirurgie bedient, um schöner auszusehen. Wenn Geld keine Rolle spielte, würden Sie dann je so etwas machen?
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schlanke Ideal der »Goldenen zwanziger Jahre« dem weichen, sinnlichen Marilyn-Monroe-Ideal der 50er Jahre, um dann durch das heutige schlanke, aber vollbusige Ideal ersetzt zu werden. Amerikaner geben derzeit mehr Geld für ihre Schönheit aus als für Bildung und soziale Unterstützung zusammen. Und wenn sie immer noch nicht zufrieden sind, lassen sich Millionen mit Hilfe der kosmetischen Medizin behandeln; dazu gehören plastische Chirurgie, Hautglättung mit Botox-Injektionen, Verkronung oder Bleichen der Zähne und Haarentfernung durch einen Laser (Wall 2002). Doch die Schönheitsspirale hat etwas von der Spirale des Aufrüstens; und das Ergebnis besteht darin, dass seit 1970 immer mehr Frauen mit ihrem Äußeren unzufrieden sind (Feingold u. Mazella 1998). Einige Aspekte der Attraktivität sind jedoch unabhängig von Ort und Zeit (Cunningham et al. 1995; Langlois et al. 2000). Wie in 7 Kap. 3 erläutert, halten Männer aus 37 Kulturen, von Australien bis Sambia, Frauen für attraktiver, wenn sie eine jugendliche Erscheinung haben. Frauen fühlen sich von gesund aussehenden Männern angezogen, vor allem aber von denen, die einen reifen, dominanten und wohlhabenden Eindruck machen. Ebenfalls scheinen Menschen auf der ganzen Welt eine Vorliebe für körperliche Merkmale zu haben – Körperbau, Nasen oder Beine –, die weder ungewöhnlich groß noch ungewöhnlich klein sein sollten. Ein Durchschnittsgesicht gilt als attraktiv (. Abb. 15.14). Langlois u. Roggman (1990) veranschaulichten dies auf clevere Weise: Sie digitalisierten die Gesichter von 32 Studierenden und erstellten daraus mit Hilfe eines Computers Durchschnittsgesichter. Die Studierenden hielten die zusammengesetzten Gesichter für weit attraktiver als 96% der individuellen Gesichter. Ein Grund besteht darin, dass Durchschnittsgesichter symmetrisch sind und Menschen mit symmetrischen Gesichtern und Körpern sexuell attraktiver sind (Rhodes et al. 1999; Singh 1995; Thornhill u. Gangestad 1994). Kombinieren Sie die Hälfte Ihres Gesichts mit Ihrem Spiegelbild, und Ihr neues symmetrisches Gesicht würde Ihre Attraktivität um ein Vielfaches steigern. ! Abgesehen von kulturellen Standards hängt Attraktivität auch von unseren Gefühlen gegenüber einem bestimmten Menschen ab.
In einem Musical von Rodgers und Hammerstein fragt Prince Charming Cinderella: »Liebe ich dich, weil du so schön bist, oder bist du so schön, weil ich dich liebe?« Es ist sehr wahrscheinlich,
S. Wahl
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In den Augen des Betrachters Was für attraktiv gehalten wird, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Außerdem könnte sich das, was man momentan in Kenia, Thailand und Deutschland für attraktiv hält, in Zukunft sehr wohl ändern © IMAGE Créations - Fotolia.com
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Courtesy of David Perrett/University of St. Andrews
15.3 · Soziale Beziehungen
dass beides stimmt. Wenn wir einen geliebten Menschen immer wieder sehen, verlieren die körperlichen Unvollkommenheiten der betreffenden Person an Bedeutung, und die Attraktivität rückt stärker in den Vordergrund (Beaman u. Klentz 1983; Gross u. Crofton 1977). Shakespeare drückte dieses Phänomen im »Sommernachtstraum« wie folgt aus: »Die Liebe schaut nicht mit den Augen, sondern mit dem Geist.« Beginnen Sie jemanden zu lieben, werden Sie sehen, wie seine Schönheit zunimmt.
Ähnlichkeit Nehmen wir an, dass räumliche Nähe Sie in Kontakt mit jemandem gebracht hat und dass der erste Eindruck Ihres Äußeren gut war. Wodurch wird jetzt beeinflusst, ob aus Bekanntschaften Freundschaften werden? Wenn Sie z. B. jemanden kennen lernen, stimmt dann die Chemie eher, wenn Sie sehr verschieden sind oder wenn Sie sich ähneln? Eine spannende Geschichte kann entstehen, wenn extrem unterschiedliche Arten von Menschen harmonisch zusammenleben: Douglas Hefferman und seine Frau Carrie aus »King of Queens« oder die Freunde Franz von Hahn, Johnny Mauser und der dicke Waldemar aus den Kinderbüchern von Helme Heine. Diese Geschichten gefallen uns, weil sie das ausdrücken, was wir so selten in unserem Alltag erleben; denn wir neigen dazu, andersartige Menschen nicht zu mögen (Rosenbaum 1986). Im wirklichen Leben bleiben gegensätzliche Menschen eher auf Abstand. Gleich und gleich gesellt sich in der Regel wirklich gern. Freunde und Paare haben mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit gemeinsame Einstellungen, Meinungen und Interessen (und in diesem Zusammenhang auch Übereinstimmungen in Bezug auf Alter, Religion, Hautfarbe, Bildung, Intelligenz, Rauchverhalten und ökonomischen Status) als zufällig zusammengebrachte Menschen. So sehr Sie und ich derartige Unterschiede auch möglicherweise abtun, indem wir uns als eine große Menschenfamilie in einem globalen Dorf sehen, können wir doch nicht mit 6 Mrd. Menschen gemeinsam unsere Abende verbringen. Weiterhin hat sich herausgestellt: Je ähnlicher sich Menschen sind, desto länger bleiben die Sympathien bestehen (Byrne 1971). Der Journalist Walter Lippmann hat zu Recht angenommen, dass Liebe am beständigsten ist, »wenn die Liebenden nicht nur einander, sondern auch viele Dinge gemeinsam mögen«. Das ist auch die Grundannahme hinter einer von einem Psychologen eingerichteten Internet Dating Site. Auf der Internetseite wird behauptet, dass man die Ähnlichkeit, die für glückliche Paare kennzeichnend ist, dazu nutzen kann, Singles zusammenzubringen; über einige 10.000 von ihnen weiß man, dass sie geheiratet haben (Carter u. Snow 2004; Warren 2005). Gleich und gleich gesellt sich gern. ! Nähe, Attraktivität und Ähnlichkeit sind nicht die einzigen Determinanten für Anziehungskraft. Wir mögen auch diejenigen, die uns mögen.
Dies gilt insbesondere, wenn wir ein geringes Selbstwertgefühl haben. Wenn wir glauben, dass jemand uns mag, reagieren wir warmherziger. Dies führt dazu, dass man uns sogar noch lieber mag (Curtis u. Miller 1986). Gemocht werden ist sehr lohnenswert. Tatsächlich können alle Ergebnisse, die wir bisher einbezogen haben, mit einer einfachen Belohnungstheorie der Attraktivität erklärt werden: Wir mögen diejenigen, durch deren Verhalten wir belohnt werden, und wir erhalten jene Beziehungen aufrecht, die uns mehr Belohnungen
. Abb. 15.14. Durchschnitt ist attraktiv Welches dieser Gesichter, die von Perrett (2002) vorgelegt wurden, ist das attraktivste? Die meisten Menschen sagen, es sei das Gesicht auf der rechten Seite, das Gesicht einer nicht existierenden Frau, das aus dem Durchschnitt dieser 3 Fotos links und 57 weiterer realer Gesichter gebildet wurde
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
bieten, als sie Aufwand erfordern. Wenn jemand in nächster Nähe eines anderen Menschen lebt oder arbeitet, kostet es weniger Zeit und Anstrengung, diese Freundschaft zu entwickeln und ihren Nutzen zu genießen. Attraktive Menschen gefallen uns wegen ihres Äußeren; es kann sich gesellschaftlich auszahlen, wenn man mit ihnen zusammen ist. Menschen mit ähnlichen Ansichten belohnen uns dadurch, dass sie unsere eigenen Ansichten bestätigen.
Romantische Liebe Ziel 24: Beschreiben Sie die Auswirkung körperlicher Erregung auf leidenschaftliche Liebe, und nennen Sie 2 Prädiktoren für dauerhafte kameradschaftliche Liebe.
Gelegentlich gehen Menschen schnell vom ersten Eindruck über die Freundschaft zum intensiveren, komplexeren und geheimnisvolleren Zustand romantischer Liebe über. Hatfield (1988) unterscheidet 2 Arten der Liebe: die temporäre leidenschaftliche Liebe und eine beständigere kameradschaftliche Liebe.
Leidenschaftliche Liebe Leidenschaftliche Liebe (passionate love): erregter Zustand intensiven, vollkommenen Ineinander-Aufgehens, der in der Regel zu Beginn einer Liebesbeziehung auftritt.
Erregung zu spüren ist das, was leidenschaftliche Liebe im Wesentlichen ausmacht. Hatfield nimmt an, dass die Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion (7 Kap. 13) dazu beitragen kann, diese intensive Verschmelzung mit der oder dem anderen zu verstehen. Diese Theorie geht davon aus, dass zum einen Emotionen 2 Bestandteile haben, die physische Erregung und die kognitive Beurteilung, und dass zum anderen Erregung, wo auch immer sie herrührt, unsere Gefühle vertiefen kann, je nachdem, wie wir die Erregung interpretieren und bewerten. Um diese Theorie zu überprüfen, wurden männliche Studierende durch Angst, Laufen auf der Stelle, das Anschauen erotischen Materials oder das Hören humorvoller oder abstoßender Monologe in Erregung versetzt. Dann wurden sie einer attraktiven Frau vorgestellt und gebeten, diese (oder ihre eigene Freundin) zu bewerten. Im Gegensatz zu den nicht erregten männlichen Versuchsteilnehmern attribuierten diejenigen, die erregt worden waren, einen Teil ihrer Erregung auf die Frau bzw. die Freundin und fühlten sich von ihr stärker angezogen (Carducci et al. 1978; Dermer u. Pyszczynski 1978; White u. Kight 1984). Dutton u. Aron (1974, 1989) verließen für ihre Versuche das Labor und testeten die Reaktionen der Teilnehmer auf 2 Brücken über den felsigen Capilano River in British Columbia. Eine der beiden Brücken, eine schwingende Fußgängerbrücke, hing 70 m über den Felsen; die andere war niedrig und massiv. Eine attraktive, junge Mitarbeiterin des Versuchsteams fing die vorbeigehenden Studierenden hinter beiden Brücken ab, bat sie, einen kurzen Fragebogen auszufüllen, und gab ihnen dann ihre Telefonnummer, falls sie mehr über ihr Projekt wissen wollten. Weit mehr Versuchsteilnehmer, die gerade die Hängebrücke überquert hatten und deren Herz immer noch pochte, nahmen die Telefonnummer an und meldeten sich später bei der Frau. Auf Touren gebracht zu werden und einen Teil dieser Erregung mit einem begehrenswerten Menschen zu assoziieren, bedeutet, den Kick der Leidenschaft zu spüren. Adrenalin verstärkt die Gefühle.
Kameradschaftliche Liebe
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»Wenn zwei Menschen unter dem Einfluss der heftigsten, verrücktesten, trügerischsten und vergänglichsten aller Leidenschaften stehen, wird von ihnen verlangt zu schwören, dass sie bis zum Tode in diesem erregten, abnormalen und erschöpfenden Zustand bleiben wollen.« George Bernard Shaw (»Getting Married«; dtsch. »Mann und Übermensch«, 1903)
Auch wenn der Funke der romantischen Liebe oft die Zeit überdauert, schwinden doch das vollkommene Ineinander-Aufgehen, die Aufregung der Romanze, das »schwindelerregende« Gefühl, im siebten Himmel zu schweben. Haben also die Franzosen Recht, wenn sie sagen: »Die Liebe lässt die Zeit vergehen, die Zeit lässt die Liebe vergehen«? Oder können Freundschaft und Zuneigung eine Beziehung aufrechterhalten, wenn die Leidenschaft abkühlt? In Leo Tolstois »Eheglück« geht eine junge Frau mit einem Mann, der sie liebt und erkennt, »dass er von dem Tag an der meine wurde und ich ihn nun nie wieder verlieren sollte«. Später nach ihrer Hochzeit denkt sie darüber nach, während sie zu Hause dasitzt, dass ihre romantische Zeit des Werbens ersetzt wurde durch etwas Ruhigeres und Sichereres. »An diesem Tag war die Romanze unserer Ehe zu Ende«, erklärte sie. »Das alte Gefühl wurde zu einer kostbaren, nicht wiederherstellbaren Erinnerung; aber ein neues Gefühl der Liebe für meine Kinder und für den Vater meiner Kinder schuf die Grundlage für ein neues Leben und ein ganz anderes Glück; und dieses Leben und Glück dauern bis zum heutigen Tag an.«
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Courtship and Matrimony (From the collection of Werner Nekes)
Verheiratet sein
Hatfield stimmt zu und stellt fest, dass die Liebe dann, wenn sie heranreift, zu einer beständigeren kameradschaftlichen Liebe, einer tiefen, liebevollen Zuneigung wird. Diese Veränderung von der Leidenschaft zur Zuneigung könnte adaptiv sein. Aus leidenschaftlicher Liebe entstehen oft Kinder, zu deren Überleben es beiträgt, wenn die Eltern nicht mehr nur wie besessen voneinander sind. Berscheid et al. (1984) stellen fest, dass es einer Beziehung schaden kann, wenn man sich der begrenzten Dauer der leidenschaftlichen Liebe nicht bewusst ist: »Wenn die Menschen besser verstünden, Umeinander werben dass es in einer Beziehung keine ewige leidenschaftliche Liebe geben kann, wären sie eher bereit, sich mit ruhigeren Gefühlen wie etwa dem der Erfüllung und der Zufriedenheit zu begnügen.« Und tatsächlich sehen einige Gesellschaften, die um die kurze Dauer einer leidenschaftlichen Liebe wissen, solche Gefühle als irrationalen Grund für eine Heirat an. Es sei besser, so sagt man in diesen Kulturen, sich für einen Partner mit vereinbarem Hintergrund und passenden Interessen zu entscheiden (oder jemand anders entscheiden zu lassen). Nichtwestliche Kulturen, in denen die Menschen Liebe als weniger wichtig für eine Heirat ansehen, haben niedrigere Scheidungsraten (Levine et al. 1995). Ein Schlüssel zu einer gelungenen und dauerhaften Beziehung ist Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen): Das Verhältnis von Nutzen und Kosten beider Partner ist gleich. Wenn es einen Ausgleich gibt, d. h. wenn beide Partner frei geben und nehmen und wenn sie gemeinsame Entscheidungen treffen, sind ihre Chancen gut, in dauerhafter und befriedigender kameradschaftlicher Liebe zusammenleben zu können (Gray-Little u. Burks 1983; Van Yperen u. Buunk 1990). Materielles und Immaterielles teilen, emotionale Unterstützung geben und empfangen, das Wohlergehen des anderen fördern und pflegen gehört zum Wesen jeder Liebesbeziehung (Sternberg u. Grajek 1984). Dies trifft für Liebende, Eltern und Kinder und enge Freundinnen und Freunde zu. Ein weiterer lebenswichtiger Bestandteil von Liebesbeziehungen ist die Selbstoffenbarung (self-disclosure), das Preisgeben intimer Details über uns selbst, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Träume und Sorgen, unsere stolzen und unsere peinlichen Momente. »Wenn ich mit meinem Freund zusammen bin«, schrieb der römische Staatsmann Seneca, »habe ich das Gefühl, ich wäre allein; ich habe dann die gleiche Freiheit, alles auszusprechen, was ich sonst nur denke.« Offenheit fördert das Mögen, und Gemochtwerden fördert wiederum die Offenheit (Collins u. Miller 1994). Wenn sich der eine etwas öffnet, erwidert der andere dies; dann öffnet sich der Erste etwas mehr und so weiter und so fort, bis Freunde oder Liebende zu tieferer Intimität kommen. Jegliche Vertiefung der Intimität entflammt die Leidenschaft neu (Baumeister u. Bratslavsky 1999). Bei einem Experiment wurden freiwillig teilnehmende Studierende paarweise durch ein 45minütiges Gespräch geführt, das immer mehr Offenheit erforderte: Es begann mit »Wann hast du zuletzt vor dich hingesungen?« und endete mit »Wann hast du zuletzt in Anwesenheit eines anderen Menschen geweint und wann allein?« Bei Versuchsende fühlten sich diejenigen wesentlich verbundener mit ihrem Gesprächspartner, die die wachsende Vertrautheit erfahren hatten, als andere Teilnehmer der Kontrollgruppe, die ihre Zeit mit Smalltalk-Fragen wie etwa »Wie war deine High School?« verbracht hatten (Aron et al. 1997). Unterstellt man einmal eine Vertrautheit aufgrund von Selbstoffenbarung und eine Form der Gleichberechtigung, bei der man sich gegenseitig unterstützt, dann sollten die Chancen für eine dauerhafte kameradschaftliche Liebe nicht schlecht stehen.
Manchmal wird aus leidenschaftlicher Liebe eine dauerhafte kameradschaftliche Liebe, manchmal nicht (stellen Sie das Bild auf den Kopf) Aufgrund welcher Faktoren (abgesehen von ähnlichen Einstellungen und Interessen) lässt sich eine langfristige liebevolle Bindung vorhersagen?
Kameradschaftliche Liebe (companionate love): tiefe, liebevolle Bindung, die wir gegenüber Menschen empfinden, mit denen unser Leben im komplexer Weise verbunden ist.
Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen): ein Zustand, in dem Menschen aus einer Beziehung genauso viel bekommen, wie sie geben.
Selbstoffenbarung (self-disclosure): anderen Menschen intime Aspekte von sich selbst mitteilen.
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
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Altruismus
Ziel 25: Definieren Sie Altruismus, und geben Sie ein Beispiel dafür.
Altruismus (altruism): selbstloses Interesse am Wohlergehen anderer.
Carl Wilkens, ein Adventistenmissionar, lebte 1994 mit seiner Familie in Kigali (Ruanda), als die Hutu-Milizen begannen, die Tutsi abzuschlachten. Die amerikanische Regierung, die Kirchenleitung und die Freunde, alle flehten Wilkens an, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Nachdem seine Familie evakuiert worden war und alle anderen Amerikaner Kigali verlassen hatten, blieb er allein da und stritt gegen den Völkermord an 800.000 Menschen. Als die Milizen kamen, um ihn und seine Tutu-Bediensteten zu töten, hielten seine Hutu-Nachbarn sie zurück. Trotz wiederholter Todesdrohungen verbrachte er seine Tage damit, durch die gefährlichen Straßenblockaden hindurch Essen und Wasser in die Waisenheime zu bringen, zu verhandeln, zu bitten und drängelnd seinen Weg durch das Blutbad zu finden; dabei rettete er immer wieder Menschenleben. »Es schien einfach die richtige Sache zu sein, die man tun musste«, klärte er später (Kristof 2004). An einem anderen Ort in Kigali beherbergte Paul Rusesabagina, ein mit einer Tutsi verheirateter Hutu und damals Manager eines Luxushotels, mehr als 1200 vom Schrecken gezeichnete Tutsis und gemäßigte Hutus. Als die internationale Friedenstruppe die Stadt aufgab und die feindselige Miliz seine Gäste im »Hotel Rwanda« (wie es 2004 in einem Film genannt wurde) bedrohte, begann Rusesabagina, Geld zu zahlen, wenn ihm jemand einen Gefallen tat, die Miliz zu bestechen und mit einflussreichen Personen im Ausland zu telefonieren, um Druck auf die lokalen Behörden auszuüben. So rettete er das Leben der Hotelbewohner inmitten einer chaotischen Situation. Eine derartig selbstlose Güte ist ein Beispiel für Altruismus, dem uneigennützigen Interesse am Wohlergehen anderer. Nach einem besonders niederträchtigen Akt sexueller Gewalt wurde Altruismus zum wichtigen Thema für Sozialpsychologen. Am 13. März 1964 stach ein Stalker wiederholt auf Kitty Genovese ein und vergewaltigte sie; um 3.30 h nachts lag sie dann sterbend vor ihrer Wohnung in Queens (New York). »Oh, mein Gott, er hat mich erstochen!«, schrie sie laut in die Stille des frühen Morgens hinein. »Bitte helfen Sie mir!« Fenster öffneten sich und Lichter gingen an, als 38 Nachbarn ihre Schreie hörten. Der Angreifer floh und kehrte dann zurück, um noch weitere 8-mal auf sie einzustechen und sie erneut zu vergewaltigen. Erst um 3.50 h rief schließlich jemand die Polizei.
Zuschauerintervention Ziel 26: Beschreiben Sie die Stufen beim Prozess der Entscheidung, wie sie beim Eingreifen von Zuschauern stattfindet.
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Die meisten Kommentatoren, die über den Mord an Genovese und über andere Tragödien berichteten, waren empört über die »Apathie« und die »Gleichgültigkeit« der Zuschauer. Die Sozialpsychologen Darley u. Latané (1968b) suchten jedoch weniger die Schuld bei den Zuschauern, sondern schrieben deren Untätigkeit einem wichtigen situativen Faktor zu: der Präsenz anderer. Unter bestimmten Umständen, so nahmen sie an, würden sich die meisten von uns ähnlich verhalten. Nach inszenierten Notfällen unter verschiedenen Bedingungen fassten Darley und Latané ihre Forschungsergebnisse in einem Entscheidungsschema zusammen: Wir helfen nur dann, wenn es uns die Situation zunächst ermöglicht, den Vorfall zu bemerken, ihn dann als Notfall zu interpretieren und schließlich Verantwortung zu übernehmen sowie zu helfen (7 Abb. 15.15). ! Bei jedem Schritt hält die Anwesenheit weiterer Zuschauer die Menschen davon ab zu helfen.
Sowohl im Labor als auch auf der Straße achten Menschen, die sich innerhalb einer Gruppe von Fremden befinden, mehr als einzelne Individuen darauf, was sie selbst tun oder wohin sie gehen. Wenn sie eine ungewöhnliche Situation bemerken, könnten sie aus den gleichgültigen Reaktionen anderer, die daran vorbeigehen, schließen, dass es sich nicht um einen Notfall handelt. Sie denken: »Der Mensch, der da auf dem Bürgersteig liegt, muss betrunken sein«, und gehen weiter. Aber manchmal, wie etwa im Mordfall Genovese, handelt es sich eindeutig um einen Notfall, und trotzdem wird nicht eingeschritten. Die Zeugen, die aus ihren Fenstern schauten, bemerkten
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Jeff Randall/Getty Images
. Abb. 15.15. Entscheidungsfindungsprozess darüber, ob ein Zuschauer eingreifen soll Bevor man hilft, muss man zunächst bemerken, dass es sich um einen Notfall handelt, diesen dann korrekt interpretieren und sich schließlich verantwortlich fühlen. (Aus Darley u. Latané 1968b)
den Vorfall, interpretierten den Notfall korrekt und übernahmen keine Verantwortung. Warum? Um dies herauszufinden, simulierten Darley u. Latané (1968a) in ihrem Labor einen Notfall. Studierende nahmen über eine Gegensprechanlage an einer Diskussion teil. Jeder Studierende befand sich in einem abgeschlossenen kleinen Raum und nur derjenige, dessen Mikrophon angeschaltet war, konnte gehört werden. Ein Student arbeitete mit den Forschern zusammen. Als er an der Reihe war, machte er Geräusche, als hätte er einen epileptischen Anfall und rief um Hilfe. Wie reagierten die anderen Studierenden? Diejenigen, die davon ausgingen, dass nur sie das Opfer hören konnten – und daher glaubten, sie stünden allein in der Verantwortung, ihm beizustehen –, kamen ihm in der Regel zu Hilfe (. Abb. 15.16). Diejenigen, die dachten, auch andere könnten ihn hören, reagierten eher wie die Nachbarn von Kitty Genovese. Wenn sich mehrere Menschen die Verantwortung zur Hilfe teilten, war die Wahrscheinlichkeit zu helfen bei dem einzelnen Hörer geringer. Dieses Phänomen der Verantwortungsdiffusion führt dazu, dass die Verantwortung nicht bei einem Einzelnen, sondern bei mehreren liegt. Und je mehr Zuschauer anwesend sind – wenn es zu einer Verantwortungsdiffusion kommt –, desto weniger ist der Einzelne bereit zu helfen. In Hunderten weiterer Experimente erforschten Psychologen die Faktoren, die die Bereitschaft von Zu-
. Abb. 15.16. Reaktionen auf einen simulierten Notfall Wenn Menschen davon ausgingen, sie würden als Einzige die Hilferufe eines Menschen hören, von dem sie glaubten, er habe einen epileptischen Anfall, halfen sie im Normalfall. Aber wenn sie annahmen, dass noch 4 andere den Hilferuf hörten, reagierte weniger als ein Drittel. (Aus Darley u. Latané 1968a)
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
Zuschauereffekt (bystander effect): Tendenz eines einzelnen Zuschauers, seltener zu helfen, wenn weitere Zuschauer anwesend sind.
schauern beeinflussen, einen Notruf zu tätigen, einem stehen gebliebenen Autofahrer zu helfen, Blut zu spenden, hinuntergefallene Bücher aufzuheben, Geld zu spenden und ihre Zeit zu opfern. Beispielsweise unternahmen Latané u. Dabbs (1975) und 145 Mitarbeiter in 3 Städten 1497 Fahrten mit dem Fahrstuhl und ließen »zufällig« vor insgesamt 4813 Passagieren Münzen oder Bleistifte fallen. Frauen, denen eine Münze hinunterfiel, wurde eher geholfen als Männern; das ist ein Geschlechtsunterschied, über den auch oft von anderen Forschern berichtet wird (Eagly u. Crowley 1986). Aber das wichtigste Forschungsergebnis war der Zuschauereffekt (»bystander effect«): Jeder beliebige Zuschauer leistete seltener Hilfe, wenn noch andere zuschauten. Wenn er mit der Person in der Notsituation allein war, half er in 40% der Fälle. In Anwesenheit von 5 weiteren Zuschauern halfen nur 20%. Aus den Verhaltensstudien an Zehntausenden solcher »Notfälle« nahmen Altruismusforscher zusätzliche Muster wahr. Wir helfen am ehesten, wenn 4 das Opfer offensichtlich Hilfe benötigt und verdient. 4 das Opfer uns in gewisser Weise ähnelt. 4 wir gerade jemand beobachtet haben, der geholfen hat. 4 wir nicht in Eile sind. 4 wir uns in einer Kleinstadt oder in einem ländlichen Gebiet befinden. 4 wir uns schuldig fühlen. 4 wir offen sind für andere und nicht innerlich anderweitig beschäftigt sind. 4 wir gut gelaunt sind. Das letzte Ergebnis, d. h. dass glückliche Menschen hilfsbereit sind, gehört zu den konsistentesten der Psychologie. Unabhängig davon, wie Menschen in eine gute Stimmung kommen, sei es, dass sie dazu gebracht werden, sich erfolgreich und intelligent zu fühlen, sei es durch glückliche Gedanken oder durch Geldfunde – sie werden dadurch großzügiger und hilfsbereiter (Carlson et al. 1988).
Normen des Helfens Ziel 27: Erklären Sie altruistisches Verhalten vom Standpunkt der Theorie des sozialen Austauschs und der sozialen Normen.
Theorie des sozialen Austauschs (theory of social exchange): besagt, dass es sich bei unserem Sozialverhalten um einen Austauschprozess handelt, dessen Ziel es ist, den Nutzen zu maximieren und die Kosten zu minimieren.
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Reziprozitätsnorm (reciprocity norm): Erwartung, dass wir denen, die uns geholfen haben, helfen und ihnen keinen Schaden zufügen sollten. Norm der sozialen Verantwortung (socialresponsibility norm): Erwartung, dass wir denen, die von uns abhängig sind, helfen sollten.
Warum helfen wir? Eine weit verbreitete Meinung ist, dass allen menschlichen Interaktionen ein Eigeninteresse zugrunde liegt, dass unser ständiges Ziel darin besteht, Belohnungen zu maximieren und Kosten zu minimieren. Betriebswirte sprechen dabei von der Kosten-Nutzen-Analyse. Philosophen nennen es Utilitarismus. Sozialpsychologen nennen es die Theorie des sozialen Austauschs. Wenn Sie überlegen, ob Sie Blut spenden sollen, wägen Sie vielleicht die Kosten (Zeit, Unannehmlichkeiten und Angst) mit den Vorteilen (weniger Schuldgefühle, soziale Anerkennung, gutes Gefühl) ab. Wenn die zu erwartende Belohnung die Kosten übersteigt, gehen Sie Blut spenden. Aber warum geben wir Menschen, die wir nie wieder sehen werden, Trinkgeld, und warum zeigen wir Fremden den Weg? Teilweise weil wir dazu sozialisiert wurden, dies zu tun, aufgrund von Normen, die vorschreiben, wie wir uns verhalten sollten, was oft zu unserem gegenseitigen Nutzen geschieht. Durch Sozialisierung lernen wir die Reziprozitätsnorm, also die Erwartung, dass wir denen, die uns geholfen haben, auch helfen sollten, statt ihnen zu schaden. In unseren Beziehungen zu anderen, die einen ähnlichen Status haben, regt uns die Reziprozitätsnorm an, ungefähr so viel zu geben (Gefallen, Geschenke oder gesellschaftliche Einladungen), wie wir erhalten. Wir lernen auch die Norm der sozialen Verantwortung: dass wir denen, die unsere Hilfe benötigen– kleine Kinder und andere, die nicht so viel geben können, wie sie bekommen –, helfen sollten, selbst dann, wenn die Kosten höher sind als der Nutzen. In wiederholt durchgeführten Gallup-Umfragen halten sich Menschen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, häufig an die Norm der sozialen Verantwortung: Fragt man sie, wie viele Stunden sie freiwillig mit Hilfe für Arme und Gebrechliche verbringen, so ist die Zahl doppelt so hoch wie bei Menschen, die selten oder nie den Gottesdienst besuchen (Hodgkinson u. Weitzman 1992; Independent Sector 2002). Sie spenden auch dreimal so viel Geld.
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15.3.6
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Frieden stiften
Ziel 28: Erörtern Sie wirkungsvolle Methoden, um die friedliche Zusammenarbeit zu fördern und soziale Konflikte abzubauen.
Wie können wir Frieden stiften? Können Gegensätze, die durch Vorurteile und Konflikte geschürt wurden, durch Zusammenarbeit, Kommunikation und Versöhnung in friedensfördernde Einstellungen umgewandelt werden? Forschungen zeigen, dass dies in manchen Fällen möglich ist.
Zusammenarbeit Nützt es etwas, zwei Konfliktparteien in engen Kontakt miteinander zu bringen? Es kommt darauf an. Wenn ein solcher Kontakt nicht kompetitiv ist und zwischen zwei Parteien mit gleichem Status stattfindet, wie etwa unter Kollegen, so kann er hilfreich sein. Kollegen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten, die zunächst gegenseitig Vorurteile hegten, gelingt es unter derartigen Umständen normalerweise, einander zu akzeptieren. Pettigrew (1969, 2004) wies in zahlreichen Studien in Nordamerika und Westeuropa nach, dass freundlicher Kontakt mit ethnischen Minderheiten zu einer Verringerung der Vorurteile führt. Kontakt allein genügt allerdings nicht immer. In den meisten gemischtrassigen amerikanischen Highschools trennen sich weiße und schwarze Schülerinnen und Schüler im Speisesaal und auf dem Schulhof selbst wieder (Clark et al. 2005; Schofield 1986). Personen in beiden Gruppen glauben oft, dass sie mehr Kontakt mit der anderen Gruppe durchaus begrüßen würden, aber sie unterstellen, dass die andere Gruppe den Wunsch nicht erwidert (Shelton u. Richeson 2005). »Ich strecke ihnen nicht die Hand entgegen, weil ich nicht zurückgestoßen werden möchte; sie strecken ihre Hand nicht zu mir aus, weil sie einfach nicht daran interessiert sind.« Wenn solche spiegelbildlichen Fehlwahrnehmungen korrigiert werden, können sich Freundschaften bilden und Vorurteile auflösen. Um zu sehen, ob Gegner ihre Differenzen hinter sich lassen können, löste Sherif (1966) bei seinen Forschungen einen Konflikt aus. Er verteilte 22 Jungen aus Oklahoma City auf 2 getrennte Bereiche eines Pfadfinderlagers. Dann veranstaltete er mit den beiden Gruppen eine Reihe von Wettkampfspielen, bei denen die Gewinner Preise erhielten. Innerhalb kurzer Zeit wurde jede Gruppe äußerst stolz auf sich selbst (die Eigengruppe) und entwickelte Feindseligkeiten gegenüber den »hinterhältigen, besserwisserischen Stinkern« aus der anderen Gruppe (der Fremdgruppe). Während der Mahlzeiten brachen Kriege ums Essen aus. Zelte wurden durchwühlt. Schlägereien mussten von der Gruppenleitung beendet werden. Als Sherif die beiden Gruppen zusammenbrachte, gingen sie einander aus dem Weg, und suchten nur den Kontakt, um einander zu verspotten und zu bedrohen. Ungeachtet dessen machte Sherif aus diesen kleinen Feinden innerhalb weniger Tage gute Kameraden. Er gab ihnen übergeordnete Ziele, gemeinsame Ziele, die über ihre Differenzen hinwegreichten und nur durch Kooperation erreicht werden konnten. Eine (absichtliche) Unterbrechung der Wasserversorgung im Lager erforderte, dass alle 22 Jungen zusammenarbeiteten, um die Wasserversorgung wiederherzustellen. Einen Film auszuleihen erforderte in Zeiten, als es noch keinen Videorecorder gab, dass sie dafür einige Geldmittel bereitstellen mussten. Ein Lastwagen blieb mit abgewürgtem Motor liegen; dies machte es erforderlich, dass die Jungen mit vereinten Kräften gemeinsam zogen und schoben, um ihn wieder flott zu machen. Sherif machte sich die Isolation und den Wettkampf zunutze, um aus Fremden Freunde werden zu lassen, und er nutzte die gemeinsame Notlage sowie gemeinsame Ziele, um die Feinde miteinander zu versöhnen und zu Freunden zu machen. Der Konflikt wurde nicht durch Kontakt allein, sondern vielmehr durch kooperativen Kontakt verringert. Geteiltes Leid – eine angsterregende äußere Bedrohung und ein übergeordneter Wunsch, diese zu überwinden – hatte in den Wochen nach dem 11. September eine ähnlich starke, einigende Wirkung. Nichts führt zu größerer Solidarität als ein gemeinsamer Feind. So wie Selbstmordanschläge in Israel verfeindete Juden wieder vereinen kann und israelische Angriffe auf Palästinenser zur Einigkeit unter verschiedenen Moslemgruppen führen können, hatten auch die Amerikaner sofort das Gefühl, dass »wir« angegriffen werden. Die Zustimmung für »unseren Präsidenten«
»Mit geballter Faust kann man keine Hand schütteln.« Indira Gandhi (1971)
Übergeordnete Ziele (superordinate goals): gemeinsame Ziele, durch die Differenzen unter Menschen überwunden werden, weil sie deren Kooperation erfordern.
»Die meisten von uns haben Identitäten, die einander überlappen und uns mit sehr unterschiedlichen Gruppen verbinden. Wir können lieben, was wir sind, ohne zu hassen, was und wer wir nicht sind. Wir können uns in unserer eigenen Tradition weiterentwickeln und dabei sogar noch von den anderen lernen.« UN-Generalsekretär Kofi Annan bei seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 2001
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Kapitel 15 · Sozialpsychologie
George W. Bush stieg in Gallup-Umfragen von 51% in der Woche vor dem Angriff auf die noch nie da gewesene Höchstquote von 90% 10 Tage danach und überschritt den bisherigen Rekord an Zustimmung von 89%, den sein Vater George Bush mitten im Golfkrieg 1991 erreicht hatte (Newport 2002). Sogar in Chats und in Alltagsgesprächen trat das Wort »wir« (im Vergleich zu »ich«) häufiger auf (Pennebaker 2002). ! Zusammenarbeit hat besonders dann positive Auswirkungen, wenn sie Menschen dazu bringt, frühere Untergruppen aufzulösen und gemeinsam eine neue Gruppe zu bilden (Dovidio u. Gaertner 1999).
Übergeordnete Ziele sind stärker als Unterschiede Kooperative Anstrengungen, um gemeinsame Ziele zu erreichen, sind eine wirksame Methode zum Abbau sozialer Barrieren
Syracuse Newspapers/The Image Works
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Setzen Sie die Mitglieder zweier Gruppen nicht auf die gegenüber liegenden Seiten eines Tisches, sondern im Wechsel nebeneinander um den Tisch herum. Geben Sie ihnen einen neuen, gemeinsamen Namen. Lassen Sie sie zusammenarbeiten. Solche Experimente verwandeln das »wir und die« in ein »wir.« Diejenigen, die zuvor als Mitglieder einer anderen Gruppe wahrgenommen wurden, werden jetzt als Teil der eigenen Gruppe gesehen. Ein 18-Jähriger aus New Jersey wäre nicht überrascht. Nach dem 11. September 2001 erklärte er den Wandel seiner sozialen Identität: »Ich hielt mich selbst einfach für einen Schwarzen. Doch heute fühle ich mich als Amerikaner, mehr denn je« (Sengupta 2001). In einem Experiment von Dovidio et al. (2004) äußerten weiße Amerikaner, die einen Zeitungsartikel über eine terroristische Drohung gegen alle Amerikaner lasen, weniger Vorurteile gegenüber Afroamerikanern. In den 70er-Jahren fragten sich verschiedene Teams von Bildungsforschern gleichzeitig: Wenn kooperative Kontakte zwischen Mitgliedern rivalisierender Gruppen positive Einstellungen fördern, könnten wir dieses Prinzip dann in multikulturellen Schulen anwenden? Könnten wir Freundschaften unter verschiedenen ethnischen Gruppen fördern, indem wir kompetitive Klassenzimmersituationen durch kooperative ersetzen? Und könnten wir kooperatives Lernen aufrechterhalten oder sogar die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessern? Viele Experimente bestätigen, dass die Antwort auf alle 3 Fragen »Ja« lautet (Johnson u. Johnson 1989, 1994; Slavin et al. 2003). Mitglieder verschiedener ethnischer Gruppen, die gemeinsame Projekte bearbeiten und zusammen in Sportmannschaften spielen, sind in der Regel den Mitgliedern der anderen ethnischen Gruppierung wohlgesonnen. Dies trifft auch auf diejenigen zu, die im Klassenzimmer kooperativ lernen. Diese Ergebnisse sind so ermutigend, dass Tausende von Lehrern in den USA das Konzept eines ethnisch gemischten, kooperativen Lernens nutzen. Die Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Schülerinnen und Schüler ist dabei die denkbar beste Vorbereitung auf das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft, erklärte das Carnegie Council on Adolescent Development (1989). Der große Einfluss kooperativer Aktivitäten, die aus früheren Feinden Freunde werden lassen, hat Psychologen dazu gebracht, auf einen verstärkten Austausch und eine bessere Zusammenarbeit auf internationaler Ebene zu drängen (Klineberg 1984). Wenn wir uns für einen Handel engagieren, der beiden Seiten Gewinne bringt, wenn wir daran arbeiten, unser gemeinsames Leben auf diesem gefährdeten Planeten zu schützen, und wenn uns deutlicher bewusst wird, dass wir alle dieselben Hoffnungen und Ängste haben, können wir Missverständnisse, die zu Zersplitterung und Konflikten führen, in eine auf gemeinsamen Interessen beruhende Solidarität verwandeln. Auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten, befähigt unterschiedliche Menschen, eine Einheit in ihren gemeinsamen Wertvorstellungen und in ihrer übergeordneten Identität zu entdecken. »Gemeinsame Wertvorstellungen« sind das, was wir brauchen, erklärte der Vorsitzende der Commission for Racial Equality in Großbritannien, als vor kurzem ethnische Spannungen aufflammten (Phillips 2004). Und die heutige Regierung von Ruanda erklärt: »Hier gibt es keine Ethnien. Wir sind alle Ruander«; sie versucht, die historischen Animositäten zwischen Tutsis und Hutus aufzulösen (Lacey 2004). Im Wesentlichen wurden die westlichen Demokratien vor ethnischen Stammeskriegen bewahrt, weil ihre verschiedenen ethnischen Gruppen so viele Ziele gemeinsam haben, merkt der Soziologe Etzioni (1999) an. In den Vereinigten Staaten gehören zu diesen gemeinsamen Zielen die faire Behandlung aller Menschen, höhere moralische Standards und der Wunsch, dass alle Highschool-Absolventen »die gemeinsame Geschich-
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te und die gemeinsamen Auffassungen verstehen, die alle Amerikaner miteinander verbinden«. Obwohl die Vielfalt Aufmerksamkeit erfordert, sind wir uns eher ähnlich als unterschiedlich – und daran erinnert uns die Arbeit in Richtung auf gemeinsame Ziele.
Kommunikation Im zuvor erwähnten Spiel zur sozialen Falle, dem Gefangenendilemmaspiel, sind die Menschen misstrauisch und verfolgen ihre eigenen Interessen, weil sie nicht ausgenutzt werden wollen. Aber wenn sie die Möglichkeit haben, über das Dilemma zu sprechen und zu verhandeln, nimmt die Zusammenarbeit zu (Jorgenson u. Papciak 1981). ! Wenn alltägliche Konflikte übermächtig werden, kann eine dritte Partei als Vermittler dazu beitragen, die dringend benötigte Kommunikation zu erleichtern.
Dabei kann es sich um eine Eheberaterin, einen Berufsberater, einen Diplomaten oder einen freiwilligen Helfer aus der Nachbarschaft handeln (Rubin et al. 1994). Vermittler helfen jeder Partei, ihre Sichtweise zum Ausdruck zu bringen und die Sichtweise der anderen Seite zu verstehen. Indem beide Seiten dazu gebracht werden, über die Bedürfnisse und Ziele der anderen nachzudenken, trägt der Vermittler dazu bei, die kämpferische Gewinner-Verlierer-Orientierung durch eine kooperative Gewinner-Gewinner-Orientierung zu ersetzen, bei der eine für beide Seiten Gewinn bringende Lösung angestrebt wird. Ein klassisches Beispiel: Zwei Freunde, die sich wegen einer Orange gestritten hatten, kamen überein, sie zu teilen. Der eine presste seine Hälfte aus, um den Saft herauszudrücken. Die andere verwendete die Schale ihrer Hälfte zum Kuchenbacken. Wenn beide die Motive des anderen gekannt hätten, hätten sie zur Gewinner-Gewinner-Lösung finden können und einer hätte den ganzen Saft, die andere die ganze Schale bekommen. Verständigungen und kooperative Lösungen dieser Art werden dringend gebraucht, sind aber in Zeiten der Wut oder der Krise sehr unwahrscheinlich (Bodenhausen et al. 1994; Tetlock 1988). Wenn die Konflikte zunehmen, werden die Ansichten stereotyper, die Kommunikation schwieriger und die Urteile rigider.
Versöhnung Haben Spannungen und Verdächtigungen ihren Höhepunkt erreicht, werden Kooperation und Kommunikation wahrscheinlich unmöglich. Jede Partei neigt dazu, die andere zu bedrohen, sie zu nötigen oder sich zu rächen. In den Wochen vor dem Golfkrieg drohte der amerikanische Präsident George Bush in aller Öffentlichkeit damit, Saddam »einen Tritt in den Hintern zu geben«. Saddam Hussein kommunizierte auf ähnliche Weise und drohte damit, die Amerikaner »in ihrem eigenen Blut schwimmen zu lassen«. Gibt es unter solchen Bedingungen eine Alternative zum Krieg oder zur Kapitulation? Der Sozialpsychologe Osgood (1962, 1980) trat für eine Strategie der »schrittweisen und wechselseitigen Initiativen zur Spannungsreduktion«, kurz GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction) ein. Bei der Anwendung der GRIT-Strategie erkennt eine Seite zunächst die jeweiligen Interessen an und gibt ihre Absicht bekannt, die Spannungen zu verringern. Dann initiiert sie eine oder mehrere kleine, versöhnliche Gesten. Ohne die eigene Vergeltungsfähigkeit zu schwächen, gibt solch ein bescheidener Anfang der anderen Partei die Möglichkeit, dies zu erwidern. Sollte der Feind allerdings feindselig reagieren, kann man reziprok agieren. Das Gleiche gilt für eine versöhnliche Reaktion. So löste etwa Präsident Kennedys Geste, die Atomtests in der Atmosphäre zu beenden, als Erwiderung eine Reihe versöhnlicher Gesten aus, die in einem Vertrag gipfelten, durch den Atomtests in der Atmosphäre verboten wurden. In Laborversuchen erwies sich GRIT als wirksamste Strategie zum Aufbau von Vertrauen und Zusammenarbeit (Lindskold et al. 1978, 1988). Sogar während eines heftigen persönlichen Konflikts, wenn es praktisch keine Kommunikation mehr gibt, kann eine kleine versöhnliche Geste, z. B. ein Lächeln, eine Berührung oder ein Wort der Entschuldigung Wunder wirken. ! Kleine Gesten und Zugeständnisse ermöglichen beiden Parteien, Spannungen zu verringern, so dass Kommunikation und gegenseitiges Verständnis beginnen können.
Und wie gut, dass so etwas geschehen kann. Denn durch kulturelle Isolation – durch Mauern um ethnische Enklaven herum – kann die Zivilisation keine Fortschritte machen, wohl aber durch das
GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction): Schrittweise und wechselseitige Initiativen zur Spannungsreduktion – eine Strategie zur Verringerung internationaler Spannungen.
Kapitel 15 · Sozialpsychologie
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»Zunächst möchte ich meinen aufrichtigen Dank und meine tiefe Wertschätzung dafür zum Ausdruck bringen, dass ich von Ihnen eingeladen wurde. Wenngleich noch tiefgreifende Differenzen zwischen uns bestehen, glaube ich dennoch, dass die bloße Tatsache, dass ich heute hier sein darf, einen entscheidenden Durchbruch darstellt.«
Anzapfen von Wissen, durch die Beschäftigung mit den Fähigkeiten und Künsten, die ein Vermächtnis jeder einzelnen Kultur für die ganze Menschheit sind. Sowell (1991) beobachtete, dass dank des kulturellen Austauschs jede moderne Gesellschaft durch kulturelle Vermischung bereichert wird. China haben wir das Papier und das Drucken sowie den Magnetkompass zu verdanken, der uns den Weg zu großartigen Entdeckungen wies. Ägypten verdanken wir die Trigonometrie. Der islamischen Welt und den Hindus in Indien verdanken wir u. a. unsere Zahlzeichen. Während wir diese vielfältigen kulturellen Traditionen feiern und nutzen, können wir auch die Bereicherung unserer heutigen sozialen Vielfalt willkommen heißen. Wir können uns selbst als Instrument im Orchester der Menschheit begreifen. Und daher können wir, wenn wir über einander nachdenken, uns gegenseitig beeinflussen und in Beziehung zueinander treten. Wir können zu unserem eigenen kulturellen Erbe stehen und dabei Brücken der Kommunikation, des Verständnisses und der Zusammenarbeit über alle kulturellen Traditionen hinweg errichten.
Lernziele Abschnitt 15.3 Soziale Beziehungen Ziel 13: Nennen Sie die 3 Komponenten des Vorurteils. Ein Vorurteil ist eine Einstellung, die sich aus Überzeugungen, Emotionen und Prädispositionen für Handlungen zusammensetzt. Die Überzeugungen sind häufig Stereotype (manchmal zutreffende, aber oft übergeneralisierende Überzeugungen). Die Emotionen sind meist negativ, und die Handlung ist gewöhnlich eine Diskriminierung (ungerechtfertigtes negatives Verhalten). Ziel 14: Stellen Sie subtile und offene Formen des Vorurteils einander gegenüber, und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür. Ein offenes Vorurteil (wie etwa die Verweigerung des Wahlrechts für eine bestimmte ethnische Gruppe) ist eine Diskriminierung, bei der explizit negative Überzeugungen und Emotionen zum Ausdruck gebracht werden. Ein subtiles Vorurteil (wie etwa bei Anwesenheit eines Fremden mit einem bestimmten ethnischen Hintergrund Angst zu empfinden) ist ein impliziter (oft unbewusster) Ausdruck negativer Überzeugungen und Emotionen.
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Ziel 15: Erörtern Sie die sozialen Faktoren, die zum Vorurteil beitragen. Ein sozialer Faktor, der etwas zum Vorurteil beiträgt, ist die Ungleichheit (ungleiche Verteilung von Geld, Macht und Prestige) innerhalb einer Gruppe; unter diesen Bedingungen entwickeln diejenigen, die etwas haben, negative Einstellungen gegenüber denen, die nichts haben, um ihre privilegiertere Position zu rechtfertigen. Definitionen der sozialen Identität (»wir«, die Eigengruppe, im Gegensatz zu »sie«, der Fremdgruppe) sind eine weitere Quelle für ein Vorurteil, weil sie zur EigengruppenVerzerrung (einer Neigung, die eigene Gruppe zu begünstigen) und zu Diskriminierung führen.
Ziel 16: Erklären Sie, warum es sich um ein anschauliches Beispiel für die emotionale Komponente des Vorurteils handelt, wenn man jemanden zum Sündenbock macht. Problematische Zeiten, vor allem diejenigen, die uns an unsere Sterblichkeit erinnern, rufen Gefühle von Angst und Wut hervor. In dem Maße, wie die Loyalität gegenüber der Eigengruppe und das Vorurteil gegenüber der Fremdgruppe stärker werden, suchen die Menschen möglicherweise nach einem Sündenbock – jemanden, dem man die Schuld für das problematische Ereignis zuschieben kann. Wenn man Menschen verunglimpft und verachtet, kann dadurch das Selbstwertgefühl der Eigengruppenmitglieder drastisch zunehmen. Ziel 17: Geben Sie 4 Wege an, wie kognitive Prozesse dazu beitragen, ein Vorurteil entstehen zu lassen und es aufrechtzuerhalten. Wir vereinfachen die Welt um uns herum, indem wir Kategorien schaffen. Aber wenn wir Menschen kategorisieren, belegen wir sie oft mit einem Stereotyp: Wir übergeneralisieren ihre charakteristischen Merkmale und unterschätzen ihre Unterschiede. Wir neigen auch dazu, die Häufigkeit von Ereignissen aufgrund eindrucksvoller Fälle (z. B. Gewalt) zu überschätzen, die uns schneller durch den Kopf schießen als die lange Kette weniger eindrücklicher Ereignisse, die mit derselben Gruppe zu tun haben. Wenn Menschen nicht die gleichen Vorrechte wie andere bekommen oder gar bestraft werden, rechtfertigen wir dies möglicherweise durch das Phänomen der gerechten Welt und unterstellen, dass die Welt gerecht ist und die Leute das bekommen, was sie verdient haben. Die Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsight-Bias: Tendenz, nachdem man von einem Ereignis erfahren hat, zu glauben, man hätte es vorhersehen können) kann zu der Neigung beitragen, dem Opfer die Schuld zu geben. 6
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Ziel 18: Erklären Sie, inwiefern sich die psychologische Definition der Aggression von der Verwendung dieses Begriffs im Alltag unterscheidet. Die psychologische Definition der Aggression lautet: »jedes körperliche oder verbale Verhalten, mit dem die Absicht verfolgt wird, zu verletzen oder zu zerstören«. Hier handelt es sich um eine präzisere Definition, als es die Definition im Alltag ist; sie umfasst Verhaltensweisen (wie etwa das Töten eines Menschen in militärischen Zusammenhängen), die in der alltagssprachlichen Verwendung nicht dazugehören würden. Ziel 19: Beschreiben Sie 3 Niveaus biologischer Einflüsse auf Aggression. Psychologen lehnen die Auffassung ab, Aggression sei ein Instinkt, und bekräftigen, dass sie das Ergebnis einer Interaktion zwischen Biologie und Erfahrung ist. Die Gene haben einen Einfluss auf die Aggression, beispielsweise dadurch, dass sie unser Temperament beeinflussen. Experimente, bei denen Teile des Gehirns stimuliert werden, belegen, dass es im Gehirn neuronale Systeme gibt (wie etwa die Amygdala und die Frontallappen), die Aggression aktivieren und hemmen. Studien über die Auswirkungen der Hormone (z. B. Testosteron), Alkohol (der enthemmt) und andere Substanzen zeigen, dass biochemische Einflüsse zur Aggression beitragen. Ziel 20: Skizzieren Sie 4 psychologische Auslöser von Aggression. Durch biologische Faktoren wird die Schwelle für Aggressivität festgelegt, durch psychologische Faktoren dagegen wird aggressives Verhalten ausgelöst. Aversive Ereignisse (wie etwa Umweltbedingungen oder soziale Ablehnung) können Frustration hervorrufen, die wiederum zu Gefühlen der Wut und der Feindseligkeit führt. Die Verstärkung aggressiven Verhaltens kann erlernte Muster der Aggression hervorrufen, die sich nur schwer wieder ändern lassen. Ein Beispiel: Abends auf der Straße droht ein Jugendlicher einem anderen Jugendlichen Schläge an, wenn er ihm nicht sofort eine Packung Zigaretten aus dem Automaten holt. Der macht es, und kann ohne Prügel weitergehen. Der potenzielle Schläger hat etwas gelernt: Er kann durch ein negatives Verhalten an sein Ziel kommen, er wurde negativ verstärkt. Das wirkt sich langfristig auf sein Verhalten aus. Menschen können auch Aggressionen lernen und gegenüber Gewalt desensibilisiert werden, indem sie Vorbilder, die aggressiv handeln, persönlich (Beobachtung von Gewalt z. B. innerhalb der Familie oder in der Nachbarschaft) oder in den Medien (Beobachtung von Gewalt oder sexueller Aggression im Fernsehen oder im Kino) beobachten. Gewaltdarstellungen in den Medien können auf eine andere Weise Aggression auslösen: indem sie soziale Skripts liefern (kulturell sanktionierte Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation). Ziel 21: Erörtern Sie die Auswirkungen gewalttätiger Videospiele auf soziale Einstellungen und auf das Verhalten. Gewaltbetonte Videospiele können das aggressive Verhalten dadurch zunehmen lassen, dass soziale Skripts geliefert werden und die Gelegenheit geboten wird, Modelle für Aggressionen zu beobachten und aggressive Rollenspiele durchzuführen. Wenn man solche Spiele spielt, kann dies die Erregung und Gefühle der Feindseligkeit intensiver werden lassen, es kann als Prime (Vorreiz) für aggressive Gedanken dienen, die
Aggression zunehmen lassen und (bei Jugendlichen) dazu führen, dass sie verstärkt an Streitereien und körperlichen Auseinandersetzungen teilnehmen und schlechte Noten bekommen. Durch Spiele mit virtueller Realität können diese Auswirkungen sogar noch stärker werden. Ziel 22: Erklären Sie, wie soziale Fallen und die spiegelbildliche Wahrnehmung einen sozialen Konflikt anheizen können. Soziale Konflikte sind Situationen, in denen Menschen ihre Handlungen, Ziele oder Auffassungen als etwas wahrnehmen, was nicht miteinander vereinbar ist. Bei sozialen Fallen beteiligen sich zwei oder mehr Individuen an einem füreinander zerstörerischen Verhalten, indem sie rational ihre eigenen persönlichen Interessen verfolgen, ohne auf das Wohl anderer Rücksicht zu nehmen. Wenn man Menschen hilft, sich auf Regeln zu einigen, besser miteinander zu kommunizieren und sich in stärkerem Maße der Verantwortung gegenüber dem anderen bewusst zu sein, kann dies die Zusammenarbeit fördern und können soziale Fallen vermieden werden. Im Konflikt neigen die Menschen dazu, beim anderen das Schlimmste wahrzunehmen und Spiegelbilder derselben Dämonen hervorzuzaubern. Die Wahrnehmungen können zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden; diese lösen die Reaktionen aus, die das Bild vom anderen bestätigen. Ziel 23: Beschreiben Sie den Einfluss von Nähe, physischer Attraktivität und Ähnlichkeit auf die interpersonale Anziehung. Nähe – geographische Nähe – fördert die Anziehungskraft, z. T. weil sie die Gelegenheit für Interaktionen zunehmen lässt und z. T. wegen des Mere-exposure-Effekts (wiederholte Darbietung neuartiger Reize führt dazu, dass man sie mehr mag). Auch physische Attraktivität lässt die Gelegenheiten für Interaktion zunehmen. Die Menschen ziehen es vor, mit attraktiven Personen zusammen zu sein, und nehmen sie als gesünder, glücklicher, sensibler, erfolgreicher und sozial kompetenter wahr. Urteile über die Attraktivität sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich; und im Laufe der Zeit finden wir diejenigen attraktiver, die uns mehr am Herzen liegen. Die Ähnlichkeit der Einstellungen und Interessen führt dazu, dass Menschen uns sympathischer werden, nachdem wir mit ihnen über das Stadium des ersten Eindrucks hinaus sind. Die Belohnungstheorie der Anziehung besagt, dass wir dazu neigen, Menschen zu mögen, deren Verhalten belohnend für uns ist; und wir werden Beziehungen aufrechterhalten, die mehr Belohnungen bieten, als sie Kosten verursachen. Ziel 24: Beschreiben Sie die Auswirkung körperlicher Erregung auf leidenschaftliche Liebe, und nennen Sie 2 Prädiktoren für dauerhafte kameradschaftliche Liebe. Wenn man Erregung mit einem liebenswerten Menschen in Verbindung bringt, so ist dies ein zentraler Bestandteil leidenschaftlicher Liebe, dem intensiven Ineinander-Aufgehen, das wir kognitiv als Liebe einstufen. Die leidenschaftliche Liebe reift oft zur tiefen affektiven Bindung der kameradschaftlichen Liebe heran. Dieser Übergang erfolgt am ehesten in Beziehungen, die sich durch gerechten Ausgleich der Interessen innerhalb der Beziehung und durch intime Selbstoffenbarung kennzeichnen lassen. 6
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Ziel 25: Definieren Sie Altruismus, und geben Sie ein Beispiel dafür. Altruismus ist das selbstlose Interesse am Wohlergehen anderer. Zu den Beispielen für Altruismus zählt es, dass man Opfern bei einer Naturkatastrophe hilft oder dass man einer lokalen Einrichtung für die Obdachlosenhilfe Lebensmittel spendet, ohne dass man eine persönliche Belohnung dafür erwarten kann. Ziel 26: In welchen Stufen verläuft der Entscheidungsprozess, wenn Zuschauer in einem Notfall helfen sollten. Beim Zuschauereffekt handelt es sich um die von John Darley und Bibb Latané entdeckte Tendenz, dass jeder Beobachter mit geringerer Wahrscheinlichkeit helfen wird, wenn andere anwesend sind. Damit eine Person Hilfe anbietet, muss sie den Vorfall bemerken, ihn als Notfall interpretieren und die Verantwortung für die Hilfeleistung übernehmen. Die Verantwortungsdiffusion lässt die Wahrscheinlichkeit für Hilfeverhalten geringer werden. Die Chancen für Hilfe sind am größten, wenn uns das Opfer ähnlich ist und es allem Anschein nach Hilfe braucht und verdient, wenn wir andere dabei beobachten, wie sie helfen, wenn wir uns schuldig fühlen, nicht in Eile oder beschäftigt sind, uns in einer Kleinstadt oder im ländlichen Bereich befinden und in guter Stimmung sind. Ziel 27: Erklären Sie altruistisches Verhalten vom Standpunkt der Theorie des sozialen Austauschs und der sozialen Normen. Die Theorie des sozialen Austauschs geht davon aus, dass unser Sozialverhalten – sogar altruistisches Hilfeverhalten – auf dem Eigeninteres-
se beruht: unseren Nutzen zu maximieren (hierzu könnte auch gehören, dass wir uns damit gut fühlen) und unsere Kosten zu minimieren. Soziale Normen beeinflussen altruistisches Verhalten, indem sie uns Informationen darüber geben, wie wir uns verhalten sollten. Die Reziprozitätsnorm ist die Erwartung, dass wir denen, die uns geholfen haben, auch helfen werden. Und die Norm der sozialen Verantwortung ist die Erwartung, dass wir denen, die von uns abhängig sind, helfen werden. Ziel 28: Erörtern Sie wirkungsvolle Methoden, um die friedliche Zusammenarbeit zu fördern und soziale Konflikte abzubauen. Ein freundschaftlicher Kontakt zwischen Menschen mit Vorurteilen kann Einstellungen verändern. Aber ein sozialer Konflikt wird am ehesten abgebaut, wenn die äußeren Umstände die Zusammenarbeit auf folgenden Gebieten begünstigen: das Erreichen übergeordneter Ziele (vor allem wenn sich die bestehenden Untergruppen auflösen), Verständnis durch Kommunikation (manchmal durch die Hilfe von Dritten) und wechselseitige versöhnliche Gesten (wie etwa durch die Strategie der schrittweisen und wechselseitigen Initiativen zur Spannungsreduktion, genannt GRIT). > Denken Sie weiter: Bedauern Sie es, dass Sie Freunde oder Familienmitglieder haben, mit denen Sie nicht zurechtkommen? Wie könnten Sie vorgehen, um diese Beziehungsprobleme zu lösen?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Als Marco an einem Wintertag Auto fährt, kann er gerade noch einem Wagen ausweichen, der an einer roten Ampel weiterrutscht. »Fahr doch langsamer! Was für ein schlechter Fahrer«, denkt er bei sich. Einige Augenblicke später rutscht Marco selbst über eine Kreuzung und stöhnt: »Oh je, die Straßenverhältnisse sind wirklich grauenhaft. Die Stadt muss hier den Schneepflug mal einsetzen.« Welches sozialpsychologische Prinzip hat Marco gerade verdeutlicht? Erklären Sie warum. 2. Sie organisieren in einer großen Halle eine Veranstaltung mit politischen Kandidaten, die sich in einem heftigen Wettkampf befinden. Freunde von Ihnen haben vorgeschlagen, dass Sie zum Spaß Gesichtsmasken ans Publikum ausgeben sollen. Die Unterstützer des jeweiligen Kandidaten sollen seine Gesichtsmaske tragen. Welches Phänomen könnte aufgrund dieser Masken auftreten? 3. Warum half niemand Kitty Genovese? Welches Prinzip, das in sozialen Beziehungen gilt, wurde durch diesen Vorfall veranschaulicht?
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L Deutsche Literatur zum Thema Bierhoff, H. W. (2006). Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch, 6. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Frey, D. & Irle, M. (Hrsg.). (2002). Theorien der Sozialpsychologie, 3 Bde., 2. Aufl. Bern: Huber. Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M. R. C. (Hrsg.). (2007). Sozialpsychologie. Ein Einführung, 5. Aufl. Heidelberg: Springer. Milgram, S. (2003). Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, 13. Aufl. Hamburg: Rowohlt. Sommer, G. & Fuchs, A. (Hrsg.). (2004). Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz.
16 Stress und Gesundheit 16.1
Stress und Krankheit – 693
16.1.1 16.1.2 16.1.3
Stress und Stressoren – 693 Stress und Herzkrankheiten – 698 Stress und Krankheitsanfälligkeit – 701
16.2
Gesundheitsförderung – 706
16.2.1 16.2.2 16.2.3
Bewältigung von Stress – 707 Umgang mit Stress – 712 Änderung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen – 720
Andere Kulturen, andere Perspektiven »Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, all dies sei ohne Belang. Ich sehe es als ernstlichen Einbruch in mein Arbeiten/Leben, aber auch als ernst zu nehmende Chance, etwas Nützliches zu lernen, das ich mit anderen teilen kann. Und ich trauere unm die Frauen, die ihren Verlust auf das rein Körperliche beschränken und nicht weitergehen, um die ganze fürchterliche Bedeutung unserer Sterblichkeit – sowohl als Waffe wie auch als Macht – zu ermessen. Denn was hätten wir letztlich überhaupt noch zu fürchten,
wenn wir uns eingestünden, dass wir dem Tod von Angesicht zu Angesicht begegnet sind, ohne uns ihm anheimzugeben? Wer, wenn wir unser Sterben einmal wirklich angenommen haben, könnte je wieder Macht über uns erlangen? Ich sehne mich jetzt ungeduldig danach, mehr zu leben – die Süße des Augenblicks und jedes Wunder zu kosten, das mich durch meine Tage begleitet, und daran teilzuhaben …
Audre Lorde (1934–1992), »Auf Leben und Tod. Krebstagebuch« (S. 57). Berlin: Orlanda-Frauenverlag. 5. Oktober 1978
692
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Stress und Gesundheit
Verhaltensmedizin (behavioral medicine): interdisziplinärer Bereich, in dem verhaltenswissenschaftliche (psychologische) und medizinische Erkenntnisse zusammengeführt und auf den Bereich Gesundheit und Krankheit angewandt werden. Gesundheitspsychologie (health psychology): Teilbereich der Psychologie, der den Beitrag der Psychologie zur Verhaltensmedizin liefert.
16
. Abb. 16.1. Die 4 häufigsten Todesursachen in den USA in den Jahren 1900 und 2000 Aufgrund des Sieges über die hauptsächlichen Infektionskrankheiten haben sich heute Krankheiten, die durch das Verhalten beeinflusst werden, zu den wichtigsten Todesursachen entwickelt. Und dies trifft praktisch in gleichem Maße auf Kanada, Australien, Neuseeland und die meisten Länder in Europa zu. (Nach National Center for Health Statistics, »World Health Statistics Annual« und Statistics Canada 2002)
> Wir alle wissen, dass psychische Zustände körperliche Reaktionen auslösen. Wenn wir wegen eines wichtigen Treffens nervös sind, bekommen wir Magenschmerzen. Wenn wir Angst haben, in der Öffentlichkeit zu sprechen, müssen wir öfter auf die Toilette. Wenn ein Konflikt mit einem Familienmitglied in uns schwelt, bekommen wir rasende Kopfschmerzen. Dauert der Stress an, kann er (bei denen, die physiologisch dafür veranlagt sind) auch zu Hautausschlägen, Asthmaanfällen oder Bluthochdruck führen. Diese Verbindung von Körper und Seele wurde z. B. deutlich bei einem Zwischenfall, der sich bei der British Airways am 23. April 1999 auf einem Flug von San Francisco nach London ereignete: Drei Stunden nach dem Start wurde den Passagieren in einer versehentlich abgespielten Ansage mitgeteilt, dass das Flugzeug gleich ins Meer stürzen würde. Auch wenn die Crew den Irrtum sofort erkannte und versuchte, die erschrockenen Passagiere zu beruhigen, baten einige Fluggäste um medizinische Hilfe (Associated Press 1999). In Verbindung mit gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen kann länger anhaltender Stress zu erhöhtem Risiko für eine von 4 schweren Erkrankungen und Haupttodesursachen führen: Herzerkrankungen, Krebs, Schlaganfall und chronische Lungenerkrankung (. Abb. 16.1). Die Forscher des Centers of Disease Control führten 50% aller Todesfälle in den USA auf das Verhalten der Patienten zurück: auf Rauchen, Alkoholmissbrauch, ungeschützten Sex, die Nichtbeachtung ärztlicher Anweisungen, zu wenig Bewegung, illegale Drogen und schlechte Ernährung (Mokdad et al. 2004). Könnten wir diese verhaltensbedingten Krankheitsursachen verändern, würde das Leiden vermindert, die Lebenserwartung erhöht und die Lebensqualität verbessert. Um diese Ziele zu erreichen, arbeiten Psychologen im Bereich der Gesundheitspsychologie; Psychologen und Ärzte schufen zudem das interdisziplinäre Fach der Verhaltensmedizin, das Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung und aus der Medizin integriert. In den Bereichen Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin arbeiten im deutschsprachigen Raum ca. 1.500 Psychologen. Es handelt sich um ein Anwendungsgebiet, das zusammen mit der Erkenntnis, wie wichtig Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung sind, zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das Interesse an diesem Fachgebiet hat seit 1978, als die »Division of Health Psychology« der American Psychological Association gegründet wurde, enorm zugenommen. Heute zählt sie über 5000 Mitglieder.
693 16.1 · Stress und Krankheit
16
Für Psychologen ist Gesundheit mehr als »nur die langsamste Art zu sterben« (Prairie Home Companion 1999). Gesundheitspsychologen fragen: Wie beeinflussen unsere Emotionen und unsere Persönlichkeit unser Krankheitsrisiko? Welche Einstellungen und Verhaltensweisen können Krankheiten vorbeugen sowie Gesundheit und Wohlergehen fördern? Inwieweit bestimmt die Art und Weise, wie man eine Situation wahrnimmt und bewertet, den Stress, den man in der Situation wahrnimmt? Wie können wir Stress reduzieren oder kontrollieren?
16.1
Stress und Krankheit
Ziel 1: Geben Sie einige Krankheits- und Todesursachen an, die mit dem Verhalten zusammenhängen.
Karl ist zu seinem Campingplatz im Gebirge unterwegs und hört plötzlich ein Rascheln zu seinen Füßen. Als er eine Klapperschlange erblickt, versetzt dies seinen Körper in Alarmbereitschaft: Seine Muskeln spannen sich an, Adrenalin wird ausgeschüttet, sein Herz pocht laut, und er flieht und rennt zum sicheren Campingplatz. Dort angekommen, entspannen sich seine Muskeln allmählich, sein Herzschlag und sein Atem beruhigen sich. Etwa zur selben Zeit verlässt Karin ihre Vorstadtwohnung und kommt wegen einer Baustelle erst so spät am Bahnhof an, dass sie ihren Zug nur noch abfahren sieht. Sie nimmt den nächsten Zug, kommt spät in der Stadt an und kämpft sich in der Hauptverkehrszeit durch Unmengen von Fußgängern. Als sie bei der Bank eintrifft, entschuldigt sie sich bei ihrem ersten Kunden, der sich fragt, wo Karin denn bleibt und warum sein Quartalsbericht nicht fertig ist. Karin tut ihr Bestes, um den Kunden zu besänftigen. Hinterher spürt sie, wie angespannt ihre Muskeln sind und bemerkt, dass sie ihre Zähne zusammenbeißt. Karls Reaktion auf die Stresssituation rettete ihm das Leben; Karins Reaktion könnte, wenn sie chronisch wird, ihr Risiko erhöhen, eine schwere Krankheit oder andere stressbedingte Gesundheitsprobleme zu bekommen. Außerdem schläft sie vielleicht weniger und treibt auch weniger Sport, wenn sie sich unter Druck fühlt, raucht und trinkt dann vielleicht aber mehr, was auf lange Sicht ihren Gesundheitszustand weiter gefährdet.
16.1.1
Stress und Stressoren
Ziel 2: Erörtern Sie die Rolle der Bewertung bei der Art und Weise, wie wir auf stressreiche Ereignisse reagieren.
Vier von 10 Menschen geben häufig an, dass sie im Stress sind (Saad 2001). Was genau meinen sie damit? Umgangssprachlich ist Stress ein eher schwammiger Begriff. Er beschreibt Bedrohungen und Herausforderungen (»Karin stand sehr stark unter Stress«), aber auch unsere Reaktionen (»Als Karl die Klapperschlange sah, stand er subjektiv plötzlich stark unter Stress«). Karins verpasster Zug war ein Stressor, Karls körperliche und emotionale Reaktionen waren eine Stressreaktion, und der Prozess, mit dem Karin und Karl auf ihre Umwelt reagierten, war Stress. Somit ist Stress nicht nur ein Reiz oder eine Reaktion. Es handelt sich auch um einen Prozess, durch den wir Bedrohungen und Herausforderungen aus der Umwelt bewerten und bewältigen (. Abb. 16.2). Zu Stress kommt es weniger durch die Ereignisse selbst, sondern eher durch die Art und Weise, wie wir sie bewerten (Lazarus 1998). Der eine überhört knarrende Geräusche, wenn er allein zu Hause ist, und empfindet keinen Stress; ein anderer vermutet dahinter einen Einbrecher und gerät in einen Alarmzustand. Eine Person sieht eine neue berufliche Position als eine willkommene Herausforderung; eine andere sieht darin eher die Möglichkeit des Scheiterns. ! Wenn Stressoren nur kurz wirken oder als Herausforderung empfunden werden, können sie sich positiv auswirken. Ein momentaner Stress kann das Immunsystem in Gang setzen, um Infektionen abzuwehren und Wunden zu heilen (Segerstrom u. Miller 2004). Stress erregt uns auch und motiviert uns, Schwierigkeiten zu überwinden.
Stress (stress): Prozess, durch den wir bestimmte Ereignisse (Stressoren) wahrnehmen und darauf reagieren. Stressoren können als Bedrohung oder als Herausforderung bewertet werden.
694
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.2. Bewertung von Stress Die Ereignisse in unserem Leben fließen durch einen psychologischen Filter. Wie wir ein Ereignis bewerten, hat einen Einfluss darauf, wie viel Stress wir erleben und wie wirkungsvoll wir reagieren
Hochleistungssportler, erfolgreiche Entertainer, große Lehrer und Führungspersönlichkeiten blühen unter Stress geradezu auf und sind gerade dann besonders gut, wenn sie gefordert werden (Blascovich et al. 2004). Manche Menschen, die eine Krebserkrankung überwunden haben oder über den Verlust eines Arbeitsplatzes hinweggekommen sind, entwickeln daraus ein größeres Selbstwertgefühl und mehr Orientierung im Leben. In der Tat führt ein gewisser Stress in der Kindheit oder Jugend später zu emotionaler Widerstandskraft und körperlichem Wachstum (Landauer u. Whiting 1979). Eine schwierige Lage kann zu Wachstum führen. Das chinesische Zeichen für Krise, so O’Leary u. Ickovics (1995), ist eine Kombination aus den Symbolen für Gefahr und Gelegenheit. Stressoren können allerdings auch eine Bedrohung für uns darstellen. Starker oder lang anhaltender Stress kann sich schädlich auswirken. Die physiologischen Reaktionen von Kindern auf schweren Missbrauch sorgen dafür, dass sie später im Leben ein höheres Risiko haben, chronisch krank zu werden (Repetti et al. 2002). Soldaten, die nach heftigen Kämpfen während des Vietnamkriegs posttraumatische Stressreaktionen aufwiesen, litten auch später überdurchschnittlich häufig an Kreislauf-, Verdauungs- und Atembeschwerden sowie an Infektionskrankheiten (Boscarino 1997).
Das Stressreaktionssystem Ziel 3: Beschreiben Sie das Zwei-Bahnen-System, mit dessen Hilfe unser Körper auf Stress reagiert, und nennen Sie die 3 Phasen des allgemeinen Adaptationssyndroms.
16
Das medizinische Interesse an Stress lässt sich bis zu Hippokrates (460–377 v. Chr.) zurückverfolgen. Aber erst in den 1920er Jahren bestätigte der Physiologe Walter Cannon (1929), dass die Stressreaktion eine komplexe psychophysiologische Reaktion ist, die sich sowohl auf körperlicher als auch auf kognitiver Ebene manifestiert. Er beobachtete, dass extreme Kälte, Sauerstoffmangel und emotional aufwühlende Ereignisse die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin in den Nebennieren fördern. Wie wir bereits in der Diskussion über emotionale Aktivierung in 7 Kap. 13 gesehen haben, handelt es sich hierbei nur um eine Teilreaktion des sympathischen Nervensystems. Wird der Sympathikus durch eine der Hirnbahnen in Alarmzustand versetzt, beschleunigen sich auch der Herzschlag und die Atmung, das Blut wird vom Verdauungstrakt in die Skelettmuskulatur umgeleitet, der Schmerz wird verringert und Zucker und Fett werden aus den Körperdepots freigesetzt. All dies geschieht, um den Körper auf jene wunderbar adaptive Reaktion vorzubereiten, die Cannon Kampf-oder-Flucht-Reaktion nannte. Seit Cannons Zeit haben Physiologen noch ein weiteres Stressreaktionssystem entdeckt: Auf Befehl der Hirnrinde (über den Hypothalamus und die Hypophyse) schüttet der äußere Teil der Nebennieren Glukokortikoid-Stresshormone wie Kortisol aus (»Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse«). Die beiden Stresshormonsysteme arbeiten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, erklärt Sapolsky (2003): »Im Kampf-Flucht-Szenario gibt das Adrenalin die Waffen aus; die Glukokortikoide dagegen entwerfen die Baupläne für neue Flugzeugträger, die für die kriegerischen Anstrengungen benötigt werden« (. Abb. 16.3).
695 16.1 · Stress und Krankheit
16
Die 40-jährige Tätigkeit des kanadischen Wissenschaftlers Hans Selye (1936, 1976) im Bereich der Stressforschung ergänzte die Untersuchungsergebnisse von Cannon und trug dazu bei, dass Stress sowohl in der Psychologie als auch in der Medizin zu einem wichtigen Konzept wurde. Die Geschichte, wie Selye zu seinem Konzept der Stressreaktion kam, ist besonders erzählenswert: Selye hoffte, ein neues Sexualhormon zu entdecken, und spritzte deshalb Ratten ein Eierstockhormon. Er stellte 3 Reaktionen fest: eine Vergrößerung der Nebennierenrinde, eine Verkleinerung der Thymusdrüse (die krankheitsbekämpfende weiße Blutkörperchen enthält) und blutende Magengeschwüre. Da noch nie ein Hormon solche Symptome verursacht hatte, war Selye begeistert: »Im Alter von 28 Jahren schien ich bereits einem neuen Hormon auf der Spur zu sein.« Bald darauf wich jedoch seine Begeisterung großer Enttäuschung. Als er den Ratten andere Flüssigkeiten spritzte, beobachtete er die gleichen Reaktionen: Vergrößerung der Nebennierenrinde, Verkleinerung der Thymusdrüse und blutende Magengeschwüre. Dadurch kam Selye (1976, S. 24–26.) zu der Schlussfolgerung, dass die Reaktionen nicht durch ein neues Hormon bedingt waren: Alle meine Träume, ein neues Hormon zu entdecken, waren geplatzt. All die Zeit und das ganze Material, das ich in diese lange Studie investiert habe, waren vergeudet. … Ich wurde so deprimiert, dass ich ein paar Tage überhaupt nicht arbeiten konnte. Ich saß nur in meinem Labor und brütete vor mich hin … Die folgende Phase introvertierter Kontemplation sollte für meine ganze Karriere entscheidend sein; sie wies den Weg für all meine weitere Arbeit … Als ich immer wieder meine missglückten Versuche und deren mögliche Bedeutung durchging, fiel mir plötzlich auf, dass man sie ja unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachten konnte. Wenn es so etwas wie eine einzige unspezifische Körperreaktion auf die verschiedensten Schädigungen geben sollte, wären die allgemeinen medizinischen Implikationen des Syndroms enorm!
Um dieser Ahnung nachzugehen, beobachtete Selye die Reaktionen von Tieren auf verschiedene andere Stressoren wie Elektroschocks, operative Traumata und eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Er entdeckte, dass die adaptive Reaktion des Körpers auf Stress so allgemein war – wie eine Alarmanlage, die unabhängig von der Art des Eindringlings reagiert –, dass er sie allgemeines Adaptationssyndrom nannte. Selye teilte das allgemeine Adaptationssyndrom in 3 Phasen ein (. Abb. 16.4). Angenommen, Sie erleiden ein körperliches oder emotionales Trauma. In Phase 1 erleben Sie eine Alarmreaktion, ausgelöst durch eine plötzliche Aktivierung Ihres sympathischen Nervensystems. Ihr Herzschlag wird schneller. Blut strömt in Ihre Skelettmuskulatur. Sie fühlen sich durch den Schock wie betäubt. Sobald Ihre Ressourcen mobilisiert sind, sind Sie bereit, die Herausforderung anzunehmen und zu kämpfen: Das ist Phase 2, die Resistenz. Ihre Körpertemperatur und Ihr Blutdruck bleiben hoch, Sie atmen schnell, und es kommt zu einer plötzlichen Hormonausschüttung. Wenn diese Situation länger andauert, kann der Stress in Phase 3, der Erschöpfung, die Reserven Ihres Körpers schließlich aufbrauchen. Im Zustand der Erschöpfung sind Sie anfälliger für Krankheiten oder in Extremfällen gar für einen Kollaps oder Tod.
. Abb. 16.3. Zweibahniges Stressreaktionssystem Unser Körper reagiert auf Stress mit Hilfe eines zweibahnigen Stressreaktionssystems. (1) Das sympathische Nervensystem veranlasst die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin von den Nervenendigungen im inneren Teil der Nebennieren (Nebennierenmark). (2) Der zerebrale Kortex befiehlt vermittelt über den Hypothalamus und die Hypophyse die Ausschüttung der Glukokortikoid-Stresshormone durch den äußeren Teil der Nebennieren (Nebennierenrinde). Beide Systeme lösen in unserem Körper die physiologischen Wirkungen der Kampf-oder-Flucht-Reaktion aus, wie etwa schnellere Atmung und angespannte Muskeln
Allgemeines Adaptationssyndrom (general adaptation syndrome, GAS): Selyes Konzept einer adaptiven physiologischen Reaktion auf Stress in 3 Phasen: Alarmreaktion, Resistenz, Erschöpfung.
696
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb.16.4. Selyes allgemeines Adaptationssyndrom Nach einem Trauma gerät der Körper in einen Alarmzustand in Form eines zeitweiligen Schocks. Er erholt sich dann davon, wenn die Stressresistenz zunimmt. Bei länger anhaltendem Stress kann die nervliche Belastung zur Erschöpfung führen
Wie bereits dargestellt, ist man mittlerweile der Auffassung, dass es von der individuellen Bewertung einer Situation abhängt, wie stark eine Reaktion auf einen Stressor ist. Dennoch bezweifeln heute nur wenige Fachleute Selyes Grundaussage: ! Wenn der menschliche Körper auch imstande ist, eine Zeitlang mit Stress zurechtzukommen, kann länger anhaltender Stress körperliche Probleme verursachen.
16
In einer kürzlich durchgeführten Studie wiesen Frauen, die als Betreuungspersonen für Kinder mit schweren Erkrankungen unter anhaltendem Stress litten, ein Symptom auf, das als normaler Bestandteil des Alterungsprozesses gilt – sie hatten kürzere DNA-Endstücke an den Chromosomen (Epel et al. 2004). Wenn diese DNA-Endstücke, die man als Telomere bezeichnet, zu kurz werden, teilen sich die Zellen nicht mehr und sterben schließlich ab. Die Frauen, die dem stärksten Stress ausgesetzt waren, wiesen Zellen auf, die ein Jahrzehnt älter aussahen, als es ihrem chronologischen Alter entsprach. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum schwerer Stress Menschen anscheinend altern lässt. Man fand heraus, dass sogar ängstliche gestresste Ratten früher sterben (etwa nach 600 Tagen) als ihre zutraulicheren Geschwister, deren Lebensspanne im Schnitt 700 Tage beträgt (Cavigelli u. McClintock 2004). In anderen Studien machte man Kernspintomographien des Gehirns von Menschen, die einer lang andauernden Ausschüttung von Stresshormonen ausgesetzt waren, z. B. aufgrund eines mehrfachen Missbrauchs in der Kindheit, eines Kriegs oder einer endokrinen Störung (Sapolsky 1999). Die meisten hatten einen geschrumpften Hippocampus (innere Gehirnstruktur, die für unser deklaratives Gedächtnis wichtig ist). Auch bei Tieren können Stresssituationen – Unterordnung in einer Gruppe, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Isolation – zu einer Schrumpfung des Hippocampus führen (McEwen 1998, 2002). Derartige Forschungsergebnisse dienen den heutigen Gesundheitspsychologen als Anregung, weitere Fragen zu stellen: Was verursacht Stress? Und welche Auswirkungen hat Stress auf uns?
Kritische Lebensereignisse Ziel 4: Erörtern Sie die gesundheitlichen Folgen von Katastrophen, bedeutsamen Veränderungen im Leben und täglichem Ärger.
Die Forschung hat sich auf 3 Arten von Stressoren konzentriert: auf Katastrophen, auf bedeutsame Veränderungen im Leben und auf Ärger im Alltag (»daily hassles«).
697 16.1 · Stress und Krankheit
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Katastrophen sind unvorhersehbare Ereignisse mit schwerwiegenden Folgen, beispielsweise Krieg und Naturkatastrophen, die fast jeder als bedrohlich empfindet. Auch wenn Menschen sich oft nach solchen Ereignissen gegenseitig helfen und einander trösten, können schwere gesundheitliche Folgen auftreten. In den ersten 3 Wochen nach den Anschlägen am 11. September sagten zwei Drittel der befragten Amerikaner, sie hätten gewisse Konzentrations- und Schlafstörungen (Wahlberg 2001). In einer anderen landesweiten Umfrage gaben besonders die New Yorker solche Symptome an (NSF 2001). Im Großraum New York wurden plötzlich 28% mehr Schlaftabletten verschrieben (HMHL 2002). Haben solche Katastrophen generell so heftige Auswirkungen? Nach der Auswertung von Daten aus 52 Studien über Flut- und Brandkatastrophen und Orkane stellten Rubonis u. Bickman (1991) fest, dass die typischen Folgen weniger dramatisch, aber trotzdem direkt auf das Ereignis zurückzuführen sind. Nach einer Katastrophe nahm die Rate psychischer Störungen wie etwa Depressionen und Ängste um durchschnittlich 17% zu. Flüchtlinge, die aus ihrer Heimat fliehen, weisen auch eine erhöhte Rate psychischer Störungen auf. Ihr Stress resultiert aus dem Trauma der Entwurzelung, der Trennung von der Familie und den Herausforderungen, die eine Anpassung an die neue Sprache, die Menschen, das Klima und die gesellschaftlichen Normen der fremden Kultur erfordern (Pipher 2002; Williams u. Berry 1991).
Bedeutsame Veränderungen im Leben Die zweite Art von Stressoren, die sich auf bestimmte Ereignisse im Leben beziehen, sind bedeutsame Veränderungen im persönlichen Leben: das Verlassen des Elternhauses, der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Heirat oder Scheidung. Übergangs- und Unsicherheitsphasen werden gerade im frühen Erwachsenenalter besonders deutlich erlebt. Dies erklärt, warum von den 15.000 kanadischen Erwachsenen, die gefragt wurden, ob sie versuchten, zu viele Dinge gleichzeitig zu erledigen, die stärksten Stressreaktionen gerade von den jungen Erwachsenen angegeben wurden (. Abb. 16.5). Das gilt auch für die Amerikaner: Die Hälfte aller Erwachsenen unter 50 Jahren berichtet von »häufigem« Stress, während dies weniger als 30% derer tun, die über 50 sind (Saad 2001). In Deutschland konnten fast 31% der in einer allgemeinen Bevölkerungsumfrage (ALLBUS 2002) Befragten der Aussage »Mein Leben zu Hause ist selten stressig« nicht zustimmen, der Aussage »Mein Beruf ist nicht stressig« versagten sogar 67% die Zustimmung.
Les Stone/Corbis
Katastrophen
Schädlicher Stress 1994, am Tag eines Erdbebens in Los Angeles, erlebte die Stadt eine 5-fache Zunahme der Herzinfarkte, die sofort zum Tod führten – vor allem in den ersten beiden Stunden nach dem Beben und in der Nähe des Epizentrums. Körperliche Strapazen (durch Weglaufen und Wegräumen von Trümmern) waren in nur 13% der Todesfälle ein Einflussfaktor; dadurch bleibt Stress als wahrscheinlicher Auslöser für die anderen Todesfälle übrig
. Abb. 16.5. Chronischer Stress und Lebensalter Wenn Kanadier älter werden, haben sie in der Regel seltener das Gefühl, chronisch im Stress zu sein. (Aus Statistics Canada 1999)
698
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Psychologen untersuchen die gesundheitlichen Folgen von Lebensveränderungen, indem sie Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg beobachten. Dabei verfolgen sie das Ziel, festzustellen, ob auf solche Ereignisse Krankheiten folgen. Andere vergleichen die erinnerten Veränderungen im Leben der Menschen, die ein spezifisches gesundheitliches Problem wie etwa einen Herzinfarkt hatten, mit den Lebenserfahrungen derer, die nichts dergleichen erlebt hatten. Die Auswertung dieser Studien zeigte, dass Menschen, die vor kurzem den Ehepartner verloren hatten, entlassen oder geschieden worden waren, anfälliger für Krankheiten sind (Dohrenwend et al. 1982). Eine finnische Untersuchung von 96.000 Witwen und Witwern bestätigte dieses Phänomen: Ihr Mortalitätsrisiko verdoppelte sich in der Woche nach dem Tod ihres Partners (Kaprio et al. 1987). Erlebt man mehrere Krisen gleichzeitig, so birgt das eine entsprechend größere Gefahr für die Gesundheit.
Ärger im Alltag
»Es sind nicht die großen Dinge, die einen Menschen ins Irrenhaus bringen … nein, es sind die ständig wiederkehrenden kleinen Tragödien … nicht der Tod des geliebten Menschen, sondern der Schnürsenkel, der reißt, wenn man es sehr eilig hat.« (Charles Bukowski, »Der Schnürsenkel«, 1972)
Wie bereits in 7 Kap. 13 erwähnt, hängt unser persönliches Glück weniger vom Schicksal als von unserer Reaktion auf das Alltagsgeschehen ab: eine Eins in der Prüfung, eine erfreuliche E-Mail oder der Sieg unserer Lieblingsmannschaft in einem entscheidenden Spiel können uns Glücksgefühle bescheren. Dieses Prinzip gilt auch für negative Ereignisse. Ärger im Alltag – Stau auf dem Weg zur Arbeit, nervige Nachbarn, lange Schlangen im Supermarkt, zu viel Arbeit, Spam in der E-Mail und unangenehme Handy-Quatscher – sind möglicherweise die schlimmsten Stressquellen (Kohn u. Macdonald 1992; Lazarus 1990; Ruffin 1993). Manche Menschen können solchen Alltagsärger einfach abschütteln, andere jedoch werden dadurch fast »zum Wahnsinn getrieben«. ! Mit der Zeit können sich kleine Stressoren summieren und unserer Gesundheit und unserem Wohlergehen ihren Preis abverlangen.
Einen hohen Blutdruck findet man sehr häufig unter Bewohnern ärmerer Großstadtviertel, wo Stress, der durch Armut, Arbeitslosigkeit, die Probleme Alleinerziehender und räumliche Enge hervorgerufen wird, zum Alltag vieler Menschen gehört. Clark et al. (1999) fanden heraus, dass dieser Stress seine Spuren in der Gesundheit vieler Afroamerikaner hinterlässt: Er lässt den Blutdruck ansteigen.
16.1.2
Stress und Herzkrankheiten
Ziel 5: Erörtern Sie die Rolle des Stresses bei der Verursachung von Erkrankungen der Herzkranzgefäße, und stellen Sie die Typ-A-Persönlichkeit der Typ-B-Persönlichkeit gegenüber. Koronare Herzkrankheit (coronary heart disease): zusammenfassende Bezeichnung für alle Erkrankungen, bei denen die Sauerstoffversorgung des Herzmuskels durch verstopfte Gefäße beeinträchtigt ist; eine der Haupttodesursachen in vielen Industrienationen.
16
Hoher Blutdruck ist nur einer der Faktoren, die das Risiko für eine koronare Herzkrankheit größer werden lassen, und damit das Risiko für den Verschluss der Gefäße, die den Herzmuskel versorgen. Diese Herzkrankheit war vor 1900 noch recht selten, wurde aber in den 1950er Jahren in Nordamerika zur häufigsten Todesursache, woran sich bis heute nichts geändert hat. Auch in Deutschland sind Herzerkrankungen heute die häufigste Todesursache. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2002 rund 95.000 Menschen an einer chronischen ischämischen Herzkrankheit. Zusätzlich zum erhöhten Blutdruck und zum Auftreten der Krankheit in der Familiengeschichte steigern zahlreiche Verhaltensweisen und physiologische Faktoren das Risiko einer Herzkrankheit: Rauchen, Fettleibigkeit, besonders fetthaltige Ernährung, wenig Bewegung und ein erhöhter Cholesterinspiegel. Psychische Stressfaktoren und Persönlichkeitsfaktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Kardiologen Friedman u. Rosenman stießen 1956 auf einen Hinweis, wie wichtig diese Faktoren tatsächlich sind (Friedman u. Ulmer 1984). Während Friedman u. Rosenman das Essverhalten von Frauen und deren Ehemännern untersuchten, entdeckten sie, dass die Frauen gleich viel Cholesterin und Fett zu sich nahmen wie ihre Ehemänner, dass sie jedoch weit weniger anfällig für Herzkrankheiten waren. Lag dies an ihren weiblichen Geschlechtshormonen? Nein, vermuteten die Forscher, denn schwarze Amerikanerinnen (mit denselben Geschlechtshormonen, aber mit mehr Stress als die untersuchten weißen Frauen) waren genauso anfällig für Herzkrankheiten wie ihre Ehemänner. Eine der Frauen glaubte die Erklärung für dieses Phänomen zu kennen: »Es liegt am Stress, den die Männer Tag für Tag in ihren Firmen haben«, sagte sie traurig. »Warum, glauben Sie,
699
braucht mein Mann, wenn er abends nach Hause kommt, mindestens einen Martini, um abschalten zu können.« Friedman u. Rosenman wollten überprüfen, ob Stress die Anfälligkeit für Herzkrankheiten erhöht und maßen daher den Cholesterinspiegel und die Blutgerinnungszeit von 40 Steuerberatern. Von Januar bis März waren beide Werte, die als Warnzeichen für koronare Herzkrankheiten gelten, völlig normal. Als die Steuerberater unter großem Stress darum bemüht waren, die Steuererklärungen ihrer Klienten bis zur Abgabefrist am 15. April fertigzustellen, stiegen ihre Cholesterin- und Blutgerinnungswerte gefährlich an. Im Mai und Juni, als die Abgabefrist vorüber war, gingen die Werte auf ihren normalen Stand zurück. Die Vermutung der Forscher hatte sich bewahrheitet: Stress führte zu einem erhöhten Herzinfarktrisiko. Damit waren die Voraussetzungen gegeben für Friedmans u. Rosenmans klassische 9-jährige Studie mit über 3000 gesunden Männern zwischen 35 und 59. Zu Beginn der Studie befragten sie jeden Teilnehmer 15 Minuten lang zu seiner Arbeit und seinen Essgewohnheiten. Während des Interviews hielten sie fest, wie der Mann sprach und was ihnen sonst an seinem Verhalten auffiel. Diejenigen, die reaktionsbereiter, ehrgeiziger, härter, ungeduldiger und gehetzter waren, dazu noch übermotiviert, verbal aggressiv und leicht reizbar zu sein schienen, nannten sie Typ A. Die in etwa gleiche Anzahl Teilnehmer, die gelassener reagierten, nannten sie Typ B. Welche der beiden Gruppen erwies sich Ihrer Meinung nach als anfälliger für koronare Herzkrankheiten? Als die Studie abgeschlossen war, hatten 257 Männer Herzinfarkte bekommen; 69% von ihnen waren Typ A. Mehr noch: Kein einziger der »reinen« B-Typen – die heitersten und gelassensten ihrer Gruppe – hatte einen Herzinfarkt erlitten. Wie so häufig in der Wissenschaft rief auch diese aufregende Entdeckung ein enormes öffentliches Interesse hervor. Aber nach der ersten Begeisterungswelle, während der das Forschungsergebnis endgültig und revolutionär erschien, begannen sich andere Forscher zu fragen, ob dieses Ergebnis denn auch wirklich verlässlich war. Myrtek (1995) führte Metaanalysen von insgesamt 43 Studien zum Typ-A-Verhalten und koronarer Herzkrankheit durch. Ein Zusammenhang zwischen Typ-A-Verhalten und koronarer Herzkrankheit konnte dabei nicht repliziert werden. Heute gilt das Typ-A-Verhalten allein nicht als eigenständiger Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit. Aber was ist dann die schädliche Komponente des Typ-A-Profils? Hetze, Konkurrenzverhalten und Ehrgeiz oder Wut bzw. Feindseligkeit? In entspannten Situationen besteht kein Unterschied zwischen dem Erregungsniveau von Aund B-Typen. Werden A-Typen aber geärgert oder herausgefordert oder sehen sie sich von Kontrollverlust bedroht, reagieren sie eher körperlich. Ihre Hormonsekretion, ihr Puls und ihr Blutdruck steigen, während B-Typen ruhig bleiben (Lyness 1993). Hierzu ein Beispiel: Als Williams (1989) männliche Studenten bat, einfache Mathematikaufgaben zu lösen (wobei der Schnellste mit einem Preis ausgezeichnet werden sollte), stieg der Stresshormonspiegel bei den Typ-A-Studenten um mehr als das Doppelte an im Vergleich zu ihren Typ-B-Kommilitonen. Diese Hormone beschleunigen den Aufbau von Plaque (narbenähnliche Masse, die durch Ablagerungen aus Fett und Thrombozyten gebildet wird) an den Arterienwänden. Und dadurch kommt es zur Arteriosklerose (»Verhärtung« der Arterien), Bluthochdruck und zu einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte (Schneiderman et al. 1989). Diese Forschungsergebnisse legen den Gedanken nahe, dass A-Typen öfter »kampflustig« sind. Werden sie geärgert oder herausgefordert, lenkt ihr aktives sympathisches Nervensystem den Blutfluss zu den Muskeln und weg von inneren Organen wie der Leber, die Cholesterin und Fett aus dem Blut entfernt. Daher enthält ihr Blut möglicherweise zu viel Cholesterin und zu viel Fett, das jeweils später in der Nähe des Herzens abgelagert wird. Zusätzlicher Stress – manchmal auch Konflikte, die sich aus ihrer eigenen schroffen Art ergeben – können zu einem veränderten Herzrhythmus führen, was bei Menschen mit einem schwachen Herzen zum plötzlichen Tod führen kann (Kamarck u. Jennings 1991). In bedeutsamer Weise spielen Herz und Kopf zusammen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass das, was den A-Typ wirklich toxisch werden lässt, negative Emotionen sind – insbesondere Wut in Verbindung mit einem aggressiven, leicht erregbaren Temperament (Smith u. Ruiz 2002; Williams 1993). Wie es sich auswirkt, wenn jemand eine zur Wut bzw. Feindseligkeit (»hostility«) neigende Persönlichkeitsstruktur hat, zeigt sich am deut-
16
Banneman © 7/94
16.1 · Stress und Krankheit
Typ-A (type A): Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für ehrgeizige, gehetzte, ungeduldige, aggressive und reizbare Menschen. Typ-B (type B): Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für gelassene und entspannte Menschen.
Sowohl in Indien als auch in Amerika sind Busfahrer vom Typ A üble Autofahrer: Sie bremsen, überholen und betätigen die Hupe häufiger als ihre gelasseneren Kollegen vom Typ B (Evans et al. 1987)
»Am Feuer, das Sie bei Ihrem Feind legen, verbrennen Sie sich oft stärker als er.« Chinesisches Sprichwort
700
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.6. Pessimismus und Herzkrankheiten Ein Team der Harvard School of Public Health fand heraus, dass für pessimistische erwachsene Männer das Risiko, innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren an einer Herzkrankheit zu erkranken, doppelt so hoch ist. (Aus Kubzansky et al. 2001)
»Ein fröhlich Herz macht das Leben lustig; aber ein betrübter Mut vertrocknet das Gebein.« Sprüche 17, Vers 22
lichsten in Studien, in denen die Interviewer verbale Bestimmtheit und emotionale Intensität erfassen. (Wenn Sie in der Mitte eines Satzes eine Pause machen, kann es sein, dass Ihnen ein heftiger, leicht reizbarer Mensch ins Wort fällt und den Satz für Sie beendet.) Unter Erwachsenen jungen und mittleren Alters sind diejenigen, die mit Wut auf Kleinigkeiten reagieren, am anfälligsten für Erkrankungen der Herzkranzgefäße. In einer Studie wurden 13.000 Personen mittleren Alters 5 Jahre lang wissenschaftlich begleitet. Bei den Teilnehmern mit normalem Blutdruck war die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu bekommen, 3-mal höher, wenn sie hohe Werte für Wut erzielten, sogar wenn die Forscher die Faktoren Rauchen und Gewicht statistisch kontrollierten (Williams et al. 2000). Für eine weitere Studie wurden 105 männliche Medizinstudenten ausgewählt und durchschnittlich 36 Jahre lang beobachtet. Diejenigen, die sich selbst als hitzköpfig bezeichnet hatten, traf eine 5-mal höhere Wahrscheinlichkeit, bis zum Alter von 55 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden (Chang et al. 2002). Spielberger u. London (1982) drücken es so aus: »Wut scheint auf uns zurückzuschlagen und den Herzmuskel zu treffen.« Pessimismus scheint ähnlich schädlich zu sein. Kubzansky et al. (2001) untersuchten 1306 zunächst gesunde Männer, die 10 Jahre zuvor in die Kategorien »Optimist«, »Pessimist«, »weder–noch« eingeteilt worden waren. Im Verlauf von 10 Jahren lag die Wahrscheinlichkeit, eine Herzkrankheit zu bekommen, bei den Pessimisten mehr als doppelt so hoch wie bei den Optimisten, auch wenn Risikofaktoren wie Rauchen ausgeschlossen wurden (. Abb. 16.6). Auch eine Depression kann tödlich sein. Die Befunde aus 57 Studien deuten in der Summe darauf hin, dass » Depressionen das Mortalitätsrisiko stark erhöhen, insbesondere den Tod durch nicht natürliche Ursachen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen« (Wulsin et al. 1999). Bei einer Studie an 7406 Frauen ab 67 Jahren mit unterschiedlich schweren Depressionen fand man heraus, dass von den Teilnehmerinnen ohne depressive Symptome 7% innerhalb von 6 Jahren starben, jedoch 24% von denen mit 6 oder mehr depressiven Symptomen (Whooley u. Browner 1998). In den Jahren nach einem Herzinfarkt sind depressive Menschen 4-mal anfälliger für weitere Herzprobleme als Menschen ohne Depressionen (Frasure-Smith et al. 2005). Da der belgische Forscher Denollet (2000) beobachtet hatte, dass ängstliche, gehemmte und besorgte Menschen auch häufig an Herzkrankheiten leiden, definierte er einen Risikotyp, die D-Persönlichkeit (D für »distressed« = verzweifelt), deren Kennzeichen negative Emotionen und soziale Gehemmtheit sind. Menschen, auf die mehrere Merkmale des Typs D zutreffen, haben ein hohes Risiko, eine Herzkrankheit zu bekommen. Die schädlichen Auswirkungen negativer Emotionen erklären, warum ungefähr ein Viertel aller stationär behandelten Patienten auch an Stimmungsschwankungen oder Angststörungen leidet und warum 4 von 10 chronisch kranken Patienten an einer psychiatrischen Störung litten oder leiden (Cohen u. Rodriguez 1995; Katon u. Sullivan 1990). ! Negative Emotionen haben körperliche Folgen. Die in einer Stresssituation freigesetzten Fette bleiben im Blut und tragen dazu bei, Plaques zu bilden, die die Arterien verstopft.
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Während Stress dazu führt, dass Blut in die Extremitäten gelangt, verengen sich gleichzeitig auch die Blutgefäße des Herzens und vermindert dadurch die Blutzufuhr zu manchen Teilen des Herzens. Negative Emotionen können auch zu negativem Gesundheitsverhalten führen und Entscheidungen beeinflussen, die die Gesundheit betreffen. Vergessen Sie jedoch nicht: Der Zusammenhang zwischen körperlichen und seelischen Störungen kann auch Ausdruck der Folgen einer Krankheit sein: Chronische oder lebensbedrohliche Krankheiten können demoralisierend wirken.
701 16.1 · Stress und Krankheit
16.1.3
16
Stress und Krankheitsanfälligkeit
Ziel 6: Unterscheiden Sie zwischen einer psychophysiologischen Krankheit und Hypochondrie.
Noch vor kurzem beschrieb der Begriff psychosomatisch körperliche Symptome mit psychischer Ursache. Für Laien bedeutete dieser Begriff, dass es sich nicht um »echte« Krankheiten handelte – sie waren »nur« psychosomatisch. Um derartige Zuschreibungen zu vermeiden und die wirklichen physiologischen Auswirkungen psychischer Zustände besser zu beschreiben, verwenden die meisten Fachleute jetzt stattdessen den Begriff psychophysiologische Krankheiten; damit sind z. B. Bluthochdruck und bestimmte Kopfschmerzen ohne eindeutige körperliche Ursachen gemeint. Lassen Sie uns nun näher darauf eingehen, wie Stress auch einen Einfluss auf die Widerstandskraft gegenüber Krankheiten hat.
Psychophysiologische Krankheit (psychophysical illness): körperliche Krankheit, die mit Stress in Zusammenhang steht, z. B. Bluthochdruck und bestimmte Formen von Kopfschmerzen; nicht zu verwechseln mit Hypochondrie, der Fehlinterpretation einer normalen körperlichen Empfindung als Krankheitssymptom.
Stress und das Immunsystem Ziel 7: Beschreiben Sie die Auswirkung von Stress auf die Funktionstüchtigkeit des Immunsystems.
Lymphozyten (lymphocytes): zwei Arten von weißen Blutkörperchen, die zum körpereigenen Immunsystem gehören. B-Lymphozyten werden im Knochenmark gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infektionen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse gebildet und haben unter anderem die Aufgabe, Krebszellen, Viren und körperfremde Substanzen anzugreifen.
»Vor den Augen Gottes oder der Biologie oder wessen auch immer ist es einfach sehr wichtig, eine Frau zu haben.« Der Immunologe Normal Talal (1995)
Lennart Nilsson/Boehringer Ingelheim International GmbH
Belege für den Einfluss des Nervensystems und des endokrinen Systems auf das Immunsystem finden sich in Hunderten neuerer Experimente (Sternberg 2001). Ihr Immunsystem ist ein komplexes Überwachungssystem, das Ihren Körper verteidigt, indem es Bakterien, Viren und andere Fremdkörper isoliert und zerstört. Zu diesem System gehören 2 Arten von weißen Blutkörperchen, die sog. Lymphozyten. B-Lymphozyten werden im Knochenmark gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infektionen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse und in anderem Lymphgewebe gebildet und greifen Krebszellen, Viren und fremde Substanzen an, sogar »gute«, wie etwa transplantierte Organe. Ein anderer »Agent« des Immunsystems ist die Makrophage (»Fresszelle«), die schädliche Eindringlinge identifiziert, verfolgt und frisst (. Abb. 16.7). Alter, Ernährung, genetische Veranlagung, Körpertemperatur und Stress beeinflussen gemeinsam die Aktivität des Immunsystems. Unser Immunsystem kann sich auf zwei Arten irren. Reagiert es zu stark, greift es vielleicht sogar körpereigenes Gewebe an und führt dadurch zu Arthritis oder zu einer allergischen Reaktion. Oder es reagiert zu schwach und lässt beispielsweise zu, dass sich ein inaktives Herpes-Virus ausbreitet oder sich Krebszellen vermehren. Frauen haben ein stärkeres Immunsystem als Männer (Morell 1995), dadurch sind sie weniger anfällig für Infektionskrankheiten. Aber genau diese Stärke macht sie wiederum anfälliger für Krankheiten, die das eigene Gewebe angreifen (wie etwa Lupus erythematodes oder multiple Sklerose). Ihr Immunsystem ist kein kopfloser Reiter. Das Gehirn reguliert, wie viele Stresshormone ausgeschüttet werden, die ihrerseits die krankheitsbekämpfenden Lymphozyten unterdrücken. Daher wird das Immunsystem von Tieren geschwächt, wenn diese in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt sind, Elektroschocks verabreicht bekommen, denen sie nicht ausweichen können, oder mit Lärm, räumlicher Enge, kaltem Wasser oder sozialen Niederlagen konfrontiert oder von der Mutter getrennt sind (Maier et al. 1994). Bei einer Studie wurden die Immunreaktionen von 43 Affen 6 Monate lang beobachtet (Cohen et al. 1992). 21 von ihnen wurden dadurch gestresst, dass sie jeden Monat neue »Mitbewohner« bekamen – 3 oder 4 neue Affen. (Um Mitgefühl mit den Affen zu entwickeln, sollten Sie sich an den Stress erinnern, unter dem sie gelitten haben, als Sie Ihr Elternhaus verließen, um in die Schule oder in ein Sommerlager zu gehen. Und stellen Sie sich vor, Sie hätten das jeden Monat neu durchmachen müssen.) Im Vergleich zu den Affen, die in festen Gruppen lebten, hatten die Affen mit einem ständig wechselnden sozialen Umfeld
. Abb. 16.7. Das Immunsystem in Aktion Eine große Makrophage (oben) ist gerade dabei, eine kleine Bakterie (unten rechts) einzufangen und zu fressen. Makrophagen überwachen unseren Körper ständig auf der Suche nach Eindringlingen – wie dieser Escherichia-coli-Bakterie – und Ablagerungen wie abgestorbenen roten Blutkörperchen
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.8. Stress und Erkältungen In einem Experiment von Sheldon et al. (1991) waren die Personen mit den höchsten Stresswerten im Leben auch die krankheitsanfälligsten, wenn sie einem experimentell verabreichten Virus ausgesetzt wurden
ein schwächeres Immunsystem. Auf ähnliche Weise beeinflusst Stress das Immunsystem bei Menschen in negativer Weise. Schauen Sie sich diese Ergebnisse an: 4 Bei gestressten Menschen und Tieren heilen Operationswunden langsamer. In einem Experiment wurden Studierenden der Zahnmedizin Stichwunden (präzise schmale Löcher, die in die Haut gestochen werden) zugefügt. Im Vergleich zu den Wunden, die in den Sommerferien gestochen wurden, heilten die Wunden, die 3 Tage vor einer wichtigen Prüfung gestochen wurden, um 40% langsamer. Tatsächlich, berichten Kiecolt-Glaser et al. (1998), heilte »bei keinem Studierenden die Wunde in der Stressphase so schnell wie in den Sommerferien«. 4 Bei einem weiteren Versuch bekamen 47% der Teilnehmer, die ein stressreiches Leben führten, eine Erkältung, nachdem ihnen ein Virus in die Nase getropft worden war, wie dies nur bei 27% der Versuchsteilnehmer der Fall war, die ein relativ stressfreies Leben führten (. Abb. 16.8). In Nachfolgeversuchen zeigte sich, dass die glücklichsten und entspanntesten Menschen deutlich weniger anfällig gegenüber einem experimentell verabreichten Erkältungsvirus waren (Cohen et al. 2003). 4 Daten aus 23 Studien zeigen, dass Betreuungspersonen für Menschen mit Demenz eine Immunreaktion gegen Antikörper aufweisen, die 15% unter der normalen liegt, und einen 23%-igen Anstieg der Stresshormone (Vitaliano et al, 2003). Andere Befunde, die aus 293 Studien zusammengestellt wurden, bestätigen, dass chronischer Stress das Immunsystem in Mitleidenschaft zieht (Segerstrom u. Miller 2004). 4 Stressmanagement kann lebensrettend sein. Das einzige Merkmal, das 169 Hundertjährige gemeinsam hatten, war ihre Fähigkeit, gut mit Stress fertig zu werden (Perls et al. 1999). Die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem lassen sich physiologisch erklären (Maier et al. 1994). Es kostet Energie, Infektionen zu bekämpfen, Entzündungsreaktionen auszulösen und Fieber aufrechtzuerhalten.Unser Körper verringert daher den Energieverbrauch in den Muskeln durch Untätigkeit und mehr Schlaf. (Deshalb ist es gut, wenn wir uns, sobald wir krank sind, ausruhen und hinlegen.) Aber Stress löst eine erregte Kampf-Flucht-Reaktion aus, entzieht dem Krankheitsbekämpfungssystem Energie zu Gunsten der Muskeln und des Gehirns und macht uns anfälliger für Krankheiten.
C. Styrsky
! Stress macht uns nicht krank, aber er beeinträchtigt unser Immunsystem und macht uns anfälliger für Eindringlinge von außen. »Und nun atmen wir alle zusammen tief ein …«
In Nordamerika und in Westeuropa sind 75% der Menschen mit Aids Männer. In der Region Afrikas südlich der Sahara sind 60% der Menschen mit Aids Frauen (und unter den 15- bis 24-Jährigen 75%). Die dünne Zellschicht am Gebärmutterhals von Mädchen lässt sie besonders anfällig werden (Altman 2004; UNAIDS 2005).
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Aids Ziel 8: Erörtern Sie die Befunde zum Zusammenhang zwischen Stress und Aids.
Weltweit ist Aids die vierthäufigste Todesursache; in Afrika ist es sogar die Todesursache Nr. 1. Aids, das »erworbene Immundefektsyndrom« (»acquired immune deficiency syndrome«) ist, wie der Name sagt, eine Immunschwächekrankheit, verursacht durch das menschliche Immunschwächevirus (HIV; »human immunodeficiency virus«), das durch den Austausch von Körperflüssigkeiten, speziell Sperma und Blut, verbreitet wird. Wenn eine Krankheit, die durch zwischenmenschlichen Kontakt verbreitet wird, langsam tötet, wie dies beim HIV-Virus der Fall ist, können tragischerweise mehr Menschen daran sterben: Wer HIV-positiv ist, hat Zeit, das Virus zu verbreiten; dies geschieht oft, weil die Betroffenen nicht wissen, dass sie infiziert sind. Wenn die HIV-Infektion einige Jahre nach der ursprünglichen Infektion in Form von Aids ausbricht, kann der Betroffene andere Krankheiten wie Lungenentzündung nicht bekämpfen. Weltweit, so berichten die Vereinten Nationen, sind mehr als 25 Mio. Menschen an den Folgen von Aids gestorben, allein 3,1 Mio. Menschen 2005 (UNAIDS 2005). (In den Vereinigten Staaten, wo sich nur eine halbe Million dieser Todesfälle ereignet haben, wurden durch Aids mehr Menschen getötet als in allen Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen.) 2005 wurden 40 Mio. Menschen – darunter 50% Frauen – oft ohne ihr Wissen mit dem HIV-Virus infiziert (UNAIDS 2005). In Afrika, dem Kristallisationspunkt im Kampf gegen Aids, warnt UNAIDS (2005), ist es möglich, dass 80 Mio. Menschen bis 2025 an Aids sterben werden.
703 16.1 · Stress und Krankheit
16
Wenn Stress unser Immunsystem beeinträchtigt, könnte er dann nicht auch den Verlauf von Aids verschlimmern? Forscher fanden heraus, dass Stress und negative Gefühle tatsächlich mit dem Übergang der HIV-Infektion zu Aids in Zusammenhang stehen und damit auch mit der Geschwindigkeit, in der sich der Gesundheitszustand der Infizierten verschlechtert (Bower et al. 1998; Kiecolt-Glaser u. Glaser 1995; Leserman et al. 1999). Bei HIV-Infizierten, die stressreichen Lebensumständen, wie etwa dem Verlust des Partners, ausgesetzt sind, ist eine stärker ausgeprägte Immunschwäche und ein schnelleres Fortschreiten der Krankheit zu beobachten. Wäre es daher sinnvoll, den Stress zu verringern, um die Krankheit besser in den Griff zu bekommen? Auch wenn die Erfolge im Vergleich zur medikamentösen Behandlung nur gering sind, scheint die Antwort auf diese Frage dennoch wiederum »ja« zu lauten. Fortbildungsinitiativen, Trauergruppen, kognitive Verhaltenstherapie und Übungsprogramme zur Stressreduktion haben positive Auswirkungen auf HIV-positive Menschen (Baum u. Posluszny 1999; Schneiderman 1999). Es ist jedoch besser, eine HIV-Infektion zu verhindern. Und das ist der zentrale Punkt in vielen Programmen wie etwa dem ABC-Programm (für abstinence, being faithful, condom use; Abstinenz, Treue, Verwendung von Kondomen), das in vielen Ländern zur Anwendung kommt und vor allem in Uganda mit Erfolg durchgeführt wird (Altman 2004; USAID 2004).
Krebs Ziel 9: Erörtern Sie die Befunde zum Zusammenhang zwischen Stress und Krebs.
Stress und negative Emotionen wurden auch mit dem Fortschreiten des Krebswachstums in Verbindung gebracht. Um einen möglichen Zusammenhang zwischen Stress und Krebs zu erforschen, wurden Nagetieren in Versuchen Tumorzellen implantiert oder karzinogene (Krebs erzeugende) Substanzen verabreicht. Die Tiere, die gleichzeitig unkontrollierbarem Stress ausgesetzt waren, wie etwa Stromstößen, denen sie nicht entkommen konnten, waren anfälliger für Krebs (Sklar u. Anisman 1981). Bei Nagetieren mit einem durch Stress geschwächten Immunsystem entwickelten sich die Tumore schneller und wurden größer. Einige Forscher berichten, dass Menschen ein Jahr nach einer Depression, nach einer ausweglosen Situation oder einem Trauerfall ein erhöhtes Krebsrisiko haben. Aus einer großen schwedischen Studie wurde deutlich, dass Menschen mit Stress am Arbeitsplatz ein 5,5-mal höheres Risiko hatten, an Dickdarmkrebs zu erkranken als Menschen ohne derartige Probleme, ein Unterschied, der sich nicht auf Altersunterschiede, Rauch- oder Trinkgewohnheiten oder körperliche Merkmale zurückführen ließ (Courtney et al. 1993). Andere Forscher fanden keinen Zusammenhang zwischen Stress und Krebs beim Menschen (Edelman u. Kidman 1997; Fox 1998; Petticrew et al. 1999, 2002). Bei Insassen von Konzentrationslagern und bei ehemaligen Kriegsgefangenen fand man beispielsweise keine erhöhten Krebshäufigkeiten. Wenn Studien über einen Zusammenhang von Einstellungen und Krebs ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit rücken, besteht die Gefahr, dass sich einige Patienten dazu verleiten lassen können, sich selbst für ihre Krankheit die Schuld zu geben: »Wäre ich doch nur fröhlicher, entspannter und zuversichtlicher gewesen!« Eine weitere Gefahr ist die »Wellness-Macho-Einstellung« unter den Gesunden, die ihrem eigenen »gesunden Charakter« das Verdienst an ihrer Gesundheit zuschreiben und den Kranken Schuldgefühle suggerieren: »Krebs hat sie? Das kommt davon, wenn man seine Gefühle zurückhält und immer nur nett ist.« So wird der Tod zum ultimativen Versagen erklärt. Es schält sich anscheinend die Auffassung heraus, dass durch Stress keine Krebszellen entstehen. Schlimmstenfalls wird deren Wachstum möglicherweise durch eine Schwächung der natürlichen Abwehrkräfte des Körpers gegen einige wuchernde, bösartige Zellen beeinflusst. Auch wenn ein entspanntes, hoffnungsvolles Befinden diese Abwehrkräfte stärken kann, sollten wir uns des schmalen Grats bewusst sein, der Wissenschaft und Wunschdenken voneinander trennt. ! Im fortgeschrittenen Stadium einer Krebs- oder Aids-Krankheit läuft eine biologische Kettenreaktion ab, die durch Stressvermeidung nicht umgepolt werden kann, auch nicht indem man eine entspannte, aber entschlossene Haltung einnimmt (Anderson 2002; Kessler et al. 1991).
»Ich hab’ mir meinen Krebs nicht selbst gemacht.« Bürgermeisterin Barbara Boggs-Sigmund (1939–1999), Princeton (New Jersey)
Wenn die organischen Ursachen einer Erkrankung nicht erkennbar sind, ist die Versuchung groß, sich psychologische Erklärungen auszudenken. Ehe das Tuberkulosebakterium entdeckt wurde, wurde gern in der Persönlichkeit des Kranken nach einer Erklärung gesucht (Sontag 1978).
704
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Konditionierung des Immunsystems Ziel 10: Beschreiben Sie den Einfluss des Lernens auf die Funktionstüchtigkeit des Immunsystems.
Ein Patient mit einer von der Jahreszeit abhängigen Allergie sieht in einem Restaurant eine Blume auf einem Tisch und beginnt zu niesen, ohne zu bemerken, dass die Blumen aus Plastik sind. Solche Erfahrungen weisen darauf hin, dass Stress nicht der einzige psychische Faktor ist, der körperliche Beschwerden beeinflusst. Eine einfache klassische Konditionierung kann ein weiterer Einflussfaktor sein. Dadurch stellt sich eine interessante Frage: Wenn die sichtbaren Körperreaktionen durch Konditionierung beeinflusst werden, unterliegt das Immunsystem dann möglicherweise auch solchen Konditionierungen? Der Psychologe Ader und der Immunologe Cohen (1985) entdeckten, dass dies so ist. Ader kam zu dieser Entdeckung, als er Geschmacksaversionen bei Ratten untersuchte. Er mischte das mit Süßstoff gesüßte Wasser für die Ratten mit einem Medikament, das das Immunsystem negativ beeinflusste. Nachdem er dies mehrmals gemacht hatte, löste bereits das gesüßte Wasser allein die gleichen immunhemmenden Reaktionen aus (. Abb. 16.9). Eine solche Immunsuppression (Abschwächung der Immunreaktion) kann die Wahrscheinlichkeit eines Tumorwachstums bei einem Tier verdreifachen, wenn es mit krebserregenden Substanzen gefüttert wird (Blom et al. 1995). Viele Fragen zur Rolle des Immunsystems und zu Möglichkeiten, dessen Heilungspotenzial gezielt einzusetzen, bleiben unbeantwortet. Wenn es möglich ist, das Immunsystem durch entsprechende Konditionierung zu schwächen, sollte es dann nicht möglich sein, auch die Stärkung zu konditionieren? Könnte dies ein Weg sein, die Heilung manchmal durch Placebos zu fördern, also durch Behandlungen und Mittel ohne biochemische Wirkung? Können negative Einstellungen – immer mit dem Schlimmsten zu rechnen – möglicherweise einen gegenteiligen Nocebo-Effekt haben, da man immer das bekommt, was man erwartet? Zwar waren die Ergebnisse bislang uneinheitlich, doch hoffen die Forscher, bald eine Antwort auf diese Fragen geben zu können (Hróbjartsson u. Gøtzsche 2001). Derzeit können wir die Auswirkungen von Stress auf unsere Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten als den Preis ansehen, den wir für den Nutzen von Stress bezahlen (. Abb. 16.10). Stress steigert unsere Lebensqualität, indem er uns anspornt und motiviert. Ein Leben ohne Stress wäre wohl kaum sehr produktiv und würde nicht viel Spaß machen. Der Einsatz unserer Ressourcen im Kampf gegen äußere Bedrohungen oder für eine Fluchtreaktion hat eben seinen Preis; denn er geht auf Kosten jener Ressourcen, die wir zur Bekämpfung innerer Bedrohungen – für unsere Gesundheit – einsetzen sollten. Dauert der Stress nur kurze Zeit an, sind die Folgen nicht so gra. Abb. 16.9. Konditionierung einer Schwächung des Immunsystems Nachdem Ader u. Cohen (1985) gesüßtes Wasser mit einem Medikament kombiniert hatten, das bei Ratten zu einer Schwächung des Immunsystems führt, löste die inaktive Substanz allein eine konditionierte Immunreaktion aus. UR unkonditionierte Reaktion US unkonditionierter Stimulus CR konditionierte Reaktion CS konditionierter Stimulus
16
705 16.1 · Stress und Krankheit
16
. Abb. 16.10. Stress kann vielfältige Auswirkungen auf die Gesundheit haben Dies trifft insbesondere bei »krankheitsanfälligen« wütenden, depressiven oder ängstlichen Menschen zu
vierend. Sind wir jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg einer unkontrollierbaren Situation ausgesetzt, können die gesundheitlichen Folgen beträchtlich sein. Die Forschung in der Verhaltensmedizin erinnert uns wieder an ein altes, aber immer noch aktuelles Thema der Psychologie: ! Körper und Seele interagieren. Alles, was psychologisch ist, ist stets auch physiologisch.
Psychische Zustände schlagen sich in physiologischen Ereignissen nieder, die andere Teilbereiche unseres physiologischen Systems beeinflussen. Schon allein daran zu denken, in ein Stück von einer Orange zu beißen – wie der süße, geschmackvolle Saft aus der fleischigen Frucht auf Ihrer Zunge zergeht –, kann bereits Speichelfluss auslösen. Der indische Gelehrte Santi Parva erkannte diesen Zusammenhang bereits vor mehr als 4000 Jahren: »Seelische Störungen haben körperliche Ursachen, und ebenso haben körperliche Störungen seelische Ursachen.« Es gibt ein Zusammenspiel zwischen unserem Kopf und unserer Gesundheit. Wir sind biopsychosoziale Systeme. Lernziele Abschnitt 16.1 Stress und Krankheit Ziel 1: Geben Sie einige Krankheits- und Todesursachen an, die mit dem Verhalten zusammenhängen. Unsere Verhaltensweisen wie Rauchen, regelmäßiger Sport, Ernährung und Konfrontation mit ständigem Stress können einen Einfluss haben auf unsere Anfälligkeit für Herzerkrankungen, Krebs, Schlaganfälle und chronische Lungenerkrankungen (momentan die 4 wichtigsten Todesursachen), sie können uns aber auch anfällig machen für Bluthochdruck, Hautausschläge und andere Erkrankungen. Ziel 2: Erörtern Sie die Rolle der Bewertung bei der Art und Weise, wie wir auf stressreiche Ereignisse reagieren. Stress ist weder eine Handlung noch ein Zustand; es handelt sich jedoch um einen Prozess, mit dem wir auf belastende Ereignisse reagieren. Und diese nennt man Stressoren. Ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses besteht darin, ob wir ein Ereignis als bedrohlich, herausfordernd oder als unwichtig bewerten. Unsere Bewertungen tragen dazu bei, zu bestimmen, ob unsere Reaktion aus gesunden Gefühlen einer mobilisierten
und zielgerichteten Erregung oder aus überwältigenden Gefühlen der Belastung bestehen. Ziel 3: Beschreiben Sie das Zwei-Bahnen-System, mit Hilfe dessen unser Körper auf Stress reagiert, und nennen Sie die 3 Phasen des allgemeinen Adaptationssyndroms. Unsere Reaktion auf Stress ist ein Paradebeispiel für die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele. Die erste (und schnellere) Bahn des StressReaktionssystems ist die Kampf-Flucht-Reaktion, die von Walter Cannon entdeckt wurde und bei der der Sympathikus an mehreren Fronten auf einen Stressor reagiert: Die inneren Teile der Nebennieren schütten Adrenalin und Noradrenalin aus, Herzschlag und Atmung werden schneller, Blut wird von den Verdauungsorganen abgezogen und zu den Skelettmuskeln geleitet, die Sensibilität gegenüber Schmerzen nimmt ab, und der Körper setzt gespeicherte Zucker und Fette frei. Bei der langsameren Bahn des Systems über den zerebralen Kortex regt die Wahrnehmung eines Stressors den Hypothalamus und die Hirnanhangdrüse 6
706
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
dazu an, in den äußeren Teilen der Nebennieren Glukokortikoid-Stresshormone wie das Kortisol freizusetzen. Die 3 Phasen des allgemeinen Adaptationssyndroms sind Alarm (zeitweiliger Schockzustand, bei dem der Körper Ressourcen mobilisiert), Resistenz (Zeit der Bewältigung des Stressors) und Erschöpfung (Entleerung der Reserven nach einem länger andauernden Stress). Ziel 4: Erörtern Sie die gesundheitlichen Folgen von Katastrophen, bedeutsamen Veränderungen im Leben und täglichem Ärger. Große Katastrophen können Depression und Angst zunehmen lassen und Konzentrations- und Schlafprobleme verursachen. Bedeutsame persönliche Ereignisse im Leben wie ein Verlust (Tod eines geliebten Menschen, Scheidung, Arbeitsplatzverlust) oder sogar nur Veränderungen (Heirat, Umzug) können Menschen für Krankheiten anfällig werden lassen. Doch bei den meisten Menschen ist der tägliche Ärger – die kontinuierliche Abfolge kleiner alltäglicher Stressoren – die wichtigste Ursache für Stress; er kann die Gesundheit (z. B. durch die Erhöhung des Blutdrucks) und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Ziel 5: Erörtern Sie die Rolle des Stresses bei der Verursachung von Erkrankungen der Herzkranzgefäße, und stellen Sie die Typ-A-Persönlichkeit der Typ-B-Persönlichkeit gegenüber. Durch Stress kann das Risiko für eine Erkrankung der Herzkranzgefäße zunehmen. Der entscheidende Faktor bei dieser Verbindung zwischen Stress und Erkrankung sind negative Emotionen – Depression, Pessimismus, aber vor allem Wut. Die Studie von Friedman und Rosenman, bei der zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen Wut und Herzkrankheiten nachgewiesen wurde, stellte die Typ-A-Persönlichkeiten (wettbewerborientiert, ehrgeizig, ungeduldig und zur Wut neigend) den Typ-BPersönlichkeiten (gelassen und entspannt) gegenüber. Unter Stress sind Menschen vom Typ A physiologisch reaktionsbereiter; sie schütten Hormone aus, die den Aufbau von Plaques in den Arterienwänden beschleunigen, zu hohem Blutdruck sowie zu einem erhöhten Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkte führen. Ziel 6: Unterscheiden Sie zwischen einer psychophysiologischen Krankheit und Hypochondrie. Psychologen verwenden den Begriff psychophysiologische Krankheit, um mit Stress zusammenhängende körperliche Krankheiten zu beschreiben, wie etwa Hypertension (Bluthochdruck) und einige Arten von Kopfschmerzen. Diese realen Krankheiten unterscheiden sich von der Hypochondrie, d. h. davon, dass man normale körperliche Empfindungen als Symptome einer Krankheit fehldeutet.
16
16.2
Ziel 7: Beschreiben Sie die Auswirkung von Stress auf die Funktionstüchtigkeit des Immunsystems. Die B-Lymphozyten des Immunsystems (sie werden im Rückenmark gebildet) setzen Antikörper frei, die bakterielle Infektionen abwehren. Die T-Lymphozyten (sie werden im Gewebe der Thymusdrüse und der Lymphknoten gebildet) bekämpfen Krebszellen, Viren und fremde Substanzen. Andere Agenzien des Immunsystems, die Makrophagen, fressen schädliche Eindringlinge, verbrauchte Zellen und andere Abfallstoffe. Stress führt nicht auf dem direkten Weg zu einer Krankheit; aber wenn er Energie von den Aktivitäten des Immunsystems abzieht, werden wir anfälliger für Infektionen und Krankheiten. Ziel 8: Erörtern Sie die Befunde zum Zusammenhang zwischen Stress und Aids. Aids wird durch den HI-Virus verursacht, nicht durch Stress. Aber Stress und negative Emotionen können den Prozess von der Infektion durch das Virus bis zur eigentlichen Aids-Erkrankung beschleunigen. HIV-positiven Menschen nutzt eine medikamentöse Behandlung mehr, aber Programme, die den Stress verringern, scheinen in gewisser Weise zu helfen. Ziel 9: Erörtern Sie die Befunde zum Zusammenhang zwischen Stress und Krebs. Stress erzeugt keine Krebszellen. Die Forscher sind sich nicht einig, ob Stress das Fortschreiten der Krankheit beeinflusst; aber sie stimmen darin überein, dass die Vermeidung von Stress und eine entschlossene Haltung die zerstörerischen Prozesse, die bei einem Krebs im fortgeschrittenen Stadium ablaufen, nicht umkehren können. Ziel 10: Beschreiben Sie den Einfluss des Lernens auf die Funktionstüchtigkeit des Immunsystems. Forscher haben die Unterdrückung des Immunsystems in Laborexperimenten konditioniert. Ermutigt durch diese Ergebnisse arbeiten andere an Methoden, mit deren Hilfe man die Stärkung des Immunsystems konditionieren kann. > Denken Sie weiter: Welchem Stress sind Sie in Ihrem Leben ausgesetzt? Wie intensiv reagieren Sie auf diesen Stress? Besteht die Möglichkeit, etwas zu verändern, um andauernde Stressoren in Ihrem Leben zu vermeiden?
Gesundheitsförderung
Gesundheitsförderung beginnt mit dem Einsatz von Strategien zur Krankheitsvorbeugung und zur Steigerung des Wohlbefindens. Seit jeher haben die Menschen nur dann über ihre Gesundheit nachgedacht, wenn etwas nicht stimmte – sie suchten dann zur Diagnose und Behandlung einen Arzt auf. Dies ist, so die Gesundheitspsychologen, als würde man die Wartung eines Autos ignorieren und erst dann in die Werkstatt gehen, wenn das Auto kaputt ist. Da wir inzwischen erkannt haben, dass Einstellungen und Verhaltensweisen die Gesundheit beeinflussen, wendet sich heute
707 16.2 · Gesundheitsförderung
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die Aufmerksamkeit der Gesundheitsförderung zu, d. h. den Möglichkeiten, mit Stress umzugehen, Krankheiten vorzubeugen und das Wohlbefinden zu steigern.
16.2.1
Bewältigung von Stress
Ziel 11: Stellen Sie die problemfokussierte der emotionsfokussierten Bewältigung gegenüber.
Stressoren lassen sich nicht vermeiden. Aus dieser Tatsache, in Verbindung mit der wachsenden Erkenntnis, dass Stress mit Herzkrankheiten, einem geschwächten Immunsystem und anderen körperlichen Beschwerden zusammenhängt, können wir eine eindeutige Botschaft ableiten: Wir müssen lernen, den Stress in unserem Leben zu bewältigen, indem wir Wege finden, ihn emotional, kognitiv und im Verhalten zu verringern. Diese Stressbewältigung wird auch als »Coping« bezeichnet. Wir gehen einige Stressoren unmittelbar an durch problemfokussierte Bewältigung. Wenn z. B. unsere Ungeduld in der Familie zu Auseinandersetzungen führt, können wir direkt zu diesem Familienmitglied gehen und die Dinge ins Reine bringen. Wenn wir trotz all unserer Bemühungen mit diesem Familienmitglied nicht zurechtkommen, können wir auch eine emotionsfokussierte Strategie verfolgen. So könnten wir uns z. B. uns an Freunde wenden, damit sie uns dabei helfen, unsere eigenen emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Wir neigen dazu, problemfokussierte Strategien einzusetzen, wenn wir meinen, eine Situation im Griff zu haben, und glauben, die Umstände ändern zu können oder zumindest uns selbst ändern zu können, damit wir kompetenter mit den Umständen umgehen. Wir wenden uns emotionsfokussierten Strategien zu, wenn wir eine Situation nicht ändern können oder meinen, wir könnten sie nicht ändern. Manchmal stellen diese Strategien einen Fortschritt in Richtung auf eine langfristig bessere Gesundheit dar, wenn wir z. B. versuchen, emotionale Distanz zu einer schädlichen, abgebrochenen Beziehung zu bekommen, oder wenn wir darauf achten, uns aktiv mit Hobbys zu beschäftigen, um zu vermeiden, dass wir an eine alte Sucht denken. Emotionsfokussierte Strategien können jedoch nichtadaptiv sein, beispielsweise wenn Studierende, die sich Sorgen darüber machen, ob sie mit der Lektüre für ein Seminar nachkommen, ständig auf Partys gehen, um diesen Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen. Manchmal verringert eine problemfokussierte Strategie (die Lektüre nachholen) auf wirkungsvollere Weise den Stress und fördert langfristig Gesundheit und Zufriedenheit. Zahlreiche Faktoren beeinflussen unsere Fähigkeit, etwas mit Erfolg zu bewältigen; und dazu gehören unser Gefühl der persönlichen Kontrolle, unser Erklärungsstil und unsere unterstützenden Verbindungen.
Wahrgenommene Kontrolle Ziel 12: Beschreiben Sie, wie ein subjektiv wahrgenommener Mangel an Kontrolle die Gesundheit beeinflussen kann.
Wenn 2 Ratten gleichzeitig Stromstöße bekommen, eine jedoch ein Rad drehen kann, um die Stromstöße zu beenden, wird die hilflose Ratte anfälliger für Magengeschwüre und entwickelt eine verringerte Immunität gegenüber Krankheiten (Laudenslager u. Reite 1984) (. Abb. 16.11). Auch beim Menschen lösen unkontrollierbare Bedrohungen die stärksten Stressreaktionen aus (Dickerson u. Kemeny 2004). So geht etwa eine bakterielle Infektion oft mit unkontrollierbarem Stress einher und ruft dann die schwersten Magengeschwüre hervor (Overmier u. Murison 1997). Um das Geschwür zu bekämpfen, tötet man den Erreger mit Antibiotika ab und bringt die Säuresekretion mit verringertem Stress unter Kontrolle. Wenn wir einen Mangel an Kontrolle erleben, werden wir anfällig gegenüber Krankheiten. Wenn Bewohner von Altenheimen wenig wahrgenommene Kontrolle über ihre Aktivitäten haben, geht es gewöhnlich schneller bergab mit ihnen, und sie sterben früher als diejenigen, denen man mehr Kontrolle über ihre Aktivitäten gibt (Rodin 1986). Beschäftigte, denen man Kontrolle über ihre Arbeitsumgebung ermöglicht – indem man sie in die Lage versetzt, Büromöbel anders anzuordnen und Unterbrechungen und Ablenkungen zu steuern –, empfinden weniger Stress (O’Neill 1993). Das kann auch als Erklärung dafür dienen, dass in Großbritannien Staatsangestellte im
Bewältigung (coping): Verringerung von Stress auf emotionalem oder kognitivem Wege bzw. durch Verhalten.
Problemfokussierte Bewältigung (problemfocused coping): Versuch, den Stress direkt zu verringern, indem wir den Stressor selbst oder die Art und Weise ändern, wie wir damit umgehen. Emotionsfokussierte Bewältigung (emotionfocused coping): Versuch, den Stress indirekt zu verringern, indem man einen Stressor meidet oder ihn ignoriert und seine Aufmerksamkeit auf emotionale Bedürfnisse richtet, die mit der eigenen Stressreaktion zusammenhängen.
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.11. Gesundheitliche Folgen von Kontrollverlust Die »Chefratte« links kann den Stromstoß am Schwanz ausschalten, indem sie das Rad dreht. Da sie die Stromstöße steuern kann, ist für sie die Wahrscheinlichkeit, Geschwüre zu bekommen, nicht größer als für die Ratte auf der rechten Seite, die keinen Stromstößen ausgesetzt ist. Die »untergeordnete« Ratte in der Mitte erhält dieselben Stromstöße wie die »Chefratte«. Aber da die »untergeordnete« Ratte keine Kontrolle über die Stromstöße hat, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sich bei ihr Geschwüre bilden. (Nach Weiss 1977)
höheren Dienst länger leben als die im mittleren und gehobenen Dienst und dass finnische Arbeiter mit wenig Stress im Beruf eine um 50% geringere Wahrscheinlichkeit haben, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit (Schlaganfall oder Herzkrankheit) zu sterben, wenn man sie mit denen vergleicht, die einen fordernden Beruf und wenig Kontrolle haben. Je mehr Kontrolle Arbeiter haben, desto länger leben sie (Bosma et al. 1997, 1998; Kivimaki et al. 2002; Marmot et al. 1997). Kontrolle kann auch als Erklärung dafür dienen, dass ökonomischer Status und Langlebigkeit nachgewiesenermaßen zusammenhängen. Nach einer Studie an 843 Grabinschriften auf einem alten schottischen Friedhof in Glasgow lebten diejenigen mit den teuersten, höchsten Grabsteinen (ein Hinweis auf den größten Reichtum) am längsten (Carroll et al. 1994). Entsprechend gibt es in den Bereichen Schottlands mit der geringsten Bevölkerungsdichte und Arbeitslosigkeit die höchste Langlebigkeit. Dort und an anderen Orten kann man aufgrund eines hohen sozioökonomischen Status ein geringeres Risiko für Erkrankungen des Herzens und der Atmungsorgane vorhersagen (Sapolsky 2005). Das gilt auch für Kinder (Chen 2004). Ein höherer ökonomischer Status geht mit einem geringeren Risiko für Säuglingssterblichkeit, für ein geringes Gewicht bei der Geburt, für Rauchen und Gewalttätigkeit einher. Selbst bei anderen Primaten werden die Tiere am unteren Ende der sozialen Hackordnung, wenn sie mit einem Erkältungsvirus in Kontakt kommen, mit größerer Wahrscheinlichkeit krank als ihre Artgenossen mit einem höheren Status (Cohen et al. 1997). Doch für jene Paviane und Affen mit hohem Status, die ihre dominante Position oft körperlich verteidigen müssen, ist hoher Status auch mit Stress verbunden (Sapolsky 2005). Warum kann man aufgrund eines wahrgenommenen Mangels an Kontrolle Gesundheitsprobleme vorhersagen? Tierstudien zeigen – und Studien an Menschen bestätigen dies –, dass Kontrollverlust zum Ausstoß von Stresshormonen führt. Wenn Ratten Stromstöße nicht kontrollieren können und wenn sich Primaten oder Menschen nicht in der Lage fühlen, ihre Umgebung zu kontrollieren, steigt der Spiegel an Stresshormonen, nimmt der Blutdruck zu und nehmen die Immunreaktionen ab (Rodin 1986; Sapolsky 2005). Daher empfinden Tiere in Gefangenschaft mehr Stress und sind anfälliger für Krankheiten als wilde Tiere (Roberts 1988). Die Menschenansammlungen, wie sie oft in dicht bebauten Wohngebieten, Gefängnissen und Studentenheimen auftreten, sind ein weiterer Grund für das verringerte Gefühl der Kontrolle – sowie für einen erhöhten Spiegel an Stresshormonen und für einen höheren Blutdruck (Fleming et al. 1987; Ostfeld et al. 1987).
Erklärungsstil: Optimismus vs. Pessimismus Ziel 13: Erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Erklärungsstil, Stress und Gesundheit.
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Ein weiterer Einfluss darauf, wie wir Stress bewältigen, besteht darin, ob unsere grundlegende Sicht der Dinge eher optimistisch oder pessimistisch ist. Scheier u. Carver (1992) berichten, dass Optimisten – Menschen, die Aussagen wie »In unsicheren Zeiten erwarte ich normalerweise das Beste« zustimmen – mehr Kontrolle wahrnehmen, stressreiche Ereignisse besser bewältigen und sich besserer Gesundheit erfreuen. Während der letzten Monate eines Semesters berichten Studierende, die zuvor als optimistisch eingestuft wurden, weniger über Müdigkeit, Husten, Schmerzen und Wehwehchen. Und während der stressreichen ersten paar Wochen in einem juristischen Aufbaustudium (»Law School«) haben diejenigen, die optimistisch sind (»Es ist unwahrscheinlich, dass ich durchfalle«), eine bessere Stimmung und ein stärkeres Immunsystem zur Abwehr von Infektionen (Segerstrom et al. 1998). Optimisten reagieren auch mit einem geringeren Anstieg des Blutdrucks auf Stress, und sie erholen sich schneller von einer Bypass-Operation am Herzen.
Bei einer Studie, die 2428 finnische Männer mittleren Alters bis zu 10 Jahre lang wissenschaftlich begleitete, entdeckte man, dass die Anzahl der Toten unter den Männern mit einer düsteren hoffnungslosen Sicht der Dinge mehr als doppelt so hoch war wie unter denjenigen, die optimistisch waren. Bei einer weiteren Studie wurden 795 Amerikaner im Alter zwischen 64 und 79 Jahren befragt, ob sie »hoffnungsvoll in die Zukunft blickten«. Als die Forscher diese Personen etwa 5 Jahre später noch einmal befragten, waren 29% von denen, die mit »nein« geantwortet hatten, gestorben; das sind mehr als doppelt so viele wie die 11% Toten unter denjenigen, die »ja« gesagt hatten (Stern et al. 2001). Bei Forschungen der Mayo Clinic fand man in ähnlicher Weise heraus, dass Optimisten Pessimisten gewöhnlich überleben (Maruta et al. 2002). Personen mit einer hoffnungsvollen Sicht der Dinge leben länger. Dies war zumindest so bei 180 katholischen Nonnen, die mit 22 Jahren eine kurze Autobiographie geschrieben hatten. Obwohl sie danach in einer ähnlichen Lebensweise lebten und mit einem ähnlichen Status, lebten diejenigen, die Glück, Liebe und andere positive Gefühle zum Ausdruck gebracht hatten, im Schnitt 7 Jahre länger als ihre mürrischen Mitschwestern (Danner et al. 2001). Im Alter von 80 Jahren waren etwa 54% der Nonnen, die wenige positive Gefühle geäußert hatten, gestorben; dies war aber nur bei 24% derjenigen der Fall, die am positivsten eingestellt waren. Personen, die es schaffen, über die Alltagsereignisse im Leben zu lachen, scheinen auch davon zu profitieren. Lachen erregt uns, setzt die Muskeln einer Massage aus und lässt uns mit einem entspannten Gefühl zurück (Robinson 1983). Es gibt keine ausreichend konsistenten Befunde um zu der Überzeugung zu gelangen, dass »Lachen die beste Medizin ist« (Martin 2001, 2002). Aber einige neuere Studien deuten darauf hin, dass fröhlicher Humor (nicht feindseliger Sarkasmus) Stress entschärfen und die Immunaktivität stärken kann (Berk et al. 2001; Kimata 2001). Bei Menschen, die viel lachen, kommt es auch seltener zu Herzerkrankungen (Clark et al. 2001). Bei einem Experiment führte Lachen in Reaktion auf einen lustigen Filmausschnitt dazu, dass die Innenwand der Blutgefäße mit einem besseren Tonus reagierte und es dadurch zu einem verstärkten Blutfluss kam. Nachdem die Versuchsteilnehmer einen stressreichen Filmausschnitt gesehen hatten, geschah das Gegenteil (Miller 2005). Vielleicht werden künftige Experimente zeigen, dass sich tatsächlich die, die lachen, besser halten.
Soziale Unterstützung Ziel 14: Beschreiben Sie einige der Aspekte, wie soziale Unterstützung als Puffer gegen Stress wirkt.
Auch soziale Unterstützung ist wichtig. Denken wir einmal an Linda und Emily. Als sie von der Sozialpsychologin Taylor (1989) für eine Studie befragt wurden, zeigte sich Folgendes: Beide Frauen stammten aus Los Angeles, hatten geheiratet, 3 Kinder großgezogen, sie litten beide an vergleichbaren Brusttumoren und erholten sich gerade von der Operation und 6 Monaten Chemotherapie. Einen Unterschied gab es allerdings: Linda, Anfang 50, war Witwe und lebte allein, ihre Kinder lebten in Atlanta, Boston und sogar in Europa. »Sie war etwas sonderbar geworden, so wie es manchmal bei allein lebenden Menschen vorkommt«, berichtete Taylor. »Da sie niemanden hatte, mit dem sie im Alltag ihre Gedanken teilen konnte, lud sie diese in ziemlich unangemessener Weise bei Fremden ab, u. a. auch bei unserem Interviewer.« Emily zu interviewen war in anderer Hinsicht schwierig. Das Gespräch wurde oft durch Anrufe unterbrochen. Ihre Kinder, die alle in der Gegend wohnten, kamen und gingen oder gaben irgendetwas mit einem kleinen Kuss ab. Ihr Mann rief aus dem Büro an, um kurz mit ihr zu plaudern, die beiden Hunde streiften durchs Haus und begrüßten begeistert die Besucher. Alles in allem »schien Emily ein heiterer und zufriedener Mensch zu sein, der sich in der Wärme seiner Familie geborgen fühlte.« Drei Jahre später wollten die Forscher die Frauen erneut interviewen. Sie erfuhren, dass Linda 2 Jahre zuvor gestorben war. Emily wurde immer noch liebevoll von ihrer Familie und ihren Freunden unterstützt und war so glücklich und gesund wie zuvor.
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709 16.2 · Gesundheitsförderung
Freundschaften sind eine gute Medizin Verschiedene Langzeitstudien mit Tausenden von Personen belegen, dass Menschen mit engen, unterstützenden Beziehungen seltener vorzeitig sterben als sozial isolierte Menschen »Die Medizin ist nicht sehr lustig, aber im Lustigsein steckt ziemlich viel Medizin.« Der Komiker Josh Billings (1818–1885)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Der Verlauf einer Krebserkrankung ist nie derselbe wie bei einer anderen. Deshalb können wir nicht sicher sein, dass unterschiedliche soziale Gegebenheiten Lindas und Emilys Schicksal bestimmten. Sie weisen dennoch auf eine Schlussfolgerung hin, die von mehreren großen Studien belegt wird: ! Soziale Unterstützung – das Gefühl, von guten Freunden und der Familie gemocht, bestätigt und ermutigt zu werden – macht nicht nur glücklich, sondern erhält auch gesund.
Menschen sind nicht der einzige Trost, mit dessen Hilfe Stress abgebaut wird. Nach Stress auslösenden Erfahrungen suchen Patienten, die einen Hund oder ein anderes geliebtes Haustier haben, seltener ihren Arzt auf (Siegel 1990) (7 Unter der Lupe: »Auch Haustiere sind Freunde«). Unter der Lupe
16 »Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe.« Prediger 4, Vers 10
des oder sogar ihres Ehegatten mit schwierigen mathematischen Problemen ringen; das ist aber in Gegenwart ihres Hundes viel weniger der Fall. Wären also Hunde eine gute Medizin für Menschen ohne Haustiere? Um etwas darüber herauszufinden, untersuchte Allen eine Gruppe von Aktienhändlern, die allein lebten, ihre Arbeit als stressreich beschrieben und einen hohen Blutdruck hatten. Nach dem Zufall wählte sie die Hälfte dafür aus, Katzen oder Hunde aus einem Tierheim bei sich aufzunehmen. Wenn diese neuen Hundebesitzer später mit Stress konfrontiert waren, wiesen sie nur einen halb so hohen Blutdruckanstieg auf, wie diejenigen, die keine Hunde hatten. Der Effekt war am deutlichsten bei denen ohne soziale Kontakte oder Freunde. Die Schlussfolgerung der Forscherin lautete: Um den Blutdruck zu senken, sind Haustiere kein Ersatz für wirksame Medikamente, aber sie sind für diejenigen, die Spaß an Tieren haben und allein leben, ein gesundes Vergnügen. © Saniphoto – Fotolia.com
Auch Haustiere sind Freunde Haben Sie sich je einen Freund gewünscht, der Sie so lieben würde, wie Sie sind, der Sie nicht ständig bewertet und der immer für Sie da ist, gleichgültig in welcher Stimmung Sie sind? Viele Millionen Menschen haben einen solchen Freund: Es handelt sich um einen treuen Hund oder um eine freundliche Katze. Viele Leute beschreiben ihr Haustier als liebgewonnenes Mitglied der Familie, das ihnen dabei hilft, sich ruhig, glücklich und geschätzt zu fühlen. Können Haustiere Menschen dabei helfen, mit Stress umzugehen? Wenn dies so ist, könnten dann Haustiere über eine heilende Kraft verfügen? Nach einer Durchsicht aller Forschungsarbeiten zu diesem Thema berichtet Allen (2003), dass Haustiere tatsächlich positive Auswirkungen haben: Die Überlebenschancen nach einer Herzattacke sind besser, Depressionen bei Aids-Patienten werden gelindert, und der Spiegel der Blutfette, die zum Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten beitragen, wird gesenkt. Bereits Florence Nightingale (1860), die Pionierin der modernen Krankenpflege, sah es voraus: »Ein kleines Haustier ist häufig ein ausgezeichStatistik über den Besitz von Haustieren (nach neter Gefährte für den petnet.com.au, Statistics Canada, U.S, Human Kranken.« Allen berichtet Society, UK Cats Protections League) aus ihren eigenen UnterHunde Katzen suchungen darüber, dass Australien 4,0 3,5 der Blutdruck von Frauen Kanada 3,5 4,5 ansteigt, wenn sie in AnUSA 65 75 wesenheit ihres FreunGroßbritannien 6,1 7,5
Beziehungen können manchmal Stress verursachen, besonders dann, wenn man unter sehr vielen Menschen leben muss und über wenig Privatsphäre verfügt (Evans et al. 1989). »Die Hölle, das sind die anderen«, schrieb Jean-Paul Sartre. Warr u. Payne (1982) befragten eine repräsentative Stichprobe erwachsener Briten und wollten wissen, was diese, wenn überhaupt, am Tag zuvor emotional belastet habe. Die häufigste Antwort? »Die Familie.« Wenn dieselben britischen Testpersonen gefragt wurden, was gestern zu ihrer Freude beigetragen habe, antworteten sie noch häufiger: »Die Familie«. Bei den meisten von uns sind familiäre Beziehungen nicht nur die Ursache für die größten Herzschmerzen (auch wenn gut gemeinte Einmischungen von Seiten der Familie mit Stress verbunden sein können), sondern sie sind auch unser Trost und unsere größte Freude. Sieben groß angelegte Studien, bei denen jeweils Tausende von Menschen über mehrere Jahre hinweg beobachtet wurden, zeigten gleichfalls, dass enge Beziehungen ein Prädiktor für Gesundheit sind. Verglichen mit Menschen mit nur wenigen sozialen Bindungen ist die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes bei jenen Menschen geringer, die durch enge Beziehungen zu Freunden, Familie, Kollegen oder andere Netzwerke unterstützt werden (Cohen 1988; House et al. 1988; Nelson 1988). So hatten auch Leukämie- und Herzpatienten deutlich höhere Überlebensraten, wenn sie verheiratet waren oder von der Familie
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oder von Freunden unterstützt wurden (Case et al. 1992; Colon et al. 1991; Williams et al. 1992). Sorgfältig kontrollierte Untersuchungen deuten darauf hin, dass verheiratete Menschen länger und gesünder leben als unverheiratete (Murray 2000; Wilson u. Oswald 2002). Das National Center for Health Statistics (2004) berichtet, dass Menschen unabhängig von Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Einkommen gewöhnlich gesünder sind, wenn sie verheiratet sind. Die Verheirateten leiden bei Kopf- und Rückenschmerzen weniger stark unter Schmerzen, trinken und rauchen weniger. Und obwohl sie eher ein leichtes Übergewicht haben, sind sie i. Allg. gesünder. In einer über 70 Jahre angelegten Studie fand man heraus, dass bei 50-Jährigen eine gute Ehe ein besserer Prädiktor für gesundes Altern ist als ein niedriger Cholesterinspiegel (Vaillant 2002). Aber der Verlauf der Ehe ist ebenfalls von Bedeutung. Konfliktbeladene Ehen sind nicht gut für die Gesundheit, glückliche Ehen dagegen schon (Kiecolt-Glaser u. Newton 2001). In einer 5 Jahre dauernden Studie, bei der man 1532 verheiratete Erwachsene wissenschaftlich begleitete, fand man heraus, dass es sogar noch besser ist, zu geben als zu nehmen. Nachdem die Faktoren vorher bestehende Gesundheit und Persönlichkeitsunterschiede kontrolliert worden waren, beobachteten die Forscher in einem Zeitraum von 5 Jahren ein deutlich geringeres Mortalitätsrisiko unter denjenigen, die häufig Freunden und Nachbarn geholfen hatten und die ihrem Ehepartner das Gefühl vermittelten, ihn zu lieben und sich um ihn zu kümmern (Brown et al. 2003). Wie können wir diesen Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und Gesundheit erklären? Liegt es nur daran, dass gesunde Menschen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit andere unterstützen, heiraten und verheiratet bleiben? Tatsächlich deutet die Forschung darauf hin, dass Menschen mit unterstützenden Freunden und Ehepartnern besser essen, mehr Sport treiben, besser schlafen sowie weniger rauchen und daher Stress wirkungsvoller bewältigen (Helgeson et al. 1998). Eine Umwelt, die unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit entspricht, sorgt auch dafür, dass unser Immunsystem besser funktioniert. Mit verlässlichem sozialem Rückhalt ist die Funktionstüchtigkeit des Immunsystems bei Ehepartnern von Krebspatienten besser (Baron et al. 1990). Soziale Bindungen und Kontaktfreudigkeit aktivieren sogar die Widerstandskraft gegen virale Erkältungen. Cohen et al. (1997, 2004) demonstrierten dies, indem sie 276 gesunden Freiwilligen Nasentropfen mit einem Erkältungsvirus verabreichten, sie 5 Tage unter Quarantäne stellten und dann das Experiment mit weiteren 334 freiwilligen Versuchsteilnehmern wiederholten. (Wer diese Erfahrung auf sich nahm, erhielt bei beiden Experimenten 800 Dollar.) Tatsache ist – und das zeigte sich deutlich –, dass uns soziale Beziehungen nicht gleichgültig sein sollten. Denn unter vergleichbaren Bedingungen (in Bezug auf die Faktoren Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Rauchverhalten und andere Gesundheitsgewohnheiten) waren die Untersuchungsteilnehmer mit den meisten sozialen Beziehungen am wenigsten erkältungsanfällig und produzierten auch weniger Schleim. Je umgänglicher jemand war, desto weniger anfällig war er auch. Darüber hinaus zeigen mehr als 50 Studien Folgendes: Soziale Unterstützung bewirkt, dass Blutdruck und Stresshormonspiegel sinken, und dadurch beruhigt sich das Herz-Kreislauf-System (Uchino et al. 1996, 1999). Enge Bindungen bieten auch Möglichkeiten, jemandem schmerzliche Gefühle anzuvertrauen; hier handelt es sich um eine Komponente sozialer Unterstützung, die ausführlich untersucht wurde. Anlässlich einer Studie nahmen die Gesundheitspsychologen Pennebaker u. O’Heeron (1984) Kontakt auf mit den überlebenden Partnern von Menschen, die Selbstmord begangen hatten oder bei Autounfällen ums Leben gekommen waren. Diejenigen, die ihren Schmerz allein ertrugen, hatten größere gesundheitliche Probleme als jene, die diesen offen aussprechen konnten. Über das zu sprechen, was uns belastet, kann wie eine »Therapie am offenen Herzen« sein. Ältere Menschen, von denen viele bereits den Partner oder enge Freunde verloren haben, haben weniger Möglichkeiten, in den Genuss offener Gespräche zu kommen ( . Abb. 16.12); und die Unterdrückung von Emotionen ist manchmal schädlich für unsere physische Gesundheit. Als Pennebaker über 700 Studienanfängerinnen befragte, stellte er fest, dass ungefähr 1 von 12 über eine traumatische sexuelle Erfahrung in der Kindheit berichtete. Im Vergleich zu den Frauen, die andere Traumata erlitten hatten, etwa den Tod eines Elternteils oder eine Scheidung, berichteten die sexuell missbrauchten Frauen – besonders jene, die ihr Geheimnis für sich behalten hatten – von häufigeren Kopfschmerzen und Magenbeschwerden. Bei einer weiteren Studie an 437 australischen Krankenwagenfahrern bestätigte sich, welche krankmachenden
»I get by with a little help from my friends.« John Lennon und Paul McCartney (»Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band«, 1967)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.12. Soziale Unterstützung über die Jahre hinweg Haben Sie jemand, dem Sie sich anvertrauen können? Jemand, auf den Sie in Krisenzeiten bauen können? Jemand, auf dessen Rat Sie zählen können? Jemand, der Ihnen das Gefühl gibt, geliebt und umsorgt zu werden? In einer landesweiten Umfrage zur Gesundheit gaben 9 von 10 kanadischen jungen Erwachsenen, aber nur 7 von 10 über 75-Jährigen einen hohen sozialen Rückhalt an, indem sie alle 4 Fragen mit Ja beantworteten. (Aus Statistics Canada 1999, S. 133)
Auswirkungen die Unterdrückung der eigenen Emotionen hat, nachdem man ein Trauma erlebt hat (Wastell 2002). Gedanken bewusst beiseite zu schieben, kann dazu führen, dass sie immer wieder auftauchen und sich mit Macht in die Gedanken des betreffenden Menschen drängen (Wegner 1990). (Stellen Sie sich in den nächsten 5 Sekunden keinen großen weißen Bären vor.) Das Aussprechen verdrängter Gedanken kann diesem Teufelskreis ein Ende setzen. In einem simulierten Beichtstuhl bat Pennebaker Freiwillige, einem verborgenen Versuchsleiter einige unangenehme Erlebnisse mitzuteilen, die sie innerlich gequält hatten. Er bat einige Versuchsteilnehmer, zunächst ein triviales Erlebnis zu beschreiben, bevor sie die problematische Erfahrung zur Sprache brachten. Durch physiologische Messungen wurde festgestellt, dass der Körper der Betreffenden angespannt blieb, solange sie über das triviale Erlebnis sprachen; sie entspannten sich erst, als sie später die Ursache ihrer inneren Aufgewühltheit preisgeben konnten. Es kann auch hilfreich sein, persönliche Traumata einem Tagebuch anzuvertrauen (Hemenover 2003; Lyubomirsky et al. 2006). Als Versuchsteilnehmer dies in einem Experiment taten, hatten sie in den folgenden 4–6 Monaten weniger gesundheitliche Probleme (Pennebaker 1990). Ein Teilnehmer erklärte: »Obwohl ich noch mit niemandem über das gesprochen habe, was ich niederschrieb, schaffte ich es schließlich, mich durch den Schmerz zu arbeiten, statt zu versuchen, ihn auszublenden. Jetzt tut es nicht mehr weh, daran zu denken.« Pennebaker et al. (1989) luden auch 33 Holocaust-Überlebende dazu ein, 2 Stunden lang über ihre Erfahrungen zu berichten. Viele erzählten Einzelheiten, die sie noch nie zuvor ausgesprochen hatten. In den darauf folgenden Wochen sahen sich die meisten Teilnehmer Videoaufnahmen von diesen Erinnerungssitzungen an und zeigten sie der Familie und Freunden. Bei denen, die sich am meisten geöffnet hatten, hatte sich der Gesundheitszustand 14 Monate später am deutlichsten verbessert. ! Über ein belastendes Erlebnis zu sprechen, kann Menschen vorübergehend erregen, wirkt sich aber langfristig beruhigend aus (Mendolia u. Kleck 1993). Sich jemandem anzuvertrauen ist gut für die Seele.
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16.2.2
Umgang mit Stress
Wenn wir das Gefühl der Kontrolle haben, einen optimistischeren Erklärungsstil entwickeln und uns soziale Unterstützung suchen, so kann dies dazu beitragen, dass wir weniger Stress empfinden und sich damit unsere Gesundheit verbessert. Doch manchmal können wir Stress nicht abbauen und müssen einfach auf gesunde Weise mit ihm umgehen. Aerobes Training, Biofeedback, Entspannung, Meditation und Spiritualität helfen uns dabei, innere Stärke zu gewinnen und den Stress zu verringern.
713 16.2 · Gesundheitsförderung
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Aerobes Training Ziel 15: Erörtern Sie die Vorteile eines aeroben Trainings als Technik zum Umgang mit Stress und zur Förderung des Wohlbefindens.
Als aerobes Training (wörtlich: Training mit Luft) wird ein Ausdauertraining bezeichnet, bei dem die Funktionsfähigkeit des Herzens und der Lunge gesteigert wird. Joggen, Schwimmen und Radfahren sind verbreitete Beispiele. Ein solches Training stärkt den Körper; aber ist es auch gut für den Geist?
Aerobes Training (aerobic training): Ausdauertraining, bei dem die Funktionsfähigkeit des Herzens und der Lunge zunimmt, kann auch Depressionen und Angststörungen lindern.
Sport und Stimmung Viele Studien deuten darauf hin, dass Stress, Depressionen und Ängste durch aerobes Training abgebaut werden können. Beispielsweise gehen jene 3 von 10 Amerikanern und 2 von 10 Briten, die 3 Mal die Woche oder häufiger ein aerobes Training machen, auch besser mit Stresssituationen um, haben mehr Selbstvertrauen, fühlen sich lebendiger und sind seltener depressiv oder erschöpft als diejenigen, die nicht so häufig Sport treiben (McMurray 2004). Nach einer Gallup-Umfrage von 2002 war für diejenigen, die keinen Sport trieben, die Wahrscheinlichkeit, sich »nicht besonders glücklich« zu fühlen, doppelt so hoch im Vergleich zu denen, die sportlich aktiv waren (Brooks 2002). Wenn wir jedoch diese Beobachtung anders herum sehen – nämlich dass gestresste und depressive Menschen weniger Sport treiben –, wird klar, dass wie stets bei Korrelationen Ursache und Wirkung nicht eindeutig zu bestimmen sind. Dieser Widerspruch wurde durch Versuche aufgelöst, bei denen gestresste, depressive oder ängstliche Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder einem Ausdauertrainingsprogramm oder anderen Behandlungsprogrammen zugeteilt wurden. Bei einem solchen Versuch wiesen McCann u. Holmes (1984) ein Drittel aller Mitglieder einer Gruppe leicht depressiver Studentinnen einem aeroben Trainingsprogramm zu, ein weiteres Drittel einer Behandlung mit Entspannungsverfahren, während das verbleibende Drittel als Kontrollgruppe fungierte und keine Behandlung erhielt. Wie in . Abb. 16.13 gezeigt, berichteten die Teilnehmerinnen des Ausdauertrainings 10 Wochen später vom deutlichsten Rückgang ihrer Depressionen. Viele von ihnen waren buchstäblich ihren Schwierigkeiten davongerannt. Auch in Deutschland wurde die positive Wirkung von Sport nachgewiesen: Ausdauersportler fühlen sich aufnahmefähiger, konzentrierter und wacher (Kubesch 2002). Die erhöhte Konzentration von Serotonin und Noradrenalin wirkte sich überdies positiv auf Wohlbefinden, Selbstbewusstsein und die Motivation aus. Kräftigende Übungen führen zu einer sofortigen »substanziellen« Stimmungsaufhellung, berichtet Watson (2000) von seinen Beobachtungen bei Studenten. Schon ein 10-minütiger Spaziergang führt zu 2 Stunden besserer Befindlichkeit, da er das Energieniveau hebt und Spannung abbaut (Thayer 1987, 1993). Mehr als 150 weitere Studien bestätigen, dass sportliche Aktivität Depressionen und Angststörungen abbaut und daher eine nützliche Unterstützung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung der Depression ist (Arent et al. 2000; Berger u. Motl 2000; Dunn et al. 2005). Sportliche Aktivität ist nicht nur in etwa genauso wirksam wie Medikamente; einige Forschungsarbeiten deuten auch darauf hin, dass sie das Wiederauftreten der Symptome besser verhindert (Babyak et al. 2000; Salmon 2001). Forscher fragen sich jetzt, warum sportliches Training im aeroben Bereich Stress und negative Emotionen lindert. Sie wissen, dass Sport 4 stimmungsaufhellende chemische Substanzen aus unserer körpereigenen Apotheke mobilisiert – Neurotransmitter wie Noradrenalin, Serotonin und Endorphine (Jacobs 1994; Salmon 2001); 4 kognitive Fähigkeiten (z. B. das Gedächtnis) geringfügig verbessert (Etnier et al. 1997); 4 das Wachstum neuer Gehirnzellen bei Mäusen fördert, wenn diese täglich ihr Laufradtraining absolvieren (Kempermann u. Gage 1999). Vielleicht sind die positiven emotionalen Auswirkungen des Sports auch der Nebeneffekt einer gesteigerten Aktivierung und Erwärmung des Körpers (und sie arbeiten gegen den geringen Aktivierungszustand bei Depressionen an) oder der
. Abb. 16.13. Ausdauersport und Depressionen Leicht depressive Studentinnen, die an einem aeroben Trainingsprogramm teilnahmen, zeigten eine deutlich geringere Depression im Vergleich zu jenen Versuchsteilnehmerinnen, die Entspannungsübungen machten oder keine Behandlung erhielten. (Aus McCann u. Holmes 1984)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Muskelentspannung und des tieferen Schlafes, der sich danach einstellt. Vielleicht trägt das Gefühl, etwas geschafft zu haben, oder die bessere körperliche Befindlichkeit dazu bei, dass sich auch die emotionale Befindlichkeit verbessert.
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Sport und Gesundheit
Stimmungsaufheller Wenn die Energie schwächer oder die Stimmung schlechter wird, gibt es nur wenige Dinge, die den Tag schneller in einem anderen Licht erscheinen lassen als sportliche Aktivitäten (wie ich dies aufgrund meines mittäglichen Basketballspielens bestätigen kann). Ausdauertraining z. B. scheint der Depression teilweise durch eine gesteigerte Erregung entgegenzuwirken (durch den der Zustand verminderter Erregung während einer Depression »ersetzt« wird). Dies geschieht aber auch durch die natürliche Steigerung der Serotoninaktivität im Gehirn, die bei medikamentöser Behandlung (z. B. durch den Serotoninwiederaufnahmehemmer Fluoxetin) bewirkt wird
Biofeedback (biofeedback): Methode, bei der Informationen über einen kaum wahrnehmbaren physiologischen Zustand wie etwa Blutdruck oder Muskelspannung elektronisch aufgezeichnet, verstärkt und an den Benutzer rückgemeldet werden.
16 . Abb. 16.14. Biofeedback-Systeme Biofeedback-Systeme – wie das hier gezeigte, das die Spannung im Stirnmuskel eines Kopfschmerzpatienten aufzeichnet – ermöglichen Menschen, ihre unmerklichen physiologischen Reaktionen zu überwachen. Wenn dieser Mann seine Stirnmuskeln entspannt, geht der Zeiger auf dem Bildschirm zurück (oder ein Ton wird leiser)
Andere Forschungen zeigen, dass Sport nicht nur unsere Stimmung aufhellt, sondern auch das Herz stärkt, den Blutfluss zunehmen lässt, die Blutgefäße offen hält und sowohl den Blutdruck als auch die Blutdruckreaktion auf Stress in Grenzen hält (Ford 2002; Manson 2002). Und körperlich gesund zu sein, macht uns stärker und versetzt uns eher in die Lage, mit Stress umzugehen. Menschen, die Sport treiben, erleiden im Vergleich zu sportlich inaktiven Menschen nur halb so oft einen Herzinfarkt (Powell et al. 1987). Sport macht die Muskeln hungrig auf »schlechte Fette«, die, wenn sie nicht von den Muskeln genutzt werden, zur Verstopfung der Arterien beitragen (Barinaga 1997). Eine Studie, in der erwachsene finnische Zwillinge nahezu 20 Jahre beobachtet wurden, belegte, dass gelegentlicher Sport bei sonst gleichen Begleitumständen das Mortalitätsrisiko um 29% verringerte im Vergleich zu den Studienteilnehmern, die gar keinen Sport trieben. Tägliches Konditionstraining verringerte das Mortalitätsrisiko um 43% (Kujala et al. 1998). Die Gene, die wir von unseren entfernten Vorfahren bekommen haben, waren die, die uns zu körperlichen Aktivitäten befähigen, wie sie für das Jagen, für die Nahrungssuche und die Landwirtschaft von wesentlicher Bedeutung sind. In den Muskelzellen reagieren diese Gene, wenn sie durch sportliche Betätigung aktiviert werden, dadurch, dass sie Proteine produzieren. Beim modernen inaktiven Menschen, so merken die Biologen Booth u. Neufer (2005) an, produzieren diese Gene geringere Mengen von Proteinen und lassen uns anfällig werden für mehr als 20 chronische Erkrankungen, wie etwa Diabetes vom Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Inaktivität ist daher potenziell schädlich. Eine Schätzung besagt, dass mäßiger Sport die Lebenserwartung um 2 Jahre steigert. »Vielleicht zieht Gott die Zeit, die du mit Sport verbringst, nicht von der dir zugewiesenen Zeit auf Erden ab«, scherzt Seligman (1994, S. 193).
Biofeedback, Entspannung und Meditation Ziel 16: Vergleichen Sie die Vorteile des Biofeedbacks und des Entspannungstrainings mit Stressmanagementtechniken, und erörtern Sie Meditation als Entspannungstechnik.
Könnten wir den Menschen nicht beibringen, ihren Herzschlag und ihren Blutdruck unter bewusste Kontrolle zu bringen, wo wir doch jetzt die schädlichen Folgen von Stress kennen? Als einige Psychologen mit dieser Idee zu experimentieren begannen, hielten viele ihrer Kollegen sie für verrückt; denn diese Funktionen werden ja vom autonomen (»willentlich nicht beeinflussbaren«) Nervensystem gesteuert. Schließlich brachten in den späten 1960er Jahren die Experimente anerkannter Psychologen selbst die Skeptiker zum Nachdenken. Miller fand beispielsweise heraus, dass Ratten ihren Herzschlag verändern konnten, wenn sie im Gehirn in angenehmer Weise stimuliert wurden, sobald ihr Herzschlag zu- oder abnahm. Spätere Forschungen belegten, dass auch einige gelähmte Menschen lernen konnten, ihren Blutdruck zu steuern (Miller u. Bruckner 1979). Miller experimentierte mit Biofeedback, einem System, das Informationen über kaum wahrnehmbare physiologische Reaktionen aufzeichnet, verstärkt und weiterleitet. Biofeedback-Instrumente geben die Ergebnisse der eigenen Anstrengungen einer Person wieder und ermöglichen es ihr dadurch, Techniken zu erlernen, mit deren Hilfe sie eine bestimmte physiologische Reaktion steuern kann (. Abb. 16.14). Nach 10 Jahren Forschung jedoch entschieden die Wissenschaftler, dass die anfänglichen Behauptungen über die Wirksamkeit des Biofeedbacks zu hoch gegriffen waren und zu sehr
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bejubelt wurden (Miller 1985). Eine Gesprächsrunde am National Institute of Health kam 1995 zu dem Ergebnis, dass Biofeedback am besten bei Spannungskopfschmerz wirkt. Viele haben sich seitdem auf der Suche nach schneller Erlösung von Stress und Krankheiten der alternativen Medizin zugewandt (7 Kritisch hinterfragt: »Alternative Medizin – neue Wege zur Gesundheit oder alter Wein in neuen Schläuchen?«). Auch einfache Entspannungsverfahren, die keine teuren Geräte erfordern, führen zu sehr ähnlichen Erfolgen, wie sie das Biofeedback einmal versprach. ! 60 Studien belegen, dass Entspannungsverfahren dazu beitragen können, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Ängste und Schlaflosigkeit zu lindern (Stetter u. Kupper 2002).
Derartige Befunde würden Friedman und seine Kollegen nicht überraschen. Sie wollten herausfinden, ob man bei Herzinfarktopfern vom Typ A durch ein Entspannungstraining das Risiko verringern kann, erneut einen Herzinfarkt zu bekommen. Dazu teilten sie Hunderte von Männern mittleren Alters, die einen Herzinfarkt überlebt hatten, nach dem Zufallsprinzip in 2 Gruppen ein. Die erste Gruppe erhielt von den Kardiologen die üblichen Ratschläge zu Medikation, Diät und Bewegungsgewohnheiten. Die zweite Gruppe bekam ähnliche Ratschläge sowie eine kontinuierliche Beratung über Möglichkeiten, ihre Lebensweise zu verändern: wie sie durch langsameres Gehen, Reden und Essen ruhiger werden und sich entspannen könnten, wie sie anderen Menschen ein Lächeln schenken und über sich selbst und andere lachen könnten, wie sie Fehler eingestehen könnten, wie sie sich Zeit nehmen könnten, das Leben zu genießen. . Abb. 16.15 zeigt, dass in der zweiten Gruppe in den folgenden 3 Jahren nur halb so viele Herzinfarkte auftraten wie in der ersten. Dies, so schrieb Friedman begeistert, sei ein noch nie dagewesener, spektakulärer Rückgang des Wiederauftretens bei Herzinfarkten. Bei einer weniger großflächig angelegten britischen Studie teilte man auf ähnliche Weise Menschen mit erhöhtem Herzinfarktrisiko in eine Kontrollgruppe und eine Gruppe zur Veränderung der Lebensweise ein (Eysenck u. Grossarth-Maticek 1991). In den darauf folgenden 13 Jahren wurde auch hier ein Rückgang der Mortalitätsrate um 50% unter jenen Studienteilnehmern festgestellt, denen beigebracht wurde, wie sie ihr Denken und ihre Lebensweise verändern können. Der Kardiologe Benson (1996) entwickelte ein Interesse für die meditative Entspannung, als er herausfand, dass erfahrene Meditierer ihren Blutdruck, ihre Herzfrequenz und ihren Sauerstoffverbrauch senken und die Temperatur an den Fingerspitzen erhöhen konnten. Sie können jetzt sofort mit dem wesentlichen Bestandteil dieser Entspannungsreaktion, wie sie Benson nannte, Erfahrung machen. Nehmen Sie eine bequeme Körperhaltung ein, atmen Sie tief, und entspannen Sie Ihre Muskeln von Kopf bis Fuß. Schließen Sie nun Ihre Augen, und konzentrieren Sie sich auf ein einzelnes Wort oder auf einen einzelnen Satz (etwa 80% von Bensons Patienten entschieden sich dafür, sich auf ihr Lieblingsgebet zu konzentrieren). Wenn andere Gedanken aufkommen, lassen Sie sie vorbeiziehen, und wiederholen Sie kontinuierlich Ihren Satz still für 10 bis 20 Minuten. Tibetische Buddhisten, die sich in die Meditation vertiefen, und Franziskanernonnen, die sich
Bei der Meditation handelt es sich um ein modernes Phänomen mit einer langen Geschichte: »Setzen Sie sich allein und schweigend hin. Senken Sie Ihren Kopf, schließen Sie Ihre Augen, atmen Sie sanft aus, und stellen Sie sich vor, Sie sähen in Ihr Herz. Während Sie ausatmen, sagen Sie: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.‹ ... Versuchen Sie, alle anderen Gedanken abzulegen. Seien Sie ruhig, seien Sie geduldig, und wiederholen Sie die Vorgehensweise sehr oft.« (Der heilige Gregor vom Sinai, gestorben 1346)
. Abb. 16.15. Mehrfache Herzinfarkte und Veränderung der Lebensweise Das San Francisco Recurrent Coronary Prevention Project bot Überlebenden von Herzinfarkten eine Beratung durch einen Kardiologen an. Diejenigen, die auch angeleitet wurden, ihre Typ-A-Lebensweise zu verändern, erlitten seltener erneut einen Herzinfarkt (Aus Friedman u. Ulmer 1984)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
auf ein Gebet konzentrieren, berichten darüber, dass das Gefühl vom Selbst, von der Zeit und vom Raum schwächer wird. Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen die neuronalen Spuren solcher spiritueller Gefühle während dieser mystischen Erfahrungen: Ein Teil des Parietallappens, der verfolgt, wo im Raum wir uns befinden, ist weniger aktiv als gewöhnlich; und ein Bereich des Frontallappens, der etwas mit konzentrierter Aufmerksamkeit zu tun hat, wird aktiver (Newberg u. D’Aquili 2001). Der Psychologe Davidson berichtet, dass erfahrene buddhistische Mönche bei einer Meditation ein erhöhtes Aktivitätsniveau im linken Frontallappen aufweisen; dies wird mit positiven Emotionen in Verbindung gebracht. Um zu erkunden, ob eine solche Aktivität Ergebnis einer Meditation ist, erhoben Davidson et al. (2003) mit Hilfe von Hirnschichtaufnahmen bei allen Versuchsteilnehmern das Ausgangsniveau und wiesen sie dann zufällig einer Kontrollgruppe oder einem achtwöchigen Kurs in »Achtsamkeitsmeditation« zu. Im Vergleich zur Kontrollgruppe und zu ihrem eigenen Ausgangsniveau wiesen die Teilnehmer nach dem Training deutlich mehr Aktivität in der linken Gehirnhälfte auf und hatten auch ein besser funktionierendes Immunsystem. Solche Effekte können dazu beitragen, die überraschenden Ergebnisse einer Studie zu erklären, bei der 73 Bewohner eines Altenheims nach dem Zufall entweder einer Gruppe mit täglicher Meditation zugewiesen wurden oder nicht. Nach 3 Jahren war ein Viertel der Nichtmeditierer gestorben, aber alle Meditierer waren noch am Leben (Alexander et al. 1989). Bei einer neueren Studie fand man heraus, dass Patienten mit Bluthochdruck, die einem Meditationstraining zugewiesen wurden, (verglichen mit anderen Behandlungsgruppen) im Zeitraum der folgenden 19 Jahre eine um 30% geringere Mortalitätsrate aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verzeichnen hatten (Schneider et al. 2005). Kritisch nachgefragt
Alternative Medizin – neuer Weg zur Gesundheit oder alter Wein in neuen Schläuchen?
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Ein Bereich des Gesundheitssystems, der ständig wächst, ist der der komplementären und alternativen Medizin. Dazu gehören solche Verfahren wie Akupunktur, Massagetherapie, Homöopathie, geistiges Heilen, Kräutermedizin, Chiropraxis und Aromatherapie. In Deutschland sind die Kräutermedizin und die Homöopathie ausgesprochen beliebt. In China standen Kräuterbehandlungen schon seit langem hoch im Kurs, wie dies auch bei BeKomplementäre und alternative handlungen mit Hilfe von AkuMedizin (complementary and alterpunktur und Akupressur der native medicine): Wissenschaftlich Fall war, die von sich behaupnicht belegte Behandlungen im Rahten, die »Ungleichgewichte im men der Gesundheitsversorgung, die i. Allg. nicht in den medizinischen Energiefluss« (genannt Qi oder Fakultäten gelehrt, nicht in den Chi) an identifizierbaren PunkKrankenhäuser praktiziert und geten in der Nähe der Hautoberwöhnlich nicht von den Krankenkasfläche zu korrigieren. Die viesen erstattet werden. len Bücher von Andrew Weil über alternative Medizin verkauften sich in Millionen von Exemplaren; deshalb erschien er auch auf der Titelseite der Zeitschrift »Time«. Als Reaktion auf politischen Druck, wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, gründeten die U.S. National Institutes of Health ein National Center for Complementary and Alternative Medicine; das Zentrum definiert komplementäre und alternative Medizin als Therapien, die nicht an medizinischen Fakultäten gelehrt werden, die die Krankenkassen gewöhnlich nicht erstatten und die nicht in Krankenhäusern zur Anwendung kommen. Was ist also von der alternativen Medizin zu halten? Einigen Aspekten, wie etwa den Veränderungen der Lebensweise und dem Umgang mit Stress kommt anerkannterweise Validität zu. Liefern die ande-
ren Aspekte, wie einige meinen, ein neues medizinisches Paradigma? Oder stellen sie, wie wieder andere behaupten, einen Rückzug aus der Rationalität und aus der Naturwissenschaft dar? Die Unterstützer der alternativen Medizin bieten inspirierende Fallgeschichten an, wie etwa die folgenden aus den Büchern von Andrew Weil (Relman 1998): 4 Eine junge Frau mit der Diagnose Knochenkrebs beginnt ein strenges Trainingsprogramm (jede Woche 800 km Radfahren und 100 km Joggen), wird Vegetarierin (nimmt frische Früchte, Säfte und Vollkornkost zu sich) und wird den Krebs los. 4 Eine Frau setzt »respiratorisches Biofeedback« ein, um ihre durch die Parkinson-Krankheit bedingten Schübe zu beenden. 4 Ein Mann mit Sklerodermie, einer fortschreitenden und tödlichen Erkrankung der Haut und der inneren Organe heilt sich selbst mit Hilfe von Essig, Zitronen, Aloe-Vera-Saft und Vitamin E. Kritiker weisen darauf hin, dass Menschen wegen diagnostizierbarer, heilbarer Krankheiten zum Arzt gehen und bei der alternativen Medizin Zuflucht suchen, wenn sie entweder unheilbar krank sind oder gesund sind, sich aber nicht gut fühlen. Daher versucht vielleicht ein ansonsten gesunder Mensch mit einer Erkältung eine Kräutermedizin und sieht dann anschließend den Grund dafür, dass er wieder gesund wird, in der alternativen Medizin und nicht in den natürlichen Selbstheilungskräften seines Körpers. (Natürlich kann das Gleiche geschehen, wenn die Menschen eine traditionelle Medizin gegen Erkältungen nehmen.) Die alternative Medizin erweckt vor allem bei zyklisch auftretenden Krankheiten wie Arthritis und Allergien den Anschein, besonders wirksam zu sein; denn die Menschen beginnen die Behandlung, wenn es bergab geht,
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und nehmen an, sie wirke, wenn es anschließend wieder aufwärts geht. Dazu kommt dann noch die Heilkraft der Überzeugung – der PlaceboEffekt – und zusätzlich das natürliche Verschwinden vieler Krankheiten (Spontanremission); dann gelten die Praktiken der alternativen Medizin scheinbar als wirkungsvoll, ob sie es nun sind oder nicht. Bei einer deutschen Studie mit Migränepatienten fand man heraus, dass 51% derer, die eine Akupunkturbehandlung bekamen, eine Besserung empfanden; dies war aber nur bei 15% derer der Fall, die als Mitglieder der Kontrollgruppe auf eine Warteliste gesetzt worden waren. In der dritten Gruppe jedoch, die eine vorgetäuschte Akupunktur bekamen (die Nadeln wurden nicht an den korrekten Akupunkturstellen eingeführt) erlebten 53% eine Besserung. Derartige Resultate können, wie die Forscher vermuten, ein Hinweis auf »einen starken Placebo-Effekt« sein (Linde et al. 2005). Das National Council Against Health Fraud sowie die Herausgeber der führenden medizinischen Fachzeitschriften und des »Scientific Review of Alternative Medicine« haben Zweifel an der Wirksamkeit der Behandlungen im Rahmen der alternativen Medizin. »Nach mehr als 10 Jahren und einem finanziellen Aufwand von 200 Mio. Dollar«, stellt Atwood (2003) fest, hat die von der Regierung finanzierte Forschung zur alternativen Medizin bei keiner der untersuchten Behandlungsmethoden »deren Wirksamkeit nachgewiesen«. Im November 1998 wurden im »Journal of the American Medical Association« 7 neue Studien zur alternativen Medizin veröffentlicht. Bei 3 Studien ging es um Behandlungsformen, die sich als nutzlos erwiesen hatten (die chiropraktische Manipulation gegen Spannungskopfschmerzen, ein beliebtes Kraut zur Gewichtsabnahme und Akupunktur, um die Nervenschmerzen unter Kontrolle zu bringen, die von HIV hervorgerufen werden). Vier weitere Behandlungsformen jedoch zeigte einige positive Wirkungen: eine Kräutermischung gegen Morbus Crohn, ein Kräuterheilmittel gegen Blasenprobleme, Joga gegen Schmerzen aufgrund eines Karpaltunnelsyndroms und eine chinesische Methode, mit deren Hilfe ein Fötus in Steißlage dazu gebracht wird, sich zu drehen. Wie immer ist die Methode der Wahl, um zu erkennen, was wirkt und was nicht, das Experiment: Man weist die Patienten nach dem
»Krankheit ist die Manifestation des Zufall einer Experimental- oder Bösen im Körper.« einer Kontrollgruppe zu, von deAndrew Weil, »Health and Healing« nen die eine die Therapie, die an(1998) dere ein Placebo bekommt. Dann stellt man die entscheidende »Gott vertrauen wir. Alle anderen Frage: Wenn weder der Therapeut müssen Daten vorweisen können.« und der Patient weiß, wer die George Lundberg, Herausgeber des wirkliche Therapie bekommen »Journal of the American Medical Association« (1998) hat, ist die wirklicheTherapie dann wirksam? Ein Großteil dessen, was heute die Schulmedizin ist, hat gestern als alternative Medizin angefangen. Das botanische Leben in der Natur gab uns Digitalis (aus dem roten Fingerhut), Mophium (aus dem Schlafmohn) und Penicillin (aus der Gattung Penicillium oder Pinselschimmel). In jedem dieser Fälle wurden die aktiven Wirkstoffe in kontrollierten Versuchsreihen gefunden. Der Medizin und den Gesundheitswissenschaften sind wir zu Dank verpflichtet für die Antibiotika, die Impfstoffe, die chirurgischen Verfahren, die Hygiene und die Notfallmedizin, die im letzten Jahrhundert dazu beigetragen haben, unsere Lebenserwartung um 3 Jahrzehnte zu verlängern. Wenn Sie akute Brustschmerzen haben, einen Knoten in Ihrer Brust finden, beim Husten Blut spucken oder wenn Sie hohes Fieber bekommen, tun Sie gut daran, jemanden aufzusuchen, der Medizin studiert hat – jemanden, der auf Forschungen zurückgreifen kann, welche Behandlungen bei welcher Krankheit in welchen Dosen über welchen Zeitraum hinweg nachweislich am besten wirken. Und das sagen auch Angell u. Kassirer (1998), die Herausgeber des »New England Journal of Medicine«: Es kann keine 2 Arten von Medizin geben – eine konventionelle und eine alternative. Es kann nur eine Medizin geben, die auf angemessene Weise überprüft wurde, und eine Medizin, bei der dies nicht so ist, eine Medizin, die wirkt, und eine Medizin, die vielleicht wirkt oder auch nicht. Ist eine Behandlung erst einmal streng überprüft worden, ist es nicht mehr wichtig, ob sie anfangs als alternativ angesehen wurde.«
Spiritualität und Glaubensgemeinschaften Ziel 17: Erörtern Sie die Korrelation zwischen Religiosität und Langlebigkeit, und nennen Sie einige mögliche Erklärungen für diesen Zusammenhang.
In dem Maße, in dem Menschen über die Geschichte hinweg unter Krankheiten litten und nach Heilmethoden suchten, haben 2 Heilungstraditionen – die Religion und die Medizin – bei der Betreuung der Kranken Hand in Hand gearbeitet. Oft gehörten beide Hände zur selben Person; der spirituelle Wortführer war auch der Heiler. Maimonides war ein Rabbi und berühmter Arzt des 12. Jahrhunderts. Krankenhäuser, die zunächst in Klostern gegründet wurden und sich dann durch die Missionare ausbreiteten, tragen oft die Namen von Heiligen oder von Glaubensgemeinschaften. Als die Medizin als Wissenschaft heranreifte, gingen das Heilen und die Religion unterschiedliche Wege. Statt Gott zu bitten, dass er die Kinder von den Pocken verschonte, waren die Menschen nun in der Lage, ihre Kinder dagegen zu impfen. Statt nach einer geistigen Heilerin zu rufen, wenn man unter einem durch Bakterien hervorgerufenen Fieber litt, konnte man nun Antibiotika nehmen. Seit kurzem finden Religion und Heilen wieder zusammen: 4 101 von 135 medizinischen Fakultäten boten im Jahr 2005 Seminare über Spiritualität und Gesundheit an, 1992 waren es nur 5 (Koenig 2002; Puchalski 2005).
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
4 Seit 1995 gibt es an der Harvard Medical School Konferenzen über Spiritualität und Heilen, die jährlich von 1000 bis 2000 Angehörigen der Gesundheitsberufe besucht werden. 4 Die Duke University hat ein Center for Spirituality, Theology and Health eingerichtet. 4 Bei einer Umfrage von Yankelovich (1997) kam heraus, dass 94% der von der US-Gesundheitsversicherung HMO zugelassenen Ärzte und 99% der Hausärzte der Aussage zustimmen, dass »ein persönliches Gebet, eine Meditation oder andere spirituelle und religiöse Praktiken« eine medizinische Behandlung positiv beeinflussen können. 4 In den Buchläden werden Bücher verkauft mit Titeln wie »The Healing Power of Faith« (Simon & Schuster 1999), »Religion and Health« (Oxford University Press 2000), »Faith, Medicine, and Science« (Haworth 2005) oder in Deutschland »Psychologie und Spiritualität« (Bucher 2007). Verbirgt sich hinter all dem Rauch ein Feuer? In mehr als 1000 Studien wurde versucht, den Faktor Glauben mit Gesundheit und Heilen zu korrelieren. Beispielsweise verglichen Kark et al. (1996) die Mortalitätsraten von 3900 Israelis, die entweder in einer der 11 religiös orthodoxen Siedlungen wohnten oder in einer entsprechenden nichtreligiösen Kollektivsiedlung (Kibbuzgemeinschaft). Die Forscher berichteten, dass über einen Zeitraum von 16 Jahren hinweg »die Zugehörigkeit zu einem religiösen Kollektiv mit einem starken beschützenden Effekt einherging«, der nicht durch das Alter oder sozioökonomische Unterschiede erklärt werden konnte. In jeder Altersgruppe war es bei den Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft etwa nur halb so wahrscheinlich, dass sie gestorben waren, wie bei ihren nichtreligiösen Mitgliedern eines Kibbuz. Das ist ungefähr mit dem Geschlechtsunterschied in Bezug auf die Mortalität vergleichbar. In Reaktion auf derartige Befunde erinnern uns Sloan und seine skeptischen Kollegen (1999, 2000, 2002, 2005) daran, dass bei bloßen Korrelationen viele Faktoren unkontrolliert bleiben. Denken Sie da nur an folgende Möglichkeit: Frauen sind religiös aktiver und leben länger als Männer. Deshalb ist religiöses Engagement vielleicht nur der Ausdruck des Effekts der Geschlechtszugehörigkeit auf die Langlebigkeit. In mehreren neuen Studien jedoch fand man eine Korrelation zwischen Religiosität und Langlebigkeit nur für Männer, und sogar noch stärker nur für Frauen (McCullough et al. 2000, 2005). In einer Studie, bei der 5286 Kalifornier über 28 Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurden, fand man Folgendes heraus: Wenn man die Faktoren Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Bildung kontrollierte, hatten Personen, die häufig Gottesdienste besuchen, eine um 36% geringere Wahrscheinlichkeit, im erwähnten Zeitraum gestorben zu sein (. Abb. 16.16). Eine U.S. National Health Interview Survey (Hummer et al. 1999) begleitete 21.204 Menschen über 8 Jahre. Nachdem man die Faktoren Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und geographische Herkunft kontrolliert hatte, fanden die Forscher heraus, dass diejenigen, die nicht in die Kirche gingen, mit der 1,87-fachen Wahrscheinlichkeit gestorben waren, als diejenigen, die mehr
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. Abb. 16.16. Prädiktoren für Mortalität: Nichtrauchen, häufige sportliche Aktivität und regelmäßiger Besuch von Gottesdiensten Der Epidemiologe Strawbridge und seine Mitarbeiter (1997, 1999; Oman et al. 2002) begleiteten 5286 Erwachsene in Alameda (Kalifornien) mehr als 28 Jahre wissenschaftlich. Nachdem sie den Einfluss von Alter und Bildung kontrolliert hatten, fanden die Forscher heraus, dass sich in jedem der untersuchten Jahre aufgrund von Nichtrauchen, häufiger sportlicher Aktivität und regelmäßigem Besuch von Gottesdiensten jeweils ein geringeres Mortalitätsrisikos vorhersagen ließ. So war das Sterberisiko in einem typischen Jahr des Projekts bei Frauen, die jede Woche den Gottesdienst besuchten, um 46% geringer als bei Nichtkirchgängerinnen
719 16.2 · Gesundheitsförderung
als einmal die Woche in die Kirche gingen. Dies ließ sich auf die Lebenserwartung im Alter von 20 Jahren übertragen: 83 Jahre für eifrige und 75 Jahre für weniger eifrige Kirchgänger (. Abb. 16.17). Diese korrelativen Befunde bedeuten nicht, dass Nichtkirchgänger, die anfangen, den Gottesdienst zu besuchen und ansonsten nichts verändern, 8 Jahre länger leben werden. Aber sie sind ein Hinweis darauf, dass religiöses Engagement als Prädiktor für Gesundheit und Langlebigkeit durchaus mit den Effekten des Nichtrauchens und der sportlichen Betätigung konkurriert. Diese Befunde sollten erklärt werden. Können Sie sich vorstellen, welche intervenierenden Variablen möglicherweise eine Erklärung für die Korrelation liefern? Zunächst einmal haben religiös aktive Menschen eine gesündere Lebensweise; beispielsweise rauchen und trinken sie weniger (Lyons 2002; Strawbridge et al. 2001). Gesundheitsbewusste, vegetarische Adventisten haben eine längere Lebenserwartung als andere (Berkel u. de Waard 1983). Religiös orthodoxe Israelis essen weniger fett als ihre nichtreligiösen Landsleute. Aber, so argumentierten die israelischen Forscher, diese Unterschiede sind nicht groß genug, um die dramatisch verringerte Mortalität in den religiösen Kibbuzim zu erklären. Auch bei kürzlich durchgeführten amerikanischen Studien bleibt ein Unterschied in der Lebenserwartung von etwa 75% erhalten, nachdem man die ungesunden Verhaltensweisen wie Inaktivität und Rauchen kontrolliert hatte (Musick et al. 1999). Soziale Unterstützung ist eine weitere Variable, die dazu beiträgt, den Faktor Glauben zu erklären (George et al. 2002). Im Judentum, im Christentum und im Islam ist Spiritualität nicht etwas, was man in Einsamkeit erlebt, sondern eine gemeinschaftliche Erfahrung, die hilft, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Die mehr als 350.000 religiösen Gemeinden in Nordamerika und die Millionen weiterer anderswo bieten für die aktiven Teilnehmer Unterstützung in Gemeinschaft – Menschen, die da sind, wenn das Schicksal es nicht gut mit einem meint. Außerdem fördert Religion einen weiteren Prädiktor für Gesundheit und Langlebigkeit: die Ehe. In den religiösen Kibbuzim z. B. kam Scheidung praktisch nicht vor. Aber selbst nachdem man die Faktoren Geschlecht, ungesunde Verhaltensweisen, soziale Bindungen und vorher bestehende Gesundheitsprobleme kontrolliert hatte, fand man in den Mortalitätsstudien heraus, dass die Verringerung der Mortalität bestehen blieb (George et al. 2000; Powell et al. 2003). Daher spekulieren die Forscher, dass ein dritter Satz intervenierender Variablen aus Folgendem bestehen könnte: Schutz vor Stress und verbessertes Wohlbefinden zusammen mit einer in sich konsistenten Weltanschauung, ein Gefühl der Hoffnung für die langfristige Zukunft, Gefühle der wirklichen Akzeptanz und die entspannte Meditation des Gebets bzw. die Beachtung des Sabbats (. Abb. 16.18). Diese Variablen könnten auch dazu beitragen, andere neue Befunde bei religiös aktiven Menschen zu erklären, wie etwa das gesündere Immunsystem und weniger Krankenhauseinweisungen sowie bei Aids-Patienten weniger Stresshormone und längeres Überleben (Ironson et al. 2002; Koenig u. Larson 1998; Lutgendorf et al. 2004).
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. Abb. 16.17. Besuch von Gottesdiensten und Lebenserwartung Nach einer landesweiten Umfrage zur Gesundheit, die von den amerikanischen Gesundheitsämtern finanziert wurde, hatten religiös aktive Menschen eine längere Lebenserwartung. (Aus Hummer et al. 1999)
. Abb. 16.18. Mögliche Erklärungen für die Korrelation zwischen religiösem Engagement und Gesundheit bzw. höherer Lebenserwartung
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Obwohl die Korrelation zwischen Religion und Gesundheit noch nicht vollständig erklärt ist, glaubt Pincus (1997), stellvertretender medizinischer Direktor der American Psychiatric Association, dass diese Befunde »deutlich gemacht haben, dass keiner, der Dienstleistungen im Gesundheitssystem anbietet, die wichtigen Zusammenhänge zwischen Spiritualität, Religion und Gesundheit ignorieren kann«. ! Anhaltende emotionale Reaktionen können beeinträchtigend wirken. Wir können jedoch mit Stressoren durch Problemlösung oder durch emotionales Coping fertig werden; und wir können mit Stress so umgehen, dass wir uns selbst emotional und körperlich stärker machen (. Abb. 16.19).
16.2.3
Änderung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen
C. Styrsky
Die Forschung ist davon überzeugt, dass Programme zur Gesundheitsförderung deutlich weniger kosten, als viele Länder derzeit für die Behandlung von Krankheiten ausgeben (.Tab. 16.1) (U.S. Bureau of the Census 2004). Dazu kommt, dass von den Patienten, die ihren Hausarzt bei so typischen Beschwerden wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Brust- oder Unterleibschmerzen, Schwindel, Verstopfung und Schlaflosigkeit aufsuchen, weniger als 20% ein eindeutiges organisches Problem haben (Kroenke u. Mangelsdorff 1989). Forscher im Be»Natürlich könnte ich meinen inneren Schweinehund jederzeit reich Medizin nehmen an, dass bei vieüberwinden – aber ich bin eben ein Tierfreund!« len dieser Probleme psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen. Es steht außer Frage, dass sich selbst mit Hilfe geringfügig erfolgreicher Gesundheitsförderungsprogramme mehr Geld sparen ließe, als die Kosten, die durch sie entstünden. Worauf beruht der Erfolg eines Gesundheitsförderungsprogramms? Schauen wir uns die Bereiche Rauchen, Alkohol, Ernährung und Gewichtskontrolle genauer an. . Abb. 16.19. Stressbewältigung Lebensereignisse können zu einer Schwächung führen oder auch nicht. Es kommt ganz darauf an, wie wir sie bewerten und ob der Stress durch eine stressresistente Veranlagung, gesundheitsbewusste Gewohnheiten, eine dauerhafte soziale Unterstützung und ein spirituelles Engagement abgefedert wird
. Tabelle 16.1. Kosten für das Gesundheitssystem und Lebenswartung (nach U.S. Bureau of Census 2004; Statistisches Bundesamt 2008) Die Hälfte der Kosten des Gesundheitssystems fällt in den letzten Lebensjahren an. Die Langlebigkeit ist ein guter Indikator für die Gesundheit einer Nation
Kosten für die Gesundheit in Prozent des Bruttosozialprodukts
Lebenswartung (in Jahren) für die 2003 Geborenen
14%
77,1
Großbritannien
8%
78,2
Kanada
9%
79,8
Australien
9%
80,1
11%
79,0
USA
16
Deutschland
721 16.2 · Gesundheitsförderung
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Die Risiken beim Rauchen Ziel 18: Erklären Sie, warum Menschen rauchen.
Stellen Sie sich vor, Zigaretten wären völlig ungefährlich – bis auf eine von 25.000 Schachteln, in der eine harmlos aussehende Zigarette nicht mit Tabak, sondern mit Dynamit gefüllt ist. Ihr Risiko, in die Luft zu gehen, wäre also nicht besonders hoch. Aber bei über 250 Mio. Schachteln Zigaretten, die täglich weltweit geraucht werden, könnten wir mit über 10.000 grauenvollen Todesfällen täglich rechnen; das sollte ausreichen, Zigaretten überall verbieten zu lassen (modifiziert nach Saunders, zit. nach Cole 1998). Die vielen Leben, die durch diese mit Dynamit gefüllten Zigaretten verloren gingen, entsprechen annähernd der aktuellen Zahl an Toten durch Zigaretten. Jedes Jahr tötet Tabak weltweit fast 5 Mio. der insgesamt 1,3 Mrd. Raucher, berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2005). Und das Schlimmste steht uns noch bevor. Ausgehend von den gegenwärtigen Trends wird die Mortalitätsrate laut WHO bald auf 10 Mio. jährlich ansteigen, das bedeutet, dass eine halbe Milliarde Menschen, die heute noch leben, durch Tabak sterben werden (Lopez 1999). Wer als Jugendlicher mit dem Rauchen angefangen hat und bis zum Tod raucht, stirbt mit 50%iger Wahrscheinlichkeit an dieser Gewohnheit, und der Tod ist oft qualvoll (z. B. bei Lungenkrebs) und verfrüht. In Reaktion auf Beschwerden der Tschechischen Republik betreffend die Kosten der Gesundheitsversorgung aufgrund von Tabakkonsum versicherte die Zigarettenfirma Philip Morris den Tschechen, dass es unter dem Strich eigentlich »wegen der frühen Sterblichkeit zu Kostenersparnissen im Gesundheitssystem« komme und dass sich daraus Ersparnisse bei den Renten und dem Wohngeld für ältere Menschen ergäben (Herbert 2001). Rauchen Sie eine Zigarette, und die Natur wird Ihnen dafür 12 Minuten berechnen – es ist eine Ironie des Schicksals, dass es sich hier etwa um die Zeitspanne handelt, die Sie für das Rauchen einer Zigarette brauchen (»Discover« 1996). Wenn man das Rauchen abschaffte, würde das die Lebenserwartung stärker ansteigen lassen als jede andere Präventivmaßnahme (. Abb. 16.20). Jährlich sterben über eine halbe Mio. Menschen in der Europäischen Union an den Folgen des Rauchens, die Hälfte davon ist zwischen 35 und 69 Jahren alt (Eurostat 2002b). Die Risiken des Rauchens sind bekannt. Tatsächlich berichtet die WHO (2005), Befunde zeigten, »dass das Rauchen nahezu jedes Organ im Körper schädigt«. Die Warnung »Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit« steht nicht nur in den USA auf jeder einzelnen Packung, die verkauft wird, und 97% der Amerikaner glauben, dass Rauchen schädlich ist (Blizzard 2004). In Kanada stimmen 97% der Erwachsenen und Teenager der Aussage zu, dass es einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs gibt, und nahezu genauso viele bringen Rauchen mit Erkrankungen der Atmungsorgane und des Herzens in Verbindung (Statistics Canada 1999). Und EUweit wird zusätzlich seit 2003 auf jeder Zigarettenschachtel plakativ und konkret mit Hinweisen wie »Rauchen verursacht tödlichen Lungenkrebs« oder »Rauchen fügt den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu« vor den Gefahren des Rauchens gewarnt.
»In Medizin und Wissenschaft herrscht einhellig die Meinung, dass das Rauchen von Zigaretten bei Rauchern zu Lungenkrebs, Herzkrankheiten, Lungenemphysemen und anderen schweren Krankheiten führt. Raucher haben ein wesentlich höheres Risiko, Lungenkrebs zu bekommen, als Nichtraucher.« Philip Morris Companies Inc. (1999)
. Abb. 16.20. Vorzeitige Todesfälle pro 100.000 Kanadier, die ab dem 15. Lebensjahr rauchten Frühe Todesfälle als Folge des Rauchens werden jugendliche kanadische Raucher 9-mal häufiger treffen als Selbstmord, Autounfälle, Aids und Mord zusammen. (Statistics Canada 1999)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Trotzdem lassen sich viele Teenager nicht von den Statistiken zu den Risiken beim Rauchen überzeugen (was an den Spruch von Joseph Stalin erinnert: »Ein einzelner Toter ist eine Tragödie; eine Million Tote sind eine statistische Größe.«). Wenn man Raucher bittet, Sie sollten sich einen 16-jährigen Raucher vorstellen, stimmen 4 von 10 der folgenden Aussage zu: »Obwohl das Rauchen am Ende die Gesundheit dieser Person schädigen wird, wird die einzelne Zigarette, die sie als nächstes raucht, wahrscheinlich keinen Schaden hervorrufen« (Slovic 2000). (Die nächste und die nächste und die nächste haben wahrscheinlich auch keine Bedeutung; aber die 300.000 Zigaretten, die sie vor dem 60. Geburtstag rauchen wird, wenn sie täglich eine Packung raucht, sind natürlich von Bedeutung.) Zudem korreliert Rauchen mit höheren Depressionsraten, chronischen Behinderungen und Scheidung (Doherty u. Doherty 1998; Vita et al. 1998). Nichtraucher leben also nicht nur gesünder, sie leben auch glücklicher. Beispielsweise haben nicht depressive Jugendliche, die rauchen, ein vierfaches Risiko, eine Depression zu entwickeln (Goldman et al. 2000). Gesund zu leben, bedeutet nicht nur, dass man länger lebt, sondern auch dass man in diesen Jahren mehr vom Leben hat.
© Jason Love
Wann und warum fangen Menschen mit dem Rauchen an?
Eine Frage zu Korrelation und Kausalität: Zeigt sich in dem engen Zusammenhang zwischen rauchenden Jugendlichen und ihren rauchenden Freunden ein Einfluss der Peergroup? Oder suchen sich die Jugendlichen Freunde aus, die ihnen ähnlich sind? Oder ist beides richtig?
Rauchen ist eine »Kinderkrankheit«. Es beginnt normalerweise in der frühen Adoleszenz – in Deutschland im Durchschnitt mit 13,7 Jahren (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001) – und ist besonders verbreitet bei all denen, die schlechte Noten haben oder von der Schule abgehen, sich weniger kompetent fühlen und das Gefühl haben, ihre Zukunft nicht beeinflussen zu können. Rauchen kann in diesem Zusammenhang als eine kurzfristige Stressfolge angesehen werden (7 Abschn. 16.1.1). Allerdings haben die meisten jugendlichen Raucher auch Freunde, Eltern und Verwandte, die gleichfalls rauchen (Chassin et al. 1987; Schulenberg et al. 1994). Wir lernen Verhaltensweisen, indem wir Vorbilder nachahmen, und wegen der sozialen Belohnungen, die wir erhalten. Das erklärt auch, warum Heranwachsende so anfällig für die Reize des Rauchens sind. Heranwachsende sind sich ihrer selbst sehr bewusst und glauben oft, die Welt würde jede Einzelne ihrer Regungen beobachten. Deshalb fangen sie vielleicht mit dem Rauchen an, um cool zu sein, anerkannt zu werden und reifer zu wirken (Covington u. Omelich 1988). Typischerweise haben Jugendliche, die mit dem Rauchen beginnen, auch Freunde, die bereits rauchen, ihnen suggerieren, dass Rauchen toll sei, und ihnen Zigaretten anbieten (Eiser 1985; Evans et al. 1988; Rose et al. 1999). ! Unter den Jugendlichen, deren Eltern und beste Freunde Nichtraucher sind, liegt die Raucherquote fast bei Null (Moss et al. 1992; . Abb. 16.21).
Nachdem bekannt wurde, wie giftig das Rauchen ist, wurde es im Film von den 70ern bis zu den 80ern nur noch etwa einmal alle 12 Minuten gezeigt, in den 90ern wieder häufiger, nämlich einmal
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. Abb. 16.21. Einfluss der Gleichaltrigen Kinder rauchen nicht, wenn es ihre Freunde nicht tun. (Philip Morris 2003)
723 16.2 · Gesundheitsförderung
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Cinetext Bildarchiv
alle 4 Minuten (Brody 2001). Dies ist bedeutsam, da neben den Eltern und der Peergroup auch Schauspieler wie Julia Roberts, Gwyneth Paltrow, Jim Carrey, Brad Pitt und andere in den Medien präsente Personen als Modelle dienen können, die Jugendliche zum Rauchen verleiten (7 Kap. 8). Es gilt: Je mehr Teenager in Filmen sehen, dass dort geraucht wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie mit Tabakprodukten experimentieren werden (Dalton et al. 2002). Joe Eszterhas (2002), Drehbuchautor von 14 kürzlich gezeigten Filmen, die oft das Rauchen verherrlichten, und Kehlkopfkrebspatient, nachdem er sein Leben lang geraucht hatte, sagte: »Es fällt mir schwer, mir selbst zu vergeben. Ich war Komplize beim Mord an unzähligen Menschen ... Ich wünsche niemandem in Hollywood mein Schicksal, aber ich flehe Hollywood an, damit aufzuhören, dass es Millionen anderen auferlegt wird.«
Warum hören Menschen nicht mit dem Rauchen auf? Wer erst einmal nikotinabhängig ist, für den ist es sehr schwer aufzuhören. Tabakprodukte machen ebenso süchtig wie Heroin und Kokain. Umfragen in Großbritannien und den USA belegen, dass mindestens 1 von 3 Menschen, die Zigaretten ausprobieren, süchtig werden: Das ist eine höhere Abhängigkeitsquote als bei Heroin und Kokain (Anthony et al. 1994; Heishman et al. 1997). Wie bei jeder Sucht wird auch ein Raucher abhängig – und jedes Jahr schafft nur 1 von 7 Rauchern, die aufhören wollen, den Ausstieg. Auch entwickelt ein Raucher eine Toleranz und benötigt schließlich immer höhere Dosen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Es ist eine traurige Geschichte, dass diejenigen, die anfänglich am empfindlichsten auf Nikotin reagieren – und denen bei der ersten Zigarette am ehesten schlecht wird und die sich schwindlig fühlen –, dazu neigen, schnell eine Toleranz und die stärkste Sucht zu entwickeln (Pomerleau et al. 1993). Aufhören führt zu Entzugserscheinungen: starkes Verlangen, Schlaflosigkeit, Angst und Gereiztheit. Und man braucht nur eine einzige Zigarette – einen transportablen Nikotinautomaten –, um sich von diesen unangenehmen Zuständen zu befreien.
Jugendliche und Nikotin Da Tabakkonzerne wissen, dass praktisch alle Raucher als Jugendliche mit dem Rauchen beginnen (und dass die Verkaufszahlen stark zurückgehen würden, wenn die Jugendlichen nicht zum Rauchen verleitet würden), sind Jugendliche für sie eine wichtige Zielgruppe. Sie porträtieren starke, ansprechende und gesellschaftlich anerkannte Raucher und verlocken damit Jugendliche, diese zu imitieren. Durch berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Gwyneth Paltrow, Julia Roberts, Brad Pitt, Jim Carrey und Til Schweiger (hier im Bild), die alle cool und rebellisch aussehen, während sie ihre Zigarette oder Zigarre rauchen, wurden die Jugendlichen Mitte der 90er Jahre angesprochen. So wurden immer mehr Jugendliche abhängig
! Wie alle Sucht erzeugenden Drogen wirkt Nikotin stimmungsverändernd und wird zum inneren Zwang, der sich mit jeder Zigarette selbst verstärkt.
Rauchen wirkt mit seinem Nikotinstoß innerhalb von 7 Sekunden und löst dadurch eine Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung aus. So verringert sich der Appetit, während Aufmerksamkeit und geistige Leistungsfähigkeit zunehmen (. Abb. 16.22). Gleichzeitig stimuliert Nikotin auch das zentrale Nervensystem, das dann Neurotransmitter ausschüttet, die Angst abbauen und das Schmerzempfinden verringern. Beispielsweise stimuliert Nikotin die Dopaminausschüttung und bewirkt wie Heroin und Morphium die Freisetzung eines Opioids (Nowak 1994; Scott et al. 2004). Diese Belohnungen lassen die Menschen weiter rauchen, auch wenn sie gerne aufhören würden (wie dies bei 4 von 5 Rauchern der Fall ist) – auch wenn sie wissen, dass sie Selbstmord auf Raten begehen (Saad 2002). Selbst wenn man Rauchern Zigaretten mit einem geringen Nikotingehalt gibt, werden sie am Ende mehr Zigaretten rauchen, um einen ungefähr konstanten Nikotinspiegel im Blut aufrechtzuerhalten. Der biopsychosoziale Ansatz zeigt, dass Gene die Neigung zur Nikotinabhängigkeit beeinflussen (. Abb. 16.23). Eine Metaanalyse von Zwillingsstudien deutet auf eine 60%ige Erblichkeit hin (Heath u. Madden 1995). Zwei neuere Studien zeigten weiterhin, dass sich Raucher und Nichtraucher tendenziell in einem Gen unterscheiden, das die Reaktionen auf den Neurotransmitter Dopamin beeinflusst (Lerman et al. 1999; Sabol et al. 1999).
»Eine Zigarette in der Hand eines HollywoodStars auf der Leinwand ist eine Pistole, die auf die 12- oder 14-Jährigen gerichtet ist.« Drehbuchautor Joe Eszterhas (2002)
Auf die Frage: »Wenn Sie noch einmal ganz von vorn anfangen könnten, würden Sie dann anfangen zu rauchen?« antworteten über 85% der erwachsenen Raucher: »Nein.« (Slovic et al. 2002)
Wie hilft man Rauchern aufzuhören? Ziel 19: Erörtern Sie Methoden, wie man Rauchern helfen kann, mit dem Rauchen aufzuhören, oder verhindert, dass junge Leute überhaupt mit dem Rauchen anfangen.
Zu den Methoden, mit deren Hilfe die Menschen aufhören sollen zu rauchen, gehören öffentliche Warnungen über die gesundheitsschädliche Wirkung des Rauchens, Beratung, medikamentöse
»Mit dem Rauchen aufzuhören ist die leichteste Sache, die ich je vollbracht habe; ich sollte es wissen, denn ich habe es schon 1000-mal gemacht.« Mark Twain (1835–1910)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.22. Wo Rauch ist …: Die physiologischen Effekte von Nikotin Nikotin erreicht das Gehirn innerhalb von 7 Sekunden, ist also doppelt so schnell wie intravenöses Heroin. Innerhalb von Minuten dringt die inhalierte Nikotinmenge in den gesamten Blutkreislauf
. Abb. 16.23. Der biopsychosoziale Ansatz zur Erforschung des Rauchverhaltens
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725 16.2 · Gesundheitsförderung
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. Abb. 16.24. Trends beim Rauchen Gallup-Umfragen zeigen, wie stark der Anteil der Raucher in der Bevölkerung Kanadas, der USA und Großbritanniens seit 1974 abgenommen hat
Behandlungen, Hypnose, aversive Konditionierung (d. h. es werden dadurch, dass Menschen eine Zigarette nach der anderen rauchen müssen, Ekel und aversive Gefühle vor dem Rauchen erzeugt), operante Konditionierung, Verhaltenstherapie und Selbsthilfegruppen. Die gute Nachricht ist, dass diese Methoden oft innerhalb kurzer Zeit wirken. Aber die schlechte Nachricht ist, dass nur ein Fünftel der Teilnehmer letztendlich nicht rückfällig wird (Schelling 1992). Unter denen, die ohne Hilfe aufhören, ist die Quote noch niedriger. Wenn eine Packung Zigaretten nur selten mehr als einige Minuten entfernt ist, kann ein einzelner Augenblick der Schwäche (oft ein Stresserlebnis oder eine negative Stimmung) ausreichen, um den Entschluss rückgängig zu machen (Kassel et al. 2003). Bessere Neuigkeiten stammen aus einem Bericht der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC: Die Hälfte aller Amerikaner, die je geraucht haben, hat endgültig aufgehört. Über 90% schafften dies allein, häufig nach mehreren Anläufen. Bei denjenigen, die durchhalten, lassen das akute Verlangen und die Entzugssymptome allmählich in den folgenden 6 Monaten nach (Ward et al. 1997). Da so viele Menschen mit dem Rauchen aufgehört oder gar nicht erst damit angefangen haben, ist die Rate amerikanischer, kanadischer und britischer Raucher in den letzten 30 Jahren stark gesunken (. Abb. 16.24). Nach aktuellen Umfragen rauchen in Deutschland 27,4% der Gesamtbevölkerung im Alter ab 15 Jahren (22,1% der Frauen; 33,2% der Männer), insgesamt sind dies etwa 20 Mio. Menschen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001). Seit 1997 verharrt die Anzahl der Raucher auf diesem Niveau. Diese Zahlen weisen darauf hin, wie notwendig sowohl Präventionsmaßnahmen als auch Programme gegen das Rauchen sind. 2004 waren 6 von 10 Befragten in den USA, 7 von 10 in Großbritannien und nahezu 8 von 10 in Kanada für ein Verbot des Rauchens am Arbeitsplatz und in Restaurants (Mason 2004). Und 2005 verkündete die Weltgesundheitsorganisation, dass sich 57 Länder (einschließlich Australien, Großbritannien und Kanada, aber nicht die USA) an eine globale Verpflichtungserklärung gebunden fühlten, die deutliche Warnungen vor Tabak und ein Verbot der Werbung für Tabak, der Förderung von Tabak und der Tabakindustrie als Sponsoren vorsieht. Unter Schulabbrechern und unter Menschen mit geringem sozioökonomischen Status bleibt der Anteil der Raucher weiterhin hoch. Es sind eigentlich die Studierenden, unter denen Rauchen nicht als cool, sondern als unhöflich gilt. In den USA, Kanada und Großbritannien ist Rauchen bei gebildeten Menschen und in der oberen sozioökonomischen Schicht ein seltenes Phänomen geworden, und es ist unter den am wenigsten Gebildeten zwei- oder dreimal so verbreitet (Halsey u. Webb 2000; Statistics Canada 1999). Die Abnahme war am deutlichsten bei den Männern, die in der Zwischenzeit kaum mehr rauchen als Frauen. Teilweise aufgrund dieses Trends hat die Mortalitätsrate wegen Koronarerkrankungen seit Mitte der 1960er Jahre um etwa 30% abgenommen. Auch die Anzahl derer, die aufgrund des Rauchens an Krebs gestorben sind, ist, vor allem bei Männern, zurückgegangen (Wingo et al. 1999). Wenn Sie oder jemand, den Sie gerne haben, mit dem Rauchen aufhören möchte, schauen Sie sich den Kasten 7 Unter der Lupe: »Für alle, die mit dem Rauchen aufhören möchten« an.
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Unter der Lupe
Für alle, die mit dem Rauchen aufhören möchten Möchten Sie oder jemand, der Ihnen nahe steht, das Rauchen aufgeben? 5. Benutzen Sie Nikotinpflaster oder Nikotinkaugummi. Die meisten Raucher wollen aufhören, und fast die Hälfte versucht es je- 6. Seien Sie total abstinent: kein einziger Zug! des Jahr, doch weniger als 1 von 7 schaffen es auf Dauer, sagt ein von der 7. Trinken Sie keinen oder nur wenig Alkohol, denn Alkoholgenuss kann US Agency for Health Care Policy and Research eingesetztes Expertenzu einem Rückfall führen. gremium. In den von diesem Gremium entwickelten Richtlinien zur Auf- 8. Wenn Sie mit anderen Rauchern zusammen leben oder arbeiten, dann gabe des Rauchens finden sich einige hilfreiche Hinweise (Wetter et al. hören Sie gemeinsam auf. 1998). 9. Vermeiden Sie Orte, an denen andere wahrscheinlich rauchen. 1. Legen Sie einen Termin fest, an dem Sie aufhören möchten. 10. Treiben Sie Sport. Neuere Studien belegen eine höhere Erfolgsquote 2. Informieren Sie Ihre Familie und Ihre Freunde. bei den Aufhörwilligen, die regelmäßig Sport trieben (Bock et al. 1999). 3. Entfernen Sie alle Zigaretten. 4. Erinnern Sie sich an alles, was Sie aus früheren Raucherentwöhnungsversuchen gelernt haben und stellen Sie sich darauf ein, besonderen Anforderungen ausgesetzt zu sein.
Mitte der 1990er Jahre nahm in den USA unter Teenagern das Rauchen wieder zu, bevor es erneut zurückging (. Abb. 16.25). Etwas Ähnliches geschah in den 1990ern bei den Teenagern in Kanada (Brooke 2000). Und trotz der abnehmenden Verkaufszahlen für Zigaretten unter gebildeten Menschen in westlichen Ländern und neuen Beschränkungen für die Zigarettenwerbung hat der ProKopf-Verbrauch an Zigaretten weltweit nahezu einen Höchststand erreicht. Rauchen hat in Asien sprunghaft zugenommen. In China rauchen die meisten Männer, aber nur 10% der Frauen; ein Drittel der Männer wird wegen des Rauchens sterben. Und dort hat der Zigarettenverbrauch von 100 Mrd. Zigaretten pro Jahr in den frühen 1950er Jahren auf 1,8 Bio. gegen Ende des Jahrhundert zugenommen (Cheng 1999; Schwartz u. Pomfret 1998). In Japan sind 35% der Menschen (50% der Männer) Raucher (Coleman 1997). Länder wie Kenia und Simbabwe sind wegen ihres relativ geringen Pro-Kopf-Verbrauchs vorrangige Ziele für britische und amerikanische Tabakfirmen, die Hunderte von Millionen ahnungsloser Menschen dem Risiko einer schlechten Gesundheit und eines vorzeitigen Todes aussetzen. Die Weltgesundheitsorganisation sagt vorher, dass sich in den nächsten 3 Jahrzehnten 70% der Todesfälle aufgrund von Tabakkonsum in den Entwicklungsländern ereignen werden, wo sich viele Menschen der Gefahren des Rauchens nicht bewusst sind (Lopez 1999; Schwartz u. Pomfret 1999). . Abb. 16.25. Das Auf und Ab des Rauchens unter amerikanischen Jugendlichen Bei Erwachsenen hat das Rauchen in den letzten 25 Jahren stark abgenommen, vor allem in gebildeten Schichten. Aber das Rauchen erlebte bei amerikanischen Jugendlichen in der 1990er Jahren zeitweilig ein Comeback, als Hollywood Raucher als Vorbilder hinstellte. (Aus Johnston et al. 2005)
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Welche Maßnahmen können wir gegen das Rauchen treffen? Es ist wesentlich leichter, nie mit dem Rauchen anzufangen als damit aufzuhören, wenn man bereits süchtig ist. Sozialpsychologische Analysen trugen dazu bei, dass diese Inhalte in den USA in die Lehrpläne aufgenommen wurden, weil die Lehrkräfte die Programme problemlos und kostengünstig durchführen können. In Übereinstimmung mit dem amerikanischen National Cancer Institute sind die Hauptbestandteile solcher Programme 4 Information über die Folgen des Rauchens; 4 Information über den Einfluss von Gleichaltrigen, Eltern und Medien; 4 Verhaltenstraining (z. B. Ablehnen einer angebotenen Zigarette) durch Rollenspiele und Einstellungsänderung durch Suche nach Vorbildern. Diese Informationen können auch durch die Massenmedien vermittelt werden, die in Australien wirksam dafür genutzt wurden, über die Bildungsgrenzen hinweg Menschen vom Rauchen abzuhalten (Macaskill et al. 1992). Jugendorientierte Medienkampagnen haben sich 1998 in Florida als erfolgreich erwiesen, um die Unsitte des Rauchens einzugrenzen; Anfang 1999 war die Anzahl der 12- bis 14-Jährigen, die angaben zu rauchen, um 19% geringer als im Vorjahr (MMWR 1999). Es gibt aber auch noch eine andere Methode, um Menschen vom Rauchen abzuhalten: Man muss den Konsum nur unmittelbar teurer machen. Erinnern Sie sich daran, dass die wirksamsten Belohnungen und Bestrafungen die unmittelbaren sind (7 Kap. 8). Wenn die zeitverzögerten Belohnungen für das Sporttreiben mit seinen unmittelbaren anstrengenden Aspekten konkurrieren, dann dominieren in der Wahrnehmung die unmittelbaren Konsequenzen. Entsprechend demselben Mechanismus rauchen viele weiter, obwohl sie wissen, dass Rauchen auf lange Sicht Selbstmord ist. Wenn wir nur die unmittelbaren Kosten heraufsetzen könnten, würde der Verbrauch ganz sicher abnehmen. Das U.S. Center for Disease Control (Brown et al. 1993) berichtet, dass eine 10-prozentige Anhebung der Steuern auf Zigaretten (und damit der Preise) den Verbrauch jeweils um 4% senken würde. Der Effekt ist unter Rauchern in Entwicklungsländern und unter Teenagern etwa doppelt so groß – und im Teenageralter beginnen ja etwa 90% der Raucher zu rauchen (de Beyer 2005). Viele amerikanische Bundesstaaten haben die Tabaksteuer drastisch erhöht (das führte zwischen 1997 und 2001 zu einem um 70% höheren Preis für eine Zigarette), und tatsächlich begann das Rauchen unter Teenagern abzunehmen, vor allem in Staaten, in denen es auch rigorose Programme zur Verhinderung des Rauchens gab (Manning 2002; Robison u. Mason 2002). Und auch in Deutschland werden immer wieder Kampagnen wie z. B. »Rauchfrei 2002« oder »Rauchen schadet« gestartet. Neben diesen gesellschaftlichen und psychologischen Maßnahmen müssen zur wirksamen Prävention des Rauchens aber auch politische Maßnahmen (z. B. eine entsprechende Preispolitik) greifen.
Ähnlich wie Nikotin stellt auch der Alkohol als legale Droge, deren Konsum gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist, ein Gesundheitsrisiko dar, das erhebliche Kosten im Gesundheitssystem verursacht. Nach getaner Arbeit ein Bierchen trinken, beim Empfang zum Auflockern ein Glas Sekt, in der Clique die neuesten Drinks ausprobieren oder einmal über die Stränge schlagen, und mehr trinken als man verträgt – das alles kennen wahrscheinlich die meisten von uns. Die Möglichkeiten und Versuchungen, Alkohol zu konsumieren, sind in unserer Gesellschaft vielfältig. Wir tragen damit alle dazu bei, dass Deutschland zu den 8 Ländern in der Welt gehört, in denen mehr als 10 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr getrunken wird. Dies berichtet die Hauptstelle für Suchtfragen in ihrem Jahrbuch (2002). Insgesamt trank im Jahr 2002 jeder Deutsche durchschnittlich 151,6 Liter alkoholische Getränke. Dabei sind die Männer wesentlich konsumfreudiger als die Frauen: In der gesamten Europäischen Union konsumieren doppelt so viele Männer wie Frauen regelmäßig Alkohol (Eurostat 2002b). So sehr die Gesamtmenge in den einzelnen Mitgliedsstaaten auch variiert, dieses Geschlechterverhältnis ist annähernd konstant. Die negativen Folgen des Alkoholkonsums sind in allen Lebensbereichen sichtbar: Da sind die alkoholbedingten Unfälle im Straßenverkehr, Gewalttätigkeit, Vergiftungen, soziale Probleme, die Gefahr der Abhängigkeit, schwere chronische Erkrankungen und – leider konstant hoch – alkoholbedingte Todesfälle. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit (2000) sterben
S. Wahl
Alkohol
Die abendliche Flasche Bier Viele Menschen neigen dazu, das Ausmaß ihres Alkoholkonsums zu unterschätzen
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
»Alkohol ist dein Sanitäter in der Not, Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot, Alkohol ist das Drahtseil, auf dem du stehst, Alkohol ist das Schiff, mit dem du untergehst.« »Alkohol« von Herbert Grönemeyer (1984)
jährlich ca. 42.000 Personen, deren Tod direkt (z. B. durch Alkoholmissbrauch) oder indirekt (z. B. durch einen alkoholisierten Unfallverursacher) in Verbindung mit Alkohol steht. Ein besonderes Problem ist die Verbindung Jugendliche und Alkohol: Die Statistiken zur Gesundheit der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat 2002b) berichten, dass Jugendliche heute wie seit jeher zu Beginn des Teenageralters zum ersten Mal Alkohol probieren. Doch alarmierend ist die Erkenntnis, dass Jugendliche früher als in der Vergangenheit beginnen, regelmäßig zu trinken. Aktuell in diesem Zusammenhang ist die Gefährdung, die von den so harmlos wirkenden Mixgetränken oder »Alkopops« ausgeht. Durch diese Getränke wird die Gefahr erhöht, dass bereits junge Menschen zum Alkohol verführt werden (7 Abschn. 7.4.1).
Alkoholabhängigkeit bzw. Alkoholmissbrauch
Alkoholabhängigkeit (alcoholism): gewohnheitsmäßiger Konsum von Alkohol, der zu körperlichen und psychischen Schädigungen führt; starker, übermächtiger Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren, der meist dann bewusst wird, wenn versucht wird, den Alkoholkonsum zu kontrollieren oder zu beenden.
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Die Alkoholabhängigkeit oder der Alkoholismus ist eine Krankheit, die durch den gewohnheitsmäßigen Konsum von Alkohol zu körperlichen und psychischen Schädigungen führt. Es besteht ein starker und zeitweilig übermächtiger Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren, der meist dann bewusst wird, wenn man versucht, den Alkoholkonsum zu kontrollieren oder zu beenden (Feuerlein 1979, 1995). Die Alkoholabhängigkeit beansprucht heute den Großteil der Therapieressourcen in Deutschland: Alkoholabhängige nahmen 1999 drei Viertel aller stationären Entwöhnungstherapien und fast 90% aller ambulant erbrachten Leistungen in Anspruch. Zum Vergleich: Die Konsumenten illegaler Drogen benötigten 19% aller stationären und 9% aller ambulanten Therapien (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003). Nach Wittchen und Jacobi (2001) sind in Deutschland 3,7% der Bevölkerung alkoholabhängig. Dabei liegt die Dunkelziffer sicherlich höher, denn viele betroffene Menschen suchen lange Zeit keine Hilfe. Es gehört zum Bild der Alkoholabhängigkeit, dass die Abhängigen meistens versuchen, das Problem zu vertuschen, zu bagatellisieren und zu verheimlichen. Daher ist es schwierig für Freunde und Familienangehörige, wirklich wahrzunehmen, wie viel jemand trinkt. Dabei ist die Menge des konsumierten Alkohols nicht allein entscheidend für die Einschätzung, ob jemand abhängig ist oder nicht. Die Kriterien für eine Abhängigkeit sind im Wesentlichen für alle Drogen, ob illegale wie Kokain oder Cannabis oder legale wie Nikotin und Alkohol gleich. Ausschlaggebend für eine Abhängigkeit ist gemäß DSM-IV das Vorhandensein von mindestens 3 der folgenden Kriterien: 4 Entwicklung von Toleranz (die nachlassende Wirkung von Drogen bei regelmäßiger Einnahme derselben Dosis; 7 Abschn. 7.4.1). 4 Auftreten von Entzugssymptomen, die Substanzeinnahme erfolgt zur Bekämpfung von Entzugssymptomen. 4 Der Konsum erfolgt häufig in größeren Mengen als beabsichtigt. 4 Es besteht der Wunsch nach oder es gibt erfolglose Versuche zur Abstinenz oder Kontrolle der Substanz. 4 Es wird ein hoher Zeitaufwand für die Beschaffung der Substanz in Kauf genommen. 4 Andere Aktivitäten werden aufgrund des Substanzkonsums eingeschränkt. 4 Der Konsum wird fortgesetzt, obwohl die Folgeprobleme bekannt sind. Der Alkoholmissbrauch beginnt gemäß DSM-IV (in der ICD-10 als »schädlicher Gebrauch« bezeichnet) natürlich bereits früher. Auch hierbei wird Alkohol in Bezug auf die jeweilige soziokulturelle Norm im Übermaß getrunken. Der Alkoholkonsum wird trotz des Wissens um Folgeschäden fortgesetzt und der Konsum erfolgt wiederholt in Situationen, in denen der erhöhte Konsum zu einer körperlichen Gefährdung führen kann (z. B. Straßenverkehr). Die Übergänge vom schädlichen Gebrauch bzw. Missbrauch bis zur Abhängigkeit sind fließend. Für alkohol- (oder auch drogenabhängige) Patienten ist eine Entzugsbehandlung unter medizinischer Aufsicht notwendig. Sie hilft, Beschwerden wie Angst, Übelkeit, Nervosität, Schlaflosigkeit, Durchfall und Schmerzen zu überwinden, die auftreten können, wenn die Patienten versuchen, ohne den Suchtstoff auszukommen. Bei der Alkoholabhängigkeit kann es sogar zu einer lebensbedrohlichen Reaktion des Körpers kommen, dem Delirium tremens. Darum wird der Entzug dieser Patienten bevorzugt stationär in spezialisierten Suchtkliniken und Krankenhäusern vorgenommen und medikamentös unterstützt. Therapieziel muss jedoch eine Verhaltensänderung sein.
729 16.2 · Gesundheitsförderung
Psychologische Ansätze bei übermäßigem Alkoholkonsum Doch wo können nun wir als Psychologen ansetzen, wie können wir alkoholabhängigen Menschen helfen und den häufigen Rückfällen vorbeugen? Die am häufigsten eingesetzte Behandlung ist der Entzug mit anschließender Abstinenz. Eine Reihe von psychotherapeutischen Maßnahmen (7 Kap. 18) sowie Medikamenten helfen den Patienten dabei, einen Rückfall zu verhindern. Doch abgesehen davon, dass die Erfolgsquoten dieser Therapien keineswegs befriedigend sind, bleibt die Gefahr eines Rückfalls bestehen. Das Problem sind häufig die unbewussten Mechanismen, die wirken, wenn die Betroffenen gar nicht damit rechnen. Es gibt eine ganze Reihe von Reizen, die einen Rückfall auslösen können. Sucht wird daher heute als eine Krankheit der Rückfälle angesehen – nach einer Studie von Veltrup (1995) wurden 42% der Patienten nach einer 3-wöchigen stationären Therapie im 1. Monat nach der Behandlung wieder rückfällig. Die Therapie fordert daher nicht mehr wie früher üblich von Beginn an strikte Abstinenz, sondern man verständigt sich zunehmend auf eine Reihe von Zwischenzielen. So kann es bei Schwerstabhängigen zunächst um das einfache Überleben gehen sowie um die Behandlung von Begleit- und Folgeerkrankungen. Erst wenn dieses Ziel erreicht oder die Sucht noch in einem Frühstadium ist, werden Krankheitseinsicht und Motivation wichtiger. Darauf aufbauend können dann drogenfreie Phasen und die Verbesserung der psychosozialen Situation angestrebt werden, bevor Abstinenz und angemessene Lebensqualität als eigentliches Ziel erreicht werden können. Einen systematischen Ansatz verfolgen Prochaska u. DiClemente (1992), die ausgehend von 5 Phasen der Veränderungsbereitschaft bei Abhängigen vorschlagen, auch entsprechende therapeutische Strategien entgegenzusetzen (. Tabelle 16.2). Die klassische Verhaltenstherapie (7 Kap. 18) kann eingesetzt werden, um dem Patienten neue Verhaltensweisen zu vermitteln, die an die Stelle der alten Angewohnheiten treten sollen. In Rollenspielen wird – ähnlich wie bei der Nikotinabhängigkeit – geübt, ein alkoholisches Getränk abzulehnen und stattdessen Mineralwasser zu verlangen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die kognitive Verhaltenstherapie betont, dass der Alkoholiker vor allem Selbstvertrauen und Kompetenz gewinnen muss, da etwa 80% der Kranken beim Rückfall allein sind. Ein wichtiges Lernziel ist darüber hinaus, dem Rückfallrisiko auszuweichen, indem man kritische Situationen vermeidet. So sollte etwa der Rückweg von der Arbeit nicht länger an der Stammkneipe vorbeiführen. Schließlich ist es auch notwendig, Konflikte, Stress, Schmerzen, Depressionen und andere Faktoren, die das Suchtverhalten aufrechterhalten können, zu erkennen und zu beseitigen.
. Tabelle 16.2. Phasen der Veränderungsbereitschaft bei Abhängigkeitssyndrom. (Nach Prochaska u. DiClemente 1992)
Phasen
Merkmale
Therapeutischer Ansatz
1. Fehlendes Problembewusstsein
Keine Einsicht oder Veränderungsbereitschaft
Wenige therapeutische Einflussmöglichkeiten, da starker Einfluss durch Umwelt (z. B. Verhalten der Angehörigen, Arbeitsplatzverlust) und innere Faktoren (Gesundheitszustand, psychische Probleme)
2. Aufbau von Problembewusstsein
Selbstbeobachtung; Vor- und Nachteile des Konsums werden abgewogen; die Reaktionen der Mitmenschen auf den eigenen Drogenkonsum werden beobachtet
Selbstbeobachtung fördern Negative Konsequenzen fokussieren, positive Veränderungsmöglichkeiten aufzeigen Therapeutische Allianz aufbauen Zielvereinbarung
3. Beginn einer Behandlung
Bereitschaft zur Veränderung
Kompetenzvermittlung für das Leben ohne die Abhängigkeit (u. a. Entspannungsmethoden, Konfliktlösungsstrategien); Zukunftsplanung (konkrete Lebensgestaltung)
4. Beibehaltung der Behandlungsziele
Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der erfolgten Veränderungen
Stärkung der Kompetenzen zur Verhinderung eines Rückfalls bzw. Verringerung des Risikos (Identifikation kritischer Situationen, Vermeidung dieser Situationen) Vermittlung von Kompetenzen für die Bewältigung eines Rückfalls
5. Rückfall
Phasen erneuten Missbrauchs und Abhängigkeit
Wenige therapeutische Einflussmöglichkeiten
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Adipositas und Gewichtskontrolle Ziel 20: Erörtern Sie, welche adaptiven Vorteile es hat, wenn der Körper Fett speichert, und welche Nachteile dies heute hat.
Adipositas (adiposity): Fettsucht; Vermehrung des Körpergewichts durch eine übermäßige Ansammlung oder Bildung von Fettgewebe im Körper.
Kulturen ohne ein Schlankheitsideal für Frauen sind auch Kulturen ohne Essstörungen. Ghanaer z. B. haben als Ideal einen üppigeren Körperumfang als die Amerikaner – und haben seltener Essstörungen (Cogan et al. 1996). Dasselbe trifft auf afroamerikanische Frauen im Vergleich zu Amerikanerinnen europäischer Herkunft zu (Parker et al. 1995).
Normalgewicht
2127 Dollar
BMI 25–29,9
2358 Dollar
BMI 30–34,9
2873 Dollar
BMI 35–39,9
3058 Dollar
BMI 40 und mehr
3506 Dollar
16 Rubens’ »Drei Grazien« Zu anderen Zeiten und an anderen Orten wurden Körperrundungen idealisiert. Wenn die Nahrungsmittel knapp sind, scheint rundlich schön zu sein; wenn reichlich Essen vorhanden ist, scheint schlank schön zu sein
Die drei Grazien (1636–1638), Peter Paul Rubens, Museo del Prado, Madrid
Jährliche Ausgaben für die Gesundheitsversorgung bei einer Frau im Alter zwischen 35 und 44 Jahren in den USA (Wee et al. 2005). Dazu sagte der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman (2005): »Fett ist ein steuerliches Problem.«
Warum nehmen manche Menschen zu, während andere genauso viel essen und nur selten ein Kilo zulegen? Und warum schaffen es nur so wenige übergewichtige Menschen, dauerhaft abzunehmen? Adipositas, d. h. Fettsucht oder Fettleibigkeit, wird definiert als eine Vermehrung des Körpergewichts durch die übermäßige Ansammlung oder Bildung von Fettgewebe im Körper. Fettsucht entsteht, wenn die Energiezufuhr den Energieverbrauch übersteigt (vor allem durch fettreiche Ernährung oder zu wenig Bewegung). Die Klassifizierung der Adipositas wird mit Hilfe des so genannten Body Mass Index (BMI) vorgenommen. Der BMI ist wie folgt definiert: Körpergewicht (kg) geteilt durch das Quadrat der Körpergröße (m2). Man spricht von Adipositas bei einem BMI über 30. Nach Angabe der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC sind 65% der Amerikaner übergewichtig. Auch in Deutschland ist bei den Essstörungen starkes Übergewicht am häufigsten verbreitet – allerdings längst nicht so stark wie in den USA. In Deutschland weisen rund 20% der Frauen und 16% der Männer – berechnet über alle Altersgruppen – Übergewicht auf (BMI größer als 25), weitere 13% sogar ein deutliches Übergewicht (Statistisches Bundesamt 2004). – Gibt es Hoffnung, dass diese Menschen dauerhaft Gewicht verlieren können? Unser Körper speichert aus gutem Grund Fett. Eigentlich ist Fett eine ideale Form gespeicherter Energie – eine kalorienreiche Brennstoffreserve, damit der Körper Zeiten überstehen kann, in denen Nahrungsmittel knapp sind, ein sinnvoller Mechanismus zur Zeit unserer Vorfahren, als Hungersnöte und Überfluss ständig einander abwechselten. (Stellen Sie sich den Reifen um die Körpermitte als einen Energiespeicher vor – das Pendant der Biologie zum Müsliriegel beim Wanderer.) Es ist kein Wunder, dass Adipositas heutzutage – überall wo die Menschen mit Hungersnöten konfrontiert sind – in den meisten Entwicklungsländern, wie im Europa früherer Jahrhunderte, ein Zeichen für Reichtum und sozialen Status ist (Furnham u. Baguma 1994). Gerade in den Teilen der Welt, in denen Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind, ist die Regel (wenn du energiereiches Fett oder Zucker findest, iss es!), die sich für unsere hungrigen Vorfahren als dienlich erwiesen hat, zu etwas geworden, was gegen unsere Funktionstüchtigkeit wirkt. Nur geringfügiges Übergewicht stellt zwar auch nur ein kleines Gesundheitsrisiko dar (Gibbs 2005). Fitness ist wichtiger, als ein wenig übergewichtig zu sein. Ausgeprägte Adipositas erhöht jedoch das Risiko, an Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Gallensteinen, Arthritis oder bestimmten Krebsarten zu erkranken (. Abb. 16.26), und verkürzt damit die Lebenserwartung (Olshansky et al. 2005). Die Risiken sind dabei für Menschen mit einem apfelförmigen Körper, die einen Bierbauch vor sich her tragen, größer als für birnenförmige Menschen mit üppigen Hüften und Oberschenkeln (Greenwood 1989). Neuere Forschungsarbeiten haben die Adipositas bei Frauen auch mit dem Risiko in Verbindung gebracht, im späteren Leben an Alzheimer-Demenz zu erkranken und einen Verlust an Hirngewebe zu erleiden (Gustafson et al. 2003, 2004).
731 16.2 · Gesundheitsförderung
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. Abb. 16.26. Adipositas, gemessen als Body Mass Index (BMI) Staatliche Richtlinien in den USA empfehlen einen Body Mass Index unter 25. Für die Weltgesundheitsorganisation und viele Länder ist man adipös, wenn der BMI bei 30 oder darüber liegt. Die Einteilung der Felder in der Abbildung beruht auf BMI-Berechnungen für diese Größen und Gewichte. Der BMI wird anhand folgender Formel errechnet: BMI = Gewicht in kg/(Größe in m)2
Es überrascht daher nicht, was bei einer Studie (Calle et al. 1999) herauskam, bei der mehr als 1 Mio. Amerikaner über 14 Jahre hinweg wissenschaftlich begleitet wurden: Wenn man sehr übergewichtig ist, kann dies das Leben verkürzen (. Abb. 16.27). Diejenigen, die mit 40 übergewichtig sind, sterben 3 Jahre früher als ihre schlanken Altersgenossen, wird in einer weiteren Langzeitstudie berichtet (Peeters et al. 2003). Die Sterberate ist besonders hoch unter sehr übergewichtigen Männern. Verständlicherweise begann man in den USA bei der öffentlichen Krankenversicherung Medicare, Adipositas als Krankheit einzustufen.
. Abb. 16.27. Fettleibigkeit und Mortalitätsrisiko Das relative Mortalitätsrisiko unter gesunden Nichtrauchern steigt mit extrem hohem oder niedrigem Body Mass Index. (Nach einer 14 Jahre dauernden Studie mit 1,05 Mio. Amerikanern; Calle et al. 1999)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Die sozialen Auswirkungen der Adipositas Ziel 21: Beschreiben Sie einige der sozialen Auswirkungen der Adipositas.
»Das Gesetz [zu Klagen wegen Adipositas] besagt, dass man nicht losgehen und eine Klage einreichen soll, weil man fett ist. Es sagt: ›Schauen Sie in den Spiegel, weil Sie die Person sind, der man etwas anzulasten hat.‹« U.S. Senator F. James Sensenbrenner (2004)
»Für übergewichtige Schüler ist die Schule manchmal eine einzige Qual.« Bericht über die Diskriminierung adipöser Schüler (National Educational Association 1994)
16 . Abb. 16.28. Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Körpergewicht Als Bewerberinnen einen übergewichtigen Eindruck erweckten, bestand bei Studierenden eine geringere Bereitschaft anzunehmen, dass sie sie einstellen würden. Bei männlichen Bewerbern zählte das Körpergewicht weniger. (Aus Pingitore et al. 1994)
Für Psychologen ist vor allem wichtig, dass Adipositas auch in sozialer Hinsicht ein Gift ist: Es beeinflusst die Art, wie man von anderen behandelt wird, und es hat Einfluss darauf, wie man sich selbst fühlt. Fettleibige Menschen kennen das Klischee: »langsam, faul und nachlässig« (Crandall 1994, 1995; Ryckmann et al. 1989). Viele Menschen sehen Adipositas als eine Angelegenheit, über die man selbst entscheiden kann, oder als Hinweis auf einen Mangel an Selbstdisziplin oder als Persönlichkeitsproblem – als fehlangepasste Methode zur Verringerung von Angst, zum Umgang mit Schuld oder zur Befriedigung einer »oralen Fixierung«. Wenn Sie Personen auf einem Bildschirm optisch verzerren (indem Sie sie dicker erscheinen lassen), stufen die Beobachter sie plötzlich als weniger ehrlich, weniger freundlich, als gemeiner und widerwärtiger ein (Gardner u. Tockermann 1994). Die sozialen Auswirkungen der Adipositas wurden in einer Studie deutlich, bei der 370 adipöse 16- bis 24-jährige Frauen wissenschaftlich begleitet wurden (Gortmaker et al. 1993). Als die Frauen nach 7 Jahren erneut untersucht wurden, waren zwei Drittel immer noch adipös. Sie verdienten auch weniger Geld – 7000 Dollar pro Jahr weniger – als eine gleichermaßen intelligente Vergleichsgruppe von 5000 nichtadipösen Frauen. Und sie waren mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit verheiratet. In Kontaktanzeigen geben Männer oft ihre Vorliebe für schlanke Frauen an, und Frauen werben dort so für sich (Milleret al. 2000; Smith et al. 1990). In einem ausgeklügelten Experiment gaben Pingitore et al. (1994) ein anschauliches Beispiel für eine Diskriminierung wegen des Körpergewichts. Sie nahmen Probevorstellungsgespräche auf Video auf, bei denen professionelle Schauspieler einmal als normalgewichtige und einmal als übergewichtige Bewerber auftraten. In einem Vorstellungsgespräch trugen die Schauspieler Makeup und Prothesen, die sie 14 kg schwerer erschienen ließen. Der übergewichtig auftretende Bewerber wurde bei gleicher Gesprächsführung, gleicher Intonation und Gestik als weniger passend für die Stelle eingestuft. Bei weiblichen Bewerbern war die Urteilsverzerrung aufgrund des Körpergewichts besonders stark (. Abb. 16.28). Andere Studien belegen, dass Diskriminierung wegen des Körpergewichts größer ist als die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht, jedoch kaum diskutiert wird. Diskriminierung tritt in jeder Phase des Beschäftigungsverhältnisses auf: bei der Einstellung, Stellenvergabe, Beförderung, Abfindung, Disziplinarmaßnahmen und Entlassung (Roehling 1999). Experimente zeigen, dass ein Vorurteil gegen Dicke auch auf Bewerber abfärbt, die mit einer fettleibigen Person zusammen gesehen werden (Hebl u. Mannix 2003). Diskriminierung wegen des Körpergewichts findet auch zu Hause statt. In Studien an Patienten, die besonders unglücklich mit ihrem Gewicht waren – diejenigen, die nach einer Bypass-
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Operation am Darm im Durchschnitt 45 Kilo verloren hatten – gaben 80% an, ihre Kinder hätten sie gebeten, nicht an schulischen Veranstaltungen teilzunehmen. Und 90% sagten, sie würden sich lieber ein Bein abnehmen lassen, als wieder adipös zu sein (Rand u. Macgregor 1990, 1991). Warum werfen adipöse Menschen nicht einfach ihr überschüssiges Gewicht ab und befreien sich von all diesem Kummer? Die Antwort darauf findet man in der Physiologie des Fetts.
Physiologie der Adipositas Ziel 22: Erörtern Sie einige Befunde der Forschung über die Rolle der Vererbung und der Umwelt als bestimmende Faktoren beim Körpergewicht.
Forschungen zur Physiologie der Adipositas stellen das Stereotyp vom stark übergewichtigen Menschen als willensschwachen »Vielfraß« in Frage. Bedenken Sie zunächst einmal folgende Modellrechnung zum Gewichtszuwachs: Menschen nehmen in dem Maße zu, wie sie mehr Kalorien zu sich nehmen, als sie verbrauchen. Ein Pfund Fett entspricht einer Energie von 3200 Kalorien; daher hat man Menschen, die eine Schlankheitskur machen, gesagt, dass sie für 3200 Kalorien weniger in ihrer Ernährung, ein Pfund Gewicht verlieren. Die Überraschung ist: Diese Schlussfolgerung ist falsch. Wollen Sie wissen warum? Dann lesen Sie weiter.
Fettzellen Die unmittelbaren Bestimmungsfaktoren von Körperfett sind die Größe und die Anzahl der Fettzellen. Ein normaler Erwachsener hat ca. 30 bis 40 Mrd. dieser kleinen Brennstoffspeicher, die sich zur Hälfte in der Nähe der Hautoberfläche befinden. Eine Fettzelle kann relativ leer, aber auch wie ein Ballon übervoll sein. Bei einer fettleibigen Person können Fettzellen auf das 2- bis 3fache ihrer normalen Größe anschwellen und sich dann teilen oder die benachbarten unreifen Fettzellen zur Teilung bringen: Das Ergebnis sind bis zu 75 Mrd. Fettzellen (Hirsch 2003). Hat sich die Anzahl der Fettzellen aufgrund von Erbanlagen, Essgewohnheiten im Kindesalter oder aufgrund von zu viel Essen im Erwachsenenalter einmal erhöht, wird sie nie wieder abnehmen (. Abb. 16.29). Fettzellen können zwar bei einer Diät schrumpfen, aber nie ganz verschwinden (Sjöstrum 1980).
Set Points und Stoffwechsel Sind wir erst einmal dick geworden, benötigen wir weniger Nahrung, um unser Gewicht aufrechtzuerhalten, als dies geschah, um dieses Gewicht zu erreichen. Warum ist das so? Weil Fett verglichen mit anderem Gewebe eine geringere Stoffwechselrate hat: Man braucht weniger Energie durch Nahrung, um es zu erhalten. Die »Gewichtsthermostate« im Körper eines adipösen Menschen sind darauf eingestellt, das Körpergewicht innerhalb einer Spanne zu halten, die über dem Durchschnitt liegt. Fällt Ihr Gewicht unter diesen Set Point (oft betrachtet als Spanne der Settling Points für Gewicht und nicht so sehr als eine genaue Anzahl von Kilos), steigt das Hungergefühl der Person an, und ihre Stoffwechseltätigkeit verlangsamt sich (7 Kap. 12). Somit stellt sich der Körper auf das Hungern ein, indem er weniger Kalorien verbrennt, und auf die zusätzlichen Kalorien, indem er mehr verbrennt. In einem klassischen Experiment (Bray 1969), das über einen Monat ging, verringerten adipöse Patienten ihre tägliche Nahrungsaufnahme von 3500 auf 450 Kalorien und verloren dabei nur 6% ihres Gewichts – teils weil ihre Körper so reagierten, als wären sie am Verhungern; ihre Stoffwechselrate sank um etwa 15% (. Abb. 16.30). Genau deshalb wird sich Ihr Gewicht, wenn Sie die Nahrungsaufnahme um 3200 Kalorien verringern, nicht um ein Pfund reduzieren. Das ist auch der Grund dafür, dass ein weiterer Gewichtsverlust nach einer schnellen Abnahme während der ersten 3 Wochen einer strikten Diät langsam vonstatten geht. Und genau darum kann die Nahrungsmenge, die man vor der Diät benötigte, um das Gewicht aufrechtzuerhalten, abnehmen, wenn man mit der Diät aufhört – der Körper spart immer noch Energie. Individuelle Unterschiede beim Grundumsatz erklären auch, warum 2 Menschen von derselben Größe, demselben Alter und demselben Aktivitätsniveau das gleiche Gewicht aufrechterhalten, auch wenn der eine von ihnen viel weniger isst als der andere. Schlanke Menschen sind auf
. Abb. 16.29. Fettzellen Wir speichern Energie in Fettzellen, die größer und zahlreicher werden, wenn wir adipös sind, und kleiner (aber weiterhin zahlreicher), wenn wir dann wieder abnehmen. (Nach Hirsch 2003)
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.30. Auswirkungen einer strengen Diät auf Körpergewicht und Stoffwechsel bei adipösen Patienten Nachdem 6 adipöse Patienten 7 Tage lang jeweils 3500 Kalorien aufgenommen hatten, erhielten sie in der Folge 24 Tage lang nur 450 Kalorien pro Tag. Das Köpergewicht verringerte sich nur um 6% und pendelte sich dann ein, weil die Stoffwechselaktivität um ca. 15% sank. (Aus Bray 1969)
natürliche Weise dazu veranlagt, herumzuzappeln und sich mehr zu bewegen, als dies bei energiesparenden übergewichtigen Menschen der Fall ist, die gewöhnlich noch länger sitzen (Levine et al. 2005). Die meisten adipösen Personen sind ganz einfach normale Menschen, deren Körper die Anlagen dazu hat, mehr zu wiegen. Das scheint trotz der Befunde zu stimmen, die besagen, dass Menschen – vor allem adipöse Menschen – dazu neigen, ihre körperliche Aktivität zu überschätzen und ihre Kalorienaufnahme zu unterschätzen (Brownell u. Wadden 1992; Lichtman et al. 1992).
Eigentum von John Soltis/The Rockefeller University, New York, NY
Der genetische Faktor
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Die fette Maus, ein Hormon und ein Gen Das »ob-Gen« (obese-Gen, Fettsuchtgen) produziert das Hormon Leptin, das über einen Regelkreis Informationen über Energiereserven bereitstellt und damit an der Steuerung der Nahrungsaufnahme beteiligt ist. Die sog. »ob-Maus« (links im Bild) hat ein schadhaftes »ob-Gen«, d. h. die Leptinbildung ist durch eine Genmutation gestört, infolge dessen ist sie extrem fettleibig (adipös) und träge. Die rechte »ob-Maus« wurde mit Leptin behandelt und verlor daraufhin 40% ihres Gewichts.
Studien zeigen den genetischen Einfluss auf das Körpergewicht. Schauen Sie sich einmal Folgendes an: 4 Trotz gemeinsamer Mahlzeiten hängen das Körpergewicht von Adoptivkindern und das der Adoptiveltern nicht miteinander zusammen. Es ist vielmehr so, dass das Gewicht der Kinder mehr dem der biologischen Eltern gleicht (Grilo u. Pogue-Geile 1991). 4 Eineiige Zwillinge haben ein fast identisches Körpergewicht, selbst wenn sie getrennt voneinander aufgewachsen sind (Plomin et al. 1997; Stunkard et al. 1990). Wie aus einigen Studien hervorgeht, korreliert ihr Gewicht mit 0,74. Die viel geringere Korrelation von 0,32 bei zweieiigen Zwillingen lässt darauf schließen, dass unser schwankender Body Mass Index zu zwei Dritteln durch die Gene zu erklären ist (Maes et al. 1997). Abzunehmen ist nicht nur eine Angelegenheit, bei der man einfach nicht schwach werden darf. 4 Im Vergleich zu einem Kind mit normalgewichtigen Eltern hat ein Junge mit einem adipösen Elternteil die dreifache und ein Mädchen die sechsfache Wahrscheinlichkeit, selbst adipös zu werden. Also bestimmen unsere Gene über unsere Jeansgröße. Aber der genetische Einfluss ist sicher komplex; dabei kommt die Musik von unterschiedlichen Genen, die wie ein Orchester zusammenspielen. Einige Gene haben vielleicht einen Einfluss darauf, wann unsere Eingeweide das Signal »satt« geben, und andere legen fest, wie wirkungsvoll wir Kalorien verbrennen und zusätzliche Kalorien in Fett umwandeln; wieder andere veranlassen uns, herumzuzappeln oder still zu sitzen. Neue Untersuchungen geben detailliert an, wie der genetische Mechanismus für die Gewichtskontrolle abläuft. Wenn sich normale Fettzellen einer Maus aufblähen, produzieren ihre Gene das Protein Leptin. Wie bereits in 7 Kap. 12 erwähnt, wird Leptin vom Gehirn überwacht. Als Forscher fettleibigen Mäusen eine tägliche Dosis Leptin injizierten, fraßen die Mäuse weniger, wurden aktiver und nahmen ab. Könnte es demnach sein, dass Injektionen von Leptin auch für Menschen als virtuelles Fett dienen können, woraufhin das Gehirn den Körper anweisen würde, weniger Fett einzulagern? Obwohl die anfänglichen Hoffnungen auf eine Wunderpille gegen die Fettleibigkeit zerstoben sind, waren Ende 2004 100 Medikamente gegen Adipositas in der Erprobung. Eines der Medikamente, mit denen viele Hoffnungen verbunden sind, blockiert dieselben Rezeptoren im
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Survival of the fattest
Gehirn, die von Marihuana angeregt werden, das den Appetit stimuliert (eine Blockierung der Rezeptoren sollte also den Appetit dämpfen) (Science 2004). Wenn Sie dieses Buch lesen, sind wahrscheinlich schon einige dieser Medikamente auf den Markt gekommen.
Die Faktoren Ernährung und Aktivität Gene allein sind noch keine Erklärung für Adipositas. Die Gene können nicht erklären, warum Fettleibigkeit bei Frauen aus den unteren sozioökonomischen Schichten sechsmal häufiger ist, warum sie unter Amerikanern verbreiteter ist als unter Europäern und warum sie heute bei Amerikanern öfter vorkommt als im Jahre 1900 und weniger bei Menschen auftritt, die kürzlich eingewandert sind (Goel et al. 2004). Westliche Kulturen sind zu Mastanstalten geworden: Orte, an denen Bauern Tiere fett werden lassen, indem sie ihren Auslauf einschränken und ihnen reichlich fettes Fressen anbieten. Bei einer großen Langzeitstudie an 50.000 Krankenschwestern fanden die Forscher heraus, dass sich, auch wenn die Faktoren sportliche Aktivität, Rauchen, Alter und Ernährung kontrolliert wurden, durch 2 zusätzliche Stunden täglichen Fernsehkonsums eine Zunahme der Adipositas um 23% und der Diabetes von 7% vorhersagen ließ (Hu et al. 2003). Bei den Old Order Amish in Ontario sind Landwirtschaft und Gartenbau arbeitsintensiv, und es konnte mit Hilfe von Schrittzahlmessern festgestellt werden, dass Männer 14 km und Frauen 11 km am Tag laufen. Deshalb ist die Adipositas sehr viel seltener als in den USA. In der Allgemeinbevölkerung der Vereinigten Staaten ist der relative Anteil der Adipösen 7-mal so groß wie unter den Old Order Amish in Ontario (Bassett et al. 2004). Menschen, die in Gegenden wohnen, in denen man viel zu Fuß gehen muss (wie in Manhattan), wiegen weniger als die Menschen, die in den Vorstädten eine eher sitzende Lebensweise haben und ständig mit dem Auto fahren (Ewing et al. 2003). Von großer Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die westlichen Kulturen heute gekennzeichnet sind durch Bewegungsmangel und kalorienreiche Nahrungsmittel in Verbindung mit überdimensionierten Mahlzeiten (Double Whoppers) und einem seit 1997 dreimal so hohen Prozentsatz an Mahlzeiten, die in Fastfoodketten eingenommen werden (Farley u. Cohen 2001). Im Vergleich zu 1971 nehmen Frauen heute 300 Kalorien mehr am Tag auf und die Männer 200 Kalorien (O’Connor 2004). Beispielsweise wurde die begrenzte Auswahl in der Cafeteria heute ersetzt durch ein Essensbuffet mit mehreren Theken, an denen man so viel nehmen kann, wie man will, und bei denen man seine Waffeln mit einer unbegrenzten Menge an Softdrinks herunterspülen kann (Brody 2003). Verständlicherweise nimmt dann schon der Studierende im ersten Semester zu. Und verglichen mit den Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen wir heutzutage eine fettreichere, zuckerhaltigere Kost zu uns, verbrennen weniger Kalorien und leiden mit größerer Wahrscheinlichkeit an Diabetes (Brody 2003; Thompson 1998). Zusammengenommen sind Big Macs, zuckerreiche Softdrinks, Inaktivität und Tabak eine Massenvernichtungswaffe. Adipöse Raucher sterben im Schnitt 13,5 Jahre früher als ihre normalgewichtigen, nichtrauchenden Nachbarn (Peeters et al. 2003). Ihre Eltern und Großeltern wogen mit 30 Jahren wahrscheinlich weniger als Sie heute oder in Zukunft. Seit 1960 ist der durchschnittliche Amerikaner um 2,5 cm gewachsen und hat 10 kg zugelegt (. Tab. 16.3). In Großbritannien hat sich die Konfektionsgröße von Frauen im Durchschnitt von Größe 38 im Jahre 1951 auf Größe 42 heute erhöht; seit 1980 hat sich die Adipositas unter britischen Erwachsenen nahezu verdreifacht auf 21% (Hawkes 2002; Merriman 1999). Und
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Gallup-Umfragen von 1990 bis 2001 zufolge soll das Körpergewicht eines durchschnittlichen Amerikaners um 4,5 kg gestiegen sein: auf 70 kg für Frauen und 85 kg für Männer (Saad 2002). Insgesamt kommt man auf eine Gewichtszunahme von über 450 Mio. Kilogramm. Die zusätzlichen 4,5 kg pro Person kosteten die Fluglinien im Jahr 2000 180 Mio. Euro, um den Extratreibstoff zu verbrennen, den man braucht, um das Gewicht zu transportieren (Dannenberg et al. 2004).
. Tabelle 16.3. Durchschnittliches Körpergewicht (in kg), 1960–2002; Quelle: Bericht der Centers for Disease Control and Prevention von C. L. Ogden et al. (2004)
1960–1962
1971–1974
1988–1994
1999–2002
19-Jährige Männer
–
72,5
72,9
77,9
Frauen
–
59,3
63,0
67,5
20- bis 74 Jährige Männer
75,2
78,4
82,4
85,6
Frauen
63,4
65,2
69,3
73,8
im Verlauf der letzten 40 Jahre, seit Gesundheitsexperten die Amerikaner zum Abnehmen zu bewegen versuchen, hat sich die Adipositas unter Erwachsenen mehr als verdoppelt – auf über 30% (CDC 2004; . Abb. 16.31). Allein seit 1986 hat sich die Anzahl der adipösen Amerikaner mit einem Übergewicht von mehr als 45 kg vervierfacht (Sturm 2003). Das Gleiche gilt mehr oder weniger für alle Länder, in denen dieses Buch gelesen wird. Weltweit haben 60% der Menschen Übergewicht, schätzt die Weltgesundheitsorganisation (Booth u. Neufer 2005). In Australien wie auch in Großbritannien und Amerika werden 55% der Bevölkerung als übergewichtig oder adipös eingestuft (Australian Bureau of Statistics; Halsey u. Webb 2000; Healey, 2004). Dies gilt auch für 49,2% der deutschen Bevölkerung, davon sind 36,3% mit einem BMI über 25 übergewichtig und 12,9% mit einem BMI von über 30 stark übergewichtig bzw. adipös (Statistisches Bundesamt 2004). Dabei ist der Trend zunehmend; so zeigte eine Studie an 9500 Personen, dass die Bauchumfänge der Deutschen zwischen 1989 und 1995 im Schnitt um 1,4 cm auf 90 cm zugelegt haben. Gleichzeitig stieg der BMI um 0,4 (Liese et al. 2001). Bei Kindern und Jugendlichen wird auch in Deutschland das Ausmaß des Übergewichts als besorgniserregend angesehen. Im Jahr 2001 wiesen 6,9% der Jungen und 7,1% der Mädchen im Kindes- und Jugendalter eine Adipositas auf (Ärzte Zeitung 2002). Unter dem Strich heißt das: In neuen Stadien, Theatern und U-Bahnen werden breitere Sitze angeboten, damit man mit dieser Art von Bevölkerungswachstum zurechtkommt (Hampson 2000). Die Fähren in Washington State gaben ihren 50 Jahre alten Standard von 45 cm pro Person auf. »Hinterteile mit 45 cm Breite sind eine Sache der Vergangenheit«, erklärte ein Sprecher (Shepherd 1999). New York City hat die 44 cm breiten kübelförmigen U-Bahn-Sitze durch Sitze ohne Vertiefungen ersetzt (Hampson 2000). Die heutigen Menschen brauchen schließlich mehr Platz. Behalten Sie im Hinterkopf, dass diese Befunde den Inhalt einer bereits bekannten Geschichte aus den frühen Intelligenzstudien bestätigen: Es kann ein hohes Niveau der Erblichkeit (genetischer Einfluss auf individuelle Unterschiede) geben, ohne dass die Vererbung die Gruppenunterschiede erklärt. Die Gene bestimmten am ehesten, warum eine Person heute schwerer ist als eine andere, und hauptsächlich die Umwelt ist ausschlaggebend dafür, dass wir heute schwerer sind als vor 50 Jahren.
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. Abb. 16.31. Risikoverlagerung Während das Rauchen, durch das früher einmal jährlich 400.000 Amerikaner starben, zurückgegangen ist, hat die Adipositas gemäß Angaben der amerikanischen Gesundheitsbehörde zugenommen und fordert inzwischen an die 300.000 Todesfälle pro Jahr
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Wie verliert man an Gewicht? Ziel 23: Erörtern Sie die Erfolgschancen eines übergewichtigen Menschen, der abnehmen möchte.
Vielleicht schütteln Sie jetzt den Kopf: »Wir haben eine geringe Chance, schlank zu werden und zu bleiben. Wenn wir bei einer Schlankheitskur abnehmen, verlangsamt sich unser Stoffwechsel und unsere hungrigen Fettzellen rufen laut: ›Füttere mich!‹ Wir sind zum Fettsein verdammt.« Tatsächlich ist der Zustand des Körpers eines adipösen Menschen, der auf das Durchschnittsgewicht gebracht wird, gut vergleichbar mit dem eines halb verhungerten Menschen. Jeder Körper »meint«, er verhungere, wenn er unter dem Set Point gehalten wird. Ehemals adipöse Menschen sehen nach dem Abnehmen normal aus, aber ihre Fettzellen können abnorm klein sein, ihr Stoffwechsel verlangsamt und ihre Gedanken besessen vom Essen. All das kann als Erklärung dafür dienen, warum die meisten Menschen, die mit Hilfe einer Schlankheitskur abnehmen (nicht berücksichtigt diejenigen, die eine Operation vornehmen lassen, bei der ein Teil des Magens und des Dünndarms abgebunden wird), am Ende wieder ein Großteil ihres ursprünglichen Gewichts erreichen (Garner u. Wooley 1991; Jeffery et al. 2000). (Millionen von Menschen können belegen, dass es möglich ist abzunehmen; sie haben es mehrfach gemacht.) Einige Menschen schaffen es, einige Pfunde herunterzubekommen, vor allem mit Hilfe von Programmen, die ihre Lebensweise und das weitere Essverhalten verändern. Für die meisten Menschen jedoch besteht das einzige langfristige Ergebnis dieser verlorenen Schlacht darin, dass ihr Geldbeutel kleiner wird. Doch der Kampf gegen das Übergewicht wütet so heftig wie eh und je; und er ist am schlimmsten bei Personen mit 2 X-Chromosomen. Der Kampf gegen die Fettsucht ist ein großes Geschäft. Amerikaner geben pro Jahr 40 Mrd. Dollar für Diätessen und -getränke aus (Kolata 2004). Zwei Drittel der Frauen und die Hälfte der Männer sagen, sie wollten abnehmen; etwa die Hälfte dieser Frauen und Männer geben an, sie »versuchen es ernsthaft« (Moore 2003). Auf die Frage, ob sie lieber 15 Jahre jünger oder 15 Pfund leichter« wären, antworten 29% der Männer und 48% der Frauen, sie würden lieber abnehmen (Responsive Community 1996). Wenn Fettzellen, Set Points, Stoffwechsel und genetische Faktoren zusammen das Abnehmen zu einem solchen Problem machen, wie kann dann die Psychologie helfen, wenn es darum geht, überflüssige Pfunde loszuwerden? Zu einigen hilfreichen Tipps 7 Unter der Lupe »Für die, die gerne abnehmen würden«.
»Wir arbeiten seit 35 Jahren auf diesem Gebiet, und unsere Begeisterung für Schlankheitskuren, vor allem für solche mit unrealistischen Erwartungen, wurde noch nicht entfacht.« Die Forscher C. Peter Herman und Janet Polivy (2003) von der University of Toronto
Unter der Lupe
Für die, die gerne abnehmen würden Menschen, die mit Adipositas zu kämpfen haben, sind gut beraten, sich in medizinische Behandlung zu begeben. Für andere, die gerne ein paar Pfunde abnehmen möchten, haben Forscher die folgenden Tipps anzubieten: 4 Beginnen Sie nur, wenn Sie motiviert sind und Selbstdisziplin haben. Bei den meisten Menschen setzt ein bleibender Gewichtsverlust voraus, dass sie einen neuen Lebensweg des Dünnbleibens einschlagen – eine lebenslange Veränderung der Essgewohnheiten zusammen mit einer allmählichen zunehmenden sportlichen Aktivität. 4 Achten Sie darauf, dass Sie so wenig wie möglich verlockenden Essensreizen ausgesetzt sind. Halten Sie verlockendes Essen aus dem Haus bzw. außer Sicht. Gehen Sie nur mit vollem Magen in den Supermarkt, und meiden Sie die Regale mit den Süßigkeiten und den Knabbersachen. Essen Sie einfache Mahlzeiten; Menschen essen mehr, wenn ihnen eine größere Vielfalt zur Verfügung steht (Raynor u. Epstein 2001). 4 Ergreifen Sie geeignete Schritte, um Ihren Stoffwechsel anzukurbeln. Nicht aktive Menschen sind häufig übergewichtig (. Abb. 16.32). Einer der wenigen Prädiktoren für eine erfolgreiche langfristige Ge-
wichtsabnahme ist sportliche Aktivität sowohl während als auch nach der Ernährungsumstellung (Jeffrey et al. 2000; McGuire et al. 1999; Wadden et al. 1998). Sportliche Aktivitäten wie rasches Gehen, Laufen und Schwimmen leeren nicht nur die Fettzellen, bauen Muskeln auf und geben Ihnen ein gutes Gefühl, sondern sie beschleunigen auch zeitweilig den Stoffwechsel und können dazu beitragen, dass Ihr Set Point geringer wird (Bennett 1995; Kolata 1987; Thompson et al. 1982). Selbst kurze Aktivitätsrunden – vier 10-Minuten-Spaziergänge proTag – haben ihre Vorteile (Jakicic et al. 1999). Aktivitätsmangel kann als Erklärung dafür dienen, dass es vielen nicht gelingt, auf Dauer abzunehmen. Bei einer Studie der Centers for Disease Control an 107.000 Erwachsenen hielt sich nur ein Fünftel derjenigen, die abzunehmen versuchten, an die Empfehlung der Regierung, sowohl Kalorien zu zählen als auch 150 Minuten pro Woche sportlich aktiv zu sein (Serdula et al. 1999). 4 Bleiben Sie realistisch, und machen Sie es mit Maß. Etwas schwerer zu sein ist weniger riskant, als extrem dünn zu sein (Ernsberger u. Koletsky 1999). Ein langfristiger und anhaltender Gewichtsverlust ist keine einfache Sache. Setzen Sie sich ein realistisches Ziel, und gehen 6
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Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Sie es allmählich an. Die National Institutes of Health empfehlen: »Eine vernünftige Zeitperspektive für eine Abnahme von 10% sind 6 Monate.« 4 Ernähren Sie sich gesund. Vollkornnahrung, Früchte, Gemüse und gesunde Fette (wie die im Olivenöl) und Fisch tragen dazu bei, den Appetit und das Cholesterin zu regulieren, das die Arterien verstopft (Taubes 2001, 2002). Besser knackiges Grünzeug als schwere Sahnesoßen. 4 Hungern Sie nicht den ganzen Tag und essen Sie dann nicht eine große Mahlzeit am Abend. Dieses Muster des Essverhaltens, das unter Übergewichtigen verbreitet ist, verlangsamt den Stoffwechsel. Außerdem sind diejenigen, die ein ausbalanciertes Frühstück zu sich nehmen, am späten Vormittag wacher und weniger müde (Spring et al. 1992). 4 Hüten Sie sich vor Fressattacken. Bei Menschen, die bewusst ihr Essen einschränken, kann Alkoholkonsum oder das Gefühl, Angst zu haben oder deprimiert zu sein, einen Drang zum Essen auslösen (Herman u. Polivy 1980). Und dies kann auch geschehen, wenn man davon abgelenkt wird, auf sein Essverhalten zu achten (Ward u. Mann 2000). (Haben Sie je bemerkt, dass Sie mehr essen, wenn Sie mit Freunden ausgehen?) Sind die Einschränkungen beim Essen erst einmal durchbrochen, denkt die betreffende Person »Was soll’s?« und gibt sich der Fressattacke hin (Polivy u. Herman 1985, 1987). Ein Lapsus muss nicht zu einem vollständigen Kollaps führen: Denken Sie daran, dass den meisten Menschen einmal solch ein Ausrutscher passiert. Behalten Sie im Hinterkopf, dass Sie vorher schon Erfolge zu verzeichnen hatten, und verfolgen Sie Ihren Plan weiter. – Dies kann eventuell lebenslange Selbstkontrolle erfordern.
. Abb. 16.32. Faulenzen in den USA: Stubenhocker, passt auf – Fernsehen korreliert mit Adipositas Nach einer Studie aus dem Jahr 1980 mit 6671 Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren und einer Folgestudie mit 4063 Personen zwischen 8 und 16 Jahren war Adipositas unter denjenigen verbreiteter, die den größten Zeitanteil vor dem Fernseher verbrachten (Andersen et al. 1998; Dietz u. Gortmaker 1985). Natürlich vermeiden übergewichtige Menschen möglicherweise Aktivitäten, sie setzen sich lieber hin und sehen fern. Aber der Zusammenhang zwischen Fernsehen und Adipositas blieb erhalten, wenn andere Faktoren kontrolliert wurden; dies deutet darauf hin, dass Inaktivität und der Verzehr von Snacks beim Fernsehen etwas zur Adipositas beitragen. In dem Maße, in dem eine sitzende Lebensweise und Fernsehen häufiger geworden ist, hat auch der Prozentsatz der übergewichtigen Menschen in Großbritannien, Nordamerika und anderswo zugenommen. Als Kinder in Kalifornien an einem pädagogischen Programm zur Verringerung des Fernsehkonsums teilnehmen mussten, sahen sie hinterher weniger fern – und nahmen ab (Robinson 1999)
Brownell (2002) schlägt vor, die Umwelt zu ändern, die Menschen dem Risiko einer Adipositas aussetzt: 4 Man sollte kalorienbeladenes Junkfood und Softdrinks zusätzlich besteuern. Wir versuchen, das Rauchen durch erhöhte Tabaksteuern einzudämmen. Warum sollten wir nicht aus dem gleichen Grund eine »Hamburgersteuer« beschließen? 4 Man sollte die Erträge dazu nutzen, gesunde Nahrungsmittel zu subventionieren und eine Werbekampagne für die gesundheitsfördernde Ernährung zu finanzieren. 4 Man sollte rund um die Schulen eine von Fastfood freie Zone errichten. 4 Man sollte Werbung für Junkfood bei Kindern verbieten. 4 Man sollte Aktivitäten fördern, indem man Wohngebiete mit Wander- und Radwegen und in der Nähe von Arbeitsplätzen plant.
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Obwohl sich Stanley Schachter (1982) bewusst war, dass das Abnehmen eine ständige Herausforderung ist, war er weniger pessimistisch als die meisten der heutigen Adipositasforscher, wenn es um die Erfolgschancen des Abnehmenden geht. Er erkannte, wie groß der Anteil derer war, die bei einem strukturierten Programm zum Abnehmen scheiterten. Aber er merkte auch an, dass es sich bei diesen Menschen um eine spezielle Gruppe handelt, die wahrscheinlich nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Zudem beruht die Quote derer, die bei diesen Programmen scheitern, auf einem einzelnen Versuch abzunehmen. Wenn Menschen wiederholt versuchen abzunehmen, haben vielleicht mehr von ihnen am Ende Erfolg damit. Als Schachter Personen interviewte, fand er heraus, dass ein Viertel von ihnen einmal erheblich übergewichtig war und versucht hatte, schlanker zu werden. Von diesen hatten 60% Erfolg damit: Sie wogen 10% weniger als ihr Maximum in der Zeit vor der Schlankheitskur (das waren im Schnitt 16 kg weniger) und waren nicht mehr adipös. Bei einer Befragung von 90.000 Lesern von »Consumer Reports« fand man heraus,
739 16.2 · Gesundheitsförderung
dass 25% derer, die eine Diät gemacht hatten, einen bleibenden Gewichtsverlust aufwiesen. Mit Hilfe von Anzeigen in den Medien hat die National Weight Control Registry mehr als 4000 Menschen ausgemacht, die einen bedeutsamen Gewichtsverlust mindestens 1 Jahr lang aufrechterhalten haben; sie werden weiterhin untersucht. Im Schnitt haben diese Menschen 27 kg abgenommen und dieses Gewicht 5 Jahre lang gehalten; das geschah praktisch immer mit einer weitergeführten Diät und mit sportlicher Aktivität. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Aussichten für eine Gewichtsabnahme etwas besser sind als die bedrückenden Schlussfolgerungen, wie man sie aus Untersuchungen mit Patienten ziehen kann, die einmal an einem Programm zum Abnehmen teilnehmen. Wenn Ihnen das irgendwie bekannt vorkommt, können Sie sich bestimmt daran erinnern, dass Raucherentwöhnungsprogramme gewöhnlich (1) wirkungsvoll auf kurze Sicht und (2) unwirksam auf lange Sicht sind, dass aber (3) viele Menschen ehemalige Raucher sind. Neben den Programmen zum Abnehmen und Diäten gibt es eine weitere Möglichkeit für übergewichtige Menschen, und 13% der von Schachter interviewten Personen entschieden sich dafür: das Gewicht einfach zu akzeptieren. Wir sollten nicht vergessen, dass die psychologische Forschung weder Schuldgefühle, Feindseligkeit, orale Fixierung noch irgendeine andere persönliche Unzulänglichkeit als Ursache für Adipositas gefunden hat. Auch ist Adipositas nicht einfach nur eine Sache mangelnder Willensstärke. Wenn Menschen, die gerade eine Diät machen, dazu neigen, bei Stress oder nach Abbruch der Diät übermäßig zu essen, dann ist das vorwiegend darauf zurückzuführen, dass sie ihr Essverhalten ständig durch eine Diät kontrollieren. Der unerbittliche Kampf um Schlankheit bringt die Menschen nicht nur in Gefahr, in Ausnahmesituationen den Verlockungen einer Fressorgie zu erliegen; auch ständige Gewichtsschwankungen, Unterernährung, Rauchen und Depressionen sowie die schädlichen Nebenwirkungen von Pharmaprodukten zum Abnehmen (z. B. Abführmittel) stellen eine Gefahr dar (Cogan u. Ernsberger 1999). ! Es ist sicherlich besser, sich damit abzufinden, ein wenig übergewichtig zu sein, als sich in ein Wechselbad von Diät und Fressorgie zu begeben, ständig das Gefühl des Kontrollverlusts zu haben und Schuldgefühle zu entwickeln.
Während Gesundheitspsychologen noch daran arbeiten, die Beziehung zwischen Ernährung, Verhalten und Gesundheit (. Abb. 16.33) aufzudecken, bemühen sie sich gleichzeitig, uns von den Vorteilen einer gesünderen Lebensweise zu überzeugen. Diese Überzeugungsarbeit ist eine Herausforderung. Denn solange Menschen keine offen erkennbaren Krankheiten haben, kann man nur schwer eine Einstellungsänderung herbeiführen. Dabei machen sie sich oft selbst etwas vor. Die meisten Raucher – selbst die, die seit 20 Jahren rauchen und 10-mal oder häufiger versucht haben aufzuhören – glauben, dass sie im nächsten Jahr das Rauchen aufgeben können (Slovic 2001). Auch Menschen mit hohem Alkoholkonsum neigen zu der Fehleinschätzung, jederzeit ihr Trinkverhalten ändern zu können. Wenige junge Erwachsene erwarten, dass sie zunehmen, aber sie tun es. Wenn wir Kleidung kaufen, kaufen wir sie lieber zu eng als zu weit, weil wir uns sagen, dass wir ja demnächst ein paar Kilo abnehmen werden. (Einem Verkäufer kommt der folgende Satz praktisch nie zu Ohren: »Ich werde den Pullover extra groß kaufen, da Menschen in meinem Alter nun einmal zunehmen.«) Ferner werden viele Menschen, die ihre risikoreichen Verhaltensweisen zugeben, bestreiten, dass diese Verhaltensweisen gerade sie tatsächlich anfälliger für Krankheiten oder Verletzungen machen. Menschen, denen gesagt wird, sie hätten einen hohen Blutdruck, neigen dazu, dies zu verharmlosen (Croyle u. Ditto 1990). Raucher können sich selbst täuschen, indem sie sich sagen, ihre sportliche Betätigung wiege die Nebenwirkungen des Rauchens auf. (Denken Sie bei der Erklärung dieses Verhaltens auch an die Theorie der kognitiven Dissonanz, die Sie in 7 Kap. 15 kennen gelernt haben.) Wegen unserer Tendenz, Gesundheitsrisiken in Abrede zu stellen, besteht die erste Hürde, die gesundheitsfördernde Programme zu überwinden haben, darin, uns unsere Anfälligkeit für stress- und verhaltensbedingte Gesundheitsprobleme erkennen zu lassen. Erst dann werden wir uns bemühen, Stress zu bewältigen, mit dem Rauchen aufzuhören, weniger zu trinken, zu klugen Essgewohnheiten zu finden, regelmäßig Sport zu treiben und die Sicherheitsgurte anzulegen.
»Fett! Ja und?« Beliebtes T-Shirt auf der Versammlung der National Association to Advance Fat Acceptance (1999)
16
740
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
. Abb. 16.33. Der biopsychosoziale Ansatz zur Gesundheit
Lernziele Abschnitt 16.2 Gesundheitsförderung Ziel 11: Stellen Sie die problemfokussierte der emotionsfokussierten Bewältigung gegenüber. Wenn wir problemfokussierte Bewältigung einsetzen, versuchen wir, Stress dadurch zu verringern, dass wir direkt die Ereignisse verändern, die Stressreaktionen auslösen, oder die Art und Weise ändern, wie wir auf diese Ereignisse reagieren. Wir setzen emotionsfokussierte Bewältigung (Schaffen von Distanz zwischen uns und einem Stressor oder von Aufmerksamkeit für unsere eigenen emotionalen Bedürfnisse) ein, wenn wir – zu Recht oder nicht – glauben, dass wir eine stressreiche Situation nicht ändern können.
16
Ziel 12: Beschreiben Sie, wie ein subjektiv wahrgenommener Mangel an Kontrolle die Gesundheit beeinflussen kann. Ein subjektiv wahrgenommener Mangel an Kontrolle wurde in Verbindung gebracht mit einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber bakteriellen Infektionen, Herz-Kreislauf-Krankheiten und möglicherweise mit einer kürzeren Lebensspanne aufgrund eines höheren Niveaus der Stresshormone sowie verminderter Reaktionen des Immunsystems.
Ziel 13: Erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Erklärungsstil, Stress und Gesundheit. Verglichen mit Menschen, die einen pessimistischen Erklärungsstil haben, neigen Optimisten dazu, ein stärkeres Gefühl der Kontrolle über Stressoren zu haben, stressreiche Ereignisse besser zu bewältigen, in besserer Stimmung zu sein, ein stärkeres Immunsystem zu haben und länger zu leben als Pessimisten. Lachen (aber nicht Sarkasmus) kann Stress verringern und das Immunsystem stärken. Ziel 14: Beschreiben Sie einige der Aspekte, wie soziale Unterstützung als Puffer gegen Stress wirkt. Unterstützende Mitglieder der Familie, Ehepartner, enge Freunde und treue Haustiere helfen Menschen dabei, stressreiche Ereignisse zu bewältigen. Soziale Unterstützung führt zu einer besseren Funktionsfähigkeit des Immunsystems, beruhigt das Herz-Kreislauf-System und senkt den Blutdruck. 6
741 16.2 · Gesundheitsförderung
Ziel 15: Erörtern Sie die Vorteile eines aeroben Trainings als Technik zum Umgang mit Stress und zur Förderung des Wohlbefindens. Zu Programmen für den Umgang mit Stress gehört oft ein aerobes Training (Ausdauertraining, bei dem die Fitness von Herz und Lungen verbessert wird), das das Energieniveau zunehmen lässt, das Selbstbewusstsein steigert, den Blutdruck senkt und Depressionen und Ängste abbauen kann. In Studien wurde das aerobe Training mit gesenktem Blutdruck, zunehmender Erregung, einem höheren Spiegel von Neurotransmittern, die die Stimmung aufhellen (wie etwa Noradrenalin, Serotonin und die Endorphine), verbesserten kognitiven Fähigkeiten und (bei Mäusen) Wachstum neuer Gehirnzellen in Verbindung gebracht. Ziel 16: Vergleichen Sie die Vorteile des Biofeedback und des Entspannungstrainings mit Stressmanagementechniken, und erörtern Sie Meditation als Entspannungstechnik. Biofeedback hat Menschen dabei geholfen, Spannungskopfschmerz in den Griff zu bekommen, aber auch einfache Entspannungsübungen waren gleichermaßen wirkungsvoll beim Kampf gegen Bluthochdruck, Angst, Schlaflosigkeit und bei der Senkung der Rate wiederkehrender Herzinfarkte. Manche Menschen nutzen komplementäre bzw. alternative Medizin, die genau wie die Schulmedizin ihre Wirkung empirisch nachweisen muss. Studien an Menschen, die gerade meditierten, haben gezeigt, dass dies im Vergleich zur Kontrollgruppe mit einer verstärkten Aktivität im linken Frontallappen und mit einer verbesserten Funktionsfähigkeit des Immunsystems verbunden ist. Ziel 17: Erörtern Sie die Korrelation zwischen Religiosität und Langlebigkeit, und nennen Sie einige mögliche Erklärungen für diesen Zusammenhang. Regelmäßige Teilnahme an religiösen Veranstaltungen hat sich als zuverlässiger Prädiktor für eine längere Lebensspanne erwiesen. Forscher, die versuchten, die Ursache-Wirkungsbeziehung zu bestimmen, isolierten 3 intervenierende Variablen: (1) Religiös aktive Menschen haben eine gesunde Lebensweise. (2) Glaubensgemeinschaften haben oft die Funktion von Netzen sozialer Unterstützung und stützen häufig die eheliche Beziehung (die, wenn sie glücklich ist, mit besserer Gesundheit und einer längeren Lebensspanne einhergeht). (3) Die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen – zusammen mit der damit verbundenen konsistenten Weltanschauung, dem Gefühl der Hoffnung für die Zukunft, Gefühlen der Akzeptanz und einem entspannten meditativen Zustand – kann Gefühle positiver Emotionen verstärken und Gefühle von Stress und Angst abbauen. Ziel 18: Erklären Sie, warum Menschen rauchen. Die Anziehungskraft des Rauchens geht bei Teenagern teilweise auf soziale Belohnungen zurück – die Identifizierung mit und die Akzeptanz durch »coole« Menschen. Je nach genetischer Anlage wird 1 von 3 frühen Rauchern eine physiologische Abhängigkeit vom Nikotin entwickeln, die ebenso schwer zu bekämpfen ist wie die Abhängigkeit von Heroin oder Kokain. Indem Nikotin die Freisetzung von Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Opioiden auslöst, stillt es das unangenehm starke Verlangen nach Tabak und belohnt den Raucher.
Ziel 19: Erörtern Sie Methoden, wie man Rauchern helfen kann, mit dem Rauchen aufzuhören, oder verhindert, dass junge Leute überhaupt mit dem Rauchen anfangen. Viele Ansätze bieten Rauchern eine kurzfristige Hilfe dabei, mit dem Rauchen aufzuhören, doch die langfristigen Erfolge lassen auf sich warten. Hilfreiche Tipps für die Raucherentwöhnung sind u. a., sich einen Termin für das Aufhören zu setzen, die Familie und Freunde über die Entscheidung zu informieren und alle Zigaretten aus der Umgebung zu entfernen. Raucherentwöhnungsprogramme für junge Leute (1) informieren über die Auswirkungen des Rauchens, (2) bilden weiter über den Einfluss der Gleichaltrigen, der Eltern und der Medien und (3) setzen Modelllernen und Rollenspiel ein, um die Fähigkeit aufzubauen, etwas abzulehnen. Wenn man die Tabaksteuer erhöht, so wird der Verbrauch ebenfalls in wirksamer Weise gesenkt. Ziel 20: Erörtern Sie, welche adaptiven Vorteile es hat, wenn der Körper Fett speichert, und welche Nachteile dies heute hat. Fett ist eine konzentrierte Energiereserve. Und ein Körper, der diese Reserve abspeichern kann, kann sie in Zeiten von Hungersnöten nutzen. Diese Tendenz diente unseren Vorfahren, die ihre Nahrung sammelten und jagten, der Anpassung; sie ist aber für die modernen Menschen in einer Welt voller leicht verfügbarer Lebensmittel fehlangepasst. Zusammen mit einem Mangel an sportlicher Aktivität hat der Überfluss an Nahrungsmitteln mit vielen Kalorien zu einer hohen Adipositasrate geführt (definiert als Body Mass Index von 30 und mehr) mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Gallensteinen, Arthritis, Schlafstörungen und bestimmte Arten von Krebs. Ziel 21: Beschreiben Sie einige der sozialen Auswirkungen der Adipositas. Adipositas bedroht sowohl das Wohlbefinden als auch die körperliche Gesundheit. Adipöse Menschen, vor allem adipöse Frauen, stoßen auf Diskriminierung wegen ihres Körpergewichts, wenn sie sich auf eine Stelle bewerben, wenn sie einen Partner für eine Liebesbeziehung suchen und wenn sie mit der Familie interagieren. Ziel 22: Erörtern Sie einige Befunde der Forschung über die Rolle der Vererbung und der Umwelt als bestimmende Faktoren beim Körpergewicht. Studien mit Zwillingen und Adoptivkindern deuten darauf hin, dass Übergewicht zumindest teilweise ein vererbtes Merkmal ist. Aber die Gene haben nur einen Einfluss auf das Körpergewicht – sie legen es nicht fest. Beispielsweise verfügen einige Menschen über eine Anlage dafür, mehr und größere Fettzellen zu haben als andere Menschen. Bei einer adipösen Person jedoch sind die ursprünglichen Fettzellen zwei oder drei Mal so groß, und sie teilen sich dann (und veranlassen die benachbarten unreifen Fettzellen, sich zu teilen); dies ist ein nicht umkehrbarer Umwelteffekt. Menschen unterscheiden sich auch beim Grundumsatz; aber wenn jemand Gewicht in Form von Fettzellen zulegt, wird weniger Energie benötigt, um dieses Gewebe zu erhalten, als bei Muskelgewebe. Auch Umweltfaktoren sind wichtig, wie etwa die häufige Aufnahme kalorienreicher Nahrung und eine sitzende Lebensweise. Die Gene bestimmen am ehesten darüber, warum ein Mensch schwerer ist als ein anderer. Doch hauptsächlich die Umwelt sorgt dafür, dass ein Mensch heute schwerer ist, als sein Großvater es im selben Alter war. 6
16
742
Kapitel 16 · Stress und Gesundheit
Ziel 23: Erörtern Sie die Erfolgschancen eines übergewichtigen Menschen, der abnehmen möchte. Teilnehmer an strukturierten Programmen zum Abnehmen sind mit einer sehr hohen Misserfolgsquote konfrontiert; aber diese Personen stellen eine Gruppe mit einem besonders hohen Risiko dar (sie waren vielleicht, bevor sie sich für das Programm entschieden, nicht in der Lage, sich selbst zu helfen). Zudem deuten Umfragen darauf hin, dass 25–60% der Menschen, die einmal erheblich übergewichtig waren, mit Erfolg abgenommen und ihr Gewicht über mindestens 1 Jahr gehalten haben, einige sogar über 5 Jahre. Es gibt durchaus auch übergewichtige Menschen, die erkennen, dass Fettleibigkeit keine Frage der Willenskraft ist, und sich
dafür entscheiden, ihr Gewicht zu akzeptieren. Andere, die abnehmen möchten, können ihre Chancen verbessern, indem sie z.B. die Konfrontation mit verlockenden Hinweisreizen auf ein Minimum beschränken oder den Energieverbrauch durch sportliche Aktivität steigern. > Denken Sie weiter: Viele Staaten erheben eine hohe Tabaksteuer, um auf diese Weise mehr Menschen zu ermutigen, das Rauchen aufzugeben, und somit die Gesundheit zu fördern. Was halten Sie von dem Vorschlag von Brownell (1997), eine Steuer auf ungesunde Nahrungsmittel zu erheben, um ihren Konsum zu verringern? Erklären Sie Ihren diesbezüglichen Standpunkt.
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Worin bestehen die grundlegenden Zusammenhänge in unserem Stressreaktionssystem? 2. Nichtraucher werden, wie in diesem Kapitel berichtet, mit geringerer Wahrscheinlichkeit depressiv und geschieden. Um was für eine Art von Forschungsbefund handelt es sich hier? Und was mag die Erklärung dafür sein?
L Deutsche Literatur zum Thema Ehlert, U. (Hrsg.). (2003). Verhaltensmedizin. Heidelberg: Springer. Jerusalem, M. & Weber, H. (2003). Psychologische Gesundheitsförderung. Göttingen: Hogrefe. Kaluza, G. (2004). Stressbewältigung. Heidelberg: Springer. Renneberg, B. & Hammelstein, Ph. (2006). Gesundheitspsychologie. Heidelberg: Springer. Schwarzer, R., Jerusalem, M. & Weber, H. (2002). Gesundheitspsychologie von A bis Z. Göttingen: Hogrefe.
16
17 Klinische Psychologie: Psychische Störungen 17.1
Was sind psychische Störungen?
– 745
17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4
Definition – 745 Erklärungsansätze – 747 Klassifikation psychischer Störungen – 749 Probleme und Gefahren der Etikettierung – 753
17.2
Angststörungen – 756
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5
Generalisierte Angststörung und Panikstörung Phobien – 758 Zwangsstörung – 758 Posttraumatische Belastungsstörung – 759 Erklärungsansätze – 762
17.3
Affektive Störungen
17.3.1 17.3.2 17.3.3
Major Depression – 767 Bipolare Störung – 768 Erklärungsansätze – 769
17.4
Schizophrenie – 779
17.4.1 17.4.2 17.4.3
Symptome – 779 Subtypen – 781 Erklärungsansätze – 782
17.5
Persönlichkeitsstörungen
17.6
Prävalenz psychischer Störungen
– 757
– 767
– 788 – 791
Andere Kulturen, andere Perspektiven We share the story about the women called maniacs. Women who lived a long time ago. They were just country women, really, who got tired of cookin’ and cleanin’, takin’care of their husband and chirrun. Got tired of everybody else usin’ up what was supposed to be their Christine Lincoln (geb 1966), Aus »Sap Rising«
lives. So they met in the woods one night and had this dance. When the men found out, they got angry and tried to put an end to their women’s foolishness. But they couldn’t. The women rebelled. Started gatherin’every night. Before long, the men started cal-
lin’the women crazy, and started treatin’ them like they was, until the women began to believe it. Why is it when a man wants to be free, he’s just being a man, but when a woman wants to live life from the position of the birds, the first thing folks say is that she’s crazy?
744
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Klinische Psychologie: Psychische Störungen > Zu Hause in Indianapolis hatte ich jeden Sonntag das Bedürfnis, mein Zimmer 4 bis 5 Stunden lang zu putzen. Ich zog jedes Buch aus dem Bücherschrank, staubte es ab und stellte es wieder zurück. Damals tat ich das gerne. Dann wollte ich es nicht mehr tun, aber da konnte ich nicht mehr damit aufhören. Die Kleider in meinem Schrank hingen exakt zwei Finger breit voneinander entfernt . . . Ich machte ein Ritual daraus, vor dem Ausgehen die Wand zu berühren, weil ich dachte, es würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich es unterließe. Schon als Kind hatte ich diese ständige Angst. Damals sah ich mich zum ersten Mal dazu veranlasst, zu denken, ich könnte verrückt sein. Marc, Diagnose: Zwangsstörung (aus Summers 1996) Ich fühle mich immer dann niedergeschlagen, wenn ich mich selbst nicht mehr spüre. Ich kann keine Gründe dafür finden, mich zu mögen. Ich denke, dass ich hässlich bin. Ich denke, niemand mag mich . . . Ich werde reizbar und aufbrausend. Niemand möchte sich in meiner Nähe aufhalten. Ich fühle mich allein gelassen. Das Alleinsein bestätigt mich darin, hässlich zu sein und dass niemand mit mir zusammen sein mag. Ich denke, ich bin für alles, was schief geht, (selbst) verantwortlich. Greta, Diagnose: Depression (aus Thorne 1993) Ich hörte Stimmen. Sie hörten sich an wie das Gebrüll einer Menschenmenge. Ich fühlte mich wie Jesus; ich sollte gekreuzigt werden. Es war dunkel. Ich fuhr einfach damit fort, mich unter der Decke zusammenzurollen, fühlte mich schwach, lag entblößt und schutzlos in einer grausamen Welt, die ich nicht mehr verstehen konnte. Stuart, Diagnose: Schizophrenie (aus Emmons et al. 1997)
17
Menschen sind fasziniert von außergewöhnlichen, seltenen und abnormen Dingen. »Die Sonne scheint, wärmt uns und leuchtet für uns, und wir sind nicht neugierig darauf, zu erfahren, warum das so ist«, beobachtete der amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson. »Anders verhält es sich, wenn es darum geht, nach Gründen für alles Schlechte, Schmerzen, Hunger und [ungewöhnliche] Menschen zu suchen.« Aber was interessiert uns so an psychischen Krankheiten? Sehen wir in den betroffenen Menschen auch einen Teil von uns? In manchen Augenblicken fühlen, denken oder handeln wir alle genauso, wie es psychisch kranke Menschen oft tun. Auch wir fühlen uns ängstlich und niedergeschlagen, ziehen uns zurück, sind misstrauisch oder sehen merkwürdige Dinge. Wir machen das nur weniger intensiv und nicht dauerhaft. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Beschäftigung mit psychischen Störungen manchmal zu einer Art Selbsterkenntnis führt, die ein schauriges Gefühl in uns hervorruft und zugleich unsere eigene Persönlichkeitsdynamik beleuchtet. Nach William James (1842–1910) ist »die Beschäftigung mit dem Abnormen der beste Weg, um das Normale zu verstehen«. Ein weiterer Grund für unsere Neugier ist der, dass bereits viele von uns entweder am eigenen Leib oder bei Freunden oder Familienmitgliedern die Verwirrung und den Schmerz gespürt haben, der mit einer psychischen Störung verbunden ist. Die Störung geht mit unerklärlichen körperlichen Symptomen, mit irrationalen Ängsten oder dem Gefühl einher, dass das Leben nicht lebenswert ist. Die beiden Krankheiten, die in diesem Kapitel näher untersucht werden sollen, kommen in jeder der uns bekannten Kulturen vor: Depression und Schizophrenie (Castillo 1997; Draguns 1990a, b; 1997). Laut Bericht der Weltgesundheitsorganisation leiden ungefähr 450 Mio. Menschen weltweit unter psychischen Störungen, und darauf gehen vieleTodesfälle und Behinderungen zurück (WHO 2004). Fasst man über alle Menschen hinweg die Jahre, die durch die Erkrankung mit eingeschränkter Lebensführung verbracht werden, und die Jahre, um die sich die Lebenserwartung der Betroffenen verkürzt, zusammen, dann gehen 15,4% all dieser Lebensjahre auf das Konto psychischer Störungen – dieser Wert liegt nur knapp unter dem für Herz-KreislaufErkrankungen und sogar etwas über dem für Krebserkrankungen (Murray u. Lopez 1996). Nur wenige von uns werden im Laufe ihres Lebens nicht mit psychischen Störungen konfrontiert.
17
745 17.1 · Was sind psychische Störungen?
17.1
Was sind psychische Störungen?
Die meisten Menschen würden wohl zustimmen, dass jemand, der wochenlang zu depressiv ist, um zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Bett zu kommen, an einer psychischen Störung leidet. Doch was ist mit jenen, die nach einem Verlust nicht mehr imstande sind, ihre normalen sozialen Aktivitäten wieder aufzunehmen? Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen Traurigkeit und Depression, zwischen witziger Kreativität und bizarrer Irrationalität, zwischen Normalität und Abnormität? Lassen Sie uns mit den folgenden Fragen beginnen: 4 Wie sollen wir psychische Störungen definieren? 4 Mit welchem Konzept sollen wir an eine Störung herangehen: Handelt es sich um Krankheiten, die diagnostiziert und geheilt werden müssen oder um natürliche Reaktionen auf schwierige Umweltbedingungen? 4 Wie sollten wir psychische Störungen klassifizieren? Und können wir das überhaupt in einer Art und Weise tun, die es uns ermöglicht, Menschen zu helfen, ohne sie durch bestimmte Krankheitsbezeichnungen zu stigmatisieren?
17.1.1
Definition
Ziel 1: Geben Sie Kriterien an, nach denen wir beurteilen können, ob ein Verhalten psychisch gestört ist.
Stimme zu – und du bist gesund – Widersprich – und schon bist du gefährlich – und wirst an eine Kette gelegt.
Standards für abweichendes Verhalten sind von Kultur zu Kultur und von Kontext zu Kontext unterschiedlich. In manchen Kulturen durchaus übliche Verhaltensweisen können in anderen als Grund für eine Inhaftierung gelten (wie z. B. nackt herumzulaufen). Während eines Krieges kann sogar eine Massentötung als normal oder sogar heldenhaft angesehen werden. Stuart behauptete, Stimmen zu hören, und andere Menschen nahmen an, dass er verrückt war. Im Gegensatz dazu gibt es etwa Leute, die behaupten, mit den Toten reden zu können, und die nicht als psychisch gestört betrachtet werden, da genug Menschen dies für vernünftig halten (Friedrich 1987). Auch die Standards dafür, was eine Abweichung ist, sind von Zeit zu Zeit unterschiedlich. Von 1952 bis zum 9. Dezember 1973 galt die Homosexualität in den USA als Krankheit. Mit Beginn des 10. Dezembers änderte sich das plötzlich, die American Psychiatric Association strich die Homosexualität von ihrer Liste der Krankheiten, weil ein immer größerer Teil ihrer Mitglieder es nicht mehr als ein psychisches Problem ansah, wenn jemand schwul war. (Später zeigte die Forschung, dass jedoch das Stigma und der Stress, der damit verbunden war, dass jemand schwul ist, das Risiko für seelische Gesundheitsprobleme höher werden lassen [Meyer 2003]). In unserem neuen Jahrhundert gibt es eine heftige Kontroverse darüber, dass bei Kindern die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung so häufig gestellt wird (7 Kritisch nachgefragt: »ADHS – die Pathologisierung von Wildheit oder eine echte Störung?«). Doch zu einer Störung gehört mehr, als nur abweichend zu sein. Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen weichen in Bezug auf ihre körperlichen Fähigkeiten von der Norm ab, aber sie haben ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Damit ein abweichendes Verhalten als gestört angesehen wird, muss es die betreffende Person auch in arge Bedrängnis bringen. Marc, Greta und Stuart waren eindeutig verzweifelt über ihre Verhaltensweisen. Abweichendes und verzweifeltes Verhalten wird eher als gestört angesehen, wenn man es auch als dysfunktional beurteilt. Beispielsweise störten die ablenkenden Zwangshandlungen Marc bei
Psychische Störung (psychological disorder): Verhaltens- und Erlebensweise eines Menschen, die von der Norm abweicht und für die betroffene Person oder die Gesellschaft mit Beeinträchtigungen verbunden ist. Sie ist gekennzeichnet durch ein atypisches, störendes, unangepasstes und rational nicht zu rechtfertigendes Verhalten.
Tiziana and Gianni Baldizzone/Corbis
Menschen, die mit psychisch Kranken arbeiten, betrachten psychische Störungen als dauerhaft schädliche Gedanken, Gefühle und Handlungen. Wenn ein Verhalten abweichend, quälend und dysfunktional ist, bezeichnen es Psychiater und Psychologen als gestört (Comer 2004). Allein die Tatsache, sich innerhalb einer Kultur von den meisten anderen Menschen zu unterscheiden, kann schon zur Definition einer psychischen Störung herangezogen werden. 1862 beobachtete die öffentlichkeitsscheue Dichterin Emily Dickinson Folgendes:
Kultur und Normalität Die Männer des Wodaabe-Stamms legen ein kunstvoll gemachtes Makeup auf und ziehen Kostüme an, um für Frauen attraktiv zu wirken. In westlichen Ländern würde ein solches Verhalten als Normbruch aufgefasst und als abnorm eingestuft
746
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Kritisch nachgefragt
ADHS – die Pathologisierung von Wildheit oder eine echte Störung? Der 8-jährige Michael ist immer schon energiegeladen gewesen. Zu Hause schießt er von einer Aktivität zur nächsten; selten nur setzt er sich hin und liest ein Buch oder konzentriert sich auf ein Spiel. Bei den Mahlzeiten redet er übermäßig viel und beantwortet oft die Fragen, bevor sie zu Ende gestellt sind. Beim Spielen ist er leichtsinnig und reagiert in übertriebener Weise auf Spielkameraden, die mit ihm zusammenstoßen oder ihm eines seiner Spielzeuge wegnehmen. In der Schule beklagt sich die aufgebrachte Lehrerin darüber, dass der zappelige Michael nicht hört bzw. nicht ihren Anweisungen folgt; er könne anscheinend einfach nicht sitzen bleiben und das machen, was man ihm aufträgt. Wenn man Michael von einem Psychologen oder Psychiater begutachten ließe, würde der heutzutage noch viel eher als vor 2 Jahrzehnten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) attestieren. Nach dem National Institute of Mental Health (2003) quälen sich 4% der Kinder damit ab, die eines oder mehr der 3 folgenden Schlüsselsymptome aufweisen: 5 Unaufmerksamkeit: Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Desorganisiertheit. 5 Hyperaktivität: Zappeligkeit, Ruhelosigkeit und Unfähigkeit, ruhig sitzen zu bleiben, sowie übermäßiges Reden. 5 Impulsivität: Schwierigkeiten, abzuwarten, bis man an der Reihe ist, Unterbrechungen, Herausplatzen mit Antworten, während die Frage noch gestellt wird.
17
Für Skeptiker hört sich die Tatsache, dass jemand ablenkbar, zappelig und impulsiv ist, wie eine »Störung« an, die auf eine einzelne genetische Variation zurückgeht, auf das Y-Chromosom. Und es ist auch so, dass die Diagnose ADHS zwei- bis dreimal häufiger bei Jungen gestellt wird als bei Mädchen. Führen energiegeladene Kinder und langweilige Schulen zur Überdiagnostizierung von ADHS? Wird das Etikett für gesunde Schulkinder verwendet, die in einer natürlicheren Umgebung draußen völlig normal wirken würden? Skeptiker stimmen dem zu. Im Jahrzehnt nach 1987, merken sie an, hat sich der Anteil amerikanischer Kinder, die aufgrund von ADHS behandelt werden, nahezu vervierfacht (Olfson et al. 2003). Anlässlich einer Gallup-Umfrage unter 13- bis 17-Jährigen im Jahr 2005 gaben 10% an, verschriebene Medikamente gegen ADHS zu nehmen (Mason 2005). In einigen Gegenden ist die Diagnose stark verbreitet, in anderen eher selten. Kleinkinder, die viel fernsehen, zeigen im Alter von 7 Jahren mehr ADHSSymptome als Kleinkinder, die dies nicht tun. Einige Lehrer schicken viele Kinder zu einer Überprüfung auf ADHS, andere gar keine. Die relativen Häufigkeiten unterscheiden sich in den einzelnen Kreisen des US-Bundesstaates New York um das Zehnfache (Carlson 2000). Auch Erwachsene akzeptieren heutzutage die ADHS-Diagnose für sich bereitwillig und haben auf diese Weise, wie die Skeptiker anmerken, eine praktische Ausrede für ein Schulversagen in der Vergangenheit, für Schwierigkeiten bei der Berufsausbildung und für einen Mangel an Selbstdisziplin. Obwohl die World Federation for Mental Health (2003) diagnostische Subjektivität und Inkonsistenz einräumt – ADHS ist nicht so objek-
tiv definiert wie ein gebrochener Arm –, gab sie folgende Erklärung heraus: »In der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft stimmt man allgemein darin überein, dass ADHS eine reale neurobiologische Störung ist, über deren Existenz nicht mehr diskutiert werden sollte.« Das National Institute of Mental Health (1999, 2003) pflichtet dem bei: ADHS ist erblich. Die Störung ist bei Studien mit Hilfe von bildgebenden Verfahren auch durch eine verräterische Hirnaktivität gekennzeichnet, merkt ein Konsenspapier von 75 Wissenschaftlern an (Barkley et al. 2002). Sie wird nicht durch zu viel Zuckerkonsum oder durch schlechte Schulen verursacht. Sie tritt oft zusammen mit einer Lernstörung oder mit einem abweichenden und zu Wutausbrüchen neigenden Verhalten auf. Sie ist behandelbar mit Hilfe von nicht abhängig machenden Medikamenten wie Ritalin und das in Deutschland nicht zugelassene Adderall; hier handelt es sich um Stimulanzien, die jedoch die Hyperaktivität vermindern und die Konzentrationsfähigkeit fördern. Psychologische Therapien, die sich darauf konzentrierten, das Verhalten im Klassenzimmer und zu Hause durch Shaping zu formen, waren hilfreich dabei, die durch ADHS ausgelöste Verzweiflung anzugehen. Und die Tatsache, dass die Diagnose heute häufiger gestellt wird, kann Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für die Störung sein, vor allem in Gegenden, in denen die Diagnose verbreiteter ist. In der neueren Forschung versucht man, ADHS objektiver zu erheben. Zu den Messverfahren gehören physische Maße der Zappeligkeit, ein Gerät zur Erfassung der Augenbewegungen, mit dessen Hilfe die Fähigkeit gemessen wird, sich auf Lichtpunkte zu konzentrieren und ihnen zu folgen, sowie neurologische bildgebende Verfahren (Ashtari et al. 2004; Pavlidis 2005; Teicher 2002). Weil andere Forscher erkannt haben, dass etwa 80% der Kinder, die ein Medikament gegen ADHS bekommen, es als Teenager weiterhin nehmen müssen (wie es auch bei 50% im Erwachsenenalter der Fall ist), erforscht man jetzt die langfristigen Auswirkungen derVerabreichung von Stimulanzien. Anscheinend vertragen die Menschen die langfristige Einnahme, ohne erhöhtes Risiko medikamentenabhängig zu werden (Biederman et al. 1999); andere mögliche Auswirkungen werden jedoch noch untersucht. In einer Studie gab man Ratten über einen längeren Zeitraum zu einem frühen Zeitpunkt im Leben eine Dosis Ritalin, die mit der vergleichbar ist, die Kindern verschrieben bekommen. Als man den Ratten das Medikament zu einem späteren Zeitpunkt ihres Lebens entzog, neigten sie (im Vergleich zu anderen Ratten in einer Kontrollgruppe) stärker zu depressiven Symptomen und dazu, früh aufzugeben, wenn sie mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert wurden (Carlezon et al. 2003). Zusammenfassung: Extreme Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität können dazu führen, dass soziale, schulische und berufliche Leistungen kippen, und diese Symptome können mit Hilfe von Stimulanzien behandelt werden. Aber die Diskussion darüber geht weiter, ob eine normale Wildheit zu oft als psychiatrische Störung diagnostiziert wird und ob die Nachteile der langfristigen Einnahme von Stimulanzien bei der Behandlung von ADHS überwiegen.
747 17.1 · Was sind psychische Störungen?
17
seiner Arbeit und in seiner Freizeit. Daran gemessen können selbst typische Verhaltensweisen wie die gelegentliche Mutlosigkeit, die viele Studierende empfinden, ein Signal für eine psychische Störung sein, wenn sie einen Menschen arbeitsunfähig machen. Dysfunktion ist der Schlüsselbegriff, wenn man definieren will, was eine Störung ist: Eine starke Angst vor Spinnen ist möglicherweise abweichend, doch wenn sie einen Menschen nicht in seinem Leben beeinträchtigt, handelt es sich nicht um eine Störung. Gestörtes Verhalten kann auch gefährlich sein. Wenn Gretas Depression stärker wird und bei ihr Selbstmordgedanken aufkommen, kann es sein, dass man sie als Gefahr für sich selbst ansehen muss.
John W. Verano
Erklärungsansätze
Ziel 2: Stellen Sie das medizinische Modell für psychische Störungen dem biopsychosozialen Ansatz zu gestörtem Verhalten gegenüber.
Früher nahmen die Menschen häufig an, dass rätselhafte Verhaltensweisen das Werk unbekannter Gewalten seien, und zogen z. B. die Bewegung der Sterne, gottähnliche Mächte oder böse Geister zur Erklärung heran. Hätten Sie im Mittelalter gelebt, hätten Sie vielleicht gesagt: »Der Teufel ließ ihn das tun.« Die Heilung hätte dann vielleicht darin bestanden, diese bösen Kräfte loszuwerden, indem man die höheren Mächte besänftigt oder aber den Dämon austreibt. Bis vor 2 Jahrhunderten wurden »verrückte« Menschen manchmal unter Bedingungen wie im Zoo eingesperrt oder »Therapien« unterzogen, die auf einen Dämon gemünzt waren: Schlagen, Verbrennung oder Kastration. In noch früheren Zeiten hätte zur Behandlung das Ziehen von Zähnen, das Entfernen von Darmschlingen, das Ausbrennen der Klitoris und die Verabreichung von Tierbluttransfusionen gehört (Farina 1982).
Medizinisches Modell Als Gegner dieser brutalen Behandlungen bestanden Reformer wie z. B. Philippe Pinel (1745– 1826) in Frankreich darauf, dass Verrücktheit keine Dämonenbesessenheit, sondern eine Erkrankung des Geistes war, verursacht durch starke Belastungen und unmenschliche Bedingungen. Für Pinel und andere Reformer bedeutete eine »ethische Behandlung« der Patienten, sie von ihren Fesseln zu befreien, mit ihnen zu reden und die Brutalität durch Freundlichkeit, die Isolation durch Aktivität und den Schmutz durch saubere Luft und Sonnenschein zu ersetzen. Als Ärzte später entdeckten, dass Syphilis das Gehirn schädigt und den Verstand zerstört, wendeten sich Gesundheitsreformer und medizinisches Personal wieder den körperlichen Ursachen für seelische Störungen zu und natürlich auch den Behandlungen, die Heilung versprachen. Im 19. Jahrhundert war die Annahme des medizinischen Modells – dass psychische Störungen Krankheiten sind – die Triebkraft für eine weitere Reform, bei der Krankenhäuser die Irrenanstalten ersetzten. Heutzutage zeigt sich der medizinische Ansatz deutlich in der Terminologie der Psychiatrie: Eine psychische Erkrankung muss aufgrund ihrer Symptome diagnostiziert und durch eine Therapie geheilt werden, zu der auch eine Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehören kann. Heute spricht man allerdings von psychischen Störungen statt von psychischen Krankheiten. Durch die neuesten Entdeckungen gewinnt die medizinische Perspektive immer mehr an Glaubwürdigkeit. Wie wir noch sehen werden, tragen genetisch beeinflusste Abnormitäten in der Hirnstruktur und Biochemie zu einigen Störungen bei. »Seelische Krankheiten sind diagnostizierbare Störungen des Gehirns«, wurde in einer Darstellung des Sachstands über psychische Störungen für das Weiße Haus 1999 festgestellt. Zwei der problematischsten Störungen, nämlich die Depression und die Schizophrenie, werden häufig medizinisch behandelt. Wir werden aber sehen, dass auch psychische Faktoren, wie z. B. traumatischer Stress, eine wichtige Rolle spielen.
»Behandlung« von gestern Zu anderen Zeit und an anderen Orten waren psychisch gestörte Menschen manchmal einer brutalen Behandlung ausgesetzt; dazu gehörte auch die Trepanation (Öffnung des Schädels), wie man sie hier an einem Schädel aus der Steinzeit sehen kann. Derartige Löcher sind vielleicht bei dem Versuch, böse Geister zu befreien und Personen mit psychischen Störungen zu heilen, in den Schädel gebohrt worden. Dieser Patient kann die Heilung überlebt haben, möglicherweise aber auch nicht
Medizinisches Modell (medical model): Konzept, dass Krankheiten auf physischen Ursachen beruhen. Die Krankheiten können diagnostiziert, behandelt und in den meisten Fällen auch geheilt werden. Wird es auf psychische Störungen angewandt, so setzt das medizinische Modell voraus, dass diese seelischen Krankheiten auf der Basis ihrer Symptome diagnostiziert und durch Therapien geheilt werden können; dazu kann auch die Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehören.
»Moralische Behandlung« Unter dem Einfluss von Philippe Pinel wurden die ersten geisteskranken Patienten im Pariser Spital Bicêtre von ihren Ketten befreit und es setzte sich eine menschlichere Behandlung durch
Bettmann/Corbis
17.1.2
748
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Biopsychosozialer Ansatz »Wer kann eine Linie im Regenbogen ziehen, wo das Violett endet und das Orange beginnt? Sehen können wir den Unterschied der Farben deutlich, doch wo genau vermischt sich die eine mit der anderen? So ist es auch mit geistiger Gesundheit und Geisteskrankheit.« Herman Melville (»Billy Bud«, 1924/2002)
»Es ist kein Maß für Gesundheit, in einer zutiefst kranken Gesellschaft gut angepasst zu sein.« Jiddu Krishnamurti (1895–1986)
Die Psychologen von heute behaupten, dass jegliches Verhalten, ganz unabhängig davon, ob es als normal oder gestört angesehen wird, auf einer Wechselwirkung von Anlage (genetische und physiologische Faktoren) und Umwelt (vergangene und gegenwärtige Lernerfahrungen) beruht. Die Annahme, dass ein Mensch »geisteskrank« ist, führt diesen Zustand allein auf ein inneres Problem zurück, nämlich auf eine »Krankheit«, die gefunden und geheilt werden muss. Es könnte aber auch sein, dass es überhaupt kein tiefes inneres Problem gibt. Vielleicht liegt stattdessen eine schwerwiegende Beeinträchtigung in der Umwelt dieses Menschen vor, die sein Wachstum hemmt, oder es handelt sich um ein Problem, das durch die gegenwärtigen Bewertungen von Lebensereignissen oder durch schlechte Gewohnheiten und geringe soziale Fähigkeiten verursacht wird. Umwelteinflüsse lassen sich nachweisen, wenn man Zusammenhänge zwischen der psychischen Störung und der jeweiligen Kultur findet. Wie wir schon festgestellt haben, treten einige der wichtigsten Störungen wie Depression und Schizophrenie überall auf der Welt auf. Von Asien bis nach Afrika und über Nord- und Südamerika hinweg gehören irrationales Denken und inkohärente Sprache oft zu den Symptomen der Schizophrenie (Brislin 1993; Draguns 1990b). Andere Störungen sind kulturabhängig (Beardsley 1994; Castillo 1997). In jeder Kultur gibt es spezifische Quellen für Stress und auch unterschiedliche Strategien, damit umzugehen. Anorexie und Bulimie z. B. sind Störungen, die zumeist in westlichen Kulturen auftreten (7 Kap. 12). »Susto«, gekennzeichnet durch massive Ängste, Rastlosigkeit und Furcht vor schwarzer Magie, findet man in Lateinamerika. Unter »Taijin-kyofusho« versteht man das Auftreten sozialer Ängste, die sich auf das eigene Aussehen beziehen; es tritt in Verbindung mit der Bereitschaft zu erröten und einer Furcht vor Blickkontakten auf. Diese Störung kommt in Japan vor. All diesen Störungen liegt möglicherweise dieselbe Dynamik zugrunde (beispielsweise Angst), sie unterscheiden sich jedoch in ihren Symptomen (z. B. ein Essproblem oder eine besondere Furcht), die sich in einer bestimmten Kultur manifestieren. ! Heute gehen die meisten Fachleute im psychiatrischen Bereich davon aus, dass psychische Störungen von genetischen Prädispositionen und physiologischen Zuständen beeinflusst werden, zudem von einer inneren psychischen Dynamik sowie von den spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen.
Biopsychosozialer Ansatz (bio-psycho-social perspective): moderner Ansatz, in dem davon ausgegangen wird, dass biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren bei der Entstehung psychischer Störungen zusammenwirken und interagieren.
17
. Abb. 17.1. Der biopsychosoziale Ansatz bei psychischen Störungen Die heutige Psychologie untersucht, wie biologische, psychologische und soziale Faktoren bei der Entstehung spezifischer psychischer Störungen interagieren
Um das ganze Bild einer Störung zu verstehen, müssen wir uns des biopsychosozialen Ansatzes bedienen (. Abb. 17.1), der anerkennt, dass sich Körper und Geist nicht voneinander trennen lassen. Negative Emotionen tragen zu körperlichen Erkrankungen bei, und körperliche Abnormitäten führen zu emotionalem Unbehagen. Unsere Seele ist letztlich ein Teil unseres Körpers und umgekehrt.
749 17.1 · Was sind psychische Störungen?
17.1.3
17
Klassifikation psychischer Störungen
Ziel 3: Beschreiben Sie Ziele und Inhalt des DSM-IV.
Innerhalb der Biologie und anderer wissenschaftlicher Bereiche trägt die Klassifikation zu einer gewissen Ordnung bei. Wird ein Tier als Säugetier klassifiziert, sagt das eine Menge aus: dass es sich beispielsweise um einen Warmblüter handelt, es Haare oder einen Pelz hat und seine Jungen mit Milch ernährt. Auch innerhalb der Psychiatrie und Psychologie werden Symptome mit Hilfe eines Klassifikationssystems beschrieben und zugeordnet. Wird die psychische Störung eines Menschen als Schizophrenie bezeichnet, bedeutet dies, dass dieser Mensch inkohärent spricht, halluziniert oder einen Wahn (bizarre Vorstellungen) hat, entweder wenig oder unangemessene Emotionen zeigt oder sich von den Menschen zurückgezogen hat. Die Diagnose Schizophrenie ermöglicht eine praktische Kurzzusammenfassung für die Beschreibung einer komplexen Störung. ! Innerhalb der Psychiatrie und Psychologie zielt die diagnostische Klassifikation nicht ausschließlich darauf ab, eine Störung zu beschreiben. Sie dient auch der Vorhersage des zukünftigen Verlaufs, schließt eine bestimmte Form der Behandlung ein und regt die Forschung nach den Ursachen an.
Tatsächlich müssen wir eine Störung zuerst benennen und beschreiben, um sie untersuchen zu können. Ein von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenes »Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen (4. Ausgabe)« [»Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Fourth Edition)«; dtsch. Saß et al. 1996], kurz DSM-IV genannt, und das Kapitel V der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen »Internationalen Klassifikation der Krankheiten« (»International Classification of Diseases«; dtsch. Dilling et al. 1994) in der 10. Version, kurz ICD-10, sind die momentan richtungweisenden Systeme für die Klassifikation psychischer Störungen. Sie überschneiden sich in ihren aktuellen Fassungen in vielen Bereichen. Beide Schemata sind kategoriale Systeme, die auf einer Gruppierung von Symptomen beruhen, die wiederum zu einem System von Kategorien zusammengefasst werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es eine sinnvolle Gruppierung der zu diagnostizierenden Phänomene (z. B. aufgrund einer gemeinsamen Ätiologie oder durch überzufälliges gemeinsames Auftreten) gibt und qualitative Unterschiede zwischen diesen Gruppen bestehen. Die ICD wurde bereits 1853 erstmals veröffentlicht und liegt seit 1992 (klinisch-diagnostische Leitlinien) bzw. 1994 (Forschungskriterien) in der 10. Revision vor. Alle 10 bis 15 Jahre erscheint eine neue Revision. Das DSM wurde erstmals 1952 in Anlehnung an die ICD-6 (1948) entwickelt und liegt seit 1994 in der Version DSM-IV vor. Diese Ausgabe des DSM wurde aber inzwischen auch schon aktualisiert und ist als überarbeitete Version DSM-IV-TR (»Text revisited«) erhältlich. Das DSM wird noch gründlicher revidiert werden und ca. 2011 als DSM-V erscheinen. Während die ICD im internationalen Konsens von Fachgesellschaften entwickelt wurde, ist das DSM der APA ein rein amerikanisches System, dessen Akzeptanz jedoch international inzwischen sehr hoch ist. In der klinischen Praxis werden außerhalb der USA häufig eher die ICD-Diagnosen angewandt, in der Forschung werden beide Systeme international eingesetzt (Keller 2000). Für den Einsatz der Systeme gibt es auch finanzielle Notwendigkeiten: Die meisten Krankenversicherungen Nordamerikas verlangen eine DSM-IV-Diagnose, bevor sie eine Therapie bezahlen. In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet, eine Diagnosedokumentation mit Hilfe von ICD-10-Schlüsselnummern vorzunehmen.
DSM-IV Das DSM wird als multiaxiales Klassifikationssystem bezeichnet, da die Kodierung auf 5 Achsen erfolgt (. Tabelle 17.1). Jede Achse bezieht sich auf einen anderen Bereich von Informationen, die dem Untersucher bei der Behandlungsplanung und Prognose helfen können. Auf Achse I erfolgt die Klassifikation psychischer Störungen, die im DSM-IV in 15 diagnostische Hauptgruppen und zusätzliche »andere klinisch relevante Probleme« eingeteilt werden:
DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders): »Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (4. Ausgabe)« der American Psychiatric Association, ein weithin genutztes System zur Klassifikation psychischer Störungen; gegenwärtig erhältlich in einer aktualisierten Überarbeitung, der Textrevision DSM-IV-TR. ICD-10: »International Classification of Diseasess«, von der WHO herausgegebenes Klassifikationssystem; in Kapitel V werden psychische Störungen klassifiziert (F-Diagnosen)
750
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Tabelle 17.1. Multiaxiales Klassifikationsschema des DSM-IV (nach Saß et al. 1998, S. 39)
Achse
Inhalt
Achse I
Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme
Achse II
Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung
Achse III
Medizinische Krankheitsfaktoren
Achse IV
Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme
Achse V
Globale Beurteilung des Funktionsniveaus
4 Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden (außer geistige Behinderung = Achse II) 4 Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive Störungen 4 Psychische Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors 4 Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen (7 Kap. 7) 4 Schizophrenie und andere psychotische Störungen (7 Abschn. 17.4) 4 Affektive Störungen (7 Abschn. 17.3) 4 Angststörungen (7 Abschn. 17.2) 4 Somatoforme Störungen 4 Vorgetäuschte Störungen (absichtlich erzeugt) 4 Dissoziative Störungen (7 »Kritisch hinterfragt« in Abschn. 17.2.5) 4 Sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen (7 Kap. 12) 4 Essstörungen (7 Kap. 12) 4 Schlafstörungen (7 Kap. 7) 4 Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert 4 Anpassungsstörungen 4 Andere klinisch relevante Probleme
Neurotische Störung (neurotic disorder): psychische Störung, die normalerweise zwar belastend ist, aber dennoch rationales Denken und soziale Funktionsfähigkeit ermöglicht.
17
Psychotische Störung (psychotic disorder): psychische Störung, bei der der Patient den Kontakt zur Realität verliert. Er erlebt irrationale Gedanken und Wahrnehmungsverzerrungen.
Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung werden auf Achse II kodiert, um zu gewährleisten, dass das Vorliegen solcher Störungen nicht übersehen wird, auch wenn »sich die Aufmerksamkeit auf die normalerweise auffälligeren Achse-I-Störungen konzentriert« (Saß et al. 1996). Die einzelnen Störungen werden detailliert anhand ihrer Symptome, deren Dauer und Intensität beschrieben, die Häufigkeit des Auftretens wird aufgelistet. Da trotz der Klassifikation die Störungen in der Praxis sehr uneinheitlich auftreten, ist es laut DSM nur erfordlich, dass Personen lediglich eine Teilmenge der aufgelisteten Symptome aufweisen, um die Störung zu diagnostizieren (z. B. 4 von 7 Symptomen). Im DSM wird nicht angenommen, auch die Ursachen der Erkrankungen erklären zu können, d. h. es werden keine ätiologischen Kriterien verwendet. Im DSM-IV werden auch neurotische Störungen erwähnt: Damit sind psychische Störungen gemeint, die, obgleich belastend, einen Menschen immer noch rational denken lassen und ihm ermöglichen, in der Gesellschaft funktionsfähig zu sein. Der Begriff selbst ist allerdings so vage, dass Psychologen ihn nur selten benutzen, in der Regel wird er verwendet, um einen Kontrast zu den bizarreren und stärker beeinträchtigenden psychotischen Störungen herzustellen, die von Irrationalität gekennzeichnet sind.
751 17.1 · Was sind psychische Störungen?
17
Unter der Lupe
Das Anti-DSM: Ein diagnostisches Manual menschlicher Stärken
Mut (um Widerständen zu begegnen)
Eine Facette der sich schnell ausbreitenden positiven Psychologie (7 Kap. 14) ist das von Peterson u. Seligman (2004) geprägte Bestreben, ein Klassifikationssystem für menschliche Stärken (Ressourcen) und positive Eigenschaften zu schaffen. Beide Forscher weisen auf die Nützlichkeit eines Manuals zur Ordnung und Definition schädigender Störungen hin. Warum sollte man dann nicht auch ein Begleitmanual haben, das in einer ähnlichen Weise menschliche Ressourcen, Denk-, Gefühls- und Handlungstendenzen ordnet und definiert, die einen Beitrag zu einem guten Leben für sich selbst und für andere leisten? Wie im DSM-IV wird auch im Handbuch für die Klassifikation von Stärken (»The Values in Action Classification of Strengths«; kurz »VIA«) das Fachwissen vieler verschiedener Forscher berücksichtigt, indem für das kulturübergreifende Verständnis und die zukünftige Beschäftigung mit Ressourcen ein gemeinsames Vokabular vorgeschlagen wird. Wie aus dem DSM wird man auch aus dem VIA-Manual diagnostische Strategien und Fragebögen entnehmen können, die den Forschern bei der Erhebung von 24 Ressourcen, unterteilt in 6 verschiedene Gruppen, helfen sollen:
5 5 5 5
Lebenserfahrung und Wissen 5 5 5 5 5
Neugierde Wissensdurst Kritische Urteilsfähigkeit und Offenheit Kreativität Entwicklung von Zukunftsperspektiven (entwickelt aus Lebenserfahrungen)
Tapferkeit/Mut Fleiß und Ausdauer Integrität und Aufrichtigkeit Lebensfreude (Begeisterungsfähigkeit und Enthusiasmus)
Liebe 5 Freundlichkeit 5 Beziehungsfähigkeit 5 Soziale Intelligenz
Gerechtigkeit 5 Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein als Bürger, Teamfähigkeit 5 Faire Haltung und Ausgewogenheit 5 Führungsqualitäten
Beherrschung 5 5 5 5
Bescheidenheit Selbstkontrolle Umsicht und Vorsicht Fähigkeit, zu vergeben und Mitgefühl zu empfinden
Transzendenz 5 5 5 5 5
Schönheit wertschätzen, Ehrfurcht empfinden, staunen Dankbarkeit Hoffnung und Optimismus Verspieltheit und Humor Spiritualität und Sinn des Lebens
ICD-10 Die ICD-10, die Internationale Klassifikation der Krankheiten, umfasst im Gegensatz zum DSM auch sämtliche körperliche Erkrankungen. Auf die »psychischen Störungen und Verhaltensstörungen« bezieht sich lediglich das Kapitel V, in dem die psychischen Störungen mit den sog. F-Diagnosen kodiert werden. Jeder Störung wird eine Diagnosenummer mit dem Buchstaben F (Psychische Störung) und 4 Ziffern (teils auch 5) zugeordnet (. Tabelle 17.2) Auch mit der ICD-10 kann eine Kodierung auf mehreren Achsen vorgenommen werden, dabei umfasst Achse I klinische Diagnosen (psychische und somatische Störungen), Achse II soziale Funktionseinschränkungen und Achse III umgebungs- und situationsabhängige Ereignisse oder Probleme der Lebensführung und Lebensbewältigung. Generell gibt es in den aktuellen Revisionen nur noch sehr wenige Unterschiede zwischen dem DSM-IV und der ICD-10. Die Operationalisierung des DSM ist etwas differenzierter in Bezug auf die Zeitkriterien und die Anzahl benötigter Symptome. Auch gilt als Eingangskriterium stets, dass beim DSM eine bedeutsame Beeinträchtigung oder Leiden in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen bestehen muss. Das heißt: Die Schwelle für pathologische Formen von Symptomen liegt im DSM höher.
Nutzen und Gefahren der Klassifikationssysteme Die Kategorien von Klassifikationssystemen sind nur dann hilfreich und nützlich, wenn sie auch reliabel sind. Wenn ein Psychiater oder Psychologe bei jemandem z. B. die Diagnose »katatone Schizophrenie« stellt, wie groß sind dann die Chancen, dass auch ein anderer Spezialist für psychische Erkrankungen unabhängig davon dieselbe Diagnose vergibt? Mit den diagnostischen Richtlinien von ICD-10 und DSM-IV stehen die Chancen gut. Zudem wurden zu beiden Klassifikationssystemen strukturierte Interviews entwickelt, um die systematische Anwendung der Sys-
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Systeme können in »Cross-walk ICD-10 – DSMIV« (Schulte-Markwort et al. 2002) genau nachvollzogen werden.
752
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Tabelle 17.2. ICD-10, Kapitel V: Psychische Störungen und Verhaltensstörungen (F00-F99)
17
Kodierung
Kategorien
Störungen
F00–F09
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
Demenzen, organisches amnestisches Syndrom, Delir, Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F10–F19
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
Akute Intoxikation, schädlicher Gebrauch (z. B. amnestisches Syndrom, KorsakoffSyndrom)
F20–F29
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
Schizophrenie, schizotype Störung, akute vorübergehende psychotische Störungen, schizoaffektive Störungen
F30–F39
Affektive Störungen
Manische Episode, Bipolare affektive Störung, Depressive Episode, Rezidivierende depressive Störung
F40–F49
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Phobische Störung, sonstige Angststörungen, Zwangsstörung, Reaktionen auf starke Belastung und Anpassungsstörung, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen
F50–F59
Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren
Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, psychogene Essattacken), nichtorganische Schlafstörungen, nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen
F60–F69
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Persönlichkeitsstörungen, Störungen der Impulskontrolle (pathologisches Spielen, Pyromanie), Störungen der Geschlechtsidentität, Störungen der Sexualpräferenz
F70–F79
Intelligenzminderung
Leichte, mittelgradige, schwere, schwerste Intelligenzminderung
F80–F89
Entwicklungsstörungen
Sprechen/Sprache, schulische Fertigkeiten (Lese-Rechtschreib-Schwäche), tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autismus, Asperger-Syndrom)
F90–F98
Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Hyperkinetische Störungen, Störung des Sozialverhaltens, emotionale Störungen des Kindesalters, Ticstörungen, Enuresis etc.
F99
Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
Psychische Störungen ohne nähere Angabe
teme zu ermöglichen. Diese stellen einen konstruktiven Versuch dar, auf die zuvor unzureichende Übereinstimmung zwischen verschiedenen Diagnostikern zu reagieren. Diese Richtlinien und Interviews gehen so vor, dass sie dem Kliniker eine Reihe objektiver Fragen zu beobachtbaren Verhaltensweisen stellen. So eine Frage könnte z. B. lauten: »Fürchtet sich die Person davor, das Haus zu verlassen?« In einer Studie verwendeten 16 Psychologen ein strukturiertes Interview (SCID; »Structured Clinical Interview for DSM«), um 75 psychiatrische Patienten zu diagnostizieren, die unter einer Depression, einer generalisierten Angststörung oder anderweitigen Störungen litten (Riskind et al. 1987). Ohne die Diagnose des zuerst untersuchenden Psychologen zu kennen, schaute sich der zweite eine Videokassette an, auf der jedes Interview mit dem Patienten aufgezeichnet war, und gab eine zweite Einschätzung ab. Bei 83% der Patienten stimmten die beiden Einschätzungen überein. Bei beiden Klassifikationssystemen ist jedoch wichtig: Die richtige Anwendung erfordert ein spezifisches klinisches Training, beide Systeme kann man nicht einfach mechanistisch anwenden, sondern sie sollen ein klinisches Urteil unterstützen, bei dem auch die Erfahrung berücksichtigt wird. Allerdings darf die Flexibilität des Einsatzes nicht dazu führen, dass der Sinn eines allgemeinen Kommunikationsmittels verloren geht. Einige Kritiker tadeln das DSM dafür, zu breit gefasste Kategorien zu haben und damit »nahezu jede Verhaltensweise in den psychiatrischen Bereich zu rücken« (Eysenck et al. 1983). Diese Kritiker verweisen auf Verhaltensweisen, die von irrationalen Befürchtungen, erniedrigt und beschämt zu werden (soziale Phobie), bis hin zu anhaltenden Regelüberschreitungen in der Schule oder im häuslichen Umfeld (Störung des Sozialverhaltens) reichen. Genauso wie die Anzahl der Störungskategorien von 60 im DSM von 1950 auf 400 im heutigen DSM angewachsen ist, nahm auch die Anzahl der Erwachsenen zu, die die Kriterien für wenigstens ein psychiatrisches Krankheitsbild erfüllten. Laut einer landesweiten Untersuchung waren das innerhalb eines Jahres nahezu 30% der erwachsenen Bevölkerung (Regier et al. 1998).
753 17.1 · Was sind psychische Störungen?
17
Kritiker weisen auf die Gefahr hin, dass das diagnostische »Etikett« eine negative Stigmatisierung bewirke. Gerade der Gedanke, die Probleme der Menschen auf der Grundlage ihrer Symptome zu diagnostizieren, geht von der Vorstellung einer psychischen Krankheit aus. Viele Psychotherapeuten sind daher nicht wirklich glücklich mit dieser medizinischen Terminologie; doch die meisten betrachten die ICD und das DSM als hilfreiche und praktische Instrumente. Die Kritik hat jedoch u. a. dazu geführt, dass sowohl im DSM als auch in der ICD der Begriff »Krankheit« vermieden wird; es wird von »Störungen« gesprochen. Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass es aufgrund mangelnder detaillierter Beschreibung des Einzelfalls zu einem Informationsverlust kommt. Für den Einsatz kategorialer Diagnostik, die sich weitgehend durchgesetzt hat, spricht jedoch, dass es eine bessere Kommunikation durch eine einheitliche und klar definierte Begrifflichkeit gibt und eine sinnvolle Informationsreduktion sogar notwendig ist. Zudem kann man nach sozialpsychologischen Untersuchungen davon ausgehen, dass wir immer Menschen klassifizieren, und dann ist es besser, eine explizite Klassifikation heranzuziehen, als ein implizites und damit nicht überprüfbares Vorgehen zu verwenden.
17.1.4
Probleme und Gefahren der Etikettierung
Ziel 4: Erörtern Sie die potenziellen Gefahren und Vorteile der Verwendung diagnostischer Etikettierungen.
Ettikettierungseffekt Wenn man das englische Wort Asylum (Anstalt) auf den Trikots der Baseball-Mannschaft sieht, werden die meisten von uns angesichts des Fotos aus den 1890er Jahren einen Kommentar in der Richtung abgeben, dass die Spieler offensichtlich deprimiert oder verwirrt sind. In Wirklichkeit stammen alle Spieler aus den Reihen der Angestellten dieser Anstalt
Elizabeth Eckert, Middletown, NY.
Das DSM hat andere Kritiker auf den Plan gerufen, die sich über etwas Grundsätzlicheres beklagen: dass diese Etikettierungen bestenfalls willkürlich sind und schlimmstenfalls Werturteile, die sich als wissenschaftlich verkleiden. Sobald wir einen Menschen mit einem Etikett versehen, betrachten wir ihn mit anderen Augen (Farina 1982). Etikettierungen führen zu Vorannahmen, die unsere Wahrnehmungen und Interpretationen leiten. Einige Praktiker sagen, es sei besser, sich mit den Wurzeln spezifischer Symptome zu beschäftigen (wie z. B. verzerrten Gedanken oder Wahrnehmungen), als mit veralteten Kategorien wie beispielsweise der Kategorie »Schizophrenie« (Persons 1986). In einer höchst umstrittenen Demonstration der verzerrenden Macht diagnostischer Kategorien begaben sich Rosenhan (1973) und 7 andere Personen in psychiatrische Ambulanzen und klagten darüber, »Stimmen zu hören«, die »leer«, »hohl« und »dumpf« sagten. Abgesehen von ihren Beschwerden und der Tatsache, dass sie falsche Namen und Berufe angaben, beantworteten sie Fragen wahrheitsgemäß. Und alle 8 wurden als psychisch krank diagnostiziert. Es überrascht nicht, dass diesen normalen Menschen eine solche Diagnose gestellt wurde. Ein Psychiater meinte: Hätte jemand Blut geschluckt, ginge in eine Notaufnahme und würgte es hoch: Würden wir dann dem Arzt unterstellen, er hätte fälschlich ein blutendes Magengeschwür diagnostiziert? Alarmierend war, was auf die Diagnosestellung folgte. Bis zu ihrer Entlassung (im Durchschnitt nach 19 Tagen) zeigten die Patienten keinerlei Symptome mehr. Trotzdem konnten die Ärzte, nach der Analyse der jeweiligen (ziemlich normalen) Lebensgeschichte die Gründe für die Störung »entdecken«, wie z. B. mit gemischten Gefühlen auf einen Elternteil zu reagieren. Sogar ein normales Verhalten der »Patienten«, etwa sich Notizen zu machen, wurde fälschlicherweise als Symptom interpretiert. Andere Studien bestätigen, wie diagnostische Kategorien unsere Wahrnehmung von Menschen beeinflussen. Langer et al. (1974, 1980) ließen Versuchsteilnehmer ein Interview auf Video ansehen. Einigen sagte man, der Interviewte sei »normal« (ein Stellenbewerber). Anderen wurde erzählt, er sei in irgendeiner Hinsicht auffällig (ein Psychiatrie- oder Krebspatient). Diejenigen, die nicht als Patienten diagnostizierte Interviewpartner sahen, nahmen sie als normal wahr; diejenigen, die vermeintliche Patienten beobachteten, nahmen sie als »anders als die anderen« wahr. Therapeuten (die dachten, sie würden einen Psychiatriepatienten beurteilen) nah-
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
men den Interviewpartner als »erschreckt von seinen eigenen aggressiven Impulsen« und als »passiv-abhängigen Typus« etc. wahr. Eine diagnostische Etikettierung kann, wie Rosenhan entdeckte, »ein Eigenleben entwickeln und selbst Einfluss ausüben« (7 Kritisch nachgefragt: »Psychische Krankheit und Verantwortung«). Kritisch nachgefragt
Psychische Krankheit und Verantwortung
AP Photo/Elaine Thompson
Mein Gehirn … meine Gene … meine schwere Kindheit sind Schuld. Solche Rechtfertigungen wurden bereits von Shakespeares »Hamlet« vorweggenommen. Wenn ich einem anderen oder auch mir selbst Unrecht zufüge, erklärte er, »dann ist es nicht Hamlet, der das tut, Hamlet leugnet es. Wer tut es dann? Sein Wahnsinn«. Hier geht es um die Frage, wem wir die Verantwortung zuschreiben, wenn psychisch kranke Menschen straffällig werden. So war es 1843, als ein verwirrter Schotte versucht hatte, den Premierminister zu erschießen (von dem er sich verfolgt fühlte), aber aus Versehen dessen Mitarbeiter tötete. Wie der Beinahemörder des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Reagan, John Hinckley, wurde der Schotte Daniel M’Naughten in ein psychiatrisches Krankenhaus und nicht in ein Gefängnis gesteckt. In beiden Fällen ging ein wütender Aufschrei durch die Öffentlichkeit. So lautete eine Schlagzeile: »Hinckley verrückt, die Öffentlichkeit wütend«. Und man war wieder wütend, als ein gestörter Jeffrey Dahmer 1991 zugab, 15 junge Männer ermordet und Teile ihrer Körper gegessen zu haben. Man war auch 1998 wütend, als der 15-jährige Kip Kinkel,
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Ins Gefängnis oder ins Krankenhaus? Der »Unabomber« Theodore Kaczynski lebte 20 Jahre lang in einer Hütte, nahm nur selten ein Bad, schickte Bomben an Fremde (tötete 3 und verletzte 23 Personen) und bekam von einem durch den Staat beauftragten Psychiater die Diagnose paranoide Schizophrenie. Eine seiner ersten Briefbomben ging an den Autor eines Psychologiebuchs, das damals die höchste Auflage hatte. (Der Brief wurde von seinem Assistenten geöffnet, der sich jedoch von den Verletzungen wieder erholte.) Sollte Kaczynski als Krimineller ins Gefängnis gesteckt oder als psychisch Kranker in Krankenhaus eingewiesen (aber auch dort eingesperrt) werden?
angefeuert durch »diese Stimmen in meinem Kopf«, seine Eltern und 2 Kommilitonen in Springfield (Oregon) tötete sowie 25 weitere verletzte. Und man war 2002 wütend, als Andrea Yates, nachdem man ihre Medikamente gegen eine Psychose abgesetzt hatte, in Texas vor Gericht stand, weil sie ihre 5 Kinder ertränkt hatte. All diese Menschen wurden nach der Verhaftung nicht in ein Krankenhaus gebracht, sondern in ein Gefängnis. Diese Fälle sind nichts Ungewöhnliches. Eine Studie der amerikanischen Justizbehörde ergab 1999, dass 283.000 Insassen von Haftanstalten schwere psychische Störungen hatten. Dies sind etwa 16% aller amerikanischen Häftlinge und damit deutlich mehr, als die 183.000 stationären psychiatrischen Patienten in sämtlichen Kliniken des Landes (Bureau of the Census 2004; Butterfield 1999). Auch sind in den USA viele Menschen, die hingerichtet wurden oder auf ihre Hinrichtung warten, durch geistige Behinderung eingeschränkt oder geben an, von wahnhaften Stimmen getrieben zu sein. Larry Robinson (1999) war zweimal wegen einer paranoiden Schizophrenie in der Klinik, wie auch sein Bruder, seine Schwester, sein Onkel und sein Großvater. Als man ihm eine weitere Behandlung verwehrte, weil sein Versicherungsschutz ausgelaufen war, wurde Robinson entlassen, tötete 5 Menschen und wurde vom Staat Texas hingerichtet. Vier Jahre später wurde ein weiterer Mörder mit Schizophrenie, Charles Singleton, vom Staat Arkansas hingerichtet, nachdem man ihm zwangsweise ein Medikament gegen Psychosen zugeführt hatte – um ihn mental in die Lage zu versetzen, dass man die Todesstrafe ausführen konnte. Wen sollen wir dafür verantwortlich machen? Die Menschen, die solche seltenen, aber schrecklichen Verbrechen begehen, oder die »Verrücktheit«, die ihre Gedanken vernebelt? Sollten wir Vorgesetzte, die ihre Angestellten sexuell belästigen und dann behaupten, eine Sexualstörung zu haben, behandeln lassen oder sie bestrafen? Wenn das empörende Verbrechen eines Täters so aufgefasst wird, dass es auf eine Störung hindeutet, wird dann nicht eine gesellschaftlich akzeptierte Grundlage geschaffen, um Verantwortung zu umgehen (wie die Person, die ihre Eltern getötet hat und dann um Gnade bittet, weil sie doch ein Waisenkind ist)? Manche in Großbritannien glauben, dass genau dies geschah, als man Brian Blackwell, der seine Eltern umgebracht hatte, eine eingeschränkte Schuldfähigkeit bei Totschlag zugestand. Sollte man ihm seine eingeschränkte Schuldfähigkeit zugute halten, weil er eine »narzisstische Persönlichkeitsstörung« hat, wie das Gericht übereinstimmend meinte, oder war die Störung eher eine Beschreibung als eine Erklärung seines kriminellen Verhaltens (Psychologist 2005)? So viel scheint festzustehen: Selbst wenn die Psychologie und die Psychiatrie in der Lage wären, bei allem – von der Großzügigkeit bis hin zum Vandalismus – die biologische und umweltbedingte Grundlage zu erklären, würde die Gesellschaft wahrscheinlich immer noch die Verantwortung für beides im Menschen suchen.
755 17.1 · Was sind psychische Störungen?
! Diagnostische Etikettierungen können im Sinne sich selbst erfüllender Prophezeiungen funktionieren.
Aber lassen Sie uns noch einmal auf die Vorteile diagnostischer Bezeichnungen zurückkommen: Die Fachleute im Gesundheitssystem verwenden Diagnosen, um miteinander über ihre Fälle zu kommunizieren, um die zugrunde liegenden Ursachen zu begreifen und um über wirkungsvolle Behandlungsprogramme zu entscheiden.
Wie man eine Störung bewältigt »Die einzige mir bekannte Art, damit umzugehen, war, ein Lied darüber zu schreiben«, erklärte der Musiker Billy Joe Armstrong von der Band Green Day. Er spielte damit auf sein Lied »Basket Case« an, in dem er seinen persönlichen Kampf gegen Angststörungen beschreibt
AP Photo/Robert E. Klein
Welche Macht diagnostische Etikettierungen haben, Menschen in den Augen anderer zu stigmatisieren, wurde anschaulich nachgewiesen, als eine Mitarbeiterin des Psychologen Page (1977) in Toronto 180 Menschen anrief, die eine Annonce für ein möbliertes Zimmer aufgegeben hatten. Als sie nur fragte, ob das Zimmer noch frei sei, war die Antwort fast immer ein »Ja«. Wenn sie stattdessen sagte, sie würde gerade aus der Psychiatrie entlassen, waren 3 von 4 Antworten ein »Nein« (das geschah auch, als sie sagte, sie riefe für ihren Bruder an, der gerade aus dem Gefängnis entlassen würde). Einige der Personen, die gesagt hatten, es stehe kein Zimmer mehr zur Verfügung, wurden später von einer weiteren Person angerufen und gefragt, ob das Zimmer noch frei sei. Das war fast immer der Fall. Untersuchungen in Westeuropa enthüllten ähnlich vorurteilsbelastete Einstellungen gegenüber Menschen, die als psychisch krank bezeichnet werden. Das Stigma scheint sich allerdings in dem Maße abzuschwächen, in dem wir verstehen, dass es sich bei vielen psychischen Störungen um eine Störung im Gehirn und nicht um einen Charakterfehler handelt (Solomon 1996). Personen des öffentlichen Lebens fühlen sich freier und bekennen sich zu ihrer Krankheit, sprechen offen über ihren Kampf gegen psychische Störungen wie Depression. Je öfter die Menschen Kontakt mit psychisch kranken Patienten haben, desto mehr steigt auch ihre Akzeptanz (Kolodziej u. Johnson 1996). Aber Stereotype halten sich lange. Das überrascht kaum, wenn man sich vor Augen führt, welches Bild von psychischen Störungen von den Medien verbreitet wird. Manchmal zeigen Filme einigermaßen zutreffende und sympathische Schilderungen von Störungen, wie in der Darstellung der Schizophrenie des Mathematikers John Nash in »A Beautiful Mind«. Allerdings stellen sie psychisch kranke Patienten auch in stereotyper Form als gemeingefährliche Mörder dar (Hannibal Lecter in »Das Schweigen der Lämmer«) oder als Freaks (Hyler et al. 1991; Wahl 1992). Menschen mit einer Schizophrenie begehen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Gewaltverbrechen – vor allem, wenn auch ein Alkoholmissbrauch vorliegt (Citrome u. Volavka 1999; Tiihonen et al. 1997). Allerdings sind 9 von 10 Menschen mit psychischen Störungen nicht gefährlich; dafür sind sie ängstlich, depressiv oder in sich gekehrt. Und wenn sie Alkohol und Drogen aus dem Weg gehen, neigen sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nicht häufiger zu Gewaltverbrechen als ihre Nachbarn (Steadman et al 1998). Die Direktion der U.S. Public Health Services (Surgeon General Office 1999) berichtet, dass gegenüber einem Fremden tatsächlich nur ein geringes Gewalt- oder Verletzungsrisiko besteht, wenn er auf einen Menschen mit einer psychischen Störung trifft. (Tatsächlich sind Menschen mit psychischen Störungen eher Opfer von Gewalt als Täter [Marley u. Bulia 2001].) Diagnostische Kategorien können nicht nur Wahrnehmungen verzerren, sondern auch die Realität verändern. Wenn z. B. Lehrern über die Begabung eines bestimmten Schülers berichtet wird, wenn Schüler ein feindseliges Verhalten von jemandem erwarten oder wenn Interviewer nachprüfen, ob jemand extravertiert ist, verhalten sie sich vielleicht so, dass genau diese Verhaltensweisen hervorgerufen werden (Snyder 1984). Jemand, der zu der Auffassung verleitet wurde, Sie seien gemein, wird Sie vielleicht kühl behandeln. Dies könnte dazu führen, dass Sie so reagieren, als wären Sie wirklich ein unangenehmer böser Mensch.
17
756
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Lernziele Abschnitt 17.1 Was sind psychische Störungen? Ziel 1: Geben Sie Kriterien an, nach denen wir beurteilen können, ob ein Verhalten psychisch gestört ist. Psychologen und Psychiater sehen ein Verhalten als gestört an, wenn es abweichend, belastend und dysfunktional ist. Die Definition dessen, was abweichend ist, ist von Kultur zu Kultur und von einem Kontext zum anderen unterschiedlich. Sie variiert auch von Zeit zu Zeit; so werden manche Kinder, die vor wenigen Jahrzehnten als wild eingestuft wurden, heute mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung belegt. Ziel 2: Stellen Sie das medizinische Modell für psychische Störungen dem biopsychosozialen Ansatz zu gestörtem Verhalten gegenüber. Das medizinische Modell geht davon aus, dass es sich bei psychischen Störungen um seelische Erkrankungen handelt, die aufgrund ihrer Symptome diagnostiziert und mit Hilfe einer Therapie behandelt werden können. Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass Störungen aus genetischen Prädispositionen, physiologischen Zuständen, einer inneren psychischen Dynamik und aufgrund von sozialen Bedingungen entstehen. Ziel 3: Beschreiben Sie Ziele und Inhalt des DSM-IV. Das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (DSM-IV) der American Psychiatric Association beschreibt momentan 400 Störungen und die Häufigkeit ihres Vorkommens. Das Manual legt eine Technik des strukturierten Interviews nahe, die Kliniker einsetzen können, um zu einer Diagnose zu gelangen. Sie beantworten dabei objektive Fragen, die auf 5 unterschiedlichen Achsen zu beobachtbaren Verhaltensweisen eines Menschen gestellt werden. Die Reliabilität der Klassifikation
17.2
ist hinreichend hoch. Die DSM-Diagnosen wurden in Koordination mit der International Classification of Diseases (ICD) entwickelt. Ziel 4: Erörtern Sie die potenziellen Gefahren und Vorteile der Verwendung diagnostischer Bezeichnungen. Kritiker des DSM-IV verweisen darauf, dass Diagnosen Menschen dadurch stigmatisieren können, dass sie unsere Interpretationen und Wahrnehmungen ihres früheren und gegenwärtigen Verhaltens verzerren und dass sie einen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Menschen auf die so etikettierte Person reagieren. Der Vorteil diagnostischer Bezeichnungen besteht darin, dass sie den Fachleuten im Gesundheitssystem dabei helfen, miteinander über die Gesundheitsversorgung und die Therapie zu kommunizieren, und dass sie eine gemeinsame Sprache für den Austausch von Ideen bei den Forschern schaffen, die über die Ursachen und die Behandlung von Störungen arbeiten. Die deutschen Krankenkassen verlangen ICD-10-Diagnosen, und auch die meisten Krankenversicherungen Nordamerikas fordern nicht mehr DSM-IV-, sondern ICD-10-Diagnosen, bevor sie die Kosten einer Therapie erstatten. Die Etikettierung »psychische Krankheit«, wie sie z. T. vor Gericht verwendet wird, wirft moralische und ethische Fragen darüber auf, wie eine Gesellschaft Menschen behandeln soll, die eine Störung erkennen lassen und Verbrechen begangen haben. > Denken Sie weiter: Wo würden Sie die Grenze ziehen, wenn Sie psychisch kranke Täter in ein Gefängnis oder in eine psychiatrische Einrichtung schicken müssten? Würde die Biographie dieses Menschen Ihre Entscheidung beeinflussen (z. B. ob jemand in der Kindheit missbraucht wurde)?
Angststörungen
Ziel 5: Definieren Sie, was eine Angststörung ist, und erklären Sie, wie sich dieser Zustand von normalen Stressgefühlen, Anspannung und Unwohlsein unterscheidet.
17
Angststörungen (anxiety disorders): psychische Störungen, die gekennzeichnet sind durch eine quälende, überdauernde Angst oder unangemessene Verhaltensweisen, um die Angst zu reduzieren.
Angst gehört zu unserem Leben. Jeder von uns würde wohl Angst empfinden, wenn er vor einem großen Publikum sprechen müsste, von einem Felsvorsprung in die Tiefe schauen oder darauf warten würde, an einem wichtigen Spiel teilzunehmen. Ab und zu sind viele von uns so ängstlich, dass wir es nicht schaffen, Blickkontakt aufzunehmen, oder es vermeiden, jemanden anzusprechen. Das nennen wir dann »Schüchternheit«. Glücklicherweise ist dieses Unbehagen für die meisten von uns weder sehr intensiv, noch hält es lange an. Wenn dies doch der Fall ist, haben wir möglicherweise eine der Angststörungen, die durch eine quälende, überdauernde Angst gekennzeichnet ist oder durch unangemessene Verhaltensweisen zum Abbau der Angst. In diesem Abschnitt stehen 4 Angststörungen im Mittelpunkt: 4 Generalisierte Angststörung: Die Betroffenen sind aus unerklärlichen Gründen dauerhaft angespannt und fühlen sich unwohl. 4 Panikstörung: Die Betroffenen erleben plötzlich auftretende Episoden intensiver Angst. 4 Phobien: Die Betroffenen fürchten sich auf irrationale Weise vor spezifischen Objekten oder Situationen. 4 Zwangsstörungen: Die Betroffenen leiden unter immer wiederkehrenden Gedanken oder Handlungen.
757 17.2 · Angststörungen
17.2.1
17
Generalisierte Angststörung und Panikstörung
Ziel 6: Stellen Sie die Symptome der generalisierten Angststörung denen der Panikstörung gegenüber.
Der 27-jährige Elektriker Tom klagt über Schwindelgefühle, feuchte Hände, Herzklopfen und Klingelgeräusche im Ohr. Er ist nervös und stellt manchmal fest, dass er zittert. Diese Symptome verbirgt er mit beachtlichem Erfolg vor seiner Familie und seinen Kollegen. Dennoch hat er wenig sozialen Kontakt, seit die Symptome vor 2 Jahren begannen. Gelegentlich muss er die Arbeit verlassen. Sein Hausarzt und ein Neurologe konnten keine körperlichen Ursachen finden. Die auf nichts Bestimmtes gerichteten, unkontrollierbaren, negativen Gefühle von Tom lassen auf eine generalisierte Angststörung schließen. Die Symptome dieser Störung sind zunächst nichts Besonderes, ihr Überdauern dagegen schon. Die Betroffenen, zwei Drittel von ihnen Frauen, sind kontinuierlich angespannt und zittrig, regen sich über diverse schreckliche Ereignisse auf, die eintreten könnten, und leiden unter Muskelverspannungen, Unruhe und Schlaflosigkeit. Die Anspannung und Sorge kann sich durch zusammengezogene Augenbrauen äußern, durch zuckende Augenlider, Zittern, Schwitzen oder nervöses Zappeln. Die Konzentration ist gestört, weil die Aufmerksamkeit einer Befürchtung nach der anderen gilt. Eines der unangenehmsten Kennzeichen der generalisierten Angststörung ist, dass die betroffene Person den Auslöser der Angst nicht identifizieren und ihn deshalb auch nicht bearbeiten oder damit umgehen kann. Um Freuds Ausdruck zu verwenden, ist diese Angst »frei flottierend«. Die generalisierte Angststörung geht oft mit einer Depression einher; doch selbst ohne eine Depression wirkt sie gewöhnlich lähmend (Hunt et al. 2004) und kann zu körperlichen Problemen führen (wie einem Magengeschwür und hohem Blutdruck). Eine Panikstörung verhält sich zur Angst wie ein Tornado zu einem windigen Tag. Er ist plötzlich da, hinterlässt eine Verwüstung und verschwindet. Bei 1 von 75 Betroffenen mit dieser Störung steigert sich die Angst plötzlich zu einer extremen Panikattacke – einer Episode von mehreren Minuten mit einer intensiven Angst davor, dass etwas Schreckliches passiert. Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühle, Zittern oder Schwindel sind typische Begleiterscheinungen der Panik, die möglicherweise als Herzinfarkt oder als ein anderes schweres Leiden fehlinterpretiert wird. Raucher haben ein 2- bis 4-fach höheres Risiko, eine erste Panikattacke zu bekommen (Breslau u. Klein 1999; Goodwin u. Hamilton 2002; Insensee et al. 2003). Auch wenn Nikotin ein Stimulans ist, führt es nicht unbedingt zur Erleuchtung, wenn Sie sich eine Zigarette anstecken. Eine Frau erinnerte sich daran, wie »mir plötzlich heiß wurde, und es war, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Mein Herz raste, ich fing an zu schwitzen und zu zittern und ich glaubte, dass ich jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Dann wurden meine Finger taub und kribbelten, und alles kam mir unwirklich vor. Es war so schlimm, dass ich dachte, ich sterbe, und ich habe meinen Mann gebeten, mich zur Notaufnahme zu bringen. Bis wir dort waren (etwa 10 Minuten) war das Schlimmste überstanden, und ich fühlte mich einfach nur noch erschöpft« (Greist et al. 1986). Diese Erfahrung eines falschen Alarms ist so unvorhersagbar und erschreckend, dass die Menschen nach mehreren Attacken dazu kommen, die Angst selbst zu fürchten und Situationen zu vermeiden, in denen die Panik zuvor aufgetreten ist. Eine Panikstörung kann mit oder ohne eine Agoraphobie auftreten. Agoraphobie ist die Angst vor oder das Vermeiden von Situationen, aus denen ein Entkommen schwierig oder in denen keine Hilfe erreichbar ist, wenn Panik auftritt. Menschen mit dieser Angst vermeiden es möglicherweise, ihr Haus zu verlassen, sich in eine Menschenmenge zu begeben, einen Bus oder einen Fahrstuhl zu benutzen. Personen mit einer Agoraphobie (wörtlich: Angst vor weiten Plätzen) sind deshalb oft extrem eingeschränkt in ihrer Lebensführung. Charles Darwin begann im Alter von 28 Jahren unter einer Panikstörung zu leiden, nachdem er 5 Jahre lang die Welt umsegelt hatte. Wegen der Panikanfälle zog er aufs Land, vermied gesellschaftliche Veranstaltungen und verreiste nur noch in Begleitung seiner Frau. Doch gerade diese relative Abgeschiedenheit machte es ihm möglich, sich ganz auf die Entwicklung seiner Evolutionstheorie zu konzentrieren. »Auch meine gesundheitlichen Probleme«, äußerte er, »haben mich vor gesellschaftlichen Zerstreuungen und Vergnügungen bewahrt« (zitiert in Ma, 1997).
Generalisierte Angststörung (generalized anxiety disorder): Angststörung, bei der die Betroffenen kontinuierlich angespannt und besorgt sind und eine anhaltende Erregung des autonomen Nervensystems aufweisen.
Panikstörung (panic disorder): Angststörung, die sich durch Episoden intensiver Angst auszeichnet, die einige Minuten andauern und in denen die Betroffenen Todesangst erleben, verbunden mit Schmerzen im Brustkorb, dem Gefühl zu ersticken oder anderen Furcht erregenden Empfindungen.
Geschlecht und Angst: Acht Monate nach dem 11. September gaben in einer Gallup-Umfrage (2002) mehr Frauen (34%) als Männer (19%) an, dass sie eine stärkere Abneigung dagegen hätten, Hochhäuser zu betreten oder zu fliegen, als vor dem 11. September. Zu Beginn des Jahres 2003 waren mehr Frauen (57%) als Männer (36%) »irgendwie beunruhigt« darüber, Opfer eines terroristischen Anschlags werden zu können (Jones 2003). Agoraphobie (agoraphobia): Angst vor Menschenansammlungen und öffentlichen Plätzen – beides fast unvermeidliche Situationen.
758
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
17.2.2
Phobien
Ziel 7: Erklären Sie, inwiefern sich eine Phobie von den Ängsten unterscheidet, mit denen wir alle dann und wann Erfahrung machen. . Abb. 17.2. Häufig und weniger häufig vorkommende Ängste Dieser Überblick gibt die Verbreitung verschiedener Formen von Angst an. Eine starke Angst wird dann zu einer Phobie, wenn sie mit dem zwingenden, aber irrationalen Bedürfnis einhergeht, das Angst besetzte Objekt bzw. die bedrohliche Situation zu meiden. (Curtis et al. 1998)
Bei Phobien richtet sich die Angst auf ein spezifisches Objekt, eine bestimmte Situation oder Aktivität. (Eine Rangfolge mehr oder weniger weit verbreiteter Ängste findet sich in . Abb. 17.2.) Eine Phobie ist eine irrationale Angst, die das normale Verhalten unterbricht. Viele Menschen akzeptieren diese verbreitete psychische Störung und leben mit ihr, doch einige spezielle Phobien können zu einschränkenden Anstrengungen führen, damit die befürchtete Situation vermieden wird. Die 28-jährige Hausfrau Marilyn ist ansonsten glücklich und gesund, aber sie fürchtet sich so sehr vor Gewittern, dass sie schon Angst empfindet, sobald in einer Wettervorhersage mögliche Unwetter erwähnt werden, die im Laufe der Woche auftreten könnten. Wenn ihr Mann nicht da ist und ein Gewitter vorhergesagt wurde, kann es sein, dass sie zu einem anderen nahen Verwandten geht. Während eines Gewitters hält sie sich von den Fenstern fern und vergräbt ihren Kopf unter einem Kissen, um die Blitze nicht sehen zu müssen. Andere Menschen leiden unter irrationalen Ängsten vor bestimmten Tieren, Insekten, vor Höhen, vor Blut oder vor Tunneln. Oft vermeiden sie den Angst auslösenden Reiz, indem sie sich während eines Gewitters verstecken oder Höhen meiden. Eventuell peinliche Situationen sind schwierig für Menschen mit einer sozialen Phobie, der intensiven Angst, sich vor anderen zu blamieren oder von anderen abschätzig gemustert zu werden. Diese Menschen werden möglicherweise nicht mehr in Gegenwart anderer sprechen, nicht mehr zum Essen ausgehen oder keine Partys mehr besuchen – tun sie es aber doch, schwitzen sie, zittern oder bekommen Durchfall. Soziale Phobie ist eine extreme Form von „… und das hier ist zur Zeit noch mein Therapieraum. Sobald ich es Schüchternheit. geschafft habe, ihn zu reinigen, hat mein Mann versprochen daraus ein
C. Styrsky
Phobie (phobia): Angststörung, gekennzeichnet durch anhaltende, irrationale Angst und Vermeidung eines spezifischen Objekts oder einer bestimmten Situation.
Gästezimmer zu machen
17.2.3
Zwangsstörung
Ziel 8: Beschreiben Sie die Symptome der Zwangsstörung.
17
Zwangsstörung (obsessive-compulsive disorder): Angststörung, die charakterisiert ist durch sich aufdrängende, wiederholte Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen.
So wie bei der generalisierten Angststörung und wie bei den Phobien können wir auch in der Zwangsstörung Aspekte unseres eigenen Verhaltens wiedererkennen. Vielleicht werden auch wir zeitweise heimgesucht von sinnlosen oder aufdringlichen Gedanken, die sich nicht stoppen lassen. Oder wir legen ein zwanghaftes Verhalten an den Tag, indem wir rigide nachprüfen, ordnen, putzen oder unsere Bücher und Stifte »nur so« in einer Reihe anordnen, bevor wir anfangen zu arbeiten. Zwangsgedanken (»obsessions«) und Zwangshandlungen (»compulsions«) überschreiten dann die subtile Grenze zwischen Normalität und Störung, wenn sie sich so ausweiten, dass sie
759 17.2 · Angststörungen
17
. Tabelle 17.3. Häufig vorkommende zwanghafte Gedanken und Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörung. (Nach Rapoport 1989)
Gedanke oder Verhalten
Nennungen in %
Zwangsgedanken (wiederkehrend) Beschäftigung mit Schmutz, Bakterien oder Giften
40
Etwas Schreckliches könnte passieren (Feuer, Tod, Krankheit)
24
Symmetrie, Ordnung, Exaktheit
17
Exzessives Händewaschen, Baden, Zähneputzen oder Haarebürsten
85
Wiederholen von Ritualen (hinein-/hinausgehen, aufstehen/setzen)
51
Überprüfen von Türen, Schlössern, Elektrogeräten, Handbremsen, Hausaufgaben
46
uns im täglichen Leben stören oder beim Betreffenden zu Leidensdruck führen. Zu überprüfen, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist, ist normal; es 10-mal zu tun, ist nicht mehr normal. Unsere Hände zu waschen, ist normal; sie so oft zu waschen, dass die Haut wund wird, ist es nicht (weitere Beispiele in . Tabelle 17.3). In bestimmten Lebensphasen, oft zwischen 17 und 20 Jahren oder kurz vor dem 30. Lebensjahr, überschreiten 2–3% der Menschen diese Grenze von normaler Geschäftigkeit und Kleinlichkeit hin zu einer einschränkenden Krankheit (Karno et al. 1988). Die aufdringlichen Gedanken werden quälend und die Zwangsrituale zu einer sinnlosen Zeitvergeudung, so dass effektives Verhalten und Funktionsfähigkeit unmöglich werden. Einer der Betroffenen war der Milliardär und Flieger Howard Hughes. Hughes diktierte zwanghaft immer wieder dieselben Sätze. Unter Stress entwickelte er eine phobische Angst vor Krankheitserregern, was zu Zwangshandlungen führte. Hughes wurde eigenbrötlerisch und bestand darauf, dass seine Mitarbeiter komplizierte Rituale beim Händewaschen durchführten und weiße Handschuhe trugen, wenn sie Papiere in die Hände nahmen, die er selbst später anfassen würde. Er ließ Türen und Fenster mit Klebeband abdichten und verbot seinen Angestellten, ihn zu berühren oder auch nur anzusehen. »Jeder trägt Krankheitskeime mit sich herum«, erklärte er, »und da ich länger leben will als meine Eltern, gehe ich ihnen aus dem Weg« (Fowler 1986). Obwohl sich Hughes’ Symptome mit dem Alter verschlimmerten, leiden alte Menschen insgesamt seltener unter Zwangsstörungen als Jugendliche und junge Erwachsene (Samuels u. Nestadt 1997). Eine Follow-up-Studie in Schweden ergab, dass bei 144 Betroffenen, denen 1950 die Diagnose »Zwangsstörung« gestellt wurde, die zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen in den folgenden 40 Jahren kontinuierlich weniger geworden waren, auch wenn nur 1 von 5 Menschen vollkommen symptomfrei war (Skoog u. Skoog 1999).
17.2.4
Posttraumatische Belastungsstörung
Ziel 9: Beschreiben Sie die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, und erörtern Sie die Widerstandsfähigkeit der Überlebenden.
Während der Kämpfe im Irakkrieg war Jacks Truppe mehrfach unter Beschuss. Sein bester Freund wurde durch einen Hinterhalt getötet, während Jack nur ein paar Schritte neben ihm stand. Jack selbst tötete jemanden bei einem brutalen Angriff. Jahre später drängen sich ihm die Bilder dieser Ereignisse als Flashbacks und Albträume auf. Er springt zur Seite, wenn er die Geräusche eines Knallfroschs oder der Fehlzündung eines Autos wahrnimmt. Ärgert er sich über seine Familie oder seine Freunde, rastet er in einer Weise aus, wie er es vor den Kriegserlebnissen selten getan hat. Um seine andauernde Angst zu beruhigen, trinkt er mehr Alkohol, als er sollte. Traumatischer Stress – d. h. das Erleben oder Mitansehen sehr bedrohlicher, unkontrollierbarer Ereignisse, die mit Angstgefühlen, Hilflosigkeit und Schrecken verbunden sind, – kann zu
Buena Vista/Cinetext
Zwangshandlungen (wiederkehrend)
The Aviator Howard Hughes und sein lebenslanger Kampf mit einer Zwangsstörung wurden 2004 in einem Film mit Leonardo DiCaprio dargestellt
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Posttraumatische Belastungsstörung (»posttraumatic stress disorder«, PTSD): Angststörung, die charakterisiert ist durch quälende Erinnerungen, Albträume, sozialen Rückzug, Angstattacken, Flashbacks und/oder Schlaflosigkeit; die Störung tritt nach einem taumatischen Ereignis auf und hält 4 Wochen oder länger an.
Schädliches Trauma Soldaten unter Stress (wie hier im Irak) sind einem Risiko ausgesetzt, eine posttraumatische Belastungsstörung zu bekommen
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einer posttraumatischen Belastungsstörung (»post-traumatic stress disorder«; PTSD) führen. Diese Störung ist durch Symptome gekennzeichnet, die nicht ständig präsent sind, sondern ganz plötzlich auftreten. Dazu gehören Symptome wie quälende Erinnerungen und Albträume sowie sozialer Rückzug, sprunghaft ansteigende Angst und Schlaflosigkeit (Goodman et al. 1993; Kessler et al. 2000; Wilson et al. 1988). Je häufiger und schwerwiegender die Erfahrungen bei einem gewaltsamen Übergriff sind, desto schlimmer sind gewöhnlich die langfristigen Folgen (Golding 1999). Ein sensibles limbisches System, das den Körper mit Stresshormonen überflutet, lässt auch die Krankheitsanfälligkeit größer werden (Ozer u. Weiss 2004). Viele Kriegsveteranen, Überlebende von Unfällen und Katastrophen sowie Opfer sexueller Gewalttaten (dazu gehören schätzungsweise zwei Drittel der Prostituierten) haben mit Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung Erfahrung gemacht (Brewin et al. 1999; Farley et al. 1998; Taylor et al. 1998). Wenn Kinder Zeugen von Gräueltaten werden oder in lebensbedrohlichen Verhältnissen aufwachsen, zeigen sie die gleichen Symptome, unabhängig davon, ob dies in einem Kriegsgebiet geschieht oder ob es sich um häusliche Gewalt handelt (Garbarino 1991, 1992). Ihr Urvertrauen in die Welt wird erschüttert; viele fühlen sich angstvoll erschöpft, schlafen schlecht, haben Albträume und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, wenn sie an die eigene Zukunft denken. Diese »erlernte Hilflosigkeit« bei Kindern, die wiederholt unter Missbrauchserlebnissen litten, scheint sie anfälliger für die Entwicklung einer posttraumatischen Störung zu machen, wenn sie als Erwachsene erneut Gewalt ausgesetzt sind (Mineka u. Zinbarg 1996). Wenn Sie eine Metallfeder auseinanderziehen, springt sie in ihren Ursprungszustand zurück – es sei denn, Sie ziehen sie zu weit auseinander. Um die Häufigkeit von posttraumatischen Belastungsstörungen zu erfassen, verglichen die Centers for Disease Control (1988) in den USA 7000 Vietnamveteranen mit 7000 Veteranen, die nicht an Kampfhandlungen teilgenommen hatten, aber zur selben Zeit ihren Dienst ableisteten. Der Stress infolge des Kriegs vergrößerte das Risiko von Alkoholmissbrauch, von Depression oder Angst um mehr als das Doppelte. Im Schnitt berichteten 15% aller Vietnam-Veteranen von posttraumatischen Belastungssymptomen, aber dieser Prozentsatz war halb so hoch bei denjenigen, die nie im Gefecht gewesen waren, und 3-mal so hoch bei denen, die an schweren Kämpfen teilgenommen hatten. Für die Soldaten, die in Vietnam in Gefangenschaft gerieten, waren die psychischen Folgen umso schwerwiegender, je mehr Qualen sie erlitten hatten (Mollica et al. 1998). Im nicht so weit zurückliegenden Irakkrieg gab in den Monaten nach der Rückkehr in die USA 1 von 6 US-Soldaten aus den Kampfgruppen der Infantrie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depression oder schweren Angst an (Hoge et al. 2004). Auch in der Zivilbevölkerung gibt es einen Zusammenhang zwischen Ausmaß des Stresses und Stressreaktion. Das Auftreten der posttraumatischen Belastungsstörung variiert zwischen 4% unter den Überlebenden von Naturkatastrophen und 50% bei Menschen, die entführt, gefangen gehalten, gefoltert oder vergewaltigt wurden (Brewin et al. 2000; Brody 2000; Kessler 2000). Das Risiko, posttraumatische Symptome zu entwickeln, ist umso höher, je größer das emotionale Leid während der Traumatisierung ist (Ozer et al. 2003). Einen Monat nach dem terroristischen Anschlag vom 11. September ergab eine Untersuchung, dass 8,5% der Bewohner Manhattans unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten; in den meisten Fällen trat sie als Folge des Anschlags auf (Galea et al. 2002). Unter denjenigen, die in der Nähe des World Trade Centers lebten, berichteten 20% über verdächtige Symptome wie Albträume, starke Angst und Furcht vor öffentlichen Plätzen (Susser et al. 2002). Manche Psychologen glauben jedoch, dass die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung zu häufig gestellt wird. Dies könnte zum Teil daran liegen, dass auch die Definition von Trauma erweitert wurde (ursprünglich war damit nur das direkte Erleben von schwerwiegenden Bedrohungen wie Kriegsgefechten oder Vergewaltigung gemeint; McNally 2003). Die posttraumatische Belastungsstörung tritt seltener auf, so die Kritiker, und es ist niemandem damit gedient, wenn normale Stressreaktionen pathologisiert werden (Wakefield u. Spitzer 2002). Ein sog. »Debriefing«, wenn man Überlebende direkt nach einem Trauma befragt und sie veranlasst, Benjamin Lowy/Corbis
760
761 17.2 · Angststörungen
ihre Erfahrungen noch einmal zu durchleben und Emotionen herauszulassen, hat sich tatsächlich allgemein als unwirksam und manchmal als schädlich erwiesen (McNally et al. 2003; Rose et al. 2003). Manchmal verschlimmern sich die negativen Emotionen eines Menschen, wenn er das Trauma noch einmal durchlebt. Die Forscher weisen auch auf die eindrucksvolle Resilienz, d. h. Widerstandsfähigkeit, hin, die die meisten Überlebenden zeigen (Bonanno 2004, 2005). Etwa die Hälfte der Erwachsenen machen mindestens einmal in ihrem Leben mit einem traumatischen Ereignis Erfahrung, aber nur etwa 10% der Frauen und 5% der Männer entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (Ozer u. Weiss 2004). Mehr als 9 von 10 New Yorkern haben auf den 11. September nicht pathologisch reagiert, obwohl auch sie verständlicherweise von Trauer und Entsetzen wie betäubt waren. Bis zum darauf folgenden Januar waren auch die Stresssymptome der übrigen weitgehend zurückgegangen (Galea et al. 2002). Ebenso zeigen die meisten Kriegsveteranen und die meisten politischen Dissidenten, die Dutzende von Folterprozeduren überlebt haben, später keine posttraumatische Belastungsstörung (Mineka u. Zimbarg 1996). Suedfeld (1998, 2000), der als Junge den Holocaust unter Entbehrungen überlebte, während seine Mutter in Auschwitz starb, hat die Widerstandsfähigkeit der Holocaust-Überlebenden dokumentiert, von denen die meisten ein produktives Leben führen. Auch die Erfolge der vietnamesischen »Boat People«, die vor dem Krieg flüchteten und in kleinen Booten in die USA auswanderten, bezeugen »die Standhaftigkeit und Zähigkeit von Überlebenden«, so Suedfeld. »Das Sprichwort ›Was dich nicht umbringt, macht dich stärker‹, stimmt nicht immer, aber es stimmt oft; und außerdem kann dir das, was dich nicht tötet, zeigen, wie stark du wirklich bist.« Tatsächlich kann Leiden zu dem führen, was Tedeschi u. Calhoun (2004) als posttraumatisches Wachstum bezeichnen. Tedeschi u. Calhoun fanden heraus, dass der Kampf gegen herausfordernde Krisen die Menschen oft dazu bringt, später über eine zunehmende Wertschätzung des Lebens, bedeutungsvollere Beziehungen, größere persönliche Stärke, veränderte Prioritäten und ein reichhaltigeres spirituelles Leben zu berichten. Dass Leiden eine transformative Kraft hat, ist eine alte Erkenntnis, die dem Judentum, dem Christentum und auch dem Islam gemeinsam ist. Das wissen auch Menschen, die eine Krebserkrankung überstanden haben, neue Freude an ihren Kindern empfinden und jeden neuen Tag genießen. Selbst Trauernde berichten, eine neue Sensibilität gewonnen zu haben. Als Rabbi Kushner (1986) über den Tod seines Sohnes nachdachte, beobachtete er folgendes: »Durch Aarons Leben und Tod bin ich zu einem sensibleren Menschen, zu einem wirkungsvolleren Geistlichen, zu einem einfühlenderen Berater geworden, obwohl ich«, wie er hinzufügte, »von einem Augenblick auf den anderen auf all diese Vorteile verzichten würde, wenn ich meinen Sohn zurück haben könnte.« Zu den Holocaust-Überlebenden gibt es noch weitere Ergebnisse, die die langfristigen Folgen traumatischer Erlebnisse unterstreichen: Eine deutsche Studie zeigt (Kruse u. Schmitt 2000), dass die Erinnerungen an traumatische Erlebnisse im Nationalsozialismus unter Holocaust-Opfern im Alter deutlich zunehmen. Kruse und Schmitt untersuchten 248 Überlebende des Holocaust, von denen 68 in Vernichtungslagern interniert waren. Gerade im Alter litten die Überlebenden an Ängsten, Albträumen und belastenden Fantasien. Entdecken sie auf der Straße ein Nazi-Symbol oder eine altbekannte Parole, werden die Erlebnisse plötzlich wieder präsent. Die Folgen sind Panikattacken, Angstzustände, Schlaflosigkeit und über Wochen andauernde Niedergeschlagenheit (Kruse u. Schmitt 2000). Es gibt Untersuchungen, dass den meisten amerikanischen Juden, die das Holocaust-Trauma überlebten – im Verlauf dessen sie Hunger, Schläge, den Verlust der Freiheit, die Ermordung von ihnen sehr nahestehenden Menschen ertragen mussten –, ein äußerlich scheinbar unbeeinträchtigtes Leben gelingt, auch wenn sie unter einigen schleichenden Stresssymptomen leiden. Tatsächlich ist für diese Überlebenden die Wahrscheinlichkeit, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, geringer als für eine Vergleichsgruppe amerikanischer Juden desselben Alters (18% gegenüber 31%). Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie eine stabile Ehe führen (83% gegenüber 62%). Darüber hinaus hat praktisch noch nie jemand von ihnen eine kriminelle Handlung begangen.
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762
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
17.2.5
Erklärungsansätze
Ziel 10: Erörtern Sie die Beiträge der Lerntheorie und des biologischen Ansatzes zum besseren Verständnis der Entwicklung von Angststörungen.
Angst ist sowohl ein Gefühl als auch eine Kognition – eine von Zweifeln geprägte Einschätzung unserer Sicherheit oder sozialen Kompetenz. Wie entstehen diese angstvollen Gefühle und Kognitionen? In Freuds psychoanalytischem Ansatz wird angenommen, dass Menschen bereits in ihrer Kindheit beginnen, unerträgliche Triebregungen, Gedanken und Gefühle zu unterbinden, und dass diese unterdrückte psychische Energie manchmal rätselhafte Symptome wie Angst hervorbringt. Viele der heutigen Psychologen haben sich jedoch 2 zeitgenössischen Erklärungsansätzen zugewandt – dem lerntheoretischen und dem biologischen Ansatz –, um die Vorgänge besser zu verstehen.
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Lerntheoretischer Ansatz Angstkonditionierung
Ein emotionales Hoch Obwohl wir Menschen von der Biologie her für Höhenangst prädisponiert sind – gewiss eine adaptive Reaktion –, scheint dieser Bauarbeiter furchtlos zu sein. Der biologische Ansatz trägt zu einem Verständnis dafür bei, dass die meisten Menschen in dieser Situation erschreckt reagieren würden
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Wenn unangenehme Ereignisse unvorhersehbar und unkontrollierbar auftreten, entsteht dadurch oft Angst (Chorpita u. Barlow 1998). Forscher haben die generalisierte Angststörung in einen Zusammenhang mit der klassischen Konditionierung von Furcht gebracht. In Laborversuchen schuf man chronisch ängstliche, zu Magengeschwüren neigende Ratten, indem man die Tiere unvorhersehbaren Stromstößen aussetzte (Schwartz 1984). Wie das Opfer einer Gewalttat, das an seinem ehemaligen Wohnort Angst empfindet, so werden auch die Ratten in ihrem Laborkäfig unruhig. Bei vielen Betroffenen einer posttraumatischen Belastungsstörung, nimmt die Angst mit jeder Erinnerung an das Trauma zu. Solche Erfahrungen können zur Erklärung beitragen, warum ängstliche Menschen ganz besonders aufmerksam auf mögliche Bedrohungen achten und wie Menschen, die zur Panik neigen, ihre Angst mit bestimmten Hinweisreizen in Verbindung bringen (Bouton et al. 2001; Mineka u. Zinbarg 1996). In einer Umfrage gaben 58% der Menschen, die unter einer sozialen Phobie litten, an, dass sie die Störung erstmals nach einem traumatischen Erlebnis feststellten (Ost u. Hugdahl 1981). Erinnern Sie sich daran, dass Hunde lernen, vor neutralen Reizen Angst zu haben, wenn diese in Verbindung mit Stromstößen auftreten, dass Kinder Angst vor einem Tierfell entwickeln, wenn es mit erschreckenden Geräuschen assoziiert wird, und dass Erwachsene panische Angst vor zufälligen Reizen entwickeln, die mit traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang stehen. Wenn Säuglinge bewegungsfähiger werden, machen sie Erfahrung mit Stürzen und Beinahestürzen – und entwickeln immer mehr Höhenangst (Campos et al. 1992). Konditionierte Ängste können längere Zeit anhalten, nachdem wir bereits die Erfahrungen vergessen haben, die sie hervorgerufen hatten (Jacobs u. Nadel 1985). Über solche Konditionierungen können die wenigen Ereignisse, die von Natur aus schmerzlich und beängstigend sind, ihre Wirkung um ein Vielfaches verstärken, und es entsteht eine ganze Reihe menschlicher Ängste. So hatte ich beim Autofahren einen Zusammenstoß mit einem anderen Auto, dessen Fahrer ein Stoppschild übersehen hatte. Noch Monate später empfand ich ein leichtes Unbehagen, wenn sich irgendein Auto aus einer Seitenstraße näherte. Die Phobie der in 7 Abschn. 17.2.2 erwähnten Marilyn wurde möglicherweise auf ähnliche Art konditioniert, als sie während eines Gewitters eine beängstigende oder schmerzvolle Erfahrung machte. Zwei spezifische Lernprozesse, die an ihrer Angst beteiligt sein können, sind Reizgeneralisierung und Verstärkung. Reizgeneralisierung tritt z. B. auf, wenn jemand, der nach einem Sturz Höhenangst hat, später auch Angst vor dem Fliegen entwickelt, obwohl er noch nie zuvor in einem Flugzeug gesessen hat. Sobald Phobien und Zwänge auftreten, werden sie mit Hilfe von Verstärkung aufrechterhalten. Eine angstbesetzte Situation zu vermeiden oder aus ihr zu fliehen, verringert die Angst und verstärkt so das phobische Verhalten. Jemand, der Angst hat oder eine Panikattacke befürchtet, geht vielleicht nach Hause und wird dort dadurch bestärkt, dass sich seine Angst vermindert und er sich beruhigt (Antony et al. 1992). Zwanghaftes Verhalten vermindert die Angst auf dieselbe Weise. Wenn durch Händewaschen Ihr Unbehagen abnimmt, werden Sie es möglicherweise erneut tun, wenn die unangenehmen Gefühle zurückkehren.
763 17.2 · Angststörungen
Beobachtungslernen Wir können Angst auch durch Beobachtung lernen, indem wir die Ängste anderer beobachten. Wie wir in 7 Kap. 13 gesehen haben, geben wild lebende Affen ihre Angst vor Schlangen an ihren aufmerksam in die Umwelt blickenden Nachwuchs weiter. Menschliche Eltern geben auf gleiche Weise Ängste an ihre Kinder weiter. Zudem führt allein die Tatsache, dass man jemanden beobachtet, der nach einem konditionierten Reiz einen leichten Stromstoß bekommt, zum Erlernen einer Angst, die der durch eine unmittelbare Erfahrung hervorgerufenen Angst ähnlich ist.
Biologischer Ansatz Für Angst gibt es jedoch weitaus mehr Ursachen als nur die einfache Konditionierung oder das Beobachtungslernen; dies wird dadurch deutlich, dass nur wenige Menschen nach einem Trauma überdauernde Phobien entwickeln. Der biologische Ansatz kann unser Verständnis der Angststörungen vertiefen. Er kann aber nicht erklären, warum in den letzten 50 Jahren der Grad der Angst bei Kindern und Studierenden so stark angestiegen ist. Dies ist auch in Deutschland der Fall: Essau et al. (1999) berichteten, dass Angststörungen heute zu den häufigsten Störungen bei Jugendlichen gehören. 18,6% der von ihnen befragten Jugendlichen gaben an, schon einmal Angststörungen gehabt zu haben. Dies scheint mit Phänomenen zusammenzuhängen wie z. B. dem nicht immer gewährleisteten sozialen Rückhalt, der als Folge des Auseinanderbrechens von Familien auftreten kann (Twenge 2000). Allerdings hilft die biologische Sichtweise uns, zu erklären, warum wir manche Ängste leichter erwerben als andere und warum manche Menschen anfälliger dafür sind.
Natürliche Selektion Wir Menschen sind anscheinend biologisch darauf vorbereitet, Bedrohungen zu fürchten, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren. Die meisten unserer Phobien gelten Objekten wie Spinnen, Schlangen und anderen Tieren, ebenso auch geschlossenen Räumen und Höhen, Unwetter und Dunkelheit. (Wer solchen gelegentlichen Bedrohungen furchtlos gegenüberstand, hatte eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit und weniger Chancen, Nachkommen zu hinterlassen.) Es ist leicht, Angst vor solchen Reizen zu konditionieren, und schwer, sie zu löschen (Davey 1995; Öhman 1986). Für viele unserer heutigen Ängste gibt es möglicherweise auch eine evolutionsbiologische Erklärung. So kann z. B. Flugangst aus unserer biologischen Vergangenheit herrühren, die uns dazu prädisponiert, Eingeschlossensein und Höhen zu fürchten. Außerdem gilt es zu bedenken, welche Furcht von Menschen eher nicht gelernt wird. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg riefen bemerkenswert wenige dauerhafte Phobien hervor. Bei fortwährenden Luftangriffen bekamen die Briten, Japaner und Deutschen nicht etwa mehr Angst, sondern wurden eher gleichgültiger gegenüber Flugzeugen, die außerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung flogen (Mineka u. Zinbarg 1996). Die Evolution hat uns nicht darauf vorbereitet, Bomben, die vom Himmel fallen, zu fürchten. So wie sich unsere Phobien auf Gefahren beziehen, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren, sind unsere Zwänge typischerweise Übertreibungen von Verhaltensweisen, die zum Überleben unserer Spezies beigetragen haben. Aus evolutionspsychologischer Sicht wird die Kontrolle der territorialen Grenzen zu einem endlosen Überprüfen einer bereits abgeschlossenen Tür (Rapoport 1989).
Gene Manche Menschen scheinen genetisch mehr als andere dafür prädisponiert zu sein, bestimmte Dinge zu fürchten und Angst zu entwickeln. Wenn ein traumatisches Ereignis und ein sensibles, leicht erregbares Temperament zusammentreffen, kann das Ergebnis eine neue Phobie sein. Bei Affen ist Furchtsamkeit eine Familieneigenschaft. Einzelne Affen reagieren stärker auf Stress, wenn ihre nahen Verwandten zu Ängstlichkeit neigen (Suomi 1986). Die Wirkungskraft der Gene zeigt sich auch in Studien an Menschen. Die Anfälligkeit für Angststörungen steigt an, wenn der von Angst betroffene Angehörige ein eineiiger Zwilling ist (Barlow 1988; Hettema et al. 2001; Kendler et al. 1992, 1999, 2002a, b). Eineiige Zwillinge entwickeln oft ähnliche Phobien, in manchen Fällen sogar, wenn sie getrennt aufwachsen (Carey 1990; Eckert et al. 1981). Zwei 35-jährige eineiige weibliche Zwillinge entwickelten unabhängig voneinander eine Klaustrophobie. Beide
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Abb. 17.3. Gehirn eines Menschen mit Zwangsstörung Neurowissenschaftler Ursu et al. (2003) setzte die Kernspintomographie (fMRI) ein, um Schichtaufnahmen der Gehirne von Menschen mit und ohne Zwangsstörungen zu vergleichen, während sie eine schwierige kognitive Aufgabe lösen mussten. Die Schichtaufnahmen zeigten bei Menschen mit einer Zwangsstörung eine erhöhte Aktivität im Cingulum anterior des Kortex
S. Ursu, V.A. Stenger, M. K. Shear, M. R. Jones & C. S. Carter (2003). Overactive action monitoring in obsessive-compulsive disorder. Psychological Science, 14, 347–353.
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hatten darüber hinaus eine derartig große Angst vor Wasser, dass sie nur vorsichtig rückwärts bis zu den Knien ins Meer wateten.
Das Gehirn Generalisierte Angst, Panikattacken und sogar Zwänge sind biologisch messbar als Übererregung der Hirnregionen, die an der Impulskontrolle und der Steuerung gewohnheitsmäßigen Verhaltens beteiligt sind. Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen bei Menschen mit Zwangsstörungen eine erhöhte Aktivität in bestimmten Hirnregionen, die mit Verhaltensweisen wie zwanghaftem Händewaschen, Nachprüfen, Ordnen und Hamstern in Zusammenhang stehen (Mataix-Cols et al. 2004, 2005). Wie . Abb. 17.3 zeigt, scheint das Cingulum anterior im Kortex, eine Hirnregion, die unsere Handlungen überwacht und auf Fehler überprüft, mit großer Wahrscheinlichkeit bei Personen mit einer Zwangsstörung besonders hyperaktiv zu sein (Ursu et al. 2003). Wenn das gestörte Gehirn entdeckt, dass etwas verkehrt läuft, erzeugt es so etwas wie einen »mentalen Schluckauf«, indem sich Gedanken oder Handlungen wiederholen (Gehring et al. 2000). Durch Erfahrungen, die zum Erlernen von Angst führen, kann das Gehirn traumatisiert werden, da durch diese Erfahrungen Angstkreisläufe in der Amygdala geschaffen werden (Armony et al. 1998). Einige Antidepressiva dämpfen diesen Kreislauf der Angst und das damit einhergehende zwanghafte Verhalten. ! Zusammengenommen ist klar geworden, dass die Biologie ein Bestandteil der Angst ist.
Kritisch nachgefragt
Dissoziation und multiple Persönlichkeiten Ziel 11: Beschreiben Sie die Symptome der dissoziativen Störung, und erklären Sie, warum einige Kritiker skeptisch gegenüber der dissoziativen Identitätsstörung sind. Zu den verwirrendsten Störungen gehören die seltenen dissoziativen Störungen, bei denen die Betroffenen einen plötzlichen Gedächtnisverlust oder eine Veränderung der Identität zu erleben scheinen. Das Hauptmerkmal dieser Störungen ist eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt. Es heißt, dass Menschen dissoziieren, wenn der Stress in einer Situation sie überwältigt. Ihr bewusstes Erleben spaltet sich von den schmerzhaften Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen ab. (Beachten Sie, dass diese Erklärung die Existenz von verdrängten Erinnerungen voraussetzt, die kürzlich infrage gestellt wurde, so wie es in 7 Kap. 9 und 14 diskutiert wird.) Die Störung kann plötzlich oder allmählich auftreten und sowohl vorübergehend als auch chronisch verlaufen. Es gibt bestimmte Dissoziationssymptome, die gar nicht so selten sind. Möglicherweise haben viele Menschen hin und wieder ein Gefühl von Unwirklichkeit oder das Gefühl, von ihrem Körper getrennt zu sein, Dissoziative Störungen (dissociative disorders): Störungen, bei denen sich das Bewusstsein von früheren Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen abspaltet (dissoziiert).
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oder sie sehen sich selbst wie in einem Film. Manchmal sagen wir möglicherweise: »Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht ich selbst.« Vielleicht können Sie sich daran erinnern, wie Sie selbst einmal in Ihr Auto gestiegen sind und zu irgendeinem Ort fuhren, zu dem Sie gar nicht wollten, während Sie in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt waren. Im Zusammenhang mit einem Trauma könnte eine solche Spaltung einen Menschen davor schützen, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Nur wenn solche Erfahrungen schwerwiegend und fortdauernd sind, geht man davon aus, dass es sich um eine dissoziative Störung handelt. Die extremste dissoziative Dissoziative Identitätsstörung Störung ist die dissoziative Iden(dissociative identity disorder): titätsstörung, bei der man anseltene Form einer dissoziativen nimmt, dass eine massive DissoStörung, bei der eine Person zwei ziation des Selbst vom gewöhnoder mehrere voneinander unterlichen Bewusstsein stattfindet. scheidbare und einander abwechselnde Persönlichkeiten zeigt; früVon den betroffenen Menschen her bezeichnet als multiple Persönwird behauptet, sie hätten 2 oder lichkeitsstörung. mehrere voneinander getrennte Identitäten, die abwechselnd das Verhalten bestimmen; dies ist verbunden mit einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses über die unterschiedlichen Persönlichkeitszustände hinweg. Ein Mensch mit dieser Störung könnte also zunächst steif und bieder sein und im nächsten Moment vorlaut und keck. Jede Persönlich6
765 17.2 · Angststörungen
© The New Yorker Collection, 2001. Leo Collum from cartoonbank.com. All rights reserved.
keit hat eine eigene Stimme und ein eigenes Benehmen, und die Originalpersönlichkeit leugnet in der Regel, die andere zu kennen. Obwohl Menschen mit der Diagnose dissoziative Identitätsstörung in der Regel nicht gewalttätig sind, gab es Fälle, bei denen die betreffende Person in eine »gute« und in eine »schlechte« (oder aggressive) Persönlichkeit dissoziiert wurde – eine abgeschwächte Form von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die in der Geschichte »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« von Robert Louis Stevenson verewigt wurde. Bei einem weiteren ungewöhnlichen Fall ging es um Kenneth Bianchi, der wegen Vergewaltigung und Mord an 10 Frauen in Kalifornien vor Gericht stand (»Hillside Strangler«). Während einer Hypnosesitzung mit Bianchi rief der Psychologe John Watkins eine verborgene Persönlichkeit an: »Ich habe ein wenig mit Ken gesprochen, aber ich glaube, dass es vielleicht einen anderen Teil von Ken geben könnte, mit dem ich nicht geredet habe, ein anderer Teil, der anscheinend vielleicht etwas anders ist als der Teil, mit dem ich gesprochen habe. ... Würden Sie, Teil, mit mir sprechen, indem Sie ›Ich bin da‹ sagen? Bianchi antwortete mit »Ja« und behauptete, ›Steve‹ zu sein«. Während er als Steve redete, behauptete Bianchi, dass er Ken hasse, weil dieser nett sei, und dass er (Steve) mit Hilfe seines Vetters Frauen umgebracht hätte. Er behauptete auch, dass Ken nichts von seiner Existenz wisse und dass Ken an den Morden nicht schuldig sei. War Bianchis zweite Persönlichkeit ein Trick, einfach eine Methode, um die Verantwortung für seine Handlungen zu leugnen? Tatsächlich wurde Bianchi – ein erfahrener Lügner, der in Psychologiebüchern etwas über multiple Persönlichkeiten gelesen hatte – später verurteilt. Um unsere Fähigkeit zum Wechsel der Persönlichkeit zu untersuchen, bat Spanos (1986, 1994, 1996) Studierende, zu spielen, sie stünden unter Mordanklage und würden psy»Die Maske kann zum Gesicht chiatrisch untersucht. Unter dieser hypwerden.« notischen Instruktion präsentierten die Chinesisches Sprichwort meisten spontan eine zweite Persönlichkeit. Diese Entdeckung führte Spanos zu folgender Frage: Sind die dissoziierten Identitäten lediglich eine extremere Version unserer normalen menschlichen Fähigkeit, das »Selbst«, das wir anderen präsentieren, zu verändern – so wie wir vielleicht ein albernes und lautes Selbst zeigen, wenn wir mit Freunden
»Wäre es möglich, mit der Persönlichkeit zu sprechen, die meine Rechnungen bezahlt?«
unterwegs sind, und ein beherrschtes und respektvolles Selbst bei unseren Großeltern? Kann es sein, dass die Kliniker, die eine dissoziative Identitätsstörung diagnostizieren, nichts anderes tun, als mit einer lebhaften Phantasie ausgestattete Menschen dazu zu bringen, eine bestimmte Rolle zu spielen? Wenn ja: Können solche Menschen sich selbst von der Echtheit ihrer Rolle überzeugen? Sind sie wie Schauspieler, die gemeinhin behaupten, sich selbst in der Rolle »zu verlieren«? (Erinnern Sie sich an 7 Kap. 7: Spanos stellte diese Fragen auch in Bezug auf den hypnotischen Zustand. Da die meisten Patienten mit dissoziativen Identitätsstörungen zugleich sehr leicht hypnotisierbar sind, kann die Erklärung der Dissoziation oder des Rollenspiels auch zur Erklärung des jeweils anderen Phänomens beitragen.) Wer die dissoziative Identität als eine Störung betrachtet, sieht sich durch die unterschiedlichen Hirn- und Körperzustände, die mit den verschiedenen Persönlichkeiten verbunden sind, bestätigt (Putnam 1991). Manchmal kommt es vor, dass eine Persönlichkeit rechtshändig ist, während bei einer anderen die linke Hand dominiert (Henninger 1992). Subtile Erinnerungen an die Erfahrungen der einen Persönlichkeit werden der anderen zuweilen nicht vermittelt (Eich et al. 1997). In einer Studie entdeckten Augenärzte eine Veränderung der Sehschärfe und der Koordination der Augenmuskeln, wenn die Patienten ihre Persönlichkeit wechselten. Diese Veränderungen zeigten sich nicht bei den Personen der Kontrollgruppe, die versuchten, dissoziative Identitäten zu simulieren (Miller et al. 1991). Die Skeptiker dagegen finden es nach wie vor verdächtig, dass diese Störung im späten 20. Jahrhundert so populär geworden ist. In Nordamerika stieg die Anzahl der Diagnosen exponentiell an: Von 1930 bis 1960 gab es nur 2 dokumentierte Fälle pro Jahrzehnt, in den 1980er Jahren stieg die Zahl auf über 20.000 – als das DSM erstmals die formale Kodierung für diese Störung aufführte (McHugh 1995a). Die durchschnittliche Anzahl der gezeigten Persönlichkeiten erhöhte sich ebenfalls sprunghaft – von 3 auf 12 pro Patient (Goff u. Sims 1993). Wie konnte eine derartig dramatische Störung so lange unbemerkt bleiben? Viele Kliniker hatten noch nie einen Fall von dissoziativer Identitätsstörung. Das Krankheitsbild kommt außerhalb Nordamerikas weniger oft vor, obwohl es in anderen Kulturen von manchen Menschen heißt, sie seien von einem fremden Geist »besessen« (Aldridge-Morris 1989; Kluft 1991). In Großbritannien ist diese Diagnose selten – von manchen wird sie als »eine verrückte amerikanische Marotte« betrachtet (Cohen 1995), d. h. die Diagnose wird dort möglicherweise überstrapaziert. Für die Skeptiker deuten diese Phänomene auf ein kulturelles Phänomen hin – ein Krankheitsbild, das von Therapeuten in einem bestimmten sozialen Kontext geschaffen wurde (Merskey 1992). Patienten kommen nicht in die Therapie und sagen: »Dürfen wir uns Ihnen vorstellen?« Es ist vielmehr so, sagen die Skeptiker, dass einige Therapeuten nach multiplen Identitäten suchen: »Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass ein anderer Teil von Ihnen Dinge tut, die Sie nicht kontrollieren können? Hat dieser Teil einen Namen? Kann ich zu dem wütenden Teil von Ihnen sprechen?« Sobald die Patienten dem Therapeuten einmal erlaubt haben, »den Teil, der diese wütenden Sachen sagt«, namentlich anzusprechen, fangen sie an, ihren Fantasien Ausdruck zu verleihen. Das Ergebnis kann ein echtes Phänomen sein, das dafür anfällige Patienten 6
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
möglicherweise als ein anderes Selbst erleben. Dennoch, so die Skeptiker, »ist es kein Zufall«, dass die ersten Studien über multiple Persönlichkeiten von Hypnotherapeuten durchgeführt wurden und dass die dramatischsten Symptome nach Beginn der Therapie auftreten (Goff 1993; Piper 1998). Sowohl aus psychoanalytischer als auch aus lerntheoretischer Sicht dienen die Symptome der dissoziativen Störungen, ebenso wie die der Angststörungen, der Bewältigung von Angst. Psychoanalytiker sehen »Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode« sie als Abwehrmechanismen geWilliam Shakespeare (»Hamlet«, 1600) gen die Angst, die infolge von inakzeptablen Triebregungen entsteht; eine böswillige zweite Persönlichkeit ermöglicht es, verbotene Triebregungen herauszulassen. Lerntheoretiker sehen die Symptome als Verhaltensweisen, die durch Angstabbau verstärkt werden. Andere betrachten dissoziative Störungen als posttraumatische Störungen – als eine natürliche Schutzreaktion auf »eine Vorgeschichte mit kindlicher Traumatisierung« (Putnam 1995). In der Forschung wird untersucht, ob die Mehrzahl der Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung als Kinder unter physischem, sexuellem oder emotio-
nalem Missbrauch gelitten haben (Gleaves 1996; Kihlstrom 2005; Lilienfeld et al. 1999). Eine Studie an 12 Mördern mit der Diagnose dissoziative Identitätsstörung ergab, dass 11 von ihnen als Kinder qualvolle Missbrauchserfahrungen gemacht hatten (Lewis et al. 1997). Einer war von seinen Eltern in Brand gesteckt worden. Ein anderer war für Kinderpornographie missbraucht worden und hatte Narben, weil er gezwungen worden war, auf einem Brennofen zu sitzen. Vielleicht ist in diesen Fällen die Entwicklung einer multiplen Persönlichkeit als der verzweifelte Versuch zu sehen, sich von einer schrecklichen Existenz zu trennen. Aber warum, fragen sich Skeptiker, entwickelten dann die Kinder des Holocaust nach einem Transport in Güterwaggons, dem Konzentrationslager und dem Mord an ihren Eltern keine dissoziative Identitätsstörung? Kann es sein, dass sich zu ausschweifender Fantasie neigende, emotional anfällige Menschen diesen Zustand bisweilen ausdenken und ihn sich aus der Interaktion mit dem Therapeuten heraus konstruieren? Wenn das so ist, sagt der Psychiater McHugh (1995b) Folgendes vorher: »Diese Epidemie wird auf dieselbe Weise zu Ende gehen wie der Hexenwahn in Salem. Das [Phänomen der multiplen Persönlichkeit] wird man dann als Hirngespinst ansehen.«
Lernziele Abschnitt 17.2 Angststörungen Ziel 5: Definieren Sie, was eine Angststörung ist, und erklären Sie, wie sich dieser Zustand von normalen Stressgefühlen, Anspannung und Unwohlsein unterscheidet. Angst gehört zu unseren tagtäglichen Erfahrungen. Sie wird jedoch nur dann als psychische Störung klassifiziert, wenn sie Leidensdruck verursacht oder persistiert oder wenn sie charakterisiert ist durch ein unangemessenes Verhalten, das auf den Abbau der Angst ausgerichtet ist. Ziel 6: Stellen Sie die Symptome der generalisierten Angststörung denen der Panikstörung gegenüber. Menschen mit einer generalisierten Angststörung (zwei Drittel davon sind Frauen) leiden, fühlen sich ohne ersichtlichen Grund ständig und unkontrollierbar angespannt und besorgt und befinden sich in einem Zustand der Erregung des autonomen Nervensystems. Sie sind nicht in der Lage, die Ursachen für diese Gefühle anzugeben oder zu vermeiden. Personen mit einer Panikstörung erleben in periodischen Episoden minutenlang einen intensiven Schrecken, zu dem Gefühle von Todesangst, Brustschmerzen, Erstickung und andere ängstigende Empfindungen gehören. Angst ist ein Bestandteil beider Störungen, aber die Reaktionen bei einer Panikstörung sind extremer und können Menschen dazu bringen, Situationen zu vermeiden, in denen sie Panikattacken bekommen haben.
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Ziel 7: Erklären Sie, inwiefern sich eine Phobie von den Ängsten unterscheidet, mit denen wir alle dann und wann Erfahrung machen. Phobien unterscheiden sich von normalen Ängsten in ihrem extremen Ausmaß und ihren potenziellen Auswirkungen auf das Verhalten. Men-
schen mit einer Phobie machen so anhaltende und irrationale Ängste durch, dass sie durch ihren Versuch, eine bestimmte Situation, ein Tier oder ein Objekt zu meiden, in ihrer Lebensführung beeinträchtigt werden. Ziel 8: Beschreiben Sie die Symptome der Zwangsstörung. Anhaltende und wiederkehrende Gedanken und Handlungen, die kennzeichnend für die Zwangsstörung sind, beeinträchtigen das alltägliche Leben und rufen bei der Person Leidensdruck hervor. Der Zwangsgedanke (ein immer wiederkehrender Gedanke) kann z. B. eine Sorge um Schmutz, Krankheitserreger oder Gifte sein; die Zwangshandlung (eine immer wiederkehrende Handlung) kann z. B. übermäßiges Händewaschen, Baden oder irgendeine andere Form von Säuberung sein. Ziel 9: Beschreiben Sie die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung, und erörtern Sie die Widerstandsfähigkeit der Überlebenden. Vier Wochen oder mehr voller lauernder Erinnerungen, Albträume, sozialem Rückzug, frei flottierender Angst und Schlafproblemen sind Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Symptome tauchen nach einem oder mehreren traumatischen Ereignissen auf, die eine Person selbst als Betroffener erlebt oder als Zeuge miterlebt hat, die sie jedoch nicht unter Kontrolle bringen konnte. Manche Menschen sind widerstandsfähiger als andere. Im Durchschnitt reagieren nur etwa 10% der Frauen und 5% der Männer so auf einTrauma, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Bei denjenigen, die ein Trauma überstehen, kann die Erfahrung zu einer Zeit des Wachstums führen. 6
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767 17.3 · Affektive Störungen
Ziel 10: Erörtern Sie die Beiträge der Lerntheorie und des biologischen Ansatzes zum besseren Verständnis der Entwicklung von Angststörungen. Der lerntheoretische Ansatz sieht die Angststörung als Produkt aus Angstkonditionierung, Reizgeneralisierung, Verstärkung furchtvoller Verhaltensweisen und Lernen durch Beobachtung der Angst anderer. Der biologische Ansatz beschäftigt sich mit der Rolle, die die Angst vor lebensbedrohlichen Tieren, Objekten oder Situationen bei der natürlichen Selektion und Evolution gespielt hat, mit der genetischen Vererbung eines hohen Maßes an emotionaler Reaktionsbereitschaft und mit abnormen Reaktionen in den Angstkreisläufen des Gehirns. Ziel 11: Beschreiben Sie die Symptome der dissoziativen Störung, und erklären Sie, warum einige Kritiker skeptisch gegenüber der dissoziativen Identitätsstörung sind. Dissoziative Störungen sind Zustände, bei denen das Bewusstsein anscheinend von früheren Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen ab-
17.3
getrennt wird. Die bekannteste dissoziative Störung ist die dissoziative Identitätsstörung, früher allgemein bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung. Kritiker merken an, dass die Diagnose gegen Ende des 20. Jahrhunderts in dramatischer Form zugenommen hat, dass sie in vielen Ländern nicht vorkommt, in anderen sehr selten ist und dass in ihr ein Rollenspiel von Menschen zum Ausdruck kommt, die gegenüber den Suggestionen von Therapeuten sehr offen sind. Manche betrachten diese Störung als eine Manifestation von Angstgefühlen oder als eine Reaktion, die gelernt wurde, als dissoziative Verhaltensweisen durch den Abbau von Angstgefühlen verstärkt wurden. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Angst erinnern, die Sie gelernt haben? Wenn ja, welche Rolle spielten dabei die Angstkonditionierung und das Lernen am Modell?
Affektive Störungen
Ziel 12: Definieren Sie, was eine affektive Störung ist, und stellen Sie die Major Depression der bipolaren Störung gegenüber.
Die bei affektiven Störungen auftretenden emotionalen Extreme manifestieren sich in 2 Hauptformen: 4 der Major Depression, in der ein Mensch eine anhaltende Hoffnungslosigkeit und Lethargie erlebt, bis er für gewöhnlich zur Normalität zurückkehrt, und 4 der bipolaren Störung (früher: manisch-depressive Störung), bei der ein Mensch zwischen einer Depression und einer Manie (einem reizbaren, hyperaktiven Zustand) hin und her wechselt.
17.3.1
Affektive Störungen (mood disorders): psychische Störungen (z. B. Major Depression, bipolare Störung), die durch emotionale Extreme charakterisiert sind.
Major Depression
Vielleicht wissen Sie, wie sich eine Depression anfühlt. Wenn es Ihnen so geht wie den meisten Studierenden, werden Sie vielleicht ein paar Mal im Jahr – eher in den dunklen Wintermonaten als an hellen Sommertagen – einige wenige Symptome der Depression spüren. Möglicherweise fühlen Sie sich zutiefst entmutigt, wenn Sie an Ihre Zukunft denken, sind unzufrieden mit Ihrem Leben oder Sie fühlen sich isoliert. Vielleicht fehlt Ihnen die Energie, um Ihre Angelegenheiten zu erledigen, oder Sie müssen sich sogar aus dem Bett quälen; Sie sind unfähig, sich zu konzentrieren, zu essen oder normal zu schlafen; Sie fragen sich vielleicht sogar, ob es nicht besser wäre, tot zu sein. Möglicherweise hat sozialer Stress wie z. B. das Gefühl, nicht dazu zu gehören, oder das Ende einer Beziehung Sie in Verzweiflung gestürzt. Und eventuell hat manchmal Ihr Grübeln Ihre innere Zerrissenheit noch verschlimmert. Das geht nicht nur Ihnen so. Die Depression ist der »harmlose Schnupfen« der psychischen Störungen: Dieser Vergleich drückt sehr genau das weit verbreitete Vorkommen der Erkrankung aus, wird aber der Schwere nicht gerecht. Obwohl Phobien weitaus weiter verbreitet sind, ist die Depression der Hauptgrund dafür, dass Menschen psychiatrische und psychologische Einrichtungen aufsuchen. Weltweit stellt sie sogar die Hauptursache für eine gesundheitliche Einschränkung dar (WHO 2002). Jedes Jahr sind 5,8% der Männer und 9,5% der Frauen von einer depressiven Episode betroffen, berichtet die Weltgesundheitsorganisation. So wie die Angst eine Reaktion auf die Bedrohung durch zukünftige Verluste darstellt, erfolgt auch die Depression oft auf einen vergangenen oder gegenwärtigen Verlust. Wenn man sich als
Bei einigen Menschen kommt es während der dunklen Wintermonate zur »saisonalen affektiven Störung«, einer wiederkehrenden Depression. Auch andere sind im Winter eher schwermütig. Auf die Frage »Haben Sie heute geweint?« antworteten Amerikaner im Winter öfter mit »ja« (Time/CNN 1994). Prozentsatz derjenigen, die mit ja geantwortet haben Männer
Frauen
August
4%
7%
Dezember
8%
21%
»Die Depression ... ist gut für Lebewesen geeignet, um sich vor jeglicher Art eines großen oder plötzlichen Übels zu schützen.« Charles Darwin, »The Life and Letters of Charles Darwin« (1887)
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
»Plötzlich war mein Leben zum Stillstand gekommen. Ich konnte atmen, essen, trinken und schlafen. Tatsächlich konnte ich gar nicht anders, als diese Dinge zu tun, aber es war kein echtes Leben in mir.« Leo Tolstoi (»Notizen eines Wahnsinnigen«, 1887) Major Depression (major depressive disorder): affektive Störung, bei der ein Mensch ohne ersichtlichen Grund für 2 Wochen oder länger eine depressive Stimmung, ein Gefühl der Wertlosigkeit und ein vermindertes Interesse oder nur wenig Freude an den meisten Aktivitäten verspürt.
Reaktion auf ein tiefgreifendes, trauriges Ereignis (etwa den Tod eines Menschen, den man geliebt hat) schlecht fühlt, bedeutet das, mit der Realität im Kontakt zu sein. In solchen Zeiten ist eine Depression wie eine Kontrollleuchte für Öl bei einem Auto: ein Warnsignal, das uns darauf hinweist, anzuhalten und Schutzmaßnahmen (Öl nachgießen) zu ergreifen. Erinnern Sie sich, dass – biologisch gesprochen – der Sinn des Lebens nicht Frohsinn, sondern das Überleben und die Fortpflanzung sind. So gesehen sind Husten, Erbrechen und diverse Formen von Schmerz zwar unerfreulich, schützen den Körper jedoch vor gefährlichen Giften. Bei diesem Vergleich ist die Depression eine Art psychischer Winterschlaf: Sie verlangsamt unsere Körperfunktionen, entschärft Aggressionen und hält uns davon ab, Risiken einzugehen. Der vorübergehende Stillstand und das Grübeln, das typisch für depressive Menschen ist, bedeuten, bei einer wahrgenommenen Bedrohung das eigene Leben neu zu bewerten und die Energie in neue, Erfolg versprechende Bahnen zu lenken. Betrachtet man es aus dieser Perspektive, so hat das Leiden einen Sinn. Wann aber wird aus dieser Reaktion eine ernste Fehlanpassung? Die Grenze zwischen der normalen alltäglichen Niedergeschlagenheit und der Major Depression ist schwer zu ziehen. Freude, Zufriedenheit, Traurigkeit und Verzweiflung sind einzelne Punkte auf einem Kontinuum, Punkte, an denen sich jeder von uns irgendwann befindet. Eine Major Depression liegt nach dem DSM-IV vor, wenn die Symptome einer Depression (Antriebslosigkeit, Gefühle von Wertlosigkeit, Desinteresse an Familie, Freunden und Aktivitäten) 2 Wochen oder länger andauern und nicht durch Medikamente oder einen medizinischen Krankheitsfaktor verursacht werden. Der Unterschied zwischen der Niedergeschlagenheit nach einer schlechten Nachricht und einer affektiven Störung ist wie der Unterschied zwischen dem einige Minuten andauernden Keuchen nach einem anstrengenden Lauf und einer chronischen Kurzatmigkeit. Um zu spüren, wie sich eine Major Depression anfühlt, schlagen einige Ärzte vor, sich die Kombination aus den seelischen Qualen einer Trauer und der Schlappheit aufgrund eines Jetlags vorzustellen. Zwischen der zeitweiligen Verstimmung, mit der wir alle Erfahrung machen, und dem zermalmenden Einfluss einer Major Depression gibt es einen Zustand, der als dysthyme Störung bezeichnet wird – eine niedergeschlagene Stimmung, die den größten Teil des Tages anhält, fast täglich über 2 Jahre hinweg oder länger. Obwohl Personen mit einer dysthymen Störung weniger beeinträchtigt sind als Menschen mit einer Major Depression erleben sie chronische Schlappheit und ein geringes Selbstwertgefühl, sie haben Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren und Entscheidungen zu fällen, sie schlafen und essen zu viel oder zu wenig.
17.3.2 Manische Episode (manic episode): Phase einer affektiven Störung, die durch einen hyperaktiven, überaus optimistischen Zustand charakterisiert ist.
Bipolare Störung (bipolar disorder): eine affektive Störung, bei der ein Mensch zwischen der Hoffnungslosigkeit und Lethargie der Depression und dem übererregten Zustand der Manie hin und her wechselt (früher manisch-depressive Störung genannt).
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Bipolare Störung
Die einzelnen Episoden der Major Depression finden normalerweise mit oder ohne Therapie irgendwann ein Ende, und die Menschen kehren vorübergehend oder für immer zu ihren vorherigen Verhaltensmustern zurück. Einige Menschen jedoch fallen ins entgegengesetzte emotionale Extrem bzw. ihre Störung beginnt bisweilen damit – mit dem euphorischen, hyperaktiven, unbezähmbar optimistischen Zustand einer Manie. Fühlt sich die Depression so an, als lebe man in Zeitlupe, so ist die Manie dagegen ein Zeitraffer. Ein Wechsel zwischen Depression und Manie ist das Kennzeichen einer bipolaren Störung. Während der manischen Phase einer bipolaren Störung ist der Betroffene typischerweise überaus gesprächig, hyperaktiv und freudig erregt (obwohl leicht zu irritieren, wenn man ihn damit konfrontiert); er benötigt wenig Schlaf; und zeigt weniger sexuelle Hemmungen. Die Sprache ist laut, sprunghaft, und er ist schwer zu unterbrechen. Ein grenzenloser Optimismus und Selbstvertrauen, die zu unbedachten Investitionen, Kaufräuschen und Ähnlichem führen, sind manische Symptome und stellen ein unangemessenes Verhaltensmuster dar. Obwohl Menschen im manischen Zustand Ratschläge irritierend finden, müssen sie vor ihrem eigenen mangelhaften Urteilsvermögen geschützt werden. Bei schwächeren Formen können jedoch die in der Manie vorhandene Energie und das frei fließende Denken auch die Kreativität fördern. In der Geschichte gibt es viele Beispiele für Menschen, die unter einer bipolaren Störung litten und kreativ waren, von Walt Whitman und Ernest Hemingway bis hin zu Virginia Woolf. Bipolare Störungen sind besonders unter kreativen Künstlern und Dichtern verbreitet (Jamison 1993, 1995; Kaufman u. Baer 2002). Georg Friedrich Händel (1685–1759), von
17.3.3
Erklärungsansätze
Ziel 13: Erörtern Sie die Fakten, die eine akzeptable Theorie der Depression erklären muss.
Da so viele Menschen von einer schweren Depression betroffen sind, ist es verständlich, dass Depressionen auch Gegenstand unzähliger Untersuchungen sind. Gegenwärtig arbeiten Psychologen daran, eine Theorie der affektiven Störungen zu entwickeln, mit deren Hilfe wirkungsvollere Methoden angestrebt werden, um Depressionen zu verhindern und Behandlungsmöglichkeiten zu schaffen. Lewinsohn et al. (1985, 1998) fassten die Fakten zusammen, die jede Theorie über die Depression erklären können muss. Dazu gehören Folgende: 4 Depressionen gehen mit einer Reihe von Veränderungen im Verhalten und in den Kognitionen einher. Depressive Menschen sind inaktiv und fühlen sich unmotiviert. Sie sind empfindlich gegenüber negativen Ereignissen, erwarten negative Ergebnisse und erinnern sich häufiger an negative Informationen. In einer depressiven Stimmung erwarten wir, dass unser Team verliert, sich unsere Noten verschlechtern, unsere Beziehung scheitert. Wenn die Depression vorübergeht, verschwinden diese Begleiterscheinungen im Verhalten und im Denken. Über nahezu die Hälfte der Zeit zeigen depressive Menschen auch Symptome einer anderen Störung, wie z. B. eine Angststörung oder Substanzmissbrauch. 4 Depressionen sind weit verbreitet. Ihr häufiges Auftreten lässt darauf schließen, dass auch ihre Ursachen weit verbreitet sein müssen. 4 Im Vergleich zu Männern sind Frauen nahezu doppelt so anfällig für eine Major Depression (. Abb. 17.4). Ganz allgemein sind Frauen anfälliger für Störungen, bei denen es um internalisierte Gefühlszustände geht, wie Depression, Angst und unterdrückte sexuelle Wünsche. Bei Störungen von Männern geht es in der Regel eher um etwas Äußeres: um Alkohol-
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Hulton-Deutsch Collection/Corbis
US Library of Congress, LC-USZ62-10610
dem viele glauben, er habe an einer schwachen Form der bipolaren Störung gelitten, hat seinen 4-stündigen »Messias« während einer 3 Wochen andauernden, intensiven, kreativen Energiephase komponiert (Keynes 1980). Robert Schumann komponierte 51 musikalische Werke während einer 2 Jahren anhaltenden Manie (1840 und 1849) und kein einziges Werk im Jahre 1844, als er unter schweren Depressionen litt (Slater u. Meyer 1959). Angehörige kreativer Berufe, bei denen es um Präzision und Logik geht (Architekten, Designer, Journalisten) leiden weniger häufig unter bipolaren Störungen als diejenigen, die sich stark auf ihren emotionalen Ausdruck und ihre lebhaften Vorstellungen verlassen, berichtet Ludwig (1995). Für Emotionen gilt dasselbe wie für alles andere: Was nach oben geht, kommt auch wieder herunter. Früher oder später kehrt die Hochstimmung wieder auf Normalmaß zurück, oder der Betreffende verfällt in eine Depression. Obwohl die bipolare Störung genauso wie die Major Depression als Fehlanpassung gilt, ist Erstere seltener. Im Gegensatz zur Major Depression betrifft sie mehr Männer als Frauen.
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Kreativität und bipolare Störung Die Geschichte zeigt uns viele kreative Künstler, Komponisten und Schriftsteller mit bipolarer Störung, wie z. B. Edgar Allan Poe, Virginia Woolf, Mark Twain und Ernest Hemingway (von links nach rechts)
»Alle Persönlichkeiten aus Geschichte, Literatur oder Kunst, denen meine größte Bewunderung gehört: Mozart, Shakespeare, Homer, El Greco, St. John, Tschechow, Gregor von Nicea, Dostojewski, Emily Brontë: Keiner von ihnen könnte ein günstiges Zeugnis seiner geistigen Gesundheit vorlegen.« Madeleine L’Engle (»A Circle of Quiet«, 1972)
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. Abb. 17.4. Geschlecht und Depression Interviews mit 38.000 Erwachsenen aus 10 Ländern bestätigen die Befunde vieler kleinerer Studien: Frauen haben ein nahezu doppelt so hohes Risiko, an einer Major Depression zu erkranken, wie Männer. Zu beachten ist ebenfalls, dass das Erkrankungsrisiko, bezogen auf die Lebenszeit, von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist: von 1,5% in Taiwan bis zu 19% in Beirut. (Aus Weissman et al. 1996)
Etwa 50% der Menschen, die von einer Depression genesen, erleiden innerhalb der nächsten 2 Jahre einen Rückfall. Die Genesung ist umso wahrscheinlicher, je später die erste Episode auftritt, je länger die Patienten anschließend gesund bleiben, je weniger frühere Episoden und je weniger Stress sie hatten und je mehr soziale Unterstützung sie erfuhren (Belsher u. Costello 1988; Fergusson u. Woodward 2002; Kendler et al. 2001).
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missbrauch, antisoziales Verhalten, Verlust der Impulskontrolle. Werden Frauen traurig, so werden sie oft trauriger als Männer. Wenn Männer ausrasten, rasten sie häufig schlimmer aus als Frauen. 4 Die meisten Episoden der Major Depression enden von selbst. Eine Therapie kann in der Regel die Genesung beschleunigen, aber dennoch kehren Menschen, die an einer Major Depression leiden, schließlich auch ohne professionelle Hilfe zum Normalzustand zurück. Die Last einer Depression kommt und geht normalerweise nach ein paar Wochen oder Monaten wieder, obwohl sie manchmal erneut auftritt. 4 Einer Depression gehen oft stressreiche Ereignisse voraus, die mit Arbeit, Heirat und engen Beziehungen zusammenhängen. Der Tod eines Familienmitglieds, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Ehekrise oder das Erleiden physischer Gewalt erhöhen das Depressionsrisiko. »Wenn eine mit Stress zusammenhängende Angst so etwas wie ein knisterndes, bedrohliches Feuer im Gebüsch ist«, merkt der Biologe Sapolsky (2003) an, »handelt es sich bei der Depression um die schwere Decke, die man darüber wirft und so das Feuer erstickt.« In einer Studie wurden 2000 Personen über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht. Man fand heraus, dass im jeweils darauf folgenden Monat das Risiko für das Auftreten einer Depression für diejenigen, die kein stressreiches Erlebnis hatten, weniger als 1% betrug, während es für diejenigen, die 3 solcher Ereignisse hinter sich hatten, auf bis zu 24% anstieg (Kendler 1998). Der frühe Verlust eines Elternteils durch Tod oder Trennung erhöht ebenfalls die Wahrscheinlichkeit einer Depression (Agid et al. 1999). 4 Mit jeder neuen Generation steigt auch die Depressionsrate und setzt die Störung früher ein (nun häufiger in der späten Adoleszenz). Dies trifft nicht nur für Kanada und die USA zu, sondern auch für Deutschland, Italien, Frankreich, den Libanon, Neuseeland, Taiwan und Puerto Rico (Cross-National Collaborative Group 1992). In Australien zeigten 12% der befragten Jugendlichen Symptome einer Depression. Die meisten verbargen es vor ihren Eltern; fast 90% der Eltern nahmen ihre depressiven Kinder nicht als depressiv wahr (Sawyer et al. 2000). In Nordamerika berichteten heutige junge Erwachsene mit einer 3-mal höheren Wahrscheinlichkeit als ihre Großeltern darüber, kürzlich oder überhaupt jemals eine Depression erlitten zu haben (obwohl die Großeltern aufgrund des höheren Alters ein höheres Risiko hatten). Auf die Frage »Haben Sie je geglaubt, Sie würden einen Nervenzusammenbruch erleiden?« antworteten 1957 17% der Amerikaner mit »ja«, 1996 waren es 24% (Swindle et al. 2000). Der Anstieg scheint teilweise echt zu sein, kann aber auch die größere Bereitschaft junger Erwachsener zum Ausdruck bringen, eine Depression zu offenbaren. Genauso wurde in Deutschland in einer Reihe neuerer epidemiologischer Studien ein Zuwachs in der Prävalenz der Major Depression in jüngeren Geburtskohorten und ein sinkendes Ersterkrankungsalter dieser Störung beobachtet (Knäuper u. Wittchen 1995). Wie nicht anders zu erwarten, verstanden und interpretierten die Forscher diese Fakten entsprechend ihren unterschiedlichen Ansätzen. Im psychoanalytischen Ansatz, in dem Freuds Vorstellungen über die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und unbewusster Triebregungen integriert sind, wurde als Erklärung angeboten, dass eine Depression dann auftritt, wenn durch einen
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schweren Verlust ein Gefühl hervorgerufen wird, das den Verlusterfahrungen in der Kindheit ähnlich ist. Das Ende einer Beziehung oder der Verlust des Arbeitsplatzes könnten Gefühle hervorrufen, die an jenes Gefühl erinnern, das man z. B. beim Verlust der engen Beziehung zur Mutter empfindet. Alternativ kann sich aufgestaute Wut gegenüber einem Elternteil auch gegen die eigene Person richten. Heutzutage erweitert die biopsychosoziale Perspektive unser Verständnis durch biologische und kognitive Erklärungsansätze. Unter der Lupe
Suizid Leben jedoch, müde der weltlichen Beschränkungen, besitzt immer die Macht, sich selbst zu entlassen. William Shakespeare (»Julius Cäsar«, 1599) Jedes Jahr sagen ungefähr 1 Mio. verzweifelter Menschen »nein« zu ihrem Leben und entscheiden sich für die irreversible Lösung eines Problems, das sehr wohl vorübergehender Natur sein mag (Mann 2003; WHO 2004). Beim Vergleich der Selbstmordraten in unterschiedlichen Gruppen fanden die Forscher Folgendes heraus: 5 Nationale Unterschiede. Die Selbstmordraten in England, Italien und Spanien sind etwa halb so hoch wie die in Kanada, Australien und den USA; Deutschland liegt mit 13,5 Suiziden pro 100.000 Einwohnern (Männer 20,3; Frauen 7,3) im Mittelfeld der weltweiten Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2003). Innerhalb Europas hatten die Menschen mit der höchsten Suizidtendenz (die Litauer) eine 15-mal höhere Wahrscheinlichkeit, sich umzubringen als die mit der geringsten Tendenz (die Portugiesen). 5 Ethnische Unterschiede. Die Wahrscheinlichkeit, sich umzubringen, ist bei weißen Amerikanern doppelt so hoch wie bei schwarzen (NIMH 2002). 5 Geschlechtsunterschiede. Frauen begehen eher einen Selbstmordversuch als Männer. Allerdings haben Männer eine 2- bis 4-mal (je nach Land) höhere Wahrscheinlichkeit, sich tatsächlich umzubringen (. Abb. 17.5). [Eine Ausnahme bildet China, wo die meisten Selbstmorde auf das Konto von Frauen gehen (WHO 2002c).] Männer bringen sich eher mit Hilfe eines tödlichen Kopfschusses um; in den USA ist das in 6 von 10 Fällen die Methode der Wahl. 5 Altersunterschiede und Trends. Die Suizidrate steigt mit dem Lebensalter, ältere Männer weisen die höchsten Suizidraten auf (. Abb. 17.5). In der westlichen Welt steigen die Suizidraten älterer Jugend-
licher, besonders bei Männern, ebenfalls seit 1960 (Eckersley u. Dear 2002). Die Selbstmordraten bei 15- bis 25-jährigen Amerikanern, Australiern, Briten, Kanadiern und Neuseeländern haben sich in den 30 Jahren nach 1960 verdoppelt oder mehr als verdoppelt, was als Parallele zu den ansteigenden Raten von Angst und Depression bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen betrachtet werden kann. In Deutschland zeigt sich ein etwas anderes Bild: Die Zahl der Suizide hat seit den 80er-Jahren stark abgenommen und sich in den letzten Jahren stabilisiert (Fiedler 2003). 5 Andere Gruppenunterschiede. Bei reichen, nicht religiösen, allein stehenden, verwitweten oder geschiedenen Menschen liegt die Selbstmordrate wesentlich höher (Hoyer u. Lund 1993; Stack 1992; Stengel 1981). Sowohl in den USA als auch in Australien traf die Suizidwelle der Jugendlichen fast ausschließlich Männer (Hassan u. Carr 1989). Schwule und lesbische Jugendliche stehen häufiger unter Belastungen und unternehmen häufiger Selbstmordversuche als ihre heterosexuellen Altersgenossen (Goldfried 2001). Diejenigen, die eine Depression hatten, haben ein mindestens 5-mal so hohes Suizidrisiko wie die Allgemeinbevölkerung (Bostwick u. Pankratz 2000), Menschen begehen jedoch selten Selbstmord, wenn sie tief in einer Depression stecken; dann fehlt es an der nötigen Energie und Initiative. Die Suizidgefahr steigt jedoch, sobald sie sich erholen und wieder in der Lage sind, etwas zu tun. Suizide bei Teenagern können auf ein traumatisches Ereignis folgen, etwa das Ende einer Beziehung oder eine antisoziale Handlung, die Schuldgefühle hervorruft; oft spielen Drogenund Alkoholmissbrauch eine Rolle (Fowler et al. 1986; Kolata 1986). Verglichen mit Menschen, die an keiner Störung leiden, sind Alkoholabhängige ca. 100-mal stärker selbstmordgefährdet; ca. 3% von ihnen führen ihn aus (Murphy u. Wetzel 1990). Auch unter Menschen, die Suizidver. Abb. 17.5. Suizidraten nach Geschlecht und Alter Die weltweiten Suizidraten liegen bei Männern höher als bei Frauen. Die größte relative Häufigkeit findet sich bei älteren Männern. (Aus WHO 2002a)
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suche hinter sich haben, tragen diejenigen, die unter Alkoholmissbrauch leiden, ein 5-mal höheres Suizidrisiko (Beck u. Steer 1989). Auch Medieneinflüsse können diese letzte Handlung auslösen. Nach öffentlichkeitswirksamen Selbstmorden und Fernsehserien, die Suizid thematisieren, steigt die Anzahl der Selbstmorde, die als solche erkannt werden. Das gilt auch für tödliche Autounfälle und private Flugzeugabstürze (. Kap. 15). Selbstmord ist nicht notwendigerweise ein feindseliger Akt oder Racheakt. Ältere Menschen wählen Selbstmord oft als Alternative zu ihrem gegenwärtigen oder zukünftigen Leiden. Bei Menschen aller Altersgruppen kann Suizid eine Möglichkeit sein, nicht mehr auszuhaltende Schmerzen auszuschalten und die Familienmitglieder von der subjektiv so wahrgenommenen Last zu befreien (Joiner et al. 2002; Shneidman 1987). Im Rückblick können sich Familien und Freunde an Zeichen erinnern, die sie hätten vorwarnen sollen – z. B. verbale Hinweise, das Verschenken von Besitztümern, der Rückzug oder die Beschäftigung mit dem Thema Tod. Aber nur wenige Menschen, die von Selbstmord reden
oder Selbstmordgedanken in sich tragen (dazu gehören ein Drittel aller Erwachsenen und älteren Jugendlichen), versuchen es auch. Nur wenige von denen, die es versuchen, bringen sich auch tatsächlich um (Yip 1998). In den Vereinigten Staaten z. B. erscheinen Berichte über 30.000 Suizide jährlich, daneben gibt es jedoch eine halbe Million Notaufnahmen wegen eines versuchten Selbstmordes (Surgeon General 1999). Ein Drittel derer, die sich umbringen, haben bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Auch in Deutschland wird geschätzt, dass 10- bis 15-mal so viele Suizidversuche unternommen wie Suizide schließlich vollendet werden. Dabei ist auch bei uns die Zahl der Suizidversuche bei Frauen weitaus höher als bei Männern; die Rate der erfolgreichen Suizide liegt aber bei Männern höher (Schmidtke et al. 2000). Dennoch haben die meisten derjenigen, die letztlich Selbstmord begingen, zuvor darüber geredet; und jeder, der mit Suizid droht, sendet zumindest Signale aus, die seine Verzweiflung und Mutlosigkeit deutlich machen. Wenn also ein Freund von Selbstmord redet, ist es wichtig, zuzuhören und ihn auf professionelle Hilfe hinzuweisen.
Biologischer Ansatz Ziel 14: Fassen Sie zusammen, welche Beiträge der biologische Ansatz für die Erforschung der Depression geleistet hat, und erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Suizid und Depression.
Ein Großteil der Forschungsgelder für den Bereich psychische Gesundheit fließt in Untersuchungen über biologische Einflüsse auf affektive Störungen. Die Depression ist eine Störung, die die Person als Ganzes betrifft, also auch den Körper. Zur Depression gehören sowohl eine genetische Prädisposition und Störungen im biochemischen Gleichgewicht als auch negative Gedanken und eine melancholische Stimmung.
Genetische Einflüsse
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Es ist schon lange bekannt, dass affektive Störungen innerhalb von Familien gehäuft auftreten. Das Risiko, an einer Major Depression oder an einer bipolaren Störung zu erkranken, ist größer, wenn man einen depressiven Elternteil oder Geschwister hat, die an einer Depression leiden (Sullivan et al. 2000). Wenn bei einem eineiigen Zwilling eine Major Depression diagnostiziert wird, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50%, dass der andere Zwilling ebenfalls irgendwann betroffen sein wird. Bei zweieiigen Zwillingen ist die Chance gerade unter 20% (Tsuang u. Faraone 1990). Wenn ein eineiiger Zwilling eine bipolare Störung entwickelt, stehen die Chancen 7:10, dass bei dem anderen Zwilling eine ähnliche Störung diagnostiziert wird. Bei zweieiigen Zwillingen liegen die Chancen entsprechend bei 1:5 (Tsuang u. Faraone 1990). Die gemeinsame Neigung zur Depression bei eineiigen Zwillingen zeigt sich auch dann, wenn sie getrennt aufgewachsen sind (DiLalla et al. 1996). Darüber hinaus haben adoptierte Menschen, die an einer affektiven Störung leiden, oft nahe biologische Verwandte, die auch affektive Störungen aufweisen, alkoholabhängig werden oder Selbstmord begehen (Wender et al. 1986; 7 Unter der Lupe: »Suizid«). Die Suche nach den Genen, die manche Menschen einem erhöhten Risiko für Depressionen aussetzen, hat begonnen. Um herauszufinden, welche Gene daran beteiligt sind, führen die Forscher Verwandtschaftsanalysen durch. Zuerst suchen sie Familien, die die Störungen über mehrere Generationen hinweg aufweisen. Dann entnehmen sie Blut von betroffenen und nicht betroffenen Familienmitgliedern und suchen nach Unterschieden in der DNA. Die Verwandtschaftsanalyse verweist auf ein Gebiet im Chromosom, merken die Verhaltensgenetiker Plomin u. McGuffin (2003) an: »Wir brauchen eine Suche von Haus zu Haus, um das schuldige Gen zu finden.« Bei Zusammenhangsanalysen sucht man nach Zusammenhängen zwischen spezielleren DNA-Varianten und einem Jerry Irvin Photography
Genforscher suchen bipolare DNA-Verbindungen Verwandtschaftsstudien haben das Ziel, abweichende Gene bei Familienmitgliedern, die an Depressionen leiden, auszumachen. Die Mitglieder dieser Amish-Familie aus Pennsylvania – einer isoliert lebenden Population, die eine gemeinsame Lebensweise und eine gewisse Anfälligkeit für diese Krankheit aufweist – gehörten zu den freiwilligen Teilnehmern an der Studie
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Merkmal in der Population. Eine derartige DNA-Variante tritt beispielsweise bei etwa 40% der Menschen mit spät einsetzender Alzheimer-Krankheit auf und bei etwa 15% derer ohne Alzheimer (Plomin u. McGuffin 2003). Das vorweggenommene Ergebnis einer Verwandtschafts- und Zusammenhangsanalyse in der Depressionsforschung ergibt ein komplexes Bild: Viele Gene mit kleinen Einflüssen führen, wenn sie miteinander und mit nichtgenetischen Faktoren kombiniert werden, zu einem erhöhten Risiko.
Das depressive Gehirn
Eigentum von Lewis Baxter und Michael E. Phelps, UCLA School of Medicine
Gene agieren, indem sie biochemische Vorgänge anregen, die dann das Verhalten beeinflussen. Der biochemische Schlüssel sind die Neurotransmitter, Botenstoffe, die Signale zwischen den Nervenzellen übermitteln. Noradrenalin, ein Neurotransmitter, der die Erregung steigert und die Stimmung hebt, ist bei einer Depression spärlich und bei einer Manie im Überschuss vorhanden (Medikamente, die eine Manie lindern, senken den Noradrenalinspiegel.) Die Lebensgeschichte vieler Menschen, die an einer Depression gelitten haben, weist sie als gewohnheitsmäßige Raucher aus. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass sie sich selbst durch das Rauchen therapieren; dies lässt ihren Noradrenalinspiegel vorübergehend ansteigen und verbessert ihre Laune (HMHL 2002). Ein weiterer Neurotransmitter, Serotonin, ist während einer Depression ebenfalls in geringerer Menge vorhanden. Medikamente zur Depressionsbehandlung erhöhen gewöhnlich die Noradrenalin- oder Serotoninversorgung, indem entweder deren Wiederaufnahme blockiert wird (wie es z. B. die Wirkstoffe Citalopram, Fluoxetin und Fluvoxamin in Bezug auf Serotonin tun) oder aber ihren Abbau verhindern. Wiederholte körperliche Anstrengung wie Joggen lindert eine Depression, da es den Serotoninspiegel erhöht (Jacobs 1994). Einige der Gene, die man jetzt prüft, liefern die Codes für Neurotransmittersysteme wie Serotonin (Plomin u. McGuffin 2003). Bei einer groß angelegten Studie in Neuseeland machte man junge Erwachsene aus, die mehrere schwere Stresssituationen erlebt hatten, wie etwa das Zerbrechen einer Beziehung oder einen Todesfall in der Familie. Bei diesen gestressten Personen war es viel wahrscheinlicher, dass sie unter einer Depression litten, wenn sie Träger einer Variante des Gens waren, das Codes für ein Protein bereitstellt, das die Serotoninproduktion steuert (Caspi et al 2003). Wie wir schon so oft in diesem Buch erfahren haben, treten Gene und äußere Einflüsse – Anlage und Umwelt – miteinander in eine Wechselwirkung, um uns zu formen. Man hat bei Menschen mit einer Depression auch beobachtet, dass sie in ihrer Nahrung und in ihrem Blut eine geringere Menge »guter« Fette, Omega-3-Fettsäuren, haben, von denen man annimmt, dass sie die Funktionsfähigkeit des Gehirns verbessern (Edwards et al. 1998; Maes et al. 1999). In Ländern wie Japan, wo die Leute Fisch essen, der reich an Omega-3-Fettsäuren ist, kommen Depressionen in der Regel seltener vor (Hibbeln 1998). Die künftige Forschung könnte herausfinden, ob der stärkere Konsum von Fisch, Walnüssen und anderen Nahrungsmitteln, die reich an Omega-3-Fettsäuren sind, die seelische Gesundheit stärkt. Durch den Einsatz moderner bildgebender Verfahren entdeckten Forscher auch neurologische Symptome einer Depression. Bei vielen neueren Studien zeigt das Gehirn weniger Aktivität in depressiven Phasen; dies deutet darauf hin, dass es sich dann in einem verlangsamten Zustand befindet und in manischen Phasen aktiver ist (. Abb. 17.6). Der linke Frontallappen, der während positiver Emotionen aktiv ist, ist im depressiven Zustand eher inaktiv (Davidson et al. 2002). In einer Studie an Menschen mit einer schweren Depression fand man bei MRT-Untersuchungen . Abb. 17.6. Die Höhen und Tiefen einer bipolaren Störung PET-Untersuchungen zeigen, dass der Energieverbrauch im Gehirn mit den jeweiligen emotionalen Zuständen des Patienten zu- oder abnimmt. Rote Bereiche zeigen an, wo das Gehirn schnell Glukose verbraucht
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. Abb. 17.7. Der biopsychosoziale Ansatz bei der Depression Schwer depressive Stimmungen sind das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Verändert man irgendeine Komponente, so kann das eine Veränderung der anderen Komponenten bewirken
heraus, dass die Frontallappen um bis zu 7% kleiner sind als normal (Coffey et al. 1993). Der Hippocampus, ein Zentrum für die Verarbeitung von Erinnerungen, das mit den emotionsverarbeitenden Hirnbereichen verbunden ist, ist sehr anfällig für durch Stress verursachte Schädigungen. Durch eine Steigerung des Serotoninspiegels können antidepressive Medikamente die Genesung von einer Depression fördern, weil dadurch das Wachstum der Neuronen im Hippocampus gefördert wird (Jacobs et al. 2000).
Sozial-kognitiver Ansatz Ziel 15: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag der sozial-kognitive Ansatz für die Depressionsforschung geliefert hat, und beschreiben Sie den Teufelskreis der Depression.
Manche Menschen gleiten ohne ersichtlichen Grund in eine Depression, auch wenn ihr Leben gut läuft. Wie wir jedoch angemerkt haben, können biologische Risikofaktoren zu psychischen Reaktionen auf stressreiche Erfahrungen prädisponieren (. Abb. 17.7). Und die negativen Gedanken beeinflussen biologische Vorgänge, wodurch depressive Gedanken wie in einem Teufelskreis verstärkt werden. Depressive Menschen sehen das Leben durch eine dunkle Brille. Ihre immens negativen Annahmen über sich selbst, ihre Situation und ihre Zukunft bringen sie dazu, das Vorkommen schlechter Erfahrungen zu überschätzen und das guter Erfahrungen zu unterschätzen. Lesen Sie, was der kanadische Universitätsprofessor Norman Endler (1982, S. 45–49) dazu zu sagen hat, der sich an seine eigene Depression erinnert:
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Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder ein Mensch zu sein. Ich fühlte mich so minderwertig, minderwertiger als das letzte Ungeziefer. Des Weiteren verleugnete ich mich selbst und konnte nicht verstehen, warum sich jemand mit mir abgeben, geschweige denn mich lieben wollte. Ich war überzeugt, dass ich ein Schwindler und Scharlatan war und meinen Doktortitel nicht verdient hatte. Ich hatte es auch nicht verdient, den Forschungsposten zu haben, ich hatte es nicht verdient, Professor zu sein. Ich hatte die Forschungsstipendien nicht verdient, die ich bekam . . . ich konnte nicht verstehen, wie ich Bücher und Artikel geschrieben hatte . . . Ich musste wohl jede Menge Menschen hereingelegt haben.
Die Forschung zeigt, wie selbstabwertende Gedanken und ein negativer Erklärungsstil den Teufelskreis verstärken.
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Negative Gedanken und negative Stimmungen in Wechselwirkung Selbstabwertende Gedanken können das Ergebnis von erlernter Hilflosigkeit sein. Wie wir in 7 Kap. 14 gesehen haben, verhalten sich Menschen nach unkontrollierbaren schmerzhaften Erfahrungen depressiv, passiv und introvertiert. Geschlechtsunterschiede bei unkontrollierbarem Stress erklären, warum Frauen von Beginn der Pubertät an Depressionen gegenüber fast doppelt so anfällig sind (Kessler 2001). Frauen werden öfter als Männer missbraucht oder dazu gebracht, sich hilflos zu fühlen, und sie reagieren wahrscheinlich stärker auf Stress (Hankin u. Abramson 2001; Mazure et al. 2002; Nolen-Hoeksema 2001, 2003). 36% der Erstsemesterinnen und 16% der Erstsemester in den USA fühlen sich »häufig überfordert von all dem, was sie zu tun haben« (Sax et al. 2004). (Männer berichten darüber, mehr ihrer Zeit mit Aktivitäten zu verbringen, die nur geringe Angst hervorrufen, wie Sport, Fernsehen und Partybesuche; möglicherweise vermeiden sie damit Aktivitäten, die in ihnen das Gefühl hervorrufen könnten, überfordert zu sein.) Aber warum stürzen unvermeidliche Fehlschläge im Leben manche Menschen in Depressionen und andere nicht? Der Unterschied beruht zum Teil darauf, wen oder was wir für unser Versagen verantwortlich machen. Wenn Sie einen Test nicht bestehen und sich selbst dafür verantwortlich machen, halten Sie sich möglicherweise für dumm und werden depressiv. Verlagern Sie die Schuld nach außen – vielleicht, indem Sie Ihr Versagen auf einen unfairen Test zurückführen – fühlen Sie sich eher wütend (7 Kap. 15). Depressive Menschen neigen dazu, negative Ereignisse mit Aussagen zu erklären, die etwas Dauerhaftes (»Es wird immer so weitergehen«), Umfassendes (»Es wirkt sich auf alles aus, was ich tue«) und Internales (»Es ist alles meine Schuld«) ausdrücken (. Abb. 17.8). Abramson et al. (1989) stellten die Theorie auf, dass das Ergebnis dieser pessimistischen, übergeneralisierten, selbstbeschuldigenden Erklärungen ein deprimierendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit ist. Wenn Sie dazu neigen, schlechte Noten, soziale Zurückweisung und Probleme am Arbeitsplatz als unvermeidbar . Abb. 17.8. Erklärungsstil und Depression
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und als Ihren eigenen Fehler anzusehen, und wenn Sie darüber grübeln, werden Sie vermutlich sehr niedergeschlagen sein, wenn sich negative Dinge ereignen. Was könnte man von Studienanfängern erwarten, die nicht deprimiert sind, aber einen pessimistischen Erklärungsstil aufweisen (manche von ihnen sind dabei Seligmans Rezept für eine Depression zu folgen: Pessimismus bei Rückschlägen)? Alloy et al. (1999) untersuchte Studierende der Temple University und der University of Wisconsin 2,5 Jahre lang alle 6 Wochen. Unter denen mit einem pessimistischen Erklärungsstil hatten 17% eine erste Episode einer Major Depression; doch das war nur bei 1% derjenigen der Fall, die ihr Studium mit einem optimistischen Erklärungsstil begannen. Bei Folgeuntersuchungen fand man heraus, dass Studierende, die zu Studienbeginn Optimismus zeigen, mehr soziale Unterstützung bekommen, was zu einem geringeren Risiko einer Depression beiträgt (Brissette et al. 2002). Seligman (1991, 1995) argumentiert, dass die Depression unter westlichen jungen Erwachsenen aufgrund der sich epidemisch ausbreitenden Hoffnungslosigkeit, die Folge des zunehmenden Individualismus und der nachlassenden Verpflichtung gegenüber Religion und Familie ist, so stark verbreitet ist. Konfrontiert mit Versagen oder Zurückweisung, so Seligman, übernimmt das auf sich selbst konzentrierte Individuum die persönliche Verantwortung für die Probleme und hat nichts mehr, auf das es zurückgreifen und aus dem es Hoffnung schöpfen kann. In nichtwestlichen Kulturen, wo enge Beziehungen und Kooperation die Norm sind, ist die Major Depression weniger verbreitet und weniger an Selbstvorwürfe über persönliches Versagen gebunden. In Japan beispielsweise berichten depressive Menschen oft von ihren Schamgefühlen, weil sie andere im Stich gelassen haben (Draguns 1990a).
Negative Stimmung fördert negative Gedanken Zieht man den sozial-kognitiven Ansatz zur Erklärung von Depressionen heran, dann ist man in einer »Henne-Ei-Situation«. Selbstabwertende Gedanken, negative Attributionen und Selbstanschuldigungen tragen sicherlich zu einer Depression bei. Barnett u. Gotlib (1988) verweisen darauf, dass solche Kognitionen mit einer depressiven Stimmung einhergehen und Indikatoren für eine Depression sind. Depressive Gedanken treten zusammen mit einer niedergeschlagenen Stimmung auf. Doch verursachen sie eine Depression? Verursacht ein Tacho, der 70 km/h anzeigt, die Geschwindigkeit des Autos? Vor oder nach der Depression sind die Gedanken der Menschen weniger negativ. Vielleicht ist das so, weil eine deprimierte Stimmung negative Gedanken fördert, worauf wir in der Diskussion um zustandsabhängige Erinnerung bereits hingewiesen haben (7 Kap. 9). Bringt man Menschen vorübergehend in eine schlechte oder traurige Stimmung, werden ihre Erinnerungen, Beurteilungen und Erwartungen plötzlich viel pessimistischer. Forgas et al. (1984) zeigten eine beeindruckende Demonstration des Stimmungseffekts. Zunächst nahmen sie Menschen auf Video auf, die miteinander redeten. Am nächsten Tag versetzten sie diese Versuchsteilnehmer durch Hypnose in gute oder schlechte Stimmung und ließen sie die Videoaufzeichnung von sich selbst ansehen. Die gut gelaunten Versuchsteilnehmer entdeckten an sich selbst im Video mehr positive als negative Verhaltensweisen; die schlecht gelaunten Versuchsteilnehmer beurteilten ihr Verhalten eher negativ. Das zeigt, dass sich leicht deprimierte Menschen eher negativ beurteilen, auch wenn sie nur eine Videoaufzeichnung von sich selbst sehen.
Der Teufelskreis der Depression
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Könnte Charlie Brown durch ein Optimismus-Trainingsprogramm geholfen werden?
Reprinted by permission of United Feature Syndicate, Inc. Distr. by kipkakomiks.de
»Ein Rezept für eine schwere Depression ist ein bereits existierender Pessimismus, der auf eine Versagenshaltung trifft«, bemerkt Seligman (1991, S. 78). Wie wir gesehen haben, wird die Depression oft durch stressreiche Erfahrungen hervorgerufen – wenn man seinen Job verliert, eine Schei-
777 17.3 · Affektive Störungen
dung erlebt oder Zurückweisung erfährt oder an körperlichen Beschwerden leidet – all das stört Ihr Gespür dafür, wer Sie sind und warum Sie ein wertvolles menschliches Wesen sind. Wir haben auch gesehen, dass eine Depression der Anpassung dienen kann; in Zeiten der Niedergeschlagenheit kann man Einsichten gewinnen, die später zu wirkungsvolleren Strategien für das eigene Handeln führen. Allerdings reagieren depressionsanfällige Menschen auf schlechte Ereignisse auf eine besonders selbstzentrierte, sich selbst beschuldigende Weise (Mor u. Winquist 2002; Pyszczynski et al. 1991; Wood et al. 1990a, b). Ihr Selbstwertgefühl schnellt bei einer Verstärkung rasch in die Höhe und fällt bei einer Bedrohung rapide ab (Butler at al. 1994). Ist es niedrig, dann verstärkt das Grübeln die negativen Gefühle, welche wiederum die für eine Depression typischen kognitiven und Verhaltenssymptome fördern. Dieser Teufelskreis erklärt auch das doppelt so hohe Depressionsrisiko von Frauen. Wenn Probleme auftreten, neigen Männer eher zum Handeln und Frauen eher zum Nachdenken – und oft dazu, zu viel zu denken, wie Nolen-Hoeksema (2003) das Grübeln von Frauen beschreibt. Frauen haben oft lebhafte Erinnerungen, sowohl an wundervolle als auch an schreckliche Ereignisse; Männer dagegen erinnern sich eher vage an solche Erfahrungen (Seidletz u. Diener 1998). Der Geschlechtsunterschied beim emotionalen Gedächtnis mag bei Frauen das verstärkte Grübeln über negative Ereignisse fördern und erklärt, warum weniger der männlichen als der weiblichen amerikanischen Studienanfänger davon berichten, sich zu Studienbeginn überfordert zu fühlen. Keiner von uns ist gefeit gegen Niedergeschlagenheit, vermindertes Selbstwertgefühl und negatives Denken, das durch Ablehnung oder eine Niederlage verursacht wird. Wie Hirt et al. (1992) demonstrierten, können sogar kleine Verluste unser Denken vorübergehend trüben. Sie beobachteten einige leidenschaftliche Basketballfans der Universität von Indiana, die das Team anscheinend als Verkörperung ihrer selbst betrachteten. Nachdem die Fans sahen, wie ihr Team entweder siegte oder verlor, baten die Forscher sie, die zukünftige Leistung des Teams sowie ihre eigene Leistung vorherzusagen. Nach einer Niederlage lieferten die missmutigen Fans trostlose Einschätzungen, nicht nur über die Zukunft des Teams, sondern auch von ihrer eigenen Leistung beim Dartspielen, Lösen von Anagrammen und über ihren Erfolg beim Treffen von Verabredungen. Sobald die Dinge nicht so verlaufen, wie wir es uns wünschen, kommt es uns so vor, als würden sie nie mehr in unserem Sinne verlaufen. Das In-sich-gekehrt-Sein, die ständige Ausrichtung auf die eigene Person und die ewigen Klagelieder können Ablehnung hervorrufen (Furr u. Funder 1998; Gotlib u. Hammen 1992). In einer Studie stellten Strack u. Coyne (1983) fest, dass »depressive Menschen Feindseligkeit, Depression und Angst bei anderen wecken und deshalb abgelehnt werden. Ihre Vermutungen, dass sie nicht akzeptiert werden, beruhen nicht auf einer kognitiven Verzerrung.« Ein Partner oder eine Partnerin drohen vielleicht damit zu gehen, da sie der ständigen Erschöpfungszustände, der Hoffnungslosigkeit und Lethargie des Partners überdrüssig sind. Ein Vorgesetzter mag vielleicht beginnen, die Kompetenz des Mitarbeiters infrage zu stellen. Tatsächlich sind Menschen in den Fängen einer Depression einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sich scheiden zu lassen, den Job zu verlieren oder andere stressreiche Vorfälle zu erleben (dies stellt ein weiteres Beispiel für die Interaktion zwischen Genetik und Umwelt dar: Menschen, die eine genetisch bedingte Disposition für Depressionen haben, erleben öfter deprimierende Ereignisse.) Die Verluste und der Stress tun nur ein Übriges zu der bereits bestehenden Depression. Ablehnung und Depression schaukeln sich gegenseitig hoch. Elend sucht sich vielleicht Gesellschaft, aber die Gesellschaft sucht nicht eines anderen Elend. Wir können nun einige der Teile des Depressionspuzzles zusammenfügen (. Abb. 17.9), durch die der Teufelskreis der Depression gekennzeichnet ist: 1. Es treten negative, stressvolle Ereignisse auf. 2. Diese Ereignisse werden durch einen grübelnden, pessimistischen Denkstil bewertet. 3. Es ergibt sich ein hoffnungsloser, deprimierter Zustand. 4. Der deprimierte Zustand beeinflusst die Art und Weise, wie die betreffende Person denkt und handelt. 5. Es kommt zu negativen Erfahrungen wie etwa Ablehnung (vgl. Punkt 1). Es handelt sich um einen Teufelkreis, den wir alle erkennen können. Schlechte Stimmung nährt sich selbst: Wenn wir uns niedergeschlagen fühlen, denken wir negativ und erinnern uns an schlechte
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Abb. 17.9. Der Teufelskreis der depressiven Denkens Kognitive Therapeuten versuchen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dies bewerkstelligen sie, wie wir in 7 Kap. 18 sehen werden, indem sie die Art und Weise verändern, wie Menschen Ereignisse verarbeiten. Psychiater versuchen mit Hilfe von Medikamenten die biologischen Ursprünge anhaltend depressiver Stimmungen zu verändern
Erfahrungen. Positiv ist jedoch, dass wir an jedem dieser Punkte aus diesem Depressionskreis ausbrechen können – indem wir die Umgebung wechseln, unsere Selbstvorwürfe und negativen Ursachenzuschreibungen verändern, unsere Aufmerksamkeit nach außen wenden oder indem wir uns erfreulicheren Tätigkeiten zuwenden und kompetentere Verhaltensweisen lernen. Winston Churchill nannte die Depression einen »schwarzen Hund«, der ihn periodisch quälte. Die Dichterin Emily Dickinson fürchtete sich so sehr davor, in der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen, dass sie den Großteil ihres Erwachsenenlebens in Abgeschiedenheit verbrachte (Patterson 1951). Abraham Lincoln war als junger Mann so in sich gekehrt und grüblerisch, dass seine Freunde fürchteten, er könne sich das Leben nehmen (Kline 1974). Diese Beispiele erinnern uns daran, dass Menschen gegen Depressionen ankämpfen können. Die meisten erlangen wieder ihre Fähigkeit, zu lieben, zu arbeiten und sogar Erfolge auf dem höchsten Niveau zu erzielen.
Lernziele Abschnitt 17.3 Affektive Störungen Ziel 12: Definieren Sie, was eine affektive Störung ist, und stellen Sie die Major Depression der bipolaren Störung gegenüber. Affektive Störungen sind durch emotionale Extreme charakterisiert. Ein Mensch mit einer Major Depression erlebt 2 Wochen lang oder länger schwer depressive Stimmungen und Gefühle der Wertlosigkeit, zeigt wenig Interesse und wenig Freude an den meisten Aktivitäten. Diese Stimmungen werden nicht durch Medikamente oder einen medizinischen Krankheitsfaktor verursacht. Die Dysthymie dagegen ist, wenn sie auch weniger einschränkend ist, durch eine 2 Jahre dauernde chronische Energielosigkeit und ein geringes Selbstwertgefühl gekennzeichnet. Menschen mit einer bipolaren Störung wechseln zwischen Depression und Manie, einer hyperaktiven und unbezähmbar optimistischen, impulsiven manischen Phase. Die Major Depression kommt viel häufiger vor als die bipolare Störung.
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Ziel 13: Erörtern Sie die Fakten, die eine akzeptable Theorie der Depression erklären muss. Eine annehmbare Theorie der Depression muss die vielen kognitiven und Verhaltensänderungen erklären, die mit einer Depression einhergehen, ihre starke Verbreitung, die größere Anfälligkeit von Frauen für diese Störung, die Tendenz depressiver Episoden, von selbst zu Ende zu gehen, den Zusammenhang zwischen stressreichen Ereignissen und dem Einsetzen einer Depression, die zunehmende Häufigkeit sowie das frühere Einsetzen der Depression.
Ziel 14: Fassen Sie zusammen, welche Beiträge der biologische Ansatz für die Erforschung der Depression geleistet hat, und erörtern Sie den Zusammenhang zwischen Suizid und Depression. Der biologische Ansatz zur Erforschung der Depression konzentriert sich auf genetische Einflüsse, teilweise durch Verwandschaftsanalysen und korrelative Studien. Forscher, die diesen Ansatz verfolgen, untersuchen auch Abnormitäten in der Struktur und der Funktion des Gehirns; dazu gehören auch diejenigen, die man im Neurotransmittersystem findet. Die Arbeiten haben gezeigt, dass eine Prädisposition für Depressionen in manchen Familien gehäuft vorkommt, dass die Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin während einer Depression nur spärlich vorhanden sind, dass die Aktivität im linken Frontallappen während einer Depression verlangsamt ist und dass eine mit Stress zusammenhängende Schädigung des Hippocampus das Risiko für eine Depression vergrößert. Verzweiflung treibt einige Menschen zum Selbstmord; und das Risiko dafür ist am höchsten, wenn nach dem Abklingen einer Depression die Energie wiederkommt. Ziel 15: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag der sozial-kognitive Ansatz für die Depressionsforschung geliefert hat, und beschreiben Sie den Teufelskreis der Depression. Der sozial-kognitive Ansatz hat sich auf die Wirkungskraft selbstabwertender Überzeugungen (z. T. aufgrund erlernter Hilflosigkeit) und auf negative Erklärungsstile konzentriert, bei denen negative Ereignisse als stabil, global und internal verursacht angesehen werden. Kritiker merken an, dass diese charakteristischen Merkmale bei einer Depression vorkommen können, die Depression jedoch nicht von ihnen verursacht werden. Der Teufelkreis der Depression besteht aus (1) negativen stress6
779 17.4 · Schizophrenie
reichen Ereignissen, (2) die mit Hilfe eines pessimistischen Erklärungsstils interpretiert werden, (3) die einen hoffnungslosen, depressiven Zustand hervorrufen, der (4) die Art und Weise, wie die Person denkt und handelt, beeinträchtigt und zu noch negativeren Ereignissen führt, wie etwa Ablehnung durch andere.
17.4
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> Denken Sie weiter: War Ihr Studienbeginn eine Zeit, die Ihnen viel abverlangt hat? Welche Ratschläge könnten Sie zukünftigen Kommilitonen geben?
Schizophrenie
Wenn die Depression unter den psychischen Erkrankungen so etwas wie eine weit verbreitete Erkältung darstellt, dann kann die chronische Schizophrenie als Krebsgeschwür gelten. Nahezu 1 von 100 bekommt eine Schizophrenie und gehört damit zu den 24 Mio. Menschen weltweit, die an einer der gefürchtetsten Störungen der Menschheit leiden (WHO 2002d). Die Krankheit tritt in der Regel beim Eintritt ins Erwachsenenalter auf, kennt keine nationalen Grenzen und betrifft sowohl Männer als auch Frauen, wenn auch Männer meist früher davon betroffen sind sowie heftiger und etwas öfter daran erkranken (Aleman et al. 2003).
Symptome
Ziel 16: Beschreiben Sie die Symptome der Schizophrenie, und unterscheiden Sie zwischen Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Übersetzt man es wortwörtlich, so bedeutet Schizophrenie »gespaltener Verstand«. Diese Abspaltung bezieht sich nicht auf multiple Persönlichkeiten, sondern eher auf eine Abspaltung von der Realität, die sich in einem desorganisierten Denken, einer gestörten Wahrnehmung und unangemessenen Emotionen und Handlungen offenbart.
C. Styrsky
17.4.1
Schizophrenie (schizophrenia): Gruppe schwerer Störungen, die durch desorganisiertes und wahnhaftes Denken, gestörte Wahrnehmungen und unangemessene Emotionen und Handlungen gekennzeichnet sind.
Desorganisiertes Denken Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, sich mit Maxine zu unterhalten, einer jungen Frau, deren Gedanken ohne eine logische Ordnung aus ihr heraussprudeln. Susan Sheehan, die Verfasserin von Maxines Biographie (1982, S. 25), beobachtete, wie sie laut vor sich hinsprach: »Heute Morgen im Hillside-Krankenhaus machte ich einen Film. Ich war umgeben von Filmstars. … Ich bin Mary Poppins. Wurde dieser Raum blau gestrichen, damit ich mich aufrege? Meine Großmutter ist 6 Wochen nach meinem 18. Geburtstag gestorben.« In diesem Monolog zeigt sich das zerfahrene, bizarre und durch falsche Überzeugungen verzerrte Denken eines Menschen, – diese Überzeugungen nennen wir Wahnvorstellungen (»Ich bin Mary Poppins«). Personen mit paranoiden Tendenzen neigen besonders stark zu Verfolgungswahn. Sogar innerhalb eines Satzes kann es passieren, dass jemand von einer Idee zur nächsten springt, so dass eine Art »Wortsalat« daraus entsteht. Ein junger Mann bat um »ein bisschen mehr Allegro in der Behandlung« und regte an, dass die »Befreiungsbewegung zur Erweiterung des Horizonts ergo etwas Verstand in den Vorlesungen erzwingen« wird. Viele Psychologen vertreten die Meinung, dass sich dieses desorganisierte Denken aus einem Zusammenbruch der selektiven Aufmerksamkeit ergibt. Erinnern Sie sich an das, was in 7 Kap. 6 gesagt wurde: Normalerweise verfügen wir über eine bemerkenswerte Fähigkeit, selektiv wahrzunehmen – so widmen wir z. B. auf einer Party unsere ungeteilte Aufmerksamkeit einer bestimmten Stimme, während wir konkurrierende sensorische Reize ausblenden. Menschen, die an Schizophrenie leiden, sind gerade dazu nicht imstande. Folglich werden sie leicht abgelenkt durch einen irrelevanten Reiz oder irgendein vorangegangenes Gedankenfragment. Fast unmerkliche Reize wie z. B. die Rillen auf einem Ziegelstein oder die Modulation einer Stimme können ihre Aufmerksamkeit vom ganzen Szenario oder von dem, was der Sprecher ihnen mitteilen will, ablenken. So
Wahnvorstellungen (delusions): falsche Überzeugungen (häufig zu Verfolgung oder eigener Großartigkeit), die mit psychotischen Störungen einhergehen können.
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
L. Berthold, United. The Prinzhorn Collection, University of Heidelberg.
Kunstwerke von Personen mit der Diagnose Schizophrenie Der Dichter und Kunstkritiker John Ashberry schrieb in seinem Kommentar über die hier abgebildete Art von Kunstwerken: »Die Anziehungskraft dieser Arbeiten ist genauso stark wie das Entsetzen über die nicht zu lösenden Rätsel, die hier zum Ausdruck kommen.«
erinnerte sich ein früherer Patient: »Was mit mir geschah … war ein Zusammenbruch des Filters. Ein Mischmasch nicht zusammengehöriger Reize lenkte mich von Dingen ab, denen ich meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit hätte widmen sollen« (MacDonald 1960, S. 218). Diese Schwierigkeit mit selektiver Aufmerksamkeit ist einer von Dutzenden kognitiver Unterschiede, die mit Schizophrenie einhergehen. Andere reichen von Defiziten im Arbeitsgedächtnis bis zur Fähigkeit, das Hin- und Herschwingen eines Pendels zügig mit den Augen zu verfolgen, eine Aufgabe, die die Koordination unterschiedlicher Hirnregionen erfordert (Heinrichs 2005).
Wahrnehmungsstörungen Ein Mensch mit einer Schizophrenie kann Dinge wahrnehmen, die gar nicht existieren. Bei derartigen Halluzinationen (Sinneserfahrungen ohne sensorische Stimulation) handelt es sich für gewöhnlich um akustische Halluzinationen, und sie nehmen oft die Form von Stimmen an, die beleidigende Kommentare abgeben oder Befehle erteilen. Die Stimmen können der Person sagen, dass sie schlecht ist oder dass sie sich mit einem Feuerzeug verbrennen soll. Manchmal, wenn auch seltener, sehen, fühlen, schmecken oder riechen Menschen Dinge, die nicht vorhanden sind. Halluzinationen wurden mit Träumen verglichen, die ins Wachbewusstsein eindringen. Wenn das Irreale real erscheint, sind die sich daraus ergebenden Wahrnehmungen bestenfalls bizarr, schlimmstenfalls aber grauenvoll.
Unangemessene Emotionen und Handlungen
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Die bei einer Schizophrenie auftretenden Emotionen sind oft völlig unangemessen. Maxines Gefühle wirkten wie abgespalten von der Realität. Sie lachte, nachdem sie sich an den Tod ihrer Großmutter erinnert hatte. Manchmal wurde sie ohne ersichtlichen Grund wütend, oder sie weinte, wenn andere lachten. Andere Schizophrenieopfer verfallen bisweilen in einen »flachen Affekt«, in einen Zustand offensichtlicher Apathie. Auch das motorische Verhalten kann unangemessen sein. Der Betroffene mag sinnlose Zwangshandlungen ausführen (z. B. das fortwährende Wiegen oder Reiben des Armes). Andere verfallen eher in einen katatonen Zustand und verharren für endlose Stunden in Bewegungslosigkeit. Wie Sie sich sicher vorstellen können, zerstören derart desorganisierte Denkmuster, verzerrte Wahrnehmungen und unangemessene Emotionen und Handlungen jegliche soziale Beziehung grundlegend und machen es schwer, die berufliche Stellung weiterhin zu behalten. Während ihrer schwersten Episoden leben schizophrene Menschen in ihrer eigenen Innenwelt und beschäftigen sich mit unlogischen Ideen und unwirklichen Bildern. Einige werden schließlich wieder gesund und können ein normales Leben führen oder durchleben nur intermittierende schizophrene Perioden. Voraussetzung dafür ist eine stützende Umgebung. Andere verbringen die meiste Zeit ihres Lebens isoliert und ohne soziale Beziehungen. Und die häufigen Klinikeinweisungen tragen dazu bei, zu erklären, warum viele Länder etwa 2% ihres Gesundheitsetats für die Versorgung und Behandlung von Schizophrenen ausgeben (Knapp et al. 2004).
August Natterer, Witch’s Head. The Prinzhorn Collection, University of Heidelberg.
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17.4.2
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Subtypen
Ziel 17: Unterscheiden sie die 5 Subtypen der Schizophrenie und stellen Sie die chronische und die akute Schizophrenie einander gegenüber.
Bislang haben wir die Schizophrenie so beschrieben, als ginge es um eine einzige Störung. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine ganze Gruppe von Störungen. Die einzelnen Subtypen haben sowohl gemeinsame Merkmale als auch unterschiedliche Symptome (.Tab. 17.4). Zur Positivsymptomatik sind im Wesentlichen psychische Neubildungen wie Wahn und Halluzinationen, formale Denkstörungen und Inadäquatheit der Affekte zu zählen. Die produktiven Verhaltensmerkmale gehen damit über das Verhalten von Nichtbetroffenen hinaus. Schizophreniepatienten mit diesen sog. positiven Symptomen können Halluzinationen erleben, auf desorganisierte und wahnhafte Weise sprechen und demonstrieren vielleicht unpassendes Gelächter, Tränen oder Wut. Zur Negativsymptomatik gehören Affektverflachung, Interessenverlust und Antriebslosigkeit, d. h. die Verhaltensmerkmale weisen Defizite auf. Menschen mit negativen Symptomen haben tonlose Stimmen, ausdruckslose Gesichter bzw. ausdruckslose und rigide Körperhaltungen. Demzufolge sind positive Symptome gekennzeichnet durch das Vorhandensein unangemessener Verhaltensweisen, während negative Symptome durch ein Fehlen angemessener Verhaltensweisen charakterisiert sind. Da die Schizophrenie eine Gruppe von Störungen ist, könnten die verschiedenen Symptome auch mehrere Ursachen haben. Basierend auf dieser Einteilung in Positiv- und Negativsymptomatik wird häufig auch in Typ-Iund Typ-II-Schizophrenie unterschieden. Der Typ-I-Schizophrenie werden überwiegend die produktiven Symptome (Positivsymptomatik) zugeordnet. Bei der Typ-II-Schizophrenie tritt vorrangig die Negativsymptomatik auf. Manchmal entwickelt sich die Schizophrenie allmählich, so wie es bei Maxine der Fall war. Die Störung taucht auf, nachdem sich die Menschen schon über einen längeren Zeitraum hinweg in sozialen Situationen inadäquat verhalten haben (was eine Erklärung dafür sein kann, dass Menschen mit einer Disposition für Schizophrenie oft in niedrigeren sozialen Schichten enden oder sogar als Obdachlose leben). In anderen Fällen tritt die Schizophrenie ganz plötzlich auf und scheint eine Reaktion auf Stress zu sein. Eine Regel hat sich allerdings überall auf der Welt bewahrheitet (World Health Organization 1979): ! Stellt die Schizophrenie einen sich langsam entwickelnden Prozess dar (chronische Schizophrenie, engl. auch »process schizophrenia«), so ist eine Genesung eher unwahrscheinlich. Entwickelt dagegen ein ehemals gut angepasster Mensch innerhalb kurzer Zeit eine Schizophrenie als Reaktion auf Belastungen (akute oder reaktive Schizophrenie), dann ist eine Genesung sehr viel wahrscheinlicher.
»Wenn mich jemand bittet, zu erklären, was Schizophrenie ist, sage ich: Du weißt doch, wie das mit den Träumen ist. Manchmal bist du richtig drin in deinen Träumen, und manche sind die reinsten Albträume. Als ich schizophren war, hatte ich das Gefühl, durch einen Traum hindurchzugehen. Aber um mich herum war alles real. Manchmal kommt mir die Welt so langweilig vor, dass ich denke, ich würde gern in meine schizophrene Traumwelt zurückkehren. Aber dann fallen mir alle die furchterregenden und schrecklichen Erfahrungen wieder ein.« Emmons et al. (»Living with Schizophrenia«, 1997)
Menschen mit chronischer Schizophrenie zeigen oft das Negativsymptom »sozialer Rückzug«. Männer, bei denen sich die Schizophrenie durchschnittlich 4 Jahre früher entwickelt als bei Frauen, leiden häufiger unter einer Negativsymptomatik und chronischer Schizophrenie (Räsanen et al. 2000). Menschen mit positiven Symptomen haben eine bessere Prognose; denn dann handelt es . Tabelle 17.4. Subtypen der Schizophrenie gemäß DSM-IV
Subtyp
Merkmale
Paranoider Typus
Beschäftigung mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen; Themen sind oft Verfolgung oder die eigene Großartigkeit
Desorganisierter Typus
Desorganisierte (inkohärente) Sprache und Verhalten oder flacher, unangemessener Gefühlsausdruck
Katatoner Typus
Immobilität (oder exzessive, nicht zielgerichtete Bewegungen), extremer Negativismus (Gegenteil dessen tun, was verlangt wird) und/oder papageienartiges Wiederholen des Sprechens oder der Bewegungen anderer
Undifferenzierter Typus
Viele verschiedene Symptome
Residualzustand
Chronisches Stadium nach akuter schizophrener Episode, charakterisiert v. a. durch negative Symptome, z. B. verminderte Aktivität, Affektverflachung, Antriebslosigkeit, Kommunikationsmangel und sozialer Rückzug
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
sich häufiger um einen reaktiven Zustand, der auf eine medikamentöse Therapie anspricht (Fenton u. McGlashan 1991, 1994; Fowles 1992).
17.4.3 Erklärungsansätze Die Schizophrenie ist nicht nur eine der gefürchtetsten, sondern auch eine der am intensivsten untersuchten psychischen Störungen. Die meisten neueren Studien bringen sie mit Gehirnabnormitäten und einer genetischen Disposition in Verbindung. Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine Erkrankung des Gehirns, die sich hauptsächlich in psychischen Symptomen manifestiert.
Gehirnanomalien Ziel 18: Stellen Sie kurz einige Abnormitäten der Gehirnchemie sowie der Funktion und Struktur des Gehirns dar, die mit Schizophrenie einhergehen, und erörtern Sie den möglichen Zusammenhang zwischen pränatalen Virusinfektionen und Schizophrenie.
Könnte es sein, dass der Schizophrenie Ungleichgewichte in der Gehirnchemie zugrunde liegen könnten? Die Wissenschaftler wussten seit langem, dass ein seltsames Verhalten sonderbare chemische Ursachen haben kann. Die englische Redensart »verrückt wie ein Hutmacher« (mad as a hatter) bezieht sich auf die Verschlechterung des psychischen Zustands der britischen Hutmacher, deren Gehirne – wie später entdeckt wurde – langsam vergiftet wurden, weil sie mit ihren Lippen die Hutkrempen der mit Quecksilber belasteten Filzhüte befeuchteten (Smith 1983). Wie wir bereits in 7 Kap. 7 gesehen haben, beginnen die Wissenschaftler allmählich, den Mechanismus zu verstehen, wie Chemikalien (z. B. LSD) Halluzinationen erzeugen. Diese Entdeckungen geben Hinweise darauf, dass biochemische Ursachen ein Erklärungsansatz für die Schizophreniesymptomatik sein könnten.
Dopaminüberschuss Forscher entdeckten eine solche Ursache, als sie die Gehirne von schizophrenen Patienten nach deren Tod untersuchten und einen Überschuss an Dopaminrezeptoren fanden – eine 6-fach erhöhte Menge an sog. D4-Dopaminrezeptoren (Seemann et al. 1993; Wong et al. 1986). Sie vermuten, dass eine derart hohe Anzahl von Dopaminrezeptoren bei einer Schizophrenie die Gehirnsignale intensiver werden lässt und dadurch positive Symptome wie Halluzinationen und Paranoia hervorruft. Demzufolge würden wir erwarten, dass Medikamente, die die Dopaminrezeptoren blockieren, die Symptome mildern; Drogen wie z. B. Amphetamine und Kokain, die die Dopaminkonzentration erhöhen, wirken mitunter symptomverstärkend (Swerdlow u. Koob 1987). Somit könnte den Überreaktionen der Patienten auf irrelevante äußere und innere Reize eine allgemeine Überfunktion dopaminerger Strukturen zugrunde liegen. Medikamente, die Dopamin blockieren, haben wenig Einfluss auf persistierende negative Symptome wie den sozialen Rückzug. Forscher untersuchen nun einen anderen Neurotransmitter, nämlich Glutamat, der sich auf die Erregungsweiterleitung durch die Neuronen auswirkt. Eine beeinträchtigte Glutamataktivität scheint eine weitere Quelle für schizophrene Symptome zu sein (Javitt u. Coyle 2004). Drogen, die die Glutamatrezeptoren beeinträchtigen, können schizophrenieähnliche negative Symptome provozieren. Darüber hinaus scheinen Medikamente, die die Wirkung solcher Straßendrogen neutralisieren, auch negative Symptome zu lindern (HMHL 2001).
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Abnorme Hirnaktivität und -anatomie Moderne bildgebende Verfahren zeigen, dass viele Menschen mit chronischer Schizophrenie eine abnorme Aktivität in mehreren Bereichen des Gehirns aufweisen. Bei manchen ist die Gehirnaktivität in den Frontallappen, die entscheidend sind für Schlussfolgerungen, Planung und Problemlösen, ungewöhnlich gering (Morey et al. 2005; Pettegrew et al. 1993; Resnick 1992). Menschen mit einer Schizophrenie weisen auch eine erkennbare Abnahme der Hirnwellen auf, die Ausdruck eines synchronisierten Feuerns der Nervenzellen in den Frontallappen sind
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Paul Thompson and Arthur W. Toga, UCLA Laboratory of Neuro Imaging and Judith L. Rapoport, National Institute of Health
17.4 · Schizophrenie
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. Abb. 17.10. Schizophrenie und das schrumpfende Gehirn Für Erwachsene, die unter einer relativ seltenen, in der Kindheit beginnenden Form der Schizophrenie leiden, zeigten MRI-Schichtaufnahmen von Thompson et al. (2001) für das Alter zwischen 13 und 18 Jahren einen viel größeren Verlust an Gewebe im zerebralen Kortex, als es normalerweise üblich ist
(Spencer et al. 2004; Symond et al. 2005). Nicht synchronisierte Nervenzellen unterbrechen die integrierte Funktionsweise des neuronalen Netzes und tragen möglicherweise zu schizophrenen Symptomen bei. Eine Studie untersuchte PET-Aufnahmen von der Gehirnaktivität halluzinierender Patienten (Silbersweig et al. 1995). Wenn die Teilnehmer eine Stimme hörten oder etwas sahen, wurden ihre Gehirne in mehreren Kernbereichen überaus aktiv. Dazu gehörte auch der Thalamus, eine tief liegende Gehirnstruktur, die ankommende sensorische Signale filtert und sie zum Kortex weiterleitet. Bei einer weiteren PET-Studie zur Hirnaktivität von Menschen mit Paranoia fand man eine erhöhte Hirnaktivität im angstverarbeitenden Zentrum, der Amygdala (Epstein et al. 1998). Viele Studien entdeckten bei Menschen mit Schizophrenie vergrößerte und mit Flüssigkeit gefüllte Hirnbereiche und eine entsprechende Schrumpfung des Gehirngewebes (Wright et al. 2000). Und in einer Studie fand man sogar solche Abnormitäten in den Gehirnen von Menschen, die erst später eine Schizophrenie entwickeln würden (Pantelis et al. 2002). Je stärker die Gehirnschrumpfung, desto schwerwiegender die Denkstörung (Collinson et al. 2003; Nelson et al. 1998; Shenton et al. 1992). Eine von den Regionen, die kleiner sind als normal, ist der Kortex (. Abb. 17.10). Eine weitere ist der Thalamus; dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass Menschen mit einer Schizophrenie Schwierigkeiten haben, den sensorischen Input zu filtern und ihre Aufmerksamkeit zu konzentrieren (Andreasen et al. 1994). Andreasen (1997, 2001) berichtet über eine grundlegende Erkenntnis, die durch verschiedene Studien gewonnen wurde: Bei der Schizophrenie handelt es sich nicht um eine isolierte Gehirnabnormität, sondern um Probleme mit mehreren Gehirnregionen und ihren Verbindungen untereinander. Selbstverständlich fragen sich die Wissenschaftler, wodurch diese Abnormitäten verursacht werden. Es wäre möglich, dass ein Problem während der pränatalen Entwicklung oder bei der Entbindung dafür verantwortlich ist. Ein geringes Geburtsgewicht und Geburtskomplikationen wie Sauerstoffmangel sind bekannte Risikofaktoren der Schizophrenie (Buka et al. 1999; Zornberg et al. 2000). Hungersnöte sind eine weitere vermutete Ursache. Menschen, die gezeugt wurden, während die kriegsbedingte Hungersnot in Holland ihren Höhepunkt erreichte, wiesen später eine doppelt so hohe Schizophrenierate auf, wie es auch während einer Hungersnot im östlichen China 1959–1961 der Fall war (St. Clair et al. 2005; Susser et al. 1996).
Viruserkrankung der Mutter in der Mitte der Schwangerschaft Ein anderer möglicher Schuldiger ist eine virale Infektion in der Mitte der Schwangerschaft mit negativen Auswirkungen auf die fötale Gehirnentwicklung. Können Sie sich vorstellen, wie man diese Annahme über ein Virus beim Fötus überprüft? Wissenschaftler, die diese Möglichkeit erforschen, stellten folgende Fragen: 4 Haben Menschen ein höheres Schizophrenierisiko, wenn mitten in ihrer fötalen Entwicklung in ihrem Land eine Grippeepidemie ausbricht? Die Frage wurde mehrmals mit ja beantwortet (Mednick et al. 1994; Murray et al. 1992; Wright et al. 1995). 4 Haben Menschen, die in dicht bevölkerten Gebieten aufwachsen und dadurch einer leichteren Ausbreitung von Viruserkrankungen ausgesetzt sind, ein höheres Schizophrenierisiko? Auch hier lautet die Antwort: »ja«, wie in einer kürzlich durchgeführten Studie mit 1,75 Mio. Dänen bestätigt wurde (Jablensky 1999; Mortensen et al. 1999).
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
4 Sind diejenigen, die während der Winter- und Frühlingsmonate geboren werden, also nach der Herbst-Winter-Grippewelle, ebenfalls einem erhöhten Risiko ausgesetzt? Auch hier lautet die Antwort »ja«: einem um 5–8% erhöhten Risiko (Torrey et al. 1997, 2002). 4 Finden die Monate, in denen auf der Nordhalbkugel überdurchschnittlich viele Menschen mit einer Schizophrenie geboren werden, eine Entsprechung auf der Südhalbkugel, wo die Jahreszeiten zeitlich versetzt ablaufen? Auch diese Frage kann man wieder mit »ja« beantworten, obwohl die Sache nicht ganz so eindeutig ist. In Australien z. B. hatten Menschen, die zwischen August und Oktober geboren wurden, ein größeres Risiko, wenn sie nicht von der Nordhalbkugel emigriert waren; waren sie jedoch emigriert, dann war das Risiko bei einer Geburt zwischen Januar und März entsprechend größer (McGrath et al. 1995 1999). 4 Gebären Mütter, die über eine grippale Erkrankung während ihrer Schwangerschaft berichteten, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Kinder, die eine Schizophrenie entwickeln? In einer Studie, an der nahezu 8000 Frauen beteiligt waren, lautete die Antwort »ja«. Das Schizophrenierisiko stieg vom gewöhnlichen 1%-Risiko auf ungefähr 2% an, allerdings nur bei Infektionen, die während des 2. Schwangerschaftsdrittels stattfanden (Brown et al. 2000). 4 Zeigt das Blut, das man schwangeren Frauen abnahm, deren Kinder später eine Schizophrenie entwickelten, eine abnorm hohe Antikörpermenge, die auf eine virale Infektion hinweist? In einer Studie mit 27 Frauen, deren Kinder später eine Schizophrenie entwickelten, wurde das bestätigt (Buka et al. 2001). Bei einer riesigen Studie in Kalifornien wurden bei etwa 20.000 schwangeren Frauen in den 1950er und 1960er Jahren Blutproben gesammelt; einige der Nachkommen dieser Frauen wurde später als schizophren diagnostiziert. Wenn die Antikörper im Blut darauf hinwiesen, dass die Mutter während der ersten Hälfte der Schwangerschaft einer Grippe ausgesetzt war, verdreifachte sich das Risiko des Kindes, eine Schizophrenie zu entwickeln. Eine Grippe in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft führte nicht zu einer solchen Vergrößerung des Risikos (Brown et al. 2004). Schizophrenie kann jedoch auch andere Ursachen haben (wie die genetische Forschung verdeutlicht). Die Kinder von 98% der Frauen, die während des 2. Schwangerschaftsdrittels an einer Grippe erkrankten, entwickelten keine Schizophrenie. Dennoch deuten diese übereinstimmenden Befunde darauf hin, dass pränatale virale Infektionen zum Erkrankungsrisiko beitragen. Sie sprechen auch für die Empfehlung der amerikanischen Gesundheitsämter (U.S. Center for Disease Control 2003), dass »Frauen, die während der Grippesaison bereits länger als 3 Monate schwanger sind«, eine Grippeschutzimpfung erhalten sollten. Warum könnte eine während des 2. Schwangerschaftsdrittels auftretende Grippeerkrankung den Fötus einem Risiko aussetzen? Ist es das Virus selbst, oder ist es die Immunreaktion der Mutter, oder sind es etwa die eingenommenen Medikamente (Wyatt et al. 2001)? Schwächt die Infektion die schützenden Gliazellen des Gehirns, was eine geringere Anzahl synaptischer Verbindungen zur Folge hat (Moises et al. 2002)? Im Laufe der Zeit werden wir auf diese Fragen eine eindeutige Antwort geben können.
Genetische Faktoren Ziel 19: Erörtern Sie die Befunde zum genetischen Einfluss auf die Entwicklung der Schizophrenie.
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Könnten Menschen auch eine Prädisposition für bestimmte Hirnabnormitäten vererbt bekommen? Es gibt starke Argumente dafür, dass dies bei einigen Menschen der Fall ist. Bei einem Durchschnittsmenschen beträgt das Risiko einer Schizophreniediagnose nahezu 1:100. Es steigt auf 1:10, wenn eine Schwester bzw. ein Bruder oder ein Elternteil die Störung hat, und ziemlich genau auf 1:2, wenn das betroffene Geschwister ein eineiiger Zwilling ist (. Abb. 17.11). Obwohl kaum mehr als ein Dutzend solcher Fälle bekannt ist, scheint es so zu sein, dass ein eineiiger Zwilling einer Person mit Schizophrenie diese 1:2-Wahrscheinlichkeit behält, wenn die Zwillinge getrennt aufwachsen (Plomin et al. 1997). Sogar bei eineiigen Zwillingen scheint es eine pränatale Umweltkomponente zu geben. Ungefähr zwei Drittel der eineiigen Zwillinge teilen sich die Plazenta und die Blutversorgung (im Vergleich zu ihrem Zwillingsbruder oder ihrer Zwillingsschwester haben sie für gewöhnlich auch die umgekehrte Händigkeit). Wenn eine eineiige Zwillingsschwester oder ein eineiiger Zwillingsbru-
785 17.4 · Schizophrenie
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der Schizophrenie hat, stehen die Chancen, dass auch der andere Zwilling in einer ähnlichen Weise betroffen ist, bei 6:10, wenn sie sich dieselbe Plazenta geteilt haben. Wuchsen sie jedoch in getrennten Plazentas heran, so liegt die Wahrscheinlichkeit nur bei 1:10 (Davis et al. 1995a; Phelps et al. 1997). Zwillinge, die sich eine Plazenta teilen, bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit dieselben pränatalen Viren. Somit ist es möglich, dass sowohl gemeinsame Keime als auch gemeinsame Gene für Ähnlichkeiten zwischen eineiigen Zwillingen verantwortlich sind. Auf der anderen Seite bestätigen Adoptionsstudien, dass genetische Komponenten etwas Reales sind (Gottesman 1991). Kinder, die von jemandem adoptiert wurden, der später eine Schizophrenie entwickelte, »fingen« sich die Störung nur selten ein. Vielmehr haben adoptierte Kinder vor allem dann ein erhöhtes Risiko, wenn ein biologischer Elternteil eine Schizophreniediagnose erhalten hatte. Bei einer interessanten Studie mit 87.907 Israelis fand man zudem heraus, dass das Schizophrenierisiko der Kinder umso größer war, je älter der biologische Vater war und je größer die damit verbundenen Risiken, dass die DNA in seinen Spermienzellen bereits mutiert war (Malaspina et al. 2001). Nachdem der Einfluss eines genetischen Faktors festzustehen scheint, fahnden Forscher nun nach spezifischen Genen, die in einer bestimmten Kombination dafür prädisponieren könnten, dass es zu Gehirnabnormitäten kommt, die zu einer Schizophrenie führen (Callicott et al. 2005; Egan et al. 2004). (Es sind nicht die Gene, sondern es ist unser Gehirn, das unser Verhalten unmittelbar steuert.) Einige dieser Gene liefern den Code für die Proteine, die etwas mit der Erregungsübertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn zu tun haben (einschließlich des Proteins, das Schizophrenie bei eineiigen Zwillingen Wenn sich Zwillinge voneinander unterscheiden, das Dopamin aufspaltet). Andere wichtige Gene scheinen den Code für Proteine bereitzustellen, hat nur der von einer Schizophrenie Betroffene die die dazu genutzt werden, das Myelin herzustellen; dieser Stoff ummantelt die Gehirnzellen und typisch vergrößerten, flüssigkeitsgefüllten Hirnbeeinflusst die Erregungsübertragung. Trotz verführerischer Befunde haben sich bisher die für die ventrikel (links; Suddath et al. 1990). Dieser UnterKrankheit verantwortlichen Gene als schwer erfassbar erwiesen. Es steht außer Frage, dass es bei schied zwischen den Zwillingen weist darauf hin, der Schizophrenie genetische Einflüsse gibt. Die Rolle der Gene ist jedoch nicht so eindeutig dedass hier ein nichtgenetischer Faktor (z. B. ein Virus) beteiligt ist finiert wie bei der Augenfarbe. Eine so komplexe Störung wie die Schizophrenie wird sicherlich von mehreren Genen beeinflusst, die jeweils einen kleinen Teil dazu beitragen. Denken Sie auch daran, dass 50% der Zwillinge, die genau dieselben Gene wie ein Schizophreniekranker haben, diese Störung nicht entwickeln. Daher kommen die Verhaltensgenetiker Nicol u. Gottesman (1983) zu dem Schluss, dass »einige Menschen zwar für diese Störung genetisch prädisponiert sind, dass aber diese Prädisposition allein nicht ausreicht, um eine Schizophrenie zu entwickeln«. Andere Faktoren wie die oben erwähnten pränatalen Virusinfektionen, Mangelernährung und Sauerstoffmangel bei der Geburt können zu der Erkrankung beitragen. Unser Wissen über die Humangenetik und über die genetischen Einflüsse auf Krankheiten wie etwa die Schizophrenie entwickelt sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit weiter. Und dies geschieht z. T. aufgrund der Schizophrenie Keine Schizophrenie Millionen von Dollars für das neue National Institute of Mental Health, das
Eigentum von Daniel R. Weinberger, M.D., NIH-NIMH/NSC
. Abb. 17.11. Das Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln Das Risiko, irgendwann einmal im Leben eine Schizophrenie zu entwickeln, ist unterschiedlich, je nach der genetischen Verwandtschaft mit jemandem, der Schizophrenie hat. Über die verschiedenen Länder hinweg beträgt die Quote für zweieiige Zwillinge kaum mehr als 1:10. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die Quote 5:10. (Nach Gottesman 2001)
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
sich darauf konzentriert, die Geheimnisse der Schizophrenie zu entschlüsseln. Können also Wissenschaftler Gentests entwickeln, mit denen man herausfinden kann, wer ein Risiko eingeht? Wenn dies so ist, werden die Menschen in Zukunft ihre Embryos einem Gentest aussetzen (und die Gene reparieren oder den Embryo abtreiben), wenn sie ein erhöhtes Risiko für diese oder irgendeine andere psychische oder körperliche Krankheit haben? Könnte es sein, dass sie ihre Eizelle bzw. ihre Samenzellen ins Genlabor zu einer Vorsorgeuntersuchung bringen, bevor sie sie zusammenführen, um einen Embryo zu erzeugen? Oder werden die Kinder auf genetische Risiken untersucht und präventiv angemessen behandelt? In dieser schönen neuen Welt des 21. Jahrhundert müssen derartige Fragen beantwortet werden.
Psychologische Faktoren
Eigentum der Familie Genian
Ziel 20: Beschreiben Sie einige psychologische Faktoren, die Frühwarnzeichen für Schizophrenie bei Kindern sein können.
Die Genain-Vierlinge Die Wahrscheinlichkeit, eine Schizophreniediagnose zu bekommen, beträgt für 4 beliebige, zufällig ausgewählte Menschen 1:100 Mio. Doch die genetisch identischen eineiigen Vierlingsschwestern Nora, Iris, Myra und Hester Genain sind allesamt erkrankt. Zwei der Schwestern haben eine schwerere Form der Störung als die beiden anderen, was sowohl auf Umwelt- als auch auf genetische Einflüsse schließen lässt
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Wenn genetisch prädisponierte, anomale physiologische Entwicklungen nicht für sich genommen eine Schizophrenie verursachen, dann kann man auch nicht davon ausgehen, dass pränatale und psychische Faktoren allein dafür verantwortlich sind. Wie Nicol u. Gottesman (1983) bereits vor mehr als 20 Jahren bemerkten, bleibt es unbestritten, dass »keine umweltbedingten Ursachen entdeckt wurden, die unausweichlich oder auch nur mit einer mäßigen Wahrscheinlichkeit bei Menschen eine Schizophrenie hervorriefen, die nicht mit einem schizophrenen Menschen verwandt waren«. Bereits vor langer Zeit nahmen Psychologen Abstand davon, Eltern die Schuld zu geben; sie attribuierten die Schizophrenie nicht mehr auf kühle und launenhaft »eisige Mütter«. In der Hoffnung, für die Schizophrenie verantwortliche Auslöser in der Umwelt ausfindig zu machen, verfolgten mehrere Forscher die Entwicklung von Kindern mit einem »hohen Risiko«. Dazu gehören z. B. Kinder, die einen Elternteil mit einer Schizophrenie haben oder pränatalen Risiken ausgesetzt waren (Freedman et al. 1998; Olin u. Mednick 1996; Susser 1999). Bei einer Studie wurden 163 Teenager und junge Erwachsene, die 2 Verwandte mit einer Schizophrenie hatten, wissenschaftlich begleitet. Während der 2 1/2 Jahre dauernden Studie zeigten 20% derjenigen, die eine Schizophrenie entwickelten, eine gewisse Tendenz, sich vor Ausbruch der Störung sozial zurückzuziehen und seltsam zu verhalten (Johnstone et al. 2005). Indem die Forscher die Erfahrungen von sog. »High-risk«-Kindern und von »Low-risk«-Kindern verglichen, die entweder eine Schizophrenie entwickeln oder nicht erkranken, haben sie bisher die folgenden möglichen Frühwarnzeichen herausgearbeitet: 4 eine Mutter, die eine schwere und lange andauernde Schizophrenie hatte; 4 Geburtskomplikationen, die oft einen Sauerstoffmangel und ein geringes Geburtsgewicht mit einschließen; 4 eine Trennung von den Eltern; 4 eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und eine schlechte Muskelkoordination; 4 störendes oder verschlossenes Verhalten; 4 emotionale Unberechenbarkeit; 4 wenig Beziehungen mit Gleichaltrigen; das Kind spielt allein. Die meisten von uns können das Auf und Ab affektiver Störungen besser verstehen als die seltsamen Gedanken, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen von Schizophrenen. Hin und wieder erleben auch wir Gedankensprünge, aber wir sprechen nicht in einer Weise, die keinen Sinn ergibt. Ab und zu verdächtigen wir jemanden ungerechtfertigt. Trotzdem befürchten wir nicht, dass sich die ganze Welt gegen uns wendet. Auch wir irren uns oft in unseren Wahrnehmungen, aber wir hören oder sehen selten Dinge, die nicht vorhanden sind. Wir bedauern es, wenn wir über ein Missgeschick eines Menschen lachen, doch lachen wir nur selten in Reaktion auf schlechte Nachrichten. Manchmal wollen wir einfach allein sein, aber wir leben nicht in sozialer Isolation. Es ist jedoch so, dass Millionen von Menschen auf der ganzen Welt seltsame Dinge sagen, unter Wahn-
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ideen leiden, nicht vorhandene Stimmen hören und Sachen sehen, die nicht da sind. Sie lachen oder weinen zu unpassenden Gelegenheiten oder ziehen sich in ihre private innere Welt zurück. Die Forderung, das grausame Rätsel »Schizophrenie« zu lösen, bleibt daher nach wie vor bestehen und muss tatkräftiger als je zuvor angegangen werden. Lernziele Abschnitt 17.4 Schizophrenie Ziel 16: Beschreiben Sie die Symptome der Schizophrenie, und unterscheiden Sie zwischen Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Die Schizophrenie ist eine Gruppe von Störungen, die typischerweise in der späten Adoleszenz auftreten, Männer ein wenig mehr betreffen als Frauen und die es in allen Kulturen zu geben scheint. Die Symptome der Schizophrenie sind desorganisiertes und wahnhaftes Denken, das sich aus einem Zusammenbrechen der selektiven Aufmerksamkeit ergeben kann, gestörte Wahrnehmungen und unangemessene Emotionen und Handlungen. Wahnvorstellungen sind falsche Überzeugungen; Halluzinationen sind sensorische Erlebnisse ohne eine sensorische Stimulation. Ziel 17: Unterscheiden Sie die 5 Subtypen der Schizophrenie, und stellen Sie die chronische und die akute Schizophrenie einander gegenüber. Die Subtypen der Schizophrenie sind der paranoide Typus (starke Beschäftigung mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, oft Verfolgung oder Größenwahn), der desorganisierte Typus (desorganisierte Sprechweise oder desorganisiertes Verhalten oder verflachter Affekt und unangemessene Emotionen), der katatone Typus (Unbeweglichkeit, extremer Negativismus und/oder papageienhafte Wiederholung des Sprechens und der Bewegungen anderer Menschen), der undifferenzierte Typus (unterschiedliche Symptome) und der residuale Typus (Rückzug nach Halluzinationen und Wahnvorstellungen). Eine chronische (oder Prozess-)Schizophrenie entwickelt sich allmählich, geht oft mit Negativsymptomen einher (Abwesenheit angemessener Verhaltensweisen) und hat eine geringe Chance auf Heilung. Eine akute (oder reaktive) Schizophrenie entwickelt sich schnell (oft in Reaktion auf Stress) bei einer vorher gut angepassten Person. Sie kann mit Positivsymptomen einhergehen (Vorhandensein unangemessenen Verhaltens) und hat eine bessere Chance auf Heilung. Ziel 18: Stellen Sie kurz einige Abnormitäten der Gehirnchemie sowie der Funktion und Struktur des Gehirns dar, die mit Schizophrenie einhergehen, und erörtern Sie den möglichen Zusammenhang zwischen pränatalen Virusinfektionen und Schizophrenie. Menschen mit Schizophrenie haben eine erhöhte Anzahl von Rezeptoren für den Neurotransmitter Dopamin, der eventuell die Positivsymptome der Schizophrenie stärker werden lässt. Es werden momentan Forschungsarbeiten über den möglichen Zusammenhang zwischen den Negativsymptomen und einer beeinträchtigten Glutamat-Aktivität durchgeführt. Hirnabnormitäten, die mit Schizophrenie einhergehen, umfassen vergrößerte, flüssigkeitsgefüllte zerebrale Hohlräume und eine entsprechende Abnahme der Größe des Kortex. Schichtaufnahmen
vom Gehirn zeigen eine abnorme Aktivität in den Frontallappen, im Thalamus und in der Amygdala. Fehlfunktionen in mehreren Hirnregionen und ihren Verbindungen spielen offensichtlich bei der Entstehung der schizophrenen Symptome zusammen. Es mehren sich die Forschungsbefunde zu den Kausalwirkungen einer Viruserkrankung in der mittleren Schwangerschaft. Ziel 19: Erörtern Sie die Befunde zum genetischen Einfluss auf die Entwicklung der Schizophrenie. Die Wahrscheinlichkeit, eine Schizophrenie zu entwickeln, liegt etwa bei 1:100 in der Allgemeinbevölkerung, bei 1:10, wenn ein Familienmitglied die Störung hat, und bei 1:2, wenn ein eineiiger Zwilling sie hat. Adoptionsstudien zeigen, dass die Chance eines Adoptivkindes, die Störung zu entwickeln, größer ist, wenn die biologischen Eltern Schizophrenie haben, nicht jedoch, wenn die Adoptiveltern die Störung haben. 50% von denen jedoch, deren eineiige Zwilllinge eine Schizophrenie haben, entwickeln die Störung nicht selbst; dies zeigt, dass die Genetik nicht die einzige Ursache für diese Störung ist. Ziel 20: Beschreiben Sie einige psychologische Faktoren, die Frühwarnzeichen für Schizophrenie bei Kindern sein können. Kein Umweltereignis allein kann eine Schizophrenie auslösen, obwohl einige Faktoren die Störung bei Menschen auslösen können, die genetisch dafür prädisponiert sind. Die Forschung hat einige Frühwarnzeichen für Schizophrenie ausgemacht; dazu gehören eine Mutter, deren Schizophrenie schwer und lang andauernd war, Komplikationen bei der Geburt, die Trennung von den Eltern, eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und schlechte Koordination der Muskeln, zerstörerisches oder in sich gekehrtes Verhalten, Unvorhersagbarkeit der Emotionen und schlechte Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie das Spielen ohne Spielkameraden. > Denken Sie weiter: Die freie Bürgerbewegung verteidigt die Rechte schizophrener Patienten, nicht gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen zu werden. E. Fuller Torrey (1998), ein Psychiater, der die Schizophrenie als Erkrankung des Gehirns betrachtet, hat Einwände: »Wenn ein Mensch mit Alzheimer im Winter ohne Schuhe nach draußen ginge, würden wir nicht sagen: ›In Ordnung, er soll frei entscheiden können‹.« Finden Sie, dass Patienten mit einer Schizophrenie in eine Klinik eingewiesen und gegen ihren Willen behandelt werden sollten? Oder sollten sie immer das Recht auf ein freies Leben haben, selbst wenn sie unter Brücken und in Obdachlosenasylen hausen würden?
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
17.5
Persönlichkeitsstörungen
Ziel 21: Stellen Sie die 3 Cluster von Persönlichkeitsstörungen einander gegenüber, und beschreiben Sie die Verhaltensweisen und die Hirnaktivität, die mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung einhergehen.
Persönlichkeitsstörung (personality disorder): psychische Störung, die gekennzeichnet ist durch unflexible, andauernde Verhaltensmuster, die die soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigen.
Einige fehlangepasste Verhaltensmuster beeinträchtigen die soziale Funktionsfähigkeit von Menschen, ohne dass sie Angst, eine Depression oder Wahnvorstellungen haben. Bei diesen zerstörerischen Mustern, die man als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet, handelt es sich um unflexible und überdauernde Muster von innerem Erleben und Verhalten, die merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und die einen Menschen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen behindern. Von den schon in 7 Kap. 14 besprochenen Persönlichkeitseigenschaften oder Persönlichkeitszügen unterscheiden sich die Persönlichkeitsstörungen dadurch, dass diese Muster sehr unflexibel und unangepasst sind und in bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen der sozialen Funktionsfähigkeit oder subjektivem Leiden führen. Wichtig für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung ist darüber hinaus, dass die Störung bereits im Jugendalter oder im frühen Erwachsenenalter begonnen hat. Die Symptome müssen bei einer Person unter 18 Jahren mindestens 1 Jahr andauern, bevor die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden kann. Im Zeitverlauf erweisen sich diese Störungen meist als sehr stabil. Persönlichkeitsstörungen sind im DSM-IV auf der Grundlage von deskriptiven Ähnlichkeiten in 3 Cluster geordnet. Persönlichkeitsstörungen
Cluster A beinhaltet die exzentrischen Persönlichkeitsstörungen: 4 paranoide Persönlichkeitsstörung, 4 schizoide Persönlichkeitsstörung, 4 schizotypische Persönlichkeitsstörung. Cluster B enthält die dramatischeren, mit launischem Verhalten einhergehenden Störungen: 4 histrionische Persönlichkeitsstörung, 4 narzisstische Persönlichkeitsstörung, 4 antisoziale Persönlichkeitsstörung, 4 Borderline-Persönlichkeitsstörung. Cluster C umfasst die ängstlichen Typen von Persönlichkeitsstörungen: 4 vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, 4 dependente Persönlichkeitsstörung, 4 zwanghafte Persönlichkeitsstörung, 4 passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung.
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Cluster A ist gekennzeichnet durch exzentrische und sonderbare Verhaltensweisen: Dazu gehört beispielsweise die schizoide Persönlichkeitsstörung, die mit einer Abkehr vom Sozialleben einhergeht. Cluster C umfasst Störungen, die durch Ängste charakterisiert sind. Dazu gehört z. B. eine mit Angst verbundene Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung, die anfällig macht für die zurückgezogene vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Cluster B zeigt dramatisches oder impulsives Verhalten. Ein Mensch mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung zeigt Gefühlsausbrüche, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Des Weiteren scheut er keine Mühe, um Lob und Rückversicherungen von anderen zu erhalten. Menschen mit einer auf sich selbst konzentrierten narzisstischen Persönlichkeitsstörung übertreiben ihre eigene Wichtigkeit und stützen sich dabei gern auf fantasierte Erfolge. Sie finden es schwer, Kritik zu akzeptieren, und reagieren oft mit Wut oder Scham. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung haben eine instabile Identität, instabile Beziehungen sowie instabile und impulsive Emotionen. Wenn die Persönlichkeit ein überdauerndes Muster des Denkens, Fühlens und Handelns darstellt, dann ist die Borderline-Persönlichkeit durch ein auffallend instabiles Gefühl für das Selbst definiert.
789 17.5 · Persönlichkeitsstörungen
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Antisoziale Persönlichkeitsstörung Unter den Persönlichkeitsstörungen ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung (im ICD-10 dissoziale Persönlichkeitsstörung genannt) die Besorgnis erregendste und die am besten erforschte. Es handelt sich typischerweise um einen Mann (früher Soziopath oder Psychopath genannt), dessen schwach ausgebildetes Gewissen sich bereits vor dem Alter von 15 Jahren zeigt, wenn er anfängt zu lügen, zu stehlen, zu prügeln oder ein hemmungsloses Sexualverhalten an den Tag legt (Cale u. Lilienfeld 2002). Ungefähr die Hälfte dieser Kinder entwickeln sich zu antisozialen Erwachsenen, Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Arbeitsstelle zu behalten, die sich als unverantwortliche Ehepartner oder Eltern erweisen, andere angreifen oder sich anderweitig kriminell verhalten (Farrington 1991). Wenn bei der antisozialen Persönlichkeit eine wache Intelligenz und fehlende Moralvorstellungen zusammenkommen, kann daraus ein charmanter, cleverer Trickbetrüger – oder gar Schlimmeres – werden. Die Prävalenz dieser Persönlichkeitsstörung liegt bei Männern um 3%, bei Frauen um 1%. Trotz ihres antisozialen Verhaltens entsprechen die meisten Straftäter jedoch nicht den Kriterien, die für die Beschreibung der antisozialen Persönlichkeitsstörung herangezogen werden. Warum ist das so? Die meisten Straftäter sorgen sich durchaus in einer verantwortungsvollen Weise um ihre Familie und ihre Freunde. Antisoziale Persönlichkeiten fühlen und fürchten wenig, was im Extremfall zu schrecklichen Verbrechen führen kann. Henry Lucas gab an, er habe im Alter von 13 Jahren eine Frau erwürgt, die sich geweigert hätte, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gestand er, in den 32 Jahren seiner kriminellen Karriere mehr als 360 Frauen, Männer und Kinder niedergeknüppelt, erstickt, erstochen, erschossen und verstümmelt zu haben. Während der letzten 6 Jahre seiner Schreckensherrschaft machte er das zusammen mit Elwood Toole, der den Berichten nach 50 Menschen abschlachtete, von denen er meinte, »sie seien ohnehin nicht lebenswert«. Das alles ging zu Ende, als Lucas gestand, die 15-Jährige, mit der er eheähnlich zusammenlebte und die Tooles Nichte war, erstochen und zerstückelt zu haben. »Wenn ich ein Verbrechen begangen habe, vergesse ich es einfach«, sagte Lucas. Toole war ähnlich nüchtern: »Für mich ist das Töten wie das Rauchen einer Zigarette, wie jede andere Gewohnheit« (Darrach u. Norris 1984).
Erklärungsansätze bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung Wie bei affektiven Störungen und der Schizophrenie besteht auch die antisoziale Persönlichkeitsstörung aus biologischen und psychologischen Komponenten. Es gibt auch hier keine einzelnen Gen-Codes, die hinter einem so komplexen Verhalten wie einem Verbrechen stehen. Allerdings enthüllen Zwillings- und Adoptionsstudien, dass die biologischen Verwandten von Menschen mit antisozialen und gefühllosen Tendenzen ein erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten in sich tragen (Rhee u. Waldman 2002; Viding et al. 2005). Ihre genetisch bedingte Vulnerabilität zeigt sich darin, dass sie furchtlos auf das Leben zugehen. So zeigen sie nur geringe Erregung im autonomen Nervensystem, während sie auf aversive Ereignisse wie Stromstöße oder laute Geräusche warten (Hare 1975). Sogar als junge Menschen, bevor sie irgendein Verbrechen begangen haben, reagieren sie im Vergleich zu Gleichaltrigen mit einer geringeren Konzentration an Stresshormonen (. Abb. 17.12). In einigen Untersuchungen wurden bei Kindern im Alter von 3–6 Jahren Frühwarnzeichen des antisozialen Verhaltens entdeckt (Caspi et al. 1996; Tremblay et al. 1994). Jungen, die später in der Adoleszenz zu aggressiven oder antisozialen Jugendlichen wurden, tendierten bereits als kleine Kinder zu Impulsivität, waren ungehemmt, kümmerten sich wenig um soziale Belohnungen und hatten eine niedrige Angstschwelle. Eine derartige Furchtlosigkeit kann, wenn sie in produktivere Richtungen gebahnt wird, zu unerschrockenem Heldenmut oder zu Abenteuerlust führen, oder es kann sich ein herausragender Hochleistungssportler daraus entwickeln (Poulton u. Milne 2000). Ist jedoch die Wahrnehmung für soziale Verantwortung mangelhaft entwickelt, kann dieselbe Disposition einen kalten Betrüger oder Killer hervorbringen (Lykken 1995). Genetische Einflüsse tragen dazu bei, das Gehirn mit Nervenbahnen zu durchziehen. Raine (1999) verglich PET-Aufnahmen der Gehirne von 41 Mör-
Antisoziale Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder): Persönlichkeitsstörung, bei der der Betreffende (in der Regel ein Mann) ein schwach ausgebildetes Gewissen hinsichtlich des eigenen Fehlverhaltens, auch gegenüber Freunden und Familienmitgliedern, aufweist; er kann aggressiv und rücksichtslos oder ein cleverer Trickbetrüger sein.
. Abb. 17.12. Kaltblütige Erregbarkeit und Kriminalitätsrisiko In zwei Gruppen 13-jähriger schwedischer Jungen wurden die Konzentrationen des Stresshormons Adrenalin gemessen. Diejenigen, die später (als 18- bis 26-Jährige) eines Verbrechens überführt wurden, zeigten sowohl in stressreichen als auch in nicht so stressigen Situationen eine vergleichsweise geringe Erregung. (Aus Magnusson 1990)
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Abb. 17.13a, b. »Mörderischer Verstand« Im Vergleich mit einer psychisch unauffälligen Person (a) zeigen PET-Aufnahmen eines Mörders (b) eine geringere Aktivierung im Frontalkortex (weniger rote und gelbe Einfärbungen) – einem Bereich des Gehirns, der zur Hemmung eines impulsiven und aggressiven Verhaltens beiträgt. (Aus Raine 1999)
. Abb. 17.14. Biopsychosoziale Wurzeln der Kriminalität In einer dänischen Langzeitstudie wurde Folgendes festgestellt: Männer, deren Vorgeschichte mit Geburtskomplikationen und sozialen Stressoren aufgrund von Armut verbunden war, wurden im Alter von 20–22 Jahren mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit kriminell als diejenigen, die nur zu einer, der biologischen (Geburtskomplikationen) oder der sozialen (Armut als Stressor), Risikogruppen gehörten. (Aus Raine et al. 1996)
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dern mit den Gehirnen von Menschen desselben Alters und Geschlechts. Raine fand eine verringerte Aktivität im Frontallappen der Mörder, einem Bereich des Kortex, der eine wichtige Rolle bei der Impulskontrolle spielt (. Abb. 17.13). Diese Verringerung trat vor allem bei denen auf, die impulsiv mordeten. In einer Folgestudie fanden Raine und sein Team heraus, a b dass gewaltbereite Wiederholungstäter 11% weniger Gewebe im Frontallappen hatten als andere Menschen. Dies könnte erklären, warum Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung auffällige Defizite in den kognitiven Funktionen zeigen, die mit dem Frontallappen assoziiert sind. Dazu gehört beispielsweise das Planen und Organisieren, aber auch die Hemmung (Morgan u. Lilienfeld 2000). Vielleicht trägt eine biologische festgelegte Furchtlosigkeit ebenso wie die frühe Umwelt dazu bei, die Familienzusammenführung der lange getrennten Geschwister Joyce Lott, 27, und Mary Jones, 29, in einem Gefängnis von South Carolina zu erklären, wo beide eine Haftstrafe wegen eines Drogenvergehens antreten mussten. Nach dem Zeitungsbericht über ihre Zusammenführung rief der lange verloren geglaubte Halbbruder Frank Strickland an. Er sagte, es würde eine Weile dauern, bevor er kommen könne, um sie zu treffen – weil auch er im Gefängnis säße, wegen Drogenbesitz, Einbruch und Diebstahl (Shepherd et al. 1990). Trotz alledem ist es unwahrscheinlich, dass die ganze Geschichte des antisozialen Verbrechens durch die Genetik allein erklärt werden kann. Verglichen mit der Situation im Jahr 1960 war für den Durchschnittsamerikaner die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, im Jahr 1995 doppelt so hoch (vor dem Rückgang der Verbrechen in den späten 90er Jahren). Die Rate derer, die berichteten, vergewaltigt oder beraubt worden zu sein, war 4-mal so hoch und der Anteil gemeldeter Überfälle stieg um das 5-fache (FBI, »Uniform Crime Reports«). Auch in anderen westlichen Nationen nahmen Gewaltverbrechen zu. Dennoch hatte sich der menschliche Genpool kaum verändert. Betrachten Sie einmal das 1787 begonnene, englische »Sozialexperiment«, als 160.000 englische Straftäter nach Australien verbannt wurden. Die Nachfahren dieser Verbannten, vermutlich Träger der »kriminellen Gene« ihrer Vorfahren, trugen zum Aufbau einer zivilisierten Demokratie bei, deren Kriminalitätsrate sich kaum von der Englands unterscheidet. Genetische Prädispositionen bewirken, dass manche Menschen eher ein Risiko tragen, sich antisozial zu verhalten, als andere; sowohl biologische als auch Umwelteinflüsse erklären, warum 5–6% der Straftäter 50–60% der Verbrechen begehen (Lyman 1996). Wir müssen auch soziokulturelle Faktoren berücksichtigen, um die heutige Epidemie an Verbrechen zu erklären. Eine Untersuchung über die kriminellen Tendenzen junger dänischer Männer spricht für die Brauchbarkeit eines umfassenden biopsychosozialen Ansatzes. Raine et al. (1996) untersuchten Berichte über Kriminaltaten von nahezu 400 Männern im Alter von 20–22 Jahren. Sie wussten, dass alle diese Männer entweder einen geburtsbedingten biologischen Risikofaktor hatten (z. B. durch eine Frühgeburt) oder von Familien abstammten, die durch Armut und eine ausgeprägte familiäre Instabilität gekennzeichnet waren. Die Forscher verglichen jede dieser Gruppen mit einer »biosozialen« Gruppe, deren Mitglieder beides aufwiesen, nämlich sowohl biologische als auch soziale Risikofaktoren. Diese biosoziale Gruppe hatte ein doppelt so hohes Risiko, ein Verbrechen zu begehen (. Abb. 17.14). In einer 25 Jahre andauernden Studie, die 1037 Kinder wissenschaftlich begleitete, ließen sich antisoziale Probleme durch eine Kombination aus 2 Faktoren vorhersagen: schlechte Behandlung in der Kindheit und ein Gen, das das Gleichgewicht zwischen den Neurotransmittern veränderte (Caspi et al. 2002). Weder »schlechte« Gene noch eine »schlechte« Umwelt allein prädisponierten für ein späteres antisoziales Eigentum von Adrian Raine, University of Southern California
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791 17.6 · Prävalenz psychischer Störungen
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Verhalten; vielmehr prädisponierten die Gene einige Kinder dazu, eine höhere Sensibilität gegenüber schlechter Behandlung zu entwickeln. In »genetisch anfälligen Schichten der Bevölkerung« sind Umwelteinflüsse wichtig (Moffitt 2005). Auch hinsichtlich des antisozialen Verhaltens besteht eine Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt, wie bei so vielem anderen auch. Lernziele Abschnitt 17.5 Persönlichkeitsstörungen Ziel 21: Stellen Sie die 3 Cluster von Persönlichkeitsstörungen einander gegenüber, und beschreiben Sie die Verhaltensweisen und die Hirnaktivität, die mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung einhergeht. Persönlichkeitsstörungen sind unflexible und überdauernde Verhaltensmuster, die die soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Die Hauptkomponente im ersten Cluster sind exzentrische Verhaltensweisen, im zweiten Cluster dramatische oder impulsive Verhaltensweisen und im dritten Cluster ist es Angst. Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch ein schwach ausgebildetes Gewissen und manchmal durch aggressives und rücksichtsloses Verhalten. Bei
17.6
Schichtaufnahmen vom Gehirn einiger Mörder mit dieser Störung zeigte sich eine verringerte Aktivität in den Frontallappen, einem Bereich zur Steuerung impulsiven, aggressiven Verhaltens. Es gibt kein Gen für die antisoziale Persönlichkeitsstörung, obwohl bei ihrer Entstehung eine genetische Prädisposition in Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen treten kann. > Denken Sie weiter: Wie würden Sie den jeweiligen Einfluss von Anlage und Umwelt auf die antisoziale Persönlichkeitsstörung beurteilen?
Prävalenz psychischer Störungen
Ziel 22: Erörtern Sie die Prävalenz psychischer Störungen, und fassen Sie die Befunde über den Zusammenhang zwischen Armut und schweren psychischen Störungen zusammen.
Wie hoch ist die Prävalenz psychischer Störungen, d. h. wie häufig kommen die verschiedenen Störungen vor? Wer ist am anfälligsten dafür? In welchen Lebensphasen ist man am anfälligsten? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, führten mehrere Staaten an repräsentativen Stichproben lange, strukturierte Interviews mit Tausenden ihrer Bürger durch. Nachdem sie zur Erhebung der Symptome Hunderte von Fragen gestellt hatten (z. B. »Gab es jemals eine Phase von 2 Wochen oder länger, in der Sie sich so fühlten, als wollten Sie sterben?«) schätzten die Forscher die Punkt-, 12-Monats- und die Lebenszeitprävalenz der verschiedenen Störungen. Wie viele Menschen leiden oder litten an einer psychischen Störung? Es sind mehr, als die meisten von uns annehmen: 4 Aufgrund der zusammengefassten Ergebnisse einer Interviewstudie des U.S. National Institute of Mental Health und einer Nachfolgeumfrage schätzten Narrow et al. (2002), dass 1 von 7 Amerikanern in den letzten 12 Monaten an einer klinisch . Tab. 17.5. Prozentsatz von Amerikanern, die in den letzten 12 Morelevanten, psychischen Stönaten ausgewählte psychische Störungen aufwiesen (manche Personen litten unter 2 oder mehreren Störungen gleichzeitig, wie etwa rung gelitten hätte (. Tab. unter Depression und Alkoholmissbrauch; nach Narrow et al. 2002) 17.5). 4 Großbritanniens Office of Störung USA National Statistics (2002) beProzentsatz richtete kürzlich über eine Alkoholmissbrauch 5,2 ähnlich hohe Prävalenz von Generalisierte Angststörung 4,0 psychischen Störungen: Auch Phobien 7,8 hier beträgt die Quote 1:6. 4 Bei einer Untersuchung der Zwangsstörung 2,1 australischen Regierung mit Affektive Störung 5,1 10.600 Erwachsenen fand Schizophrenie 1,0 man heraus, dass in den letzten 12 Monaten kaum weniAntisoziale Persönlichkeit 1,5 ger als 1 von 6 Menschen 14,9 Alle psychischen Störungen »eine psychische Störung
Prävalenz (prevalence): Anzahl der Erkrankungsfälle einer bestimmten Erkrankung zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder innerhalb einer bestimmten Zeitperiode (z. B. Lebenszeitprävalenz).
Werden einige Menschen bei Vollmond »verrückt«? Rotton u. Kelly (1985) untersuchten die Daten von 37 Studien, die Mondphasen mit Verbrechen, Morden, Krisenanrufen und Einweisungen in psychiatrische Krankenhäuser in Verbindung brachten. Sie kamen zu folgendem Schluss: Es gibt praktisch keinerlei Belege für eine »mondabhängige Verrücktheit«. Genauso wenig gibt es Zusammenhänge zwischen Mondphase einerseits und Selbstmorden, gewaltsamen Übergriffen, Notfallaufnahmen oder Verkehrsunfällen andererseits (Martin et al. 1992; Raison et al. 1999).
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Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
. Abb. 17.15. 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland In Deutschland litten 31,1% der Bevölkerung in den letzten 12 Monaten an einer psychischen Störung. Am weitesten verbreitet waren Phobien. Aufgrund der Komorbidität psychischer Störungen addieren sich die Einzelwerte zu mehr als 31,1%. (Nach Wittchen u. Jacobi 2001)
hat« (Andrews et al. 1999). Eine andere Untersuchung der australischen Regierung mit 4500 Kindern und Heranwachsenden resümierte, dass 1 von 7 »Probleme mit der psychischen Gesundheit« hatte (Sawyer et al. 2000). 4 In Deutschland litten 31,1% in den letzten 12 Monaten an irgendeiner Form psychischer Störungen (. Abb. 17.15), für die gesamte Lebenszeit betrug die Rate sogar 42,6%. Mit Ausnahme von Suchterkrankungen haben Frauen dabei ein höheres Lebenszeitrisiko als Männer (Wittchen u. Jacobi 2001).
17 . Abb. 17.16. 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen Aus Weltgesundheitsorganisation (WHO 2004), Interviews in 20 Ländern
Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2004), die auf 90-Minuten-Interviews mit 60.463 Personen beruhte, schätzte die Anzahl der psychischen Störungen in den letzten 12 Monaten bezogen auf 20 Staaten ein. Wie . Abb. 17.16 zeigt, lag die geringste Rate angegebener psychischer Störungen in Shanghai vor, die höchste in den USA. Wenn Menschen von Mexiko oder aus anderen Staaten in die USA einwandern, wird zudem ihre psychische Gesundheit und die ihrer Kinder in dem Maße schlechter, wie sie sich mit der Zeit an das Land assimilieren. Beispielsweise haben Amerikaner mexikanischen Ursprungs, die in den USA geboren wurden, im Vergleich zu Menschen, die kürzlich aus Mexiko emigrierten, ein höheres Risiko für eine psychische Störung (Grant et al. 2004; Vega et al. 1998). Ein Prädiktor für psychische Störungen ist Armut. Bei Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben (Centers for Disease Control 1992), kommen schwerwiegende psychische Störungen doppelt so häufig vor. Wie bei vielen anderen Korrelationen stellt sich auch beim Zusammenhang zwischen Armut und einer Störung die Frage nach der Henne und dem Ei: Verursacht Armut die Störungen oder verursacht die Störung Armut? Es trifft wohl beides zu, obwohl die Antworten je nach Störung unterschiedlich sind. Die Schizophrenie führt verständlicherweise häufig zu Armut. Dennoch können die armutbedingten Belastungen und die sich daraus ergebende Entmutigung auch den Störungen vorangehen. Dies ist vor allem bei Depressionen von Frauen und bei Substanzmissbrauch von Männern der Fall (Dohrenwend et al. 1992). In einem naturalistischen Experiment zum Zusammenhang zwischen Armut und Pathologie verfolgten Forscher die Raten für Verhaltensprobleme bei amerikanischen Kindern in North Carolina, als dort die wirtschaftliche Entwicklung eine drastische Verringerung der Armutsrate in der Bevölkerung ermöglichte. Zu Beginn der Studie zeigten die Kinder aus armen Schichten abweichendere und aggressivere Verhaltensweisen. Nach 4 Jahren wiesen die Kinder, deren Familien es geschafft hatten, aus der Armut herauszukommen, eine 40-prozentige Abnahme an Ver-
793 17.6 · Prävalenz psychischer Störungen
haltensproblemen auf, während diejenigen, die weiterhin unterhalb oder etwas oberhalb der Armutsgrenze lagen, keine Veränderung zeigten (Costello et al. 2003).
Risikofaktoren und schützende Faktoren bei psychischen Störungen Risikofaktoren 4 Schulversagen 4 Geburtskomplikation 4 Versorgung chronisch Kranker oder von Demenzpatienten 4 Kindesmissbrauch und -vernachlässigung 4 Chronische Schlaflosigkeit 4 Chronische Schmerzen 4 Desorganisation oder Konflikt in der Familie 4 Geringes Gewicht bei der Geburt 4 Geringer sozioökonomischer Status 4 Medizinische Krankheit 4 Neurochemisches Ungleichgewicht 4 Psychische Krankheit eines Elternteils 4 Substanzmissbrauch durch einen Elternteil 4 Persönlicher Verlust und Trauerfall 4 Schlechte berufliche Fähigkeiten und Gewohnheiten 4 Mangelnde Lesefähigkeit 4 Sensorische Defizite 4 Soziale Inkompetenz 4 Stressreiche Lebensereignisse 4 Substanzmissbrauch 4 Erfahrungen mit einem Trauma Schützende Faktoren 4 Ausdauertraining (aerobes Training) 4 Gemeinschaft bietet Weiterbildung, Möglichkeiten und Sicherheit 4 Wirtschaftliche Unabhängigkeit 4 Gefühl der Sicherheit 4 Gefühl der Beherrschbarkeit und der Kontrolle 4 Gute Betreuung durch die Eltern 4 Alphabetisierung 4 Positive Bindung und früher Aufbau einer engen Beziehung 4 Positive Beziehung zwischen Eltern und Kind 4 Fähigkeiten zur Problemlösung 4 Zähe Bewältigung von Stress und widrigen Bedingungen (Resilienz) 4 Selbstwertgefühl 4 Soziale und berufliche Fähigkeiten 4 Soziale Unterstützung durch Familie und Freunde (Nach: World Health Organization, 2004a,b)
Wie die Übersicht zeigt, gibt es bei psychischen Störungen eine breite Vielfalt an Risikofaktoren und an schützenden Faktoren. Menschen erleiden eine psychische Störung für gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter. »Über 75% unserer Stichprobe von Menschen mit irgendeiner Form von Störung hatten ihre ersten Symptome im Alter von 24 Jahren«, berichteten Robins u. Regier (1991). Die Symptome der antisozialen Persönlichkeitsstörung und der Phobien gehören zu denen, die am frühesten auftreten, durchschnittlich im Alter von 8 bzw. 10 Jahren. Symptome des Alkoholmissbrauchs, der Zwangsstörung, der bipolaren Störung und der Schizophrenie treten durchschnittlich im Alter von knapp 20 Jahren auf. Die Major Depression schlägt oft etwas später zu, durchschnittlich im Alter von 25 Jahren.
17
794
Kapitel 17 · Klinische Psychologie: Psychische Störungen
Die oben aufgeführten Ergebnisse verdeutlichen den Bedarf an weiterer Forschung und Behandlung, um der steigenden Anzahl von Menschen zu helfen, vor allem den Teenagern und jungen Erwachsenen, die der Verwirrung und dem Schmerz einer psychischen Störung ausgesetzt sind. Obwohl wir uns des Schmerzes durchaus bewusst sind, können wir uns auch von den vielen erfolgreichen Menschen ermutigen lassen, die trotz ihrer psychischen Probleme brillante Karrieren verfolgten. Dazu gehören Leonardo da Vinci, Isaac Newton und Leo Tolstoi. Die durch psychische Störungen bedingte Verwirrung, Furcht und Sorgen sind real. Doch die Hoffnung hat, wie wir in 7 Kap. 18 sehen werden, ebenfalls eine reale Grundlage. Lernziele Abschnitt 17.7 Prävalenz psychischer Störungen Ziel 22: Erörtern Sie die Prävalenz psychischer Störungen, und fassen Sie die Befunde über den Zusammenhang zwischen Armut und schweren psychischen Störungen zusammen. Unter Prävalenz versteht man, wie viele Menschen einer bestimmten Gruppe (Population) definierter Größe – üblicherweise 10.000 oder eine Million – an einer bestimmten Krankheit erkrankt sind. Die Forschung deutet darauf hin, dass 1 von 6 Menschen eine psychische Störung hat oder hatte, dies in der Regel bis zum frühen Erwachsenenalter. In Deutschland beträgt die Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen 42,6%. Armut ist ein Prädiktor für eine psychische Erkrankung. Die Le-
bensumstände und die Erfahrungen im Zusammenhang mit Armut tragen etwas zur Entwicklung psychischer Störungen bei, aber auch das Umgekehrte trifft zu. Einige psychische Störungen, wie etwa die Schizophrenie, treiben Menschen in die Armut. > Denken Sie weiter: Gibt es in Ihrer Familie ein Mitglied, das eine psychische Störung durchgemacht hat? Wenn dies der Fall ist, hat die Lektüre dieses Kapitel Ihr Verständnis für die Herausforderungen vertieft, denen diese Person ausgesetzt war?
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Was ist der biopsychosoziale Ansatz, und warum ist er für unser Verständnis psychischer Störung von Bedeutung? 2. In welcher Hinsicht unterscheiden sich die Angststörung, Phobien und die Zwangsstörung? 3. Was bedeutet es, wenn man sagt, die Depression sei die weit verbreitete »Erkältung unter den psychischen Störungen? 4. Welches sind die 5 Subtypen der Schizophrenie? 5. Ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung eine erbliche Krankheit? 6. Verursacht Armut psychische Störungen? Erklären Sie dies bitte.
L Deutsche Literatur zum Thema Dilling, H. & Freyberger, H. J. (Hrsg.). (2006). Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen, 2. Aufl. Bern: Hans Huber. Döring, S. & Möller, H. (2008). Frankenstein und Belle de Jour. 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Heidelberg: Springer. Perrez, M. & Baumann, U. (Hrsg.). (2005). Lehrbuch Klinische Psychologie – Psychotherapie, 3. Aufl. Bern: Huber. Reinecker, H. (Hrsg.). (2003). Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe. Wittchen,H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
17
18 Klinische Psychologie: Therapie 18.1
Psychotherapien
– 797
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
Psychoanalytische Therapien – 797 Humanistische Therapien – 801 Verhaltenstherapie – 802 Kognitive Therapien – 807 Gruppen- und Familientherapien – 810
18.2
Therapieevaluation
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5
Wie wirksam ist die Psychotherapie? – 813 Welche Therapie für welche Störung? – 818 Was bringen alternative Therapien? – 819 Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen – 822 Kultur und Wertvorstellungen in der Psychotherapie – 824
18.3
Biomedizinische Therapien – 826
18.3.1 18.3.2 18.3.3
Medikamentöse Therapien – 827 Stimulation des Gehirns: Elektrokrampftherapie und transkranielle Magnetstimulation – 832 Psychochirurgie – 835
18.4
Prävention psychischer Störungen
– 813
– 837
Andere Kulturen, andere Perspektiven My father guessed at work. He gave me things to do. We strangled weeds from the flower bed, Washed the car, Walked the dog.
My good friend guessed at leaving town. So we lugged gravel, grinding gears Up and down the western Pennsylvania hills. We’d raise the bed and listen To the gravel rush into a silent pile.
My mother guessed at a mother’s love. She went back to tucking sheets Around me as I lay awake in bed. She pulled her fingers through my hair. She turned away. She held me.
My preacher guessed at God. He knew my answer; spread my sin; Prayed; asked me to pray; Sprinkled oil on my head; Pronounced me of this world.
Jack Ridl (geb. 1944), aus »The Healers«, 1957, Poems from The Same Ghost and Between
My doctor guessed at shock. Strapped me down. Hooked electrodes to my head. Baptized me with volts. I guessed at empty space And all the breath That I could spill to fill it up.
796
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Klinische Psychologie: Therapie > Der äußere Raum, der uns umgibt, der Weltraum, ist uns nicht mehr völlig fremd: Nach und nach lüften wir seine Geheimnisse und können sogar mit ziemlicher Sicherheit die chemische Zusammensetzung der Jupiteratmosphäre bestimmen. Doch beim Verständnis der Störungen des inneren Raums – der in 7 Kap. 17 beschriebenen psychischen Störungen – hat es keine vergleichbaren Fortschritte gegeben, und auch bei ihrer Behandlung stehen wir erst am Anfang. In den 2200 Jahren, die vergangen sind, seit Eratosthenes den Erdumfang korrekt geschätzt hat, haben wir den Himmel kartographiert, das Sonnensystem erforscht, die Geschichte der Entstehung des Lebens rekonstruiert, den genetischen Code geknackt und Heilmethoden für alle möglichen Krankheiten entwickelt, wenn wir sie nicht sogar ausgerottet haben. Doch im selben Zeitraum haben wir psychische Störungen mit einer verblüffenden Vielfalt von groben und sanften Methoden behandelt: Da wurden den Kranken Löcher in den Kopf gebohrt, warme Bäder und Massagen verpasst, sie wurden angebunden, zur Ader gelassen, oder »der Teufel« wurde aus ihnen herausgeprügelt. Man brachte sie in sonnigen, freundlichen Umgebungen unter, gab ihnen Medikamente und Elektroschocks und es wurde geredet – geredet über Kindheitserfahrungen, derzeitige Gefühle, über unpassende, »schlechte« Gedanken und Verhaltensweisen. Dank der Bemühungen von Reformern wie Philippe Pinel in Frankreich wurden die brutalen Behandlungsmethoden allmählich durch freundlichere ersetzt. Die Reformer setzten sich für den Bau von psychiatrischen Kliniken ein, in denen humanere Behandlungsmethoden praktiziert wurden. Wie wir im Verlauf dieses Kapitels erfahren werden, hat die Entwicklung der Psychopharmakologie zusammen mit der Gemeindepsychiatrie seit Mitte der 50er Jahre dazu geführt, dass sich die psychiatrischen Krankenhäuser leeren.
Ziel 1: Erörtern Sie einige Aspekte, in denen sich die Psychotherapie, die biomedizinische Therapie und ein ekletischer Ansatz unterscheiden.
18
Seattle Art Museum/Corbis
Geschichte der Behandlungsmethoden William Hogarths (1697–1764) Stich des Krankenhauses St. Mary of Bethlehem in London (»Bedlam« genannt; links) zeigt die Behandlung von Geisteskranken im 18. Jahrhundert. Besucher zahlten Eintritt, um die Patienten zu begaffen, als handele es sich um Tiere im Zoo. Der Stuhl (rechts) wurde von Benjamin Rush (1746–1813) »zum Heil manischer Patienten« entworfen. Rush, einer der Begründer der Bewegung für einen menschlicheren Umgang mit Geisteskranken, glaubte, die Patienten müssten gefesselt werden, damit sie ihre Gefühle und Empfindungen zurückgewinnen könnten
Corbis
Die Therapieverfahren, die eingesetzt werden, um psychische Gesundheit zu erlangen, kann man in zwei Hauptkategorien einordnen: die psychologischen Therapien (oder Psychotherapien) und die biomedizinischen Therapien. Welcher Therapieform man heute den Vorzug gibt, hängt sowohl von der Art der Störung als auch vom Standpunkt des Therapeuten ab. Psychische Störungen, von denen Forscher annehmen, dass sie erlernt sind, wie etwa Phobien, werden wahrscheinlich mit einer Psychotherapie behandelt: Das ist eine »geplante, emotionsgeladene und vertrauensvolle Interaktion zwischen einem ausgebildeten und offiziell anerkannten Angehörigen der Heilberufe und einem leidenden
Psychotherapie (psychotherapy): emotionsgeladene, vertrauensvolle Interaktion zwischen einem ausgebildeten Therapeuten und einem Menschen mit psychischen Problemen.
797 18.1 · Psychotherapien
Menschen« (Frank 1982). In Deutschland ist die Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung gesetzlich geregelt: Das 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz schützt den Begriff des Psychotherapeuten. Ein Psychotherapeut kann ein Diplom-Psychologe mit Zusatzausbildung (»Psychologischer Psychotherapeut«) oder ein Mediziner (»Ärztlicher Psychotherapeut«) sein. Störungen mit einer biologischen Ursache, wie etwas die Schizophrenie, werden eher mit Hilfe einer biomedizinischen Therapie behandelt – durch ein verschriebenes Medikament oder mit Hilfe eines medizinischen Verfahrens, das direkt auf das Nervensystem des Patienten einwirkt. Je nach Klient und Problem nutzen einige Therapeuten – vor allem diejenigen, die einen biopsychosozialen Ansatz verfolgen – eine Vielfalt von Techniken. Tatsächlich sagen 50% aller Psychotherapeuten von sich, sie arbeiteten mit einem eklektischen Ansatz, d. h. sie setzten unterschiedliche Therapien ein (Beitman et al. 1989; Castonguay u. Goldfried 1994). Eng verbunden mit dem Eklektizismus ist die integrativ arbeitende Psychotherapie. Statt Methoden auszuwählen und sich dafür zu entscheiden, plädieren die Vertreter der Integration dafür, sie in einem einzigen in sich konsistenten System zusammenführen.
18
Biomedizinische Therapie (biomedical therapy): verschriebene Medikamente oder medizinische Verfahren, die direkt auf das Nervensystem des Patienten einwirken.
Eklektischer Ansatz (eclectic approach): Form der Therapie, bei der je nach dem Problem des Klienten Techniken aus unterschiedlichen Therapieformen eingesetzt werden.
Lernziele Ziel 1: Erörtern Sie einige Aspekte, in denen sich die Psychotherapie, die biomedizinische Therapie und ein eklektischer Ansatz unterscheiden. Psychotherapie ist eine emotionsgeladene, vertrauensvolle Interaktion zwischen einem ausgebildeten Therapeuten und einen Menschen mit psychischen Problemen. Die biomedizinischen Therapien beinhalten Me-
18.1
dikamente und medizinische Verfahren, die direkt auf das Nervensystem des Patienten einwirken. Ein eklektischer Ansatz der Psychotherapie verwendet Techniken verschiedener Therapieformen; eine integrativ orientierte Psychotherapie versucht, eine Auswahl verschiedenartiger Techniken in ein einziges in sich konsistentes System zusammenzuführen.
Psychotherapien
Unter den Dutzenden von Arten der Psychotherapie wollen wir nur die einflussreichsten näher betrachten. Jede Psychotherapie baut auf einer oder mehreren der großen Theorien auf, auf der Theorie der Psychoanalyse, dem humanistischen Ansatz, der Lerntheorie oder der kognitiven Theorie. Wir wollen uns auch näher damit beschäftigen, wie die jeweiligen Techniken im Rahmen von Gruppen eingesetzt werden.
18.1.1
Psychoanalytische Therapien
Ziel 2: Definieren Sie, was Psychoanalyse ist, und erörtern Sie die Ziele dieser Therapieform.
Obwohl heute nur noch wenige Kliniker die Therapie so praktizieren, wie Freud es tat, haben doch viele seiner Techniken und Annahmen die Zeit überdauert; sie leben vor allem in den psychodynamischen Therapien fort (7 unten). Die Begrifflichkeit von Freud hat Eingang gefunden in unseren modernen Wortschatz. Freuds Psychoanalyse war die Erste der psychologischen Therapien.
Ziele Wir haben in 7 Kap. 14 angemerkt, dass die Psychoanalyse davon ausgeht, dass viele psychische Probleme auf Impulse und Konflikte zurückgehen, die in der Kindheit verdrängt wurden. Der Psychoanalytiker versucht, diese verdrängten Gefühle ins Bewusstsein des Patienten zu holen, wo sie dann bearbeitet werden können. Versteht der Patient, woher seine Probleme stammen – und erfüllt er damit die uralte Forderung des »Erkenne dich selbst« in ihrer ganzen Tiefe –, arbeitet er die einst begrabenen Gefühle durch und übernimmt Verantwortung für sein eigenes Wachstum. ! Die Psychoanalyse beruht auf der Annahme, dass ein gesünderes und weniger von Ängsten eingeschränktes Leben möglich wird, sobald der Betreffende die Energie freisetzen kann, die bis dahin durch den Konflikt zwischen Es, Ich und Über-Ich gebunden war.
Psychoanalyse (psychoanalysis): von Sigmund Freud entwickelte therapeutische Vorgehensweise. Freud nahm an, dass die freien Assoziationen des Patienten, sein Widerstand, seine Träume und Übertragungen und deren Deutung durch den Therapeuten zuvor verdrängte Gefühle freisetzen; dies gestattet es dem Patienten, neue Einsichten zu gewinnen.
798
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
IMAGNO/Edmund Engelman
Freuds Beratungszimmer Freuds Praxis war voller Antiquitäten aus der ganzen Welt; dazu gehörten auch Kunstwerke, die einen Zusammenhang mit seinen Vorstellungen über unbewusste Motive aufwiesen. Seine berühmte Couch mit Stapeln von Kissen, brachte die Patienten in eine bequeme Rückenlage, in der sie von ihm abgewandt waren, damit sie sich auf ihr Innenleben konzentrieren konnten
Methoden Ziel 3: Beschreiben Sie einige der Methoden, die in der Psychoanalyse verwendet werden, und nennen Sie Kritikpunkte gegenüber dieser Therapieform.
Widerstand (resistance): bedeutet in der Psychoanalyse, dass mit Angst verbundenes Material vom Bewusstsein fern gehalten wird.
18
Deutung (interpretation): heißt in der Psychoanalyse, dass der Analytiker die Bedeutung der Träume, den Widerstand und andere aufschlussreiche Verhaltensweisen interpretiert, um den Patienten auf dem Weg zur Einsicht weiterzubringen.
Die Psychoanalyse ist eine Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Patienten. Die Vergangenheit soll »ausgegraben« werden. Damit wird die Hoffnung verbunden, das Leben in der Gegenwart von den Hypotheken der Vergangenheit zu befreien. Auf welche Weise geschieht das? Freud wandte sich von der Hypnose ab, als er merkte, dass sie als Technik zur Analyse nicht verlässlich war. Er entwickelte die Methode der freien Assoziation. Stellen Sie sich vor, Sie seien Patient und nutzten die freie Assoziation. Zunächst einmal entspannen Sie sich, und Sie liegen vielleicht auf einer Couch. Um Ihnen zu helfen, dass Sie die Aufmerksamkeit auf Ihre Gedanken und Gefühle richten, sitzt der Psychoanalytiker außerhalb Ihres Gesichtsfeldes. Sie sprechen laut aus, was Ihnen in den Sinn kommt; das kann eine Kindheitserinnerung sein, ein Traum oder etwas, was Sie kürzlich erlebt haben. Das klingt kinderleicht, aber Sie werden bald bemerken, wie oft Sie Ihre Gedanken einer Zensur unterwerfen, sobald Sie sie aussprechen: Sie lassen alles weg, was Ihnen banal oder unwichtig scheint oder was mit Scham verbunden ist. Selbst in der Sicherheit des analytischen Settings werden Sie vielleicht erst einen Moment aufhören zu sprechen, ehe Sie einen peinlichen Gedanken äußern. Vielleicht machen Sie eine witzige Bemerkung oder wechseln das Thema und sprechen über etwas, das weniger bedrohlich ist. Manchmal ist vielleicht Ihr Gedächtnis getrübt, und Sie können sich an wichtige Einzelheiten nicht erinnern. Für den Psychoanalytiker weisen solche Unterbrechungen im Fluss Ihrer freien Assoziationen auf einen Widerstand hin. Es deutet sich an, dass Angst im Hintergrund lauert und dass Sie etwas abwehren, was mit Ihren Gefühlen zu tun hat. Der Analytiker macht Ihnen zunächst einmal den Widerstand bewusst und deutet dann dessen Inhalt. Damit fördert er bei Ihnen die Einsicht in Ihre Wünsche, Gefühle und Konflikte. Diese Deutung – wenn Sie beispielsweise nicht über Ihre Mutter sprechen wollen – kann, wenn sie im richtigen Augenblick kommt, ein Licht auf das werfen, was Sie gerade vermeiden, und zeigen, wie dieser Widerstand zu den anderen Teilen Ihres seelischen Puzzles passt. Für Freud gab es noch einen anderen Weg zur Entschlüsselung unbewusster Konflikte: den latenten Inhalt von Träumen – ihre zugrunde liegende, aber zensierte Bedeutung. Sie werden also gebeten, einen Traum zu erzählen, den der Analytiker dann analysiert und zu dem er seine Vermutungen über die eigentliche Bedeutung der Traumbilder äußert.
Im Lauf der vielen Sitzungen werden Sie vermutlich Ihrem Analytiker viel mehr von sich selbst enthüllen, als Sie es je gegenüber einem anderen Menschen getan haben. Da die psychoanalytische Theorie die formende Kraft der Kindheit betont, wird vieles von dem, was Sie erzählen, Sie in Kontakt mit Ihren frühesten Erinnerungen bringen. Sie werden vielleicht entdecken, dass Sie Ihrem Analytiker starke positive oder negative Gefühle entgegenbringen. Freud hätte es so ausgedrückt, dass Sie Ihre stärksten Gefühle aus früheren Beziehungen zu Familienmitgliedern oder anderen wichtigen Menschen auf den Analytiker übertragen. Daher nannte er diesen Vorgang Übertragung. Analytiker und auch andere Therapeuten sehen in der Übertragung das Auftauchen lange verdrängter Gefühle, wie etwa Abhängigkeit oder eine Mischung aus Liebe und Wut, die Sie nun mit Hilfe Ihres Analytikers bearbeiten können. Doch die Psychoanalyse beschränkt sich nicht auf das Ausgraben Ihrer verschütteten Kindheitserinnerungen. Durch eine genaue Analyse der Gefühle, die Sie dem Analytiker entgegenbringen, können Sie besser verstehen, was in Ihren aktuellen Beziehungen abläuft. Kritiker heben hervor, dass die Deutungen der Psychoanalytiker nur schwer zu widerlegen sind, weil man sie weder bestätigen noch das Gegenteil beweisen kann; das ist eine Kritik, die Psychoanalytiker als zutreffend anerkennen. Aber sie beharren darauf, dass die Deutungen für die Patienten oft eine große Hilfe sind. Die Psychoanalyse ist eine Therapie, keine Wissenschaft. Eine traditionelle Psychoanalyse kann bis zu 7 Jahren dauern, verlangt mehrere wöchentliche Sitzungen und ist kostspielig (2 Jahre lang 3-mal wöchentlich für über 100 Dollar pro Sitzung ergeben mindestens 30.000 Dollar bzw. knapp 20.000 Euro). Das mag eine Erklärung dafür sein, warum außerhalb von Frankreich, Deutschland, Quebec und New York City nur wenige Therapeuten eine traditionelle Psychoanalyse anbieten (Goode 2003). Die Psychoanalyse im engeren Sinne, d. h. die »klassische Psychoanalyse«, bildet zwar die Grundlage der in Deutschland eingesetzten und anerkannten psychoanalytischen Behandlungsformen, sie ist aber selbst als langfristige Behandlung mit jeweils mindestens 4 Wochenstunden keine Kassenleistung. Auch in den Vereinigten Staaten wurden die Arten und die Länge von psychotherapeutischen Dienstleistungen, die von einer Versicherung gedeckt sind, durch Bestrebungen zur Eindämmung der Behandlungskosten massiv eingeschränkt. Dies hat auch hier zu kürzeren Behandlungszeiten und weniger Klinikeinweisungen beigetragen. In Deutschland gibt es heute 3 sog. Richtlinienverfahren, deren Kosten von den Krankenkassen getragen werden. Dazu zählt auch die »analytische Psychotherapie«, die der hier dargestellten klassischen Psychoanalyse sehr ähnlich ist. Sie wird aber im Gegensatz zu dieser mit einer Wochenstundenfrequenz von nur 2–3 Stunden durchgeführt. Maximal 300 Therapiestunden werden von den Kassen übernommen.
18 © The New Yorker Collection, 2002. Alex Gregory from cartoonbank.com. All rights reserved.
799 18.1 · Psychotherapien
»Wir Therapeuten bemühen uns, negative Bezeichnungen zu vermeiden. Wir sagen nicht ›Hundertfünfzig Mäuse die Stunde – das ist der Wahnsinn!‹ oder ›Drei 50-Minuten-Sitzungen jede Woche – das ist doch Schwachsinn!‹ «
Übertragung (transference): bedeutet in der Psychoanalyse, dass der Patient Emotionen aus anderen Beziehungen (wie etwa Liebe oder Hass für einen Elternteil) auf den Analytiker überträgt.
Therapie mit Blickkontakt Bei dieser Art Therapiesitzungen ist die Couch verschwunden, der Einfluss der psychoanalytischen Theorie ist aber vielleicht geblieben, vor allem, wenn der Therapeut die Wurzeln des Problems in der Kindheit des Patienten sucht
Psychodynamische Therapie
Unter dem Einfluss von Freud versuchen psychodynamische Therapeuten, sich auf Themen zu konzentrieren, die übergreifend sind und einen Bezug zu wichtigen Beziehungen aufweisen (einschließlich der Kindheitserfahrungen und der Beziehung zum Therapeuten). Sie helfen dem Patienten auch, die abgewehrten Gefühle und Gedanken zu erkunden und unter diesem Aspekt eine Perspektive zu entwickeln. Aber der Therapeut sitzt beim Gespräch dem Patienten gegenüber (und nicht außerhalb seines Blickfeldes), die Sitzungen finden einmal wöchentlich (und nicht mehrmals wöchentlich) statt, und die Therapie dauert in der Regel einige Wochen oder Monate (und nicht mehrere Jahre).
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Ziel 4: Stellen Sie die traditionelle Psychoanalyse der psychodynamischen und der interpersonalen Therapie gegenüber.
800
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Die Art, wie in der psychodynamischen Therapie der Konflikt des Klienten gedeutet wird, lässt sich nicht an einem kurzen Ausschnitt exemplarisch darstellen. Doch soll bei der psychodynamischen Therapie das Ziel der Befähigung zur Einsicht illustriert werden. Dies geschieht dadurch, dass man sich mit verbreiteten, wiederkehrenden Themen (vor allem in Beziehungen) beschäftigt. Beim folgenden Gespräch reagiert der Therapeut David Malan auf alles, was er bisher von seiner depressiven Patientin erfahren hat, so, dass er mit seinen Bemerkungen die Einsicht der Patientin fördert. Achten Sie darauf, wie Malan die vorherigen Aussagen der Patientin deutet (während sie die meiste Zeit sprach) und wie er den Gedanken einbringt, die Beziehung der Patientin zu ihm, dem Therapeuten, zeige ein charakteristisches Verhaltensmuster (Malan 1978, S. 133f.). Malan: Patientin: Malan:
Patientin:
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C. Styrsky
Malan:
Ich habe das Gefühl, Sie sind ein Mensch, der ständig aktiv sein muss. Sobald Sie nicht aktiv sind, geht irgendetwas schief. Ist das richtig? Ja. Ich habe noch ein anderes Gefühl, und das sagt mir, dass Sie unter all dem einen ganzen Haufen heftiger und beunruhigender Gefühle haben müssen. Irgendwie sind sie da, diese Gefühle, aber Sie sind nicht wirklich in Kontakt mit ihnen. Habe ich Recht? Ich glaube, Sie waren schon immer so, und das, seit Sie sich erinnern können. Etliche Jahre lang war es so, dass ich immer depressiv wurde, wenn ich mich einmal hinsetzte, um über all das nachzudenken. Deshalb habe ich versucht, nicht mehr daran zu denken. Da haben Sie ein Muster aufgebaut, nicht wahr? Und auch hier bei mir sind Sie so. Denn obwohl Sie in Schwierigkeiten stecken und das Gefühl haben, Ihre Welt bricht zusammen und Sie verlieren den Boden unter den Füßen, erzählen Sie mir das auf eine Weise, als wäre alles in bester Ordnung.
In Deutschland ist die hier beschriebene Therapieform unter dem Namen »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« bekannt (die Bezeichnung tiefenpsychologisch konnte sich international jedoch nicht durchsetzen). Die Therapieform ist in Deutschland wie auch die analytische Psychotherapie ein Richtlinienverfahren, dessen Kosten von den Krankenkassen getragen werden; sie wird mit einer Frequenz von 1–2 Wochenstunden durchgeführt. Reimer u. Rüger (2003) zufolge wird inzwischen die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 4-mal so häufig angewandt wie die ihrem Anspruch nach tiefer gehende, aber zeitaufwändigere analytische Psychotherapie. Die interpersonale Therapie, eine Kurzzeittherapie (12–16 Sitzungen) und Variante psychodynamischer Therapie, erwies sich bei der Behandlung der Depression als wirkungsvoll (Weissman 1999). Bei der interpersonalen Therapie ist ein Therapieziel die Einsicht des Patienten in die Ursachen seiner Probleme, aber ihr Hauptziel ist die Verringerung der Symptome im Hier und Jetzt, nicht die grundlegende Pesönlichkeitsveränderung. Statt sich vor allem darauf zu konzentrieren, alte Verletzungen aufzulösen und Deutungen anzubieten, fokussiert der Therapeut vorwiegend auf die bestehenden Beziehungen und hilft den Betroffenen, ihre Beziehungsfähigkeit zu verbessern. Am Fall Anna, einer 34-jährigen verheirateten Akademikerin, lassen sich die Ziele der interpersonalen Therapie gut veranschaulichen. Fünf Monate nach ihrer Beförderung auf eine Stelle mit größerer Verantwortung und längeren Arbeitszeiten kam es zu vermehrten Spannungen zwischen ihr und ihrem Mann, der sich ein zweites Kind wünschte. Anna fing an, sich deprimiert zu fühlen, schlief schlecht, wurde reizbar und nahm zu. Eine typische psychodynamische Therapie hätte Anna wahrscheinlich dabei geholfen, ihre zornigen Triebregungen und ihre Abwehr dieser Wut verstehen zu lernen. Ein interpersonaler Therapeut hätte ebenfalls daran gearbeitet, dass Anna Einsicht in die Zusammenhänge gewinnt. Doch er hätte ihre Gedanken auch auf die Themen gelenkt, die sie unmittelbar berühren: auf die Frage, wie sie ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Familie herstellen, wie sie den Streit mit ihrem Mann beilegen und ihre Emotionen besser zum Ausdruck bringen könnte (Markowitz »Sie sagen: ›Kopf ab‹, aber ich höre heraus: ›Ich fühle mich vernachlässigt.‹« et al. 1998).
801 18.1 · Psychotherapien
18.1.2
18
Humanistische Therapien
Der humanistische Ansatz (7 Kap. 14) legte den Schwerpunkt auf das dem Menschen innewohnende Potenzial zur Selbsterfüllung. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass humanistische Therapeuten darum bemüht sind, ihre Patienten darin zu unterstützen, mehr Selbstwahrnehmung und mehr Selbstakzeptanz zu entwickeln. Wie die psychoanalytischen Therapien versuchen die humanistischen Therapien, die Konflikte zu verringern, die die natürliche Wachstumsentwicklung behindern. Doch im Gegensatz zu den psychoanalytischen Therapeuten legen humanistische Therapeuten den Schwerpunkt 4 stärker auf die Gegenwart und die Zukunft als auf die Vergangenheit; wenn Gefühle auftreten, gehen sie ihnen nach, doch ist die Einsicht in den Ursprung der Gefühle in der Kindheit nicht das Entscheidende. 4 mehr auf bewusste Gedanken als auf unbewusste. 4 auf die direkte Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen, statt darauf, verborgene Determinanten aufzudecken. 4 mehr auf das Fördern der Entfaltung menschlicher Potenziale als auf die Heilung von Krankheiten; deshalb wird bei dieser Therapieform von »Klienten« und nicht von »Patienten« gesprochen (eine Veränderung in der Bezeichnung, die viele Therapeuten übernahmen). Eine weit verbreitete humanistische Vorgehensweise war die klientenzentrierteTherapie, die auch als nichtdirektive Gesprächstherapie bezeichnet wird, von Carl Rogers (1961, 1980). Ein klientenzentrierter Therapeut stellt die bewusste Selbstwahrnehmung eines Menschen in den Mittelpunkt der Arbeit, weniger die Deutungen des Therapeuten. Der Therapeut hört zu, ohne zu urteilen und zu deuten; er verzichtet auch darauf, den Klienten in Richtung auf bestimmte Einsichten zu lenken: Diese Strategie wird als nichtdirektive Gesprächstherapie bezeichnet. Aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch über ein Wachstumspotenzial verfügt, ermutigte Rogers die Therapeuten, echt, akzeptierend und empathisch zu sein. Wenn sich ein Therapeut nicht hinter seiner Fassade versteckt, wenn er seine wahren Gefühle mit Echtheit ausspricht, wenn er dem Klienten das Gefühl vermittelt, bedingungslos akzeptiert zu werden, und wenn er voll Empathie die Gefühle des Klienten wahrnimmt und sie spiegelt, dann wird das Verständnis des Klienten für sein eigenes Selbst tiefer, und damit auch die Selbstakzeptanz (Hill u. Nakayama 2000). Rogers (1980, S. 10) erklärte das so: Hören hat Konsequenzen. Wenn ich einen Menschen und die Bedeutungen, die in diesem Augenblick für ihn wichtig sind, wirklich höre – nicht bloß seine Worte, sondern ihn –, und wenn ich ihm zu erkennen gebe, dass ich seine privaten, ganz persönlichen Bedeutungen aufgenommen habe, dann geschehen viele Dinge. Zunächst ist da ein dankbarer Blick. Er fühlt sich erlöst. Er möchte mir mehr über seine Welt erzählen. Er fährt mit einem neuen Gefühl der Freiheit fort. Er wird offener für den Prozess der Veränderung. Ich habe oft festgestellt, dass, je tiefer ich die Bedeutungen einer Person höre, auch desto mehr passiert. Fast immer, wenn eine Person feststellt, dass ich ihr wirklich zuhöre, bekommt sie feuchte Augen. Ich denke, sie weint vor Freude. Es ist so, als würde sie sagen: »Gott sei Dank, endlich hat mich jemand gehört. Jemand weiß, was es heißt, so wie ich zu sein.«
Mit »Hören« bezeichnet Rogers seine Vorgehensweise des aktiven Zuhörens: Das Gesagte wiedergeben, die Aussage mit eigenen Worten verdeutlichen und durch Nachfragen klären, was der
Michael Rougier/Time & Life Pictures/Getty Images
Ziel 5: Nennen Sie die grundlegenden Merkmale der humanistischen Therapien, und beschreiben Sie die speziellen Ziele und Vorgehensweisen der klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers.
Aktives Zuhören Bei einer Gruppentherapiesitzung demonstriert Carl Rogers (rechts im Bild) empathisches Zuhören
Klientenzentrierte Therapie (client-centered therapy): von Carl Rogers entwickelte humanistische Therapie, bei der der Therapeut in einem echten, akzeptierenden und empathischen Setting Techniken wie aktives Zuhören anwendet, um das Wachstum des Klienten zu fördern (auch als nichtdirektive Gesprächstherapie oder als personzentrierte Therapie bezeichnet).
Aktives Zuhören (active listening): empathisches Zuhören, bei dem der Zuhörer das Gehörte in eigenen Worten wiedergibt und verdeutlicht, was er gehört hat; Merkmal der klientenzentrierten Therapie von Carl Rogers.
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Klient (verbal und nonverbal) ausdrückt, die Gefühle spiegeln und anerkennen, die verbal ausgesprochen oder nur mimisch und gestisch ausgedrückt werden. Aktives Zuhören ist heute eine allgemein akzeptierte Technik in der therapeutischen Beratungsarbeit in Schulen, Hochschulen und Kliniken. Der Berater hört aufmerksam zu und unterbricht nur, um die Gefühle des Klienten erneut darzustellen und zu bestätigen, um zum Ausdruck zu bringen, dass er akzeptiert, was der Klient sagt, oder um etwas zu klären. Der folgende kurze Auszug zeigt, wie der klientenzentrierte Berater darum bemüht ist, das Verhalten des Klienten psychologisch zu spiegeln und damit dem Klienten zu helfen, sich selbst deutlicher wahrzunehmen (Meador u. Rogers 1984, S. 167): Klient: Rogers:
Klient: Rogers: Klient: Rogers:
Klient: Rogers:
Ich bin für niemanden von Nutzen, war es auch noch nie, werd’ es auch nie sein. So fühlen Sie sich jetzt, nicht wahr? Dass Sie für sich selbst zu nichts von Nutzen sind und auch für sonst niemanden. Und auch nie für jemanden von Nutzen sein werden. Einfach wertlos, ganz und gar, oder? Das ist wirklich ein ekelhaftes Gefühl. Sich zu fühlen, als wäre man nie für jemanden von Nutzen. Ja (murmelt leise und mutlos vor sich hin). Jedenfalls hat mir das der Typ gesagt, mit dem ich neulich in die Stadt gegangen bin. Der Typ, mit dem Sie neulich in die Stadt gegangen sind, der hat tatsächlich gesagt, Sie wären für niemanden von Nutzen? Hmh. Ich versuche mal, die Bedeutung herauszubekommen, wenn ich das richtig verstanden habe: Da ist jemand, und der ist irgendwie wichtig für Sie und auch, was er von Ihnen hält? Also, und der hat gesagt, er glaubt, dass Sie für niemanden von Nutzen sind, kein bisschen. Und das zieht Ihnen glatt den Boden unter den Füßen weg (Klient weint still vor sich hin). Das bringt einen zum Weinen. (20 Sekunden Schweigen.) (Ziemlich trotzig) Aber das ist mir egal. Sie sagen sich, das ist mir egal, aber irgendwie hab’ ich das Gefühl, dass da ein Teil von Ihnen ist, dem ist es nicht egal, denn ein Teil von Ihnen weint deswegen.
Kann ein Therapeut wirklich ein Spiegel sein, ohne auszuwählen und zu interpretieren, was gespiegelt wird? Rogers gab zu, dass seine Vorgehensweise nicht vollständig nichtdirektiv ist. Trotzdem glaubte er, der wichtigste Beitrag des Therapeuten bestehe darin, den Klienten zu akzeptieren und Verständnis zu zeigen. ! Gemäß dem klientenzentrierten Ansatz von Rogers akzeptieren die Klienten in einem therapeutischen Setting, in dem nicht die Beurteilung, sondern das Verständnis entscheidend ist und das bedingungsfreie Wertschätzung bietet, selbst ihre schlimmsten Persönlichkeitsmerkmale und empfinden eine Wertschätzung für sich als gesamte Person.
Wenn Sie selbst in Ihren Beziehungen aktiver zuhören wollen, können die folgenden 3 Hinweise vielleicht hilfreich sein. 1. Paraphrasieren. Überprüfen Sie, ob Sie wirklich verstanden haben, was Ihr Gesprächspartner gesagt hat, indem Sie das Gesagte noch einmal mit Ihren eigenen Worten zusammenfassen. 2. Zur Klarstellung auffordern. »Könntest du mir dafür ein Beispiel geben?« So ein Satz könnte den Gesprächspartner veranlassen, sich ausführlicher zu äußern. 3. Gefühle spiegeln. »Das klingt frustrierend« könnte spiegeln, was Sie in der Körpersprache und Sprechweise Ihres Gesprächspartners spüren.
18.1.3
Verhaltenstherapie
Ziel 6: Erklären Sie, wie sich die Grundannahme der Verhaltenstherapie von denen der traditionellen psychoanalytischen und humanistischen Therapien unterscheidet.
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Alle Therapien, mit den wir uns bisher beschäftigt haben, beruhen auf der Annahme, dass viele psychische Probleme in dem Maße zurückgehen, wie die Bewusstheit vom Selbst zunimmt. Die traditionellen Psychoanalytiker gehen davon aus, dass ein Problem behoben ist, wenn der betrof-
803 18.1 · Psychotherapien
fene Mensch die ungelösten und unbewussten Spannungen erkennt. Die humanistischen Therapeuten nehmen an, dass die Probleme geringer werden, wenn der Betroffene mit seinen Gefühlen Verbindung aufnimmt. Verhaltenstherapeuten bezweifeln indes die heilende Kraft der Selbstwahrnehmung. Sie gehen davon aus, dass die problematischen Verhaltensweisen das Problem sind. Es kann Ihnen beispielsweise durchaus bewusst sein, dass Sie unter Prüfungsangst leiden: Die Angst bleibt trotzdem bestehen. Die Verhaltenstherapie wendet Lernprinzipien an, um das problematische Verhalten zu beseitigen. Bei der Behandlung von Phobien oder sexuellen Störungen geht der Verhaltenstherapeut nicht so sehr in die Tiefe, um nach inneren Ursachen zu forschen.
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Verhaltenstherapie (behavior therapy): wendet Lernprinzipien an, um unerwünschtes Verhalten zu löschen oder zu modifizieren.
! Die Verhaltenstherapie sieht fehlangepasste Symptome, wie etwa Angst, als erlernte Verhaltensweisen an, die man durch konstruktive Verhaltensweisen ersetzen kann.
Bei der Verhaltenstherapie handelt es sich übrigens um das dritte Richtlinienverfahren in Deutschland, dessen Kosten von den Krankenkassen getragen werden.
Techniken des klassischen Konditionierens Ziel 7: Definieren Sie, was Gegenkonditionierung ist, und beschreiben Sie die Techniken, die bei der Expositionstherapie und bei der aversiven Konditionierung eingesetzt werden.
Ein Teil der verhaltenstherapeutischen Techniken leitet sich von den Pawlow’schen Konditionierungsexperimenten im frühen 20. Jahrhundert ab (7 Kap. 8) ab. Wie Pawlow und andere Forscher nachweisen konnten, lernen wir Verhaltensweisen und Emotionen durch klassische Konditionierung. Sind demnach Symptome einer Fehlanpassung ein Beispiel für eine konditionierte Reaktion? Könnte dann eine Neukonditionierung die Lösung sein? Der Lerntheoretiker Mowrer entwickelte eine solche Konditionierungstherapie für chronische Bettnässer. Das Kind schläft auf einem Kissen, das auf Flüssigkeit reagiert und mit einem Alarmgeber verbunden ist. Sobald Feuchtigkeit auf das Kissen gelangt, wird der Alarm ausgelöst und weckt das Kind auf. Wird dieses Vorgehen oft genug wiederholt, dann hört durch die Assoziation zwischen austretendem Harn und Gewecktwerden das Bettnässen auf. In 3 von 4 Fällen erwies sich die Behandlung als erfolgreich, und dieser Erfolg verbessert wiederum das Selbstbild des Kindes (Christophersen u. Edwards 1992; Houts et al. 1994). Noch ein Beispiel: Wenn eine klaustrophobische Angst vor Aufzügen eine gelernte Aversion gegen den Aufenthalt in einem engen Raum (Reiz) darstellt, könnte dann der Betroffene diese Angst durch eine Gegenkonditionierung der Angstreaktion nicht wieder verlernen? Die Gegenkonditionierung koppelt den auslösenden Reiz mit einer neuen Reaktion, die mit Angst unvereinbar ist. Und tatsächlich haben Verhaltenstherapeuten diese Angst erfolgreich mit Hilfe der Gegenkonditionierung behandelt, indem sie den engen Raum des Aufzugs wiederholt mit einer Entspannungsreaktion koppelten; dann konnte die Angstreaktion durch die Entspannungsreaktion ersetzt werden. Bei einer solchen Therapie werden zwei spezifische Techniken der Gegenkonditionierung verwendet: die Expositionstherapie und die Aversionskonditionierung.
Expositionstherapien Stellen Sie sich die Szene vor, die Mary Cover Jones, die Assistentin des Behavioristen John B. Watson, 1924 berichtete. Der 3-jährige Peter erstarrt vor Angst beim Anblick von Kaninchen und anderen pelzigen Objekten. (Anders als der kleine Albert, dessen im Labor konditionierte Angst vor weißen Ratten in 7 Kap. 8 beschrieben wurde, entstand Peters Angst von selbst bei ihm zu Hause und war heftiger.) Jones’ Ziel war es, Peters Angst vor Kaninchen durch eine konditionierte Reaktion zu ersetzen, die mit Angst unvereinbar war. Ihre Strategie bestand darin, das angsterregende Kaninchen mit der angenehmen und entspannten Reaktion des Essens zu koppeln. Als Peter seine Nachmittagsmahlzeit einnimmt, bringt Jones ein Kaninchen im Käfig herein und stellt es auf die andere Seite des großen Raums. Peter knabbert weiter an seinen Crackern und trinkt seine Milch und nimmt das Kaninchen kaum zur Kenntnis. An den folgenden Tagen bringt Jones das Kaninchen immer näher heran. Innerhalb von 2 Monaten kann Peter das Kaninchen, während er isst, auf den Schoß nehmen und streichelt es sogar. Gleichzeitig verschwindet auch seine Angst vor pelzigen Objekten, denn sie wurde ersetzt durch einen Zustand der Entspan-
Gegenkonditionierung (counterconditioning): Verfahren der Verhaltenstherapie, mit dem neue Reaktionen auf jene Reize konditioniert werden, die ein unerwünschtes Verhalten auslösen; beruht auf dem klassischen Konditionieren. Dazu gehören Techniken wie die systematische Desensibilisierung und die Aversionskonditionierung.
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Norm Rowan/The Image Works
Ohne Flugangst fliegen Manche Fluggesellschaften bieten Programme zur Linderung von Flugangst an. Neben aufklärenden Gesprächen gehört dazu, dass sich die Betroffenen nach und nach mit dem Fliegen vertraut machen, zunächst im Flugsimulator, später bei einem echten Flug. Hier erklärt ein Pilot den Teilnehmern die Instrumente im Cockpit
Expositionstherapie (exposure therapy): Technik der Verhaltensmodifikation wie die systematische Desensibilisierung zur Behandlung von Ängsten. Dabei werden die Patienten (in der Phantasie oder in der Realität) mit den Dingen konfrontiert, vor denen sie Angst haben und die sie vermeiden.
C. Styrsky
Systematische Desensibilisierung (systematic desensitization): eine Art Gegenkonditionierung, bei der ein angenehm entspannter Zustand mit allmählich immer stärker angstauslösenden Stimuli gekoppelt wird. Wird häufig zur Behandlung von Phobien eingesetzt.
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»Jetzt reiß dich endlich zusammen sonst verpassen wir wegen deiner Flugangst wieder den Abflug in den Süden!«
nung, der im Organismus nicht gleichzeitig zusammen mit Angst auftreten kann (Fisher 1984; Jones 1924). Leider – und zum Schaden der Menschen, denen diese Gegenkonditionierung hätte helfen können – fand Jones’ Geschichte von Peter und dem Kaninchen nicht sofort Eingang ins psychologische Wissen ihrer Zeit. Erst 30 Jahre später griff der Psychiater Wolpe (1958; Wolpe u. Plaud 1997) den Gedanken auf, verfeinerte die Technik und entwickelte das, was heute eine der am häufigsten eingesetzten Methoden der Verhaltenstherapie ist: die Expositionstherapie. Dabei werden Menschen genau mit den Dingen konfrontiert, die sie normalerweise vermeiden. So wie sich ein Mensch in einer neuen Wohnung an das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges gewöhnen kann, so kann er weniger heftig auf Dinge reagieren, vor denen er einmal vor Angst erstarrt ist. Eine weit verbreitete Form der Expositionstherapie ist die systematische Desensibilisierung. Wie Jones ging Wolpe von der Annahme aus, dass man nicht ängstlich und gleichzeitig entspannt sein kann. Wenn Sie sich also jedes Mal entspannen, sobald Sie auf einen angsterregenden Reiz stoßen, werden Sie allmählich Ihre Angst löschen. Der Trick besteht darin, langsam und in Abstufungen vorzugehen. Wir wollen das am Beispiel einer verbreiteten Phobie genauer betrachten. Stellen Sie sich vor, Sie litten unter der Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ein Verhaltenstherapeut würde Sie wahrscheinlich zuerst bitten, bei der Erstellung einer Hierarchie der Angst auslösenden Situationen behilflich zu sein. Ihre Angsthierarchie würde vielleicht von einer nur wenig angstauslösenden Situation (vor einer kleinen Gruppe von Freunden zu sprechen) bis zu den panikauslösenden Situationen reichen (etwa vor einem großen Publikum eine Rede zu halten). Der Therapeut würde die Technik der progressiven Muskelentspannung benutzen und mit Ihnen üben, einen Muskel nach dem anderen zu entspannen, bis Sie in den leicht benommenen Zustand der völligen Entspannung und des Wohlbefindens gleiten. Dann bittet Sie der Therapeut, sich mit geschlossenen Augen in eine wenig angstauslösende Situation zu versetzen: Sie trinken Kaffee mit Ihren Freunden und versuchen zu entscheiden, ob Sie sprechen sollen. Wenn die Vorstellung dieser Szene bei Ihnen Angstgefühle auslöst, signalisieren Sie die Spannung, die Sie empfinden, indem Sie einen Finger heben. Daraufhin gibt Ihnen der Therapeut die Instruktion, das innere Bild abzuschalten und in die tiefe Entspannung zurückzugehen. Die angsterregende Szene wird so lange immer wieder mit Entspannung gekoppelt, bis Sie keine Spur von Angst mehr empfinden. Dann geht der Therapeut auf der vorher erstellten Angsthierarchie weiter und nutzt den Entspannungszustand, um Sie bei jeder Einzelnen der vorgestellten Situationen zu desensibilisieren. Nach ein paar Sitzungen üben Sie in der Praxis das, was Sie bisher mental geübt haben. Sie beginnen mit relativ leichten Aufgaben und steigern sich nach und nach bis zu den Situationen, die mehr Angst auslösen. Wenn Sie Ihre Angst nicht nur in einer fantasierten Situation, sondern in der Realität besiegen können, wird Ihr Selbstbewusstsein zunehmen (Foa u. Kozak 1986; Williams 1987). Vielleicht werden Sie sogar ein Redner mit großem Selbstvertrauen.
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Wenn eine angsterregende Situation zu teuer, zu schwierig oder zu peinlich ist, um sie in der Realität bereitzustellen, gibt es die Expositionstherapie in virtuellen Realitäten, die ein wirkungsvolles Übungsfeld darstellt. Mit einem Gerät, das eine dreidimensionale virtuelle Welt projiziert, würden Sie eine Reihe lebensechter Szenen sehen. Wenn Sie Ihren Kopf drehen, verändern Bewegungssensoren die Szenerie entsprechend. Mehrere Forscherteams haben versuchsweise Menschen behandelt, die Flugangst, Höhenangst, Angst vor bestimmten Tieren und Angst vor öffentlichen Auftritten hatten (Gershon et al. 2002; Rothbaum et a1. 2002). So können beispielsweise Personen mit Flugangst aus dem virtuellen Fenster eines simulierten Flugzeugs schauen, die Vibrationen spüren und die Maschinen über die Startbahn donnern hören sowie den simulierten Start erleben. Bei den anfänglichen Experimenten haben die Klienten, die mit Exposition in einer virtuellen Realität behandelt wurden, im wirklichen Leben ein deutlicheres Nachlassen ihrer Ängste erlebt als die der Kontrollgruppe (Hoffman 2004; Krijn et al. 2004).
Mit freundlicher Genehmigung von A. Mühlberger, Universität Würzburg. Aus Mühlberger et al. 2006
18.1 · Psychotherapien
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Expositionstherapie mit virtueller Realität Im Behandlungsraum werden Patienten mit Hilfe der Technologie der virtuellen Realität einer lebhaften Simulation von angsterregenden Reizen ausgesetzt, etwa dem Start eines Flugzeugs
Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität (virtual reality exposure therapy): eine Angstbehandlung, bei der Menschen zunehmend mit simulierten Beispielen für ihre größten Ängste konfrontiert werden (z. B. Fliegen in einem Flugzeug, Spinnen, Sprechen vor Publikum).
Aversionskonditionierung Bei der systematischen Desensibilisierung besteht das Ziel darin, eine negative (furchtsame) Reaktion auf einen harmlosen Reiz durch eine positive (entspannte) Reaktion zu ersetzen. Bei der Aversionskonditionierung ist es das Ziel, die positive Reaktion auf einen schädlichen Reiz (beispielsweise Alkohol) durch eine negative (aversive) Reaktion zu ersetzen. Demnach ist die Aversionskonditionierung die Umkehrung der systematischen Desensibilisierung: Es wird versucht, eine Aversion auf etwas zu konditionieren, was der Klient vermeiden sollte. Das Vorgehen ist einfach: Das unerwünschte Verhalten wird mit unangenehmen Gefühlen gekoppelt. Zur Behandlung des Nägelkauens kann man beispielsweise die Fingernägel mit einem widerlich schmeckenden Nagellack bestreichen (Baskind 1997). Um Alkoholprobleme zu behandeln, bietet der Aversionstherapeut dem Klienten verlockende Drinks an, die jedoch mit einem Medikament versetzt sind, das schwere Übelkeit verursacht. Durch die Verbindung von Alkohol mit heftigem Erbrechen (denken Sie auch an die Experimente zur Geschmacksaversion mit Ratten und Kojoten) soll die positive Reaktion des Patienten auf Alkohol in eine negative umgewandelt werden (. Abb. 18.1).
Aversionskonditionierung (aversive conditioning): Form der Gegenkonditionierung, die einen unangenehmen Zustand (Übelkeit) mit unerwünschtem Verhalten (Alkohol trinken) koppelt.
. Abb. 18.1. Aversionstherapie bei Alkoholismus Manche Menschen mit einer länger andauernden Alkoholabhängigkeit entwickeln zumindest für eine gewisse Zeit eine konditionierte Aversion gegen Alkohol, wenn sie mehrfach ein alkoholisches Getränk zu sich nehmen, das mit einem Medikament versetzt wurde und daher heftige Übelkeit auslöst US unkonditionierter Stimulus UR unkonditionierte Reaktion CS konditionierter Stimulus CR konditionierte Reaktion
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Wirkt die Aversionskonditionierung? Wiens u. Menustik (1983) arbeiteten mit 685 alkoholabhängigen Patienten, die sich in einem Krankenhaus in Portland (Oregon) einer Aversionstherapie unterzogen. Als die Patienten 1 Jahr später zur Behandlung von alkoholbedingten Krankheiten wieder ins Krankenhaus kamen, waren 63% immer noch abstinent. Doch nach 3 Jahren waren nur noch 33% abstinent geblieben. Wie wir in 7 Kap. 8 gesehen haben, besteht das Problem darin, dass die Kognition einen Einfluss auf Konditionierung hat. Die Patienten wissen sehr wohl, dass sie außerhalb der Praxisräume des Therapeuten trinken können, ohne Angst vor Übelkeit haben zu müssen. Sie sind durchaus fähig, zwischen der Situation der Aversionskonditionierung und der realen Welt zu unterscheiden, und dieses Wissen kann die Wirkung der Behandlung einschränken. Deshalb wird die Aversionskonditionierung gern mit anderen Behandlungsverfahren kombiniert.
Operantes Konditionieren Ziel 8: Nennen Sie die Grundannahme der Verhaltensmodifikation, und beschreiben Sie die Auffassungen der Befürworter und der Kritiker dieses Ansatzes.
Tokensystem (token economy): Verfahren der operanten Konditionierung zur Verstärkung erwünschten Verhaltens. Eine Person kann Symbolgeld erwerben, indem sie das gewünschte Verhalten zeigt; anschließend kann sie die Chips gegen Vergünstigungen oder Leckereien eintauschen.
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Erinnern Sie sich daran (7 Kap. 8), dass willkürliche Verhaltensweisen stark von den Konsequenzen beeinflusst werden. Diese simple Tatsache macht es möglich, dass Verhaltenstherapeuten Verhaltensmodifikation betreiben – dass sie ein gewünschtes Verhalten verstärken und unerwünschtes Verhalten bestrafen oder die Verstärkung nicht gewähren. Das operante Konditionieren bei spezifischen Verhaltensproblemen weckte Hoffnungen für Problemfälle, die man bislang für hoffnungslos gehalten hatte. Geistig zurückgebliebene Kinder konnten so weit gefördert werden, dass sie für sich selbst sorgen können. Autistische Kinder, die sich in sich selbst zurückziehen, haben gelernt, mit anderen zu interagieren. Schizophreniepatienten konnten dazu gebracht werden, sich innerhalb des klinischen Settings berechenbarer zu verhalten. In solchen und ähnlichen Fällen arbeitet der Therapeut mit positiver Verstärkung, um das Verhalten Schritt für Schritt zu formen (»Shaping«; 7 Abschn. 8.3.2). Für Extremfälle ist eine intensive Behandlung erforderlich. In einer 2 Jahre dauernden Studie nahmen 19 autistische 3-jährige Kinder, die nicht sprachen, an einem Programm teil, bei dem die Eltern 40 Stunden pro Woche versuchten, das Verhalten ihres Kindes zu formen (Lovaas 1987). Die Kombination von Verstärkung des gewünschten Verhaltens und Ignorieren oder Bestrafen von aggressivem oder selbstschädigendem Verhalten wirkte bei einigen Kindern Wunder. In der 1. Klasse gliederten sich 9 der 19 Kinder erfolgreich ein und zeigten eine normale Intelligenz. In einer Gruppe von 40 Kindern, die nicht an der Behandlung teilgenommen hatten, zeigte nur eins eine ähnliche Verbesserung seines Zustands. Zur Modifikation des Problemverhaltens werden ganz unterschiedliche Belohnungen verwendet. Für manche Fälle genügen Aufmerksamkeit und Lob als Verstärkung. Andere brauchen konkrete Belohnungen, beispielsweise etwas zu essen. Im klinischen Setting baut der Therapeut häufig ein Tokensystem (Symbolgeldsystem) auf. Verhält sich eine Person in der gewünschten Weise – steht auf, wäscht sich, zieht sich an, isst, spricht zusammenhängend, räumt ihr Zimmer auf oder beteiligt sich an einem Spiel –, dann erhält sie ein symbolisches Geldstück (»Token«) oder einen Plastikchip als positiven Verstärker. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie ihre gesammelten Tokens gegen verschiedene Belohnungen eintauschen (etwa Süßigkeiten, Fernsehen, Ausflüge in die Stadt oder ein besseres Zimmer). Dieses Tokensystem wurde in verschiedenen Settings erfolgreich eingesetzt (zu Hause, im Klassenzimmer, in Krankenhäusern oder Erziehungsheimen), aber auch mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen (einschließlich verhaltensgestörter Kinder, Schizophreniepatienten oder Menschen mit anderen psychischen Störungen). Die Kritiker der Verhaltensmodifikation äußern zwei Bedenken: Zum einen geht es um die praktische Seite. Was geschieht, wenn der Patient die Institution verlässt und dadurch die Verstärkung aufhört? Wird der Patient vielleicht so abhängig von extrinsischer Belohnung, dass das angemessene Verhalten ohne Belohnung wieder verschwindet? Wenn das der Fall ist: Was könnte ein Therapeut tun, um das angemessene Verhalten weiterhin aufrechtzuerhalten? Die Befürworter der Verhaltensmodifikation erwidern, man könne dem Patienten die Tokens dadurch abgewöhnen, dass er auf andere Verstärker verwiesen wird, etwa auf soziale Billigung und Akzeptanz, also etwas, wovon das Leben außerhalb der Institution geprägt ist. Man könnte Menschen auch beibringen, Verhaltensweisen zu
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zeigen, die intrinsisch belohnend sind. Wenn z. B. ein in sich gekehrter Mensch mehr soziale Kompetenz gewinnt, dann mag die intrinsische Befriedigung über die soziale Interaktion dem Betroffenen helfen, dieses Verhalten beizubehalten. Zum anderen geht es um ethische Fragen: Ist es richtig, dass ein Mensch das Verhalten eines anderen kontrolliert? Wer mit dem Tokensystem arbeitet, entzieht dem Menschen möglicherweise etwas, was dieser sich wünscht, und entscheidet dann, welches Verhalten verstärkt werden soll. Für die Kritiker ist der gesamte Vorgang der Verhaltensmodifikation mit dem Makel des Autoritären behaftet. Die Befürworter halten dagegen: Warum sollte man nicht das angemessene Verhalten verstärken? Es besteht ohnehin schon eine Kontrolle; Belohnungen und Bestrafungen erhalten bereits zerstörerische Verhaltensmuster aufrecht. Ein Argument der Befürworter ist auch, dass eine Behandlung mit positiven Belohnungen menschlicher ist als die Unterbringung in einer Institution oder eine Bestrafung und dass das Recht auf eine wirkungsvolle Behandlung und ein besseres Leben die kurzzeitige Deprivation rechtfertigt. Dafür spricht laut den Befürwortern auch, dass einige Klienten durchaus um die Therapie bitten.
18.1.4
Kognitive Therapien
Wir haben nun gesehen, wie Verhaltenstherapeuten spezifische Ängste behandeln und wie sie mit Problemverhalten umgehen. Doch wie gehen Sie gegen eine Major Depression vor? Oder gegen eine generalisierte Angststörung, bei der die Angst nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet ist und bei der es schwierig ist, eine Hierarchie der angstauslösenden Situationen zu erstellen. Verhaltenstherapeuten, die diese weniger eindeutig definierten psychischen Probleme behandelten, kam dieselbe kognitive Wende zu Hilfe, die in den letzten 5 Jahrzehnten andere Gebiete der Psychologie grundlegend verändert hat. Die kognitiven Therapien berücksichtigen, dass unsere Gedanken unseren Gefühlen eine bestimmte Färbung geben (. Abb. 18.2). Zwischen einem Ereignis und der Reaktion darauf schaltet sich der Verstand mit den Gedanken ein. Selbstbeschuldigungen und übergeneralisierte Erklärungen für unerfreuliche Vorfälle sind oft wesentliche Bestandteile eines Teufelskreises der Depression (7 Kap. 17). Ein Mensch, der unter einer Depression leidet, interpretiert eine Anregung als Kritik, fehlende Zustimmung als Ablehnung seiner Person, Lob als Schmeichelei, Freundlichkeit als Mitleid. Das ständige Brüten über solchen Gedanken hält die schlechte Stimmung aufrecht. Wenn aber depressive Denkmuster erlernt sind, können sie sicher auch verlernt und durch positivere ersetzt werden. Wenn ein Mensch sich jämmerlich fühlt, kann man ihm helfen, seine Einstellung zu ändern. ! Kognitive Therapeuten versuchen auf verschiedene Weise, den Betroffenen zu einer anderen, neuen und konstruktiveren Denkweise zu verhelfen.
Kognitive Therapie bei Depressionen Der kognitive Therapeut Aron Beck hatte ursprünglich eine Ausbildung als Psychoanalytiker Freud’scher Prägung. Bei der Analyse der Träume von Menschen mit Depression stieß er auf immer wiederkehrende negative Themen wie Verlust, Zurückweisung und Verlassenheit, die selbst in den Wachgedanken der Patienten auftauchten. Sogar bis in die Therapie hinein erstreckten sich diese negativen Gedanken und Gefühle, denn die Patienten erinnerten sich immer wieder an ihr Scheitern und an ihre schlimmsten Triebregungen (Kelly 2000). Beck et al. (1979) versuchten mit Hilfe der kognitiven Therapie, die verhängnisvolle Einstellung der Klienten zur eigenen Person, zu ihrer aktuellen Situation und ihrer Zukunft umzukehren. Mit sanften Fragen, die darauf abzie-
Lara Jo Regan/Gamma Liason
Ziel 9: Stellen Sie die kognitive Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie einander gegenüber, und geben Sie einige Beispiele für eine kognitive Therapie bei einer Depression.
Der kognitive Ansatz bei Essstörungen mit Hilfe von Tagebucheinträgen Kognitive Therapeuten helfen ihren Patienten dabei, wie sie ihre guten und ihre schlechten Erfahrungen erklären können. Menschen achten möglicherweise stärker auf ihre Selbstkontrolle, wenn sie positive Ereignisse eines Tages aufzeichnen und beschreiben, wie sie dadurch zu vielem fähig wurden
Kognitive Therapie (cognitive therapy): lehrt die Patienten neue, besser an die Realität angepasste Denk- und Handlungsweisen. Die kognitive Therapie beruht auf der Annahme, dass zwischen Ereignissen und emotionalen Reaktionen Gedanken vermittelnd Einfluss nehmen.
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
. Abb. 18.2. Der kognitive Ansatz bei der Behandlung psychischer Störungen Die emotionalen Reaktionen eines Menschen auf ein Ereignis werden nicht unmittelbar von dem betreffenden Ereignis hervorgerufen, sondern durch seine Gedanken in Reaktion auf dieses Ereignis
len, den Menschen zu helfen, dass sie ihre Irrationalitäten entdecken, bewegen sie die Patienten dazu, die schwarze Brille abzusetzen, durch die sie ihr Leben sehen (Beck et al. 1979, S. 145f.). Patient: Beck: Patient: Beck: Patient: Beck:
Patient: Beck: Patient: Beck:
Patient: Beck:
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Patient: Beck: Patient: Beck: Patient: Beck:
Ich bin damit einverstanden, wie Sie mich beschreiben. Aber ich bin nicht einverstanden damit, dass mich die Art, wie ich denke, depressiv machen soll. Wie meinen Sie das? Ich werde depressiv, wenn etwas schief geht. Wenn ich z. B. durch eine Prüfung falle. Wie kann Sie der Misserfolg bei einer Prüfung depressiv machen? Na ja, wenn ich durchfalle, werde ich das Rechtsreferendariat nicht beginnen können. Es bedeutet Ihnen also viel, wenn Sie die Prüfung nicht bestehen. Aber wenn das Versagen bei einer Prüfung ernsthafte Depressionen auslösen könnte, müsste dann nicht jeder, der durchfällt, so depressiv werden, dass er eine Therapie bräuchte? Nein, doch das hängt davon ab, wie wichtig die Prüfung für diese Person ist. Richtig, und wer entscheidet, wie wichtig die Prüfung ist? Ich. Deshalb müssen wir prüfen, wie Sie die Prüfung sehen (oder wie Sie über die Prüfung denken) und wie dadurch Ihre Chancen, das Referendariat zu beginnen, beeinflusst werden. Sind Sie einverstanden? Ja. Stimmen Sie mir zu, dass die Art, wie Sie die Prüfungsergebnisse interpretieren, Sie insgesamt beeinträchtigt? Sie sind möglicherweise deprimiert, haben Schlafstörungen und keinen Appetit, und Sie denken vielleicht sogar daran, das Studium aufzugeben. Ich habe schon daran gedacht, dass ich es nicht schaffe. Ja, ich gebe Ihnen Recht. Welche Bedeutung hatte der Misserfolg also? (Unter Tränen) Dass ich nicht ins Referendariat komme. Und was bedeutet das für Sie? Dass ich einfach nicht klug genug bin. Sonst noch etwas?
809 18.1 · Psychotherapien
Patient: Beck: Patient: Beck:
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Dass ich nie glücklich sein kann. Und wie fühlen Sie sich bei diesem Gedanken? Sehr unglücklich. Was Sie unglücklich macht, ist also die Bedeutung, die das Nichtbestehen einer Prüfung für Sie hat. Zu glauben, dass Sie nie glücklich sein können, ist tatsächlich ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Gefühls, unglücklich zu sein. Sie sind also in eine Falle geraten – nämlich dadurch, dass Sie Ihr mögliches Scheitern im Grundstudium mit »Ich kann nie mehr glücklich sein« gleichsetzen.
Eine andere Form der kognitiven Therapie baut auf dem Befund auf, dass bei Depressiven die selbstwertdienliche Verzerrung (7 Kap. 17) nicht greift, die bei nichtdepressiven Menschen so verbreitet ist. Stattdessen lasten sie ihr Scheitern sich selbst an, während sie ihre Erfolge äußeren Umständen zuschreiben. Rabin et al. (1986) begannen deshalb damit, 235 depressiven Erwachsenen die Vorzüge zu erläutern, die es hat, wenn die Dinge so interpretiert werden, wie dies nicht depressive Menschen tun. Dann wurde den Teilnehmern an der Studie beigebracht, wie sie ihre üblichen negativen Denk- und Attributionsmuster abändern konnten. Rabin ließ sie alle positiven Ereignisse eines Tages notieren, danach sollten sie dazu schreiben, was sie jeweils dazu beigetragen hatten. Verglichen mit den Menschen, die auf der Warteliste für eine Behandlung ihrer Depression standen, nahm die Depression bei den Teilnehmern an der Übung zum positiven Denken rapide ab (. Abb. 18.3). Je deutlicher der negative Denkstil verändert wird, desto deutlicher lässt die Depression nach (Seligman 1991). Hier ein weiteres Beispiel: Wir denken oft in Worten. Daher ist ist es eine wirksame Methode, das Denken der Menschen zu verändern, wenn man sie dazu bringen kann, zu verändern, was sie über sich selbst sagen. Vielleicht können Sie sich ja mit dem ängstlichen Studenten identifizieren, der vor der Prüfung durch selbstabwertende Gedanken alles nur noch schlimmer macht: »Diese Prüfung wird wahrscheinlich unglaublich schwer sein. All diese anderen Studenten scheinen so entspannt und selbstbewusst zu sein. Ich wünschte mir, ich wäre besser vorbereitet. Ich bin so nervös, dass ich alles vergessen werde.« Um ein solches negatives Selbstgespräch zu verändern, bot Meichenbaum (1977, 1985) sein Stressimpfungstraining an, bei dem er den Beteiligten beibrachte, in stressigen Situationen ihr Denken neu zu strukturieren. Manchmal reicht es vielleicht einfach aus, etwas Positiveres über die eigene Person zu sagen: »Entspann dich. Die Prüfung ist vielleicht schwer, aber sie wird auch für alle anderen schwer sein. Ich habe mehr gelesen als die anderen. Außerdem brauche ich keine tolle Note, um eine gute Gesamtnote zu bekommen.« In Experimenten war bei Kindern und Studierenden, die zu Depressionen neigen, künftig die Häufigkeit für eine Depression nur halb so groß, nachdem man ihnen beigebracht hatte, ihre negativen Gedanken in Frage zu stellen (Seligman 2002). Großenteils ist es der Gedanke, der eigentlich zählt. In dem Bewusstsein, dass die Beziehung zwischen depressiver Stimmung und negativen Gedanken keine Einbahnstraße ist, richtete man sich mit dem »Penn Optimism Program« an 9- bis 13-jährige Kinder, die ein erhöhtes Risiko für Depressionen hatten. Bei diesem Behandlungsprogramm haben Kinder 12 Kleingruppensitzungen von jeweils 2 Stunden Dauer zu absolvieren. Dort lernen sie, sich auf ihre Gedanken einzustimmen, wenn sie mit schwierigen Situationen konfrontiert sind, und sich Alternativen für negative Gedanken vorzustellen. Der Gruppenleiter könnte beispielsweise einen Cartoon zeigen, auf dem ein Kind dargestellt ist, das beschimpft wird. Dann könnte er die Kinder dazu auffordern, in einem Brainstorming ein positives Bild zu entwickeln, wie man die Situation bewältigen kann. Bei früheren Experimenten war die Häufigkeit, mit der Kinder in den folgenden 2 Jahren unter einer Depression litten, halbiert worden (Gilham et al. 1995).
Kognitive Verhaltenstherapie Kognitive Therapeuten kombinieren oft die Umkehrung der selbstzerstörerischen Denkmuster mit Methoden der Verhaltensmodifikation. Diese integrierte Therapie, kognitive Verhaltenstherapie genannt, will die Art und Weise, wie Menschen handeln (Verhaltenstherapie) und wie sie denken (kognitive Therapie), verändern. Es wird daran gearbeitet, den Betroffenen ihr irrationales
. Abb. 18.3. Kognitive Therapie gegen Depressionen Patienten nahmen an einem Programm teil, bei dem sie übten, stärker so zu denken wie nichtdepressive Menschen – also positive Ereignisse sich selbst zuzuschreiben und nicht die Schuld an negativen Ereignissen auf sich zu nehmen oder zu übergeneralisieren. Bei ihnen besserte sich die Depression in geradezu dramatischer Weise. (Aus Rabin et al. 1986)
Kognitive Verhaltenstherapie (cognitive behavior therapy): verbreitete integrative Therapie, bei der die Techniken der kognitiven Therapie (Veränderung der selbstabwertenden Gedankenmuster) mit den Techniken der Verhaltenstherapie (Verhaltensänderung) kombiniert werden.
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
negatives Denken bewusst zu machen und es durch eine neue Art des Denkens zu ersetzen; gleichzeitig wird geübt, wie man sich im Alltag positiver verhält. Ein Beispiel: In einer Studie über Zwangsstörungen lernten Patienten, ihre Zwänge anders zu benennen (Schwartz et al. 1996). Wenn der Drang auftrat, immer wieder die Hände zu waschen, sollten sie sich sagen: »Ich habe einen Drang, der mich zwingt«; sie sollten diesen Drang dann mit der abnormen Aktivität ihres Gehirns erklären, die sie in den PET-Aufnahmen gesehen hatten. Statt dem Drang nachzugeben, ließen sie sich für die nächste Viertelstunde auf eine andere angenehme Beschäftigung ein, etwa ein Instrument zu spielen, spazieren zu gehen oder im Garten zu arbeiten. Dadurch konnte das Gehirn den Zwangsgedanken loslassen, die Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt und so andere Hirnareale aktiviert. Die Therapie mit wöchentlichen Sitzungen dauerte 2–3 Monate und umfasste auch die Übung, Zwänge im häuslichen Umfeld neu zu benennen und die Aufmerksamkeit dort auf etwas anderes zu richten. Als die Studie beendet wurde, hatten sich bei den meisten Patienten die Symptome gebessert, und ihre PET-Aufnahmen zeigten eine normale Hirnaktivität.
18.1.5
Gruppen- und Familientherapien
Ziel 10: Erörtern Sie den Grundgedanken und die Vorteile der Gruppentherapie und der Familientherapie.
Familientherapie (family therapy): behandelt die Familie als Gesamtsystem. Sie geht davon aus, dass das unerwünschte Verhalten des Einzelnen von anderen Familienmitgliedern beeinflusst oder auf sie gerichtet ist, und versucht positive Beziehungen und bessere Kommunikation in der Familie zu fördern.
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© Mary Kate Denny/PhotoEdit, Inc.
Gruppentherapie Dieser Berater arbeitet mit Jugendlichen in Gruppen. Das versetzt sie in die Lage, sich mit ihren Problemen weniger allein gelassen zu fühlen, und ermöglicht es dem Berater, mehr Jugendlichen bei geringerem Kostenaufwand zur Seite zu stehen
Mit Ausnahme der traditionellen Psychoanalyse sind alle hier vorgestellten Therapieverfahren auch für Kleingruppen unter Leitung eines Therapeuten geeignet. In einer Gruppentherapie geht der Therapeut weniger auf den Einzelnen ein, eine Gruppentherapie kostet jedoch den Therapeuten weniger Zeit und den Klienten weniger Geld – und sie ist oft nicht weniger wirkungsvoll als eine Einzeltherapie (Fuhriman u. Burlingame 1994). Therapeuten raten Menschen mit familiären Problemen häufig zu einer Gruppentherapie, ebenso auch Personen, die durch ihr Verhalten Schwierigkeiten im Umgang mit anderen haben. Bis zu 90 Minuten pro Woche z. B. leitet der Therapeut die Interaktionen von 6–10 Teilnehmern, die in der Gruppe über bestimmte Themen diskutieren und auf andere reagieren. ! Der unvergleichliche Nutzen einer Gruppentherapie besteht u. a. in Folgendem: In diesem sozialen Kontext kann man entdecken, dass andere ähnlich gelagerte Probleme haben wie man selbst.
Außerdem kann man neue Verhaltensweisen ausprobieren und dabei Rückmeldungen (Feedback) bekommen. Es kann eine Erleichterung sein, festzustellen, dass man nicht allein ist, dass andere trotz ihrer scheinbaren Selbstsicherheit die gleichen Probleme und beunruhigenden Gefühle haben. Es kann beruhigend sein, wenn man hört, dass man selbst ausgeglichen nach außen wirkt, obwohl man sich ängstlich und gehemmt fühlt. Eine besondere Form der Interaktion in Gruppen ist die Familientherapie oder systemische Therapie. Sie geht davon aus, dass niemand für sich allein existiert, dass wir in der Beziehung zu anderen leben und wachsen, insbesondere in der Familie. Wir führen heftige Kämpfe, um uns von der Familie zu lösen, doch brauchen wir sie als emotionalen Rückhalt. Manchmal entsteht aus dem Konflikt zwischen diesen beiden Tendenzen ein Problemverhalten, das für die Familie zu einer Belastung wird. Oft kommen Klienten zu einem Therapeuten und bitten um Hilfe bei der Klärung der Beziehungen zu Familienmitgliedern. Im Allgemeinen arbeitet der Psychotherapeut mit dem, was sich im tiefsten Innern seines Patienten abspielt: Bei der Familientherapie ist das anders. Der Familientherapeut arbeitet mit der Familie als Gruppe daran, gestörte Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen und Familienkräfte zu wecken. Das Ziel der Therapie ist es, jedes Familienmitglied die Rolle entdecken zu
811 18.1 · Psychotherapien
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lassen, die es im sozialen System Familie einnimmt. Die Aufsässigkeit eines Kindes hat Auswirkungen auf Spannungen in der Familie und wird davon wiederum beeinflusst. Familientherapeuten versuchen auch – i. Allg. erfolgreich, wie die Forschung belegt (Hazelrigg et al. 1987; Shadish et al. 1993) – die Kommunikation innerhalb der Familie offener zu gestalten oder den Familienmitgliedern zu helfen, neue Wege zu finden, um Konflikte zu vermeiden oder zu lösen.
Selbsthilfegruppen An Selbsthilfe- und Unterstützungsgruppen nimmt eine breite Vielfalt von Menschen teil (Yalom 1985). Eine Studie (Davison et al. 2000) zu Unterstützungsgruppen im Internet und zu mehr als 14.000 Selbsthilfegruppen berichtet, dass sich die meisten Organisationen zur Unterstützung der Betroffenen auf Krankheiten konzentrieren, die stigmatisiert sind und über die man nur schwer sprechen kann. Bei Aids-Patienten ist die Wahrscheinlichkeit 250-mal größer, dass sie in einer Unterstützungsgruppe sind, als bei Patienten mit hohem Blutdruck. Diejenigen, die mit Anorexie und Alkoholismus kämpfen, treten oft Gruppen bei; diejenigen, die mit Migräne und Magengeschwüren kämpfen, tun es nicht. Menschen mit Hörschwäche haben eine landesweite Organisation mit lokalen Gliederungen; Menschen mit Sehschwäche bewältigen ihre Probleme ohne eine solche Organisation. Die Anonymen Alkoholiker (AA), die sozusagen den Prototypen der Selbsthilfegruppen darstellen, haben nach Berichten 87.000 Untergruppen weltweit (McKillop et al. 2003). Sie verlangen in ihren berühmten, von vielen anderen Selbsthilfegruppen nachgeahmten 12 Schritten, die eigene Machtlosigkeit zuzugeben, Hilfe zu suchen bei einer Macht, die stärker ist als man selbst, sich gegenseitig zu helfen sowie (das ist der 12. Schritt) die Botschaft an andere weiterzugeben, die sie brauchen. Bei einer Untersuchung, die 8 Jahre dauerte und 27 Mio. Dollar kostete, verringerten Menschen, die sich bei den AA wegen Alkoholismus behandeln ließen, ihr Trinkverhalten drastisch. Aber das war auch bei denjenigen der Fall, die einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einer »motivationalen Therapie« zugewiesen wurden (Project Match 1997). Je mehr AA-Treffen die Patienten besuchen, desto langfristiger bleiben sie abstinent. In einer Studie an 2300 Kriegsveteranen, die um eine Behandlung wegen Alkoholismus baten, ging ein starkes Engagement bei den AA mit geringeren Alkoholproblemen einher (McKellar et al. 2003). In einer von Individualismus geprägten Zeit scheint die Beliebtheit von Gruppen, die soziale Unterstützung bieten – für Süchtige, für Trauernde, für Geschiedene oder einfach für diejenigen, die auf sozialen Kontakt und persönliche Entwicklung aus sind –, Ausdruck eines Verlangens nach Gemeinschaft und Verbundenheit zu sein. Mehr als 100 Mio. Amerikaner gehören kleinen Religionsgemeinschaften, Interessens- oder Selbsthilfegruppen an, die sich regelmäßig treffen, und 90% von ihnen geben an, dass die Gruppenmitglieder »sich gegenseitig emotional unterstützen« (Gallup 1994).
Mit geschätzten 1,8 Mio. Mitgliedern weltweit sind die Anonymen Alkoholiker »die größte Organisation auf der Erde, der niemand jemals beitreten wollte« (Finlay 2000).
Lernziele Abschnitt 18.1 Ziel 2: Definieren Sie, was Psychoanalyse ist, und erörtern Sie die Ziele dieser Therapieform. Die Psychoanalyse ist die von Sigmund Freud entwickelte therapeutische Vorgehensweise. Freud nahm an, dass die freien Assoziationen des Patienten, sein Widerstand, seine Träume und Übertragungen sowie deren Deutung durch den Therapeuten dazu genutzt werden können, zuvor verdrängte Gefühle freizusetzen und neue Einsichten zu gewinnen. Therapeuten mit psychoanalytischer Ausrichtung helfen Menschen, Einsicht in die unbewussten Ursprünge ihrer Störung zu erlangen, die damit verbundenen Gefühle zu bearbeiten und Verantwortung für ihr eigenes Wachstum zu übernehmen.
Ziel 3: Beschreiben Sie einige der Methoden, die in der Psychoanalyse verwendet werden, und nennen Sie Kritikpunkte gegenüber dieser Therapieform. Psychoanalytiker bitten Patienten möglicherweise, frei zu assoziieren (das auszusprechen, was ihnen in den Sinn kommt), und beobachten die Pausen oder Ablenkungsmanöver, die auf einen Widerstand (die abwehrende Blockierung, die verhindert, dass angstbesetztes Material bewusst wird) hindeuten. Analytiker können den Patienten ihre Deutungen für Beispiele von Widerstand, Träumen und anderen Verhaltensweisen anbieten, wie etwa Übertragung (man überträgt auf den Therapeuten Gefühle, die man am stärksten gegenüber einem Mitglied der Familie oder einer wichtigen anderen Person empfindet). Kritiker merken an, dass die Psychoanalyse auf nachträglichen Deutungen und verdrängten Erinnerungen aufbaut, dass die Therapie lange dauert und die damit verbundenen Kosten hoch sind. 6
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Ziel 4: Stellen Sie die traditionelle Psychoanalyse der psychodynamischen und der interpersonalen Therapie gegenüber. Die psychodynamische (oder tiefenpsychologisch fundierte) Therapie ist von der psychoanalytischen Theorie beeinflusst; sie ist jedoch kürzer und weniger kostspielig. Ein psychodynamisch orientierter Therapeut versucht, die momentanen Konflikte und Abwehrmechanismen zu fokussieren und auf den Begriff zu bringen, indem er nach Themen sucht, die vielen früheren und gegenwärtigen wichtigen Beziehungen gemeinsam sind, einschließlich der (aber nicht begrenzt auf ) Kindheitserfahrungen und der Interaktionen mit dem Therapeuten. Die interpersonale Therapie (eine Kurzform der psychodynamischen Therapie mit 12–16 Sitzungen) konzentriert sich vorwiegend darauf, die momentanen Symptome zu lindern (wie etwa eine Depression) und weniger auf eine intensive Deutung der Ursprünge unbewusster Konflikte. Ziel 5: Nennen Sie die grundlegenden Merkmale der humanistischen Therapien, und beschreiben Sie die speziellen Ziele und Vorgehensweisen der klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers. Die humanistischen Therapeuten fokussieren die gegenwärtigen und künftigen Erfahrungen der Klienten, eher die bewussten als die unbewussten Gedanken und die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen. Eine der bekanntesten humanistischen Therapien ist die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers. Rogers vertrat die Auffassung, dass der wichtigste Beitrag des Therapeuten darin besteht, durch aktives Zuhören als psychologischer Spiegel für den Klienten zu dienen und ein Setting der bedingungsfreien Wertschätzung zu bieten, das durch Echtheit, Akzeptieren und Empathie gekennzeichnet ist. In einem wachstumsfördernden Setting würde bei den Klienten, so Rogers, das Verständnis für das eigene Selbst und das Akzeptieren der eigenen Person verbessert. Ziel 6: Erklären Sie, wie sich die Grundannahme der Verhaltenstherapie von denen der traditionellen psychoanalytischen und der humanistischen Therapien unterscheidet. Um den Menschen zu helfen, die gegenwärtigen Konflikte und Probleme zu lindern, versuchen die traditionellen psychoanalytischen Therapeuten, die Ursprünge des Verhaltens zu erklären, und die humanistischen Therapeuten, das Akzeptieren der eigenen Person und das Verständnis für das eigene Selbst zu fördern. Verhaltenstherapeuten nehmen an, dass die problematischen Verhaltensweisen das eigentliche Problem sind, und sie versuchen, sie durch neues Lernen zu verändern.
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Ziel 7: Definieren Sie, was Gegenkonditionierung ist, und beschreiben Sie die Techniken, die bei der Expositionstherapie und bei der Aversionskonditionierung eingesetzt werden. Bei der Gegenkonditionierung werden klassische Konditionierungstechniken eingesetzt, um neue Reaktionen mit alten Reizen zu koppeln, die fehlangepasstes Verhalten ausgelöst haben. Bei Expositionstherapien (einschließlich der systematischen Desensibilisierung und der Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität) wird Menschen beige-
bracht, sich zu entspannen (eine Reaktion, die nicht gleichzeitig mit Angst auftreten kann) und sich dann allmählich, aber wiederholt den Dingen auszusetzen, vor denen sie Angst haben und die sie meiden. Expositionstherapien versuchen, eine negative Reaktion (Angst) durch eine positive (Entspannung) zu ersetzen. Bei der Aversionskonditionierung setzt man Techniken der Gegenkonditionierung ein, um einen unangenehmen Zustand mit einem unerwünschten Verhalten zu koppeln. Dabei versucht man, eine positive Reaktion (Vergnügen) auf einen schädlichen Reiz (Alkohol) durch eine negative (z. B. Übelkeit) zu ersetzen. Ziel 8: Nennen Sie die Grundannahme der Verhaltensmodifikation, und beschreiben Sie die Auffassungen der Befürworter und der Kritiker dieses Ansatzes. Therapien, die mit operanter Konditionierung arbeiten, beruhen auf dem Prinzip, dass willkürliche Verhaltensweisen in starkem Maße durch ihre Konsequenzen beeinflusst werden. Bei Verfahren der Verhaltensmodifikation bekräftigt man daher erwünschte Verhaltensweisen und bestraft unerwünschte Verhaltensweisen bzw. verstärkt diese nicht. Therapeuten bauen manchmal Tokensysteme auf, bei denen Menschen symbolische Geldstücke (Tokens) dafür bekommen, dass sie ein erwünschtes Verhalten zeigen. Diese Tokens können später für ein Vorrecht oder für Süßigkeiten eingelöst werden. Kritiker halten dem entgegen, (1) dass diese Verhaltensweisen in der Praxis ausbleiben können, wenn die Tokens nicht mehr vergeben werden, und (2) dass es ethisch nicht vertretbar ist, das Verhalten anderer Menschen zu steuern. Die Befürworter führen dagegen wiederum die folgenden Argumente an: (1) Soziale oder intrinsische Belohnungen können die Tokens ersetzen und weiterhin verstärkend wirken; (2) es ist gerechtfertigt, gut angepasstes Verhalten zu verstärken, weil Belohnungen und Bestrafungen – mit oder ohne Verhaltensmodifikation – das Verhalten der Menschen immer steuern werden. Ziel 9: Stellen Sie die kognitive Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie einander gegenüber, und geben Sie einige Beispiele für eine kognitive Therapie bei einer Depression. Die kognitive Therapie versucht, Menschen beizubringen, realitätsangemessener zu denken; dies beruht auf der Annahme, dass Gedanken als intervenierende Variable zwischen einem Ereignis und unseren emotionalen Reaktionen auf das Ereignis wirken. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie versucht man, Menschen beizubringen, realitätsangemessener zu denken, aber auch ihre neue Art zu denken im Alltag einzuüben. Bei der kognitiven Depressionstherapie von Aron Beck versuchen die Therapeuten, selbsterniedrigende Gedanken der Patienten dadurch zu verändern, dass diese lernen, sich selbst neu und positiv zu sehen. Beim Stressimpfungstraining, einer anderen Form der kognitiven Therapie lernen depressive Menschen mit einer Depression, ihre negativen Gedanken in Frage zu stellen und ihr Denken in Stresssituationen neu zu strukturieren. Sie arbeiten auch daran, den Attributionsstil nichtdepressiver Menschen bei sich aufzubauen (sich gute Ereignisse als Verdienst anzurechnen statt die Schuld für schlechte Ereignisse zu übernehmen bzw. diese zu übergeneralisieren). 6
813 18.2 · Therapieevaluation
Ziel 10: Erörtern Sie den Grundgedanken und die Vorteile der Gruppentherapie und der Familientherapie. In Gruppen, die normalerweise aus 6–9 Personen bestehen, können die Therapeuten weniger auf jedes einzelne Gruppenmitglied eingehen, aber in der durchschnittlich 90 Minuten dauernden Sitzung kann mehr Menschen geholfen werden als in der Einzeltherapie, und die Gruppentherapie kostet auch weniger. Es kann für die Klienten von Vorteil sein, andere Menschen kennenzulernen, die ähnliche Probleme haben wie sie, sowie Rückmeldung zu bekommen und Bestätigung zu finden. Die meisten Therapieformen können auf ein Gruppensetting angepasst werden.
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Die Familientherapie sieht die Familie als ein interaktives System und versucht den Familienmitgliedern dabei zu helfen, die Rollen zu entdecken, die sie spielen, und zu lernen, offener und direkter zu kommunizieren. Millionen von Menschen schließen sich Selbsthilfegruppen und Unterstützungsorganisationen wie den Anonymen Alkoholikern an. > Denken Sie weiter: Auch wenn Sie nicht die Rolle des Therapeuten spielen wollen: Wie könnten Sie die in diesem Kapitel beschriebenen Prinzipien anwenden, um einem Freund zu helfen, der unter Angst leidet?
Therapieevaluation
Ann Landers, eine 2002 verstorbene Ratgeberkolumnistin, riet den besorgten Ratsuchenden häufig, sich professionelle Hilfe zu suchen. In einer ihrer Antworten drängte sie den Schreiber: »Geben Sie nicht auf! Bleiben Sie dran, bis Sie den richtigen [Therapeuten] gefunden haben. Die Mühe lohnt sich.« Am gleichen Tag antwortete sie auf einen zweiten Brief: »Es gibt viele ausgezeichnete Anlaufstellen für Probleme in unserer Stadt. Machen Sie dort sofort einen Termin aus« (Farina u. Fisher 1982). Viele Menschen teilen Ann Landers Vertrauen in die Wirksamkeit von Psychotherapie. Vor 1950 waren nur Psychiater für die Behandlung psychischer Erkrankungen bzw. Störungen zuständig. Inzwischen sind zum einen auch Psychologen mit Psychotherapieausbildung in die psychosoziale Versorgung eingebunden, zum anderen gibt es neuere Facharztausbildungen in Deutschland, die zu den Titeln »Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie« oder »Facharzt für Psychotherapeutische Medizin« führen. Psychotherapie wird von den genannten ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten angeboten und durchgeführt. Daneben gibt es den Bereich der Sozialarbeiter, kirchlichen Berater, Eheberater, der Beratung bei Missbrauch und bei Schulproblemen und der psychiatrischen Pflegedienste, die keine Psychotherapie im engeren Sinne, wohl aber Beratungsleistungen anbieten dürfen. Zusätzlich zu den 55.000 klinisch tätigen Psychiatern und 95.000 Klinischen Psychologen mit Doktortitel in den USA gibt es dort eine viertel Million anderer staatlich anerkannter Therapeuten, viele mit einer Ausbildung als Sozialarbeiter (Glenn 2003). Nach Fritze et al. (2001) waren im Jahre 2000 in Deutschland 9920 Ärzte mit einer der nervenärztlichen Spezialisierungen und 12.086 Psychologische Psychotherapeuten tätig. Das umfangreichste Angebot findet sich auf kommunaler Ebene: Da gibt es die Wohlfahrtsverbände, die ambulante Therapie und Beratung anbieten, Krisentelefone und Unterbringungsmöglichkeiten für Patienten, die nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik noch nicht wieder allein leben können. Bei diesem riesigen Aufwand an Zeit und Geld, Mühe und Hoffnung darf man die Frage stellen: Ist der Glaube gerechtfertigt, den Ann Landers und Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in die heilende Kraft der Therapie setzen? Und hatte das Wall Street Journal (1999) daher unrecht mit der Behauptung, dass »es bei offensichtlich marginalen Problemen zu endlosen Zahlungen von zweifelhaftem Nutzen« kommen würde, wenn man die Psychotherapie pauschal in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufnähme?
18.2.1
Wie wirksam ist die Psychotherapie?
Diese Frage ist leicht gestellt, aber nicht leicht zu beantworten. Zum einen lässt sich die Wirkung einer Therapie nicht so leicht messen wie die Körpertemperatur, anhand derer man feststellen kann, ob das Fieber gesunken ist. Wenn Sie oder ich uns einer Psychotherapie unterziehen sollten: Woran würden wir deren Wirkung bemessen? Daran, ob wir selbst das Gefühl haben, Fortschritte zu machen? Daran, wie unser Therapeut über unseren Fortschritt denkt? Daran, wie unsere Familie und unsere Freunde das erleben? Daran, wie sich unser Verhalten verändert hat?
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
. Abb. 18.4. Wohin wenden sich Menschen, wenn sie Hilfe suchen? In Deutschland liegt der Anteil der Menschen mit psychischen Störungen bei 31%, davon begibt sich ca. ein Drittel in Behandlung. Die Abbildung zeigt die prozentuale Verteilung der verschiedenen in Anspruch genommenen Hilfsangebote (Mehrfachnennungen waren möglich). (Nach Wittchen u. Jacobi 2001)
Bewertung durch Klienten Ziel 11: Erklären Sie, warum Klienten dazu neigen, die Wirksamkeit der Psychotherapie zu überschätzen.
Wären die Aussagen der Klienten der einzige Maßstab, ließe sich die Wirksamkeit gut bestätigen. Als 2900 Leser der »Consumer Reports« (1995; Kotkin et al. 1996; Seligman 1995) von ihren Erfahrungen mit niedergelassenen Psychotherapeuten berichteten, sagten 89%, sie seien zumindest »ziemlich zufrieden« gewesen. Von denen, die sich erinnerten, wie sie sich bei Therapiebeginn gefühlt hatten – »ziemlich schlecht« oder »sehr schlecht« – sagten 9 von 10, sie fühlten sich jetzt »sehr gut«, »gut« oder zumindest »es geht so«. Wir haben also ihre Aussagen – und wer sollte es besser wissen als sie? Wir sollten diese Aussagen nicht leichtfertig vom Tisch wischen. Ein Mensch geht in Therapie, weil er leidet, und die meisten fühlen sich anschließend besser. Doch aus mehreren Gründen lassen sich die, die der Psychotherapie skeptisch gegenüberstehen, von den Aussagen der Betroffenen nicht überzeugen: 4 Wer in Therapie geht, steckt in einer Krise. Wenn die Krise durch das normale Auf und Ab der alltäglichen Geschehnisse vorbeigeht, schreibt der Betroffene die Besserung seines Zustands möglicherweise der Therapie zu. 4 Vielleicht braucht der Klient den Glauben an die Wirksamkeit der Therapie. Zuzugeben, dass man Zeit und Geld in etwas investiert, was keine Wirkung hat, ist so, als müsste man zugeben, dass man sein Auto immer wieder einem Mechaniker zur Wartung überlässt, der es nie repariert. Rechtfertigung des eigenen Handelns ist ein starkes Motiv. 4 Die meisten Klienten sprechen freundlich von ihrem Therapeuten. Und zwar auch dann, sagen die Kritiker, wenn das Problem weiterhin besteht. »Sie geben sich große Mühe, etwas Positives zu sagen. Der Therapeut war sehr einfühlsam, der Klient hat eine neue Perspektive gewonnen, er hat gelernt, besser zu kommunizieren, sein Herz wurde leichter … alles Mögliche wird gesagt, damit man nicht gestehen muss, dass die Behandlung gescheitert ist« (Zilbergeld 1983, S. 117).
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Die Aussagen können irreführend sein. Wie die früheren Kapitel gezeigt haben, sind wir anfällig für selektive und verzerrte Erinnerungen und auch geneigt, Urteile zu fällen, die unsere Überzeugungen bestätigen. Lassen Sie uns ein Experiment mit über 500 Jungen zwischen 5 und 13 Jahren näher betrachten, von denen viele offensichtlich straffällig zu werden drohten. Die Hälfte dieser Jungen wurde nach dem Zufallsprinzip – Kopf oder Zahl eines Münzwurfs – einem 5 Jahre dauernden Behandlungsprogramm zugewiesen. Zweimal monatlich kamen Berater zu den Jungen. Sie nahmen an Gemeindeaktivitäten wie etwa bei den Pfadfindern teil. Falls erforderlich, erhielten sie schulische Unterstützung, medizinische Versorgung und Familienhilfe. Etwa 30 Jahre nach Beendigung des Programms machte McCord (1978, 1979) 97% die damaligen Teilnehmer ausfindig. Um die Wirksamkeit des Programms zu erfassen, schickte sie ihnen Frage-
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bögen und überprüfte die Akten bei Gericht, in psychiatrischen Institutionen und nutzte auch andere Quellen. Als die Wirkung des Programms anhand der Aussagen der Teilnehmer erfasst wurde, ergaben sich ermutigende Resultate. Viele lieferten überschwängliche Berichte ab. Manche schrieben, es sei nur ihrem Berater zu verdanken, dass sie nicht im Gefängnis gelandet seien. »Mein Leben wäre anders verlaufen« oder »Ich glaube, ich wäre schließlich auf die schiefe Bahn gekommen«. Die Gerichtsakten lieferten offensichtliche Unterstützung für diese Aussagen. Sogar von den »schwierigen« Jungen hatten 66% keine Vorstrafen. Sie erinnern sich jedoch bestimmt an das wichtigste Werkzeug der Psychologie, wenn man zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden will: die Kontrollgruppe. Auf jeden Jungen im Programm kam ein Junge in der Kontrollgruppe, der in ähnlichen Umständen lebte, aber nicht am Programm teilnahm. McCord fand auch diese Jungen und entdeckte, dass 70% der prädelinquenten Jungen nicht gerichtsauffällig waren und keine Vorstrafen hatten. Bei manchen Maßen, etwa die in Bezug auf wiederholte Straftaten, Alkoholkonsum und Zufriedenheit mit der Arbeitsstelle, hatten die nicht betreuten Jungen sogar etwas weniger Probleme, und auch die Anzahl der Todesfälle war geringer. Der begeisterte Bericht der betreuten Testgruppe war eine Täuschung gewesen, wenn auch eine unabsichtliche. Dieser schockierende Befund – dass Aussagen von Betroffenen sehr irreführend sein können – wurde in den 90er Jahren bestätigt. Straffällige Jungen gaben nach einem Abschreckungsprogramm (Besuche im Knast, höhnische Bemerkungen von alten Knastinsassen) an, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit in Zukunft gesetzestreu handeln würden. Aber das taten sie nicht. Verglichen mit den Jungen, die nicht am Abschreckungsprogramm teilgenommen hatten, stieg sogar die Wahrscheinlichkeit für neue Straftaten bei denjenigen, die das Programm durchlaufen hatten (Dishion et al. 1999; Petrosino et al. 2000). Aussagen von Beteiligten können täuschen und tun es auch tatsächlich.
Bewertung durch Therapeuten Ziel 12: Geben Sie einige Gründe dafür an, dass Kliniker dazu neigen, die Wirksamkeit der Psychotherapie zu überschätzen, und beschreiben Sie 2 Phänomene, die einen Beitrag zu den Fehlwahrnehmungen der Klienten und Therapeuten auf diesem Gebiet leisten.
Wenn die Wirksamkeit der Therapie in der Bewertung der Kliniker zum Ausdruck käme, hätten wir allen Grund zu feiern. Fallstudien über erfolgreiche Behandlungen gibt es in Hülle und Fülle. Außerdem hütet jeder Therapeut einen Schatz von Dankesbezeugungen seiner Klienten, die beim Abschied oder später geäußert werden. Das Problem dabei ist, dass der Klient den Beginn der Therapie damit rechtfertigt, dass er sein Unglück stärker betont, und die Beendigung der Therapie damit, dass er sein Wohlbefinden hervorhebt und nur dann in Kontakt mit seinem Therapeuten bleibt, wenn er zufrieden ist. Therapeuten wissen, dass es so etwas wie gescheiterte Therapien gibt – aber es sind immer die Therapien anderer Therapeuten, die danebengehen – die, deren Klienten nur eine kurzfristige Besserung erlebt haben und nun auf der Suche nach einem neuen Therapeuten für ihre wieder auftretenden Probleme sind. Folglich kann ein und derselbe Patient mit immer den gleichen Problemen – immer noch die alten Ängste, die Depression oder die Eheprobleme – bei mehreren Therapeuten in der Erfolgsstatistik auftauchen. Weil die Menschen, wenn sie eine Therapie beginnen, extrem unglücklich sind, und sie normalerweise bei Beendigung der Therapie etwas weniger als extrem unglücklich sind, sprechen die meisten von einem Erfolg der Therapie, ganz gleich, nach welcher Methode sie behandelt wurden. Zwar haben sich die Methoden gründlich geändert, doch betrachtet jede Therapeutengeneration ihren eigenen Ansatz als besonders erleuchtet.
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C. Styrsky
18.2 · Therapieevaluation
»Ähm – hi Doc! Ich wollte nur sagen, dass Ihre Therapie schon wirkt. Ich konnte dem Schmuck widerstehen und habe nur den Fernseher mitgenommen!«
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Kritisch nachgefragt
Die »Regression« vom Ungewöhnlichen zum Gewöhnlichen Die Bewertung durch Klienten und Therapeuten enthält oft Übertreibungen, denn sie wird von 2 Phänomenen beeinflusst: Das eine ist der Placeboeffekt, nämlich die Kraft des Glaubens an eine Behandlung. Wir haben in 7 Kap. 1 gesehen, dass bei der Behandlung mit Medikamenten ein Placebo ohne Wirkstoff gern zur Kontrolle der Wirkung des Medikaments eingesetzt wird. Wenn Sie glauben, die Behandlung werde wirken, dann mag es – dank der heilenden Kraft Ihrer positiven Erwartungen – durchaus so kommen. Das zweite Phänomen ist ein staRegression zur Mitte (regression tistisches: die Regression zur toward the mean): Tendenz Mitte, d. h. die Tendenz von unextremer ungewöhnlicher Werte, auf ihren Durchschnittswert zugewöhnlichen Ereignissen (oder rückzufallen (Regression). Gefühlen) auf den Durchschnittszustand zurückzufallen. Demnach hat ein ungewöhnliches Ereignis (sich schlecht fühlen) die Tendenz, dass darauf gewöhnlichere Ereignisse folgen (die Rückkehr in einen gewöhnlicheren Zustand). Weil wir in einen gewöhnlicheren Zustand zurückgekehrt sind, scheint vielleicht das, was wir in der Zwischenzeit unternommen haben, diese Veränderung bewirkt zu haben. Wenn wir uns ganz am Boden fühlen, versuchen wir alles Mögliche. Und was immer das auch sei – einen Therapeuten aufsuchen, Joga oder Ausdauertraining –, es wird mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Besserung unseres Zustands führen als zu einer weiteren Verschlechterung. Das Entscheidende dabei scheint so offensichtlich zu sein, trotzdem übersehen wir es regelmäßig: Was eine normale Regression sein kann (also die erwartete Rückkehr in den Normalzustand), schreiben wir dem zu, was wir unternommen haben, um unseren Zustand zu verbessern. Hier ein paar Beispiele für die Wirkung der Regression zur Mitte:
5 Studenten, die in einer Prüfung deutlich besser oder schlechter abschneiden, als sie es normalerweise tun, werden wahrscheinlich bei einer erneuten Prüfung wieder ihren normalen Durchschnitt erreichen. 5 Nach einer plötzlichen Welle von Gewalttaten führt der Stadtrat eine »Stoppt-das-Verbrechen«-Kampagne durch, und die Kriminalitätsrate sinkt wieder auf ihre vorherige Höhe. Man könnte deshalb die Kampagne für erfolgreicher halten, als sie es tatsächlich war. 5 Trainer, die ihre Spieler nach einer miserablen ersten Halbzeit zusammenstauchen, glauben, sie würden dafür belohnt, wenn ihre Mannschaft in der zweiten Halbzeit wieder besser spielt (d. h. zum Normalzustand zurückkehrt). 5 Wissenschaftler, die den Nobelpreis erhalten – eine außergewöhnliche Leistung – erleben fast immer danach eine Phase, in der sie weniger leistungsfähig sind. Das brachte manche zu der Überzeugung, dass der Nobelpreis die Kreativität behindert. In jedem dieser Fälle mag tatsächlich eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung bestehen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich dabei um ein Beispiel für die natürliche Tendenz des Verhaltens handelt, von dem, was aus dem Rahmen des Üblichen fällt, wieder zum Üblichen zurückzukehren. Und damit wird auch die Aufgabe der Therapieforschung definiert: Sie muss entscheiden, ob die Verbesserung infolge einer bestimmten Therapie tatsächlich größer ist, als aufgrund von Placebo- und Regressionseffekten zu erwarten wäre, die sich bei Kontrollgruppen ohne Extrabehandlung zeigen. »Ist man erst einmal für die Regression zur Mitte sensibilisiert, sieht man sie überall.« Der Psychologe Daniel Kahneman (1985)
Wirkungsforschung Ziel 13: Beschreiben Sie die Bedeutung der Studien zur Wirkungsforschung, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von Psychotherapien zu beurteilen, und erörtern Sie einige der damit zusammenhängenden Befunde.
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Wie können wir also die Wirksamkeit einer Psychotherapie objektiv messen? Welche Menschen mit welchen Problemen brauchen welche Psychotherapie? Diese Frage hat sowohl eine wissenschaftliche als auch eine persönliche Relevanz. Wenn Sie selbst oder einer Ihrer Angehörigen unter Angst leiden, depressiv sind oder eine andere psychische Störung aufweisen, ist es unabdingbar, dass Sie beurteilen können, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Psychotherapie hilft. In der Hoffnung, die Wirksamkeit einer Psychotherapie besser erfassen zu können, wurden kontrollierte Studien zur Therapieforschung durchgeführt. Im 19. Jahrhundert führte eine vergleichbare Forschung dazu, dass die Medizin mit ihren herkömmlichen Behandlungsmethoden (zur Ader lassen, Abführmittel oder Kräutertees verabreichen) den Status einer Wissenschaft erlangte. Skeptische Ärzte hatten beobachtet, dass viele Patienten auch ohne ärztliche Hilfe wieder gesund wurden, dass die Mehrzahl der damals modernen Behandlungsmethoden nichts bewirkte, sondern eher schadete. Wenn man Fakten von abergläubischen Überzeugungen unterscheiden wollte, musste man einen Krankheitsverlauf genau beobachten: Was geschah, wenn der Kranke eine bestimmte Behandlung erhielt? Und was geschah, wenn er sie nicht erhielt? Der Zustand von Typhuspatienten besserte sich beispielsweise oft nach einem Aderlass, weshalb die meisten Ärzte von der Wirksamkeit dieser Methode überzeugt waren. Erst als man einer Kontrollgruppe einfach
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nur Bettruhe verordnete und 70% der Kranken nach 5 Wochen genesen waren, merkten die Ärzte, dass diese Behandlung wertlos war (Thomas 1992). In der Psychologie war es der britische Psychologe Hans Eysenck (1952), der sich als Erster mit der Therapieforschung beschäftigte und damit eine lebhafte Diskussion auslöste. Er fasste Studien zusammen, die nachwiesen, dass sich bei zwei Dritteln der Patienten mit nichtpsychotischen Störungen der Zustand nach einer psychotherapeutischen Behandlung deutlich gebessert hatte. Bis heute bestreitet niemand diese optimistische Schätzung. Warum also dann Therapieforschung? Warum diskutieren wir heute noch über dieses Thema? Weil Eysenck auch von einer vergleichbaren Verbesserung des Zustands bei nicht behandelten Patienten berichtete. Ob mit oder ohne Psychotherapie, sagte er, ging es ca. zwei Dritteln der Patienten deutlich besser. Die Zeit erwies sich als große Heilerin. Die Lawine der Kritik, die Eysenck mit seinen Schlussfolgerungen auslöste, deckte jedoch auch einige Mängel in seinen Analysen auf. Damals (1952) gab es nur 24 Studien, bei denen er das Ergebnis einer Psychotherapie analysieren konnte; heute sind es Hunderte. Die besten dieser »randomisierten klinischen Versuche« setzen die Klienten nach dem Zufallsprinzip entweder auf eine Warteliste für eine Therapie, oder die Klienten bekommen keine Therapie. Hinterher werden die Klienten von Wissenschaftlern evaluiert; dabei verwendet man Tests, Berichte von Freunden und Familienmitgliedern und Berichte von Psychologen, die nicht wissen, ob der Klient psychotherapeutisch behandelt wurde oder nicht. Die Ergebnisse vieler solcher Studien werden dann mit Hilfe der Technik der Metaanalyse weiter bearbeitet. Das ist ein statistisches Verfahren, bei dem die Schlussfolgerungen aus einer großen Anzahl verschiedener Studien zusammengefasst und dann so ausgewertet werden, als stammten die Ergebnisse aus einer einzigen Riesenstudie mit Tausenden von Teilnehmern. Einfach ausgedrückt, sagen uns Metaanalysen, was unter dem Strich bei einer großen Menge von Studien herausgekommen ist. Bei der ersten der über 5 Dutzend Metaanalysen von Studien über die Wirkung der Psychotherapie führten Smith et al. (1980) die Ergebnisse von 476 Untersuchungen zusammen. Das für Psychotherapeuten erfreuliche Ergebnis lautete, dass »die Wirksamkeit von Psychotherapie in geradezu überwältigender Weise evident« ist. . Abb. 18.5 zeigt ein Diagramm ihrer Befunde: Dem durchschnittlichen Therapieklienten geht es nach Beendigung der Behandlung besser als 80% derer, die auf der Warteliste stehen. Doch das Ergebnis ist bescheidener, als es zunächst den Anschein hat: Auch etwa 50% der nicht behandelten Klienten fühlen sich besser als der durchschnittliche nicht behandelte Klient. Trotzdem jubelten Smith et al. (1980, S. 183): »Psychotherapie hilft Menschen aller Altersstufen so zuverlässig, wie der Schulbesuch ihre Bildung fördert, die Medizin sie heilt oder ein Geschäft einen Profit abwirft.« Die neuere Forschung bestätigt, dass Psychotherapie eine Wirkung hat (Kopta et al. 1999; Shadish et al. 2000). In einem besonders ambitionierten Projekt verglich das National Institute of
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»Zum Glück ist die [Psycho-]Analyse nicht der einzige Weg zur Lösung innerer Konflikte. Das Leben selbst ist immer noch ein sehr effizienter Therapeut.« Karen Horney (»Our Inner Conflicts«, 1945)
Metaanalyse (meta-analysis): Verfahren zur statistischen Zusammenfassung der Resultate vieler unterschiedlicher Studien.
. Abb. 18.5. Behandlung versus keine Behandlung Diese beiden normalverteilten Kurven, die auf den Ergebnissen aus 475 Studien beruhen, zeigen, wie sich der Zustand bei nicht behandelten Menschen und bei Psychotherapieklienten besserte. Die Wirkung war im Durchschnitt bei Therapieklienten um 80% besser als bei nicht behandelten Personen. (Nach Smith et al. 1980)
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Mental Health 3 Behandlungsmethoden für die Depression: kognitive Therapie, interpersonale Therapie und medikamentöse Behandlung. Acht erfahrene Therapeuten in verschiedenen Forschungszentren erhielten ein Training in einer der 3 Methoden, und ihnen wurde dann ein Teil der 239 depressiven Teilnehmer an der Studie nach dem Zufallsprinzip zugewiesen. In allen 3 Gruppen besserte sich der Zustand der Klienten stärker als bei den Patienten in der Kontrollgruppe, die nur ein wirkungsloses Medikament und stützende Aufmerksamkeit, Ermutigung und Beratung erhielten. Bei den Patienten, die das volle, 16 Wochen dauernde Therapieprogramm durchliefen, war die Depression bei etwas mehr als der Hälfte gewichen; eine ähnliche Besserung gab es nur bei 29% der Teilnehmer an der Kontrollgruppe (Elkin et al. 1989). In diesem Ergebnis wiederholen sich die Ergebnisse früherer Wirksamkeitsstudien: ! Oft bessert sich der Zustand der Patienten auch ohne Therapie; doch für Patienten, die sich einer Therapie unterziehen, sind die Chancen für eine Besserung höher.
Psychotherapie ist auch kostengünstig, wenn man sie mit den höheren Kosten für Psychopharmaka bei psychisch begründeten Beschwerden vergleicht. Wer sich in eine psychotherapeutische Behandlung begibt, sucht weniger häufig einen Arzt auf, um sich behandeln zu lassen: Bis zu 16% weniger medizinische Behandlungen fand man in einer Zusammenfassung von 91 Studien (Chiles et al. 1999). Die alljährlich durch psychische Störungen und Substanzmissbrauch entstehenden Kosten – einschließlich Verbrechen, Unfall, Arbeitsplatzverlust und Behandlungen – sind schwindelerregend hoch. Und wie Investitionen in prä- und postnatale Präventionsmaßnahmen die Kosten des Gesundheitssystems auf lange Sicht senken, so können diese Kosten auch durch Investitionen in beinahe jede Form der Behandlung psychischer Probleme gesenkt werden. Alles, was das seelische Wohlbefinden der Angestellten einer Firma verbessert, verringert die Kosten für medizinische Behandlung, erhöht die Effizienz der Arbeit und verringert Fehlzeiten. Die von Krankenversicherungen durchgeführten Untersuchungen ergeben, dass sich psychologische Behandlungen durch geringere Krankheitskosten mehr als auszahlen (American Psychological Association 1991). Sie sollten jedoch dabei beachten, dass sich die Behauptung, die Psychotherapie sei im Durchschnitt auf irgendeine Weise wirksam, nicht auf eine spezielle Therapieform bezieht. Das ist so, als sagte man: »Chirurgie ist auf irgendeine Weise wirksam.« Oder als teilte man einem Patienten mit Lungenkrebs mit, dass die medizinische Behandlung von Gesundheitsproblemen »im Durchschnitt« wirksam ist. Was ein Betroffener erfahren möchte, ist nicht, wie effektiv alle Therapien im Durchschnitt sind, sondern, wie gut eine bestimmte Behandlung bei seinem speziellen Problem wirkt.
18.2.2
Welche Therapie für welche Störung?
Ziel 14: Fassen Sie die Befunde zu der Frage zusammen, welche Psychotherapien für welche spezifischen Störungen am wirksamsten sind. »Was immer es an Unterschieden bei der Wirksamkeit verschiedener Behandlungsformen geben mag: Sie sind offenbar bestenfalls sehr gering.« Wampold et al. (1997)
18
Was also können wir den Menschen sagen, die daran denken, in eine Therapie zu gehen – und jenen, die dafür bezahlen –, wenn sie uns fragen, welche Therapie für ihr spezielles Problem am besten ist? Zwar betont jeder Verfechter einer Therapierichtung die Überlegenheit seines Ansatzes, doch in der von Smith et al. (1977, 1980) durchgeführten Metaanalyse wurde für keine einzige Therapieform eine generelle Überlegenheit nachgewiesen. Auch die Leser von »Consumer Reports« zeigten sich zufrieden, ganz unabhängig davon, welche Art Therapie sie erhalten hatten und wer sie behandelt hatte: sei es nun ein Psychiater, ein Psychologe oder ein Sozialarbeiter (Seligman 1995). Es stellte sich auch heraus – und das war noch erstaunlicher –, dass es keinen echten Unterschied zwischen der Wirkung von Einzel- und Gruppentherapie gab und dass auch das Ausbildungsniveau und die Erfahrung des Therapeuten keine Rolle spielten. Heute, mehr als 2 Jahrzehnte nach Smiths Analyse, gehen die neueren Befunde immer noch dahin, dass praktisch kein Zusammenhang besteht zwischen der Berufserfahrung, Ausbildung, Supervision und behördlichen Zulassung des Therapeuten einerseits und den mit Klienten erzielten Ergebnissen andererseits (Bickman 1999; Luborsky et al. 2002). Hatte der Dodo-Vogel aus »Alice im Wunderland« Recht: »Alle haben gewonnen, und alle müssen einen Preis bekommen.«?
819 18.2 · Therapieevaluation
18
Eine Arbeitsgruppe der Society of Clinical Psychology geht dieser Frage nach, indem sie nach Behandlungsmethoden sucht, die sich in Behandlungsstudien mit Kontrollgruppen als günstig erwiesen haben (Chambless et al. 1997; Norcross 2002). Die Arbeitsgruppe hat einige Elemente einer wirksamen Therapie (beispielsweise Empathie) herausgearbeitet. Das Ergebnis war eine Liste mit »empirisch fundierten Therapien«, zu denen folgende Behandlungsmethoden gehören: 4 bei Depression: kognitive Therapie, interpersonale Therapie und Verhaltenstherapie; 4 bei Angst: kognitive Therapie, Expositionstherapie und Stressimpfungstraining; 4 bei Bulimie: kognitive Verhaltenstherapie; 4 bei Bettnässen: Verhaltensmodifikation. Die auf Konditionierung beruhenden Verhaltenstherapien haben gleichfalls besonders günstige Ergebnisse bei spezifischen Verhaltensproblemen erzielt, etwa bei Phobien, Zwängen, Eheproblemen oder sexuellen Störungen (Bowers u. Clum 1988; Hunsley u. DiGiulio 2002; Shadish u. Baldwin 2005). Und neue Studien bestätigen die Wirksamkeit der kognitiven Therapie bei der Bewältigung einer Depression und bei der Verringerung des Suizidrisikos (Brown et al. 2005; DeRubeis et al. 2005; Hollon et al. 2005). Außerdem ist eine Therapie am wirksamsten, wenn das Problem klar umrissen ist (Singer 1981; Westen u. Morrison 2001). Für diejenigen, die Erfahrung mit Phobien oder Panikattacken machen, die selbstunsicher sind oder die von Problemen bei ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit geplagt werden, besteht Hoffnung auf Besserung. Diejenigen, die unter weniger klar umgrenzten Problemen (z. B. Depression und Angst) leiden, profitieren gewöhnlich von einer Therapie, fallen aber oft wieder in ihren Ausgangszustand zurück (Zilbergeld 1983). Je spezifischer das Problem, desto größer die Hoffnung auf Besserung. In der Zwischenzeit geht die Kontroverse über das Ausmaß weiter, in dem die Wissenschaft die Richtschnur sein soll, und das sowohl für die klinische Praxis als auch für die Bereitschaft der Kostenträger im Gesundheitswesen und der Krankenkassen, die Psychotherapie zu bezahlen. Da sind auf der einen Seite die wissenschaftsorientierten Psychologen, die daran arbeiten, die Liste der evidenzbasierten Praktiken um wohldefinierte und validierte Therapien zu erweitern. Und da sind andererseits diejenigen, die die Therapie eher als Kunst denn als Wissenschaft ansehen, nicht als etwas, was sich für die Beschreibung in einem Handbuch oder für die Überprüfung durch ein Experiment eignet. Für präzise wissenschaftliche Untersuchungen sind die Menschen zu komplex und die Therapie zu intuitiv, sagen die nicht wissenschaftsorientierten Therapeuten. Doch die Therapie erlangt dadurch mehr Glaubwürdigkeit, dass die klinische Praxis auf empirischen Befunden aufbaut und dass man die Praktiker im Bereich der seelischen Gesundheit für die Wirksamkeit ihrer Methoden zur Verantwortung zieht, sagen die wissenschaftsorientierten Kliniker. Zudem wird die Öffentlichkeit vor Pseudotherapien geschützt; und die Therapeuten werden vor Anschuldigungen geschützt, dass sie sich wie Vertreter für Staubsauger anhören: »Vertrauen Sie mir; ich weiß, dass es funktioniert. Ich habe gesehen, dass es funktioniert.«
18.2.3
Was bringen alternative Therapien?
Ziel 15: Beurteilen Sie die Wirksamkeit von EMDR und Lichtexpositionstherapie.
Die Regression zur Mitte, d. h. die Tendenz abnormer Bewusstseinszustände, wieder in den Normalzustand zurückzukehren, schafft zusammen mit dem Placebo-Effekt einen fruchtbaren Boden für Pseudotherapien. Gestützt durch anekdotische Berichte, verkündet in den Medien und gepriesen im Internet breiten sich alternative Therapien wie Strohfeuer aus. Prinzessin Diana war ein typisches Beispiel für die neue Begeisterung für alternative Therapien: Sie wandte sich an Spiritualisten, Hypnotherapeuten, an einen Therapeuten zur »Freisetzung von Wut«, an Reflexologen, an Aromatherapeuten, an einen Dickdarmbewässerer und an einen Therapeuten für »Körper und Seele« (Smith 1999). Und sie war nicht die Einzige. Nach einer landesweiten Umfrage nahmen 57% derjenigen mit Angstattacken und 54% derjenigen mit einer Depression in ihrer Krankengeschichte Zuflucht zu alternativen Behandlungen wie Kräutermedizin, Massage und Geistheilen (Kessler et al. 2001).
»Für jede Wunde ist ein eigenes Kraut gewachsen.« Englisches Sprichwort
820
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
. Tabelle 18.1. Vergleich von Nennungen in der wissenschaftlichen Psychologie und in ungefilterten Websites (*Nach PsycINFO, Januar 2006; ** Nach Google, Januar 2006)
Thema Systematische Desensibilisierung
Zitate in Zeitschriften*
Websites**
Quantitatives Verhältnis
2253
6340
1:3
Gedankenfeldtherapie
24
6340
1:264
Therapeutische Berührung
84
35.200
1:419
145
190.000
1:1310
22
107.000
1:4864
Johanniskraut (Kräuterheilung) Enneagramm (Persönlichkeitstypisierung)
Was lässt sich zu solchen alternativen Therapien sagen? Von den Empfehlungen einmal abgesehen – jede Therapie, ob sie nun wirksam ist oder nicht, wird irgendjemandem wirksam erscheinen –, was sagen die Befunde dazu? Welche Therapien sind empirisch validiert? Für die meisten gibt es keine Befunde, weil ihre Befürworter und begeisterten Anhänger meinen, kontrollierte Forschung sei nicht erforderlich. Für sie reicht die persönliche Erfahrung als Befund aus. Welche Therapien sind also systematisch begutachtet worden? Um das wissenschaftliche im Gegensatz zum populären Interesse an den verschiedenen Behandlungsformen und Erhebungstechniken zu erfassen, riet der klinische Forscher Lilienfeld (1998) dazu, die Häufigkeit zu vergleichen, mit der jede Einzelne von ihnen bei der elektronischen Suche in der wissenschaftlichen psychologischen Literatur und in ungefilterten Internetquellen erwähnt wird. Wie . Tabelle 18.1 zeigt, kommen einige Themen fast ausschließlich im Internet vor. In früheren Kapiteln haben wir uns kritisch mit alternativen Therapien auseinandergesetzt wie mit den Tonbändern zur Selbsthilfe, der Aufdeckung angeblich verdrängter Erinnerungen und der Hypnose. Lassen Sie uns auf 2 weitere alternative Therapien eingehen. Wenn wir dies machen, sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass wir eine wissenschaftliche Haltung bewahren sollten, wenn wir die Spreu vom Weizen trennen: skeptisch bleiben, aber nicht zynisch werden, offen für Überraschungen sein, doch nicht leichtgläubig.
EMDR
18
Francine Shapiro (1989) ging eines Tages in einem Park spazieren und machte die Erfahrung, dass angstvolle Gedanken verschwanden, wenn sie ihre Augen spontan umherschweifen ließ. Daraus entwickelte sie eine neue Form der Angstbehandlung: die EMDR (»Eye Movement Desensitization and Reprocessing«), die auf einer Desensibilisierung durch Augenbewegungen und einer Neuverarbeitung seelischer Traumata beruht. Während der Patient vor seinem inneren Auge traumatische Szenen ablaufen ließ, löste Shapiro bei ihm dadurch Augenbewegungen aus, dass sie einen Finger schnell hin- und her bewegte; dies versetzte ihn angeblich in die Lage, zuvor eingefrorene traumatische Erinnerungen herauszulassen und neu zu verarbeiten. Sie probierte die Technik bei 22 Menschen aus, die unter alten traumatischen Erinnerungen litten, und alle berichteten von einer deutlichen Verringerung ihrer Ängste nach nur einer therapeutischen Sitzung. Dieses ungewöhnliche Ergebnis traf bei den professionellen Heilberufen auf außerordentlichen Zuspruch: Bereits 40.000 Angehörige dieser Sparte aus 52 Ländern durchliefen die Ausbildung (EMDR 2002), und die Methode fand in nur kurzer Zeit viele Anhänger. Seit der ähnlich charismatische Franz Anton Mesmer den animalischen Magnetismus (Hypnose) vor mehr als 200 Jahren einführte (er hatte sich durch eine Erfahrung in der freien Natur inspiriert gefühlt), hat eine neue Therapie nicht so schnell so viele begeisterte Anhänger angezogen. Aber funktioniert es auch? Bei 84–100% der Teilnehmer an 4 neueren Studien, die nur ein einziges Trauma zu bewältigen haben, lautet die Antwort »ja«, berichtet Shapiro (1999, 2002) (wenn EMDR in den anderen Fällen nicht wirkte, führte Shapiro dies auf die ungenügende Ausbildung der Therapeuten zurück). Übrigens benötigt man für eine Behandlung nur 3 Sitzungen von jeweils 90 Minuten. Die Arbeitsgruppe der Society of Clinical Psychology hat nach einer
821 18.2 · Therapieevaluation
18
empirischen Validierung anerkannt, dass die Behandlung bei Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung nichtmilitärischen Ursprungs »wahrscheinlich wirkungsvoll« ist (Chambless et al. 1997). Von diesem scheinbaren Erfolg ermutigt, setzen EMDR-Therapeuten, von Shapiro (1995, 2002) dazu aufgefordert, die Technik nun auch bei der Behandlung anderer Angststörungen ein (etwa bei Panikstörungen oder bei einer großen Vielfalt verschiedener Beschwerden, von Schmerzen über Trauer, paranoide Schizophrenie bis zu Wutanfällen und Schuldgefühlen). EMDR ist eine Therapie, die Tausende bewundern und Tausende als Scharlatanerie abtun. »Es handelt sich um ein hervorragendes Beispiel, um die Unterschiede zwischen wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Therapietechniken zu illustrieren«, merken James et al. (2000) an. Warum sollten, fragen sich die Skeptiker, sich bewegende Augen, während man sich an ein Trauma erinnert, heilsam sein. Tatsächlich sind die Augenbewegungen wohl nicht das therapeutisch wirksame Mittel. Als die Forscher die Therapie ohne Augenbewegungen testeten – beispielsweise mit den Fingern klopften oder den Patienten strikt geradeaus blicken ließen, während der Therapeut mit dem Finger wedelte, – waren die therapeutischen Ergebnisse die gleichen (Devilly 2003). Umstritten ist daher der Einfluss des Elements Augenbewegungen. Wichtig ist jedoch, dass die Sequenz, in der Patient und Therapeut ihre Aufmerksamkeit auf die traumabezogenen Kognitionen richten, so lange beibehalten wird, bis die auftretende Angst deutlich abnimmt. Dass in einem sicheren und geschützten Raum traumatische Erinnerungen immer wieder durchlebt werden, kann als eine Art Expositionstherapie verstanden werden. Es ist zu vermuten, dass die therapeutische Wirkung der EMDR in erster Linie in dieser Exposition und der Erwartungshaltung des Patienten liegt. Für eine endgültige Beurteilung des Verfahrens liegen noch zu wenige gesicherte Erkenntnisse vor.
Haben Sie jemals festgestellt, dass Sie in der Zeit der wolkenverhangenen und trüben Wintertage morgens verschlafen, dass Sie an Gewicht zunehmen und sich antriebslos fühlen? Bei manchen Menschen entwickelt sich die winterliche Unzufriedenheit zu einer Form der Depression, der affektiven Störung mit saisonalem Muster (»seasonal affective disorder«; SAD). Diese SAD tritt vor allem bei Menschen auf, die weit vom Äquator entfernt wohnen, sowie eher bei Frauen als bei Männern. Um diesen dunklen Geistern entgegenzuwirken, hatten die Forscher des National Institute of Mental Health in den frühen 80er Jahren eine wahrlich erhellende Idee: Menschen, die unter SAD leiden, sollten jeden Tag eine wohlberechnete Dosis an intensiver Lichtbestrahlung erhalten. Klinische Versuche ergaben, dass Lichtbestrahlung auch die Symptome der Winterdepression lindern konnte; das führte zur Herstellung von Lichtboxen, die man heute in entsprechenden Fachgeschäften mieten oder kaufen kann. Haben wir es hier mit einem weiteren Placeboeffekt zu tun, der den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen zugeschrieben werden muss? Neuere Studien trugen im Hinblick auf diese Therapie etwas zur Aufklärung bei. Bei einer dieser Studien setzte man einige Personen mit SAD 90 Minuten lang einem hellen Licht aus, während andere eine Placebobehandlung erhielten: Sie saßen vor einem fauchenden »Generator für negative Ionen«, über den sich das Personal fast genauso enthusiastisch äußerte (der aber – was die Teilnehmer nicht wussten – gar nicht eingeschaltet war). Nach 4 Wochen Exposition ging es 61% der Patienten, die einem hellen Morgenlicht ausgesetzt worden waren, deutlich besser, auch 50% von denjenigen, die man dem Abendlicht ausgesetzt hatte, gaben an, ihr Zustand habe sich gebessert, ebenso auch 32% der Patienten, die mit einem Placebo behandelt worden waren (Eastman et al. 1998). Zwei weitere Studien ergaben, dass 30 Minuten Exposition bei über der Hälfte der Patienten, die Morgenlicht erhielten, eine Besserung bewirkte, die Abendlichttherapie bewirkte bei einem Drittel der Patienten eine Besserung (Terman u. Terman 1998, 2001). Nach 20 sorgfältig kontrollierten Versuchsdurchgängen kommt man zu folgendem Urteil (Golden et al. 2005): Bei vielen Menschen kann helles Licht am Morgen tatsächlich die Symptome einer affektiven Störung mit saisonalem Muster lindern.
Eigentum von Christine Brune
Lichttherapie
Lichttherapie Als Prävention gegen die Winterdepression verbringen manche Menschen jeden Morgen eine gewisse Zeit vor einer Box, die intensives Licht ausstrahlt, das dem natürlichen Licht im Freien ähnlich ist
822
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
18.2.4
Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen
Ziel 16: Beschreiben Sie drei Vorteile, die man allen Psychotherapien zuschreibt.
Gute Therapeuten mögen unterschiedliche Sichtweisen haben, doch haben sie auch viel gemeinsam. Dazu gehören Qualitäten wie Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Empathie. Frank (1982), Goldfried u. Padawer (1982), Strupp (1986) und Wampold (2001) untersuchten die gemeinsamen Bestandteile verschiedener Therapieformen und kamen zu dem Schluss, dass jede von ihnen zumindest drei Vorzüge hatte: Hoffnung für Hoffnungslose, einen neuen Blick auf die eigene Person und die Welt sowie eine von Empathie, Vertrauen und Fürsorge geprägte Beziehung. Diese unspezifischen Faktoren sind nicht alles, was eine Therapie anzubieten hat, doch sie sind wichtig (Barker et al. 1988; Jones et al. 1988; Roberts et al. 1993). Diese Qualitäten sind auch ein Teil dessen, was die wachsende Anzahl von Unterstützungs- und Selbsthilfegruppen für ihre Mitglieder bereithält. Und sie waren und sind ein Teil dessen, was traditionelle Heiler den Leidenden bieten (Jackson 1992). Heiler – jene besonderen Menschen, denen man sein Leid klagen kann – haben jahrhundertelang Ohren und Herz geöffnet, um zu verstehen und mitzufühlen, zu beruhigen, zu beraten, zu trösten, zu deuten oder zu erklären.
Hoffnung für die Hoffnungslosen Wer nach einer Therapie sucht, fühlt sich i. Allg. ängstlich, niedergeschlagen, wertlos und nicht imstande, mit dem Leben fertig zu werden. Was jede Therapie anbietet, ist die Erwartung, dass durch die aktive Mithilfe dessen, der die Therapie aufsucht, alles besser werden kann und besser werden wird. Dieser Glaube allein mag schon jenseits aller therapeutischen Techniken als Placebo dienen, indem er eine positivere innere Einstellung fördert, ein neues Gefühl der Selbstwirksamkeit hervorruft und damit eine Verringerung der Symptome bewirkt (Prioleau et al. 1983). Ähnliche Effekte fand man bei psychotherapeutischen Experimenten mit therapeutischen Techniken, bei denen die Placebobehandlung darin bestand, dass man sich inspirierende Kassetten anhörte oder eine Placebopille nahm. Der Befund aus Metaanalysen, dass die Besserung bei mit Placebos behandelten Patienten deutlicher ist als bei nicht behandelten (allerdings nicht so deutlich wie bei denen, die tatsächlich psychotherapeutisch behandelt wurden), legt den folgenden Gedanken nahe: Ein Grund für die Wirkung einer Therapie besteht darin, dass sie Hoffnung macht. Anders gesagt: Die therapeutische Wirkung ist je nach der Einstellung des Klienten, der um Hilfe bittet, unterschiedlich: Hier geht es um die Motivation des Betreffenden, sein Vertrauen und seine Mitarbeit. Jede Therapie mag auf ihre je spezifische Weise die heilenden Kräfte der Person wecken. Und das, sagt der Psychiater Jerome Frank, lässt uns verstehen, warum alle möglichen Arten von Behandlung – auch volkstümliche Heilungsrituale, von denen wir wissen, dass sie trotz der anderslautenden Überzeugung der Beteiligten wirkungslos sind – zu ihrer Zeit und an ihrem Ort Heilungen bewirken.
Eine neue Perspektive Jede Therapie bietet dem Hilfesuchenden eine plausible Erklärung für seine Symptome und gleichzeitig andere Möglichkeiten, sich selbst zu sehen und auf die Welt zu reagieren. Gleichzeitig kann die Therapie auch ein Feld für neue Erfahrungen sein, und zwar solche, mit deren Hilfe sich das Selbstbild und gewisse Verhaltensweisen verändern lassen. Mit Hilfe einer neuen Sichtweise kann der Klient das Leben mit einer neuen Haltung angehen.
Die therapeutische Beziehung: empathisch, vertrauensvoll und fürsorglich
18
Die Aussage, dass sämtliche Therapieformen mehr oder weniger gleich wirksam sind, bedeutet nicht, dass alle Therapeuten gleich wirksam sind. Unabhängig von der therapeutischen Technik ist ein wirkungsvoller Therapeut empathisch; er versucht, die Erfahrung des Menschen nachzuvollziehen, er kommuniziert seine freundliche Fürsorge und sein Interesse für die Bedürfnisse seines Klienten. Und er gewinnt das Vertrauen und die Achtung des Klienten durch respektvolles Zuhören, beruhigende Worte und weiterführende Ideen. In einer Studie des amerikanischen National Institute for Mental Health zur Behandlung von Depressionen erwiesen sich jene Thera-
823 18.2 · Therapieevaluation
! Ein Teil dessen, was eine erfolgreiche Therapie bietet, ist Hoffnung, eine neue Art, das Leben zu betrachten, und eine empathische, fürsorgliche Beziehung.
Das mag erklären, warum die Empathie und die freundliche Beratung durch einen Laienhelfer oft ebenso hilfreich sind wie eine professionelle Psychotherapie. Und das mag auch eine Erklärung dafür sein, warum Menschen, die sich in engen Beziehungen gestützt fühlen – die den freundschaftlichen und fürsorglichen Kontakt mit anderen Menschen erleben –, seltener eine Therapie benötigen oder nach therapeutischer Hilfe suchen (Frank 1982; O’Connor u. Brown 1984).
Eine fürsorgliche Beziehung Ein wirksamer Therapeut ist mit seinem Patienten durch ein Band des Vertrauens verbunden
Tom Stewart/Corbis
peuten als die effektivsten, die als die empathischsten und fürsorglichsten wahrgenommen wurden und die die engste therapeutische Bindung zu ihrem Klienten aufbauten (Blatt et al. 1996). In einer anderen Studie analysierten Goldfried et al. (1998) Mitschnitte der Therapiesitzungen von 36 anerkannt guten Therapeuten. Manche von ihnen waren kognitive Verhaltenstherapeuten, andere psychodynamisch-interpersonale Therapeuten. Aber das spielte keine große Rolle. Der überraschende Befund der Studie war, wie ähnlich sich die Therapeuten in den Teilen der Sitzungen verhielten, die sie für die wichtigsten hielten. In gewissen Schlüsselmomenten halfen die Therapeuten beider Schulrichtungen dem Klienten bei der Bewertung seiner Person, beim Herstellen einer Verbindung zwischen bestimmten Aspekten seines Lebens und beim Verständnis seiner Interaktion mit anderen Menschen. Tatsächlich ist so mancher der Meinung, dass Wärme und Empathie überall das Zeichen des Heilers sind, sei er Psychotherapeut, Psychiater, Hexer oder Schamane (Torrey 1986). Das emotionale Band zwischen Therapeut und Klient – das therapeutische Bündnis – ist ein Kernaspekt der wirksamen Therapie (Klein et al. 2003; Wampold 2001). Eine Metaanalyse von 39 Studien stützt die folgende Annahme: Alle Therapien wecken dadurch Hoffnung, dass ein fürsorglicher Mensch eine unverbrauchte Perspektive anbietet. In jeder Einzelstudie wurde die Behandlung durch einen professionellen Therapeuten mit der durch einen Laien verglichen: ein freundlicher Professor, Menschen, die ein paar Stunden Training in empathischem Zuhören durchlaufen hatten, oder einfach Studierende unter der Supervision eines klinischen Psychologen. Das Ergebnis? Die »Paraprofessionellen« oder Laienhelfer, wie diese und andere kurz ausgebildeten Helfer genannt werden, erwiesen sich als ebenso wirksam wie die professionellen Therapeuten (Christensen u. Jacobson 1994). Die meisten von ihnen behandelten zwar nur leichte Probleme, aber – glauben Sie es oder nicht – sie waren auch bei stärker gestörten Erwachsenen, beispielsweise bei Patienten mit schwerer Depression, ebenso effektiv wie die professionellen Therapeuten. Lassen Sie uns rekapitulieren: Menschen, die Hilfe annehmen, erleben eine Besserung ihres Zustands. Das gilt auch für viele von denen, die sich keiner Psychotherapie unterziehen – und das ist eine Anerkennung unserer natürlichen Begabung zum Helfen und unserer Fähigkeit, uns umeinander zu kümmern. Trotzdem muss gesagt werden, dass jemand, der eine Psychotherapie macht, eine deutlichere Besserung spürt als der, der das nicht tut, auch wenn die therapeutische Orientierung und Erfahrung keine besondere Rolle zu spielen scheinen. Am meisten profitieren in der Regel die Menschen von einer Therapie, die klar umrissene spezifische Probleme haben.
18
824
Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
18.2.5 Kultur und Wertvorstellungen
in der Psychotherapie
Michael Reynolds/EPA/SIPA/DPA
Ziel 17: Erörtern Sie die Rolle der Wertvorstellungen und der kulturellen Unterschiede im therapeutischen Prozess.
Veränderung in China Beim Treffen einer Selbsthilfegruppe in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige in Südwestchina hören diese Männer einfühlsam Mitpatienten zu, von denen viele HIV-positiv sind
18
Alle Therapien arbeiten mit dem Prinzip Hoffnung, und fast alle Therapeuten arbeiten mit ihren Klienten daran, Qualitäten wie Sensibilität, Offenheit, persönliche Verantwortung und Sinnhaftigkeit zu verstärken (Jensen u. Bergin 1988). Doch im Hinblick auf ihre Moral- und Wertvorstellungen und im Hinblick auf kulturelle Besonderheiten unterscheiden sich die Therapeuten sowohl voneinander als auch von ihren Klienten (Kelly 1990). In Kanada und in den Vereinigten Staaten z. B. sind nach eigenen Angaben 4% der Bevölkerung Atheisten oder Agnostiker, jedoch (je nach Umfrage) 20–50% der Psychiater und Klinischen Psychologen (Gallup 1993; Lukoff et al. 1992). In Großbritannien sind zwei Drittel der Psychiater Atheisten (Neeleman u. Persaud 1995). Das wirft eine interessante Frage auf: Welche Wertvorstellungen herrschen in der Psychotherapie vor? Welche Wertvorstellungen sollten in der Psychotherapie vorherrschen? Sollte es von Bedeutung sein, dass stark religiöse Menschen religiös ähnlich ausgerichtete Therapeuten bevorzugen (Worthington et al. 1996)? Albert Ellis, ein bekannter Therapeut, und Allen Bergin, Mitherausgeber des Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, zeigen anschaulich, wie stark sich Wertvorstellungen unterscheiden können. Ellis nimmt an, dass »niemand und nichts ein höheres Wesen ist«, das »Selbstbekräftigung« gefördert werden sollte und dass »bedingungslose Liebe, Bindung, Hilfe und Treue gegenüber jeder Form von Bindung, vor allem gegenüber der Ehe, schädliche Folgen nach sich zieht«. Bergin (1980) nimmt das Gegenteil an: dass, »weil Gott das höchste Wesen ist, Demut und Hinnahme der göttlichen Autorität, Tugenden sind«, dass »Selbstkontrolle und Liebe mit Bindung sowie Selbstaufopferung gefördert werden sollten« und dass »Untreue gegenüber irgendeiner Form interpersonaler Bindung, vor allem der Ehe, schädliche Folgen hat«. Bergin und Ellis unterscheiden sich in ihrer Meinung darüber, welche Wertvorstellungen am ehesten der Gesundheit förderlich sind, grundlegender als die meisten Therapeuten. Damit zeigen sie jedoch auch, worin sie übereinstimmen: dass die persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen einen Einfluss auf ihre Praxis haben. Weil sie wissen, dass die Klienten dazu neigen, die Wertvorstellungen ihrer Therapeuten zu übernehmen (Worthington et al. 1996), stimmen Bergin und Ellis darin überein, dass Therapeuten ihre Wertvorstellungen in stärkerem Maße offenlegen sollten. (Denjenigen, die darüber nachdenken, einen Therapeuten um Hilfe zu bitten, bietet 7 Unter der Lupe: »Therapieführer für Klienten« einige Tipps dazu, wann man um Hilfe bitten und wie man sich auf die Suche nach einem Therapeuten machen kann, der ähnliche Wertvorstellungen wie man selbst hat.) Unterschiedliche Wertvorstellungen werden beispielsweise da deutlich, wo ein Therapeut aus einer Kultur mit einem Klienten aus einer anderen Kultur arbeitet, z. B. bei der Therapie mit Migranten. Nordamerikanische, europäische und australische Therapeuten vertreten beispielsweise den für ihre Kultur typischen Individualismus, der persönlichen Bestrebungen und der eigenen Identität Vorrang einräumt). Schwierig kann das v. a. für Klienten, die aus einem asiatischen Land eingewandert sind, sein. Dort wird von den Menschen erwartet, dass sie die Erwartungen anderer stärker respektieren. Sie können dann leicht Schwierigkeiten haben, wenn ihr Therapeut von ihnen erwartet, sie sollten zuerst an ihr eigenes Wohlbefinden denken. Diese Unterschiede mögen auch eine Erklärung dafür sein, warum Angehörige mancher Minderheiten die staatlichen Gesundheitsdienste nur sehr zögerlich in Anspruch nehmen (Sue 1990). In einem Experiment nahmen asiatisch-amerikanische Klienten, die Berater mit den gleichen kulturellen Wertvorstellungen zugewiesen bekamen (und nicht solche, bei denen das nicht der Fall war), beim Berater eine stärkere Empathie wahr und empfanden einen stärkeres Bündnis mit ihm (Kim et al. 2005). Dass Therapeut und Klient nicht die gleiche Sprache sprechen, nicht den gleichen Kommunikationsstil und unterschiedliche Wertvorstellungen haben, wurde als Problem erkannt und hat dazu geführt, dass viele Ausbildungsinstitute heute auch Kurse anbieten, in denen die künftigen Therapeuten für kulturelle Unterschiede sensibilisiert werden. Eine weitere Maßnahme besteht darin, Angehörige unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen für ein Psychologiestudium zu interessieren.
825 18.2 · Therapieevaluation
Unter der Lupe
Therapieführer für Klienten Für jeden von uns ist das Leben ein bunter Mix aus Heiterkeit und Ärger, Segen undTrauer, guter und schlechter Laune.Wann sollte also jemand die Dienste eines Fachmanns oder einer Fachfrau für psychische Probleme in Anspruch nehmen? Wenn belastende Gedanken und Gefühle Ihren Alltag beeinträchtigen, könnten Sie vielleicht in Erwägung ziehen, mit jemandem zu sprechen, der dafür ausgebildet ist. Die American Psychological Association nennt folgende Kennzeichen für innere Probleme: 4 Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit; 4 tiefe Depression, die nicht vorübergeht; 4 selbstzerstörerisches Verhalten (z. B. Alkohol- und Drogenabhängigkeit); 4 beklemmende Angstgefühle; 4 plötzliche Stimmungswechsel; 4 Selbstmordgedanken; 4 Zwangsrituale (z. B. Hände waschen); 4 sexuelle Probleme.
Wenn Sie einen Therapeuten suchen, kann es sinnvoll sein, bei zwei oder drei Therapeuten eine Probesitzung zu vereinbaren, in der Sie Ihr Problem schildern und die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Therapeuten kennen lernen können. In Deutschland sind sogar oftmals die ersten 5 Sitzungen »probatorische Sitzungen«, d. h. sie sind, falls die Therapie von einer Krankenkasse übernommen wird und der Therapeut auch über eine Kassenzulassung verfügt, für den Patienten in der Regel kostenlos. Sie können den Therapeuten nach seinen Wertvorstellungen, seiner Ausbildung (. Tabelle 18.2) und nach dem Honorar fragen. Und weil Sie wissen, wie wichtig die enge emotionale Beziehung zwischen Therapeut und Klient ist, können Sie feststellen, was Ihr Gefühl zu jedem dieserTherapeuten meint. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) unterhält in Deutschland zudem den Psychotherapie-Informationsdienst PID, der kostenlos bei der Wahl der geeigneten Therapeutin oder des geeigneten Therapeuten berät.
. Tabelle 18.2. Berufsgruppen in Therapie und Beratung
Art der Ausbildung
Beschreibung
Klinischer Psychologe/Klinische Psychologin
Diplom-Psychologe mit Schwerpunkt auf Ätiologie, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen; der Titel »Diplom-Psychologe« ist gesetzlich geschützt, er wird durch ein abgeschlossenes Psychologie-Studium erlangt.
Psychiater/Psychiaterin
Mediziner mit Facharztweiterbildung »Psychiatrie und Psychotherapie«; erst eine psychotherapeutische Zusatzausbildung berechtigt einen Psychiater, auch Psychotherapie auszuüben und neben der Facharztbezeichnung Psychiater die Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« oder »Psychoanalyse« zu führen. Psychiater können Medikamente verschreiben. Deshalb werden sie meist von Patienten mit schweren Störungen aufgesucht
Psychotherapeut/Psychotherapeutin
4 Diplom-Psychologe mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung (»Psychologischer Psychotherapeut«); Psychologen dürfen keine Medikamente verschreiben; 4 Mediziner (Psychiater oder andere Fachärzte) mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung (»Ärztlicher Psychotherapeut«)
Berater/Beraterin
Der Begriff des Beraters ist nicht geschützt (nur der des systemischen Beraters). Berater kommen häufig aus anderen sozialen Berufen als der Psychologie, z. B. der Sozialarbeit oder Sozialpädagogik, oder sie sind Laienhelfer ohne professionelle Ausbildung. Angeboten werden u. a. Ehe- und Familienberatung, spezialisiert auf Familienprobleme; kirchliche Berater bieten Beratung in allen Lebenslagen; Drogenberater arbeiten mit Substanzabhängigen
Lernziele Abschnitt 18.2 Therapieevaluation Ziel 11: Erklären Sie, warum Klienten dazu neigen, die Wirksamkeit der Psychotherapie zu überschätzen. Klienten schätzen die Psychotherapie aus 3 Gründen als wirksam ein: Sie kommen gewöhnlich während einer Krise in die Therapie, sie müssen der Überzeugung sein, dass der Zeitaufwand und die Kosten gerechtfertigt waren, und sie versuchen etwas Positives zu finden, wenn man sie bittet, ihren Therapeuten zu bewerten. In der Forschung wurden die Einschätzungen des Therapieerfolgs durch die Klienten nicht unbedingt bestätigt.
Ziel 12: Geben Sie einige Gründe dafür an, dass Kliniker dazu neigen, die Wirksamkeit der Psychotherapie zu überschätzen, und beschreiben Sie 2 Phänomene, die einen Beitrag zu den Fehlwahrnehmungen der Klienten und Therapeuten auf diesem Gebiet leisten. Klienten kommen in die Therapie, wenn sie unglücklich sind, beenden sie, wenn sie weniger unglücklich sind, und bleiben nur in Kontakt mit dem Therapeuten, wenn sie mit der Behandlung zufrieden sind. Deshalb kennen Kliniker meist die Fehler anderer Therapeuten, jedoch nicht ihre eigenen. Sowohl der Placeboeffekt (die Überzeugung, dass eine Behandlung wirksam sein wird) als auch die Regression zur Mitte (die Tendenz extremer oder ungewöhnlicher Werte auf den Mittelwert zurückzufal6
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
len) tragen etwas zu den Fehlwahrnehmungen der Klienten und Kliniker in Bezug auf die Wirksamkeit der Therapie bei. Ziel 13: Beschreiben Sie die Bedeutung der Studien zur Wirkungsforschung, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von Psychotherapien zu beurteilen, und erörtern Sie einige der damit zusammenhängenden Befunde. Bei Wirksamkeitsstudien handelt es sich um randomisierte klinische Versuche, bei denen Personen auf einer Warteliste entweder eine Therapie bekommen oder nicht. Die statistische Integration (Metaanalysen) Hunderter dieser Studien zeigt, dass 1. auch nicht behandelte Menschen eine Besserung ihres Zustands erleben, dass aber 2. die Wahrscheinlichkeit für eine Besserung bei behandelten Patienten höher ist, dass 3. Menschen, die eine psychologische Behandlung bekommen, später weniger Zeit und Geld für eine medizinische Behandlung aufwenden müssen, verglichen mit entsprechenden Personen auf der Warteliste. Ziel 14: Fassen Sie die Befunde zu der Frage zusammen, welche Psychotherapien für welche spezifischen Störungen am wirksamsten sind. Metaanalysen zeigen, dass es keine bestimmte Art von Therapie gibt, die insgesamt am wirksamsten ist; auch gibt es keinen Zusammenhang zwischen Wirksamkeit einerseits und Ausbildung des Therapeuten, seiner Erfahrung, seiner Supervision und der Anerkennung seiner Ausbildung andererseits. Einige Therapien sind besonders gut geeignet für bestimmte Störungen, wie etwa kognitive, interpersonale und Verhaltenstherapie für eine Depression, kognitive Therapie, Expositions- und Stressimpfungstherapie für Angst, kognitive Verhaltenstherapie für Bulimie, Verhaltensmodifikation für Bettnässen und Therapien der Verhaltenskonditionierung für Phobien, Zwangsstörungen und sexuelle Störungen. Je spezifischer die Probleme, desto größer sind die Chancen für eine wirksame Behandlung. Es wird weiter diskutiert über das Ausmaß, in dem die klinische Praxis auf wissenschaftlichen Befunden oder auf intuitiven Reaktionen beruhen sollte. Ziel 15: Beurteilen Sie die Wirksamkeit von EMDR und Lichtexpositionstherapie. Bei der EMDR-Therapie versucht der Therapeut, zuvor eingefrorene traumatische Erinnerungen aufzulösen und neu zu verarbeiten, indem er
18.3
einen Finger vor den Augen einer Person, die sich traumatische Szenen vorstellt, hin und her bewegt. Die EMDR scheint tatsächlich bei vielen wirksam zu sein, man kann sich jedoch die Erfolge dieser Therapie nicht recht erklären. Möglicherweise sind hier andere Variablen am Werk (Fingerklopfen oder ein fixierter Blick erwiesen sich als ebenso wirksam). Bei Menschen, die eine affektive Störung mit saisonalem Muster haben, eine Form der Depression, die mit Zeiten schwächerer Sonneneinstrahlung in Verbindung gebracht wird, hat sich in wissenschaftlichen Untersuchungen die Lichtexpositionstherapie (Lichtexposition zu bestimmten Zeiten am Tag, bei der das Tageslicht im Freien nachgebildet wird) als wirksam erwiesen. Ziel 16: Beschreiben Sie drei Vorteile, die man allen Psychotherapien zuschreibt. Alle Formen der Psychotherapie bieten offenbar neue Hoffung für hoffnungslose Menschen, eine unverbrauchte Perspektive und eine von Empathie, Vertrauen und Fürsorge geprägte Beziehung. Das therapeutische Bündnis – ein emotionales Band zwischen Therapeut und Klient – ist eine wichtige Komponente einer wirksamen Therapie und kann zur Erklärung dessen beitragen, dass einige Laienhelfer möglicherweise ebenso hilfreich sind wie professionelle Psychotherapeuten. Ziel 17: Erörtern Sie die Rolle der Wertvorstellungen und der kulturellen Unterschiede im therapeutischen Prozess. Psychotherapeuten unterscheiden sich in Bezug auf persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen und kulturellen Hintergrund voneinander und auch von ihren Klienten. Derartige Unterschiede können einen Einfluss haben auf die Ausbildung der Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Menschen, die auf der Suche nach einem Therapeuten sind, sollten zuvor Beratungsgespräche mit 2 oder 3 Therapeuten führen, um Informationen über die Wertvorstellungen, die Ausbildung und das Honorar zu bekommen und jemanden zu finden, bei dem sie sich wohlfühlen. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Zeit erinnern, in der sich Ihre positiven Erwartungen an eine Besserung Ihres Zustands möglicherweise von selbst erfüllt haben?
Biomedizinische Therapien
Psychotherapie ist die eine Möglichkeit zur Behandlung psychischer Störungen. Die andere Möglichkeit, die oft bei schweren Störungen zum Einsatz kommt, ist die biomedizinische Therapie: die physische Veränderung der Hirnfunktionen a) durch Eingriff in die Körperchemie mit Hilfe von Medikamenten, b) durch Überlastung der Verschaltungen im Gehirn mit Hilfe von Elektroschocks, c) durch die Verwendung magnetischer Impulse zur Stimulierung und Dämpfung der Hirnaktivität oder d) in früheren Zeiten durch Veränderung der Verschaltung im Gehirn mit Hilfe der Psychochirurgie.
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827 18.3 · Biomedizinische Therapien
18.3.1
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Medikamentöse Therapien
Ziel 18: Definieren Sie, was Psychopharmakologie ist, und erklären Sie, wie Doppelblindstudien den Forschern dabei helfen, die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen.
Die weltweit am häufigsten eingesetzten biomedizinischen Therapien sind die medikamentösen Therapien. Seit den 50er Jahren revolutionierten die Entdeckungen der Psychopharmakologie, die sich mit der Wirkung bestimmter Substanzen auf psychische Prozesse und auf das Verhalten beschäftigt, die Behandlung von Patienten mit schweren Störungen und befreite Hunderttausende aus der Enge psychiatrischer Anstalten. Dank der Therapie durch Psychopharmaka – und auch dank der Bemühungen, die Zahl der Zwangseinweisungen zu verringern und die Unterstützung der Kranken durch die Gemeindepsychiatrie zu sichern – ist die Zahl der Dauerpatienten öffentlicher psychiatrischer Kliniken in den USA verglichen mit der Zeit vor einem halben Jahrhundert auf ein Bruchteil zurückgegangen (. Abb. 18.6). Auch in Deutschland wurde seit Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Enthospitalisierung, d. h. die Entlassung möglichst vieler Langzeitpatienten angestrebt. Viele psychisch Kranke lebten bis dahin in psychiatrischen Landeskrankenhäusern, obwohl keine Notwendigkeit dazu bestand, und sind heute z. B. in betreuten Wohneinrichtungen untergebracht (Eikelmann u. Zacharias 2003). Beinahe jede neue Behandlungsmethode wird zunächst von einer Welle des Enthusiasmus willkommen geheißen, denn vielen Menschen geht es nach einer Behandlung offensichtlich besser. Doch dieser Enthusiasmus wird dann häufig gebremst, wenn die Forscher von den Genesungszahlen jene abziehen, die 1. durch die normale Erholung bei nicht behandelten Patienten und 2. durch die Erholung aufgrund von Placeboeffekten zustande kommen, die auf das Konto der Hoffnungen und Erwartungen von Patient und Therapeut gehen. Um also die tatsächliche Wirksamkeit eines neuen Medikaments zu evaluieren, setzen die Forscher die Doppelblindtechnik ein: Die eine Hälfte der Patienten erhält das Medikament, die andere ein gleich aussehendes Placebo. Weder der Patient noch das Krankenhauspersonal wissen, welcher Patient was bekommen hat. Die gute Nachricht lautet, dass mehrere Arten von Medikamenten ihre Wirksamkeit bei der Behandlung von psychischen Störungen in Doppelblindstudien unter Beweis gestellt haben.
Psychopharmakon (psychotropic drug): Medikament, das eine steuernde Wirkung auf die psychischen Abläufe im Menschen ausübt und in der Medizin zur Behandlung psychischer Störungen eingesetzt wird.
Antipsychotische Medikamente: Neuroleptika Ziel 19: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften antipsychotischer Medikamente, und erörtern Sie deren Einsatz bei der Behandlung der Schizophrenie.
Die Revolution der medikamentösen Behandlung psychischer Störungen begann mit der Zufallsentdeckung, dass manche Medikamente, die eigentlich für andere medizinische Zwecke gedacht waren, psychotische Patienten ruhig stellten. Diese Neuroleptika wie Haloperidol dämpften die . Abb. 18.6. Die psychiatrischen Krankenhäuser in den USA leeren sich Nach der landesweiten Einführung von Neuroleptika, die etwa 1955 einsetzte, nahm die Zahl der Patienten in den psychiatrischen Landesund Kreiskrankenhäusern rapide ab. Doch als man die gestörten Patienten eilends entließ, wurde übersehen, dass viele von ihnen schlecht dafür gerüstet waren, sich um die eigene Person zu kümmern. Sie hatten keinen Wohnsitz und lebten auf der Straße. (National Institute of Mental Health; Bureau of the Census 2004)
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Dystones Syndrom (auch Dyskinesia tarda, engl. tardive dyskinesia): unwillkürliche Bewegungen der Gesichtsmuskeln, der Zunge und der Gliedmaßen; eine möglicherweise für das Nervengewebe schädliche Nebenwirkung eines langfristigen Einsatzes von Neuroleptika, die auf die D2-Dopaminrezeptoren gerichtet sind.
Vielleicht können Sie erraten, welchen Nebeneffekt L-Dopa, ein Medikament, das den Dopaminspiegel bei Parkinson-Patienten erhöht, gelegentlich hat: Halluzinationen.
Reaktionsbereitschaft auf irrelevante Reize und waren deshalb besonders gut geeignet für Schizophreniepatienten mit positiven Symptomen wie auditorische Halluzinationen (Stimmen hören) und Paranoia (Lehman et al. 1998; Lenzenweger et al. 1989). Patienten mit negativer Symptomatik wie Apathie und Rückzugsverhalten sprechen oft nicht gut auf diese Neuroleptika an. Neuere Medikamente sind die sog. atypischen Neuroleptika, die als atypisch bezeichnet werden, weil sie nicht mit den typischen Nebenwirkungen von klassischen Neuroleptika verbunden sind. Das atypische Neuroleptikum Clozapin bewirkt manchmal, dass Patienten mit negativen Symptomen »aufwachen«. Manchmal hilft es auch bei Patienten mit positiven Symptomen, die auf andere Medikamente nicht ansprechen. Diejenigen, die Clozapin einnehmen, müssen regelmäßig ihr Blut untersuchen lassen; denn in 1% der Fälle wirkt es sich schädlich auf die weißen Blutkörperchen aus. Die Moleküle der Neuroleptika sind denen des Neurotransmitters Dopamin gerade so ähnlich, dass sie an dessen Rezeptoren andocken und seine Aktivität hemmen können (Pickar et al. 1984; Taubes 1994). (Clozapin wirkt auch blockierend auf die Serotoninaktivität.) Der Befund, dass die meisten Neuroleptika die Dopaminrezeptoren blockieren, stützt die Auffassung, dass ein überaktives dopaminerges System zur Schizophrenie beiträgt. Neuroleptika sind starke Medikamente. Die erste Generation der das Dopamin blockierenden Medikamente (wie Haloperidol oder Perazin), die auf die D2-Dopaminrezeptoren gerichtet sind, können zu Trägheit, Tremor (Muskelzittern) und Zuckungen führen, also ähnliche Symptome hervorrufen wie die Parkinson-Krankheit, deren charakteristisches Kennzeichen ein Dopaminmangel ist (Kaplan u. Saddock 1989). Der langfristige Einsatz dieser Medikamente kann ein dystones Syndrom hervorrufen, eine für das Nervengewebe schädliche Wirkung mit unwillkürlichen Bewegungen der Gesichtsmuskeln (z. B. Grimassieren), der Zunge und der Gliedmaßen. Im Gegensatz dazu hat die neue Generation der Neuroleptika (z. B. Clozapin, Risperdal und Zyprexa), die auf die D1-Dopaminrezeptoren gerichtet sind, keine solchen Nebenwirkungen. Diese neuen Medikamente scheinen jedoch kaum wirksamer zu sein und das Risiko von Adipositas und Diabetes zu vergrößern (Leberman et al. 2005). Eine weitere Komplikation bei beiden Generationen dieser Medikamente ist die Dosierung: Was für den einen Patienten die richtige Dosis ist, mag für einen anderen eine Überdosis oder eine Unterdosis sein. Nur wenn die Dosierung sorgfältig überwacht und die Wirkung beobachtet wird, können Patient und Psychiater gemeinsam die hauchdünne Grenze zwischen Linderung der Symptome und höchst unangenehmen Nebenwirkungen festlegen. Doch Hunderttausende von Patienten mit Schizophrenie können, sobald sie »gut eingestellt« sind, an einem Kompetenztraining teilnehmen, Schutz und Halt in ihrer Familie finden, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und ein fast normales Leben führen. Sie müssen nicht mehr in den hintersten Winkeln der psychiatrischen Krankenhäuser »verwahrt« werden, und die Rückfallraten wurden geringer (Leucht et al. 2003).
Medikamente gegen Angst: Anxiolytika Ziel 20: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften der Medikamente gegen Angst.
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Die Wirkstoffe der Anxiolytika, beispielsweise Alprazolam oder Lorazepam, haben einen ähnlichen Effekt wie Alkohol: Sie verringern die Aktivität des Zentralnervensystems (und sollten deshalb nie in Verbindung mit Alkohol genommen werden). Kombiniert mit einer psychologischen Therapie kann ein Anxiolytikum einem Patienten dabei helfen, mit Furcht erregenden Situationen und Angst auslösenden Reizen besser umzugehen. Der Vorwurf, den die Kritiker den Verhaltenstherapeuten manchmal machen – nämlich dass die Symptome verringert würden, ohne die auslösenden Probleme aufzudecken –, wird auch gegen die Behandlung mit Anxiolytika vorgebracht. Im Gegensatz zu einer verhaltenstherapeutischen Behandlung, die eines Tages abgeschlossen ist, sollte das Medikament ständig genommen werden. Doch beim leisesten Anzeichen von Spannung einfach »ein Valium einzuwerfen«, kann zu einer psychischen Abhängigkeit führen; das sofortige Nachlassen der Spannung wirkt als Verstärker für die Neigung des Patienten, ein Medikament zu nehmen, sobald er Angst verspürt. Medikamente gegen Angst können auch zu einer physiologischen Abhängigkeit führen. Wer häufig Zuflucht zu ihnen nimmt und dann damit aufhört, kann unter Entzugssymptomen wie stärkeren Angstgefühlen und Schlaflosigkeit leiden.
829 18.3 · Biomedizinische Therapien
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In den letzten 12 Jahren hat sich der Anteil der Patienten mit Angststörungen, die außerhalb einer Klinik behandelt wurden, nahezu verdoppelt. Der Anteil der Patienten, die während dieser Zeit ein Medikament erhielten, nahm von 52% auf 70% zu (Olfson et al. 2004). Und was sind die neuen Standardmedikamente gegen Angststörungen? Antidepressiva.
Medikamente gegen Depression: Antidepressiva Ziel 21: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften der Antidepressiva, und erörtern Sie ihren Einsatz bei der Behandlung spezifischer Störungen.
So wie die Medikamente gegen Angst einen Patienten, der in einem Angstzustand ist, beruhigen und seine Angstgefühle mildern können, können Antidepressiva den Patienten aus seiner Depression herausreißen. (Die Bezeichnung ist etwas irreführend, da diese Medikamente heute auch mit zunehmendem Erfolg dazu verwendet werden, Angststörungen wie etwa die Zwangsstörung zu behandeln.) Diese Klasse von Medikamenten wirkt dadurch, dass sie die Verfügbarkeit von Noradrenalin bzw. Serotonin verbessert; das sind Neurotransmitter, die die Erregung stärker werden lassen, die Stimmung aufhellen und während einer Depression anscheinend knapp sind. Nehmen wir beispielsweise den Serotoninwiederaufnahme-Hemmer Fluoxetin, den 38 Mio. Menschen auf der ganzen Welt unter dem Namen Prozac kennen, in Deutschland wird es u. a. als Fluctin vertrieben. Fluoxetin blockiert teilweise die Wiederaufnahme und Ausscheidung von Serotonin an den Synapsen (. Abb. 18.7). Weil Medikamente wie Fluctin oder Prozac (oder verwandte Wirkstoffe wie Paroxetin und Sertralin) die synaptische Aktivität beim Abbau von Serotonin verlangsamen, werden sie unter der Bezeichnung selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (»selective-serotonin-reuptake-inhibitor drugs«; SSRI) bezeichnet. Andere doppelt wirkende Antidepressiva blockieren die Wiederaufnahme oder Aufspaltung der beiden Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin. Obwohl die doppelt wirkenden Antidepressiva nicht weniger wirksam sind, haben sie mehr potenzielle Nebenwirkungen (trockener Mund, Gewichtszunahme, Bluthochdruck oder Schwindelanfall [Anderson 2000; Mulrow 1999]). Werden diese Medikamente mit Hilfe eines Pflasters verabreicht – und dadurch der Verdauungstrakt und die Leber umgangen –, können diese Nebenwirkungen weniger stark sein (Bodkin u. Amsterdam 2002). Der größere Bekanntheitsgrad der SSRI mag eine Erklärung dafür sein, warum im Jahr 2001 89% der Patienten mit der Diagnose Depression von ihrem Arzt medikamentös behandelt wurden,
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b
c
Eine Nebenwirkung von SSRI-Medikamenten kann ein abnehmender Sexualtrieb sein; dies hat dazu geführt, dass sie gelegentlich verschrieben werden, um das Sexualverhalten zu steuern (Slater 2000).
9 % der Studierenden amerikanischer Universitäten, die 1994 die dortigen Beratungsstellen aufsuchten, nahmen Psychopharmaka. Diese Zahl hatte sich 2004 nahezu verdreifacht: 24,5% (Duenwald 2004)
. Abb. 18.7a–c. Biologie der Antidepressiva Die Abbildung zeigt die Wirkung von Fluoxetin, das die Wiederaufnahme von Serotonin teilweise blockiert
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
während es 1987, ein Jahr vor der Einführung der SSRI, nur 70% waren (Olfson et al. 2003; Stafford et al. 2000). Nimmt man die steigende Zahl von Menschen dazu, die unter Depressionen leiden und um ärztliche Hilfe bitten, dann erklärt dies die Verdreifachung der Verschreibungen von Antidepressiva in den USA seit 1992 (Goode 2002). Besonders verbreitet sind diese Medikamente in Nordamerika, auf dessen Konto 75% der weltweit für den Verkauf von Antidepressiva aufgewendeten 19,5 Mrd. Dollar gehen (Sherman 2004). Auch in Deutschland hat sich seit 1992 die Anzahl der verordneten Tagesdosen bis 2001 fast verdoppelt (Lohse et al. 2003; . Abb. 18.8). Aber Vorsicht: Patienten, die mit der Einnahme von Antidepressiva anfangen, werden nicht gleich am nächsten Tag aufwachen und »Oh, what a beautiful morning!« singen. Zwar dauert es nur wenige Stunden, bis die Antidepressiva auf die Neurotransmitter wirken, aber die volle psychische Wirkung entfaltet sich erst nach 4 Wochen. Ein Grund für diese verzögerte Wirkung könnte darin liegen, dass ein erhöhter Serotoninspiegel anscheinend die Neurogenese, die Bildung neuer Hirnzellen, anregt und dadurch vielleicht eine Umkehrung des durch Stress verursachten Zellverlusts bewirkt (Jacobs 2004; Santarelli et al. 2003). Antidepressiva sind aber nicht die einzige Möglichkeit, den Patienten wieder »in Schwung« zu bringen: Ein aerobes Training trägt dazu bei, dass sich Menschen, die sich ängstlich fühlen, beruhigen und diejenigen, die sich deprimiert fühlen, neue Energie tanken. Deshalb tut dieses Training manchen Personen mit einer leichten bis mittelschweren Depression fast ebenso gut und hat zusätzliche positive Nebenwirkungen (7 Kap. 16). Eine kognitive Therapie, die dem Patienten hilft, die nun schon zur Gewohnheit gewordene negative Denkweise zu überwinden, kann die durch das Medikament hervorgerufene Milderung der Depression verstärken und die Gefahr eines Rückfalls verringern, wenn das Medikament abgesetzt wird (Hollon et al. 2002; Keller et al. 2000). Noch besser ist es, wie einige Studien empfehlen, die Depression von oben und von unten anzugehen (Goldapple et al. 2004; TADS 2004) und Antidepressiva (die sozusagen von unten auf das an der Bildung von Emotionen beteiligte limbische System wirken) in Verbindung mit einer kognitiven Verhaltenstherapie (die quasi von oben wirkt und mit einer veränderten Aktivität der Frontallappen beginnt) einzusetzen. Niemand widerspricht der Aussage, dass es einem depressiven Patienten nach einem Monat Einnahme von Antidepressiva häufig besser geht. Doch wenn wir die natürliche Erholung (die Regression auf den Normalzustand, auch als Spontanremission bezeichnet) und den Placeboeffekt berücksichtigen, wie stark ist dann die Wirkung des Medikaments? Nicht überwältigend, berichten Kirsch et al. (1998, 2002) aufgrund ihrer Auswertung klinischer Doppelblindstudien: Das Placebo führte zu Verbesserungen des Krankheitsbildes, die sich mit einer 75%igen Wirkung des Medikaments vergleichen lassen. Ein anderes Forscherteam analysierte die Daten aus 45 Studien. Mit Antidepressiva zeigten 41% der Teilnehmer eine Besserung; mit Placebos wa. Abb. 18.8. Modifikation der Stimmung Im Gegensatz zu den Neuroleptika hat sich die verordnete Tagesdosis bei den Antidepressiva seit 1992 fast verdoppelt. (Nach Lohse et al. 2003)
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ren es 31% (Khan et al. 2000). Außerdem, so berichtet Kirsch, geht ein Teil des Unterschieds von 25% zwischen Besserung durch Medikament und Besserung durch Placebo auf das Konto der Nebenwirkungen. Sie lassen bei den Patienten die Erwartung zunehmen, weil sie wissen, dass sie tatsächlich ein richtiges Medikament erhalten. Placebos, die die Nebenwirkungen von Antidepressiva imitieren, sind fast genau so wirksam wie die eigentliche Substanz (Fisher u. Greenberg 1997). Viele, die die heilende Wirkung von Antidepressiva miterlebt oder selbst erfahren haben, halten diesen Befund für fragwürdig. »Es würde schon an Wunder grenzen, wenn all die Menschen, bei denen ich sehen konnte, dass es ihnen besser ging, ihre Besserung nur einem Placebo verdanken sollten«, sagte Hyman (1999), Leiter des amerikanischen National Institute of Mental Health. So viel scheint jedoch sicher zu sein: Unsere Erwartungen und Hoffnungen entfalten eine starke Wirkung, nicht nur auf unsere Wahrnehmung und unsere Reaktionen auf Alkohol, Hypnose oder sexuelle Situationen (wie wir in früheren Kapiteln bereits gesehen haben). Sie wirken auch auf biologischer Ebene und beeinflussen unser Wohlbefinden (Kirsch u. Lynn 1999). Der psychische Zustand ist wichtig. Diejenigen, die skeptisch gegenüber der biomedizinischen Therapie sind, überrascht das nicht. Gestern, schreibt Valenstein (1998), gaben wir Müttern die Schuld und versuchten die inneren Wunden ihrer Kinder zu heilen. Heute schieben wir, und das ist eigentlich nicht viel vernünftiger, der Gehirnchemie und den Verschaltungen im Gehirn die Schuld zu und pumpen »Moleküle in die Seele«. Doch er gesteht ein, dass unser Wissen über die biochemischen Ursprünge von Störung und Genesung nur elementar ist. Psychotherapeutische Medikamente sind keine »›klugen Waffen‹, die den speziellen biochemischen Fehler, der für die jeweilige psychische Krankheit verantwortlich ist, korrigieren können«, und das noch ohne Nebenwirkungen. Dafür sind die Chemie, die Verschaltungen im Gehirn und die Lebenserfahrungen zu komplex. Obwohl die Wirkungen der medikamentösen Therapie weniger aufregend sind, als es manche Werbung im Fernsehen suggeriert, sind sie auch weniger beängstigend als die, vor denen andere eher journalistische Berichte gewarnt haben. Beispielsweise haben einige Menschen, die Fluctin einnahmen, Selbstmord begangen; doch ihre Anzahl scheint geringer zu sein, als wir aufgrund der Millionen von Menschen mit einer Depression, die heute das Medikament nehmen, erwarten würden. Personen, die Fluctin nehmen, sind mit den Benutzern von Handys vergleichbar, die einen Gehirntumor bekommen. Wenn man einmal die Millionen von Menschen berücksichtigt, die Fluctin einnehmen, oder die, die Handys benutzen, kommen wir mit Alarmmeldungen über Einzelfälle nicht weiter. Die Frage, die kritische Denker beantwortet haben möchten, ist die folgende: Begeht diese Gruppe eher Selbstmord bzw. leidet sie eher unter einem Hirntumor? Die Antwort scheint in beiden Fällen nein zu lauten (Paulos 1995; Tollefson et al. 1993, 1994). Die Frage nach dem erhöhten Selbstmordrisiko tauchte zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auf, als Studien darauf hindeuteten, dass Kinder und Erwachsene zeitweilig kurz nach Beginn der medikamentösen Therapie ein erhöhtes Selbstmordrisiko aufwiesen (Wessely u. Kerwin 2004; Whittington et al. 2004). Eine Erklärung besagt, dass die Medikamente zunächst nur die Lethargie verringern, bevor sie die Gefühle aufhellen; dadurch mobilisieren sie in zuvor inaktiven Menschen ausreichend Energie, aus ihrer noch bestehenden Depression heraus zu handeln. In Großbritannien, wo die Verschreibung von Antidepressiva für Kinder von 1992 bis 2001 um 70% zugenommen hatte, warnte das Gesundheitsministerium davor, Kinder bei einer leichten Depression mit Antidepressiva zu behandeln (Alvarez 2004). In den USA sorgte die Food and Drug Administration dafür, dass auf den Packungen ein Warnhinweis stand: dass die Medikamente bei Kindern und Jugendlichen zu suizidalem Verhalten führen können. Doch andere kürzlich durchgeführte Studien deuten darauf hin, dass die langfristige Zunahme des Einsatzes von Antidepressiva mit einer Abnahme der Selbstmordrate bei Jugendlichen korreliert (Grunebaum et al. 2004; Olfson et al. 2003). In den Postleitzahlgebieten der USA, in denen der Einsatz von Antidepressiva während der 1990er Jahre zugenommen hat, nahm die Anzahl der Selbstmorde unter Teenagern mit der größten Wahrscheinlichkeit ab. Derartige Studien deuten darauf hin, dass Antidepressiva vielleicht kurzfristig das Selbstmordrisiko zunehmen lassen, es jedoch langfristig verringern.
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Stimmungsstabilisierende Medikamente
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Ziel 22: Beschreiben Sie den Einsatz und die Wirkungen stimmungsstabilisierender Medikamente.
»Zunächst einmal glaube ich, Sie sollten wissen, dass die Absatzzahlen im letzten Quartal die Wirkung meiner stimmungsstabilisierenden Medikamente beeinträchtigen.«
Zusätzlich zu den Neuroleptika, den Anxiolytika und den Antidepressiva haben die Psychiater stimmungsstabilisierende Medikamente in ihrem Arsenal. Das simple Salz Lithium, kann ein wirkungsvoller Stimmungsstabilisator für Patienten sein, die unter den manisch-depressiven Stimmungsumschwüngen der bipolaren Störung leiden. Der australische Arzt John Cade machte diese Entdeckung, als er etwa um 1940 einem Patienten mit einer schweren Manie Lithium verordnete. Zwar tat er das aus den falschen Gründen – er glaubte, er hätte leicht erregbare Meerschweinchen mit Lithium ruhig gestellt, dabei hatte er sie krank gemacht. Doch stellte er nach nicht einmal einer Woche fest, dass der Zustand seines Patienten wieder sehr gut war (Snyder 1986). Wird Lithium kontinuierlich eingenommen, stabilisieren sich die emotionalen Höhen- und Tiefflüge der bipolaren Störung auf Normalniveau. Nachdem sie jahrelang unter den Stimmungsumschwüngen der bipolaren Störung gelitten haben, profitieren 7 von 10 Patienten von dieser Langzeittherapie, bei der täglich eine bestimmte Dosis des billigen Salzes eingenommen wird (Solomon et al. 1995). Ihr Selbstmordrisiko beträgt nur noch ein Sechstel des Risikos von Patienten mit bipolarer Störung, die kein Lithium einnehmen (Tondo et al. 1997). Dabei wissen wir noch gar nicht genau, warum Lithium überhaupt wirkt. Und so ist es auch bei Depakote, einem Medikament, das ursprünglich zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt wurde und bei dem man kürzlich herausfand, dass es bei der Kontrolle manischer Episoden wirkt, die im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung auftreten.
18.3.2
Stimulation des Gehirns: Elektrokrampftherapie und transkranielle Magnetstimulation
Elektrokrampftherapie Ziel 23: Beschreiben Sie den Einsatz der Elektrokrampftherapie bei der Behandlung einer schweren Depression, und erörtern Sie einige mögliche Alternativen dazu. Elektrokrampftherapie (electroconvulsive therapy): biomedizinische Therapie für schwer depressive Patienten; dabei wird ein kurzer Stromstoß durch das Gehirn des anästhesierten Patienten geschickt.
Die Verwendung von Elektrizität in der Medizin ist eine alte Praxis. Der römische Kaiser Claudius (10 v. Chr.–54 n. Chr.) wurde wegen seiner Kopfschmerzen von seinen Ärzten mit Zitteraalen, die an seine Schläfen gesetzt wurden, behandelt.
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Ein umstrittener Eingriff in das Gehirn ist die Schockbehandlung oder Elektrokrampftherapie. Bei ihrer ersten Anwendung im Jahr 1938 wurde der wache Patient auf einem Tisch festgeschnallt und erhielt Stromstöße mit etwa 100 Volt ins Gehirn, was schmerzhafte Zuckungen und eine kurze Bewusstlosigkeit hervorrief. Das verschaffte der Elektrokrampftherapie den Ruf einer barbarischen Behandlung, der immer noch nicht vergessen ist. Heute erhalten die Patienten allerdings zuerst ein Betäubungsmittel, so dass sie die Behandlung nicht bei vollem Bewusstsein erleben, außerdem ein Muskelrelaxans, das eventuelle Verletzungen durch die Zuckungen verhindert. Dann versetzt der Psychiater dem Gehirn des anästhesierten Patienten kurze elektrische Schocks. Der Patient erwacht nach einer halben Stunde und hat keine Erinnerung an die vorausgegangene Behandlung (. Abb. 18.9). Die Elektrokrampfbehandlung kommt normalerweise nur bei schweren Depressionen zum Einsatz; bei anderen psychischen Störungen scheint sie keine Wirkung zu haben. Nach 3 wöchentlichen Sitzungen und einer Gesamtbehandlungsdauer von 2–4 Wochen zeigt sich bei 80% der Patienten eine deutliche Besserung des Befindens. Zwar ist ein gewisser Gedächtnisverlust für den Zeitraum der Behandlung festzustellen, aber keine merkliche Hirnschädigung (Bergsholm et al. 1989; Coffey 1993). »Innerhalb von 2 Wochen ist ein Wunder geschehen«, schreibt Endler (1982), nachdem eine Elektrokrampftherapie seine schwere Depression gelindert hatte. Eine Studie nach der anderen bestätigt, dass die Elektrokrampftherapie bei schweren Depressionen eine wirksame Behandlungsmethode und für Patienten geeignet ist, die auf eine medikamentöse Therapie nicht ansprechen (Consensus Conference 1985; UK ECT Review Group 2003). Bis 2001 war das Vertrauen in diese Methode noch weiter gestiegen und zwar dank eines Leitartikels im JAMA (»Journal of the American Medical Association«), dessen Schlussfolgerung lautete, dass »die Ergebnisse der Elektrokrampftherapie bei der Behandlung schwerer
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18 Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Volker Backes, Rheinische Kliniken Düsseldorf.
18.3 · Biomedizinische Therapien
b
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. Abb. 18.9a, b. Elektrokrampftherapie Zwar ist die Elektrokrampftherapie (EKT) umstritten, doch ist sie immer noch die Methode der Wahl für Patienten mit Depression, die auf Medikamente nicht ansprechen
Depressionen zu den positivsten Behandlungseffekten der gesamten Medizin gehörten« (Glass 2001). Wie wirkt die Elektrokrampftherapie? Auch nach mehr als 50 Jahren weiß das niemand ganz genau. Die Elektrokrampftherapie wurde mit dem Pockenimpfstoff verglichen, der lebensrettend wirkte, ehe man wusste, warum. Vielleicht reagiert das Gehirn auf die schockinduzierten Anfälle mit einer Beruhigung der neuronalen Zentren, deren Überaktivität die Depression auslöst. Die Elektrokrampftherapie verringert das Auftreten von Gedanken an Selbstmord und verdankt ihren guten Ruf unter Fachleuten der Rettung vieler suizidaler Patienten mit Depression (Kellner et al. 2005). Heute wird sie mit kürzeren Stromstößen verabreicht, wodurch das Gedächtnis weniger beeinträchtigt wird (Fink 1998; Kho et al. 2003). Doch in der Öffentlichkeit hängt der Methode immer noch ein Image an, das eher an Frankenstein erinnert. Ganz gleich, wie beeindruckend die Ergebnisse sind: Der Gedanke, Krämpfe durch elektrische Schocks bei einem Menschen auszulösen, kommt vielen barbarisch vor, vor allem da ja niemand weiß, warum diese Therapie überhaupt wirkt. Hinzu kommt, dass Patienten, die mit der Elektrokrampftherapie behandelt wurden, rückfallgefährdet sind, genau wie jeder andere Patient mit einer lang anhaltenden Depression. Trotzdem ist die Elektrokrampftherapie in den Augen vieler Psychiater und Patienten ein kleineres Übel als eine schwere Depression mit ihrem Elend, ihren Qualen und der ständigen Suizidgefahr.
Alternativen zur Elektrokrampftherapie: Transkranielle Magnetstimulation Heute setzt man große Hoffnungen auf sanftere Alternativen, die das depressive Gehirn in Schwung bringen könnten. Manche chronisch depressiven Patienten empfinden eine gewisse Erleichterung durch ein Implantat in der Brust, das intermittierende Impulse zur Stimulierung des Vagusnervs abgibt, der wiederum Signale an das stimmungssteuernde limbische System aussendet (Marangell et al. 2000; Rush et al. 2005). In einer weiteren Studie an 6 Patienten, die noch nicht einmal auf Elektrokrampftherapie ansprachen, ging die Depression nach einer Stimulierung durch Elektroden, die tief in ihr Gehirn verpflanzt wurden, »einschneidend und dauerhaft« zurück (Mayberg et al. 2005). Die Stimulierung diente dazu, die Aktivität in einer Region zu verringern, die bei einer Depression hyperaktiv ist; und die Patienten erlebten sofort solche Eindrücke wie das »Verschwinden der Leere« und ein Gefühl der »Verbundenheit«. Dieser Befund wird sicherlich zu weiteren
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
. Abb. 18.10. Magneten für die Seele Bei der wiederholten transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) wird ein schmerzfreies Magnetfeld auf die Oberfläche des Kortex ausgestrahlt; dort können die Pulswellen dazu genutzt werden, die Aktivität in bestimmten Arealen zu stimulieren oder zu dämpfen. (Aus George 2003)
Wiederholte transkranielle Magnetstimulation (repetitive transcranial magnetic stimulation oder rTMS): sich wiederholende Einwirkung von Pulswellen magnetischer Energie auf das Gehirn; kommt zum Einsatz, um Gehirnaktivität zu stimulieren oder zu unterdrücken.
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Experimenten anregen, um die Möglichkeit eines Hirnschrittmachers zu überprüfen, der die Menschen vielleicht aus ihrer Depression herausholt. Eine depressive Stimmung wendet sich anscheinend auch zum Besseren, wenn wiederholte elektrische Impulse durch eine Magnetspule geschickt werden, die dem Patienten dicht an die Schädeldecke gehalten wird (. Abb. 18.10). Im Unterschied zur Stimulierung tiefer Schichten im Gehirn dringt die magnetische Energie nur bis zur Oberfläche des Gehirns vor (obwohl gerade Tests mit einem Feld höherer Energie durchgeführt werden, bei denen man in immer tiefere Bereiche vordringt). Diese schmerzlose Prozedur, die wiederholte transkranielle Magnetstimulation, wird am wachen Patienten vorgenommen, und zwar über einen Zeitraum von 2–4 Wochen in Sitzungen von 20–30 Minuten Dauer. Im Gegensatz zur Elektrokrampftherapie ruft die transkranielle Magnetstimulation keine Krämpfe, Gedächtnisverlust oder andere Nebenwirkungen hervor. In einem Doppelblindversuch wurden 67 Israelis mit Major Depression nach dem Zufallsprinzip auf 2 Gruppen aufgeteilt (Klein et al. 1999). Die eine Gruppe wurde 2 Wochen lang täglich stimuliert, während die andere Gruppe nur scheinbar behandelt wurde (keine Magnetstimulation). Nach Ablauf der 2 Wochen zeigte sich bei der Hälfte der stimulierten Gruppe eine Besserung von mindestens 50% – gemessen durch die Werte auf einer Depressionsskala. Bei der Placebogruppe jedoch zeigte nur ein Viertel der Teilnehmer eine Besserung. In neueren Untersuchungen wird der therapeutische Effekt bestätigt, der 2005 zu 2 großen klinischen Experimenten mit Einsatz von rTMS an verschiedenen Orten geführt hat (Cohen et al. 2004; Janicak 2005; Martin et al. 2003). Eine mögliche Erklärung für diesen Effekt besteht darin, dass die Stimulierung den linken Frontallappen anregt, der bei depressiven Patienten relativ inaktiv ist (Helmuth 2001). Wenn die Nervenzellen wiederholt stimuliert werden, können sie durch einen Prozess, der in 7 Kap. 9 als Lang-
835 18.3 · Biomedizinische Therapien
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zeitpotenzierung (LTP) beschrieben wurde, funktionierende Schaltkreise im Gehirn ausbilden. Binnen kurzem sollten schlüssige Daten aus den klinischen Experimenten zur Verfügung stehen, die darauf hindeuten, ob die Magnetstimulation tatsächlich bei Depressionen eine nützliche neue Form der Behandlung ist.
18.3.3
Psychochirurgie
Ziel 24: Fassen Sie die Geschichte der psychochirurgischen Verfahren zusammen, die als Lobotomie bekannt wurden, und erörtern Sie den Einsatz der Psychochirurgie heute.
Die Folgen eines psychochirurgischen Eingriffs – eines chirurgischen Eingriffs, bei dem Hirngewebe zerstört oder entfernt wird – sind irreversibel. Deshalb gilt die Psychochirurgie als die drastischste Intervention bei Verhaltensstörungen und wird nur noch in sehr seltenen Ausnahmefällen angewendet. Der portugiesische Arzt Egas Moniz entwickelte in den 30er Jahren die Lobotomie, den wohl bekanntesten psychochirurgischen Eingriff. Moniz fand Folgendes heraus: Wenn man die Nerven, die die Frontallappen mit den emotionssteuernden Zentren im Inneren des Gehirns verbinden, durchtrennt, werden unkontrollierbar emotionale und gewalttätige Patienten ruhiggestellt. Dazu versetzte ein »Neurochirurg« den Patienten mittels Schock in ein Koma. Dann schlug er ein Instrument, das einem kleinen Eispickel ähnelte, durch die Höhlen beider Augen ins Gehirn, er drehte und wendete es hin und her, um die Nervenverbindungen zu kappen, die zu den Frontallappen führten. Es war eine plumpe und barbarische Prozedur, doch sie war leicht durchzuführen, außerdem kostengünstig und dauerte nur etwa 10 Minuten. Zwischen 1940 und 1950 wurden Zehntausende schwer gestörter Menschen »lobotomisiert«, und Moniz wurde dafür sogar mit dem Nobelpreis ausgezeichnet (Valenstein 1986). Beabsichtigt war zwar einfach nur die chirurgische Trennung von Emotion und Gedanken, doch das Ergebnis war häufig viel drastischer. Die Lobotomie brachte gewöhnlich eine nur noch lethargische, unreife und impulsive Persönlichkeit hervor, deren Sozial- und Affektverhalten schwerwiegend beeinträchtigt war. Nachdem bis in die 50er Jahre allein in den USA rund 35.000 Menschen lobotomisiert worden waren, kamen die Beruhigungsmittel und Neuroleptika auf den Markt, und die Psychochirurgie wurde weitgehend aufgegeben. Heute gehört die Lobotomie zur Medizingeschichte, und andere psychochirurgische Eingriffe werden nur in extremen Fällen vorgenommen. Wenn etwa ein Patient unter unkontrollierbaren Krämpfen leidet, kann ein Chirurg das spezielle Bündel von Nervenfasern deaktivieren, das die Zuckungen verursacht oder weiterleitet. Die MRT-gestützte Präzisionschirurgie wird auch gelegentlich eingesetzt, um die Verschaltungen von Neuronen zu durchtrennen, die an schweren Zwangsstörungen beteiligt sind (Sachdev u. Sachdev 1997). Da diese Eingriffe jedoch irreversibel sind und teilweise mit schweren Nebenwirkungen einhergehen, nehmen Neurologen nur als letztes Mittel Zuflucht zu ihnen. Die Wirksamkeit der biomedizinischen Therapien erinnert uns an eine elementare Wahrheit: Wir sprechen zwar gern entweder von psychologischen oder von biologischen Einflüssen und trennen gedanklich und sprachlich die beiden Bereiche voneinander, aber alles, was psychologisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Jeder Gedanke, jedes Gefühl hängt von der Funktionsfähigkeit des Gehirns ab. Jede kreative Idee, jeder Augenblick der Freude oder des Ärgers und auch jede depressive Phase entsteht aus der elektrochemischen Aktivität des lebendigen Gehirns. Der Einfluss wirkt sich in beiden Richtungen aus: Wenn sich ein Zwang durch Psychotherapie unter Kontrolle bringen lässt, dann zeigen PET-Aufnahmen auch ein ruhigeres Gehirn (Schwartz et al. 1996).
Psychochirurgie (psychosurgery): chirurgischer Eingriff zur Entfernung oder Zerstörung von Hirngewebe mit dem Ziel, dadurch eine Verhaltensänderung zu bewirken. Lobotomie (lobotomy): heute nur noch sehr selten durchgeführter psychochirurgischer Eingriff; früher angewendet, um unkontrollierbar emotionale oder gewalttätige Patienten ruhigzustellen. Bei dem Eingriff wurden die Nervenverbindungen zwischen den Frontallappen und den emotionssteuernden Zentren im Inneren des Gehirns durchtrennt.
Wechselwirkung zwischen Körper und Seele Die biomedizinischen Therapien gehen von der Annahme aus, dass Körper und Seele eine Einheit bilden: Wenn man das eine beeinflusst, beeinflusst man auch das andere
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
Lernziele Abschnitt 18.3 Biomedizinische Therapien Ziel 18: Definieren Sie, was Psychopharmakologie ist, und erklären Sie, wie Doppelblindstudien den Forschern dabei helfen, die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Die Psychopharmakologie ist die Wissenschaft von den Wirkungen der Medikamente auf psychische Prozesse und das Verhalten. Seit den 1950er Jahren wurde die medikamentöse Therapie ausführlich dazu genutzt, psychische Störungen zu behandeln. Doppelblindstudien, bei denen weder der Mediziner noch der Patient weiß, ob der Patient ein echtes Medikament nimmt oder ein Placebo, vermeiden den systematischen Fehler, der bei Klinikern und Patienten aufgrund der Erwartungen in Bezug auf Besserung entstehen kann. Ziel 19: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften antipsychotischer Medikamente, und erörtern Sie deren Einsatz bei der Behandlung der Schizophrenie. Neuroleptika dämpfen die Reaktionsbereitschaft auf irrelevante Reize, und sie wurden zur wirkungsvollen Behandlung bei Schizophrenien eingesetzt, die mit positiven Symptomen einhergehen (das Vorhandensein von Halluzinationen und Wahnvorstellungen). Die Dosis ist von Person zu Person unterschiedlich. Die Neuroleptika der ersten Generation, die die D2-Dopaminrezeptoren blockieren, können ein dystones Syndrom hervorrufen (unwillkürliche Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, der Zunge sowie der Arme und Beine). Die Neuroleptika der zweiten Generation, die auf die D1-Dopaminrezeptoren gerichtet sind, können einen Einfluss auf den Stoffwechsel haben und so das Risiko für Adipositas und Diabetes vergrößern. Ziel 20: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften der Medikamente gegen Angst. Die Medikamente gegen Angst hemmen die Aktivität des Zentralnervensystems. Zur Behandlung von Angststörungen werden sie oft in Kombination mit Psychotherapie eingesetzt. Medikamente gegen Angst können psychisch und körperlich abhängig machen.
18
Ziel 21: Beschreiben Sie die charakteristischen Eigenschaften der Antidepressiva, und erörtern Sie ihren Einsatz bei der Behandlung spezifischer Störungen. Antidepressiva vergrößern die Verfügbarkeit von Noradrenalin und Serotonin, die die Erregung vergrößern und die Stimmung aufhellen. Antidepressiva wie Fluctin, die die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen, werden als selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (engl. selective-serotonin-reuptake-inhibitors oder SSRI) bezeichnet. Doppelt wirkende Antidepressiva hemmen die Wiederaufnahme oder Absorption sowohl von Noradrenalin als auch von Serotonin; doch bei ihnen besteht ein größeres Risiko von Nebenwirkungen. Antidepressiva werden bei der Behandlung von Depressionen (oft in Kombination mit kognitiver Therapie) und von Angststörungen eingesetzt. Antidepressiva haben fast sofort einen Einfluss auf die Neurotransmittersysteme, doch ihre vollständige psychische Wirkung entfaltet sich vielleicht erst Wochen danach. Die Suizidraten derjenigen, die diese Medikamente nehmen, sind eventuell überschätzt worden.
Ziel 22: Beschreiben Sie den Einsatz und die Wirkungen stimmungsstabilisierender Medikamente. Manche Substanzen wie beispielsweise Lithium bei bipolaren Störungen haben sich als sehr wirksam zur Stabilisierung von Stimmungen erwiesen. Die Forscher wissen noch nicht genau, wie diese Medikamente wirken. Ziel 23: Beschreiben Sie den Einsatz der Elektrokrampftherapie bei der Behandlung einer schweren Depression, und erörtern Sie einige mögliche Alternativen dazu. Die Elektrokrampftherapie ist eine biomedizinische Therapie, bei der elektrische Stromstöße kurz durch das Gehirn eines anästhesierten Patienten geschickt werden. Zwar ist das Verfahren nicht unumstritten, doch bleibt es das letzte Mittel für viele Patienten mit schweren Depressionen, die nicht auf eine Medikation ansprechen (es ist unwirksam bei der Behandlung anderer Störungen). Wie das Verfahren wirkt, ist unbekannt. Depressionen wurden auch durch implantierte Geräte abgemildert, die Teile des Gehirns oder den Vagusnerv stimulieren, der Signale ans limbische System aussendet. Nach ersten Berichten über eine erfolgreiche Behandlung werden gerade große klinische Testreihen durchgeführt, bei denen die wiederholte transkranielle Magnetstimulation (»repetitive transcranial magnetic stimulation oder rTMS) erforscht wird. Bei diesem schmerzfreien Verfahren stimulieren oder dämpfen Pulswellen magnetischer Energie, die durch die Schädeldecke auf die Oberfläche des Kortex ausgesandt werden, die Aktivität in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Ziel 24: Fassen Sie die Geschichte der psychochirurgischen Verfahren zusammen, die als Lobotomie bekannt wurden, und erörtern Sie den Einsatz der Psychochirurgie heute. Bei der Lobotomie handelte es sich um ein wenig elegantes Verfahren, bei dem man mit Hilfe chirurgischer Instrumente, die durch die Augenhöhlen eines Patienten eingeführt wurden, die zu den Frontallappen des Gehirns laufenden Nervenverbindungen durchtrennte. Die Absicht dahinter bestand darin, unkontrollierbar emotionale und gewalttätige Patienten zu beruhigen, doch stattdessen schuf man Lethargie und eine impulsive Persönlichkeit. Diese Art chirurgischer Vorgehensweisen kam seit den 1950er Jahren nicht mehr zum Einsatz, als ihre schädlichen Auswirkungen bekannt und neue wirksame medikamentöse Behandlungsmethoden eingeführt wurden. Heute führen Neurochirurgen nur noch in sehr seltenen Ausnahmefällen hirnchirurgische Operationen bei psychischen Störungen durch. Selbst wenn die MRT-gestützte Chirurgie bei außergewöhnlichen, lebensbedrohlichen Zuständen in Betracht gezogen wird, ist diese Behandlung das letzte Mittel, weil ihre Auswirkungen unumkehrbar sind. > Denken Sie weiter: Denken Sie jetzt anders über Therapie als zu Beginn Ihrer Lektüre? In welcher Weise hat sich Ihre Einstellung verändert?
837 18.4 · Prävention psychischer Störungen
18.4
Prävention psychischer Störungen
Ziel 25: Erklären Sie den Grundgedanken eines Vorsorgeprogramms für psychische Gesundheit.
Psychotherapien und biomedizinische Therapien lokalisieren die Ursache psychischer Störungen in erster Linie im Innern des Menschen, der die Störung hat. Wenn ein Mensch grausam handelt, schließen wir daraus, dass er grausam sein muss, und wenn sich Menschen »verrückt« aufführen, dass sie wohl »krank« sein müssen. Wir hängen solchen Menschen ein Etikett an und können sie dadurch von den »Normalen« unterscheiden. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass wir versuchen, »abnorme« Menschen zu behandeln, indem wir ihnen Einsicht in ihre Probleme vermitteln, ihre Denkweise verändern und/oder ihnen helfen, sich durch Medikamente unter Kontrolle zu bringen. Man kann diese Dinge auch anders sehen. Wir könnten etliche psychische Störungen als verständliche Reaktionen auf eine krank machende und Stress verursachende Gesellschaft interpretieren. Es ist nicht nur der Mensch, der eine Behandlung braucht, sondern auch der soziale Kontext dieses Menschen. ! Es ist besser, der Entstehung eines Problems dadurch vorzubeugen, dass man eine kranke Situation schrittweise ändert und die soziale Kompetenz der Menschen verbessert, als zu warten, bis ein Problem entsteht, und es dann zu behandeln.
Eine kleine Anekdote über die Rettung eines Ertrinkenden in einem reißenden Fluss soll diesen Gesichtspunkt illustrieren: Der Retter hatte gerade das erste Opfer erfolgreich mit Erste-HilfeMaßnahmen behandelt, da sah er eine Frau, die kurz vor dem Ertrinken war, und zog auch sie an Land. Die Geschichte wiederholte sich ein Halbdutzend Mal, aber plötzlich drehte sich der Retter um und lief davon, während der Fluss einen weiteren Ertrinkenden herantrug. »Willst du den denn nicht retten?« fragte jemand, der in der Nähe steht. »Zum Teufel, nein«, erwiderte der Retter. »Ich gehe jetzt flussaufwärts und schaue nach, was alle diese Leute ins Wasser treibt.« Präventive Gesundheitsfürsorge heißt, flussaufwärts zuzupacken. Mit der Gesundheitsfürsorge will man psychische Katastrophen verhindern und deshalb die verursachenden Bedingungen ausmachen und ihren Einfluss verringern. Albee (1986) glaubt, es gebe eine Fülle von Indizien dafür, dass Armut, sinnentleerte Arbeit, unablässige Kritik, Arbeitslosigkeit, Rassismus und Sexismus das Gefühl der Menschen für ihre eigene Kompetenz, ihr Gefühl der Eigenverantwortung und ihr Selbstwertgefühl untergraben. Solche Formen von Stress verstärken die Gefahr, in Depression oder Alkoholabhängigkeit zu geraten oder Selbstmord zu begehen. Albee meint, dass wir, denen daran gelegen ist, psychische Katastrophen zu vermeiden, Programme unterstützen sollten, deren Ziel es ist, Armut, Diskriminierung und andere demoralisierende Zustände abzubauen. Wir haben die Pocken nicht dadurch ausgerottet, dass wir die Kranken versorgt haben, sondern durch Impfprogramme für die Gesunden. Wir haben das Gelbfieber besiegt, indem wir die Stechmücken bekämpft haben. Prävention psychischer Probleme bedeutet, denen Kraft zu geben, die eine Haltung der Hilflosigkeit erlernt haben; das bedeutet, Lebensräume zu verändern, die Einsamkeit hervorbringen, die zerfallenden Familien mit neuer Kraft zu versehen und Eltern und Lehrer in ihrer Fähigkeit zu stärken, die Leistungen der Kinder und ihr sich daraus ergebendes Selbstwertgefühl wohlwollend zu begleiten und zu fördern. »Alles, was darauf abzielt, die Situation des Menschen zu verbessern und das Leben erfüllender und sinnvoller zu machen, kann als Bestandteil einer primären Prävention gegen mentale oder emotionale Störungen betrachtet werden« (Kessler u. Albee 1975, S. 557). Dazu gehört auch das kognitive Training, das Kinder mit Depressionsrisiko zu einer positiven Denkweise ermutigt (7 Abschn. 18.1.4). Natürlich gibt es noch andere Ursachen für psychische Störungen als schädliche Lebensbedingungen und Pessimismus. Angststörungen, die Major Depression, die bipolare Störung und die Schizophrenie sind z. T. biologisch hervorgerufene Ereignisse. Doch Albee ruft uns eines der Themen dieses Buches in Erinnerung: Der Mensch ist ein integriertes biopsychosoziales System (. Abb. 18.11). Jahrelang haben wir unseren Leib einem Arzt anvertraut und unsere Seele einem Psychologen oder Psychiater. Diese saubere Trennung der beiden Bereiche scheint keine Gültigkeit mehr zu besitzen. Stress wirkt sich auf die Körperchemie und die Gesundheit aus. Und chemisches
»Vorbeugen ist besser als heilen.« Peruanische Volksweisheit
18
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Kapitel 18 · Klinische Psychologie: Therapie
. Abb. 18.11. Der biopsychosoziale Ansatz in der Therapie Die wirksame Behandlung psychischer Störungen erfordert es, dass man alle möglichen Einflüsse berücksichtigt, die etwas zu einem Problem beitragen können: biologische, psychologische und soziokulturelle
Ungleichgewicht – woran immer es liegen mag – kann zu Schizophrenie und Depression führen. »Mens sana in corpore sano«, sagt ein altes lateinisches Sprichwort: Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper. Lernziele Abschnitt 18.4 Prävention psychischer Störungen Ziel 25: Erklären Sie den Grundgedanken eines Vorsorgeprogramms für psychische Gesundheit. Die Befürworter einer präventiven Gesundheitsfürsorge führen als Argument an, dass viele psychische Störungen verhindert werden könnten. Ihr Ziel ist es, bedrückende Lebensbedingungen, die das Selbstwertgefühl zerstören, umzuwandeln in freundliche und entwicklungsfördernde
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Lebensbedingungen, die das Wachstum jedes Menschen positiv beeinflussen und sein Selbstvertrauen stärken. > Denken Sie weiter: Können Sie sich vorstellen, wie eine bestimmte Maßnahme, die die Umwelt in Ihrer eigenen Nachbarschaft positiv beeinflusst, die eine oder andere psychische Störung einzelner Nachbarn verhindern könnte?
839 18.4 · Prävention psychischer Störungen
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Worin besteht der Hauptunterschied zwischen der Grundannahme in psychoanalytischen und humanistischen Therapien einerseits und der in Verhaltenstherapien andererseits? 2. Inwiefern verzerrt der Placeboeffekt die Einschätzungen der Klienten in Bezug auf die Wirksamkeit von Psychotherapien? 3. Wie bewerten Forscher die Wirksamkeit bestimmter medikamentöser Therapien? 4. Welche Einflussfaktoren muss man bei einer erfolgreichen therapeutischen Intervention im Hinterkopf behalten?
L Deutsche Literatur zum Thema Esser, G. (2003). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters. Stuttgart: Thieme. Margraf, J. & Schneider, S. (Hrsg.). (2008). Lehrbuch der Verhaltenstherapie, 2 Bde., 3. Aufl. Heidelberg: Springer. Reimer, Ch. & Rüger U. (Hrsg.). (2003). Psychodynamische Psychotherapie: Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Reinecker, H. (Hrsg.). (2003). Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen (4. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Reinecker, H. (2005). Grundlagen der Verhaltenstherapie. (3. Aufl.). Weinheim: Beltz. Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
18
19 Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen Siegfried Hoppe-Graf 19.1
Überblick über die Pädagogische Psychologie – 842
19.1.1 19.1.2 19.1.3
Gegenstand und Aufgabe – 842 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie – 845 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie
19.2
Bedeutung der elterlichen Erziehung
19.2.1 19.2.2
Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? – 849 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? – 852
19.3
Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen – 859
19.3.1 19.3.2 19.3.3
Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Internalisierung Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans – 863 Pädagogische Schlussfolgerungen – 866
19.4
Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4
Gespielte und ernsthafte Aggressionen – 869 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt – 870 Das Early-Starter-Modell – 872 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten
19.5
Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie – 877
19.5.1 19.5.2
Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung – 878 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden – 880
– 847
– 849
– 860
– 867
– 874
Andere Kulturen, andere Perspektiven Das Eingreifen des Großvaters Yu Kang, der in allen Ehren die höchsten Ränge bei Hofe erreicht hatte und ob seiner Untadeligkeit und Weisheit allseits gerühmt wurde, war nun schon etliche Jahre tot. Gerade hatte sein Enkel Yu Daesu die erste Beamtenprüfung bestanden, als überraschend früh auch seine Eltern starben. Der ehrerbietige Sohn bereitete ihnen eine würdevolle Bestattung in der Nähe von Yu Kangs Begräbnisstätte, errichtete beim Grab eine Hütte und verbrachte dort die Tage und Nächte der Trauerzeit. Eines Nachts wurde Yu Dae-su von einem merkwürdigen Traum aufgeschreckt. Sein Großvater Yu Kang erschien ihm und forderte ihn auf: »Erhebe dich sofort und lege dich umgekehrt zur Ruhe!« Völlig verwirrt erwachte er. Es war nur ein Traum gewesen, aber der Angstschweiß strömte ihm aus allen Poren. Der Traum war so seltsam, und die Worte des Großvaters waren so eindringlich, dass Yu
Dae-su gänzlich willenlos wie geheißen tat. Er nahm sein Bettzeug, drehte es in die entgegengesetzte Richtung und legte sich so nieder, dass seine Füße dort lagen, wo er sonst seinen Kopf gebettet hatte. Er versuchte wieder einzuschlafen, doch der Traum ließ ihm noch immer keine Ruhe, und zwischen Schlafen und Wachen ließ er seine Gedanken treiben. Da wurde ganz leise und vorsichtig von außen das Fenster geöffnet, und im nächsten Augenblick sauste ein langer Speer herein, durchschlug das Bettzeug zwischen Yu Dae-sus Beinen und bohrte sich tief in den Boden. Yu sprang erregt auf: »Wer ist da? Haltet ihn.« Von seinen Rufen erwachte die draußen lagernde Dienerschaft und folgte einer im Dunkel flüchtenden Gestalt. Diese Gestalt rannte schnurstracks auf Yu Kangs Grab zu und hatte es gerade erreicht, als sie wie versteinert stehen blieb. In ehrerbietiger Verbeugung verharrte die Gestalt an der Grabstätte und
war unfähig, sich zu rühren. Schon hatten die Verfolger den Ort erreicht und mussten zu ihrer Überraschung feststellen, dass es sich bei dem Geflüchteten ebenfalls um einen Diener der Familie Yu handelte. Sie ergriffen ihn, legten ihn in Fesseln und führten ihn vor Yu Dae-su. Der machte kurzen Prozess mit dem Ungetreuen und ließ ihn auf der Stelle zu Tode prügeln. Die Nachricht von dieser wundersamen Begebenheit ging in Windeseile von Mund zu Mund. Alle waren sich einig: »Dass der Geist Yu Kangs seinem Enkel das Leben gerettet hat, versteht wohl jeder. Aber dass er darüber hinaus die Schritte des Missetäters gelenkt und diesen zur Ergreifung festgehalten hat, das ist wirklich eine ganz besondere Tat!«
Aus: Der Himmelsprinz und die Bärin: Koreanische Märchen. Ausgewählt und übersetzt von Woon-Jung Chei. München: Iudicium Verlag, 1998
842
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19
> Märchen gehören zum tradierten Erbe jeder Kultur. Sie erlauben uns deshalb einen Einblick in die kulturellen Normen und Werte, die zum Teil früher einmal gültig waren, zum Teil aber auch noch in die heutige Zeit hineinreichen. Das gilt in eindrucksvoller Weise auch für das oben vorgestellte koreanische Märchen. Vordergründig erzählt es von der magischen Kraft, die ein Toter ausüben kann. Schaut man aber unter die Oberfläche, so erkennt man darin zwei zentrale Motive der konfuzianisch bestimmten koreanischen Kultur. Da ist zum einen die weitreichende Macht der Ahnen, und zum anderen geht es um die Ahnenverehrung, wie sie sich etwa in dem Satz zeigt: »Der ehrerbietige Sohn bereitete ihnen [seinen Eltern] eine würdevolle Bestattung … und verbrachte dort die Tage und Nächte der Trauerzeit« (Hervorhebung vom Autor). Zusammengeführt werden diese Motive in der Errettung Yu Dae-sus durch seinen Großvater, und darin zeigt sich ein drittes Leitmotiv der konfuzianistischen Morallehre: Gute Taten werden vielleicht nicht kurzfristig, aber doch auf lange Sicht vergolten werden. Märchen sind, sofern sie von Erwachsenen – Eltern, Großeltern, Erzieherinnen – in freier Nacherzählung oder durch Vorlesen Kindern vorgetragen werden, auch ein Mittel der Erziehung. Es mag sein, dass die Erwachsenen damit keine explizite erzieherische Absicht verbinden, und vielleicht erzählen oder lesen sie die Märchen nur auf Drängen der Kinder. Aber wenn sie dies tun, tragen sie damit zum einen zur Tradierung von Kultur bei, und zum anderen erziehen sie. Wie Eltern erzieherisch Einfluss nehmen und welche Auswirkungen verschiedene Erziehungsstile und Erziehungsmaßnahmen haben, sind zentrale Fragen der Erziehungspsychologie. Die Erziehungspsychologie ist einer der beiden großen Teilbereiche der Pädagogischen Psychologie. Der andere Teilbereich ist die Lehr-Lern-Psychologie, heute auch häufig als Bildungspsychologie bezeichnet. Gegenstand dieses Kapitels ist die Pädagogische Psychologie. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Erziehungspsychologie, die durch ausgewählte Themen vorgestellt wird. Daneben geben wir aber auch einen Überblick über die gesamte Pädagogische Psychologie und liefern abschließend einen Ausblick auf Aufgaben, die sich dem Fach in Zukunft stellen werden.
19.1
Überblick über die Pädagogische Psychologie
Pädagogische Psychologie nimmt eine Vermittlerrolle zwischen Pädagogik und Psychologie ein. Sie umfasst zwei Teilbereiche: die Erziehungspsychologie und die Lehr-Lern-Psychologie (Bildungspsychologie). Pädagogische Psychologie hat sich im Spannungsfeld von Theorie und Praxis entwickelt, wobei die Aufgabenfelder von praktisch tätigen Pädagogischen Psychologen äußerst vielfältig sind.
19.1.1
Gegenstand und Aufgabe
Ziel 1: Verdeutlichen Sie unterschiedliche Auffassungen von Erziehung. Benutzen Sie die in der deutschen Sprache gebräuchliche Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung, um die Pädagogische Psychologie in die beiden Gebiete der Erziehungspsychologie und der Bildungspsychologie einzuteilen. Pädagogische Psychologie (educational psychology): hat das Ziel, Erziehung aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie zu erforschen.
Definitionen veralten weniger schnell als Theorien oder empirische Forschungsergebnisse. Die Definition von Pädagogischer Psychologie, die wir diesem Kapitel zugrunde legen, stammt aus dem Jahre 1917 und ist dennoch aktuell. Aloys Fischer hat sie seinerzeit in einem Aufsatz »Über Begriff und Aufgabe der Pädagogischen Psychologie« formuliert, freilich in etwas antiquierter Sprache (1917; zit. nach Brugger et al. 1993, S. 35):
843 19.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
19
Pädagogische Psychologie ist die wissenschaftliche Erforschung der psychischen Seite der Erziehung, sie setzt Erziehungen und Erziehung als gegebene Tatsache voraus und bemüht sich, diese eigenartige Realität, Erziehung genannt, auf ihre psychologischen Einschläge hin zu analysieren. ! Der Gegenstand der Pädagogischen Psychologie ist Erziehung, ihre Aufgabe die Erforschung von Erziehung aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie.
Zu den einflussreichsten pädagogischen Erfahrungsräumen zählen die Familie und die Schule. Während die Erziehung in der Familie eine grundlegende menschliche Erfahrung ist, die zwar kulturell gestaltet wird, aber universell auftritt und eine lange Vergangenheit in der Menschheitsgeschichte aufweist, ist die Schule eine aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarung konstituierte und deshalb auch gesellschaftlich kontrollierte Erziehungsinstitution. Erziehung in der Familie geschieht meistens beiläufig und vor dem Hintergrund intuitiver Elterntheorien über die Wirkung der einen oder anderen Erziehungsmaßnahme. Erziehung in der Schule dagegen ist hochgradig bewusst, strukturiert und erfolgt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussion über die Vor- und Nachteile verschiedener Erziehungsmaßnahmen. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine intuitiv »richtige« Erziehungsmaßnahme der Eltern ist die Anpassung der Sprache an den Entwicklungsstand des Kindes. Ohne sich jemals mit Psychologie befasst zu haben oder ohne in irgendeiner Weise durch Bücher, Kurse oder Dozenten darauf vorbereitet worden zu sein, wählen Eltern im Umgang mit ihrem Kleinkind in aller Regel eine besondere Form der sprachlichen Kommunikation, die den Spracherwerb des Kindes unterstützt. Man bezeichnet diese Sprache auch als Ammensprache oder »baby talk«. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass in hoher Tonlage (vorzugsweise im Bereich zwischen 400 und 600 Hz) gesprochen, die Satzmelodie übertrieben und durch Akzentverschiebung die Aufmerksamkeit des Babys auf besonders wichtige Wörter gelenkt wird. Typisch sind weiterhin Diminutive und Wiederholungen sowie das Vermeiden komplizierter Satzbildungen (Weinert u. Grimm 2008). Ein Beispiel für oftmals kontroverse Diskussionen über öffentliche Erziehungsmaßnahmen in der Schule und Vorschule liefert die Debatte nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse (»Programme for International Student Assessment«; PISA-2000; vgl. Deutsches PISA-Konsortium, 2001). Erinnern Sie sich an die Vielzahl, Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit der Vorschläge? Sie reichten von der Verbesserung der Lehrerbildung über die Einführung von Ganztagsschulen bis hin zur Forderung, Kinder schon mit 4 Jahren einzuschulen (so der Präsident der
Siegfried Hoppe-Graff, Leipzig
Was aber ist unter der »eigenartigen Realität« Erziehung zu verstehen? Es lassen sich zwei Grundkonzeptionen unterscheiden. 4 In der Pädagogik ist es üblich, unter Erziehung die bewusste und beabsichtigte Einflussnahme auf das Handeln eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen (meistens von Heranwachsenden) zu verstehen, wobei diese Einflussnahme mit Blick auf ein bestimmtes Ziel hin erfolgt. Dieses Ziel kann, reflektiert oder unreflektiert, auf verschiedenen Allgemeinheitsebenen angesiedelt sein. Es kann beispielsweise darauf begrenzt sein, ein Kind dazu zu bringen, dass es die Norm, nicht zu lügen, einhält; oder es kann darin bestehen, ihm die Buchstaben des Alphabets beizubringen. Es kann aber auch sehr generell formuliert sein und etwa darin bestehen, Heranwachsende zur Übernahme (Internalisierung) der geltenden gesellschaftlichen Normen und Werte zu bewegen oder ihnen die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens beizubringen. 4 Für die Psychologie ist es zweckmäßiger, den Handlungs- und Interaktionsaspekt in den Vordergrund zu stellen. Unter Erziehung versteht die Psychologie alle Erfahrungsmöglichkeiten, die innerhalb eines kulturellen Rahmens bereitgestellt werden, um die Lern- und Entwicklungsprozesse eines Menschen zu unterstützen. Diese Erfahrungen werden oftmals in der unmittelbaren personalen Beziehung – in der pädagogischen Interaktion zwischen Erzieher und zu Erziehendem – gestaltet. Die pädagogische Situation kann aber auch von Einzelnen, Institutionen oder gesellschaftlichen Gruppen so strukturiert werden, dass Lern- und Entwicklungsprozesse durch den Umgang mit Medien oder in größeren sozialen Zusammenhängen ausgelöst werden. Beispiele sind die Entwicklung von Lehrbüchern und Lehrprogrammen, die auf dem Computer laufen, die Schaffung von Jugendzentren oder Angebote zu selbst organisiertem Lernen.
Der erste Schultag im Wandel Wird die Einschulung mit 6 Jahren bald der Vergangenheit angehören?
Ammensprache (baby talk): besondere Form der Sprache, die Eltern in der Kommunikation mit dem kleinen Kind wählen. Sie unterstützt den Spracherwerb und ist z. B. durch die hohe Tonlage, die übertriebene Satzmelodie und Wiederholungen gekennzeichnet.
844
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
FU Berlin, Dieter Lenzen, im Gespräch mit »Die Zeit« am 13. November 2003; 7 Kritisch nachgefragt: »Einschulung mit 4 Jahren – ein überzeugender Vorschlag?«). Pädagogische Psychologie liefert aber nicht nur das Wissen, um zu Fragen der Erziehung kenntnisreich und kritisch Stellung zu nehmen; sie hat auch das Know-how, um die Auswirkungen von Erziehungsmaßnahmen empirisch zu prüfen. Käme es also dazu, dass unsere Kinder mit 4 Jahren eingeschult würden, so sollten Pädagogische Psychologen im Rahmen von Evaluationsstudien herausfinden können, ob die Versprechen der frühen Einschulung tatsächlich eingelöst werden.
19
Kritisch nachgefragt
Einschulung mit 4 Jahren – ein überzeugender Vorschlag?
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Gerade am Beispiel der zweifellos gut gemeinten Ratschläge nach PISA lässt sich zeigen, was mit der »Erforschung von Erziehung aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie« gemeint ist. Nehmen wir den Vorschlag, Kinder schon mit 4 Jahren einzuschulen. Er ist auf den ersten Blick plausibel. Der Autor, Dieter Lenzen, spricht vom Lernpotenzial der Kinder, das dadurch besser genutzt wird. Das erscheint einleuchtend: Wenn Kinder 2 Jahre länger zur Schule gehen, steht ihnen eine längere Lernzeit zur Verfügung. Eine einfache Rechnung: In 14 Jahren Schule wird mehr gelernt als in 12 Jahren! Aber geht dieser Gedanke über eine Milchmädchenrechnung hinaus? Wird er auch der Wirklichkeit gerecht? Es ist die Aufgabe der Pädagogischen Psychologie, zu fachlich begründeten und ausgewogenen Antworten auf diese für unsere Kinder so folgenreichen Fragen beizutragen.
Bringt frühere Einschulung wirklich Lernerfolge? Es ist fraglich, ob Kinder in diesem Alter den Anforderungen der Schule schon gewachsen sind. Frühes Lernen und die Bewältigung wichtiger Entwicklungsaufgaben findet in alltäglichen Situationen statt – außerhalb der Schule
Lenzens Vorschlag ist nur auf den ersten Blick wirklich plausibel und bedarf der kritischen Prüfung. Das lässt sich leicht durch 3 kritische Rückfragen aufzeigen: 4 Ist es tatsächlich so, dass das Lernpotenzial von 4-Jährigen in der Schule oder Vorschule besser gefördert wird als bisher, also im Kindergarten oder im Elternhaus? Diese Zweifel sind angebracht, wenn man daran erinnert, dass der größte Teil des Lernens im Kindesalter in ganz alltäglichen Situationen stattfindet (Gardner 1993). 4 Die Entwicklung von Kindern ist ein schwer überschaubarer Prozess, der durch vielfältige Zusammenhänge geprägt ist. Sehr nüchtern und technisch gesprochen: Vergleichbar mit Veränderungen in komplexen Systemen hat das bewusste Einwirken an einer Stelle nicht nur kurzfristige Auswirkungen in diesem Teilbereich, sondern auch langfristige Effekte in ganz anderen Bereichen. Wie also wirkt sich bei den Kindern die vorgezogene Einschulung auf andere Merkmale als den Wissenserwerb aus? Wie steht es mit der Entwicklung der Fantasie, der Empathie und des Selbstvertrauens? Kommt es evtl. zu stärkerer Konkurrenzorientierung, zu mehr Egoismus und zu erhöhter Furcht vor Misserfolg? 4 Ist es Zufall, dass auch in traditionellen Gesellschaften das Alter von etwa 6 Jahren (und nicht von 4 Jahren) als eine markante Wegmarke in der Entwicklung des Kindes angesehen wurde? Wie ethnologische Studien gezeigt haben, beginnt in den meisten Kulturen die formelle Erziehung mit etwa 6 Jahren (Sameroff u. Haith 1996b). In einem Sammelband haben Sameroff u. Haith (1996a) akribisch zusammengetragen, welche Merkmale es sind, die eine 6-Jährige oder einen 7-Jährigen besser als ein jüngeres Kind in die Lage versetzen, die Herausforderungen von Schule zu bewältigen. Dazu gehören kognitive Entwicklungsprozesse wie die Erweiterung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, der Zuwachs des Gedächtnisses und das verbesserte Sprachverständnis, aber auch Veränderungen der Persönlichkeit wie etwa ein differenzierteres Selbstbild und eine zunehmende moralische Sensibilität.
Erziehungspsychologie und Bildungspsychologie Nicht in allen Sprachen und nicht in allen Kulturen, wohl aber im Deutschen wird zwischen Erziehung und Bildung unterschieden. 4 »Erziehungsprozesse beziehen sich auf motivationale und affektive Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung, also auf den Erwerb von Werthaltungen, Einstellungen usw. Erziehung erfolgt im Wesentlichen durch Sozialisation, d. h. durch das Hineinwachsen in eine soziale Gemeinschaft.« (Schnotz 2006, S. 9) 4 »Bildungsprozesse beziehen sich auf kognitive Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung, also auf den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bildung erfolgt im Wesentlichen durch Lehren und Lernen.« (Schnotz, a.a.O.)
845 19.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
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Die Unterscheidung zwischen Erziehungs- und Bildungsprozessen hat zu einer Differenzierung innerhalb der Pädagogischen Psychologie geführt. Man teilt sie in die Erziehungspsychologie und die Bildungspsychologie ein, wobei der Begriff Bildungspsychologie erst in den letzten Jahren gebräuchlicher geworden ist. Traditionell war von Lehr-Lern-Forschung die Rede, wenn es um die Erforschung von Bildungsprozessen ging; um sich von der herkömmlichen Herangehensweise bei der Erforschung von Lehr-Lern-Prozessen abzuheben, spricht man heute auch von Instruktionspsychologie.
Erziehungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen): Teil der pädagogischen Psychologie, der sich nicht mit Bildungsprozessen (Lehren und Lernen), sondern mit Erziehung im engeren Sinne befasst, etwa mit dem Einfluss elterlicher Erziehungsmaßnahmen auf die Entwicklung des Kindes.
! Pädagogische Psychologie umfasst 2 Teilbereiche: die Erziehungspsychologie und die Bildungspsychologie.
Bildungspsychologie (kein entsprechender Begriff im Englischen): Teil der pädagogischen Psychologie, der sich mit der Untersuchung des Lehrens und Lernens befasst.
In diesem Kapitel wird es vorrangig, aber nicht ausschließlich um die Darstellung der Prozesse und Einflüsse der Erziehung durch die Eltern – also um Erziehungspsychologie – gehen. Damit setzen wir den Akzent anders als die meisten Übersichtstexte zur Pädagogischen Psychologie (z. B. Krapp u. Weidenmann 2006), in denen die Betonung eindeutig auf den Bildungsprozessen liegt. Im Anschluss an diesen einführenden Abschnitt werden wir zunächst die grundlegende Frage stellen, ob Erziehung durch die Eltern überhaupt eine Wirkung auf die Heranwachsenden hat. Bei dieser Gelegenheit werden wir das Konzept des elterlichen Erziehungsstils kennen lernen und verschiedene Erziehungsstile voneinander unterscheiden (7 Abschn. 19.2). In 7 Abschn. 19.3 werden wir uns sehr genau die elterlichen Erziehungspraktiken in einer ausgewählten Konfliktsituation ansehen: Wie reagieren Eltern, wenn ihre Kinder etwas Verbotenes oder Unerwünschtes getan haben? Wir lernen eine Theorie kennen, die behauptet, genau diese Erziehungssituation würde darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß Kinder Normen und Werte der Eltern übernehmen. Danach wenden wir uns dem Problem der Kinder- und Jugendgewalt zu und werden sehen, dass auch hier die elterliche Erziehung maßgeblichen Einfluss hat (7 Abschn. 19.4). Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf zukünftige Themen und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie (7 Abschn. 19.5).
19.1.2
Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie
Ziel 2: Skizzieren Sie in groben Zügen die Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie. Verdeutlichen Sie insbesondere, wie sich die neue Instruktionspsychologie von der alten Lehr-LernForschung unterscheidet.
Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Pädagogische Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Ein herausgehobenes Datum war im deutschsprachigen Raum die Gründung der »Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und Jugendkunde« im Jahre 1899. Programmatisch beklagte Kemsies (1899; zit. nach Brugger et al. 1993, S. 29) darin die bisherige spekulative Pädagogik als unwissenschaftlich: »Solange der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen der erzieherischen Wirkung und den einfachen sowohl als komplizierten Phänomenen der Kinderseele nicht klargelegt ist, kann von einer wissenschaftlichen Lösung des Problems nicht die Rede sein« (Hervorhebung durch den Autor). Genauso wie die Psychologie insgesamt löste sich die Pädagogische Psychologie um diese Zeit von der Philosophie und Pädagogik ab, indem Forscher nun die empirische (erfahrungswissenschaftliche) Erforschung von Erziehungs- und Unterrichtsprozessen forderten und begannen. Neben dieser Orientierung an einem neuen wissenschaftlichen Erkenntnisideal trug noch eine zweite, aus der Praxis kommende zeitgenössische Strömung zur Entstehung der Pädagogischen Psychologie bei. Um die Jahrhundertwende hatten Pädagogen in Europa und den USA der traditionellen Lernschule den Kampf angesagt, etwa im Rahmen der Reformschulbewegung. Teil ihres Programms war die Forderung nach entwicklungsgemäßem und psychologisch begründetem Unterricht (Ewert u. Thomas 1996, S. 90). Aus dieser Perspektive ergab sich unmittelbar, dass die wissenschaftliche Erforschung der Voraussetzungen und Folgen von Pädagogik und die pädagogische Praxis eng miteinander verknüpft sein sollten. Die ersten Intelligenztests sind übrigens ein frühes Resultat der engen Praxis-Theorie-Verknüpfung. Sie wurden seit 1905 von Alfred Binet im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums konstruiert, um herauszufinden,
»Erziehung muss der Entwicklung wie ein Schatten folgen.« Aus dem Credo der Reformschulbewegung
19
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
© DJH. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Jugendherbergsverbands
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Pädagogische Psychologie, Reformschulbewegung und Wandervögel Die Reformschulbewegung (oder: Reformpädagogik) hat zur Entstehung der pädagogischen Psychologie und der Verknüpfung von Praxis und Theorie beigetragen. Eine 1896 aus der Reformpädagogik entstandene Jugendbewegung nannte sich »Wandervogel«
Instruktion (instruction): Anleitung und Wissensvermittlung im Rahmen von Unterricht.
welche Kinder aufgrund ihrer Lernschwierigkeiten in der Schule besondere Hilfe brauchten (7 Kap. 11). Es fehlte aber schon zu dieser Zeit nicht an Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Verbindung von Forschung und pädagogischer Praxis nicht bedeuten kann, allgemeines psychologisches Wissen einfach nur auf die pädagogische Praxis zu übertragen. So warnte William James (1899; zit. nach Brugger et al. 1993, S. 31) schon frühzeitig: »Darüber hinaus möchte ich sagen, dass Sie sich in einem sehr großen Irrtum befinden, wenn Sie glauben, dass man von der Psychologie als Wissenschaft von den Gesetzen der Seele ganz bestimmte Programme, Schemata oder Unterrichtsmethoden für den unmittelbaren Gebrauch im Klassenzimmer ableiten kann.« Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernte sich die Pädagogische Psychologie entgegen der anfänglichen Programmatik immer weiter von der pädagogischen Praxis und wurde zu dem, wovor William James gewarnt hatte: zu einer Psychologie für Pädagogen, die aus dem Bestand der verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie – Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie etc. – lediglich jene Wissensbestände für die Ausbildung von Lehrern und Erziehern auswählte, die nach Plausibilität mit dem Erziehungsalltag zu tun hatten. »Die Pädagogische Psychologie wandert aus den Praxisfeldern der Pädagogik aus und wendet sich mit Vorzug allgemeinen Theorien des Lehrens und Lernens zu, ohne allzu großes Interesse an speziellen Anwendungen für den Schulalltag zu zeigen« (Ewert u. Thomas 1996, S. 91). Unterricht und Erziehung wurden also nur noch als Anwendungsfelder für allgemeine Theorien betrachtet. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Pädagogische Psychologie wieder den Weg zurück zu ihren Anfängen gefunden – zu einer Forschung, die Wissenschaft und pädagogische Praxis verbindet. Für das Praxisfeld Schule zeigt sich das am Abrücken von dem Versuch, allgemeine Lerntheorien auf den Unterricht zu übertragen, sowie an der Entstehung einer neuen, an den Besonderheiten des Lernens im Unterricht orientierten Instruktionspsychologie. Wenn von Instruktion anstelle von Lehren oder Unterrichten die Rede ist, so sollen dadurch die sozialen Prozesse der Anleitung und der Wissensvermittlung im jeweiligen Unterrichtskontext hervorgehoben werden. Die neue Instruktionspsychologie zeichnet sich durch 3 Merkmale aus (nach Ewert u. Thomas 1996): 4 Sie ist eine Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Prozessen des Anleitens und der Vermittlung befasst und keine auf den Unterricht angewandte Allgemeine Psychologie. 4 Sie konzentriert sich auf die Erforschung von Vermittlungsprozessen in den einzelnen Unterrichtsfächern – beispielsweise auf den Schriftspracherwerb, das Lernen mit Sachtexten und das Verstehen von historischen Zusammenhängen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten. 4 Sie konzentriert sich vorwiegend auf Prozesse – wie wird angeleitet, wie wird Wissen erworben – und weniger auf Produkte des Lehrens und Lernens. Neben diesem neuen Forschungsparadigma der Instruktionspsychologie machen Krapp et al. (2001) seit den 80er Jahren folgende Trends in der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie aus: 4 eine Erweiterung der traditionellen Forschungs- und Anwendungsfelder, etwa durch das lebenslange Lernen und das Lernen mit den neuen Medien; 4 neue Schwerpunkte beim Studium der Lernprozesse, z. B. Lernstrategien und selbst gesteuertes Lernen; 4 Evaluation von Bildungsmaßnahmen, etwa durch internationale Leistungsvergleiche wie die schon erwähnten PISA-Studien (Programme for International Student Assessment; vgl. Deutsches Pisa-Konsortium 2001; 2004; 2007).
847 19.1 · Überblick über die Pädagogische Psychologie
Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie
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19.1.3
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Ziel 3: Stellen Sie wichtige Tätigkeitsfelder vor, in denen Kenntnisse der Pädagogischen Psychologie zur Anwendung kommen, und nennen Sie exemplarisch die Aufgaben von Schulpsychologen.
Pädagogische Psychologie ist jedoch nicht nur ein Gebiet der wissenschaftlichen Forschung, sondern bietet auch die fachliche Grundlage für eine Vielzahl von Praxisfeldern. ! Psychologen mit dem Schwerpunkt in Pädagogischer Psychologie arbeiten in so unterschiedlichen Praxisbereichen wie Schule und Hochschule, in der Familien- und Erziehungsberatung, in der Organisations- und Berufsberatung, in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung und im Bereich der Entwicklung und Anwendung von Unterrichtsmedien.
Aber auch wenn die Tätigkeiten und Aufgaben derart breit gefächert sind, lassen sich doch drei Gebiete hervorheben, in denen Pädagogische Psychologen vornehmlich arbeiten. Nach einer Befragung von Schorr (1991), die in groben Zügen auch heute noch Gültigkeit haben dürfte, konzentriert sich ihre Tätigkeit auf Schulpsychologische Dienste (mehr als ein Drittel der Nennungen), Beratungsstellen und Forschung/Lehre/Weiterbildung (jeweils mehr als ein Viertel der Nennungen). Da uns hier die meisten Informationen vorliegen, soll nun ein näherer Blick auf die Arbeit jener Psychologen gelegt werden, die sich selbst als Schulpsychologen verstehen und dieses Selbstverständnis durch die Mitgliedschaft in der Sektion Schulpsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) dokumentiert haben. Die sog. Schulpsychologischen Dienste sind, neben den Erziehungsberatungsstellen, traditionell die Domäne der Pädagogischen Psychologen (Wild u. Wild 2006). Während sich aber früher die Tätigkeiten weitgehend auf die Diagnostik, die Bildungs- und Schullaufbahnberatung und die Einzelfallberatung bei Schul- und Leistungsproblemen konzentrierten, sind heute im Selbstverständnis der Schulpsychologen etliche Aufgaben hinzugekommen. . Abb. 19.1 vermittelt davon einen anschaulichen Eindruck. Um diesen Aufgaben nachkommen zu können, müssen Schulpsychologen über ein breites Qualifikationsprofil verfügen und sich in ihrer Arbeit an hohen Qualitätsstandards orientieren. Sie besitzen laut BDP (Quelle: http://www.schulpsychologie.de/) »spezifische Kenntnisse über 4 das Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen 4 die Entwicklungs- und Erziehungsprozesse von Kindern und Jugendlichen 4 die psychologische Krisenintervention im System Schule
Kein Kinderspiel Fundierte Diagnostik ist häufig Bestandteil einer schulpsychologischen Beratung
Nach http://www.sn.schule.de/~Schulpsychologie/
. Abb. 19.1. Die vielfältigen Aufgaben der Schulpsychologie
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
4 4 4 4 4 4
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»Schulpsychologinnen und Schulpsychologen unterstützen den Anspruch des Kindes auf Erziehung und Bildung, auf die entsprechende Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf eine altersgerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.« (Aus den berufsethischen Grundsätzen der Sektion Schulpsychologie im BDP)
psychotherapeutische, systemische und lerntherapeutische Verfahren die Unterrichtsdidaktik das Schulsystem im jeweiligen Bundesland die konkreten Schulen vor Ort die psychosoziale Infrastruktur vor Ort den Umgang mit Gruppen und die Gestaltung von Fortbildungsveranstaltungen«.
Die enge Beziehung zu den beiden Teilgebieten der Pädagogischen Psychologie als Wissenschaft, also zur Bildungspsychologie und zur Erziehungspsychologie, ist unverkennbar; aber ebenso deutlich ist zu erkennen, dass die praktische Arbeit eine Vielzahl weiterer Qualifikationen verlangt, die über die akademische Disziplin hinausgehen. Wie in vielen anderen Berufen, so hat auch für Schulpsychologen die Qualitätssicherung einen immer größeren Stellenwert erhalten. Gerade hier zeigt sich erneut die enge Verzahnung von Pädagogischer Psychologie als Wissenschaft und der pädagogisch-psychologischen Praxis. Zu den sieben Qualitätsstandards, die von der Sektion Schulpsychologie des BDP (a.a.O.) genannt werden, gehören 4 professionelles Handeln nach dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft 4 regelmäßige Fortbildung in den Bereichen Diagnostik, Therapie, Beratung, System und Organisationsberatung 4 Maßnahmen zur regelmäßigen Evaluation und Qualitätssicherung schulpsychologischer Arbeit. Fortbildung, professionelles Handeln nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft, aber auch fundierte Evaluations- und Qualitätssicherungsmaßnahmen sind ohne die Kooperation mit wissenschaftlichen Partnern undenkbar.
Lernziele Abschnitt 19.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie Ziel 1: Verdeutlichen Sie unterschiedliche Auffassungen von Erziehung. Benutzen Sie die in der deutschen Sprache gebräuchliche Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung, um die Pädagogische Psychologie in die beiden Gebiete der Erziehungspsychologie und der Bildungspsychologie einzuteilen. In der Pädagogik ist es üblich, unter Erziehung die bewusste und beabsichtigte Einflussnahme auf das Handeln eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen (meistens von Heranwachsenden) zu verstehen, wobei diese Einflussnahme mit Blick auf ein bestimmtes Ziel hin erfolgt. Dagegen ist es für die Psychologie zweckmäßiger, den Handlungs- und Interaktionsaspekt in den Vordergrund zu stellen. Unter Erziehung versteht die Psychologie alle Erfahrungsmöglichkeiten, die innerhalb eines kulturellen Rahmens bereitgestellt werden, um die Lernund Entwicklungsprozesse eines Menschen zu unterstützen. Im Fokus der Erziehungspsychologie steht die Erforschung von Erziehungsprozessen, die Bildungspsychologie (Instruktionspsychologie) dagegen betrachtet Bildungsprozesse. Erziehungsprozesse beziehen sich auf den Erwerb von Werthaltungen, Einstellungen usw. Es geht also um Sozialisation, d. h. das Hineinwachsen in eine soziale Gemeinschaft. Bildungsprozesse beziehen sich auf den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bildung erfolgt im Wesentlichen durch Lehren und Lernen.
Ziel 2: Skizzieren Sie in groben Zügen die Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie. Verdeutlichen Sie insbesondere, wie sich die neue Instruktionspsychologie von der alten Lehr-Lern-Forschung unterscheidet. Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Pädagogische Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Genauso wie die Psychologie insgesamt löste sie sich um diese Zeit von der Philosophie und Pädagogik ab. Damals gehörte die enge Verknüpfung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis zu ihrem Programm. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernte sich die Pädagogische Psychologie jedoch immer weiter von diesem Vorsatz. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Pädagogische Psychologie wieder den Weg zurück zu ihren Anfängen gefunden – zu einer Forschung, die Wissenschaft und pädagogische Praxis verbindet. Entstanden ist die neue Instruktionspsychologie, die sich durch drei Merkmale auszeichnet: (1) Sie ist eine Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Prozessen des Anleitens und der Vermittlung befasst, und keine auf den Unterricht angewandte Allgemeine Psychologie; (2) sie konzentriert sich auf die Erforschung von Vermittlungsprozessen in den einzelnen Unterrichtsfächern; und (3) sie beschäftigt sich mit Prozessen und weniger mit Produkten des Lehrens und Lernens. 6
849 19.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
Ziel 3: Stellen Sie wichtige Tätigkeitsfelder vor, in denen Kenntnisse der Pädagogischen Psychologie zur Anwendung kommen, und nennen Sie exemplarisch die Aufgaben von Schulpsychologen. Psychologen mit dem Schwerpunkt in Pädagogischer Psychologie arbeiten in so unterschiedlichen Praxisbereichen wie Schule und Hochschule, in der Familien- und Erziehungsberatung, in der Organisationsund Berufsberatung, in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sowie im Bereich der Entwicklung und Anwendung von Unterrichtsmedien. Zu den Aufgaben der Schulpsychologie gehören unter anderem die Beratung von Schülern, Lehrern und Eltern auf der Grundlage von fun-
19.2
dierter Diagnostik, die Fortbildung von Lehrern, die Schulentwicklung und – nicht zu vergessen – die Qualitätssicherung der eigenen Arbeit. > Denken Sie weiter: Natürlich ist es nicht möglich, in die Zukunft zu schauen. Dennoch: Spekulieren Sie darüber, wie sich die Themenund Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie angesichts aktueller technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten verändern werden. Vergleichen Sie dann Ihre Vermutungen mit den von uns angenommenen Trends in 7 Abschn. 19.5.
Bedeutung der elterlichen Erziehung
Wie Sie im vorigen Abschnitt gesehen haben, gibt es eine Vielfalt von geplanten und gezielten, aber auch von beiläufigen und unreflektierten Erziehungsprozessen. Die pädagogische Beziehung, die Sie wahrscheinlich zuallererst mit dem Begriff Erziehung verbinden, ist die ElternKind-Beziehung; und der Erziehungseinfluss, an den Sie zuerst denken, ist der Einfluss der Eltern auf das Kind. Können Sie sich vorstellen, dass die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, gar keinen oder nur einen vernachlässigbar geringen Einfluss auf die Entwicklung junger Menschen hat? Wahrscheinlich nicht, aber sowohl in populärwissenschaftlichen Büchern als auch in der wissenschaftlichen Psychologie wird diese Auffassung ernsthaft vertreten. Wenn wir nun die Erziehungsprozesse und -einflüsse behandeln, werden wir damit beginnen, dass wir die Argumente für diese provokative These, aber auch die Gegenargumente kennen lernen. Es sei vorweggenommen, dass der Autor die Auffassung, dass die elterliche Erziehung keinen Unterschied macht, nicht teilt. Eltern loben oder tadeln ihre Kinder, sie zeigen oder erklären ihnen die Welt, sie leiten sie an, oder sie gehen nicht auf ihre Fragen ein, sie äußern verbal und nonverbal Stolz oder Missachtung, sie sind zärtlich zu ihnen, oder sie wenden sich von ihnen ab – die Liste elterlicher Verhaltensweisen gegenüber Kindern ließe sich noch lange fortsetzen. Eltern sind tolerant und großzügig, autoritär und fordernd, abweisend und herzlich, emotional und sachlich usw. Auch die Aufzählung elterlicher Erziehungshaltungen oder Erziehungsstile ließe sich ohne weiteres verlängern. Wir werden uns im zweiten Teil dieses Abschnittes mit der Frage befassen, welcher elterliche Erziehungsstil sich als besonders vorteilhaft erwiesen hat. Bei der Diskussion der Erziehungsstile knüpfen wir an 7 Abschn. 4.2.3 an, wo schon einmal nach dem Einfluss der elterlichen Erziehung gefragt wurde. Erinnern Sie sich noch an die Antwort? Dort war der autoritative Erziehungsstil als der vorteilhafteste ausgemacht worden. Diese Überlegungen werden wir nun weiter ausbauen.
19.2.1
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»Es gibt eine Rolle, in der man immer schlecht ist. Das ist die Rolle der Eltern.« Sigmund Freud zugeschriebenes Zitat (im Film »Marie und Freud« von Benoit Jacquot)
Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle?
Ziel 4: Welche Rolle spielt die Erziehung durch die Eltern für die Entwicklung des Kindes? Nehmen Sie zu dieser Frage Stellung und begründen Sie Ihre Position.
»Eltern sind austauschbar« lautete die provozierende Überschrift der Titelgeschichte in »Der Spiegel« (Nr. 47/1998). Und unter dem Titel stand die Zusammenfassung: »Neue Erkenntnisse der Psychologen lassen das Weltbild vieler Eltern wanken: Der erzieherische Einfluss auf ihre Kinder ist offenbar kleiner als gedacht. Prägend wirken vielmehr Freundeskreise und soziales Milieu, den Rest geben die Gene vor.«
»Ausgelöst« worden war die Titelstory im »Spiegel« durch das gerade erst erschienene Buch »The nurture assumption: Why children turn out the way they do« der amerikanischen Autorin Judith
C. Styrsky
Eltern oder Gleichaltrige: Ist das die Frage?
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19 Gruppensozialisationstheorie (group socialization theory): Auffassung, dass die Gruppe der Gleichaltrigen (und nicht die Eltern!) den entscheidenden Erziehungseinfluss ausübt.
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Kinder identifizieren sich mit einer Gruppe von anderen, die so sind wie sie selbst, und sie übernehmen die Normen dieser Gruppe. Sie identifizieren sich nicht mit ihren Eltern, denn Eltern sind nicht Leute wie sie selbst – Eltern sind Erwachsene. Kinder sehen sich selbst als Kinder, oder, wenn genügend andere Kinder da sind, als Mädchen und Jungen, und das sind die Gruppen, in denen sie erzogen (sozialisiert) werden. Erziehung geschieht heutzutage meistens in Gruppen von gleichaltrigen Kindern gleichen Geschlechts.
Als Beleg für ihre These führt Harris unter anderem die Bereiche des Spracherwerbs und der Übernahme der Geschlechtsrolle an. Dabei geht sie äußerst selektiv vor. So verweist sie als Bestätigung für die Gruppensozialisationstheorie auf dem Gebiet der Sprache auf die Gruppen von Kindern mit taubstummen Eltern und von Immigrantenkindern. In beiden Fällen lernen die Kinder die Sprache von den Gleichaltrigen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie einseitig Harris auswählt, wenn sie für ihre Theorie und gegen die Erziehungsthese argumentiert. Zweifellos: Dialekte, schichtspezifische Sprachen und erst recht der Jugendjargon können maßgeblich von Gleichaltrigen gelernt werden. Aber wir haben im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits gesehen, dass Eltern im Spracherwerbsprozess unverzichtbar sind. Durch die Benutzung der Ammensprache lassen sie sich auf das Lernniveau des Kindes ein und geben ihm so die nötige Anweisung, um überhaupt erst einmal die Strukturen der Sprache zu entwickeln. Weitere Beispiele für den Einfluss der Eltern auf die Entwicklung des Kindes werden in diesem Kapitel folgen. Wenn wir hier vehement gegen Harris’ Position Stellung nehmen, dann nicht, um die Bedeutungslosigkeit der Gleichaltrigen für Heranwachsende zu behaupten. Ohne Frage, Gleichaltrige sind für die Entwicklung bedeutsam, und in einer Kultur, in der Kinder in der Krippe und im Kindergarten, in Schule und Hort immer mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, wird ihre Bedeutung vielleicht sogar noch zunehmen. Wir polemisieren aber gegen die einseitige – und deshalb tendenziöse – Betrachtung des komplexen Feldes Erziehung.
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Erzieherischer Einfluss oder prägende Beziehungen? Eltern und Gleichaltrige, beide sind für die Entwicklung eines Kindes unverzichtbar
Rich Harris (1998). In diesem populärwissenschaftlichen Bestseller vertritt Harris, verkürzt gesagt, die These, dass die Entwicklung des jungen Menschen vor allem von 2 Faktoren bestimmt wird: von der genetischen Ausstattung und, in erster Linie, dem Einfluss der Gleichaltrigen oder Peers. Folglich bildet den Kern ihrer Überlegungen eine Theorie der Erziehung (Sozialisation) des Kindes und des Jugendlichen durch die Gruppe der Peers, im Deutschen kurz Gruppensozialisationstheorie genannt (Rheinberg et al. 2001). Die Autorin empfiehlt ihre Theorie der Sozialisation durch die Gruppe der Gleichaltrigen als Alternative zu der von ihr abgelehnten Erziehungsthese (»nurture aussumption«), die den massiven Elterneinfluss behauptet. Harris lehnt die Erziehungsthese vehement ab. Sie sieht darin das Produkt einer Kultur, die sich das Motto »Wir werden es schaffen« gesetzt hat. Trotz aller guten Absichten, so Harris, ist aber nicht zu erkennen, dass unter dieser Parole für die Kinder auch wirklich Gutes erreicht worden ist. Im Gegenteil: Sie hat den Eltern die schwere Last von Schuldund Versagensgefühlen auferlegt, wenn die Kinder nicht so geworden sind, wie sie sie gern gehabt hätten. Die Gruppensozialisationstheorie geht davon aus, dass die Gruppe die natürliche Umgebung des Kindes bildet. Und Kindheit ist in erster Linie der Altersabschnitt, in dem die jungen Menschen sich selbst in akzeptierte und geschätzte Mitglieder ihrer Gruppe (der Gleichaltrigen) verwandeln. Dazu müssen sie beispielsweise lernen, wie sich Menschen ihres Alters und ihres Geschlechts verhalten. Ein wichtiges Lernprinzip ist dabei gemäß Harris (1998, S. 358; Übersetzung durch den Autor) die Identifikation:
! In der Erziehung gibt es beides: Bereiche, in denen der Elterneinfluss eher gering ist und andere Gebiete, in denen er stärker ist als alle anderen Faktoren.
851 19.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
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Harris’ Gruppensozialisationstheorie, die der Gruppe der Gleichaltrigen den entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Heranwachsenden zuspricht, mag für ausgewählte Entwicklungsbereiche zutreffen, etwa für die Übernahme von jugendtypischen Rollen und Einstellungen. Aber in anderen Bereichen, etwa der Moralentwicklung, der Lernmotivation und der Entstehung antisozialen Verhaltens, spielt – entgegen Harris’ Behauptung – die Erziehung durch die Eltern eine maßgebliche Rolle.
Baumrinds Gegenposition bewegt sich auf 2 Ebenen, die miteinander verbunden sind. Sie stellt zum einen in Frage, ob sich Konzepte wie »der übliche Rahmen von Erfahrungen« oder »die normale Bandbreite artspezifischer Bedingungen« sinnvoll definieren lassen. »Scarr sagt uns nicht, wie wir feststellen können, was einen normalen (gesunden) Entwicklungsverlauf ausmacht oder worin die normale Bandbreite normaler Umweltbedingungen besteht. Sie liefert auch keine Beobachtungen dafür, dass innerhalb des ›normalen‹ oder ›genügend guten‹ Erfahrungsbereiches ›funktional gleichwertige‹ Entwicklungsverläufe und -ergebnisse zustande kommen« (1993, S. 1300). Zum anderen nennt Baumrind eine Vielzahl von Ergebnissen, die zeigen, dass innerhalb des heute üblichen »Normalbereichs« die elterliche Erziehung einen Einfluss hat. Die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, kann ungünstige Entwicklungsbedingungen – etwa ungünstige soziale Vorausset-
Antiautoritäre Erziehung Eltern in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gingen davon aus, dass die traditionelle »autoritäre« Erziehung massive negative Wirkungen hat. Deshalb versuchten sie, ihre Kinder »antiautoritär« zu erziehen. Dieser Auffassung vom massiven Einfluss elterlicher Erziehung steht Harris’These entgegen, dass der Einfluss der Eltern vernachlässigt werden kann
Begeisterung für Bücher Elterliche Gene oder elterliches Vorbild sind niemals nur alleinige Einflussfaktoren, sondern wirken immer zusammen
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Vergessen wir aber über der Debatte um die Rolle der Gleichaltrigen nicht, dass Harris einen zweiten Grund nannte, weshalb die Erziehung durch die Eltern so wirkungslos bleiben müsse. Das ist die genetische Ausstattung. Die ererbten biologischen Grundlagen für die Entwicklung eines Menschen – verkürzt gesagt: die Gene – sind aber nicht erst seit Harris’ Buch, sondern schon früher Gegenstand einer Kontroverse gewesen, die allerdings nur in Fachkreisen große Beachtung gefunden hat. Scarr (1992, 1993) hat aus evolutionstheoretischer Perspektive versucht, eine Erklärung für den geringen Einfluss der familiären Erziehung zu liefern, und Baumrind (1993) und Jackson (1993) haben Denkfehler in Scarrs Argumentation und Beobachtungen zum Familieneinfluss angeführt. Nach Scarr ist es Teil der artspezifischen genetischen Ausstattung von Menschen, dass sich Kinder an einen großen Bereich von Umweltbedingungen gut anpassen können. Anders gesagt, Kinder brauchen, um sich gut entwickeln zu können, nicht eine ganz bestimmte Umwelt – nicht dieses oder jenes Spielzeug und nicht diesen oder jenen elterlichen Erziehungsstil –, sondern sie sind genetisch darauf vorbereitet, mit einer ganzen Bandbreite von Entwicklungserfahrungen zurechtzukommen, solange diese innerhalb eines »normalen Bereiches« liegen. Das ist so, weil Kinder (wie die Erwachsenen auch!) nicht passiv der Umwelt ausgeliefert sind, sondern sich ihre Erfahrungsräume auswählen, ihre Erfahrungen aktiv konstruieren und auf diese Weise in die eigene Entwicklung gestaltend eingreifen. In dieser Feststellung über einen breiten Bereich von Entwicklungsbedingungen, die innerhalb dessen liegen, was Kinder aufgrund ihrer genetischen Anlage brauchen, um gut aufwachsen zu können, stecken zwei auf den ersten Blick konträre Feststellungen über die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung von Heranwachsenden. 1. Die Umwelt ist bedeutsam für die menschliche Entwicklung. Wenn bei Scarr von einer Bandbreite »funktional gleichwertiger« Entwicklungsbedingungen die Rede ist, so heißt das auch, dass Lebensbedingungen außerhalb dieses Spielraums – und insbesondere auch die Bedingungen in der Familie – einen erheblichen Einfluss haben können. Extreme Armut oder Eltern, die ihre Kinder misshandeln, stehen für Umweltbedingungen außerhalb des Normalbereichs. 2. Innerhalb des normalen oder üblichen Rahmens spielt die Umwelt keine Rolle. Insbesondere sind im normalen Rahmen »die genauen Details und Spezifizierungen der Sozialisationserfahrungen« für die gesunde oder erfolgreiche Entwicklung der Kinder unerheblich (Scarr 1992, S. 5; Übersetzung durch den Autor).
© Arbeiterwohlfahrt, www.awo.org
Gene oder Eltern? Noch eine falsche Alternative
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
zungen – kompensieren, und sie kann, in Verbindung mit anderen vorteilhaften Einflüssen, Entwicklung optimieren. Als günstige Entwicklungsbedingung ist hier in erster Linie der autoritative Erziehungsstil zu nennen, den wir anschließend kennenlernen.
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! Die Alternative Biologie oder Erziehung ist falsch gestellt. Jeder Entwicklungsprozess ist immer das Ergebnis von beiden Einflussfaktoren, der Natur (biologische Bedingungen) und der Kultur (Erziehungspraktiken und Erziehungsstile).
Viele Ergebnisse sprechen dafür, dass auch innerhalb der »normalen Bandbreite« die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, eine langfristige Wirkung hat. In jüngster Zeit hat Baumrinds Plädoyer durch Grusec u. Davidov (2007) Unterstützung erhalten, die in einem Sammelreferat ein ganzes Bündel von Argumenten dafür angeführt haben, dass unter den Einflüssen auf das Kind der Erziehung durch die Eltern der Vorrang zukommt – die Autoren sprechen vom Primat der Eltern-Kind-Beziehung. Vier der Gründe seien hier genannt. Erstens sind Eltern und Kinder Teil eines biosozialen Systems, das dazu dient, die Nachkommen zu schützen und sicherzustellen, dass diese mit den Anforderungen des sozialen Lebens zurecht kommen. Zweitens spielt das starke menschliche Bedürfnis nach Verbundensein im Prozess der Sozialisation eine erhebliche Rolle, und Gelegenheiten für dieses Verbundensein sind in der Eltern-Kind-Beziehung im Überfluss vorhanden, da Eltern ihre Kinder beschützen und versorgen sowie ihnen gegenüber Zuneigung und Wärme zeigen. Drittens ist es, rein praktisch gesehen, gerade für Eltern einfach, Einfluss auf die Sozialisation des Kindes zu nehmen, da Eltern und Kinder in der Regel räumlich zusammenleben. Und schließlich sind es die Eltern, die eine Kontrolle über die Umwelt des Kindes haben und auf diese Weise schädliche Einflüsse vom Kind fernhalten können.
19.2.2 Erziehungsstil (parenting style): Muster von elterlichen Einstellungen, Handlungsweisen und Ausdrucksformen, die die Art der Interaktion der Eltern mit ihrem Kind über eine Vielzahl von Situationen kennzeichnen.
Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten?
Wie lässt sich die Erziehung von Eltern am besten beschreiben? Vor allem: Wie lassen sich Unterschiede zwischen Eltern am treffendsten herausarbeiten? Im nächsten Abschnitt befassen wir uns mit einer Theorie, die eine Klassifikation elterlicher Erziehungsmaßnahmen für eine ganz bestimmte Art von Situation vorschlägt. Zunächst aber lernen wir Erziehungsstile von Eltern kennen. Als elterliche Erziehungsstile bezeichnet man Muster von elterlichen Einstellungen, Handlungsweisen und Ausdrucksformen, die die Art der Interaktion von Eltern mit ihrem Kind über eine Vielzahl von Situationen kennzeichnen (Darling u. Steinberg 1993).
Einteilung von Erziehungsstilen
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Ziel 5: Nehmen Sie eine sinnvolle Einteilung von Erziehungsstilen vor. Verdeutlichen Sie auch die Dimensionen, die dieser Einteilung zugrunde liegen.
Ernstzunehmende Gesprächspartner Autoritative Eltern erklären ihre Erziehungsmaßnahmen, erwarten die Einhaltung von Regeln und nehmen das Kind als Gesprächspartner ernst
In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterschied die bereits oben erwähnte amerikanische Psychologin Diana Baumrind zwischen 3 Typen elterlicher Erziehung; dies hat sich bis heute in der Fachliteratur durchgesetzt und ist inzwischen auch in der Elternliteratur verbreitet. Baumrind (1977) nahm an, dass unter US-amerikanischen Eltern im Wesentlichen 3 Erziehungsstile verbreitet sind: der autoritative, der autoritäre und der permissive. 4 Autoritative Eltern stellen Anforderungen an ihre Kinder und verlangen von ihnen die Einhaltung von Regeln. Aber sie akzeptieren die Kinder auch gleichzeitig als ernst zu nehmende Gesprächspartner – sie öffnen sich ihnen und sind an ihnen interessiert. Beispielsweise begründen sie Regeln und Forderungen und erklären ihre Erziehungsmaßnahmen. Sie ermutigen die Kinder, nach einem eigenen Standpunkt zu suchen und selbstständig (autonom) zu werden. 4 Autoritäre Eltern fordern zwar auch die Einhaltung von Regeln, aber ihnen geht es weniger darum, den Handlungen ihrer Kinder begründete (und zu begründende) Grenzen zu setzen, als darum, strikten Gehorsam zu fordern. Anders gesagt, die Befolgung von Regeln und Normen sowie die Achtung der elterlichen Autorität werden von ihnen als ein eigenständiger Wert gesehen – es geht ihnen also um eine psychologische Kontrolle (im Unterschied zur Handlungskontrolle bei den autoritativen Eltern). Der Forderung nach Einhaltung von Vorschriften
853 19.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
ohne Wenn und Aber entspricht die Neigung, massiv und körperlich zu strafen und ein geringes Interesse an den Handlungsmotiven und Absichten des Kindes zu haben. Beobachter beschreiben das Klima autoritärer Erziehung als kalt und feindselig. 4 Permissive Eltern sind wenig lenkend und kontrollierend. Sie stellen wenig Anforderungen an das Kind und erlauben – den Impulsen des Kindes nachgebend –, dass es sein Verhalten selbst steuert. Sie versuchen, so wenig wie möglich zu reglementieren (z. B. vermeiden sie Bestrafungen). Ein Blick in Baumrinds Originalarbeiten lohnt sich aus mehreren Gründen. So zeigt sich z. B., dass sie ursprünglich von Disziplinierungsmustern (»disciplinary patterns«) sprach, also vor allem jene Situationen im Auge hatte, in denen die Eltern gefordert sind, die Kinder zur Einhaltung bestimmter sozialer Regeln zu erziehen. Weiterhin wird deutlich, dass Baumrind einerseits die Entstehung und die Akzeptanz der drei Erziehungshaltungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA in Verbindung bringt, ihre unterschiedliche Wirkung aber andererseits auf die westliche Kultur insgesamt generalisiert: »Autoritative Erziehung scheint eine besondere Form der sozialen Kompetenz von Kindern zu unterstützen, die in der westlichen Gesellschaft mit Erfolg zusammenhängt. Man bezeichnet diese soziale Fähigkeit als instrumentelle Kompetenz« (1977, S. 245; Hervorhebung »in der westlichen Gesellschaft« durch den Autor). Maccoby u. Martin (1983) haben Baumrinds Typologie ergänzt, indem sie den permissiven Erziehungsstil weiter differenziert haben. Dazu griffen sie auf frühere Ergebnisse der Erziehungsstilforschung aus den 1950er und 1960er Jahren zurück. Verschiedene Autoren hatten damals übereinstimmend 2 Grunddimensionen elterlicher Erziehung identifiziert: Liebe/Zuwendung versus Feindseligkeit/Ablehnung und Autonomie/Selbstständigkeit versus Lenkung/Kontrolle (z. B. Sears et al. 1957; Schaefer 1965). Durch Kombination dieser beiden Dimensionen definierten Maccoby u. Martin 4 Typen elterlicher Erziehung: neben der autoritativen und der autoritären Erziehung sind das der nachgiebige (»indulgent«) und der vernachlässigende (»neglectful«) Erziehungsstil. 4 Eltern, die nachgiebig erziehen, sind tolerant, warmherzig und dem Kind zugewandt, aber gleichzeitig üben sie auch wenig Lenkung und Strukturierung aus und stellen wenig Forderungen an das Kind. Sie erlauben, dass es sein Verhalten weitgehend selbst steuert. 4 Bei der vernachlässigenden Erziehung sind die Eltern in jeder Hinsicht unbeteiligt, vielleicht weil sie so sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt sind, dass sie sich aus ihrer Erziehungsaufgabe zurückgezogen haben. Sie sind weder emotional dem Kind zugewandt noch haben sie ein Interesse daran, das Verhalten des Kindes zu bewerten und entsprechend zu lenken.
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Autoritativer Erziehungsstil (authoritative parenting): Eltern stellen Anforderungen und verlangen die Einhaltung von Regeln, akzeptieren aber die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner. Autoritärer Erziehungsstil (authoritarian parenting): Eltern verlangen strikten Gehorsam, weil es ihnen um psychologische Kontrolle geht. Sie bestrafen massiv und physisch und haben geringes Interesse an den Handlungsabsichten und -motiven der Kinder. Permissiver Erziehungsstil (permissive parenting): Eltern sind wenig lenkend und kontrollierend, stellen wenig Anforderungen und überlassen es dem Kind, sich selbst zu steuern.
. Tab. 19.1 zeigt in schematischer Darstellung die von Maccoby u. Martin unterschiedenen Erziehungsstile und die zugrunde liegenden Dimensionen elterlicher Erziehung.
! Durch Kombination der beiden Dimensionen Zuwendung und Kontrolle lassen sich 4 Erziehungsstile unterscheiden: autoritative, autoritäre, nachgiebige und vernachlässigende Erziehung.
Baumrind hat in neueren Arbeiten (1991a; 1991b) das zweidimensionale Schema ebenfalls benutzt und dabei sogar eine noch feinere Einteilung vorgenommen, indem sie auf beiden Dimensionen jeweils 3 Abstufungen unterscheidet. Man kann also davon ausgehen, dass diese beiden Dimensionen in der westlichen Kultur tatsächlich zentrale Merkmale beschreiben, nach denen Eltern als Erzieher unterschieden werden können. Allerdings haben sich verschiedene Autoren nicht mit Baumrinds Beschreibung der Dimension Kontrolle zufrieden gegeben und im Rahmen von methodisch aufwendigen . Tabelle 19.1. Typologie von Erziehungsstilen. Studien zwischen den beiden Faktoren der Verhaltenskontrolle und der psycholo(Nach Maccoby u. Martin 1983) gischen Kontrolle unterschieden. Dabei bezieht sich Verhaltenskontrolle auf die »ReguUnterstützung/ Kontrolle/Lenkung lation des kindlichen Verhaltens durch konsistente Disziplinierung«, psychologische Anteilnahme Kontrolle hingegen auf die »Regulation des kindlichen Verhaltens durch psychologische Hoch Gering Mittel wie Liebesentzug oder Auslösung von Schuldgefühlen« (Fuhrer 2005, S. 231). Verhaltenskontrolle entspricht in etwa dem, was häufig mit dem Schlagwort »Grenzen Hoch Autoritativ Nachgiebig setzen« bezeichnet wird: den Kindern in konkreten Situationen Anleitung und Führung Gering Autoritär Vernachlässigend geben, was natürlich auch bedeutet, als Eltern über das Tun der Kinder informiert zu
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sein. Die Wirkung psychologischer Kontrolle hingegen wird von einigen Autoren für unseren Kulturkreis negativ gesehen; denn es geht dabei um elterliche Verhaltensweisen, die der Entwicklung von Selbstregulation und Autonomie entgegenstehen (vgl. Barber 2002). Insgesamt aber sind die Befunde nicht einheitlich. Vieles deutet darauf hin – und das entspricht auch der Alltagsplausibilität –, dass sich Kontrolle als Merkmal der autoritativen Erziehung nur dann positiv auswirkt, wenn sie moderat ausgeübt wird.
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Erhebungsverfahren Klare Definitionen von Konzepten sind unverzichtbar, aber für eine empirische Wissenschaft wie die Psychologie ist es genau so wichtig, die Definitionen in praktikable und aussagekräftige Beobachtungsverfahren zu überführen. Es zeigt sich, dass die Erfassung des elterlichen Erziehungsstils eine messmethodisch bisher nicht befriedigend gelöste Aufgabe ist. Bisher werden 3 unterschiedliche Verfahren verwendet, teilweise in Kombination miteinander: 4 Selbstbeurteilung: die Befragung der Eltern über den eigenen Erziehungsstil. Probleme sind hierbei, dass sich die Eltern über die eigene Haltung möglicherweise nicht im Klaren sind und unwissentlich falsche Auskünfte geben können oder dass sie aus Gründen der sozialen Erwünschtheit wissentlich falsche Angaben machen können, um in einem besseren Licht zu stehen. 4 Fremdbeurteilung: die Befragung der Kinder über den elterlichen Erziehungsstil. Hier besteht die Schwierigkeit darin, dass die Kinder den elterlichen Erziehungsstil möglicherweise verfälscht wahrnehmen, weil z. B. die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung einen Einfluss darauf hat, wie die Eltern wahrgenommen werden. 4 Beobachtung des Elternverhaltens in ausgewählten Situationen und Beurteilung dieser Beobachtungen hinsichtlich des darin erkennbaren Erziehungsstils. Subjektive Verfälschungstendenzen können hier zwar weitgehend ausgeschlossen werden, es ist aber die Frage, inwieweit die Beobachtungen repräsentativ und typisch für das alltägliche Elternverhalten sind (zumal wenn die Eltern wissen, dass sie beobachtet werden). ! Erziehungsstile lassen sich auf 3 Wegen erfassen: durch die Befragung der Eltern (Selbstbeurteilung), die Befragung der Kinder (Fremdbeurteilung) und die Beobachtung und Beurteilung des Elternverhaltens. Alle Ansätze haben spezifische Nachteile. Deshalb verspricht die Methodenkombination die besten Resultate.
Einen konkreten Eindruck vom Vorgehen bei der Diagnose des elterlichen Erziehungsstils erhalten Sie in 7 Unter der Lupe: »Ein Verfahren zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils«, in dem wir ein Verfahren beschreiben, das auf der Befragung der Kinder beruht. Unter der Lupe
Ein Verfahren zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils Das Fragebogenverfahren von Lamborn et al. (1991) ist geeignet, um bei 14- bis 18-jährigen Schülern den elterlichen Erziehungsstil zu erfragen. Ausgangspunkt für den Fragebogen war die Unterscheidung zwischen autoritativem, autoritärem, nachgiebigem und vernachlässigendem Erziehungsstil. Unter der Dimension der Zuwendung/Wärme (»acceptance/involvement«) verstehen Lamborn et al. das Ausmaß, in dem die Jugendlichen die Eltern als liebevoll, an ihrem Leben anteilnehmend und sensibel für ihre Probleme erleben. Lenkung/Kontrolle (»strictness/ supervision«) bezieht sich darauf, dass die Lebenswelt des Jugendlichen beaufsichtigt und strukturiert wird. Es fällt auf, dass im Vergleich zu Definitionen anderer Autoren hier die Formulierung von Anforderungen keine Rolle spielt. In 7 Tab. 19.2 sind die Fragen aufgeführt, die zur Messung dieser beiden Dimensionen formuliert wurden. Dabei ist zu beachten, dass wir zum Zwecke der übersichtlicheren Darstellung die Formulierung der Fragen meistens verändert haben; der Inhalt wurde aber unverändert gelassen.
Auf jeder der beiden Dimensionen wurden die insgesamt über 4000 Teilnehmer an der Befragung in 3 gleich große Gruppen eingeteilt: jeweils ein Drittel mit den höchsten, mit den mittleren und den niedrigsten Werten. Man spricht auch von einer Einteilung in 3 Terzile. 4 Ein autoritativer Erziehungsstil liegt dann vor, wenn die Beschreibung der elterlichen Erziehung auf beiden Dimensionen im oberen Drittel (Terzil) liegt, also als zugewandt und lenkend beschrieben wird. 4 Vernachlässigende Erziehung wird dadurch »operational definiert«, dass die Beschreibung auf beiden Dimensionen im unteren Drittel liegt, d. h. als wenig zugewandt und wenig lenkend charakterisiert wird. 4 Bei der autoritären Erziehung verbindet sich ein Rangplatz im oberen Drittel auf der Skala Lenkung/Kontrolle mit einem Rangplatz im unteren Drittel der Skala Zuwendung/Wärme. 4 Bei der nachgiebigen Erziehung ist im Sinne der Terzilbildung ein hohes Maß an Zuwendung mit einem geringen Maß an Kontrolle kombiniert.
855 19.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
. Tabelle 19.2. Fragebogenverfahren zur Erfassung der Dimensionen der Zuwendung/Wärme und der Lenkung/Kontrolle in der elterlichen Erziehung. (Nach Lamborn et al. 1991)
Elterliche Zuwendung/Wärme
Elterliche Lenkung/Kontrolle
Kannst Du Dich darauf verlassen, dass dir dein Vater/deine Mutter hilft, wenn du Probleme hast?
Wie lange darfst du normalerweise abends wegbleiben, wenn du am nächsten Tag Schule hast?
Unterstützt er/sie dich dabei, alles, was du machst, auch gut zu machen?
Wie lange darfst du wegbleiben, wenn du am nächsten Tag keine Schule hast (an Wochenenden)?
Hält er/sie dich dazu an, unabhängig zu denken?
Wissen deine Eltern in der Regel genau, wo du dich an den meisten Nachmittagen nach Schulschluss aufhältst?
Hilft er/sie dir, wenn du mit den Schulaufgaben nicht zurechtkommst?
Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, wo du abends hingehst?
Wenn er/sie etwas von dir verlangt, erklärt er/sie dann auch, warum das so ist?
Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, was du mit deiner Freizeit machst?
Angenommen, du bekommst in der Schule schlechte Noten – wie oft ermutigen dich deine Eltern, dich mehr anzustrengen?
Wie sehr bemühen sich deine Eltern, herauszufinden, wo du nachmittags nach der Schule bist?
Angenommen, du bekommst in der Schule gute Noten – wie oft loben dich deine Eltern dafür?
Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, wo du abends hingehst?
Wie viel wissen Deine Eltern wirklich darüber, wer deine Freunde sind?
Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, was du in deiner Freizeit machst?
Wie oft kommt es vor, dass deine Familie gemeinsam etwas unternimmt, was Spaß macht?
Wie viel wissen deine Eltern tatsächlich darüber, wo du nachmittags nach der Schule bist?
Die Fragen werden 14- bis 18-jährigen Jugendlichen gestellt, und aus den Antworten wird der elterliche Erziehungsstil erschlossen.
Auswirkung von Erziehungsstilen Ziel 6: Vergleichen Sie die Auswirkungen verschiedener Erziehungsstile.
Gleichgültig, ob man den autoritativen Erziehungsstil mit dem autoritären und dem permissiven oder mit dem autoritären, dem nachgiebigen und dem vernachlässigenden Erziehungsstil vergleicht, in einer Vielzahl von Studien mit unterschiedlicher Beobachtungsmethodik hat sich für unsere Kultur übereinstimmend die Überlegenheit des autoritativen Erziehungsstils gezeigt (7 Abschn. 4.2.3) – ein Resultat, das der in 7 Abschn. 19.2.1 beschriebenen These von Scarr über die »Vernachlässigbarkeit des elterlichen Erziehungsstils unter Normalbedingungen« eindeutig widerspricht. Baumrind (1993) sieht eine Reihe positiver Auswirkungen autoritativer Erziehung im Vergleich zu den anderen Erziehungsstilen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich um »mittlere Unterschiede« handelt, d. h. nicht in jedem Einzelfall hat autoritative Erziehung diese Wirkung. Autoritative Erziehung führt demnach zu 4 großen Fortschritten in der psychosozialen Reife, 4 Bereitschaft zu prosozialem Verhalten, 4 interner Kontrollüberzeugung, 4 wenig nach außen gerichteten Verhaltensproblemen, 4 wenig nach innen gerichteten Verhaltensproblemen, 4 wenig Drogenproblemen. ! In einer Vielzahl von Untersuchungen hat sich der autoritative Erziehungsstil als überlegen erwiesen. Er fördert am stärksten die psychisch gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und ist ein »Schutzfaktor« gegen Verhaltensprobleme unterschiedlicher Art.
Entgegen der weit verbreiteten Auffassung über die »Ohnmacht« der Eltern gegenüber Jugendlichen sprechen die Untersuchungsergebnisse auch dafür, dass der Elterneinfluss im Jugendalter nicht nachlässt. In der in 7 Unter der Lupe: »Ein Verfahren zur Erfassung des elterlichen Erziehungsstils« vorgestellten Studie verglichen Lamborn et al. (1991) die Auswirkungen der 4 Erziehungsstile in 4 Merkmalsbereichen:
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4 im Stand der psychosozialen Entwicklung, beispielsweise im ausgeprägten Selbstvertrauen und im positiven Selbstkonzept; 4 im Schulerfolg, gemessen sowohl durch die Schulnoten als auch durch die Selbsteinschätzung der Schulleistung; 4 in »nach außen gerichteten Verhaltensproblemen«, erfasst durch Berichte der Jugendlichen über Alkohol und Drogenmissbrauch, über Disziplinprobleme in der Schule und über Straftaten (Delinquenz); 4 in »nach innen gerichteten Verhaltensproblemen«, die sich zum einen in psychosomatischen Symptomen und zum anderen in psychologischen Symptomen wie Angstgefühlen, Depressionen und Anspannungen zeigen.
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Auch in dieser Untersuchung war der autoritative Erziehungsstil den anderen Erziehungsstilen eindeutig überlegen. Jugendliche mit autoritativ erziehenden Eltern hatten die wenigsten Verhaltensprobleme und den höchsten Entwicklungsstand in den verschiedenen Maßen für psychosoziale Kompetenz. Betrachtet man die Ergebnisse im Detail, so zeigt sich, dass es neben der globalen Überlegenheit der autoritativen Erziehung eine Vielzahl von Fakten gibt, die nach einer differenzierteren Erklärung verlangen. Die Autoren beobachteten, dass die vernachlässigend erzogenen Jugendlichen den autoritär oder nachgiebig erzogenen Altersgenossen unterlegen waren, denn sie schnitten in allen Merkmalsbereichen am schlechtesten ab. Die autoritär und nachgiebig erzogenen Jugendlichen zeigten eine Mischung aus negativen und positiven Merkmalen. Autoritäre Erziehung geht erwartungsgemäß mit Gehorsam und Konformität einher; aber die so erzogenen Jugendlichen zeigen auch wenig nach außen gerichtete Verhaltensprobleme (Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie Devianz) und sind, objektiv gesehen, gute Schüler. Der Preis, den sie zahlen müssen, ist ein geringes Selbstvertrauen und eine Unterschätzung ihrer eigenen schulischen und sozialen Möglichkeiten. Nachgiebig erzogene Jugendliche sind relativ desinteressiert an der Schule, was sich in schlechteren Schulleistungen äußert. Sie haben auch Disziplinprobleme in der Schule und neigen eher als die autoritativ und autoritär erzogenen Altersgenossen zu Drogen- und Alkoholmissbrauch, unterscheiden sich von ihnen aber nicht, was die Resistenz gegen schwerere Formen von Delinquenz angeht. Sie haben ein hohes Maß an gerechtfertigtem Selbstvertrauen in ihre sozialen Fähigkeiten, denn tatsächlich haben sie relativ große soziale Kompetenzen.
Erziehungsstil: Ein »transkulturell valides« Konzept? Ziel 7: Liefern Sie eine Erklärung dafür, warum sich Erziehungsstile nicht ohne weiteres aus einem Kulturkreis auf einen anderen übertragen lassen.
Erziehung nach dem konfuzianischen Ideal. Wie verschieden der kulturelle Kontext von Erziehung sein kann, zeigt diese Abbildung, mit der ein koreanisches Schulbuch für den Ethikunterricht in Klasse 1 beginnt. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Ethiklehrbuch für Klasse 1 in unserem Kulturkreis den Kindern zeigt, wie man Erwachsene grüßen soll
Eltern erwerben ihr Selbstverständnis als Eltern und damit auch die Überzeugungen darüber, wie man Kinder erziehen sollte, als Teil eines kulturellen Vermittlungsprozesses. Nur für den Umgang mit sehr jungen Kindern folgen sie in manchen Bereichen offensichtlich jenem »intuitiven« kulturunabhängigen Verhaltensprogramm, das wir in 7Abschn. 19.1.1 im Zusammenhang mit der Ammensprache kennen gelernt haben. Angewandt auf das Thema Erziehungsstile liegt also die Frage nahe, ob die autoritative Erziehung auch in anderen Kulturen als dem westlichen Kulturkreis verbreitet ist und, wenn ja, ob sie dort gleichermaßen überlegen ist. Am Beispiel der chinesisch-stämmigen US-amerikanischen Eltern hat Chao (1994) mit überzeugenden Argumenten die Angemessenheit der auf Baumrind zurückgehenden Taxonomie der Erziehungsstile und insbesondere der autoritären Erziehung bestritten. Sie spricht ihnen transkulturelle Validität ab und hält sie für irreführend und ethnozentrisch. Chao verweist darauf, dass die Übertragung der kulturell unangemessenen Erziehungsstile zu einem Widerspruch geführt hat. Dies lässt sich am Beispiel einer Studie von Dornbusch et al. (1987) veranschaulichen. Dornbusch et al. baten Schüler, die die amerikanische Highschool besuchten, den Erziehungsstil ihrer Eltern als autoritativ, autoritär oder permissiv einzustufen. Schüler asiatischer Herkunft stuften ihre Eltern als autoritärer (etwa im Sinne des Einforderns unbedingten Gehorsams) und als weniger autoritativ ein, verglichen mit den Mitschülern europäischer
857 19.2 · Bedeutung der elterlichen Erziehung
Herkunft. Aber wiederum im Vergleich zu den europäisch-stämmigen Mitschülern schnitten die autoritär erzogenen chinesischer Schüler jedoch keinesfalls schlechter in der Schule ab. Die Auflösung dieses Widerspruchs besteht darin, den kulturellen Hintergrund der Erziehung chinesischer Schüler zu berücksichtigen. Kontrolle und Gehorsam haben, im Rahmen des konfuzianischen Wertesystems, für Familien aus Ostasien eine völlig andere Bedeutung als im Westen. Genauer gesagt: Sie haben für Eltern und Kinder eine andere Bedeutung (Hoppe-Graff u. Kim 2000). Diese Verhaltensprinzipien sind eingebettet in die konfuzianischen Werte des Anstands und der Dankbarkeit des Kindes gegenüber den Eltern, und sie werden von frühester Kindheit an in einer Vielzahl von kulturellen Routinen vermittelt (7 Kap. 3). Die klare Unterscheidung von autoritativer und autoritärer Erziehung lässt sich also offenkundig nicht auf den ostasiatischen Kulturkreis übertragen. Viel angemessener wäre es, für die Beschreibung elterlicher Erziehung einen Erziehungsstil einzuführen, der sich in westlichen Begriffen am ehesten als Schulung (»training«) bezeichnen ließe. Er entspricht konfuzianischen Idealen und ist durch harte Arbeit, Selbstdisziplin und Gehorsam gekennzeichnet (Chao 2001). Kritisch nachgefragt
Sind gute Lehrer wie gute Eltern?
Frank Pusch
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist von der Eltern-Kind-Beziehung grundsätzlich verschieden, und deshalb können Lehrer Eltern auch niemals ersetzen. Daran kann kein Zweifel bestehen. Dennoch kann man fragen, ob sich Merkmale des autoritativen Erziehungsstils auch für erfolgreichen Unterricht eignen. Wentzel (2002) hat diese Frage in der 6. Klasse (im US-amerikanischen Schulsystem) untersucht. Wentzel vermutete, dass sich vor allem die folgenden 4 Eigenheiten der autoritativen Erziehung im Unterrichtsstil wiederfinden lassen und positive Effekte zeigen sollten: 4 Formulierung und Verdeutlichung von Regeln für den Unterricht; 4 hohe Erwartungen an die Schüler; 4 Akzeptanz und Unterstützung (Vermeidung negativen Feedbacks); 4 faire (demokratische) Kommunikation im Umgang mit den Schülern.
Wer ist ein guter Lehrer? Eine aktuelle Studie (Wentzel 2002) zeigt, dass der Unterrichtsstil guter Lehrer dem autoritativen Erziehungsstil ähnlich ist
Vergleichen Sie diese Merkmale mit der Beschreibung, die wir im 7 Abschn. 19.2.2 für den autoritativen Erziehungsstil von Eltern gegeben haben. Erkennen Sie die Entsprechung zwischen Unterrichts- und Erziehungsstil? Wir wollen deshalb auch ausdrücklich von einem autoritativen Unterrichtsstil sprechen. Der Unterrichtsstil wurde in 2 Schulen durch die Befragung von insgesamt 452 Schülern ermittelt, also im Sinne der oben getroffenen Unterscheidung durch eine Fremdbeurteilung. Es zeigte sich, dass die 4 Unterrichtsmerkmale untereinander hochsignifikant korrelieren. Das liefert eine weitere Berechtigung dafür, tatsächlich von einem autoritativen Unterrichtsstil zu sprechen. Alle 4 Unterrichtsdimensionen weisen konsistent eine relativ enge Beziehung zu wichtigen Einstellungs- und Verhaltensmerkmalen der Schüler auf. So beträgt etwa die mittlere Korrelation mit dem Interesse an der Klasse 0,39 und mit der Lernmotivation 0,25. Besonders die hohen Erwartungen seitens der Lehrer und die Vermeidung negativen Feedbacks, also Akzeptanz und Unterstützung, eignen sich zurVorhersage der Schülereinstellung, des angepassten Schülerverhaltens und des Schulerfolgs. Oben hatten wir kurz darauf hingewiesen, dass sich der autoritative Erziehungsstil in ausgewählten ethnischen Gruppen in den USA (wie etwa afroamerikanischen und asiatisch-amerikanischen Familien) nicht als überlegen erwiesen hatte (Steinberg et al. 1992; Chao 1994, 2001). Diese Einschränkung scheint für Unterrichtsstile nicht zu gelten: Die Unterrichtsmerkmale waren jedenfalls für afroamerikanische Schüler gleichermaßen vorteilhaft wie für »europäisch-amerikanische« Schüler. Fazit: Die Antwort auf unsere kritische Nachfrage lautet: »Ja«. Offenkundig haben gute (erfolgreiche) Eltern und gute Lehrer eine autoritative Grundhaltung gemeinsam, wobei vor allem die Verdeutlichung von Erwartungen, Akzeptanz und Unterstützung bedeutsam sind. Wentzels Schlussfolgerung geht sogar noch einen Schritt weiter: »Schulische Interventionsprogramme mit dem Ziel, soziale Kompetenzen und den Schulerfolg zu fördern, könnten also aus Erfahrungen profitieren, die in Familien und mit Elterninterventionsprogrammen gewonnen worden sind.« (Wentzel 2002, S. 299; Übersetzung d. Verf.)
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
Warum ist die autoritative Erziehung überlegen?
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Ziel 8: Erläutern Sie, warum sich die autoritative Erziehung im westlichen Kulturkreis auf die Heranwachsenden günstiger auswirkt als die anderen Erziehungsstile.
Baumrind selbst hat die Überlegenheit des autoritativen Erziehungsstils folgendermaßen erklärt: Die bestimmte, aber nicht restriktive Kontrolle gibt den Kindern und Jugendlichen Gelegenheit, eine Balance zwischen der Notwendigkeit von Regel- und Normbeachtungen auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Autonomie und der Entfaltung des eigenen Denkens auf der anderen Seite zu finden. Sie verweist auch darauf, dass autoritativ erziehende Eltern bereit sind, mehr in die Erziehung ihrer Kinder zu investieren. Weil sie Situationen schaffen, in denen sich ihre Kinder selbst als erfolgreich erleben können und indem sie ihnen positive Rückmeldungen geben, tragen sie aktiv zum Aufbau der erlebten Selbstwirksamkeit und des Selbstvertrauens bei. Sie geben den Kindern auch eine aktive Hilfestellung bei der Entwicklung von Fertigkeiten und einer günstigen Einstellung zu den Schulaufgaben. Und damit ließen sich auch die besseren Schulleistungen autoritativ erzogener Kinder erklären. ! Autoritative Erziehung ist überlegen, weil hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Forderung nach der Einhaltung von Regeln und Normen auf der einen Seite und dem Freiraum für Autonomie und Entfaltung eigenen Denkens auf der anderen Seite besteht. Erziehungspraktiken (parental techniques): beziehen sich auf spezifische Erziehungsmaßnahmen der Eltern, Erziehungsstile dagegen auf inhaltsunabhängige (d. h. übergreifende) Grundhaltungen.
Ein anderer Erklärungsversuch geht von der Unterscheidung zwischen Erziehungsinhalt, also den tatsächlichen Erziehungspraktiken, und Erziehungskontext, also dem Erziehungsstil, aus. Erziehungspraktiken beziehen sich auf spezifische Inhalte und Sozialisationsziele. Sie sind konkret: etwa dem Kind einen Klaps geben, Interesse an seiner Schulaufgabe zeigen und es auffordern, eine bestimmte Pflicht zu erfüllen. Der Erziehungsstil dagegen bezieht sich auf inhaltsunabhängige Verhaltensweisen. Er bestimmt das allgemeine emotionale Klima und äußert sich im Ton der Stimme, in der Körpersprache, in Gefühlsausbrüchen. Der Stil vermittelt dem Kind, mit welchem Gefühl die Eltern nicht seinen einzelnen Handlungen, sondern ihm als Person begegnen. Beispielsweise zeigt der autoritative Erziehungsstil dem Kind, dass sich die Eltern wohl fühlen, wenn sie das Kind lenken können, dass sie die Individualität des Kindes akzeptieren und dass sie offen für seine Wünsche und Bedürfnisse sind. Erziehungspraktiken sind die Mechanismen, durch die Eltern ihren Kindern unmittelbar helfen, ganz bestimmte Sozialisationsziele zu erreichen; dies geschieht beispielsweise dadurch, dass sie zur Erreichung schulischer Leistungsziele Hausaufgaben kontrollieren oder dem Kind weitere Lerngelegenheiten (Nachhilfe) bieten. Erziehungsstile dagegen vermitteln (oder hemmen) grundlegende Haltungen und allgemeine psychosoziale Kompetenzen. In 7 Abschn. 19.4 werden wir sehen, dass elterliche Erziehung besonders in einem Problembereich von entscheidender Bedeutung ist. Sie beeinflusst ganz wesentlich, ob Kinder lernen, gegenüber ihrer Umwelt eine aggressive Haltung einzunehmen und aggressive Handlungen als eine bevorzugte Reaktionsweise bei Problemen unterschiedlicher Art anzuwenden.
Lernziele Abschnitt 19.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung Ziel 4: Beschreiben Sie die Rolle der Erziehung durch die Eltern für die Entwicklung des Kindes. Eine Vielzahl von Überlegungen und Ergebnissen spricht dafür, dass Eltern – entgegen der Gruppensozialisationstheorie von Harris – für die Entwicklung des Kindes generell am bedeutsamsten sind. Betrachtet man einzelne Entwicklungsbereiche, so findet man Gebiete, wo der Elterneinfluss eher gering ist und solche, wo er sehr stark ist. Außerdem muss betont werden, dass die Alternative entweder Biologie oder Erziehung falsch gestellt ist. Jeder Entwicklungsprozess ist immer das Ergebnis von beiden Einflussfaktoren, der Natur (biologische Bedingungen) und der Kultur (Erziehungspraktiken und Erziehungsstile).
Ziel 5: Nehmen Sie eine sinnvolle Einteilung von Erziehungsstilen vor. Verdeutlichen Sie auch die Dimensionen, die dieser Einteilung zugrunde liegen. Nach Baumrind wurden ursprünglich drei Erziehungsstile unterschieden: der autoritative, der autoritäre und der permissive. Heute ist es üblich, den permissiven Stil weiter aufzugliedern in den nachgiebigen und den vernachlässigenden Erziehungsstil. Diese Einteilung (Typologie) beruht auf der Kombination der beiden bipolaren Dimensionen (a) der Liebe/Zuwendung versus Feindseligkeit/Abwendung und (b) der Autonomie/Selbständigkeit versus Lenkung/Kontrolle. Neuere Studien haben allerdings gezeigt, dass das Merkmal der Kontrolle präzisiert 6
859 19.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
werden sollte: Es geht um Verhaltenskontrolle und nicht um psychologische Kontrolle. Ziel 6: Vergleichen Sie die Auswirkungen verschiedener Erziehungsstile. In dem von westlichen Normen und Werten geprägten Kulturkreis (Nordamerika, Europa) erweist sich der autoritative Erziehungsstil i. Allg. den anderen drei Stilen in einer Vielzahl von Merkmalen als überlegen. Kinder und Jugendliche, die so erzogen worden sind, haben wenige Verhaltensprobleme und ein positives Selbstkonzept, sind leistungsbereit und soziomoralisch gefestigt. Ausgesprochen ungünstig ist der vernachlässigende Erziehungsstil; Kinder und Jugendliche, die vernachlässigend erzogen worden sind, schneiden in nahezu allen untersuchten Merkmalen am schlechtesten ab. Autoritär erzogene Jugendliche haben vergleichsweise wenige nach außen gerichtete Verhaltensprobleme und gehören eher zu den guten Schülern. Aber sie leiden an geringem Selbstbewusstsein und neigen deshalb zu nach innen gerichtetem Problemverhalten. Nachgiebig erzogene Jugendliche neigen zu Disziplinproblemen und schneiden in der Schule eher schlecht ab. Sie sind jedoch sozial kompetent und haben ein gerechtfertigt hohes Maß an Vertrauen in die eigenen sozialen Fertigkeiten.
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Ziel 7: Liefern Sie eine Erklärung dafür, warum sich Erziehungsstile nicht ohne weiteres aus einem Kulturkreis auf einen anderen übertragen lassen. Die Bedeutung von Erziehungshaltungen und Erziehungsmaßnahmen sind immer in das jeweilige kulturelle Normen- und Wertesystem eingebettet. So haben beispielsweise Kontrolle und Gehorsam im traditionellen konfuzianischen Wertesystem Ostasiens sowohl für die Eltern als auch für die Kinder eine andere Bedeutung als im westlichen Kulturkreis. Deshalb kann man nicht erwarten, dass sich der autoritative Erziehungsstil in anderen kulturellen Kontexten ebenfalls als überlegen erweisen wird. Ziel 8: Erläutern Sie, warum sich die autoritative Erziehung im westlichen Kulturkreis auf die Heranwachsenden günstiger auswirkt als die anderen Erziehungsstile. Autoritative Erziehung ist überlegen, weil hierbei ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Forderung nach der Einhaltung von Regeln und Normen auf der einen Seite und dem Freiraum für Autonomie und Entfaltung eigenen Denkens auf der anderen Seite vorliegt. > Denken Sie weiter: Überlegen Sie sich weitere Gründe dafür, warum der autoritative Erziehungsstil in der westlichen Kultur überlegen ist. Überlegen Sie auch, welche Schlussfolgerungen sich aus der eingeschränkten transkulturellen Gültigkeit der üblichen Erziehungsstilkonzepte für das interkulturelle Lernen ergeben.
Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
Wie würden Sie jeweils anstelle der Mutter oder des Vaters reagieren? Situationen dieser Art – ein Kind hat aus der Sicht der Eltern ein »Fehlverhalten« (»misbehavior«) gezeigt, die Eltern haben das mitbekommen und reagieren darauf – bezeichnet der amerikanische Erziehungspsychologe Martin Hoffman (1983, S. 248) als Überschreitungssituationen (»discipline encounter«), die Erziehungspraktiken der Eltern in diesen Situationen als Erziehungspraktiken (»discipline techniques/methods«). Vor nunmehr 30 Jahren hat er erstmals die These aufgestellt, dass für die Internalisierung (Verinnerlichung) von moralischen Regeln oder Normen die elterlichen Erziehungsmethoden in Überschreitungssituationen entscheidend sind. In diesem Abschnitt werden wir nicht nur Hoffmans Theorie näher kennen lernen, sondern auch Kritik und Weiterentwicklungen vorstellen.
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Versetzen Sie sich einmal in die Rolle der Mutter oder des Vaters eines Kindes im Kindergartenoder Schulalter. Vielleicht sind Sie ohnehin in dieser Rolle – umso besser. 4 Stellen Sie sich nun folgendes Szenario vor: Gerade hat Ihre 4-jährige Tochter der 1 Jahr jüngeren Schwester die Puppe entrissen und sie dabei zu Boden gestoßen, weil sie das Spielzeug nicht freiwillig herausrücken wollte. Wohlgemerkt: Die Puppe gehört der jüngeren Schwester. 4 Betrachten Sie nun noch eine zweite Situation: Bevor Ihr 12-jähriger Sohn nachmittags Spielen geht oder sich mit seinen Freunden trifft, fragen Sie ihn, ob er seine Schulaufgaben erledigt hat. Sie bekommen zu hören, dass er die wenigen Aufgaben schon auf der Heimfahrt von der Schule erledigt hat oder dass die Lehrer keine Aufgaben gestellt haben. Das geht eine Weile so; dann erfahren Sie durch den besorgten Anruf der Klassenlehrerin, dass Ihr Sohn seit ein paar Wochen die Hausaufgaben nicht mehr erledigt.
Elternverhalten nach Regelverletzungen Wie reagieren Eltern, wenn ihr Kind etwas Verbotenes oder Unerwünschtes getan hat?
Internalisierung (internalization): Verinnerlichung (sich zu eigen machen) von Normen, Regeln und Werten.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19.3.1
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Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Internalisierung
Ziel 9: Unterscheiden Sie zwischen induktiver Erziehung, Machtausübung und Liebeszug und begründen Sie, warum induktive Erziehung für die Moralerziehung vorteilhaft ist.
Induktive Erziehung (induction; inductive parenting): Erziehungsmaßnahmen, mit denen Eltern die Kinder auf die Auswirkungen von Fehlverhalten auf andere Menschen hinweisen.
Prinzipiell haben Eltern sehr vielfältige Möglichkeiten, um auf wahrgenommenes Fehlverhalten von Kindern zu reagieren. (Überlegen Sie, welche Wege Ihnen in den beiden Beispielszenarien offenstehen.) Nach Hoffman lässt sich aber ein großer Teil elterlicher Reaktionen zu 3 Gruppen bündeln: Eltern können mit Liebesentzug reagieren, Macht ausüben oder sich induktiv verhalten. 4 Liebesentzug bedeutet, dass die Eltern dem Kind eindeutig den Entzug ihrer Zuneigung signalisieren. Sie demonstrieren Enttäuschung und Gekränktsein, brechen den Kontakt ab, sind für das Kind nicht ansprechbar, bis hin zur demonstrativen körperlichen Abwendung (dem Kind den Rücken zukehren). 4 Unter Machtausübung versteht man, dass die Eltern ihre Ablehnung des kindlichen Fehlverhaltens und die Forderung nach zukünftiger Unterlassung dieses Verhaltens aufgrund ihrer Machtposition durchsetzen. Sie reagieren mit Härte – sie drohen, befehlen und strafen unter Umständen mit körperlicher Gewalt. Bei Kindern löst diese Form von Zwang ein hohes Maß an emotionaler Beteiligung und Angst aus; von Beobachtern wird sie als harsch und feindselig erlebt. 4 Bei der induktiven Erziehung ist das elterliche Handeln darauf ausgerichtet, beim Kind eine bestimmte Sichtweise des vorhergegangenen Fehlverhaltens herbeizuführen (zu induzieren). Induktionen sind Erziehungspraktiken, die Kinder auf die Auswirkungen ihrer Handlungen für andere Menschen hinweisen. Je nach dem Alter des Kindes sieht induktive Erziehung unterschiedlich aus. Hoffman (1983, S. 246) erläutert Induktionen wie folgt: Die frühesten Induktionen können einfache Feststellungen über die direkten Auswirkungen enthalten: »Wenn Du sie weiterhin schubst, dann fällt sie hin und fängt an zu weinen.« Sind die Kinder etwas älter, erklären die Eltern vielleicht, warum das Verhalten des Kindes nicht in Ordnung war, indem sie z. B. die Absichten der vorangegangenen Handlung des »Opfers« erläutern: »Brüll’ ihn nicht an – er wollte dir doch nur helfen.« Wächst das Verständnis der Kinder weiter, so weisen die Eltern vielleicht auf noch subtilere psychologische Effekte hin. »Denk mal dran, wie schlecht er sich fühlen muss. Er war so stolz auf den Turm, den er gebaut hatte. Und dann bist du hergekommen und hast den Turm umgestoßen.« Häufig werden diese Hinweise auf die Folgen für das »Opfer« des Fehlverhaltens durch Vorschläge für die Wiedergutmachung ergänzt.
Zwar enthält nach Hoffman jede Form von elterlicher Reaktion, die dem Kind die Unerwünschtheit seiner Handlung aufzeigt, auch Elemente von Liebesentzug und von Machtausübung, aber diese Aspekte stehen bei der induktiven Erziehung nicht im Vordergrund. Wenn bei der Reaktion auf Regel- oder Normverletzungen (»Fehlverhalten«) die Induktion dominiert, so erleichtern die Eltern den Kindern die Internalisierung der jeweiligen Norm.
C. Styrsky
! Durch induktive Erziehung erleichtern Eltern ihren Kindern die Internalisierung von Regeln und Normen, weil nicht Machtausübung oder Liebesentzug im Vordergrund steht, sondern die Erläuterung der Folgen des kindlichen Fehlverhaltens für andere Personen.
Reagieren die Eltern mit Machtausübung, so mag zwar eine äußere Anpassung aus Angst vor Strafe zu beobachten sein, aber es kommt nicht zur Einhaltung der Regeln und Normen aus Überzeugung. Liegt die Betonung der Eltern auf dem Liebesentzug, so mag das
861 19.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
zwar nicht die Einhaltung der von den Eltern gewünschten Normen und Regeln behindern. Die Begleiterscheinung ist aber der Aufbau eines ängstlich-rigiden Normen- und Moralsystems, das zur Vermeidung von Verantwortung und zu Angst vor jeglicher Kritik führen kann. Die besondere Attraktivität von Hoffmans Theorie liegt darin, dass sie nicht bei der Behauptung des Zusammenhangs zwischen elterlichen Erziehungsmaßnahmen in Überschreitungssituationen und der Übernahme von Normen und Regeln stehen bleibt, sondern dass sie eine psychologische Erklärung für diesen Zusammenhang anbietet.
Wie trägt Induktion zur Internalisierung von Normen bei? Ziel 10: Erläutern Sie, wie im Sinne von Hoffmans Theorie induktive Erziehung zur Internalisierung moralischer Normen beiträgt.
Wie lässt sich das Konzept der Internalisierung oder »Verinnerlichung« von Normen genauer fassen? Eine allgemeine Definition besagt, dass eine Norm (genereller: eine Verhaltensregel) dann internalisiert ist, wenn die Person eine Verpflichtung empfindet, sich auch dann an die Norm zu halten, wenn ihr keine Strafe oder andere negative Konsequenzen drohen. Hoffmans Definition (1983, S. 243f.; Hoffman 2000) ist anspruchsvoller. Sie wirft auch ein Licht darauf, wie komplex der Prozess der Moralentwicklung und Moralerziehung beschaffen sein muss. Die Internalisierung einer Norm hat eine affektiv-motivationale, eine kognitive und eine »Erlebnisseite«. 4 Die affektiv-motivationale Seite zeigt sich in Situationen, in denen die fragliche Norm mit einem egoistischen Motiv in Konkurrenz steht. Man kann sie als »moralische Bewährungssituationen« bezeichnen. Ein 12-jähriger Junge, der seinem kranken Freund versprochen hat, ihn heute Nachmittag im Krankenhaus zu besuchen, nun aber von einem anderen Freund die Einladung zu einem attraktiven Kinobesuch erhält, befindet sich in einer solchen moralischen Bewährungssituation. Die Norm, dass man ein Versprechen einhalten muss (und vielleicht auch die Norm, dass man sich um einen Kranken kümmern muss), ist dann internalisiert, wenn sie mit dem egoistischen Motiv des Kinobesuchs in Konkurrenz tritt. Die internalisierte Norm hat eine motivierende Funktion: Sie motiviert den Jungen, nicht ins Kino zu gehen, sondern den Krankenbesuch abzustatten. Ob sich dieses Motiv durchsetzt, ist nicht entscheidend, denn auch wenn das egoistische Motiv unterliegt, kann die Internalisierung in den Gefühlen des Jungen – hier in seinen Schuldgefühlen gegenüber dem Freund – sichtbar werden. 4 Wie sich die kognitive Komponente äußert, ist vom Alter der Person abhängig. Sie zeigt sich darin, dass die Konsequenzen der Nichteinhaltung vorweggenommen und die Handlungen als »richtig« oder »falsch« beurteilt und begründet werden. Im Beispiel nimmt der Junge etwa vorweg, wie der Freund im Krankenhaus vergeblich auf ihn wartet. 4 Internalisierte moralische Normen werden als »aus mir selbst kommend« erlebt. Das gilt für die Kognitionen genauso wie für die moralischen Affekte (z. B. die Schuldgefühle). Die ursprüngliche Quelle der Norm (etwa die Sozialisationserfahrungen in der Kindheit) ist in der Regel vergessen worden. ! Ob eine moralische Regel oder Norm internalisiert worden ist, zeigt sich in moralischen Bewährungssituationen; sie ist also an den Gefühlen, Motiven und Gedanken der Person ablesbar.
Betrachten wir nun genauer die affektiven und kognitiven Prozesse in Überschreitungssituationen. Ob die Eltern mit Machtausübung, mit Liebesentzug oder mit Induktion auf ein unerwünschtes Verhalten des Kindes reagieren – sie haben in jedem Falle das Ziel, das zukünftige Auftreten des Fehlverhaltens zu unterbinden. Sie wollen verhindern, dass die große Schwester der kleinen nach Belieben etwas wegnimmt oder dass sie von ihrem Sohn belogen werden. Voraussetzung dafür, dass die Reaktionen der Eltern überhaupt etwas ausrichten können, ist, dass sie vom Kind wahrgenommen werden. Mit anderen Worten, die Erziehungsmaßnahmen der Eltern müssen ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit (»arousal«) erwecken – sonst wird das Kind die Maßnahme der Eltern einfach ignorieren. Es kann aber auch ein Übermaß an Aufmerksamkeit oder Erregung geben. Nehmen wir in unserem Beispiel an, dass die Mutter die Tochter anschreit oder sogar schlägt. Zweifellos wird das nachdrücklich die Aufmerksamkeit des Kindes aktivieren; nur wird sich diese auf die Art der
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Die Botschaft ist angekommen Die induktive Erziehung ermöglicht dem Kind, Inhalte wahrzunehmen und z. B. empathische Schuldgefühle zu erleben
mütterlichen Reaktion und nicht auf den Inhalt der Botschaft richten (auch wenn die Mutter lautstark erläutert hat, warum man der kleineren Schwester die Puppe nicht einfach wegnehmen darf). Für das Kind stehen die eindringliche, laute Stimme der Mutter und der drohende Ton im Vordergrund. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Gefühle der Mutter, nicht aber auf die »Erziehungsbotschaft«, und möglicherweise auch auf die eigenen Gefühle – auf die Angst, die es erlebt, weil es weiß, dass diese drohende, schreiende Stimme eine körperliche Strafe ankündigt. In ähnlicher Weise kann man sich leicht ausmalen, wie die Betonung des Liebesentzugs die Aufmerksamkeit des Kindes übermäßig aktiviert und nur auf die Befindlichkeit der Mutter ausrichtet (»Meine Mutti zeigt mir, dass sie mich gar nicht mag«). Steht die Induktion im Vordergrund und ist sie mit Klarheit und Bestimmtheit verbunden, so ist das Kind einerseits genügend aufmerksam für die Botschaft der Eltern, andererseits aber wird es nicht zu sehr aktiviert, um von dem Inhalt der Botschaft abgelenkt zu werden. Der Inhalt besteht aber gerade im Hinweis auf die negativen Folgen des kindlichen Handelns, etwa für die kleinere Schwester (im ersten Beispiel) oder für die belogenen Eltern selbst (im zweiten Beispiel). ! Nur bei induktiven Erziehungsmaßnahmen, nicht aber bei Machtausübung oder Liebesentzug ist das Kind einerseits genügend aufmerksam für die Wahrnehmung der »Botschaft« der Eltern und andererseits nicht zu sehr aktiviert, um vom Inhalt der Botschaft abgelenkt zu werden.
Empathische Schuldgefühle (feelings of empathic guilt): Schuldgefühle, die auf der Fähigkeit zum empathischen Mitempfinden beruhen. Sie treten dann auf, wenn eine Person sich als Quelle für die Schädigung oder Verletzung einer anderen Person erlebt, und sind eine Form des Mitfühlens mit dem Anderen.
Die Wahrnehmung des Inhalts hat eine ganze Reihe von teilweise weitreichenden Wirkungen: 4 Das Kind stellt auf der kognitiven Ebene eine ursächliche Beziehung zwischen seinen Handlungen und deren Folgen (für andere Personen) her. 4 In Verbindung mit der Fähigkeit zum Mitfühlen (Empathie) mit anderen Menschen, die schon bei kleinen Kindern vorhanden ist, entsteht ein Gefühl der Besorgnis für andere Personen. 4 Diese Verbindung von Einsicht in die Verursachung negativer Folgen für andere und dem empathischen Mitfühlen der bei anderen verursachten Verletzungen oder Schädigungen führt zu der Erfahrung von empathischen Schuldgefühlen (»empathic guilt«). Das sind jene Schuldgefühle, die ein Kind später erlebt, wenn es in einer moralischen Bewährungssituation eine internalisierte Norm verletzt oder auch nur die Normverletzung antizipiert. 4 Weil die Eltern durch die in der Induktion enthaltene Erklärung indirekt auch die Beweggründe für ihr Einschreiten erläutern, wird das Eingreifen weniger als Strafe und als willkürlich erlebt. Die Erfahrungen in Überschreitungssituationen beeinflussen das spätere Handeln deshalb so nachdrücklich, weil diese Situationen den moralischen Bewährungssituationen strukturell ähnlich sind: In beiden Situationen geht es um den Konflikt zwischen egoistischen Motiven und Normen, durch die die egoistischen Motive eingeschränkt werden sollen. In Überschreitungssituationen sind diese Normen zunächst noch nicht internalisiert, sondern sie werden durch das Eingreifen der Eltern realisiert Aber das Kind macht hier die Erfahrung, dass es seine egoistischen Motive einschränken soll. Wie deutlich geworden sein sollte, werden je nach elterlicher Erziehung dem Kind ganz unterschiedliche Beweggründe für die Einhaltung der Norm nahe gebracht – der Blick auf die kognitiven und affektiven Folgen seines Tuns für das »Opfer« im Falle der induktiven Erziehung und der Blick auf die strafenden oder zurückweisenden Reaktionen der Eltern im Falle der Machtausübung oder des Liebesentzugs. Erfahrungen in Überschreitungssituationen beeinflussen das spätere Handeln in moralischen Bewährungssituationen deshalb so nachdrücklich, weil sich die beiden Situationen strukturell ähnlich sind: In beiden Fällen geht es um den Konflikt zwischen egoistischen Motiven und Regeln oder Normen, durch die die egoistischen Motive eingeschränkt werden sollen.
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Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans
Empirische Überprüfung Ziel 11: Verdeutlichen Sie, warum der Empathie bei der Internalisierung von moralischen Normen eine besondere Bedeutung zukommt.
Es sollte deutlich geworden sein, dass der Erfolg von Moralerziehung – d. h. die Internalisierung von moralischen Normen und Regeln – viele Väter (oder Mütter) hat. Das ist zum einen die Erziehung durch die Eltern: Mit induktiven Maßnahmen wird die gewünschte Übernahme moralischer Prinzipien unterstützt, durch Machtausübung und Liebesentzug behindert. Daneben sind es aber auch Voraussetzungen beim Kind, die schon früh vorhanden sind und sich mit dem Älterwerden zusehends erweitern: die Fähigkeit, Zusammenhänge zwischen dem eigenen Handeln und den Wirkungen dieses Handelns bei anderen einzusehen, und vor allem die Fähigkeit zum empathischen Miterleben der Gefühle einer anderen Person. Empathie entwickelt sich jedoch nicht in einem Vakuum, sondern kann durch Erziehung gefördert oder behindert werden. Darauf kommen wir im nächsten Abschnitt zurück. Eine neuere Untersuchung von Krevans u. Gibbs (1996) bestätigt die von Hoffmans Theorie behauptete zentrale Stellung der Empathie. Krevans u. Gibbs stellen zunächst fest, dass es in der Literatur bereits genügend Belege dafür gibt, dass zwischen induktiver Erziehung und prosozialem Handeln ein Zusammenhang besteht. Prosoziales Handeln kann dabei als Indiz für Internalisierung betrachtet werden. Insbesondere eine Variante des prosozialen Handeln, das altruistische oder uneigennützige Handeln, deckt sich mit dem, was Hoffman als charakteristisch für Internalisierung ansieht: ein Handeln, das nicht von äußeren Konsequenzen, sondern von dem Gefühl der empathischen Besorgnis für den anderen geleitet wird. Gleichermaßen sehen Krevans u. Gibbs in früheren Untersuchungen etliche Hinweise auf die Mittlerrolle der Empathie für den Zusammenhang zwischen Induktion und prosozialem Handeln. Induktive Erziehung fördert verschiedene Formen empathischen Empfindens, und Empathie beeinflusst die Bereitschaft, prosozial zu handeln, auch dann, wenn es keine äußeren Anreize dafür gibt, sich für andere Menschen einzusetzen. Was jedoch bisher noch fehlte, war die direkte Überprüfung der vermittelnden Funktion von Empathie, von Krevans u. Gibbs als Empathiemediationshypothese bezeichnet. Diese Hypothese besagt also, dass der offenkundige Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und prosozialem Handeln durch das Ausmaß der Empathie des Kindes vermittelt wird. Würde man die Empathie unberücksichtigt lassen, so würde sich der Zusammenhang verringern. Die Beobachtungen von Krevans und Gibbs bestätigen die Empathiemediationshypothese, denn sie zeigen, dass induktive Erziehung im Gegensatz zur Erziehung durch Machtausübung die Entwicklung prosozialen Verhaltens unterstützt, weil Induktion den Aufbau von Empathie stärkt.
Ein erweitertes Rahmenmodell zur Rolle der Eltern bei der Internalisierung von Normen und Werten Ziel 12: Erläutern Sie, wie Hoffmans Internalisierungstheorie durch Kuczynski sowie durch Grusec u. Goodnow erweitert wurde.
Die Grenze aller bisher vorgestellten Modelle zur Wirkung elterlicher Erziehung auf das Kind – gleichgültig, ob es sich um Vorstellungen zur Wirkung von Erziehungsstilen oder von Erziehungsmaßnahmen in Überschreitungssituationen handelte – liegt darin, dass sie ein unidirektionales Wirkungsmodell enthalten. Kinder treffen auf Eltern, die über einen kulturell vermittelten Bestand an Normen, Werten, Überzeugungen und Einstellungen verfügen und diese Einstellungen absichtlich oder beiläufig im Prozess der Erziehung an die Kinder weitergeben. Erziehung ist also ein Vorgang in einer Richtung – vom Erwachsenen auf das Kind. Auch wenn prinzipiell anerkannt wird, dass Kinder aktiv ihre Lebenswelt gestalten, dass sie Forderungen an Erwachsene stellen, dass sie die Erwachsenen zwingen, ihre Vorstellungen und Erziehungsmaßnahmen zu revidieren, so hat sich die Forschungspraxis doch weitestgehend darauf beschränkt, die Einflüsse vom Erwachsenen auf das Kind zu untersuchen.
»Unter Empathie verstehe ich jene Prozesse, die dazu führen, dass eine Person Gefühle entwickelt, die eher zu der Situation passen, in der sich eine andere Person befindet, als zu der eigenen Situation.« Martin Hoffman, »Empathy and moral development« (2000)
Empathiemediationshypothese (empathy mediation hypothesis): Annahme, dass die Enge des Zusammenhangs zwischen elterlicher Erziehung und prosozialem Handeln durch die Stärke des empathischen Mitempfindens vermittelt wird.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
. Abb. 19.2. Internalisierung von Normen und Werten als »bidirektionaler Prozess« Schematische Darstellung der aktiven Rolle von Eltern und Kindern beim Prozess der Internalisierung. (Nach Kuczynski et al. 1997) Ökologischer Kontext der Repräsentationsmodelle # Anderer Elternteil # Geschwister # Gleichaltrige # Schule # Medien
Inneres Repräsentationsmodell der Eltern
Inneres Repräsentationsmodell des Kindes
Überzeugungen, Werte, Normen, Fertigkeiten, Einstellungen, Motive
Überzeugungen, Werte, Normen, Fertigkeiten, Einstellungen, Motive
Externalisierung
Internalisierung
Externalisierung
Internalisierung
# Interpretiert # Wählt aus #Vergisst # Weist zurück
# Interpretiert # Wählt aus # Vergisst # Weist zurück
# Interpretiert # Wählt aus # Vergisst # Weist zurück
# Interpretiert # Wählt aus # Vergisst # Weist zurück
# Äußert sich in
# Assimiliert
# Äußert sich in
# Assimiliert
Eltern-Kind-Interaktion # Konflikt (Aushandeln) # Kooperation (gemeinsame Ziele) # Gegenseitiges »Formen« (Koevolution) # Beobachten und Vorbild liefern
Kuczynski et al. (1997) haben jüngst als theoretische Alternative ein bidirektionales Sozialisationsmodell vorgeschlagen. Es ist zwar im Rahmen von Überlegungen zur Sozialisation von Normen und Werten entstanden, ist aber so allgemein formuliert worden, dass es für alle Erziehungs- und Sozialisationsprozesse, insbesondere aber für die Moralerziehung, gelten dürfte. Das Modell wird in . Abb. 19.2 dargestellt. Es verbindet den Gedanken gegenseitiger Einflussnahme zwischen Eltern und Kind mit der ausdrücklichen Berücksichtigung sowohl des Erziehungskontextes als auch der Überzeugungen, Werte, Normen und Einstellungen der Eltern und Kinder. In . Abb. 19.2 werden die äußeren Bedingungen, in denen Eltern und Kinder handeln, als ökologischer Kontext und die inneren Handlungsvoraussetzungen als innere Repräsentationsmodelle bezeichnet. Im bidirektionalen Sozialisations- und Erziehungsmodell ist Internalisierung ein fortwährender Prozess, durch den Eltern und Kinder wechselseitig auf ihre inneren Repräsentationen von
Aus Grusec, J.E. & Kuczynski, L. (1997). Parenting and Children‹s Internalization of Values. p. 29. © 1997, John Wiley & Sons, Inc.
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865 19.3 · Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
Überzeugungen, Einstellungen, Werten und Normen Einfluss nehmen. Externalisierung ist der komplementäre Prozess zur Internalisierung – die Äußerung oder Manifestation der inneren Repräsentation. Da die Externalisierung in die Eltern-Kind-Interaktion eingeht, beeinflusst sie wiederum die Internalisierungsprozesse beim jeweils anderen Partner. Eine andere Erweiterung von Hoffmans Theorie wird in 7 Kritisch nachgefragt: »Was macht die Überlegenheit der induktiven Erziehung aus?« vorgestellt. Darin haben Grusec u. Goodnow die Faktoren, welche die Überlegenheit der induktiven Erziehung ausmachen, detailliert aufgeschlüsselt. Kritisch nachgefragt
Was macht die Überlegenheit der induktiven Erziehung aus?
Aus Grusec, J.E. & Goodnow, J.J. (1994). Impact of Parental Discipline Methods of the Child‹s Internalization of Values. Developmental Psychology, Vol. 30 (1) © 1994, American Psychological Association, Inc. Mit freundlicher Genehmigung der American Psychological Association.
Grusec u.Goodnow (1994) sind bei der inzwischen oftmals bestätigten Beobachtung, dass induktive Erziehung bei der Internalisierung moralischer Normen überlegen ist, nicht stehen geblieben, sondern haben nachgefragt, was ihre Überlegenheit ausmacht. Sie vertreten die Auffassung, dass nicht Induktion per se die Wirkung ausmacht, sondern dass es darauf ankommt, wie Eltern diese Erklärungen abgeben. Um verschiedene Faktoren, die sich als einflussreich erwiesen haben, zusammen zu fassen, wählen sie ein zweistufiges Modell, das durch . Abb. 19.3 veranschaulicht wird. Der obere Teil der Abbildung zeigt die Einflüsse auf den 1. Schritt, die Wahrnehmung der in der elterlichen Erziehungsmaßnahme enthaltenen »Botschaft«. Was die Eltern mitteilen, kann vom Kind mehr oder weniger genau wahrgenommen werden, z. B. in Abhängigkeit davon, ob die Mitteilung dem Verständnisniveau des Kindes entspricht und ob die Aufmerksamkeit des Kindes geweckt wurde. Der 2. Schritt, darge5 5 5 5 5 5 5
Klare, redundante, konsistente Botschaften »Passung« zu den bestehenden Schemata Erregung der Aufmerksamkeit des Kindes Auslösung von Verstehensprozessen Verdeutlichung von Metaregeln Signalisierung der Wichtigkeit für die Eltern Verdeutlichung der positiven Absicht
stellt im unteren Teil von . Abb. 19.3, betrifft das Akzeptieren der elterlichen Botschaft, nachdem sie wahrgenommen worden ist. Das Akzeptieren hängt, grob gesagt, davon ab, ob die elterliche Erziehungsmaßnahme als angemessen wahrgenommen wird, ob sie das Kind motiviert und ob sie von ihm nur als mäßiger äußerer Druck erlebt wird. Warum sind manche elterlichen Erziehungsmaßnahmen nicht erfolgreich? Das ist nach Grusec u. Goodnow unabhängig davon, ob sie pauschal als »Macht ausübend« oder »Liebesentzug« charakterisiert werden können. Es kommt auf die Vielzahl der im Rahmenmodell in . Abb. 19.3 aufgewiesenen Einflüsse an. Möglicherweise wäre das Kind durchaus bereit, die elterliche »Botschaft« zu akzeptieren und zu befolgen, aber es hat sie nicht klar verstanden. Oder aber die Botschaft der elterlichen Erziehungsmaßnahme war für das Kind zwar sehr klar, aber nicht akzeptabel, weil es sie als unangemessen wahrgenommen hat oder weil sie nicht motivierend gewirkt hat.
Genaue Wahrnehmung der Botschaft
Wird als angemessen wahrgenommen 5 Passend zur Art des Fehlverhaltens 5 Besitzt »Wahrheitswert« 5 Erfolgt nach reiflicher Überlegung 5 Läuft nach erwarteten Regeln ab 5 Erfolgt mit erkennbar guter Absicht 5 Ist dem Temperament, der Stimmung und dem Entwicklungsstand des Kindes angemessen Motiviert 5 Weckt Empathie 5 Verunsichert 5 Betont die Wichtigkeit für die Eltern 5 Unterstützt den Wunsch nach Identifikation mit den Eltern 5 Unterstützt den Wunsch nach wechselseitiger Einhaltung von Regeln 5 Minimiert die Bedrohung der Autonomie Fördert das Gefühl, diese Reglementierung selbst hervorbringen zu wollen 5 Minimiert die Bedrohung der Autonomie 5 Erfordert Verstehensprozesse 5 Berücksichtigt das Bemühen des Kindes
Internalisierung
Akzeptieren der Botschaft
. Abb. 19.3. Wirksamkeit induktiver Erziehungsmaßnahmen Merkmale elterlicher Erziehungspraktiken, die die exakte Wahrnehmung und Akzeptanz (Internalisierung) der »Botschaft« der Eltern an das Kind unterstützen. (Nach Grusec u. Goodnow 1994)
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! Die Überlegenheit der induktiven Erziehung kann auf eine Vielzahl von Einzelfaktoren zurückgeführt werden. Sie betreffen zum einen die Wahrnehmung und zum anderen das Akzeptieren der elterlichen Botschaft an das Kind.
19.3.3
Pädagogische Schlussfolgerungen
Ziel 13: Geben Sie Eltern Ratschläge für die frühe Moralerziehung.
Kinder entwickeln schon früh empathisches Unbehagen (»empathic distress«), d. h. ein Unbehagen, wenn sie sehen, dass es einer anderen Person schlecht geht. Echtes empathisches Mitfühlen lässt sich schon in der 2. Hälfte des 2. Lebensjahres beobachten. In diesem Alter entsteht das Wissen darüber, dass andere Personen innere Zustände (Gefühle, Wünsche) haben, die von den eigenen verschieden sein können. Dieses Wissen ermöglicht es selbst jungen Kindern, die Gefühle anderer genauer nachzuempfinden, wenn sie von den eigenen abweichen, und es erlaubt ihnen auch ein angemesseneres Eingehen auf die Person, die Hilfe oder Trost benötigt. »Diese Stufe enthält bereits alle Grundelemente der reifen Empathie … .« (Hoffman 2000, S. 72) Doch trotz dieser frühen Kompetenz, die alle gesunden Kinder erwerben können, benötigen sie die Unterstützung durch Erziehung, wenn aus dem empathischen Unbehagen angesichts des Unwohlseins einer anderen Person auch prosoziales, helfendes oder unterstützendes Verhalten werden soll. Zahn-Waxler u. Robinson (1995) beobachteten bei Kindern im 2. Lebensjahr eine deutliche Zunahme von mitfühlendem Unbehagen und Hilfeleistung, wenn diese lediglich beobachteten, dass es einer anderen Person schlecht ging; aber sie stellten weniger Anteilnahme, mehr Aggressionen und sogar mehr Freude am Unbehagen des Opfers fest, wenn die Kinder selbst die Ursache des Unbehagens waren. Wenn man sich klarmacht, dass junge Kinder Gleichaltrige dann attackieren, wenn sie einen Nutzen daraus ziehen wollen, etwa einen Gegenstand in ihren Besitz bringen, wird die Diskrepanz verständlich, und auch die Freude über ihren »Erfolg« wird erklärbar. Dieser Befund von Zahn-Waxler u. Robinson zeigt unmissverständlich: Verursachen kleine Kinder das Unbehagen eines anderen Kindes, so erfordert das eher ein Eingreifen von Erwachsenen, als wenn die Kinder nur Zuschauer eines Unbehagens bei anderen sind. Das Eingreifen ist auch im Interesse der frühen Moralerziehung des »angreifenden Kindes« notwendig, wenn das Kind die Schädigung des anderen nicht wahrnimmt oder wenn es über die unangenehmen Folgen für das Opfer lacht. Wie Eltern am besten eingreifen können, haben wir oben in diesem Abschnitt beschrieben: mit altersangemessenen induktiven Erziehungsmaßnahmen. ! Auch bei kleinen Kindern ist es nicht nur im Interesse des Opfers, sondern auch des Angreifers, wenn Eltern »Übergriffe« (z. B. das Wegnehmen eines Objektes) unterbinden. Die angemessene Form des Eingreifens sind induktive Erziehungsmaßnahmen.
Darüber hinaus gibt der Autor der Internalisierungstheorie, Martin Hoffman, in seinem lesenswerten Buch »Empathy and Moral Development« (2000) unter anderem die folgenden Ratschläge: 1. Man sollte Kinder darin unterstützen, eine Vielfalt von eigenen Gefühlen kennen zu lernen, denn das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gefühle anderer empathisch mitempfinden können. 2. Gibt man Kindern Wärme und Zuwendung, trägt dies dazu bei, dass sie sich gut fühlen; das wiederum hilft ihnen, offen für die Bedürfnisse anderer zu sein, statt sich selbstbezogen nur mit den eigenen Gefühlen zu beschäftigen. 3. Man sollte Kinder darin unterstützen, die Aufmerksamkeit auf die inneren Zustände (Gedanken, Gefühle, Absichten) anderer Personen zu richten. 4. Eltern brauchen normalerweise nicht erst zu lernen, dass induktive Erziehungsmaßnahmen nur greifen, wenn das Kind seine Regelüberschreitung unterlässt und seine Aufmerksamkeit den Eltern zuwendet. Wenn sie es aber doch nicht wissen, können sie es ohne große Unterstützung lernen. 5. Erzieherinnen sollten sich bewusst sein, dass ihre Erziehungsmaßnahmen nicht nur für das Kind, um das es gerade geht, bedeutsam sind. Auch als Zuschauer lernen die anderen Kinder einer Kindergarten- oder Hortgruppe sehr viel, denn auch in dieser Rolle empfinden sie Empathie und ziehen Schlussfolgerungen. 6. Eltern und Erzieherinnen sollten Kinder anregen und unterstützen, im Rollenspiel emotionale Erfahrungen zu machen, die ihnen im Alltag möglicherweise fehlen.
867 19.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
Lernziele Abschnitt 19.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen Ziel 9: Unterscheiden Sie zwischen induktiver Erziehung, Machtausübung und Liebesentzug, und begründen Sie, warum induktive Erziehung für die Moralerziehung vorteilhaft ist. Bei der induktiven Erziehung ist das elterliche Handeln darauf ausgerichtet, bei dem Kind Verständnis für das vorausgegangene Fehlverhalten zu wecken (zu induzieren). Hingegen reagieren machtausübende Eltern auf Fehlverhalten mit Härte und ohne Verständnis – sie drohen, befehlen und strafen unter Umständen mit körperlicher Gewalt. Liebesentzug bedeutet, dass die Eltern dem Kind eindeutig den Entzug ihrer Zuneigung signalisieren. Durch induktive Erziehung erleichtern Eltern ihren Kindern die Internalisierung von Regeln und Normen, weil nicht Machtausübung oder Liebesentzug im Vordergrund steht, sondern die Verdeutlichung der Folgen des kindlichen Fehlverhaltens für andere Personen. Ziel 10: Erläutern Sie, wie im Sinne von Hoffmans Theorie induktive Erziehung zur Internalisierung moralischer Normen beiträgt. Die Erfahrungen in einer Überschreitungssituation beeinflussen das spätere Handeln deshalb so nachdrücklich, weil diese Situation der moralischen Bewährungssituation strukturell ähnlich ist: In beiden Situationen geht es um den Konflikt zwischen egoistischen Motiven und Normen, durch die die egoistischen Motive eingeschränkt werden sollen. In Überschreitungssituationen sind diese Normen zunächst noch nicht internalisiert, sondern sie werden durch das Eingreifen der Eltern realisiert. Aber das Kind macht hier die Erfahrung, dass es seine egoistischen Motive einschränken soll. Je nach elterlicher Erziehung werden ihm ganz unterschiedliche Beweggründe für die Einhaltung der Norm nahegebracht: der Blick auf die kognitiven und affektiven Folgen seines Tuns für das »Opfer« im Falle der induktiven Erziehung und im Gegensatz dazu der Blick auf die strafenden oder zurückweisenden Reaktionen der Eltern im Falle der Machtausübung oder des Liebesentzugs.
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Ziel 11: Verdeutlichen Sie, warum der Empathie (empathisches Mitfühlen) bei der Internalisierung von moralischen Normen eine besondere Bedeutung zukommt. Zum einen führt empathisches Mitfühlen in Verbindung mit der Fähigkeit, eine ursächlichen Beziehung zwischen den eigenen Regelüberschreitungen und deren schädigender Wirkung auf andere Personen herzustellen, zur Erfahrung von empathischen Schuldgefühlen. Diese Schuldgefühle beeinflussen das Handeln in späteren Bewährungssituationen. Zum anderen vermittelt Empathie, wie Krevans u. Gibbs gezeigt haben, den Zusammenhang zwischen der elterlichen Erziehung und der Bereitschaft des Kindes, prosozial zu handeln. Ziel 12: Erläutern Sie, wie Hoffmans Internalisierungstheorie durch Kuczynski sowie durch Grusec u. Goodnow erweitert wurde. Kuczynski hat Hoffmans unidirektionale Sichtweise von moralischer Sozialisation zu einem bidirektionalen Sozialisationsmodell erweitert, das die wechselseitige Einflussnahme von Eltern und Kindern im Erziehungsprozess berücksichtigt. Grusec u. Goodnow haben aufgezeigt, wovon es abhängt, ob die Kinder die elterlichen Erziehungsmaßnahmen wahrnehmen und ob sie sie akzeptieren. Ziel 13: Geben Sie Eltern Ratschläge für die frühe Moralerziehung. Schon bei kleinen Kindern ist es nicht nur im Interesse des Opfers, sondern auch des Angreifers, wenn Eltern »Übergriffe« (z. B. das Wegnehmen eines Objektes) unterbinden. Die angemessene Form des Eingreifens sind induktive Erziehungsmaßnahmen. Darüber hinaus sollten Eltern die Entwicklung von Empathie unterstützen. Dies ist auf vielfältige Weise möglich, etwa indem man Kinder im Rollenspiel emotionale Erfahrungen machen lässt. > Denken Sie weiter: Stellen Sie sich vor, Sie wollten im nächsten Semester an der Volkshochschule einen Elternkurs über »moderne Erziehung« anbieten. Eine der Kurseinheiten soll sich mit Moralerziehung befassen. Entwerfen Sie ein Konzept für diese Kurseinheit.
Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
Ziel 14: Nennen Sie Gründe dafür, dass man der populären These, die Kinder- und Jugendgewalt hätte in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen, mit Vorsicht begegnen sollte.
Kaum ein anderes psychologisches Thema interessiert die breite Öffentlichkeit so wie die Ursachen von Aggression und Gewalt, und dabei steht die angeblich dramatisch zunehmende Kinder- und Jugendgewalt im Mittelpunkt. Die These, Gewalt und Delinquenz von Kindern und Jugendlichen hätten in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen, bedarf allerdings einer genaueren Analyse. Dabei muss man auch zwischen gespielter und ernsthafter Aggression unterscheiden. Sucht man nach den Ursachen für antisoziales Verhalten Heranwachsender, so steht eine Beobachtung im Vordergrund: Gewalt (von Eltern) erzeugt Gewalt (bei Kindern). Mit diesen und weiteren Fragen befasst sich der vorliegende Abschnitt.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
C. Styrsky
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Aggression (aggression): Handlung mit der Absicht (Intention), eine andere Person oder Sache zu verletzen oder zu schädigen. Aggressivität (aggressiveness): interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Neigung, in bestimmten Situationen aggressiv zu handeln. Aggressivität bezeichnet also eine Persönlichkeitseigenschaft (Disposition).
Es ist für eine einzelne Disziplin wie die Pädagogische Psychologie unmöglich, ein umfassendes Bild der Ursachen und Entstehungsprozesse von Aggression, Kriminalität und Gewalt zu zeichnen. Auch die Psychologie als Gesamtdisziplin wäre dabei überfordert (7 Abschn. 18.3.2). Dieses Gesamtbild müsste z. B. auch berücksichtigen, dass die Darstellung von Aggression und Gewalt dank der Medien im Leben aller Kinder von klein auf allgegenwärtig ist. Glücklicherweise gilt das nicht für reale Gewalterfahrungen, die nur einen Bruchteil der Heranwachsenden betreffen. Auch wenn Kinder schon frühzeitig zwischen realer und gespielter Aggression unterscheiden können, wie wir im nächsten Abschnitt zeigen werden, darf man keinesfalls davon ausgehen, dass die »Mediengewalterfahrung« ohne Wirkung bleibt. Es spricht einiges für die Abstumpfungshypothese, die Folgendes besagt: Die ständige Rezeption von Gewalt in den Medien führt dazu, dass es zu einer emotionalen Abstumpfung gegenüber Gewalt kommt. Zur Erklärung der Entstehung von Gewalt und Aggression stellen wir in diesem Abschnitt das Early-Starter-Modell, ein genuin psychologisches Modell, in den Mittelpunkt. Wir verstehen unter einer Aggression gegen eine andere Person eine Handlung, die mit der Absicht ausgeführt wird, die Person psychisch oder physisch zu schädigen. Statt einer Person kann auch eine Sache das Ziel einer aggressiven Handlung sein; man spricht dann von Vandalismus. Im Unterschied zur Aggression bezeichnet Aggressivität keine Handlung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal: die Eigenschaft oder Disposition, aggressiv zu reagieren. Die Begriffe Aggression und Gewalt werden häufig synonym gebraucht (Uslucan 2003), dabei ist das Konzept der Aggression eher in der Psychologie, das Konzept der Gewalt eher in der Soziologie beheimatet. Traditionell hat man Gewalt nur auf physische Aggressionen bezogen; heute ist es aber auch manchmal üblich, von psychischer Gewalt zu sprechen. Manche Autoren beschränken jedoch den Gewaltbegriff auf schwerere physische Aggressionen. Antisoziales Verhalten ist ein Sammelbegriff für alle Verhaltensweisen, bei denen aus egoistischen Motiven die Anliegen anderer Personen oder der Gemeinschaft in grober Form nicht beachtet werden.
Kritisch nachgefragt
Gibt es eine langfristige Zunahme delinquenten Verhaltens von Schülern? Am 5. September 1998 berichtete das ZDF, dass im Vergleich zum Vorjahr die Kriminalitätsraten bei Kindern (etwa 10%) und Jugendlichen (etwa 5%) abermals drastisch gestiegen sind – bei gleichzeitig abnehmender Delikthäufigkeit in der Gesamtbevölkerung. Spiegeln diese Kriminalitätsraten einen langfristigen Trend wider, und weisen die Kriminalstatistiken auf die Zunahme von Aggressivität und Gewaltbereitschaft hin? Die prozentualen Zuwachsraten sind so eindeutig, dass nichts gegen eine uneingeschränkte Bejahung dieser Frage zu sprechen scheint. Doch ist aus 3 Gründen Vorsicht geboten: 4 Kriminalitätsraten sind nur ein indirekter Anhaltspunkt für Gewaltbereitschaft und Aggressivität. 4 Es gibt Hinweise darauf, dass die Öffentlichkeit aufgrund der Gewaltdiskussion sensibler gegenüber Delikten junger Menschen geworden ist. 4 Ein Trend über 2 oder 3 Jahre kann untypisch für langfristige Veränderungen sein. Lösel et al. (1999) haben in einem Langzeitvergleich untersucht, ob die Häufigkeit delinquenten und aggressiven Verhaltens unter männlichen Hauptschülern der 8. Klasse über den Zeitraum von 22 Jahren zugenommen hat. Im Jahre 1995 wurden für diese Personengruppe wie schon 1973 an denselben beiden Hauptschulen in Nürnberg Daten er-
hoben. Die Stichprobe umfasste 1973 161, im Jahre 1995 66 männliche Jugendliche. Als Messverfahren verwendeten die Autoren die »Delinquenzbelastungsskala« (DBS). Sie umfasst 28 Items, die ein breites Spektrum von Straftaten betreffen, beispielsweise Betrügen, Schwarzfahren, Zechprellerei, Diebstahl, Einbruch, Androhung von Gewalt und Körperverletzung. Die Schüler wurden gefragt, ob sie dieses Delikt schon einmal begangen haben, und wenn ja, wie oft im letzten Jahr. Gegen Selbstauskünfte lassen sich etliche methodische Bedenken anführen, doch hat sich die DBS als ein relativ reliables und valides Verfahren erwiesen. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen einen Gesamtzuwachs an Taten um ca. 58%. Dieser generelle Zuwachs muss aber nach Lösel et al. (1999, S. 70; Hervorhebung durch den Autor) differenziert betrachtet werden:
Diese hohen Werte kommen allerdings nicht zuletzt dadurch zustande, dass einzelne Schüler bei manchen Delikten sehr große Häufigkeiten angeben (z. B. beim Schwarzfahren, Waffentragen, Kaufhausdiebstahl). Die jeweiligen Antworten sind aber gegenüber den anderen Items durchaus differenziert. ... Beim Vergleich der Häufigkeiten zwischen den unterschiedlich gewichtigen Taten zeigt sich 1973 und 1995 eine ähnliche Struktur: Bagatelldelikte wie Schwarz-
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869 19.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
fahren werden vom Großteil der Jugendlichen zugegeben, Ladendiebstahl und Körperverletzungen immerhin noch von mehr als der Hälfte, Raubdelikte oder Bedrohungen mit der Waffe nur von einer kleinen Minderheit. Ein zentrales Ergebnis dieses Langzeitvergleichs ist also, dass sich die befragten männlichen Hauptschüler Mitte der 90er Jahre
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nicht insgesamt antisozialer verhalten, sondern eine kleine Gruppe von Intensivtätern angewachsen und/oder »aktiver« geworden ist. »Da die allgemein häufig aggressiven und delinquenten Jugendlichen eindeutig auch jene sind, die in der Schule am stärksten zur Gewalt neigen ..., ist anzunehmen, dass vor allem diese kleine Gruppe zu den aktuell diskutierten Problemen beiträgt ...« (Lösel et al. 1999, S. 75f.)
Gespielte und ernsthafte Aggressionen
Ziel 15: Grenzen Sie gespielte und ernsthafte Aggression voneinander ab.
Gespielte und ernsthafte Gewalt Erkennen Sie den Unterschied zwischen gespielter Aggression (Bild links) und ernsthafter Aggression (Bild rechts)? Der Vergleich dieser beiden Fotos sollte Sie davon überzeugen, dass manche Handlungen von Kindern nur auf den ersten Blick Aggressionen darstellen – tatsächlich handelt es sich dabei um Spiel mit aggressiven Themen (Bild links). Andere Handlungen sind eindeutig ernsthaft aggressiv – verbunden mit der Absicht, den anderen zu verletzen oder in einer anderen Weise zu schädigen (Bild rechts). Erkennen Sie auch die Unterschiede in der Körperhaltung der »Täter«?
Mit freundlicher Genehmigung von I. Engel
Mit freundlicher Genehmigung von I. Engel
Wie schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt angedeutet wurde, ist in unserer Kultur die Stellungnahme der Erwachsenen zu antisozialem Verhalten und Aggressionen widersprüchlich. Einerseits gibt es einen klaren, uneingeschränkten Konsens gegen bestimmte Formen der Gewaltausübung, etwa gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern oder gegen schwere Körperverletzungen. Andererseits aber ist die Darstellung von Gewalt in den Medien für die Mehrheit der Zuschauer so attraktiv, dass selbst Initiativen zur Eindämmung der »Mediengewalt« immer nur kurzfristige Scheinerfolge feiern können. Ist die Widersprüchlichkeit im Umgang mit Aggression und Gewalt, die Erwachsene bei sich selbst bewusst erleben oder auch nur erahnen, der Grund dafür, dass sie sich bei der Unterscheidung von echten und vermeintlichen Aggressionen bei Kindern und Jugendlichen schwertun? Die sonst auch für Erwachsene klare Trennung zwischen Spiel und Aggression gerät ins Schwimmen, wenn der Inhalt des Spiels in aggressiven Handlungen besteht. Betrachten Sie die beiden Kinder auf dem Foto links und die beiden Jugendlichen auf dem Foto rechts. In dieser krassen Gegenüberstellung ist es für Sie wahrscheinlich keine Frage, dass es sich bei dem linken Foto nur um Spiel handelt, bei dem rechten Foto hingegen um eine ernsthafte Aggression. Aber ersetzen Sie auf dem Foto links Pfeil und Bogen durch Spielzeugpistolen, und erweitern Sie den Bildausschnitt, so dass sichtbar wird, dass die beiden Schützen auf andere Kinder zielen. Sind Sie immer noch der Meinung, dass es sich nur um Spiel handelt? Wir definieren eine Handlung mit aggressivem Inhalt, also eine Handlung, die die psychische oder physische Verletzung oder Schädigung eines anderen zum Thema hat, dann als gespielte Aggression, wenn sie vom Akteur mit dem Bewusstsein ausgeführt wird, dass es sich um Spiel handelt. Dieses »Spielbewusstsein« schließt ein, 4 dass der Akteur »nur so tut, als ob«, 4 dass er selbst sich dieses Als-ob-Charakters bewusst ist und 4 dass er dem anderen keine Schädigung zufügen will.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
Bei ernsthaften Aggressionen hingegen fehlt der Als-ob-Charakter – das macht ihre Ernsthaftigkeit aus –, und sie sind ausdrücklich mit der Intention der Schädigung oder Verletzung verbunden. Obwohl auf der Phänomenebene eine eindeutige Unterscheidung zwischen ernsthafter und gespielter Aggression getroffen werden kann, sind Pädagogen uneins darüber, ob gespielte Aggressionen wirklich nur Spiel sind (Frey u. Hoppe-Graff 1994; Wegener-Spöhring 1994). Aber auch Psychologen zeigen manchmal wenig Sensibilität für die Unterscheidung. Blättern Sie bitte zu 7 Abschn. 8.3 zurück. Dort wird kurz auf eine klassische Studie von Bandura et al. (1961) zum Beobachtungslernen verwiesen. Kinder sahen dabei zu, wie Erwachsene eine Plastikpuppe verprügelten. Später allein gelassen, ahmten sie die Erwachsenen nach. Es ist unseres Erachtens nicht ohne weiteres klar, dass diese Studie ein überzeugender Beleg dafür ist, dass ernsthafte (und nicht gespielte) Aggressionen durch Beobachtungslernen erworben werden.
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Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt
19.4.2
Das Opfer im Blick Mobbing oder Bullying äußert sich als subtile, andauernde Gewalt gegenüber einem Schwächeren durch einen oder mehrere Täter
Mobbing (mobbing): spezielle Form der Aggression, die dadurch charakterisiert ist, dass das Opfer wiederholt und systematisch aggressiven Akten eines oder mehrerer Täter ausgesetzt ist; bei Kindern häufig auch als Bullying bezeichnet.
Betrachten Sie bitte . Abb. 19.4. Sie besteht aus 2 Teilen. Beide zeigen in schematischer Darstellung aggressive Handlungen in einer Gruppe von Kindern, die namentlich genannt oder auch nur mit Buchstaben bezeichnet sind. In . Abb. 19.4a tritt ein Kind, Marc, gegenüber den meisten anderen Kindern recht aggressiv auf. Wollen wir das aggressive Verhalten unterbinden und bessere Verständigung in der Gruppe schaffen, so müssen wir uns auf Marc konzentrieren. Betrachten Sie nun . Abb. 19.4b. Hier steht nun nicht mehr ein besonders aggressiver Täter im Mittelpunkt, sondern ein Opfer (Jan), auf das sich nahezu alle Aggressionen richten. Ein Täter wie Reto attackiert hier nicht viele andere Kinder, sondern typischerweise immer ein und dasselbe, Jan. Wie die Abbildung zeigt, hat sich Reto mit Roger verbündet. Hinzugefügt sei, dass die Initiative meistens von Reto ausgeht, Roger aber immer mitmacht. »Die beiden Jungen treten selbstsicher und zielbewusst auf und machen allen klar, dass sie in der Gruppe das Sagen haben. Gelegentlich holen sie sich direkt Unterstützung durch die anderen Kinder, um Jan zu plagen; diese stehen dann Wache, sehen bedrohlich aus, halten Jan fest, helfen mit, ihn zu hänseln und auszulachen etc. Nach einiger Zeit sind sich alle einig, dass Jan es verdient, auf diese Art und Weise behandelt zu werden. Einige wagen sich nun auch, ohne ihre Anführer etwas Gemeines mit Jan anzustellen.« (Alsaker 2003, S. 18) Was soeben sehr anschaulich beschrieben wurde, ist die typische Mobbing-Situation. Mobbing ist eine spezielle Form von Aggression in Gruppen von Personen – in diesem Fall von Kindern. Von Mobbing (auch: Bullying, Schikanieren, Tyrannisieren) spricht man dann, wenn ein Kind wiederholt und systematisch den Aggressionen eines oder mehrerer anderer Kinder ausgesetzt ist.
Mobbingsituation
Aggressives Kind c
Marc
d
k
e
h g
f
a
Seltenere aggressive Handlungen Zusammenhalt
Jan i
h
Aggressive Handlungen . Abb. 19.4. Was ist Mobbing? Schematische Darstellung des Unterschieds zwischen a Aggression, die von einem Kind ausgeht, und b der Mobbingsituation. (Nach Alsaker 2003)
Roger
Reto
e g
h f
b
© Verlag Hans Huber Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags.
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Ziel 16: Sie beobachten Gewalt unter Kindern. Woran erkennen Sie, dass es sich um Mobbing handelt?
871 19.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
Mobbing kann viele Gesichter haben. Es kann, wie Aggression generell, neben physischen auch sehr subtile verbale oder indirekte Formen annehmen. Dennoch lassen sich aber typische Merkmale von Mobbing-Episoden herausarbeiten: 4 Das Opfer wird erniedrigt, als wertlos behandelt, so lange, bis es sich schließlich selbst als wertlos erlebt. Es steht den Attacken meistens hilflos gegenüber, auch deshalb, weil es in der Regel in der Gruppe sozial isoliert ist. 4 Jene Kinder in der Gruppe, die weder Opfer noch Täter sind, also die Zuschauer, reagieren meistens mit Wegschauen, Schweigen und Passivität. Ein Grund dafür ist die Furcht vor Repressalien durch die Täter. 4 Die Täter haben Spaß am Mobbing, und sie erleben die Hilflosigkeit des Opfers und die Passivität der Zuschauer als verstärkend. Was kann man gegen Mobbing tun? Weil Mobbing ein Modethema ist, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Ratgebern und Präventionsprogrammen, aus denen im deutschsprachigen Raum 2 Ansätze herausragen: der Maßnahmenkatalog von Olweus (1996; vgl. auch Hanewinkel u. Eichler 1999) und das Berner Präventionsprogramm Be-Prox von Alsaker (2003). Bei aller Verschiedenheit gibt es in den Zielsetzungen und den Grundlagen etliche Gemeinsamkeiten; deshalb beschränken wir uns darauf, die Grundlagen des Berner Präventionsprogramms im Überblick vorzustellen. Dabei folgen wir weitgehend der Darstellung in Alsaker (2003). Grundsätze aus dem Berner Präventionsprogramm 1. Mobbing hat schwere Folgen für Opfer und Täter (ungünstige Prognosen für die zukünftige Entwicklung). Konsequenz: Mobbing ernst nehmen! 2. Mobbing folgt, wie oben gezeigt, einem bestimmten Muster. Konsequenz: Lernen, hinzuschauen, nach Mustern zu suchen und Einzelfälle von systematischen Quälereien zu unterscheiden. 3. Mobbing ereignet sich meistens an unbeaufsichtigten oder unübersichtlichen Orten. Konsequenz: Aufsicht besonders an unübersichtlichen Orten und auch an wenig benutzten, abgelegenen Ecken der Schule leisten. 4. Mobbing lohnt sich für die Täter. Konsequenz: Den Tätern die negative Schau stehlen, ihnen positive Aufmerksamkeit für angemessenes oder positives Verhalten schenken. 5. Opfer können sich schlecht wehren. Konsequenz: Die Opfer einerseits vor den Angriffen der aggressiven Kinder schützen, ihnen andererseits angemessene Formen der Abwehr beibringen. Aber keinesfalls von den Opfern verlangen, dass sie sich selbst wehren, denn manchen Kindern fehlt diese Fertigkeit einfach. 6. Opfer haben keine Unterstützung. Konsequenz: Den Opfern Unterstützung und Schutz gewähren. Ihre Ressourcen wahrnehmen. Auf Akzeptanz von der Gruppe und Integration in sie hinzielen. 7. Bereits ab dem Vorschulalter können Kinder Mobbing wahrnehmen. Konsequenz: Die Wahrnehmung der Kinder stärken und ihren Sinn für Gerechtigkeit nutzen. Die Kommunikation über Gefühle und Einsamkeit fördern. 8. Die Täter leben davon, dass es Mitläufer, wohlwollende Zuschauer und »Wegschauer« gibt. Konsequenz: Über die eigene Verantwortung in Bezug auf Mobbing reflektieren. Den Kindern ihre Mitverantwortung klarmachen. 9. Nach allen Erfahrungen ist die Hälfte der Kinder in Mobbing-Situationen nicht einbezogen. Konsequenz: Die nicht einbezogenen Kinder aktiv an der Arbeit gegen das Mobbing beteiligen.
Von diesen Prinzipien sollten sich alle Erwachsenen leiten lassen, die mit Gruppen von Kindern zu tun haben. Im Berner Präventionsprogramm, das vornehmlich für die Anleitung von Lehrkräften entwickelt worden ist, sind sie nur einer der Ausgangspunkte für die Programmentwicklung gewesen. Eine relativ ausführliche Beschreibung sowohl der Konzeptes als auch der praktischen Durchführung des Berner Präventionsprogramms ist bei Alsaker (2003) zu finden.
»Das Muster von Mobbing rechtzeitig zu erkennen ist der erste Grundstein der präventiven Arbeit.« F.D. Alsaker, »Quälgeister und ihre Opfer« (2003)
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19.4.3
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Das Early-Starter-Modell
Ziel 17: Stellen Sie die zentralen Aussagen des Early-Starter-Modells vor. Vergleichen Sie Early Starter und Late Starter: Welche Gruppe weist die schlechteren Prognosen für die weitere Entwicklung auf?
Early-Starter-Modell (early-starter model): Modellvorstellung, der die Annahme zugrunde liegt, dass die meisten delinquenten, antisozialen Jugendlichen ihre »Karriere« aufgrund negativer familiärer Erfahrungen bereits im Vorschulalter begonnen haben.
»Wir haben einen Prozess der Zwangsausübung (in der elterlichen Erziehung) aufgedeckt, der bereits in den ersten Lebensjahren der Kinder beginnt.« G.R. Patterson, »The early development of coercive family process« (2003)
Psychologen und Soziologen haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, wo die hauptsächlichen Quellen für die Jugendkriminalität (oder Jugenddelinquenz) liegen. Einflussreiche soziologische Theorien sehen die Hauptursache in negativen Einflüssen von Gleichaltrigen (Peers). Negative Vorbilder und negativer Gruppenethos in der Subkultur sind bedeutende Gefahren auch für jene Heranwachsenden, die zuvor in der Kindheit relativ problemlos aufgewachsen sind. Dagegen sind die meisten Psychologen, die sich mit der Vorhersage von Jugenddelinquenz und den Vorläufern von Kriminalität und antisozialem Verhalten befassen, heute der Meinung, dass relativ frühe negative Bedingungen in der Familie, insbesondere eine ungünstige Erziehung durch die Eltern, für einen Großteil der späteren »Problemfälle« mitverantwortlich sind. Wir werden uns zwei dieser psychologischen Beiträge näher ansehen: das Early-Starter-Modell von Patterson et al. (1991; Patterson 2003) und die Längsschnittbeobachtungen von Eron et al. (1991). Es handelt sich zwar um amerikanische Arbeiten, aber die US-amerikanische und die westeuropäische Kultur ähneln sich insbesondere in den für die Jugendlichen bedeutsamen Lebensbedingungen so sehr (und werden einander immer ähnlicher), dass sich viele Parallelen ziehen lassen. Das Early-Starter-Modell ist von Patterson et al. (1991; Patterson 2003) speziell für Jungen bzw. Söhne formuliert worden und enthält die folgenden zentralen Thesen zu der Frage, auf welchem Pfad sich der »Einstieg« in antisoziales Verhalten und Delinquenz vollzieht: 4 Die Vorläufer von antisozialem und delinquentem Verhalten sind in der Familie zu finden, und sie liegen in der Kindheit, lange bevor negative Einflüsse und Vorbilder in Gruppen von gleichaltrigen Jugendlichen einen ungünstigen Einfluss ausüben können. 4 Weil sie früher angesiedelt sind und weil sie den Erwerb elementarer zwischenmenschlicher Fähigkeiten betreffen, üben sie – insgesamt betrachtet – einen viel nachhaltigeren Einfluss auf die spätere Entwicklung zu angepasstem oder abweichendem Verhalten aus als die Gleichaltrigengruppe im Jugendalter. Patterson räumt allerdings ein, dass diese Beschreibung nur die Hauptgruppe von »Risikopersonen« betrifft – er nennt sie Early Starter. Daneben gibt es eine zweite Gruppe mit einem geringeren Risiko, auf die »schiefe Bahn« zu geraten und mit besseren Chancen, den Weg zurück zu finden. Diese Gruppe nennt er die Late Starter. Wir beschränken uns zunächst auf die Beschreibung der Erziehungserfahrungen, die die Early Starter machen; in 7 Unter der Lupe: »Zwei Wege zur Jugenddelinquenz« stellen wir aber die beiden Personenkreise einander gegenüber. Early Starter, also Jungen, die später zu Jugendlichen und Erwachsenen werden, die ein erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten und Konflikte mit dem Gesetz aufweisen, erleben bereits im Kleinkindalter in den familiären Beziehungen eine andere Qualität des Umgangs miteinander als ihre Altersgenossen. Sie wird durch spezifische Eigenheiten der elterlichen Erziehung bestimmt und zu einem dominierenden Merkmal der Beziehungen zwischen allen Familienmitgliedern. Die Arbeitsgruppe um Patterson spricht von Nötigung oder Zwang (»coercion«). Als Zwang oder Nötigung (oder als »Zwang ausübend« oder »nötigend«) bezeichnen Patterson et al. jene Prozesse in der elterlichen Erziehung, durch die schon kleine Kinder von 2 oder 3 Jahren dazu gebracht werden, selbst aversive (feindselige) Verhaltensweisen zu zeigen, um feindselige Ansinnen anderer Familienmitglieder (Aufforderungen, Befehle, Attacken) abzuwehren. Dominiert der Zwang die Familienbeziehungen, so sprechen diese Autoren auch von Zwang ausübenden Familien (»coercive families«). Patterson vertritt die Position der Theorie des sozialen Lernens, und deshalb nimmt er an, dass in Zwang ausübenden Familien die Kinder nach einfachen Lernprinzipien von ihren Eltern die negativen Verhaltensweisen übernehmen. Ein Element der von Zwang geprägten Erziehung sind physische und verbale Aggressionen gegen das Kind. Pattersons eigene Daten demonstrieren eindrucksvoll, wie – ganz im Sinne lerntheoretischer Prinzipien – aus Kindern, die aggressiver Erziehung ausgesetzt sind, zunehmend aggressiv handelnde Kinder werden.
873 19.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
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In Zwang ausübenden Familien werden Kinder regelrecht in der Einübung einzelner aggressiver Verhaltensweisen trainiert. Auswertungen von Hunderten sozialer Interaktionen zwischen Mitgliedern dieser Familien zeigen, wie reichhaltig die Verstärkerpläne sind, nach denen die Kinder Zwang ausübendes Verhalten lernen (7 Abschn. 8.2 zu Verstärkung und Verstärkerplänen). Obwohl auch nach dem Prinzip der positiven Verstärkung erzogen wird, steht die negative Verstärkung im Vordergrund. Dabei nörgelt oder meckert die Mutter oder der Vater an dem Kind herum. Dies reagiert darauf feindselig, z. B. mit aggressivem Verhalten. Oftmals lassen es die Eltern dabei bewenden – ziehen sich zurück oder reagieren neutral auf das feindselige Verhalten des Kindes. In verschiedenen Vergleichsstudien wurden die Interaktionen von Familien mit Kindern, die Verhaltensprobleme zeigten, und Familien mit nicht gestörten Kindern verglichen. In den Familien der Kinder mit Verhaltensproblemen kamen Zwang ausübende Interaktionen ungleich häufiger vor (Patterson et al. 1991). Wenn dieses »Training« anhält, eskaliert das Zwang ausübende Verhalten des Kindes. Zum Beispiel treten an die Stelle von Nichtgehorchen, Rumjammern und Widerrede gewichtigere Verhaltensweisen wie Wutausbrüche und Schlagen. Es hat sich auch bestätigt, dass damit die Wahrscheinlichkeit wächst, dass – wenn auch zunächst nur selten – schwerwiegendere antisoziale Verhaltensweisen dazukommen wie Stehlen und Zündeln. Die Gruppe um Patterson beobachtete auch, dass sich das Verhalten über den Familienkontext hinaus generalisierte, etwa auch auf die Schule. Damit sind jene Prozesse genannt, die das Early-Starter-Modell in Gang setzen. Die deutlich sichtbaren Formen antisozialen Verhaltens (Attacken gegen andere Kinder, Zornausbrüche, Ungehorsam, Stehlen usw.) führen zumal im Schulkontext dazu, dass das Kind von den Gleichaltrigen abgelehnt wird; und das antisoziale Verhalten hat auch Leistungsprobleme in der Schule zur Folge. . Abb. 19.5 zeigt in schematischer Darstellung, wie sich die Gruppe um Patterson den weiteren Weg bis zum antisozialen und kriminellen Erwachsenen vorstellt.
Klasse 4, 5, 6
Klasse 7–12
Elterliche Erziehung und Lenkung
Elterliche Erziehung und Lenkung
Elterliche Erziehung und Lenkung
Antisoziales Verhalten
Antisoziales Verhalten
Delinquenz DelinDelinDelinquenz quenz quenz und und und und und und antisoziales antisoziales antisoziales antisoziales antisoziales antisoziales Verhalten VerhalVerhalten Verhal VerhalVerhal-
Gleichaltrigengruppe mit abweichendem Verhalten
Gleichaltrigengruppe mit abweichendem Verhalten
Defizite in sozialen Fähigkeiten
Defizite in sozialen Fähigkeiten
Defizite in sozialen Fähigkeiten
Erziehung in einer »Zwang ausübenden« Familie Diese Art von Erziehung erzeugt einen fatalen Kreislauf: Gewalt erzeugt Gewalt
. Abb. 19.5. Pfad zur Jugend- und Erwachsenenkriminalität Zusammenhang zwischen Defiziten in der elterlichen Erziehung im Schulalter und der späteren Bereitschaft zu antisozialem und delinquentem Verhalten. (Nach Patterson et al. 1991)
Erwachsene
Kriminalität und antisoziales Verhalten
© 1991, Lawrence Erlbaum Associates, Inc.
Klasse 1, 2, 3
M. Barton
! In Familien, die mit Zwang und Nötigung erziehen, werden aus kleinen Kindern, die Aggression erfahren, häufig aggressiv handelnde Heranwachsende.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
In Teilausschnitten ist das durch . Abb. 19.5 veranschaulichte Modell durch die Beobachtungen aus Pattersons eigener Längsschnittstudie, der Oregon Youth Study, bestätigt worden. Antisoziales Verhalten in der 4. Klassenstufe hängt mit polizeilich registrierten Vergehen in der 7. Klassenstufe (wenn die Jungen 13 oder 14 Jahre alt sind) zusammen.
19 Unter der Lupe
Zwei Wege zur Jugenddelinquenz Die frühe Weichenstellung durch ungünstige elterliche Erziehung ist aber nur einer von zwei Wegen, die Patterson et al. (1991) beschreiben, um zu erklären, wie jemand zu einem delinquenten Jugendlichen wird. Early Starter beginnen ihre Karriere frühzeitig – Defizite in ihren Fähigkeiten zum Umgang mit anderen und zur Lösung sozialer Probleme sind schon in der Grundschulzeit erkennbar. Der andere Pfad in die Jugenddelinquenz wird von den Autoren als Late-Starter-Modell bezeichnet. Late Starter sind in der Grundschulzeit unauffällig. Sie haben mindestens ausreichende soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten, um mit anderen auszukommen, und sie fallen auch in den Schulleistungen nicht besonders ab. Die »Delinquenzkarriere« beginnt erst im frühen Jugendalter. Die Fähigkeiten der Eltern, den Kindern ein normales und unterstützendes Familienleben zu bieten, werden nun durch besondere Umstände überfordert. Das können kritische Lebensereignisse wie Scheidung, Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Krankheit sein; die Überforderung kann aber auch in den besonderen Spannungen liegen, die auftreten, wenn die Söhne in die Pubertät kommen. Das Zusammenbrechen der Fähigkeit, dem Sohn die nötige Lenkung und Aufsicht zukommen zu lassen, führt dazu, dass dieser unter massiven Einfluss der Gleichaltrigen (Peers) gerät. Je nachdem, um welche Kreise es sich bei den Peers handelt, kann das bedeuten, dass er abweichendes
19.4.4
Verhalten lernt; das ist wiederum eine Vorstufe zu delinquentem Verhalten. Late Starter geraten erst mit 15 Jahren oder später erstmals mit dem Gesetz in Konflikt. Der Zeitpunkt, zu dem die Delinquenz sichtbar wird, ist nicht nur für sich genommen ein wichtiges Datum. Er gibt auch Aufschluss darüber, wie massiv die Mängel in den Fähigkeiten sind, soziale Beziehungen und Konflikte normal zu regeln: 4 Early Starter sind bereits im Grundschulalter aufgrund der oben beschriebenen Mängel beeinträchtigt, und ihre Defizite werden nicht ausgeglichen, sondern immer größer. 4 Bei der Gruppe der Late Starter beginnen die Mängel erst im frühen Jugendalter, in den Klassenstufen 6, 7 oder 8 – deshalb sollten diese Jugendlichen trotz ungünstigen Einflusses durch antisoziale Peers bereits grundlegende soziale Haltungen und Fertigkeiten erworben haben. Zusammengefasst bedeutet dies, dass das Risiko dafür, auf eine Bahn zu geraten, die über Jugenddelinquenz zum kriminellen Erwachsenen führt, für Early Starter ungleich größer ist. Für Late Starter liegt die Chance, die antisoziale Karriere wieder zu verlassen, darin, dass auch unter dem negativen Einfluss von Peers die in der Kindheit erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu einem normalen sozialen Umgang nicht verloren gehen.
Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten
Ziel 18: Fassen Sie wichtige Ergebnisse der Längsschnittstudie von Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und der Entwicklung antisozialen Verhaltens zusammen.
Das Early-Starter-Modell und die »Kurzzeit«-Längsschnittdaten (von Klassenstufe 4 bis 7) der Oregon Youth Study sprechen dafür, dass aggressive und antisoziale Verhaltensmuster unter ungünstigen Erziehungsbedingungen frühzeitig gelernt werden. Wir werden nun Beobachtungen vorstellen, die demonstrieren, dass in der Kindheit erworbene Aggressivität tatsächlich eine Last ist, an der man unter Umständen bis in das Erwachsenenalter trägt und die sogar für die Erziehung der eigenen Kinder ungünstige Bedingungen schafft. Dies hat zur Folge, dass über die elterliche Erziehung ein erhöhtes Maß an Aggressivität über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden kann. Eron et al. begannen im Frühjahr 1960 im Staate New York mit der Beobachtung einer großen Gruppe von Mädchen und Jungen, als diese etwa 8 Jahre alt waren (3. Schuljahr). In einer beeindruckenden »Langzeit«-Längsschnittstudie setzten sie die Beobachtungen über einen Zeitraum von 22 Jahren fort. Im Sommer 1981 nahmen von den ursprünglich 875 Versuchsteilnehmern immerhin noch 632 an umfangreichen Nachuntersuchungen teil. Als die Kinder 8 Jahre alt waren, wurden folgende Variablen beobachtet: Elternmerkmale: 4 das Ausmaß der Zurückweisung des Kindes durch die Eltern, gemessen durch das Ausmaß der Ablehnung der Verhaltensweisen und Eigenschaften des Kindes;
875 19.4 · Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
4 die Neigung zu intensiver Bestrafung als Reaktion auf Aggressionen des Kindes; gemessen durch die Einschätzung der eigenen Reaktion in verschiedenen vorgestellten Situationen. Kindmerkmale:
4 das Ausmaß der Identifikation mit den Eltern, erfasst über die Ähnlichkeit der Selbstbeurteilung in verschiedenen Verhaltensmerkmalen; 4 das Ausmaß der Aggressivität, gemessen durch die Einschätzung Gleichaltriger. Nach 22 Jahren wurden verschiedene Aggressivitätsmaße und Kriminalitätsindizes erhoben. Darunter waren 4 die Selbsteinstufung der eigenen Aggressivität, 4 die mit einem normierten Persönlichkeitsfragebogen gemessene Aggressivität, 4 die Einschätzung der Aggressivität durch den Ehepartner, 4 Daten über aktenkundige Straftaten, 4 die Selbsteinstufung der Neigung zu harter Bestrafung bei den eigenen Kindern und 4 die Selbsteinstufung der Neigung zu harter Bestrafung von Kindern in vorgestellten Erziehungssituationen. Die Ergebnisse lassen sich in 5 Punkten zusammenfassen (Eron et al. 1991). 1. Zwischen der Aggressivität der 8-jährigen Kinder und den zum selben Zeitpunkt gemessenen Erziehungsmerkmalen (Zurückweisung, Härte der Bestrafung) sowie dem Beziehungsmerkmal der Identifikation gibt es Korrelationen beachtlicher Höhe. Bildet man einen Summenwert aus Zurückweisung, Härte der Bestrafung und geringer Identifikation, so beträgt die hochsignifikante Korrelation mit der Aggressivität für Mädchen 0,43 und für Jungen 0,36. 2. Zusätzliche Daten aus einer internationalen Studie mit Kindern in einem ähnlichen Altersbereich erlauben eine Aussage über die Richtung des Zusammenhangs. Die genannten Besonderheiten in den Erziehungs- und Beziehungsmerkmalen sind die Folge und nicht die Voraussetzung von Aggressivität: Auf Aggressionen seitens der 8-jährigen Kinder reagieren Eltern mit Zurückweisung und harter Bestrafung, und es stellt sich bei den Kindern eine geringe Identifikation ein. 3. Eron et al. sehen dieses Resultat als Ausschnitt aus einem sich aufschaukelnden Prozess, den wir aus dem Early-Starter-Modell kennen. Falsche Erziehungsmaßnahmen liefern schon im Vorschulalter Vorbilder und Verstärkungen für aggressive und antisoziale Verhaltensweisen, die, wenn sie von den Kindern übernommen werden, das feindselige und aggressive Erziehungsklima abermals verstärken. 4. Zwischen der Zurückweisung, der Neigung zu intensiver Bestrafung und der geringen Identifikation im Grundschulalter und den verschiedenen Aggressivitäts- und Kriminalitätsmerkmalen im Erwachsenenalter sind insgesamt mäßig hohe, aber statistisch bedeutsame Beziehungen zu beobachten. Beispielsweise korrelieren bei Männern (nicht aber bei Frauen) die Kriminalitätsindizes statistisch bedeutsam mit der Härte der Bestrafung und geringer Identifikation. 5. Die von den Eltern berichtete Neigung zu harter Bestrafung nach aggressiven Verhaltensweisen wird von den Kindern aufgegriffen, wenn diese selbst in dem Alter sind, dass sie eigene Kinder haben oder haben könnten. Bei den 30-jährigen Männern besteht zwischen der Neigung zu harter Bestrafung durch ihre Eltern, die 22 Jahre früher gemessen wurde, und der mit demselben Verfahren gemessenen Neigung, Aggressionen der eigenen Kinder hart zu bestrafen, eine hochsignifikante Korrelation von 0,34 (auf der Grundlage von Daten von 54 Männern). Bei Frauen beträgt die Korrelation zwischen der vorgestellten Härte der Bestrafung eines Kindes und der diesbezüglichen eigenen Erfahrung 0,25 (bei 171 Frauen; hochsignifikant). Besonders die letzten beiden Ergebnismuster lassen darauf schließen, dass sich ungünstige elterliche Erziehung nachhaltig und langwierig auswirken kann. ! In der Kindheit erworbene Aggressivität trägt zu einer Karriere als antisozialer oder sogar krimineller Erwachsener bei, und sie ist eine Bürde, die Menschen leider auch an die nächste Generation weiterreichen, wenn sie als Eltern selbst einmal Kinder erziehen.
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Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
Es wäre aber ein Trugschluss, zu glauben, dass in diesen beobachteten fatalen Zusammenhängen eine Zwangsläufigkeit steckt. Beide Forschergruppen, über die wir in diesem Abschnitt berichtet haben, weisen auf Folgendes hin: Die Tatsache, dass Aggressionen als Strategie und Haltung zur Problemlösung von früher Kindheit an gelernt werden, enthält auch noch eine andere Botschaft. Prävention und Intervention sind möglich – durch Aufklärung und Anleitung der Eltern und durch die veränderte Betreuung und Erziehung der Kinder (z. B. Patterson 1997).
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Lernziele Abschnitt 19.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen Ziel 14: Nennen Sie Gründe dafür, dass man der populären These, die Kinder- und Jugendgewalt habe in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen, mit Vorsicht begegnen sollte. Drei Gründe mahnen zur Vorsicht. Erstens sind Kriminalitätsraten nur ein indirekter Anhaltspunkt für Gewaltbereitschaft und Aggressivität. Zweitens gibt es Hinweise darauf, dass die Öffentlichkeit aufgrund der Gewaltdiskussion sensibler gegenüber Delikten junger Menschen geworden ist. Und drittens kann ein Trend über 2 oder 3 Jahre untypisch für langfristige Veränderungen sein. Ziel 15: Grenzen Sie gespielte und ernsthafte Aggression voneinander ab. Von gespielter Aggression spricht man, wenn eine Handlung mit aggressivem Inhalt – also eine Handlung, die die psychische oder physische Verletzung oder Schädigung einer anderen Person zum Thema hat –, vom Akteur mit dem Bewusstsein ausgeführt wird, dass es sich um Spiel handelt. Dieses »Spielbewusstsein« schließt ein, (a) dass der Akteur »nur so tut, als ob«, (b) dass er selbst sich dieses Als-ob-Charakters bewusst ist und (c) dass er dem anderen keine Schädigung zufügen will. Bei ernsthaften Aggressionen hingegen fehlt der Als-ob-Charakter; sie sind ausdrücklich mit der Absicht verbunden, jemanden zu schädigen oder ihm eine Verletzung zuzufügen. Ziel 16: Sie beobachten Gewalt unter Kindern. Woran erkennen Sie, dass es sich um Mobbing handelt? Von Mobbing spricht man dann, wenn ein Kind wiederholt und systematisch den Aggressionen eines oder mehrer anderer Kinder ausgesetzt ist. In typischen Mobbing-Episoden wird das Opfer erniedrigt und als wertlos behandelt, so lange, bis es sich schließlich selbst als wertlos erlebt. Es steht den Attacken meistens hilflos gegenüber, auch deshalb, weil es in der Regel in der Gruppe sozial isoliert ist. Jene Kinder in der Gruppe, die weder Opfer noch Täter sind, also die Zuschauer, reagieren meistens mit Wegschauen, Schweigen und Passivität. Ein Grund dafür ist die Furcht vor Repressalien durch die Täter. Die Täter selbst haben Spaß am Mobbing; sie erleben die Hilflosigkeit des Opfers und die Passivität der Zuschauer als verstärkend.
Ziel 17: Stellen Sie die zentralen Aussagen des Early-Starter-Modells vor. Vergleichen Sie Early Starter und Late Starter: Welche Gruppe weist die schlechteren Prognosen für die weitere Entwicklung auf? Im Early-Starter-Modell wird angenommen, dass die Vorläufer antisozialen und delinquenten Verhaltens in frühen familiären Erfahrungen liegen, lange bevor negative Einflüsse und Vorbilder in Gruppen von gleichaltrigen Jugendlichen einen ungünstigen Einfluss ausüben können. Die Arbeitsgruppe um Patterson spricht von Nötigung oder Zwang (»coercion«) und von Zwang ausübenden Familien (»coercive families«). Ein Element der zwanghaften Erziehung sind physische und verbale Aggressionen gegen das Kind, die im Sinne des sozialen Lernens von den Kindern übernommen werden. Kurz gesagt: In Familien, die mit Zwang erziehen, werden aus kleinen Kindern, die Aggression erfahren, häufig aggressiv handelnde Heranwachsende. Im Vergleich zu den Early Starter sind die Prognosen für die Late Starter günstiger. Denn die Late Starter haben in der Kindheit mindestens ausreichende soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, um mit anderen auszukommen, und sie fallen auch in den Schulleistungen nicht besonders ab. Ziel 18: Fassen Sie knapp die Ergebnisse der Längsschnittstudie von Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und der Entwicklung von Aggressivität zusammen. In dieser Studie, in der die Entwicklung vom Grundschul- bis ins Erwachsenenalter beobachtet wurde, zeigte sich, dass Aggressivität, die in der Kindheit durch ungünstige Erziehung erworben wurde, oftmals tatsächlich zu einer Last wird, an der man bis in das Erwachsenenalter trägt. Sie kann sogar für die Erziehung der eigenen Kinder ungünstige Bedingungen schaffen, so dass auf dem Wege über die elterliche Erziehung ein erhöhtes Maß an Aggressivität über mehrere Generationen weitergereicht werden kann. > Denken Sie weiter: Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen der Gruppensozialisationstheorie von Harris (7 Abschn. 19.2) und dem Early-Starter-Modell (7 Abschn. 19.4.3) her. Passen die beiden Modelle zusammen, ergänzen sie sich oder widersprechen sie einander?
877 19.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
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Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
Auf zwei dieser Themenstellungen werden wir nun etwas näher eingehen: zunächst auf die Aufgaben, die sich für die Pädagogische Psychologie aus der Tatsache ergeben, dass Kinder im Kleinkindalter einen Teil ihres Lebens zunehmend außerhalb der Familie betreut werden, und dann auf Herausforderungen, die sich aus den internationalen Schulleistungsvergleichen ergeben, die in den letzten Jahren die Öffentlichkeit bewegt haben.
Lernen im Alter Lebenslanges Lernen bedeutet, dass heutzutage auch im fortgeschrittenen Alter unter Umständen noch neue Techniken und neue Kompetenzen erworben werden müssen
C. Styrsky
Wenn die Einschätzung von Weinert und Schrader zutrifft, dass lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen in Zukunft für den Einzelnen und für ganze Gesellschaften zur existenziellen Frage wird, dann hat die Pädagogische Psychologie die Chance, zu einer der Schlüsselwissenschaften des nächsten Jahrhunderts zu werden. Ob sie diese Chance ergreift, hängt davon ab, ob und wie sie sich den Herausforderungen stellt, die in neuen Gebieten oder neuen Akzentuierungen liegen. Das lebenslange Lernen ist aber nur eine der gesellschaftlichen Entwicklungen, aus denen neue Aufgaben und Herausforderungen für die Pädagogische Psychologie erwachsen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit prognostizieren wir, dass die folgenden Themen, die zurzeit eher noch randständig sind, in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden: 4 die Überprüfung der Effektivität von Bildungsmaßnahmen und des Bildungssystems durch Evaluationsstudien, beispielsweise internationale Schulleistungsvergleiche, sowie die Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen; 4 die Entwicklung und Erprobung adressatenspezifischer Lehr- und Lernmaterialien, beispielsweise für Behinderte (z. B. Computer und Roboter mit Spracheingabe); 4 die Abschätzung der Wirkung von speziellen Medieninhalten, beispielsweise Mediengewalt, auf Kinder und Jugendliche sowie die Entwicklung und Erprobung von medienpädagogischen Maßnahmen; 4 die psychologische Begleitung der Einführung und Gestaltung neuer Medien in Bildungsmaßnahmen und Instruktionsprozessen, beispielsweise beim E-Learning; 4 die Entwicklung und Erprobung allgemeiner und spezifischer Maßnahmen und Materialien zur Gesundheitserziehung; 4 die Untersuchung von Erziehungsprozessen in neuen Familienstrukturen; 4 die Prüfung der Auswirkungen von Fremdbetreuung in Krippen, Kindergärten und Horten auf die Entwicklung von Kindern; 4 die Analyse von Problemen beim Zusammenleben in einer kulturell heterogen zusammengesetzten Gesellschaft und die Entwicklung von Vorschlägen zur interkulturellen Erziehung; 4 die Beratung und Unterstützung der Betroffenen bei der Auflösung und Neugründung von Familienstrukturen (Scheidungsmediation).
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Massive und schnelle Veränderungen der kulturellen, zivilisatorischen, technologischen, ökonomischen und beruflichen Lebensbedingungen in den westlichen Industrieländern führen gegenwärtig zu einem drastischen Wandel in den Bildungsanforderungen. Jahrtausende konnte man davon ausgehen, dass in der Kindheit und im Jugendalter jenes basale Wissen und Können aufgebaut werden kann, das Erwachsene befähigt, unterschiedliche lebenspraktische wie berufliche Aufgaben zu erfüllen und die dafür notwendige spezielle Expertise zu erwerben. ... [Es gibt keinen Zweifel,] dass die... Zyklen der notwendigen Erneuerung des individuellen Wissens immer kürzer und die durchschnittlichen Häufigkeiten beruflicher Umstellungen immer größer werden. Lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen wird deshalb künftig nicht eine bildungsbürgerliche Maxime für wenige, sondern eine existentielle Notwendigkeit für alle sein. Weinert u. Schrader (1997, S. 295)
Man lernt ein Leben lang – wenn’s Spaß macht.
878
19
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19.5.1
Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung
Ziel 19: Angesichts der zunehmenden Fremdbetreuung von Kleinkindern ist die Frage, wie sich eine derartige Betreuung in Kindertageseinrichtungen auf die Kinder auswirkt, von großer Relevanz. Nennen Sie eine wichtige Studie zu diesem Thema, und berichten Sie ausgewählte Resultate.
Veränderte Lebensformen und Familienstrukturen haben dazu geführt, dass in Deutschland und vielen anderen hoch entwickelten Gesellschaften zunehmend mehr Kleinkinder einen Teil des Tages außerhalb der Familie verbringen. Diese Veränderung hat sich ziemlich schnell vollzogen und bedeutet, jedenfalls oberflächlich betrachtet, einen markanten Wandel in den Lebensumständen junger Familien. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts war in Bezug auf die Kindererziehung die Rollenteilung zwischen Vater und Mutter klar und wurde in der Regel auch praktiziert. Der Vater war zuständig für die ökonomische Absicherung der Familie und ging, wenn möglich, einer Vollzeitbeschäftigung nach; die Mutter hatte die Verantwortung für den familiären Innenbereich, somit auch für die Pflege und Versorgung der Kinder. Dementsprechend war in den 1950er Jahren in den alten Bundesländern nur jede vierte Mutter mit Kindern unter 18 Jahren berufstätig, und bei Müttern mit Kleinkindern – wir meinen damit Kinder unter 3 Jahren – dürfte der Anteil noch deutlich niedriger gelegen haben (nach Fuhrer 2005). Sind aber beide Eltern voll berufstätig, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Betreuung der Kinder außerhalb der Kernfamilie. Vor demselben Problem stehen natürlich auch alleinerziehende berufstätige Mütter oder Väter. Sieht man von der Versorgung durch Verwandte (vornehmlich Großeltern) ab, so werden hauptsächlich zwei Unterbringungsformen praktiziert: in der Kindertagespflege (sog. Tagesmütter) und in Kinderkrippen. Wir vermuten, dass inzwischen berufliche Notwendigkeiten nicht mehr der einzige Grund dafür sind, Kleinkinder außerhalb der Familie betreuen zu lassen. Krippen werden in der Öffentlichkeit zunehmend positiv wahrgenommen; Krippenerziehung wird mit der Chance auf frühkindliche Bildung assoziiert, und man erwartet, dass das eigene Kind hier in der Gruppe soziale Erfahrungen machen kann, die es ihm später (etwa in der Schule) erleichtern werden, mit Gleichaltrigen gut auszukommen. Während über die Auswirkungen der Unterbringung in der Kindertagespflege kaum solide Daten vorliegen, gibt es zu den kurzfristigen und langfristigen Folgen der Betreuung in Kinderkrippen (also Tageseinrichtungen für die Kinder unter 3 Jahren) eine methodisch aufwendige U.S.-amerikanische Längsschnittstudie des National Institute of Child Health and Development (NICHD) an über 1300 Kindern. Die bisher gewonnenen Resultate werden in einschlägigen deutschen Lehrbuchbeiträgen (Fuhrer 2005; Schölmerich u. Leyendecker 2008; Siegler et al. 2005) nicht in allen Details übereinstimmend berichtet. Sie lassen sich unseres Erachtens aber in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen: 4 Die Befürchtung, Betreuung außerhalb der Familie habe per se einen nachteiligen Einfluss auf die Beziehung des Kindes zu den Eltern und auf seine weitere Entwicklung, ist nicht gerechtfertigt. 4 Allerdings ist die Qualität der Krippenbetreuung bedeutsam. »Empirische Untersuchungen zeigen fast ohne Ausnahme, dass die Qualität einer Fremdbetreuungseinrichtung mit den gleichzeitig gemessenen kognitiven Fähigkeiten … und der Sprachentwicklung zusammenhängt« (Schölmerich u. Leyendecker 2008, S. 715). 4 Vergleicht man jedoch den Effekt der Krippenqualität mit der Wirkung von Merkmalen der Familie des Kindes (Höhe des Einkommens, Ausbildung der Mutter, Feinfühligkeit der Mutter), so erweisen sich im Wesentlichen die familiären Merkmale als stärkerer Wirkfaktor. 4 Ungünstige familiäre Bedingungen und eine schlechte Qualität der Krippenbetreuung scheinen sich negativ zu verstärken. Beispielsweise wurde ein deutlich erhöhtes Maß unsicherer Bindungen nur gefunden, wenn das Kind einerseits eine schlechte Fremdbetreuung erfuhr und andererseits die Mutter nicht sehr verständnisvoll oder einfühlsam mit dem Kind umging (NICHD Early Child Care Research Network 1997). 4 Die Dauer der Fremdbetreuung in den ersten Lebensjahren scheint mit einer höheren Rate an Verhaltensauffälligkeiten (sowohl nach innen und als auch nach außen gerichtet) zu einem späteren Zeitpunkt einherzugehen (NICHD Early Child Care Research Network 2003).
879 19.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
19
Die ersten vier Resultate vermitteln das Bild, Fremdbetreuung sei für Kleinkinder eher positiv – vorausgesetzt die Qualität des häuslichen Milieus und der Krippe ist günstig. Weil das zuletzt genannte Ergebnis gar nicht dazu passt, gehen wir in 7 Unter der Lupe: »Geht die Aufenthaltsdauer in Kindertageseinrichtungen mit sozioemotionalen Anpassungsschwierigkeiten im Vorschulalter einher?«
näher auf diese Studie ein. Unter der Lupe
Geht die Aufenthaltsdauer in Kindertageseinrichtungen mit sozioemotionalen Anpassungsschwierigkeiten im Vorschulalter einher? Aus verschiedenen Studien der letzten Jahrzehnte lagen bereits vor der Durchführung der NICHD-Studie verschiedene Hinweise vor, die dafür sprachen, dass sich Fremdbetreuung negativ auf die sozioemotionale Anpassung auswirken kann, z. B. die Wahrscheinlichkeit für Verhaltensauffälligkeiten und Agressionen erhöhen kann. Diese Studien wiesen jedoch allesamt methodische Mängel auf. Erst die Differenziertheit und Sorgfalt der Datenerhebungen in der NICHD-Studie erlaubten es den Autoren, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Dauer der Betreuung in Kindertageseinrichtungen und der sozioemotionalen Anpassung in eine Reihe von spezifischen Fragestellungen aufzugliedern und eindeutig zu beantworten. Dazu gehörten unter anderem die folgenden Fragen: (a) Gibt es den Zusammenhang auch dann, wenn man berücksichtigt, dass Kinder, die von den Eltern schon früh als problematisch empfunden werden, eher in Fremdbetreuung kommen? (b) Ist in Wirklichkeit gar nicht die Dauer entscheidend, sondern verbergen sich hinter dem Effekt der Aufenthaltsdauer andere Merkmale (wie etwa die Qualität der Betreuung oder die Stabilität der Beziehungen, die Kinder in der Betreuung aufbauen können)? (c) Lässt sich der Einfluss der Aufenthaltsdauer letztlich auf die mütterliche Sensibilität im Umgang mit dem Kind zurückführen, etwa in dem Sinne, dass ausgiebige Fremdbetreuung die Feinfühligkeit der Mutter untergräbt, weil sie weniger Zeit mit dem Kind verbringt? (d) Zeigt sich der negative Einfluss der Aufenthaltsdauer erst dann, wenn eine bestimmte Schwelle (»Mindestdauer«) erreicht ist? Die Antworten der NICHD-Studie auf diese Fragen sind eindeutig: 1. Auch wenn man die familiäre Herkunft kontrolliert, so bestätigen die Beobachtungen an den Kindern, als sie 4 1/2 Jahre alt waren, dass Verhaltensprobleme und die Häufigkeit von Konflikten mit Erwachsenen in signifikanter Weise mit der Dauer der Fremdbetreuung, in der die Kinder bis dahin untergebracht waren, zusammenhängt: Je
länger die Betreuungsdauer, desto mehr Verhaltensprobleme und Konflikte. 2. Diese Effekte blieben auch dann weitgehend erhalten, wenn Merkmale der Fremdbetreuung (wie die Betreuungsqualität und die Stabilität der Beziehungen) und Merkmale der familiären Herkunft (wie etwa die mütterliche Sensibilität) kontrolliert wurden. 3. Der Einfluss der Betreuungsdauer auf die sozioemotionalen Anpassungsprobleme ist größer als die Wirkung der zuvor genannten anderen Merkmale der Fremdbetreuung. Allerdings wirkt er sich nicht so stark wie die mütterliche Feinfühligkeit und die sozioökonomische Herkunft des Kindes aus. 4. Es gibt keine erkennbare Schwelle, so dass man sagen könnte: »Erst wenn ein bestimmter Umfang der Fremdbetreuung überschritten ist, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Anpassungsproblemen.« Vielmehr scheint das »Dosis-Response-Modell« uneingeschränkt zu gelten: Je höher die »Dosis« an Fremdbetreuung, desto höher die Neigung zu Aggression, Disziplinproblemen und Rücksichtslosigkeit. Es sollte ergänzt werden, dass die sozioemotionalen Probleme aus verschiedenen Perspektiven erfasst wurden, durch Befragung der Mütter, der Erzieherinnen in den Betreuungseinrichtungen und die Lehrerinnen, mit denen die Kinder zu tun hatten, als sie mit 4 1/2 Jahren in die Vorschule (amerik.: kindergarten) kamen. Man kann also davon ausgehen, dass die abhängigen Variablen tatsächlich valide und reliable Maße sind. Deshalb betonen die Autoren auch die Stabilität des Effektes: » … die Dauer der Fremdbetreuung sagt nicht nur die Verhaltensprobleme voraus, wenn diese auf einer kontinuierlichen Skala eingeschätzt werden, sondern auch das Niveau (level) der Verhaltensprobleme sowie Häufigkeiten von Aggression, Disziplinproblemen und Rücksichtslosigkeit.«
Kehren wir zu unserer Ausgangsüberlegung zurück, also zu dem Ausblick auf die Fragen, denen sich die Pädagogische Psychologie in Zukunft stellen muss. Man kann die Differenziertheit und Eindeutigkeit der Befunde zur Auswirkung der Kleinkindbetreuung in Tageseinrichtungen so lesen, als sei damit alles gesagt. Die Autoren ziehen den gegenteiligen Schluss: »Unsere Beobachtungen zeigen die Notwendigkeit auf, sich in Zukunft auf die Mechanismen und Prozesse zu konzentrieren …« (NICHD 2003, S. 1001). Wie könnte diese weiterführende Forschung aussehen? Einen Ansatzpunkt haben wir oben in diesem Kapitel (Abschnitt 19.3.2) genannt: Es sollte die Tatsache berücksichtigt werden, dass Erziehungsprozesse, sei es in der Familie oder in der Fremdbetreuung, immer ein bidirektionales Geschehen sind (siehe auch Kuczynski 2003; Maccoby 2003).
» Eine der bedeutsamsten Schlussfolgerungen aus unserer Studie lautet: Obwohl die Dauer der Fremdbetreuung … mit einer Vielzahl von Indikatoren für die sozioemotionale Anpassung zusammenhängt, so erweist sich die mütterliche Sensitivität als ein noch bedeutsamerer Einflussfaktor.« NICHD Early Child Care Research Network (2003)
880
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
19.5.2
19
Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden
Ziel 20: Beschreiben Sie in groben Zügen das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung von Schulleistungen.
Bei manchen der zu Beginn dieses Abschnittes aufgelisteten neuen Aufgaben wird die Pädagogische Psychologie zur interdiszipinären Zusammenarbeit bereit und fähig sein müssen. Und sie wird bei dieser Kooperation zeigen müssen, worin ihre besonderen Kompetenzen liegen. Fragen wir deshalb exemplarisch, was die Pädagogische Psychologie z. B. bei der Analyse der Ursachen für das mäßige Abschneiden der deutschen Schüler in den PISA-Studien leistet (Deutsches PISAKonsortium 2001; 2004; 2007).
Das Beispiel PISA
»Neben dem politischen Handlungsdruck, der durch diese [PISA-2000-]Ergebnisse unübersehbar erzeugt wird, tritt ein verstärkter Erklärungsdruck, wie es zu diesen problematischen Leistungsergebnissen kommen konnte. Dabei tritt die Pädagogische Psychologie in die vorderste Reihe ... Sie hat somit eine einmalige historische Chance, ihren Erklärungsmodellen Anerkennung zu verschaffen und der öffentlichen Diskussion hilfreich zur Seite zu stehen.« Helmut Fend (2002)
Schockierende Nachrichten kommen manchmal als nüchterne Zahlen daher. Betrachten Sie . Tab. 19.4. Sie ist ein Auszug aus einem wichtigen Ergebnis der PISA-2000-Studie. Aus der Tabelle kann man unmittelbar ablesen, dass beim Vergleich der Gesamtleseleistung 15-jähriger Schülerinnen und Schüler die deutschen Teilnehmer nur Rangplatz 21 unter insgesamt 31 Staaten erreichen. Weiterhin zeigen die Standardabweichungen, dass die Streuung der Leistungen und damit die Leistungsunterschiede nirgends größer sind als bei den deutschen Schülerinnen und Schülern. Und noch ein weiteres Ergebnis, das allerdings nicht aus . Tab. 19.4 entnommen werden kann, verdient Beachtung: Betrachtet man nur die Gruppe der schwächsten Schüler, so schneidet Deutschland noch schlechter ab. Von den teilnehmenden 31 Ländern haben nur Lettland, Luxemburg, Mexiko und Schlusslicht Brasilien einen höheren Anteil von Schülern mit einer besonders schlechten Leseleistung. Was wir soeben vorgestellt haben, ist nur eine knappe Auswahl von Ergebnissen aus der PISA2000-Studie (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Beispielsweise haben wir die Ergebnisse zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung weggelassen, aber auch diese fielen für Deutschland nicht besonders gut aus. Nachdem sich nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie der Schock gelegt hatte, begann unter Politikern, Fachleuten und Journalisten die Ursachensuche, und das, obwohl die Autoren der Studie ausdrücklich klarstellten, dass ihre Untersuchung aus verschiedenen Gründen »belastbare« kausale Schlussfolgerungen nicht zulässt. Unter dem öffentlichen Druck zum Handeln neigten Politiker sehr schnell dazu, die Ursachen im Bildungssystem zu sehen: zu späte Einschulung (7 Abschn. 19.1), fehlende Ganztagsschule, zu viele Fehlstunden. Wie aber könnte eine belastbare Ursachenanalyse aussehen? Pädagogische Psychologen haben in der Vergangenheit grundsätzlich andere Faktoren in Erwägung gezogen, als sie in der Diskussion nach PISA eine Rolle gespielt haben. Psychologen legen das Augenmerk auf individuelle Leistungsvoraussetzungen, etwa die Intelligenz oder die Motivation, sowie auf den unmittelbaren Lebenskontext der Schüler, wie etwa die soziale und ökonomische Situation im Elternhaus. Die Pädagogische Psychologie war mit diesem Ansatz recht erfolgreich. »Auf dieser Ebene ist seit Jahren klar, dass vor allem zwei Faktoren die meiste Varianz erklären: die kognitiven Kompetenzen (früher meist als Intelligenz indiziert) und die Motivation, die vor allem in der Anstrengungsbereitschaft zum Ausdruck kommt. Beide werden durch den Hintergrund des Elternhauses gestützt« (Fend 2002, S. 142; Hervorhebung durch den Autor). Differenzierte Untersuchungen von Fend über den Einfluss dieser Merkmale in verschiedenen Schulsystemen (Gesamtschulen versus gegliedertes Bildungswesen) zeigten aber, dass die Bedeutung einzelner psychologischer Merkmale vom Schulsystem abhängt. ! Welche Bedeutung (psychologische) Mikrofaktoren im Einzelnen für die Leistungsentwicklung eines Kindes haben, wird von (institutionellen) Makrofaktoren festgelegt.
Vor dem Hintergrund dieser Resultate hat Fend (2002) ein beachtenswertes Angebot-NutzungsModell für das Zustandekommen von Schulleistungen entworfen, das die Mikro- und Makrofaktoren zusammenführt, ihrem unterschiedlichen Charakter Rechnung trägt und – das ist an dieser Stelle wichtig – aufzeigt, welche Rolle der Pädagogischen Psychologie bei der inter-
881 19.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
. Tabelle 19.3. Das deutsche Abschneiden beim PISA-Lesetest: Mittelwerte und Standardabweichungen der teilnehmenden Staaten für die Gesamtskala Lesen im Rahmen der internationalen PISA-Studie. (Nach PISA 2000)
Rang
Land
Mittelwert
Standardabweichung
546
89
1
Finnland
2
Kanada
534
95
3
Neuseeland
529
108
4
Australien
528
102
5
Irland
527
94
6
Korea
525
70
7
Großbritannien
523
100
8
Japan
522
86
9
Schweden
516
92
10
Österreich
507
93
11
Belgien
507
107
12
Island
507
92
13
Norwegen
505
104
14
Frankreich
505
92
15
USA
504
105
OECD-Durchschnitt
500
100
16
Dänemark
497
98
17
Schweiz
494
102
18
Spanien
493
85
19
Tschechische Republik
492
96
20
Italien
487
91
21
Deutschland
484
111
22
Liechtenstein
483
96
23
Ungarn
480
94
24
Polen
479
100
25
Griechenland
474
97
26
Portugal
470
97
27
Russische Föderation
462
92
28
Lettland
458
102
29
Luxemburg
441
100
30
Mexiko
422
86
31
Brasilien
396
86
disziplinären Ursachenforschung für Schulleistungsunterschiede zukommt. . Abb. 19.6 zeigt dieses Modell. Grundgedanke des Modells ist die Unterscheidung von Schulleistungsbedingungen, die man als Angebotsmerkmale (»angebotsbezogene Stützsysteme«) oder als Nutzungsmerkmale (»nutzungsbezogene Stützsysteme«) bezeichnen kann. Diese Trennung ist notwendig, weil Schulleistungen das Ergebnis eines Prozesses sind, in dem die eine Person (der Lehrer) einer anderen Person (dem Schüler) ein Angebot macht, auf das sie unterschiedlich reagieren kann. »Die eine Partei kann dabei die andere nicht zwingen, wunschgemäß zu reagieren, denn vor Zwang sind die Menschen in unserer Kultur normativ geschützt. Schulisches Lernen bleibt also ein Angebot, das unterschiedlich genutzt werden kann«, schreibt Fend (2002, S. 145).
19
Quantität
Standards
Kognitive Lernvoraussetzungen
ANGEBOT
NUTZUNG
Qualität
Affektive Lernvoraussetzungen
Aktuelle Nutzungsdispositionen
NUTZUNGSBEZOGENE STÜTZSYSTEME (FAMILIE, ALTERSGRUPPE)
. Abb. 19.6. Angebot-Nutzungs-Modell von Schulleistungen Angebotsbezogene und nutzungsbezogene Stützsysteme ergänzen sich beim Zustandekommen von Schulleistungen. (Nach Fend 2002)
Während Bildungssoziologen und -ökonomen Experten für die Gestaltung der Angebotsseite sind, ist die Analyse der individuellen Nutzungsbedingungen von Bildungsangeboten die Domäne der Pädagogischen Psychologie. Die Grenze zwischen diesen beiden Feldern, dem Bildungsangebot und der Nutzung von Bildung, ist in . Abb. 19.6 durchlässig eingezeichnet; Angebot und Nutzung stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Damit wird bildlich zum Ausdruck gebracht, dass die erfolgreiche Suche nach den Ursachen schlechter Schulleistungen und die Vergrößerung der Chancen für bessere Schulleistungen nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit gelingen können. ! Das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung der Entstehung von Schulleistungen führt Merkmale des Bildungssystems und des einzelnen Schülers zusammen, berücksichtigt dabei aber die Verschiedenheit dieser Merkmalsbereiche.
Außerdem eignet es sich paradigmatisch, um den Beitrag der Pädagogischen Psychologie bei der Erforschung von Bildungsprozessen, aber auch die Notwendigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit zu verdeutlichen. Lernziele Abschnitt 19.5 Neue Aufgaben und neue Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie Ziel 19: Angesichts der zunehmenden Fremdbetreuung von Kleinkindern ist die Frage, wie sich eine derartige Betreuung in Kindertageseinrichtungen auf die Kinder auswirkt, von großer Relevanz. Nennen Sie eine wichtige Studie zu diesem Thema, und berichten Sie ausgewählte Resultate. Die wichtigste Studie ist die U.S.-amerikanische Längsschnittuntersuchung des NICHD, in der über 1300 Kinder und deren Eltern während des gesamten Betreuungszeitraums wiederholt beobachtet wurden und für die mittlerweile Daten bis in die Schulzeit vorliegen. In dieser Studie zeigte sich, dass die Befürchtung, Betreuung außerhalb der Fa-
milie habe generell einen nachteiligen Einfluss auf die Beziehung des Kindes zu den Eltern und auf seine weitere Entwicklung, ungerechtfertigt ist. Allerdings kommt es auf die Qualität und, was die Auswirkungen auf die sozioemotionale Anpassung angeht, auf die Dauer der Krippenbetreuung an. Vergleicht man jedoch den Einfluss der Betreuungsqualität mit dem Einfluss der Qualität des familiären Umfeldes, so erweisen sich – grob gesagt – die familiären Bedingungen als bedeutsamer. Zu beachten ist, dass sich ungünstige familiäre Bedingungen und eine schlechte Qualität 6
© Verlag Hans Huber Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags.
19
Kapitel 19 · Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen
ANGEBOTSBEZOGENE STÜTZSYSTEME (AUFSICHT, CURRICULUM, LEHRERBILDUNG)
882
883 19.5 · Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
der Krippenbetreuung negativ zu verstärken scheinen. Was den Zusammenhang zwischen Dauer der Krippenbetreuung und dem Auftreten von Problemverhalten mit 4 1/2 Jahren angeht, so gibt es keine »Schwelle«, die diesen Effekt einschränken würde; vielmehr gilt uneingeschränkt: Je mehr Zeit die beobachteten Kinder in Fremdbetreuung verbrachten, desto schlechter war die sozioemotionale Anpassung. Ziel 20: Beschreiben Sie in groben Zügen das Angebot-Nutzungs-Modell zur Erklärung von Schulleistungen. Das Angebot-Nutzungs-Modell führt die Merkmale des Bildungssystems und des einzelnen Schülers zusammen, berücksichtigt dabei aber die Verschiedenheit dieser Merkmalsbereiche. Ein weiterer Grundgedanke des Modells ist die Unterscheidung von Schulleistungsbe-
dingungen, die man als Angebotsmerkmale (»angebotsbezogene Stützsysteme«) oder als Nutzungsmerkmale (»nutzungsbezogene Stützsysteme«) bezeichnen kann. Diese Trennung ist notwendig, weil Schulleistungen das Ergebnis eines Prozesses sind, in dem die eine Person (der Lehrer) einer anderen Person (dem Schüler) ein Angebot macht, auf das die andere Person unterschiedlich reagieren kann, aber nicht muss. > Denken Sie weiter: Erläutern Sie einer anderen Person – am besten jemandem, der ebenfalls dieses Kapitel bearbeitet – das AngebotNutzungs-Modell von Schulleistungen und weshalb dieses Modell den Beitrag der Pädagogischen Psychologie zur Erklärung von Schulleistungen verdeutlicht.
Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Nennen Sie 2 Fragestellungen, mit denen sich die pädagogische Psychologie als Wissenschaft befasst hat. Nennen Sie außerdem 2 Problemfelder, auf denen der Rat von Praktikern der pädagogischen Psychologie hilfreich sein kann. 2. Bitte nennen Sie die üblichen Einteilungen von Erziehungsstilen. Welcher Erziehungsstil hat sich in der westlichen Kultur als besonders günstig erwiesen, welcher als besonders ungünstig? 3. Charakterisieren Sie die 3 wichtigsten Formen elterlicher Erziehungsmaßnahmen in Überschreitungssituationen und beschreiben Sie deren Auswirkung auf die Internalisierung moralischer Regeln und Normen. 4. Welche in diesem Abschnitt vorgestellten Ergebnisse stützen die These, dass die elterliche Erziehung einen Einfluss auf Heranwachsende hat? 5. Fassen Sie die Ergebnisse der deutschen Teilnehmer beim PISA-Lesetest kurz zusammen.
L Deutsche Literatur zum Thema Fuhrer, U. (2005). Lehrbuch Erziehungspsychologie. Bern: Huber. Hasselhorn, M. & Gold, A. (2006). Pädagogische Psychologie: Erfolgreiches Lernen und Lehren. Stuttgart: Kohlhammer. Klauer, K.J. & Leutner, D. (2007). Lehren und Lernen. Einführung in die Instruktionspsychologie. Weinheim: Beltz – PVU. Krapp, A. & Weidenmann, B. (Hrsg.) (2006). Pädagogische Psychologie: Ein Lehrbuch (5., vollst. überarb. Auflage). Weinheim: Beltz-PVU. Langfeldt, H.-P. (2006). Psychologie für die Schule. Weinheim: Beltz - PVU. Rost, D. H. (Hrsg.). (2006). Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3., überarb. und erw. Auflage). Weinheim: BeltzPVU Schnotz,W. (2006). Pädagogische Psychologie. Workbook. Weinheim: Beltz-PVU.
19
20 Arbeits- und Organisationspsychologie Barbara Keller
20.1
Warum arbeiten wir und was haben wir davon?
20.1.1 20.1.2
Arbeitsmotivation – 887 Arbeitszufriedenheit – 894
20.2
Arbeit und Stress – 898
20.2.1 20.2.2 20.2.3
Stress und Stressoren – 898 Mobbing – 900 Work-Life-Balance – 903
– 887
20.3
Veränderte Arbeitsbedingungen – 904
20.3.1 20.3.2 20.3.3
Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? – 905 Arbeitszeit und Arbeitsplatz: Mehr Flexibilität – 907 Arbeitslosigkeit – 908
20.4
Psychologie in Organisationen – 916
20.4.1 20.4.2 20.4.3
Organisationsform und Organisationsstruktur – 916 Teams, Gruppen und Qualitätszirkel – 918 Führung – 921
20.5
Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen – 925
20.5.1 20.5.2 20.5.3
Personalauswahl – 925 Wer kommt wann voran? – 930 Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung
– 935
Andere Kulturen, andere Perspektiven Das Lied von der Glocke Fest gemauert in der Erden Steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muß die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand! Von der Stirne heiß Rinnen muß der Schweiß, Soll das Werk den Meister loben! Doch der Segen kommt von oben.
Zum Werke, das wir ernst bereiten, Geziemt sich wohl ein ernstes Wort; Wenn gute Reden sie begleiten, Dann fließt die Arbeit munter fort. So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten, Was durch schwache Kraft entspringt; Den schlechten Mann muß man verachten,
Der nie bedacht, was er vollbringt. Das ist‘s ja, was den Menschen zieret, Und dazu ward ihm der Verstand, Daß er im Herzen spüret, Was er erschaffen mit seiner Hand. … Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, 1799
886
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Arbeits- und Organisationspsychologie 20
Arbeitspsychologie (work psychology): bezieht sich auf die Anwendung psychologischer Theorien, Forschungsansätze und Interventionsmethoden in der Arbeitswelt, auf die psychologischen Aspekte der Gestaltung der Arbeitstätigkeit, des Arbeitsplatzes und der Umgebung des Arbeitsplatzes. Organisationspsychologie (organizational psychology): befasst sich mit Bedingungen, Abläufen und Konsequenzen des Handelns von Menschen in Organisationen, mit Problemen betrieblicher und institutioneller Zusammenarbeit.
> Münsterberg schreibt 1912 im Vorwort seines Werkes »Psychologie und Wirtschaftsleben«, seine Untersuchung wolle »das Interesse derer wecken, die in Verkehrswesen und Industrie, in Handel und Gewerbe, in Wirtschaftspolitik und Sozialreform ihre Lebensarbeit finden und gewöhnt sind, über das Werk ihrer Tage nachzudenken«, und umreißt damit ein breites Feld für eine anwendungsbezogene Wissenschaft. »Arbeits- und Organisationspsychologie« heißt das verpflichtende Anwendungsfach, das im Rahmen des Diplomstudienganges Psychologie angeboten wird. Die Fachgruppe der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) trägt die Bezeichnung Arbeits- und Organisationspsychologie, die wichtigste deutschsprachige Fachzeitschrift, die »Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie« trägt diesen Begriff im Namen. Im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP) hat es mit der kürzlich erfolgten Fusion der Sektionen Markt- und Kommunikationspsychologie und Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie zur neuen Sektion Wirtschaftspsychologie eine Veränderung gegeben. Anknüpfend an Münsterbergs Vision soll der psychologische Schwerpunkt des so umschriebenen Gebietes betont und die dort Tätigen als Psychologinnen und Psychologen sichtbar gemacht werden (s. dazu von Rosenstiel 2004). Psychologische Theorien und Methoden werden auch in der Welt der Arbeit und in den Betrieben angewendet: Warum arbeiten wir? Darauf antworten Theorien und Modelle der Arbeitsmotivation. Was haben wir davon? Arbeitszufriedenheit, aber auch Arbeitsbelastungen und Umgang mit Stress sind weitere wichtige Themen. Wie wirken sich Veränderungen von Arbeitsbedingungen aus? Dazu zählen Einführungen neuer Technologien in Betrieben, insbesondere Informationstechnologien, die Arbeitsprozesse grundlegend verändern, genauso wie Auswirkungen von Veränderungen wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, beispielsweise die Flexibilisierung der Arbeitszeitgestaltung oder die Arbeitslosigkeit. Aber auch umfassende gesellschaftliche Veränderungen wie ein verändertes Rollenverständnis der Geschlechter, das die Frage nach der Balance von Leben und Arbeit oder der Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit auf die Tagesordnung bringt, sind hier zu berücksichtigen. Bei der Arbeit bzw. am Arbeitsplatz verbringen wir einen beträchtlichen Teil unserer Zeit. Dabei können wir sowohl an unsere tägliche Arbeitszeit denken als auch an die Zeit, die wir auf das ganze Leben gerechnet mit Ausbildung, Arbeit und Weiterbildung verbringen. Meist hängt das, was wir tun, mit dem zusammen, was andere arbeiten, sei es, dass wir mit Kollegen und Kolleginnen in einer Organisation arbeiten, sei es, dass wir andere, etwa projektbezogene Arten der Kooperation ausüben. Wie sollte ein Arbeitsplatz aussehen, damit Menschen dort gerne arbeiten? Psychologen befassen sich forschend und beratend u. a. damit, wie ein Arbeitsplatz und seine Umgebung gestaltet sein müssen, damit Ermüdung und Monotonie gering gehalten werden, wie Arbeitstätigkeiten sich auf Wohlbefinden und Persönlichkeit der Arbeitenden auswirken, wie Stress bewältigt werden kann. Was trägt zum Gelingen von Zusammenarbeit bei? Um diese Fragen geht es in der Arbeits- und Organisationspsychologie. Die Bezeichnung Organisationspsychologie verweist darauf, dass Arbeit meist in Zusammenarbeit mit anderen verrichtet wird, in Organisationen von kleinen Familienbetrieben bis zu multinationalen Konzernen. Hier wird nach innerbetrieblichen Beziehungen gefragt, nach der Gestaltung der innerbetrieblichen Kommunikation, deren Funktionieren sowohl für ein gutes Arbeitsklima als auch für die Arbeitsvorgänge selbst wesentlich ist. Wichtig sind weiterhin sowohl Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen als auch Beziehungen zwischen Organisationen und der Gesellschaft. Psychologische Kompetenz wird auch gebraucht bei der Auswahl, Ausbildung, Förderung und Entwicklung von Personal, bei der Beratung von Führungskräften. In diesen Themenbereich gehört auch die Frage nach der Karriereentwicklung bei Frauen, die immer noch vergleichsweise selten in leitenden Positionen zu finden sind.
887 20.1 · Warum arbeiten wir und was haben wir davon?
20.1
20
Warum arbeiten wir und was haben wir davon?
Die meisten von uns müssen ihren Unterhalt verdienen. Wir bekommen Geld für unsere Arbeit, weil die Ergebnisse, d. h. die Produkte oder Dienstleistungen, nützlich sind. Damit sind extrinsische, also außerhalb der Arbeit liegende Belohnungen angesprochen. Davon kann man Belohnungen unterscheiden, die Arbeit in sich selbst trägt. Solche Arbeit ist intrinsisch motiviert. Sie bietet Gelegenheit, eigene Interessen zu verfolgen, eigene Talente zu entfalten und dient damit der Selbstverwirklichung. Mit der Arbeitsmotivation hängt die Arbeitszufriedenheit zusammen: Man kann davon ausgehen, dass zufriedenere Mitarbeiter auch höher motiviert sind und bessere Leistungen erbringen.
20.1.1
Arbeitsmotivation
Theorien der Arbeitsmotivation können nach dem Vorschlag von Campbell u. Pritchard (1976) danach unterteilt werden, ob sie eher inhaltlich oder prozessual orientiert sind. 4 Inhaltstheorien machen konkrete Aussagen über wirksame Motive. Sie beschreiben inhaltlich, wodurch eine Person zum Arbeiten bewegt wird, wonach sie strebt. Dabei wird der Schwerpunkt entweder auf die Person (Bedürfnisse, Motive) oder auf die situativen Bedingungen (Anreize) gelegt. 4 Bei Prozesstheorien geht es darum, wie die Person das erreicht, was ihr als erstrebenswert erscheint (von Rosenstiel 1993a). Prozesstheorien formulieren abstrakte Prinzipien des Motivationsverlaufs, in deren Mittelpunkt formale Begriffe wie Erwartungen und Generalisierungen stehen. Wiswede (2007), der den Begriff »Instrumentalitätstheorien« verwendet, hält sie am ehesten da für empirisch einzulösen, wo das Individuum langfristig Strategien der Zielerreichung mit besonderen Anstrengungen verfolgt (S. 67).
Inhaltstheorien: Bedürfnisse, Motive und Anreize Ziel 1: Welche Bedürfnisse, welche Anreize veranlassen Menschen zu arbeiten? Geben Sie Beispiele.
Maslows Bedürfnishierarchie Bedürfnisse, deren Befriedigung Menschen motiviert, wurden inhaltlich beschrieben. Zu den Inhaltstheorien in diesem Sinne zählt das Konzept der Bedürfnishierarchie nach Maslow (1970). Es handelt sich um eine allgemeine Theorie zur menschlichen Motivation (7 Kap. 12). Sie ist aber auch speziell auf die Arbeitswelt angewandt worden. Danach arbeiten Menschen zunächst, um grundlegende biologische und sicherheitsbezogene Bedürfnisse stillen zu können. Wenn die Befriedigung dieser Bedürfnisse gesichert ist, werden soziale Motive bedeutsam. Menschen arbeiten dann, weil ihre Arbeit sie mit anderen Menschen zusammenbringt oder weil ihre Arbeit ihnen einen Platz in der Gesellschaft zuweist. Sind auch ihre sozialen Bedürfnisse befriedigt, so arbeiten Menschen, um Achtung und Wertschätzung zu erlangen. Die bisher genannten Bedürfnisse sind Defizitbedürfnisse. Sind diese erfüllt, so werden Wachstumsbedürfnisse wirksam, und Menschen arbeiten nun, um ihre Potenziale zur Selbstverwirklichung im kognitiven, ästhetischen und spirituellen Bereich auszuschöpfen. Maslows Ansatz bietet einen integrativen Überblick über vielfältige Gründe, warum Menschen arbeiten, und hat deswegen viel Beachtung gefunden. Wiswede (2007) sieht folgende Anwendungsbereiche dieser Motivationstheorie auf wirtschaftlichem Gebiet: 4 Es gibt Unterschiede in der Motiventwicklung und Motivdominanz im Arbeitsbereich: Menschen orientieren sich im Verlauf ihrer Entwicklung an unterschiedlichen Motivkonstellationen; deshalb bedürfen sie differenzieller Anreizsysteme. 4 Auf unterschiedlichen Hierarchieebenen sind in Organisationen unterschiedliche Motivkonstellationen zu finden. Beispielsweise betonen Führungskräfte die Bedeutung des Sinnes der Arbeit, der Selbstverwirklichung und Autonomie, während es Fließbandarbeitern vor allem um Geld, Sicherheit und mitmenschliche Kontakte geht. Hier wäre allerdings zu fragen, ob es um vorhandene Motive geht oder um realistische Chancen für deren Erfüllung.
Arbeitsmotivation (work motivation): Beweggründe dafür, warum Menschen arbeiten und warum sie das mit unterschiedlichem Engagement tun.
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4 Beim Konsumverhalten werden mit steigendem Wohlstand materielle Bedürfnisse tendenziell weniger wichtig; expressive Bedürfnisse wie Erleben, Selbstverwirklichung, Kennerschaft usw. treten in den Vordergrund.
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Ingleharts These vom Wertewandel (1977), durch den gesellschaftlich vorherrschende materialistische Motivkonstellationen von postmaterialistischen abgelöst werden, stützt sich ebenfalls auf die Motivationstheorie von Maslow. Die einzelnen Stufen der Hierarchie konnten allerdings empirisch kaum bestätigt werden, allenfalls gab es Belege für Tendenzaussagen. Die These, dass die Erfüllung von Bedürfnissen einer untergeordneten Stufe Bedürfnisse auf der nächsthöheren Ebene stimuliere, konnte für die Arbeitswelt ebenfalls bislang nicht belegt werden (Lea et al. 1987; Wiswede 2007). Jahoda (1983) kritisiert die Vorstellung, dass diese Hierarchie menschlicher Bedürfnisse einer zeitlichen Abfolge dessen entspricht, was die Unterprivilegierten vom Leben erwarten, als psychologisch falsch und politisch letzten Endes reaktionär, weil sie die volle menschliche Selbstverwirklichung nur einer kleinen Elite vorbehält.
Leistungsmotivation Das Leistungsmotiv (Murray 1938, 7 Kap. 12) wurde von McClelland und seiner Arbeitsgruppe empirisch untersucht (z. B. McClelland et al. 1976). Dabei fand man, dass man zwischen zwei Motivtendenzen unterscheiden muss: Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg. Die zentrale Aussage dieser Theorie der Leistungsmotivation lautet, dass Personen, deren Motiv der Erfolgssuche stärker ist als das der Misserfolgsvermeidung, in höherem Maße durch Aufgaben mittleren Schwierigkeitsgrades motiviert werden können. Personen, bei denen das Motiv der Misserfolgsvermeidung überwiegt, werden von Aufgaben mit sehr niedrigem und mit sehr hohem Schwierigkeitsgrad angezogen. Bei Aufgaben mit sehr niedrigem Schwierigkeitsgrad schätzen sie die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs als gering ein. Bei Aufgaben mit sehr hohem Schwierigkeitsgrad müssen sie einen Misserfolg nicht der eigenen Unfähigkeit zuschreiben, sondern können ihn auf die Schwierigkeit der Aufgabe zurückführen. Arbeitspsychologische Bezüge dieser Theorie finden sich in folgenden Bereichen (Wiswede 2007): 4 Auslese misserfolgsvermeidender und erfolgssuchender Personen und der entsprechenden Zuweisung von Aufgaben und Zielvorgaben, 4 Förderung der Leistungsmotivation durch herausfordernde Aufgaben (von mittlerem Schwierigkeitsgrad, die für Erfolgssuchende am ehesten Erfolgserlebnisse erwarten lassen), 4 Entwicklung von Trainingsprogrammen zur leistungsbezogenen Verhaltensmodifikation, 4 unternehmerisches und innovatives Verhalten: In diesen Bereichen dominieren sog. Erfolgssucher. Im Rahmen wirtschaftlicher Entwicklung kann sowohl in hochentwickelten Ländern als auch in aufstrebenden Entwicklungsländern ein höherer Grad an Leistungsmotivation gefunden werden. Allerdings weiß man nicht, ob höhere Leistungsmotivation durch die wirtschaftliche Entwicklung begünstigt wird oder ob sie, umgekehrt, die wirtschaftliche Entwicklung fördert.
Motivation durch Anreize Andere Inhaltstheorien der Arbeitsmotivation versuchen zu erklären, unter welchen Anreizbedingungen bestimmte Motive angesprochen werden. Die Zwei-Faktoren-Theorie nach Herzberg (Herzberg et al. 1959) unterscheidet zwischen Faktoren, die auf den Inhalt, und Faktoren, die auf den Kontext der Arbeit bezogen sind. Zu den Inhaltsfaktoren zählen die Gelegenheit, bei der Arbeit selbst eigene Fähigkeiten auszuüben, Verantwortung zu tragen und Anerkennung zu erwerben. Sie wirken als Motivatoren. Die auf den Kontext bezogenen Faktoren werden als Hygienefaktoren bezeichnet und sind beispielsweise die Bezahlung, die äußeren Arbeitsbedingungen und die sozialen Beziehungen. Die Hygienefaktoren sollten keine Zufriedenheit erzeugen, wenn sie vorhanden sind, wohl aber Unzufriedenheit, wenn sie fehlen. Damit Arbeitszufriedenheit erlebt wird, müssen – dem Modell zufolge – sowohl Hygienefaktoren als auch Motivatoren vorhanden sein. Allerdings stellte sich in empirischen Untersuchungen heraus, dass – und dies widerspricht der
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. Abb. 20.1. Vorteilhafte Merkmale einer Tätigkeit Das »Job-Characteristics-Modell« nach Hackman u. Oldham (1980) unterscheidet 5 Kernmerkmale, die sich positiv auf die intrinsische Motivation auswirken (aus Semmer u. Udris 2007)
Theorie – Hygienefaktoren zu Zufriedenheit und (fehlende) Motivatoren zu Unzufriedenheit führen können (Semmer u. Udris 2007). Sowohl Anreizbedingungen (nämlich Arbeitsinhalte) als auch das Erleben der Person (nämlich kritische psychische Zustände) thematisiert das Job-Characteristics-Modell nach Hackman u. Oldham (1980). Der Arbeitsinhalt ist in diesem Modell nach 5 Kernmerkmalen gegliedert. Diese bestimmen 3 kritische psychische Zustände, die sich positiv auf die intrinsische Motivation auswirken – u. a. auf Zufriedenheit und Fluktuation (. Abb. 20.1). Der arbeitspsychologische Bezug ist offensichtlich. Wie hat sich das Modell bewährt? Zur Beurteilung der empirischen Überprüfung werden Ergebnisse verschiedener Studien zusammengefasst betrachtet (Semmer u. Udris 2007). Das Motivationspotenzial (. Abb. 20.1) wies Zusammenhänge mit Motivation und Zufriedenheit auf, aber auch mit Absentismus und Fluktuation. Zusammenhänge mit Leistung konnten in geringerem Maß nachgewiesen werden. Die belegten Zusammenhänge sind – in Übereinstimmung mit den Annahmen des Modells – für Personen mit hoher Wachstumsmotivation (die Menschen veranlasst, ihre bisherigen Errungenschaften zu überschreiten) größer. Kritisch wird eingewandt, dass die Variablen auch additiv verknüpft werden könnten. Auch die auf Jahoda (1983) zurückgehende Differenzierung von manifesten und latenten Funktionen der Arbeit, die in . Tab. 20.1 beschrieben wird, ist an Inhalten ausgerichtet. Jahodas Modell bietet eine systematische Begründung der Probleme von Menschen, die arbeitslos sind (7 unten). Allerdings erlaubt es keine Aussagen über die relative Bedeutung der Funktionen. Sollte es einer empirischen Überprüfung zugänglich gemacht werden, bedürfte es einer Ausarbeitung (Lea et al. 1987). . Tabelle 20.1. Manifeste und latente Funktionen der Arbeit
Manifeste Funktionen
Latente Funktionen
Lebensunterhalt Arbeitsbedingungen Zugang zu Produktionsmitteln
Zeitstruktur Soziale Beziehungen Verbindung zu Zielen und Zwecken der Gesellschaft Persönlicher Status Aktivität
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Inhaltstheorien beschreiben inhaltlich, wodurch eine Person zum Arbeiten bewegt wird. Einwände gegen Inhaltstheorien lauten: 4 Eine Einteilung in zwei Faktoren höherer Ordnung (Inhalt und Kontext, Hygiene und Motivatoren, latente und manifeste Funktionen, intrinsische und extrinsische Motivation) hat sich zwar in vielen Analysen ergeben; es scheint jedoch nicht möglich, differenziertere Motive und Bedürfnisse zu bestimmen, die für alle Menschen gleichermaßen handlungsleitend sind. 4 Inhaltstheorien geben außerdem nicht an, welche Mechanismen von bestimmten Bedürfnissen oder Werten zu Handlungen oder zur Befriedigung führen.
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Prozesstheorien: Mechanismen und Bedingungen Ziel 2: Beschreiben Sie Prozesse und Mechanismen, die zu Arbeitsmotivation führen. Nennen Sie Beispiele.
Wert-Erwartungs-Theorie (valence-expectancy theory): Theorie, die Motivation als Produkt von Erwartungen und Werten versteht.
Mit den Mechanismen, die zu bestimmten Handlungen führen, befassen sich die Prozesstheorien. Prozesstheorien sind formale Theorien. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie Erwartungen, Ziele und kognitive Bewertungen die Arbeitsleistung beeinflussen. Zu den Prozesstheorien zählen die Wert-Erwartungs-Theorien. Die bekannteste Ausarbeitung stammt von Vroom (1964) und wird auch als VIE-Modell bezeichnet. Nach dieser Theorie ist Motivation das Produkt von Erwartungen und Werten. Die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, aus denen motiviertes Verhalten resultiert, sollen erfasst werden (. Abb. 20.2). 4 Ergebniserwartung (»expectancy«; E) bezieht sich darauf, wie die Person die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass infolge ihrer Arbeitsaktivität ein bestimmtes unmittelbares Ergebnis eintritt. 4 Instrumentalitätserwartung (»instrumentality«; I) ist auf die Wahrscheinlichkeit mittelbarer Folgen gerichtet, die zu der angestrebten Belohnung führen. 4 Wert (»valence«, Valenz, Bewertung; V) bezieht sich auf die subjektive Bewertung und damit auf die Anziehungskraft der zu erlangenden Belohnung. Von Bedeutung sind also zwei subjektive Wahrscheinlichkeiten: 1. die auf das unmittelbare Ergebnis bezogene Wahrscheinlichkeit (»expectancy« bei Vroom), beispielsweise die Erwartung, dass sorgfältige Arbeit zu guter Qualität führt; und 2. die Wahrscheinlichkeit der Instrumentalität, d. h. dass dieses Ergebnis mit weiteren Folgen verbunden ist (»instrumentality« bei Vroom), beispielsweise, dass gute Qualität durch höhere Bezahlung belohnt wird.
. Abb. 20.2. Motiviertes Handeln resultiert aus Erwartung und Bewertung Das VIE-Modell nach Vroom (1964) veranschaulicht die Wert-Erwartungs-Theorie der Motivation (aus Semmer u. Udris 2007)
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! Die Wert-Erwartungs-Theorie wird von manchen Autoren als der einflussreichste Ansatz zur Arbeitsmotivation eingeschätzt (Lea et al. 1987).
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Andere veranschlagen ihren Gesamtwert zur Erklärung und Vorhersage menschlichen Erlebens und Verhaltens als eher gering, heben aber ihren Wert als Interpretationsrahmen hervor (Kühlmann 1988). Wiswede (2007) betrachtet sie eher als heuristischen Entwurf. Anwendungen sieht er folglich eher in wichtigen heuristischen Hinweisen, beispielsweise den folgenden: 4 Geplantes und zielorientiertes Handeln (wie z. B. bei langfristigen Arbeitsabläufen) kann einer funktionalen Analyse unterzogen werden. 4 Ein kalkuliertes Durchspielen alternativer und konkurrierender Valenzen, die gedanklich vorweggenommen und erprobt werden können, ist möglich. 4 Die Motivation kann durch Erwartungen gesteuert werden: Durch planmäßige Beeinflussung bestimmter Erwartungen und deren Verknüpfung mit Valenzen werden neue Dimensionen des »Management by Motivation« erschlossen. Eine Weiterentwicklung ist das Erwartungsmodell der Motivation von Porter u. Lawler (1968). In diesem komplexen Erwartungsmodell werden Aspekte wie Leistungseinsatz und Anstrengung sowie an anderen beobachtete und eigene Erfahrungen in ähnlichen Situationen einbezogen (Wiswede 2007). Dies schließt ein, dass das eigene Verhältnis von Aufwand und Ergebnis mit dem anderer Personen verglichen wird. Damit ist ein weiteres Modell der Arbeitsmotivation einbezogen worden: das der Equity. Das Equity-Konzept geht davon aus, dass das eigene Verhältnis von Aufwand und Ertrag mit dem anderer Personen verglichen wird. Die eigene Situation wird in Abhängigkeit davon als mehr oder weniger gerecht wahrgenommen (Semmer u. Udris 2007). Eine weitere Ausarbeitung hat Wiswede, der den individualistischen Ansatz kritisierte, 1980 vorgeschlagen. Sein Prozessmodell der Arbeitsmotivation betont die Bedeutung sozialer Normen sowie des Gruppendrucks auf das individuelle Arbeitsverhalten. Es thematisiert interne und externe Erwartungen (Wiswede 2007, S. 210). Wir haben schon gesehen, dass das Modell, dessen Grundform Vroom zugeschrieben wird, unterschiedlich beurteilt wird, je nachdem, ob insbesondere die Vorhersagevalidität oder aber der heuristische Gehalt als Kriterium herangezogen werden. Wichtig ist die Beachtung des beanspruchten Geltungsbereichs: Die unmittelbaren Vorhersagen des Wert-Erwartungs-Modells beziehen sich auf motivierte Zustände (wie beispielsweise Anstrengung). Im Hinblick darauf kann das Modell als gut bestätigt gelten. Als schwächer werden Zusammenhänge zur gemessenen Leistung beurteilt, da hier mit intervenierenden Variablen gerechnet werden müsse. Dies hat dazu geführt, dass Wert-Erwartungs-Theorien als eher distal, d. h. fern von der Handlung eingeordnet wurden (Büssing 1996). Um die vorliegenden psychologischen Theorien zur Arbeitsmotivation nach ihrer Orientierung an Inhalten oder an Prozessen zu unterscheiden, nimmt Büssing (1996) als weitere Dimension die größere oder geringere Nähe zur Handlung hinzu. Die vorgestellten Inhalts- und Prozesstheorien sind eher durch handlungsferne, d. h. distale Konstrukte bestimmt. ! Moderne Theorien der Arbeitsmotivation sind sowohl handlungsnah als auch prozessorientiert. Die dominierenden Konstrukte sind »Ziel« und »Selbstregulierung«.
Handlungsnah und prozessorientiert: Zielsetzung und Willensentscheidung Ziel 3: Erläutern Sie, wie Inhalte und Prozesse zusammen zur Arbeitsmotivation beitragen. Welche zusätzliche Sicht ist hilfreich?
Als handlungsnah und prozessorientiert gelten beispielsweise die Theorie der Selbstwirksamkeit nach Bandura sowie die Handlungstheorie von Hacker, in deren Mittelpunkt der etwas weiter gefasste Begriff der Tätigkeit steht: »Geleitet durch das Ziel als Vorwegnahme und Vornahme des Ereignisses entsteht in der Tätigkeit ein Resultat, das zum Vergleich rückgekoppelt wird zu der Gedächtnisrepräsentation des Ziels. Die Tätigkeit wird fortgesetzt bis zur hinreichenden Übereinstimmung des rückgemeldeten Resultats mit dem Ziele. Der Vergleich erfolgt nicht nur abschließend, sondern er wird bereits auch vorweggenommen« (Hacker 1986, S. 141). Die Rückkoppelungsprozesse gewährleisten die fortwährende Anpassung der Handlungen an den (zielorientierten) Maßstab.
Handlungstheorie (action theory): Theorie, die das Bewusste und Geplante menschlichen Verhaltens betont.
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Handlungsnah und prozessorientiert ist auch die Theorie der Zielsetzung, die Locke u. Latham (1991) vertreten. Dieser Theorie zufolge führt das Setzen von Zielen zu besseren Leistungen, und zwar umso mehr, je höher und spezifischer die Ziele sind. Ein Mitarbeiter wird beispielsweise eher dann bessere Leistungen erbringen, wenn er mit dem Ziel arbeitet, 50 Produkte am Tag zu fertigen und dabei nicht mehr als 2% Ausschuss zu produzieren, als wenn er sich lediglich an der Zielsetzung »Tun Sie Ihr Bestes!« orientiert (Kleinbeck 1996). Zielsetzung wirkt durch 4 Mechanismen: 4 Steuerung der Aufmerksamkeit, 4 Mobilisierung von Energie, 4 Erhöhung der Ausdauer und 4 Förderung der Entwicklung von Strategien.
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Selbststeuerung (self-regulation): Fähigkeit, das eigene Verhalten zu beobachten, zu bewerten, gezielt zu verstärken und dadurch an eigenen Zielen flexibel auszurichten.
Diese Theorie gilt für individuelles Handeln als gut bestätigt, der Beleg ihrer Wirkung auf Gruppen oder ganze Organisationen ist weniger sicher (Semmer u. Udris 2007). Wichtig ist angemessenes Feedback: Die Kombination von genau formulierten Zielen, moderater Schwierigkeit und angemessenem Feedback zur erbrachten Leistung führt zu besseren Leistungen als genaue Zielformulierungen oder angemessenes Feedback allein (Büssing 1996). Was dadurch vermutlich optimiert wird, sind Bedingungen der Selbststeuerung (»self-regulation«). Wie diese Verbindung in einer empirischen Untersuchung verwirklicht worden ist, zeigt eine Studie von Kleinbeck u. Wegge (1996): Kleinbeck und seine Mitarbeiter haben in mehreren Feldstudien Fehlzeiten untersucht. Sie erfassten das Motivationspotenzial der Arbeit (vgl. . Abb. 20.1) mit der deutschen Fassung des »Job Diagnostic Survey« von Hackman u. Oldham, das Leistungsmotiv der untersuchten Mitarbeiter mit Fragebogen. Darüber hinaus fragten sie die Mitarbeiter, welche Konsequenzen sie für Fehlzeiten erwarteten. Derartige Konsequenzen entsprechen den Instrumentalitäten des Modells von Vroom (7 oben). Die Resultate ergaben eine dreifache Wechselwirkung: Motivierungspotenzial der Arbeit und Ausprägung des Leistungsmotivs standen nur dann in einem bedeutsamen Zusammenhang zu Fehlzeiten, wenn für Fehlzeiten gleichzeitig wichtige Konsequenzen erwartet wurden, d. h. wenn eine hohe Instrumentalität vorlag: Erwarteten Untersuchungsteilnehmer, dass sich Fehlen am Arbeitsplatz ungünstig auf das Erreichen ihrer Motivationsziele (z. B. Herausforderungen im Beruf zu erleben) auswirkt, reagierten Personen mit einem hohen Leistungsmotiv gerade in leistungsthematisch hoch anregenden Arbeitsbedingungen mit weniger Fehlzeiten. Erwarteten sie jedoch keine (negativen) Konsequenzen von Fehlzeiten, ließen sich keine nennenswerten Effekte der Motive und Motivierungspotenziale mehr beobachten (Kleinbeck u. Wegge 1996). In Folgestudien belegten Kleinbeck u. Wegge (1996) u. a. die Gültigkeit dieser dreifachen Wechselwirkung, zeigten aber auch einen Haupteffekt für leistungsthematisch anregende Arbeitsbedingungen. Das Anschlussmotiv (gerichtet auf die Herstellung und Bewahrung sozialer Beziehungen) wurde in dieser neueren Studie ebenfalls untersucht. Es beeinflusst Fehlzeiten vermutlich nur dann, wenn die Mitarbeiter damit zusammenhängende Konsequenzen erwarten, wie beispielsweise Ärger mit Kollegen. Es spielt eher bei längerer Betriebszugehörigkeit eine größere Rolle – möglicherweise deswegen, weil soziale Beziehungen und damit verbundene Verantwortlichkeiten erst mit der Zeit entstehen. Das belegt eine weitere Untersuchung, in der anschlussthematische Anreize der beste Prädiktor für die Anzahl der Fehltage waren – für Personen mit einer längeren, d. h. mehr als 6-jährigen Betriebszugehörigkeit. Motivation ist offensichtlich von Bedeutung – das zeigen die Ergebnisse dieser Studien sehr deutlich. Allerdings können individuelle Unterschiede in der Motivation ihre Erklärungskraft unter dem Druck konflikthafter Arbeitsbedingungen einbüßen. Von einem Jahr zum nächsten glichen sich die bedeutsamen Unterschiede der Fehlzeiten von 5 Schichtgruppen einander an – bei einem gleichzeitigen starken Anstieg. Was war geschehen? Die Forscher fragten in vertraulichen Gesprächen nach und erfuhren, dass die Arbeitsbelastungen insgesamt gestiegen waren, während sich das Betriebsklima allgemein verschlechtert hatte: Die Mitarbeiter gaben an, dass ihre Abwesenheit vom Arbeitsplatz ein gerechter Ausgleich für diese Mehrbelastungen sei und dass zwischen den Gruppen auch Konsens im Hinblick auf diesen Sachverhalt bestehe. Was kann zur Vermeidung oder zur Verbesserung solcher Entwicklungen getan werden? Zunächst sollten die Motivierungspotenziale der Arbeit selbst verbessert werden, beispielsweise durch die Schaffung vollständiger Aufgaben, durch die Delegation von Verantwortung, durch die
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Bildung teilautonomer Arbeitsgruppen und durch Möglichkeiten der Beteiligung an der Planung und Bewertung der eigenen Beiträge. ! Eine gezielte Personalplanung und Personalentwicklung sollte erwirken, dass die Motivierungspotenziale der Arbeit mit den Motiven der Mitarbeiter übereinstimmen.
Erst an dieser Stelle sollten Maßnahmen eingesetzt werden, die die Instrumentalität des Fehlzeitenverhaltens beeinflussen, wie beispielsweise Gespräche mit den Mitarbeitern, Informationsangebote zur Prävention von Krankheiten, Disziplinierungsmaßnahmen für häufiges Fehlen oder aber finanzielle Belohnungen für Anwesenheit. Kleinbeck u. Wegge (1996) sehen in der Förderung des Motivationspotenzials ein geeignetes – wenn auch keineswegs einfaches – Mittel zur Verringerung von Fehlzeiten. Sie weisen aber auch darauf hin, dass Mitarbeiter nicht dazu verleitet werden sollten, sich über ihr Leistungsvermögen hinaus zu belasten.
Inhalte, Prozesse, handlungsfern und handlungsnah: Integrative Ansätze Es gibt mittlerweile auch Theorien, die sowohl Inhalte als auch Prozesse und sowohl distale (handlungsferne) als auch proximale (handlungsnahe) Konstrukte miteinander verbinden. Zu in diesem Sinne integrativen Modellen zählt Büssing die Theorie der Selbstregulierung nach Kuhl (1992) und das Rubikon-Modell von Heckhausen u. Gollwitzer (Gollwitzer 1990). In beiden Ansätzen wird zwischen Motivation und Volition unterschieden. Motivation bezieht sich auf motiviertes Handeln, das seine Befriedigung in sich selbst tragen kann, etwa wenn ein »Flow«-Erlebnis (Csikszentmihaly 1990) auftritt. Mit der Volition ist die Orientierung an einem attraktiven oder notwendigen Ziel gemeint, wobei der Weg dorthin auch als lästig erlebt werden kann (von Rosenstiel 2007, S. 243). Bei der Theorie der Selbstregulierung geht es um Prozesse, mit denen Absichten beibehalten und in die Tat umgesetzt werden, auch wenn konkurrierende motivationale Tendenzen dagegen arbeiten. Das Rubikon-Modell verbindet Motivation mit Willensentscheidung (Überschreiten des Rubikon = Umsetzen in Handeln). Dabei gibt es 4 Phasen: Abwägen (erste motivationale Phase oder Phase der Wahl), Planen (willensbestimmte Phase), Handeln (willensbestimmte Phase) und Evaluation (zweite motivationale Phase). Prozesstheorien berücksichtigen Verbindungen zwischen Bewertungen und Ergebnissen. Sie lassen Raum für unterschiedliche individuelle Zusammenstellungen von Bewertungen und Ergebnissen. Einwände gegen Prozesstheorien lauten: 4 Arbeitende Menschen erscheinen als kalkulierende Hedonisten, die nach Abwägung aller Alternativen den Weg des maximalen Vorteils wählen. Die Frage, worin dieser typischerweise besteht, führt dann doch wieder zurück zu den Inhalten. 4 Zur Vorhersage von Verhalten und Leistung bei der Arbeit haben sie sich nicht so gut bewährt. Handlungsnahe Prozesstheorien werden hinsichtlich ihrer Vorhersagen von Arbeitsverhalten und Arbeitsleistung als empirisch gut belegt eingeschätzt (Büssing 1996, S. 351). Kritisiert wird die mangelnde integrative Perspektive, d. h. die Verbindung handlungsferner Konstrukte (wie Motive und Bedürfnisse) und handlungsnaher Konstrukte (wie Zielsetzung und Selbstregulierung). Integrative Ansätze bieten einen gemeinsamen Rahmen für Motivation und zielgerichtetes Verhalten. Kritisch ist zu vermerken, dass kaum Kenntnisse für Vorhersagevaliditäten oder andere Bewährungskriterien vorliegen. Alle bisher aufgeführten Modelle sind so umfassend, dass sie für zufriedenstellende Post-hoc-Erklärungen verwendet werden können. Immer wieder ist der Einwand zu finden, dass sie nicht präzise genug formuliert seien, um exakte Vorhersagen zu erlauben.
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Arbeitszufriedenheit
Ziel 4: Beschreiben Sie, was bei der Erfassung von Arbeitszufriedenheit wichtig ist.
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Arbeitszufriedenheit (work satisfaction): zusammenfassende Bewertung der unterschiedlichen Dimensionen von Arbeit.
Arbeitszufriedenheit Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation sind wichtige Faktoren im beruflichen Alltag, die nicht voneinander zu trennen sind
Arbeitszufriedenheit hängt mit Arbeitsmotivation zusammen. Das lässt sich an einigen der be-
schriebenen Ansätze ablesen. Die Motivatoren und Hygienefaktoren der Theorie Herzbergs (7 oben) werden auch als »satisfiers« und »dissatisfiers« bezeichnet. Der Ansatz von Vroom gilt auch als Theorie der Arbeitszufriedenheit, auch Gerechtigkeit bzw. Equity soll zur Arbeitszufriedenheit beitragen, ebenso das Erreichen von Zielen gemäß dem Ansatz von Locke. Allerdings waren empirische Ergebnisse zur Arbeitszufriedenheit uneinheitlich, und erwartete Zusammenhänge, beispielsweise mit Motivation und Leistung, traten nicht zuverlässig auf. Ein Grund dafür ist, dass es sehr darauf ankommt, mit welcher Methode Arbeitszufriedenheit erfasst wird. Mit anderen Worten: Das Konstrukt hat sich als außerordentlich methodenlabil erwiesen. Schon unterschiedliche Frageformulierungen legen unterschiedliche Antworten nahe (Wiswede 2007). Nicht nur uneinheitliche Befunde, auch Berichte über merkwürdig hohe Zufriedenheitsraten bei monotoner Arbeit weckten Misstrauen. Man suchte in den Untersuchungsbedingungen nach Erklärungen und machte beispielsweise mangelndes Vertrauen in die Anonymität von Antworten verantwortlich. Man vermutete, dass Befragte beschönigende Antworten gaben, um kognitive Dissonanzen (7 Kap. 15) zu reduzieren: Damit man nicht mit der Vorstellung leben muss, eine schlechte Arbeit zu haben, diese aber täglich zu verrichten, senkt man das Anspruchsniveau und gibt sich zufrieden. Auch attributionstheoretische Überlegungen wurden angestellt: Die eigene Arbeitssituation als andauernd unbefriedigend zu bewerten, würde schließlich zu einer Selbstabwertung führen. Die beschönigende Aufwertung der Arbeitssituation dient damit selbstwertstabilisierenden Attributionen. Auch ein zu niedriges Anspruchsniveau und schönfärberische Tendenzen wurden diskutiert (Semmer u. Udris 2007). ! Es ist wichtig, unterschiedliche Teildimensionen von Arbeitszufriedenheit zu erfassen.
Unter der Lupe
Was ist eigentlich genau gemeint, wenn nach Arbeitszufriedenheit gefragt wird? Sind die Befragten zufrieden mit 4 der Bezahlung? 4 dem Führungsstil? 4 den Aufstiegschancen? 4 den Kolleginnen und Kollegen? 4 der Anerkennung durch Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte? 4 der Komplexität der Tätigkeit? 4 der Möglichkeit, das Arbeitstempo selbst zu bestimmen? 4 der Möglichkeit, auf Entscheidungen, die sie selbst betreffen, Einfluss zu nehmen? Dass die Befragten in den unterschiedlichen Untersuchungen an ganz unterschiedliche Aspekte von Arbeitszufriedenheit dachten, könnte die uneinheitlichen Ergebnisse erklären: Ihre Antworten bezogen sich vermutlich auf unterschiedliche Aspekte von Arbeitszufriedenheit.
Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? Die Schwierigkeiten bei der Messung der Arbeitszufriedenheit können Sie vielleicht nachvollziehen, wenn Sie überlegen, welche Antworten Sie auf die folgenden Fragen geben würden: 4 Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? (Ja) (Nein) 4 Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden? (Ja) (Unentschieden) (Nein)
4 Wenn Sie sich nochmals zu entscheiden hätten, würden Sie dann dieselbe Arbeit wählen? (Ja) (Unentschieden) (Nein) 4 Würden Sie Ihren Kindern empfehlen, diese Arbeit zu wählen? (Ja) (Nein) (Unentschieden) Offensichtlich spielt es eine Rolle, welche und wie viele Antwortalternativen überhaupt zugelassen sind. Von Bedeutung ist aber auch, welches Bezugssystem aktiviert wird. Die Frage »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?« kann so ähnlich aufgefasst werden wie die Frage »Wie geht’s?«, nämlich als eine alltägliche soziale Geste. Man sagt dann halt so etwas wie »Danke, gut«. Die Frage, ob man noch einmal diese Arbeit wählen würde, ist hingegen spezifischer formuliert und aktiviert (auch rückblickende biographische) Bewertungen, allerdings nicht nur der Arbeit, sondern auch der getroffenen Entscheidung. Die Frage, ob man seinen Kindern die eigene Arbeit empfehlen würde, lässt Arbeitszufriedenheit nur vor dem Hintergrund erschließen, dass jemand für seine Kinder das Beste wünscht, und zwar möglichst eine zufriedenstellende Arbeit. Was aber heißt das inhaltlich? Hier können unterschiedliche Vorstellungen angesprochen werden. Inwieweit die Antwort durch zusätzliche Überlegungen (z. B. zu Wünschen und Begabungen der eigenen Kinder) oder durch das gegenwärtige Arbeitsplatzangebot usw. beeinflusst wird, bleibt ebenfalls offen.
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Formen der Arbeitszufriedenheit
© 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber.
Die Erfassung unterschiedlicher Teildimensionen der Arbeitszufriedenheit ist beispielsweise mit dem »Job-Description-Index« nach Smith et al. (1969) möglich, an dem sich der »Arbeitsbeschreibungsbogen« (ABB) nach Neuberger (1977) orientiert. Es ist allerdings problematisch, die unterschiedlichen Aspekte der Arbeitszufriedenheit einfach zu einem Gesamtwert zu addieren. Wenn einer davon als völlig unbefriedigend erlebt wird, ist ein Ausgleich auf einer anderen Dimension vielleicht nicht möglich (Wiswede 2007). Ein engagierter Erzieher kann beispielsweise, nachdem er eine Familie gegründet hat, feststellen, dass er diese von seinem Gehalt nicht ernähren kann. Auch wenn er sonst mit seiner Arbeit hoch zufrieden ist, kann er dadurch motiviert werden, eine andere Tätigkeit aufzunehmen. Dieses Beispiel zeigt noch etwas, was berücksichtigt werden muss, nämlich, dass Bezugssysteme sich ändern können. Das wird in dem Modell von Bruggemann (1974) berücksichtigt, das verschiedene Formen der Arbeitszufriedenheit als Ergebnis einer Motivationsdynamik postuliert (. Abb. 20.3). Wird das Anspruchsniveau erhöht, entsteht progressive Arbeitszufriedenheit. Eine allgemeine diffuse Unzufriedenheit kann unter Beibehaltung des Anspruchsniveaus zu neuen Problemlösungsversuchen und zu konstruktiver Unzufriedenheit führen – oder aber zu Pseudozufriedenheit bei verzerrter Situationswahrnehmung oder zu fixierter Arbeitsunzufriedenheit, bei der Problemlösungsversuche unterbleiben. Aufgrund einer Senkung des Anspruchsniveaus kann eine resignative Arbeitszufriedenheit erreicht werden. Semmer u. Udris (2007) geben an, dass zwar nicht alle Voraussagen des Modells empirisch bestätigt werden konnten, dass jedoch in Untersuchungen neben einem Faktor »allgemeine Zufriedenheit« immer wieder ein Faktor »Resignation« zu finden sei. Die Autoren halten Aussagen zur globalen Arbeitszufriedenheit für erstaunlich aussagekräftig, auch sei die Korrelation zwischen allgemeiner Arbeitszufriedenheit und Leistung entgegen verbreiteten Behauptungen keinesfalls gering, sondern liege bei 0,30. Für wahrscheinlich halten sie eine reziproke, eine sich gegenseitig bedingende Beziehung zwischen Arbeitszufriedenheit und Leistung.
. Abb. 20.3. Die vielen Gesichter der Arbeitszufriedenheit Das Modell von Bruggemann et al. (1975) stellt verschiedene Formen der Arbeitszufriedenheit und -unzufriedenheit dar (aus Semmer u. Udris 2007)
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Möglichkeiten zur Erhöhung der Zufriedenheit im Dienstleistungssektor
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Teilautonome Gruppen (partly autonomous groups): Gruppen, die bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben den Arbeitsablauf, die Verteilung von Teilaufgaben und mitunter auch die Arbeitsplatzgestaltung selbst bestimmen.
Was führt zu mehr Zufriedenheit für Mitarbeiter und Kunden? Erweiterte Handlungsspielräume sollen sich positiv auf die Arbeitsmotivation und das allgemeine Wohlbefinden der Arbeitenden auswirken. Teilautonome Gruppen wurden bislang überwiegend in der Produktion eingeführt, und es wurden dort positive Wirkungen auf die Produktivität belegt (z. B. Guzzo u. Dickson 1996). Könnte sich mehr Autonomie bei der Arbeit auch im Dienstleistungsbereich bewähren und zur Erhöhung der Kundenzufriedenheit beitragen? Dies wurde im Rahmen eines Evaluationsprojekts zur Einführung von Gruppenarbeit in der Straßen- und Gehwegreinigung einer deutschen Großstadt untersucht. Das Unternehmen hatte zu Beginn eine Monopolstellung, die als inzwischen eingeschränkt bezeichnet wird. Vielleicht, so überlegen Krause u. Dunckel (2003), die Autoren der Studie, hat die wachsende Konkurrenz dazu angeregt, über Möglichkeiten nachzudenken, wie man das Dienstleistungsklima verbessern kann? Die Arbeitsorganisation, die sie in dem Unternehmen vorfanden, bezeichnen sie kritisch als »funktionsteilig bzw. tayloristisch«, die Arbeitsaufgaben stufen sie »gemäß arbeitspsychologischer Humankriterien als kritisch« ein: Das Reinigungsgebiet, für das die Arbeitenden von ihren Vorgesetzten eingeteilt wurden, konnte von Tag zu Tag wechseln, auch die Besetzung der Fahrzeuge, mit denen die Arbeitenden zum Einsatzort gebracht wurden, konnte wechseln, ohne dass es eine Vorinformation oder gar eine Mitsprache bei der Planung gegeben hätte. An ihren jeweiligen Einsatzorten waren die Mitarbeiter des Unternehmens dann weitgehend isoliert mit der Reinigung bestimmter Flächen beschäftigt. Sie übten damit eine Arbeit aus, die geringe Anforderungen an Denken und Planung stellte, dabei jedoch einseitig körperlich belastete. Nicht überraschend: In einem Workshop äußerten die Arbeitenden Wünsche nach Veränderung und mehr Beteiligung. Was wurde unternommen? Feste Gruppen aus 6–8 Arbeitenden wurden gebildet, diesen wurden feste Reviere zugewiesen, Gebiete, für deren Reinigung sie zuständig waren. Außerdem wurden den Gruppenmitgliedern Zuständigkeiten zugeteilt, beispielsweise sollte ein Fahrer alle zum Einsatzort bringen, ein weiterer Mitarbeiter war fortan für die Kleinkehrmaschine zuständig. Den Gruppen wurde u. a. die Touren-, Urlaubs-, Technikeinsatz- und Arbeitsplanung übertragen. So sollte eine an den Erfordernissen im jeweiligen »Revier« orientierte Planung ermöglicht werden, die auch einen flexiblen Umgang mit Schwankungen im Schmutzaufkommen ermöglichte und damit eine effizientere Reinigung – und das wiederum sollte von den Kunden wahrgenommen werden und zu höherer Zufriedenheit führen. Nachdem ein Pilotprojekt gezeigt hatte, dass Gruppenarbeit zu einer Verbesserung der Arbeitssituation und der Produktivität führte, wurde ein quasiexperimentelles Längsschnittdesign mit Wartegruppen eingeführt. Dies heißt, dass Gruppenarbeit schrittweise eingeführt wurde, während jeweils ein Teil der Beschäftigten noch unter den alten Bedingungen weiter arbeitete. So konnte man die neuen mit den alten Bedingungen vergleichen. Während dieser Veränderungen wurde die Mitarbeiterzufriedenheit erfasst und zwar mit einer Kurzfassung des Arbeitsbeschreibungsbogens (ABB) von Neuberger (7 oben). Die Reinigungsleistung wurde in detaillierten Wochenberichten der Gruppen selbst dokumentiert. Dieser Bericht gilt – auch den Kunden gegenüber – als Nachweis für die Reinigung, ungerechtfertigte Einträge würden als Dokumentenfälschung rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Für die Erfassung der Kundenzufriedenheit wurde ein Fragebogen entwickelt, der von den Anwohnern und Geschäftsleuten in den Revieren zu 3 Messzeitpunkten (vor der Gruppenarbeit, nach 1 Jahr, nach 2 Jahren) beantwortet wurde. Dieser erfasste 4 Dimensionen: 4 Zufriedenheit mit der allgemeinen Sauberkeit im Revier, 4 Zufriedenheit mit dem Personal, 4 Zufriedenheit mit dem Unternehmen und 4 Wahrnehmung der Reinigungshäufigkeit. Auf allen vier Zufriedenheitsdimensionen zeigte sich nach Einführung der Gruppenarbeit eine Verbesserung der Werte. Bis zum 2. Messzeitpunkt nach 1 Jahr ergab sich ein schwacher bis mittlerer, statistisch signifikanter Anstieg, beim 3. Messzeitpunkt 2 Jahre nach Einführung der Gruppenarbeit wurden stabile Werte ermittelt. Das heißt, es gab weder einen Rückgang noch eine weitere Steigerung der erfassten Kundenzufriedenheit. Die erhöhte Kundenzufriedenheit ging mit
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einer verbesserten Reinigungsleistung sowie mit einer erhöhten Mitarbeiterzufriedenheit einher (Krause u. Dunckel 2003). ! Es konnte gezeigt werden, dass mehr Autonomie von Arbeitsgruppen im Dienstleistungsbereich sowohl bei Mitarbeitern wie bei Kunden zur Zunahme der Zufriedenheit führt.
Krause u. Dunckel (2003) plädieren dafür, im Dienstleistungsbereich verstärkt zu erforschen, wie sich Arbeitsbedingungen sowohl auf das Befinden der Mitarbeiter als auch auf die Kundenzufriedenheit auswirken. Damit lassen sie eine Ausgewogenheit von Zielen erkennen, die vielleicht nicht immer gegeben ist: Von Rosenstiel (2007) bilanziert, dass die Konzeption teilautonomer Gruppenarbeit mittlerweile Selbstverständlichkeit geworden sei, dass sich aber die Ideologie verändert habe. Sei es in den 1970er und 1980er Jahren vorrangig um Humanisierung gegangen, so stehe heute die Rationalisierung im Vordergrund.
Ursachen für Veränderungen der Arbeitszufriedenheit Ziel 5: Erklären Sie den »Hawthorne-Effekt«.
Es stellt sich die Frage, ob eine solche Veränderung möglicherweise auch deswegen positive Wirkung zeigt, weil die Beschäftigten darauf reagieren, dass sich überhaupt jemand um sie und ihre Arbeitsbedingungen kümmert? Mit anderen Worten: Wann ist eine Verbesserung wirklich auf die vorgenommenen Veränderungen zurückzuführen – und nicht etwa auf den sog. »HawthorneEffekt«? Diese Bezeichnung geht auf die 1927–1932 in den Hawthorne-Werken durchgeführte Untersuchung zurück. Damals sollte unter anderem untersucht werden, wie die Beleuchtung von Arbeitsplätzen die Arbeitsleistung beeinflusst. Es zeigte sich, dass Arbeiter verblüffenderweise trotz Senkung der Beleuchtungsstärken höhere Arbeitsleistungen erbrachten. Sie hatten das Gefühl, dass die Firmenleitung sich um sie und ihre Arbeitsbedingungen bemühte, und das steigerte vermutlich ihre Zufriedenheit und ihre Motivation – zumindest kurzfristig. Wenn aber nach der Einführung einer Veränderung die Messung der abhängigen Variablen, z. B. Zufriedenheit, stabil bleibt, spricht dies dafür, dass tatsächlich etwas bewirkt wurde – und nicht allein die Arbeitenden dadurch aufgemuntert wurden, dass man sich überhaupt damit befasste, wie es ihnen bei der Arbeit geht.
Hawthorne-Effekt (Hawthorne effect): verzerrender Einfluss bei experimentellen Untersuchungen. Nicht die durchgeführte experimentelle Manipulation wirkt sich auf die abhängigen Variablen aus, sondern allein die Tatsache, dass eine Untersuchung durchgeführt wird.
Lernziele Abschnitt 20.1 Warum arbeiten wir, und was haben wir davon? Ziel 1: Welche Bedürfnisse, welche Anreize bringen Menschen zum Arbeiten? Nennen Sie die wichtigsten vorliegenden Modelle. Inhaltstheorien beschreiben, welchen psychologischen Gewinn Menschen von ihrer Arbeit haben. Sie weisen auf die Bedeutung intrinsischer Motivierung durch ganzheitliche und anregende Arbeitsinhalte hin. Hygienefaktoren und Motivatoren werden gemäß der Zwei-FaktorenTheorie nach Herzberg (1959) wirksam. Um Anreizbedingungen (nämlich Arbeitsinhalte) und um das Erleben der Person (nämlich kritische psychische Zustände) geht es im Job-Characteristics-Modell nach Hackman u. Oldham (1980). Ziel 2: Beschreiben Sie Prozesse und Mechanismen, die zu Arbeitsmotivation führen. Nennen Sie Beispiele. Prozesstheorien beschreiben, welche Mechanismen von bestimmten subjektiven Erwartungen und Bewertungen zu Handlungen führen. Handlungsnahe Prozesstheorien thematisieren als dominierende Konstrukte Ziele und Selbstregulierungsmechanismen. Zu den Prozesstheorien zählen die Wert-Erwartungs-Theorien. Die bekannteste Ausarbeitung stammt von Vroom (1964) und wird auch
als VIE-Modell bezeichnet. Nach dieser Theorie ist Motivation das Produkt von Erwartungen und Werten. Die subjektiven Erwartungen (expectancy: sorgfältige Arbeit führt zu guter Qualität, instrumentality: Gute Qualität wird durch höhere Bezahlung belohnt), und Bewertungen (die höhere Bezahlung ermöglicht den gewählten Lebensstil), aus denen motiviertes Verhalten resultiert, sollen erfasst werden. Ziel 3: Erläutern Sie, wie Inhalte und Prozesse zusammen zur Arbeitsmotivation beitragen. Beziehen Sie die zusätzliche Dimension der Handlungsnähe ein. Integrative Perspektiven verbinden Inhalte und Prozesse (z. B. Motivation und zielgerichtetes Verhalten). Handlungsfern sind z. B. die in der Zukunft liegenden Ziele, handlungsnah die ständig ausgeübten Strategien der Selbstregulierung, die dazu dienen, die Ziele zu erreichen. Handlungsnah und prozessorientiert ist die Theorie der Zielsetzung von Locke u. Latham (1991). Handlungsferne und handlungsnahe Konstrukte verbinden die Theorie der Selbstregulierung nach Kuhl (1992) und das Rubikon-Modell von Heckhausen u. Gollwitzer (Gollwitzer 1990). 6
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Ziel 4: Beschreiben Sie, was bei der Erfassung von Arbeitszufriedenheit wichtig ist. Arbeitszufriedenheit ist auf unterschiedliche Weise erfasst worden. Empirische Ergebnisse zur Arbeitszufriedenheit sind uneinheitlich, das Konstrukt hat sich zudem als methodenlabil (als abhängig von der Art der Messung) erwiesen. Aussagen zur Arbeitszufriedenheit werden dann als aussagekräftig angesehen, wenn die jeweils verwendeten Bezugssysteme berücksichtigt werden.
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Ziel 5: Was ist der Hawthorne-Effekt? Beschreiben Sie, wie er entdeckt wurde. In den amerikanischen Hawthorne-Werken sollte zu Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht werden, wie die Beleuchtung von Arbeitsplätzen die Arbeitsleistung beeinflusst. Unerwartet zeigten Arbeiter trotz Senkung der Beleuchtungsstärken höhere Arbeitsleistungen. Das Gefühl, dass sich die Firmenleitung um ihre Arbeitsbedingungen kümmerte, steigerte kurzfristig ihre Zufriedenheit und ihre Motivation. > Denken Sie weiter: Sie möchten eine Veränderung in einem Betrieb einführen, um die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter zu verbessern. Wie stellen Sie sicher, dass Sie anschließend tatsächlich die Auswirkungen Ihrer Intervention erfassen?
20.2
Arbeit und Stress
Die Arbeitsbedingungen selbst, die Organisation der Arbeit sowie die Balance von Arbeit und Leben können, je nachdem, wie sie beschaffen sind, mit mehr oder weniger Stress verbunden sein. Gelingt es, derartige Zusammenhänge zu erfassen, können Strategien der Vorbeugung und der Bewältigung geplant werden. Dabei ist immer auch die subjektive Seite wichtig, d. h. nicht alle Bedingungen wirken auf alle Menschen in gleicher Weise.
20.2.1
Stress und Stressoren
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Bei der Frage, was nun eigentlich Stress ist, ist immer das Erleben und die Bewertung von Stressoren durch die einzelne Person wichtig (7 Kap. 16). Was sind diese Stressoren? Das sind hypothetische Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress oder Stressempfindungen auslösen (Greif 1991a). Als Stressoren gelten beispielsweise Überforderung, Unterforderung, Lärm, Rollenunsicherheit, Konflikte oder alltägliche Ärgernisse. Als Stressor kann auch Arbeitsplatzunsicherheit gewertet werden (Mohr 1996, Mohr u. Otto 2007). Wie werden Stressoren ermittelt? Die meisten Forschungsarbeiten beruhen auf Befragungen von Mitarbeitern. Im Rahmen des Forschungsprojekts »Psychischer Stress am Arbeitsplatz« wurde das Instrument zur stressbezogenen Tätigkeitsanalyse (ISTA) entwickelt. Bei diesem aufwendigen Verfahren werden verschiedene Methoden gleichzeitig eingesetzt: Einschätzung der Stressoren durch trainierte Beobachter, individuelle Fragebogenerhebung und Befragung mehrerer Arbeiter zum gleichen Arbeitsplatz. Der Vergleich der verschiedenen Messmethoden zeigte, dass reine Fragebogenmessungen zu verzerrten, d. h. überhöhten Zusammenhängen führen können, dass es aber reale Zusammenhänge gibt (Zapf 1991).
Stressfolgen Ziel 6: Geben Sie einen Überblick über arbeitsbedingte Stressfolgen. Wenn’s wieder eng wird Was als Stress erlebt wird, hängt stark vom subjektiven Empfinden des Einzelnen ab
Folgende Auswirkungen können – bei allen methodischen Vorbehalten gegenüber Korrelationsstudien und Befragungen, die keine kausalen Nachweise ermöglichen – begründet prognostiziert werden (Greif 1991):
Kurzfristige Auswirkungen von Stressoren: 4 4 4 4
Nervosität und Gereiztheit, erhöhte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung, erhöhte kardiovaskuläre Aktivität, verringerte Effizienz der Handlungsregulation.
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Langfristige Auswirkungen von Stressoren: 4 Beeinträchtigung des Wohlbefindens, 4 psychosomatische Beschwerden und Krankheiten, 4 problematisches Gesundheitsverhalten (ungesunde Essgewohnheiten, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkoholmissbrauch, Drogen- und Medikamentenmissbrauch), 4 verringertes allgemeines Aktivitätsniveau (Fortbildung, Freizeitaktivitäten), 4 fehlende Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien, 4 Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz und der sozialen Beziehungen. Als spezifisches Stresssymptom ist auch das »Burnout-Syndrom« betrachtet worden. Vorgestellt wurde es als Folge der Belastungen, die in psychosozialen Berufen auftreten und zu emotionaler Erschöpfung, Depersonalisierung und verringerter Leistungsfähigkeit führen (Maslach 1982). Mittlerweile ist »Burnout« auch in anderen Arbeitsbereichen erforscht worden, Burisch (2006) legt ein integrierendes Prozessmodell vor. Zentral ist der Begriff der Handlungsepisode, die als eine Reise vom Ist- zum Sollzustand beschrieben wird. Erfolgt dies jedoch nicht, weil die Erreichung des Zieles ganz vereitelt oder sehr erschwert ist, weil die Belohnung ausbleibt oder weil sich negative Nebenwirkungen einstellen, ist die Handlungsepisode gestört. Burnout entsteht, wenn Autonomieeinbußen und gestörte Handlungsepisoden, Person- und Umweltfaktoren so aufeinander einwirken, dass die betroffene Person immer weniger subjektiven Handlungsspielraum wahrnimmt.
Stressentstehung und Stressbewältigung
Wie entsteht Stress bei der Arbeit, und wie wird er bewältigt? Um diese Fragen zu beantworten, hat man Verhaltensweisen von Personen und Eigenschaften von Situationen ermittelt, die mit dem Erleben von Stress zusammenhängen: Ein Personmerkmal ist z. B. das Typ-A-Verhalten (7 Kap. 16). Das Typ-A-Verhalten (Friedman u. Rosenman 1974) beschreibt ein Muster, das durch hohe Arbeitsorientierung und Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet ist, sowie durch das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen, durch Versuche, die Umwelt unter Kontrolle zu bringen, und durch ausgesprochenes Wettbewerbsverhalten. Schwierigkeiten abzuschalten, Hektik und Ungeduld werden ebenfalls dem Typ-A-Verhalten zugerechnet. Ein Beispiel für Situationseinflüsse sind Umweltbelastungen. Unter Belastungen (wie beispielsweise Lärm) wird weniger effizient gearbeitet. Das wurde durch die Beobachtung unterschiedlicher Indikatoren festgestellt: Die Leistungsgeschwindigkeit sinkt, die Fehlerquote steigt, die Informationsaufnahme bei Entscheidungen wird ineffizient, d. h. es werden mehr irrelevante Informationen abgerufen. Das wiederum kann von den Arbeitenden als stressig erlebt werden. Nach dem transaktionalen Stressmodell (Lazarus 1966) schätzen Menschen Situationen unterschiedlich ein. Darüber hinaus verfügen sie über unterschiedliche Bewältigungsstrategien und -kompetenzen. Folglich gehen sie mit gleichen Situationen unterschiedlich um, was wiederum unterschiedlich auf die situativen und die persönlichen Gegebenheiten zurückwirkt. Dies wird am Beispiel der im Folgenden beschriebenen Personen deutlich, die dieselbe Stresssituation subjektiv unterschiedlich bewerten und jeweils völlig unterschiedlich reagieren: 4 Person A sieht Handlungsmöglichkeiten, fühlt sich herausgefordert und setzt Bewältigungsstrategien ein, die geeignet sind, das Problem zu lösen: Rat holen bei Experten, Überstunden machen etc. 4 Person B, die sich ebenfalls herausgefordert fühlt, wird wütend, findet vielleicht, man habe ihr zu viel aufgehalst, und geht zum Angriff über. 4 Person C fühlt sich bedroht und nimmt ein Beruhigungsmittel, um sich dem Stress gewachsen zu fühlen, d. h. sich psychisch anzupassen. 4 Person D, die sich der Lage nicht gewachsen fühlt, reagiert auch physisch so angegriffen, dass sie eine Krankmeldung schickt und so vor einem drohenden Verlust aus der Situation flüchtet.
C. Styrsky
Ziel 7: Erläutern Sie die Entstehung von Stress im Arbeitsbereich und seine Bewältigung. Ziehen Sie dazu das transaktionale Stressmodell heran.
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
. Abb. 20.4. Stress am Arbeitsplatz Modell der Stressauslösung und -verarbeitung. (Nach Lazarus 1966)
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Zu unterschiedlichen Sichtweisen kommen hier unterschiedliche Strategien und Kompetenzen, was wiederum auf Situation und Person verändernd zurückwirkt. Transaktional heißt im Unterschied zu interaktiv, dass die Ausgangsgrößen (Situation, Person) im Laufe des Prozesses der gegenseitigen Einwirkung verändert werden (. Abb. 20.4). ! Das transaktionale Stressmodell ist von zentraler Bedeutung für die Analyse von Stress und Arbeitsbelastungen, indem es sowohl unterschiedliche Sichtweisen, Bewältigungsstrategien und Kompetenzen der Betroffenen berücksichtigt als auch deren Veränderung im Zeitverlauf analysiert.
20.2.2
Mobbing
Als besondere Art von Stress am Arbeitsplatz kann Mobbing bezeichnet werden (7 Abschn. 19.4.2 zum Mobbing bzw. Bullying bei Kindern und Jugendlichen).
Was ist Mobbing? Ziel 8: Erklären Sie, was man unter Mobbing versteht, und stellen Sie dar, welche Ursachen diskutiert werden.
Mobbing bezieht sich auf alle Situationen, in denen Arbeiter, Vorgesetzte oder Manager systematisch und wiederholt schlecht behandelt und zum Opfer von Angriffen von gleichgestellten Kollegen, untergeordneten Mitarbeitern oder Vorgesetzten werden. Für den »Mobbing-Report«, eine Repräsentativstudie für die Bundesrepublik Deutschland (Meschkutat et al. 2003), wurde am Telefon beispielsweise gefragt: »Unter Mobbing ist zu verstehen, dass jemand am Arbeitsplatz häufig über einen längeren Zeitraum schikaniert, drangsaliert oder benachteiligt und ausgegrenzt wird. Sind Sie derzeit oder waren Sie schon einmal in diesem Sinne von Mobbing betroffen?«
Wie entsteht Mobbing? Heinz Leymann (1996), der das Konzept bekannt machte, hielt Organisation, Gestaltung und Leitung der Arbeit für zentral.
901 20.2 · Arbeit und Stress
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1. Organisation der Arbeit: Mobbing entsteht häufig bei Arbeitsaufgaben, die gekennzeichnet sind durch eine quantitative Überbelastung bei qualitativer Unterbelastung, beispielsweise wenn eine Maschine für eine eigentlich monotone Arbeit einen zu schnellen Takt vorgibt. Je geringer die Selbstbestimmung ist und je höher der Arbeitsdruck, desto eher zeigen sich Stressreaktionen, die wiederum Konflikte erzeugen – und damit ein erhöhtes Mobbingrisiko. 2. Aufgabengestaltung in der Arbeit: Insbesondere langweilige Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten ohne Lern- und Fortbildungsmöglichkeiten stehen im Zusammenhang mit psychosomatischen Erkrankungen. Mobbing an solchen Arbeitsplätzen kann als »Mobbing aus Langeweile« bezeichnet werden. Die Konkurrenz um bessere Arbeitsaufgaben und Gehälter oder um einen attraktiveren sozialen Status fördert möglicherweise Mobbing. 3. Leitung der Arbeit: Die Leitung versucht, Leistungsdefizite durch Antreiben statt durch Verbesserungen von Organisation und Arbeitsgestaltung aufzuwiegen. Die Entwicklung sozialer Prozesse in Arbeitsgruppen wird dem Zufall überlassen. Arbeitsgruppen unter Druck neigen zu Konflikten; das wiederum erhöht das Risiko für Mobbingfälle.
Wie verbreitet ist Mobbing und welche Gegenmaßnahmen sind möglich? Ziel 9: Nennen Sie Möglichkeiten, gegen Mobbing vorzugehen, und erläutern Sie diese.
Meschkutat et al. (2003) berichten auf der Grundlage ihrer repräsentativen Studie, dass in der BRD zum Berichtszeitpunkt 2,7% der Erwerbstätigen von Mobbing betroffen waren, auf den Zeitraum eines Jahres hochgerechnet sind dies 5,5%. Im Laufe des Berufslebens ist demnach mehr als jeder 9. Berufstätige bereits einmal davon betroffen gewesen. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind schwerwiegend: Nervosität, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmungen, Symptome, die dem posttraumatischen Belastungssyndrom (7 Kap. 17) vergleichbar sind, zwanghafte Verhaltensweisen, beispielsweise immer wieder die eigene Leidensgeschichte erzählen. Angesichts dieser gravierenden Folgen für die Betroffenen und der Kosten, die der Gesellschaft durch den Ausschluss der Gemobbten aus dem Arbeitsleben entstehen, ist die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen offensichtlich. Meschkutat et al. (2003) plädieren für Sensibilisierung und Aufklärung in den Betrieben sowie für die Vorbildfunktion von Vorgesetzten, die deutlich machen müssen, dass sie Mobbing nicht dulden. Sie empfehlen weiterhin Instrumente wie Betriebsvereinbarungen und die Einrichtung klarer Beschwerdewege für Betroffene. Darüber hinaus empfehlen sie, auf der betrieblichen Ebene vorzubeugen, etwa durch die Schaffung klarer arbeitsorganisatorischer Strukturen, durch offensive Information, durch beteiligungsorientierte Gestaltung von Planungs- und Entscheidungsprozessen, durch Transparenz in Bezug auf Entscheidungsprozesse. Falls notwendig, solle Weiterbildung für Führungskräfte ermöglicht werden, auch solle in Betrieben ein Gefühl für kritische Situationen (z. B. Phasen dynamischer Organisationsentwicklung) entwickelt werden. Außerdem müsse auch an öffentliche Sensibilisierung und Beratung gedacht werden: Die Inanspruchnahme von Mobbingtelefonen zeige, dass der Beratungsbedarf nicht gedeckt sei. Möglicherweise nimmt Mobbing in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu – sei es, weil Menschen dann skrupelloser und egoistischer handeln, sei es, weil Menschen dann eher gezwungen sind, unerträgliche Zustände auszuhalten, da sie mangels Alternativen nicht »aus dem Felde« gehen, d. h. einen neuen Arbeitsplatz suchen können (Zapf 1999).
Mobbing am Arbeitsplatz Systematische und wiederholte Angriffe durch Kollegen und Vorgesetzte – von subtilen Schikanen und Intrigen bis hin zu offen feindseligen Handlungen – können zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen
Die Frage nach der Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren lässt sich nach Leymann nicht solide beantworten. Darüber hinaus werde die Psychologie missbraucht, wenn ihre diagnostischen Mittel dazu verwendet werden, im Nachhinein dem Opfer die Verantwortung aufzuladen und die Mobber oder die, die nicht rechtzeitig eingegriffen haben, zu entlasten (Leymann 1996). Mobbingopfer berichten von schlechteren Einflussmöglichkeiten, schlechterem Informationsfluss, allgemein schlechter Zusammenarbeit, fehlender sozialer Unterstützung. Diese Befunde erlauben allerdings keine
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Gibt es das typische Mobbingopfer?
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Aus Einarsen, S. (2000). Harassment and bullying at work: a review of the scandinavian approach. Aggression and violent behavior, Volume: 5, 379-401, Elsevier Science Ltd., S. 394
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. Abb. 20.5. Das Zusammenspiel vieler Faktoren Ein theoretischer Rahmen für die Untersuchung von Mobbing und Belästigung am Arbeitsplatz. (Nach Einarsen 2000)
eindeutige Aussage über die Richtung der Kausalität. Wie Zapf (1999) in seinem Überblick bemerkt, könnte jemand auch deshalb von Kollegen gemobbt werden, weil diese ihn als jemand wahrnehmen, der ständig Ärger bereitet. Die Verfasser des »Mobbing-Reports« berichten, dass 17,8% der von ihnen im zweiten Teil ihrer Studie befragten rund 500 Mobbingopfer einen möglichen eigenen Anteil an der Entstehung des Mobbings einräumten. Für den »Mobbing-Report« wurde auch danach gefragt, ob der eigene Mobbingfall der einzige im Betrieb war oder ob auch andere Personen betroffen gewesen seien. Aus den Antwortmustern wird gefolgert, dass »Mobbing ein Phänomen bestimmter Betriebe ist, dort nicht nur einmal vorkommt, sondern sich wiederholt und somit die Frage nach typischen Betrieben, die für Mobbing prädestiniert sind, höheren Stellenwert haben sollte als die Frage nach den typischen Opferpersönlichkeiten« (Meschkutat et al. 2003, S. 122). Empirische Studien legen ebenfalls komplexere Prozessmodelle nahe. Diese beziehen neben Merkmalen der Organisation die Persönlichkeiten, die Handlungen und die Sichtweisen von Opfern und Tätern ein (Einarsen 2000). Dabei ist derzeit offen, wie die einzelnen Einflussfaktoren im Verhältnis zueinander zu gewichten sind (. Abb. 20.5).
Was können Betroffene gegen Mobbing unternehmen? Aus einer Untersuchung von Knorz u. Zapf (1996) wurden Empfehlungen für Betroffene abgeleitet: Betroffene sollten 4 Grenzen setzen und beispielsweise auf Eskalationsangebote nicht eingehen, 4 sich persönlich stabilisieren, beispielsweise durch längere Krankschreibung Abstand gewinnen, psychotherapeutische Unterstützung nutzen, 4 auf objektive Veränderungen am Arbeitsplatz hinwirken. Dass die Situation sich nur dann grundlegend änderte, wenn Mobber und Gemobbte getrennt wurden, verweist auf das notwendige Eingreifen Vorgesetzter oder auf notwendige Veränderungen des innerbetrieblichen Gefüges. Komplexe Entstehungsmodelle legen nahe, dass für Prävention wie Intervention wahrscheinlich an unterschiedlichen Stellen zugleich angesetzt werden muss.
903 20.2 · Arbeit und Stress
20.2.3
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Work-Life-Balance
Ziel 10: Erläutern Sie, was unter Work-Life-Balance verstanden wird. Work-Life-Balance (work-life balance): Ausgewogenheit von beruflichem und außerberuflichem, z. B. familiärem Engagement.
© Isabella Bannerman
Eine gelungene Balance von Arbeit und Leben fördert das Wohlbefinden und beugt damit möglichem Stress vor. Ein Ungleichgewicht hingegen beeinträchtigt die Lebensqualität und kann überdies auch die Leistungsfähigkeit bei der Arbeit senken. Workshops und Ratgeberliteratur bieten Tipps zur Optimierung der Work-Life-Balance. Warum eigentlich sollte eine solche Balance die Lebensqualität verbessern? Zum einen schützt es davor, durch die Einbußen in einer Rolle aus dem seelischen Gleichgewicht zu geraten, wenn man über mehrere Rollen verfügt. So haben Sie vielleicht bei der letzten Familienfeier keinen perfekten Braten serviert, aber Sie können sich damit trösten, dass Sie an Ihrem Arbeitsplatz als Computer-As geschätzt werden. Zum anderen kommen Sie wahrscheinlich gut mit unterschiedlichen Rollenanforderungen zurecht und können angemessen damit umgehen, wenn Ihnen mehr als eine Rolle sowohl vertraut als auch wichtig ist. Möglicherweise haben Sie dann Strategien entwickelt, die Ihnen helfen, längerfristig Anforderungen aus unterschiedlichen Bereichen wie Familie und Erwerbsarbeit nachzukommen, ohne dass Sie sich ständig durch »dringende Notfälle« behindern und einschränken lassen. Kommt es allein auf die Balance zwischen den Bereichen an oder auch darauf, wie stark das Engagement in beiden Bereichen ist? Greenhaus et al. (2003) haben im Rahmen einer größeren Studie über Lebensqualität 353 Wirtschaftsprüfer und Steuerberater befragt. Diese waren aus einer größeren Stichprobe ausgewählt worden, weil sie verheiratet waren oder in einer festen Partnerschaft lebten und mindestens ein Kind hatten. Damit sollte sichergestellt werden, dass sie familiäre Verpflichtungen hatten, die Zeit und Energie beanspruchten. Erfasst wurde, wie viel Zeit die Befragten bei der Arbeit und in ihren Familien verbrachten, wie sehr sie sich für ihre Arbeit bzw. in ihren Familien emotional engagierten und wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit und mit ihrem Familienleben waren. Käme es allein auf die Balance an, so wäre zu erwarten gewesen, dass diejenigen, die Zeit und emotionales Engagement gleichmäßig auf Familie und Beruf verteilten, auch die höchsten Werte in Bezug auf Lebensqualität aufwiesen. Es zeigte sich auch ein Zusammenhang zwischen Lebensqualität und der Balance von Arbeits- und Familienleben, aber nur unter bestimmten Bedingungen und etwas anders als erwartet: Investierten Menschen insgesamt wenig Zeit oder engagierten sie sich emotional wenig bei der Arbeit und in der Familie, so gab es keinen Zusammenhang zwischen der Balance beider Bereiche und der Lebensqualität. Die Zufriedenheit mit beiden Bereichen war dann auch gering. Gab es jedoch viel Zeit, Engagement und Zufriedenheit, die auf beide Bereiche verteilt wurden, dann war die Lebensqualität bei denen am höchsten, die sich emotional mehr in die Familie einbrachten als in die Arbeit und die auch mit ihrem Familienleben zufriedener waren als mit ihrem Arbeitsleben. Am niedrigsten lag die Lebensqualität bei denen, die sich mehr bei der Arbeit engagierten und mit diesem Bereich zufriedener waren. Entgegen allgemeinen Erwartungen und auch im Gegensatz zu den Hypothesen der Forscher lag die Lebensqualität der Befragten mit einem ausgeglichenen Verhältnis, also denen, die sich sowohl in Beruf und Familie engagierten und mit beiden Bereichen gleich zufrieden waren, zwischen diesen beiden Extremen. Die positive Wirkung einer Balance zwischen Arbeit und Familie konnte in dieser Studie also nicht bestätigt werden. Die Forscher bieten die Überlegung an, dass die höhere Lebensqualität derjenigen, die das Gleichgewicht zugunsten der Familie verschoben haben, dadurch zustande kommt, dass sie ihr berufliches Engagement und damit ihr Potenzial für Rollenkonflikte verringert haben. Die negative Wirkung eines Ungleichgewichts zugunsten der Arbeit hingegen wurde belegt – was mit anderen Forschungsergebnissen übereinstimmt, die Folgendes zeigen: Es führt zu Konflikten zwischen Arbeit und Familie, wenn Zeit und Emotionen überwiegend der Arbeit zukommen (7 Abschn. 16.1.3). Wie oft in der Forschung empfehlen die Autoren, in weiteren Untersuchungen Fragen nachzugehen, die sie nicht gestellt haben, die jedoch bei der Aufklärung der Zusammenhänge hilfreich sein könnten. So wäre z. B. auch nach der subjektiv empfundenen Balance zu fragen. Wie groß kann der Unterschied zwischen Arbeitszeit und Familienzeit werden, damit Menschen das Gefühl erleben, dass ihr Leben nicht im Gleichgewicht ist?
Workaholic-Hölle
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Es handelt sich um einen Querschnitt, d. h. um Zusammenhänge, die zu einem Zeitpunkt erfasst wurden. Damit ist es nicht möglich, kausale Schlüsse zu ziehen. Dazu wären Beobachtungen über einen längeren Zeitraum notwendig, und diese könnten auch Aufschluss darüber geben, wie sich die Gewichtungen, die Menschen ihren beruflichen und familiären Aktivitäten verleihen, im Laufe des Lebens verändern. Für eine Betrachtung des Verhältnisses von Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen allgemein, die auch den Umgang mit prekären Arbeitsverhältnissen in den Blick nimmt, plädieren Resch u. Bamberg (2005, S. 175) und machen darauf aufmerksam, dass es auch gesellschaftliche und betriebliche Gründe für Ungleichgewichte gibt, die mit verbessertem Selbstmanagement allein nicht zu bewältigen sind.
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Lernziele Abschnitt 20.2 Arbeit und Stress Ziel 6: Geben Sie Beispiele für arbeitsbedingte Stressfolgen. Man kann unterscheiden zwischen kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen von Stressoren: Kurzfristige Auswirkung sind Nervosität und Gereiztheit, erhöhte Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung, erhöhte kardiovaskuläre Aktivität sowie verringerte Effizienz bei der Handlungsregulation. Längerfristig kann es zur Beeinträchtigung des Wohlbefindens kommen, zu psychosomatischen Beschwerden und Krankheiten, zu problematischem Gesundheitsverhalten (ungesunden Essgewohnheiten, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkoholmissbrauch, Drogen- und Medikamentenmissbrauch). Ziel 7: Erläutern Sie die Entstehung von Stress im Arbeitsbereich und seine Bewältigung. Ziehen Sie dazu das transaktionale Stressmodell heran. Der Frage, wie Stress entsteht und wie er bewältigt wird, geht man nach, indem man untersucht, wie Verhaltensweisen von Personen und Eigenschaften von Situationen miteinander und mit dem Erleben von Stress zusammenhängen. Das Erleben und die Bewertung von Stressoren durch die einzelne Person sind wichtig. Was mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress oder Stressempfindungen auslösen kann, wie beispielsweise Überforderung, Unterforderung, Lärm, Konflikte, hängt immer auch von der Bewertung durch die Betroffenen ab. Im transaktionalen Stressmodell wird thematisiert, dass Personen in der gleichen Situation unterschiedliche Sichtweisen, Bewältigungsstrategien und -kompetenzen zeigen, die auf die situativen und persönlichen Gegebenheiten zurückwirken und durch die gegenseitige Einwir-
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kung auch verändert werden. Es geht sowohl um die objektive Arbeitssituation als auch um deren Erleben sowie um die Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Ziel 8: Erklären Sie, was man unter Mobbing versteht, und stellen Sie dar, welche Ursachen diskutiert werden. Auch im Fall von Mobbing, einer besonderen Art von sozialem Stress am Arbeitsplatz, ist eine transaktionale Sichtweise angemessen. Zunächst standen Organisation der Arbeit, Aufgabengestaltung und Leitung im Zentrum, mittlerweile wird eingeräumt, dass auch Persönlichkeitseigenschaften der Mobber und der Gemobbten eine Rolle spielen können. Ziel 9: Nennen Sie Möglichkeiten, gegen Mobbing vorzugehen, und erläutern Sie diese. Zur Vorbeugung kann man faire und transparente Verhaltensregeln einführen, die z. B. in Betriebsvereinbarungen festgehalten werden und die auch angeben, was im Fall von Konflikten zu tun ist. Den einzelnen Betroffenen wird u. a. geraten, sich gegen Angriffe abzugrenzen, Abstand zu finden, nötigenfalls durch eine Krankschreibung, und auf eine Veränderung am Arbeitsplatz hinzuwirken. Ziel 10: Erläutern Sie, was unter Work-Life-Balance verstanden wird. Ganz allgemein ist damit gemeint, dass eine gelungene Balance von Arbeit und Leben das Wohlbefinden fördert und auf diese Weise möglichem Stress vorbeugt. In vorliegenden Studien wird diese Balance auf unterschiedliche Weise untersucht. Belegt ist, dass sich ein Ungleichgewicht zugunsten der Arbeit negativ auswirkt.
Veränderte Arbeitsbedingungen
Technische Neuerungen, insbesondere neue Informationstechnologien und Fertigungssysteme, versprechen Wettbewerbsvorteile auf einem Markt, auf dem man sich behaupten muss. Wie gehen Organisationen und ihre Mitarbeiter mit den dadurch hervorgerufenen Veränderungen um? Arbeit im Büro von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends – das gilt in vielen Bereichen nicht mehr. Wann und wo gearbeitet wird, wird inzwischen flexibel gehandhabt. Welche Modelle gibt es mittlerweile, und wie zufrieden sind die Beschäftigten damit? Eine gesellschaftliche Veränderung, mit der wir etwa seit 25 Jahren leben, ist die zunehmende Arbeitslosigkeit. Welche Auswirkungen hat Arbeitslosigkeit, und wie gehen Menschen damit um?
905 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
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Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich?
Ziel 11: Beschreiben Sie, was bei der Einführung neuer Technologien zu beachten ist. Diskutieren Sie die Rolle unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten.
Für den Erfolg von Organisationen, für ihr Überleben im Konkurrenzkampf, sind Innovationen von kritischer Bedeutung. Ob eingeführte Neuerungen die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, tatsächlich erfüllen, hat etwas mit dem Klima in der Organisation zu tun, mit den Wahrnehmungen der direkt betroffenen Mitarbeiter, und damit, wie die Neuerungen zu ihren Wertvorstellungen passen. Neue Technologien können ignoriert und gemieden werden, sie können zögerlich verwendet, aber nicht wirklich genutzt oder aber geschickt, begeistert und stetig eingesetzt werden. Gibt es eine empfehlenswerte Strategie, die die Aneignung und gewinnbringende Verwendung der Neuerungen sichert? Werden beispielsweise neue Computertechnologien eingeführt, ist es wichtig, dass die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Manager, Techniker und Anwender berücksichtigt werden. Gewöhnlich beraten Techniker die Manager, ermutigen sie zum Erwerb vielversprechender Systeme. Manager wiederum wenden sich an Techniker, die den Erwerb und die Einführung neuer Systeme begleiten und erleichtern sollen. Die Anwender sollen dann mit den Neuanschaffungen gut umgehen können – sonst haben sie sich nicht gelohnt.
Innovationsoffenheit und Gruppenzugehörigkeit
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Unterschiedliche Sichtweisen können durch unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten zustande kommen. Wie entstehen unterschiedliche Gruppen? Nach Alderfer (1983) kann man zwischen Identitätsgruppen und organisatorischen Gruppen unterscheiden. Bei identitätsbezogenen Gruppen stehen Gemeinsamkeiten in Bezug auf Geschlecht und Generationszugehörigkeit und gesellschaftspolitische Erfahrungen im Vordergrund – und erleichtern die Verständigung. Bei Organisationsgruppen stiften gemeinsame Aufgaben im jeweiligen Betrieb ähnliche Auffassungen zu Problemen und Lösungen. Bei Managern, Technikern und Anwendern handelt es sich um unterschiedliche Organisationsgruppen, sie unterscheiden sich nach Position, Arbeitserfahrung und arbeitsbezogener Perspektive. Gruppierungen nach Status in der Organisation und nach Identität können zusammenfallen: Manager wie Techniker sind mit größerer Wahrscheinlichkeit als Anwender männlich und gehören der dominanten ethnischen Gruppe an. Sie können sich unterscheiden: Manager sind gewöhnlich etwas älter als Techniker. Abhängig von ihren Aufgaben entwickeln Angehörige unterschiedlicher Organisationsgruppen unterschiedliche Sichtweisen auf ihre Gruppe, auf andere Gruppen, auf die Organisation als Ganzes; dies beeinflusst wiederum ihr Verhalten und ihre Einstellungen.
Manager haben mehr Macht als Techniker oder Anwender. Allerdings haben Manager in den Augen derer, die ihnen unterstellt sind, mehr Macht, als sie sich selbst zuschreiben würden. Diese Dynamik zeigt sich oft bei der Einführung neuer Technologien: Die Techniker und Anwender richten sich nach den Vorgaben der Manager, die ihrerseits den Eindruck haben, nicht über so viel Einfluss zu verfügen, wie Techniker und Anwender glauben. Derartige Unterschiede in der Einschätzung hängen damit zusammen, dass es riskant ist, schlechte Nachrichten nach oben weiterzugeben. Folglich gelangen oft stark zensierte Informationen in die höheren Ränge. Im Fall der Einführung neuer Technologien bedeutet dies, dass Manager über die Probleme hinsichtlich der Akzeptanz der neuen Technologien durch die künftigen Anwender nicht gut informiert sind.
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! Manager, Techniker und Anwender sehen neue Computertechnologien unterschiedlich und schätzen deren Nutzen unterschiedlich ein. Zu unterschiedlichen Sichtweisen trägt auch die Position in der Hierarchie der Organisation bei.
Es geht voran! Die technische Innovation sorgt dafür, dass die Rechenleistung, die früher für Flüge zum Mond notwendig war, heute in vielen größeren Büros zur Verfügung steht
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Die Menschen in der Mitte der Hierarchie haben etwas Macht über die, deren Vorgesetzte sie sind. Sie sind gewöhnlich gut beraten, ihre eigenen Vorgesetzten zufriedenzustellen. Während der Einführung neuer Technologien finden sich oft die Techniker in dieser Position. Wenn sie nicht ohnehin von außerhalb kommen, gehören sie oft zum Stab, z. B. zu einem speziellen Kompetenzzentrum, nicht aber zur Linie, d. h. sie sind nicht in die funktionale Hierarchie der Organisation integriert. Daher fehlt es ihnen an Macht, Autorität und Autonomie, um sich gegenüber den Anwendern zu behaupten, die sie anleiten, deren Lernerfahrungen sie überwachen und deren Leistungen sie kontrollieren sollen. Diejenigen, die sich unten in der Hierarchie befinden, verfügen über die wenigsten Ressourcen und die geringste Macht. Folglich können sie ein Minimum an Kontrolle über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen sichern, wenn sie ihr Engagement für die Ziele der Organisation in Grenzen halten. Man kann auch Trice (1993) folgend annehmen, dass unterschiedliche Perspektiven mit der Angehörigkeit der Organisationsmitglieder zu unterschiedlichen Teilkulturen zusammenhängen. Diese »Subkulturen« sind durch gemeinsame Ideologien und Kulturen gekennzeichnet. Eine der mächtigsten Teilgruppen stellt, Trice zufolge, die Spitze des Managements dar. Diese »Subkultur« sieht ihre Aufgabe darin, festzulegen, wie die Arbeit organisiert und wie Aufgaben unter den Beschäftigten verteilt werden. Eine weitere Subkultur bildet sich unter den Mitgliedern einer Gruppe von Beschäftigten mit ähnlichen Tätigkeiten. Diese haben bestimmte Aufgaben gemeistert und Spezialwissen eingesetzt. Daher glauben sie, bestimmte Mitarbeiter sollten das Recht haben, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, über den Zugang zu Ausbildungsgängen zu entscheiden, die zu bestimmten Tätigkeiten qualifizieren, sowie über die Ausführung und Bewertung der Tätigkeit zu bestimmen. Das kann zu Konflikten mit der Spitze des Managements führen. Im Falle der Einführung neuer Computertechnologien kann dies so aussehen: Die Techniker, die meist dem Stab angehören, teilen Wissen und Erfahrung, sie kennen die neuesten technischen Möglichkeiten und können der Managementspitze neue Technologien empfehlen. Das Management verhält sich ihren Empfehlungen gegenüber reserviert – vielleicht, weil diese für nicht praktikabel gehalten werden, weil hohe Kosten damit verbunden sind, vielleicht aus Angst vor Machtverlust. Weitere Konflikte können daraus entstehen, dass das Management von den Technikern erwartet, sie sollten die Nutzung einer neu eingeführten Technologie sicherstellen: »Sie wollten das Zeug haben, jetzt sehen Sie zu, dass es funktioniert!« Es bleibt aber dann den Technikern überlassen, dies den unmittelbaren Vorgesetzten der Anwender, also den Betriebsangehörigen, die die Anwendung beaufsichtigen, zu vermitteln. Die Anwender ihrerseits sind i. Allg. darum bemüht, zu verstehen, was eine neue Technologie für ihr Arbeitsleben bedeutet, ob ihre Aufgaben damit leichter zu bewältigen sind und ob es sich lohnt, sich damit auseinanderzusetzen. Das hängt selbstverständlich von den Eigenschaften der Technologie ab, aber auch von den Informationen über diese Technologie, die Management und Techniker vermitteln.
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C. Styrsky
Strategien zur erfolgreichen Einführung von Innovationen
Die Einführung technischer Innovationen erfordert von Zeit zu Zeit Überzeugungsarbeit
Ein günstiges Klima für die Einführung neuer Technologien kann nach Klein (2001) so geschaffen werden: 4 Den Anwendern wird ein gründliches und qualifiziertes Training angeboten. 4 Die Beschäftigten erhalten genügend Zeit, um sich mit der neuen Technologie vertraut zu machen, damit zu experimentieren, auch wenn die Erledigung ihrer regulären Aufgaben vorübergehend darunter leidet. 4 Eine technische Betreuung wird zur Verfügung gestellt, damit Fragen zum Umgang mit der neuen Technologie rasch geklärt und Probleme umgehend gelöst werden können. 4 Die Beschäftigten werden dafür gelobt, dass sie sich mit der neuen Technologie vertraut machen. 4 Der gesamten Organisation wird mitgeteilt, welche Vorteile es bringt, dass die Beschäftigten die neue Technologie nutzen. 4 Die Anwender werden gefragt, wie der Einsatz der neuen Technologie weiter optimiert und dem Bedarf der Organisation angepasst werden könnte – und diese Vorschläge werden umgesetzt.
907 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
! Es kommt darauf an, Veränderungen so einzuführen, dass sie die Lern- und Umstellungskompetenzen der Menschen nicht überfordern.
Deswegen plädiert Greif (1991b) dafür, danach zu streben, die scheinbar paradoxe Aufgabe zu lösen, Neuerungsprozesse zugleich mit Stabilisierungsprozessen zu verbinden und die Kompetenzen und Ressourcen der Menschen zur Selbstorganisation des Veränderungsprozesses zu verstärken. Auch von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen können Impulse zu Veränderungen, zu Innovationen, ausgehen. Meißner (1989) erfasste in einer Untersuchung in zwei Betrieben aus dem Bereich der Chip-Entwicklung die Innovativität der Mitarbeitenden (gemessen an Anzahl und Art innovativer Ideen sowie Anzahl und Art veröffentlichter und unveröffentlichter Berichte und Arbeitspapiere) im Zusammenhang mit tätigkeitsbezogenen, sozialen und organisatorischen Bedingungen. Von Bedeutung waren bei den tätigkeitsbezogenen Aspekten insbesondere Anforderungswechsel, Wichtigkeit und Autonomie der Arbeit. Bei den sozialen Aspekten war Kommunikation wichtig. Je häufiger offizielle Besprechungen stattfanden und je offener die Kommunikation war, desto innovativer waren die Mitarbeiter. Bei den organisatorischen Bedingungen korrelierte vor allem die Durchlässigkeit für Informationen mit der Zahl der Innovationsideen. Der Autor sieht durch diese Ergebnisse arbeits- und organisationspsychologische Sichtweisen bestätigt, nach denen der Aufgabenkomplexität, der Autonomie und der Wichtigkeit der Arbeitstätigkeit eine Bedeutung dabei zukommt, das Potenzial der Arbeitenden zu fördern.
20.3.2
Arbeitszeit und Arbeitsplatz: Mehr Flexibilität
Ziel 12: Unter welchen Bedingungen ist flexiblere Arbeitszeitgestaltung für die Organisation und für die arbeitende Person von Vorteil?
Nicht nur der Umgang mit Arbeitsaufgaben, auch der Umgang mit der Arbeitszeit und der Arbeitsplatz werden zunehmend flexibler gestaltet. Von flexibleren Arbeitszeiten versprechen sich Unternehmen eine bessere Nutzung ihrer Anlagen. In Zeiten von Rationalisierung und Personalabbau wird darin ein Mittel gesehen, Entlassungen zu vermeiden (Müller 1995). Auch den Beschäftigten könnte Flexibilisierung nützen, wenn sie dadurch ihre Zeit besser einteilen könnten.
Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung und Zeitsouveränität Wichtig ist, dass auch die Beschäftigten ihre Interessen geltend machen können. Unter Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung versteht Büssing (1995), dass der Arbeitnehmer Einflussmöglichkeiten auf die Dauer, Lage und Verteilung der persönlichen Arbeitszeit hat. Damit ist Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung eine wichtige Voraussetzung für die Erfahrung von Zeitsouveränität, d. h. für selbstbestimmten Umgang mit Zeit. Büssing berichtet aus eigenen Untersuchungen im Bereich der Krankenpflege vom Widerspruch zwischen hohen betrieblichen Anforderungen an die Flexibilität der Beschäftigten (zahlreiche kurzfristige Änderungen der Arbeitszeit) und (geringer) Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung (z. B. Einfluss auf Verteilung von Nachtdiensten, Einteilung von Arbeitsstunden und Arbeitstagen) kann als eine Ressource beim Umgang mit Anforderungen und Belastungen betrachtet werden. Die Untersuchungen zeigen, dass für Pflegekräfte mit zunehmender Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung psychischer Stress und Burnout bedeutsam abnehmen und die Arbeitszufriedenheit steigt. Weitere Untersuchungen zeigen, dass die negativen Auswirkungen flexibler Nicht-StandardArbeitszeitpläne (Schichtpläne) auf die Qualität des Familienlebens abgeschwächt werden, wenn ein hohes Maß an selbstbestimmter Flexibilität vorliegt (Staines u. Pleck 1984, 1986, zit. nach Büssing 1995). ! Neue Modelle der flexiblen Zeitgestaltung versuchen, den Beschäftigten mehr Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung einzuräumen und mehr Rücksicht auf den Biorhythmus des Menschen zu nehmen.
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Folgende Modelle werden mittlerweile (wenn auch zögerlich) erprobt: 4 Variable Arbeitszeit: Als relativ sozialverträglich wird ein Modell der variablen Arbeitszeit eingestuft, das in einem Maschinenbaubetrieb praktiziert wird. Der Mitarbeiter muss innerhalb der Öffnungszeit des Betriebs, d. h. zwischen 6.30 und 19.00 Uhr mindestens 4 Stunden anwesend sein. Die maximale Arbeitszeit beträgt 10 Stunden/Tag und 46 Stunden/Woche. Pro Monat darf jeder Mitarbeiter ein Plus oder ein Minus von höchstens 72 Stunden auf seinem Zeitkonto auflaufen lassen. Dies muss innerhalb eines halben Jahres ausgeglichen werden. Die Mitarbeiter haben sich verpflichtet, für die Einhaltung vereinbarter Lieferfristen zu sorgen (Knauth 1995). 4 Kurz rotierende Schichtpläne: Ein weiteres Beispiel ist ein kurz rotierender Schichtplan, d. h. ein Plan mit Schichtwechsel nach 2 oder 3 Tagen, der in einem Betrieb der Stahlindustrie eingeführt wurde. Dabei gibt es – im Unterschied zu traditionellen Plänen, die wöchentlich zwischen Nacht-, Spät-, und Frühschicht wechseln – in 3 von 4 Wochen freie Abende, einige sogar mit Ausschlafmöglichkeit am nächsten Morgen. Es wird berichtet, dass diese kurz rotierenden Schichtpläne bevorzugt werden (Knauth 1995). 4 Wahl zwischen Arbeitszeitsystemen: Mittlerweile gibt es Firmen, die ihre Mitarbeiter in regelmäßigen Abständen zwischen verschiedenen Wochen-, Monats- oder Jahresarbeitszeiten mit entsprechender Einkommensanpassung wählen lassen. Eine schwedische Firma der Automobilindustrie bietet ein Arbeitszeitbouquet an, das inzwischen 10 verschiedene Arbeitszeitmodelle enthält (Knauth 1995). Hier wird ansatzweise berücksichtigt, dass sich die Wünsche der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Zeitplanung im Laufe des Lebens verändern.
Flexibilisierung von Arbeitsplätzen Noch weiter gehen Neuerungen, die auch den Arbeitsplatz einbeziehen. So macht es die technische Entwicklung von Computern und Internet mittlerweile möglich, auch außerhalb des traditionellen Büros zu arbeiten, entweder zu Hause oder in einem »virtuellen Büro«, also überall da, wo es sinnvoll erscheint. In einer Befragung von IBM-Mitarbeitern ist die Arbeit zu Hause positiv bewertet worden und zwar insbesondere hinsichtlich Arbeitsmotivation und Work-Life-Balance. Vermutlich profitieren Mitarbeiter, die im häuslichen Büro arbeiten, von der Möglichkeit, ihre Arbeit selbst zeitlich einzuteilen und zu strukturieren. Ein Büro in der Wohnung unterstützt dabei die räumliche Trennung von Arbeit und Freizeit. Hill et al. (2003) fanden in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen Arbeit im »virtuellen Büro« und einer optimistischen Einstellung zu den eigenen Karrierechancen, aber ebenso mit einer weniger gelungenen Work-Life-Balance – vielleicht, weil unter dieser Bedingung den Mitarbeitern die Abgrenzung von Arbeit und anderer Zeitverwendung schwerer fällt. Hill et al. halten nicht zuletzt wegen der Kostenersparnis (etwa für Büromieten) Telearbeit für eine vielversprechende Alternative, geben aber zu bedenken, dass die unterschiedlichen Auswirkungen gegeneinander abgewogen werden müssen.
20.3.3
Arbeitslosigkeit
Ziel 13: Beschreiben Sie die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit.
Die dramatischste Veränderung ist wohl der Verlust des Arbeitsplatzes, ein Ereignis, mit dem mittlerweile viele Menschen leben oder mit dem sie rechnen müssen: In Deutschland lag die Arbeitslosenquote auf der Basis aller zivilen Erwerbstätigen im Januar 2008 laut Bundesagentur für Arbeit bei 8,7%. Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit sind kontrovers diskutiert worden, und die Belege dafür – Makroindikatoren – müssen vorsichtig interpretiert werden (z. B. Jahoda 1983). Konsens besteht jedoch über eines: Arbeitslosigkeit führt bei den meisten Menschen zu einer Verschlechterung ihrer seelischen Gesundheit, von der sie sich nach dem Wiedereintritt ins Arbeitsleben wahrscheinlich wieder erholen (Mohr 1999). Damit ist gemeint, dass bei Arbeitslosen höhere Ängstlichkeit auftritt, auch geringere Lebenszufriedenheit, Konzentrationsschwächen, Niedergeschlagenheit und Depressionen.
909 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
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Eine Pionierstudie zur Erforschung der psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit Zu den Pionierleistungen der Erforschung der Arbeitslosigkeit gehört die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« (Jahoda et al. 1975/1933). Diese Studie, die sich mit den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf ein Dorf beschäftigt, die von einer ganzen Forschergruppe erarbeitet und erstmals 1933 veröffentlicht wurde, kann auch heute noch beeindrucken.
Im Herbst 1931 begann eine Wiener Forschergruppe mit vorbereitenden Arbeiten und Besprechungen. Ihr Ziel bestand darin, mit den Mitteln moderner Erhebungsmethoden ein Bild von der psychologischen Situation in einem Dorf zu geben, in dem die Mehrzahl der Bewohner arbeitslos geworden war. Als Ort der Untersuchung wählten sie Marienthal, ein kleines Fabrikdorf in Niederösterreich; es war im 19. Jahrhundert um eine Flachsspinnerei entstanden, die im Lauf der Jahre zu einer Textilfabrik erweitert worden war. Ihr letzter Teilbetrieb war im Februar 1930 geschlossen worden. Sechs Wochen lang, von Dezember 1931 bis Mitte Januar 1932, wurden intensiv Beobachtungen durchgeführt und Daten gesammelt. Eine Mitarbeiterin lebte während dieser Zeit in Marienthal. Die Weiterführung von Aktionen, zusätzliche Erhebungen und die Sammlung statistischer Angaben erstreckte sich bis Mitte Mai 1933. . Tab. 20.2 gibt eine Übersicht über die Quellen und die vielfältigen Methoden, welche die Forschergruppe um Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel nutzte, um Daten zu gewinnen. Die besondere methodische Vorgehensweise der Arbeitsgruppe nimmt in ihrer Zielsetzung Ideen vorweg, die später mit dem Ansatz der Aktionsforschung verbunden wurden: »Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, dass kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Beobachters und Reporters in Marienthal sein durfte, sondern dass sich jeder durch irgendeine
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Vorgehensweise
Arbeitslosigkeit Sie führt bei den Betroffenen häufig zu Verschlechterungen der seelischen Gesundheit, die sich in Niedergeschlagenheit, erhöhter Ängstlichkeit, Konzentrationsschwäche und verminderter Lebensqualität äußern können
. Tabelle 20.2. Zur Methodik der Marienthal-Studie: Informationsquellen und Informationsarten. (Nach Jahoda et al. 1975/1933)
Quellen
Art der Information
Katasterblätter
Wurden angelegt für die 478 Familien, und zwar für jede Einzelperson ein Blatt. Vermerkt wurden Personaldaten, Art der Unterstützung, Beobachtungen zu Wohnverhältnissen, Familienleben, Haushaltsführung
Lebensgeschichten
Protokollierte Lebensläufe von 32 Männern und 30 Frauen
Zeitverwendungsbogen
Fragebogen mit Stundenplan über die Art der Beschäftigungen wurden von 80 Personen ausgefüllt
Anzeigen und Beschwerden
Vergleich der berechtigten und unberechtigten Anzeigen an die zuständige industrielle Bezirkskommission vor und nach der Fabrikschließung
Schulaufsätze
Volks- und Hauptschulklassen schrieben über Themen wie Lieblingswünsche, Weihnachtswünsche und Berufswünsche
Preisausschreiben
Für Jugendliche zum Thema »Wie stelle ich mir meine Zukunft vor?«
Inventare der Mahlzeiten
In 4 Familien wurden während einer Woche Aufzeichnungen über die Mahlzeiten gemacht; Verzeichnisse über das Gabelfrühstück der Schulkinder am Tag vor und nach der Auszahlung der Unterstützungen
Protokolle
Weihnachtsgeschenke von 80 Kleinkindern Gesprächsthemen und Beschäftigung in öffentlichen Lokalen Erziehungssorgen der Eltern Ärztliche Untersuchung Auskünfte der Lehrer über Schulleistungen Mitteilungen über Fürsorgetätigkeiten der Gemeinde, der Fabrik, des Pfarrers etc. Auskünfte über Umsatz im örtlichen Einzelhandel und Handwerk
Statistische Daten
Geschäftsbücher des Konsumvereins Entleihungen aus der Bibliothek Zeitungsabonnements Mitgliederzahlen der Vereine Wahlergebnisse
Historische Angaben
Geschichte der Gemeinde, der Fabrik, der vertretenen Gewerkschaften und anderer Vereine und Organisationen
Bevölkerungsstatistik
Altersaufbau, Geburten, Todesfälle, Eheschließungen, Wanderungsziffern
Haushaltungsstatistik
Wegen technischer Schwierigkeiten nur in wenigen Fällen durchgeführt
910
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
» Der ärmste Mensch ist der, der keine Beschäftigung hat.« Albert Schweitzer, Friedensnobelpreisträger
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auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben einzufügen hatte« (Jahoda et al. 1933, S. 28). Dies geschah über die Organisation einer Kleiderspendenaktion, über politische Mitarbeit, einen Schnittzeichenkurs, ärztliche Sprechstunden, einen Mädchenturnkurs und Erziehungsberatung.
Ergebnisse Die Studie erbrachte folgende Ergebnisse: Gesundheitszustand. Vielfältig belegt wird durch die Daten die Verschlechterung der Ernährung und, davon abhängig, die Verschlechterung des Gesundheitszustands der Bevölkerung. Allerdings ging die Tuberkuloseanfälligkeit unter denen, die bereits gearbeitet hatten, zunächst zurück. Sie war bedingt durch die gesundheitsschädliche Arbeit in Spinn- und Webereibetrieben. Für Kinder und Jugendliche jedoch blieb der negative Einfluss der veränderten Nahrung und der schlechteren Möglichkeiten zur Körperpflege. Öffentliches Interesse. Die »müde Gemeinschaft« war unter anderem dadurch charakterisiert, dass der Park nicht mehr instand gehalten wurde, dass das Engagement der Theatersektion nachließ und dass die Zahl der Entleihungen von Büchern in der Arbeiterbücherei zurückging. Auch das Interesse an Politik ließ nach; dies war daran abzulesen, dass die Arbeiterzeitung, obwohl sie verbilligte Arbeitslosenabonnenments herausgab, 60% ihrer Abonnenten verlor. Eine Zeitung gleicher politischer Richtung mit einem höheren Anteil an Unterhaltung verlor hingegen, obwohl sie mehr kostete, nur 27% ihrer Abonnenten. Auch die Aktivitäten in den Vereinen des Ortes, die als durchweg politisiert beschrieben wurden, gingen zurück. Lediglich die Mitgliedschaften in Vereinen, die mehr oder weniger unmittelbare materielle Vorteile boten, wiesen einen vergleichsweise mäßigen Rückgang oder sogar Zuwachszahlen auf. Aus einer Gesinnungssache, so die Autoren, werde eine Interessenangelegenheit. Die politische Haltung ist inhaltlich konstant, woraus die Autoren schließen: »Die Gesinnung wird nicht geändert, sie verliert nur, gegenüber den Sorgen des Alltags, an gestaltender Kraft« (ebd., S. 61). Sozialverhalten. Die Sorgen des Alltags führten auch dazu, dass individuelle Gehässigkeiten häufiger wurden: In diesem Sinne interpretieren die Autoren die zunehmende Häufigkeit anonymer Anzeigen, insbesondere auch der unberechtigten, die wegen unbefugter Gelegenheitsarbeit während des Bezugs der Arbeitslosenunterstützung erstattet wurden. Aber auch Akte der Solidarität werden berichtet, so dass Jahoda et al. zusammenfassend folgern: »Die asozialen Momente, die in der gefährdeten Lebensführung liegen mögen, kommen infolge der abnehmenden Aktivität nicht zur Geltung. Das durchschnittliche Solidaritätsniveau scheint durch einen Ausgleich von Erregung und Ermüdung vorläufig nicht verändert« (ebd., S. 62f.). Die Mitarbeiter der Forschergruppe statteten 100 Familien Hausbesuche ab, um sie nach ihren besonderen Wünschen für eine Weihnachtsaktion zu fragen. Diese Besuche wurden dazu genutzt, durch Beobachtungen und Gespräche Material über die Grundhaltung dieser Familien zu erfahren. Diese Beobachtungen wurden ergänzt durch Erhebungen und Beobachtungen der gleichen Menschen in anderen Situationen (Lebensgeschichten, die bei Abholung der Kleider aus der Weihnachtsaktion erfragt wurden; und es wurden ebenfalls Beobachtungen in Kursen und Veranstaltungen sowie Informationen aus Essverzeichnissen und Zeitverwendungsbogen einbezogen). Auf diese Weise entstanden ausführliche Lebensbeschreibungen der Familien. Auf dieser Grundlage beschrieben die Forscher 4 Haltungstypen: ungebrochene, resignierte, verzweifelte und apathische Familien. 4 Ungebrochene Familien sind charakterisiert durch den Eindruck einer größeren Aktivität. Haushalt und Kinder werden versorgt wie bei den Resignierten. Im Unterschied zu diesen gibt es bei den Ungebrochenen Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, aufrechterhaltene Lebenslust und immer wieder Versuche zur Arbeitsbeschaffung. 4 Resignierte Familien leben in recht geordneten Haushalten, die Kinder werden nicht vernachlässigt, und es gibt ein Gefühl relativen Wohlbefindens angesichts einer erwartungslosen Grundhaltung zum Leben: Pläne werden nicht gemacht, eine Beziehung zur Zukunft ist nicht erkennbar, auch keine Hoffnung. Alle Bedürfnisse, die über die Haushaltsführung hinausgehen, sind maximal eingeschränkt.
911 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
4 Verzweifelte Familien unterscheiden sich von den resignierten und den ungebrochenen nicht in der Lebensführung. Auch ihre Haushalte sind geordnet, die Kinder versorgt. Sie sind vielmehr charakterisiert durch ein anderes Erleben: Verzweiflung, Depression, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl der Vergeblichkeit aller Bemühungen und daher keine Arbeitssuche mehr, keine Versuche zur Verbesserung sowie häufig Vergleiche mit der besseren Vergangenheit. 4 Apathische Familien unterscheiden sich von allen anderen durch das Aufgeben des geordneten Haushalts. Wohnung und Kinder sind unsauber und ungepflegt, die Stimmung ist nicht verzweifelt, sondern durch Gleichgültigkeit geprägt. Das Unterstützungsgeld wird nicht sinnvoll eingeteilt, schon für die nächsten Tage und Stunden herrscht völlige Planlosigkeit. Trinken, Betteln und Stehlen werden als häufige Begleiterscheinungen erwähnt. Die 4 Typen standen in engem Zusammenhang mit der Höhe der Unterstützung, die in den Familien zur Verfügung stand, d. h. die Ungebrochenen verfügten über die meisten, die Apathischen über die wenigsten Ressourcen. Die disziplinierten Einschränkungen der Haushaltsführung der 3 anderen Haltungstypen werden allerdings immer wieder durchbrochen: In vielen Schrebergärten werden nicht nur Gemüse und Kartoffeln, sondern auch Blumen gepflanzt, denn »etwas muss man doch auch fürs Gemüt haben«, auch andere Luxusgegenstände werden gelegentlich erworben. Insbesondere für Geschenke für Kinder, beispielsweise für Bilderbücher wird in plötzlichem Entschluss noch Geld ausgegeben. Jahoda meint rückblickend, dass solche Verhaltensweisen im Widerspruch zu Maslows Modell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse stehen und dass auch Menschen, die kaum die biologischen Bedürfnisse befriedigen können, unter unerfüllten höheren Bedürfnissen litten (Jahoda 1983). Jahoda et al. (1933, S. 101f.) fassen ihre Eindrücke von der Wirkung der Arbeitslosigkeit in Marienthal folgendermaßen zusammen: Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurückgeschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen noch Anteil genommen wird, schränkt sich immer mehr ein; die Energie, die noch bleibt, wird auf die Aufrechterhaltung des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert. Als charakteristische Zeichen für diese Reduktion fanden wir einen deutlichen Verfall des Zeitbewusstseins, das seinen Sinn als Ordnungsschema im Tageslauf verliert; nur die menschlichen Beziehungen scheinen im Wesentlichen noch intakt. Zwar haben wir verschiedene Haltungstypen unterschieden: eine aktivere, zuversichtlichere als die charakteristische Gruppe der resignierten, zwei andere darüber hinaus gebrochen und hoffnungslos. Aber jetzt zum Schluss haben wir erkannt, dass hier vermutlich nur verschiedene Stadien eines psychischen Abgleitens vorliegen, das der Reduktion der Zuschüsse und der Abnutzung des Inventars parallel geht. Am Ende dieser Reihe stehen Verzweiflung und Verfall. ! Die 4 Haltungstypen der ungebrochenen, resignierten, verzweifelten und apathischen Familie können als eine Beschreibung der kumulativ negativen Wirkung von Langzeitarbeitslosigkeit aufgefasst werden.
Wie es in Marienthal nach dem Ende der Studie weiterging, schildert Jahoda (1983, S. 54) viele Jahre später: Als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte, hießen ihn große Teile der Bevölkerung, darunter die Bevölkerung von Marienthal, willkommen. Hitler kam mit Volksküchen und mit dem Versprechen auf Arbeit, ein Versprechen, das innerhalb des ersten Jahres der Besetzung im Interesse des Aufbaus seiner Kriegsmaschinerie, des Straßennetzes und der Brücken, die seine Pläne erforderten, eingelöst wurde. Fast 50 Jahre später sprachen die Menschen von Marienthal ziemlich deutlich aus, dass sie jeden unterstützt hätten, der ihnen zu Arbeit verhalf; ideologische Überzeugungen hatten nur wenig Relevanz für ihre Lebenssituation.
Bedeutung der Marienthal-Studie Mohr (1999) weist in ihrem Überblick über die Entwicklung des Forschungsfeldes darauf hin, dass schon in der Marienthal-Studie 4 wesentliche Sachverhalte deutlich geworden seien:
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
4 Erwerbslosigkeit ist keine kritische Lebenserfahrung im Sinne eines punktuellen Ereignisses. Vielmehr handelt es sich um einen Stressprozess. Das bedeutet, dass in Längsschnittuntersuchungen erforscht werden muss, wie Arbeitslosigkeit sich langfristig auswirkt. 4 Ein transaktionales Stresskonzept ist nahe liegend, denn auch (unterschiedliche) Bewältigungsstrategien gehören zu diesem Prozess. 4 Moderatorvariablen wie (unterschiedliches) Einkommen müssen einbezogen werden, da sie zu Unterschieden im Erleben der Arbeitslosigkeit beitragen. 4 Auch die Bedingungen vor Eintritt der Erwerbslosigkeit müssen berücksichtigt werden, da es beispielsweise sein kann, dass die Menschen durch (unterschiedliche) Vorbedingungen bei eintretender Erwerbslosigkeit unterschiedlich gut ausgerüstet sind. Als besonders verwundbar gelten Jugendliche, da bei ihnen Arbeitslosigkeit den Eintritt in das Arbeitsleben gefährdet; und dies kann ihre gesellschaftliche Integration unterminieren.
Neuere Studien zur Arbeitslosigkeit Die YUSEDER-Studie zur Gefahr sozialer Ausgrenzung beschäftigt sich mit Langzeitarbeitslosigkeit bei Jugendlichen (Kieselbach 2003). YUSEDER steht für »Youth Unemployment and Social Exclusion: Objective Dimensions, Subjective Experiences, and Innovative Responses in Six European Countries«. Jugendarbeitslosigkeit beunruhigt, weil dies bedeuten kann, dass die Betroffenen die Integration in die Gesellschaft nicht erreichen. Die Europäische Kommission hat deswegen Forschung angeregt, um zu untersuchen, welche Mechanismen zu sozialer Ausgrenzung führen. Befragungen arbeitsloser Jugendlicher, jeweils 50 in drei nord- und in drei südeuropäischen Ländern, bilden die Grundlage der Studie. Soziale Ausgrenzung basiert nach Auffassung der Forscher auf Ausgrenzung aus 6 Bereichen. Entsprechend wurden 6 Aspekte von Ausgrenzung formuliert, deren Bewertung die Grundlage für die Einschätzung des Risikos der Einzelfälle bildete (. Tab. 20.3). Zusammenfassend wird festgestellt: Die wichtigsten Faktoren, die zum Risiko sozialer Ausgrenzung beitragen, sind geringe Qualifikation, Passivität auf dem Arbeitsmarkt, d. h. wenig Eigeninitiative, eine schwierige finanzielle Situation, wenig oder keine soziale Unterstützung und unzu. Tabelle 20.3. Ausgrenzungsaspekte. (Nach Kieselbach 2003)
Art der Ausgrenzung
Bedeutung
Exklusion vom Arbeitsmarkt
Fehlende Teilhabe an der Arbeitswelt führt zu Gefühlen der Randständigkeit, zum Eindruck, der Gesellschaft wenig wert zu sein Barrieren für Menschen mit wenig Qualifikation
Ökonomische Exklusion
Erwerbslosigkeit führt zu finanzieller Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungssystemen und zum Verlust der Fähigkeit, sich oder die eigene Familie entsprechend den gesellschaftlichen Normen selbst zu erhalten Armut wird durch mangelnde bezahlte Beschäftigung verursacht oder aufrechterhalten
Institutionelle Exklusion
Arbeits- und Erwerbslose müssen sich an Einrichtungen wenden, die sich marginalisierten Personen widmen. Dies kann Gefühle der Abhängigkeit hervorrufen sowie zu Scham und Passivität führen Die Armen und Erwerbslosen haben keinen Zugang zu privaten Institutionen (Banken, Versicherungen), an die andere sich wenden können, um in unsicheren Lebenslagen Unterstützung zu erhalten
Exklusion durch soziale Isolierung
Abnahme sozialer Kontakte Rückzug aus dem sozialen Netzwerk
Kulturelle Exklusion
Die Umgebung reagiert darauf mit Stigmatisierung und Sanktionen Es fehlen die Mittel, entsprechend den sozial akzeptierten Normen und Werten zu leben
Räumliche Exklusion
Erwerbslose leben oft in Bezirken mit fehlender Infrastruktur (mangelnde Verkehrsverbindungen, kaum Geschäfte, wenig kulturelle Ereignisse) Geographische Konzentration und Segregation von Personen mit geringem finanziellem Spielraum
913 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
reichende oder nicht existente institutionelle Unterstützung. Der wichtigste protektive Faktor, der ermittelt wurde, ist soziale Unterstützung. Dabei ist für die Jugendlichen in Nordeuropa die Integration in soziale Netzwerke wichtig, im Süden Europas spielt die Familie eine größere Rolle. Dieser Rückhalt führt auch dazu, dass das Risiko sozialer Ausgrenzung im Süden geringer zu sein scheint. Was kann man tun, um Jugendlichen ein in die Gesellschaft integriertes Erwachsenenleben zu ermöglichen? Wichtig ist, sowohl an den persönlichen als auch an den sozialen Ressourcen anzusetzen: Die einzelnen Betroffenen müssen ihre Qualifikationen erweitern und die Gesellschaft muss die institutionellen Rahmenbedingungen bereitstellen, die dies ermöglichen. Auch wird auf ein schwedisches Modell verwiesen, nach dem Perioden der Arbeitslosigkeit grundsätzlich 100 Tage nicht überschreiten dürfen, d. h. begrenzt und überschaubar bleiben müssen (Kieselbach 2003). Als benachteiligt am Arbeitsmarkt gelten auch Behinderte, ältere Arbeitnehmer, Frauen, ungelernte Ausländer mit ungenügenden Sprachkenntnissen und Bildungslücken (Kirchler 1993). ! Nicht alle sind, wenn sie ihre Arbeit verlieren, in gleicher Weise betroffen: Wer sich durch Arbeitslosigkeit in seinen Handlungsmöglichkeiten nicht einschneidend beeinträchtigt sieht, auf soziale Unterstützung durch Familie oder Freunde rechnen kann und Arbeit und Beruf für sich nicht als zentrales Lebensinteresse definiert, wird mit den Realbelastungen der Arbeitslosigkeit besser umgehen können.
Größere Probleme haben Arbeitslose, die – bei ausgeprägter Berufsorientierung und ohne soziale Unterstützung – in die Konstellation »individueller Handlungsohnmacht bei gleichzeitiger Abhängigkeit« geraten (Wacker 1983). Zum Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften meint Kirchler (1993), dass extravertierte oder emotional stabile Personen unter dem Arbeitsverlust weniger zu leiden scheinen und überdies eher wieder Arbeit finden als introvertierte und emotional labile Personen. Er nimmt darüber hinaus an, dass sich Personen mit internaler Kontrollüberzeugung und hoher Leistungsmotivation eher um eine neue Arbeit bemühen und eher wieder beschäftigt werden. Konzessionsbereitschaft und Flexibilität können ebenfalls die Arbeitslosigkeit verkürzen. Die Ergebnisse einer eigenen Untersuchung, allerdings an einer kleinen Stichprobe, legen für Kirchler die Vermutung nahe, dass Belastbarkeit wichtig ist: Je widerstandsfähiger, pflichtbewusster, selbstkontrollierter und innerlich ruhiger eine Person ist, desto eher findet sie wieder Arbeit. Darüber hinaus ist die Wechselwirkung zwischen Belastbarkeit und Kontaktbereitschaft bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit bedeutsam. Eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit und positive Erwartungen sind ebenfalls bei der Arbeitssuche nützlich. Positives Denken in Form von angenehmen Zukunftsphantasien ist hingegen keine Hilfe. Positiv fantasierende Stellensucher scheinen notwendige Schritte wie das Verschicken von Bewerbungen weniger ernst zu nehmen (Oettingen 1997). Die Untersuchung »positiver Bewältiger« könnte helfen, Ansatzpunkte zur Stabilisierung gesund erhaltender Anteile zu finden. Als Kriterien für einen positiven Umgang mit Arbeitslosigkeit wurden u. a. ermittelt (Fryer u. Payne 1984): 4 die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Erwerbstätigkeit und dem Verrichten einer sinnvollen Arbeit, 4 das Vorhandensein von Zielen, die dem Leben eine Richtung geben, 4 der Wunsch, aktiv zu sein, sowie die Fähigkeit, die Zeit zu strukturieren, 4 die Ablehnung von mit Erwerbstätigkeit verbundenen Erfahrungen der Langeweile oder Unzufriedenheit mit einer erzwungenen Arbeitsstruktur, 4 Informationen über mögliche negative Folgen der Arbeitslosigkeit, die zum Gegensteuern genutzt werden, 4 die Übernahme von ehrenamtlichen Arbeiten, auch um dadurch evtl. eine Stelle zu bekommen, 4 die individuelle Neigung, eher strukturierend einzugreifen als passiv zu reagieren, 4 ein selbstgewähltes proaktives Verhalten und eine hohe interne Motivierung. Konzepte wie positive Bewältigung oder proaktive Arbeitslose können leider sozialpolitisch missbraucht werden: Den Arbeitslosen, die nicht in der Lage sind, ihre Situation positiv zu bewältigen,
Selbstwirksamkeit (self-efficacy): Überzeugung, in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung erbringen zu können.
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914
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
könnte dieses Problem zum Vorwurf gemacht werden. Diese Vorwürfe wiederum könnten zur Zurückweisung von Forderungen nach sozialpolitischen Maßnahmen verwendet werden.
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Schützende Bedingungen? Zu denjenigen, von denen man annimmt, dass sie durch Arbeitslosigkeit weniger belastet sind, gehören für manche Autoren die Frauen, denen die Hausfrauenrolle als Alternative zur Verfügung stehe (zusammenfassend Mohr 1999). Insbesondere Müttern bietet die Sorge für kleine Kinder eine gesellschaftlich anerkannte Aufgabe. Auch sorgt diese Aufgabe für die Strukturierung von Zeit und für Kontakte außerhalb der eigenen Wohnung (z. B. Lea et al. 1987). Werden Frauen durch Erwerbslosigkeit wirklich weniger beeinträchtigt als Männer? Und wenn das so ist, kann dieser Unterschied dann darauf zurückgeführt werden, dass Frauen über die Alternativrolle der Hausfrau und Mutter verfügen? Mohr stellt fest: Erwerbslose haben gegenüber Erwerbstätigen oder Wiedereingestellten einen schlechteren psychischen Gesundheitszustand. Das gilt für Männer und Frauen. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Erwerbslosigkeit und psychischen Beeinträchtigungen belegt die Metaanalyse von Paul u. Moser (2001). Während gezeigt wurde, dass Beeinträchtigungen nach der Wiedervermittlung zurückgehen, geben Mohr u. Otto zu bedenken, dass dies nicht für so genannte »bad jobs« gilt, d. h. für einfache Tätigkeiten in gering bezahlten ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, und betonen, dass nicht jede Arbeit für die psychische Verfassung besser ist als die Erwerbslosigkeit (Mohr u. Otto 2007, S. 657). Ob Verbesserungen durch den Wechsel in den Status der Hausfrau oder des Rentners von Dauer sind, bleibt abzuwarten, denn es fehlen Studien, die die Stabilität solcher Veränderungen belegen (Mohr 2001, S. 121). Es bleibt ebenfalls abzuwarten, wie sich der demographische Wandel und der mittlerweile festgestellte Fachkräftemangel auswirken werden.
Demographischer Wandel und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit Ziel 14: Erläutern Sie den Wandel vom Defizit- zum Kompensationsmodell des Alterns und seine Bedeutung für ältere Arbeitnehmer.
Die Arbeitslosigkeit steigt mit zunehmenden Alter, berichten Lehr u. Kruse (2006, S. 240, auf Daten des Statistischen Bundesamtes und der Europäischen Kommission verweisend): Sie betrifft 15% der 50- bis 55-Jährigen und 19,6% der 60- bis 65-Jährigen. Gleichzeitig hat, wer heute 60 Jahre alt ist, noch knapp 25 Lebensjahre vor sich. Wer 45 ist, zählt bereits zu den »älteren Arbeitnehmern«, ab 50, also noch im mittleren Lebensalter, ist man nach einer längeren Unterbrechung der Berufstätigkeit zu alt für den Einstieg in einen Beruf. Die Autoren verweisen darauf, dass das nicht überall so ist: Ältere aktive Arbeitskräfte gehören in der Schweiz und in den USA zum alltäglichen Bild in Organisationen. Lehr u. Kruse plädieren dafür, die qualitativen Veränderungen zu betrachten, die mit dem Altern einhergehen und stellen beispielsweise der verringerten Auffassungsgeschwindigkeit und dem verzögerten Reagieren überlegenes handwerkliches Können, größere Beständigkeit, Verantwortlichkeit und Loyalität gegenüber dem Unternehmen gegenüber (S. 243, . Tab. 20.4). Außerdem empfehlen sie, durch Weiterbildung Prozesse der Dequalifizierung durch veraltendes Wissen aufzuhalten. Eine entsprechende Gestaltung vorausgesetzt, kann eine fortgesetzte Berufstätigkeit den älteren Arbeitnehmern als Gerontoprophylaxe nahegelegt werden. Lehr u. Kruse geben zu bedenken, dass unsere Wirtschaft künftig nicht auf ältere Mitarbeiter verzichten können wird. Sie äußern sich dabei vorsichtig hinsichtlich der gesetzlichen Verlängerung der Lebensarbeitszeit: Zu berücksichtigen seien die Art der Tätigkeit, der Arbeitnehmer, sein Gesundheitszustand, seine Lebenssituation, die betrieblichen Gegebenheiten – und schließlich die wirtschaftliche Lage, die geeignete Arbeitsplätze ermöglichen muss (S. 246). Den Wandel vom Defizit- zum Differenz- oder Kompensationsmodell des Alterns diskutiert Görlich (2007, S. 575f.), die untersucht hat, wie Führungskräfte aus Dienstleistungs- und Industrieunternehmen sowie dem öffentlichen Dienst Mitarbeitende unterschiedlichen Alters einschätzen. Die in . Tab. 20.4 zusammengefassten Ergebnisse zeigen für unterschiedliche Altersstufen unterschiedliche Kompetenz-Profile. Im Zuge der Kritik am Defizit-Modell wird inzwischen die Untersuchung der Altersdiskriminierung im deutschsprachigen Publikationsraum angemahnt (Kluge u. Krings 2007). Ihr Vorkommen müsse dokumentiert werden, ihre Funktionen in der derzeitigen Arbeitsmarktsituation
915 20.3 · Veränderte Arbeitsbedingungen
. Tabelle 20.4. Mit steigendem Alter zeigen Mitarbeiter nicht weniger, sondern andere Kompetenzen (nach Wichtigkeit absteigend sortiert). (Nach Görlich 2007) Altersunabhängig
Mit Alter nachlassend
Optimum bei 30 bis 39
Optimum bei 40 bis 49
Optimum bei 50 bis 59
Toleranz Allgemeine Intelligenz Hilfsbereitschaft Sprachliche Fähigkeiten
Flexibilität Offenheit für Neues Lernbereitschaft Lernfähigkeit Schnelligkeit Körperliche Belastbarkeit Risikobereitschaft Muskelkraft
Interesse an der Tätigkeit Teamfähigkeit Initiative Durchhaltevermögen Konzentration Gedächtnis Kreativität/Innovativität Anpassungsbereitschaft Technisches Verständnis Geschicklichkeit
Qualitätsbewusstsein Arbeitsmoral Kundenorientierung Selbstständigkeit Planung und Organisation Psychische Belastbarkeit Durchsetzungs-/Überzeugungsfähigkeit Auftreten/Umgangsformen Fachwissen Vorausschauendes Denken und Handeln Führungsfähigkeit (Leistungsorientierung) Ökonomisches Denken und Handeln
Zuverlässigkeit Verantwortungsbewusstsein Selbstkontrolle Loyalität/Integrität Erfahrungswissen Führungsfähigkeit (Mitarbeiterorientierung) Urteilsfähigkeit Realismus/ Pragmatismus Frustrationstoleranz Geduld Verträglichkeit Sicherheitsbewusstsein (bzgl. Unfällen etc.) Allgemeinbildung
müssten untersucht werden, Altersnormen müssten erfasst und Personen und Tätigkeitsstereotype müssten hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Beurteilung älterer Arbeitskräfte erforscht werden (S. 185–186). Aus den wenigen vorliegenden Studien leiten die Autorinnen Empfehlungen ab: Diskriminierung sei Entscheidern rückzumelden, in Kursen und Fortbildungsveranstaltungen sollen Vorurteile bewusst gemacht und abgebaut werden, in Zielvereinbarungen zwischen Führungskräften und Management könnte die gleichberechtigte Förderung aller Altersgruppen aufgenommen werden (Kluge u. Krings 2007, S. 186–187). Lernziele Abschnitt 20.3 Veränderte Arbeitsbedingungen Ziel 11: Beschreiben Sie, was bei der Einführung neuer Technologien zu beachten ist. Bei der Einführung technischer und organisatorischer Neuerungen sollten die Lern- und Umstellungskompetenzen der Betroffenen nicht überfordert werden. Es wird daher empfohlen, Änderungen vorzubereiten und Zeit für Umstellungsprozesse einzuplanen. Dabei ist zu beachten, dass unterschiedliche Gruppen innerhalb einer betroffenen Organisation die Neuerungen unterschiedlich beurteilen. Ziel 12: Unter welchen Bedingungen ist flexiblere Arbeitszeitgestaltung für Organisation und arbeitende Person von Vorteil? Die Einführung flexibler Arbeitszeiten kann in zweifacher Hinsicht förderlich sein. Es kann den Unternehmen zur besseren Nutzung ihrer Anlagen verhelfen, und die Beschäftigten können ihre Zeit besser einteilen. Aus Untersuchungen (z. B. im Hinblick auf Pflegekräfte) weiß man, dass mit zunehmender Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung psychischer Stress abnimmt und die Arbeitszufriedenheit steigt. Ziel 13: Beschreiben Sie die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit hat psychische und soziale Folgen für die Betroffenen und auch für deren Angehörige. Obgleich die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit kontrovers diskutiert werden, be-
steht Konsens darüber, dass sie bei den meisten Menschen zu einer Verschlechterung ihrer seelischen Gesundheit führen. In der klassischen Studie von Jahoda aus dem Jahr 1931 »Die Arbeitslosen von Marienthal« zeigte sich ein Zusammenhang zwischen den 4 Haltungstypen des Umgangs mit Arbeitslosigkeit (ungebrochene, resignierte, verzweifelte und apathische Familien) und der Höhe der Unterstützung, die in den Familien zur Verfügung stand. Damit Jugendarbeitslosigkeit nicht zu einer andauernden Belastung für die Betroffenen wie die Gesellschaft wird, wurden auf der Grundlage umfassender Untersuchungen Maßnahmen sowohl zur Qualifizierung als auch zur Integration vorgeschlagen. Ziel 14: Erläutern Sie den Wandel vom Defizit- zum Kompensationsmodell des Alterns und seine Bedeutung für ältere Arbeitnehmer. Ältere Arbeitnehmer sind nicht weniger leistungsfähig, sondern sie zeigen ein anderes Leistungsprofil. Während die Auffassungsgeschwindigkeit und die Reaktionszeit mit dem Alter sinken, steigen beispielsweise handwerkliches Können und Erfahrungswissen. > Denken Sie weiter: Angenommen, Sie haben den Auftrag, in einer Firma die Umstellung auf ein neues computerbasiertes System zur Gehaltsabrechnung zu betreuen. Wie gehen Sie vor?
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916
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
20.4
Psychologie in Organisationen
Viele von uns arbeiten in Organisationen, in größeren oder kleineren, mehr oder weniger hierarchisch strukturierten Betrieben. Als Angehörige von Abteilungen, von Arbeitsgruppen, sind wir nicht nur davon betroffen, wie unsere unmittelbare Arbeitsumgebung gestaltet ist, ob unsere Kolleginnen freundlich und verträglich sind, sondern auch davon, welche Kommunikationswege vorhanden sind, wie Entscheidungen zustande kommen, wie Verwaltungsabläufe organisiert sind. Welchen Einfluss können wir selbst auf die Gestaltung der Arbeitsabläufe nehmen? Wie wird unsere Abteilung bzw. unsere Arbeitsgruppe geführt, und sind wir damit zufrieden?
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20.4.1
Organisationsform und Organisationsstruktur
Ziel 15: Erklären Sie, was man unter einer Organisation, unter Organisationsstruktur und Organisationsform versteht, und arbeiten Sie die Vor- und Nachteile des Ein- und des Mehrliniensystems heraus.
Eine Organisation ist nach von Rosenstiel (2007) 4 ein gegenüber ihrer Umwelt offenes System, 4 das zeitlich überdauernd existiert, 4 spezifische Ziele verfolgt, 4 sich aus Individuen bzw. Gruppen zusammensetzt, also auch ein soziales Gebilde ist, und 4 eine bestimmte Struktur aufweist, die meist durch Arbeitsteilung und eine Hierarchie von Verantwortung gekennzeichnet ist. Organisationspsychologische Aktivitäten finden überwiegend in Wirtschaftsunternehmen statt, häufig in großen Industriebetrieben und Dienstleistungsunternehmen, seltener in kleineren Betrieben. Zum Gegenstandsbereich der Organisationspsychologie gehören aber auch öffentliche Verwaltungen, Schulen, Universitäten, Verbände, Kirchen, Krankenhäuser, Armeen und Freizeitorganisationen – und zunehmend Beziehungen zwischen Organisation und Umwelt und Arbeit und Freizeit (vgl. Schuler 2007).
Grundlegende Merkmale von Organisationen Organisationsstruktur (structure of organization): Gesamtheit aller formalen Regelungen zur Arbeitsteilung und zur Koordination von Leistung und Verhalten der Mitglieder einer Organisation. Organisationsform (form of organization): bezieht sich auf die Unterscheidung von Einund Mehrliniensystemen, d. h. auf die Regelung von Weisungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten.
Die Gesamtheit aller formalen Regelungen zur Arbeitsteilung und zur Koordination von Leistung und Verhalten der Organisationsmitglieder bildet die formale Organisationsstruktur (Büssing 1992). Zur Organisationsstruktur gehört auch die Konfiguration, die das äußere Stellengefüge beschreibt (. Abb. 20.6). Diese wird gemessen durch die Gliederungstiefe (Anzahl hierarchischer Ebenen) oder die Leitungsspanne (Anzahl der Stellen, die den Führungspersonen direkt unterstellt sind). Bei den Organisationsformen unterscheidet man Einlinien- und Mehrliniensysteme. Beim Einliniensystem empfängt eine untergeordnete Stelle nur von einer übergeordneten Stelle Weisungen und ist nur dieser verantwortlich. Dies gilt für Gliederungen nach Funktion (funktionale Struktur) oder nach Sparte (divisionale Struktur). Beim Mehrliniensystem gibt es ein doppeltes Unterstellungsverhältnis nach Funktion und Sparte (Matrixorganisation). Im Mehrliniensystem sind die Informations- und Abstimmungswege kürzer, Konflikte können häufiger auftreten, was als positiv im Sinne einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung gewertet wird. Als Nachteil gilt allerdings die fehlende Gesamtverantwortung. Eine weitere Variante ist das Projektmanagement. Dies wird für die Abwicklung abgegrenzter Projekte eingerichtet, und das Projektmanagement muss sich um die Bereitstellung der benötigten Ressourcen in der Organisation bemühen, das Projekt voranbringen und abschließen (Scholl 2007). ! Organisationen können eher entsprechend dem Einlinien- oder dem Mehrliniensystem strukturiert sein. Sie können eher hierarchisch oder eher teamgebunden aufgebaut sein. In unterschiedlichen Organisationsstrukturen können unterschiedliche Auffassungen der Arbeitsaufgaben Ausdruck finden.
Nicht nur unterschiedlich gestaltete Arbeitstätigkeiten, sondern auch unterschiedliche Auswirkungen hinsichtlich Gesundheits- und Persönlichkeitsförderung der Mitarbeiterinnen und Mit-
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© 2004, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber.
20.4 · Psychologie in Organisationen
. Abb. 20.6a–d. Grundstruktur der wichtigsten Organisationsformen Die Darstellung von Scholl (2007) vergleicht verschiedene Organisationsformen miteinander und unterscheidet sie nach Gliederungstiefe und Führungsstruktur
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
arbeiter sind zu erwarten. Das zeigt eine vergleichende Untersuchung im Bereich der Pflegetätigkeit an 3 psychiatrischen Landeskliniken. Die Ergebnisse (Büssing 1992) zeigen, dass in der traditionellen Krankenhauspsychiatrie mit hierarchischer Organisationsstruktur (PKH II), teilweise auch in der sozialpsychiatrisch orientierten Krankenhauspsychiatrie mit teamorientierter Organisationsstruktur (PKH III), ein Grad an funktionaler Arbeitsteilung realisiert ist, der mit negativen Merkmalen partialisierter Handlungen und unvollständiger Tätigkeit einhergeht. Die dort vorgefundene Funktionspflege ist charakterisiert durch Zeitdruck, relativ kurzzeitige Zyklen der Aufgabenerledigung, eingeschränkte Kooperations- und Kommunikationsmöglichkeiten und -erfordernisse, geringere Spielräume zu Planung und Gestaltung, geringere Denk- und Planungsanforderungen und eine höhere physische Belastung. Ganzheitliche Pflege, Arbeitserweiterung und Arbeitsanreicherung sind nach Auffassung Büssings wesentlich mit teamgebundenen Strukturen (PKH I) in der Krankenpflege verknüpft. Er weist abschließend darauf hin, dass Verbesserungen der Krankenpflege die organisatorische Gestaltung einbeziehen müssen: Verringerte Belastungen einerseits und Gesundheitssowie Persönlichkeitsförderung in der Pflegetätigkeit andererseits sind nach diesen Ergebnissen an eine gemeinsame, optimale Gestaltung von Aufgabe, Technologie in der Pflege und Behandlung sowie Strukturen der Aufbau- und Ablauforganisation gebunden. In dieser gemeinsamen Gestaltung – und nicht in einer mehr oder weniger isolierten Umsetzung von attraktiv erscheinenden Pflegeprinzipien – liegt nach Büssing (1992) die eigentliche Herausforderung für die Gestaltung sowohl vollständiger Pflegetätigkeit als auch ganzheitlicher Pflege.
20.4.2
Teams, Gruppen und Qualitätszirkel
Ziel 16: Arbeiten Sie heraus, wann Teamarbeit sinnvoll ist und was sie effektiv macht.
Team- oder Gruppenarbeit soll aufgabengebundene Motivation fördern. Wo Störungen vor Ort rasch beseitigt werden müssen, wo technische Ungewissheit die Wahrnehmung von Kontrollfunktionen von außen erschwert oder unmöglich macht, ist Teamarbeit sinnvoll und notwendig – nicht nur aus humanistischer, sondern auch aus ökonomischer Perspektive. ! Teamarbeit gilt insbesondere dann als sinnvoll, wenn es um eine komplexe Aufgabe geht, die in mehreren Schritten zu bearbeiten ist und die mit unstrukturierten Problemen behaftet ist oder mehrere Fachbereiche berührt (Born u. Eiselin 1996).
Ein Team ist nach Born u. Eiselin (1996) durch folgende Merkmale charakterisiert: 4 ein ausgeprägtes Maß an innerem Zusammenhalt und Engagement für die Leistungsziele des Teams, aufgrund einer gemeinsamen Aufgabenorientierung und eines spezifischen Existenzzwecks, den das Team im Rahmen der Vorgaben selbst definiert; 4 gemeinsamer Arbeitseinsatz und gemeinsame Kontrolle des Arbeitsablaufs; 4 Aufhebung der Trennung zwischen denjenigen, die denken und entscheiden, und denen, die arbeiten und ausführen, aufgrund ganzheitlicher Arbeitszuschnitte und Mechanismen der kollektiven Selbstregulation; 4 gleichberechtigtes Nebeneinander von individueller und wechselseitiger Verantwortung; 4 Erschließen von Synergien, d. h. das Team schafft etwas, was über die Summe der Beiträge der einzelnen Mitglieder hinausgeht. Mit der Einführung von Teamarbeit können soziale Ziele und leistungsorientierte Ziele verfolgt werden, die letztlich der Verbesserung der Firmenposition im Wettbewerb dienen. Das gilt auch für die sozialen Ziele: Angebotene Teamarbeit kann beispielsweise bei der Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte helfen, die Fluktuation gering halten und der Firma einen guten Ruf als humane Arbeitgeberin verschaffen. Die leistungsorientierten Ziele können danach unterschieden werden, ob sachorientierte oder menschorientierte Strategien eingesetzt werden, um sie zu erreichen (Born u. Eiselin 1996).
919 20.4 · Psychologie in Organisationen
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Menschorientierte Strategien sind auf die Motivation der Mitarbeiter gerichtet, und zwar auf extrinsische und intrinsische Aspekte. 4 Die intrinsische Motivation stammt aus dem Arbeitsvollzug selbst und kann bei Teamarbeit darin bestehen, dass die Arbeitsatmosphäre, das Arbeitsklima und die kollegiale Zusammenarbeit einen hohen Stellenwert haben. 4 Die extrinsische Motivation kann sich bei Teamarbeit auf ein aus ihr kommendes Prestige und auf Anerkennung beziehen, auch auf finanzielle Belohnungen gelungener Teamarbeit.
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Bei der sachorientierten Strategie werden 3 Arten von Teamarbeitspotenzialen genutzt: 4 Problemlösungspotenzial: Die breitere Erfahrungs-, Informations- und Wissensbasis, weiter gefächerte Fähigkeiten und höheres Kreativitätspotenzial geben der Teamarbeit eine breitere Basis. Die sachliche Betrachtung verschiedener Standpunkte hilft bei der Optimierung von Lösungen. Beteiligung an Entscheidungsprozessen fördert die Akzeptanz von Entscheidungen und den Einsatz zu ihrer Umsetzung. 4 Arbeitsorganisatorisches Potenzial: Eigene Verantwortlichkeit und Autonomie verringern – über Mechanismen der sozialen Kontrolle und internalisierte Normen – den Verwaltungsaufwand. Ein gutes selbstverantwortliches Team braucht weniger äußere Kontrolle. 4 Komplexitätsreduktionspotenzial: Eine breitere Urteilsgrundlage, kürzere Kommunikationswege und die Mechanismen der sozialen Kontrolle und internalisierter Normen tragen zur Komplexitätsreduzierung bei. Sie sind hilfreich dabei, die Ziele, die erreicht werden sollen, zu konkretisieren, und sorgen für eine einheitliche Ausrichtung auf sie.
Gemeinsam zum Ziel Teamarbeit ist nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus wirtschaftlichen Erwägungen sinnvoll
Unter der Lupe
Was macht Gruppenarbeit effektiv? Von Rosenstiel (1993b) gibt 5 praktische Ratschläge für die effektive Gruppenarbeit: 4 Die Gruppe sollte klein sein und etwa 5 Mitglieder umfassen. Bei größeren Gruppen besteht die Gefahr, dass einschlägige Beiträge von Mitgliedern nicht mehr eingebracht werden, dass der relative Zugewinn von Informationen für die Aufgabenbearbeitung zurückgeht und dass Reibungsverluste in der Gruppe zunehmen. 4 Die unterschiedlichen Aspekte der Aufgabe sollten durch jeweils dafür kompetente Mitglieder vertreten sein, die zudem alle am Gesamtproblem interessiert sind. 4 Die Gruppenmitglieder sollten durch strukturelle und personale Bedingungen bereit und befähigt sein, sich miteinander in der gleichen Sprache zu verständigen. 4 Die interpersonalen Beziehungen sollten frei von Belastungen sein. Widerspruch in der Sache darf nicht als Ausdruck persönlicher Abneigung eingesetzt werden. 4 Das Team hält sich an Arbeitsregeln, z. B. an Vorbereitungs-, Moderations-, Diskussions- und Dokumentationstechniken: So bereiten einzelne Mitglieder Beiträge für eine Teamsitzung vor. Ein Teammitglied
moderiert die Sitzung und leitet die Diskussion, ein weiteres führt das Protokoll, das Verlauf, Ergebnisse und ggf. getroffene Entscheidungen dokumentiert. Zu den persönlichen Voraussetzungen guter Teamarbeit, d. h. zu dem, was die einzelnen Mitglieder mitbringen sollten, zählen fachliche, methodische und soziale Kompetenzen. Von Bedeutung sind auch Lernpotenziale und Lernbereitschaft. Im Einzelnen wird Teamarbeit gefördert durch: Leistungsorientierung und positives Denken, durch kulturübergreifende Geschicklichkeit im Umgang mit unterschiedlichen Lebensweisen und Minoritäten, durch Disziplin, verstanden als Bereitschaft, gemeinsame Regeln zu tragen, durch Sinn für Humor, um mit Druck und Belastung besser fertig zu werden, durch die Fähigkeit, eigene Kritik angemessen zu artikulieren und Kritik anderer konstruktiv zu verarbeiten, durch geistige Vitalität und Kreativität, durch ein gesundes Selbstwertgefühl, verstanden als realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, Einfühlungsvermögen, Aufgeschlossenheit und, wo es angemessen ist, Bereitschaft zur Selbstöffnung und Selbstreflexion.
Wie . Abb. 20.7 zeigt, kann man in Teams verschiedene Kommunikationsstrukturen unterscheiden. Egalitär-dezentrale Kommunikationsstrukturen (alle sind gleichberechtigt und stehen miteinander in Verbindung, z. B. bei der Totalstruktur) werden v. a. für komplexe, teilbare Aufgaben empfohlen. Allerdings ist bei dieser Struktur die Anzahl der Mitglieder gering zu halten, da sonst der Kommunikationsfluss unübersichtlich wird. Für Zusammenkünfte (Meetings) größerer Teams werden denn auch direktivere Vorgehensweisen vorgeschlagen, wie beispielsweise die Diskussionsleitung anhand einer beschlossenen Tagesordnung. Zur erfolgreichen Gestaltung von Meetings werden in der Fachliteratur die folgenden Ratschläge gegeben (Born u. Eiselin 1996): 4 Thematisierung bisheriger Leistungen und Fehlschläge. 4 Kontinuität, d. h. inhaltliche Anbindung an die letzte Besprechung.
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
4 Problemlösung und Planung, konzentriert auf 3 Fragen: Was muss getan werden? Wer ist bereit, es zu tun? Welche Mittel braucht er/sie dazu? 4 Anerkennung nach dem Motto: Jedes Teammitglied sollte irgend wann für irgendetwas gelobt werden. Dadurch werden die Einzelnen motiviert, ihre Möglichkeiten für den Erfolg des Teams einzusetzen. 4 Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, denn Teambesprechungen bieten Gelegenheit, voneinander zu lernen. 4 Das Ende der Besprechung sollte für allgemeine Verlautbarungen genutzt werden.
© 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Gehehmigung des Verlags Hans Huber.
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. Abb. 20.7. Kommunikationsstrukturen in Teams Bei egalitär-dezentralen Strukturen empfiehlt sich, die Teamgröße relativ gering zu halten. (Aus Born u. Eiselin 1996, S. 41)
Qualitätszirkel (quality circle): Gesprächsgruppen von maximal 10 Mitarbeitern eines Arbeitsbereichs, die arbeitsbezogene Themen untersuchen und Lösungsvorschläge erarbeiten.
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Einigkeit macht entschlussfreudig Gruppen treffen andere Entscheidungen als Einzelpersonen, sie hinterfragen weniger und neigen zu höherer Risikobereitschaft
Zu den möglichen Gefahren von Teamarbeit zählt Leistungsabfall; er kann dadurch entstehen, dass die einzelnen Mitglieder ihre spezifischen Beiträge nicht gewürdigt sehen. Dies lässt ihre Motivation sinken, und es kommt zu einem höheren Zeitaufwand bei der Entscheidungsfindung. Kulturelle und ethnische Abgeschlossenheit, Gruppendruck und Rollenstereotypisierungen können Teamarbeit belasten oder die Eingliederung neuer Mitglieder erschweren. Sind die Motive der Gruppenmitglieder sehr unterschiedlich, so kann es schwierig sein, die Gruppe als Ganzes zu motivieren. Insbesondere zwei Phänomene können die Entscheidungsfindung beeinträchtigen: Gruppenpolarisierung (»group polarization«) und Gruppendenken (»group think«; 7 Abschn. 15.2.2). Gruppenpolarisierung kann zu einem Risikoschub (»risky shift«) führen. Innerhalb von Gruppen können über Konformitätsprozesse extremere einheitliche Meinungen entstehen. Mitglieder, die an Gruppendiskussionen über Entscheidungen teilgenommen haben, verschieben ihre Entscheidungen in Richtung auf Extreme: »Vorsichtige« Gruppen werden noch vorsichtiger, Gruppen mit höherer Risikobereitschaft werden noch risikofreudiger. Dieses Phänomen wurde in zahlreichen Untersuchungen bestätigt. Auch Gruppendenken kann dazu führen, dass die Risikobereitschaft größer wird: Harmoniebedürfnis kann in Teams einen Gruppendruck erzeugen, der kritisches Denken verhindert. Selbstüberschätzung kann ebenfalls den Blick einengen: Es werden zu wenige Optionen geprüft, Ziele und Voraussetzungen von Entscheidungen zu wenig hinterfragt, die Risiken der bevorzugten Strategie nur unzureichend überprüft, Alternativen zu rasch verworfen und nicht erneut beurteilt, die Informationsbeschaffung ist unzureichend und der Umgang mit Informationen befangen. Boos (1996) hat Entscheidungsprozesse in Gruppen untersucht und weist auf die möglichen Auswirkungen der Positionsmacht einzelner Gruppenmitglieder hin. Diese Positionsmacht (eines Vorgesetzten beispielsweise) könne die Möglichkeiten der Nutzung der Perspektivenvielfalt einschränken: Von daher erscheint es notwendig, Trainingskonzepte und Moderationstechniken weiterzuentwickeln, um gegen die – zumindest in hierarchisch strukturierten Organisationen – vorherrschende Tendenz zur bei komplexen Problemen dysfunktionalen Nutzung von Positionsmacht anzusteuern. Auch Vorgesetzte sollten sich bei der Gruppendiskussion mit ihren Mitarbeitern auf die Moderation des Gesprächs beschränken. Vor allem dann, wenn ihnen an der Nutzung des Gruppenvorteils tatsächlich gelegen ist, sollten sie sich auf die Steuerung des Gruppenprozesses konzentrieren und sich inhaltlich völlig zurückhalten. Besondere Aufgaben haben die Gruppen, die man als Qualitätszirkel bezeichnet. Qualitätszirkel wurden ursprünglich, d. h. von ihren japanischen Anwendern, definiert als Gesprächsgruppen mit weniger als 10 Teilnehmern, die arbeitsbezogene Themen untersuchen (Antoni 1990). Sie sollen der Steigerung der Produktqualität und Produktivität dienen sowie zur Verbesserung der Arbeitszufriedenheit, der Zusammenarbeit und der Qualifikation beitragen. Befragungen zeigten weitgehend positive Einschätzungen von Beteiligten aller Hierarchieebenen (Koordinatoren, Abteilungsleiter, Meister und Mitarbeiter). Als Konfliktfelder erwiesen sich in einigen Studien ungenügende Unterstützung durch das
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mittlere Management sowie zu hohe Erwartungen seitens der Mitarbeiter und der Vorgesetzten. Kritisiert wird die zu lange Umsetzungsdauer von Vorschlägen sowie fehlende Zeit für die Durchführung der Qualitätszirkel (Antoni 1990; Bungard u. Antoni 2007). ! Gruppenarbeit jeglicher Art muss gut in die Organisation integriert sein. Auch eine gut motivierte und leistungsfähige Gruppe könnte sich sonst irgendwann Ziele setzen, die mit denen der Organisation nicht übereinstimmen.
Hier stellt sich die Frage nach der Art der Steuerung bzw. Führung im Rahmen von Organisationen. Damit befasst sich der folgende Abschnitt.
20.4.3
Führung
Ziel 17: Erläutern Sie, warum es bei der Erfassung von Bedingungen erfolgreicher Führung nicht allein auf die Eigenschaften der Führenden ankommt. Führung ist aus organisationspsychologischer Sicht »ein Sammelbegriff für alle Interaktionspro-
zesse, in denen eine absichtliche soziale Einflussnahme auf andere Personen zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben im Kontext einer strukturierten Arbeitssituation zu Grunde liegt« (Wegge u. von Rosenstiel 2007, S. 476). Mittlerweile wird darauf hingewiesen, dass es sich bei Führung um ein interaktives Geschehen sozialer Beeinflussung handelt und nicht (nur) um die Eigenschaften und Handlungsweisen derer, die führen. Diese Sichtweise hat sich mittlerweile durchgesetzt. Am Anfang der Führungsforschung stand jedoch die Frage: Haben Menschen, die gut führen, besondere Eigenschaften? Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die auf Führungseigenschaften verweisen? Hängen sie vielleicht mit (erfolgreichen) Führungsstilen und Führungsverhalten zusammen? Bei einer Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen wie Aktivität, Energie, Erziehung, sozialem Status, Intelligenz, Aufstiegswille, Dominanz, Selbstvertrauen, Leistungsmotivation, Drang, andere zu übertreffen, Kontaktfähigkeit und sozialen Fertigkeiten fand man tatsächlich einen korrelativen Bezug – wenngleich einen geringen – zum Führungserfolg (Stogdill 1974). Allerdings kann man aus solchen Korrelationen nicht schließen, dass das jeweilige Merkmal den Erfolg verursachte. Es könnte sich um einen Selbstselektionseffekt handeln: Menschen suchen Situationen, in denen sie erfolgreich sein können – in anderen Situationen wären sie es vielleicht nicht. Es könnte sich auch um einen Effekt der Sozialisation handeln: Die Menschen sind in die Situation hineingewachsen, indem sie die jeweiligen Eigenschaften entwickelten.
Führung (leadership): Einflussnahme mittels Kommunikation zwecks gemeinsamer Aufgabenbearbeitung.
Was machen Menschen, die gut führen? Ein anderer Versuch der Erklärung von Führungsverhalten richtete sich auf Führungsstile. Die frühe experimentelle Führungsstilforschung Lewins und seiner Mitarbeiter verglich 3 Führungsstile (Lewin et al. 1939): den autoritären (oder autokratischen), den demokratischen und den Laissez-faire-Stil. Sie fanden, dass die Mehrzahl der untersuchten Schüler den demokratischen Stil bevorzugte und dass sich in autoritär (autokratisch) geführten Gruppen ein aggressives Klima entwickelte. Weiterhin beobachteten Lewin und Mitarbeiter, dass in autoritär geführten Gruppen bei Anwesenheit des Führers die Leistung höher war, in demokratisch geführten hingegen bei Abwesenheit des Führers. Nachfolgende Untersuchungen zeigten, dass diese Ergebnisse nicht allgemeingültig sind. Ein Problem der experimentellen Führungsforschung besteht zudem darin, dass der Stil der Führung – ähnlich wie eine überdauernde Eigenschaft – vorgegeben und in seiner Wirkung auf die geführte Gruppe untersucht wird. Die oben erwähnten Interaktionsprozesse, die bei realem Führungsverhalten so wichtig sind, können also gar nicht erfasst werden, weil der Versuchsaufbau sie ausschließt: Je nach Versuchsbedingung muss autoritäres oder demokratisches Verhalten durchgehalten werden. In der Realität würden sich Menschen in Führungspositionen vielleicht je nach Situation oder Bedürfnissen der Gruppen unterschiedlich verhalten.
C. Styrsky
! Mit Führungserfolg verbundene Eigenschaften müssen längerfristig im Zusammenhang mit der Dynamik der Situation und mit weiteren Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet werden.
Führen will gelernt sein
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Ein anderer Ansatz (die sog. Ohio-Studien; Fleishman 1973) besteht darin, die Geführten, d. h. die Mitarbeiter, über das Verhalten der Führenden, d. h. der Vorgesetzten, zu befragen. Auch diese Erhebungen sind mit methodischen Problemen, wie etwa den unbefriedigenden Gütekriterien, behaftet. Zwei voneinander unabhängige Faktoren ließen sich jedoch zuverlässig ermitteln: 4 »Consideration« (praktische Besorgtheit, Mitarbeiterorientierung): Der Führende sichert und unterstützt den Gruppenzusammenhalt. 4 »Initiating structure« (Aufgabeninitiierung und -strukturierung, Aufgaben- und Leistungsorientierung): Der Führende sichert die Zielerreichung.
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Kontingenzmodell (contingency model): beschreibt Führung als das Ergebnis situationsabhängiger Prozesse, die zwischen Führungsverhalten und Führung vermitteln. LPC-Maß (LPC measure): Beschreibung des am wenigsten geschätzten Mitarbeiters als Maß für die Mitarbeiterorientierung eines Vorgesetzten. Eine mitarbeiterorientierte Führungskraft zeichnet sich dadurch aus, dass sie diesen noch relativ positiv sieht.
Auch bei diesem Ansatz wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass Führung ein Interaktionsphänomen ist. Beispielsweise könnte sich ein Vorgesetzter, abhängig von ganz unterschiedlichen situativen oder personalen Gegebenheiten, einzelnen Mitarbeitern gegenüber tatsächlich sehr unterschiedlich verhalten. Das könnte erklären, warum standardisierte Fragebogen oft sehr unterschiedliche Befragungsergebnisse erbringen. Die psychologisch orientierte Führungsforschung der 1960er und 1970er Jahre fragte nach den Situationsparametern erfolgreichen Führens. Das erste ausformulierte Kontingenzmodell hat Fiedler (1967, 1987) vorgestellt: Die Motivation des Vorgesetzten ist zwischen den Polen Mitarbeiterorientiertheit und Aufgabenorientiertheit lokalisiert. Dies wird durch das LPC-Maß ermittelt: Die Führungsperson schätzt ihren am wenigsten geschätzten Mitarbeiter (»least preferred coworker«) ein. Wird dieser noch relativ positiv gesehen, gilt die Führungsperson als mitarbeiterorientiert, wird er sehr kritisch gesehen, gilt die Führungsperson als aufgabenorientiert. Die Führungssituationen werden bestimmt durch die Beziehungen zwischen Führungsperson und Gruppe, durch die Aufgabenstruktur und durch die Positionsmacht. In sehr günstigen Führungssituationen (gute Beziehungen, klare Struktur, große Macht) und in sehr ungünstigen Führungssituationen (negative Ausprägung der Parameter) ist nach Fiedler ein aufgabenorientierter, in mittleren Situationen ein mitarbeiterorientierter Vorgesetzter erfolgreich. Fiedler hat daraus gefolgert, dass Führungspersonen entsprechend ihren Orientierungen platziert werden sollten. Sein Ansatz ist kritisiert worden: Unter anderem wurde moniert, das LPC-Maß als Indikator einer überdauernden Orientierung sei weder hinreichend begründet noch empirisch abgesichert, auch sei die Bestimmung der Situationsmerkmale problematisch (von Rosenstiel 2007). Weitere Ansätze beziehen die Motivationslage der Geführten oder deren Reife ein, oder sie nehmen als dritte Dimension die Effektivität in das Modell auf. Dabei verweisen sie darauf, dass je nach Kontext jedes Mischungsverhältnis von Mitarbeiterorientiertheit und Aufgabenorientiertheit effektiv oder ineffektiv ausfallen kann. Bewährt hat sich – für die sensible Wahrnehmung der eigenen Führungssituation – in der Praxis der Ansatz von Vroom u. Yetton (1973; von Rosenstiel 2007), der deswegen hier in schematischer Form dargestellt wird (. Abb. 20.8). Vroom u. Yetton gehen davon aus, dass sich der Gruppenführer um Rationalität bemüht, und sehen in der Art seines Entscheidungsverhaltens einen wichtigen Aspekt von Führung. Führungsentscheidungen sollten sich durch Qualität und Akzeptanz auszeichnen, außerdem zeitökonomisch getroffen werden. Abhängig von gegebenen Bedingungen führt die eine oder andere Form der Entscheidung zu besseren Führungsergebnissen. Die Aufgabe für den Führer einer Gruppe oder den Vorgesetzten liegt darin, zu erkennen, welche Art des Entscheidungsverhaltens in welcher Situation angemessen ist. ! Für Führungsverhalten in Gruppen konnte weder die optimale Persönlichkeit noch das optimale Verhalten ermittelt werden, sondern die konkrete Umgebung muss mit berücksichtigt werden.
In einem größeren Rahmen betrachtet verändert sich Führung und wird dienstleistungsorientiert, transformational und facettenreich: Mit dem Stichwort »transformational« ist etwas gemeint, das über die »transaktionale« Betrachtung der Interaktionen, die mit Führung zusammenhängen, hinausgeht: Kompetente Führung soll Veränderungen der Unternehmensumgebung verstehen und umfassende Wandlungsprozesse initiieren – durch die Bereitstellung von überzeugenden Visionen, durch brillante technische Ideen und Charisma (Van Wart 2003).
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. Abb. 20.8. Entscheidungsbaum Vroom u. Yetton (1973) stellen das Entscheidungsverhalten exemplarisch in einer Baumstruktur dar, die zur Wahl einer empfehlenswerten Entscheidungsform führt (MA Mitarbeiter)
360°-Feedback – eine Methode zur Führungsentwicklung Ansätze und Methoden der Führungsentwicklung betonen die situativen und interaktionalen Aspekte von Führung: So wird »Leadership Development« definiert als »die Erweiterung der gemeinsamen Kapazität von Mitgliedern einer Organisation, sich effizient in Führungsrollen und Führungsprozessen zu engagieren« (Day 2001, S. 582). Zu den Methoden, die einen entwicklungsbezogenen und interaktiven Ansatz unterstützen, kann das 360°-Feedback gezählt werden. Diese Methode, die entwickelt wurde, um Leistungssteigerungen anzuregen, erfreut sich beachtlicher Popularität. Sie soll von allen »Fortune-500-Gesellschaften«, also den 500 größten amerikanischen Industrieunternehmen, eingeführt oder wenigstens geplant worden sein (London u. Smither 1995). Was ist damit gemeint? Feedback soll aus allen 360° eines Kreises relevanter Wahrnehmungen, also aus allen Perspektiven bzw. unterschiedlichen Quellen, eingeholt werden. Dies bedeutet, dass Berichte und Beurteilungen von Kollegen, von Vorgesetzten, auch von Kunden und Lieferanten einbezogen werden. Ihre Professoren könnten beispielsweise Beurteilungen von Studierenden, von Kollegen aus dem Fachbereich, vom Dekan der Fakultät, vielleicht
360°-Feedback (360° feedback): Menschen, die in unterschiedlicher Beziehung zu dem zu Beurteilenden stehen und/oder aus unterschiedlichen Gründen an den Ergebnissen interessiert sind, geben Rückmeldung zur Arbeitsleistung einer Person.
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
. Abb. 20.9. 360°-Feedback Mit dem 360°-Feedback werden Ihr Wissen, Ihre Fähigkeiten und Ihr Verhalten von Ihnen selbst und denjenigen beurteilt, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Ein Professor z.B. könnte vom Dekan, seinen Studenten und von anderen Professoren bewertet werden. Nachdem die Ratings vorliegen, diskutiert der Professor das 360°-Feedback mit dem Dekan
auch aus dem Sekretariat erhalten. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass man so einen umfassenden und genauen Eindruck der Leistung eines Mitarbeiters erhält (. Abb. 20.9). Leistung kann in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich sein und unterschiedlich bewertet werden. Menschen verhalten sich unterschiedlich in unterschiedlichen Kreisen und werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedlich wahrgenommen. Dies wird von dieser Methode anerkannt und lässt sich dadurch belegen, dass die Korrelationen von Bewertungen aus unterschiedlichen Quellen gering sind. Was macht 360°-Feedback so nützlich? Es kann die bewusste Wahrnehmung der eigenen Potenziale und Schwächen fördern und so dazu beitragen, dass Projekte nicht durch suboptimale Leistung gefährdet werden. Es fördert Selbsterkenntnis und schult das Bewusstsein der eigenen Wirkung auf andere, kann somit Abwanderung und Fluktuation – etwa aufgrund nicht wahrgenommener und nicht thematisierter Probleme – verhindern und das intellektuelle Kapital einer Organisation erhalten helfen. Doch wann ist diese Form von Feedback wirklich nützlich? Eigentlich klingt es sehr vernünftig. Von allen Seiten wird eine Rückmeldung eingeholt, diese wird genau betrachtet und der betreffende Mitarbeiter erfährt, wie die anderen ihn sehen und was er an seinem Verhalten verbessern kann. Der Vergleich des Selbstbildes mit den eingeholten Fremdbildern kann die Selbstaufmerksamkeit verbessern und Informationen über die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere vermitteln (vgl. Scherm 2007). Es ist jedoch keineswegs garantiert, dass Feedback stets zu positiven individuellen Veränderungen führt. Tatsächlich gibt es Studien, die zeigen, dass ein Drittel aller berichteten Feedbackinterventionen dazu führte, dass die Leistung sank. Wie kann das passieren? Manche Menschen haben gut entwickelte Abwehrmechanismen und lassen Feedback nicht an sich heran, wenn es zu bedrohlich wirkt – dann wird es keine Veränderung in Gang bringen können. Manche nehmen das Feedback vielleicht richtig wahr, wollen aber ihr Verhalten dennoch nicht ändern. Vielleicht reagieren Menschen auch verletzt oder gekränkt, wenn das Feedback etwa für sie enttäuschend ausfällt. Dies bedeutet, dass es wichtig ist, Feedback so zu vermitteln, dass die Menschen, die es erhalten, es auch annehmen können, dass sie Veränderungen gegenüber offen sein können. Darüber hinaus müssen alle Beteiligten auch wissen, dass Veränderung meist nicht leicht zu haben ist, sondern erarbeitet werden muss. Konsequenterweise wurde vorgeschlagen, 360°-Feedback mit Coaching zu verbinden, um Veränderungsprozesse zu erleichtern (Day 2001). Beim Coaching handelt es sich um einen interaktiven und personzentrierten Beratungsprozess für Personen mit Führungs- und Managementaufgaben, zu dem die Förderung der Selbstreflexion gehört (Rauen 2005).
925 20.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
20
Lernziele Abschnitt 20.4 Psychologie in Organisationen Ziel 15: Erklären Sie, was man unter einer Organisation, unter Organisationsstruktur und Organisationsform versteht, und arbeiten Sie die Vor- und Nachteile des Ein- und des Mehrliniensystems heraus. Eine Organisation ist ein gegenüber ihrer Umwelt offenes System, das zeitlich überdauernd existiert, spezifische Ziele verfolgt und sich aus Individuen bzw. Gruppen zusammensetzt. Die Gesamtheit aller formalen Regelungen zur Arbeitsteilung sowie zur Koordination von Leistung und Verhalten der Organisationsmitglieder bildet die formale Organisationsstruktur. Bei den Organisationsformen unterscheidet man Einlinienund Mehrliniensysteme. Beim Einliniensystem empfängt eine untergeordnete Stelle nur von einer übergeordneten Stelle Weisungen und ist nur dieser verantwortlich. Beim Mehrliniensystem gibt es ein doppeltes Unterstellungsverhältnis nach Funktion und Sparte. Im Mehrliniensystem sind die Informations- und Abstimmungswege kürzer, Konflikte können häufiger auftreten, was als positiv im Sinne einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung gewertet wird. Als Nachteil gilt die fehlende Gesamtverantwortung. Ziel 16: Arbeiten Sie heraus, wann Teamarbeit sinnvoll ist und was sie effektiv macht. Teamarbeit gilt insbesondere dann als sinnvoll, wenn es um eine komplexe Aufgabe geht, die in mehreren Schritten zu bearbeiten ist und die mit unstrukturierten Problemen behaftet ist oder mehrere Fachbereiche berührt. Bei Teamarbeit können verschiedene Arten von Teamarbeitspotenzialen genutzt werden: 4 das Problemlösungspotenzial, das vor allem auf einer breiteren Erfahrungs-, Informations- und Wissensbasis beruht; 4 das arbeitsorganisatorische Potenzial, das über eine Stärkung eigener Verantwortlichkeit den Verwaltungsaufwand reduziert;
20.5
4 das Komplexitätsreduktionspotenzial, das vor allem durch eine breitere Urteilsgrundlage und kürzere Kommunikationswege das Erreichen angestrebter Ziele fördert. Damit Teamarbeit gelingt, sind auch die Gefahren von Teamarbeit wie Risikoschub und Gruppendenken zu beachten. Qualitätszirkel sind kleine Gesprächsgruppen, die der Steigerung der Produktqualität und Produktivität dienen sollen. Ziel 17: Erläutern Sie, warum es bei der Erfassung von Bedingungen erfolgreicher Führung nicht allein auf die Eigenschaften der Führenden ankommt. Korrelationen zwischen Eigenschaften von Führenden und Führungserfolg erwiesen sich als gering, sagen außerdem nichts über die Richtung der Kausalität. Für Führungsverhalten in Gruppen konnte weder die optimale Persönlichkeit noch das optimale Verhalten ermittelt werden; vielmehr muss auch die konkrete Umgebung in die Überlegungen einbezogen werden. Eine Methode der Rückmeldung, die dies berücksichtigt, ist das 360°-Feedback, bei dem Beurteilungen aus unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt werden. Mit Führungserfolg verbundene Eigenschaften müssen außerdem längerfristig im Zusammenhang mit der Dynamik der Situation und mit weiteren Persönlichkeitsmerkmalen gesehen werden. > Denken Sie weiter: Sie sollen eine Arbeitsgruppe zusammenstellen. Was beachten Sie?
Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
Idealerweise sollte eine passende Stelle nicht nur den Qualifikationen der betreffenden Person entsprechen, sondern auch ihren Neigungen und Werthaltungen entgegenkommen. Um Auswahlprozesse zu optimieren, stehen in der Psychologie verschiedene Instrumente zur Verfügung. Forschungsergebnisse bestätigen, dass Qualifikation nicht allein ausschlaggebend ist; auch weitere Merkmale wie etwa Kohortenzugehörigkeit und Geschlecht sind von Bedeutung.
20.5.1
Personalauswahl
Ziel 18: Nennen Sie gebräuchliche Verfahren der Personalauswahl, und bewerten Sie diese.
Die psychologische Berufseignungsdiagnostik hat die Aufgabe, Zusammenhänge zwischen menschlichen Merkmalen und beruflichem Erfolg zu entdecken und Methoden zu entwickeln, damit beides gemessen und zueinander in Beziehung gesetzt wird (Schuler 2000). Ihre Anwendung finden die Ergebnisse in der Berufsberatung, der Personalauswahl sowie der Personalplatzierung, und, insbesondere in Zeiten schwacher Konjunktur, beim Outplacement, also bei der Vermittlung einer Arbeitsstelle für ausscheidende Mitarbeiter (Achouri 2007). Schon Münsterberg hatte im frühen 20. Jahrhundert die Auslese der geeigneten Persönlichkeiten als wichtige Aufgabe
Personalauswahl (personnel selection): Ermittlung der Person, die für eine Aufgabe möglichst gut geeignet ist.
926
20
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
der Psychologen in der Arbeitswelt dargestellt. Zu den frühen Methoden gehörten Papier- und Bleistifttests, apparative Verfahren und Arbeitsproben. Biographische Fragebogen wurden seit der Jahrhundertwende in den USA bei Versicherungsvertretern, Persönlichkeitstests seit den 1920er Jahren zur Auswahl von Verkäufern eingesetzt. Intelligenztests (7 Kap. 11) wurden ab 1917 zur Auswahl amerikanischer Rekruten verwendet. Auch das Einstellungsinterview zählt zu den Verfahren, die schon lange verwendet werden. Heute spielt das Assessment Center eine große Rolle bei der Auswahl von Führungskräften. Dabei handelt es sich um ein multiples Verfahren, das aus Testverfahren, Arbeitsproben und einem Interview besteht. Zu den neueren Verfahren zählen computergestützte Testsysteme, Simulationen und Diagnosesysteme (Schuler 2000). Im Folgenden werden die wichtigsten Verfahren und ihre Bewertung vorgestellt. Dabei ist die Validität von besonderer Wichtigkeit. Die Validität gibt an, in welchem Maße ein diagnostisches Verfahren tatsächlich das Merkmal erfasst, das es erfassen soll (7 Kap. 1). Von Bedeutung ist daneben die organisationale Effizienz oder Praktikabilität des Verfahrens. Damit sind sein ökonomischer Nutzen, der damit verbundene Aufwand, das angestrebte Ziel, seine Schwierigkeit und seine Verfügbarkeit gemeint (Schuler 2000). Kalkulationsmodelle zur Nutzenberechnung beziehen neben der Validität der eingesetzten Verfahren auch die Selektionsquote und die Grundquote ein. Die Selektionsquote ist der Anteil der Ausgewählten unter den Bewerbern; die Grundquote ist der Anteil der Geeigneten unter den Bewerbern. Differenziertere Modelle erlauben die Berechnung des Nutzens von Auswahlverfahren bei Personalentscheidungen in Geldbeträgen (Schuler 2000). Anerkannt wird mittlerweile auch die Bedeutung der Akzeptanz der eingesetzten Verfahren (Schuler 2000).
Eignungsdiagnostische Verfahren Auswertung der Bewerbungsunterlagen Untersuchungen der Validität von Bewerbungsunterlagen gemessen am Kriterium der Vorgesetztenbeurteilung ergaben eine durchschnittliche prognostische Validität von nicht mehr als 0,18 (Reilly u. Chao 1982). Die valideste Komponente stellen vermutlich die Schul- und Examensnoten dar. Diese ermöglichen gute Voraussagen der weiteren Ausbildungsleistungen, beispielsweise 0,46 für Studienleistungen auf der Basis von Abiturnoten (Baron-Boldt et al. 1989). Arbeitszeugnisse und Referenzschreiben erlauben immerhin vorsichtige Schlüsse. Außerdem kann das Einholen zusätzlicher Beurteilungsinformationen früherer Arbeitgeber (»reference check«) die Validität steigern (Schuler u. Höft 2007).
Vorstellungsgespräche oder Einstellungsinterviews Nachgewiesenermaßen wird das Vorstellungsgespräch bei potenziellen Bewerbern am meisten geschätzt (Fruhner et al. 1991). Die prognostische Validität hat sich allerdings als gering erwiesen und wird in einer Vielzahl von Sammelreferaten mit 0,05 bis 0,25 angegeben (Schuler u. Höft 2007). Seine Bedeutung verdankt das Einstellungsgespräch also weniger der Vorhersage möglichen beruflichen Erfolgs als einer Vielzahl anderer Funktionen: 4 Information des Bewerbers über Unternehmen, Arbeitstätigkeit, Arbeitsplatz und Anforderungen, 4 Kennenlernen der Erwartungen des Bewerbers, 4 Information über den Arbeitsmarkt, 4 persönliches Kennenlernen, 4 Darstellung des Unternehmens und 4 Vereinbaren von Bedingungen. Bessere Voraussagen ermöglichen strukturierte Interviews, die mehrere Fragenprinzipien kombinieren. Das multimodale Einstellungsinterview von Schuler (2002) besteht aus freien und standardisierten Komponenten: Den Gesprächsbeginn bildet eine informelle Unterhaltung. Anschließend stellt sich der Bewerber vor. In einem freien Gespräch knüpft der Interviewer an die Selbstvorstellung und die ihm vorliegenden Unterlagen an. Biographiebezogene Fragen erbringen möglichst konkrete Informationen über anforderungsrelevante Verhaltensweisen, die der Bewerber in der Vergangenheit zeigte. Der Interviewer gibt Informationen über den Arbeitsplatz sowie über das
927 20.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
20
© 2007, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber.
. Abb. 20.10. Was wäre wenn? Bei situativen Interviewfragen, hier ein Beispiel von Schuler u. Höft (2007), soll der Bewerber beschreiben, wie er in einer geschilderten kritischen Situation handeln würde
Unternehmen und leitet damit zu den situativen Fragen über (. Abb. 20.10). Diese können als mentale Tätigkeitssimulation angesehen werden; denn der Bewerber wird gefragt, was er in einer geschilderten kritischen Situation machen würde. Abschließend kann der Interviewer auf Fragen des Bewerbers eingehen, der Gesprächsverlauf kann zusammengefasst und weitere Vereinbarungen können getroffen werden.
Personalfragebogen Personalfragebogen sind meist betriebsspezifisch und möglicherweise tätigkeitsspezifisch gestaltet. Sie gelten nicht als Methode der psychologischen Eignungsdiagnostik im engeren Sinne. Sie enthalten Fragen, die für den potenziellen Arbeitgeber einstellungsrelevant sind. Zudem können sie als Grundlage der Personalplanung genutzt werden. Personalfragebogen bedürfen der Zustimmung des Betriebsrates. Sie unterliegen der Vetomitbestimmung. Die Arbeitnehmer sollen so vor Fragen geschützt werden, die ihre Persönlichkeitssphäre verletzen. Es gibt allerdings auch Fragen, die nach gängiger Rechtsprechung ohnehin unzulässig sind und die auch ein Betriebsrat nicht gestatten kann. Bewerber müssen auf unzulässige Fragen nicht wahrheitsgemäß antworten (Schuler 2000).
Biographische Fragebogen In biographischen Fragebogen wird nach berufserfolgsrelevanten Abschnitten der Lebensgeschichte gefragt. Sie können auch als standardisierte Selbstbeschreibungen charakterisiert werden. Die Fragen sind konkret und erfahrungsbezogen formuliert. Für einen Mitarbeiter im Versicherungsaußendienst lautet ein Item beispielsweise: Wie wichtig war Unabhängigkeit als Grundlage für Ihre Berufswahl (Schuler 2000, S. 97)? Solche Items werden einzeln an einem Außenkriterium (Erfolg im Außendienst), ggf. hinsichtlich möglicher Abstufungen, validiert. ! Biographische Fragebogen werden in hohem Maße bezogen auf die jeweilige Stichprobe von Bewerbern und das jeweils verwendete Außenkriterium erstellt. Dies bedeutet, dass die Generalisierbarkeit eingeschränkt ist.
Die Vorhersagevalidität für wissenschaftliche Leistungen liegt nach den Ergebnissen einer Metaanalyse bei 0,47 (Funke et al. 1987). Die starke Bindung an Stichprobe und Kriterium erfordert auch, dass das Verfahren bei längerer Verwendungsdauer hinsichtlich seiner psychometrischen Eigenschaften (Reliabilität, Validität, Objektivität) überprüft wird (Schuler 2000).
928
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
Psychologische Tests
20
Ein psychologischer Test ist ein standardisiertes, routinemäßig anwendbares Verfahren zur Messung individueller Verhaltensmerkmale, aus denen Schlüsse auf Eigenschaften der betreffenden Person oder auf ihr Verhalten in anderen Situationen gezogen werden können (Schuler 2000; Brandstätter 1979; 7 Abschn. 1.6 und 12.2). In der Berufseignungsdiagnostik werden vor allem folgende Tests eingesetzt: 4 Tests, die die allgemeine Intelligenz oder spezifische Komponenten oder Faktoren (Gedächtnis, räumliches Vorstellungsvermögen) der Intelligenz erfassen, 4 Tests, die Aufmerksamkeit und Konzentration prüfen, 4 Tests für sensorische und motorische Funktionen sowie 4 Tests für spezielle Leistungen wie beispielsweise technisches Verständnis. Darüber hinaus werden Persönlichkeitstests eingesetzt (7 Kap. 14). In zahlreichen eignungsdiagnostischen Studien dient der Fünf-Faktoren-Ansatz (7 Abschn. 14.3.3; Costa u. McCrae 1992) als Bezugsrahmen (. Tab. 20.5 für einen Überblick; N = Neurotizismus, E = Extraversion, O = Offenheit für Erfahrung, A = Verträglichkeit oder Agreeableness, C = Gewissenhaftigkeit oder Conscientiousness). Zu den Persönlichkeitstests gehören im weiteren Sinne auch Einstellungs-, Motivations- und Interessenstests. Insbesondere Verfahren zur Messung kognitiver Fähigkeiten haben sich als valide erwiesen, wobei sich Ausbildungsleistungen besser vorhersagen lassen als andere berufliche Leistungen (Schuler 2000).
Computergestützte Testverfahren und Internetbasierte Testung In diese Kategorie fallen computergestützte Tests und computergestützte Simulationen, die mittlerweile auch im Internet zur Verfügung gestellt werden. Meist handelt es sich um herkömmliche Tests, die auf Computer übertragen wurden und nun mit der Maus am Bildschirm anstatt wie zuvor mit dem Bleistift auf Papier bearbeitet werden. Auch Arbeitsproben und komplexe Simulationen können als Computerversion bearbeitet werden. Ausschließlich am Computer können komplexe dynamische Problemlöseaufgaben vorgegeben werden. Diese erlauben Diagnosen auf drei Ebenen, nämlich der Systemsteuerung, der eingesetzten Strategien im Umgang mit dem System und des Wissenserwerbs während der Auseinandersetzung mit der Aufgabe. Hinsichtlich . Tabelle 20.5. Zusammenhang der Big5-Variablen mit anderen berufsrelevanten Konstrukten
N
E
O
A
C
Judge, Heller & Mount (2002) Allgemeine Berufszufriedenheit
–0,29
0,25
0,02
0,17
0,26
Judge, Bono, Illies & Gerhardt (2002)1 Beurteilte Führungseffektivität
–0,22
0,24
0,24
0,21
0,16
Wahrgenommene Führung
–0,24
0,33
0,24
0,05
0,33
Allgemeine Führung
–0,24
0,31
0,24
0,08
0,28
Judge & Illies (2002) Zielorientierung
–0,29
0,15
0,18
–0,29
0,28
Erfolgserwartung
–0,29
0,10
–0,08
0,13
0,23
Selbstwirksamkeitserwartung
–0,35
0,33
0,20
0,11
0,22
Anmerkungen: Die anhand der Stichprobengröße gewichteten Koeffizienten wurden hinsichtlich der Prädiktor- und Kriteriumsvalidität sowie Varianzeinschränkungen korrigiert. 1 = Die »beurteilte Effektivität« basiert auf entsprechenden Mitarbeiter-, Kollegen- und Vorgesetztenurteilen. In den Studien zur »wahrgenommenen Führung« wird ein eher heterogenes Kriterienbündel (beispielsweise Soziometrieergebnisse, Nominierungen in führerlosen Gruppendiskussionen, Übernahme von Führungsrollen etc.) herangezogen. Die »allgemeine Führung« ist ein Aggregat beider Studiengruppen. (Nach Schuler u. Höft 2007, S. 305)
929 20.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
20
© Hanser Verlag, München. Abdruck mit Genehmigung des Hanser Verlags.
. Abb. 20.11. Mentale Arbeitsprobe Postkorbaufgaben sind Bestandteil von Assessment Centern und dienen dazu, erfolgsrelevantes berufliches Verhalten zu provozieren. (Aus Schuler 2000)
der Äquivalenz beider Darbietungsformen wird empfohlen, diese für jede gesonderte Übertragung nachzuweisen, da gesicherte generelle Aussagen nicht möglich seien (Schuler u. Höft 2005). Zumind est zur Vorauswahl von Bewerbern scheint die internetbasierte Testung bereits geeignet. Bislang werden den Vorteilen dieser Methode (wie Flexibilität, Ökonomie und Standardisierung) noch Risiken gegenübergestellt (wie mangelhafte Durchführungskontrolle, mangelhafter Schutz der ins Netz gestellten Tests und Datenschutzprobleme; Schuler u. Höft 2007).
Arbeitsproben Arbeitsproben sind standardisierte Aufgaben, die inhaltlich valide und erkennbar äquivalente Stichproben des erfolgsrelevanten beruflichen Verhaltens provozieren (Schuler 2000). Gelegentlich wird der Ausdruck Arbeitsprobe nur für motorische Aufgaben verwendet. Häufig werden Arbeitsproben als Tests bezeichnet, wenn sie standardisiert und normiert vorliegen. Dass die Abgrenzung zu Testverfahren fließend ist, zeigt der englische Ausdruck »work sample test«. Die Validität gilt als vergleichsweise hoch. Für Arbeitsproben, die wie Gruppendiskussion, Postkorbaufgabe (. Abb. 20.11) und wirtschaftliche Planspiele (»business games«) als Teilaufgaben von Assessment Centers verwendet werden, berichten die einschlägigen Studien Validitätskoeffizienten zwischen 0,25 und 0,30 (Cascio 1987). In ihrer Metaanalyse berichten Schmidt u. Hunter (1998b) einen Koeffizienten von 0,54 als Spitzenwert der erfassten Verfahren (nach Schuler u. Höft 2007). Der offensichtliche Bezug zum Arbeitsfeld sorgt für eine hohe Augenscheinvalidität und dadurch für eine hohe Akzeptanz. Allerdings erfordern Arbeitsproben einen großen Konstruktionsaufwand; die Zahl der Items ist oft geringer als bei Tests im herkömmlichen Sinn, und die Ergebnisse sind möglicherweise weniger gut generalisierbar als die von Fähigkeitstests. Auch muss damit gerechnet werden, dass Validitätskoeffizienten im Laufe der Zeit kleiner werden (Schuler 2000).
Assessment Center Ein eignungsdiagnostisches Verfahren, das in den letzten Jahren immer mehr Anhänger gefunden hat, ist das Assessment Center. Das Assessment Center ist eine multiple Verfahrenstechnik, zu der mehrere eignungsdiagnostische Instrumente oder leistungsrelevante Aufgaben zusammengestellt werden. Sie wird verwendet, um aktuelle Kompetenzen einzuschätzen oder künftige Entwicklungen zu prognostizieren,
Assessment Center (assessment center): multiple Verfahrenstechnik zur Auswahl und Beurteilung von Mitarbeitern, bestehend aus verschiedenen eignungsdiagnostischen Instrumenten und leistungsrelevanten Aufgaben.
930
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
und wird sowohl zur Auswahl neuer Mitarbeiter eingesetzt als auch zur Beurteilung und Förderung von Mitarbeitern im Unternehmen. Nach Schuler (1996) sind dabei die wichtigsten im Assessment Center gebräuchlichen Einzelverfahren folgende: 4 individuell auszuführende Arbeitsproben und Aufgabensimulationen (v. a Organisations-, Planungs-, Entscheidungs-, Controlling- und Analyseaufgaben), 4 Gruppendiskussionen mit und ohne Rollenvergabe, 4 sonstige Gruppenaufgaben mit Wettbewerbs- und/oder Kooperationscharakteristik, 4 Vorträge und Präsentationen, 4 Rollenspiele (z. B. Einstellungsinterview, Verkaufsgespräch), 4 Interviews, 4 Selbstvorstellung, 4 Wirtschaftsspiele, Simulation komplexer Entscheidungen, 4 Fähigkeits- und Leistungstests, 4 Persönlichkeits- und Interessentests, 4 biographische Fragebogen.
20
Etwa 6–12 Personen nehmen gleichzeitig als zu Beurteilende teil. Sie werden von mehreren unabhängigen Beurteilern (typischerweise 2 Hierarchieebenen über der Zielebene) eingeschätzt. Die Validität ist abhängig von der Verfahrensvielfalt und der Sorgfalt der Durchführung. In Metaanalysen wurden durchschnittliche Werte von 0,37 (Thornton et al. 1992) und 0,40 (Schmitt et al. 1984) ermittelt. Das Verfahren sollte durch ein Feedbackgespräch abgeschlossen werden. In diesem werden die Beurteilten auf informative und rücksichtsvolle Weise über den Eindruck informiert, den die Beurteiler von ihrer Leistung gewonnen haben, und mögliche Konsequenzen werden erörtert (Schuler 2000). Außer den dargestellten Verfahren ist die Bewertung von Fachkenntnissen von Bedeutung, deren standardisierte Erfassung wünschenswert ist. Eine neue Entwicklung besteht darin, dass Filmszenen, die beurteilt werden sollen, vorgegeben werden. Die Ausdrucksdiagnostik findet nach langer Vernachlässigung wieder Interesse. Als wenig valide werden graphologische Gutachten eingeschätzt.
Leistungsbeurteilung In den meisten Unternehmen wird der berufliche Erfolg der Mitarbeiter eingeschätzt. Man kann ergebnisorientierte, verhaltensbezogene und eigenschaftsbezogene Beurteilungen unterscheiden. Beispiele für Ergebniskriterien sind Verkaufszahlen, Umsätze, Fehlzeiten, Reklamationen. Sie sind vor allem dort von Bedeutung, wo viele unterschiedliche Verhaltensweisen zum Erfolg führen können, wo Verhaltensbeobachtungen nicht durchführbar oder verhaltensbezogene Interventionen nicht möglich sind. Verhaltensbezogene Beurteilungen setzen voraus, dass die Zusammenhänge zwischen Verhalten und Erfolg bekannt sind (etwa als Ergebnisse von Arbeitsanalysen), dass das erfolgsrelevante Verhalten tatsächlich beobachtbar ist und dass Beurteiler wirklich verhaltensbezogen urteilen und nicht etwa globale Eigenschaftseinschätzungen abgeben. Nun beurteilen nicht nur Betriebe ihre Bewerber und ihre Mitarbeiter, auch Mitarbeiter beurteilen ihre Arbeitgeber, bevor sie entscheiden, ob sie ein Angebot annehmen oder eine Arbeit weiter ausüben. Zur Selektion kann die Selbstselektion hinzukommen. Die Probezeit gibt üblicherweise beiden Parteien Zeit und Gelegenheit, ihre Entscheidung zu überprüfen.
20.5.2
Wer kommt wann voran?
Ziel 19: Diskutieren Sie, welche Bedingungen die berufliche Entwicklung fördern.
Kohorte (cohort): Population, deren Mitglieder im selben Zeitraum geboren wurden.
Wissen Sie noch, welche Berufspläne Sie hatten, als Sie 16 Jahre alt waren? Haben Sie Ihre Ziele erreicht? Woran könnte das gelegen haben? Daten einer Längsschnittstudie, die Schoon u. Parsons (2002) in Großbritannien durchführten, geben Hinweise darauf. Personen aus zwei Geburtskohorten, also gleichen Alters, aber aus unterschiedlichen Geburtsjahrgängen (1958 und 1970), wurden über Jahre hinweg wiederholt befragt. Für die Frage nach den Auswirkungen der berufs-
931 20.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
bezogenen Wünsche auf die spätere berufliche Tätigkeit wurden Daten, die an den Jugendlichen im Alter von 16 Jahren erhoben worden waren, verglichen mit Daten der jungen Erwachsenen im Alter von 26 (Kohorte von 1970) bzw. 33 Jahren (Kohorte von 1958). Es wurden außerdem Daten zur sozialen Schicht der Eltern, zu den materiellen Bedingungen der Familie, zu den Wünschen der Eltern hinsichtlich der Berufswahl ihrer Kinder sowie zu den schulischen Leistungen der Jugendlichen erhoben. Dass man die Wünsche, die die Jugendlichen genannt hatten, sowie die weiteren genannten Bedingungen direkt erfasste und Jahre später mit den Situationen der erneut befragten Erwachsenen verglich, war mit viel Aufwand verbunden: Jahrelang müssen für eine solche Studie Adressen verwaltet und immer wieder aktualisiert werden; immer wieder müssen die Menschen aufgesucht und von (wechselnden) Forschern zu den unterschiedlichen Zeitpunkten befragt werden. Vergleicht man, wie in dieser Studie, unterschiedliche Geburtskohorten, wird der Aufwand noch größer, weil man nun beide Kohorten in derselben Reihenfolge und in vergleichbaren zeitlichen Abständen befragen muss. Warum das alles? Es geht darum, den Einfluss von Alter der Befragten und sozialen Bedingungen zum Befragungszeitpunkt getrennt zu erfassen. Nur so kann man entscheiden, was auf das Alter der Befragten, was auf Veränderungen anderer gesellschaftlich-historischer Bedingungen (hier: Veränderungen am Arbeitsmarkt) zurückzuführen ist. Es zeigte sich, dass für beide Kohorten die Wünsche der Jugendlichen von Bedeutung waren. Wer ehrgeiziger war, hatte später wirklich einen qualifizierteren Beruf. Allerdings gab es zwischen beiden Kohorten bemerkenswerte Unterschiede: Bei den 1958 Geborenen waren die Schulleistungen für die Formulierung von Wünschen sowie für deren Realisierung weniger von Bedeutung als bei den 1970 Geborenen. Auch war der Zusammenhang zwischen dem eigenen Wunsch und dem später Erreichten bei den Älteren etwas stärker. Was war passiert? Der Arbeitsmarkt, der bezogen auf die ältere Kohorte auch weniger Qualifizierten Chancen geboten hatte, hatte sich verändert. Für die später Geborenen waren die Schulleistung und Qualifikationen wichtiger geworden. Die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht hatte bei den später Geborenen ebenfalls einen stärkeren Einfluss auf die spätere Tätigkeit. Die Autorinnen vermuten, dass sich für die spätere Kohorte die materiellen Bedingungen zwar insgesamt verbessert haben, dass aber diejenigen, die bei allgemein gestiegenem Lebensstandard in ärmlichen Verhältnissen lebten, eine relativ höhere Benachteiligung erfuhren als die, die 12 Jahre zuvor unter ärmlichen Bedingungen lebten. Wenn die materiellen Bedingungen karg sind und die Eltern selbst wenig Hoffnung in die berufliche Zukunft ihrer Kinder setzen, wirkt sich das bereits ungünstig auf die Schulleistungen aus. Die Schulleistungen wiederum wirken sich darauf aus, was sich die Kinder wünschen, sowie auf das, was sie später erreichen. Schoon u. Parsons (2002) betonen, dass es wichtig ist, den Kontext berufsbezogener Entwicklungsprozesse zu berücksichtigen und in Zukunft weitere Unterschiede einzubeziehen (wie unterschiedliche Schulen, Regionen und Geschlecht).
Karriereentwicklung bei Frauen Ein anhaltend aktuelles Thema der Arbeits- und Organisationspsychologie ist die Karriereentwicklung bei Frauen. Die Lebenswelten von Frauen haben sich in den letzten 100 Jahren beachtlich geändert: Frauen haben mehr Zeit für außerhäusliche Aufgaben, und sie sind sehr viel besser ausgebildet. Umfrageergebnisse belegen, dass Frauen den Beruf als ganz wesentliches Element ihrer Lebensplanung betrachten (Abele 1997). Es gibt jedoch immer noch einen geteilten Arbeitsmarkt, der Frauen benachteiligt: 4 Frauen arbeiten überwiegend auf Teilzeitarbeitsplätzen (98%), die es in gehobenen Positionen kaum gibt. 4 Frauen sind häufiger nicht ihrer Ausbildung entsprechend beschäftigt. 4 Frauen sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. 4 Frauen verdienen weniger als Männer. 4 Frauen sind in weniger und oft in »frauentypischen« Berufen wie Friseurin oder Verkäuferin vertreten. ! Frauen sind immer noch vergleichsweise selten in Führungspositionen zu finden, sei es in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Verwaltung.
20
932
Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
. Tabelle 20.6. EU-Vergleich: Frauenanteil in Prozent im Bankwesen nach Position und Mitgliedstaat. (Europäische Datenbank »Frauen in Führungspositionen«, Juni 2000)
Alle Managementpositionen
20
Aufsichtsrat
Vorstand
Leitung Unternehmensbereiche
Abteilungsleitung
Belgien
19
3
0
4
11
Dänemark
13
16
0
2
6
Deutschland
17
7
0
0
5
Finnland
12
14
10
5
18
Frankreich
23
3
9
12
11
Griechenland
46
5
0
7
20
Großbritannien
30
8
5
8
18
Italien
9
0
0
2
18
Niederlande
7
8
0
9
17
Portugal
12
5
–
9
17
Schweden
32
14
12
30
29
Spanien
11
13
5
9
7
. Tab. 20.6 zeigt das am Beispiel von Frauen im Bankwesen in Europa. Wie ist das zu erklären? Sind
. Abb. 20.12. Der doppelte Einfluss von »Geschlecht« Nach dem Modell von Abele (2002) kann sich das Geschlecht sowohl über die soziale Kategorie (Außenperspektive) als auch über das Selbstkonzept (Innenperspektive) auf die Lebensplanung auswirken
© Nomos, Baden-Baden. Mit freundlicher Genehmigung des Nomos-Verlags.
Frauen an beruflichen Erfolgen weniger interessiert oder werden sie weniger gefördert? Neuere Studien zeigen, dass die Dinge vermutlich komplexer sind, dass mehrere Faktoren zusammenwirken. Im Forschungsprogramm von Andrea Abele-Brehm wird beispielsweise eine sozialpsychologische Perspektive mit einem entwicklungspsychologischen Vorgehen verknüpft (Abele-Brehm 2002). Vorgeschlagen wird ein sozial-kognitives Modell der Lebensplanung in Beruf und Familie, in dem der doppelte Einfluss von »Geschlecht« als sozialer Kategorie oder Außenperspektive und als Teil des Selbstkonzepts von Personen oder Innenperspektive untersucht wird. Generell müssen die folgenden 3 Aspekte des Geschlechts unterschieden werden ( . Abb. 20.12): Geschlecht ist ein biologisches Merkmal (Beispiel: Frauen bekommen Kinder), Geschlecht ist ein soziales Merkmal, das u. a. von vorhandenen Stereotypen beeinflusst wird (Beispiel: Frauen können als »sehr weiblich« und gefühlsbetont bzw. expressiv oder »eher maskulin « und aktiv und
933 20.5 · Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen
durchsetzungsfähig bzw. instrumentell wahrgenommen werden). »Geschlecht « ist außerdem ein psychologisches Merkmal; dies bedeutet, dass jede Person in ihrem Selbstkonzept Anteile hat, die sich auf ihre Geschlechtszugehörigkeit beziehen (Beispiel: Eine Person kann sich »eher weibliche« im Sinne von einfühlsamen, expressiven Eigenschaften zuschreiben – oder auch nicht). Bei der Analyse geschlechtsvergleichender Berufslaufbahnentwicklung müssen diese drei Aspekte von Geschlecht betrachtet werden. ! Das Geschlecht wirkt sowohl über die Außenperspektive (wie jemand gesehen wird) als auch über die Innenperspektive (wie jemand sich selbst sieht) auf berufsbezogene Prozesse ein. Man unterscheidet hier zwischen Instrumentalitäts- und Expressivitätsanteilen. Instrumentalität ist eher durch maskuline Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit und Unabhängigkeit gekennzeichnet, Expressivität eher durch feminine Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Einfühlsamkeit.
Bezogen auf die Innenperspektive: Je nach Instrumentalitäts- und Expressivitätsanteilen stellen Personen unterschiedliche Erwartungen auch an ihre Berufslaufbahn und verhalten sich auch entsprechend unterschiedlich. Beispielsweise korreliert Instrumentalität mit Karriereorientierung. Hinsichtlich der Außenperspektive ist zu erwarten, dass Eigenschaftszuschreibungen, Erwartungen, Bewertungen und Verhaltenstendenzen einer Person gegenüber davon beeinflusst sind, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Frauen in Führungspositionen werden umso weniger akzeptiert, je stärker ihr Arbeitsbereich vom Stereotyp der weiblichen Geschlechtsrolle abweicht (Eagly u. Karau 2002). In frauentypischen Berufsfeldern werden Männer und Frauen als gleich effektiv wahrgenommen, in männertypischen und neutralen werden die Aussichten von Frauen skeptischer beurteilt (Garcia-Retamero u. Lopez-Zafra 2006). Dazu kommen Rückkoppelungsprozesse. Dies bedeutet, dass berufsbezogene Prozesse die Innenperspektive hinsichtlich Expressivität und Instrumentalität verändern können. Eine Metaanalyse erbrachte, dass über die letzten 30 Jahre hinweg die in entsprechenden Fragebogen erhobenen Expressivitätswerte von Frauen relativ stabil höher sind als die von Männern. Die Instrumentalitätswerte hingegen stiegen bei beiden Geschlechtern und näherten sich zwischen Männern und Frauen an (Twenge 1997). Abele (2002) und ihre Arbeitsgruppe haben untersucht, wie erfolgreich Personen nach einem abgeschlossenen Studium ihre beruflichen Karrieren aufnehmen. In einer ihrer Studien zeigten sich gleich nach dem Studium keine Unterschiede in leistungsbezogenen Variablen wie Abschlussnoten, Studiendauer oder Zusatzqualifikationen. Es gab auch keine Unterschiede bei der allgemeinen beruflichen Motivation. Allerdings zeigten Männer eher eine »harte« Karriereorientierung, bei der der Beruf im Zentrum der Lebensplanung steht, während für Frauen eher der durchaus wichtige Beruf mit anderen Lebensbereichen koordiniert werden soll (Abele 2002). Dabei geben Männer und Frauen ähnliche Lebensziele an: Über zwei Drittel der Befragten beiderlei Geschlechts wünschen sich etwa Kinder, wobei die Konsequenzen unterschiedlich gesehen werden. Über 80% der befragten Frauen, aber nur 37% der befragten Männer gaben an, sie würden dafür ihr berufliches Engagement verringern. Was die Geschlechtsrollenorientierung angeht, so hatten Frauen höhere Werte bei Expressivität, bei Instrumentalität gab es keine Unterschiede. Eineinhalb Jahre später wurde erneut gefragt und verglichen. Kinderlose Frauen waren so oft berufstätig wie Männer, Frauen mit Kind(ern) sehr viel seltener. Wenn Frauen berufstätig sind, sind sie es oft mit weniger Erfolg (. Abb. 20.13). Häufiger als Männer sind sie in inadäquaten Beschäftigungsverhältnissen zu finden – z. B. die Kunsthistorikerin, die als Sekretärin jobbt. Auch Frauen ohne Kinder ziehen nicht mit den Männern gleich; hier fand sich ein kleiner, aber signifikanter Unterschied (Abele 2002). Aufgrund besserer Noten, kürzerer Studiendauer, höheren beruflichen Selbstvertrauens und höherer Instrumentalität kann man einen besseren Start voraussagen. Geschlechtsunterschiede gibt es in diesen Variablen nicht. Eine akademische Berufseinsteigerin kann zum falschen Zeitpunkt schwanger werden, dann die Familienarbeit übernehmen und ihrem Partner einen Karrierevorsprung ermöglichen. Auch bei diesem Schritt wirken äußere Bedingungen (fehlende Betreuungseinrichtungen, in denen sich Rollenzuweisungen ausdrücken) und innere Bedingungen (Zielkonflikte der Frauen) zusammen. Dies gilt auch für kinderlose Frauen. Hierzu diskutiert Abele diskriminierende Umweltreaktionen etwa bei der Personalauswahl, einen stärkeren und
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
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Expressiv von Natur? Die höhere Expressivität von Frauen ist belegt, aber die Gründe dafür sind noch ungeklärt
© Nomos, Baden-Baden. Mit freundlicher Genehmigung des Nomos-Verlags.
. Abb. 20.13. Berufseinstiegsgruppen nach Geschlecht Wie eine Studie von Abele (2002) zeigt, sind berufstätige Frauen signifikant häufiger als Männer in inadäquaten Beschäftigungsverhältnissen zu finden
vielleicht problematischen Motivmix auch bei kinderlosen Frauen, um dann zusammenzufassen, dass vermutlich »viele für sich genommen sehr kleine Aspekte sich über die Zeit summieren, um dann die Geschlechterdifferenz in Führungspositionen zu bewirken« (Abele 2002, S. 61). Abele diskutiert darüber hinaus die Bedeutung dieser Daten für Theorien zum »Geschlecht«: Dass bei Frauen eine höhere Expressivität gemessen wird, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich, wie Evolutionstheoretiker behaupten, seit Entstehung der Spezies Mensch mehr als Männer dem Nachwuchs widmen, also eine höhere parentale Investition leisten, wofür Expressivität funktional ist. Dass Frauen (mittlerweile) ebenso hohe Instrumentalitätswerte aufweisen wie Männer stimmt eher mit den Theorien zu sozialen Rollen und deren Wandel überein. Abele spitzt die Interpretation darauf zu, dass Frauen »›von Natur aus‹ expressiver sind, da sie Kinder bekommen, während sie ›von Natur aus‹ nicht weniger instrumentell seien, da sie agentische Eigenschaften fordernde Berufsrollen genauso ausüben können und wollen ... wie Männer« (Abele 2003, S. 170). Für die von Abele befragten Frauen zeigt sich nach der mittlerweile vierten Befragung: Kinderwunsch und Expressivität sagten voraus, ob die Befragten im Alter von 34 Jahren Eltern sein würden. Bei den Frauen zeigte sich eine Orientierung auf Balance, die sie aber nicht optimal umsetzen konnten: Frauen, die den Kinderwunsch nicht verschieben, bleiben eine Zeit lang zu Hause, obwohl sie das meist nicht vorhatten – hier sind vermutlich u. a. normative Erwartungen und Rollenvorstellungen, aber auch fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten im Spiel. Frauen mit stark ausgeprägten Karrierewünschen verschieben ihren Kinderwunsch. Die Diskrepanz zwischen den Zielen und der Realisierung scheint sich mit zunehmendem Alter der Kinder zu verringern (Abele 2005, S. 184). Wie wird das weitergehen? Alice Eagly (2003) gibt eine vorsichtig optimistische Prognose. Für die USA stellt sie fest, dass die Anzahl der Frauen in den höheren Etagen zunehme. Das führt sie auf drei Faktoren zurück: 1. In neue Definitionen der Eigenschaften, die für kompetente Führung wichtig sind, werden sowohl »männliche« als auch »weibliche« als auch »androgyne« Merkmale einbezogen. 2. Frauen haben sich traditionell »männliche« Eigenschaften angeeignet, etwa die u. a. von Abele in ihren Studien erfasste Instrumentalität. 3. Frauen, die Führungspositionen erreicht haben, bevorzugen kompetente androgyne Führungsstile, womit sie der immer noch mangelnden Passung von Führungsrolle und weiblicher Geschlechtsrolle begegnen, und damit weitere Chancen zur Veränderung der Situation selbst wie ihrer Wahrnehmung schaffen (Eagly 2003).
Hoff et al. (2005, S. 206) haben mit quantitativen und qualitativen Methoden Frauen und Männer aus hochqualifizierten Berufen (nämlich Medizin und Psychologie) befragt. Sie stellen fest, es gebe bei Frauen in beiden Bereichen Integration und Balance von Berufs- und Privatleben, bei Männern hingegen eine Segmentation und ein Ungleichgewicht, sowohl für die alltägliche Lebensgestaltung als auch für die biographische Lebensgestaltung. In der Psychologie beobachteten sie allerdings eine Angleichung der Lebensgestaltung der Männer an die der Frauen, die sie auf die geringere subjektive Antizipierbarkeit und die Unsicherheit der Berufsbiographien in diesem Bereich zurückführen. Die Autoren halten eine Angleichung auch in anderen Arbeitsbereichen für möglich. Im Zuge des Strukturwandels der Arbeitswelt und zunehmender Flexibilisierung könnten bei Männern ausgeglichenere Verhältnisse von Berufs- und Privatleben zunehmen, während auch bei Frauen die Berufstätigkeit bedeutsamer wird. Ob sich diskontinuierliche Berufswege dann, wenn sie auch bei Männern öfter vorkommen, weniger nachteilig auf den Berufserfolg auswirken, bleibt abzuwarten. Bislang sieht es noch so aus, als werde eine längere familienbedingte Auszeit negativ bewertet, weil sich das schlecht mit dem Bild einer beruflich ambitionierten Erwerbstätigen vertrage (Wiese 2007).
20.5.3
Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung
Ziel 20: Erklären Sie, wie Arbeitsbedingungen die Persönlichkeitsentwicklung unterstützen können.
Schon die Menge an Zeit, die Menschen für ihre Ausbildung aufbringen und die sie später an ihrem Arbeitsplatz verbringen, legt den Gedanken nahe, dass die Art der Arbeit und die Entwicklung der Persönlichkeit zusammenhängen. Aus neueren Forschungen in der Entwicklungspsychologie und der Persönlichkeitspsychologie ergeben sich zwei Herausforderungen für die Arbeits- und Organisationspsychologie: 4 Die Annahme, dass die Entwicklung der Persönlichkeit mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter und damit das Erwerbsleben weitgehend festgelegt ist, ist im Lichte einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (7 Kap. 4) nicht haltbar. 4 In der Persönlichkeitspsychologie wurde im Rahmen der Interaktionismusdebatte gezeigt, dass die Persönlichkeit durch zeitlich überdauernde Eigenschaften nicht hinlänglich erfasst werden kann, sondern dass situative Einflüsse auf das Verhalten und Verhaltensdispositionen eine große Rolle spielen (vgl. Grote u. Ulich 1993). Im Folgenden werden einige Untersuchungsergebnisse zur Persönlichkeitsentwicklung bei der Arbeit aufgeführt. Die Ergebnisse einer Querschnittsuntersuchung an 468 männlichen Betriebsangehörigen eines Kabelwerkes in der DDR stützen die Annahme, dass sich ständige geistige Beanspruchung fördernd, mangelnde oder sogar fehlende geistige Übung dagegen hemmend auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit auswirkt (Schleicher 1973). Dass sich die Beschäftigten desselben Tätigkeitsniveaus im Umfang der erfassten Altersspanne in ihren Leistungen (Subtests des Intelligenz-Struktur-Tests von Amthauer) einander angenähert, die Beschäftigten eines unterschiedlichen Tätigkeitsniveaus hingegen voneinander entfernt hätten, wird als Beleg dafür gewertet, dass der Einfluss der Schulbildung mit der Zeit abnehme, der Einfluss der Berufstätigkeit hingegen stärker werde. In einer amerikanischen Längsschnittstudie fand man heraus, dass von allen strukturellen Imperativen der Arbeit diejenigen am wichtigsten für die Persönlichkeit sind, die darüber entscheiden, wie viel Gelegenheit der Beschäftigte zu beruflicher Selbstbestimmung hat, ja inwieweit diese sogar notwendig ist (Kohn 1985). Zu den Aspekten beruflicher Selbstbestimmung zählen die inhaltliche Komplexität der Arbeit, die Strenge der Überwachung und der Grad der Routinisierung. In einem 3-jährigen Arbeitsstrukturierungsprojekt – im Rahmen des Forschungsprogramms Humanisierung des Arbeitslebens – in der Automobilindustrie wurde der Übergang von der Fließbandarbeit zur Gruppenmontage untersucht. Die 28 an diesem Vorhaben freiwillig beteilig-
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C. Styrsky
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Kapitel 20 · Arbeits- und Organisationspsychologie
ten Arbeiter bewältigten die Veränderung in 3 Monaten und leisteten anschließend höherwertige Arbeit. Dabei erweiterten sie nicht nur ihre Kenntnisse über die Arbeitsaufgabe, das Montieren eines Motors, die zuvor durch das Fließband strukturiert gewesen war. Sie entwickelten selbst strategische und planende Vorgehensweisen. Die Veränderung der Arbeitstätigkeit wirkte sich, so wird berichtet, auf die Entwicklung arbeitsbezogener Sachinteressen aus, aber auch auf gesellschaftsbezogene und politische Interessen. Darüber hinaus gab es Hinweise auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands; insbesondere gingen bei denjenigen, die sich am Projekt beteiligten, die psychosomatischen Beschwerden zurück (Bruggemann 1979, 1980). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, wie Arbeitsbedingungen allgemein gestaltet werden können, damit sie die Persönlichkeitsentwicklung fördern. Darüber hinaus gibt es persönliche Unterschiede und Präferenzen.
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! Im Rahmen einer differenziellen und dynamischen Arbeitsgestaltung wird gefordert, individuelle Unterschiede – sowohl zwischen Menschen als auch beim einzelnen Menschen über die Zeit – durch die Vorgabe von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Arbeitsstrukturen und durch die Veränderbarkeit von Arbeitsstrukturen zu berücksichtigen (Grote u. Ulich 1993).
Auf die Bedeutung der Berufswelt für die Persönlichkeitsentwicklung verweisen auch die Autoren einer weiteren Längsschnittstudie (Hoff et al. 1991). Sie untersuchten zwischen 1980 und 1987 die biographischen Verläufe von 21 Facharbeitern. Zu den Methoden gehörten Intensivinterviews, Beobachtung und Expertengespräche. Die Entwicklungsprozesse interpretieren die Autoren als Zunahme der Kompetenz zu autonomem Handeln. Zu den wichtigen soziobiographischen Bedingungen solcher Entwicklungen zählen sie den Abbau objektiver Restriktionen und die Erweiterung der Chancen zur Selbstbestimmung im Beruf, aber auch die Konfrontation mit Chancen und Schranken in verschiedenen Umweltbereichen (Hoff et al. 1991).
Lernziele Abschnitt 20.5 Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen Ziel 18: Nennen Sie gebräuchliche Verfahren der Personalauswahl, und bewerten Sie diese. Psychologische Berufseignungsdiagnostik ist wichtig für Berufsberatung und Personalauswahl. Auswahlverfahren sind Vorstellungsgespräche oder Einstellungsinterviews, Personalfragebogen, biographische Fragebogen, psychologische Tests, computergestützte Tests und computergestützte Simulationen, Arbeitsproben mit Bezug zum Arbeitsfeld sowie das Assessment Center. Bei der Auswahl eines Verfahrens sind neben Validitätskoeffizienten Akzeptanz und Aufwand zu berücksichtigen. Ziel 19: Diskutieren Sie, welche Bedingungen die berufliche Entwicklung fördern. Berücksichtigen Sie dabei auch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Einflussgrößen. Während neben der dokumentierten Leistung eigene Ambitionen und Berufswünsche durchaus Einfluss auf die spätere berufliche Laufbahn haben, verstärkt, wie Kohortenvergleiche zeigen, ein engerer Arbeitsmarkt die Bedeutung schulischer Qualifikationen und der sozialen Herkunft. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Frauen sind immer noch vergleichsweise selten in Führungspositionen zu finden, sei es in Wirt-
schaft, Wissenschaft, Politik oder Verwaltung. Veränderte Eigenschaftszuschreibungen von Frauen, veränderte Konzeptionen von Führung erlauben vorsichtig optimistische Prognosen. Ziel 20: Erklären Sie, wie Arbeitsbedingungen die Persönlichkeitsentwicklung unterstützen können. Vorliegende Studien zeigen, dass geistige Beanspruchung und selbstständiges Planen und Mitgestalten von Bedeutung sind. Höherwertige Arbeit verschaffte Menschen nicht nur mehr Kenntnisse über ihre Arbeitsaufgabe, sondern regte zu strategischen und planenden Vorgehensweisen an. Die Veränderung der Arbeitstätigkeit wirkte sich sowohl auf die Entwicklung arbeitsbezogener Sachinteressen aus, als auch auf gesellschaftsbezogene und politische Interessen. > Denken Sie weiter: Evolutionstheoretiker führen höhere Expressivitätswerte sowie geringeren beruflichen Erfolg bei Frauen auf deren andere Investitionen, d. h. größere Sorge für den Nachwuchs der Spezies zurück. Sind damit rollentheoretische Überlegungen widerlegt?
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Prüfen Sie Ihr Wissen 1. 2. 3. 4. 5.
Wo setzen unterschiedliche Theorien der Arbeitsmotivation an? Wie erklärt das transaktionale Stressmodell Stress bei der Arbeit? Skizzieren Sie die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Gibt es auch positive Auswirkungen? Was zeichnet gute Führung aus? Welche Methoden der beruflichen Diagnostik kennen Sie? Wie sind diese einzuschätzen?
L Deutsche Literatur zum Thema Rosenstiel, L. v. (2007). Grundlagen der Organisationspsychologie, 6. Aufl. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Schuler, H. (Hrsg.). (2007). Lehrbuch Organisationspsychologie, 4. Aufl. Bern: Huber. Moser, H. (2007). Wirtschaftspsychologie. Heidelberg: Springer. Nerdinger, F., Blickle, G., Schaper, N. (2008). Arbeits- und Organisationspsychologie. Heidelberg: Springer. Wiswede, G. (2007). Einführung in die Wirtschaftspsychologie. Stuttgart: UTB.
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Anhang Psychologie als Beruf – 940 Glossar – 947 Danksagung – 969 Über den Autor – 973 Literaturverzeichnis – 974 Quellenverzeichnis
– 1024
Namenverzeichnis
– 1028
Sachverzeichnis
– 1050
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Anhang
Psychologie als Beruf Jennifer Lento/Svenja Wahl > Was Sie mit einem Abschluss in Psychologie machen können? Eine ganze Menge! Wohl kaum ein Berufsbild ist so vielfältig wie das des Psychologen bzw. der Psychologin. Mit Psychologie als Hauptfach haben Sie eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung erhalten, die Sie befähigt, wissenschaftlich zu denken. Sie haben ein Bewusstsein für die grundlegenden Prinzipien menschlichen Erlebens und Verhaltens (biologische Mechnismen, Entwicklung, Kognition, psychische Störungen, soziale Interaktion) entwickelt. Dieses Wissen liefert Ihnen eine solide Grundlage für den erfolgreichen Berufsweg in einer ganzen Reihe von Fachgebieten, z. B. in der Wirtschaft, in helfenden Berufen, in Gesundheitswesen und Marketing, Recht, Forschung und Lehre. Sie können außerdem Weiterbildungen machen, die Ihnen noch mehr Felder erschließen, z. B. eine Psychotherapieausbildung oder eine Fortbildung in der Verkehrsoder Neuropsychologie. Dieser Anhang beschreibt die psychologische Ausbildung und einige Arbeitsfelder der Psychologie.
Erste Schritte in der Psychologie: Das Studium
@ http://www.psychostudium.de – Auf dieser Website finden Sie Infos, Foren etc. rund um das Psychologie-Studium http://www.dgps.de/studium/ – Diese Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Psychologie bietet alles Wissenswerte zu den PsychologieStudiengängen in Deutschland
Psychologie ist ein sehr beliebtes Fachgebiet. Im Wintersemester 2003/2004 waren über 33.500 Psychologiestudierende an deutschen Universitäten eingeschrieben. Dabei wuchs die Zahl der Studienanfänger von ca. 3000 pro Wintersemester in den 1990er Jahren auf ca. 5800 Erstsemester im WS 2001/2002, im darauffolgenden Jahr begannen 4860 Erstsemester das Studium (Bausch 2005). Im Schnitt konnte in den vergangenen Jahren nur noch jeder vierte Bewerber den gewünschten Studienplatz in Psychologie bekommen. Das Interesse an der Psychologie ist also ungebrochen. Dabei ist der Frauenanteil deutlich angestiegen, er lag zuletzt bei 75,5% (Bausch 2005). In Österreich liegt das Psychologiestudium bei den geisteswissenschaftlichen Fächern sogar an der Spitze der Beliebtheitsskala. So waren im WS 2005 insgesamt 12.103 Studierende eingeschrieben, auch hier waren durchschnittlich 78% Frauen. Die Zahl der Studienanfänger lag im selben WS bei 2013 (AMS 2008). In der Schweiz beginnen pro Jahr ca. 2300 Studierende das Psychologiestudium und ingesamt gibt es ca. 8000 Psychologiestudierende, die Anzahl ist wie in den anderen deutschsprachigen Ländern steigend (Wanner 2008, persönliche Mitteilung). Das Psychologie-Diplom berechtigt den Absolventen zu einer selbstständigen Tätigkeit als Psychologe oder Psychologin (7 unten: Berufsfelder der Psychologie). Seit einigen Jahren erfolgt jedoch im Rahmen des Bologna-Prozesses in den deutschen Universitäten die Umstellung vom Diplom-Studiengang auf Bachelor- und Master-Studiengänge. Das Äquivalent zum Diplom ist der Masterabschluss in Psychologie, der Sie zu einem Profi in einem psychologischen Fachgebiet macht. Die Masterstudiengänge wurden u.a. eingerichtet, um eine stärkere Profilbildung der Universitäten und eine stärkere Spezialisierung der Absolventen zu erreichen. Es gibt daher z. B. einen Master Klinische Psychologie oder einen Bachelor Wirtschaftspsychologie (an der Universität Bochum). Den aktuellen Stand der Studiengänge können Sie im Internet auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (2008b) abrufen. Bis zum Jahr 2010 müssen alle Universitäten in Deutschland ihre Studiengänge vom Diplom auf das Bachelor- und Master-Modell umgestellt haben. Es liegen noch zu wenige Zahlen und Daten vor, um fundierte Aussagen darüber zu treffen, in welchen Gebieten Bachelor-Absolventen Arbeit finden. Es liegen auch noch keine Zahlen darüber vor, wie viel Prozent der Bachelor-Absolventen das Master-Studium aufnehmen und wie viele mit dem Bachelor-Abschluss versuchen, in den Arbeitsmarkt der Psychologinnen und Psychologen zu gelangen.
941 Psychologie als Beruf
Tipps, um nach dem Studium leichter eine Arbeitsstelle zu bekommen 1. Belegen Sie Vorlesungen und Seminare, die Sie wirklich interessieren. 2. Machen Sie sich rechtzeitig vertraut mit den Stellen und Informationsquellen, die Sie bei der Arbeitssuche unterstützen können (z. B. Berufsberatung für Studierende) 3. Knüpfen Sie bereits während des Studiums Kontakte zu Praktikerinnen und Praktikern in dem Arbeitsfeld, für das Sie sich interessieren. 4. Machen Sie mindestens ein Praktikum, möglichst jedoch mehrere Praktika. Nutzen Sie die Gelegenheit und probieren Sie aus, welches Arbeitsgebiet das richtige für Sie sein könnte. (Modifiziert nach Morgan u. Korschgen 1998)
Weiter geht’s: Nach dem Studium Die Angaben über die Zahl der Psychologinnen und Psychologen in Deutschland schwanken zwischen 43.000 und 48.000 (Bausch 2005). In Österreich lag die Zahl der beruflich aktiven Psychologinnen und Psychologen 2001 bei über 8000 (AMS 2008). Die Arbeitslosigkeit ist dabei verglichen mit anderen akademischen Berufsgruppen eher gering, denn der Arbeitsmarkt für Psychologen ist wenig anfällig für konjunkturelle Schwankungen. Aktuell sind in Deutschland ca. 5% der Psychologen erwerbslos (Bausch 2005). Psychologen sind mittlerweile überwiegend Psychologinnen: Der Frauenanteil ist in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen, die Tendenz ist weiterhin steigend. Aktuell sind ca. 72% der erwerbstätigen Psychologen Frauen, 28% Männer. Viele Informationen zur Lage der Psychologie als Arbeitsfeld liefert der alle paar Jahre von Manfred Bausch als Arbeitsmarkt-Information für Psychologinnen und Psychologen herausgegebene Bericht (Bausch 2005). Berufsfelder der Psychologie
Vielleicht geht es Ihnen wie den meisten Psychologiestudierenden, und Sie sind sich der breiten Vielfalt der Spezialisierungen und der Arbeitsfelder gar nicht bewusst, die Ihnen die Psychologie bietet (Terre u. Stoddart 2000). Mehr als 50 Berufsfelder, die von Psychologen besetzt werden können, stellt Schorr (1993) vor. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Berufsfelder alphabetisch sortiert kurz skizziert. Allgemeine oder Kognitive Psychologie. In diesem Fachgebiet wird viel Grundlagenforschung
betrieben, um das Wissen der Psychologie voranzutreiben. Allgemeine oder Kognitive Psychologen beschäftigen sich mit mentalen Prozessen und konzentrieren sich auf folgende Themen: Wahrnehmung, Sprache, Aufmerksamkeit, Problemlösen, Gedächtnis, Urteilen und Entscheidungsfindung, Vergessen und Intelligenz. Aktuelle Forschungsthemen umfassen z. B. computerbasierte Modelle für Kognitionen zu entwerfen und biologische Korrelate der Kognition auszumachen. Sie arbeiten als Forscher, freier Berater oder Human-Factors-Spezialist in einem pädagogischen Umfeld oder Wirtschaftsunternehmen. Arbeits- und Organisationspsychologie. Psychologen, die in diesem Bereich arbeiten, beschäf-
tigen sich mit unterschiedlichen Aspekten der Arbeitswelt (Personalauswahl, Weiterbildung, Organisationsentwicklung), sie erforschen die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Arbeitsumwelt. Sie entwickeln neue Methoden, um die Produktivität zu erhöhen, die Personalauswahl oder die Arbeitszufriedenheit in bestimmten Arbeitsfeldern zu verbessern. Ihre Interessen schließen die Organisationsstruktur und den Organisationswandel, Konsumentenverhalten, Personalauswahl und -entwicklung ein. Als Arbeits- und Organisationpsychologe führen Sie Trainings am Arbeitsplatz durch oder übernehmen für Unternehmen die Organisationsanalyse und -entwicklung. Als Arbeitgeber kommen Wirtschaft, Industrie, der öffentliche Dienst oder die Universität in Frage. Sie können auch selbstständig als Berater arbeiten oder für eine Unternehmensberatung tätig sein. Hier sind häufig zusätzliche Kenntnisse über betriebliche Abläufe erforderlich. Beratungspsychologie. In diesem Bereich tätige Psychologen helfen Menschen, sich an einschneidende Veränderungen in ihrem Leben anzupassen oder ihre Lebensweise zu ändern. Das
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Anhang
Berufsfeld ist dem der Klinischen Psychologie sehr ähnlich, allerdings helfen beratend tätige Psychologen eher Menschen mit Anpassungsstörungen als Personen mit schweren psychischen Störungen. Sie führen dabei oft Beratungsgespräche und Diagnostik bei Individuen und Gruppen durch und betonen die Stärken und Ressourcen ihrer Klienten. Sie können als Berater in psychologischen Beratungsstellen mit kommunaler, kirchlicher oder freier Trägerschaft, in Krankenhäusern, Sanatorien und Rehabilitationseinrichtungen arbeiten. Für diese Tätigkeit wird häufig auch eine psychotherapeutische Ausbildung vorausgesetzt. Entwicklungspsychologie. In diesem Fachgebiet werden Lern- und Reifungsprozesse des Menschen, d. h. die psychologische Entwicklung des Individuums über die gesamte Lebensspanne hinweg, untersucht. Dazu gehören auch biologische, soziale und kognitive Aspekte der Entwicklung des Menschen. Die Anwendungsfelder sind v. a. die Pädagogische Psychologie, Schulpsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Entwicklungswissenschaft und Gerontologie: die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in Erziehungsberatungsstellen, bei der Betreuung und Förderung von Kindern, in der Politik und in anderen Gebieten angewendet. Man kann sich spezialisieren, z. B. auf Verhalten im Kindes- und Jugendalter oder auf das mittlere oder späte Erwachsenenalter. Der Arbeitgeber kann z. B. eine Erziehungseinrichtung, ein Pflegeheim, eine Einrichtung zur Betreuung Jugendlicher oder ein Altenheim sein. Experimentalpsychologie oder Grundlagenforschung. In diesem Feld arbeiten Wissenschaft-
ler, die eine Vielzahl grundlegender Verhaltensweisen und kognitiver Prozesse an Menschen und Tieren erforschen. Wichtige Forschungsfelder sind Motivation, Denken, Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung und Sprache. Als Experimentalpsychologe werden Sie wahrscheinlich im universitären Bereich arbeiten, Vorlesungen halten und die Arbeiten von Studierenden betreuen, daneben führen Sie Ihre eigene Forschung durch. Sie können auch an einer Forschungsinstitution (z. B. einem Max-Planck-Institut) angestellt oder für die Industrie tätig sein. Forensische Psychologie. Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiten, wenden die psycholo-
gischen Prinzipien auf Themen an, die mit Recht und Gesetz zusammenhängen. Praktiker helfen der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung. Sie führen aber auch Therapie und Diagnostik in Zusammenarbeit mit dem Justizapparat durch (z. B. bei Straftätern, Zeugenbefragungen u. ä.). Als Forensischer Psychologe arbeiten Sie an der Universität, in Forschungseinrichtungen, bei der Polizei, für das Gericht oder in Justizvollzugsanstalten. Auch in diesem Fachgebiet können Sie selbstständig als Berater arbeiten. Gesundheitspsychologie. In diesem Bereich sind Forscher und Praktiker tätig, die sich damit
beschäftigen, welchen Beitrag die Psychologie leisten kann, um die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten vorzubeugen. Als angestellter Psychologe verhelfen Sie Menschen zu einer gesünderen Lebensweise, indem Sie Gesundheitsprogramme entwerfen, durchführen und evaluieren. In diesen Programmen geht es darum, mit dem Rauchen aufzuhören, Gewicht zu verlieren, den Schlaf zu verbessern oder die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten zu verhindern. Als Forscher beschäftigen Sie sich mit den Bedingungen für Gesundheit und Krankheit und den Verhaltensweisen, die damit einhergehen; dadurch können wirksame Interventionen entwickelt werden. Im öffentlichen Dienst arbeiten Gesundheitspsychologen daran, Programme für das Gesundheitswesen zu entwickeln. Als Gesundheitspsychologe können Sie auch in einem Krankenhaus, einer Pflegeschule, einer Rehabilitationsklinik und an der Universität arbeiten, oder Sie machen sich selbstständig. Klinische Psychologie/Psychotherapie. In diesem Bereich arbeitende Psychologen fördern die psychische Gesundheit von Individuen, Gruppen und Organisationen. Einige klinische Psychologen haben sich spezialisiert auf bestimmte psychische Störungen. Andere behandeln eine ganze Bandbreite von Störungen, von Anpassungsstörungen bis zu ernsten psychopathologischen Störungen. Klinische Psychologen können auch in der Forschung, Lehre, Diagnostik und Beratung arbeiten. Einige halten Workshops und Vorlesungen ab, zu psychologischen Themen für Angehörige anderer Berufsgruppen oder für die breite Öffentlichkeit. Klinische Psychologen arbeiten in
943 Psychologie als Beruf
. Tabelle A1. Wo arbeiten Psychologen und Psychologinnen?
Arbeitsstellen (Auswahl)
Klinische Psychologie
Psychotherapeutische Praxen, Beratungsstellen, Rehabilitationskliniken, Psychiatrie, psychosomatische Kliniken, Forschungsinstitute, Universitätsambulanzen, Therapieausbildungsinstitute
Arbeits- und Organisationspsychologie
Unternehmen, betriebspsychologische Dienste, Personalwesen, innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung, Personalabteilungen, Coaching, Institute, Unternehmensberatung, selbstständige Berater
Entwicklungspsychologie; Pädagogische Psychologie
Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Jugendamt (Betreuung von Familien, Elterntrainings), Heime, Hochbegabtendiagnostik, Lehr- und Forschungseinrichtungen, Erwachsenenbildung, Schulen und vorschulpädagogische Einrichtungen
Schulpsychologie
Schulpsychologische Dienste bei Ländern und Kommunen
Verkehrspsychologie
TÜV, Verkehrspsychologische Beratungsstellen, Forschungsinstitute
Rechtspsychologie
Begutachtung, Beratungsstellen
Forensische Psychologie
Polizei, Opferberatung, Profiling, Bewährungshilfe, Strafvollzug, Freie Beratung, Justizbehörden, Bundeswehr, Polizeiverwaltungen, Jugendämter
Neuropsychologie
Kliniken, Rehabilitationskliniken, Neurologie/Psychiatrie
Gesundheitspsychologie
Prävention, Training, Beratung
Markt- und Werbepsychologie
Öffentlicher Dienst, z. B. Bundesagentur für Arbeit, Kommunen, Markt- und Meinungsforschungsinstitute, Werbeagenturen, Verlage
einer Vielzahl von Settings: in einer Praxis als Freiberufler, in Gesundheitsorganisationen, Schulen, Universitäten, in der Industrie, im Rechtswesen, im Gesundheitswesen, in Beratungsstellen, im öffentlichen Dienst und bei der Bundeswehr (7 Tabelle A1). Die meisten Psychologen arbeiten nach dem Studium im Bereich der Klinischen Psychologie oder Psychotherapie; die Angaben schwanken zwischen 55% und 65%. Um als Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichentherapeut direkt mit den Krankenkassen abrechnen zu können, ist eine Weiterbildung erforderlich, dies wird seit 1999 durch das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) geregelt. Das Gesetz bindet die Führung der Berufsbezeichnung »Psychologischer Psychotherapeut« bzw. »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut« an eine Approbation. Für diese Weiterbildung veranschlagt man pauschal ca. 20.000 Euro, die vom Teilnehmer selbst zu tragen sind (Bausch 2005). Die Ausbildungsdauer umfasst entweder eine 3-jährige Vollzeit- oder eine 5-jährige berufsbegleitende Ausbildung. Dabei umfasst die Ausbildung einen theoretischen und einen praktischen Ausbildungsteil sowie eine praktische Tätigkeit von mindestens 1 Jahr und sie schließt mit einer schriftlichen Prüfung ab. Ausführliche Hinweise und Tipps zu den Anforderungen und Stolperfallen in dieser Ausbildungszeit als »Psychotheraupeut in Ausbildung« (PiA) geben z. B. Lindel und Sellin (2007). Viele Psychologische Psychotherapeuten hätten gerne die Möglichkeit, Psychopharmaka zu verschreiben, um die Bandbreite ihrer klinischen Arbeit zu vergrößern. Bislang ist dies jedoch Medizinern, d. h. im Bereich der psychischen Störungen den Psychiatern und Fachärzten für Psychotherapie, vorbehalten (Ein für Psychologen verständlicher Leitfaden Psychopharmakologie stammt von Benkert u. Hautzinger 2008). In den USA dürfen Psychologen in einigen Bundesstaaten Medikamente verschreiben. Neuropsychologie. Hier erforschen Sie die Beziehung zwischen neurologischen Prozessen (Struktur und Funktion des Gehirns) und Verhalten. Als Klinischer Neuropsychologe können Sie in der Neurologie, Neurochirurgie oder der psychiatrischen Abteilung einer Kinik arbeiten. Andere Neuropsychologen forschen und lehren an Universitäten.
Verschreibung von Psychopharmaka? Nur durch Mediziner
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Fachgebiet
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Pädagogische Psychologie. Hier tätige Psychologen studieren die Beziehung zwischen Lernprozessen und unserer physikalischen und sozialen Umwelt. Es geht um die psychologischen Prozesse des Lernens und der Entwicklung: Sie erforschen das Lernen und entwickeln innovative Lehrmethoden, um den Lernprozess zu verbessern. Als Pädagogischer Psychologe können Sie an der psychologischen oder der pädagogischen Fakultät der Universität, an einer Schule oder in der Verwaltung des öffentlichen Dienstes arbeiten oder in der Wirtschaft mit der Entwicklung von Fortbildungsprogrammen für die Mitarbeiter eines Unternehmens betraut sein. Rehabilitationspsychologie. Forscher und Praktiker in diesem Bereich arbeiten mit Menschen,
die nach einer Krankheit oder einem Unfall ihre optimale Funktionsfähigkeit verloren haben. Als Rehabilitationspsychologe arbeiten Sie wahrscheinlich in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung oder einer Klinik. Sie können auch in der medizinischen Ausbildung, der Universität, im öffentlichen Dienst oder in freier Praxis tätig sein, um Menschen mit physischen Einschränkungen zu helfen. Schulpsychologie. Die hier tätigen Psychologen beschäftigen sich mit Diagnostik und Intervention bei Kindern in Schulen und Erziehungseinrichtungen. Sie diagnostizieren und behandeln kognitive, soziale und emotionale Probleme, die einen negativen Einfluss auf das Lernen und allgemeine Wohlbefinden des Kindes in der Schule haben. Sie versuchen Hintergründe von Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu analysieren und arbeiten eng mit Lehrern, Eltern und Verwaltungsangestellten zusammen. Sie geben Empfehlungen, um die Leistungen eines Schülers zu verbessern. Sie arbeiten im wissenschaftlichen Bereich, für den öffentlichen Dienst, eine Erziehungseinrichtung oder im Schulwesen. Sozialpsychologie. Hier arbeiten Sie, wenn Sie sich für die Interaktionen zwischen den Menschen und dem sozialen Kontext interessieren. Sozialpsychologen untersuchen, wie unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten von anderen Menschen beeinflusst werden und wiederum andere Menschen beeinflussen. Sie beschäftigen sich mit Themen wie Einstellungen, Aggression, Vorurteilen, zwischenmenschlicher Anziehung, Gruppenverhalten und Führung. Als Sozialpsychologe können Sie in Unternehmensberatungen, in der Marktforschung und anderen Feldern der Angewandten Psychologie arbeiten. Sie können natürlich auch an einer Universität forschen. Sportpsychologie. In diesem Bereich arbeitende Psychologen interessieren sich dafür, wie Sport oder andere körperliche Aktivitäten dazu beitragen können, unser Wohlbefinden und unsere persönliche Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg zu verbessern. Als Sportpsychologe untersuchen Sie psychologische Faktoren, die die Teilnahme an Sport und Aktivitäten beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden; zudem wenden Sie Ihr Wissen an. Wahrscheinlich arbeiten Sie als Teil eines Teams oder einer Organisation, man kann jedoch auch selbstständig auf diesem Gebiet arbeiten. Psychometrie. Hier tätige Psychologen sind Experten für die Methoden und Techniken, die eingesetzt werden, um psychologisches Wissen zu erzeugen. Als Psychometriker bearbeiten Sie vorliegende Fragebogen und Persönlichkeitstests oder entwickeln neue Tests für die Anwendung in Klinik, Schule oder Wirtschaft. Diese Psychologen führen Tests durch, werten sie aus und interpretieren sie. Sie arbeiten mit Forschern zusammen, um Forschungsprogramme zu erstellen und auszuwerten. Wenn Sie auf diesem Gebiet arbeiten wollen, müssen Sie gut ausgebildet sein in Forschungsmethoden, der Statistik und dem Umgang mit einer Vielfalt von Statistikprogrammen und Computersoftware. Wahrscheinlich arbeiten Sie an einer Universität, in einem Marktforschungsunternehmen, einem Forschungsinstitut oder für die Verwaltung des öffentlichen Dienstes. photos.com
Karriere in der Forschung
Karriere in der Forschung … beginnt mit der Promotion
Wie Sie gesehen haben, können Sie in all den psychologischen Fachgebieten nicht nur praktisch tätig sein, sondern auch forschen und lehren. Für eine Karriere in der Forschung sind nach wie vor die Promotion und der dadurch erworbene Doktortitel unverzichtbar. Es wird der »Dr. phil.« (Doktor der Philosophie) oder der »Dr. rer. nat.« (Doktor der Naturwissenschaften) vergeben – je
945 Psychologie als Beruf
nachdem, an welcher Fakultät die psychologische Abteilung der Universität angesiedelt ist und welchen Schwerpunkt die Arbeit hat. Man schließt die Promotion mit einer Dissertation und einer mündlichen Prüfung zu dieser Forschungsarbeit ab. Die genauen Bedingungen für die Promotion sind an der jeweiligen Universität einzusehen. Den Doktortitel erwerben pro Jahr ca. 19% der Psychologie-Absolventen und ca. 10% der Psychologie-Absolventinnen (Bausch 2005). In der Forschung und Lehre tätige Psychologen sind in Deutschland in der »Deutschen Gesellschaft für Psychologie« (DGPs) organisiert, die im Jahr 2004 ihr 100jähriges Bestehen feierte. Aktuell vertritt die DGPs rund 2000 Mitglieder (Deutsche Gesellschaft für Psychologie 2008a). Aufgenommen werden kann man nach der Promotion, wenn man von zwei Mitgliedern vorschlagen wird. Zur Förderung von Teilgebieten der Psychologie wurden jeweils Fachgruppen eingerichtet, momentan gibt es 15 solcher Fachgruppen (7 Tabelle A2) . Tabelle A2. Fachgruppen der DGPs (Deutsche Gesellschaft für Psychologie 2008c)
Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie
Inhalte Wechselbeziehungen zwischen Arbeits- und Organisationsbedingungen und menschlichem Erleben und Verhalten
Allgemeine Psychologie
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Sprache, Lernen, Gedächtnis, Motivation und Emotion
Biologische Psychologie und Neuropsychologie
Biopsychologie: anatomische und physiologische Grundlagen menschlichen Verhaltens und Erlebens sowie physiologische Effekte psychologischer Prozesse Neuropsychologie: neuronale Bedingungen psychologischer Prozesse
Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und psychologische Diagnostik
Persönlichkeitspsychologie und Differentielle Psychologie: Individuelle Besonderheiten und interindividuelle Unterschiede Psychologische Diagnostik: Anwendung psychologischen Wissens auf den Einzelfall; Beschreibung, Erklärung und Prognose von Verhalten
Entwicklungspsychologie
Veränderungsprozesse über die Lebensspanne (inkl. Gerontopsychologie: Besonderheiten psychischer Funktionen im höheren Alter)
Geschichte der Psychologie
Historische Entwicklung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft
Gesundheitspsychologie
Personale, soziale und strukturelle Einflussfaktoren auf die körperliche und seelische Gesundheit
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Bedingungen von Krankheit und Gesundheit sowie Entwicklung von verhaltens- und erlebensverändernden Interventionen (inkl. Rehabilitationspsychologie: Anwendung psychologischer Kenntnisse in der Rehabilitation)
Medienpsychologie
Menschliches Erleben und Verhalten im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien
Methoden & Evaluation
Methodenlehre: Verfahren der Datenerhebung und der Datenauswertung, Untersuchungsplanung und Wissenschaftstheorie Evaluation: Untersuchungspläne und Verfahren zur Überprüfung von Interventionen im Hinblick auf zu definierende Standards und Kriterien
Pädagogische Psychologie
Pädagogisch beeinflussbare Kompetenzen, Fertigkeiten, Überzeugungssysteme und Werthaltungen
Rechtspsychologie
Anwendung psychologischer Theorien, Methoden und Erkenntnisse auf Fragestellungen, die sich aus der Gestaltung und Anwendung des Rechts ergeben
Sozialpsychologie
Beeinflussung von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, durch den tatsächlichen, vorgestellten oder angenommenen sozialen Kontext sowie die daran beteiligten kognitiven Prozesse
Umweltpsychologie
Einstellungen zur Umwelt und Umweltbewusstsein, umweltbezogenes Verhalten und Gestaltung eines ökologisch gesunden Lebensumfeldes
Verkehrspsychologie
Wechselbeziehungen zwischen menschlichem Erleben und Verhalten und technischen Verkehrssystemen sowie dem Verkehrsumfeld
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Anhang
Tipps, um den Einstieg in eine Universitätskarriere zu erleichtern 1. Vernetzen Sie sich. Lernen Sie Dozenten der Fakultät und des Instituts für Psychologie kennen, indem Sie an Aktivitäten und Treffen teilnehmen. Werden Sie Mitglied in den studentischen Interessenverbänden z. B. in der »Bundesvereinigung Psychologiestudierende im BDP« oder »psyCH – Studentischer Dachverband Psychologie Schweiz«. Die Arbeit dort bringt Sie in Kontakt mit anderen Studierenden mit ähnlichen Interessen und auch mit verschiedenen Fachgebieten der Psychologie. 2. Nehmen Sie so früh wie möglich am Forschungsprozess teil. Versuchen Sie eine Stelle als Studentische Hilfskraft zu bekommen, und einfache Aufgaben in der Forschung wie Dateneingabe und Datensammlung zu übernehmen. Mit der Zeit werden Sie viel für Ihre eigene Forschung lernen und eigene Forschungsprojekte unter der Aufsicht erfahrener Wissenschaftler durchführen können. 3. Machen Sie ein Praktikum oder einen Studentenjob in einem psychologienahen Feld. Dadurch können Sie Ihre Berereitschaft unter Beweis stellen, dass Sie Ihr erworbenes psychologisches Wissen auch anwenden können. Außerdem können Sie mit einer solchen Tätigkeit belegen, dass Sie erfolgreich verschiedenste Aufgaben bewältigen können, ob an der Uni oder im Arbeitsleben – ein wichtiger Prädikator für den späteren Erfolg. 4. Versuchen Sie, gute Noten zu bekommen. Indem Sie Prüfungen erfolgreich abschließen, zeigen Sie sowohl Ihre Fähigkeit, sich psychologisches Wissen anzueignen, als auch Ihre Bereitschaft, sich für Ihren Weg in der Psychologie zu engagieren. Dies ist besonders wichtig in Prüfungsfächern, für die Sie sich interessieren und die als mögliches Forschungsgebiet für Sie in Frage kommen. (Modifiziert nach Arnold u. Horrigan 2002)
Daneben gibt es einen weiteren großen Berufsverband: Im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) sind ca. 13.000 Mitglieder organisiert, d. h. ca. 25% aller Psychologen. Mitglied kann jeder Psychologe und jede Psychologin werden. Auch Studierende können ab dem 1. Semester dem BDP beitreten, innerhalb des Verbandes gibt es eine »Bundesvereinigung Studierende im BDP«. Beide Berufsverbände zusammen, BDP und DGPs, bilden die Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen. Der österreichische »Berufsverband Österreichischer PsychologInnen« (BÖP) vertritt über 3300 Mitglieder (BÖP 2008) – darunter sowohl freiberuflich arbeitende als auch angestellte Psychologen sowie Psychologiestudierende. Die »Föderation der Schweizer PsychologInnen« vertritt 5700 Mitglieder (FSP 2008) und die »Schweizerische Gesellschaft für Psychologie«, die der DGPs in Deutschland entspricht, ca. 560 Mitglieder (SGP 2008). Sie sehen: Ein Psychologiestudium eröffnet Ihnen eine Vielzahl von Berufswegen! Wenn Sie also das nächste Mal jemand fragt, was Sie denn mit Ihrem Abschluss anfangen wollen, haben Sie sicher eine Antwort parat. Auf jeden Fall wird das, was Sie über das Erleben und Verhalten des Menschen gelernt haben, Ihr Leben bereichern.
L Weiterführende Literatur Bausch, M. (2005). Psychologinnen und Psychologen. Arbeitsmarkt-Information. Bonn: Bundesagentur für Arbeit, Zentralstelle für Arbeitsvermittlung [URL: http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffentlichungen/ AM-Kompakt-Info/AM-Info-PsychologInnen; abgerufen am 05.03.2008]. Informationen zur aktuellen Arbeitsmarktlage für Psychologie-Absolventen. Kernberg, O. F., Dulz, B. & Eckert, J. (2005). (Hrsg.). WIR: Psychotherapeuten über sich und ihren »unmöglichen« Beruf. Stuttgart: Schattauer. Psychotherapeuten berichten über ihr Selbstbild und ihre Profession. Lindel, B. & Sellin, I. (2007). Survivalguide PiA. Die Psychotherapie-Ausbildung meistern. Berlin: Springer. Informationen und Tipps rund um die Psychotherapieausbildung. Pawlik, K. (2005). Handbuch Psychologie. Berlin: Springer. Hier werden die Fachgebiete der Psychologie sowohl in der Forschung als auch in der Praxis vorgestellt. Schorr, A. (2003). Psychologie als Profession. Bern: Huber. Praxisnah werden die Berufsfelder der Psychologie beschrieben.
Glossar Abhängige Variable (dependent variable): Faktor im Experiment, der gemessen
wird (in der Psychologie handelt es sich dabei i. Allg. um ein Verhalten oder einen mentalen Prozess). Diese Variable kann sich als Reaktion auf die Manipulationen der unabhängigen Variablen verändern. Abruf oder aktive, freie Reproduktion (recall): Maß für die Erinnerungsfähigkeit, bei dem die Versuchsperson vorher gelernte Informationen aktiv abrufen muss, etwa beim Ausfüllen eines Lückentexts.
Aggression (aggression): jedes körperliche oder verbale Verhalten, das mit der Absicht (Intention) ausgeführt wird, jemanden zu verletzen oder zu schädigen. Aggressivität (aggressiveness): interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Neigung, in bestimmten Situationen aggressiv zu handeln. Aggressivität bezeichnet also eine Persönlichkeitseigenschaft (Disposition). Agoraphobie (agoraphobia): Angst vor Menschenansammlungen und öffentli-
chen Plätzen – beides fast unvermeidliche Situationen. Absolute Schwelle (absolute threshold): Mindeststimulation, die erforderlich
ist, um einen bestimmten Reiz in mindestens 50% der Fälle wahrzunehmen. Abwehrmechanismen (defense mechanisms): in der psychoanalytischen Theo-
rie die Schutzmechanismen des Ichs, durch die Ängste verringert werden, indem unbewusst die Realität verzerrt wird. Acetylcholin (ACh; acetylcholine): Neurotransmitter, der Lernen möglich macht und Muskelkontraktionen auslöst. Adipositas (adiposity): Fettsucht; Vermehrung des Körpergewichts durch eine
Akkommodation (accommodation): 1. In der Entwicklungspsychologie: Modi-
fizierung des bisherigen Schemas, um neue Informationen integrieren zu können; 2. bei der Wahrnehmung: Anpassungsvorgang, bei dem die Augenlinse ihre Form verändert, um nahe oder entfernte Gegenstände auf der Retina scharf abzubilden. Aktionspotenzial (action potential): Nervenimpuls, also eine kurzfristige elek-
trische Ladung, die am Axon entlang wandert. Diese Ladung entsteht dadurch, dass sich positiv aufgeladene Atome durch die Kanäle der Membran eines Axons herein- und wieder herausbewegen.
übermäßige Ansammlung oder Bildung von Fettgewebe im Körper. Aktives Zuhören (active listening): empathisches Zuhören, bei dem der Zuhörer Adoleszenz oder Jugendalter (adolescence): Übergangsperiode zwischen Kind-
heit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit im Erwachsenenalter.
das Gehörte in eigenen Worten wiedergibt und verdeutlicht, was er gehört hat; Merkmal der klientenzentrierten Therapie von Carl Rogers. Akustische Enkodierung (acoustic encoding): Enkodieren von Lauten und
Aerobes Training (aerobic training): Ausdauertraining, bei dem die Funktions-
Klängen, insbesondere von Wortklängen.
fähigkeit des Herzens und der Lunge zunimmt, kann auch Depressionen und Angststörungen lindern.
Algorithmus (algorithm): eine systematische, logische Regel oder Vorgehens-
Affektive Störungen (mood disorders): psychische Störungen (z. B. Major De-
weise, die garantiert zur Lösung des vorliegenden Problems führt. Im Gegensatz dazu die schnellere, aber auch fehleranfälligere Heuristik.
pression, bipolare Störung), die charakterisiert sind durch emotionale Extreme.
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Alkoholabhängigkeit (alcoholism): gewohnheitsmäßiger Konsum von Alkohol, der zu körperlichen und psychischen Schädigungen führt; starker, übermächtiger Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren, der meist dann bewusst wird, wenn versucht wird, den Alkoholkonsum zu kontrollieren oder zu beenden. Allgemeine Intelligenz oder g-Faktor (general intelligence): allgemeiner Intelligenzfaktor, der nach Ansicht von Spearman und anderen Psychologen den spezifischen geistigen Fähigkeiten eines Menschen zugrunde liegt und daher durch jede Aufgabe in einem Intelligenztest gemessen wird. Allgemeines Adaptationssyndrom (general adaptation syndrome, GAS): Selyes Konzept einer adaptiven physiologischen Reaktion auf Stress in 3 Phasen: Alarmreaktion, Resistenz, Erschöpfung. Alphawellen oder α-Wellen oder (alpha waves): relativ langsame Hirnwellen,
Anpassungsniveau (adaptation level): Unsere Tendenz, uns ein Urteil (über
Töne, Lichter oder Einkommen) aufgrund eines neutralen Niveaus zu bilden, das durch unsere Vorerfahrung festgelegt wird. Anreiz (incentive): positiver oder negativer Reiz in der Umwelt, der ein Verhalten motiviert. Antisoziale Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder): Persönlichkeitsstörung, bei der der Betreffende (in der Regel ein Mann) ein schwach ausgebildetes Gewissen hinsichtlich des eigenen Fehlverhaltens, auch gegenüber Freunden und Familienmitgliedern, aufweist; er kann aggressiv und rücksichtslos oder ein cleverer Trickbetrüger sein. Aphasie (aphasia): Sprachstörung, die normalerweise durch eine Schädigung
der linken Hemisphäre, entweder im Broca-Zentrum (gestörte Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Sprachzentrum (gestörtes Sprachverständnis) entsteht.
die kennzeichnend für einen entspannten Wachzustand sind.
Alzheimer-Krankheit (Alzheimer’s disease): eine progressive, irreversible Krank-
Arbeitsgedächtnis (working memory): ein neueres Verständnis des Kurzzeitgedächtnisses, zu dem die bewusste, aktive Verarbeitung eingehender auditiver und visuell-räumlicher Informationen sowie von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gehört.
heit des Gehirns, gekennzeichnet durch den graduellen Ausfall von Gedächtnis, Denkfähigkeit und Sprache und zuletzt auch der Körperfunktionen.
Arbeitsmotivation (work motivation): Beweggründe dafür, warum Menschen
Altruismus (altruism): selbstloses Interesse am Wohlergehen anderer.
arbeiten und warum sie das mit unterschiedlichem Engagement tun. Ammensprache (baby talk): besondere Form der Sprache, die Eltern in der
Kommunikation mit dem kleinen Kind wählen. Sie unterstützt den Spracherwerb und ist z. B. durch die hohe Tonlage, die übertriebene Satzmelodie und Wiederholungen gekennzeichnet.
Arbeitspsychologie (work psychology): bezieht sich auf die Anwendung psy-
chologischer Theorien, Forschungsansätze und Interventionsmethoden in der Arbeitswelt, auf die psychologischen Aspekte der Gestaltung der Arbeitstätigkeit, des Arbeitsplatzes und der Umgebung des Arbeitsplatzes.
Amnesie (amnesia): Gedächtnisverlust. Amphetamine (amphetamines): Substanzen, die die neuronale Aktivität stimu-
Arbeitszufriedenheit (work satisfaction): zusammenfassende Bewertung der unterschiedlichen Dimensionen von Arbeit.
lieren und zu einer Beschleunigung der Körperfunktionen führen. Der Energiepegel steigt an, und die Stimmung verbessert sich.
Assessment Center (assessment center): multiple Verfahrenstechnik zur Aus-
Amygdala (auch Mandelkern; amygdala): zwei mandelförmige Neuronenver-
wahl und Beurteilung von Mitarbeitern, bestehend aus verschiedenen eignungsdiagnostischen Instrumenten und leistungsrelevanten Aufgaben.
bände, die Teil des limbischen Systems und an der Entstehung von Emotionen beteiligt sind.
Assimilation (assimilation): Interpretation neuer Erfahrungen mit Hilfe von
Begriffen der bereits existierenden Schemata. Analyseniveaus (levels of analysis): die unterschiedlichen sich gegenseitig er-
gänzenden Auffassungen zur Analyse irgendeines vorgegebenen Phänomens, die von der biologischen über die psychologische bis zur soziokulturellen Auffassung reichen. Angewandte Forschung (applied research): wissenschaftliche Untersuchungen zur Lösung konkreter Probleme. Angststörungen (anxiety disorders): psychische Störungen, die gekennzeichnet
sind durch eine quälende, überdauernde Angst oder unangemessene Verhaltensweisen, um die Angst zu reduzieren.
Assoziationsfelder (association areas): Bereiche des zerebralen Kortex, die nicht an den primären und sekundären motorischen und sensorischen Funktionen beteiligt sind, sondern an höheren geistigen Fähigkeiten wie Lernen, Erinnern, Denken und Sprechen. Assoziatives Lernen (associative learning): Lernen, dass bestimmte Ereignisse
zusammen gehören. Bei den Ereignissen kann es sich um zwei Reize (bei der klassischen Konditionierung) oder um eine Reaktion und ihre Folgen (bei der operanten Konditionierung) handeln. Attributionstheorie (attribution theory): legt nahe, wie wir das Verhalten eines
Anlage-Umwelt-Debatte (auch: Erbe-Umwelt-Debatte; nature-nurture issue):
alte Kontroverse darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbildung psychischer Merkmale und die Entwicklung von Verhaltensweisen ist. Anorexia nervosa (anorexia nervosa): Essstörung, bei der eine normalgewichtige Person (meistens ein Mädchen in der Adoleszenz) Diät hält und deutlich untergewichtig wird (15% oder mehr), sich aber trotzdem zu dick fühlt und weiter hungert.
Menschen erklären, und zwar indem wir die Verantwortung dafür entweder der Situation oder der Veranlagung des betreffenden Menschen zuschreiben. Außersinnliche Wahrnehmung (extrasensory perception): umstrittene These, dass Wahrnehmung auch stattfinden kann, wenn keine sensorischen Signale eintreffen. Zusammenfassender Begriff für Phänomene wie Telepathie, Hellsehen und Präkognition.
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Autismus (autism): Störung, die im Kindesalter auftritt und durch das Fehlen
Beobachtungslernen (observational learning): durch die Beobachtung anderer
von Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Verständnis für die seelischen Zustände anderer Menschen gekennzeichnet ist.
Menschen lernen. Beratungspsychologie 7 Psychologische Beratung
Automatische Verarbeitung (automatic processing): unbewusste Enkodierung
zufällig anfallender Informationen, wie Raum, Zeit und Häufigkeit, sowie erlernter, aber inzwischen wohlbekannter Informationen (z. B. Wortbedeutungen).
Bestätigungstendenz (confirmation bias): Tendenz, Informationen zu suchen,
Autonomes (vegetatives) Nervensystem (autonomic nervous system): Teil des
Bestrafung (punishment): Ereignis, das das vorausgehende Verhalten reduziert.
peripheren Nervensystems, der die Drüsen und Muskeln der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert. Der sympathische Teil sorgt für Erregung, der parasympathische für Beruhigung.
Bewältigung (coping): Verringerung von Stress auf emotionalem oder kogniti-
Autoritärer Erziehungsstil (authoritarian parenting): Eltern verlangen strikten Gehorsam, weil es ihnen um psychologische Kontrolle geht. Sie bestrafen massiv und physisch und haben geringes Interesse an den Handlungsabsichten und motiven der Kinder.
die eine vorgefasste Meinung bestätigen.
vem Wege bzw. durch Verhalten. Bewusste Verarbeitung (effortful processing): Form der Enkodierung, die Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung erfordert. Bewusstsein (consciousness): Gesamtheit der unmittelbaren Erfahrung, die sich
Autoritativer Erziehungsstil (authoritative parenting): Eltern stellen Anforde-
aus der Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung, unseren Kognitionen, Vorstellungen und Gefühlen zusammensetzt.
rungen und verlangen die Einhaltung von Regeln, akzeptieren aber die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner.
Bildliche Vorstellung (imagery, mental pictures): äußerst wirksame Hilfe für die
Aversionskonditionierung (aversive conditioning): Form der Gegenkonditio-
bewusste Verarbeitung, besonders in Kombination mit semantischer Enkodierung.
nierung, die einen unangenehmen Zustand (Übelkeit) mit unerwünschtem Verhalten (Alkohol trinken) koppelt.
Bildungspsychologie: Teil der pädagogischen Psychologie, der sich mit der Un-
tersuchung des Lehrens und Lernens befasst. Axon (axon): Erweiterung eines Neurons, das in sich verzweigenden Nervenen-
digungen (Dendriten) endet. Über sie werden Botschaften an andere Neuronen bzw. an Muskeln oder Drüsen weitergeleitet.
Bindung (attachment): emotionales Band zwischen dem sehr kleinen Kind und seiner Bezugsperson. Das Kind sucht die Nähe zur Bezugsperson und reagiert auf Trennung mit Kummer und Schmerz.
Balken 7 Corpus callosum Binokulare Hinweisreize (binocular cues): Tiefenmerkmale, wie retinale DispaBarbiturate (barbiturates): Substanzen, die zur Verringerung der Aktivität des
rität und Konvergenz, die voraussetzen, dass man beide Auge zu Hilfe nimmt.
zentralen Nervensystems führen. Sie wirken angstreduzierend, schränken jedoch das Gedächtnis und die Urteilsfähigkeit ein.
Biofeedback (biofeedback): Methode, bei der Informationen über einen kaum
Bedürfnishierarchie (hierachy of needs): Maslows Pyramide der menschlichen
wahrnehmbaren physiologischen Zustand wie etwa Blutdruck oder Muskelspannung elektronisch aufgezeichnet, verstärkt und an den Benutzer rückgemeldet werden.
Bedürfnisse; beginnend mit den physiologischen Bedürfnissen, die erst erfüllt sein müssen, bevor auf einer höheren Stufe das Bedürfnis nach Sicherheit und danach die psychischen Bedürfnisse aktuell werden.
Biologische Psychologie (biological psychology): Teilbereich der Psychologie,
Befragung (survey): Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten Einstel-
der sich mit dem Zusammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt; auch als physiologische Psychologie bezeichnet.
lungen oder Verhaltensweisen der Menschen ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe befragt.
Biologische Rhythmen (biological rhythms): periodische physiologische Fluk-
tuationen. Begriff (concept): mentale Gruppierung ähnlicher Gegenstände, Ereignisse, Ideen oder Personen.
biologische Uhr 7 zirkadiane Rhythmik
Beharren auf Überzeugungen (belief perseverance): Festhalten an den ursprünglichen Auffassungen, nachdem die Grundlage, auf der sie gebildet wurden, zweifelhaft geworden ist.
Biomedizinische Therapie (biomedical therapy): verschriebene Medikamente oder medizinische Verfahren, die direkt auf das Nervensystem des Patienten einwirken.
Behaviorismus (behaviorism): Sichtweise von der Psychologie als 1. einer objek-
Biopsychosozialer Ansatz (biopsychosocial approach): eine integrierende
tiven Wissenschaft, die 2. das Verhalten ohne Bezugnahme auf mentale Prozesse untersucht. Heute stimmen die meisten Psychologen, die in der Forschung tätig sind, lediglich der 1. Aussage zu.
Sichtweise, die biologische, psychologische und soziokulturelle Analyseniveaus berücksichtigt.
Beobachtung in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtung (naturalistic
observation): Beobachten und Erfassen von Verhalten in natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle der Situation.
Bipolare Störung (bipolar disorder): eine affektive Störung, bei der ein Mensch zwischen der Hoffnungslosigkeit und Lethargie der Depression und dem übererregten Zustand der Manie hin und her wechselt (früher manisch-depressive Störung genannt).
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Anhang
Blinder Fleck (blind spot): Punkt der Netzhaut, an dem der Sehnerv das Auge
verlässt und ein »blinder« Fleck entsteht, weil hier keine Rezeptorzellen vorhanden sind.
Diskriminierung (discrimination): nicht zu rechtfertigendes, negatives Verhalten gegenüber einer Gruppe oder ihren Mitgliedern.
Blindheit durch Unaufmerksamkeit (inattentional blindness): Unfähigkeit,
Dissoziation (dissociation): Spaltung des Bewusstseins, die ermöglicht, dass bestimmte Gefühle und Gedanken gleichzeitig mit anderen auftreten.
sichtbare Objekte zu sehen, wenn sich unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge richtet.
Dissoziative Identitätsstörung (dissociative identity disorder): seltene Form
Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende, datengesteuerte Informationsverarbei-
einer dissoziativen Störung, bei der eine Person zwei oder mehr voneinander unterscheidbare und einander abwechselnde Persönlichkeiten zeigt; früher bezeichnet als multiple Persönlichkeitsstörung.
tung; bottom-up processing): Analyse, die mit den Sinnesrezeptoren beginnt und aufsteigend bis zur Integration der sensorischen Information durch das Gehirn erfolgt.
Dissoziative Störungen (dissociative disorders): Störungen, bei denen das Be-
Broca-Zentrum (Broca’s area): steuert den sprachlichen Ausdruck; Teil des Fron-
wusstsein sich von früheren Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen abspaltet (dissoziiert).
talkortex, meist in der linken Hemisphäre; steuert die Muskelbewegungen, die an der Lautbildung beteiligt sind. Bulimia nervosa (bulimia nervosa): Essstörung, die durch Fressepisoden gekennzeichnet ist, bei denen meistens riesige Kalorienmengen aufgenommen werden, gefolgt von Erbrechen, der Verwendung von Abführmitteln, Fasten oder exzessivem Sport.
DNA/DNS (Desoxyribonukleinsäure; desoxyribonucleic acid): komplexes Molekül, das die genetische Information enthält und letztlich die Chromosomen bildet. Doppelblindversuch (double-blind procedure): experimentelles Vorgehen, bei
Cannon-Bard-Theorie (Cannon-Bard theory): sagt aus, dass ein emotionserre-
dem sowohl die Teilnehmer an dem Versuch als auch die Mitarbeiter des Versuchsleiters nicht wissen (blind sind), ob die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Placebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der Evaluation von Studien zur Wirkung von Medikamenten angewandt.
gender Reiz gleichzeitig 1. physiologische Reaktionen und 2. die subjektive Erfahrung der Emotion auslöst.
Down-Syndrom 7 Trisomie 21
Chromosomen (chromosomes): im Zellkern liegende fadenähnliche Strukturen
vertraute Einheiten; geschieht häufig automatisch.
Dreifarbentheorie von Helmholtz und Young (Young-Helmholtz trichromatic theory): Theorie, die besagt, dass die Retina 3 verschiedene Farbrezeptortypen enthält, von denen der eine besonders empfindlich auf Rot reagiert, der andere auf Grün und der dritte auf Blau. Werden sie in Kombination stimuliert, können sie die Wahrnehmung jedes beliebigen Farbtons erzeugen.
Corpus callosum (auch Balken; corpus callosum): breites Band aus Nervenfa-
DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders): »Diagnosti-
sern, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und über das Informationen weitergeleitet werden.
sches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (4. Ausgabe)« der American Psychiatric Association, ein weithin genutztes System zur Klassifikation psychischer Störungen; gegenwärtig erhältlich in einer aktualisierten Überarbeitung (DSM-IV-TR).
aus DNA-Molekülen, die Gene enthalten. Chunking (chunking): Organisieren einzelner Items in handhabbare und/oder
Dämpfende Substanzen (depressant): Substanzen (wie Alkohol, Barbiturate und Opiate), die die neuronale Aktivität reduzieren und die Körperfunktionen verlangsamen.
Dualismus (dualism): Annahme, dass Leib und Seele zwei voneinander getrenn-
te Einheiten sind, die aber in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Deindividuation (deindividuation): Verlust der Selbstwahrnehmung und Zu-
rückhaltung in Gruppensituationen, die Erregung und Anonymität fördern.
Dystones Syndrom (auch Dyskinesia tarda, engl. tardive dyskinesia): unwillkür-
so erlebt zu haben. Hinweisreize aus der aktuellen Situation mögen unbewusst die Erinnerung an eine frühere Situation auslösen.
liche Bewegungen der Gesichtsmuskeln, der Zunge und der Gliedmaßen; eine möglicherweise für das Nervengewebe schädliche Nebenwirkung eines langfristigen Einsatzes von Neuroleptika, die auf die D2-Dopaminrezeptoren gerichtet sind.
Deltawellen oder δ-Wellen (delta waves): langsame Hirnwellen mit großer Am-
Early-Starter-Modell (early-starter model): Modellvorstellung, der die Annah-
plitude. G-Wellen gehen mit Tiefschlaf einher.
me zugrunde liegt, dass die meisten delinquenten, antisozialen Jugendlichen ihre »Karriere« aufgrund negativer familiärer Erfahrungen bereits im Vorschulalter begonnen haben.
Déjà-vu-Erfahrung (déjà vu): der unheimliche Eindruck, etwas schon mal genau
Dendriten (dendrites): vielfach verzweigte Erweiterungen einer Nervenzelle, mit
denen Botschaften empfangen und Impulse an den Zellkörper weitergegeben werden. Deutung (interpretation): heißt in der Psychoanalyse, dass der Analytiker die Bedeutung der Träume, den Widerstand und andere aufschlussreiche Verhaltensweisen interpretiert, um den Patienten auf dem Weg zur Einsicht weiterzubringen. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen 7 DSM-IV
Echogedächtnis (echoic memory): kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis für akustische Reize; wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, können Wörter oder Geräusche noch in einem Zeitfenster von 3 oder 4 Sekunden erinnert werden. Ecstasy oder MDMA (Ecstasy, MDMA): synthetisches Stimulans und mildes Halluzinogen. Führt zu Euphorie und dem Gefühl sozialer Nähe, birgt jedoch kurzfristige Gesundheitsrisiken und beschädigt längerfristig serotonerge Neurone; es wirkt auf Stimmung und Kognition.
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Effektgesetz (law of effect): Thorndikes Prinzip, dass Verhaltensweisen, die angenehme Konsequenzen zur Folge haben, häufiger auftreten, während Verhaltensweisen, denen unangenehme Konsequenzen folgen, seltener gezeigt werden.
Empathiemediationshypothese (empathy mediation hypothesis): Annahme, dass die Enge des Zusammenhangs zwischen elterlicher Erziehung und prosozialem Handeln durch die Stärke des empathischen Mitempfindens vermittelt wird.
Egozentrismus (egocentrism): Damit bezeichnet Piaget in seiner Entwicklungstheorie die mangelnde Fähigkeit des Kindes im präoperatorischen Stadium, den Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen.
Empathische Schuldgefühle (feelings of empathic guilt): Schuldgefühle, die auf der Fähigkeit zum empathischen Mitempfinden beruhen. Sie treten dann auf, wenn eine Person sich als Quelle für die Schädigung oder Verletzung einer anderen Person erlebt, und sind eine Form des Mitfühlens mit dem Anderen.
Eichung 7 Normierung Eigengruppe (in-group): »Wir« – die Menschen, mit denen man eine gemein-
Empfindung (sensation): Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt empfangen und darstellen.
same Identität teilt. Empirismus (empiricism): philosophische Lehre, dass Wissen (nur) auf SinneEignungstest (aptitude test): Test, der die künftig zu erwartende Leistung eines
Menschen vorhersagen soll; Eignung ist die Fähigkeit zu lernen.
serfahrungen zurückgeht und wissenschaftlicher Fortschritt durch Beobachtung und Experiment erreicht wird.
Eineiige Zwillinge (identical twins): Zwillinge, die sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle entwickeln, die sich dann in zwei Eizellen teilt und somit zwei genetisch identische Organismen bildet.
Endokrines System (endocrine system): »langsames« chemisches Kommunikationssystem des Körpers; es besteht aus einer Reihe von Drüsen, die Hormone ins Blut ausschütten.
Einsicht (insight): plötzliche und oft überraschend auftauchende Lösung eines
Endorphine (»innere Morphine«; endorphins): natürliche, den Opiaten ähneln-
Problems; im Unterschied zu strategisch angelegten Lösungen.
de Neurotransmitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in Zusammenhang gebracht werden.
Einstellung (attitude): Überzeugung oder Gefühl, das Menschen prädisponiert, in
einer bestimmten Art und Weise auf Dinge, Menschen und Ereignisse zu reagieren. Einwortstadium (one-word stage): Phase, die ungefähr das 2. Lebensjahr umfasst, während der das Kind hauptsächlich in einzelnen Wörtern spricht. Einzelfallstudie (case study): Beobachtungstechnik, bei der ein Individuum
gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Weise universelle Prinzipien entdecken zu können.
Enkodieren (encoding): Verarbeitung von Informationen zur Eingabe in das Gedächtnissystem, z. B. durch Herstellen eines Bedeutungszusammenhangs. Entwicklungspsychologie (developmental psychology): Teildisziplin der Psychologie, die die im Verlauf des Lebens auftretenden Veränderungen auf der physischen, kognitiven und sozialen Ebene untersucht. Entzug (withdrawal): unangenehme und quälende Folgen des Absetzens der suchterzeugenden Substanz.
Eklektischer Ansatz (eclectic approach): Form der Therapie, bei der je nach dem
Problem des Klienten Techniken aus unterschiedlichen Therapieformen eingesetzt werden.
Equity (ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen): ein Zustand, in dem Menschen in einer Beziehung genauso viel bekommen, wie sie geben.
Elektroenzephalogramm (EEG; electroencephalogramm): Ableitung und Verstärkung von Hirnstromwellen, also Wellen elektrischer Aktivität, die über die Oberfläche des Gehirns laufen. Diese Wellen werden von Elektroden abgeleitet, die am Schädel befestigt werden.
Erbe-Umwelt-Debatte 7 Anlage-Umwelt-Debatte
Elektrokrampftherapie (electroconvulsive therapy): biomedizinische Therapie
für schwer depressive Patienten; dabei wird ein kurzer Stromstoß durch das Gehirn des anästhesierten Patienten geschickt. Embryo (embryo): sich entwickelnder menschlicher Organismus. Die Embryonalphase dauert etwa von der 2. Woche nach der Befruchtung bis zum Ende des 2. Monats. Emotion (emotion): Reaktion des gesamten Organismus, die 1. physiologische
Erblichkeit (heritability): Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede auf Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population und den untersuchten Umweltbedingungen variieren. Erlernte Hilflosigkeit (learned helplessness): Hoffnungslosigkeit und passive Resignation, die Tiere und Menschen lernen, wenn sie wiederholt auftretenden aversiven Ereignissen nicht ausweichen können. Erneutes Lernen (relearning): Maß für die Erinnerungsfähigkeit, mit dem er-
fasst wird, wie viel schneller bereits erlerntes Material beim zweiten Mal gelernt wird.
Erregung, 2. Ausdrucksverhalten und 3. bewusste Erfahrung beinhaltet. Emotionale Intelligenz (emotional intelligence): Fähigkeit, Emotionen wahrzu-
nehmen, auszudrücken, zu verstehen und zu beherrschen.
Erwerb (acquisition): erste Phase der klassischen Konditionierung; die Phase, in der ein neutraler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz gekoppelt wird, sodass der neutrale Reiz eine konditionierte Reaktion auslöst. Bei der operanten Konditionierung: die Verstärkung einer verstärkten Reaktion.
Emotionsfokussierte Bewältigung (emotion-focused coping): Versuch, den
Stress indirekt zu verringern, indem man einen Stressor meidet oder ihn ignoriert und seine Aufmerksamkeit auf emotionale Bedürfnisse richtet, die mit der eigenen Stressreaktion zusammenhängen.
Erziehungspraktiken (parental techniques): beziehen sich auf spezifische Erzie-
hungsmaßnahmen der Eltern, Erziehungsstile dagegen auf inhaltsunabhängige (d.h. übergreifende) Grundhaltungen.
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Anhang
Erziehungspsychologie: Teil der pädagogischen Psychologie, der sich nicht mit Bildungsprozessen (Lehren und Lernen), sondern mit Erziehung im engeren Sinne befasst, etwa mit dem Einfluss elterlicher Erziehungsmaßnahmen auf die Entwicklung des Kindes. Erziehungsstil (parenting style): Muster von elterlichen Einstellungen, Hand-
lungsweisen und Ausdrucksformen, die die Art der Interaktion der Eltern mit ihrem Kind über eine Vielzahl von Situationen kennzeichnen. Es (id): enthält ein Reservoir unbewusster Energie, deren Streben laut Freud auf die Erfüllung grundlegender sexueller und aggressiver Triebe gerichtet ist. Das Es handelt nach dem Lustprinzip und verlangt sofortige Befriedigung.
Farbton (hue): Farbdimension, die durch die Wellenlänge des Lichts bestimmt
wird und die wir als die uns bekannten Farben Blau, Grün etc. wahrnehmen. 360°-Feedback (360° feedback): Menschen, die in unterschiedlicher Beziehung zu
dem zu Beurteilenden stehen und/oder aus unterschiedlichen Gründen an den Ergebnissen interessiert sind, geben Rückmeldung zur Arbeitsleistung einer Person. Fehlinformationseffekt (misinformation effect): irreführende Informationen, die in die Erinnerung an ein Ereignis eingebaut werden. Feldbeobachtung 7 Beobachtung in natürlicher Umgebung Fester Intervallplan (fixed-interval schedule): Verstärkung der ersten Reaktion
Evolutionspsychologie (evolutionary psychology): die Untersuchung der Evo-
lution des Verhaltens und des Denkens mit Hilfe der Prinzipien der natürlichen Selektion.
nach einer vorab festgelegten Zeitspanne. Fester Quotenplan (fixed-ratio schedule): Verstärkung nach einer bestimmten Anzahl von Reaktionen.
Experiment (experiment): Forschungsmethode, bei der der Forscher einen oder
mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert, um die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (abhängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer zu verschiedenen Gruppen (randomisierte Gruppen) können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden. Explizites Gedächtnis (explicit memory): Gedächtnis für Fakten und Erfahrungen, die man bewusst wissen und »deklarieren« kann (auch als deklaratives Gedächtnis bezeichnet).
Figur-Grund-Beziehung (figure-ground): Organisation des Gesichtsfelds in Objekte (Figuren), die sich von ihrer restlichen Umgebung abheben (Grund). Fixierung (fixation): 1. nach Freud eine Bindung der Lust suchenden Energien an eine vorhergehende psychosexuelle Phase, in der Konflikte nicht gelöst wurden; 2. Unfähigkeit, ein Problem aus einem neuen Blickwinkel zu sehen; sehr hinderlich bei der Problembewältigung. Flashbulb memories (Blitzlichterinnerungen): klare Erinnerung an emotional
Expositionstherapie (exposure therapy): Technik der Verhaltensmodifikation
wie die systematische Desensibilisierung zur Behandlung von Ängsten. Dabei werden die Patienten (in der Phantasie oder in der Realität) mit den Dingen konfrontiert, vor denen sie Angst haben und die sie vermeiden. Expositionstherapie mit Hilfe virtueller Realität (virtual reality exposure therapy): eine Angstbehandlung, bei der Menschen zunehmend mit simulierten Beispielen für ihre größten Ängste konfrontiert werden (z. B. Fliegen in einem Flugzeug, Spinnen, Sprechen vor Publikum). Externale Kontrollüberzeugung (external locus of control): die Wahrnehmung, dass das eigene Schicksal vom Zufall oder von äußeren Kräften bestimmt wird, die sich der eigenen Kontrolle entziehen.
bedeutsame Momente oder Ereignisse. Fluide Intelligenz (fluid intelligence): Fähigkeit eines Menschen, schnell und abstrakt zu denken. Diese Fähigkeit nimmt tendenziell im späten Erwachsenenalter ab. fMRT (funktionelle MRT; functional MRI): ein Verfahren zum Aufweis von Blut-
fluss und damit Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander folgende MRTSchichtaufnahmen miteinander vergleicht. Mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen kann man die Anatomie des Gehirns erkennen, mit Hilfe von fMRTSchichtaufnahmen die Hirnfunktionen.
Extinktion 7 Löschung
Foot-in-the-Door-Technik (foot-in-the-door phenomenon): Neigung von Menschen, die zunächst einer bescheidenen Forderung zugestimmt haben, später auch einer weiter gehenden Forderung zuzustimmen.
Extrinsische Motivation (extrinsic motivation): Wunsch, ein Verhalten wegen
Formatio reticularis (reticular formation): neuronales Netz im Hirnstamm, das
versprochener Belohnungen oder drohender Bestrafung zu zeigen.
eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt.
Faktorenanalyse (factor analysis): statistische Methode zur Identifizierung von
Fötales Alkoholsyndrom (abgek. FAS; fetal alcohol syndrome): körperliche und kognitive Anomalien, verursacht durch mütterlichen Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft. In schweren Fällen kann es zu auffallenden Veränderungen der Gesichtsproportionen kommen.
Gruppen verwandter Items in einem Test; die Itemgruppen bilden zugrunde liegende Faktoren ab. Wird z. B. zum Nachweis verschiedener Leistungsdimensionen eingesetzt, aus denen sich der Gesamttestwert eines Menschen ergibt. Familientherapie (family therapy): behandelt die Familie als Gesamtsystem. Sie geht davon aus, dass das unerwünschte Verhalten des Einzelnen von anderen Familienmitgliedern beeinflusst oder auf sie gerichtet ist, und versucht die Familienmitglieder zu einer positiven Beziehung und besserer Kommunikation zu bringen. Farbkonstanz (color constancy): Fähigkeit, bekannte Gegenstände auch unter
stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die von den Gegenständen reflektierten Wellenlängen verändern, mit gleichbleibender Farbe wahrzunehmen.
Fötus (fetus): Bezeichnung für den sich entwickelnden menschlichen Organis-
mus ab der 9. Woche nach der Empfängnis bis zur Geburt. Fovea (auch Sehgrube, engl. fovea): Punkt des schärfsten Sehens auf der Retina, um den herum die Zapfen des Auges gehäuft vorkommen. Framing-Effekt (framing effect): Auswirkung der Darstellungsweise eines Gegenstands oder Themas; Framing-Effekte können einen großen Einfluss auf Entscheidungen und Urteile ausüben.
953 Glossar
Freie Assoziation (free association): psychoanalytische Methode zur Erfor-
Gegenfarbentheorie (opponent-process theory): Theorie, der zufolge das Far-
schung des Unbewussten, bei der der Patient sich entspannt und alles ausspricht, was ihm durch den Kopf geht, auch wenn es nichtssagend oder peinlich ist.
bensehen auf den retinalen Erregungsverhältnissen der Gegenfarbenpaare beruht (Rot/Grün, Gelb/Blau und Schwarz/Weiß). So werden beispielsweise manche Zellen durch Grün stimuliert und durch Rot gehemmt, andere werden durch Rot stimuliert und durch Grün gehemmt.
Fremdeln (stranger anxiety): Furcht vor Menschen, die dem Kind unbekannt sind. Das Fremdeln tritt allgemein bei Kindern im 8. Lebensmonat erstmals auf. Fremdgruppe (out-group): »Sie« – diejenigen, die als verschieden oder getrennt
Gegenkonditionierung (counterconditioning): Verfahren der Verhaltenstherapie, mit dem neue Reaktionen auf jene Reize konditioniert werden, die ein unerwünschtes Verhalten auslösen; beruht auf dem klassischen Konditionieren. Dazu gehören Techniken wie die o systematische Desensibilisierung und die o Aversionstherapie.
von der eigenen Gruppe wahrgenommen werden. Fremdgruppen-Verzerrung (in-group bias): Tendenz, die eigene Gruppe ande-
Gehör (audition): Sinneskanal des Hörens; dient der Wahrnehmung von Schallwellen.
ren vorzuziehen. Frequenz (frequency): Anzahl von vollständigen Schwingungen, die einen be-
Gene (genes): biochemische Elemente der Vererbung, die die Chromosomen bilden. Gene sind Segmente der DNA, die an der Proteinsynthese beteiligt sind.
stimmten Punkt in einem vorgegebenen Zeitraum durchlaufen (z. B. pro Sekunde). Generalisierte Angststörung (generalized anxiety disorder): Angststörung, deFrequenztheorie (frequency theory): Diese Theorie besagt, dass beim Gehör die
Anzahl der über den Hörnerv übertragenen Nervenimpulse der Frequenz eines Tons entspricht, was uns ermöglicht, die Höhe dieses Tons wahrzunehmen. Frontallappen (frontal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der direkt hinter der
Stirn liegt. Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und an der Planung und Urteilsfindung.
ren Betroffene kontinuierlich angespannt und besorgt sind und die mit einer anhaltenden Erregung des autonomen Nervensystems einhergeht. Genom (genome): enthält die vollständigen Informationen, um einen Organismus herzustellen; besteht aus dem gesamten genetischen Material in den Chromosomen des Organismus. Gerechte-Welt-Glaube (just-world phenomenon): Tendenz von Menschen, zu
Frustrations-Aggressions-Prinzip (frustration-aggression principle): besagt,
dass durch Frustration, d. h. wenn man daran gehindert wird, ein Ziel zu erreichen, Wut entsteht, die zu Aggressionen führen kann.
glauben, dass die Welt gerecht ist und dass Menschen deshalb bekommen, was sie verdienen, und verdienen, was sie bekommen. Geschlecht (sex bzw. gender): in der Psychologie Bezeichnung für die biologisch
Führung (leadership): Einflussnahme mittels Kommunikation zwecks gemein-
samer Aufgabenbearbeitung. Fundamentaler Attributionsfehler (fundamental attribution error): Tendenz, dass ein Beobachter bei der Analyse des Verhaltens eines Menschen den Einfluss der Situation unter- und den Einfluss der persönlichen Veranlagung überschätzt. Funktionale Gebundenheit (functional fixedness): Tendenz, Dinge ausschließlich im Sinne ihrer üblichen Funktion zu sehen; Hindernis bei der Problembewältigung.
(sex) oder sozial beeinflussten (gender) Charakteristika, die Menschen als männlich oder weiblich definieren. Geschlechtsidentität (gender identity): das Gefühl einer Person, Mann oder
Frau zu sein. Geschlechtsrolle (gender role): gesellschaftliche Erwartungen an das Verhalten von Männern und Frauen. Geschlechtsschematheorie (gender schema theory): besagt, dass Kinder ein kulturabhängiges Konzept dazu lernen, was es bedeutet, Mann oder Frau zu sein, und ihr Verhalten danach ausrichten.
Funktionalismus (functionalism): zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA
als Gegenrichtung zum Strukturalismus entstandene psychologische Schule, die hauptsächlich seelische Prozesse und Verhaltensprozesse untersuchte, um eine Antwort auf die Frage zu finden, auf welche Weise diese Prozesse den Organismus befähigen, sich anzupassen, zu überleben und erfolgreich zu sein.
Geschlechtstypisierung (gender-typing): bezeichnet den Erwerb einer traditio-
GAS 7 Allgemeines Adaptationssyndrom
Gestalt (gestalt): organisiertes Ganzes. Die Gestaltpsychologen heben unsere Tendenz hervor, einzelne Informationselemente zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.
Gate-Control-Theorie (gate-control theory): besagt, dass das Rückenmark über
ein neurologisches »Tor« (»gate«) verfügt, das Schmerzsignale aufhält oder zum Gehirn durchlässt. Das »Tor« wird geöffnet durch die Aktivität von Schmerzsignalen, die über feine Nervenfasern nach oben steigen, und geschlossen durch die Aktivität in dickeren Fasern oder durch vom Gehirn kommende Informationen. Gedächtnis (memory): dauerhaftes Fortbestehen von aufgenommenen Informationen über die Zeit; es ermöglicht die Speicherung und das Abrufen von Informationen.
nell männlichen oder weiblichen Rolle. Gesprächspsychotherapie 7 Klientenzentrierte Therapie
Gesundheitspsychologie (health psychology): Teilbereich der Psychologie, der
den Beitrag der Psychologie zur Verhaltensmedizin liefert. g-Faktor 7 Allgemeine Intelligenz Gleichgewichtssinn (auch vestibulärer Sinn, engl. vestibular sense): Sinnessystem zur Wahrnehmung der Bewegung und Lage des Körpers, einschließlich des Gleichgewichtssinns.
954
Anhang
Gliazellen (glial cells): Zellen innerhalb des Nervensystems, die die Neuronen
Heuristik (heuristic): einfache Denkstrategie für effizientere Urteile und Pro-
stützen, ernähren und schützen.
blemlösungen; schneller, aber auch fehleranfälliger als der Algorithmus.
Glukose (glucose): Form des Zuckers, die im Blut zirkuliert und die Hauptenergiequelle für das Körpergewebe darstellt. Sinkt der Glukosespiegel, fühlen wir uns hungrig.
Hindsight-Bias 7 Verzerrung durch nachträgliche Einsicht
Grammatik (grammar): System von Regeln in einer Sprache, mit deren Hilfe wir uns anderen Menschen mitteilen und sie verstehen können.
Hippocampus (hippocampus): Neuronales Zentrum im limbischen System, das an der Verarbeitung expliziter Erinnerungen für die endgültige Speicherung beteiligt ist.
GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction): Schrittweise und wechselseitige Initiativen zur Spannungsreduktion – eine Strategie zur Verringerung internationaler Spannungen. Grundlagenforschung (basic research): reine Wissenschaft zur Vermehrung des Wissens und der Kenntnisse. Grundumsatz (basal metabolic rate): Energiemenge, die ein Körper im Ruhezu-
Hinterhauptslappen 7 Okzipitallappen
Hirnstamm (brain stem): ältester Teil und Kern des Gehirns, der dort beginnt,
wo das Rückenmark in den Schädel eintritt. Der Hirnstamm ist für die automatische Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen zuständig. Homöostase (homeostasis): Tendenz, einen ausgeglichenen und konstanten inneren Zustand aufrechtzuerhalten; Regulation aller Bereiche der Körperchemie, wie z. B. die Regulierung des Blutzuckers auf einer bestimmte Höhe.
stand verbraucht. Gruppendenken (groupthink): Denkweise, die dann auftritt, wenn in einer
Hormone (hormones): meist von den endokrinen Drüsen in einem Gewebe hergestellte chemische Botenstoffe, die andere Gewebe beeinflussen..
Gruppe das Harmoniebedürfnis bei Entscheidungen stärker ist als die realistische Bewertung von Alternativen.
Human-Factors-Psychologie (human factors psychology): Zweig der Arbeits-
Gruppenpolarisierung (group polarization): Extremisierung der in einer Grup-
pe vorherrschenden Einstellungen durch Diskussionen in der Gruppe. Gruppensozialisationstheorie (group socialization theory): Auffassung, dass die Gruppe der Gleichaltrigen (und nicht die Eltern!) den entscheidenden Erziehungseinfluss ausübt. Gruppierung (grouping): Tendenz unserer Wahrnehmung, Stimuli zu kohären-
psychologie, der sich mit der Mensch-Maschine-Interaktion befasst und mit der Frage, wie Maschinen und physikalische Umgebungen sicherer und besser benutzbar gemacht werden können. Humanistische Psychologie (humanistic psychology): historisch bedeutsame
Auffassung, bei der das Wachstumspotenzial gesunder Menschen betont wird; in der Hoffnung, das Wachstum der Persönlichkeit zu fördern, wurden hier Methoden, die auf die individuelle Person zugeschnitten waren, zur Untersuchung der Persönlichkeit genutzt.
ten Gruppen zusammenzufassen. Gültigkeit 7 Validität Habituation (habituation): Abnahme der Reaktionsbereitschaft bei wiederholter Stimulusdarbietung. In dem Maß, wie ein Säugling durch wiederholte Darbietung mit einem visuellen Stimulus vertraut wird, schwindet sein Interesse; er fixiert den Stimulus immer kürzer und wendet früher den Blick ab. Halluzinationen (hallucinations): irrtümliche sensorische Wahrnehmungen wie etwa das Sehen von Objekten ohne äußere visuelle Reize. Halluzinogene (hallucinogens): psychedelische (»bewusstseinserweiternde«) Substanzen, wie LSD, die Wahrnehmungen verzerren und sensorische Bilder ohne sensorischen Input generieren.
Hypnose (hypnosis): soziale Interaktion, in der eine Person (der Hypnotiseur) einer anderen (dem Hypnotisierten) suggeriert, dass bestimmte Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen spontan auftreten. Hypophyse (pituitary gland): wichtigste Drüse des endokrinen Systems. Unter
dem Einfluss des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum und kontrolliert die Aktivität anderer endokriner Drüsen. Hypothalamus (hypothalamus): neuronale Struktur, die unterhalb (»hypo«) des Thalamus liegt. Von hier aus werden die lebenserhaltenden Aktivitäten (wie Essen, Trinken und die Körpertemperatur) gesteuert. Außerdem beeinflusst der Hypothalamus über die Hypophyse das endokrine System und wird mit Emotionen in Zusammenhang gebracht. Hypothese (hypothesis): meist aus einer Theorie abgeleitete überprüfbare Vor-
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R): in Deutsch-
land am häufigsten verwendeter Intelligenztest, zu dem Untertests gehören, die zu einem Verbalteil und einem Handlungsteil (nonverbal) zusammengefasst sind. Handlungstheorie (action theory): Theorie, die das Bewusste und Geplante
hersage. ICD-10 oder Internationale Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases): von der WHO herausgegebenes Klassifikationssystem; im Kapitel V werden psychische Störungen klassifiziert (F-Diagnosen)
menschlichen Verhaltens betont. Ich (ego): der weitgehend bewusst arbeitende »ausführende Teil« der PersönlichHawthorne-Effekt (Hawthorne effect): verzerrender Einfluss bei experimentel-
len Untersuchungen. Nicht die durchgeführte experimentelle Manipulation wirkt sich auf die abhängigen Variablen aus, sondern allein die Tatsache, dass eine Untersuchung durchgeführt wird.
keit, der nach Freuds Meinung einen Kompromiss zwischen den Forderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität sucht. Das Ich arbeitet nach dem Realitätsprinzip und befriedigt die Wünsche des Es auf eine Weise, dass eher Lust als Schmerz zu erwarten ist.
955 Glossar
Identifizierung (identification): Prozess, durch den nach Freuds Auffassung Kinder die Wertvorstellungen ihrer Eltern in ihr eigenes Über-Ich integrieren.
Intelligenztest (intelligence test): ein Verfahren, um die geistigen Fähigkeiten
eines Menschen zu erfassen und sie anhand numerischer Testwerte mit denen anderer zu vergleichen.
Identität (identity): Gefühl für das eigene Selbst. Nach Erikson besteht die Aufgabe der Adoleszenz darin, das Selbstgefühl zu festigen; dabei werden verschiedene Rollen erprobt und ggf. integriert.
Intensität (intensity): Energiemenge von Licht oder Klangwellen, die wir als Hellig-
Ikonisches Gedächtnis (iconic memory): kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis
Interaktion (interaction): Die Auswirkung eines Faktors (z. B. der Umwelt)
für visuelle Eindrücke, ähnlich wie ein Schnappschuss oder ein Bild, das nur wenige Zehntelsekunden lang erinnert werden kann.
hängt von einem anderen Faktor ab (z. B. den Anlagen).
Illusorische Korrelation (illusory correlation): Wahrnehmung eines nicht exi-
stierenden Zusammenhangs. Implizites Gedächtnis (implicit memory): Behalten unabhängig von bewusster
Erinnerung (auch als prozedurales Gedächtnis bezeichnet). Individualismus (individualism): Die Priorität für die eigenen Ziele ist höher als
die für Gruppenziele; die eigene Identität definiert sich eher über persönliche Eigenschaften als über Gruppenmerkmale. Induktive Erziehung (induction; inductive parenting): Erziehungsmaßnahmen, mit denen Eltern die Kinder auf die Auswirkungen von Fehlverhalten auf andere Menschen hinweisen. Informationaler sozialer Einfluss (informational social influence): Einfluss, der sich aus der Bereitschaft eines Menschen ergibt, die Meinungen anderer über die Wirklichkeit anzunehmen. Inhaltsvalidität (content validity): Ausmaß, in dem ein Test das zu testende Verhalten tatsächlich stichprobenartig erfasst (wie bei einer Fahrprüfung stichprobenartig echte Aufgaben aus alltäglichen Fahrsituationen geprüft werden). Innenohr (inner ear): innerster Teil des Ohrs, der u. a. aus Kochlea, Bogengängen und Teilen des Vestibulärapparats besteht. Insomnie (insomnia): wiederholt auftretende Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten Instinkt (instinct): komplexes Verhalten, das bei jedem Mitglied einer Gattung
als Muster festgelegt ist und nicht gelernt werden muss. Instruktion (instruction): Anleitung und Wissensvermittlung im Rahmen von
Unterricht. Intelligenz (intelligence): Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen einzusetzen, um sich an neue Situationen anzupassen.
keit oder Lautstärke wahrnehmen und die von der Amplitude der Wellen abhängt.
Internale Kontrollüberzeugung (internal locus of control): die Wahrnehmung,
dass man seine eigenen Geschicke steuern kann. Internalisierung (internalization): Verinnerlichung (sich zu eigen machen) von
Normen, Regeln und Werten. Internationale Klassifikation der Krankheiten 7 ICD-10 Interneurone (interneurons): Neuronen des Zentralnervensystems, deren Auf-
gabe es ist, die interne Kommunikation zu gewährleisten sowie zwischen sensorischem Input und motorischem Output zu vermitteln. Intimität (intimacy): nach Eriksons Theorie die Fähigkeit, enge Liebesbeziehungen einzugehen. Intimität zulassen zu können, ist die primäre Entwicklungsaufgabe der späten Adoleszenz und der ersten Jahre als junger Erwachsener. Intrinsische Motivation (intrinsic motivation): Wunsch, ein Verhalten effektiv und um seiner selbst willen zu zeigen. Iris (auch: Regenbogenhaut; engl. iris): Ring aus Muskelgewebe, der den farbigen Teil des Auges um die Pupille bildet und als Blende zur Regulierung der Pupillenöffnung fungiert. James-Lange-Theorie (James-Lange theory): sagt aus, dass unsere Emotionserfahrung dadurch entsteht, dass wir uns unserer physiologischen Reaktionen auf emotionserregende Reize bewusst werden. Kameradschaftliche Liebe (companionate love): tiefe, liebevolle Bindung, die wir gegenüber Menschen empfinden, mit denen unser Leben im komplexer Weise verbunden ist. Katharsis: emotionale Befreiung. Die Katharsishypothese der Psychologie sagt aus, dass man sich durch das »Herauslassen« aggressiver Energie (durch Handlungen oder in der Phantasie) von aggressiven Impulsen befreien kann. Kinästhesie (kinesthesis): Fähigkeit zur Wahrnehmung der Richtung und Ge-
schwindigkeit der Bewegungen einzelner Gliedmaßen. Intelligenzalter (mental age): von Binet eingeführtes Maß zur Feststellung der
Intelligenztestleistung; das Lebensalter, das am typischsten einer bestimmten Leistungsebene entspricht. So sagt man, wenn ein Kind die Leistungen eines durchschnittlichen 8-Jährigen vollbringt, es habe ein Intelligenzalter von 8. Intelligenzquotient oder IQ (intelligence quotient): ursprünglich definiert als
das Verhältnis von Intelligenzalter (IA) zum Lebensalter (LA) multipliziert mit 100, nach der Formel: IA IQ = 6 * 100 LA In neueren Intelligenztests wird die durchschnittliche Leistungsfähigkeit einer bestimmten Altersgruppe mit einem Wert von 100 gleichgesetzt.
Klassische Konditionierung (classical conditioning): Form des Lernens, bei der
ein Organismus Reize miteinander assoziiert. Ein neutraler Reiz, der ein Signal für das Auftreten eines unkonditionierten Reizes (US) ist, ruft dann allmählich eine Reaktion hervor, die den unkonditionierten Reiz vorwegnimmt und so tut, als sei er bereits aufgetreten; schließlich ruft der US allein die konditionierte Reaktion hervor (auch als Pawlow’sche oder respondente Konditionierung bezeichnet). Kleinhirn (Zerebellum; cerebellum): »kleines Gehirn« am hinteren Teil des Hirnstamms, das für die Verarbeitung der sensorischen Signale sowie für die Koordination zwischen motorischen Signalen und dem Gleichgewichtssinn zuständig ist.
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Anhang
Klientenzentrierte Therapie (client-centered therapy): von Carl Rogers entwikkelte humanistische Therapie, bei der der Therapeut in einem echten, akzeptierenden und empathischen Setting Techniken wie aktives Zuhören anwendet, um das Wachstum des Klienten zu fördern (auch als nichtdirektive Gesprächstherapie oder als personzentrierte Therapie bezeichnet).
Konditionierter Verstärker (conditioned reinforcer): Reiz, der dadurch verstär-
kend wirkt, dass er mit einem primären Verstärker assoziiert wird; auch bekannt als sekundärer Verstärker. Konflikt (conflict): wahrgenommene Unvereinbarkeit von Handlungen, Zielen oder Ideen.
Klinische Psychologie (clinical psychology): Teildisziplin der Psychologie; kli-
nische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Patienten mit psychischen Störungen.
Konformitätsdruck (conformity): wahrgenommener Druck zur Anpassung des
Kochlea (Schnecke, cochlea): spiralförmig aufgerollte, flüssigkeitsgefüllte knöcherne Röhre im Innenohr, über die die Schallwellen Nervenimpulse auslösen.
Konsensüberschätzung 7 Verzerrung durch falschen Konsens
Kochleaimplantat (cochlear implant): Gerät zur Umwandlung elektrischer Si-
gnale und zur Stimulation des Hörnervs über Elektroden, die in die Kochlea eingefädelt werden. Kognition (cognition): Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusammenhang
mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren. Kognitive Landkarte (cognitive map): mentale Darstellung der eigenen
Umgebung. Beispielsweise verhalten sich Ratten, nachdem sie ein Labyrinth erkundet haben, als hätten sie eine kognitive Landkarte dieses Labyrinths entwickelt. Kognitive Therapie (cognitive therapy): lehrt die Patienten neue, besser an die Realität angepasste Denk- und Handlungsweisen. Die kognitive Therapie beruht auf der Annahme, dass zwischen Ereignissen und emotionalen Reaktionen Gedanken vermittelnd Einfluss nehmen. Kognitive Verhaltenstherapie (cognitive behavior therapy): verbreitete integrative Therapie, bei der die Techniken der kognitiven Therapie (Veränderung der selbstabwertenden Gedankenmuster) mit den Techniken der Verhaltenstherapie (Verhaltensänderung) kombiniert werden. Kohorte (cohort): Population, deren Mitglieder im selben Zeitraum geboren
wurden. Kollektives Unbewusstes (collective unconscious): Carl Jungs Konzept einer ge-
meinsamen Erbmasse von Erinnerungsspuren aus der Geschichte unserer Art. Kollektivismus (collectivism): Die Ziele der Gruppe (oft die Großfamilie oder die Arbeitsgruppe) haben Priorität, die Definition der eigenen Identität richtet sich an ihnen aus. Komplementäre und alternative Medizin (complementary and alternative medicine): Wissenschaftlich nicht belegte Behandlungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung, die i. Allg. nicht in den medizinischen Fakultäten gelehrt, nicht in den Krankenhäuser praktiziert und gewöhnlich nicht von den Krankenkassen erstattet werden. Konditionierte Reaktion (CR), auch bedingte Reaktion (conditioned response):
in der klassischen Konditionierung die gelernte Antwort auf einen zunächst neutralen konditionierten Reiz (CS). Konditionierter Stimulus (CS), auch unbedingter Stimulus (unconditioned stimulus): in der klassischen Konditionierung ein zunächst bedeutungsloser Reiz, der nach der Assoziation mit einem unkonditionierten Reiz (US) eine konditionierte Reaktion auslöst.
Verhaltens oder Denkens, um mit dem Gruppenstandard übereinzustimmen.
Kontingenzmodell (contingency model): beschreibt Führung als das Ergebnis
situationsabhängiger Prozesse, die zwischen Führungsverhalten und Führung vermitteln. Kontinuierliche Verstärkung (continuous reinforcement): Verstärkung der er-
warteten Reaktion bei jedem Auftreten. Kontrollbedingung (control condition): Bedingung eines Versuchs, die im Gegensatz zur Versuchsbedingung steht und bei der Evaluation der Wirkung als Vergleich herangezogen wird. Konvergenz (convergence): binokulares Merkmal für die Tiefenwahrnehmung. Der Grad, um den sich die Augen beim Ansehen eines Objekts nach innen drehen. Koronare Herzkrankheit (coronary heart disease): zusammenfassende Bezeichnung für alle Erkrankungen, bei denen die Sauerstoffversorgung des Herzmuskels durch verstopfte Gefäße beeinträchtigt ist; eine der Haupttodesursachen in vielen Industrienationen. Korrelationskoeffizient (correlation coefficient): statistische Maßzahl, die das
Ausmaß und die Richtung des Zusammenhangs zwischen zwei oder mehr Merkmalsvariablen angibt. Der Korrelationskoeffizient sagt aus, wie gut eine Variable die Veränderung der anderen Variablen angibt. Kreativität (creativity): Fähigkeit, neuartige und wertvolle bzw. nützliche Ideen
hervorzubringen. Kristalline Intelligenz (crystallized intelligence): gesammeltes Wissen und Ausdrucksfähigkeit eines Menschen. Diese Form der Intelligenz steigt im Alter tendenziell an. Kriterium (criterion): Verhalten (z. B. tatsächliches Wahlverhalten), das mit einem Test (z. B. Fragen zur Parteipräferenz) korreliert sein soll; bei hoher Korrelation besitzt der Test Kriteriumsvalidität. Kritische Phase (critical period): Wird ein Organismus zu diesem optimalen
Zeitpunkt bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt, so wird der angemessene Entwicklungsprozess in Gang gesetzt. Kritisches Denken (critical thinking): Art zu denken, die Argumente und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst. Kultur (culture): Gesamtheit von Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellun-
gen und Traditionen einer großen Bevölkerungsgruppe, die von einer Generation zur nächsten überliefert werden.
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Kurzsichtigkeit (auch Myopie, engl. nearsightedness): Sehanomalie, bei der Gegenstände in der Nähe schärfer gesehen werden als entfernte Objekte, da sich die einfallenden Lichtstrahlen schon vor der Netzhaut überschneiden. Kurzzeitgedächtnis (short-term memory): aktiviertes Gedächtnis, das einige
Informationsinhalte für kurze Zeit festhält (wie z. B. die 7 Ziffern einer Handynummer ohne Vorwahl), um sie dann entweder abzuspeichern oder zu vergessen. Lallstadium (babbling stage): beginnt mit 3–4 Monaten. Die Phase der Sprachentwicklung, in der ein Säugling spontan verschiedene Laute hervorbringt, zunächst auch solche, die nicht in der Sprache seiner Umgebung vorkommen. Längsschnittstudie (longitudinal study): eine wissenschaftliche Methode, bei
der die gleichen Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder untersucht und getestet werden. Langzeitgedächtnis (long-term memory): relativ zeitüberdauernder und unbe-
grenzt aufnahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems. Dazu gehören Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen. Läsion (lesion): Zerstörung von Gewebe. Eine Hirnläsion ist eine auf natürliche Weise oder durch ein Experiment entstandene Zerstörung von Hirngewebe. Latenter Trauminhalt (latent content): nach Freud die verborgene Bedeutung eines Traumes (im Gegensatz zum manifesten Inhalt). Freud war davon überzeugt, dass der latente Inhalt von Träumen die Funktion eines Sicherheitsventils hat. Latentes Lernen (latent learning): Form des Lernens, die erst sichtbar wird, wenn ein Anreiz besteht, das Gelernte zu zeigen. Leidenschaftliche Liebe (passionate love): erregter Zustand intensiven, voll-
kommenen Ineinander-Aufgehens, der in der Regel zu Beginn einer Liebesbeziehung auftritt. Leistungsmotivation (achievement motivation): Ausmaß des Strebens nach herausragenden Leistungen; beinhaltet einen Wunsch nach Kontrolle und nach schnellem Erreichen eines hohen Standards. Leistungstest (achievement test): Test, mit dem erfasst werden soll, was eine
Lobotomie (lobotomy): heute nur noch sehr selten durchgeführter psychochir-
urgischer Eingriff; früher angewendet, um unkontrollierbar emotionale oder gewalttätige Patienten ruhigzustellen. Bei dem Eingriff wurden die Nervenverbindungen zwischen den Frontallappen und den emotionssteuernden Zentren im Inneren des Gehirns durchtrennt. Löschung oder Extinktion (extinction): kontinuierliches Schwächerwerden der konditionierten Reaktion. In der klassischen Konditionierung tritt Löschung ein, wenn dem konditionierten Reiz kein unkonditionierter Reiz folgt; in der operanten Konditionierung geschieht dies, wenn eine Reaktion nicht mehr verstärkt wird. LPC-Maß (LPC measure): Beschreibung des am wenigsten geschätzten Mitarbei-
ters als Maß für die Mitarbeiterorientierung eines Vorgesetzten. Eine mitarbeiterorientierte Führungskraft zeichnet sich dadurch aus, dass sie diesen noch relativ positiv sieht. LSD oder Lysergsäurediethylamid (lysergic acid diethyl amide): starke halluzinogene Droge, auch als »Acid« bekannt. Lymphozyten (lymphocytes): zwei Arten von weißen Blutkörperchen, die zum körpereigenen Immunsystem gehören. B-Lymphozyten werden im Knochenmark gebildet und setzen Antikörper frei, die bakterielle Infektionen bekämpfen. T-Lymphozyten werden in der Thymusdrüse gebildet und haben unter anderem die Aufgabe, Krebszellen, Viren und körperfremde Substanzen anzugreifen. Lysergsäurediethylamid 7 LSD Major Depression (major depressive disorder): affektive Störung, bei der ein
Mensch ohne ersichtlichen Grund für 2 Wochen oder länger eine depressive Stimmung, ein Gefühl der Wertlosigkeit und ein vermindertes Interesse oder nur wenig Freude an den meisten Aktivitäten verspürt. Mandelkern 7 Amygdala Manifester Trauminhalt (manifest content): nach Freud die erinnerte Handlung eines Traumes (im Unterschied zu seinem latenten Inhalt). Manische Episode (manic episode): Phase einer affektiven Störung, die durch
einen hyperaktiven, überaus optimistischen Zustand charakterisiert ist. Markscheide 7 Myelinschicht
Person in einem bestimmten Bereich gelernt hat.
MDMA 7 Ecstasy
Lernen (learning): relativ dauerhafte Veränderung im Verhalten eines Organis-
Median (median): teilt die Werte einer Verteilung genau in der Mitte. Eine Hälf-
mus aufgrund von Erfahrung. Limbisches System (limbic system): ringförmiges neuronales System zwischen dem Hirnstamm und den zerebralen Strukturen. Die Aktivität des Systems wird in Zusammenhang gebracht mit Gefühlen wie Angst und Aggression sowie dem Nahrungs- und Sexualtrieb. Zum limbischen System gehören der Hippocampus, die Amygdala und der Hypothalamus.
te der Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes. Medizinisches Modell (medical model): Konzept, dass Krankheiten auf physi-
schen Ursachen beruhen, die diagnostiziert, behandelt und in den meisten Fällen auch geheilt werden können. Wird es auf psychische Störungen angewandt, so setzt dieses medizinische Modell voraus, dass diese seelischen Krankheiten auf der Basis ihrer Symptome diagnostiziert und durch Therapien geheilt werden kann; dazu kann auch die Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehören.
Linguistischer Determinismus (linguistic determinism): inzwischen umstrittene Hypothese, dass die Sprache unsere Denkweise determiniert (auch linguistischer Relativismus genannt).
Medulla oblongata (medulla oblongata): unterer Teil des Hirnstamms, der Herzschlag und Atmung kontrolliert.
Linguistischer Relativismus 7 Linguistischer Determinismus
Mengenerhaltung oder quantitative Invarianz (conservation): Wissen, dass
Linse (lense): durchsichtiger Körper hinter der Pupille, der zu Scharfstellung der
Masse, Volumen und Anzahl von Gegenständen gleich bleiben, wenn diese die Form verändern. Piaget hielt das Erfassen dieses Prinzips für einen Bestandteil des konkret-operatorischen Denkens.
Bilder auf der Retina seine Form verändern kann.
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Anhang
Menopause (menopause): das natürliche Ende der Menstruation. Bezieht sich auch auf die biologischen Veränderungen, die mit der Abnahme der Reproduktionsfähigkeit der Frau einhergehen. Mentale Retardierung (mental retardation): Verzögerung der intellektuellen
Entwicklung oder Beschränkung der geistigen Fähigkeiten, gekennzeichnet durch einen IQ von unter 70 und Schwierigkeiten, den Anforderungen des normalen Alltagslebens gerecht zu werden. Der Grad der Retardierung reicht von leichter bis zu schwerster Retardierung.
Monismus (monism): Annahme, dass Seele und Körper zwei unterschiedliche Aspekte desselben sind. Monokulare Hinweisreize (monocular cues): Entfernungsmerkmale, wie lineare Perspektive und Überlappung, die jedes Auge für sich alleine erkennen kann. Morphem (morpheme): kleinster bedeutungstragender Baustein einer Sprache;
kann ein Wort oder ein Wortbestandteil sein. Motivation (motivation): Zustand des Motiviertseins; Motive sind angeborene
Mentales Set (mental set): Tendenz, ein Problem auf eine bestimmte Weise anzu-
packen, insbesondere auf eine in der Vergangenheit erfolgreiche Weise, die beim Lösen dieses neuen Problems hilfreich sein kann, aber nicht hilfreich sein muss. Mere-Exposure-Effekt (mere exposure effect): Phänomen, dass die wiederholte bloße Darbietung neuer Reize dazu beiträgt, daran Gefallen zu finden.
Dispositionen, die Verhalten auslösen, ihm Intensität und Richtung verleihen. Motoneurone (motor neurons): Neuronen, die den Muskeln und Drüsen die Informationen vom Zentralnervensystem übermitteln. Motorischer Kortex (motor cortex): hinterer Teil des Frontallappens, der die Willkürbewegung steuert.
Merkmalsdetektoren (feature detectors): Nervenzellen im Gehirn, die auf be-
stimmte Merkmale von Reizen (z. B. Form, Winkel oder Bewegung) reagieren.
Multiple Persönlichkeitsstörung 7 Dissoziative Identitätsstörung
Metaanalyse (meta-analysis): Verfahren zur statistischen Zusammenfassung
Mutation (mutation): Zufallsfehler bei der Genreplikation, der zu einer Veränderung führt.
der Resultate vieler unterschiedlicher Studien. Metamphetamine (methamphetamines): eine starke, süchtig machende Droge,
die das Zentralnervensystem stimuliert; sie geht mit beschleunigten Körperfunktionen und Veränderungen in Bezug auf Energie und Stimmung einher; mit der Zeit scheint sie das Ausgangsniveau des Dopaminspiegels zu verringern. Minnesota Multiphasic Personality Inventory, abgek. MMPI (i. Allg. nicht übersetzt, Minnesota Mehrphasiges Persönlichkeitsinventar): der am besten erforschte und in den USA am häufigsten klinisch angewandte Persönlichkeitstest. Ursprünglich entwickelt zur Diagnose emotionaler Störungen (was auch heute noch als sein bestes Einsatzgebiet gilt). Er wird heute für vielfältige andere Zwekke wie etwa zur Vorsorge eingesetzt. Mittelohr (middle ear): Kammer zwischen Trommelfell und Kochlea; sie enthält
3 Knöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die dafür sorgen, dass sich die Schwingungen des Trommelfells auf das ovale Fenster der Kochlea konzentrieren. Mittelwert oder arithmetisches Mittel (mean): wird berechnet durch die Addition sämtlicher Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl der Werte dividiert. MMPI 7 Minnesota Multiphasic Personality Inventory Mnemotechniken (mnemonics): Gedächtnishilfen, insbesondere jene Techniken, die eindringliche Bilder und Ordnungsstrukturen nutzen.
Myelinschicht (auch Markscheide; myelin sheath): Schicht von fettreichem Gewebe, das die Axone vieler Neuronen abschnittsweise umspannt. Durch die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung erhöht, weil die Impulse von einem Knoten (Ranvier-Schnürring) zum nächsten springen. Myopie 7 Kurzsichtigkeit Nahtoderfahrung (near-death experience): veränderter Bewusstseinszustand, der häufig von Menschen erlebt wird, die dem Tod nahe sind (z. B. bei einem Herzstillstand); ähnelt oft drogeninduzierten Halluzinationen. Narkolepsie (narcolepsy): Schlafstörung, die durch unkontrollierbare Schlafattacken gekennzeichnet ist. Betroffene Personen fallen unter Umständen direkt in REM-Schlafstadien, oft zu den unpassendsten Gelegenheiten. Natürliche Selektion (natural selection): Prinzip, dass aus der Menge der ererbten Merkmalsvarianten eher diejenigen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, die zu vermehrter Reproduktion und zum Überleben führen. Nebennieren (adrenal glands): Paar endokriner Drüsen direkt oberhalb der Niere. Sie schütten die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin) und Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den Körper bei Stresssituationen in Erregung versetzen. Negative Verstärkung (negative reinforcement): Zunahme der Häufigkeit eines
ist, dass das Opfer wiederholt und systematisch aggressiven Akten eines oder mehrerer Täter ausgesetzt ist; bei Kindern häufig auch als Bullying bezeichnet.
Verhaltens, wenn negative Reize wie ein Elektroschock nicht mehr oder schwächer dargeboten werden. Ein negativer Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er nach einer Reaktion entfernt wird, die Reaktion bekräftigt. (Beachten Sie bitte, dass negative Verstärkung nicht dasselbe wie Bestrafung ist.)
Modalwert (mode): der in einer Verteilung am häufigsten auftretende Wert.
Nerven (nerves): neuronale »Kabel«, die aus vielen Axonen bestehen. Diese ge-
Modelllernen (modeling): Prozess des Beobachtens und Nachahmens eines be-
bündelten Axone, die Teil des peripheren Nervensystems sind, verbinden das zentrale Nervensystem mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen.
Mobbing (mobbing): spezielle Form der Aggression, die dadurch charakterisiert
stimmten Verhaltens. Molekulargenetik (molecular genetics): Teilgebiet der Biologie, das sich mit der
Untersuchung der molekularen Struktur und Funktion von Genen befasst.
Nervensystem (nervous system): elektrochemisches Hochgeschwindigkeitskommunikationsnetz in unserem Körper, das aus allen Nervenzellen des peripheren und zentralen Nervensystems besteht.
959 Glossar
Nervenzelle 7 Neuron Neuron (neuron): Nervenzelle, der Grundbaustein des Nervensystems.
Operationale Definition (operational definition): Festlegung der Vorgehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als das, was ein Intelligenztest misst.
Neuronale Netze (neural networks): miteinander verbundene Nervenzellen. Die
Netze können durch Erfahrung lernen, da die Verbindungen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, durch Rückkopplung verstärkt oder geschwächt werden. Mit Computerprogrammen, die neuronale Netze nachbilden, kann diese Art von Lernen simuliert werden.
Opiate (opiates): Opium und seine Derivate wie Morphium und Heroin vermin-
dern die neuronale Aktivität und lindern daher zeitweise Schmerzen und Angstgefühle. Organisationsform (form of organization): bezieht sich auf die Unterscheidung
Neurotische Störung (neurotic disorder): psychische Störung, die normalerwei-
se zwar belastend ist, aber dennoch rationales Denken und soziale Funktionsfähigkeit gestattet. Neurotransmitter (neurotransmitter): chemische Botenstoffe, die den synapti-
schen Spalt zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe werden vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet und wandern über den Spalt zum postsynaptischen Neuron, wo sie an Rezeptorenmoleküle gebunden werden. Damit haben die Neurotransmitter einen Einfluss darauf, ob in der postsynaptischen Zelle ein neuronaler Impuls entsteht. Norm (norm): allgemein verstandene Regel für akzeptiertes und erwartetes Verhalten. Normen schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor.
von Ein- und Mehrliniensystemen, d. h. auf die Regelung von Weisungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten. Organisationspsychologie (organizational psychology): befasst sich mit Bedingungen, Abläufen und Konsequenzen des Handelns von Menschen in Organisationen, mit Problemen betrieblicher und institutioneller Zusammenarbeit. Organisationsstruktur (structure of organization): Gesamtheit aller formalen
Regelungen zur Arbeitsteilung und zur Koordination von Leistung und Verhalten der Mitglieder einer Organisation. Ortstheorie (place theory): Diese Theorie besagt, dass beim Gehör jede Tonhö-
he der Erregung eines bestimmten Orts der Basilarmembran der Kochlea entspricht.
Norm der sozialen Verantwortung (social-responsibility norm): Erwartung,
dass wir denen, die von uns abhängig sind, helfen sollten. Normalverteilung (normal curve): symmetrische, glockenförmige Kurve, mit der die Verteilung vieler körperlicher und psychischer Merkmale beschrieben wird. Die meisten Werte liegen im Bereich unmittelbar links und rechts des Durchschnitts. Je weiter man sich zu den Extremen hin bewegt, desto weniger Werte findet man.
Östrogen (estrogen): Geschlechtshormon, das bei Frauen in größerem Umfang vorkommt als bei Männern. Bei nichtmenschlichen weiblichen Säugetieren erreicht der Östrogenspiegel beim Eisprung seinen Höhepunkt und regt die sexuelle Empfänglichkeit an. Pädagogische Psychologie (educational psychology): hat das Ziel, Erziehung
aus der Perspektive und mit den Mitteln der Psychologie zu erforschen.
Normativer sozialer Einfluss (normative social influence): Einfluss, der sich aus
Panikstörung (panic disorder): Angststörung, die sich durch Episoden intensi-
dem Wunsch einer Person ergibt, Zustimmung zu bekommen und Ablehnung zu vermeiden.
ver Angst auszeichnet, die einige Minuten andauern und in denen die Betroffenen Todesangst erleben, verbunden mit Schmerzen im Brustkorb, dem Gefühl zu ersticken oder anderen Furcht erregenden Empfindungen.
Normierung (standardization): Festlegung sinnvoller Werte durch den Vergleich
mit den Werten einer zuvor getesteten Normierungsstichprobe; auch Eichung oder Standardisierung genannt. Objektpermanenz (object permanence): Wissen, dass ein Gegenstand weiterhin
existiert, auch wenn er gerade nicht wahrgenommen werden kann. Ödipuskomplex (Oedipus complex): nach Freud die sexuellen Wünsche von Söhnen gegenüber der Mutter und die damit verbundenen Gefühle von Hass und Eifersucht gegenüber dem Vater, der als Rivale erlebt wird.
Parallelverarbeitung (parallel processing): gleichzeitiges Verarbeiten mehrerer Aspekte eines Problems. Die natürliche Arbeitsweise des Gehirns bei der Informationsverarbeitung für eine Vielzahl von Funktionen, u. a. beim Sehen. Es handelt sich dabei um das Gegenteil der schrittweisen (seriellen) Verarbeitung der meisten Computer und der bewussten Problemlösung. Parapsychologie (parapsychology): beschäftigt sich mit paranormalen Phänomenen wie außersinnlicher Wahrnehmung und Psychokinese. Parasympathikus (parasympathetic nervous system): Teil des vegetativen Ner-
Okzipitallappen (occipital lobes): Teil des zerebralen Kortex, der am Hinterkopf
liegt. Umfasst den visuellen Kortex, in dem visuelle Informationen aus dem gegenüberliegenden Blickfeld ankommen.
vensystems, der für Beruhigung sorgt und es damit dem Körper ermöglicht, neue Energie zu speichern. Parietallappen (parietal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der oben und hinten
Operante Konditionierung (operant conditioning): Form des Lernens, bei der
ein Verhalten dadurch zunimmt, dass ihm ein Verstärker folgt, oder abnimmt, weil eine Bestrafung folgt. Operantes Verhalten (operant behavior): Verhalten, das auf die Umgebung ein-
wirkt und Konsequenzen verursacht.
am Kopf liegt. Erhält sensorische Signale für Berührungen und Körperposition. Partielle (intermittierende) Verstärkung (partial oder intermittent reinforcement): nur gelegentliche Verstärkung einer Reaktion. Intermittierende Verstärkung führt zu langsamerem Erlernen einer Reaktion, ist aber deutlich löschungsresistenter als eine durch kontinuierliche Verstärkung erlernte Reaktion.
960
Anhang
Pavor nocturnus (night terrors): hohes Erregungsniveau und ein Gefühl starker
Placeboeffekt (placebo effect): Ergebnis eines Experiments, bei dem die Wir-
Angst sind typisch für diese Schlafstörung. Im Gegensatz zu Albträumen kommt es innerhalb der ersten 2–3 Stunden des Schlafes zu diesen Phasen nächtlicher Panik; in der Regel können sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht daran erinnern.
kung ausschließlich durch die Erwartung einer Wirkung zustande kommt. Jede Auswirkung auf das Verhalten, die durch die Verabreichung einer unwirksamen Substanz hervorgerufen wird, von der der Versuchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie wirkt, ist auf den Placeboeffekt zurückzuführen.
Pawlow’sche Konditionierung 7 Klassische Konditonierung
Plastizität (plasticity): Fähigkeit des Gehirns sich anzupassen, wie sie z. B. in der neuronalen Reorganisation nach einer Verletzung (vor allem bei Kindern) oder in Experimenten zur Auswirkung der Erfahrung auf die Gehirnentwicklung deutlich wird.
Peripheres Nervensystem (PNS; peripheral nervous system): sensorische Neuronen und Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem (ZNS) mit dem Rest des Körpers verbinden, sowie die Neuronen des autonomen Nervensystems, also der Sympathikus und der Parasympathikus.
Polygraph: misst die physiologischen Reaktionen, die mit Emotionen einherge-
Permissiver Erziehungsstil (permissive parenting): Eltern sind wenig lenkend
hen (wie Änderungen in der Schweißproduktion, im Herzschlag und in der Atmung); wird meist mit dem Ziel verwendet, Lügen aufzudecken.
und kontrollierend, stellen wenig Anforderungen und überlassen es dem Kind, sich selbst zu steuern.
Population (population): sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der eine Stichpro-
be für eine Studie gezogen wird. Personalauswahl (personnel selection): Ermittlung der Person, die für eine Auf-
gabe möglichst gut geeignet ist. Persönliche Kontrolle (personal control): unser Gefühl, die Umwelt unter Kon-
trolle zu haben, statt uns hilflos zu fühlen. Persönlicher Raum (personal space): Pufferzone, die wir gerne um unseren Körper herum aufrechterhalten. Persönlichkeit (personality): das für ein Individuum charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Persönlichkeitsinventar (personality inventory): Fragebogen, bei dem die
Probanden auf Items (oft mit Richtig-falsch-Items oder Aussagen, die mit »stimme zu – stimme nicht zu« zu beantworten sind) antworten, die so konzipiert sind, dass sie einen weiten Bereich von Gefühlen und Verhaltensweisen abdecken; wird zur Erfassung ausgewählter Persönlichkeitsmerkmale eingesetzt.
Positive Psychologie (positive psychology): wissenschaftliche Untersuchung der optimalen Funktionsfähigkeit des Menschen; hat zum Ziel, die Stärken und guten Eigenschaften zu entdecken und zu fördern, die das Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglichen. Positive Verstärkung (positive reinforcement): Zunahme der Häufigkeit eines Verhaltens, wenn positive Reize wie Essen dargeboten werden. Ein positiver Verstärker ist jeder Reiz, der, wenn er dargeboten wird, die Reaktion bekräftigt. Positronenemissionstomographie (PET; positron-emission tomography):
Form der Visualisierung von Gehirnaktivität. Dem Patienten wird radioaktiv markierte Glukose injiziert, deren Verteilung im Gehirn beobachtet werden kann, während er eine vorgegebene Aufgabe ausführt. Posthypnotische Suggestion (posthypnotic suggestion): Suggestion, die während einer Hypnosesitzung gegeben wird, aber erst nach Auflösung der Hypnose ausgeführt werden soll; wird von einigen Hypnotherapeuten verwendet, um unerwünschte Symptome und Verhaltensweisen besser zu kontrollieren.
Persönlichkeitsstörung (personality disorder): psychische Störung, die gekenn-
zeichnet ist durch unflexible, andauernde Verhaltensmuster, die die soziale Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Phänomen »Fühl dich gut, und du tust etwas Gutes« (feel-good, do-good phenomenon): die Tendenz von Menschen, hilfreich zu sein, wenn sie bereits in einer guten Stimmung sind. Phi-Phänomen (phi phenomenon): Scheinbewegung, die durch 2 oder mehr nebeneinander angeordnete Lichter erzeugt wird, die in rascher Folge an- und ausgehen.
Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD; posttraumatic stress disorder):
Angststörung, die charakterisiert ist durch quälende Erinnerungen, Flashbacks, Albträume, sozalen Rückzug, Angstattacken und /oder Schlaflosigkeit; tritt nach einem traumatischen Ereignis auf und hält 4 Wochen oder länger an. Prägung (imprinting): Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung eines Bindungsverhaltens führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen Phase.
Phobie (phobia): Angststörung, gekennzeichnet durch anhaltende, irrationale
Präoperatorisches Stadium (preoperational stage): In Piagets Theorie wird mit diesem Begriff die Phase (etwa vom 2. bis zum 6. oder 7. Lebensjahr) bezeichnet, in der ein Kind lernt, Sprache zu verwenden, jedoch die Denkoperationen der konkreten Logik noch nicht begreift.
Angst und Vermeidung eines spezifischen Objekts oder einer bestimmten Situation.
Prävalenz (prevalence): Anzahl der Erkrankungsfälle einer bestimmten Erkran-
Phonem (phoneme): kleinste unterscheidbare Lauteinheit in einer gesprochenen
kung zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder innerhalb einer bestimmten Zeitperiode (z. B. Lebenszeitprävalenz).
Sprache. Primacy-Effekt 7 Serieller Positionseffekt Physische (körperliche) Abhängigkeit (physical dependence): physisches Be-
dürfnis nach der Droge, gekennzeichnet durch unangenehme Entzugssymptome beim Absetzen der Droge.
Primäre Geschlechtsmerkmale (primary sex characteristics): zur Fortpflanzung
nötige Organe und Strukturen (Eierstöcke, Hoden und äußere Genitalien).
961 Glossar
Primärer Verstärker (primary reinforcer): angeborener verstärkender Reiz, der beispielsweise ein natürliches Bedürfnis befriedigt. Priming (priming): häufig unbewusst erfolgende Aktivierung spezieller Assoziationen im Gedächtnis aufgrund von Vorerfahrungen mit den betreffenden Informationen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die Reaktion in bestimmter Weise empfänglich gemacht. Proaktive Interferenz oder proaktive Hemmung (proactive interference): Störeffekt von früher Gelerntem auf die Reproduktion neuer Informationen. Problemfokussierte Bewältigung (problem-focused coping): Versuch, den
Stress direkt zu verringern, indem wir den Stressor selbst oder die Art und Weise ändern, wie wir damit umgehen. Projektion (projection): Abwehrmechanismus, durch den Personen die eigenen
bedrohlichen Impulse dadurch verbergen, dass sie sie anderen Menschen zuschreiben. Projektiver Test (projective text): Persönlichkeitstest (z. B. Rorschach-Test oder
TAT), bei dem vieldeutige Reize so entworfen wurden, dass sie eine Projektion der inneren Dynamik des Probanden hervorrufen. Prosoziales Verhalten (prosocial behavior): positives, konstruktives, hilfsberei-
tes Verhalten. Das Gegenteil von antisozialem Verhalten. Prototyp (prototype): Vorstellungsbild oder typisches Beispiel für eine Katego-
rie. Wenn man neue Wahrnehmungen mit dem Prototyp abgleicht, hat man ein schnelles und einfaches Verfahren, Wahrnehmungen in Kategorien zu sortieren (z. B. wenn man gefiederte Lebewesen mit prototypischen Vögeln wie dem Spatz vergleicht). Psychiatrie (psychiatry): Teildisziplin der Medizin, wird von Ärzten mit Fach-
arztausbildung (Psychiater) ausgeübt. Psychiater dürfen psychische Störungen mit Psychotherapie, aber auch mit Psychopharmaka behandeln. Psychische Abhängigkeit (psychological dependence): psychisches Verlangen nach einer Droge, um negative Gefühle zu dämpfen. Psychische Störung (psychological disorder): Verhaltens- und Erlebensweise
eines Menschen, die von der Norm abweicht und für die betroffene Person oder die Gesellschaft mit Beeinträchtigungen verbunden ist. Sie ist gekennzeichnet durch ein atypisches, störendes, unangepasstes und rational nicht zu rechtfertigendes Verhalten.
Psychologische Beratung (counseling psychology): ein Zweig der Psychologie,
der Klientenbei Problemen hilft, die sie im Leben (oft in Bezug auf Schule, Arbeit oder Ehe) oder beim Erreichen eines besseren Allgemeinzustands haben. Psychopharmakon (psychotropic drug): Medikament, das eine steuernde Wir-
kung auf die psychischen Abläufe im Menschen ausübt und in der Medizin zur Behandlung psychischer Störungen eingesetzt wird. Psychophysik (psychophysics): Untersuchung der Beziehungen zwischen den physikalischen Merkmalen von Reizen, z. B. Reizintensität, und unserem psychischen Erleben dieser Reize. Psychophysiologische Krankheit (psychophysical illness): körperliche Krankheit, die mit Stress in Zusammenhang steht, z. B. Bluthochdruck und bestimmte Formen von Kopfschmerzen; nicht zu verwechseln mit Hypochondrie, der Fehlinterpretation einer normalen körperlichen Empfindung als Krankheitssymptom. Psychosexuelle Phasen (psychosexual stages): Entwicklungsphasen in der Kindheit (oral, anal, phallisch, latent und genital), in denen sich laut Freud die Lust suchenden Energien des Es auf bestimmte erogene Zonen richten. Psychotherapie (psychotherapy): emotionsgeladene, vertrauensvolle Interakti-
on zwischen einem ausgebildeten Therapeuten und einem Menschen mit psychischen Problemen. Psychotische Störung (psychotic disorder): psychische Störung, bei der der
Patient den Kontakt zur Realität verliert. Er erlebt irrationale Gedanken und Wahrnehmungsverzerrungen. PTSD 7 Posttraumatische Belastungsstörung Pubertät (puberty): Zeit, in der der menschliche Körper die Geschlechtsreife
und damit die biologische Fortpflanzungsfähigkeit erlangt. Punktdiagramm 7 Streudiagramm Pupille (pupil): regulierbare Öffnung in der Mitte des Auges, durch die das Licht
einfällt. Qualitätszirkel (quality circle): Gesprächsgruppen von maximal 10 Mitarbeitern eines Arbeitsbereichs, die arbeitsbezogene Themen untersuchen und Lösungsvorschläge erarbeiten. Quantitative Invarianz 7 Mengenerhaltung
Psychoaktive Substanz (psychoactive drug): ein chemischer Stoff, der Wahr-
nehmungen und Stimmungen verändert.
Quellenamnesie oder Quellen-Fehlattribution (source amnesia): Man ordnet
Psychoanalyse (psychoanalysis): Freuds Persönlichkeitstheorie, die alle unsere
ein Ereignis oder etwas, was man erlebt, gehört, gelesen oder sich vorgestellt hat, nicht der richtigen Quelle zu. Zusammen mit dem Fehlinformationseffekt ist die Quellenamnesie der Ursprung vieler falscher Erinnerungen.
Gedanken und Handlungen unbewussten Motiven und Konflikten zuschreibt; der Begriff umschreibt auch die bei der Behandlung psychischer Störungen verwendeten Techniken, mit deren Hilfe unbewusste Spannungen aufgedeckt und interpretiert werden.
Querschnittstudie (cross-sectional study): eine Vorgehensweise, bei der zu einem Untersuchungszeitpunkt Menschen verschiedener Altersstufen miteinander verglichen werden.
Psychochirurgie (psychosurgery): chirurgischer Eingriff zur Entfernung oder
Zerstörung von Hirngewebe mit dem Ziel, dadurch eine Verhaltensänderung zu bewirken. Psychologie (psychology): Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen
Prozessen.
Randomisierung (Zufallszuweisung; random assignment): Die Teilnehmer an
der Versuchs- und an der Kontrollbedingung werden zufällig ausgewählt. Dadurch wird es höchst unwahrscheinlich, dass die beiden Gruppen sich vorher bereits unterscheiden und somit der Versuchseffekt nicht eindeutig auf die Versuchsbedingungen zurückgeführt werden kann.
962
Anhang
Rationalisierung (rationalization): Abwehrmechanismus, der eine Erklärung und Rechtfertigung des eigenen Verhaltens liefert, statt sich mit den echten bedrohlichen, unbewussten Handlungsmotiven auseinanderzusetzen. Reaktionsbildung (reaction formation): Abwehrmechanismus, bei dem das Ich
inakzeptable Triebregungen unbewusst in ihr Gegenteil umwandelt. Manchmal bringen Menschen Gefühle zum Ausdruck, die das Gegenteil der eigenen Angst erregenden unbewussten Gefühle sind.
eines Experiments sich auf andere Versuchsteilnehmer und andere Situationen übertragen lassen. Repräsentativitätsheuristik (representativeness heuristic): Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Aussagen je nachdem, wie genau sie bestimmte Prototypen darstellen oder ihnen entsprechen; kann dazu führen, dass andere wichtige Informationen unbeachtet bleiben. Respondente Konditionierung 7 Klassische Konditonierung
Recency-Effekt 7 Serieller Positionseffekt Respondentes Verhalten (respondent behavior): Verhalten, das als automatiReflex (reflex): einfache, automatische, angeborene Reaktion auf einen sensori-
schen Reiz, wie z. B. der Kniesehnenreflex. Refraktärphase (refractory period): Ruheperiode nach dem Orgasmus, während der ein Mann keinen weiteren Orgasmus haben kann.
sche Reaktion auf einen bestimmten Reiz auftritt; Skinners Ausdruck für ein Verhalten, das durch klassische Konditionierung erlernt wurde. Retina (auch Netzhaut, engl. retina): lichtempfindliche innerste Schicht des Auges,
in der die Stäbchen und Zapfen der Fotorezeptoren sowie Neuronenschichten enthalten sind, in denen die Verarbeitung der visuellen Information beginnt.
Regenbogenhaut 7 Iris Regression (regression): in der psychoanalytischen Theorie der grundlegende
Abwehrmechanismus, bei dem sich ein Individuum auf eine infantilere Phase der psychosexuellen Entwicklung zurückzieht, auf der ein Teil der psychischen Energie fixiert geblieben ist.
Retinale Disparität (retinal disparity): binokulares Merkmal zur Tiefenwahrnehmung: Anhand des Vergleichs der beiden von den Augäpfeln übermittelten Bilder berechnet das Gehirn die Entfernung – je größer die Disparität (der Unterschied) zwischen den beiden Bildern, desto näher das Objekt. Retroaktive Interferenz oder retroaktive Hemmung (retroactive interference):
Regression zur Mitte (regression toward the mean): Tendenz extremer unge-
Störeffekt neu gelernter Informationen auf die Reproduktion alter Informationen.
wöhnlicher Werte, auf ihren Durchschnittswert zurückzufallen (Regression). Reziproker Determinismus (reciprocal determinism): bezeichnet die interagieReifung (maturation): biologische Wachstumsprozesse, die die Grundlage für
renden Einflüsse von Persönlichkeit und Umweltfaktoren.
systematisch und von äußeren Verhältnissen und Erfahrungen relativ unbeeinflusst ablaufende Verhaltensänderungen sind.
Reziprozitätsnorm (reciprocity norm): Erwartung, dass wir denen, die uns ge-
holfen haben, helfen und ihnen keinen Schaden zufügen sollten. Reizdiskrimination (discrimination): in der klassischen Konditionierung die
gelernte Fähigkeit, den konditionierten Reiz von anderen Reizen zu unterscheiden, die keinen unkonditionierten Reiz ankündigen.
Rolle (role): Reihe von Erwartungen (Normen) an eine soziale Position. Sie definiert, wie sich jemand in dieser Position verhalten sollte.
Reizgeneralisierung (generalization): Tendenz, dass nach Konditionierung einer Reaktion bestimmte Reize, die dem konditionierten Reiz ähneln, ähnliche Reaktionen hervorrufen.
Rorschach-Test (Rorschach inkblot test): am weitesten verbreiteter projektiver Test. Er besteht aus einem Satz von 10 Tintenklecksbildern, die von Hermann Rorschach entworfen wurden. Die Auswertung, wie der Proband die Kleckse deutet, soll seine inneren Gefühle deutlich machen.
Relative Deprivation: Wahrnehmung, dass es einem selbst schlechter geht als denen, mit denen man sich vergleicht.
rTMS 7 Wiederholte transkranielle Magnetstimulation
Reliabilität oder Zuverlässigkeit (reliability): Maß für die Zuverlässigkeit der
Ruhepotenzial (resting potential): das Membranpotenzial, das vorliegt, wenn
Daten, die ein Test liefert, wird anhand der Übereinstimmung der Werte aus zwei getrennt durchgeführten Hälften des Tests, aus unterschiedlichen Formen des Tests oder bei wiederholter Durchführung des Tests ermittelt.
kein Nervenimpuls weitergeleitet wird; im Inneren des Axons befinden sich negativ geladene, im Umfeld positiv geladene Ionen. Savant-Syndrom (savant syndrome): Krankheit, die sich dadurch auszeichnet,
REM-Rebound (REM rebound): Tendenz zur Verlängerung der REM-Schlaf-
phasen nach einem REM-Schlafentzug (beispielsweise durch wiederholtes Erwachen während der REM-Phasen). REM-Schlaf (REM sleep): Schlafphase, in der sich die Augen schnell bewegen (»rapid eye movements«). In diesem sich wiederholenden Schlafstadium kommt es in der Regel zu lebhaften Träumen. Der REM-Schlaf wird auch als paradoxer Schlaf bezeichnet, weil die Muskeln entspannt sind (kleinere Zuckungen ausgenommen), andere Körperfunktionen aber aktiv.
dass ein Mensch mit einer an sich eingeschränkten geistigen Fähigkeit über eine ganz außergewöhnliche Begabung (Inselbegabung) verfügt, beispielsweise im Rechnen oder Zeichnen. Schallempfindungsschwerhörigkeit (sensorineural hearing loss): Schwerhö-
rigkeit infolge von Verletzungen der Rezeptorzellen der Kochlea oder der Hörnerven; auch Nervenschwerhörigkeit genannt. Schallleitungsschwerhörigkeit (conduction hearing loss): Schwerhörigkeit in-
Replikation (replication): Wiederholung der wesentlichen Parameter eines Ex-
folge einer Schädigung des mechanischen Systems, das Schallwellen zur Kochlea weiterleitet.
periments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob die Grundannahmen
Scheitellappen 7 Parietallappen
963 Glossar
Schema (schema): kognitive Struktur, mit der Informationen geordnet und er-
klärt werden.
Semantik (semantics): Gesamtheit aller Regeln, mit deren Hilfe wir in einer gegebenen Sprache aus Morphemen, Wörtern und Sätzen Bedeutung ableiten; auch die Wissenschaft von der Bedeutung.
Schizophrenie (schizophrenia): Gruppe schwerer Störungen, die durch desor-
ganisiertes und wahnhaftes Denken, gestörte Wahrnehmungen und unangemessene Emotionen und Handlungen gekennzeichnet sind.
Semantische Enkodierung (semantic encoding): Enkodieren von Bedeutung,
Schlaf (sleep): periodischer, natürlicher, reversibler Bewusstseinsverlust – im Gegensatz zu Bewusstseinsverlusten, die durch Koma, Narkose oder Winterschlaf hervorgerufen werden (nach Dement 1999)
Sensorische Adaptation (sensory adaptation): verminderte Sensibilität als Folge konstanter Stimulation.
einschließlich Wortbedeutungen.
Sensorische Interaktion (sensory interaction): Prinzip der gegenseitigen BeeinSchlafapnoesyndrom (sleep apnea): Schlafstörung, die durch ein gelegentliches
Aussetzen der Atmung während des Schlafs und das anschließende kurze Erwachen gekennzeichnet ist.
flussung verschiedener Sinne, wie beispielsweise der Geruch von Essen seinen Geschmack beeinflusst. Sensorische Neuronen (sensory neurons): Nervenzellen, die von den Sinnesre-
Schläfenlappen 7 Temporallappen
zeptoren eingehende Informationen zum Zentralnervensystem übermitteln.
Schwellenwert (threshold): Grad an Stimulation, der benötigt wird, um einen
Sensorischer Kortex (sensory cortex): vorderer Teil des Parietallappens, in dem die Empfindungen für Körperberührungen und Bewegungen registriert und verarbeitet werden.
neuronalen Impuls auszulösen. Sehgrube 7 Fovea Sehnerv (lat. N. opticus; engl. optic nerve): Nerv, über den die Nervenimpulse
Sensorisches Gedächtnis (sensory memory): unmittelbare, sehr kurze Zwischenspeicherung sensorischer Informationen im Gedächtnissystem.
vom Auge ins Gehirn gelangen. Sehschärfe (acuity): Fähigkeit zur Unterscheidung von Einzelheiten im Ge-
sichtsfeld als Maß für das Auflösungsvermögen des Auges. Sekundäre Geschlechtsmerkmale (secondary sex characteristics): nicht zur Fortpflanzung erforderliche Merkmale wie weibliche Brüste und Hüften sowie männliche Stimme und Körperbehaarung. Selbstkonzept (self-concept): Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Wert; Gedanken und Gefühle, die bei der Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« aufkommen. Selbstoffenbarung (self-disclosure): anderen Menschen intime Aspekte von
Sensumotorisches Stadium (sensorimotor stage): Nach Piagets Theorie wird auf dieser Stufe (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) die Welt primär als Sinneseindruck wahrgenommen und mit motorischen Aktivitäten erforscht. Serieller Positionseffekt (serial position effect): Tendenz, sich am besten an die ersten (Primacy-Effekt) und letzten (Recency-Effekt) Punkte einer Liste zu erinnern. Set Point (Sollwert): Punkt, auf den der individuelle »Körperthermostat« ausgerichtet ist. Fällt das Körpergewicht unter diesen Punkt, führt normalerweise eine Steigerung des Hungers und eine Senkung des Stoffwechsels dazu, dass man wieder zunimmt.
sich selbst mitteilen. Selbststeuerung (self-regulation): Fähigkeit, das eigene Verhalten zu beobach-
ten, zu bewerten, gezielt zu verstärken und dadurch an eigenen Zielen flexibel auszurichten.
Sexuelle Orientierung (sexual orientation): konsistente Ausrichtung des sexuellen Interesses auf Menschen desselben Geschlechts (Homosexualität) oder des anderen Geschlechts (Heterosexualität). Sexuelle Störung (sexual disorder): anhaltende Störung der sexuellen Erregung
Selbstverwirklichung (self-actualization): nach Maslow das höchste psycholo-
oder Funktionsfähigkeit.
gische Bedürfnis, das auftritt, wenn alle physischen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllt sind und Selbstwertgefühl erlangt wurde; Selbstverwirklichung ist die Motivation, das eigene Potenzial zu verwirklichen.
Sexueller Reaktionszyklus (sexual response cycle): die 4 Phasen der sexuellen
Reaktion, die von Masters u. Johnson beschrieben wurden: Erregung, Plateau, Orgasmus und Entspannung.
Selbstwertdienliche Verzerrung (self-serving bias): Bereitschaft, uns selbst in
einem günstigen Licht zu sehen.
Shaping (Verhaltensformung): Vorgang innerhalb der operanten Konditionie-
Selbstwertgefühl (self-esteem): Gefühl für den eigenen hohen oder geringen
rung; die Verstärker führen das Verhalten immer näher an das gewünschte Ziel heran.
Wert der eigenen Person. Selbstwirksamkeit (self-efficacy): Überzeugung, in einer bestimmten Situation
die angemessene Leistung erbringen zu können. Selektive Aufmerksamkeit (selective attention): Konzentration des Bewusstseins auf einen bestimmten Stimulus wie etwa beim Cocktailpartyeffekt.
Signaldetektionstheorie (Signalentdeckungstheorie; signal detection theory): Theorie, die vorhersagt, wie und wann wir das Vorhandensein eines schwachen Reizes (»Signal«) unter Hintergrundstimulation (»Lärm«) wahrnehmen; geht davon aus, dass es keine feste absolute Schwelle gibt, sondern dass die Signalwahrnehmung teilweise von der Erfahrung, den Erwartungen, der Motivation und dem Grad an Müdigkeit der jeweiligen Person abhängt.
964
Anhang
Skinner-Box (operant chamber oder Skinner box): Kammer, in der sich ein He-
Stäbchen (rods): Fotorezeptoren auf der Retina, die Schwarz, Weiß und Grau
bel oder eine Taste befindet, die ein Tier betätigen kann, um Futter oder Wasser als Belohnung zu erhalten; dazu gehören Messgeräte zur Aufzeichnung der Häufigkeit des Drückens von Hebel oder Taste durch das Tier. In der Forschung zur operanten Konditionierung verwendet.
erkennen können und für das periphere Sehen und das Sehen in der Dämmerung erforderlich sind, wenn die Zapfen nicht reagieren.
Somatisches Nervensystem (somatic nervous system): Teil des peripheren Ner-
vensystems, der die Skelettmuskulatur kontrolliert. Soziale Erleichterung (social facilitation): Leistungssteigerung durch die Anwesenheit anderer; tritt bei einfachen oder gut gelernten Aufgaben auf, nicht jedoch bei schwierigen oder noch nicht beherrschten Aufgaben. Soziale Falle (social trap): Situation, in der sich die am Konflikt beteiligten Par-
teien in wechselseitig destruktivem Verhalten verfangen, weil jede Partei rational die eigenen Interessen verfolgt.
Stadium der formalen Operationen (formal operational stage): nach Piaget das
Stadium der kognitiven Entwicklung, das normalerweise mit dem 12. Lebensjahr beginnt. In dieser Phase erwirbt das Kind die Fähigkeit, logisch über abstrakte Konzepte nachzudenken. Stadium der konkreten Operationen (concrete operational stage): In Piagets
Theorie bezeichnet dieser Begriff das Stadium der kognitiven Entwicklung (vom 6. /7. bis zum 11. Lebensjahr), in dem Kinder die geistigen Operationen entwickeln, die sie dazu befähigen, logisch über konkrete Ereignisse nachzudenken. Standardabweichung (standard deviation): berechnete Maßzahl, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt.
Soziale Uhr (social clock): die in einer Kultur vorgegebenen Zeiträume für bestimmte soziale Ereignisse wie Heirat, Elternschaft oder Ruhestand.
Standardisierung 7Normierung
Soziales Faulenzen (social loafing): Tendenz, dass sich Menschen in Gruppen
Stanford-Binet-Intelligenztest (Stanford-Binet): häufig angewandte amerika-
weniger anstrengen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, als wenn sie allein verantwortlich sind.
nische Variante des ursprünglichen Binet-Intelligenztests (abgewandelt durch Lewis Terman von der Stanford-Universität).
Sozial-kognitiver Ansatz (social-cognitive approach): sieht Verhalten als beeinflusst von der Interaktion zwischen dem Individuum (und seinem Denken) und seinem sozialen Umfeld.
Statistische Signifikanz (statistical significance): statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung dem Zufall zuzuschreiben ist.
Sozialpsychologie (social psychology): Teilgebiet der Psychologie, das sich da-
Stereotyp (stereotype): verallgemeinernde (manchmal richtige, oft aber überge-
mit beschäftigt, wie wir voneinander denken, uns gegenseitig beeinflussen und in welcher Beziehung wir zueinander stehen.
neralisierende) Überzeugung über eine Gruppe von Menschen. Stereotype Threat (Bedrohung durch ein Stereotyp): Besorgnis, die Bewertung
Spacing-Effekt (spacing effect): Tendenz, dass durch zeitlich verteiltes Lernen
oder Üben bessere langfristige Behaltenserfolge erzielt werden als bei massiertem Lernen oder Üben. Speichern (storage): Dauerhaftes Behalten der enkodierten Informationen. Spiegelneuronen (mirror neurons): Stirnlappenneuronen, die reagieren, wenn
bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden oder wenn jemand anders bei der Ausführung beobachtet wird. Der im Gehirn ablaufende Vorgang des Spiegelns der Tätigkeit eines anderen Menschen trägt zur Nachahmung, zum Erlernen von Sprachen und zur Empathie bei. Split-Brain-Patienten (split-brain patients): Personen, bei denen die beiden
Gehirnhälften voneinander getrennt sind (»gespaltenes Gehirn«), nachdem die sie verbindenden Fasern, vor allem die des Corpus callosum, durchgeschnitten wurden.
des eigenen Verhaltens erfolge auf der Basis eines negativen Stereotyps. Stimmungskongruente Erinnerung (mood-congruent memory): Tendenz, sich an Erfahrungen zu erinnern, die mit der aktuellen guten oder schlechten Stimmung übereinstimmen. Stimulanzien (stimulants): Substanzen (wie Koffein, Nikotin und stärkere, wie Amphetamine und Kokain), die die neuronale Aktivität verstärken und die Körperfunktionen beschleunigen. Stirnlappen 7 Frontallappen Stress (stress): Prozess, durch den wir bestimmte Ereignisse (Stressoren) wahrnehmen und darauf reagieren. Stressoren können als Bedrohung oder als Herausforderung bewertet werden. Streudiagramm oder Punktdiagramm (Scatterplot): Jeder Punkt in einem
Spontane Erholung (spontaneous recovery): erneutes Auftreten einer gelösch-
ten konditionierten Antwort nach einer Ruhepause. Spotlight-Effekt (spotlight effect): Überschätzen der Wahrnehmung und Bewertung unserer äußeren Erscheinung, Leistungen und Fehlleistungen durch andere Menschen (als ob wir im Licht eines Scheinwerfers stünden.
Streudiagramm gibt die Werte von zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie zwischen den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen den beiden Variablen. Die Konzentration der Punkte verweist auf einen starken Zusammenhang (eng beieinander liegende Punkte bedeuten hohe Korrelation). Strukturalismus (structuralism): vor allem in den USA vorherrschende psycho-
Sprache (language): gesprochene, geschriebene oder durch Gebärden ausge-
drückte Wörter und die Art und Weise, wie diese aneinandergereiht werden, um Bedeutungen auszudrücken.
logische Strömung, die – im Unterschied zur gleichzeitig vertretenen Richtung des Funktionalismus – die elementare Struktur der menschlichen Seele mittels Introspektion (Selbstbeobachtung) erforschte.
965 Glossar
Subjektives Wohlbefinden: selbst wahrgenommenes Gefühl des Glücks im Le-
Terrormanagementtheorie (terror-management theory): besagt, dass der Glau-
ben oder der Zufriedenheit mit dem Leben. Wird zusammen mit Maßen des objektiven Wohlbefindens verwendet (beispielsweise körperliche und ökonomische Faktoren), um die Lebensqualität eines Menschen zu erfassen.
be an die eigene Weltanschauung und das Streben nach einem hohen Selbstwertgefühl Schutz bieten gegen eine tief verwurzelte Todesangst. Testosteron (testosterone): wichtigstes der männlichen Sexualhormone. Es ist
Subliminal (subliminal): unter der absoluten Schwelle der bewussten Wahrneh-
mung eines Menschen liegend. Suchreflex (rooting reflex): Bereitschaft eines Babys, den Mund zu öffnen und nach der Brustwarze zu suchen, sobald seine Wange berührt wird.
bei Frauen und Männern vorhanden, allerdings stimuliert die zusätzliche Menge an Testosteron bei Männern die Entwicklung männlicher Sexualorgane im Fötus sowie das Wachstum der männlichen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät. Tetrahydrocannabinol (THC; tetrahydrocannabinol): Hauptwirkstoff von Ma-
Sucht (addiction): zwanghaftes Verlangen nach einer Droge und ihrem Konsum. Sündenbocktheorie (scapegoat theory): besagt, dass Vorurteile ein Ventil für Aggressionen darstellen, indem sie jemanden als Schuldigen definieren. Sympathikus (sympathetic nervous system): Teil des vegetativen Nervensy-
stems, der für körperliche Erregung und damit für die optimale Nutzung der Energie in Stresssituationen sorgt.
rihuana. Hat verschiedene Wirkungen, unter anderem führt es zu leichten Halluzinationen. Thalamus (thalamus): Umschaltzentrale für sensorische Signale im Gehirn, die
am oberen Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thalamus übermittelt Informationen zu sensorischen Arealen im Kortex und leitet die Reaktionen zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata weiter. THC 7 Tetrahydrocannabinol
Synapse (synapse): Verbindungsstelle zwischen der axonalen Endigung des prä-
synaptischen Neurons, das Impulse weitergibt, und einem Dendriten oder dem Zellkörper des postsynaptischen Neurons, das die Impulse empfängt. Der winzige Zwischenraum zwischen den beiden Zellen wird als synaptischer Spalt bezeichnet.
Thematischer Apperzeptionstest, abgek. TAT (Thematic Apperception Test): projektiver Test, dem die Annahme zugrunde liegt, dass der Proband seine inneren Gefühle und Interessen durch die Geschichten zum Ausdruck bringt, die ihm beim Anblick der vieldeutigen Szenen einfallen.
Syntax (syntax): die Regeln, nach denen in einer gegebenen Sprache Wörter zu
sinnvollen Sätzen aneinandergereiht werden.
Theorie (theory):auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beobachtungen in einen Zusammenhang stellt und Vorhersagen erlaubt.
Systematische Desensibilisierung (systematic desensitization): eine Art Ge-
Theorie der kognitiven Dissonanz (cognitive dissonance theory): besagt, dass
genkonditionierung, bei der ein angenehm entspannter Zustand mit allmählich immer stärker angstauslösenden Stimuli gekoppelt wird. Wird häufig zur Behandlung von Phobien eingesetzt.
wir handeln, um den unangenehmen Zustand (kognitive Dissonanz), den wir empfinden, wenn 2 unserer Gedanken (Kognitionen) miteinander inkonsistent sind, zu verringern. Wenn beispielsweise unsere bewusste Einstellung unseren Handlungen widerspricht, können wir die Dissonanz, die sich daraus ergibt, verringern, indem wir unsere Einstellung ändern.
Systematische Selbstüberschätzung (overconfidence bias): Tendenz, mit großem Selbstvertrauen auf falschen Aussagen zu beharren und die Verlässlichkeit der eigenen Überzeugungen und Einschätzungen zu überschätzen.
Theorie des sozialen Austauschs (theory of social exchange): besagt, dass es
TAT 7 Thematischer Apperzeptionstest
sich bei unserem Sozialverhalten um einen Austauschprozess handelt, dessen Ziel es ist, den Nutzen zu maximieren und die Kosten zu minimieren.
Teilautonome Gruppen (partly autonomous groups): Gruppen, die bei der Be-
arbeitung ihrer Aufgaben den Arbeitsablauf, die Verteilung von Teilaufgaben und mitunter auch die Arbeitsplatzgestaltung selbst bestimmen.
Theorie des sozialen Lernens (social learning theory): besagt, dass wir soziales Verhalten durch Beobachten und Nachahmen und durch Belohnung und Bestrafung lernen.
Telegrammstil (telegraphic speech): Im Zweiwortstadium spricht das Kind ähn-
Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände): naive Psychologie, mit deren
lich den Formulierungen in einem Telegramm, d. h. es verwendet vorzugsweise Substantive und Verben und keine »Hilfswörter« – z. B. »Auto gehen«.
Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände und inneren Prozesse anderer Menschen erklären. Dadurch sind sie in der Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und Verhaltensweisen vorab einzuschätzen.
Temperament (temperament): charakteristische emotionale Reaktionsbereit-
schaft und Reaktionsstärke eines Menschen.
Tiefenwahrnehmung (depth perception): Fähigkeit, Gegenstände in drei Dimen-
Temporallappen (temporal lobes): Teile des zerebralen Kortex, die etwas ober-
sionen zu sehen, obwohl die Bilder, auf die Retina projiziert werden, zweidimensional sind. Die Tiefenwahrnehmung befähigt uns zur Einschätzung der Entfernung.
halb der Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen Areale, die hauptsächlich Informationen vom jeweils gegenüberliegenden Ohr empfangen.
Tokensystem (token economy): Verfahren der operanten Konditionierung zur Teratogene (teratogens): Wirkstoffe (wie chemische Stoffe und Viren), die zum
Embryo bzw. Fötus durchdringen und ihn während der pränatalen Entwicklung schädigen können.
Verstärkung erwünschten Verhaltens. Eine Person kann Symbolgeld erwerben, indem sie das gewünschte Verhalten zeigt; anschließend kann sie die Chips gegen Vergünstigungen oder Leckereien eintauschen.
966
Anhang
Toleranz (tolerance): die abnehmende Wirkung, wenn man dieselbe Dosis einer Droge regelmäßig nimmt; der Konsument muss dann immer größere Dosen nehmen, bis er die Wirkung der Droge erlebt.
Unabhängige Variable (independent variable): Faktor im Experiment, der manipuliert wird und dessen Wirkung untersucht wird. Unbedingte Wertschätzung (unconditional positive regard): nach Rogers eine
Tonhöhe (pitch): Die Höhe oder Tiefe eines Tons hängt von der Frequenz ab.
Einstellung, die durch das vollkommene Akzeptieren eines anderen Menschen gekennzeichnet ist.
Top-down-Verarbeitung (absteigende, konzeptgesteuerte Informationsverar-
beitung; top-down processing): Informationsverarbeitung, gesteuert durch höhere mentale Prozesse, beispielsweise wenn wir Wahrnehmungen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen interpretieren.
Unbewusstes (unconscious): ist laut Freud ein Auffangbecken für meist inak-
zeptable Gedanken, Wünsche, Gefühle und Erinnerungen. In der heutigen Psychologie steht der Begriff für eine Form der Informationsverarbeitung, derer wir uns nicht bewusst sind.
Trait (Merkmal, Persönlichkeitszug): für einen bestimmten Menschen typisches
Verhaltens- oder Veranlagungsmuster, das sich in seiner Art zu fühlen und zu handeln ausdrückt; kann erfasst werden durch Fragebögen zur Erhebung der Selbst- und der Fremdeinschätzung. Transduktion (transduction): Umwandlung einer Energieform in eine andere. Im sensorischen Bereich die Umwandlung von Reizenergien (wie Sehreize, Töne und Gerüche) in Nervenimpulse, die unser Gehirn interpretieren kann.
Unkonditionierte Reaktion (UR), auch unbedingte Reaktion (unconditioned
response): in der klassischen Konditionierung die nicht gelernte, sich natürlich ereignende Reaktion auf einen unkonditionierten Stimulus (US), wie etwa Speichelfluss, wenn sich Futter im Maul befindet. Unkonditionierter Stimulus (US), auch unbedingter Stimulus (unconditioned stimulus): in der klassischen Konditionierung ein Reiz, der unkonditioniert (ungelernt) – natürlich und automatisch – eine Reaktion auslöst.
Traum (dream): Abfolge von Bildern, Emotionen und Gedanken, die sich im
Geist eines Schläfers abspielt. Bemerkenswert an Träumen sind die halluzinationsartigen Bilder, die Wandelbarkeit und Inkongruenz des Traumgeschehens sowie die beinahe wahnhafte Bereitschaft des Träumenden, das Traumgeschehen und den inhaltlich oft nicht nachvollziehbaren Zusammenhang des Erlebten zu akzeptieren.
Unterschiedsschwelle (difference threshold): minimaler Unterschied zwischen zwei Reizen, der erforderlich ist, damit er in 50% der Fälle erkannt wird. Wir erleben die Unterschiedsschwelle als den eben noch merklichen Unterschied. Urvertrauen (basic trust): Laut Erik Erikson ist Urvertrauen das Gefühl, dass die
Triebreduktionstheorie (drive-reduction theory): Annahme, dass ein physiolo-
gisches Bedürfnis eine erregte Spannung erzeugt (einen Trieb), der den Organismus motiviert, das Bedürfnis zu befriedigen.
Welt ein sicherer und vertrauenerweckender Ort ist. Dieses Vertrauen entsteht in der frühen Kindheit durch die entsprechenden Erfahrungen mit aufgeschlossenen und einfühlsamen Bezugspersonen.
Trisomie 21 oder Down-Syndrom (Down syndrome): Syndrom mit mentaler Retardierung und einer Reihe damit zusammenhängender körperlicher Merkmale, das durch ein zusätzliches Chromosom in der Erbanlage verursacht wird.
Validität oder Gültigkeit (validity): gibt an, in welchem Ausmaß ein Test das
Typ-A-Verhalten (type A): Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für ehrgeizige, gehetzte, ungeduldige, aggressive und reizbare Menschen.
Variabler Intervallplan (variable-interval schedule): Verstärkung der ersten Re-
misst oder vorhersagt, was er vorhersagen soll (o Inhaltsvalidität und Vorhersagevalidität).
aktion nach einer variablen Zeitspanne, deren durchschnittliche Dauer vorab festgelegt wurde.
Typ-B-Verhalten (type B): Friedmans und Rosenmans Bezeichnung für gelasse-
ne und entspannte Menschen.
Variabler Quotenplan (variable-ratio schedule): Die Anzahl der Reaktionen, die
Übergeordnete Ziele (superordinate goals): gemeinsame Ziele, durch die Diffe-
gezeigt werden, bevor eine Verstärkung gegeben wird, variiert von einer Verstärkungsphase zur anderen.
renzen unter Menschen überwunden werden, indem sie deren Kooperation erfordern. Über-Ich (superego): Teil der Persönlichkeit, der laut Freud die internalisierten Ideale und Normen repräsentiert, die Richtschnur für die Urteilsfähigkeit (Gewissen) liefert und Ziele für die Zukunft setzt. Übertragung (transference): bedeutet in der Psychoanalyse, dass der Patient
Emotionen aus anderen Beziehungen (wie etwa Liebe oder Hass für einen Elternteil) auf den Analytiker überträgt. Überzeugungsbias (belief bias): Tendenz, nach der bereits bestehende Überzeu-
gungen das logische Denken verzerren können, indem ungültige Schlüsse für wahr gehalten werden oder umgekehrt. Umwelt (environment): jeder nichtgenetische Einfluss, von der Ernährung vor
der Geburt bis zu den Menschen und Dingen in unserer Umgebung.
Variationsbreite (range): Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert einer Verteilung. Verdrängung (repression): In der psychoanalytischen Theorie gilt Verdrängung
als wichtigster Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die Angst auslösen, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. Alle anderen Formen der Abwehr beruhen auf diesem Mechanismus Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic): man schätzt die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen je nach ihrer Verfügbarkeit in der Erinnerung; wenn uns schnell Beispiele einfallen (vielleicht weil sie spektakulär sind), halten wir ein solches Ereignis für häufig. Verhaltensgenetik (behavior genetics): die Untersuchung der relativen Gewichte von genetischen und Umwelteinflüssen auf das Verhalten.
967 Glossar
Verhaltensmedizin (behavioral medicine): interdisziplinärer Bereich, in dem
verhaltenswissenschaftliche (psychologische) und medizinische Erkenntnisse zusammengeführt und auf den Bereich Gesundheit und Krankheit angewandt werden. Verhaltenstherapie (behavior therapy): wendet Lernprinzipien an, um uner-
Wahrnehmungskonstanz (perceptual constancy): Fähigkeit, Objekte als unverändert (mit gleichbleibender Helligkeit, Farbe, Form und Größe) wahrzunehmen, auch wenn sich die Beleuchtung und die Bilder auf der Retina verändern. Wahrnehmungsset (perceptual set): mentale Prädisposition, etwas Bestimmtes zu sehen und nicht etwas anderes.
wünschtes Verhalten zu löschen oder zu modifizieren. Weber’sches Gesetz (Weber’s law): Prinzip, das besagt, dass sich zwei Reize um Verschiebung (displacement): Abwehrmechanismus, bei dem sexuelle oder ag-
gressive Triebregungen auf ein eher akzeptables oder weniger bedrohliches Objekt (oder einen Menschen) verschoben werden; so kann Wut in eine weniger gefährliche Richtung verschoben werden.
einen konstanten minimalen Prozentsatz (und nicht um einen konstanten Absolutbetrag) unterscheiden müssen, damit der Unterschied zwischen ihnen wahrgenommen wird.
das ein vorausgehendes Verhalten verstärkt wird
Weitsichtigkeit (farsightedness): Sehanomalie, bei der weit entfernte Gegenstände schärfer gesehen werden als nahe, da das Bild von nahen Objekten seinen Brennpunkt hinter der Retina hat, d. h. scharf ist.
Versuchsbedingung (experimental condition): Bedingung eines Versuchs, bei
Wellenlänge (wavelength): Abstand zwischen den Scheitelpunkten von zwei
dem die Teilnehmer einer Behandlung unterzogen werden, die in diesem Fall die unabhängige Variable darstellt.
aufeinander folgenden Wellen. Das Spektrum der elektromagnetischen Wellenlängen reicht von den kurzen Impulsen der kosmischen Strahlen bis zu den für die Radioübertragung verwendeten Langwellen.
Verstärker (reinforcer): in der operanten Konditionierung jedes Ereignis, durch
Verzerrung durch falschen Konsens oder Konsensüberschätzung (false consensus effect): Tendenz, das Ausmaß der Übereinstimmung unserer Einstellungen und Verhaltensweisen mit denen anderer Menschen zu überschätzen.
Wernicke-Sprachzentrum (Wernicke’s area): steuert die Aufnahme von Sprache; Bereich des Gehirns, der am Sprachverstehen und am sprachlichen Ausdruck beteiligt ist und sich meist im linken Temporallappen befindet.
Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsight Bias): Tendenz, nach dem
Eintreten eines Ereignisses zu glauben, man hätte es vorhersehen können (auch bekannt als »Rückschaufehler«).
Wert-Erwartungs-Theorie (valence-expectancy theory): Theorie, die Motivati-
Vestibulärer Sinn 7 Gleichgewichtssinn
Widerstand (resistance): bedeutet in der Psychoanalyse, dass mit Angst verbun-
on als Produkt von Erwartungen und Werten versteht.
denes Material vom Bewusstsein fern gehalten wird. Visuelle Dominanz (visual capture): Tendenz des Sehvermögens, die anderen
Sinne zu dominieren.
Wiedererkennen (recognition): Maß für die Erinnerungsfähigkeit. Wie bei ei-
Visuelle Enkodierung (visual encoding): Enkodieren von optischen Bildern.
nem Multiple-Choice-Test muss die Versuchsperson lediglich Items identifizieren, die sie vorher erlernt hat.
Visuelle Klippe (visual cliff): Laboreinrichtung zum Testen der Tiefenwahrnehmung bei Kleinkindern und Jungtieren.
Wiederholte transkranielle Magnetstimulation (repetitive transcranial ma-
Vorhersagevalidität (predictive validity): Ausmaß, in dem ein Test das Verhal-
gnetic stimulation oder rTMS): sich wiederholende Einwirkung von Pulswellen magnetischer Energie auf das Gehirn; kommt zum Einsatz, um Gehirnaktivität zu stimulieren oder zu unterdrücken.
ten vorhersagt, das er vorhersagen soll. Der Erfolg wird durch Berechnung der Korrelation zwischen den Testwerten und dem kriteriumsrelevanten Verhalten erfasst.
Wiederholung (rehearsal): bewusste Wiederholung von Informationen, um sie im Bewusstsein zu behalten oder für die Speicherung zu enkodieren.
Vorurteil (prejudice): ungerechtfertigte (und in der Regel negative) Einstellung
Work-Life-Balance (work-life balance): Ausgewogenheit von beruflichem und
gegenüber einer Gruppe und ihren Mitgliedern. Vorurteile beinhalten i. Allg. stereotype Überzeugungen, negative Gefühle und die Bereitschaft zu diskriminierendem Verhalten.
außerberuflichem, z. B. familiärem Engagement.
Wahnvorstellungen (delusions): falsche Überzeugungen (häufig zu Verfolgung
oder eigener Großartigkeit), mit psychotischen Störungen einhergehen können.
X-Chromosom (X chromosome): Geschlechtschromosom, das sowohl bei Frau-
en als auch bei Männern vorhanden ist. Aus jeweils einem X-Chromosom von beiden Elternteilen entsteht ein Kind mit weiblichem Geschlecht. Frauen haben also zwei X-Chromosomen, Männer dagegen ein X-Chromosom und ein YChromosom.
Wahrnehmung (perception): Prozess, bei dem die sensorischen Informationen organisiert und interpretiert werden; dies ermöglicht uns, die Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen zu erkennen.
Y-Chromosom (Y chromosome): Geschlechtschromosom, das nur bei Personen
Wahrnehmungsadaptation (perceptual adaptation): Fähigkeit zur Anpassung an ein künstlich verzerrtes oder gar auf den Kopf gestelltes Blickfeld.
Zapfen (cones): Fotorezeptorzellen, die insbesondere um die Mitte der Retina angesiedelt sind und die am besten bei hellem Tageslicht und bei guter Beleuchtung funktionieren. Mit Hilfe der Zapfen können feine Details unterschieden und Farben empfunden werden.
männlichen Geschlechts vorhanden ist. Wenn es mit einem X-Chromosom der Mutter zusammentrifft, entsteht daraus ein Kind mit männlichem Geschlecht.
968
Anhang
mark.
Zentrales Nervensystem (ZNS; central nervous system): Gehirn und Rücken-
Zuschauereffekt (bystander effect): Tendenz eines einzelnen Zuschauers, seltener zu helfen, wenn weitere Zuschauer anwesend sind.
Zerebellum 7 Kleinhirn
Zuverlässigkeit 7 Reliabilität
Zerebraler Kortex (cerebral cortex): die komplizierte Struktur miteinander ver-
bundener Nervenzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das oberste Steuerungsund Informationsverarbeitungszentrum des Körpers.
Zwangsstörung (obsessive-compulsive disorder): Angststörung, die charakterisiert ist durch sich aufdrängende, wiederholte Zwangsvorstellungen und/oder Zwangshandlungen.
Zirkadiane Rhythmik (circadian rhythm): biologische Uhr; reguläre Rhythmik
Zwei-Faktoren-Theorie (two-factor theory): Schachters und Singers Theorie
der Körperfunktionen (z. B. der Körpertemperatur und des Wachzustands) in einem 24-stündigen Zyklus
sagt aus, dass man, um Emotionen zu erfahren, 1. physiologisch erregt sein und 2. diese Erregung kognitiv interpretieren muss.
Zufallsstichprobe (random sample): Stichprobe, bei der eine Zufallsauswahl aus einer bestimmten Population gezogen wird und die diese Population dann weitgehend repräsentiert.
Zweiwortstadium (two-word stage): beginnt mit etwa 2 Jahren; Phase der Sprach-
entwicklung, während der das Kind hauptsächlich in Sätzen aus 2 Wörtern spricht. Zygote (zygote): befruchtete Eizelle; Beginn der Phase der raschen Zellteilung
Zufallszuweisung 7 Randomisierung
(2 Wochen).
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Danksagung »Wer mit dem Weisen wandert, wird selbst weise«, sagt man, und dank des Wissens und des Erfahrungsschatzes meiner Kollegen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, bin ich klüger und weiser geworden. Durch die Hilfe und Unterstützung, die mir in den letzten 20 Jahren von Kritikern und Beratern zuteil wurde, entstand ein Buch, das besser und gründlicher ist, als es ein einzelner Autor (zumindest der hier in Frage kommende Autor) zustande gebracht hätte. Meine Lektorinnen, Lektoren und ich, wir rufen uns immer wieder in Erinnerung, dass wir zusammen eben einfach klüger sind als jeder Einzelne von uns. Zu großem Dank verpflichtet bin ich weiterhin allen Dozenten, deren Einfluss ich in den vorangegangenen Auflagen gewürdigt habe, und auch den zahllosen Forschern, die bereit waren, Zeit und geistige Mühe aufzuwenden und dazu beizutragen, dass in angemessener Weise über ihre Forschung berichtet wird. Diese neue Auflage hat auch davon profitiert, dass Jennifer Peluso (Florida Atlantic University) mit ihren kreativen Einfällen und ihrer Hilfe Kap. 9 (Gedächtnis) und Kap. 10 (Denken und Sprache) überarbeitete. Meine Dankbarkeit gehört nun aber auch den Kollegen, die mit Kritik, kreativen Ideen und Verbesserungsvorschlägen zum Inhalt, zur Didaktik und zum Format dieser Neuauflage und der ergänzenden Angebote beigetragen haben. Für ihre Sachkenntnis und ihre ermutigenden Worte sowie für die Zeit, die sie bei Lehrveranstaltungen zur Psychologie aufwenden, danke ich insbesondere den folgenden Gutachtern, Beratern und Teilnehmern an Beratungsgruppen: Julie Allison (Pittsburg State University), Aneeq Ahmad (Henderson State University), Emir Andrews (Memorial University), Willow Aureala (University of Hawaii Center, West Hawaii), Debra K. Bagley (Mount Aloysius College), David Barkmeier (Northeastern University), Marcelle Bartolo-Abela (Holyoke Community College), Scott Bates (Utah State University), Rochelle Battersby (Sanford H. Calhoun High School), Susan Becker (Mesa State University), Stefanie Bell (Pikes Peak Community College), Suzanne T. Bell (DePaul University), Sheryl Bereziuk (Grande Prairie Regional College), Denise Berg (Santa Monica College), Kathleen Bey (Palm Beach Community College), Patricia Bishop (Cleveland State Community College), Marilyn Blumenthal, (Farmingdale State University), Linda Bradford (Community College of Aurora), Suzanne Brayer (North Canyon High School), June Breninger (Cascade College), Gayle Brosnan-Watters (Slippery Rock University), Jay Brown (Southwest Missouri State University), Michelle A. Butler (United States Air Force Academy), Hazel Caldwell (Central Georgia Technical College), Cari Cannon (Santiago Canyon College), William Canu (University of Missouri-Rolla), Maureen Carrigan (University of South Carolina Aiken), Pamela Carroll (Three Rivers Community College), Richard G. Cavasina (California University of Pennsylvania), Gabriela Chavira and ihren studentischen Tutoren (California State University-Northridge), Dorothy Chin (Santa Monica College), Stephen M. Colarelli (Central Michigan University), Kaye Cook (Gordon College), Mary Coplen (Hutchinson Community College), Pamela Costa (Tacoma Community College), Kathleen Cramm (Community College of Aurora), Katherine Demtrakis (Albuquerque Technical Vocational Institute), Vicki DiLillo (Ohio Wesleyan University), Roberta Eveslage (Johnson County Community College), Ellie Ezatti (Santa Monica College), Gaithri Fernando (California State University, Los Angeles), Gloria Fisher (Mississippi College), Jim Frailing (Neenah High School), Sue Frantz (Highline Community College), Rick Froman (John Brown University), Gary Gargano (Merced College), Carol B. George (St. Johns School), Andrew R. Getzfeld (New Jersey City University), Kristy Gould (Luther College), David Gramling (Austin Preparatory School), Nicholas Greco (College of Lake County), Toby Green (Santa Monica College), Laura Gruntmeir (Redlands Community College), Mary Hannah (University of Detroit Mercy), Peg Hanson (College of Lake County), Chris Heavey (University of Nevada-Las Vegas), Paul Hillock (Algonquin College), Len Hudzinski (Lake Tahoe Community College), Steven Isonio (Golden West College), Charles Ivey (Winter Park High School), Maria Janicki (Douglas College), Robert Jensen (California State University-Sacramento), Andrew T. Johnson), Park University), Suzanne R. Jones (Webster University), Oscar Joseph Harm (University of South Carolina Aiken), Misty Hull (Pikes Peak Community College), Wendy Kallina (Macon State College), Cindy Kamilar (Pikes Peak Community College), Jeffry Kellogg (Marian
970
Anhang
College), Arthur D. Kemp (Central Missouri State University), Raymond Kilduff (Community College of Rhode Island), Rosalyn King (Northern Virginia Community College-Loudon), Kristina T. Klassen (North Idaho College), Gary Klatsky (SUNY Oswego), Timothy Klitz (Washington and Jefferson College), Jean E. Kubeck (Adams State College), Samuel H. Lamb III (Tidewater Community College), Claudia Lampman (University of Alaska), Jackie Lanum (Santa Monica College), Elizabeth Levin (Laurentian University), Deborah Licht (Pikes Peak Community College), Rachelle Lipschultz (Anne Arundel Community College), Nancey Lobb (Alvin Community College), Jann Longman (Liberty High School), Wade C. Lueck (College of Eastern Utah), Angie Mackewn (University of Tennessee at Martin), Laura Madson (New Mexico State University), Brian Malley (University of Michigan), Nancy B. Mann (Southern Wesleyan University), Cindy Marriot (Schoolcraft College), Jerry Marshall (Green River Community College), Diane Martichuski (University of Colorado Boulder), Cathy Matresse (North Idaho College and Bay Mills Community College), Donna Wood McCarty (Clayton State University), David McCone (United States Air Force Academy), Lisa McCone (Pine Creek High School), Donna McEwen (Friends University), Lesley McIntyre (SUNY Cobleskill), Polly McMahon (Spokane Falls Community College), Jennifer Meehan Brennom (Kirkwood Community College), Joni Mihura (University of Toledo), Antoinette Miller (Clayton College and State University), Jeannie Mitchell (Rend Lake College), Mark Mitchell (Clarion University of Pennsylvania), Marta Mohr (Kilian Community College), Joann Morgan (Albuquerque Technical Vocational Institute), Karlyn Musante (Santa Monica College), Barbara Nash (Bentley College), Nathaniel Naughton (Arlington Catholic High School), Michael Nelson (University of Missouri-Rolla), Benjamin Newberry (Kent State University), Cynthia O’Dell (Indiana University Northwest), Peggy O’Neil-Chromey (Northfield Mount Hermon School), William H. Overman (University of North Carolina, Wilmington), Dan Patanella (John Jay College of Criminal Justice), Marcus D. Patterson (University of MassachusettsBoston), Marilyn Patterson (Lindenwood University), Andrew Peck (Pennsylvania State University), Jennifer Peluso (Florida Atlantic University), Pete Petersen (Johnson County Community College), John Petraitis (University of Alaska), Stephen Phillips (Broward Community College), Michelle Pilati (Rio Hondo College), Colleen Pilgrim (Schoolcraft College), Debbie Podwika (Kankakee Community College), Scott Plous (Wesleyan University), Kathryn Potoczak (Saint Lawrence University), Michael Poulin (University of California-Irvine), Psi Chi Honors Society und anderen Studierenden (Montana State University), Jennifer Puente (William Rainey Harper College), Diane Quartarolo (Union Institute and University), Christopher Randall (Troy University, Montgomery Campus), Louise Rasmussen (Wright State University), Judith S. Rauenzahn (Kutztown University), Celia Reaves (Monroe Community College), Brad Redburn (Johnson County Community College), Darrel Regier (American Psychiatric Association), Leonard Riley (Pikes Peak Community College), Alan Roberts (Indiana University), June Rosenberg (Lyndon State College), Steve Rouse (Pepperdine University), Lisa Routh (Pikes Peak Community College), Patricia Sampson (University of Maryland Eastern Shore), Don Saucier (Kansas State University), Sherry Schnake (Saint Mary of the Woods College), John Schwoebel (Cazenovia College), Eric Seelau (Indiana University of Pennsylvania), Jane Sheldon (University of Michigan – Dearborn), Mark Sibicky (Marietta College), Cynthia Silovich (Fargo South High School), David Simpson (Valparaiso University), Stephanie Smith (Indiana University Northwest), Ross B. Steinman (Rowan University), Betsy Stern (Milwaukee Area Technical College), Robby Stewart (Oakland University), Christine Sutow (Rio Hondo College), Amy Sweetman (Los Angeles City College), Patricia Toney (Sandhills Community College), Meral Topcu-LeCroix (Ferris State University), Michael Trumbull (Pikes Peak Community College), Gopakumar Venugopalan (University of Alaska), Jeanne M. Viviani (LaGuardia Community College), Steven L. Voss (Moberly Area Community College), Dennis Wanamaker (Bellevue Community College), Kathryn M. Wescott (Juniata College), Fred Whitford (Montana State University), Gordon Whitman (Tidewater Community College), Eric Wiertelak (Macalester College) und Jacquie Witsberger (Wheeling Jesuit University). Bei meinem amerikanischen Verlag, den Worth Publishers, haben viele Mitarbeiter entscheidend dazu beigetragen, diese 8. (amerikanische) Auflage herauszubringen. Zwar nimmt die Suche nach neuen Informationen nie ein Ende, doch die formale Planung begann mit einer zweitägigen Arbeitstagung im Oktober 2004, an der ein Autoren- und ein Verlagsteam teilnahmen. Zu dieser fröhlichen kreativen Runde gehörten John Brink, Martin Bolt,
971 Danksagung
Thomas Ludwig, Richard Straub und ich selbst als Autorenteam, als Beraterin war Charlotte van Oyen Witvliet anwesend, die unsere Online-Quellen betreut und das neue Kapitel über Emotionen schrieb, ebenso meine Assistentin Kathryn Brownson und meine Sekretärin Phyllis Vandervelde. Von Worth Publishers kamen die Verlegerin Catherine Woods, die Lektorinnen und Lektoren Christine Brune, Renee Altier, Nancy Fleming, Tracey Kuehn und Betty Probert hinzu; und von der Marketing-Abteilung stießen Kate Nurre, Tom Kling, Guy Geraghty, Greg David und Chuck Linsmeier zu uns. Christine Brune, die Cheflektorin der letzten 6 Auflagen, ist ein Wunder an Effektivität. Sie liefert immer genau die richtige Mischung aus Ermutigung und freundlicher Ermahnung, achtet auf Details und hat eine Leidenschaft für ausgezeichnete Arbeit. Da bleiben für den Autor keine Wünsche offen. Renee Altier, die jetzt Leiterin der Abteilung für Produktentwicklung und neue Geschäftsfelder bei Bedford, Freeman and Worth Publishers ist, half mir während des ganzes Überarbeitungsvorgangs, Kontakt zu vielen Kollegen aufzunehmen, und war die treibende Kraft für die kreative Auswahl neuer Fotos. Sie spielte auch eine wesentliche Rolle dabei, das eindrucksvolle multimediale Ergänzungsprogramms dieser Auflage zu erweitern und zu verbessern. Als sie eine andere Funktion bekam, übergab sie ihre Aufgaben bei der Lektoratsbetreuung unseres Lernpakets an den Lektor Kevin Feyen, mit dem es eine Freude ist zusammenzuarbeiten. Die Lektorin Nancy Fleming hat die seltene Gabe, die großen Linien eines Kapitels gedanklich zu erfassen – zwischen uns scheint eine geistige Verwandtschaft zu bestehen – und gleichzeitig den Text Zeile für Zeile durchzugehen sowie behutsame, vorsichtige Korrekturen anzubringen. Sie stellte auch ihr Talent unter Beweis, als sie die neue Rubrik »Lernziele« schuf. Die Aufgabe, die Planung für diese neue Auflage samt ihren Ergänzungen zu entwickeln und zu leiten, lag in den bewährten Händen der Verlegerin Catherine Woods. Sie übernahm auch die Rolle eines verlässlichen Resonanzkörpers, wenn wir im Verlauf der Arbeit vor der Fülle von Einzelentscheidungen standen. Die Medienlektorin Andrea Musick, auch zuständig für das zusätzliche Lehrmaterial, koordinierte die Produktion des riesigen Info-Zusatzpakets, das diese (amerikanische) Auflage begleitet. Betty Probert editierte und produzierte mit großer Effizienz die Printelemente des Zusatzpakets; sie half unterdessen auch bei der Feinabstimmung des gesamten Buchs mit. Die Lektoratsassistenten Sarah Berger und Matthew Driskill waren eine unschätzbare Hilfe bei der Vergabe und Abwicklung einer ganzen Vielfalt von Rezensionsaufträgen und dem Versenden von Mails an Professoren sowie bei den zahllosen Tätigkeiten, die mit der Fertigstellung eines Buches verbunden sind. Das Seitenlayout ist Lee Mahlers großes Verdienst, während Patricia Marx, Bianca Moscatelli, Christina Micek und Julie Tesser gemeinsam daran arbeiteten, die vielen Fotos an der richtigen Stelle unterzubringen. Tracey Kuehn als stellvertretender Leiter des Lektorats war unermüdlich in seinem Engagement, und seine Leistung als Organisator des künstlerischen Produktionsteams von Worth und bei der Koordination der Lektoratsaufgaben war beeindruckend. Die Leiterin der Herstellungsabteilung Sarah Segal erwies sich als Meisterin bei der schwierigen Aufgabe, den engen zeitlichen Rahmen für das Buch einzuhalten; und Babs Reingold war an führender Stelle bei der Entwicklung des Designs und der künstlerischen Anteile tätig. Und bei der Produktion der vielen Ergänzungsteile war die Herstellungsleiterin Stacey Alexander mit ihrer wie immer hervorragenden Arbeit die richtige Frau am richtigen Platz. Damit wir unser Ziel erreichen, Hilfestellung beim Lehren der Psychologie zu leisten, muss dieses Paket nicht nur verfasst, überarbeitet, lektoriert und produziert werden, sondern es muss auch den Psychologiedozenten zur Verfügung gestellt werden. Für den außergewöhnlichen Erfolg dabei ist unser Autorenteam der professionellen Vertriebsabteilung von Worth Publishers zu Dank verpflichtet. Der stellvertretenden Vertriebsleiterin Carlise Sternbridge und der Vertriebsleiterin Kate Nurree sind wir besonders dankbar für ihre unermüdlichen Anstrengungen dabei, unsere Kollegen über unsere Bemühungen zur Unterstützung ihrer Lehre zu informieren, und für die Freude, mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Zum Arbeitsteam für diese Auflage am Hope College gehörte Kathryn Brownson, die zahlreiche Informationen sammelte, Hunderte von Seiten Korrektur las sowie gemeinsam mit Sara Neevel und Megan Rapelle die Bibliographie und das Autorenverzeichnis vorbereitete. Kathryn wurde bald zu einer sensiblen und kenntnisreichen Beraterin bei vielen Fragen. Ihre Verdienste dabei, Informa-
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tionen aufzuspüren, Fotokopien anzufertigen und Korrektur zu lesen, wären nicht möglich gewesen ohne die Sorgfalt und die Arbeitsfreude von Travis Goldwire und Erin Darlington. Die Sekretärin Phyllis Vandervelde und der Sekretär Richard Vandervelde arbeiteten gewissenhaft an der Aufgabe, jedes Einzelne der über 400.000 Wörter einzugeben oder zu korrigieren. Seit über 20 Jahren haben sie auf diese Weise bereits die rund 10 Millionen Wörter meiner zwei Dutzend Lehr- und Sachbücher mit zeitaufwendiger Sorgfalt, einer Leidenschaft für brillante Leistung, einer energischen Stimme und ansteckender Begeisterung verarbeitet. Bei all der Freude, diese neue Auflage zu schaffen, kam es zu großer Trauer: Nach vier Jahrzehnten enger familiärer und beruflicher Beziehungen verloren wir Phyllis Vandervelde, die an Krebs starb. Obwohl sie unter starken Schmerzen litt, konnten wir sie nicht davon abhalten, ihr letztes Kapitel weniger als 2 Wochen vor ihrem Tod abzuschließen. Wegen dieses unerwarteten Verlusts sind wir Marilyn Essink und Sara Neevel besonders dankbar dafür, dass sie in so kompetenter Weise einsprangen, um die 8. Auflage der »Psychologie« akribisch abzuschließen. Und wieder muss ich dankbar den Einfluss und die redaktionelle Unterstützung meines schriftstellerischen Mentors, des Schriftstellers Jack Ridl, anerkennen, dessen Stimme Sie in diesem Buch immer wieder vernehmen konnten. Sein Einfluss beruht darauf, dass er mehr als irgendein anderer Mensch meine Freude am tänzerisch-spielerischen Umgang mit der Sprache gefördert und mich gelehrt hat, Schreiben als ein Handwerk zu betrachten, das in die Kunst hineinreicht. Nachdem ich von Dutzenden Menschen gehört habe, dass die Ergänzungen zu diesem Buch ihre Lehre auf ein neues, höheres Niveau gebracht haben, geht mir durch den Sinn, wie viel Glück ich hatte, Teil eines Teams zu sein, bei dem jeder seine Arbeit pünktlich ablieferte, und dies geprägt durch die höchsten professionellen Standards. Für ihre bemerkenswerten Fähigkeiten, ihre lange aufopfernde Arbeit und ihre Freundschaft danke ich Martin Bolt, John Brink, Thomas Ludwig und Richard Straub. Schließlich möchte ich den vielen Studierenden und Dozenten meinen Dank aussprechen, die mir geschrieben haben, um Empfehlungen auszusprechen oder auch nur Worte der Ermutigung anzubieten. Eben für sie und für die, die gerade ihr Psychologiestudium beginnen, habe ich mein Bestes gegeben, um sie in das Fach einzuführen, das ich so liebe. David G. Myers
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Über den Autor David G. Myers promovierte im Fach Psychologie an der University of Iowa. Seine berufliche Laufbahn führte ihn an das Hope College, Michigan, wo er heute Professor für Psychologie am John-Dirk-Werkman-Institut ist. David Myers hat zahllose Lehrveranstaltungen zur Einführung in die Psychologie gehalten. Die Studierenden des Hope College baten ihn, Hauptvortragender auf der Einführungsfeier für die Studienanfänger zu sein, und verliehen ihm die Auszeichnung »hervorragender Hochschullehrer«. Myers wissenschaftliche Beiträge sind in über zwei Dutzend wissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen, darunter »Science«, »American Scientist«, »Psychological Science« und »American Psychologist«. Neben seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und seinen Lehrbüchern zur Einführung in die Psychologie und zur Sozialpsychologie bereitet er auch wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie für die Allgemeinheit auf. Seine Artikel sind in drei Dutzend Zeitschriften erschienen, von »Today’s Education« bis »Scientific American«. Er ist auch Verfasser von 5 Büchern für einen allgemeinen Leserkreis. So schrieb er beispielsweise »The Pursuit of Happiness« und »Intuition: Its Powers and Perils«. David Myers übernahm den Vorsitz in der Human Relations Commission in seiner Heimatstadt, half bei der Gründung eines erfolgreichen Zentrums für verarmte Familien und hielt Vorträge an Hunderten von Hochschulen und Gemeindezentren. Er fährt das ganze Jahr über mit dem Fahrrad zur Arbeit und ist ein begeisterter Basketballspieler. David und Carol Myers haben zwei Söhne und eine Tochter.
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Kap. 1 S. 18: M. Barton S. 19: Tim Boyle/Getty Images S. 20: C. Styrsky S. 27: Susan Kuklin/Photo Researchers S. 28: This modern World by Tom Tomorrow, © 1991 S. 29: Courtesy of Gilda Morelli S. 33: © falkjohann – Fotolia.com S. 35: M. Barton S. 42: C. Styrsky S. 47: photos.com S. 48: D. Shapiro, © Wildlife Conservation Society S. 51: Abb. 1.11 © Roger Shepard
Kap. 2 S. 56: Abb. 2.1 Bettmann/Corbis S. 62: Abb. 2.5 Aus Rita Carter, Mapping the Mind © 1998, University of California Press – photos.com S. 71: C. Styrsky S. 72: Tom Landers/Boston Globe/Landov/InterTOPICS. www.intertopics.de S. 73: Abb. 2.12 AJ Photo/Photo Researchers, Inc. – Abb. 2.13 Courtesy of Brookhaven National Laboratories S. 74: Abb. 2.14 Mit freundlicher Genehmigung von Daniel R. Weinberger, MD, CBDB, NIMH – Abb. 2.15a S. Wahl – Abb. 2.15b Lucy Reading Ikkanda for Scientific American Magazine S. 78: Abb. 2.19 Moonrunner Design Ltd., UK – © Lisa Vanovitch – Fotolia.com S. 79: Abb. 2.20 © ISM / Phototake – All rights reserved. – Abb. 2.22 Sanjiv Talwar, Sunny Downstate S. 85: Abb. 2.28 Eigentum von V.P.Clark, K. Keill, J. Ma. Maisog, S. Courtney, L.G. Ungerleider und J.V. Haxby, National Institute of Health S. 86: Abb. 2.31 © 2004 Massachusetts Medical Society. All Rights reserved. S. 89: Abb. 2.34 Joe McNally, Joe McNally Photography – C. Styrsky S. 90: Abb. 2.35b Courtesy of Terrence Williams, University of Iowa S. 92: Abb. 2.38 BBC S. 94: S. Wahl S. 95: C. Styrsky
Kap. 3 S. 102: M. Barton S. 105: Adrian Dennis/AFP/Getty Images S. 106: © Bob Sacha Photography, www.bobsacha.com S. 108: © Tom Perkins – Fotolia.com S. 112: Cinetext/Allstar – Cinetext/Allstar S. 116: L.N. Trut, American Scientist (1999) 87: 160–169 S. 119: C. Styrsky S. 120: Abb. 3.4 With kind permission of American Scientist. S. 123: Abb. 3.6 Aus »Brain changes in response to experience« by M.R. Rosenzweig, E.L. Bennett and M.C. Diamond. Copyright 1977 Scientific American, Inc. S. 124: U. Conrad-Willmann – Abb. 3.7 Eigentum von Avi Karni, Leslie Ungerleider, National Institute of Mental Health S. 125: Ricardo Azoury/Corbis S. 126: C. Styrsky – photos.com S. 128: Kevin R. Morris/Bohemian Nomad Picturemakers/Corbis S. 129: C. Styrsky S. 130: Jason Reed/Reuters/Corbis S. 132: action press/Kyodo News S. 134: © Steve Reehl – photos.com S. 139: photos.com – photos.com S. 141: © picture-alliance/dpa/dpaweb S. 143: Abb. 3.10 Foto: photos.com
Kap. 4 S. 151: Abb. 4.1a Francis Leroy, Biocosmos/Science Photo Library/Photo Researchers, Inc. – Abb. 4.1b Lennart Nilsson/Bonnier Fakta Bokforlag S. 152: Abb. 4.2a Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company – Abb. 4.2b
Dopamine/Photo Researchers, Inc. – Abb. 4.2c,d Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company S. 153: photos.com – R. Scheddin S. 154: Abb. 4.4 Eigentum von Paul Quinn © John Wiley & Sons S. 156: Abb. 4.6a © Michaela Mayer – Fotolia.com – Abb. 4.6b,c photos.com – Abb. 4.6d © Rommel, Masterfile S. 157: K. Barton – Abb. 4.7 M. Barton S. 158: Abb. 4.8 Courtesy Judy DeLoache S. 160: Abb. 4.11 Doug Goodmann/Photo Researchers, Inc. S. 162: Abb. 4.13 M. Barton S. 163: Abb. 4.14 Inspired by Baron-Cohen & others, 1985 S. 164: Abb. 4.15a © Vladimir Mucibabic – Fotolia.com – Abb. 4.15b © Anyka – Fotolia.com – Abb. 4.15c © D. Ducouret – Fotolia.com – Bernarde Bisson/Sygma/Corbis S. 166: M. Barton S. 167: Abb. 4.16 Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison S. 168: Robert Schlappal S. 169: Abb. 4.17 Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison S. 170: Copyright Barry Hewlett S. 173: © Monika Adamczyk – Fotolia.com S. 174: S. Hughes S. 181: Daniel Berehulak/Getty Images S. 182: AP Photo/Dave Martin S. 183: Claudia Styrsky S. 185: photos.com – © dotshock – Fotolia.com S. 187: © 2002, Margaret Shulock. Reprinted with special permission of King Features Syndicate. Distr. Bulls. S. 189: Rick Doyle/Corbis S. 191: C. Styrsky – Perception Laboratory, University of St. Andrews S. 192: Georges Gobet/AP Photo – Abb. 4.24 Statistisches Bundesamt 2006-15-1302 S. 194: © Masterfile S. 196: Abb. 4.28 Susan Bookheimer S. 202: Rob Lewine/Corbis S. 203: photos.com S. 204: photos.com – © FotoliaI – Fotolia.com – photos.com S. 207: Joel Stettenheim/Corbis S. 210: Shannon Wheeler
Kap. 5 S. 214: »The forest has eyes« von Bev Doolittle, The Greenwich Workshop, Inc. S. 215: Abb. 5.1 Foto: photos.com S. 216: George Hall/Corbis S. 218: C. Styrsky S. 222: Abb. 5.5 Klaus Lunau, Arbeitsgruppe Sinnesökologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf S. 225: Lewis, E.R., Zeevi, Y.Y., Werblin, F.S. (1969). Scanning electron microscopy of vertebrate visual receptors. Brain Res, 15, 559–562. S. 228: Abb. 5.13 Ishai, Ungerleider, Martin und Haxby, NIMH S. 229: Lars Baron/Bongarts/Getty Images S. 231: Abb. 5.18a Foto: © Urbanhearts – Fotolia.com S. 232: Abb. 5.19b Fritz Goro/Time & Life Pictures/Getty Images S. 234: Abb. 5.22 R. Beau Lotto, University College London S. 236: Toby Wales/Lebrecht Music & Arts/Corbis S. 238: Dr. Fred Hossler/ Visuals Unlimited S. 241: Vicky Alhadeff/Lebrecht Music & Arts/Corbis S. 242: Wolfgang Gstottner. (2004) American Scientist, Vol. 92, Number 5. (p. 437) S. 243: AP Photo/Seth Perlman S. 246: Abb. 5.28 Dierdre Desmond – AP Photo/Stephen Morton S. 247: C. Styrsky S. 248: Gary Conner/PhototakeUSA. com – D. Willey, Johnstown S. 249: Abb. 5.30 Images by Todd Richards and Aric Bills, U.W., Copyright Hunter Hoffman, www.vrpain.com S. 251: Courtesy of RNID. www.rnid.org.uk S. 255: photos.com
Kap. 6 S. 260: Abb. 6.2 Simons, D. J., & Chabris, C. F. (1999). Gorillas in our midst: Sustained inattentional blindness for dynamic events. Perception, 28, 1059– 1074. Figure provided by Daniel Simons. – Abb. 6.3 Simons, D. J., & Levin, D. T. (1998). Failure to detect changes to people during a real-world interaction. Psychonomic Bulletin and Review, 5, 644–649. Figure provided by Daniel Simons. S. 262: Susan Schwartzenberg © Exploratorium, www.exploratorium. edu – © 2007 Rick Friedman – Copyright 1981, by permission of Christoph Redies and Lothar Spillman and Pion Limited, London. From Redies, C. & Spill-
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Kap. 7 S. 293: S. Wahl – photos.com – Gabriel Scholz – Hervé Collart/Sygma/Corbis S. 302: David Turnley/Corbis S. 303: photos.com S. 307: © Frédéric Boutard – Fotolia.com S. 308: photos.com S. 315: C. Styrsky S. 318: © Joel Gordon, 1990 S. 319: José Mercado/Stanford News Service S. 320: Abb. 7.12a R. Schulz S. 322: © 1992 by Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com S. 325: Abb. 7.15 Daniel Hommer, NIAAA,NIH;HHS S. 327: Topfoto/National News S. 328: photos.com S. 329: Abb. 7.17 Ronald K. Siegel S. 336: Abb. 7.21 Aus »Hallucinations« von R.K. Siegel © 1997 Scientific American Inc. – C. Styrsky
Kap. 8 S. 341: Jouanneau Thomas/Corbis Sygma S. 343: Bettmann/Corbis S. 345: © 2004 United Feature Syndicate Inc. Distr. by kipkakomiks.de S. 347: Jeff Miller/University of Wisconsin-Madison S. 348: C. Styrsky S. 349: S. Wahl S. 354: Abb. 8.8b Robert M. Yerkes Papers. Manuscripts & Archives, Yale University Library S. 355: Charlotte v. Oyen Witvliet, Hope College Holland, USA – Abb. 8.9a Walter Dawn/Photo Researchers, Inc. – Abb. 8.9b From The Essentials of Conditioning and Learning, 3rd Edition by Michael P. Domjan, 2005. Used with permission by Thomson Learning, Wadsworth Division. S. 356: beide Fotos: Quelle: www.apopo.org S. 356: Reprinted with special permission of King Features Syndicate. Distr. Bulls. S. 357: Reuters/Corbis S. 358: © The New Yorker Collection, 1993. Tom Cheney from cartoonbank.com. All rights reserved. S. 359: Abb. 8.10 Adaptiert aus »Teaching machines« von B.F. Skinner. © 1961, Scientific American Inc. S. 361: David Strickler/The Image Works S. 362: Abb. 8.11b Will and Deni McIntyre/Photo Researchers, Inc. S. 363: C. Styrsky – Shaun Best/Reuters/Corbis S. 364: Owen Franken/Corbis S. 365: Sam Falk/Photo Researchers, Inc. – photos.com S. 367: C. Styrsky
S. 370: Abb. 8.12 © Herb Terrace S. 371: Abb. 8.13 Reprinted with permission from the American Association for the Advancement of Science, Subiaul et al., Science 305:407–410 (2004) Copyright 2004 AAAS – Abb. 8.14 Meltzoff, A.N. (1988) Imitation of televised models by infants. Child Development, 59. 1221–1229. Eigentum von A. N. Meltzoff und M. Hanuk S. 372: Eigentum von Albert Bandura, Stanford University – K. Barton S. 373: C. Styrsky S. 375: Wally McNamee/Corbis – Carl Glassman/The Image works
Kap. 9 S. 381: Reuters/Corbis S. 382: C. Styrsky S. 383: Abb. 9.1 Fotos: Bob Daemmrich/The Image Works S. 386: Abb. 9.3b S. Wahl S. 391: Ho/AP Photo – © 1994 Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com S. 396: photos.com S. 398: Jeff Rotman S. 399: Abb. 9.12a,b N. Toni et al., Nature, 402, Nov. 25, 1999. Eigentum von Dominique Muller – Orban/Segretain/Forestier/Sygma/ Corbis S. 400: Mast Irham/epa/Corbis S. 404: Seth Poppel/Yearbook archives – Spanky’s Yearbook Archive S. 406: Abb. 9.17 M. Barton S. 408: S. Kröning S. 410: Abb. 9.19 K. Niebank S. 414: C. Styrsky S. 417: Sipress, 1988 S. 420: Abb. 9.27 © Simon Niedenthal S. 421: Reuters/Rick Wilking/Archive Photos/ Corbis S. 427: M. Barton
Kap. 10 S. 431: Abb. 10.1 Foto: photos.com – photos.com – © Jan Will – Fotolia.com S. 432: Abb. 10.2 Courtesy of Olivier Corneille S. 433: S. Wahl S. 434: Abb. 10.3 From Mark Jung-Beeman, Northwestern University and John Kounios, Drexel University S. 435: Abb. 10.4 S. Wahl – Abb. 10.5 S. Wahl S. 436: Abb. 10.6 S. Wahl – Abb. 10.7 S. Wahl S. 438: © B. Veley. Used by permission. www. bradveley.com S. 439: C. Styrsky – M. Barton S. 440: Carmen Taylor/AP/Wide World Press S. 441: Jehad Nga/Corbis S. 445: Jean-Philippe Ksiazek/AFP/Getty Images S. 447: M.&E. Bernheim/Woodfin Camp & Associates S. 450: © 1994 Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com S. 451: Susan Meiselas/Magnum Photos/Agentur Focus S. 452: Courtesy of Kathryn Brownson/Hope College S. 453: George Ancona S. 457: Ray Stubblebine/Reuters/Corbis S. 458: Abb. 10.12 © Jean Duffy Decety, September 2003 S. 459: photos.com S. 460: Eigentum von Jennifer Byrne, c/o Richard Byrne, Department of Psychology, University of St. Andrews, Scotland S. 461: Michael Nichols/National Geographic Image Collection – Copyright Amanda K. Coakes – William Munoz S. 462: Copyright S. Baus & W. Krzeslowski S. 464: Paul Fusco/Magnum Photos/Agentur Focus – C. Styrsky S. 465: Copyright of Great Ape Trust of Iowa
Kap. 11 S. 470: Mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Stüber, Pilates Hamburg. www.pilates-hamburg.com S. 471: beide Fotos: Ethan Hill, New York S. 472: Courtesy of Cameras on Wheels S. 473: David H. Wells/Corbis S. 474: Macduff Everton/Corbis S. 475: Copyright Andrew Shurtleff S. 476: Mit Genehmigung von Paul Soderblom S. 479: Abb. 11.1 Mit freundlicher Genehmigung von R. N. Haier. Nach Haier et al. 2004 S. 483: C. Styrsky S. 485: Abb. 11.4 Übersetzt und adaptiert durch Verlag Hans Huber, Bern. Copyright © 1981 by The Psychological Corporation, U.S.A. German Translation Copyright © 1991 by The Psychological Corporation, U.S.A. All rights reserved. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans Huber. S. 492: Greenlar/The Image Works S. 493: AP Photo/Anne Ryan S. 497: © The New Yorker Collection, 2000, Leo Cullum from cartoonbank.com. All Rights Reserved. – Josef Polleross/The Image Works S. 498: beide Fotos: A. Weinkötz S. 501: photos.com, photos.com, photos. com, © fux – Fotolia.com, photos.com, S.Frank, © René Gastinel – Fotolia.com,
1026
Anhang
photos.com, photos.com, © Jean François LEFEVRE – Fotolia.com S. 502: Jason Goltz S. 504: AP Photo/Paul Sakuma S. 507: photos.com
Kap. 12 S. 512: AP Photo/Rocky Mountain News, Judy Walgren S. 513: © Wendy Kaveney – Fotolia.com – photos.com S. 515: Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison – photos.com S. 516: Abb. 12.2b picture-alliance/dpa/ dpaweb – Abb. 12.2c Joe Skipper/Reuters/Corbis – Abb. 12.2d Menahem Kahana/AFP/Getty Images – Abb. 12.2e picture-alliance/dpa S. 519: Abb. 12.4 Pix*Elation from Fran Heyl Associates – Richard Howard S. 521: Victor Englebert S. 522: From The New England Journal of Medicine, 207 (1932), 613–617 – Cinetext/Allstar S. 525: C. Styrsky S. 534: © WDR S. 535: © photolens – Fotolia.com S. 539: Abb. 12.10 Source: Annual UCLA/American Council on Education surveys of some 7 million entering collegians – © Karen Struthers – Fotolia.com S. 542: Cinetext – C. Styrsky S. 543: AP/Wide World Photos – AP
Kap. 13 S. 549: © FotoliaI – Fotolia.com S. 553: Bill Varie/Corbis S. 555: Reuters/Corbis – AP Photo/Nati Harnik S. 556: Richard T. Nowitz/Photo Researchers Inc. S. 558: Abb. 13.6 Courtesy of Paul J. Whalen, PhD, Dartmouth College, www. whalenlab.info S. 561: Abb. 13.9 Mit Genehmigung von S.D. Pollak, D.J. Kistler und der National Academy of Sciences. S. 563: Dr. Paul Ekman, University of California, San Fransisco S. 564: Network Photographers/Alamy – C. Styrsky S. 565: Abb. 13.11 Ekman & Matsumoto, »Japanese and Caucasian Facial expressions of emotions« S. 567: Abb. 13.13 With kind permission of Paula M. Niedenthal. S. 569: Abb. 13.14a photos.com – Abb. 3.14b M. Barton – Abb. 13.14c C. Grosser – Abb. 13.14d C. Grosser – Abb. 13.14e © Andreas Koch – Fotolia.com – Abb. 13.14f photos.com – Abb. 13.14g Michael Newman/PhotoEdit S. 572: © Martina Berg – Fotolia.com S. 574: © Wolfgang Kaehler, www.wkaehlerphoto.com S. 576: Courtesy of Anna Putt S. 581: © 2001 by King Features Syndicate, Inc. World rights reserved. © H. L. Schwadron. Distr. Bulls S. 583: C. Styrsky
Kap. 14 S. 589: This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs Division under the digital ID cph.3b19621. S. 590: © The New Yorker Collection, 1979, Dana Fradon from cartoonbank.com. All Rights Reserved. S. 592: © fabienne lerault – Fotolia.com S. 593: M. Barton – Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison S. 595: National Library of Medicine – The Bettman Archive/Corbis – Archive of the History of American Psychology – University of Akron S. 596: Abb. 14.2a © 1943 by the President and Fellows of Harvard College. © 1971 by Henry Alexander Murray. – Abb. 14.2b © 1997 by Verlag Hans Huber, Bern – Abb. 14.3 M. Barton S. 601: C. Styrsky S. 603: Bettmann/Corbis S. 604: photos.com S. 609: Cinetext/VE S. 611: Mit freundlicher Genehmigung von Rob Pudim, Skeptical Inquirer. S. 616: M. Barton S. 617: C. Styrsky S. 619: Abb. 14.6 Foto: © Lovrencg – Fotolia.com S. 622: Peter Turnley/Corbis – C. Styrsky S. 624: Courtesy of Martin E.P. Seligman, Ph.D., Director, Positive Psychology Center/University of Pennsylvania. www.authentichappiness.org S. 628: © Dragan Trifunovic – Fotolia. com S. 629: © The New Yorker Collection, 1996, Mike Twohy from cartoonbank.com. All Rights Reserved.
Kap. 15 S. 637: photos.com S. 638: Rick Wilking/Reuters/Corbis S. 640: Abb. 15.2 Foto: photos.com S. 641: Philip G. Zimbardo, Inc. S. 642: Originally published
in the New Yorker S. 645: Peter Turnley/Corbis S. 646: Abb. 15.3a William Vandivert/Scientific American S. 648: Eigentum von The Graduate Center, CUNY S. 649: Abb. 15.5bc From the film Obedience © 1968 by Stanley Milgram, (c)renewed 1993 by Alexandra Milgram and distributed by Penn State Media Sales. S. 650: AP/Wide World Photos S. 652: © Urbanhearts – Fotolia. com S. 656: Margaret Bourke-White/Time & Life Pictures/Getty Images © 1946 Time Warner Inc. S. 660: Abb. 15.8 Courtesy of David Perrett, St. Andrews University S. 662: John MacDougall/AFP/Getty Images – Reuters/Corbis S. 663: Michael S. Yamashita/National Geographic/Getty Images S. 665: C. Styrksy S. 666: © The New Yorker Collection,1995. Donald Reilly from cartoonbank.com. All rights reserved. – Mitsuaki Iwago/Minden Pictures S. 667: Reuters/Corbis S. 671: Foto: Dietmar Gust S. 674: © Otmar Smit – Fotolia.com S. 676: photos.com – Cinetext/Bruder S. 677: C. Styrksy S. 678: action press/ Everett Collection, Inc. – © IMAGE Créations – Fotolia.com – photos.com – S. Wahl S. 679: Abb. 15.14 Courtesy of David Perrett/University of St. Andrews S. 681: Courtship and Matrimony (From the collection of Werner Nekes) S. 683: Abb. 15.15a Jeff Randall/Getty Images S. 686: Syracuse Newspapers/ The Image Works S. 688: © The New Yorker Collection, 1983. William Miller from cartoonbank.com. All rights reserved.
Kap. 16 S. 697: Les Stone/Corbis S. 699: Bannerman © 7/94 S. 701: Abb. 16.7 Lennart Nilsson/Boehringer Ingelheim International GmbH S. 702: C. Styrsky S. 709: photos.com S. 710: © Saniphoto – Fotolia.com S. 714: photos.com S. 720: C. Styrsky S. 722: © Jason Love S. 723: Cinetext Bildarchiv S. 727: S. Wahl S. 730: Die drei Grazien (1636–1638), Peter Paul Rubens, Museo del Prado, Madrid S. 734: Eigentum von John Soltis/The Rockefeller University, New York, NY S. 735: By permission of Jon Berkeley and The Economist. All Rights Reserved.
Kap. 17 S. 745: Tiziana and Gianni Baldizzone/Corbis S. 747: John W. Verano – Bettmann/Corbis S. 753: Elizabeth Eckert, Middletwon, NY S. 754: AP Photo/ Elaine Thompson S. 755: AP Photo/Robert E. Klein S. 758: C. Styrsky S. 759: Buena Vista/Cinetext S. 760: Benjamin Lowy/Corbis S. 762: photos.com S. 764: Abb. 17.3 S. Ursu, V. A. Stenger, M. K. Shear, M. R. Jones & C. S. Carter (2003). Overactive action monitoring in obsessice-compulsive disorder. Psychological Science, 14, 347–353 S. 765: © The New Yorker Collection, 2001. Leo Collum from cartoonbank.com. All rights reserved. S. 769: From LoC »Famous People« collection [1], Library of Congress, Prints and Photographs Division, Reproduction Number: LC-USZ62-10610 – Hulton-Deutsch Collection/ Corbis – This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs Division under the digital ID cwpbh.04761. – Cinetext Bildarchiv S. 772: Jerry Irvin Photography S. 773: Abb. 17.6 Eigentum von Lewis Baxter und Michael E. Phelps, UCLA School of Medicine S. 776: Reprinted by permission of United Feature Syndicate, Inc. Distr. by kipkakomiks. de S. 779: C. Styrsky S. 780: L. Berthold, Untitled. The Prinzhorn Collection, University of Heidelberg. – August Natterer, Witch’s Head. The Prinzhorn Collection, University of Heidelberg. S. 783: Abb. 17.10 Paul Thompson and Arthur W. Toga, UCLA Laboratory of Neuro Imaging and Judith L. Rapoport, National Institute of Health S. 785: Eigentum von Daniel R. Weinberger, M.D., NIH-NIMH/NSC S. 786: Eigentum der Familie Genian S. 790: Abb. 17.13 Eigentum von Adrian Raine, University of Southern California
1027 Quellenverzeichnis
Kap. 18
Kap. 20
S. 796: Seattle Art Museum/Corbis – Corbis S. 798: IMAGNO/Edmund Engelman S. 799: © The New Yorker Collection, 2002. Alex Gregory from cartoonbank.com. All rights reserved. – © Gina Sanders – Fotolia.com S. 800: C. Styrsky S. 801: Michael Rougier/Time & Life Pictures/Getty Images S. 804: Norm Rowan/The Image Works – C. Styrsky S. 805: Mit freundlicher Genehmigung von A. Mühlberger, Universität Würzburg. Aus Mühlberger, A., Weik, A., Pauli, P., & Wiedemann, G. (2006). One-session virtual reality exposure treatment for fear of flying: one year follow-up and graduation flight accompaniment effects. Psychotherapy Research, 16, 26–40. S. 807: Lara Jo Regan/Gamma Liaison S. 810: © Mary Kate Denny/PhotoEdit, Inc. S. 815: C. Styrsky S. 821: Eigentum von Christine Brune S. 823: Tom Stewart/Corbis S. 824: Michael Reynolds/EPA/SIPA/DPA S. 832: © 2008 P. C. Vey from cartoonbank.com. All Rights Reserved. S. 833: Abb. 18.9 Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Volker Backes, Rheinische Kliniken Düsseldorf.
S. 889: Abb. 20.1 Aus Semmer, N. und Udirs, I. (1995). Bedeutung und Wirkung von Arbeit. In Schuler, H. (Hrsg.) Lehrbuch Organisationspsychologie, S. 138. © 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 890: Abb. 20.2 Aus Semmer, N. und Udirs, I. (1995). Bedeutung und Wirkung von Arbeit. In Schuler, H. (Hrsg.) Lehrbuch Organisationspsychologie, S. 138. © 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 894: photos.com S. 895: Abb. 20.3 Aus Semmer, N. und Udirs, I. (1995). Bedeutung und Wirkung von Arbeit. In Schuler, H. (Hrsg.) Lehrbuch Organisationspsychologie, S. 145. © 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 898: photos.com S. 899: C. Styrsky S. 901: photos.com S. 902: Abb. 20.5 Aus Einarsen, S. (2000). Harassment and bullying at work: a review of the scandinavian approach. Aggression and violent behavior, Volume: 5, 379–401, Elsevier Science Ltd., S. 394 S. 903: © Isabella Bannerman S. 905: photos.com – photos.com S. 906: C. Styrsky S. 909: photos.com S. 917: Abb. 20.6 Aus Scholl, W. (2004). Grundkonzepte der Organisation. In Schuler, H. (Hrsg.) Lehrbuch Organisationspsychologie. © 2004, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 919: photos.com S. 920: Abb. 20.7 Aus Born, M. und Eiselin, S. (1995). Teams – Chancen und Gefahren, Grundlagen, Anwendung am Beispiel von Lean Management, S. 41. © 1995, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. – photos.com S. 921: C. Styrsky S. 927: Abb. 20.10 Aus Schuler, H. und Höft, S. (2007). Diagnose beruflicher Eignung und Leistung, S. 315. In Schuler,H. (Hrsg.) Lehrbuch Organisationspsychologie. © 2007, Hans Huber, Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 929: Abb. 20.11 Aus Jeserich, W. (1981). Mitarbeiter auswählen und fördern. München: Hanser, S. 185 © Hanser Verlag, München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags. S. 932: Abb. 20.12 Aus Abele, A.E. (2002). Geschlechterdifferenz in der beruflichen Entwicklung. In B. Keller & A. Mischau (Hrsg.) Frauen machen Karriere. Copyright Nomos, Baden-Baden. Mit freundlicher Genehmigung des Nomos-Verlags. S. 934: Abb. 20.13 Aus Abele, A.E. (2002). Geschlechterdifferenz in der beruflichen Entwicklung. In B. Keller & A. Mischau (Hrsg.) Frauen machen Karriere. Copyright Nomos, Baden-Baden. Mit freundlicher Genehmigung des NomosVerlags. – photos.com S. 935: C. Styrsky
Kap. 19 S. 843: Siegfried Hoppe-Graff, Leipzig S. 844: photos.com S. 846: © DJH. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Jugendherbergsverbands. S. 947: photos.com – Abb. 19.1 Nach http://www.sn.schule.de/~Schulpsychologie/ S. 849: C. Styrsky S. 850: photos.com – photos.com S. 851: © Arbeiterwohlfahrt, www.awo.org – photos.com S. 852: photos.com S. 857: Frank Pusch (
[email protected], Tel.: 0421-543454) S. 859: photos.com S. 860: C. Styrsky S. 862: photos.com S. 864: Abb. 19.2 Aus Grusec, J.E. & Kuczynski, L. (1997). Parenting and Children‘s Internalization of Values. p. 29. © 1997, John Wiley & Sons, Inc. S. 865: Abb. 19.3 Aus Grusec, J.E. & Goodnow, J.J. (1994). Impact of Parental Discipline Methods of the Child’s Internalization of Values. Developmental Psychology, Vol. 30 (1) © 1994, American Psychological Association, Inc. Mit freundlicher Genehmigung der American Psychological Association. S. 868: C. Styrsky S. 869: beide Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von I. Engel S. 870: photos.com – Abb. 19.4 Nach Alsaker, F.D. (2003). Quälgeister und ihre Opfer. Mobbing unter Kindern – und wie man damit umgeht. Bern: Hans Huber. © Verlag Hans Huber Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags. S. 873: M. Barton – Abb. 19.5 Aus Patterson, G. R., Capaldi, D., & Bank, L. (1991). An early starter model for predicting delinquency. In D. Pepler & K. H. Rubin (Eds.), The development and treatment of childhood aggression (pp. 139–168). Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates. © 1991, Lawrence Erlbaum Associates, Inc. Abdruck mit Genehmigung. S. 877: photos.com – C. Styrsky S. 882: Abb. 19.6 Aus Fend, H. (2002). Mikro- und Makrofaktoren eines Angebot- Nutzungsmodells von Schulleistungen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 16, 141–149. © Verlag Hans Huber Bern. Mit freundlicher Genehmigung des Hans Huber Verlags.
Anhang S. 943: © Kzenon – Fotolia.com S. 944: photos.com
1028
Anhang
Namenverzeichnis Aarts, H. 560 Aas, H. 334 Abbey, A. 119 Abbott, R. D. 196 Abdullah, Kronprinz (Saudi-Arabien) 130 Abele, A. E. 931, 933, 934 Abele, A. 931, 934 Abele-Brehm, A. 931 Abrams, D. B. 326 Abrams, D. 623 Abrams, M. 277 Abramson, L. Y. 775 Abramson, P. R. 531 Achouri, C. 925 Ackerman, D. 60, 72, 380 Acock, A. C. 141 Adams, E. M. 35 Adams, M. J. 410 Adelmann, P. K. 204 Adelson, R. 557 Ader, R. 704 Adler, A. 541, 594, 595 Adolphs, R. 572 Affleck, G. 576 Aggassi, A. 103 Aggleton, J. P. 95, 97 Agid, O. 770 Agnati 71 Ahrendt, H. 183 Aiello, J. R. 653 Ainsworth, M. D. S. 168 Ainsworth, M. D. S. 169 Aird, E. G. 202 Albee, G. W. 837 Albert, B. 530 Albon, A. J. 421 Alcock, J. E. 407 Alderfer, C. P. 905 Aldrich, M. S. 308 Aldridge-Morris, R. 765 Aleman, A. 779 Alexander der Große 97, 582, 606 Alexander, C. J. 68 Alexander, C. N. 716 Alexander, K. W. 599 Alexie, S. 339 Allard, R. 392 Allen, J. B. 538 Allen, K. 710 Allen, M. 139 Allen, W. 131, 307, 600 Alloy, L. 776 Allport, G. W. 2, 607, 608, 609, 627, 662 Alock, J.E. 289 Alsaker, F. D. 870 Altman, L. K. 702, 703 Altmeyer, B. 538
Alvarez, L. 831 Alwin, D. F. 134, 211 Amabile, T. M. 477, 478, 629 Ambady, N. 561, 565, 617 Ambinder, M. S. 260 Amedi, A. 89 Amelang, M. 633 Amen, D. G. 666 Ames, A. 272, 273 Ames, M. A. 536 Andersen, R. E. 738 Andersen, S. M. 183 Anderson, A. K. 78 Anderson, B. L. 703 Anderson, C. A. 46, 374, 667, 671, 672, 673 Anderson, D. C. 667 Anderson, I. M. 829 Anderson, J. R. 466 Anderson, R. C. 405 Anderson, S. R. 464 Andreasen, N. C. 783 Andrews, G. 792 Angell, M. 717 Angelou, M. 17 Angelsen, N. K. 37 Angoff, W. H. 491, 501 Anisman, H. 703 Ankney, C. D. 478 Annan, K. 134, 685 Antell, D. 391 Anthony, J. C. 723 Antoni, C. H. 920, 921 Antony, M. M. 762 Antrobus, J. 312 Appel, M. 377 Appleton, J. 433 Archer, R. 599 Arenson, K. W. 503 Arent, S. M. 713 Aries, E. 137 Aristoteles 4, 8, 10, 16, 56, 97, 186, 340, 541 Armel, K. C. 246 Armony, J. L. 558 Armstrong, B. J. 755 Arnett, J. J. 178 Aron, A. P. 680, 681 Aronow, E. 597 Aronson, E. 187 Aronson, S. R. 173 Arrigo, J. M. 599 Arseneault, L. 329 Asch, S. E. 646, 651 Asendorpf, J. 633 Aserinsky, E. 298 Ashberry, J. 780 Ashtari, M. 746 Ashton, M. C. 614
Aspinwall, L. 624 Assanand, S. 520 Astington, J. W. 163 Atkinson, R. 112, 132 Atkinson, T. A 383 Atta, M. 651 Atwood, K. C. IV 717 Au, T. K. 453 August, D. 457 Auhagen, A. E. 624, 633 Austin, E. J. 493 Averill, J. R. 554, 573 Avery, R. D. 500 Avis, N. E. 191 Ax, A. F. 553 Axel, R. 252 Azar, B. 254 Babad, E. 563 Babyak, M. 713 Bachman, J. 333 Backman, L. 242 Backus, J. 238 Bacon, F. 4, 8, 438 Baddeley, A. D. 383, 384, 386, 406 Badura, B. 193 Baer, J. 768 Bagermihl, B. 534 Bahrick, H. P. 387, 404, 411, 412 Bailey, J. M. 118, 140, 536, 597 Baillargeon, R. 161 Bain, J. 527 Bairagi, R. 660 Baker, E. L. 318 Baker, M. C. 451 Bakermans-Kranenburg, M. J. 169 Baker-Ward, L. 422 Baldwin, J. 587 Baldwin, S. A. 819 Ballard, M. E. 671 Baltes, P. B. 199 Bamberg, E. 904 Banaji, M. R. 456 Bancroft, J. 526 Bandura, A. 202, 339, 371, 372, 375, 619, 870 Barbaree, H. E. 325 Barber, T. X. 319, 854 Bard, P. 548, 549, 554, 585 Bargh, J. A. 628, 645, 655 Barinaga, M. 192, 229, 253, 572, 714 Barker, S. L. 822 Barkley, R. A. 746 Barlow, D. H. 762, 763 Barnes, M. L. 562 Barnett, P. A. 776 Barnett, R. 204 Barnier, A. J. 316 Barnum, P. T. 611
1029 Namenverzeichnis
Baron, R. A. 366 Baron, R. S. 432, 647, 711 Baron-Boldt, J. 926 Barr, R. 423 Barrett, L. C. 622 Barrett, L. F. 562 Barry, D. 48, 178, 193, 245, 334, 524, 611 Bartoshuk, L. M. 250 Baruch, G. K. 204 Bashore, T. R. 194 Baskind, D. E. 805 Bass, L. E. 334 Bassett, D. R. 735 Bat-Chava, Y. 243 Batinic, B. 377 Bauer, P. J. 157 Baum, A. 703 Baumann, U. 794 Baumeister, R. F. 118, 128, 187, 317, 439, 533, 541, 543, 575, 578, 600, 621, 628, 629, 631, 632, 681 Baumrind, D. 175, 360, 539, 851, 852, 853, 855 Bavelier, D. 89, 217, 451, 453 Bayley, P. J. 402, 490 Beach, S. R. 676 Beaman, A. L. 679 Beardsley, L. M. 748 Beardsley, T. 305 Beauchamp, G. K. 521 Beauvais, F. 334 Beck, A. J. 668, 808, 809 Beck, A. T. 772, 807 Becker, I. M. 352 Becklen, R. 259 Beckman, M. 180 Beeman, M. J. 93 Behan, P. O. 95 Beilin, H. 166 Beitel, P. 459 Beitman, B. D. 797 Bell, A. P. 534 Bell, R. Q. 490 Bellugi, U. 447 Beloff, J. 289 Belsher, G. 770 Belsky, J. 173 Belyaew, D. 115, 116 Bem, D. J. 288, 289, 537 Bem, S. L. 143 Benassi, V. A. 621 Benavides, A. H. 457 Benbow, C. P. 493, 494, 502, 503 Benes, F. 72 Benjet, C. 361 Bennett, R. 670 Bennett, W. I. 737 Ben-Shakhar, G. 557 Benson, H. 715 Benson, K. 414 Benson, P. L. 108, 138 Ben-Zeev, T. 506 Berenbaum, S. A. 140, 504
Berger, B. G. 713 Berger, S. 19 Berghoff, D. 591 Bergin, A. E. 824 Bergsholm, P. 832 Bering, J. M. 461 Berk, L. E. 165 Berk, L. S. 709 Berking, M. 586 Berkowitz, L. 573, 667 Berman, M. 666 Berndt, T. J. 139 Bernhardt, P. C. 666 Bernstein, D. M. 20 Berntsen, D. 381 Berridge, K. C. 323, 557 Berry, D. S. 347 Berry, J. W. 697 Berscheid, E. 541, 677, 681 Bersoff, D. M. 182 Bértolo, H. 310 Best, D. L. 137 Bettencourt, R. A. 133, 137 Beyerstein, B. 611 Beyerstein, D. 611 Bhatt, R. S. 356 Bialystok, E. 457 Bianchi, K. 765 Bickman, L. 697, 818 Biederman, J. 746 Biello, S. M. 328 Bierhoff, H. W. 690 Biggs, V. 561 Bigler, E. D. 478 Biko, S. 639 Billings, J. 709 Binet, A. 482, 483, 507, 610, 845 Birbaumer, N. 100, 256, 545 Birch, S. A. J. 162 Birnbaum, S. G. 399 Bishop, B. 655 Bishop, G. D. 432, 654 Biswas-Diener, R. 578, 579 Bjork, R. A. 316, 317, 318, 387, 609 Björk, Robert 9 Bjorklund, D. F. 166 Black, G. 391 Blackmore, S. 289, 336, 370 Blair, D. 547 Blair, G. 189 Blair, R. 151 Blajda, V. M. 109 Blakemore, S-J. 246 Blakeslee, S. 68, 89, 164, 247 Blanchard, R. 534 Blanke, O. 336 Blankenburg, F. 218 Blascovich, J. 672, 694 Blass, T. 649 Blatt, S. J. 823 Blickle, G. 937
Blizzard, R. 721 Block, J. 183 Blocker, A. 246 Blom, J. M. C. 704 Bloom, B. J. 491 Bloom, B. S. 544 Bloom, O. 112 Bloom, S. R. 520 Blum, K. 80 Bock, B. C. 726 Bodamer, M. 464 Bodenhausen, G. V. 661, 687 Boehm, K. E. 187 Boer, D. P. 598 Boesch, C. 460, 461 Boesch-Achermann, H. 460 Bogaert, A. F. 525, 534 Bogen, J. 90 Boggiano, A. K. 363 Boggs-Sigmund, B. 703 Bogin, B. 500 Bohman, M. 109 Bohr, N. 20 Bolger, N. 576 Bonacci, A. M. 529 Bonanno, G. A. 207, 208, 761 Bond, C. F. Jr. 326, 387, 563 Bond, M. H. 132 Bond, R. 648 Boneva, B. S. 132 Bono, C. 561 Bono, J. E. 928 Bookheimer, S. H. 195 Boos, M. 920 Booth, A. 666 Booth, D. A. 519 Booth, F. W. 714, 736 Boothe-Luce, C. 296 Bootzin, R. R. 310, 336, 387 Borgida, E. 443 Boring, E. G. 278 Borkenau, P. 613, 617 Born, M. 918, 919, 920 Bornstein, M. H. 134, 451, 676 Bornstein, R. F. 168, 408, 601 Boroditsky, R. 530 Bortfield, H. 452 Bortz, J. 54 Boscarino, J. A. 694 Bosma, H. 708 Bostwick, J. M. 771 Bosworth, R. G. 89 Bothwell, R. K. 420, 663 Botwin, M. D. 614 Bouchard, T. J. Jr. 106, 107, 108, 495, 496 Bouton, M. E. 762 Bowden, E. M. 93 Bower, G. H. 389, 393, 405, 407 Bower, J. E. 703 Bower, J. M. 76 Bowers, K. S. 316, 317, 318
1030
Anhang
Bowers, T. G. 819 Bowlby, J. 172 Bowman, H. 463 Boyatzis, C. J. 375 Boynton, R. M. 233 Brackmann, A. 509 Bradbury, T. N. 638 Braddock, J. H. III 493 Braden, J. P. 243, 500 Bradford, J. 389 Bradley, D. R. 257, 258 Bradshaw, J. 125 Braffman, W. 316 Brahms, J. 308 Brainerd, C. J. 158, 419, 420 Brannon, L. A. 531 Bransford, J. D. 392 Bratslavsky, E. 681 Braun, S. 153, 327 Bray, D. W. 625 Bray, G. A. 733, 734 Brayne, C. 199 Breedlove, S. M. 535 Brehm, J. W. 656 Brehm, S. 656 Breland, K. 364 Breland, M. 364 Brenner, M. 387 Breslau, N. 757 Bressan, P. 278 Bretz, R. D. 474 Brewer, C. L. 12, 112 Brewer, W. F. 389 Brewin, C. R. 760 Brickman, P. 577 Bridgeman, B. 290 Briggs Myers, I. 608 Briggs, K. 608 Brinson, S. L. 669 Briscoe, D. 142 Brisette, I. 307 Brislin, R. W. 128, 748 Brissette, I. 307, 776 Britton, W. B. 336 Broadbent, D. E. 238 Broca, P. 87 Broch, H. 287 Brock, T. C. 531 Brody, J. E. 179, 305, 473, 723, 735, 760 Brody, N. 323 Brody, N. 476, 480 Brodzinsky, D. M. 108 Broman, S. H. 490 Bronner, E. 503 Brooke, J. 726 Brooks, D. 192 Brooks, G. 379 Brooks-Gunn, J. 127, 186 Broom, F. 60 Brossard, M. A. 186 Brown, A. S. 404, 407, 784
Brown, E. L. 240 Brown, G. K. 819 Brown, G. W. 823 Brown, J. D. 531, 632 Brown, J. L. 498 Brown, L. R. 727 Brown, R. 381, 451, 455, 571 Brown, S. L. 711 Brown, S. W. 415 Brownell, K. D. 734, 738, 742 Browner, W. S. 700 Browning, C. 650 Brownmiller, S. 529 Bruce, D. 157 Bruck, M. 421, 422 Brucker, B. S. 714 Bruer, J. T. 498 Bruggemann, A. 895, 936 Brugger, B. 842, 845, 846 Brumberg, J. J. 522 Bründel, H. 337 Brune, K. 246 Bruun, S. E. 653 Bryant, J. 670 Bryant, R. A. 424 Buchan, J. 359 Buchanan, A. 170 Buchel, C. 572 Bucher, C. 718 Buck, L. 252 Buckley, K. E. 542 Buckner, R. L. 401 Bucy, P. C. 77 Buddha 3, 8, 573 Buehler, R. 439 Bugelski, B. R. 391 Bugental, D.B. 563 Buka, S. L. 783, 784 Bukowski, C. 698 Bulia, S. 755 Bullough, V. 532 Bumstead, C. H. 656 Bungard, W. 921 Buquet, R. 310 Burger, J. M. 623 Buri, J. R. 175 Burisch, M. 899 Burish, T. G. 350 Burke, D. M. 197 Burkholder, R. 579 Burlingame, G. M. 810 Burman, B. 204 Burnett, N. 392 Burns, B. C. 445 Burns, L. 623 Burrell, B. 478 Burson, J. 248 Burt, D. M. 191 Busch, W. 582 Bush, G. H. W. 591 Bush, G. W. 130, 381, 439, 640, 663, 675, 686, 687
Bushman, B. J. 529, 574, 631, 666, 673 Busnel, M. C. 152 Buss, A. H. 616 Buss, D. M. 111, 119, 120, 121 Büssing, A. 891, 893, 907, 916, 918 Butler, J. 406 Butler, R. A. 514 Butterfield, F. 754 Butterworth, G. 174 Buunk, B. P. 681 Byck, R. 327 Byne, W. 537 Bynum, R. 246 Byrne, D. 346, 527, 679 Byrne, J. 287 Byrne, R. W. 29, 370, 462 Byron, G. G. (Lord) 478 Cacioppo, J. T. 552 Cahill, L. 140, 400 Cale, E. M. 789 Calhoun, L. G. 761 Calkins, M. 6 Call, K. T. 530 Callaghan, T. 163 Calle, E. E. 731 Callicott, J. H. 785 Calment, J. 192 Calvo-Merino, B. 458 Camerer, C. F. 283 Campbell, D. T. 581, 606 Campbell, J. P. 887 Campbell, L. 438 Campbell, S. S. 302 Campbell, S. 279 Campbell, W. K. 185 Campbell, W. 582 Camperio-Ciani, A. 536 Campos, J. J. 571, 762 Canli, T. 562 Cannon, W. B. 518, 548, 549, 554, 585, 694, 695 Cantor, N. 207, 474 Cantril, H. 656 Capitanio, J. P. 538 Caplan, N. 126, 502 Caputo, D. 625 Carducci, B. J. 295, 680 Carere, C. 610 Carey, G. 665, 763 Carey, M. P. 351 Carlezon, W. A. Jr. 746 Carli, L. L. 664 Carlin, G. 282, 327, 407 Carlson, C. L. 746 Carlson, D. K. 538 Carlson, M. 171 Carlson, R. 626 Carlson, S. 611 Carr, T. H. 88 Carrey, J. 723 Carroll, D. 708 Carroll, J. M. 565
1031 Namenverzeichnis
Carroll, J. 441 Carroll, L. 337 Carron, A. V. 652 Carskadon, M. A. 303, 312 Carstensen, L. L. 206 Carter, R. 62 Carter, S. 679 Cartwright, R. D. 301 Carver, C. S. 708 Caryl, P. G. 480 Cäsar 582 Cascio, W. F. 929 Case, R. B. 711 Cash, T. F. 523, 677 Caspi, A. 109, 210, 773, 789, 790 Cassandro, V. J. 493 Cassidy, J. 168 Castillo, R. J. 744, 748 Castonguay, L. G. 797 Catanese, K. R. 668 Cattell, R. B. 200 Cavalli-Sforza, L. 501 Cavigelli, S. A. 696 Ceci, S. J. 421, 422, 473, 499 Centerwall, B. S. 374 Cerella, J. 194 Cervone, D. 259 Chabris, C. F. 259 Chambless, D. L. 819, 821 Chamove, A. S. 372 Chang, E. C. 623 Chang, P. P. 700 Chao, R. K. 926 Chao, R. 856, 857 Chapin, J. K. 84 Chaplin, C. 97, 560 Charles, 9. Earl of Spencer 523, 783 Charles, S. T. 206 Charpak, G. 287 Chartrand, T. L. 645 Chase, M. H. 302 Chase, W. G. 392, 393 Chase-Lansdale, P. L. 173 Chassin, L. 722 Chaucer, G. 130 Chaudhari, N. 250 Chaudry, H. R. 578 Chaves, J. F. 318 Check, J. V. P. 529 Cheek, J. M. 132 Chei, W-J. 841 Cheit, R. E. 598 Chen, E. 708 Cheng, C. 46 Cheng, T. O. 726 Chentsova-Dutton, Y. 566 Chermack, S. T. 666 Chess, S. 109, 169, 210 Chesterfield (Lord) 369 Chesterton, G. K. 135 Chiarello, C. 93
Childs, B. 503 Chiles, J. A. 818 Chimpsky, N. 27 Chisholm, K. 171 Choi, I. 131 Choi, Y. 131 Chomsky, N. 446, 450, 451, 454 Chorpita, B. F. 762 Christensen, A. 823 Christie, A. 26, 317 Christophersen, E. R. 803 Chugani, H. T. 156 Chuganji, Y. 192 Churchill, W. 114, 778 Cialdini, R. B. 640, 663 Cicero 380, 502, 677 Citrome, L. 755 Clancy, S. A. 418 Clark, A. 709 Clark, K. B. 258 Clark, K. 52 Clark, M. P. 685 Clark, R. D. 119 Clark, R. 698 Clarke, P. R. F. 311 Claudius 832 Clayton, N. S. 460 Clemons, A. 471 Cleve, J. 466 Clinton, B. 630 Clum, G. A. 819 Coats, E. J. 562 Cobain, K. 97 Coe, W. C. 319 Coffey, C. E. 194, 774, 832 Coffey, W. 467 Cogan, J. C. 730, 739 Cohen, D. B. 311 Cohen, D. 132, 668, 735, 765 Cohen, G. 197 Cohen, K. M. 537 Cohen, K. M. 700 Cohen, N. 704 Cohen, S. 307, 701, 702, 708, 710, 711 Cohen, S. 834 Colangelo, N. 494 Colapinto, J. 140 Colarelli, S. M. 117, 137 Colcombe, S. J. 194 Cole, K. C. 287, 721 Coleman, J. C. 179 Coleman, J. 726 Coleman, P. D. 194 Collier, V. P. 457 Collings, V. B. 273 Collins, D. W. 504 Collins, N. L. 681 Collins, R. L. 31 Collins, W. A. 126 Collinson, S. L. 783 Colom, R. 487
Colombo, J. 168 Colon, E. A. 711 Comer, R. J. 745 Comfort, A. 191 Conway, M. 415 Cook, E. W. III 350 Cook, M. 571 Cooke, L. J. 250 Cooper, H. 583 Cooper, K. J. 372, 645 Cooperamith, S. 175 Coppola, M. 451 Corballis, M. C. 95, 462 Corbett, S. W. 520 Coren, S. 94, 95, 96, 97, 304, 305, 307 Corina, D. P. 93 Corkin, S. 401 Corneille, O. 432 Correll, J. 661 Costa, P. T. Jr. 201, 206, 211, 562, 613, 615, 928 Costanzo, M. 52 Costello, C. G. 770 Costello, E. J. 31, 793 Courage, M. L. 174 Courneya, K. S. 652 Courtney, J. G. 703 Cousins, N. 132 Cover Jones, M. 803 Covington, M. V. 722 Cowan, G. 669 Cowan, N. 395, 396 Cowart, B. J. 250 Coyle, J. T. 782 Coyne, J. C. 777 Crabbe, J. 103, 113, 332 Crabtree, S. 138 Craig, M. E. 669 Craik, F. I. M. 199, 388, 389, 390 Crain-Thoreson, C. 491 Crandall, C. S. 522, 732 Crandall, J. E. 606 Crawford, M. 505 Crews, F. 601 Crick, F. 59, 337 Crocker, J. 628, 629, 632, 663 Croft, R. J. 328 Crombie, A. C. 224 Crook, T. H. 196, 197 Cross, S. 627 Crowell, J. A. 168 Crowley, M. 684 Croyle, R. T. 739 Csikszentmihalyi, M. 138, 186, 206, 373, 577, 893 Cunningham, M. R. 678 Cunningham, W. A. 661 Curtis, G. C. 758 Curtis, R. C. 679 Cutler, B. L. 420 Czeisler, C. A. 297, 298 D’Aquili, E. 716 D’Eon, J. L. 318
1032
Anhang
da Vinci, L. 95, 224, 427 Dabbs, J. M. Jr. 527, 666, 684 Dafters, R. I. 328 Dahmer, J. 754 Dal Martello, M. F. 278 Dale, P. S. 491 Daley, T. C. 487 Dallenbach, K. M. 414 Dalton, M. A. 723 Damasio, A. R. 475, 554 Damasio, H. 86 Damon, W. 158, 174, 185, 628 Daniels, D. 126 Dannenberg, A. L. 736 Danner, D. D. 709 Danso, H. 506 Dante 201 Darby, J. 656 Darley, J. M. 366, 682, 683 Darling, N. 852 Darrach, B. 789 Darwin, C. 6, 10, 16, 117, 122, 174, 248, 349, 350, 471, 513, 565, 566, 567, 601, 624, 757, 767 Daum, I. 403 Dauvilliers, Y. 308 Davey, G. C. L. 351, 763 Davey, T. C. 491 Davidoff, J. 456, 852 Davidson, R. J. 553, 666, 716, 773 David-Spickermann, M. 326 Davies, D. R. 201 Davies, M. F. 611 Davis, B. E. 157 Davis, B. L. 449 Davis, J. O. 123, 785 Davis, S. 527 Davison, K. P. 811 Dawes, R. M. 596, 628, 674 Dawkins, R. 292, 597 Dawson, D. A. 337 Dawson, N. V. 19 Day, D. V. 923, 924 de Beauvoir, S. 50 de Beyer, J. 727 de Boysson-Bardies, B. 449 de Courten-Myers, G. M. 68, 81, 155 de Fermat, P. 476 De Graaf, N. D. 108 De Houwer, J. 346 de Klerk, F. W. 21 de Montaigne, M. E. 181, 614 de Quervain, D. J-F. 400 de Rebecque, B. C. 570 de Waal, F. B. M. 140, 174, 370 De Wolff, M. S. 169 Dean, G. A. 611 Dear, K. 771 Deary, I. J. 472, 479, 480, 503, 616 DeBruine, L. M. 676 DeCasper, A. J. 152 Decety, J. 458
Deci, E. L. 363, 632 Deffenbacher, K. 240 DeFries, J. 147, 496 Dehaene, S. 293 Delaney, P. F. 397 Delargy, M. 577 Delgado, J. M. R. 83 Dell, R. 623 DeLoache, J. S. 158, 162, 212 DelVecchio, W. F. 615 Dember, W. N. 217 Dement, W. C. 298, 299, 300, 302, 303, 304, 305, 306, 308, 310 Demir, E. 536 Dempster, F. N. 387 Denes-Raj, V. 442 DeNeve, K. M. 583 Dennerstein, L. 191 Dennett, D. C. 10, 348 Denollet, J. 700 Denton, K. 325 Denton, R. 647 DePaulo, B. M. 561, 563, 617 Der, G. 479 Deregowski, J. 269 Dermer, M. 582, 680 Deroche-Garmonet, V. 323 DeRubeis, R. J. 819 Descartes, R. 4, 8, 10, 16, 248, 465 DeSteno, D. 407, 573 Detterman, D. K. 484 Dettman, J. R. 117 Deutsch, G. 95, 100 Deutsch, J. A. 79 Deutsch, M. 366 DeValois, K. K. 233 DeValois, R. L. 233 Devine, P. G. 676 Devlin, B. 495 Dew, M. A. 306 Dhawan, N. 132Di Tella, R. 578 Diaconis, P. 36 Diallo, A. 258, 264 Diamond, J. 117, 447 Diamond, L. M. 533 Diamond, R. 538 Diana (Prinzessin von Wales) 288, 381, 399, 523, 630 DiCaprio, L. 759 Dickerson, S. S. 707 Dickinson, E. 55, 114, 745, 778 Dickson, B. J. 536, 896 DiClemente, C. C. 729 Diener, C. 133 Diener, E. 109, 133, 206, 249, 542, 578, 579, 580, 581, 583, 677, 777 Diener, M. 133, 575 Dietz, W. H. Jr. 738 DiGiulio, G. 819 Dijksterhuis, A. 560 DiLalla, D. L. 107, 772 Dill, K. E. 671
Dilling, H. 749, 794 Dillon, M. 207 Dimberg, U. 370, 558, 568 Dindia, K. 139 Dinges, N. G. 455 Dion, K. K. 133, 142 Dion, K. L. 133, 142 DiPietro, J. A. 153 Dishion, T. J. 815 Ditto, P. H. 739 Dittrich, M. 5 Dix, D. 517 Dixon, R. A. 242 Dobelle, W. H. 241 Doherty, E. W. 722 Doherty, W. J. 722 Dohrenwend, B. P. 792 Dohrenwend, B. 698 Dolan, R. J. 86, 88, 399 Dolcos, F. 399 Dole, R. 639 Dolezal, H. 277, 278 Dolkins, K. R. 89 Domhoff, W. G. 310, 311, 313 Domjan, M. 345, 349 Donahoe, J. W. 367 Donatelli, D. 393 Donnellan, M. B. 614, 620, 632 Donnerstein, E. 373, 374, 375 Doolittle, B. 214 Door, N. 133 Döring, N. 54 Döring, S. 794 Dorman, M. F. 241 Dornbusch, S. M. 856 Dorner, G. 536 Dorozyaski, A. 153 Dorris, M. 153 Doty, R. L. 193, 253 Doty, R. W. 398 Doucette, M. 302 Dovidio, J. F. 686 Dowd, M. 677 Downing, P. E. 228 Downs, A. C. 179 Doyle, A. C. 72, 96, 396 Doyle, R. 119 Draguns, J. G. 744, 776 Drake, T. 340 Druckman, D. 316, 317, 318, 609 Druyan, A. 462 Duckworth, A. L. 544, 545 Duclos, S. E. 567 Dudel, J. 100 Duenwald, M. 829 Duffy, M. 642 Dugatkin, L. A. 370 Duggan, J. P. 519 Dugger, C. 441 Duncan, B. L. 658 Duncan, G. J. 438
1033 Namenverzeichnis
Duncan, J. 479 Dunckel, H. 896, 897 Duncker, K. 435 Dunn, A. L. 713 Dunning, D. 624, 625, 630 Dunson, D. B. 190 Durm, M. W. 287 Durston, S. 180 Dush, C. M. K. 203 Dutton, D. G. 680 Dye, D. A. 474 Eagly, A. H. 121, 137, 139, 145, 660, 677, 684, 933, 934 Eastman, C. L. 297, 821 Ebbesen, E. B. 411, 574 Ebbinghaus, H. 386, 387, 411, 413 Eberhardt, J. L. 661 Eccles, J. S. 505 Eckensberger, L. H. 182 Eckersley, R. 578, 579, 771 Eckert, E. D. 763 Ecklund-Flores, L. 152 Edelman, M. W. 646 Edelman, R. 574 Edelman, S. 703 Edelmann, W. 377 Edison, T. 298, 302, 433, 477 Edwards, C. P. 134, 182 Edwards, J. 204 Edwards, K. J. 803 Egan, M. F. 785 Ehlert, U. 742 Ehrhardt, A. A. 140 Ehrlichman, H. 253 Ehrmann, M. 631 Eibl-Eibesfeldt, I. 565 Eich, E. 310, 765 Eichler, D. 871 Eichmann, A. 651 Eikelmann, B. 827 Einarsen, S. 902 Einstein, A. 21, 458, 471 Einstein, G. O. 198 Eiselin, S. 918, 919, 920 Eisenberg, N. 126, 212, 562 Eisenberger, R. 363 Eiser, J. R. 722 Ekman, P. 557, 563, 564 Elaad, E. 557 Elbert, T. 100 Elfenbein, H. A. 565 Eliot, T. S. 430, 471 Elisabeth, Königin von England 287 Elizabeth, Queen Mother 97 Elkin, I. 818 Elkind, D. 181 Ellis, A. 352, 824 Ellis, B. J. 187 Ellis, L. 536 Ellis, S. 158 Elrod, N. 1
Emde, R. N. 109 Emerson, R. W. 571, 744 Emery, G. 287 Emery, N. J. 460 Emmons, S. 744, 781 Emmorey, K. 242 Empson, J. A. C. 311 Emslie, C. 523 Endler, N. S. 614, 774, 832 Engemann, K. M. 677 Engen, T. 253 Engle, R. W. 383 Epel, E. S. 696 Epicharmos 231 Epley, N. 162, 630 Epstein, J. 783 Epstein, L. H. 737 Epstein, S. 474, 616 Eratosthenes 796 Erdberg, P. 597 Erdelyi, M. H. 599 Erel, O. 173, 204 Erickson, M. F. 202 Ericsson, K. A. 393, 476, 544 Erikson, E. 170, 184, 185, 186, 202, 210 Ernsberger, P. 737, 739 Eron, L. D. 872, 874, 875 Ervin, F. 78 Essau, C. A. 763 Esser, G. 839 Esser, J. K. 203, 655 Esses, V. 506 Esterson, A. 598 Estrin, J. 577 Esty, A. 581 Eszterhas, J. 723 Etcoff, N. L. 243 Etnier, J. L. 713 Ettinger, M. G. 300 Etzioni, A. 686 Evans, C. R. 238 Evans, E. F. 238 Evans, F. J. 317 Evans, G. W. 173 Evans, R. I. 699, 710, 722 Ewert, O. 845, 846 Ewing, R. 735 Exline, J. J. 621 Exner, J. E. 597 Eysenck, H. J. 609, 715, 752, 817 Eysenck, M. W. 620 Eysenck, S. B. G. 609 Faber, N. 476 Fagan, J. F. III 502 Fahrenberg, J. 613 Fairburn, C. G. 523 Faiz, F. A. 291 Fantz, R. L. 154 Farah, M. J. 88 Faraone, S. V. 772 Farina, A. 747, 753, 813
Farley, M. 760 Farley, T. 735 Faro, S. 557 Farrington, D. P. 789 Farwell, L. A. 557 Fatsis, S. 625 Fazio, R. H. 346 Feder, H. H. 527 Feeney, D. 49 Feeney, J. A. 170 Feierabend, S. 373 Feigenson, L. 161 Feinberg, I. 414 Feingold, A. 523, 677, 678 Feldman, B. 212 Feldman, R. S. 562 Feltz, D. L. 459 Fend, H. 212, 880, 881, 882 Fenn, K. M. 306 Fenton, W. S. 782 Ferguson, E. D. 541 Ferguson, T. J. 375 Fergusson, D. M. 31, 770 Fernandez, E. 249 Fernández-Ballesteros, R. 192 Fernández-Dols, J-M. 565 Ferris, C. F. 172 Festinger, L. 642 Feuerlein, W. 728 Feynman, R. 476, 479 Fiedler, G. 771 Fiedler, P. 407, 922 Field, T. 124, 174 Fields, R. D. 81, 399 Finch, C. E. 193 Fincham, F. D. 638 Fink, G. R. 402 Fink, G. R. 833 Finlay, S. W. 811 Finney, E. M. 242 Finucci, J. M. 503 Fischer, A. 842 Fischhoff, B. 19, 439 Fisher, H. E. 202, 526 Fisher, H. T. 804 Fisher, J. D. 813 Fisher, R. P. 421 Fisher, S. 831 Fiske, S. T. 642 Fisseni, H.-J. 633 Fitzgerald, J. A. 535 Flack, W. F. Jr. 568 Flavell, J. H. 163 Flaxman, S. M. 521 Fleishman, E. A. 922 Fleming, I. 708 Fleming, J. H. 564 Fletcher, G. J. O. 638 Fletcher, P. C. 599 Flood, D. G. 194 Flouri, E. 170
1034
Anhang
Flynn, J. R. 487, 497 Foa, E. B. 804 Fodor, J. 289 Foerster, O. 83 Follette, V. M. 171 Fong, G. T. 45 Ford, E. S. 714 Forehand, R. 366 Forer, B. R. 611 Forgas, J. P. 407, 776 Forge, A. 241 Forman, D. R. 372 Foss, D. J. 598 Fosse, R. 301 Foster, J. D. 133 Foulkes, D. 313 Fouts, R. S. 464 Fowler, M. J. 414 Fowler, R. C. 771 Fowler, R. D. 759 Fowles, D. C. 782 Fox, B. H. 703 Fox, E. 560 Fox, J. L. 89 Fox, N. C. 195 Foy, E. 570 Fracassini, C. 254 Fraley, R. C. 170 Francis, D. 169 Frank, A. 178, 185 Frank, J. D. 797, 822, 823 Frank, R. 130, 633 Frank, S. J. 187 Frankel, A. 612 Frankenburg, W. 157 Franklin, B. 97 Franz, E. A. 92 Fraser, S. C. 641 Frasure-Smith, N. 700 Fredrickson, B. L. 391, 523 Freedman, D. J. 460 Freedman, J. L. 205, 375, 641, 653 Freedman, L. R. 786 Freeman, W. J. 235 Frensch, P. A. 599 Freud, S. 7, 202, 311, 313, 314, 414, 415, 416, 425, 443, 471, 588, 589, 590, 591, 592, 593, 594, 595, 597, 598, 599, 600, 601, 603, 605, 607, 608, 633, 798, 799, 849 Frey, C. 870 Frey, D. 690 Frey, M. C. 484 Freyberger, H. J. 794 Freyd, J. J. 171 Friedman, M. 698, 699, 715, 899 Friedrich, O. 745 Friend, T. 464 Friesen, W. V. 564 Frieze, I. H. 132 Frijda, N. 581 Frith, C. 164
Frith, U. 164 Fritsch, G. 83 Fritze, J. 813 Frohlich, P. F. 527 Fromkin, V. 447, 450 Fruhner, R. 926 Fry, A. F. 194 Fryer, D. 913 Fuchs, A. 690 Fuhrer, U. 853, 878, 883 Fuhriman, A. 810 Fuller, M. J. 179 Fuller, T. 573 Fulton, R. 656 Funder, D. C. 183, 614, 616, 777 Funke, J. 466 Funke, U. 927 Furnham, A. 20, 502, 538, 638, 660 Furr, R. M. 777 Furstenberg, F. 358 Furumoto, L. 6 Gabbay, F. H. 109 Gabriel, M. 78 Gabrieli, J. D. E. 402 Gadenne, V. 54 Gaertner, L. 668 Gaeth, G. J. 441 Gage, F. H. 89, 713 Gage, P. 86 Galambos, N. L. 186 Galanter, E. 216 Galati, C. 565 Galea, S. 760, 761 Galileo 22 Gall, F. 56 Gallup, G. G. Jr. 174, 461 Gándara, P. 457 Gandhi, I. 685 Gandhi, M. K. 50, 372, 471, 656 Gangestad, S. W. 120, 678 Garb, H. N. 597 Garbarino, J. 760 Garcia, J. 349, 350 Garcia-Retamero, J. 933 Gardner, B. I. 462 Gardner, H. 127, 470, 471, 472, 473, 474, 475, 484, 509, 844 Gardner, J. 578 Gardner, R. A. 462 Gardner, R. M. 732 Garfield, C. 458 Garlick, D. 478 Garner, W. R. 506 Garnets, L. D. 532, 533 Garry, M. 418, 598 Garza, D. L. 459 Gates, B. 42, 44, 145, 473 Gates, G. A. 241 Gauguelin, M. 611 Gauler, E. 456 Gawande, A. 248
Gawin, F. H. 327 Gazzaniga, M. S. 90, 91, 92, 126, 323, 324 Gearhart, J. P. 140 Geary, D. C. 119, 501, 504 Geen, R. G. 375, 574 Gehring, W. J. 764 Geiselman, R. E. 421 Geißler, R. 142, 143 Geiwitz, J. 198 Geldard, F. A. 232 Geller, D. 651 Gelles, R. J. 361 Gelman, D. 565 Gelman, S. A. 161 Genesee, F. 457 Genevro, J. L. 208 Genovese, J. E. C. 40 Genovese, K. 682, 683 Gent, J. F. 250 Gentile, D. A. 374, 672 George, L. K. 719 George, M. S. 834 Gerard, D. A. 614 Gerard, R. W. 398 Gerbner, G. 334, 373, 671 Gerhardt, M. W. 928 Gerhart, K. A. 577 Gerrard, M. 530 Gershoff, E. T. 361 Gershon, J. 805 Geschwind, N. 87, 95 Geuter, U. 16 Gfeller, J. D. 319 Gibbons, F. X. 582 Gibbs, W. W. 84, 451, 730 Gibbs, W. W. 863 Gibran, K. 176 Gibson, E. J. 265 Gibson, H. B. 317 Gigerenzer, G. 440, 444 Gignac, G. 478 Gilbert, A. N. 253 Gilbert, D. T. 20 Gilham, J. E. 809 Gilhooly, K. 381 Gill, C. 626 Gilligan, C. 138 Gilovich, T. 34, 35, 205, 627, 628 Giuliano, T. A. 138 Gladue, B. A. 535, 536, 537 Glass, D. C. 238 Glass, R. M. 833 Glater, J. D. 142 Gleaves, D. H. 766 Glenn, N. D. 204 Glenn, N. D. 813 Glennie, E. 241 Glick, P. 611, 660 Gluhoski, V. L. 352 Godden, D. R. 406 Goel, M. S. 735
1035 Namenverzeichnis
Goel, V. 88 Goethals, G. R. 637 Gøtzsche, P. C. 704 Goff, D. C. 765, 766 Goff, L. M. 418 Gold, A. 883 Gold, M. 186 Goldapple, K. 830 Golden, R. N. 821 Goldenberg, J. L. 176 Goldfried, M. R. 771, 797, 822, 823 Golding, J. M. 669, 760 Goldin-Meadow, S. 463 Goldstein, A. P. 38, 669 Goldstein, E. B. 256, 290 Goldstein, I. 68 Goleman, D. 544, 553 Gollwitzer, M. 893 Gonsalves, B. 418 Goodall, J. 29, 125, 662 Goodchilds, J. 191 Goode, E. 190, 191, 247, 799, 829 Goodhart, D. E. 623 Goodman, G. S. 421 Goodman, L. A. 760 Goodnough, A. 571 Goodwin, F. K. 48 Goodwin, R. 757 Goodwin, S. A. 660 Gopnik, A. 457 Gordon, A. H. 456, 562 Gore, A. 366 Gore-Felton, C. 424 Görlich, V. 914, 915 Gorski, R. A. 535 Gortmaker, S. L. 732, 738 Gosling, S. D. 610, 616 Gotlib, I. H. 776, 777 Gottesman, I. I. 785, 786 Gottfredson, L. S. 472, 473 Gottfried, J. A. 344 Gottman, J. 203 Gould, E. 89 Gould, S. J. 121, 482 Grabowski, J. 466 Grady, C. L. 410 Graf, J. 613 Graf, P. 197 Graf, S. 103 Graham, J. W. 334 Graham, M. 471 Grajek, S. 681 Grant, B. F. 337, 792 Graumann, C.F. 16 Gray-Little, B. 629, 681 Green, B. L. 166 Green, C. S. 217 Green, D. M. 240 Green, J. T. 403 Green, R. 140 Greenberg, D. L. 381
Greenberg, J. 600 Greenberg, R. 831 Greene, J. 183 Greene, R. L. 388 Greenfeld, L. A. 667 Greenhaus, J. H. 903 Greenough, W. T. 124 Greenwald, A. G. 218, 219, 599, 661 Greenwald, S. 111 Greenwood, M. R. C. 730 Greer, G. 528 Greers, A. E. 453 Gregor vom Sinai 715 Gregory, R. L. 272, 276 Greif, E. B. 179 Greif, S. 898, 907 Greist, J. H. 757 Greve, W. 633 Grewal, D. 475 Grewe, W. 54 Grèzes, J. 458 Griffiths, M. 324 Grigorenko, E. L. 494 Grill-Spector, K. 431 Grilo, C. M. 734 Grimm, H. 843 Grobstein, C. 151 Grönemeyer, H. 728 Groothuis, T. G. G. 610 Gross, A. E. 679 Gross, J. J. 560 Grossarth-Maticek, R. 715 Grossberg, S. 280 Grossman, M. 562 Grote, G. 935 Gruchy, C. D. G. 562 Gruder, C. L. 582 Grunebaum, M. F. 831 Grünwald, H. 16 Gruschenko, Boris 307 Grusec, J. E. 373, 852, 863, 865 Guerin, B. 652 Guilbault, R. L. 20 Guisinger, S. 523 Gump, F. 481 Gundel, A. 305 Gunderson, E. 373 Güntükün, O. 95, 100, 147 Gura, T. 520 Guski, R. 256, 290 Gustafson, D. 196, 730 Gustavson, A. R. 350 Gustavson, C. R. 350 Gutierres, S. E. 529 Guzzo, R. A. 896 Ha, Y-W. 434 Haber, R. N. 381 Hacker, W. 891 Hackman, J. R. 889, 892 Haddock, G. 660 Hafdahl, A. R. 629
Haidt, J. 183 Haier, R. J. 478, 479 Haines, R. F. 259 Hakel, M. D. 472 Hakes, D. T. 598 Hakuta, K. 453, 457 Halberstadt, J. B. 419 Haldane, J. B. S. 220 Haldeman, D. C. 553 Hale, S. 194 Hall, C. S. 310, 561, 601 Hall, G. S. 178 Hall, G. 350 Hall, J. A. Y. 536 Hall, J. A. 137, 561 Hall, J. G. 105 Hall, S. S. 151 Hall, V. C. 363 Hall, W. B. 476 Halpern, B. P. 250 Halpern, C. T. 531 Halpern, D. F. 96, 97, 503, 504, 505 Halpern, J. N. 253 Halsey, A. H. 725, 736 Hamann, S. 399, 528 Hamill, R. 438 Hamilton, D. L. 34 Hamilton, R. H. 242 Hamilton, S. P. 757 Hamm, M. 105 Hamm, P. 105 Hammelstein, P. 742 Hammen, C. L. 777 Hammersmith, S. K. 534 Hammerstein, O. 566, 678 Hampson, R. 736 Händel, G. F. 114, 768 Handwerker, H. 246 Hanewinkel, R. 871 Haney, C. 52 Hanks, T. 542 Hansen, C. H. 560 Hansen, D. J. 171 Hansen, G. 142 Hansen, R. D. 560 Haraguchi, A. 397 Harber, K. D. 661 Hardin, C. 456 Hare, R. D. 789 Hariri, A. R. 573 Harjo, J. 455 Harkins, S. G. 653 Harlow, H. 167 Harlow, L. L. 333 Harlow, M. 167 Harlow, R. E. 207 Harmon-Jones, E. 553 Harris, B. 351, 352 Harris, J. A. 666 Harris, J. R. 127, 169, 850, 851 Harris, L. J. 97
1036
Anhang
Harris, R. J. 107, 108, 670 Harrison, Y. 306, 626 Harrower, M. 599 Hart, C. L. 472 Hart, D. 174 Hart, D. 185 Hartmann, E. 308, 309 Hartsuiker, R. J. 448 Harvey, F. 240 Hasher, L. 297 Hasselhorn, M. 883 Hatfield, E. 119, 677, 681 Hathaway, S. R. 610, 612 Hauck, C. 317 Hausmann, M. 147 Hawkes, N. 735 Hawking, S. 242 Hawthorne, N. 642, 897 Haxby, J. V. 228 Hayne, H. 157 Hazan, C. 172 Hazelrigg, M. D. 811 Healey, J. 736 Heaps, C. M. 424 Heath, A. C. 723 Hebb, D. O. 548 Hebl, M. R. 732 Heckhausen, H. 545 Heckhausen, J. 545 Hedges, L. V. 503 Heider, F. 637 Heiman, J. R. 528 Heine, H. 679 Heinrichs, R. W. 780 Heins, M. 672 Heise, E. 456 Heishman, S. J. 723 Hejmadi, A. 564 Heller, D. 928 Heller, W. 93, 494 Helmreich, W. B. 171, 598 Helms, J. E. 501 Helmuth, L. 834 Helson, H. 581 Helweg-Larsen, M. 623 Hembree, R. 552 Hemenover, S. H. 712 Hemingway, E. 769 Henderlong, J. 363 Hendriks, M. 326 Henkel, L. A. 419 Henley, N. M. 456 Hennessey, B. A. 477 Hennig, W. 147 Henning, K. 527, 529 Henninger, P. 765 Henry, J. D. 194 Henry, P. E. 523 Hens, P. 229 Hepper, P. G. 95 Herbert, B. 721
Herdt, G. 179 Herek, G. M. 538 Hering, E. 233, 235 Herkules 582 Herman, C. P. 522, 737, 738 Herman-Giddens, M. E. 179 Hermann, H.-D. 466 Herrmann, C. 337 Herrmann, D. 426 Herrmann, T. 54, 466 Herrnstein, R. J. 356, 500 Hershberger, S. L. 537 Hershenson, M. 272 Hertenstein, M. J. 168 Herz, R. S. 252, 253 Herzberg, F.. 888, 894 Herzog, H. A. 49 Hess, E. H. 277 Hettema, J. M. 763 Hewlett, B. S. 170 Hewstone, M. R. C. 690 Hibbeln, J. R. 773 Hickok, G. 93 Higgins, E. T. 628 Hilgard, E. R. 319, 320 Hill, C. E. 801, 908 Hill, H. 562 Hinckley, J. 754 Hines, M. 140 Hintzman, D. L. 392 Hinz, L. D. 522 Hippokrates 694 Hirsch, J. 733 Hirst, W. 320 Hirt, E. R. 777 Hitler, A. 18, 103, 439, 911 Hitzig, E. 83 Hobfoll, S. E. 578 Hobson, J. A. 296, 311, 312 Hodgkinson, V. A. 684 Hoebel, B. G. 519 Hoeness, U. 21 Hoff, E.-H. 935, 936 Hoffman, C. 662 Hoffman, D. D. 230, 262, 263 Hoffman, H. G. 805, 866 Hoffman, M. 859, 860, 861, 863, 865, 866 Hofmann, A. 329 Hofstede, G. 132 Höft, S. 926, 927, 928, 929 Hogan, J. 487 Hogan, R. 616 Hogarth, W. 796 Hoge, C. W. 760 Hogg, M. A. 662 Hohmann, G. W. 554 Hokanson, J. E. 574 Holahan, C. K. 493 Holden, C. 106, 303 Holden, G. W. 175 Hölderlin, F. 114
Holliday, R. E. 421 Hollis, K. L. 346 Hollon, S. D. 819, 830 Holloway, K. 242 Holmes, D. S. 599, 713 Holmes, S. 19, 72, 96, 278, 396, 434 Holstege, G. 526 Holt, H. 7 Holt, L. 447 Holzman, P. S. 220 Honorton, C. 288 Honzik, C. H. 362 Hooper, J. 79 Hooykaas, R. 23 Hopkins, W. D. 95 Hoppe-Graff, S. 841, 857, 870 Horaz 390, 573 Horn, J. L. 200 Horne, J. A. 306 Horney, K. 594, 595, 817 Horowitz, T. S. 305 Horwood, L. J., 31 Hötting, K. 263 House, J. S. 710 Houts, A. C. 803 Howe, M. L. 157, 174, 421 Hoy, W. 457 Hoyer, G. 771 Hoyer, J. 794, 839 Hróbjartsson, A. 704 Hu, F. B. 735 Huart, J. 432 Hubbard, E. M. 251 Hubel, D. H. 220, 228, 229 Hublin, C. 309 Hucker, S. J. 527 Hugdahl, K. 762 Hugenberg, K. 661 Hughes, H. C. 216 Hughes, H. 759 Hughes, L. 1 Hugick, L. 138 Hull, J. G. 325, 326 Hull, J. M. 405 Hull, P. 455 Hulme, C. 396 Hülshoff, T. 586 Hume, D. 655 Hummer, R. A. 718, 719 Humphreys, L. G. 491 Hunsley, J. 597, 819 Hunt, C. 757 Hunt, E. 479 Hunt, J. M. 442, 497, 498 Hunt, M. 5, 6, 7, 15, 56, 184, 352, 493, 529 Hunter, J. E. 44, 476, 625 Hunter, J. 186 Hunter, S. 201 Hurrelmann, K. 337 Hurst, N. 662 Hussein, S. 435, 642, 663, 675, 687
1037 Namenverzeichnis
Huston, A. C. 173, 373 Huxley, A. 113, 494 Huzink, A. C. 153 Hyde, J. S. 416, 503 Hygge, S. 238 Hyler, S. 755 Hyman, R. 611 Hyman, S. 831 Iacono, W. G. 105, 556 Ickes, W. 620 Ickovics, J. R. 694 Idson, L. C. 638 Ikonomidou, C. 153 Illes, J. 557 Illies, R. 928 Immen, W. 530 Ingham, A. G. 653 Inglehart, R. 205, 542, 580, 622, 888 Ingram, V. 195 Inman, M. L. 432 Insensee, B. 757 Inzlicht, M. 506 Ireland, T. O. 171 Irle, M. 690 Ironson, G. 719 Irtel, H. B. 290 Irvine, A. A. 638 Irwin, M. 305 Isham, W. P. 457 Ito, T. A. 666 Iuzzini, J. 668 Iyengar, S. S. 622 Iyer, P. 128 Izard, C. 474, 564, 569 Izumi, S. 192 Izzetoglu, K. 557 Jablensky, A. 783 Jackson, D. N. 502 Jackson, J. M. 653 Jackson, J. S. 658 Jackson, L. A. 614 Jackson, S. W. 822, 851 Jacobe, D. 119 Jacobi, F. 728, 792, 814 Jacobs, B. L. 329, 713, 773, 774, 830 Jacobs, W. J. 762 Jacobson, N. S. 823 Jacquot, B. 849 Jaffe, E. 282 Jahoda, M. 888, 889, 908, 909, 910, 911 Jakicic, J. M. 737 James, L. 821 James, W. 6, 7, 9, 153, 320, 405, 409, 427, 548, 549, 550, 554, 566, 567, 575, 585, 626, 643, 744, 846 Jameson, D. 234 Jamison, K. R. 768 Jäncke, L. 100 Janda, L. H. 677 Janicak, P. G. 834 Janis, I. L. 436, 655, 656 Janoff-Bulman, R. 664
Javitt, D. C. 782 Jefferson, T. 604 Jeffery, R. W. 737 Jenkins, J. G. 414 Jenkins, J. M. 163 Jennings, J. R. 699 Jensen, A. R. 479, 480, 488, 506 Jensen, J. P. 506, 824 Jensen, M. 318 Jepson, C. 53 Jerusalem, M. 742 Jervis, R. 443 Jessel, T. M. 100 Jesus 715 Jing, H. 9 Johanowicz, D. L. 370 Johansson, P. 260 John, O. P. 613 Johnson, B. T. 137, 389, 390, 755 Johnson, C. B. 119 Johnson, D. F. 6 Johnson, D. L. 610 Johnson, D. W. 686 Johnson, E. 623 Johnson, G. 557 Johnson, J. G. 522 Johnson, J. S. 453 Johnson, L. B. 439 Johnson, L. C. 440 Johnson, M. E. 317 Johnson, M. H. 154, 168 Johnson, M. K. 392 Johnson, R. T. 686 Johnson, V. E. 526 Johnston, A. 562 Johnston, L. D. 327, 331, 333, 726 Johnston, R. E. 565 Johnston, W. A. 259 Johnstone, E. C. 786 Joiner, T. E. 772 Jonas, K. 690 Jones, E. E. 47, 822 Jones, J. M. 658, 757 Jones, J. T. 676 Jones, L. 611 Jones, M. C. 804 Jones, M. V. 282 Jones, S. S. 565 Jonides, J. 383 Jordan, C. H. 631 Jordan, M. 630 Jorgenson, D. O. 687 Jorm, A. F. 195 Joseph, A. 429 Joseph, J. 107 Josephs, R. A. 325 Joubert, J. 369 Judge, T. A. 928 Jung, C. G. 176, 594, 595, 608 Jung-Beeman, M. 433 Just, M. A. 93
Juvenal 191 Kaczynski, T. 421, 754 Kagan, J. 109, 167, 168, 170, 210 Kahn, O. 42 Kahneman, D. 35, 248, 304, 391, 437, 439, 576, 577, 578, 816 Kail, R. 194 Kaiser 31, 538 Kalff, A. C. 127 Kalin, N. H. 553 Kaltman, S. 207 Kaluza, G. 742 Kamarck, T. 699 Kamena, M. 423 Kamin, L. J. 457 Kaminski, J. 462 Kanaya, T. 493 Kanazawa, S. 470 Kandel, D. B. 334 Kandel, E. R. 65, 100, 398, 399 Kane-Williams, E. 334 Kann, L. 334 Kant, I. 275 Kanwisher, N. 431 Kaplan, A. 523, 828 Kaprio, J. 698 Karacan, I. 300 Karau, S. J. 653, 933 Kark, J. D. 718 Karni, A. 124, 311 Karno, M. 759 Karon, P. B. 599 Karraker, K. H. 282 Kashima, Y. 132 Kassel, J. D. 725 Kasser, T. 580 Kassirer, J. P. 717 Kasten, H. 147 Katon, W. 700 Kaufman, J. C. 468, 768 Kaufman, J. H. 272 Kaufman, J. 171 Kaufman, L. 157, 272 Kavšek, M. 490 Kazdin, A. E. 361 Keenan, J. P. 93 Keesey, R. E. 520 Keiko 341 Kelava, A. 54, 509 Kellehear, A. 336 Keller, A. 749 Keller, B. 885 Keller, H. 155, 213, 242 Keller, M. B. 830 Kellerman, J. 560 Kellermann, A. L. 665 Kelley, J. 108 Kelling, S. T. 250 Kellner, C. H. 833 Kelly, A. E. 807 Kelly, I. W. 611, 791
1038
Anhang
Kelly, T. A. 824 Kemeny, M. E. 707 Kempe, C. C. 171 Kempe, R. S. 171 Kempermann, G. 89, 194, 713 Kemsies, F. 845 Kendall-Tackett, K. A. 171, 423 Kendler, K. S. 172, 175, 332, 620, 763, 770 Kennedy, J. F. 655, 656, 687 Kennedy, S. 68 Kenny, D. A. 617 Kenrick, D. T. 119, 529, 616 Kepler, J. 224 Kernis, M. H. 631 Kerr, N. L. 653 Kerwin, C. J. 831 Kessler, M. 837 Kessler, R. C. 703, 760, 775, 819 Kestenbaum, R. 560 Ketcham, K. 398, 424 Keynes, M. 769 Keys, A. 517, 518, 520 Keys, L. 373 Khaliq, A-R. A. 387, 390 Khan, A. 831 Kidman, A. D. 703 Kiecolt-Glaser, J. K. 702, 703, 711 Kierkegaard, S. 19 Kieselbach, T. 912, 913 Kight, T. D. 680 Kihlstrom, J. F. 164, 320, 415, 474, 599, 601, 766 Killeen, P. R. 321 Kilmann, P. R. 530 Kim, B. S. K. 824 Kim, H. 857 Kim, K. H. S. 452 Kim, Y. 132 Kimata, H. 709 Kimball, M. M. 503 Kimble, G. A. 349 Kimbro, W. 656 Kimmel, D. 532 Kimura, D. 94, 504, 536 King, M. L. Jr. 372 King, R. N. 611 King, R. 472 Kinkel, K. 754 Kinnier, R. T. 205 Kinsey, A. C. 525 Kipling, R. 662 Kirby, D. 532 Kirchler, E. M. 913 Kirkpatrick, L. 168 Kirsch, I. 38, 316, 318, 320, 830, 831 Kisor, H. 243 Kistler, D. J. 561 Kitayama, S. 132, 455, 574, 637 Kite, M. E. 538 Kitt, A. S. 582 Kivimaki, M. 708 Klauer, K.J. 883
Klayman, J. 434 Kleck, R. E. 712 Klein, D. F. 757 Klein, D. N. 823 Klein, E. 834, 906 Klein, S. B. 164 Kleinbeck, U. 892, 893 Kleinfeld, J. 503 Kleinke, C. L. 560, 567 Kleinmuntz, B. 556 Kleitman, N. 298 Klemm, W. R. 75 Klentz, B. 678 Klepp, K-I. 334 Kline, D. 193 Kline, G. H. 203 Kline, N. S. 778 Klineberg, O. 564, 686 Klinke, R. 277 Kluft, R. P. 765 Kluge, F. 914, 915 Klüver, H. 77 Knapp, M. 780 Knapp, S. 424 Knäuper, B. 770 Knauth, P. 908 Knecht, S. 93 Knickmeyer, E. 523 Knight, W. 251 Knipfel, J. 257 Knorz, C. 902 Köcher R. 141 Koehler, D. J. 611 Koelling, R. A. 349, 350 Koenig, H. G. 717, 719 Koenig, O. 68, 229, 293 Kohlberg, L. 182, 210 Kohler, I. 278 Köhler, W. 460 Kohn, M. L. 935 Kohn, P. M. 698 Kolarz, D. M. 201 Kolata, G. 737, 771 Kolb, B. 89, 124, 477 Koletsky, R. J. 737 Kolodziej, M. E. 755 Konfuzius 8, 47, 439 Konishi, M. 240 Koob, G. F. 782 Kopernikus 22, 477 Kopta, S. M. 817 Koriat, A. 419 Koss, M. P. 669 Kosslyn, S. M. 68, 229, 293, 320 Kotchick, B. A. 530 Kotkin, M. 814 Kotva, H. J. 530 Koulack, D. 414 Kozak, M. J. 804 Kraft, C. 284 Kraft, R. 425, 599
Krahé, B. 325 Kramer, A. F. 194 Krantz, D. H. 53 Krapp, A. 845, 846, 883 Kraus, L. 327, 332 Kraus, N. 442 Krause, A. 896, 897 Krauss, R. M. 462 Kraut, R. E. 565 Krebs, D. 325 Kreitner, R. 478 Krevans, J. 863 Krijn, M. 805 Kring, A. M. 562 Kring, F. 914, 915 Krishnamurti, J. 748 Kristof, N. D. 682 Kroenke, K. 720 Kroll, R. 527 Kroonenberg, P. M. 168 Krosnick, J. A. 211, 218 Kruger, J. 564, 624 Krugman, P. 42, 730 Krull, D. S. 20 Krupa, D. J. 403 Kruse, A. 761, 914 Krützen, M. 461 Ksir, C. 328 Kubesch, S. 713 Kubey, R. 373 Kübler, A. 577 Kubzansky, L. D. 700 Kuczynski, L. 863, 864, 879 Kuester, L. W. 207 Kuhl, J. 893 Kuhl, P. K. 449 Kühlmann, T. M. 891 Kujala, U. M. 714 Kulechov, L. 281 Kulik, J. 381 Kulkin, H. S. 533 Kung, L. C. 458 Kunkel, D. 531, 671 Kupper, S. 715 Kurtz, P. 22, 611 Kuse, A. R. 504 Kushner, H. 761 Kutas, M. 300 Kvavilashvili, L. 381 L’Engle, M. 18, 507, 769 Labouvie-Vief, G. 197 Lacayo, R. 27 Lacey, M. 686 Lachman, M. E. 621 Ladd, E. C. 334 Ladd, G. T. 292 Laird, J. D. 567 Lakin, J. L. 645 Lalumière, M. L. 537 Lamaze, F. 318 Lambert, W. E. 457
1039 Namenverzeichnis
Lamberth, J. 659 Lamborn, S. D. 854, 855 Lämmel, U. 466 Lampinen, J. M. 407 Landau, M. J. 663 Landauer, T. K. 387, 396, 694 Landers, A. 574, 813 Landry, M. J. 328 Lange, C. 548, 549, 550, 554, 585 Langer, E. J. 622, 753 Langer, E. 242 Langfeldt, H.-P. 883 Langleben, D. D. 74, 557 Langlois, J. H. 677, 678 Lanzetta, J. T. 568 Larkin, K. 535 Larrance, D. T. 162 Larsen, J. 561 Larsen, R. J. 109, 258, 559, 567 Larson, D. B. 719 Larson, J. 208 Larson, R. W. 501 Larson, R. 206 Larzelere, R. E. 360 Lashley, K. S. 90, 398 Lassiter, G. D. 638 Latané, B. 653, 682, 683, 684 Latendresse, S. J. 578 Latham, G. P. 892 Laudenslager, M. L. 707 Laumann, E. O. 118, 532, 669 Lautenbacher, S. 100, 147 Lazarus, R. S. 558, 559, 693, 698 Lazarus, R. S. 899, 900 Le Grand, R. 276 Lea, S. E. 888, 889, 914 Leach, P. 361 Leary, M. R. 541, 542, 543, 628 Leary, W. E. 191 LeBoeuf, R. A. 443 LeDoux, J. E. 124, 558, 559 LeDoux, J. 402 Lee, K. 280 Lee, S-H. 132 Lee, S-Y. 493 Lefcourt, H. M. 621 Lefrancois, G. R. 377 Legrand, L. N. 105, 332 Lehman, A. F. 828 Lehman, D. R. 45, 207, 623 Lehmann, J. 68, 476 Lehr, U. 212, 914 Leigh, B. C. 326 Leitenberg, H. 527, 529 Lemonick, M. D. 519 Lennon, J. 711 Lennon, R. 562 Lennox, B. R. 85 Lenzen, D. 844 Lenzenweger, M. F. 828 Leonard, J. B. 664
Leonhardt, D. 137 Lepper, M. R. 363, 622 Lerman, C. 723 Lerner, J. S. 571 Lerner, M. J. 664 Leserman, J. 703 Lessard, N. 242 Lester, W. 659 Leucht, S. 828 Leutner, D. 883 LeVay, S. 535 Levenson, R. W. 553 Leventhal, T. 127 Lever, J. 524 Levesque, M. J. 617 Levey, G. 106 Levin, I. P. 441 Levine, J. A. 520, 734 Levine, R. V. 130 Levine, R. 29, 681 Levy, B. 242 Levy, C. 287 Lewicki, P. 599 Lewin, K. 921 Lewinsohn, P. M. 408, 769 Lewis, C. S. 5, 552, 601 Lewis, D. O. 665, 766 Lewis, J. 106 Lewis, M. 258, 308 Lewontin, R. 117, 500, 501 Leymann, H. 900, 901 Li, J. C. 664 Li, J. 207 Libet, B. 293 Licata, A. 327 Lichtman, S. W. 734 Licoppe, C. 138 Liese, A. D. 736 Liker, J. K. 473 Lilienfeld, S. O. 597, 766, 789, 790, 820 Lin, L. 308 Lincoln, A. 114, 604, 778 Lincoln, C. 743 Lindbergh, C. 287 Linde, K. 717 Linder, D. 674 Lindoerfer, J. S. 655 Lindsay, D. S. 419 Lindskold, S. 687 Lindzey, G. 601 Linville, P. W. 441 Linz, D. 375, 669 Lippa, R. A. 537 Lippman, J. 373 Lippmann, W. 679 Lipps, H. M. 660 Lipsey, M. W. 493 Lipsitt, L. P. 157 Lipton, J. S. 161 Livingston, D. 62 Livingstone, M. 229
Lock, M. 190 Locke, E. A. 892 Locke, J. 4, 8, 10, 16, 275, 276, 340 Loehlin, J. C. 106, 614 Loewenstein, G. 358 Loftus, E. F. 157, 317, 397, 398, 417, 418, 423, 424, 425, 598 Loftus, G. R. 397, 418 Logan, D. D. 52 Logan, T. K. 334 Logothetis, N. K. 229 Logue, A. W. 358 Lohse, M. J. 830 Lokar, M. 647 London, M. 923 London, P. 372, 700 Looy, H. 121 Lopes, P. N. 475 Lopez, A. D. 56, 721, 726, 744 Lopez-Zafra, A. D. 933 Lord, C. G. 443 Lorde, A. 691 Lorenz, K. 168 Lösel, F. 868, 869 Louie, K. 311 Lourenco, O. 166 Lovaas, O. I. 806 Love, J. M. 173 Love, S. M. 38 Loveland, D. H. 356 Lowry, P. E. 625 Lu, Z-L. 395 Lubart, T. I. 477 Lubinski, D. 493, 494, 502 Luborsky, L. 818 Lucas, G. 531 Lucas, H. 789 Lucas, R. E. 207, 577, 583 Lück, H.E. 16 Ludwig, A. M. 534, 769 Ludwig, J. 659 Lukoff, D. 824 Lumsden, C. J. 571 Lund, E. 771 Lundberg, G. 717 Luntz, F. 643 Lurija, A. M. 380 Lustig, C. 401 Lutgendorf, S. K. 719 Luthar, S. S. 578 Luus, C. A. E. 530 Lykken, D. T. 105, 106, 107, 199, 202, 495, 556, 573, 583, 666, 789 Lyman, D. R. 790 Lynch, G. 398, 399 Lynch, S. 399 Lyness, S. A. 699 Lynn, M. 325 Lynn, R. 500, 501 Lynn, S. J. 319, 320, 831 Lyons, L. 185, 187, 660, 719
1040
Anhang
Lytton, H. 143 Lyubomirsky, S. 575, 582, 712 M’Naughten, D. 754 Ma, Y-Y. 409, 757 Maas, J. B. 303, 304, 305, 307 Macaskill, P. 727 Maccoby, E. E. 138, 141, 173, 174, 654, 853, 879 MacDonald, G. 407 Macdonald, J. E. 698 MacDonald, J. 251 MacDonald, N. 780 MacDonald, T. K. 325 MacFarlane, A. 154 Macfarlane, J. W. 178 Macgregor, A. M. C. 733 Machado, A. 166 MacKinnon, D. W. 476 MacLeod, C. 438 MacNeilage, P. F. 449 Madden, P. A. F. 723 Maddieson, I. 447 Maddox, K. B. 661 Madonna 287, 404 Maes, H. H. M. 734 Maestripieri, D. 108 Magnusson, D. 789 Magoun, H. W. 75 Maguire, E. A. 391 402 Mahadevan, R. 397 Mahowald, M. W. 300 Maier, S. F. 701, 703 Maimonides 717 Major, B. 137, 629, 677 Malamuth, N. M. 529, 669, 670 Malan, D. H. 800 Malaspina, D. 785 Malenka, R. C. 332 Malinosky-Rummell, R. 171 Malkiel, B. G. 35, 439 Mallory, G. 515 Malmquist, C. P. 598 Malnic, B. 252 Malott, J. M. 249 Manber, R. 307 Mandel, D. 517 Mandela, N. 21, 103 Mangelsdorff, A. D. 720 Manilow, B. 627 Mann, J. J. 771 Mann, S. 563 Mann, T. 738 Manning, A. 727 Mannison, M. 669 Mannix, L. M. 732 Manson, J. E. 714 Maquet, P. 311, 312 Marangell, L. B. 833 Marcus, G. F. 44, 452 Marcus, G. 111 Marentette, P. F. 449 Margolis, M. L. 308
Margolskee, R. F. 250 Margraf, J. 839 Marino, L. A. 174, 461 Mark, V. 78 Markowitsch, H. J. 100, 402, 428 Markowitz, J. C. 800 Markus, G. B. 420 Markus, H. R. 132, 455, 574, 627 Marlatt, G. A. 358 Marley, J. 755 Marmot, M. G. 708 Marr, D. 229 Marschark, M. 391 Marsh, A. A. 565 Marsh, H. W. 583 Marshall, E. 399 Marshall, M. J. 361 Marshall, W. L. 670 Marteau, T. M. 441 Martel, Y. 511 Marti, M. W. 432 Martin, A. 73 Martin, C. L. 143 Martin, R. A. 709 Martin, S. J. 791 Martin, S. 493 Martins, Y. 535 Maruta, T. 709 Marx, J. 196 Maslach, C. 899 Maslow, A. H. 7, 511, 513, 515, 516, 603, 604, 605, 606, 887 Mason, C. 65 Mason, H. 49, 304, 725, 727, 746 Mason, R. A. 93 Masse, L. C. 332 Massimini, M. 298 Masten, A. S. 171 Masters, W. H. 526 Mastroianni, G. R. 650 Masuda, T. 637 Mataix-Cols, D. 764 Matheny, A. P. Jr. 109 Mather, M. 206 Matsumoto, D. 455, 565 Matthews, G. 616 Matthysse, S. 220 Maurer, C. 154 Maurer, D. 154, 277 May, C. P. 197 May, C. 297 May, M. 277 May, R. 104, 607 Mayberg, H. S. 833 Mayberry, R. I. 454 Mayer, D. 623 Mayer, J. D. 474, 475 Mayer, J. 466 Mazella, R. 678 Mazur, A. 666 Mazure, C. 775
Mazzella, R. 523 Mazzoni, G. 418 Mazzuca, J. 538 McAneny, L. 407 McArthur, L. Z. 347 McBeath, M. K. 270 McBride-Chang, C. 171 McBurney, D. H. 85, 250, 273 McCabe, G. 36 McCabe, M. P. 522 McCall, R. B. 503 McCann, I. L. 713 McCann, U. D. 328 McCarthy, P. 252 McCartney, P. 711 McCarty, O. 628 McCaul, K. D. 249 McCauley, C. R. 655 McClearn, G. 147, 496 McClelland, D 544, 888 McClintock, M. K. 179, 696 McClure, E. B. 505 McClure, S. M. 180 McConkey, K. M. 316, 317, 320, 321 McConnell, R. A. 286 McCord, J. 814 McCormick, C. M. 537 McCrae, R. R. 109, 201, 211, 613, 614, 615, 928 McCrink, K. 161 McCullough, M. E. 578, 718 McDaniel, M. A. 198 McDermott, K. B. 420 McEwen, B. S. 696 McFadden, D. 537 McFarland, C. 296, 408, 420 McGarry-Roberts, P. A. 480 McGaugh, J. I. 380, 399 McGaugh, J. L. 399, 402 McGhee, P. E. 165 McGlashan, T. H. 782 McGlone, M. S. 389 McGrath, J. J. 784 McGrath, M. J. 311 McGue, M. 105, 106, 108, 495, 496 McGuffin, P. 772, 773 McGuire, M. T. 737 McGuire, W. J. 136, 375 McGurk, H. 251 McHugh, P. R. 518, 765, 766 McKellar, J. 811 McKenna, K. Y. A. 655 McKillop, J. 811 McLaughlin, C. S. 530 McMurray, C. 713 McNally, R. J. 418, 424, 571, 760, 761 McNeil, B. J. 441 Meador, B. D. 802 Medland, S. E. 95 Mednick, S. A. 783, 786 Medvec, V. H. 205 Mehl, M. R. 29
1041 Namenverzeichnis
Meichenbaum, D. 809 Meier, P. 474 Meißner, W. 907 Melchior, L. A. 132 Melhuish, E. 154 Meltzoff, A. N. 371, 449, 457 Melville, H. 29, 636, 748 Melzack, R. 246, 247, 248, 249, 323 Memon, A. 418 Menander von Athen 310 Mendolia, M. 712 Menustik, C. W. 806 Menzel, R. 100 Merari, A. 655 Merriman, J. 735 Merskey, H. 765 Merten, J. 586 Merton, R. K. 23, 582 Meschkutat, B. 900, 901, 902 Mesmer, F. A. 315, 820 Messer, D. 450 Mestel, R. 310 Meston, C. M. 527, 530 Metcalfe, J. 438 Metha, A. T. 205 Meyer, A. 769 Meyer, I. H. 745 Meyer, W.-U. 586 Meyer-Bahlburg, H. F. L. 536 Mezulis, A. M. 630 Michaels, J. W. 652 Michel, G. F. 95 Michelangelo 190 Middlebrooks, J. C. 240 Mikkelsen, T. S. 103 Mikulincer, M. 170, 302, 600, 663 Milan, R. J. Jr. 530 Miles, D. R. 665 Milgram, S. 648, 649, 651, 690 Miller, D. T. 334 Miller, E. J. 732 Miller, G. A. 395, 448, 600 Miller, G. E. 693, 702 Miller, G. 252 Miller, J. G. 182 Miller, K. I. 182, 622 Miller, K. 679 Miller, L. C. 121, 681 Miller, L. K. 471 Miller, L. 709 Miller, N. E. 519, 714, 715 Miller, P. C. 175, 621 Miller, R. 16 Miller, S. D. 765 Mills, M. 154 Milne, B. J. 789 Milner, D. A. 230 Milner, P. 78 Milton, J. 289 Mineka, S 172, 571, 573, 760, 761, 762, 763 Miner-Rubino, K. 205
Mingroni, M. A. 487 Mirescu, C. 171 Mischel, W. 183, 358, 615, 625, 638 Miserandino, M. 404 Mita, T. H. 676 Mitchell, F. 664 Mitchell, T. R. 391 Miyamoto, R. T. 241 Mocellin, J. S. P. 336 Moffitt, T. E. 210, 791 Moghaddam, F. M. 655 Mohr, G. 898, 908, 911, 914 Mohr, J. K. 532 Moises, H. W. 784 Mokdad, A. H. 692 Möller, H. 794 Mollica, R. F. 760 Molyneux, W. 275, 276 Monaghan, P. 424 Money, J. 527, 534, 536, 670 Monge, P. R. 622 Moniz, E. 835 Monroe, M. 97, 121, 191, 645 Montada, I. 212 Moody, R. 336 Mook, D. G. 46 Moorcroft, W. H. 298, 301, 305, 306 Moore, D. W. 302, 658, 737 Moore, M. K. 371 Moore, S. 677 Moosbrugger, H. 54, 509 Mor, N. 777 Morales, F. R. 302 Moran, T. H. 518 Moreland, R. L. 676 Morell, V. 531, 701 Morelli, G. A. 29, 134 Morey, R. A. 782 Morgan, A. B. 790 Morin, R. 186 Morris, A. S. 175, 179, 186, 187 Morris, J. S. 572 Morris, R. 666 Morrison, A. R. 48, 296, 301, 819 Morrow, D. G. 389 Mortensen, E. L. 37, 783 Morton, J. 154 Moruzzi, G. 75 Moscovici, S. 656 Moser, H. 937 Moser, K. 914 Moser, P. W. 224 Moses, A. M. (Grandma) 199 Moss, A. J. 210, 722 Mosteller, F. 36 Motl, R. W. 713 Moultec, C. 168 Mount, M. K. 928 Mowrer, O. H. 803 Moyer, K. E. 665 Mozart, W.A. 21, 97
Mroczek, D. K. 201, 206 Muhlnickel, W. 85 Mulder, T. 337 Müller, C. 907 Muller, J. E. 526 Müller-Lyer, F. 261 Mullin, C. R. 375 Mulrow, C. D. 829 Münsterberg, H. 886 Murachver, T. 138 Murison, R. 707 Murnen, S. K. 522, 528 Murphy, G. E. 771 Murphy, S. T. 325, 557 Murphy, T. N. 248 Murray, B. 284 Murray, C. J. 744 Murray, C. 500 Murray, D. M. 420 Murray, H. A. 287, 544, 596, 888 Murray, J. E. 711 Murray, R. 783 Murray, S. L. 282, 628 Musallam, S. 84 Musick, M. A. 719 Mustanski, B. S. 535, 536 Mutter Teresa 630 Mycielska, K. 279 Mydans, S. 664 Myers, D. G. 6, 35, 130, 203, 440, 533, 575, 577, 583, 584, 654, 668 Myers, R. 90 Myerson, J 502 Mynatt, C. R. 552 Myrtek, M. 699 Nadel, L. 153, 762 Nagourney, A. 640 Nakayama, E. Y. 801 Nano, S. 493 Napoleon 582, 606 Napolitan, D. A. 637 Narring, F. 186 Narrow, W. E. 791 Nash, J. 755 Nash, M. R. 318, 321 Nash, M. 424 Neale, J. M. 576 Neeleman, J. 824 Neese, R. M. 246, 350 Neisser, U. 259, 400, 487, 495, 500, 506 Neitz, J. 233 Nell, V. 120 Nelson, E. C. 172 Nelson, G. 250 Nelson, N. 710 Nephew, T. M. 332 Nerdinger, F. 937 Nesca, M. 414 Nestler, E. J. 332 Neubauer, A. 125 Neubauer, P. B. 125
1042
Anhang
Neuberger, O. 895, 896 Neufer, P. D. 714, 736 Neugarten, B. L. 191 Neumann, R. 645 Neuringer, A. 356 Nevin, J. A. 358 Newberg, A. 716 Newcomb, M. D. 333 Newcombe, N. S. 157 Newman, A. J. 454 Newman, L. S. 174, 317, 600 Newman, M. L. 557 Newman, M. 106 Newmann, R. 568 Newport, E. L. 453, 562 Newport, F. 642, 686 Newton, I. 231, 477 Newton, T. L. 711 Neylan, T. C. 307 Nezlek, J. B. 621 Ng, S. H. 456 Nichols, R. C. 106 Nickell, J. 317 Nickerson, R. S. 283, 410 Nicol, S. E. 785, 786 Nicolaus, L. K. 349 Nicolelis, M. A. L. 84 Niebank, K. 147, 212 Niebuhr, R. 623 Niedenthal, P. M. 419 Nier, J. A. 630 Nietzsche, F. 114 Nightingale, F. 710 Nigro, G. 458 Nisbett, R. E. 53, 437, 443, 623, 668 Nixon, R. M. 564 Noel, J. G. 622 Noelle-Neumann, E. 141 Nolen-Hoeksema, S. 185, 208, 575, 775, 777 Noller, P. 170 Norcross, J. C. 819 Norem, J. K. 623 Norenzayan, A. 29, 130 Norman, D. A. 283 Noroozian, M. 95 Norris, J. 789 Norton, K. L. 524 Norton, M. B. 663 Nowak, R. 723 Nowell, A. 503 Nurius, P. 627 Nuttin, R. B. 676 O’Brien, R. M. 365 O’Connor, A. 656, 735 O’Connor, P. 823 O’Donnell, L. 532 O’Donohue, W. 172 O’Hara, S. 669 O’Heeron, R. C. 711 O’Keeffe, C. 612 O’Leary, V. E. 694
O’Neil, E. 425 O’Neil, J. 33 O’Neill, E. 425 O’Neill, M. J. 707 O’Sullivan, M. 563 Oakhill, J. V. 442 Oates, J.C. 409 Odbert, H. S. 609 Oddone-Paolucci, E. 670 Ödipus 592 Oerter, R. 212 Oetting, E. R. 334 Oettingen, G. 622, 623, 913 Offer, D. 186, 420 Öhman, A. 560, 571, 763 Oishi, S. 515, 578, 580 Okun, M. S. 554 Oldham, G. 889, 892 Olds, J. 78 Olfson, M. 746, 829, 830, 831 Olin, S. S. 786 Oliner, P. M. 372 Oliner, S. P. 372 Oliver, M. B. 373 Olsen, M-K. 522 Olshansky, S. J. 193, 730 Olson, M. A. 346 Olson, S. 610 Olweus, D. 666, 871 Oman, D. 718 Omelich, C. L. 722 Ones, D. S. 578 Oppenheimer, J. R. 22 Oren, D. A. 297 Orlovskaya, D. D. 478 Orne, M. T. 317 Ortiz Cofer, J. 101 Orwell, G. 415 Osborne, J. W. 507 Osborne, L. 451 Osgood, C. E. 687 Ost, L. G. 762 Ostendorf, F. 613 Ostfeld, A. M. 708 Oswald, A. J. 578, 711 Otto, K. 898, 914 Ouellette, J. A. 625 Over, R. 68 Overmier, J. B. 707 Owen, D. R. 487 Owyang, M. T. 677 Oyserman, D. 132 Ozer, E. J. 760, 761 Ozgen, E. 456 Pacifici, R. 328 Padawer, W. 822 Padgett, V. R. 650 Padilla, R. V. 457 Page, S. 755 Pahlewi, F. D. 579 Paikoff, R. L. 186
Paivio, A. 391 Palace, E. M. 555 Palladino, J. J. 295 Paller, K. A. 402 Pallier, C. 449 Palmer, J. C. 417 Palmer, S. 264, 265, 400 Paltrow, G. 723 Paltrow, S. J. 381 Pandey, J. 638 Pankratz, V. S. 771 Panksepp, J. 553 Pantelis, C. 783 Pantev, C. 89 Papciak, A. S. 687 Park, D. C. 200 Park, L. E. 632 Park, R. L. 556 Parker, J. W. 583 Parker, S. 730 Parsons, B. 537 Parsons, L.M. 76 Parva, S. 705 Pascal, B. 218 Passell, P. 39 Pasteur, L. 48, 477 Pate, J. E. 522 Patoine, B. 84 Patry, P. 54 Patterson, D. R. 318 Patterson, F. 463 Patterson, G. R. 361, 669, 872, 873, 876 Patterson, O. 502 Patton, G. C. 329 Patton, W. 669 Pauen, M. 337 Paul, K. 914 Paulesu, E. 47 Paulos, J. A. 532, 831 Paunonen, S. V. 614 Paus, T. 156 Pavlidis, G. T. 746 Pawlik, K. 54 Pawlow, I. 7, 339, 343, 344, 345, 346, 347, 348, 439, 351, 368, 376, 430, 803 Payne, R. 710, 913 Pedersen, N. L. 107 Peek, K. 471 Peeters, A. 731, 735 Peigneux, P. 306, 402 Pekkanen, J. 306 Pelham, B. W. 20, 629 Pendick, D. 666 Penfield, W. 83, 84, 336, 397 Penhune, V. B. 242 Pennebaker, J. W. 29, 206, 598, 686, 711, 712 Penrod, S. D. 420 Peplau, L. A. 203, 533 Pepperberg, I. M. 461 Perkins, A. 534, 535 Perkins, H. W. 580
1043 Namenverzeichnis
Perlick, D. 653 Perlmutter, M. 197 Perls, T. 703 Perrett, D. I. 191, 228, 660, 679 Perrez, M. 794 Perry, N. 158 Persaud, R. 824 Persky, S. 672 Pert, C. B. 61, 71, 79 Perugini, E. M. 320 Peschel, E. R. 527 Peschel, R. E. 527 Peter, B. 337 Petermann, F. 147, 212, 586 Peters, T. J. 366 Peterson, C. C. 163 Peterson, C. 181, 622, 624, 751 Peterson, L. R. 395, 396 Peterson, M. J. 395, 396 Petitto, L. A. 449 Petrosino, A. 815 Pettegrew, J. W. 782 Petticrew, M. 703 Pettigrew, T. F. 658, 685 Pezdek, K. 599 Phelps, E. A. 78 Phelps, J. A. 123, 785 Phelps, M. E. 156 Phillips, D. P. 645 Phillips, J. L. 162 Phillips, M. 130 Phillips, T. 686 Phipps Clark, M. 52 Piaget, J. 7, 26, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 181, 182, 210, 211, 418, 493, 509 Picasso, P. 95, 97, 471 Picchioni, D. 308 Pickar, D. 828 Piercy, M. 529 Pike, K. M. 522 Pilcher, J. J. 117 Piliavin, J. A. 183 Pillemer, D. G., 157, 196 Pillsworth, M. G. 527 Pincus, H. A. 720 Pinel, J. P. J. 519 Pinel, P. 747, 796 Pingitore, R. 732 Pinker, S. 116, 118, 289, 292, 446, 448, 451, 464, 466, 479, 504 Pinkerton, S. D. 531 Pipe, M-E. 421 Piper, A. Jr. 766 Pipher, M. 129, 543, 697 Pirandello, L. 614, 615 Pirsig, R. M. 23 Pitt, B. 404, 529, 723 Pittenger, D. J. 609 Platon 4, 8, 10, 16, 56, 258, 330, 336, 481 Plaud, J. J. 804 Pleck, J. H. 119
Pleck, J. H. 907 Pliner, P. 521 Plomin, R. 103, 104, 107, 112, 113, 116, 126, 147, 495, 496, 734, 772, 773, 784 Plous, S. 49 Poe, E. A. 769 Pogue-Geile, F. W. 734 Poldrack, R. A. 389 Polivy, J. 522, 737, 738 Pollack, A. 84 Pollack, S. 347 Pollak, S. D. 347, 561 Pollitt, E. 498 Polusny, M. A. 171 Poly, L. 254 Pomerleau, O. F. 723 Pomfret, J. 726 Pongratz, L.J. 16 Poole, D. A. 419, 420, 423 Poon, L. W. 194 Pope, H. G. 330 Popenoe, D. 133, 203 Porac, C. 96 Poremba, A. 78 Porkka-Heiskanen, T. 298 Porter, D. 356 Porter, R. P. 457 Porter, S. 418, 424 Posavac, H. D. 524 Posluszny, D. M. 703 Posner, M. I. 88 Poulton, R. 789 Povinelli, D. J. 461 Powell, J. 630 Powell, K. E. 714 Powell, L. H. 719 Powell, R. A. 598 Pratkanis, A. R. 217 Premack, D. 163 Prentice, D. A. 334 Presley, E. 589 Presson, P. K. 621 Pridgen, P. R. 626 Pringle, P. J. 152 Prinz, W. 290 Prioleau, L. 822 Pritchard, R. M. 220 Prochaska, J. O. 729 Pronin, E. 630, 637 Proust, M. 254 Provine, R. R. 29 Puchalski, C. 717 Putnam, F. W. 765, 766 Putnam, R. 130 Putt, A. 576 Pyszczynski, T. 663, 680, 777 Qirko, H. N. 655 Quanty, M. B. 574 Quasha, S. 491 Quinn, P. C. 154, 265, 266 Quinn, P. J. 37
Raab, S. 609 Rabin, A. S. 809 Rabinowicz, T. 155 Radford, B. 287 Raffael 269 Raglin, J. S. 570 Rahman, Q. 535, 537, 538 Raine, A. 666, 789, 790 Rainville, P. 319 Raison, C. L. 791 Ralston, A. 512, 514, 515 Ramachandran, V. S. 68, 89, 246, 247 Ramey, C. T. 498 Ramey, S. L. 498 Ramon y Cajal, S. 60 Rand, C. S. W. 733 Randi, J. 22, 289 Randolph, E. 659 Rapoport, J. L. 759, 763 Räsanen, S. 781 Rauen, C. 924 Raveis, V. H. 334 Rawles, R. 660 Rawlings, J. 181 Ray, J. 573 Ray, O. 328 Rayner, R. 351, 352 Raynor, H. A. 737 Reagan, R. 754 Reason, J. 278, 655 Reck, M. 474 Redelmeier, D. A. 34 Redish, A. D. 332 Reed, P. 387 Reed, T. E. 480 Rees-Jones, T. 399 Reeve, C. L. 472 Reeve, C. 554 Reeves, J. 305 Regier, D. A. 752 Regier, D. 793 Reichman, J. 527 Reilly, R. R. 926 Reimer, C. 800, 839 Reinecker, H. 794, 839 Reiner, W. G. 140 Reisenzein, R. 555, 586 Reiser, M. 287 Reiss, D. 461 Reite, M. L. 707 Relman, A. S. 716 Remafedi, G. 533 Remley, A. 134 Remondes, M. 402 Reneman, L. 328 Renneberg, B. 742 Renner, C. H. 124 Renner, M. J. 124, 514 Rentfrow, P. J. 616 Repetti, R. L. 694 Resch, M. 904
1044
Anhang
Rescorla, R. A. 348 Resnick, M. D. 33, 186, 260 Resnick, S. M. 782 Ressler, R. K. 670 Retzlaff, P. D. 317 Revenstorf, D. 337 Reyna, V. 419 Reynolds, A. J. 499 Rhee, S. H. 789 Rheinberg, F. 545, 850 Rhoades, L. 363 Rhodes, G. 678 Rhodes, S. R. 193 Rholes, W. S. 170 Ribeiro, R. 306 Riber, K. A. 477 Ricaurte, G. A. 328 Ricciardelli, L. A. 522 Rice, B. 639 Rice, M. E. 373 Rich, F. 669 Richards, J. M. 560 Richardson, J. T. E. 253 Richardson, J. 410 Richeson, J. A. 685 Ridgway, G. 556, 557 Ridl, J. 795 Rieff, P. 601 Rieger, G. 532 Rieger, J. 337 Riis, J. 577 Ring, K. 336 Ripple, C. H. 499 Riskind, J. H. 752 Ritzler, B. 599 Rizzolatti, G. 370 Roberson, D. 456 Roberts, A. H. 822 Roberts, B. W. 210, 211, 615 Roberts, J. 280, 281, 723 Roberts, L. 708 Roberts, T. A. 138 Robertson, B-A. 197 Robins, L. N. 324 Robins, L. 793 Robins, R. W. 185, 205, 570 Robinson, J. L. 109 Robinson, J. 532 Robinson, J. 866 Robinson, L. 754 Robinson, T. E. 323 Robinson, T. N. 738 Robinson, V. M. 709 Robison, L. 727 Rochat, F. 650 Rock, I. 264, 265 Rock, J. 199 Rockefeller, J. D. 606 Rockstroh, B. 337 Röder, B. 263 Rodgers, R. 678
Rodin, J. 522, 622, 707, 708 Rodman, R. 447, 450 Rodriguez, A. 582 Rodriguez, E. 230 Roediger, H. L. III 404, 418, 420 Roehling, M. V. 732 Roenneberg, T. 297 Roesser, R. 238 Rogers, C. R. 7, 603, 604, 605, 606, 629, 801, 802 Rogers, L. J. 92 Rogers, R. 566 Rogerson, P. A. 97 Roggman, L. A. 678 Rohan, M. J. 108 Rohner, R. P. 134, 169, 175 Roiser, J. P. 328 Rokach, A. 47 Romney, D. M. 143 Roosevelt, E. 211, 604 Roosevelt, F. D. 400 Rorschach, H. 596 Rosch, E. 431, 456 Rose, J. S. 126, 722 Rose, R. J. 126, 534, 761 Rose, S. 121 Roselli, C. E. 535 Rosenbaum, M. 408, 679 Rosenberg, N. A. 117 Rosengren, K. S. 158 Rosenhan, D. L. 753, 754 Rosenman, R. 698, 699, 899 Rosenthal, R. 505, 561, 617 Rosenzweig, M. 123 Ross, L. 28, 282, 437 Ross, M. 415, 420, 455, 631 Rossi, A. S. 139 Rossi, P. H. 139 Rossi, P. J. 277 Rost, D. H. 494, 509, 883 Rostosky, S. S. 531 Roth, G. 337, 428 Roth, T. 311 Rothbart, M. K. 109 Rothbart, M. 664 Rothbaum, B. O. 805 Rothbaum, F. 133 Rothman, A. J. 441 Rothstein, W. G. 205 Rotter, J. 621 Rotton, J. 791 Rousseau, J-J. 158 Rovee-Collier, C. 157, 406 Rowe, D. C. 108, 134, 135, 147, 497, 501, 665 Rozin, P. 347, 520 Ruback, R. B. 622 Rubens 196, 730 Rubenstein, J. S. 259 Rubin, J. Z. 687 Rubin, L. B. 139 Rubin, Z. 560 Ruble, D. N. 174
Ruble, D. 143 Rubonis, A. V. 697 Ruchlis, J. 433 Rudman, L. A. 660 Ruffin, C. L. 698 Rüger, U. 800, 839 Ruiz, J. M. 699 Ruiz-Belda, M-A. 565 Rule, B. G. 375 Rumbaugh, D. M. 463, 464, 465 Rünger, D. 599 Rupp, R. 380 Rusesabagina, P. 682 Rush, A. J. 833 Rush, B. 796 Rushton, J. P. 478, 500 Russell, B. 309, 582 Russell, J. A. 565, 570 Russell, P. 405 Russon, A. E. 370 Rusting, C. L. 575 Rutter, M. 147, 171, 536 Ryan, R. M. 363, 581, 632 Ryckman, R. M. 732 Saad, L. 138, 693, 697, 723, 736 Sabol, S. Z. 723 Sachdev, J. 835 Sachdev, P. 835 Sachser, N. 535 Sacks, O. 254, 400, 428, 457 Saddock, B. J. 828 Sadi 247 Saffran, J. R. 452 Sagan, C. 288, 462 Sage, C. 241 Sagi, D. 311 Sajda, P. 229 Sakurai, T. 519 Salive, M. 97 Salmon, P. 713 Salovey, P. 441, 474, 475, 575 Salthouse, T. A. 194, 199 Sameroff, A. J. 844 Sampson, E. E. 131 Samuels, S. 36 Sandberg, G. G. 669 Sanders, G. 536, 537 Sandfort, T. G. M. 532, 533 Sandler, W. 451 Sanford, A. J. 441 Santarelli, L. 830 Sanz, C. 461, 462 Sapadin, L. A. 139 Sapirstein, G. 38 Sapolsky, B. S. 531, 671, 694, 696, 708, 770 Sapolsky, R. M. 193, 557 Saß, H. 749, 750 Sato, K. 674 Saudino, K. J. 109 Saunders, S. 721 Savage-Rumbaugh, S. 464, 465
1045 Namenverzeichnis
Savic, I. 535 Savitsky, K. 627, 628 Savoy, D. 459 Sawyer, M. G. 770, 792 Sax, L. J. 118, 775 Sayre, R. F. 195 Sbraga, T. P. 172 Scanzoni, L. D. 203, 533 Scarborough, E. 6 Scarr, S. 112, 126, 173, 472, 498, 851 Schab, F. R. 253 Schachter, S. 549, 550, 555, 559, 738 Schacter, D. L. 194, 401, 402, 409, 421, 428, 572, 599 Schaefer, E. S. 853 Schafer, G. 449 Schaie, K. W. 198, 199 Schall, J. D. 229 Schaper, N. 937 Schechter, M. D. 108 Scheele, B. 456 Scheier, M. F. 708 Schein, E. H. 640 Scheinberger-Olwig, R. 325 Scheithauer, H. 147, 212 Schell, D. A. 197 Schelling, T. C. 725 Scherer, K. R. 560 Schereschewski 380 Scherm, M. 924 Schermer, F. J. 377, 428 Schiavi, R. C. 301 Schiavo, R. 1976 Schicktanz, S. 337 Schieber, F. 193 Schiffenbauer, A. 653 Schiller, F. 885 Schimel, J. 600, 606 Schlaug, G. 74 Schleicher, R. 935 Schlesinger, A. M. Jr. 655 Schmalt, H. D. 545 Schmalz-Jacobsen, C. 142 Schmidt, F. L. 476, 625 Schmidt, G. 531 Schmidt, R. F. 100, 256, 545 Schmidtke, A. 772 Schmitt, D. P. 117 Schmitt, E. 761 Schnapper, N. 336 Schneewind, K. A. 613 Schneider, H. G. 530 Schneider, S. L. 623 Schneider, S. 839 Schneider, W. 9, 16 Schneiderman, N. 699, 703 Schnotz, W. 844, 883 Schoeneman, T. J. 133, 606 Schofield, J. W. 685 Schölmerich, A. 878 Schonfield, D. 197
Schönpflug, W. 16 Schooler, J. W. 418 Schoon, I. 930, 931 Schopenhauer, A. 350 Schorr, A. 847 Schrader, F.-W. 877 Schreiner-Engel, P. 301 Schugens, M. M. 403 Schulenberg, J. 722 Schuler, H. 916, 925, 926, 927, 928, 929, 930, 937 Schulman, P. 623 Schulte-Markwort, M. 751 Schuman, E. M. 402 Schuman, H. 196 Schumann, R. 769 Schuster, C. 718 Schützwohl, A. 586 Schwartz, B. 351, 622, 762 Schwartz, J. H. 100, 398 Schwartz, J. M. 810, 835 Schwartz, J. 577, 726 Schwarz, N. 407 Schwarzenegger, A. 280 Schwarzer, R. 742 Schweiger, T. 723 Schweitzer, A. 97, 409, 910 Schweizer, K. 545 Sclafani, A. 521 Scott, B. A. 564 Scott, D. J. 723 Scott, E. 181 Scott, J. 196 Scott, W. A. 134 Sears, R. R. 493, 853 Sechrest, L. 597 Sedikides, C. 562 Seeman, P. 782 Segal, M. E. 655 Segal, N. L. 107, 166 Segall, M. H. 118, 141, 272 Segerstrom, S. C. 623, 693, 702, 708 Seidletz, L. 777 Self, C. E. 334 Seligman, M. E. P. 292, 298, 542, 544, 545, 551, 581, 601, 621, 622, 623, 624, 628, 714, 751, 776, 809, 814, 818 Selye, H. 695, 696 Semmer, N. 889, 890, 891, 892, 894, 895 Sen, A. 660 Seneca 191, 387, 581, 622 Senghas, A. 451 Sengupta, S. 686 Sensenbrenner, F. J. 732 Serdula, M. K. 737 Sergent, C. 293 Serruya, M. D. 84 Service, R. F. 399 Seto, M. C. 325 Seuss, Dr. 234 Shadish, W. R. 811, 817, 819 Shafir, E. 443
Shafto, M. A. 197 Shakespeare, W. 289, 296, 397, 430, 560, 573, 679, 754, 766, 771 Shapiro, F. 820, 821 Sharma, A. R. 108 Shattuck, R. 213 Shaughnessy, J. J. 45, 427 Shaver, P. R. 168, 170, 172, 570, 663 Shaw, G. B. 680 Shaw, H. E. 197, 524 Shaw, H. L. 464 Sheehan, S. 779 Sheldon, K. M. 542, 702 Shelton, J. N. 685 Shenton, M. E. 783 Shepard, R. N. 51, 281 Shepherd, C. 736 Sherif, M. 685 Sherman, D. 830 Sherman, P. W. 521 Sherman, S. J. 434 Shermer, M. 138 Sherrington, C. 60 Sherry, D. 401 Shettleworth, S. J. 364, 396 Shiffrin, R. M. 383 Shobe, K. K. 599 Showers, C. 623 Shulman, P. 503 Sieff, E. M. 577 Siegal, M. 163 Siegel, J. M. 296, 306 Siegel, J. 307 Siegel, R. K. 323, 326, 327, 329, 336, 710 Siegler, R. S. 158 Siegler, R. 212 Sigvardsson, S. 109 Silbersweig, D. A. 783 Silva, A. J. 399 Silva, C. E. 316 Silver, M. 651 Silver, R. C. 207 Silverman, I. 504 Silverman, K. 327, 504 Silverman, P. S. 317 Simek, T. C. 365 Simms, C. A. 765 Simon, H. A. 392 Simon, H. 445, 544 Simon, P. 718 Simon, T. 482 Simons, D. J. 259, 260 Simonton, D. K. 200, 476, 477, 493 Simpson, J. A. 120, 170 Simpson, O. J. 630 Sinclair, R. C. 555 Singelis, T. M. 132 Singer, J. E. 238, 549, 550, 555, 559 Singer, J. L. 819 Singer, T. 248, 370, 568 Singh, D. 119, 678
1046
Anhang
Singh, S. 476, 477 Singleton, C. 754 Siodmiak, A. 229 Sipski, M. L. 68 Sirenteanu, R. 277 Sirota, G. 391 Sivard, R. L. 192 Skinner, B. F. 7–9, 339, 354, 355, 356, 359, 360, 361, 362, 364, 365, 366, 375, 377, 450, 603 Skitka, L. J. 573 Sklar, L. S. 703 Skoog, G. 759 Skoog, I. 759 Skov, R. B. 434 Slater, A. 154 Slater, E. 769 Slavin, R. E. 493, 686 Sloan, R. P. 718 Slovic, P. 19, 722, 723 Small, M. F. 134, 334 Smedley, A. 501 Smedley, B. D. 501 Smelser, N. J. 664 Smith, A. 582, 673, 782 Smith, D. V. 250 Smith, E. 577 Smith, G. 242 Smith, J. E. 732 Smith, M. 677 Smith, M. B. 606 Smith, M. L. 817, 818 Smith, P. B. 648 Smith, P. F. 330 Smith, S. B. 819 Smith, S. S. 557 Smith, T. W. 530, 531, 532, 533, 699 Smith, T. 647 Smolak, L. 522 Smoreda, Z. 138 Snarey, J. R. 182 Snidman, N. 109 Snodgrass, S. E. 568 Snow, C. 679 Snowdon, D. A. 491 Snyder, M. 755 Snyder, S. H. 60, 61, 832 Sodian, B. 169 Sokol, D. K. 123 Sokoll, G. R. 552 Sokrates 4, 8, 336 Solomon, D. A. 832 Solomon, J. 755 Solomon, M. 677 Solso, R. L. 290, 428 Sommer, G. 690 Sommer, R. 130 Sonenstein, F. L. 530 Sontag, S. 703 Soussignan, R. 567 Sowell, T. 688 Spanos, N. P. 318, 319, 765
Spearman, C. 469, 470, 474 Spears, B. 582 Specht, J. C. 606 Speer, R. L. 614 Spelke, E. S. 161 Spelke, E. 164, 505 Spencer, J. 154, 506 Sperling, G. 394, 395 Sperry, R. W. 90, 92, 94, 98, 230 Spiegel, K. 306 Spielberg, S. 446 Spielberger, C. 700 Spinoza, B. 2 Spitzer, R. L. 760 Spradley, J. P. 130 Sprecher, S. 562, 677 Spring, B. 738 Springer, J. 106 Springer, S. P. 95, 100 Spychalski, A. 625 Squire, L. R. 401 Srivastava, S. 211, 580, 613 St. Clair, D. 783 Stack, S. 771 Stafford, R. S. 830 Staines, G. L. 907 Stanley, J. C. 493, 503 Stanovich, K. 589 Staples, B. 659 Stark, R. 23, 138 Starr, J. M. 491 Staub, E. 641 Staubli, U. 399 Staudinger, U. M. 624 Steadman, H. J. 755 Steel, P. 578 Steele, C. M. 325, 506 Steele, C. 500 Steele, J. 95 Steenhuysen, J. 241 Steer, R. A. 772 Steinberg, L. 175, 179, 181, 186, 187, 852, 857 Steinberg, N. 676 Steinhauer, J. 105 Steinhauser, R. 543 Steinmeier, F.-W. 676 Steinmetz, J. E. 403 Stengel, E. 771 Stern, M. 282 Stern, S. L. 709 Stern, W. 483 Sternbach, H. 191 Sternberg, E. M. 701 Sternberg, R. J. 468, 470, 473, 474, 477, 494, 501, 562, 681 Stetter, F. 715 Stevenson, H. W. 493, 501 Stevenson, R. L. 765 Stewart, B. 49 Stewart, D. 267 Stice, E. 522, 523, 524
Stickgold, R. 310, 311, 312 Stipek, D. 174 Stith, S. M. 372 Stockton, M. C. 528 Stogdill, R. M. 921 Stohr, O. 106 Stokoe, W. 241 Stokstad, E. 164 Stone, A. A. 576 Stone, L. D. 206 Stoppard, J. M. 562 Storm, L. 289 Storms, M. D. 534, 638, 653 Stough, C. 479 Strack, F. 567, 568, 645 Strack, S. 777 Strahan, E. J. 218 Strange, B. A. 399 Stratton, G. M. 277 Straub, R. O. 464 Straus, M. A. 361 Stravinsky, I. 471 Strawbridge, W. J. 718, 719 Strayer, D. L. 259 Streissguth, A. P. 153 Strickland, B. 192 Striegel-Moore, R. H. 522 Stroebe, M. 208 Stroebe, W. 690 Strupp, H. H. 628, 822 Stumpf, H. 502, 503, 613 Stunkard, A. J. 734 Sturm, R. 736 Styfco, S. J. 499 Suarez, S. D. 174 Subiaul, F. 370 Suddath, R. L. 785 Suddendorf, T. 462 Sue, D. W. 824 Suedfeld, P. 336, 761 Sugita, Y. 234 Suhail, K. 578 Suinn, R. M. 458 Sullivan, A. 155 Sullivan, P. F. 772 Suls, J. M. 582 Summers, L. 504, 744 Sundel, M. 201 Sundet, J. M. 487 Sundiata, S. 635 Suomi, S. J. 172, 593, 763 Suppes, P. 165 Susser, E. 760, 783, 786 Sutton, D. 656 Sutton, S. K. 573 Svirsky, M. A. 241 Sweat, J. A. 287 Swerdlow, N. R. 782 Swieter, D. 42 Swift, J. 6, 313 Swim, J. K. 660
1047 Namenverzeichnis
Swindle, R. Jr. 770 Symbaluk, D. G. 248 Symond, M. B. 783 Symons, C. S. 390 Szucko, J. J. 556 Szymanski, K. 653 Tabarlet, J. O. 531, 671 Tack, W.H. 54 Taha, F. A. 310 Taheri, S. 306, 308 Tajfel, H. 662 Talal, N. 701 Talarico, J. M. 382 Talbot, M. 645 Talwar, S. K. 79 Tamres, L. K. 139 Tang, S-H. 363 Tangney, J. P. 621 Tannen, D. 47, 138 Tannenbaum, P. 220 Tanner, J. M. 179 Tarbert, J. 642 Tarmann, A. 532 Tasbihsazan, R. 490 Tatarkiewicz, W. 576 Taubes, G. 738, 828 Tavris, C. 574, 597 Taylor, H. 336 Taylor, K. M. 459 Taylor, L. 538 Taylor, S. E. 139, 439, 632, 709, 760 Taylor, S. P. 666 Taylor, S. 630 Teasdale, T. W. 487 Tedeschi, R. G. 761 Teghtsoonian, R. 219 Teicher, M. 172, 746 Teitelbaum, P. 519 Tellegen, A. 202, 583 Teller, E. 479 Tennyson, Alfred, Lord 138 Teran-Santos, J. 308 Teresi, D. 79 Terman, J. S. 821 Terman, L. 482, 483 Terman, M. 297, 821 Terrace, H. S. 27, 464 Tesch, F. 582 Tesser, A. 186 Tetlock, P. E. 21, 687 Tewes, U. 484, 485 Thannickal, T. C. 308 Thatcher, R. W. 156, 210 Thayer, R. E. 713 Thoennes, N. 669 Thomas, A. 109, 169, 210 Thomas, D. 207 Thomas, G. C. 653 Thomas, J. 845, 846 Thomas, L. 62, 151, 253, 453, 817 Thomas, R. M. 212
Thomas, S. L. 375 Thomas, W. P. 457 Thomasius, R. 331 Thompson, C. P. 397 Thompson, D. 421 Thompson, G. 735 Thompson, J. K. 403, 523, 737 Thompson, J. W. 352 Thompson, P. M. 156, 495, 783 Thompson, R. F. 100, 403 Thompson, R. 412 Thomsen, D. K. 381 Thomson, R. 138 Thoren, C. 305 Thorndike, E. L. 354, 355 Thorne, J. 744 Thornhill, R. 678 Thornton, B. 677 Thornton, G.C. III 930 Thorpe, W. H. 465 Thurstone, L. L. 469, 470, 471, 474 Tice, D. M. 187, 668 Tiedens, L. Z. 575 Tietz, L. 545 Tiihonen, J. 755 Tikkanen, T. 9 Timmermanns, S. 545 Tinbergen, N. 513 Tirrell, M. E. 346 Titchener, E. B. 5-7, 9, 71 Tjaden, P. 669 Tockerman, Y. R. 732 Tofighbakhsh, J. 389 Tolchin, M. 441 Tolkien, J. R. R. 588, 614, 615 Tollefson, G. D. 831 Tolley-Schell, S. A. 561 Tolman, E. C. 362 Tolstoi, L. 13, 114, 202, 680, 768 Tondo, L. 832 Toni, N. 399 Toole, E. 789 Tordoff, V. 396 Torrey, E. F. 784, 823 Totterdell, P. 645 Tovee, M. J. 524 Towler, G. 652 Tracey, J. L. 569 Tramontana, M. G. 491 Tranel, N. I. R. 92 Traub, J. 202 Trautner, H. M. 212 Travis, J. 81 Treffert, D. A. 471 Treisman, A. 265 Tremblay, R. E. 332, 789 Trewin, D. 141, 373 Triandis, H. C. 130, 131, 132, 133, 566, 621, 668 Trice, H. M. 906 Trickett, P. K. 171 Trimble, J. E. 334
Triplett, N. 652 Trolier, T. K. 34 Trost, M. R. 119 Trut, L. N. 115, 116 Trzesniewski, K. H. 205 Tsai, J. L. 566 Tsang, B. Y-P. 133 Tsang, Y. C. 518 Tsien, J. Z. 496 Tsuang, M. T. 772 Tuber, D. S. 49 Tuerk, P. W. 498 Tuider, E. 545 Tulving, E. 389, 390, 402 Turk, D. C. 249 Turkheimer, E. 498 Turner, C. W. 374 Turner, J. C. 662 Turpin, A. 286 Tutu, D. 542 Tversky, D. A. 34, 35, 437, 439, 578 Twain, M. 56, 110, 418, 497, 629, 769 Twenge, J. M. 142, 146, 185, 543, 622, 629, 668, 763, 933 Twentyman, C. T. 162 Twiss, C. 32 Tyler, C. 281 Tyler, K. A. 171 Uchino, B. N. 711 Udris, I. 889, 890, 891, 892, 894, 895 Udry, J. R. 140 Uehling, M. C. 242 Ulich, E. 935 Ulman, K. J. 179 Ulmer, D. 698, 715 Ulrich, R. E. 48 Ulrich, R. S. 249 Underwood, B. J. 412 Urbany, J. E. 442 Urry, H. L. 553 Ursu, S. 764 Uslucan, H. 868 Uttal, D. H. 158 Vaccarino, A. L. 401 Vaidya, J. G. 210, 614 Vaillant, G. E. 420, 711 Valenstein, E. S. 78, 831, 835 Valentin, K. 659 Vallone, R. P. 21 van Beethoven, L. 478 van den Boom, D. 169 Van Dyke, C. 327 van Engen, M. L. 137 van Gogh, V. 114 Van Hesteren, F. 182 van Ijzendoorn, M. H. 168, 169 van Ittersum, K. 268 Van Leeuwen, M. S. 141, 486 Van Lommel, P. 336 Van Praag, H. 89 Van Rooy, D. L. 475
1048
Anhang
van Schaik, C. P. 461 Van Tassel-Baska, J. 491 Van Yperen, N. W. 681 Vance, E. B. 526 Vande Creek, L. 424 Vandello, J. A. 132 Vandenberg, S. G. 504 VanderStoep, S. W. 45 Vanman, E. J. 661 Vaughn, K. B. 568 Vazire, S. 616 Vecera, S. P. 268 Vega, W. A. 792 Vegas, R. 367 Vekassy, L. 310 Veltrup, C. 729 Vemer, E. 203 Veneziano, R. A. 169, 175 Venn, J. 318 Verhaeghen, P. 194 Verma, S. 501 Vernon, P. A. 480 Viding, E. 789 Vigliocco, G. 448 Vining, E. P. G. 89 Virgil 551, 573 Viswesvaran, C. 475 Vitaliano, P. P. 702 Vitevitch, M. S. 260 Vogel, P. 90 Vogel, S. 113 Vohs, K. 523 Vokey, J. R. 217 Volavka, J. 755 Volkmann-Raue, S. 16 Voltaire 94 von Békésy, G. 239 von Ebner-Eschenbach, M. 199 von Goethe, J. W. 639, 645 von Helmholtz, H. 232, 233, 235, 239 von Rosenstiel, L. 886, 887, 893, 897, 916, 919, 921, 922, 937 von Senden, M. 276 von Weizsäcker, R. 98 Vrana, S. R. 553 Vreeland, C. N. 538 Vroom, V. H. 890, 892, 894, 922, 923 Vygotsky, L. 165 Wadden, T. A. 734, 737 Wager, T. D. 249 Wagner, A. D. 389, 401 Wagner, A. R. 348 Wagner, N. N. 526 Wagner, R. K. 473 Wagner, U. 306 Wagstaff, G. 638 Wahlberg, D. 697 Wakefield, J. C. 760 Waldman, I. D. 789 Waldrop, M. F. 490 Waldrop, M. M. 393
Walk, R. D. 265 Walker, W. R. 206 Wall, B. 678 Wall, P. D. 247, 248 Wallace, D. S. 640 Wallach, H. 262 Wallach, L. 606 Wallach, M. A. 606 Wallbott, H. G. 281 Waller, J. 651 Walster, E. 677 Wampold, B. E. 818, 822, 823 Wang, Y. 396 Wansink, B. 268 Warchol, M. E. 241 Ward, A. 738 Ward, C. 326 Ward, J. 251 Ward, K. D. 725 Wardle, J. 250 Warm, J. S. 217 Warner, J. 533 Warr, P. 710 Warren, N. C. 280, 679 Washburn, A. L. 518 Washburn, D. A. 464 Washburn, M. F. 6 Wason, P. C. 434, 435 Wasserman, E. A. 356, 460 Wastell, C. A. 712 Watamura, S. E., 173 Waterhouse, R. 42 Waterman, A. S. 185 Waterman, I. 254 Waterman, R. H. Jr. 366 Waters, E. 168 Watkins, C. E. 597 Watkins, J. G. 765 Watkins, M. J. 288 Watkins, P. C. 578 Watson, D. 570, 576, 577, 628, 713 Watson, J. B. 7–9, 292, 343, 348, 349, 351, 352, 375, 803 Watson, R. I. Jr. 570, 654 Watson, S. J. 329 Watson, T. 366 Watzl, H. 337 Wayment, H. A. 203 Weaver, J. B. 529 Weaver, S. L. 621 Webb, J. 725, 736 Webb, W. B. 301, 302, 307 Weber, E. 219, 221 Weber, H. 6, 742 Wechsler, D. 198, 484, 505, 506 Weed, W. S. 284 Wegener-Spöhring, G. 870 Wegge, J. 892, 893, 921 Wegner, D. M. 92, 712 Weidenmann, B. 845, 883 Weigel, G. 192
Weil, A. 716, 717 Weinberg, M. S. 533 Weinberger, D. R. 180 Weinberger, N. M. 82 Weiner, B. 559, 638 Weinert, F. E. 843, 877 Weinstein, N. D. 623 Weiskrantz, L. 230 Weiss, A. 108, 583 Weiss, D. S. 760 Weissman, M. M. 770, 800 Weisz, J. R. 128 Weitzman, M. S. 684 Wellman, H. M. 161, 163 Wells, B. L. 529 Wells, C. 393 Wells, G. L. 340 Wells, G. 420 Wendell Holmes, O. 15, 440 Wender, P. H. 772 Wener, R. 622 Wentura, D. 54 Wentzel, K. R. 857 Wernicke, C. 87 Wessely, S. 831 West, P. D. B. 238 West, R. L. 196, 197 Westen, D. 589, 595, 819 Westermann, R. 54 Weston, D. 597 Wetter, D. W. 726 Wetzel, R. D. 771 Weuve, J. 194 Whalen, P. J. 553, 558 Whaley, S. E. 174 Whalley, L. J. 472 Whalley, L. 491 Wheeler, D. R. 287 Wheelwright, J. 106 Whishaw, I. Q., 124, 477 White, G. L. 680 White, H. R. 667 White, K. M. 187 White, L. 204 White, R. A. 288 Whitehead, B. D. 203 Whiten, A. 29, 461, 462 Whiting, B. B. 134 Whiting, J. W. M. 694 Whitley, B. E. Jr. 538, 662 Whitman, C. 553 Whitman, W. 58 Whittington, C. J. 831 Whooley, M. A. 700 Whorf, B. L. 455, 460 Wichman, H. 284 Wickelgren, I. 164 Wickelgren, W. A. 390 Widener, A. 599 Widom, C. S. 171 Wiedebusch, S. 586
1049 Namenverzeichnis
Wiens, A. N. 806 Wierson, M. 366 Wiertelak, E. P. 246 Wierzbicki, M. 108 Wiese, B. S. 935 Wiesel, T. N. 228, 276 Wiest, J. R. 671 Wigdor, A. K. 506 Wilcox, A. J. 527 Wild, E. 847 Wild, K.-P. 847 Wilde, O. 630 Wilder, D. A. 662 Wiles, A. 476, 477 Wilkens, C. 682 Willemsen, T. M. 137 Willey, D. 248 Williams, C. L. 697, 699 Williams, C. 533 Williams, J. E. 137, 700 Williams, K. D. 543, 653 Williams, R. B. 711 Williams, R. 699 Williams, S. L. 804 Williams, V. 76 Williams, W. M. 499 Williamson, D. A. 522 Willingham, W. W. 488 Willmuth, M. E. 529 Wilson, A. E. 631 Wilson, B. S. 241 Wilson, C. M. 711 Wilson, D. B. 493 Wilson, E. O. 571 Wilson, G. D. 535, 538 Wilson, G. T. 326 Wilson, J. P. 760 Wilson, J. Q. 182 Wilson, M. A. 311 Wilson, R. C. 654 Wilson, R. S. 109, 157 Wilson, T. D. 92, 259 Windholz, G. 345 Wingo, P. A. 725 Wink, M. 147 Wink, P. 207 Winkielman, P. 557 Winner, E. 493 Winquist, J. 777
Wintermantel, M. 6 Wirth, W. 5 Wirtz, D. 391 Wiseman, R. 288, 289, 418, 434, 612 Wisman, A. 176 Wiswede, G. 887, 891, 894, 895, 937 Witelson, S. F. 86, 479, 537 Wittchen, H.-U. 728, 770, 792, 794, 814, 839 Witvliet, C. V. O. 553, 575 Wixted, J. T. 410 Wleklak, D. 229 Woerlee, G. M. 336 Wolfe, C. 628 Wolfe, Tom 57 Wolfson, A. R. 312 Woll, S. 677 Wolpe, J. 804 Wolpert, E. A. 310 Wong, D. F. 782 Wong, M. M. 138 Wood, C. J. 95 Wood, J. M. 387, 597 Wood, J. V. 597, 628, 777 Wood, M. 503 Wood, W. 121, 137, 139, 145, 562, 625, 656 Woodruff, G. 163 Woodruff-Pak, D. S. 198, 403 Woods, N. F. 179 Woods, T. 303, 363 Woodward, L. G. 770 Woody, E. Z. 321 Woolcock, N. 647 Woolf, V. 769 Worobey, J. 109 Worthington, E. L. Jr. 181, 824 Wortman, C. B. 207 Wortman, C. B. 352 Wren, C. S. 334 Wright, F. L. 199 Wright, K. 174 Wright, M. 537 Wright, P. H. 139 Wright, P. 783 Wright, R. 113 Wright, W. 106 Wuethrich, B. 325 Wulsin, L. R. 700 Wundt, W. 263 Wundt, Wilhelm 5, 6, 7
Wyatt, J. K. 310, 387 Wyatt, R. J. 784 Wynn, C. D. L. 463 Wynn, K. 161 Wynn, V. 381 Wysocki, C. J. 253 Xu, Y. 401 Yalom, I. D. 811 Yang, N. 669 Yankelovich Partners 190, 718 Yanof, D. S. 186 Yardley, J. 660 Yarnell, P. R. 399 Yarrow, L. J. 172 Yates, A. 522, 754 Yates, W. R. 527 Ybarra, O. 629 Yellen, A. 298 Yetton, P. W. 922, 923 Yip, P. S. F. 772 Yirmiya, N. 164 Yogi Berra 20 Young, T. 232, 233, 235 Yufe, J. 106 Yurgelun-Todd, D. 330 Zadro, L. 543 Zahn-Waxler, C. 866 Zajonc, R. B. 44, 482, 557, 559, 567, 652, 676 Zammit, S. 329 Zanna, M. P. 108, 660 Zapf, D. 898, 901, 902 Zechmeister, E. 427 Zeidner, M. 500 Zeineh, M. M. 402 Ziegenhain, U. 169 Zigler, E. F. 171, 499 Zilbergeld, B. 814, 819 Zillmann, D. 529, 552, 555, 670 Zillmer, E. 599 Zimbardo, P. G. 638, 641, 642, 653, 663 Zimmer, C., 163 Zinbarg, R. 760, 761, 762, 763 Zornberg, G. L. 783 Zubieta, J-K. 248 Zucco, G. M. 253 Zucker, G. S. 638 Zuckerman, M. 515
1050
Anhang
Sachverzeichnis A Abhängigkeit – physische 322 – psychische 322 Abruf 382, 404 – Scheitern 412 Abrufhilfe 405, 427 Abu Ghraib 641–642 Abwehrmechanismus 593, 600 Acetylcholin (ACh) 60–62, 64, 195 Achtsamkeitsmeditation 716 Adaptation, sensorische 219 Adaptationssyndrom, allgemeines 694–696 Adenosin 297–298 ADHS (7 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) Adipositas 730, 735–738 – Aktivität 735 – Ernährung 735 – genetischer Faktor 734 – Mortalitätsrisiko 731 – Physiologie 733 – soziale Auswirkungen 732 Adoleszenz 165, 177ff, 184, 187–188 Adoptionsstudie 107ff, 113, 172, 496 Adrenalin 71, 723 Affe 461–465 Aggression (7 auch Wut) 78, 374–375, 574, 664ff, 666–667, 672, 868 – Alkohol 666–667 – biochemische Einflussfaktoren 666 – Biologie 665 – Geschlechtsunterschied 137 – gespielte 869f – Kinder und Jugendliche 867ff – Lernen 668 – sexuelle 669 Aggressivität 361, 868, 875 – Aggressivitätsmaße 875 Agonist 63 Agoraphobie 757 Aha-Erlebnis 433f, 460 Ähnlichkeit 679 AIDS 207, 702 – und Stress 702 Akkommodation 159, 224 Aktionspotenzial 58–59, 61 Akzeptanz, soziale 542
Albert, kleiner 352, 803 Albtraum 300, 309 Algorithmus 433 Alkohol 153, 323–326, 330, 737ff Alkoholabhängigkeit 332f, 348, 728, 805 – Entzugsbehandlung 728 – Warnzeichen 333 Alkoholkonsum 326, 727ff, 739 Alkoholmissbrauch (7 Alkoholabhängigkeit) Alkoholsyndrom, fötales 153 Alles-oder-nichts-Reaktion 60 Alltagsheuristik 444 Alphawellen 299 Alter 192 – Gedächtnis 196–197 – Gesundheit 193 – Intelligenz 198 – körperliche Veränderungen 191 – sensorische Fähigkeiten 193 – Unfälle 194 – Zufriedenheit 205 Altern 192, 200 – erfolgreiches 206 Alterungsprozess 696 Altruismus 682 Alzheimer-Krankheit 194–196 Amboss 237 American Psychological Association 9 – ethische Richtlinien 49–50 Ames-Raum 272–273 Ammensprache 843 Amnesie 380, 400, 409, 424, 599 Amphetamine 327, 330 Amputation 89 Amygdala 77–78, 80, 553, 557–558, 572–573, 665, 695, 764 Angst 440–441, 553, 555, 569ff, 764 – biologische Komonente 571–573 Angstkonditionierung 571, 762 Angststörung 756ff, 829 – Erklärungsansätze 762ff – generalisierte 756, 757, 764 Anlage 102, 108, 111, 124, 145–146, 180, 495, 497, 504 Anlage-Umwelt-Debatte 10, 112, 150, 450 Anonyme Alkoholiker 811 Anorexia nervosa 522f, 748 Anosmie 254 Anpassungsniveau 581, 583 Anreiz 514 Ansatz, biopsychosozialer 11–12, 145, 724
Ansteckung, emotionale 645 Antagonist 63–64 Antidepressiva 764, 774, 830 – Biologie 829 – Selbstmordrisiko 831 Antipsychotika 827 Antwortsyndrom, männliches 138 Anxiolytika 828 Anziehung, interpersonale 675ff Aphasie 86 Aplysia 340, 398 Apperzeptionstest, thematischer (TAT) 596f Arbeit 204 – latente Funktionen 889 – manifeste Funktionen 889 – Motivationspotenzial 892 – und Persönlichkeit 925, 935 – Stress 898 Arbeitsbedingungen, veränderte 904ff Arbeitsbeschreibungsbogen 895 Arbeitsgedächtnis 383–384, 412, 415 – Speicherkapazität 395 Arbeitsgruppe 897 Arbeitslosigkeit 908ff, 913 – Ausgrenzungsaspekte 912 – Auswirkungen 908 – Marienthal-Studie 909ff – YUSEDER-Studie 912 Arbeitsmotivation 887, 890–891 Arbeitsplatz 366, 886, 907ff – Flexibilisierung 908 Arbeitsprobe 929 – mentale 929 Arbeitspsychologie 14, 885ff, 941 Arbeitszeit 907ff – variable 908 Arbeitszeitsystem 908 Arbeitszufriedenheit 894ff – Erhöhung 896 – Formen 895 – Ursachen 897 Argumentation, statistische 40 Asperger-Syndrom 164 Assessment Center 625, 929 Assimilation 159 Assoziation 341, 405 – freie 590, 595, 798 Assoziationsfelder 85–86 Attraktivität 678–679 – physische 676–677 Attribution 638–639
1051 Sachverzeichnis
Attributionsfehler, fundamentaler 444, 637 Attributionsstil 622 Attributionstheorie 637 Auffassungsgeschwindigkeit 479 Aufmerksamkeit 259–260, 294 – selektive 258–259, 300 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 745–746 Auge 222–223 Augenbewegungen (7 auch EMDR) 299, 301, 821 – schnelle 312 Augenzeugen 420–421 – Kinder 421 Aura 22 Ausdauersport 713 Ausdruck, mimischer 566 Auswahlblindheit 260–261 Autismus 163–164 Autonomie 184 Autorität 649 Aversionskonditionierung 803, 805–806 Aversionstherapie 805 – bei Alkoholismus 805 Axon 58–59
B Barbiturate 326 Basilarmembran 237 Bauchspeicheldrüse 70 BDP (7 Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen) Bedürfnis 514 – physiologisches 516–517 – nach Zugehörigkeit 541–543 Bedürfnisanreiz 515 Bedürfnishierarchie 515–516, 887 Bedürfnispyramide (7 Bedürfnishierarchie) Befragung 27 Begriff 431 Begriffsbildung 431–432 Behaltenskurve 386 Beharren auf Überzeugungen 443 Behaviorismus 7–8, 292, 343 Behinderte 242 Behinderung, geistige 492–493 Belastungsstörung, posttraumatische (PTBS) 759–760, 762 Belohnung 366 Belohnungsdefizitsyndrom 80 Belohnungssystem, generelles 79 Beobachter, geheimer 319
Beobachtung in natürlicher Umgebung (7 Feldbeobachtung) Beobachtungslernen 342, 369, 371, 571, 669, 763 – Anwendungsbereiche 372 – durch Fernsehen 373 – positives 372 Berater 825 Beratung 15 Beratungspsychologie 941 Berufseinstieg 934 Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) 9, 49, 946 – ethische Richtlinien 49f Berührungssinn 245f Bestrafung 360–361 – negative 360 – positive 360 Bettnässen 803 Bewältigung – emotionsfokussierte 707 – problemfokussierte 707 Bewegung, stroboskopische 270 Bewegungswahrnehmung 269, 270, 273 Bewusstsein 6, 56, 259, 292, 294, 318, 320, 325 Bewusstseinszustand 292–293 – veränderter 319 Beziehung (7 auch Liebe) 675 – soziale 658ff – therapeutische 822 – Trennung 542, 710 Bias 24, 46 Big Five 613f, 614, 928 – Erblichkeit 614 – Stabilität 614 Bildungspsychologie 844–845 Bindung 139, 167–168, 170–171, 203 – unterbrochene 172 Bindungsverhalten 167, 172, 173 – sicheres 169, 171 – Tagesbetreuung 172 – unsicheres 169 – Vertrautheit 168 Biofeedback 714 Bipolarzellen 225–226 Blindsehen 230–444 Blitzlichterinnerung (7 Flashbulb memories) Blut-Hirn-Schranke 64 BMI (7 Body Mass Index) Bobo-Puppe 371–372 Body Mass Index (BMI) 731, 734 Borderline-Persönlichkeitsstörung 786 Botschaft, subliminale 219 Bottom-up-Verarbeitung 214–215, 264, 280
A–D
Broca-Zentrum 87 Brücke (7 Pons) Bulbus olfactorius 252 Bulimia nervosa 522–523, 748 Bullying 870
C Cannon-Bard-Theorie 549–550, 554 Chamäleon-Effekt 644–645 Chiasma opticum 227 Chromosom 103–104, 136 Chunking 392–393 Coaching 924 Cocktailpartyeffekt 259 Columbine High School 372–374, 645 Computertechnologie 905–906 Coping (7 Bewältigung) Corpus callosum 80, 90–91 CR (7 Reaktion, konditionierte) Crack 327 CREB 399 CS (7 Stimulus, konditionierter)
D daily hassles 696, 698 Definition, operationale 25 Deindividuation 653 Déja-vu-Erfahrung 407 Deltawellen 300 Demenz 194–195 Dendrit 57–58 Denken (7 auch Kognition) 430ff – in Bildern 458–460 – Einfluss der Sprache 455–458 – kindliches 154–158 – konkret-operatorisches 160 – kritisches 22–23 – moralisches 160, 181–182 – positives 623 – – Verzerrungseffekt (7 Optimismus, illusorischer) – präoperatorisches 160–161 – Schlussfolgerung 181–182 – soziales 636ff – bei Tieren 460ff Depolarisation 58–59 Depression 297, 399, 582, 703, 713, 744, 818, 832 – Erklärungsansätze 769ff
1052
Anhang
Depression – Erklärungsstil 775–776 – genetisch bedingte Disposition 777 – Geschlecht 770, 777 – kognitive Therapie 807–809 – Neurotransmitter 773 – Teufelskreis 408, 774ff, 778 Deprivation – relative 581–582 – soziale 169, 275, 293 – visuelle 277 Desensibilisierung, systematische 804 Desoxyribonukleinsäure (DNA, DNS) 103–104 Determinismus – linguistischer 455–456 – reziproker 619 Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) 9, 946 – ethische Richtlinien 49–50 Deutung 798 DGPs (7 Deutsche Gesellschaft für Psychologie) Diabetes 735 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) 749, 752–753, 781 – Achsen 750 – Anti-DSM 751 Diät (7 Gewichtsreduktion) Dienstleistungssektor 896 Differenzierung, neuronale 124 Dilemma, soziales 673–674 Diplom-Psychologe 797, 825 Diskriminierung 432, 658, 660, 662, 732 Disparität, retinale 266, 267 Dispersionsmaße 42 Dissonanz, kognitive 642–643 Dissoziation (7 auch Störung, dissoziative) 318, 764 DNA (7 Desoxyribonukleinsäure) DNS (7 Desoxyribonukleinsäure) Dominanz, visuelle 263 Dopamin 62, 64, 79, 328, 782, 828 Doppelblindstudie 37, 38, 827, 830 Down-Syndrom (7 Trisomie 21) Dreifarbentheorie 232–233 Drogen 63, 322 – Toleranz 323 Drogenabhängigkeit 322ff, 335 – biologische Faktoren 331, 332 – psychologische Faktoren 331–334 – soziokulturelle Faktoren 331–334 Drogenkonsum 324, 335, 351 Drogenmissbrauch (7 Drogenabhängigkeit) Drüse 58, 59, 65, 66, 78
– endokrine 70, 71 DSM (7 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) Dualismus 336
E Early-Starter-Modell 868, 872, 874 Echogedächtnis 395 Echtheit 604 Ecstasy 327–328, 330–331 EEG (7 Elektroenzephalogramm) Effektgesetz 354–355 Egozentrismus 162 Ehe (7 auch Beziehung) 711 Eierstock 70 Eigengruppe 662 Eigengruppen-Verzerrung 663 Eignungstest 484, 489, 506–507 Einbindung, soziale 138 Einfluss, sozialer 644, 651 – informationaler 647 – normativer 647 Einschulung 844 Einsicht (7 auch Aha-Erlebnis) 433–434 Einstellung 639ff, 643 – gegenüber Ethnien 641 Einstellungsinterview – multimodales 926 Einwortstadium 449 Einzelfallstudie 26 Eisprung 527 Eizelle 150–151 Elektrakomplex 592 Elektroenzephalogramm (EEG) 73 Elektrokrampftherapie (EKT) 398–399, 832–833 Eltern 122, 126–127, 134, 187, 849, 850 – Einfluss 125 – Loslösung 186 – Verhalten bei Regelverletzungen 859 Eltern-Kind-Beziehung 186, 204, 366, 857, 864 – Primat 852 Eltern-Kind-Bindung 170 – Körperkontakt 168 – Vertrautheit 168 Embryo 151 EMDR 819–821 Emotionalität 562 Emotion 475, 548ff – autonomes Nervensystem 551 – Gehirn 558 – komplexe 558 – Körper 551
– negative 553, 576 – physiologische Ähnlichkeiten 552–553 – positive 553, 575 – Wechselhaftigkeit 576–577 Emotionsausdruck 560, 565 – Geschlechtsunterschiede 561–562 – kultureller Kontext 564 Emotionsdimensionen 570 Emotionstheorie 548ff Emotionswahrnehmung 563 – Geschlechtsunterschiede 561–562 Empathie 568, 604, 645, 801 Empathiemediationshypothese 863 Empfängnis 150, 151, 192 Empfängnisverhütung 529 Empfinden, moralisches 182 Empfindung 5, 7, 214–215, 258, 264 Empirismus 5 Empty-Nest-Syndrom 204 Endorphine 60–61, 63 Enkodierung 382, 385, 388 – akustische 389, 390 – automatische 386 – von Bedeutung (7 Enkodierung, semantische) – von Bildern 390 – bewusste 386 – Hierarchie 392–393 – Scheitern (7 auch Vergessen) 410 – semantische 388–390 – visuelle 389–390 Entscheidung – Framing-Effekte 441–442 Entscheidungsfindung 436 Entspannung 714–715 Entwicklung – berufliche (7 Karriere) – kognitive 158–160, 166, 181, 196 – – formal-operatorisches Stadium 160, 164–165 – – konkret-operatorisches Stadium 164–165 – – präoperatorisches Stadium 162–164 – – sensomotorisches Stadium 160, 164 – kontinuierliche vs stufenweise 150, 166, 208, 210–211 – körperliche 155, 179, 190 – moralische 181 – motorische 156 – pränatale 150–152 – psychosoziale Stufen 184 – soziale 166, 184, 201 – Stabilität und Veränderung 150, 208, 210, 211 Entwicklungspsychologie 150ff, 942 Entwicklungsstadium 159, 166 Entzug 322, 330
1053 Sachverzeichnis
Equity 681 Erblichkeit 110, 497 Erektion 301 Ergebniserwartung 890 Erholung, spontane 346–347, 354 Erinnerung 157 – explizite 403 – falsche 418–420, 424 – früheste 157 – Hypnose 424 – implizite 403 – stimmungskongruente 407 Erinnerungskonstruktion 416, 418, 420 – Fehlinformationen 417 – Imagination 417 Erklärungsstil, optimistischer (7 Optimismus) Erklärungsstil, pessimistischer (7 Pessimismus) Erleichterung, soziale 652 Erregung – emotionale 551–552 – optimale 514 – physiologische 557 – sexuelle 529, 555 Erregungsgrad, optimaler 552 Erregungstheorie 513–514 Erregungsübertragung 555 Erwachsenenalter 189, 201 – Übergang zum 187 – Verpflichtungen 202 Erziehung 361, 843, 845, 850, 852 – induktive 860–862, 865 – – Wirksamkeit 865 – Lenkung/Kontrolle 855 – Zuwendung/Wärme 855 – Zwang 872 Erziehungspraktiken 133, 858 Erziehungspsychologie 844–845 Erziehungsstil 852ff – antiautoritärer 851 – Auswirkung 855 – autoritärer 175, 853–854, 857 – autoritativer 175, 853ff – Einteilung 852 – elterlicher 175–176, 849ff, 855, 863 – Erhebungsverfahren 854f – Kulturkreis 856f – nachgiebiger 854 – vernachlässigender 853–854, 856 – permissiver 175, 853 Es 590–591 Essstörung 111, 522–524, 730, 807 Essverhalten 524 Etikettierung 754 – diagnostische 755 – Gefahren 753
Ettikettierungseffekt 753 Evolutionsprinzip 10 Evolutionspsychologie 102, 115–117, 119, 04 – Kritik 120 Exekutive, zentrale 383, 384 Experiment 5, 25, 36–37, 39 – mit Tieren (7 auch Tierversuch) Experimentalgruppe 40 Expertenwissen 477 Expositionstherapie 803–804 – virtuelle Realitäten 805 Expressivität 616–617, 934 – Konsistenz 616 Expressivitätsanteil 933 Extraversion 609–610, 613, 618 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (7 EMDR)
F Faktorenanalyse 469, 609 Falle, soziale 673, 674 Fallstudie 26 Familie 710, 843, 903 – Zwang ausübende 872–873 Familientherapie (7 auch Psychotherapie, systemische) 810 Farbenfehlsichtigkeit 233 Farbensehen 226, 231–232 Farbkonstanz 233–234 Farbmischen – additives 232 – subtraktives 232 Farbton 223 Faulenzen, soziales 653 360°-Feedback 923–924 feel good, do good phenomenon 575 Fehlattribution 119, 420 Fehlinformationseffekt 417 Feldbeobachtung 29 Fenster, ovales 237 Fernsehen 373 Fett 730 Figur-Grund-Beziehung 264 Fixierung 593 Flashback 397 Flashbulb memories 380, 382 – falsche 381 Fleck, blinder 223, 226 Flugangst 440, 571, 763, 804 Flynn-Effekt 487, 493, 499 fMRT (7 Magnetresonanztomographie, funktionelle)
D–G
Foot-in-the-Door-Technik 640–641, 651 Formatio reticularis 75–76, 80 Formkonstanz 271 Formwahrnehmung 264, 265, 271, 273 Forschung, angewandte 13–14 Forschungsmethode 24ff, 39 Fötus 151–152 Fovea 223, 226 Frage – Formulierung 27 Framing-Effekt 442 Fremdeln 166–167 Fremdgruppe 662 Frequenz 236, 238 Frequenztheorie 239 Fresszelle (7 Makrophage) Freude 569 Freundschaft 675, 709 Frieden stiften 685ff Frontallappen 81, 83, 86–87 Frustrations-Aggressions-Prinzip 667 Fühlen, moralisches 183 Führung 921ff, 928 – Entscheidungsbaum 923 – Frauen 932 Führungseigenschaft 921 Führungsentscheidung 922 Führungssstil – autokratischer 921 – demokratischer 921 – Laissez-faire-Stil 921 Führungsverhalten 921–922 Fünf-Faktoren-Modell (7 Big Five) Funktionalismus 6 Funktionalorganisation 917
G GABA (γ-Aminobuttersäure) 62 Gammastrahlen 222 Gebärdensprache 93, 241–243, 412, 447, 454, 457 – Muttersprachler 454 Gedächtnis 195, 306, 380ff, – Älterer 412 – deklaratives 401 – Drei-Stufen-Modell 382–384 – explizites 400 – ikonisches 395 – implizites 400, 444 – kindliches 157 – Kontexteffekte 406 – prospektives 198
1054
Anhang
Gedächtnis – prozedurales 401 – Reifungsprozess 157 – sensorisches 383, 394, 412, 415 – Stimmung 407 – Stresshormone 399–401 – Subsysteme 401 – synaptische Veränderungen 398 – zustandsabhängiges 407 Gedächtniskapazität 381, 397 Gedächtnistraining 426 Gedächtnisverlust (7 Amnesie) Gedanken – selbstabwertende 809 Gefangenendilemma 674, 676 Gefühl (7 auch Emotion) 548 Gegenfarbentheorie 233 Gegenkonditionierung 803 Gehirn 68, 71, 98, 478 – Alterungsprozess (7 auch Demenz) 194 – elektrische Aktivität 73 – Entwicklung 124, 155, 156, 180 – Erfahrung 123 – graue Substanz 479 – Lustzentrum 79 – Plastizität 88, 90 – Spezialisierung 87–88 – Untersuchung 72 – Verletzung 72 – Zweiteilung (7 auch Hemisphäre) 90ff Gehirnwellen 299 Gehör 235 Gehörlosenkultur (7 auch Gebärdensprache; 7 auch Schwerhörigkeit) 240–243, 451 – Kinder, gehörlose 453 Gehorsam 644, 648–649, 651 Gen 103–104, 111–113 gender (7 Geschlecht, soziales) Generativität 184 Genom 103, 117 Geräuschlokalisation 239–240 Gerechte-Welt-Glaube 664 Geruchserkennung 253 Geruchssinn 251–253 Geschlecht 3, 118 – nonverbales Verhalten 561–562 – soziale Einflüsse 141 – soziales 136–137 Geschlechtshormon 527–528, 698 Geschlechtsidentität 142, 598 Geschlechtsmerkmale – primäre 179 – sekundäre 179 Geschlechtsrolle 121, 141
– kulturelle Unterschiede 142 Geschlechtsschema 143 Geschlechtstypisierung 141–143 Geschlechtsunterschied 10, 118–119, 138–139 – soziale Macht 137 Geschlechtsverkehr 525, 530 Geschlossenheit 265 Geschmack 117, 521 Geschmacksaversion 349 Geschmacksknospe 250–251, 253 Geschmacksqualität 250 Geschmackssinn 250, 251 Geschmacksvorlieben 521 Geschwister – gemeinsame Umwelteinflüsse 126 Gesichtsausdruck – Rückkopplungseffekt 567–568 Gesichtserkennung 230, 280 Gesichtsschema 281 Gesprächstherapie 605 – nichtdirektive 801 Gestalt 263 Gestaltpsychologie 263–264 – Organisationsprinzipien 264 Gesundheit 714 – biopsychosozialer Ansatz 740 Gesundheitsförderung 706ff, 720 Gesundheitspsychologie 692, 942 Gesundheitsrisiko 739 Gewalt 361, 870 – Abstumpfung 671f – in den Medien 374, 375, 669, 671, 673 – Kinder und Jugendliche 374, 867ff – sexuelle 670 Gewichtskontrolle 730 Gewichtsreduktion 737, 738 Gewichtsverlust 739 Gewissenhaftigkeit 613 g-Faktor 469–470, 476, 480 Ghrelin 519–520 Glaubensgemeinschaft 717 Gleichaltrige (7 auch Peergroup) 102, 122f, 126, 186, 722, 849–850, 872–873 Gleichgewichtssinn 254 Gliazellen 81 Glück 575, 576 – Anpassungsniveau 581 – glücklich werden 584 – Prädiktoren 583 – Vorerfahrung 581 Glukokortikoid-Stresshormon 695 Glukose 518 Glutamat 62, 782 Graduated and Reciprocated Initiatives
in Tension Reduction (GRIT) 687 Grammatik 448 – Übergeneralisierung 451 GRIT (7 Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension Reduction) Großhirnrinde (7 Kortex) Größenkonstanz 271 Größenwahrnehmung 271 Grundemotionen 569–570 Grundlagenforschung 13–14, 942 Grundumsatz 520 Gruppe 918 – ethnische 134, 135 – kulturelle 134, 135 – teilautonome 896 Gruppenarbeit 919 Gruppendenken 654–655, 920 Gruppendruck 645 Gruppeneinfluss 651 Gruppeninteraktion 654 Gruppenpolarisierung 654–655, 920 Gruppensozialisationstheorie 850 Gruppentherapie 801, 810 Gruppenzugehörigkeit 905 Gruppierung 274 Gültigkeit (7 Validität) Gummihand-Täuschung 246 Gyrus angularis 87
H Haarzelle 238 Habituation 154 Halluzination 293, 299, 301, 336, 780, 782 Halluzinogen 324, 328–329 Haltung, wissenschaftliche 22 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R) 484, 485, 487, 506 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-III) 485 Hammer 237 Handeln, moralisches 183 Händigkeit 95–97 Handlungstheorie 891 Haut 245 HAWIE-R (7 Hamburg-Wechsler- Intelligenztest für Erwachsene) HAWIK-III (7 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder) Helfen 684 Helligkeitskonstanz 273 Helligkeitskontrast 273
1055 Sachverzeichnis
Hemisphäre 80–81, 83, 91–94 Heroin (7 auch Opiate) 326, 330 Heroinmissbrauch 323 Herzinfarkt 715 Herzkrankheit 698–700 Heterosexualität (7 auch Orientierung, sexuelle) 532 Heuristik 433, 436 Hilflosigkeit, erlernte 620–621, 774 Hindsight-Bias 18–20, 444, 664 Hinweisreiz – binokularer 266, 267 – monokularer 262, 267, 269 Hippocampus 77, 80, 401–402, 774 Hirnschädigung 230 Hirnstamm 75–76, 80 Hirnwellenaktivität 299 HIV (7 auch AIDS) 531, 702–703 Hochbegabte 474, 493, 503 Hochbegabtenförderprogramm 494 Hoden 70 Homöostase 514 Homosexualität (7 auch Orientierung, sexuelle) 532, 745 Hören 235, 263 – Hirnaktivität 88 Hormon 70, 519 Hormongabe, pränatale 140 Hörnerv 225, 237 Hörrinde (7 Kortex, akustischer) Hörschwäche (7 auch Gehörlosenkultur) 284 Hörschwelle, absolute 236 Human-Factors-Psychologie 282–285 Hunger 517 – Physiologie 518 – Psychologie 520–521 Hungermotivation 523 Hygienefaktoren 889 Hyperalgesie (7 auch Schmerz) 246 Hypnose (7 auch Bewusstseinszustand, veränderter) 319, 293, 315, 820 – Altersregression 317 – Empfänglichkeit 316 – Schmerzlinderung 318 – therapeutische Wirksamkeit 318 Hypochondrie 701 Hypophyse 70–71, 77, 80 Hypophysen-Nebennieren-Achse 694 Hypothalamus 70–71, 77–80, 297, 519–520, 535 Hypothese 24–26
I ICD-10 (7 International Classification of Diseases) Ich 590–591 Ich-Integrität 184 Ideal-Selbst 605 Identifizierung 592 Identität 184–185 Identitätsstörung, dissoziative 764–765 Immunabwehr 623 Immunsuppression 704 Immunsystem 693, 701–702, 705, 708, 711 – Konditionierung 704 Impuls, neuronaler 58–59 Individualismus 131–133 Inferenzstatistik 43 Informationstechnologie 904 Informationsverarbeitung 292, 382 – visuelle 227ff Inhaltsvalidität 488 Innenohr 237 Innovationen 905 – erfolgreiche Einführung 906–907 Innovationsoffenheit 905 Inselbegabung 471 Insomnie 307 Instinkt 513 Instinkttheorie 512–513 Instruktionspsychologie 846 Instrumentalitätsanteil 933 Instumentalitätserwartung 890 Insulin 518–519 Intelligenz 199, 464ff, 490 – allgemeine (7 auch g-Faktor) 469, 472, 474 – Einzelfähigkeiten 470 – emotionale 474–475, 505 – Erblichkeit 496 – fluide 200 – frühzeitige Interventionen 497 – Gehirnfunktion 479 – Gehirngröße 478 – genetische Einflüsse 494ff – Geschlechtsunterschiede 502ff – Gruppenunterschiede 500 – individuelle Unterschiede 490, 500 – Kreativität 476ff – kristalline 200 – multiple 474–475 – praktische 473 – räumliche 472 – triarchische 473–474 – umweltbedingte Einflüsse 494ff, 497
– verbale 200 Intelligenzalter 482–483 Intelligenzdefinition 473 Intelligenzentwicklung – Kleinkinder 490 Intelligenzextreme 492–494, 503 Intelligenzfaktoren – multiple 471 Intelligenzmessung 478, 481 Intelligenzminderung 493 Intelligenzquotient (IQ) 464, 482f – IQ-Formel 483 Intelligenztest 199, 469, 472–473, 481, 487, 491, 506, 926 – ethnische Gruppen 499–500 – Gruppenunterschiede 499 – Verzerrung 505ff Intelligenztheorien 470 – Vergleich 474 Intensität 223 Interaktion 112 – sensorische 250–251 Interferenz 427 – proaktive 412–413 – retroaktive 412–414 Internalisierung 859–860, 863–865 International Classification of Diseases (ICD-10) 749, 752 – F-Diagnosen 751 – Forschungskriterien 749 – Leitlinien 749 Interneurone 66 Interposition 267 Interview – strukturiertes 926 – Frage 927 Intimität 184, 186, 203 Introspektion 5, 7 Introversion 609 Intuition 20–21, 443–445 – Grenzen 18 Invarianz, quantitative (7 Mengenerhaltung) Ionen 58 IQ (7 Intelligenzquotient) Iris 223
J James-Lange-Theorie 549–550, 554 Job Diagnostic Survey 892 Job-Characteristics-Modell 889 Job-Description-Index 895 Jugendalter (7 Adoleszenz)
G–J
1056
Anhang
Jugenddelinquenz – Early-Starter-Modell 874 – Late-Starter-Modell 874 Jugendgewalt 867 Jugendkriminalität 873 just noticeable differende (jnd; 7 Unterschied, eben noch merklicher)
K Kampf-oder-Flucht-Reaktion 694, 702 Karriere 930ff – von Frauen 931 Katarakt 277 Katastrophe 697 Kategorie 431–432 Kategorisierung 432, 663 Katharsis 574 Katharsishypothese 672 Kausalität 33, 36, 722 Kausalzusammenhang 33 Kinästhesie 254 Kindheit 155ff – Kleinkind 155–156, 163 – – Kleinkindbetreuung, außerfamiliäre 878f – Misshandlungen 171 Kindstod, plötzlicher 157 Klassifikationssysteme 751f – Gefahren 751 Kleinhirn (7 Zerebellum) Klippe, visuelle 266 Kochlea 237–238, 240 Kochleaimplantat 241, 242 Koffein 330 Kognition (7 auch Denken) 159, 430ff – und Emotion 554 Kokain 327, 328, 330 Kollektivismus 131–133 Kommunikation 687 – elektronische 564 – Geste 463 – nonverbale 560, 565 Kommunikationsstrukturen 919 – Teams 920 Kompensation, sensorische 242 Kompetenz, soziale 175–176 Konditionierung 341 – klassische 341–343, 345, 348–349, 352, 403 – – Anwendungsgebiete 351 – – biologische Prädispositionen 367 – – Chemotherapie 350 – – Furcht 762
– operante 341–342, 354, 366–367 – – Anwendungsbereiche 364 – – biologische Prädispositionen 364, 367 – – Kognition 362 Konflikt 673 Konformismus 645, 648 Konformität 644–645, 647–648, 651 – steigernde Bedingungen 646 – Ursachen 646 Konformitätsdruck 645 Konsens, falscher (7 Konsensüberschätzung) Konsensüberschätzung 28 Kontaktfreudigkeit 711 Kontingenzmodell 922 Kontrollbedingung 38 Kontrolle 712 – persönliche 621 – psychologische 853 – wahrgenommene 707 Kontrollüberzeugung – externale 620–621 – internale 620–621 Kontrollverlust 708 Kornea 223 Körpergewicht 736 Körpersprache 564 Körpertemperatur 296 Korrelation 30, 37 – illusorische 34–35, 444 – Kausalität 32–33 Korrelationskoeffizient 30–31 Kortex – akustischer 237 – auditorischer 85, 89 – Funktionen 81 – motorischer 83, 87 – sensorischer 84 – visueller 85, 87, 225, 227 – zerebraler 80–82 Kortexareale 85 Krankheit 531, 693 – psychophysiologische 701 – sexuell übertragbare 531 – tabakbedingte 326 Kreativität 444, 476ff Krebs 703, 710 – Übelkeitskonditionierung 351 Kriminalität – biopsychosoziale Wurzeln 788 Kriterium 488 Kultur 3, 116, 121, 128, 133, 134, 521, 614 – kulturübergreifende Unterschiede 129, 130 – und Selbst 131 – zeitübergreifende Veränderungen 130 Kulturabhängigkeit 46, 47
Kurzsichtigkeit 224 Kurzzeitgedächtnis 383, 393, 396, 412 Kurzzeittherapie 800
L Labilität, emotionale 609 Labor, psychologisches 5 Laborversuch 46 Lallstadium 449 Lamaze-Methode 249 Landkarte, kognitive 362 Langlebigkeit 192 Längsschnittuntersuchung 198–199 Langzeitgedächtnis 383–384, 396 – explizites 401 – implizites 401 Langzeitpotenzierung (LTP) 398–399, 835 Langzeitspeicher 415 Lärm 238 Läsion 72 Lateralisierung 93 Late-Starter-Modell 874 Lautstärke 236, 238 L-Dopa 64, 828 Lebensarbeitszeit 914 Lebensereignis 202, 720 – kritisches 696–697 Lebenserwartung 192, 720 Lebenszufriedenheit 205 – Wertvorstellungen 580 Lehrer-Schüler-Beziehung 857 Leib-Seele-Dualismus 4, 336 Leistung 507, 552 Leistungsbeurteilung 930 Leistungsmotivation 544–545 – Erfolgssuche 888 – Misserfolgsvermeidung 888 Leistungstest 484 Leptin 519–520, 734 Lernen 340ff, 846 – assoziatives 341, 345 – biologische Prädispositionen 349 – computergestütztes 365 – erneutes 404 – Erwerb 345, 347, 354, 367 – im Alter 877 – latentes 362–363 – lebenslanges 846, 877 – neue Medien 846 – Tiere 350 – wiederholtes 426 Lernmotivation 857
1057 Sachverzeichnis
Lernprinzipien 803 Lernpsychologie 7 Lichtenergie 222 Lichtexpositionstherapie 819, 821 Liebe (7 auch Beziehung) 202–204, 681 – kameradschaftliche 680–681 – leidenschaftliche 680–681 – romantische 680 Linkshänder (7 Händigkeit) Linse 223–224 Lithium 832 Lobotomie 835 Locus of control (7 Kontrollüberzeugung) Logik, abstrakte 181 Löschung 346–347, 354, 367 Löschungsresistenz 359 LPC-Maß 922 LSD (7 Lysergsäurediethylamid) LTP (7 Langzeitpotenzierung) Lüge 74, 563 Lügendetektor (7 Polygraphentest) Lügenskala 612 Lustprinzip 591 Lymphozyten 701 – B-Lymphozyten 701 – T-Lymphozyten 701 Lysergsäurediethylamid (LSD) 328–329
M Macht 656 Magenkontraktionen 518 Magnetismus, animalischer 315 Magnetresonanztomographie (MRT) 73 – funktionelle 74, 85 Magnetstimulation 833 – transkranielle 833 – wiederholte transkranielle (rTMS) 834 Major Depression (7 auch Depression) 767–769, 834 – genetische Einflüsse 772 Makrophage 701 Manie 768, 832 Marihuana 323, 328ff, 333, 735 Markscheide 58 Maskulinum, generisches 456 Maß – der Variabilität 42 – der zentralen Tendenz 41, 42 Matrix-Organisation 917 McGurk-Effekt 251 MDMA (7 Ecstasy) Median 41–42
Meditation 293, 714–715 Medizin – alternative 716–717 – komplementäre 716–717 Medulla oblongata 75–76, 80 Melatonin 297 Menarche 179 Mengenerhaltung 160–162, 165 Menopause 190–191 Menstruationszyklus 296 Mere-Exposure-Effekt 676 Merkmalsdetektor 228 Merkmalserkennung 228, 231 Metaanalyse 817, 822–823 Metamphetamine 327 Midlifecrisis 201 Migrant 659 Migrationshintergrund 658 Milgram-Experiment 648, 651 Minderheitsposition 656 Minderwertigkeitskomplex 601, 630 Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) 605, 610, 612 Missbrauch 347, 421–422, 424 – konstruierte Erinnerungen 422–423 – sexueller 423, 425, 522 – verdrängte Erinnerungen 422–423 Mitarbeiter, alternder 915 Mittelohr 237 Mittelwert 41–42 MMPI (7 Minnesota Multiphasic Personality Inventory) Mnemotechnik 392, 402, 405 – Loci-Methode 391 – Peg Word System 391 Mobbing 900ff – Gegenmaßnahmen 901 – – Berner Präventionsprogramm 871 – unter Kindern 870 Mobbingopfer 901–902 Modalwert 41–42 Modelllernen 369 Molekulargenetik 112–113, 115 Mondtäuschung 272–273 Monismus 337 Moral 372 – konventionelle 182 – postkonventionelle 182 – präkonventionelle 182 Morphem 447, 451 Morphium 326 Motiv 513 Motivation 512ff – durch Anreize 888 – extrinsische 363
J–N
– intrinsische 363, 477 – sexuelle 525ff Motivationstheorie 887 – Zwei-Faktoren-Theorie 549–550, 554–555, 888 Motivatoren 889 Motoneuronen 66, 84 MRT (7 Magnetresonanztomographie) Müller-Lyer-Täuschung 261, 272–273 Musik 236 Muskelentspannung, progressive 804 Mutation 116 Muttersprache 449, 453, 457 Myelinschicht (7 Markscheide) Myers-Briggs-Typenindikator 608–609
N Nachahmung (7 auch Beobachtungslernen) 369–370 Nachbilder 233 Nähe 675, 679 Nahrungsmittelaversion 521 Nahtoderfahrung 336 Narkolepsie 307 Nebenniere 70–71 Nebenschilddrüse 70 Negativsymptomatik 781 Neofreudianer 594 Neophobie 521 Nerven 65 Nervensystem 57 – autonomes (vegetatives) 66, 67 – peripheres 65 – somatisches 66 – zentrales (ZNS) 65–66, 68 Nervenzellen (7 Neuron) Nervus opticus 297 Netz – neuronales 68, 156, 229 – – Computermodell 69 – soziales 542 Netzwerkorganisation 917 Neugeborenes 153–154 Neugier 515 Neuroleptika 827–828 Neuron 56, 58–60 – sensorisches 66 Neuropsychologie 943 Neurotizismus 613 Neurotransmitter 60–61, 63, 328 – dopaminerge Bahnen 62 – Funktionen 62 – serotonerge Bahnen 62
1058
Anhang
Neurowissenschaft, kognitive 7 Next-in-Line-Effekt 386–387 Nikotin 330, 723–724 Nikotinabhängigkeit 723 Noradrenalin 62, 71, 328, 723 Norm 129 – moralische 861 – der sozialen Verantwortung 684 Normalgewicht 522 Normalsichtigkeit 224 Normalverteilung 486, 500 Normierung 486 Notizblock, visuell-räumlicher 383–384 NPY 332 Nucleus accumbens 553 Nucleus suprachiasmaticus 297 Nucleus 104
O ob-Gen 734 Objektpermanenz 160 ob-Maus 734 Odd-even-Methode 488 Ödipuskomplex 592 Offenheit für Erfahrung 613 Ohio-Studien 922 Ohr 236–237 Okzipitallappen 81 Opiate 326 Optimismus 622–625, 708, 712, 719 – illusorischer 623 Orexin 519 Organisation 916ff – divisionale 917 – Merkmale 916 Organisationsformen 916–917 Organisationspsychologie 14, 885ff, 941 Organisationsstruktur 916 Orgasmus 293 Orientierung, sexuelle 118–119, 532 – Gehirn 535, 537 – Gene 535–537 – pränatale Hormone 536–537 – räumliche Fähigkeiten 538 – bei Tieren 534 Ortstheorie 239 Östrogen 527 overconfidence bias (7 Selbstüberschätzung, systematische)
P Paarbeziehung 202, 204 Pädagogik 843 Panikattacke 764 Panikstörung 756–757 Parallelverarbeitung 229–230, 240, 385 Paranoia 779, 782 Parapsychologie 286 Parasympathikus 66–67, 551 Parietallappen 81 Parkinson-Krankheit 828 Partnerwahl 119–120 Pavor nocturnus 308–309 Peergroup (7 auch Gleichaltrige) 123, 187, 335, 723, 872 Personalauswahl 925ff – biographischer Fragebogen 927 – computergestützte Testverfahren 928 – Personalfragebogen 927 – psychologische Tests 928 Persönlichkeit 588ff – Biologie 610 – biopsychosozialer Ansatz 620 – Eigenschaftsdimensionen 609 – humanistischer Ansatz 603ff – personzentrierter Ansatz 604 – psychoanalytischer Ansatz 589ff, 607 – psychodynamische Theorien 594–595 – sozial-kognitiver Ansatz 619ff – Stabilität 615 – Trait-Ansatz 607ff, 614 Persönlichkeitsdiagnostik 613 Persönlichkeitsentwicklung 935–936 Persönlichkeitsmerkmal 604, 608 Persönlichkeitspsychologie 588 Persönlichkeitsstörung 786 – antisoziale 786–791 – – Erklärungsansätze 787 – Cluster 786 – multiple (7 Identitätsstörung, dissoziative) 764 Persönlichkeitsstruktur 591 Persönlichkeitstest 615, 928 Persönlichkeitsunterschiede 2, 112 Perspektivtechnik 269 Pessimismus 622–623, 700, 708 PET (7 Positronenemissionstomographie) Phantomempfindung 246–247 Phase – anale 592 – genitale 592 – kritische 168, 277 – Latenzphase 592
– orale 592 – phallische 592 – psychosexuelle 592 Phi-Phänomen 270 Phobie 572–573, 756, 758, 763, 804 Phonem 447, 451 Phrenologie 56 PISA-Studie 843, 846, 880–881 Placebo 822, 831 Placeboeffekt 38, 816 Plaques 195 Plazentaorganisation 123 PNS (7 Nervensystem, peripheres) Polygraphentest 553, 556 – Schuld-Wissens-Test 557 Pons 75–76 Ponzo-Täuschung 272 Population 28, 39 Pornographie 670 Positionseffekt, serieller 386, 388 Positivsymptomatik 781 Positronenemissionstomographie (PET) 73 Postkorbaufgabe 929 Prädisposition, genetische 104 Prägung 168 Prävalenz 791 Primacy-Effekt 387 Primary Mental Abilities 469, 474 Primat 49 Priming 217, 218, 405 Problemlösung 433–436, 443 – Bestätigungstendenz 434 – Fixierung 434–435 – funktionale Gebundenheit 435 – Mentales Set 435 Programme for International Student Assessment (7 PISA-Studie) Projektion (7 auch Abwehrmechanismus) 594 Prosopagnosie 215 Prothetik, neuronale 84 Prototyp 431–432 Psychiatrie 15 Psychoanalyse 589f – Alltagskultur 601 – analytische Therapie 799 – Bewertung 597ff – klassische 799 – Kritik 799 Psychochirurgie 78, 835 Psychologie – Allgemeine 941 – Arbeitsfelder 2, 13, 941ff – Arbeitsmarkt 941 – Beruf 14, 940ff
1059 Sachverzeichnis
Psychologie – biologische 57 – Definition 3, 8 – differentielle (7 Persönlichkeitspsychologie) – evolutionärer Ansatz 12 – forensische 942 – Forschungskarriere 944f – Gefahrenpotenzial 51 – humanistische 7, 606, 607 – klinische 15, 744ff, 825, 942f – kognitiver Ansatz 12, 430 – lerntheoretischer Ansatz 12 – neurowissenschaftlicher Ansatz 12 – pädagogische 842ff, 845, 944 – – Geschichte 845 – positive 576, 624 – psychodynamischer Ansatz 12 – soziokultureller Ansatz 12, 13 – verhaltensgenetischer Ansatz 12 – vorwissenschaftliche 3 – wertfreie 50, 51 – wissenschaftliche 3, 5, 18, 23 – Wurzeln 2 – Zweite Darwinsche Revolution 117 Psychologiestudium 940f – Bachelor 940 – Diplom 940 – Master 940 – Promotion 944f Psychologists for the Ethical Treatment of Animals 48 Psychometrie 944 Psychopath (7 Persönlichkeitsstörung, antisoziale) Psychopharmaka 827, 829, 942 Psychophysik 216 Psychotherapeut 825 – ärztlicher 797, 814 – psychologischer 797, 814 Psychotherapeutengesetz 797, 943 Psychotherapie 795ff, 942f – allgemeine Wirkfaktoren 822f – elektrischer Ansatz 797 – Geschichte 796 – humanistische 801ff – interpersonale 800 – klientenzentrierte 801 – kognitive 807ff – Laienhelfer – psychodynamische 797, 799 – spezifische Störungen 818f – systemische 810 – und Kultur 824 – Wertvorstellungen 824 – Wirkungsforschung 813f, 816
PsychThG (7 Psychotherapeutengesetz) PTBS (7 Belastungsstörung, posttraumatische) PTSD (7 Belastungsstörung, posttraumatische) Pubertät 179–180 Puffer, episodischer 384 Pupille 223, 226 Puppe, anatomisch korrekte 162 PYY 519–520
Q Qualitätszirkel 918, 920 Quellenamnesie (7 Quellen-Fehlattribution) Quellen-Fehlattribution 419 Querschnittuntersuchung 198–199
R Randomisierung 38–39 Range 43 Ranvier-Schnürring 58–59 rapid eye movements (7 REM-Schlaf ) Rassentrennung 52 Rationalisierung (7 auch Abwehrmechanismus) 594 Rauchen 324, 367, 721ff, 736 – Adoleszenz 722 – Aufhören 725–727 Raum, persönlicher 129 Reaktion 341, 367 – konditionierte (CR) 344, 348, 704 – unkonditionierte (UR) 344, 704 Reaktionsbereitschaft 217 Reaktionsbildung (7 auch Abwehrmechanismus) 594 Reaktionszyklus, sexueller 525 – Erregungsphase 526 – Orgasmus 526 – Plateauphase 526 – Refraktärphase 526 Realitätsprinzip 591 recall (7 Abruf ) recognition (7 Wiedererkennen) Reflex 66–67 – einfacher 68 Reformschulbewegung 846 Refraktärphase 59 Recency-Effekt 387 Regression (7 auch Abwehrmechanismus) 593 – zur Mitte 816 Rehabilitationspsychologie 944
Rehearsal (7 Wiederholung) Reichtum 580 – Glück 578–579 346, 349 Reizdiskrimination 346, 348, 354 Reizgeneralisierung 346, 348, 354, 762 Reizintensität 217 Relativismus, linguistischer 455 Reliabilität 25, 43, 45, 488, 596, 718, 719 REM-Rebound 313 REM-Schlaf 298, 301–302, 307, 309–311–313 – Alkohol 325 REM-Traum 309 Replikation 25 Repräsentativitätsheuristik 437 Resilienz 761 Retardierung, mentale 492–493 Retina 224–225, 227 – bionische 241 Reuptake 60–61, 328 Reziprozitätsnorm 684 Rhythmus – biologischer 295 – zirkadianer 296–298 Riechhirn 253 Riechnerv 252 Riechrezeptorzellen 251 Rolle 141 Rollendiffusion 184 Rollenverhalten 641 Rorschach-Test 596–597 Rotgrünblindheit 233 Rückenmark 66–68, 80 Ruhepotenzial 58
S SAD (7 seasonal affective disorder) Salvenprinzip 239 Säulendiagramm 41 Savant-Syndrom 471 Scatterplot (7 Streudiagramm) Schallempfindungsschwerhörigkeit 240 Schallleitungsschwerhörigkeit 240 Schallwelle 236, 237 Schema 158–159, 417 Schicht, rotierende 908 Schilddrüse 70 Schimpanse (7 auch Affe) 29, 125 Schizophrenie 744, 755, 779ff – Dopaminüberschuss 782 – Erklärungsansätze 782ff – Frühwarnzeichen 785
N–S
1060
Anhang
Schizophrenie – Gehirnaktivität 783 – genetische Faktoren 784 – psychologische Faktoren 785 – Subtypen 781 – virale Infektion 783 Schlaf 299, 306 – Alkohol 307 – Einschlafen 300 – paradoxer (7 REM-Schlaf ) 301 – im Verlauf des Lebens 312 Schlafapnoesyndrom 308 Schlafdefizit 303–306 Schlafentzug 303, 305 – chronischer 306 Schlaflabor 295 Schlaflosigkeit 303 Schlafrhythmus 296, 302 Schlafspindel 300 Schlafstadium 298f Schlafstörung 307 Schlaftheorien 306 Schlafwandeln 309 Schlafzyklus 302 Schleife, phonologische 383–384 Schmerz 246, 371 – biopsychosozialer Ansatz 247 – Gate-Control-Theorie 247, 248 Schmerzkontrolle 249 Schmerzlinderung 248, 323 Schmerzreiz 318–319 Schmerzwahrnehmung 248 Schnarchen 302 Schulbildung 476, 499 Schuldgefühl, empathisches 862 Schule 365, 843 Schüler – delinquentes Verhalten 868 Schulerfolg – Kultur 502 – Vorhersage 482 Schulleistungen 881 – Angebot-Nutzungs-Modell 882 – Unterschiede 880ff Schulpsychologie 847f, 944 Schwangerschaft 153, 529f Schwarz-Weiß-Sehen 226 Schwelle 220 – absolute 216–217 Schwellenwert 59 Schwerhörigkeit (7 auch Gehörlosenstruktur) 240 SDT (7 Signaldetektionstheorie) seasonal affective disorder (SAD) 296, 767, 821 Seele 4, 6
Sehen 221ff Sehnerv 223, 225 Sehnervenkreuzung (7 Chiasma opticum) Sehrinde (7 Kortex, visueller) Sehschärfe 224 Sehvermögen, wiederhergestelltes 275–277 Sehzentrum 227 Selbst 185, 627 – Erfassung 605 – mögliches 628 Selbstbezugseffekt 390 Selbsthilfegruppe 654, 811 Selbstkonzept 605 – Entwicklung 173 Selbstmord (7 Suizid) Selbstoffenbarung 681 Selbstsicherheit, übertriebene 21 Selbststeuerung 892 Selbstüberschätzung, systematische 438–439 Selbstverwirklichung 516, 603–604 Selbstwahrnehmung 173 Selbstwertgefühl 24, 33, 175, 185, 516, 524, 583, 610, 629, 777, 913 – defensives 632 – Kultur 629 Selbstwirksamkeitserwartung 928 Selektion, natürliche 10, 115–116, 119, 350, 763 Semantik 448 11. September 2001 440, 571, 600, 636, 638, 663–664, 673, 697 Serotonin 62, 172, 328, 573, 773, 829 Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) 714, 829 Set Point 520, 733 Sexualhormon 139–140 Sexualität – evolutionstheoretische Erklärung 118 – Hormone 527 – im Jugendalter 529–531 – Physiologie 525–529 – Wertvorstellungen 539 Shaping 355–356, 806 Signal – exzitatorisches 59 – inhibitorisches 59 Signaldetektionstheorie (SDT) 216, 217 Signifikanz, statistische 45 Sinnesrezeptoren 214, 220 Situation, fremde 169 Skinner-Box 355 Skript, soziales 670 Slow-Wave-Schlaf 300, 312 Soma 58 Sozialisation (7 auch Erziehung) 850
Sozialisationsmodell, bidirektionales 864 Sozialpsychologie 636, 944 Soziopath (7 Persönlichkeitsstörung, antisoziale) Spacing-Effekt 386–387 Spalt, synaptischer 60–61 Special Olympics 472 Speed 327 Speichern 382, 394ff Spektrum, elektromagnetisches 222 Spezialisierung, hemisphärische 93 Spiegelneuronen 370 Spiel 869 Spielsucht 324 Spiritualität 717 Split-Brain-Patient 90–92, 600 Split-half-Reliabilität 488 Sport 365, 714 – Gesundheit 714 Sportpsychologie 944 Spotlight-Effekt 627–628 Sprache 86, 93, 446ff – Kultur 447 – Tiere 460ff – Wahrnehmung 456 Sprachentwicklung 448–454 – Erklärungsmodelle 450 – sensible Phase 452 – statistisches Lernen 452 Spracherwerb (7 Sprachentwicklung) Sprechapparat 447 Sprechen 87–88 Sprechenlernen (7 Sprachentwicklung) SSRI (7 Serotoninwiederaufnahmehemmer) Stäbchen 225–226 Stabilität 490 – emotionale 609 Standardabweichung 43 Stanford Hypnotic Susceptibility Scale 316 Stanford Prison Experiment 641 Stanford-Binet-Intelligenztest 483 Steigbügel 237 Sterben 207 Stereohören 239 Stereotyp 658, 755 Stereotype Threat 505–507 Stichprobe 28 – große 44 – repräsentative 44 Stil, expressiver (7 Expressivität) Stimmung 296 Stimulanzien 324, 326 Stimulation, subliminale 217 Stimulus 341 – konditionierter (CS) 344–347, 349, 704 – unkonditionierter (US) 344–347, 349, 704
1061 Sachverzeichnis
Stoffwechsel 733 Störung 296 – affektive 767ff – bipolare 767, 769 – – genetische Einflüsse 772 – – manische Episode 768 – dissoziative 764–766 – dysthyme 768 – neurotische 750 – psychische 744ff – – biopsychosozialer Ansatz 747–748 – – Definition 745 – – Klassifikation 749 – – Kriminalität 754 – – medizinisches Modell 747 – – »Normalität« 748 – – Prävalenz 791ff – – Prävention 837f – – Risikofaktoren 793 – – schützende Faktoren 793 – – Stigmatisierung 753 – psychotische 750 – saisonale affektive 296, 767, 821 – sexuelle 526 Stress 307, 693ff, 703, 898 – Arbeitsplatz 900 – chronischer 697 – Herzkrankheiten 698 – Krankheitsanfälligkeit 701 – schädlicher 697 Stressbewältigung 707, 720, 899 Stressbewertung 694, 899 Stressfolgen, arbeitsbedingte 898 Stresshormone 696, 705, 708, 400 Stressimpfungstraining 809 Stressmodell, transaktionales 899–900 Stressoren 693–695, 698, 705, 707, 898–899 Stressreaktionssystem 694–695 Streudiagramm 30–32 Streuung 44 Strukturalismus 5 Substanz – dämpfende 324 – psychoaktive 322, 324, 326 Substanzabhängigkeit 324 Suche, heuristische 433 Suchreflex 153 Sucht 322f, 326 – Dopamin-Belohnungsschaltkreis 332 – falsche Vorstellungen 323 Suggestion 316, 420 – posthypnotische 318 Suizid 645, 771–772 Sündenbocktheorie 663
Superlearning 218 Sympathikus 66–67, 551 Synapse 60 Synästhesie 251 Syndrom, dystones 828 Syntax 448 System – endokrines 70–71 – limbisches 77–78, 80 Sceno-Test 596–597
T Tabak (7 auch Nikotin) 721 Tabakkonsum – Todesfälle 726 Tabula rasa 5, 10 Tagträumen 293 Tastsinn 245 TAT (7 Apperzeptionstest, thematischer) Täuschung, optische 261ff Team 918 Teamarbeit 918 Technologie, neue 905–906 Teenager (7 auch Adoleszenz) 177, 185 Telegrammstil 450 Temperament 109, 537 Temporallappen 81, 87 Teratogen 151–152 Terroranschlag (7 auch 11. September 2001) 19, 441 Terrorismus 664 Terrormanagementtheorie 600 Test – projektiver 595–596 – psychologischer 486 – Testaufbau 486 Testosteron 139f, 527, 666 Test-Retest-Reliabilität 488 Tetrahydrocannabinol (7 Marihuana) Texturgradient 268 Thalamus 75–76, 80, 227, 558 THC (7 Marihuana) Theorie 24–25 – der Selbstregulierung 893 – des sozialen Austauschs 684 – des sozialen Lernens 142 – wissenschaftliche 601 Theory of Mind 163 Therapie (7 auch Psychotherapie) – alternative 819f – biomedizinische 826 – biopsychosozialer Ansatz 838
– medikamentöse 827ff – psychoanalytische (7 auch Psychoanalyse) 797, 802 Therapieevaluation 813ff – durch Klienten 814 – durch Therapeuten 815 Therapieforschung 817 Therapieführer für Klienten 825 Thymusdrüse 701 Tiefenwahrnehmung 265–266, 273 Tiefschlaf 300, 302 Tier – Haustier 710 – Persönlichkeit 610 – Sprache 461 Tierversuch 48–49, 79 Tod 207 Todesstrafe 52 Todesursache 692–693, 698 Tokensystem 806–807 Toleranz 322 Toleranzentwicklung 330 Ton 236 Tonhöhe 236, 239 Top-down-Verarbeitung 214–215, 264, 278–280 Training, aerobes (7 Ausdauersport) Trait (7 Persönlichkeitsmerkmal) Tranquilizer 326 Transduktion 221 Transfer, positiver 414 Traum 2, 295, 301–302, 309 – Aktivation-Synthese-Modell 313 – luzider 310 Trauma 352, 696, 759–761 Traumdeutung 589, 595 Träumen 293 Trauminhalt – latenter 311 – manifester 310 Traumtheorie 311, 313 Trieb 514 Triebreduktionstheorie 512, 514 Trinken (7 Alkohol) Trisomie 21 492 Trommelfell 237 Tsunami 441 Typ A 698, 699, 899 Typ B 698, 699 Typ D 700 Typ-I-Schizophrenie 781 Typ-II-Schizophrenie 781
S–T
1062
Anhang
U Üben, mentales 458 – Ergebnisssimulation 459 – Prozesssimulation 459 Übergewicht (7 auch Adipositas) 730 Über-Ich 590–592 Überschreitungssituation 862 – Regelverletzungen 859 Übertragung 799 – neuronale 63 Übertragungsgeschwindigkeit 480 Überzeugung, subliminale 218 Überzeugungsbias 442 Uhr – biologische 297 – soziale 201–202 Ultrakurzzeitgedächtnis 395 Umwelt 102–103, 108, 111, 124, 145–146, 180, 495, 497, 504 – pränatale 123 Unaufmerksamkeit 260 Unbehagen, empathisches 866 Unbewusstes 590, 599–600 Ungleichheit, soziale 661 Universalgrammatik 451 – angeborene 450–451 Unterricht 365 Unterschied, eben noch merklicher 216, 219 Unterschiedsschwelle 219 Unterstützung, soziale 709–712, 719 UR (7 Reaktion, unkonditionierte) Ursache-Wirkungs-Zusammenhang (7 Kausalität) Urteil 181 – moralisches 183 Urteilsbildung 436 Urteilsfähigkeit, moralische 181 Urteilsfehler (7 Bias) US (7 Stimulus, unkonditionierter)
V Valenz 890 Validität 488, 596, 612, 926 – transkulturelle 856 Variable – abhängige 38–40 – unabhängige 38 Variationsbreite 43 Veränderungsblindheit 260 Veränderungstaubheit 260
Verarbeitung – automatische 385, 393 – bewusste 294, 386, 393 – neuronale 479 – unbewusste 294 Verdrängung (7 auch Abwehrmechanismus) 414–415, 593, 598–599 Vererbung 110 Verfahren – bildgebende 73 – eignungsdiagnostische 926ff Verfügbarkeitsheuristik 438 Vergessen 409ff – absichtsvolles 414 – Fehlattribution 409 – Persistenz 409 – Speicherzerfall 411 – Verzerrung 409 Vergessenskurve 411–412 Verhalten – altruistisches 684 – geschlechtsspezifisches 47 – operantes 354, 368 – respondentes 354, 368 – Situationseinflüsse 625 – soziales 47 Verhaltensformung (7 Shaping) Verhaltensgenetik 102–103, 105, 107, 110 Verhaltenskontrolle 853 Verhaltensmedizin 692, 705 Verhaltensmodifikation 806–807 Verhaltensmuster, aggressive 668 Verhaltenstherapie 802ff, 819 – klassische Konditionierung 803 – kognitive 809 – operantes Konditionieren 806 Verhaltensweise, gesundheitsschädigende 720 Verschiebung (7 auch Abwehrmechanismus) 594 Versöhnung 687 Verstärker – konditionierter 357 – primärer 357 – sofortiger 358 – verzögerter 358 Verstärkung 360 – kontinuierliche 358 – negative 357 – partielle (intermittierende) 358–359 – positive 357 Verstärkungspläne 358 Versuchsbedingung 38 Versuchsgruppe 40 Verteilung, schiefe 42
Verträglichkeit 613 Verzerrung – selbstwertdienliche 444, 629–631, 637, 809 Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (7 Hindsight-Bias) Videospiel 374 Vielfalt, kulturelle 128 VIE-Modell (7 Wert-Erwartungs-Theorie) Vorbilder 372 – prosoziale 372 Vorhersage 21 Vorhersagevalidität 488 Vorstellung, bildliche 390–391 Vorstellungsgespräch 926 Vorurteil 659 – automatisches 661 – gegenüber Fremden 662 – emotionale Komponente 663 – Geschlecht 660 – kognitive Prozesse 663 – offenes 658 – soziale Faktoren 661 – subtiles 658
W Wachstumsbedürfnisse 887 Wachstumshormon 296, 306 Wachzustand 303 Wahnvorstellungen 779 Wahrnehmung 214ff, 258ff, 264, 282 – außersinnliche 286–289 – – Präkognition 286 – – Psychokinese 286 – Kontexteffekte 280 – Kultur 272 – spiegelbildliche 675 Wahrnehmungsadaptation 277 Wahrnehmungsentwicklung 277 Wahrnehmungsinterpretation 275ff Wahrnehmungskonstanz 270–274 Wahrnehmungsorganisation 258, 273 Wahrnehmungsschema 279 Wahrnehmungsset 278–279 Wahrnehmungsstörung 780 Wahrnehmungstäuschung 261ff, 269 Wandel, demographischer 914 Wandervögel 846 Weber’sches Gesetz 219 Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS) 484–485 Weisheit 199
1063 Sachverzeichnis
Weitsichtigkeit 224 Welle, physikalische Eigenschaften 223 α-Wellen (7 Alphawellen) δ-Wellen (7 Deltawellen) Wellenlänge 223 Wellentäuschung 262 Wende, kognitive 7 Wernicke-Sprachzentrum 87 Wert-Erwartungs-Theorie 890 Werther-Effekt 645 Wertschätzung, bedingungsfreie 604, 802 Widerstand 798 Widerstandsfähigkeit (7 Resilienz) Wiederaufnahme (7 Reuptake) 60 Wiedererkennen 231, 404 Wiederholung 386, 396 Willensentscheidung 891 Wirtschaftspsychologie 886 Witz 434 Wohlbefinden 205–206, 578 – subjektives 576, 580 – Wohlstand 577–579 Workaholic 903 Work-Life-Balance 903ff
Wortflüssigkeit 502 Wut 553, 555, 569, 573ff
X X-Chromosom 139
Y Y-Chromosom 139, 665
Z Zapfen 225–226, 233 Zeitsouveränität 907 Zelle 104 Zellkörper 58 Zentralperspektive 268
Zerebellum 75ff, 402–403 Zeugung 150, 151 Ziel, übergeordnetes 685, 686 Zielsetzung 891 Zirbeldrüse 297 ZNS (7 Nervensystem, zentrales) Zufall – Wahrnehmung von Ordnung 35 Zufallsstichprobe 28, 39 Zuhören, aktives 801 Zuschauereffekt 684 Zuschauerintervention 682–684 Zuverlässigkeit (7 Reliabilität) Zuweisung, zufällige (7 Randomisierung) Zwangsgedanken 758 Zwangshandlung 758, 780 Zwangsstörung 744, 756, 758–759, 764 Zweiwortstadium 449 Zwillinge 107, 112 – eineiige 11, 104–105, 109, 157, 202 – getrennt aufwachsende 106 – zweieiige 11, 104–105, 109 Zwillingsstudie 104–106, 110, 113 Zygote 151
U–Z